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German Pages 482 [476] Year 2020
Antonius Baehr-Oliva Venus-Dichtungen im deutschen Barock (1624–1700)
Frühe Neuzeit
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Band 236
Antonius Baehr-Oliva
Venus-Dichtungen im deutschen Barock (1624–1700) Mythenkorrekturen und Transformationen
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
ISBN 978-3-11-067977-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-068420-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-068426-1 ISSN 0934-5531 Library of Congress Control Number: 2020930225 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Dank Die vorliegende Studie wurde im März 2019 von der Albert-Ludwig-Universität Freiburg als Dissertation angenommen; für den Druck wurde sie geringfügig überarbeitet. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Professor Dr. Achim Aurnhammer, der die Arbeit angeregt, mit unzähligen Hinweisen, aber auch kritischen Fragen begleitet und die Entstehung durch seine überaus kenntnisreiche, herausfordernde, vor allem aber herzliche Betreuung maßgeblich gefördert hat. Ebenso danke ich Professor Dr. Dieter Martin herzlich für seine vielfältigen Anregungen, seine Unterstützung sowie für die Übernahme des Zweitgutachtens. Außerdem haben PD Dr. Mario Zanucci und Professorin Dr. Anna Schreurs-Morét einzelne Kapitel mit ihren Hinweisen entscheidend vorangetrieben – dafür sei ihnen gedankt. Dem Münsteraner SFB 1150 „Kulturen des Entscheidens“ danke ich für das Kurzzeitstipendium, das mir in der Anfangsphase der Promotion gewährt wurde. Nicht allein die finanzielle Förderung, sondern der Austausch, besonders mit dem ‚Herkules-Team‘ von Professorin Dr. Martina Wagner-Egelhaaf, hat zur Entstehung der Arbeit beigetragen. Gefördert hat die Arbeit außerdem Professor em. Dr. Theodor Verweyen, dem ich für die zahlreichen gemütlichen Gespräche während meiner Zeit in Münster dankbar verbunden bin. Durch die Dr. Günther Findel-Stiftung wurden mir zwei Forschungsaufenthalte in der Herzog August Bibliothek ermöglicht, für die ich mich herzlich bedanken möchte. In den Kolloquien und Mittagsgesprächen erhielt ich etliche Anregungen, besonders von Professorin Dr. Nikola Roßbach, Dr. Carsten Nahrendorf und Dr. Michael Bauer, für die ich sehr dankbar bin. Gedankt sei auch der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften für einen gewichtigen Druckkostenzuschuss und den Herausgebern der Reihe für die Aufnahme in die Frühe Neuzeit. Auch gilt meinen Kollegen und Freunden Frédérique Renno, Sarah Nienhaus, Dr. Thomas Marks und Dr. Jonas Pollex mein herzlicher Dank für die vielen Gespräche, Hinweise und das immer fortwährende Interesse. In Dankbarkeit verbunden bin ich ebenfalls Sarah, Felix, Linda, Chris, René und Jakob sowie Niklas, Nadine, Rasmus, Wolf, Frederik, Björn und Max, die den Promotionsalltag allzu oft in eine fröhliche Verlängerung der Studienzeit verwandelt haben. Mein größter Dank gebührt schließlich meiner gesamten Familie, insbesondere jedoch meinen Brüdern Fabian, Julian, Justus, meiner wunderbaren Frau Nora und vor allem meinen Eltern Katharina und Michael Baehr. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet.
https://doi.org/10.1515/9783110684209-202
Inhaltsverzeichnis Dank
V
Einleitung 1 2 3 4
1 Zur Legitimität des antiken Mythos in christlicher Zeit Fragestellung und Zielsetzung 15 Methode 17 Untersuchungskorpus und Aufbau der Arbeit 27
1
Teil I: Voraussetzungen 1
Quellenüberblick und Forschung – Venus in der Kunst und Literatur 33
2 2.1 2.2 2.3
Drei strukturell dominante Venus-Episoden im Barock Das Paris-Urteil 49 Venus, Mars und Vulcanus 55 Adonis und Venus 58
3
Gelehrsamkeit in mythographischen Handbüchern, Lehrgedichten und Paratexten 64
45
Teil II: Die Figur der Venus zwischen Lobpreis und Schmähung 1 1.1 1.2 1.3 2 2.1 2.2
Kulturpatriotismus und aemulatio: Philipp von Zesens Lustinne (1645) 81 Die Lustinne als programmatische Opitz-aemulatio 85 Dichternetzwerk und Selbstinszenierung im Dichterkatalog 96 Liberalisierende Frauensatire: Zesens Liebeskonzeption 108 Venus-Synthesen in Daniel Casper von Lohensteins Venus (1695) Mehrschichtige Intertextualität: Lukrez, Ovid, Zesen und Lohenstein 123 Christliche Apologetik: Die aus dem Meer geborene Venus als Bathseba 126
118
VIII 2.3 2.4 2.5 2.6 3 3.1 3.2 3.3
Inhaltsverzeichnis
Liebe als kosmologisches Prinzip: Venus als Gegenbild des Phaethons 131 Poetik der Schönheit: Eine Paris-Aktaeon-Synthese 137 Psychologisierung der Liebe 143 Rezeption von Marinos L’Adone (1623) 148 Intermediale Venus-Rezeption in Birkens Schlaff der Sicherheit (1659) und Das Erwachen (1660) 154 Intermediale Transformation von Conrad Meyers Wach auf von diesem Schall! 162 Christliche Überlagerung im Schlaff der Sicherheit 166 Das Erwachen als intermediales, geistliches Kolloquium 173
4.1 4.2 4.3
Allegorie und Allegorese der Wollust in Jacob Schwiegers Verlachte Venus (1659) 178 Gliederung und Gattungsbestimmung 180 Schwiegers Venus-Allegorie 183 Die Allegorese der Venus 184
5
Zusammenfassung
4
199
Teil III: Liebeskonzepte in den Venus-Episoden 1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.3
Das Paris-Urteil: Faszination der Schönheit 205 Das Paris-Urteil in Birkens Götterschenkungen (1646) 205 Antonomastische Idealisierung 207 Überbietung von Samuel Hunds Schäfergedicht 213 Dichterlob und Frauensatire: Johann Klajs Fortsetzung von Hunds Schäfergedicht 219 Programmatischer Dichterwettstreit: Birkens StatiusRezeption 225 Die Neufassung der Götterschenkungen in der Guelfis (1669) 230 Plädoyer für das Versepos: Weckherlins Gedichte von dem Urtheil (1648) 234 Nicolas Renouards Le Jugement de Paris (1608) als Prosaepos 240 Privatisierung der Liebe in Finckelthaus’ Übersetzung des Romans 246 Weckherlins versifizierte Rezeption 251 Fazit – Faszination der Schönheit 268
Inhaltsverzeichnis
2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.3 3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.3
IX
270 Venus und Mars: Die kulturstiftende Kraft der Liebe Mars-Allegorien in Christoph Kaldenbachs ‚Heroischen Getichten‘ 270 Forschung 273 Statius-Rezeption und Inversion der Friedensallegorie in Kaldenbachs Hochzeitsgedicht für den polnischen König Wladislaw IV. 278 Historiographie in Kaldenbachs Preussische Venus (1645) 292 Zusammenfassung: Versepische Hochzeitsdichtung bei Kaldenbach 299 Johann Francks Mythenrezeption in Der Neugeborene Cupido (1649) 301 Francks Geistliches Sion und irrdischer Helicon – Zur Trennung von geistlicher und weltlicher Dichtung 305 Satire und Synthese bei Franck und Daniel Heinsius 313 Kulturstiftende Liebe: Eine satirische Herabsetzung des Schmiedegottes Vulcanus 315 Mythensynthese der Venus-Mars-Episode mit dem Paris-Urteil 320 Fazit – Kulturstiftung und Verewigung 323 325 Venus und Adonis: Treue Adonis-Variationen in späten Gelegenheitsdichtungen von Heinrich Mühlpfort 325 Forschung und bibliographische Ergänzung 325 Adonis-Variation in Die Flüchtige Anemone (1676) 330 Das Treuemotiv in Mühlpforts Claudian-Rezeption Die verwittibte Venus (1678) 336 Die geharnischte Venus (1678) als petrarkistische Travestie 340 Vegetationskult und erfolgreiche Liebe: Adonis und Chloris 343 Poetik und Wirkung der Venus-Variationen 345 Adonis-Klagen in ‚Zincgrefs Anhang‘ (1624) und Neukirchs ‚Anthologie‘ (1695–1734) 347 Literaturhistorische Stellung der Teutschen Poemata und der ‚Neukirchschen Sammlung‘ 347 Adonis Nachtklag von Zincgref als idealisierendes Paraklausithyron 349 Die anonymen Adonis-Klagen der ‚Neukirchschen Sammlung‘ 353 Andere klage der Venus über den todt Adonis (Johann von Besser?) 363 Fazit – Treue und Rollenwechsel 365
X
Inhaltsverzeichnis
Schlussbetrachtung Anhang 1 2 3
367
373 Jacob Schwieger: Verlachte Venus (1659) 373 Johann Georg Finckelthaus: Das Urtheil des Schäffer Paris (1638) [Auszug] 385 Christoph Kaldenbach: Preussische Venus (1645) 387
Abbildungsverzeichnis
407
409 Literaturverzeichnis 1 Abgekürzt zitierte Literatur 2 Bibliothekssiglen 413 3 Quellen 413 3.1 Venus-Dichtungen 413 3.2 Weitere Quellen 421 4 Darstellungen 437 5 Online-Quellen 462 Register
465
409
Einleitung 1 Zur Legitimität des antiken Mythos in christlicher Zeit Die zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts vermehrten Bemühungen, Deutsch zu einer Literatursprache zu erheben und damit Deutschland zu einer europaweit konkurrenzfähigen Kulturnation aufzuwerten, wurden zuerst in dem epochemachenden Buch von der Deutschen Poeterey (1624) von Martin Opitz (1597–1639) theoretisch fundiert.1 Damit war das wetteifernde Verhältnis zwischen der neu entstehenden deutschen Literatur und den fremdsprachigen Vorbildern etabliert, welches die gesamte Barockepoche prägte.2 Mit der Aufforderung, in der Volkssprache die antiken griechischen und lateinischen sowie die zeitgenössischen europäischen Autoritäten zu imitieren und zu überbieten, übernahm Opitz den im Humanismus geführten Diskurs,3 ob christliche Dichter die paganen Götter in ihre Dichtungen integrieren dürften: Die nahmen der Heidnischen Götter betreffendt/ derer sich die stattlichsten Christlichen Poeten ohne verletzung jhrer religion jederzeit gebrauchet haben/ angesehen das hierunter gemeiniglich die Allmacht Gottes/ welcher die ersten menschen nach den sonderlichen wirckungen seiner vnbegreifflichen Maiestet vnterschiedene namen gegeben/ als das sie/ wie Maximus Tyrius meldet/ durch Minerven die vorsichtigkeit/ durch den Apollo die Sonne/ durch den Neptunus die Lufft welche die Erde vnnd Meer durchstreichet; zuezeiten aber
1 Die Wirkung der von Opitz festgeschriebenen Literaturreform ist ausführlich erforscht und vielfach belegt worden. Stellvertretend vgl. Klaus Garber: Martin Opitz – ‚der Vater der deutschen Dichtung‘: eine kritische Studie zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik. Stuttgart 1976, besonders S. 37–73, und Wilhelm Kühlmann: Martin Opitz. Deutsche Literatur und deutsche Nation. Heidelberg 2001, besonders S. 7–18. Wegweisend neuerdings aber vor allem das umfassende Werk von Klaus Garber: Der Reformator und Aufklärer Martin Opitz (1597–1639). Ein Humanist im Zeitalter der Krisis. Berlin, Boston 2018, hier besonders S. 1–40. 2 Zu den rezeptionsästhetischen Prinzipien der imitatio und der aemulatio vgl. grundlegend: Hans-Joachim Lange: Aemulatio Veterum sive de optimo genere dicendi. Die Entstehung des Barockstils im XVI. Jahrhundert durch eine Geschmacksverschiebung in Richtung der Stile des manieristischen Typs. Bern, Frankfurt/M. 1974 (Europäische Hochschulschriften 1, 99), besonders S. 30–34 sowie Barbara Bauer: [Art.] Aemulatio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1. Hg. von Gert Ueding. Tübingen 1992, Sp. 141–187 und jetzt auch Jan-Dirk Müller, Ulrich Pfisterer: Der allgegenwärtige Wettstreit in den Künsten der Frühen Neuzeit. In: Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450–1620). Hg. von Jan-Dirk Müller, u.a. Berlin, Boston 2011 (Pluralisierung & Autorität 27), S. 1–32. 3 Vgl. dazu Harald Müller: „…anstelle von Venus sage ich Magdalena“. Versuch einer Annäherung an humanistisch geprägte Frömmigkeit hinter Klostermauern. In: Wie fromm waren die Humanisten? Hg. von Berndt Hamm, Thomas Kaufmann. Wiesbaden 2016 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 33), S. 209–223, besonders S. 219–223. https://doi.org/10.1515/9783110684209-001
2
Einleitung
vorneme Leute/ die wie Cicero im andern buche von den Gesetzen saget/ vmb jhres vordienstes willen in den Himmel beruffen sein/ zue zeiten was anders angedeutet wird/ ist allbereit hin vnd wieder so viel bericht darvon geschehen/ das es weiterer außführung hoffentlich nicht wird von nöthen sein.4
Die apologetische Argumentation, mit der Opitz die nachfolgende Dichtergeneration zum Gebrauch der heidnischen Götter autorisierte und aufforderte, übernahm er von den niederländischen Poeten und Übersetzern Daniel Heinsius (1580–1655) und Petrus Sciverius (1576–1660), die sich mit Verweisen auf die christlichen Kirchenväter einerseits gegen den Vorwurf des Glaubens an die paganen Götter wehrten und andererseits versuchten, die heidnische Bildlichkeit als ornatus mit dem Christentum zu harmonisieren.5 Während die Kontroverse im niederländisch-französischen Austausch zwischen Daniel Heinsius und Jean-Louis Guez de Balzac (1597–1654) zu einem polemischen Streitschriftenwechsel eskalierte,6 wurde die Frage über die Zulässigkeit auch in deutschen Barockpoetiken rege diskutiert. So lässt sich etwa beim Hamburger Pastor Johann Rist (1607–1667) eine Radikalisierung feststellen, die von poetischer Integration der paganen Götter in seiner frühen Schaffensphase bis zur polemischen Ablehnung im späten Werk führt.7 Noch in seiner ersten Gedichtsammlung Musa Teutonica (1634) nimmt er gelegentlich mythologische Gestalten als Allegorien, Personifikationen oder Antonomasien in Anspruch,8 doch bereits im Vorwort zum Poetischen Lustgarte (1640) klingt deutliche Skepsis an: Noch eines muß ich […] erinneren/ […] welches den Gebrauch der Heidnischen Götter Namen (deren sich auch die Christliche Poeten bißanhero in jhren Teutschen Gedichten gebrauchet haben) thut betreffen. […] Gleichwohl kan ich hiemit nit ohnangedeutet lassen/ daß […] die Christlichen Poeten/ sich Heidnischer Götter Namen bevorauß in geistlichen Gedichten/ so viel nur immer geschehen könte/ sich entschlagen/ vnd viel lieber andere
4 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe. Mit dem Aristarch (1617) und den Opitzschen Vorreden zu seinen Teutschen Poemata (1624 und 1625) sowie der Vorrede zu seiner Übersetzung der Trojanerinnen (1625). Hg. von Herbert Jaumann. Stuttgart 2002, S. 19, Z. 36–S. 20, Z. 15. 5 Vgl. Ulrich Bornemann: Anlehnung und Abgrenzung: Untersuchungen zur Rezeption der niederländischen Literatur in der deutschen Dichtungsreform des siebzehnten Jahrhunderts. Assen, Amsterdam 1976 (Republica Literaria Neerlandica 1), S. 221–227. 6 Vgl. ebd., S. 228–230. 7 Vgl. ebd., S. 227–228. 8 Vgl. Johann Rist: Militat Omnis Amans. Ode Jambica. In: Johann Rist Sämtliche Werke Bd. 3. Dichtungen 1634–1642. Hg. von Alfred Noe, Hans-Gert Roloff. Berlin, Boston 2017, S. 34–36 und Johann Rist: HochzeitGedicht/ Auff daß Beylager einer berühmten Curtisanen, ebd., S. 91–93.
1 Zur Legitimität des antiken Mythos in christlicher Zeit
3
bequeme Wörter […] an derer stelle setzen/ […]. Jnsonderheit wehre zu wünschen/ daß die Namen der Venus, Cupido, Hymen, vnd derogleichen (mit welche unsere Reimemacher fast allen jren Hochzeitsgedichten treflich zu tumeln […]) sehr messiglich auch in Weltlichen und Liebs-gedichten gebrauchet würden. Jch weiß nit/ ob in diesem meinem Poetischen Lustgärtlein/ mehr als ein Hochzeitsgedichte/ […] zu finden sey/ in welchem ich solche fremden Götter vnnd Göttinnen etwas häuffiger von mir seyn eingeführet worden; Sonsten bin ich nicht in abrede/ daß ich mich anderer Namen als des Neptunus, Mars, Phoebus, […] vnd anderer […] gebrauchet habe/ werde mich aber ins künfftige/ so viel immer müglich seyn wird/ hüten […]. Sonsten weiß ein Christliches vnd Gewissenhafftes Hertz ja leicht einen solchen vnterschied zu machen/ daß er diese Heidnischen Nahmen für keine Götter halte/ oder ehre/ denn ein rechter Christen Mensch/ gläubet ja nimmermehr/ das der Heidnische König Jupiter, der ware Gott Jehova sey/ das sey ferne! Vielmehr verfluchen wir von Hertzen alle Heidnische Abgötter […].9
Auch in den Anmerkungen zu seiner pazifistischen epischen Versdichtung Kriegs vnd Friedens Spiegel (1640)10 formuliert Rist programmatisch seine Mythoskritik. Dabei verhüllt er jedoch nicht seine Kenntnis der antiken Dichter, sondern bezieht sich vielmehr auf Ovid, Theokrit, auf die Orphischen Hymnen und auf Natale Conti, um z. B. die Metamorphose des Adonis zu erörtern, und schildert mit Verweisen auf Hesiod, Aristophanes, Sappho, Platon und Simonides die Geburt Cupidos. Dadurch trennt er die Gelehrsamkeit von der poetischen Aneignung der Göttergedichte: Vnsere Reimemacher/ die dennoch Christen seyn wollen/ mügen sich billich schämen/ daß sie fast in allen jhren Liederen/ Sonnetten/ Höchzeit vnd anderen Gedichten den verfluchten Cupido ins gemein voran setzen/ vnd schier von nichts anders als nur bloß von jhm vnd seinen leichtfertigen Künsten/ zu sagen wissen/ denn sie vermeinen/ wenn der nicht stets dabey wehre/ kein Mensch würde jhr Geschmier mit Lust lesen/ woran gleichwol wenig gelegen. Mercket aber jhr Heidnische Christen; Jch gläube festiglich Fraw Venus sey ein Huhr Vnd der Cupido bleib’ ein Mangel der Natur.11
9 Vgl. Johann Rist: Poetischer Lustgarte. Das ist: Allerhand anmuhtige Gedichte […]. Hamburg 1638. Darin: Nothwendige Vorrede an den guthertzigen Leser. In: Johann Rist. Sämtliche Werke. Bd. 3. Dichtungen 1634–1642. Hg. von Alfred Noe und Hans-Gert Roloff. Berlin, Boston 2017, S. 226–240, hier S. 237–238. 10 Der vollständige Titel lautet: Johann Risten, P. H. Kriegs vnd Friedens Spiegel. Das ist: Christliche/ Teutsche vnd wolgemeinte Erinnerung an alle Kriegs- vnd Frieden liebenden Menschen/ insonderheit aber an sein vielgeliebtes Vater-Land Holstein […] Hamburg 1640. In: Johann Rist. Sämtliche Werke. Bd. 3. Dichtungen 1634–1642. Hg. von Alfred Noe und Hans-Gert Roloff. Berlin, Boston 2017, S. 471–577. 11 Vgl. ebd., S. 549, Z. 13–21.
4
Einleitung
Seiner rigoros-missbilligenden Forderung, die Götter gänzlich aus den Poemen zu verbannen, folgt Rist jedoch erst im Poetischen Schauplatz (1646), wo er ebendiese Sentenz aktualisiert und ausweitet: Da rufft man Venus ann daß sie uns Hülff erzeige/ daß ja ihr kleiner Sohn die Herzen zu uns neige/ Ist aber das nicht schön? War Venus nicht ein’ Huhr und bleibt Kupido nicht ein mangel der Natur? Was ehren wier denn doch/ so bald uns sticht das Futter die Metz’ und ihren Sohn/ den Teufel samt der Mutter/ Wenn ich Kupido rühm’/ alsdenn so treib ich Spott/ Ich weiß wer lieben schafft/ nur einer/ der ist Gott.12
Die diffamierende Dämonisierung spitzt Rist zur vollständigen Negation der paganen Götter zu, mit der er dem heidnischen Pantheon nicht allein die theologische Grundlage entzieht, sondern auch ihre allegorische Verwendung verwirft: Drum hat Er dich allein zuer Liebsten außersehn O Schönste/ doch dieß ist/ von GOtt allein gescheen/ Dieß komt vom HErren her. Es kann inn diesen Sachen die leichte Venus-Huhr nicht das geringste machen noch auch Ihr blinder Sohn das kleine Teufelein/ Bey Christen soll mann nicht mehr so fantastisch seyn. Ist Venus (wie mann sagt) inn dieser Welt gewesen das kaum doch glaublich ist/ wiewol mann nichts kann lesen von Lieb’ ohn’ Ihre Gunst/ wolann so schliss Ich frey/ daß diese Teufels-Braut itz inn der Höllen sey.13
Mit seiner Ablehnung stand Rist keinesfalls allein. Vor allem in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts vertraten die Nürnberger Dichter des Pegnesischen Blumenordens die strikte Entmythisierung der Dichtung. Aufgrund der extrem kritischen Haltung wurde häufig die Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst (1679) des Nürnberger Dichters Sigmund von Birken (1626–1681) in den Blick genommen und auf die Diskrepanz zwischen dichterischer Praxis und Dichtungstheorie hingewiesen. 12 Johann Rist: Herrn M. Adrian Meister/ Dazumahl der Gemeine Gottes zu Meißberg verordentem Sehlenhirten/ nunmehr Superintendenten zu Epsdorff im Fürstenthum Lüneburg/ Als er mit Jungfrauen Anna Walters in Hamburg sein Hochzeitliches Beylager hielt. In: Johann Rist: Poetischer Schauplatz: Auff welchem allerhand Waaren Gute und Böse Kleine und Große Freude und Leid-zeugende zu finden. Hamburg 1646. [VD17 3:005844D], S. 264–266, hier S. 265. 13 Johann Rist: Hochzeitliche Glückwünschung An den Edlen/ Ehrenvesten/ Großachtbahren und Hochgelahrten Herren Abraham Kaiser/ […]. In: Rist, Poetischer Schauplatz, S. 78–83, hier S. 81.
1 Zur Legitimität des antiken Mythos in christlicher Zeit
5
Theodor Verweyen hat im Zuge seiner Untersuchung zu Sigmund von Birkens Programma Poeticum diese Diskrepanz in Perspektive gerückt, indem er die Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst nach Ernst Robert Curtius’ Kategorien als theologische Poetik eingeordnet hat. Birkens Strategie sei es, zunächst „Konkordanz zwischen biblischer Geschichte und griechischer Mythologie mit dem Ziel herzustellen, gegen das Schrifttum der hellenischen ‚Dichter und Weisen‘ den ‚Altersbeweis‘ zugunsten des Alten Testaments zu führen“14 und dann die Kunst als ars divina auszuweisen, also ihren Ursprung aus Gott zu deklarieren. Ferner stehe Birken apologetisch für die Auffassung eines poetischen Alten Testaments – einer Bibelpoetik – ein. Schlussendlich argumentiere er in der Tradition von Hieronymus mit der Lehre vom Primat und der Prärogative der Bibel vor der antiken Dichtung. Während sich die poetische Integration der paganen Götter für christliche Dichter also aus prinzipiellen Gründen verbiete, sei sie für den poeta doctus und den gelehrten Leser nicht gefährlich, denn beide wüssten um den figürlichen Einsatz der Mythologie. Dennoch sei die Verwendung des Mythos unzulässig, weil geistliche Lieder ebenfalls für Ungelehrte geschrieben würden, die der Entschlüsselung der heidnischen Figuren im christlichen Sinne nicht mächtig seien.15 Ebenfalls von Birkens Poetik ausgehend, zeichnet Joachim Dyck die Traditionslinie der Argumentationsstrategie über die Harmonistik, den Ursprung der Kunst aus Gott, der Bibelpoetik und der Prärogative nach,16 indem er sie schon bei Hieronymus, Isidor und später auch bei Francesco Petrarca nachweist.17 Indes habe schon Birken unter seinen Zeitgenossen zwei unterschiedliche Haltungen gegenüber der antiken Mythologie wahrgenommen: Die einen seien die „liberalen Poeten, die in der Tradition der allegorischen Auslegung einer ‚geistigen‘ Deutung zuneigen und daher die antike Mythologie nicht grundsätzlich zu verwerfen geneigt sind“, die anderen dagegen „die Rigoristen, die […] für die reine Lehre fürchten.“18 14 Theodor Verweyen: Daphnes Metamorphosen. Zur Problematik der Tradition mittelalterlicher Denkformen im 17. Jahrhundert am Beispiel des Programma Poeticum Sigmund von Birkens. In: Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. FS für Günther Weydt zum 65. Geburtstag. Hg. von Wolfdietrich Rasch, Hans Geulen, Klaus Haberkamm. Bern, München 1972, S. 319– 379, hier S. 356–358. 15 Ebd., S. 362. 16 Vgl. Joachim Dyck: Athen und Jerusalem. Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1977, hier S. 13–91. 17 Ebd., S. 35. 18 Ebd., S. 132. Hartmut Laufhütte: Programmatik und Funktionen der allegorischen Verwendung antiker Mythenmotive bei Sigmund von Birken (1626–1681). In: Die Allegorese des antiken Mythos. Hg. von Hans-Jürgen Horn, Hermann Walter. Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler
6
Einleitung
Jörg Jochen Berns perspektiviert den Mythenstreit universaler, indem er die erhöhte Empfänglichkeit für den antiken Mythos anhand dreier Faktoren erklärt, nämlich durch „die Entdeckung der Neuen Welt, das Zerbrechen der kirchlichen Einheit und das Erstarken der Magie.“19 Besonders in Romane und panegyrische Festspiele hätten die heidnischen Götter Einzug gehalten, was neben der Romankritik im siebzehnten Jahrhundert auch zu einer „allegorischen Repräsentationswut“ in den europäischen Fürstenstaaten geführt habe.20 Die daraus resultierende Ästhetisierung der antiken Götter habe sich nicht mit der Angst vor einem neuen Erstarken des Paganismus harmonisieren lassen. Weil die Dichter sich selbst nicht hätten entscheiden können, wandten sie einen „theologischen und ästhetischen Synkretismus [an], der in einer allesverschlingenden, alles mit allem vermahlenden Mischallegorese seinen Ausdruck“ gefunden habe.21 Dieser Synkretismus lasse sich teilweise über thematische Eingrenzungen differenzieren: Generell sei die „Einmischung heidnischer Götter überall da als besonders heikel empfunden [worden], wo sie in traditionell […] sakramental besetzte Zonen des christlichen Kultes reich[e], wie eben den Sexualitätsbereich (Ehesakrament) und den Bereich des Sterbens (Sterbesakrament)“.22 Schon Ferdinand van Ingen hat Berns’ These als zu pauschal betrachtet, zu viele Zeugnisse widerlegen sie.23 Van Ingen erklärt den Widerspruch der theoretischen Ablehnung zur Praxis mit den poetischen Möglichkeiten, die sich durch die Rezeption des antiken Mythos ergeben hätten: Viele Dichter hätten sich „an den Götternamen mit ihrem häufig exotischen Klang berauscht“,24 was sich z. B. in der Wortkunst der Pegnitzschäfer zeige. Ihnen ginge es darum, „die ‚Stimme der Natur‘ in Buchstaben und Schrift zu fixieren und in der Onomatopoeie ihr Wesen hörbar zu machen“.25 Auch stellt van Ingen die Gegenposition zu den
Forschungen 75), S. 287–310, hier S. 309–310, spitzt diese Dichotomie zwischen weltlicher und geistlicher Dichtung auf den Dichter Birken selber zu: „Der weltliche Dichter Birken verfährt nach Opitz, der geistliche gemäß der eigenen Poetik.“ Besonders nach 1662 habe sich Birken verstärkt der geistlichen Dichtung zugewendet. 19 Jörg Jochen Berns: Gott und Götter. Harsdörffers Mythenkritik und der Pan-Theismus der Pegnitzschäfer unter dem Einfluss Francois Bacons. In: Georg Philipp Harsdörffer: ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. von Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991 (Forschungen zur europäischen Kultur 1), S. 23–83, hier S. 25. 20 Ebd., S. 30. 21 Ebd., S. 33. 22 Ebd., S. 42–43. 23 Ferdinand van Ingen: Mythenkritik und mythologische Invention: Daniel Heinsius, Sigmund von Birken, Philipp von Zesen. In: Euphorion 100,3 (2006), S. 333–358, hier S. 338. 24 Ebd., S. 335. 25 Ebd., S. 349.
1 Zur Legitimität des antiken Mythos in christlicher Zeit
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Pegnitzschäfern am Beispiel von Martin Opitz und Philipp von Zesen (1619–1689) dar. Opitz habe in seinem Lob des Krieges-Gottes (1628) den antiken Kriegsgott Mars christlich überlagert, wohingegen Philipp von Zesen in der Lustinne (1645) die Liebesgöttin Venus/Aphrodite als Göttin des Friedens eingedeutscht habe.26 Während unterschiedliche Rezeptionstheorien also bereits recht ausführlich untersucht sind – ohne dabei zu einem einheitlichen Ergebnis zu kommen – wurde die Dynamik und Vielfalt der praktischen Mythenrezeption in der Dichtung des siebzehnten Jahrhunderts nur unzureichend erforscht. Dass die unterschiedlichen Positionen jedoch auch und vor allem im intertextuellen Austausch der poetischen Praxis bereits vor der theoretischen Auseinandersetzung verhandelt wurden, kann exemplarisch an der Wirkungsgeschichte des Lieds Venus du und dein Kind (1574), das vielleicht populärste Werk von Jacob Regnart (1540–1599),27 und den vielen geistlichen Gegenstimmen skizziert werden. Zwar gibt es zu Regnarts Villanelle keine Einzelstudie, welche die Rezeption vollständig erfasst, auf die Erfolgsgeschichte der Melodie wurde jedoch schon vielfältig hingewiesen. Erk/Böhme haben zuerst auf die Beliebtheit geistlicher Kontrafakturen und auf die Verwendung der Melodie für historische Spottlieder aufmerksam gemacht.28 Darüber hinaus hat Gernod Gruber mit der katholischen Kontrafaktur von Francesco Rovigo (1540–1597)29 und Carol MacClintock mit den Adaptionen Cosimo Bottegaris (1554–1620)30 auch auf die ausländische Rezeption hingewiesen. Ferner konnte Ibershoff durch einen intertextuellen Verweis in Gustav Freytags Der Rittmeister von Alt-Rosen (1894) zeigen, dass sich Regnarts Lied auch im frühen neunzehnten Jahrhundert noch großer Bekanntheit erfreute.31 Darüber hinaus hat Jochen Kaiser die Entstehung des noch heute
26 Ebd., S. 350–358. 27 Zu Regnart vgl. Michael Zywietz: [Art.] Jacob Regnart. In: MGG Online, veröffentlicht 27. Juni 2018, https://www-1mgg-2online-1com-1t4lic0qu0b65.emedien3.sub.uni-hamburg.de/mgg/stable/46090 (Zugriff 22. August 2018). 28 Ludwig Erk, Franz Magnus Böhme: Deutscher Liederhort. Auswahl der vorzüglicheren Deutschen Volkslieder, nach Wort und Weise der Vorzeit und Gegenwart gesammelt und erläutert. Bd. 3. Hildesheim 1963 (Repogr. Nachdr. Leipzig 1894), S. 478, verweisen auf: Anonym: Ein schoen New-gemacht Liedt/ von Gebhart Truckseszen […]. 1583, [VD16 S 3580] und „Fritz du verwöhntes Kind“. In: New Bohemische Venus: Gesangsweiß gestelt […]. 1621, [VD17 1:692073B]. 29 Gernot Gruber (Hg.): Parodiemagnificat aus dem Umkreis der Grazer Hofkapelle (1564–1619). Graz 1981 (Denkmäler der Tonkunst in Österreich 133), S. VIII. 30 Carol MacClintock: A Court Musician’s Songbook: Modena MS C 311. In: Journal of the American Musicological Society 9,3 (1956), S. 177–192, hier S. 183. 31 Carl Henry Ibershoff: „Venus, Du und Dein Kind.“ In: Modern Language Notes 25,2 (1910), S. 39–41.
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gesungenen Kirchenlieds von Johann Hermann Schein (1586–1630) mit dem Titel Auf meinen Lieben Gott (1627) auf die niederländische Adaption Vp mynen leuen Godt (1590) zurückgeführt,32 und Eberhard Nehlsen verzeichnet dreizehn weitere Dichtungen auf die Melodie von Regnart.33 Außerdem nennt die niederländische Liederdatenbank 27 Bearbeitungen und fünf Übersetzungen bis 1695
32 Jochen Kaiser: [Art.] ‚Auf meinen lieben Gott.‘ In: Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch. Bd. 21. Hg. von Martin Evang, Wolfgang Herbst, Gerhard Hahn. Göttingen 2015 (Handbuch zum Evangelischen Gesangbuch 3), S. 70–73. 33 Neben den beiden Spottliedern, die schon Erk/Böhme, Liederhort, verzeichnen und der Niederländischen Kontrafraktur die Kaiser, Auf meinen lieben Gott, anführt, sind bei Eberhard Nehlsen: Berliner Liedflugschriften. Katalog der bis 1650 erschienenen Drucke der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Register. Bd. 3. Baden-Baden 2009 (Bibliotheca Bibliographica Aureliana 217), S. 1039, folgende Lieder aufgelistet: Johann Balhorn (d. J.): „Ach Vader unser all“. In: Veer schoene nye Christlike Leder […]. Lübeck ca. 1580, [VD16 V 457]; Siegmund Banstingl: „Als ich für meinen Leib mir nahm ein schön jungs Weib“. In: Von Weibern/ Ein guter newer raht/ […]. Prag 1593, [VD16 XL 27]; Johann Seyferdt: Weber Lob. Von der notwendigen nutzbarkeit des Weber Handtwercks. Augsburg 1605, [VD17 1:673297D]; Bernhardus Fusorius: Summarischer Bericht von der Stadt Braunschweigk […] 1606, [VD17 14:001582F]; Anonym: „Durch Gottes serck und Krafft/ Vb gute Ritterschafft“. In: Ein Troestlich Hausliedt […] 1592, [VD16 ZV 16102]; Wilhelm Ross: „Freyen ist wol gethan“. In: Drey Schoene Newe Lieder […] Magdeburg 1600, [VD16 ZV 8645]; Paul Lange: Nye JahrsLeedt/ vor alle Christlyke Quericheit. In: Twe Geistlyke Leder. Hamburg 1613, [VD17 1:670439C]; Martin Moller: „Gott Vater in Ewigkeit sei Lob und Ehr allzeit“. In: Zwey Schoene Newe Lieder […]. Magdeburg 1590, [VD16 ZV 6910]; Anonym: „Kein groessers Leyd nicht ist“. In: Drey Huebsche neuwe Lieder […]. Basel 1597, [VD16 ZV 8512]; Anonym: „Nun höret zu in gemein/ ein neues Liedlein“. In: Eine warhafftige geschicht/ Von einem ungerathenen Sohn/ welcher seinen Vater und Mutter/ geschlagen und ausgejaget hat […]. Alt Stettin 1601, [VD17 1:670411D]; Balthasar zu Augsburg: Ein schönes neues Geistlichs Lied/ O Welt du und dein Kind […], [VD16 ZV 11891]; Anonym: „Von der Weiber Freyheit“. In: Drey schöne Newe Weltliche Lieder […]. Ca. 1650, [VD17 1:687684S]; Anonym: „Wer soll dann trösten mich“. In: Drey schöner/ Newe weltlicher Lieder […]. Cölln 1603, [VD17 1:670298Y], vgl. Nehlsen, Berliner Liedflugschriften, Bd. 3, S. 1019. Ebenfalls auf Regnarts Ton gedichtet sind die beiden anonymen Lieder Ein Klaglied/ Vber die Calvinische Rotte […] Stettin 1596, [VD16 ZV 8976] und Ein Wunderlicher Streitt/ zwischen einem Kipperer unnd Juden […]. Kempten 1622, [VD17 23:277619X] sowie unter dem Pseudonym Niemant: Trewhertzige Warnung/ An die unwissendt irrende Braunschweigere […] 1607, [VD17 23:302941E]. Hinzukommen dürften weitere Bearbeitungen, die sich durch Rhythmik und intertextuelle Verweise erschließen, wie etwa das Lied von Theobald Höck: Das Cupido kein Kindt sey. In: Theobald Höck: Schönes Blumenfeld. Kritische Textausgabe. Hg. von Klaus Hanson. Bonn 1975 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik, und Literaturwissenschaft 194), S. 455–457, in dem Höck die allegorische Cupidodeutung von Regnart negiert: „Fürwar Cupido ist kein Kindt/ Nicht bloß noch Blindt“, vgl. ebd., Z. 2735–2736. Eine weitere geistliche Gegenstimme bietet Höck: Vnglück thut die Augen auff. In: Höck, Schönes Blumenfeld, S. 175–176, auf das Rudolf Haller: Geschichte der deutschen Lyrik vom Ausgang des Mittelalters bis zu Goethes Tod. Bern, München 1967 (Sammlung Dalp 101), S. 54, hingewiesen hat.
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(zwei weitere folgen 1766, eins sogar 1908).34 Eindrucksvoll widerlegt die starke Tradierung des Lieds Venus du und dein Kind mit über fünfzig Bearbeitungen die Forschungsmeinung,35 deutsche Lieder vor 1624 seien ohne bedeutsame Nachwirkung geblieben. Vielmehr lässt sich zunächst die überaus große Beliebtheit der Melodie und der Form der Villanelle feststellen.36 Darüber hinaus lässt sich anhand der textlichen Umgestaltungen jedoch auch der Rahmen abstecken, in dem über die Aneignung der heidnischen Götter geurteilt wurde, was beispielhaft an der frühen Kontrafaktur O Welt, du und dein Kindt (um 1580)37 von Balthasar zu Augsburg gezeigt werden kann.38 Die vier Strophen in Regnarts Venus du
34 Vgl. niederländische Liederdatenbank, http://www.liederenbank.nl/liedpresentatie.php?zoek=27159&lan=nl. (Zugriff 27. August 2018) 35 Aufschlussreich und umfänglich zusammengefasst von Irmgard Scheitler: Melodien und Gattungen anderer Nationen und die deutsche Gesangslyrik. In: Klang – Ton – Musik. Theorien und Modelle (national)kultureller Identitätsstiftung. Hg. von Wolf Gerhard Schmidt, Jean-Francois Candoni, Stéphane Pesnel. Hamburg 2014 (Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderheft 13), S. 171–208, besonders S. 171–175. 36 Der Begriff Villanella ist erstmals in Liederanthologien 1555 als Gattungsbezeichnung nachgewiesen. Konstitutive Merkmale sind der Refrain und die gehobene Diktion, welche die Villanella von der Villanesca abgrenzt, vgl. Donna G. Cardamone (übers. Helga Beste): [Art.] Villanella – Villotta. In: MGG Online, zuerst veröffentlicht 1998, online veröffentlicht 2016, https://www-1mgg2online-1com-1t4lic0qu0b65.emedien3.sub.uni-hamburg.de/mgg/stable/16666 (Zugriff 22. August 2018). Die Sammlung von Jacob Regnart: Kurtzweiligen teutschen Lieder zu dreyen Stimmen nach art der Neapolitanen oder welschen Villanellen. Nürnberg 1576. [VD16 ZV 26858], bildet mit der frühen Adaption von italienischen Vorbildern in der Geschichte des Lieds den Ausgangspunkt der deutschen Villanelle, vgl. Nicole Schwindt: „Philonellae“ – Die Anfänge der deutschen Villanella zwischen Tricinium und Napolitana. In: Gattungen und Formen des europäischen Liedes vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Hg. von Christian Bettels, Volker Honemann, Michael Zywietz. Münster u. a. 2005 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 8), S. 243–283. Schwindt stellt allerdings nicht Regnarts Liederbuch, sondern, die nahezu unbeachtete Sammlung Ivo de Ventos vor: Newe Teutsche Lieder mit drey Stimmen, wölche lieblich zu singen und auff allerley Instrumenten zugebrauchen. Landshut 1569. [VD16 ZV 2435]. 37 Über die Datierung des Lieds herrscht keine Klarheit. Eberhard Nehlsen: Berliner Liedflugschriften. Katalog der bis 1650 erschienenen Drucke der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Signaturengruppe Hymn. 3 – YD 9994. Bd. 1. Baden-Baden 2008 (Bibliotheca Bibliographica Aureliana 215), S. 187, gibt ca. 1580 an, während das VD16 die Entstehung auf 1560 festlegt, vgl. [VD16 S3640]. Letzteres ist unwahrscheinlich, weil die Tonangabe das Lied auf nach 1574 datiert. 38 Der Autor des Lieds ist unbekannt, aus der vorletzten Strophe lässt sich jedoch der Vorname Baltasar und der Wirkungsort Augsburg bestimmen, vgl. auch Philipp Wackernagel (Hg.): Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts. Mit Berücksichtigung der deutschen kirchlichen Liederdichtung im weiteren Sinne und der lateinischen von Hilarius bis Georg Fabricius und Wolfgang Ammonius. Bd. 5. Die Lieder aus den Zeiten Bartholomäus Ringwalds bis zum Anfang des XVII. Jahrhunderts, 1578–1603. Leipzig 1877, S. 463–464.
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und dein Kind haben je sechs Verse und bieten typisch für die Villanelle jeweils drei Paarreime (aabbcc). Dabei bildet der letzte Paarreim einer jeden Strophe den Refrain, der den klagenden Charakter des Lieds untermalt.
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Venus du und dein Kind/ seit alle bayde blind/ Und pflegt auch zu verblenden/ wer sich zu euch thut wenden/ Wie ich wol hab erfahren/ in meinen jungen Jaren.
Für nur ein freud allein/ Gibstu vil tausent pein/ Für nur ein freundlichs schertzen/ Gibstu vil tausent schmertzen/ Wie ich wol hab erfahren/ In meinen jungen Jaren/
Amor du Kindlein bloß/ Wem dein vergifftes Gschoß/ Das Hertz einmal berhüret/ Der wird als bald verführet/ Wie ich wol hab erfahren/ In meinen jungen Jaren.
Drumb rath ich jederman/ Von Lieb bald abzustahn/ Dann nichts ist zu erjagen/ In Lieb/ dann weh und klagen/ Das hab ich alls erfahren/ In meinen jungen Jaren.
Die Strophen sind einheitlich durchkomponiert: Die Versschlüsse der ersten zwei Verse sind männlich, die der letzten vier weiblich. Der vermutlich dem Rhythmus geschuldete regelmäßige Aufbau der Verse mit – abhängig von der Kadenz – je sechs bzw. sieben Silben und meist natürlich alternierenden Wortakzenten, dürfte bereits fünfzig Jahre vor Martin Opitz epochemachender Programmschrift, dem Buch von der Deutschen Poeterey, in der Opitz das akzentuierende Versmaß so wirkungsmächtig festgeschrieben hatte, Anklang gefunden haben. Inhaltlich sind die ersten drei Strophen durch eine Apostrophe an Venus/Amor verklammert, in der die paganen Liebesgötter synthetisiert für das Liebesleiden des lyrischen Ichs angeklagt werden. Die letzte Strophe bildet mit einem „rath [an] jederman | Von Lieb bald abzustahn“ (V. 19–20) die conclusio des Lieds. Die Synthese von Venus und ihrem Sohn Amor erfolgt bereits in der ersten Strophe, in der die beiden Liebesgottheiten als „alle bayde blind“ (V. 2) beschrieben werden. Amors Blindheit ist in der Mythologie zwar weitestgehend bekannt, nicht
Der Drucker, Valentin Fuhrmann, ist ermittelt durch Nehlsen, Berliner Liedflugschriften, Bd. 1, S. 187. Valentin Fuhrmann (†1608) war Drucker und Musikverleger in Schleusingen und Nürnberg. Er ist der Vater des etwas bekannteren Verlegers und Herausgebers Georg Leopold Fuhrmann (1578–1616), der mit dem Tabulaturdruck Testudo Gallo-Germanica (1615) eine der wichtigsten Quellen für Lautenmusik des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts herausgab. Zur Familie Fuhrmann vgl. Jürgen May: [Art.] Fuhrmann. In: MGG Online, zuerst veröffentlicht 2002, online veröffentlicht 2016, https://www-1mgg-2online-1com-1t4lic0qu0b65.emedien3.sub. uni-hamburg.de/mgg/stable/24303 (Zugriff 22. August 2018).
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dagegen, dass auch Venus erblindet sei. Das Motiv der Blindheit überlagert folglich die Liebesgöttin und ihren Sohn, wobei die Blindheit nicht nur auf Venus, sondern auch auf die Liebenden übertragen und damit das semantische Feld der ‚Blindheit vor Liebe‘ voll ausgeschöpft wird. Während die Hinwendung zur Liebe (V. 4) eine aktive Handlung des Liebenden suggeriert und die Blindheit der Götter Willkür andeutet, ist die zweite Strophe mit der Ovid-Reminiszenz des von Amor absichtlich geschossen Pfeils39 entschieden als Anklage gegen die Liebesgötter formuliert. Die Bezeichnung des Pfeils als „vergifftes Gschoß | [das] Das Hertz einmal berhüret“ (V. 8–9), deutet metaphorisch die in der petrarkistischen Antithetik fest verankerte, todbringende Liebespein an, die dann als Verführung zur Liebe aufgelöst wird (V. 10). Die Beschreibung der Liebe als körperlicher Schmerz zieht sich durch das gesamte Gedicht: In der ersten Strophe wird das Augenlicht geraubt, in der zweiten Strophe das Herz vergiftet und in der dritten und vierten Strophe wird die Liebespein hyperbolisch abstrakt als „tausent schmertzen“ (V. 16) und „weh und klagen“ (V. 22) extrapoliert. Gerade in der dritten Strophe, die in Parallelismen den Gegensatz zwischen der „freud allein“ (V. 13) zu „tausent pein“ (V. 14) und „ein freundlichs schertzen“ (V. 15) zu „vil tausent schmertzen“ (V. 16) darstellt, wird die erfüllte Liebe (das freundliche ‚Scherzen‘ charakterisiert die Liebe eindeutig als körperlich) antithetisch mit Liebeskummer aufgewogen. Dabei wird auch der Kontrast zwischen der kurzen Erfüllung und der langen Leidenszeit betont und somit die Vergänglichkeit der Liebe hervorgehoben. Diese spiegelt sich auch im Refrain wider: Das lyrische Ich hat in der Vergangenheit „in [s]einen jungen Jaren“ Liebesschmerz erfahren und sich deshalb von der Liebe abgewandt. Daher rät es in der letzten Strophe mit belehrendem Duktus „jederman“ (V. 19) von der Liebe ab. Die endgültige Abkehr wird auch durch den letzten Refrain ausgedrückt, der durch die leichte Abwandlung: „Das hab ich alls erfahren“ (V. 23) statt „Wie ich wol hab erfahren“ wie ein zusammenfassender Abschluss wirkt. Die Aussichtslosigkeit, dem Ratschlag Folge zu leisten, vermittelt dagegen das in die letzte Strophe transportierte Jagdmotiv „Dann nichts ist zu erjagen“ (V. 21), das an den jagenden Amor und seine liebesbringenden Pfeile in der zweiten Strophe anschließt. In diesem Sinne lässt sich auch der Refrain interpretieren: Wider das bessere Wissen und entgegen der Erfahrung kann sich das lyrische Ich der Liebe nicht entziehen. Durch das repetitive Moment wirkt der didaktische Impetus der letzten Strophe ironisch und hoffnungslos. Folglich stellt Regnart mit Antithesen den gegensätzlichen Charakter von unerfüllter Liebe dar, der zwischen Faszination gegenüber der Geliebten und Abkehr von der nicht erwiderten Liebe oszilliert, und schmückt das Lied mit der Bildlichkeit der antiken Mythen aus.
39 Vgl. Ovid, Met. X, 465–470.
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Die geistliche Kontrafaktur O Welt, du und dein Kindt von Balthasar zu Augsburg bietet fünfzehn Strophen mit ebenfalls je sechs paargereimten Versen. Neben dem Reimschema wurden auch die männlichen Kadenzen in den ersten beiden Versen und weiblichen in den letzten vier bewahrt. Die Erhaltung der Verschlüsse trotz der Variationen im Refrain sowie die metrische Übereinstimmung,40 durch die auch die Sangbarkeit auf dieselbe Melodie erhalten bleibt, zeugt von der Beflissenheit, Regnarts Lied stilistisch exakt zu imitieren, die Amplifikation der Strophenanzahl lässt sich dagegen als Überbietungsgestus einordnen. Balthasar zu Augsburg: O Welt, du und dein Kindt (1580)
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O Welt, du und dein Kindt/ Sind alle beyde blind. Thust du zu hertzen nicht führen. Groß unglück wirdt dich rühren. Dann dich Gott hat erfahren/ Wol drey und dreyssig Jahren. Der Teuffel mit seim gschoß/ Und Argen listen bloß. Thut dich so sehr blenden/ Auff Erden zu allen Sünden. Das du nicht kanst erfahren/ Dein Elend in den Jahren. Drumb rath ich jederman/ Von Sünden abelan. Und sich zu Gott bekehren/ Auch seiner Gnad begeren. Das Er uns wöll bewaren/ Von unglückes Jahren. Weil die Welt ist so toll/ Und falscher Practick voll. Auch inn wollust ersoffen/ Darff sie nit anders hoffen. Auch mit Gott mir erfahren/ Dann unglückes Jahren. O Werde Christenheit/ Bedenck der letzten zeyt.
Darinn du lust mit Schmerzten/ Gott wirt dein klag mit Hertzen. Im Himmel hoch erfahren/ In diesen letzten Jahren. Weil ie die Welt nicht will/ Von ihrer Sünden vil. Abstahn Sünder der massen/ Sich rühmbt ob allen Gassen. Ihr Sünd und Schand fürware/ Jetzunder her vil Jahre. So wirdt ihr ruhm zu spott/ Vor dem ewigen Gott. Und ihr hoffart zu Schanden/ Auff Erd in allen Landen. Wann er mit sein Scharen/ Verkürzen thut die Jahren. O du rings Häufflein klein/ Und Christenlich gemein. Thu auff sehen/ auff Erden/ Das du nicht in geferden. Kommest in vil netz garen/ Des Teuffels in den Jahren. Weil er so hoch auffspannt/ Und dich darzu ermandt. Die Sicherheit darneben/ Inn dem irdischen Leben.
40 Die meisten Verse zählen sechs bzw. sieben Silben. Eine Ausnahme bildet Vers 63: „Komet unnd Will rechnung hane“. Aufgrund der sonst häufigen Synkopen kann hier ein Druckfehler jedoch nicht ausgeschlossen werden.
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Thu dich darvor bewaren/ Inn disen kurtzen Jahren. 55
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O Welt das Liedlein klein/ Sey dir geschenckt allein. Thu dich darbey gedencken/ Was dir Christus thut schenken. In seim Leyden fürware/ Vor fünffzehnhundert Jahre. Leb du in Sünden nicht/ Wann er mit seim Gericht. Komet unnd Will rechnung hane/ Wie wirst du dann bestane. Vor seim Gericht fürware/ Am end der Letzten Jahre O Gott du Vatter frohn/ Sampt deim einigen Sohn. Wir bitten dich allsamen/ Durch deines Sohnes namen. Behüt du uns all gare/ Vor ungelückes Jahre.
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O Gott heyliger Geist/ Hilff uns auch aller meyst. Das wir hie auch auff Erden/ In trübsal und geferden. Auch in geduld erharren Das end der letzten Jahren. Der uns das Liedlein sang/ Balthas ist sein anfang. Und auch lassen genennet/ Zu Augspurg man jhn kennet. Er hats gedicht fürware/ Der Welt zum guten Jahre. Dieweil er auch gar schlecht/ Hat sie erkennet recht. Sie ihn offt thet je führen/ Mit vil ungelücke rüren. Doch wirdt ihn Gott bewaren/ Auff Erden alle Jahren.
Inhaltlich gliedert sich das Lied in drei Sinnabschnitte: (1) Die ersten vier Strophen kontrafizieren mit ähnlichem Wortlaut Regnarts Lied, (2) die Strophen fünf bis elf rufen die Christen zur Demut vor Gott auf und (3) die letzten vier Strophen apostrophieren den Schöpfergott im Gebet. Repetitive Exclamationes „O“ (V. 1, 25, 43, 55, 67, 73) unterstreichen den klagenden Charakter des Lieds, der vor allem durch die Variationen des Refrains entsteht. In der kontrafaktischen Bearbeitung ist der Referenztext bereits im Incipit markiert. Anstelle der Venus wird die Welt und ihr Kind apostrophiert, die metonymisch für die Sünder stehen, welche sich das nachfolgende Stück „zu hertzen […] führen“ (V. 3) sollen, damit sie nicht von „Groß unglück“ (V. 4) getroffen werden. Damit ist der didaktisch-mahnende Impetus bestimmt, der das ganze Gedicht durchzieht. Anders als in Regnarts Lied ist die Ausgangsperspektive nicht subjektiv rückblickend, sondern objektiv vorausschauend und mit dem Wissen begründet, dass der allwissende Schöpfergott auch die innersten Gefühle der Menschen kenne. Das Lied ist damit vom Tenor nicht erbauend, sondern eher dogmatisch. Die zweite Strophe ist analog zu Regnarts zweiter Strophe konstruiert. Übernommen sind die Reimwörter des ersten Paarreims „gschoß/bloß“ (V. 7–8), der liebesbringende Amor wird hingegen durch den zur Sünde verführenden „Teuffel“ (V. 7) ersetzt. Das Motiv der Blendung durch Liebe aus Regnarts erster
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Strophe wird ebenfalls aufgenommen und semantisch erweitert. Die Hinwendung zum Teufel verführt „zu allen Sünden“ (V. 10), sodass das bevorstehende Elend im Nachleben, auf das sich der Sünder zubewegt, für ihn selber nicht erkennbar ist. Die dritte Strophe beginnt mit einem leicht abgeänderten Zitat aus Regnarts vierter Strophe: „Drumb rath ich jederman | Von Sünden abelan“ (V. 13–14) anstatt „Drumb rath ich jedermann | Von Lieb bald abzustan“. Eindeutig wird körperliche Liebe mit Sünde gleichgesetzt, von der man Abstand nehmen und sich „zu Gott bekehren“ (V. 15) soll. Indem man „seiner Gnad begehr[t]“ (V. 16), könne man erwirken, dass Gott „uns wöll bewahren | Von unglückes Jahren“ (V. 17–18). Der aussichtslosen Perspektive in Regnarts Lied wird also die Hinwendung zu Gott entgegengestellt, der den Menschen von der Sünde erretten kann. Dass er dies aber nicht tun muss, wird in der nächsten Strophe eindeutig zum Ausdruck gebracht. Da die Welt voller „falscher Practick“ (V. 20) sei, dürfe die Christenheit nicht erwarten, dass Gott sie erlöse, vielmehr müsse sie Gottes Bestrafungen im irdischen Leben durchstehen. Regnarts spielerische, fingierte, mit Liebesschmerz begründete Absage an die Liebe überformt Balthasar zu Augsburg in christlichen Ernst. Das Vertrauen in die Allgütigkeit Gottes müsse dem frommen Christen ausreichen, um von den irdischen Freuden Abstand zu nehmen und sich der geistlichen Liebe zuzuwenden. Dementsprechend ist der zweite Sinnabschnitt des Gedichts als Aufforderung zur Demut gegenüber Gott und der Schöpfung formuliert. In drei Apostrophen an die „Werde Christenheit“ (V. 25), an ein „Häufflein klein“ (V. 43) und erneut an die „Welt“ (V. 55) ermahnt das lyrische Ich im memento-mori-Topos die eigene Vergänglichkeit (V. 25–42) zu bedenken, sich deshalb nicht mit irdischen Freuden aufzuhalten (V. 43–54) und Christus zu ehren, um vor dem letzten Gericht zu bestehen (V. 55–66). Dieser Teil des Gedichts wird ähnlich wie bei Regnart besonders durch zeitliche Angaben strukturiert. Während Regnart jedoch die Kürze der erfüllten Liebe mit der langen Leidenszeit kontrastiert, wird hier die zeitliche Begrenztheit des „irdischen Leben[s]“ (V. 52) gegenüber dem „ewigen Gott“ (V. 38) hervorgehoben und dadurch die Eitelkeit der weltlichen Freuden prononciert. Folgerichtig wird im letzten Teil des Lieds Gott zunächst mit der Bitte um Schutz „vor ungelückes Jahre“ (V. 72) und dann um Durchhaltevermögen (constantia) gegen Versuchungen angefleht: Hilff uns auch aller meyst. Das wir hie auch auff Erden/ In trübsal und geferden. Auch in geduld erharren Das end der letzten Jahren. (V. 74–78)
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Balthasar zu Augsburg positioniert sich eindeutig als Gegenstimme zu Regnart, indem er dessen populäres Lied entmythisiert, die irdische Liebeserfüllung als Sünde abwertet und das ewige Leben im Paradies gegen die kurze Erfüllung im irdischen Leben ausspielt. Die vergleichende Musterung skizziert die konkurrierende Relation zwischen der poetischen Verwendung des antiken Mythos und der christlichen Umdeutung, welche über ein komplexes Verständnis von Intertextualität und Intermedialität verhandelt wird. Dieses Konkurrenzverhältnis ist für die frühneuzeitliche Dichtung jedoch noch nicht annähernd erschlossen. Es soll deshalb in der vorliegenden Arbeit anhand der bisher vernachlässigten Fülle von lyrischen VenusRezeptionen untersucht werden. Das Thema eignet sich besonders gut für eine Fallstudie zur Verwendung antiker Mythen, da die pagane Liebesgöttin einerseits als Sinnbild für erotische Erfüllung, Verführungskunst und Liebesschmerz viele Ansatzpunkte zu bieten scheint, um die heidnischen Götter zu dämonisieren und zum Schutz christlicher Werte aufzurufen, andererseits jedoch seit jeher in der Kunst und Literatur als Reflexionsfigur des Ästhetischen dargestellt wurde. Überdies ist die Venus-Rezeption im siebzehnten Jahrhundert ein Desiderat in der deutschen Barockforschung. Nur wenige Studien haben sporadisch einzelne Dichtungen in den Blick genommen und dabei sogar die Vielfalt der Venus-Repräsentationen in Abrede gestellt. In ihrer Edition von Daniel Casper von Lohensteins Venus (1695) konstatiert etwa Charlotte Brancaforte zu Unrecht, in Bezug auf Martin Opitz’ Lob des Kriegesgottes (1628), es habe bis 1695 „kein Lobgedicht auf Venus bestand[en], das man Opitz’ Werk an die Seite stellen konnte“.41 Seither fehlt eine Arbeit, welche die Fülle von Venus-Dichtungen im siebzehnten Jahrhundert systematisch erschließt und die Bearbeitungs- und Rezeptionsstrategien in deutschen Venus-Dichtungen erforscht.
2 Fragestellung und Zielsetzung Die vorliegende Arbeit erforscht die deutsche Rezeption von Mythen und Motiven um die Liebesgöttin Venus.42 Dafür werden zunächst die mythologischen Quelltexte geordnet, um zu untersuchen, welche der antiken Leittexte den Dichtern des Barock zur Verfügung gestanden haben. Dies schließt eine Übersicht der 41 Charlotte Brancaforte: Lohensteins Preisgedicht „Venus“. Kritischer Text und Untersuchung. München 1974, S. 71. 42 Die Studie beschränkt sich dabei nicht auf die römische Liebesgöttin, vielmehr werden die griechischen und römischen Namen aller antiken Götter in der gesamten Arbeit als Synonyme gebraucht.
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zeitgenössischen (Teil-)Übersetzungen, Kommentare und Editionen antiker Quelltexte sowie einen Überblick des mythologischen Wissens über Venus in mythologischen und mythographischen Handbüchern und in anderen Kompilationswerken wie Anekdoten- oder Kuriositätensammlungen ein. Auch wird hinterfragt, wie die selektive Konjunktur einzelner mythischer Episoden entstanden sein könnte, also warum einzelne Episoden vermehrt, andere hingegen gar nicht rezipiert wurden. Nach der Quellenanalyse werden anhand von exemplarischen Einzelstudien die vielfältigen poetischen Rezeptionsstrategien analysiert, mit denen die Liebesgöttin in die deutsche Dichtung integriert wurde. Dafür werden neben den antiken Quellen auch frühneuzeitliche Vorlagen identifiziert. Über die rezeptionsästhetische Herangehensweise soll einerseits die Textgenese einzelner Werke nachvollzogen werden, andererseits sollen jedoch auch wiederholte Rezeptionsmuster herausgearbeitet und die intermediale und intertextuelle Gestaltungsvielfalt aufgezeigt werden, um das komplexe Verständnis von Intertextualität und Intermedialität zu erhellen, das den barocken Venus-Dichtungen zugrunde liegt. Ferner lassen sich über die Einbeziehung der Prätexte Abgrenzungsversuche zu früheren Literaturperioden und damit das Antikenbild der Epoche schärfen. Mit diesen literaturgeschichtlichen Aspekten der barocken Venus-Rezeption verbinden sich zwei zentrale Hypothesen, die das Forschungsvorhaben leiten. Da Venus primär als Liebesgöttin fungiert, wird erstens angenommen, dass in den Venus-Dichtungen Liebesauffassung verhandelt werden, die das Spannungsfeld zwischen der christlichen Ablehnung von irdischer Liebe einerseits und dem Wunsch nach sinnlicher Liebe andererseits ausmessen. Um eine Ausdifferenzierung des Liebesdiskurses im siebzehnten Jahrhundert nachzuweisen, soll gezeigt werden, dass in den Venus-Dichtungen eine Pluralität von Liebeskonzepten zum Ausdruck kommt. Weil Venus als Schönheitsgöttin in der Rezeptionsgeschichte jedoch ebenfalls zur Reflexion ästhetischer Konzepte diente, wird zweitens davon ausgegangen, dass in den Venus-Dichtungen poetologische Neuerungen erprobt werden. Folglich werden die Venus-Dichtungen auf immanente Poetiken befragt, die sowohl gattungstheoretische, ästhetische und mythopoetische Aspekte umfassen können. Durch die Konturierung einzelner poetologischer Konzepte lässt sich hernach auch die graduelle dichtungstheoretische Entwicklung im Barock nachvollziehen, die zwischen strenger gesellschaftlicher Einbindung und experimentierfreudiger Autonomie divergiert. Über diese zwei Leitfragen soll das Verhältnis zwischen mythopoetischer Praxis und der Dichtungstheorie in Bezug auf die zwischen Ablehnung und Aneignung oszillierende Venus-Rezeption bestimmt sowie das polyvalente Deutungsspektrum der Venus ausgeleuchtet und die Funktionalisierung der Liebesgöttin erforscht werden. Schließlich gibt ein diachroner Vergleich Aufschluss
3 Methode
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über den Wandel der Venus-Rezeption im Barock, um das Bild der dynamischen Barockepoche zu schärfen.
3 Methode Anders als bei vielen mythischen Gestalten (z. B. Sisyphos, Tantalus oder Ikarus) ist die Rezeption der Venus nicht ausschließlich an die Narration eines zentralen Mythos gebunden, vielmehr nimmt Venus in mehreren mythischen Episoden die Hauptrolle ein. Ferner wird ihr Aussehen und Wirken bereits in antiken Lobgesängen und Preisgedichten (z. B. in der fünften Homerischen Hymne) beschrieben. Deshalb scheinen zur dichterischen Venus-Rezeption generell vier Methoden möglich, die sich auch überschneiden können: Erstens können mythische Episoden über die Venus (etwa das Paris-Urteil) narrativ variiert, korrigiert und/oder kompiliert werden. Zweitens kann die Liebesgöttin durch deskriptive, antike Motive aufgreifende Lyrik tradiert werden (Darstellungen der schlafenden Venus oder des Venus-Wagen), ohne dass eine bestimmte mythische Episode nacherzählt wird. Drittens erlaubt die fehlende Bindung an einen zentralen Mythos, neue Erzählstränge zu erfinden, wie eindrucksvoll die freie Variation der Geburtsmythen der Venus belegen, die bereits bei Cicero nebeneinander existieren und von den renaissance-humanistischen Mythographen interpretiert und damit auch weiter rezipiert werden. Viertens können die antiken Liebesgötter Venus und ihr Sohn Amor metonymisch als liebesbringende Macht nutzbar gemacht werden. Gemeinsam haben die literarischen Venus-Rezeptionen, dass in ihnen – wie bei allen anderen Mythenrezeptionen auch – intertextuelle Systemreferenzen bemüht werden, also, wie Ulrich Broich und Manfred Pfister zu Recht konstatiert haben, auf eine „Sammlung einzelner Erzählmotive“ zurückgegriffen wird, die zu einem System verknüpft sind.43 Martin Vöhler und Bernd Seidensticker haben darüber hinaus in Rückbezug auf Hans Blumenbergs maßgebliche Studie Arbeit am Mythos nicht nur auf die äußerst hohe Produktivität der korrigierenden Neugestaltungen von ebensolchen Erzählmotiven hingewiesen, sondern mit der Einführung der Begriffe ‚Mythenkorrektur‘ und ‚Mythenvarianz‘ ein Instrumentarium zur Analyse von solchen produktionsästhetischen Prozessen vorgeschlagen. Ausgehend von dem von Blumenberg postulierten beständigen „narrativen Kern“ des Mythos44 handelt es
43 Ulrich Broich, Manfred Pfister (Hgg.): Intertextualität: Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 35), S. 56–58. 44 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. 1. Aufl. Frankfurt/M. 1979, S. 40.
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sich ihnen zufolge um Mythoskorrekturen, wenn durch die Bearbeitung entweder der Kern eines Mythos verändert oder die traditionelle Bewertung, die Semantik des Mythenkerns, ins Gegenteil verkehrt wird. Marginale Veränderungen beschreiben sie dagegen als Variantenbildung von Mythen.45 Die in der literaturwissenschaftlichen Mythenforschung mittlerweile etablierte Terminologie soll auch in der vorliegenden Studie nutzbar gemacht werden. Durch eine Analyse des empirischen Datenmaterials von K. Bender zu VenusRepräsentationen in den europäischen bildenden Künsten bis 170046 wird zunächst die strukturelle Dominanz der in der vorliegenden Arbeit behandelten drei Episoden – dem Paris-Urteil, der Venus-Mars-Episode und der Venus-Adonis-Liebe – nachgewiesen. Für Werke, in denen eine dieser einzelnen mythischen Episoden dargestellt werden, wird ein Strukturmodell erarbeitet, in dem der idealtypische Verlauf der jeweiligen mythischen Episode über Venus in ihrer ganzheitlichen Überlieferung (d. h. durch Kompilation der antiken Leittexte) nach der Art des russischen Strukturalismus47 aufgegliedert wird. Diese idealtypische Verlaufsform bildet die Basis für die rezeptionsästhetische Analyse nach der Terminologie von Vöhler/Seidensticker, die hervorheben, dass sich „Umfang und Intensität von stofflichen und thematischen Mythosvariationen und -korrekturen […] nur auf dem Hintergrund der jeweiligen Standardversion bestimmen“ lassen.48 Indes kann für Mythen keine Standardfassung vorausgesetzt werden, sondern nur eine Referenzform, die sich aus mehreren als kanonisch empfundenen Mythosfixierungen zusammensetzt. Anhand der Strukturanalyse wird eine solche Referenzform erstellt, sodass die Dichtungen mit dem idealtypischen Mythosverlauf abgeglichen und der Mythenkern isoliert werden kann. Einerseits wird dadurch erkennbar, wie sich das Rezeptionsinteresse im Laufe des Untersuchungszeitraumes (1624–1700) verlagert. Andererseits wird der narrative Kern durch die strukturanalytische Vorarbeit ersichtlich. Dadurch können die Bearbeitungsverfahren aufgedeckt und die Funktionen der Bearbeitungen präzise benannt werden.49 45 Martin Vöhler, Bernd Seidensticker (Hgg.): Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Berlin, New York 2005 (Spectrum Literaturwissenschaft 3), S. 5–6. 46 K. Bender: The Iconography of Venus from the Middle Ages to Modern Times. Bd. 1–6. Categorized under 18 main Topics, with an Index of Artists, a Directory of Owners and an extensive Bibliography. 2007–2013, https://sites.google.com/site/venusiconography/ (Zugriff 21. August 2018), hat den bisher umfangreichsten thematisch geordneten Katalog von Venus-Repräsentationen vorgelegt. 47 Vgl. Vladimir Propp: Morphologie des Märchens. Hg. und übers. von Karl Eimermacher. Frankfurt/M. 1975. 48 Vöhler/Seidensticker, Mythenkorrekturen, S. 7. 49 Fünf wichtige Bearbeitungsverfahren hat Achim Aurnhammer: Zum Deutungsspielraum der Ikarus-Figur in der Frühen Neuzeit. In: Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der
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Diese Methode eignet sich jedoch nur für Variationen bzw. Korrekturen von narrativ ausgestalteten Venus-Episoden, nicht aber für Dichtungen, die deskriptiv Venus-Motive ausgestalten oder Venus in frei erfundene, nicht-tradierte Erzählstränge integrieren. Solche Dichtungen werden mit dem Begriff der Mythostransformation erfasst.50 Transformationen sind nach Bergemann et al. komplexe Aneignungsprozesse, bei denen aus einem Referenzbereich ein spezifischer Aspekt herausgegriffen und so modifiziert wird, dass sich dadurch nicht nur das Referenzmedium, sondern auch das Aufnahmemedium verändert.51 Für die vorliegende Studie wird als Referenzbereich das System aller Venus-Mythen und -Motive im Sinne von Broich/Pfister verstanden, aus dem spezielle Aspekte herausgegriffen werden können und im Aufnahmemedium aktualisiert und neu variiert werden. Dies scheint besonders deshalb sinnvoll, weil das System der Venusmythen durch eine Transformation eines Venusmotives mitmodifiziert werden kann, wenn sich das transformierte Motiv in weiteren Rezeptionen etabliert. Wie Vöhler/Seidensticker hervorheben, liegt ein „konstitutives Moment der Mythenkorrektur […] in ihrer grundsätzlichen ‚Dialogizität‘“,52 denn die Wirkung der Mythoskorrekturen – gleiches gilt dabei für Mythostransformationen – lässt sich gerade über die semantische und ideologische Spannung zwischen den Bearbeitungen und der Referenzform bestimmen. Maximal lässt sich diese Spannung steigern, wenn nicht nur die artifizielle Referenzform im Kontrast zur Bearbeitung steht, sondern auf einen Einzeltext verwiesen wird. Obwohl Broich/ Pfister den Mythos allgemein als „intertextuelles Phänomen“ verstehen, bei dem „pointierte Einzeltextreferenzen zwischen bestimmten Fassungen in einer übergreifenden Systemreferenz aufgehoben“53 sein können, bleiben intertextuelle Verweise auf einzelne Mythosfixierung möglich. Deshalb werden die Dichtungen des Korpus auch auf Einzeltextreferenzen untersucht.
Mythenrezeption. Hg. von Martin Vöhler, Bernd Seidensticker. Berlin, New York 2005 (Spectrum Literaturwissenschaft 3), S. 139–164, definiert. Diese sind: Komisierung, Mythenallianz, Paradoxierung, Heroisierung und Antonomasie. 50 Lutz Bergemann, Martin Dönike, Albert Schirrmeister, Georg Toepfer, Marco Walter, Julia Weitbrecht: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. In: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. Hg. von Hartmut Böhme u. a. München. 2011, S. 39–57. 51 In der Etablierung des Methodenrepertoires ist dabei von Interesse, inwiefern die herangezogenen Theorien dem Gegenstand gerecht werden und ob das Textmaterial eine Neujustierung einfordert. Dies gilt sowohl für den Begriff der Mythenkorrektur als auch für den der Transformation. 52 Vöhler/Seidensticker, Mythenkorrekturen, S. 7. 53 Broich/Pfister, Intertextualität, S. 57.
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Dafür bietet es sich an, die sechs qualitativen Kriterien zur Beschreibung intertextueller Beziehungen von Broich/Pfister zu verwenden. Dabei bilden die ersten drei Kriterien eine Einheit, weil sie die Thematisierung eines Prätextes durch den Metatext betreffen: Die ‚Referentialität‘ versucht zu erfassen, wie stark ein metatextueller Bezug auf den Kontext des Prätexts referiert, die ‚Kommunikativität‘ soll den „Grad der Bewusstheit des intertextuellen Bezugs beim Autor und beim Rezipienten, der Intentionalität und der Deutlichkeit der Markierung im Text selbst“54 skalieren und die ‚Autoreflexivität‘ nimmt in den Blick, ob ein Autor „die intertextuelle Bedingtheit und Bezogenheit seines Textes in diesem selbst reflektiert.“55 Das vierte Kriterium, die ‚Strukturalität‘, hat dagegen die „syntagmatische Integration der Prätexte“56 zum Gegenstand, während die ‚Selektivität‘ die Spezifik und Prägnanz des intertextuellen Verweises betrifft. Das letzte Kriterium, die ‚Dialogizität‘, lotet die Funktionen der ersten fünf Kriterien aus, indem es die „semantische und ideologische Spannung“57 von Prä- und Metatext beschreibt. Während sich die Kriterien Referentialität, Strukturalität, Selektivität und Dialogizität seit der Einführung von Broich/Pfister als Analyseinstrumentarium bewährt haben, wurde die heuristische Eignung der Kommunikativität und der Autoreflexivität angezweifelt.58 Zumindest für die intertextuelle Analyse mythologischer Barockgedichte sind sie jedoch brauchbar, weil es zu den Eigentümlichkeiten der deutschen Barocklyrik gehört, dass viele Dichter in ellenlangen Anhängen ihre Vorbilder auflisten und erklären. Die Intensivierung intertextueller Verweise durch hohe Kommunikativität und Autoreflexivität sind in der Barockliteratur ein probates Mittel, um Wissen auszubreiten, Gelehrsamkeit zu demonstrieren und Überbietungen der antiken Vorlagen besonders wirkungsvoll zu gestalten.59 Die Kommentare der Barockautoren gehören – anders als in anderen Epochen – zum Kunstwerk. Die Frage nach der Kommunikativität und
54 Ebd., S. 27. 55 Ebd., S. 27. 56 Ebd., S. 28. 57 Ebd., S. 29. 58 Mit Verweis auf Hans-Georg Gadamers Überlegung, „ob die Zurückführung eines literarischen Textes auf die Meinungsäußerung ihres Urhebers […] den Kunstsinn von Literatur überhaupt zerstört“ (vgl. Hans-Georg Gadamer: Kunst als Aussage. Tübingen 1993, S. 47) hat Achim Aurnhammer gerade die implizite Intentionalität, die für Kommunikativität und Autoreflexivität vorausgesetzt wird, als wenig geeignete Gradmesser für Intertextualität von Erzähltexten der Moderne befunden, vgl. Achim Aurnhammer: Arthur Schnitzlers intertextuelles Erzählen. Berlin, Boston 2013 (Linguae & litterae 22), S. 4. 59 Diese Eigentümlichkeit und die Funktionen der Kommentare hat ausführlich Dieter Martin: Gedichte mit Fußnoten. Zesens Prirau und der frühneuzeitliche Eigenkommentar. In: Philipp
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der Autoreflexivität zerstört dementsprechend nicht den Kunstsinn der Barockliteratur, sondern trägt einer besonderen Ausprägung der Werke Rechnung. Neben der Frage nach Intertextualität werden auch intermediale Wechselbezüge zur Malerei und Musik untersucht, die nach Irina O. Rajewsky als „Mediengrenzen überschreitende Phänomene, die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren“,60 verstanden werden. Dabei unterscheidet Rajewsky zwischen drei Phänomenbereichen: (1) Medienwechsel nennt die „Transformation eines medienspezifisch fixierten Produkts […] in ein anderes, konventionell als distinkt wahrgenommenes Medium“, also etwa die literarische Beschreibung eines Bildes. (2) Medienkombination beschreibt sie dagegen als Phänomene, bei denen das Kunstwerk aus mindestens zwei „konventionell als distinkt wahrgenommene[n] Medien“ besteht, z. B. Embleme oder Opern. (3) Intermediale Bezüge nennt sie schließlich solche Prozesse, bei denen die „Bedeutungskonstitution eines medialen Produkts durch Bezugnahme“ auf entweder ein weiteres medial unterschiedlich geartetes Kunstwerk (=Einzelreferenz) oder „auf das semiotische System (=Systemreferenz) eines konventionell als distinkt wahrgenommenen Mediums“ realisiert wird.61 Während diese drei Kategorien durchaus ein geeignetes Analyseinstrumentarium zur poetischen Adaptation der Venus-Ikonographie im Barock bieten, scheint die Systemkontamination, welche Rajewsky als Anwendung der präskriptiven und restriktiven Regeln des Bezugssystems definiert,62 weniger geeignet, da besonders für die bildliche Sprache manieristischer Dichtungen die Grenzen zwischen systemkontaminierten, literarischen Darstellungen und den hyperbolisch-metaphorischen Sprachexperimenten vage bleiben müssten, ohne zusätzliche Erkenntnisse zu versprechen. Dass diese Methodik für Dichtungen, in denen mythische Episoden rezipiert werden, durchaus geeignet ist, zeigt die Arbeit von Olga Artsibacheva, die anhand deutscher Musikdramen die Rezeption des Orpheus-Mythos im 17. Jahrhundert untersucht hat.63 Allerdings besteht auch bei ihr insofern ein definitorisches Problem, weil sich Vöhler/Seidensticker bei der Einführung des Begriffs der Mythenkorrektur auf die viel zitierte Mythendefinition von Hans Blumenberg beziehen, der Mythen als „Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres
von Zesen. Wissen – Sprache – Literatur. Hg. von Maximilian Bergengruen, Dieter Martin. Tübingen 2008 (Frühe Neuzeit 130), S. 141–160 untersucht. 60 Irena O. Rajewsky: Intermedialität. Basel, Tübingen 2002 (OTB 2261), S. 157. 61 Ebd., S. 157. 62 Ebd., S. 160–161. 63 Olga Artsibacheva: Die Rezeption des Orpheus-Mythos in deutschen Musikdramen des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2009 (Frühe Neuzeit 132).
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narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit“64 definiert hat. Denn wenn sich ein Mythos durch seinen „beständigen narrativen Kern“ definiert, ließe eine Mythenkorrektur, also eine Bearbeitung, die diesen Kern verändert, den Mythos unerkennbar werden. Nicht eine korrigierte Version des ursprünglichen Mythos entstünde, sondern ein neuer, anderer Mythos. Diese Problematik deutet sich bereits in der Korrekturform der Mythenüberblendung an: Zwei Mythen, die sich im Kern gleichen und miteinander kombiniert werden, ohne dass Elemente von beiden Mythen deutlich markiert beibehalten werden, verschmelzen zu einem Mythos. Es wird undeutlich, zu welchem Mythos die neue Darstellung gehört, solange nicht einzelne Elemente der Mythen auch in den Korrekturen stabil bleiben. Denn schon Vöhler/Seidensticker sehen in dem „notwendigen Rückbezug auf vorgegebene Texte und Bilder“ ein konstitutives Moment der Mythoskorrektur.65 Ein Mythos lässt sich demnach nur bedingt durch die Beständigkeit seines narrativen Kerns definieren, weil der narrative Kern wieder aus mehreren Elementen besteht, von denen verschiedene verändert werden können, ohne dass die ‚Identität‘ des Mythos verloren geht.66 Ob der Mythos als solcher erkennbar bleibt, hängt dabei davon ab, in welcher Kombination die Elemente verändert werden und inwiefern die Elemente den Mythos als solchen markieren. Als Beispiel kann das Paris-Urteils dienen: Generell gliedert sich der narrative Kern des Mythos in fünf Abschnitte bzw. Elemente: (1) Der trojanische Prinz Paris (2) urteilt bzw. entscheidet (3) über die Schönheit von drei Göttinnen Athene, Hera, Venus und (4) erhält zum Lohn die griechische Schönheit Helena, (5) was den Anlass zum Trojanischen Krieg bildet. Nun sind viele Korrekturen denkbar, etwa, dass Paris sich nicht für Venus, sondern für Athene entscheidet und dadurch der Trojanische Krieg nicht ausgelöst wird. Die notwendige Bedingung ist, dass Paris entscheidet. Würde er jedoch zwischen nur zwei Göttinnen entscheiden, wären die Mythen vom Paris-Urteil und Herakles am Scheideweg bereits überlagert. Würde nicht Paris als Entscheider genannt, sondern nur ein Jüngling, würde man wahrscheinlich sogar eher von Herakles am Scheideweg als Subtext ausgehen als vom Paris-Urteil. Der Mythos hätte seine ‚Identität‘ verloren; der Kern wäre so verändert, dass er nicht mehr als Kern des Paris-Urteils erkennbar wäre. Diese Überlegung gilt ebenfalls für „stillschweigende Ausblendungen“.67 Logischerweise können nicht alle Elemente des Mythenkerns ausgelassen werden, ohne dass sich der Mythos gänzlich auflöst. Am Beispiel von 64 Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 40. 65 Vöhler/Seidensticker, Mythenkorrekturen, S. 7. 66 Ebd., S. 3. 67 Ebd., S. 5.
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Dictys Cretensis Ephemeris belli Troiani, (3. Jhd. n. Chr.) lässt sich das mögliche Ausmaß gut abstecken. Dictys führt nicht das Paris-Urteil als Ursache des Trojanischen Kriegs an, sondern schaltet dem menelaischen Troja-Feldzug eine Episode über die erste Zerstörung Trojas vor. Darin erobern die von Herakles angeführten Griechen die Stadt Troja und rauben dem alten trojanischen König Laomedon seine Tochter Hesione. Dafür rächt sich Paris mit dem Raub der Helena, worauf der Trojanische Krieg beginnt.68 Indem das mythische Urteil getilgt wird und eine Lücke hinterlässt, bleibt jedoch gerade der Zugang zum Mythos erhalten und die Mythenkorrektur extrem wirkungsvoll. Entscheidend dafür ist, dass Paris der Kriegsverursacher bleibt, denn sein Name markiert den Rückbezug auf das Paris-Urteil. Die nachstehende Tabelle veranschaulicht, welche Elemente in welcher Kombination maximal weggelassen werden können, ohne dass der Mythos unerkennbar wird. Konstitutive Elemente des Mythos vom Paris-Urteil. Der trojanische Prinz Paris
urteilt bzw. entscheidet
über die Schönheit von drei Göttinnen: Athene, Hera, Venus
und für seine Entscheidung erhält er die schönste Frau zur Braut
wodurch der Trojanische Krieg beginnt
1
Der trojanische Prinz Paris
urteilt bzw. entscheidet
−
−
−
2
(Jemand)
urteilt bzw. entscheidet
über die Schönheit von drei Göttinnen: Athene, Hera, Venus
−
−
3
(Jemand)
urteilt bzw. entscheidet
−
−
wodurch der Trojanische Krieg beginnt
4
Der trojanische Prinz Paris
(handelt)
−
−
wodurch der Trojanische Krieg beginnt
5
Der trojanische Prinz Paris
−
−
[…] erhält […] die schönste Frau zur Braut
−
68 Manfred Kern: [Art.] Venus. In: Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters. Hg. von Alfred Ebenbauer, Manfred Kern, Silvia Krämer-Seifert. Berlin, New York 2003, S. 638–662, hier S. 651.
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Durch diese Einschränkungen – die begrenzte Kombinierbarkeit der einzelnen Elemente der Mythenkerne und die notwendige Markierung der Zugehörigkeit der Fassung zum Mythenkomplex – wird auch die von Lévi-Strauss formulierte Definition eines Mythos als „die Gesamtheit seiner Fassungen“ greifbarer. Der Mythos bleibt nicht „so lange Mythos, wie er als solcher gesehen wird“,69 sondern so lange, wie er als zum jeweiligen Mythos zugehörig markiert ist.70 Diese Umakzentuierung ist deshalb wichtig, weil die Entscheidung, eine Mythenrepräsentation als zum Mythos zugehörig bzw. nicht zugehörig zu definieren, nun nicht mehr vom subjektiven Urteil des Rezipienten, sondern von der Repräsentation abhängig ist. Analoge Überlegungen lassen sich für den Adonis-Mythos durchführen, der sich in fünf Elemente gliedert: (1) Der schöne Jüngling Adonis (2) wird von Venus in der Unterwelt/bei Proserpina versteckt und (3) aufgrund des Streits zwischen den Göttinnen zum Wandler zwischen Ober- und Unterwelt. (4) Adonis und Venus verlieben sich, (5) doch auf der Jagd wird Adonis von einem Eber getötet. Auch hier sind viele Korrekturen denkbar, etwa, dass Adonis nicht mit Venus, sondern mit Proserpina eine glückliche Liebesbeziehung führt. Ferner könnte auch das Geschlechterverhältnis umgekehrt werden, sodass nicht ein Jüngling von außerordentlicher Schönheit, sondern eine weibliche Protagonistin von einem männlichen Gott in der Unterwelt versteckt würde und erst durch einen von Zeus geschlichteten Streit Teile des Jahres in der Oberwelt verbringen dürfte. Die eklatanten Überschneidungen mit dem ‚Raub der Proserpina‘71 würden dann jedoch an der ‚Identität‘ des Mythos zweifeln lassen. Gleiches gilt auch hier für die stillschweigende Ausblendung, denn der Mythos von einem überaus schönen Jüngling, den Venus versteckt, könnte mit dem Phaon-Mythos72 gleichgesetzt werden. Ein Mythos wird in der vorliegenden Arbeit dementsprechend – an die Blumenbergsche Formel angelehnt – als eine reich tradierte Geschichte mit einem hochgradig beständigen narrativen Kern verstanden, dessen Elemente nur begrenzt neu miteinander kombiniert werden können. Die „ausgeprägte [...]
69 Claude Lévi-Strauss: Anthropologie structurale. Paris 1958. Übers. v. Hans Naumann: Strukturale Anthropologie I. Frankfurt/M. 1967, S. 238–239. 70 Diese Definition ist durchaus anschlussfähig an Broich/Pfister, die den Mythos als eine Verknüpfung einzelner Erzählmotive zu einem System aufgefasst und als intertextuelles Phänomen ausgewiesen haben. Vgl. Broich/Pfister, Intertextualität, S. 56–58. 71 Zum Raub der Proserpina, vgl. Berthold Hinz: [Art.] Persephone. In: Der Neue Pauly. Supplemente Bd. 5. Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. von Maria Moog-Grünewald. Stuttgart, Weimar 2008, S. 563–566. 72 Zu Phaon vgl. Lutz Käppel: [Art.] Phaon. In: Der Neue Pauly, Bd. 9, Sp. 736–737.
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marginale [...] Variationsfähigkeit“73 scheint dagegen ein ergänzendes Merkmal von Mythen zu sein, das ebenfalls für andere Formen des Wiedererzählens gilt.74 So ergeben sich folgende Abweichungen für das Strukturmodell nach Vladimir Propp, der für die Struktur des Zaubermärchens vier Thesen formuliert hat: Erstens seien „die konstanten und unveränderlichen Elemente des Märchens […] Funktionen der handelnden Personen unabhängig davon, von wem oder wie sie ausgeführt werden“ und „bilden die wesentlichen Bestandteile des Märchens“.75 Deshalb seien „Nomenklatur und Attribute der handelnden Personen […] variable Märchenelemente“.76 Dies trifft für Mythen nur bedingt zu, weil die Namen der mythischen Figuren wichtige Marker für die Zugehörigkeit des Rezeptionsmediums zum Referenzmythos sind. Am Beispiel der Liebesepisode zwischen Venus und Mars mag dies veranschaulicht werden: Um den Kern des Mythos zu schildern, reicht es, das Liebesverhältnis zwischen den beiden Göttern zu formulieren. Der Satz „Venus liebt Mars“ reicht aus, um eine kanonische Deutung des Mythos, den Topos des durch die Liebe besiegten Krieges, größtenteils zusammenzufassen, ohne die periphere Erzählung vom durch Vulcanus entdeckten und zur Schau gestellten Ehebruch zu erwähnen. Indes können auch Attribute der Handelnden die Zugehörigkeit markieren, denn wenn der Urteilende im Paris-Urteil namenlos ist, dafür aber das Attribut der unermesslichen Stärke und Tapferkeit innehat, wären die Mythen von Paris’ Urteil und Herakles am Scheideweg ebenfalls überlagert. Die zweite These Propps ist, dass die „Zahl der Funktionen […] für das Zaubermärchen begrenzt“77 sei. Weil sich die Referenzformen von Mythen jedoch aus verschiedenen als kanonisch empfundenen Mythosfixierungen zusammensetzen, ist auch die zweite These Propps für Mythen nur solange zulässig, wie das Korpus der kanonischen Texte nicht um solche ergänzt wird, die auch die Zahl der Funktionen des jeweiligen Mythos vergrößert. Die dritte und vierte These Propps, dass die Reihenfolge der Funktionen stets gleichbleibt und alle Zaubermärchen
73 Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 40. 74 Ohne die umfängliche Kontroverse um den Begriff des ‚Mythos‘ unterschlagen zu wollen, gleichwohl jedoch eine redundante Zusammenfassung der Diskussion um die Definition des Begriffs zu vermeiden, sei für die verschiedenen Mythos-Definitionen auf den umfangreichen Artikel von Aleida und Jan Assmann: [Art.] Mythos. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. 4. Hg. von Hubert Cancik, Burkhard Gladigow und Karl-Heinz Kohl. Stuttgart u. a. 1998, S. 179–200, verwiesen. 75 Propp, Morphologie des Märchens, S. 27. 76 Ebd., S. 87. 77 Ebd., S. 27.
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hinsichtlich ihrer Struktur einen einzigen Typ bilden,78 lassen sich hingegen für Mythen übernehmen. Allerdings soll die vorliegende Studie diese Thesen keineswegs bestätigen, sondern versucht, sie in abgewandelter Form heuristisch für die rezeptionsästhetische Untersuchung mythologischer Dichtungen nutzbar zu machen. Um eine Referenzform herzustellen, ist es deshalb sinnvoll, die überlieferten Mythenfassungen zu einem idealtypischen Mythosverlauf zusammenzufassen. Dadurch kann der narrative Kern einer jeden mythischen Episode isoliert und in seine Elemente zergliedert werden, sodass die Arbeit am Mythos nachvollziehbar wird. Das definitorische Problem der Mythenkorrektur nach Vöhler/Seidensticker besteht durch diese Ergänzungen nicht mehr. Dagegen können mit der Isolierung einzelner Elemente des Mythenkerns inhärente Strukturen offengelegt und alle möglichen Minimalkombinationen der Mythenkernelemente herausgearbeitet werden, die den Mythos nicht in einen anderen oder neuen auflösen. Über die rezeptionsästhetisch-textgenetischen Analysen hinaus wird in ‚dichten Lektüren’ mit textnahen Analysen schließlich das Deutungsspektrum der VenusDichtungen ausgeleuchtet. Christlich-dämonisierende, poetisch-reflektierende oder politische Indienstnahmen der Venus-Mythen zeichnen sich häufig schon durch die poetischen Verfahren der Mythenkorrekturen ab. Um das Bild der konkurrierenden Liebeskonzeptionen im Barock zu schärfen, werden überdies mithilfe von Niklas Luhmanns Terminologie auch die zugrundeliegenden Konzepte von Liebe trennscharf unterschieden.79 Luhmann versteht in seinem systemtheoretischen Ansatz die Liebe nicht als Gefühl, sondern als „Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit all dem auf Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikation realisiert wird.“80 Um die zentralen Momente der Sinngebung des Codes zu erfassen, unterscheidet er vier Sinnbereiche: „(1) die Form des Code, (2) die Begründung der Liebe, (3) das Problem, auf das die Veränderung reagiert, indem sie es einzubeziehen sucht und (4) die Anthropologie, die sich dem Code zuordnen lässt.“81 Weil sich die vorliegende Arbeit auf die literarische Ausgestaltung von Liebeskonzeptionen konzentriert, die Sinnbereiche drei und vier aber auf die soziohistorische und anthropologische Perspektiven des Codes abzielen, wird Luhmanns Schematisierung im Sinne der Fragestellung auf die ersten beiden 78 Ebd., S. 28–29. 79 Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. 1. Aufl. Nachdr. Frankfurt/M. 1994, S. 49. 80 Ebd., S. 23. 81 Ebd., S. 51.
4 Untersuchungskorpus und Aufbau der Arbeit
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Sinnbereiche verknappt. In historischer Perspektive benennt Luhmann vier Formen des Codes, mit deren Wandel sich ebenfalls die Begründung der Liebe ändert:82 Auf die im Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit bestehende Form der Idealisierung, die sich durch die Kenntnis der (fingierten) Eigenschaften des Objekts begründet, folgte zur Mitte des siebzehnten Jahrhunderts die Paradoxierung, bei der sich die Liebe durch Imagination der Liebeserfüllung rechtfertigt. Mit einem neuen Bewusstsein von Individualität änderte sich die Form des Codes um 1800 erneut zur Reflexion von Autonomie, wurde also funktionalisiert, um anhand des Gefühls die eigene Autonomie wahrzunehmen. Diese dritte Form des Codes rechtfertigt sich durch die einfache Erfahrung, dass man als Individuum liebt. In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hat der Code die Funktion, „Problemorientierung im Alltag zu ermöglichen.“ Liebe rechtfertigt sich dann dadurch, dass sie sich zur gemeinsamen Identifikation und zur Lösung von Problemen eignet. Während sich das Schema der Liebe nach Idealisierung, Paradoxierung, Reflexion und Problemorientierung anbietet, um Liebeskonzeptionen trennscharf zu unterscheiden, scheint die ohnehin vage zeitliche Einordnung Luhmanns ungeeignet. Dagegen soll anhand der Venus-Rezeption die Pluralisierung und Ausdifferenzierung des Liebesdiskurses für den gesamten Untersuchungszeitraum und ohne notwendige Sukzession der einzelnen Konzepte bestimmt werden.83 Besonders um die konstante Pluralisierung des Liebesdiskurses, aber auch um die poetologische Entwicklung der Barockdichtung partiell nachzuvollziehen, werden abschließend in einem komparatistischen Forschungsansatz die Venus-Rezeptionen verglichen sowie die intertextuellen Bezüge zwischen den Dichtungen des Untersuchungskorpus analysiert. Dadurch kann der Befund einer Heterogenität der Antikenrezeption im Barock bestätigt und die Forschungslücke zur barocken Rezeption der Venusfigur geschlossen werden.
4 Untersuchungskorpus und Aufbau der Arbeit Das Korpus der vorliegenden Arbeit ist begrenzt auf längere Versdichtungen mit je ungefähr einhundert Versen, welche die mythologische Figur Venus zum Thema
82 Ebd., S. 51–52. 83 Aus kulturhistorischer Perspektive wurde die frühneuzeitliche Pluralisierung anhand von romanischen Bild- und Textzeugnissen bereits eindrucksvoll nachgewiesen durch die Beiträge im Konzeptband von Kirsten Dickhaut (Hg.): Liebessemantik. Frühneuzeitliche Darstellungen von Liebe in Italien und Frankreich. Wiesbaden 2014 (culturae 5).
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haben und nicht primär als Bühnenwerke konzipiert sind.84 Die heuristischpragmatische Eingrenzung auf große Dichtungen mit hundert und mehr Versen lenkt den Blick auf die hohe Konjunktur großer Lyrica auf Venus, die Brancaforte in Abrede gestellt hatte85 und hat zudem den Vorteil, dass das Korpus klar abgesteckt wird, ohne dabei den Rahmen des Untersuchungsvorhabens zu überschreiten oder die herausragenden Zeugnisse durch kleinere Liebesevokationen zu überdecken. Folglich werden kleinere Gedicht- und Liedformen nur ergänzend in die Überlegungen miteinbezogen, während einfache Metonymien in Titeln von Liedsammlungen oder Gedichtanthologien86 und medizinische Traktate, die sich mit der zeitgenössischen Syphilis-Verbreitung auseinandersetzen,87 ausdrücklich
84 Marginal sind die Venus-Rezeptionen in der Oper von Bernhard Jahn: Die Sinne und die Oper. Sinnlichkeit und das Problem ihrer Versprachlichung im Musiktheater des nord- und mitteldeutschen Raumes (1680–1740). Tübingen 2005 (Theatron 45), S. 322–324, erforscht worden, der die Opern von Georg Bronner (Musik), Jacob Kremberg (Text): Venus Oder die Siegende Liebe: In einem Sing-Spiel Vorgestellet. [Hamburg], 1694. [VD17 1:684198P] und von Reinhard Keiser (Musik), Christian Heinrich Postel (Text): Adonis: Wurde Mit Ihro Königl. Majestät und Churfürstl. Durchl. zu Sachsen allergnädigster Verwilligung auf dem Leipziger Schau-Platze in der Oster-Messe 1708. vorgestellet, in einer Opera. 1708. [VD18 11160055]. Zuvor, Hamburg 1697. [VD17 23:251863N] untersucht. 85 Vgl. Brancaforte, Lohensteins Venus, S. 71. 86 Etwa Johann Hermann Schein: Venus Kräntzlein: Mit allerley Lieblichen vnd schönen Blumen gezieret vnnd gewunden […]. Wittenberg 1609; Johann Christoff Görings von wenigenSömmern auf Tühringen Liebes-Meyen-Blühmlein oder Venus-Rosen-Kräntzlein. Hamburg 1645. [VD17 23:278478X] sowie Kaspar Stieler: Die Geharnschte Venus oder Liebes-Lieder im Kriege gedichtet mit neuen Gesang-Weisen zu singen und zu spielen gesezzet: nebenst ettlichen Sinnreden der Liebe/ Verfertiget und Lustigen Gemühtern zu Gefallen heraus gegeben von Filidor dem Dorfferer. Hamburg 1660. [VD17 23:283157S]. Zur Mythenrezeption in Liedersammlungen um 1600 vgl. jetzt Achim Achim Aurnhammer: Präsenz und Funktion des antiken Mythos in ‚Teutschen Liedlein‘ um 1600. In: ‚Teutsche Liedlein‘ des 16. Jahrhunderts. Hg. von Achim Aurnhammer, Susanne Rode-Breymann unter Mitwirkung von Frédérique Renno. Wiesbaden 2018 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 35), S. 271–288. 87 Als Beispiele seinen genannt: Steven Blankaart: Die belägert- und entsetzte Venus, Das ist/ Chirurgische Abhandlung Der sogenannten Frantzoßen/ Auch Spanischen Pocken-Kranckheit/ Durch Steph. Blancard […] Aus dem Niederländischen […] in unsere Hochdeutsche Sprach übersetzet. Leipzig 1689. [VD17 3:603946D], mit drei weiteren Auflagen 1690, 1693 und 1699; Heinrich Elias Hundertmarck [Übers.]: Nicolai Heinsii Schmachtende Venus, Oder Curieuser Tractat von Spanischen Pocken/ und so genanten Frantzosen Darinnen Die bißher im Brauch gewesene Salivations- und Schwitz-Cur gäntzlich verworffen/ und eine gantz neue und galante Methode/ selbige zu curiren/ gewiesen wird/ Aus dem Holländischen übersetzet von/ D. Phys. & Medico Ordin. in Zeitz. Nebst einem Anhang etlicher auf die neue Manier curirten Patienten. Frankfurt, Leipzig 1700. [VD17 3:301678G] sowie Carlo Musitano: Chirurgische und Physicalische Waag-Schaale Der Venus-Seuche/ Oder Frantzosen-Kranckheit: Darinnen nicht allein ihre Art/ und Zustand gemeldet/ sondern auch alle Zeichen/ Ursachen/ Vorher-Verkündigungen und Curen un-
4 Untersuchungskorpus und Aufbau der Arbeit
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nicht zum Gegenstand der Arbeit gehören. Da ein rezeptionsästhetischer Ausgangspunkt für die Untersuchung gewählt wurde, welche insonderheit die poetische Auseinandersetzung mit dem antiken Mythos erforscht, sind einfache Übersetzungen, Editionen oder Neuauflagen der antiken Autoritäten nicht in das Korpus aufgenommen worden. Gegliedert ist die vorliegende Arbeit, von Einleitung und Fazit abgesehen, in drei Hauptteile. Im ersten Teil werden antike Quellen über Venus kompiliert und daraus für drei Episoden je ein Strukturmodell des idealtypischen Mythenverlaufs erstellt. Daran schließt sich ein rezeptionsgeschichtlicher Forschungsüberblick zu jeder Episode an, bevor neben den antiken Quellen die zeitgenössischen mythographischen und mythologischen Handbücher sowie andere Sammelwerke, Übersetzungen und Kommentare einzelner Leittexte gemustert werden, die den barocken Poeten zur Verfügung gestanden haben, um das mythologische Wissen über Venus zu beziehen. Der zweite Hauptteil widmet sich der Preis- und Schmählyrik auf und gegen Venus, worin sich exemplarisch das changierende Verhältnis zwischen christlich-dogmatischer Ablehnung der paganen Mythologie und der kunstvollen poetischen Integration der Liebesgöttin ausmessen lässt. Mit Philipp von Zesens Lustinne (1645) und David Casper von Lohensteins Venus (1695) werden die beiden bekanntesten enkomiastischen Preisgedichte auf Venus in den Blick genommen, wohingegen mit Jacob Schwiegers Verlachter Venus (1659) und Sigmund von Birkens Schlaff der Sicherheit/ Das Erwachen (1659/1660) zwei intermediale, bisher eher unbekannte Schmähgedichte untersucht werden. Der dritte Hauptteil befasst sich mit den drei mythologischen Episoden, denen je eine Liebeskonzeption zuzuordnen ist. In den lyrischen Gestaltungen des Paris-Urteils wird die liebesinduzierende Faszination der Schönheit verhandelt, wohingegen in Venus-Mars-Dichtungen die kultur- und friedestiftende Kraft der Liebe zum Ausdruck kommt. Die Aneignungen der Adonis-Episode sind schließlich von Treuekonzeptionen geprägt. Folglich zerfällt dieser dritte Hauptteil in drei Unterkapitel: Im ersten wird exemplarisch für die Rezeption tersuchet und angewiesen werden. Nebenst Einer neu-erfundenen Artzney Solche Kranckheit glücklich zu curiren. Hamburg 1700. [VD17 23:703196V]. Auch solche Abhandlungen, die weniger medizinisch als belletristische Sexualkunde konzipiert sind, wie etwa Hector di Venella [Pseud.]: Bellum Veneris coniugale. Das ist: Ehelicher VenusKrieg: Darinnen gründlichen eigentlichen/ und klärlichen angezeiget […] wird/ wie sich ein junger Venus-Ritter/ so sich newlich in den Ehelichen VenusKrieg begeben/ bewapnen/ rüsten/ das Jungfräwliche Schloß mit bewehrter Hand stürmen/ eröbern/ triumphiren, und […] die Jungfräwlichen/ […] Rößlein zur ergetzligkeit brechen/ und erlustigen sol / Erstlichen durch […] Herrn Hectorem di Venella […] in Italianischer Sprache beschrieben. Nun aber […] in hoch gut derb Deutsch […] verdolmetzscht. Durch Carolum Cornelium Austriacum. 1613. [VD17 23:642341S], werden nicht in den Blick genommen.
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des Paris-Urteils mit Sigmund von Birkens Götterschenkungen (1646/1669) eine prosimetrische Statius-aemulatio vorgestellt, die strukturell zwei zeitgenössische Venus-Dichtungen von Samuel Hund und Johann Klaj beleiht, wohingegen Georg Rodolph Weckherlins Gedichte von dem Urtheil so Paris gegeben (1648) auf den französischen Beststeller-Roman Le Jugement de Paris (1608) von Nikolas Renouard zurückgeht. Im zweiten Unterkapitel wird die Venus-Mars-Rezeption beispielhaft an zwei Gedichten von Christoph Kaldenbach, dem Sarmatischen Hymen (1646) und der Preussischen Venus (1645) sowie an Johann Francks Neugeborenem Cupido (1649) untersucht. Während anhand von Kaldenbachs Dichtung, die sich aemulativ mit Statius’ Epithalamium für Stella und Violentilla (Silv. 1,2) auseinandersetzt, stellvertretend die allegorische Deutung des Ehebruchs untersucht wird, exemplifiziert Francks Venus-Dichtung die satirische Gestaltung mit der Ehebruchszene, die auf die neulateinische Elegie De phallis, qui in littore Batauica reperiuntur (1610) des niederländischen Dichters Daniel Heinsius zurückgeht. Im dritten Unterkapitel werden zunächst vier Adonis-Variationen von Heinrich Mühlpfort vorgestellt, die dessen fortwährende Beschäftigung mit der Adonis-Episode einerseits und mit dem Konzept der Treue nach dem Tod andererseits bezeugen. Schließlich werden anhand von Julius Wilhelm Zincgrefs Adonis Nachtklag vor seiner Liebsten Thür (1624) und der anonymen Venus klag um Adonis grab (1697) der Wandel der Adonis-Rezeptionen in zwei der wichtigsten barocken Anthologien – Zincgrefs Anhang zu den Teutschen Poemata (1624) von Martin Opitz und Benjamin Neukirchs Anthologie (1697) – nachvollzogen und damit auch die Gewichtung der Treue zum Ende des siebzehnten Jahrhunderts aufgezeigt. Die zehn Primärtextstudien bringen damit Venus-Dichtungen sowohl bekannter wie auch heute wenig erforschter Autoren zur Sprache, die intertextuell und intermedial mit weiteren Venus-Rezeptionen aus der lateinischen und griechischen Spätantike sowie mit neulateinischen, italienischen, französischen und deutschen Venus-Darstellungen verbunden sind und so einen repräsentativen Querschnitt durch das siebzehnte Jahrhundert bilden.
1 Quellenüberblick und Forschung – Venus in der Kunst und Literatur Als Göttin der Liebe, Lust und Sexualität, Fruchtbarkeit und Schönheit ist Venus eine der wichtigsten Götterfiguren im griechisch-römischen Pantheon. Als Ursache der Liebe ist sie in zahlreiche Mythen verstrickt, in denen sie selber liebt, Liebende beschützt oder diejenigen, die ihr die Huld versagen, straft. Seit der Antike wird sie mit vielfältigen Attributen und Begleitern dargestellt und immer wieder wurden neue Mythen über sie hinzugedichtet oder altbekannte abgeändert. Da sich die vorliegende Studie den dichterischen Venus-Darstellungen im Barock mit einem rezeptionsästhetischen Ansatz nähert, sei im Folgenden ein knapper, thematisch geordneter Überblick über die literarischen antiken Zeugnisse zur Venus gegeben. Dadurch soll die literarische Tradition der Venus dargestellt, die Vielfalt der Quellen umrissen und die Wandelbarkeit der Götterfigur aufgezeigt werden.88 Über die Geburt der Venus gibt es verschiedene Mythen: Die älteste Quelle, die ihre Geburt beschreibt, ist Homers Illias sowie seine Odyssee, in denen Venus als Tochter von Zeus und Dione ausgewiesen wird.89 Am häufigsten überliefert ist jedoch der Mythos ihrer Geburt aus dem Meeresschaum und den Genitalien des Uranos, die ihm von Kronos abgeschnitten und ins Meer geworfen werden.90 Außerdem ist ihre Geburt aus einem Ei überliefert, das von Fischen an den Strand gebracht und von Tauben ausgebrütet wird.91 Cicero berichtet dagegen von 88 Die Quellensammlung stützt sich auf Betina Full: [Art.] Aphrodite. In: Der Neue Pauly. Supplemente Bd. 5. Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. von Maria Moog-Grünewald. Stuttgart, Weimar 2008, S. 97–114; Anne Ley: [Art.] Aphrodite. In: Der Neue Pauly, Bd. 1, Sp. 838–844 und auf das Theoi-Projekt von Aaron J. Atsma, 2000–2017, http://www.theoi.com/ (Zugriff 23. November 2017). Die benutzen Textausgaben der abgekürzt zitierten antiken Quellen können dem Abkürzungsverzeichnis entnommen werden. Für Textsammlungen vgl. ferner Mario Leis (Hg.): Mythos Aphrodite: Texte von Hesiod bis Ernst Jandl. Leipzig 2000, und Kurt Roeske (Hg.): Venus und Aphrodite. Von Homers lockender Hera bis zu Petrons verführter Witwe. Texte, Erläuterungen, Illustrationen. Würzburg 2008. 89 Vgl. Hom. Il. 5.370–371. Ihm folgen: Eur. Hel. 1097–98, Nonn. Dion. 14.193–195, Ps.-Apoll. Bib. 1.13, Sappho, Hym. an Aphr. V. 2. 90 Hesiod, Theo. 176–210, Hom. Hym 6, Perv. Ven. 3, Ovid, Met. 4.536–538, Ovid, Her. 7.59–60, Sen. Phaedra 274, Apuleius, As. Aur. 6.6–7, Paus. Hell. Per. 2.1.8 und 5.11.8, Aelianus, Tierg. 14,28, Orph. Hym. 55, Quint. Smyr. Posthom. 5.69–72, Nonn. Dion. 1.86–88, 7.222–230, 12.43–51, Fulg. Myth. 1,2. Nur die Fahrt über das Meer nach Zypern beschreibt Diod. Siculus, Bib. Hist. 5.55.4, Tibullus, Carm. 1.2, 41–42. 91 Ps.-Hyg. Fab. 197. https://doi.org/10.1515/9783110684209-002
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vier verschieden Venus-Göttinnen: Drei, die nach den oben genannten Mythen geboren wurden, und eine, die als Tochter von Caelus und Dies, also als Kind von Himmel und Tag, auf die Welt kam.92 Schon Platon hatte im Symposion die himmlische Venus-Urania von der gemeinen Venus-Pandemos unterschieden und so den Gegensatz zwischen körperlicher und geistiger Liebe geprägt.93 So vielfältig wie die Geburtsmythen sind auch die Mythen der Entstehung ihres ständigen Begleiters Cupido, von dem mehrere Quellen überliefern, dass er zeitgleich mit Venus geboren worden sei.94 Dagegen berichtet Claudius Aelianus, dass Venus statt Nerites den Cupido zu ihrem Begleiter erwählt habe, weil Nerites ihr nicht auf den Olymp habe folgen wollen.95 Venus ist verheiratet mit dem Schmiedegott Vulcanus,96 doch gemäß ihrer Natur hat sie zahlreiche andere Liebhaber. Häufig wird ihre Affäre mit dem Kriegsgott Mars geschildert.97 Vom Sonnengott Helios auf die Liebschaft aufmerksam gemacht, deckt ihr Ehemann Vulcanus die Affäre auf, indem er die Liebenden in flagranti erwischt, mit einem Netz gefangen hält und das Liebespaar allen Göttern zur Schau stellt.98 Einige Quellen berichten von einer darauffolgenden Scheidung,99 andere behaupten dagegen, Mars habe Venus durch die Hochzeit zwischen ihr und Vulcanus verloren, ordnen die Ehe mit Vulcanus also der Affäre mit Mars zeitlich nach.100 Von einer Rache für den Ehebruch von Vulcanus an Venus berichten hingegen Nonnos und Statius,101 während Fulgentius überliefert, Venus habe Helios bestraft, indem sie seine fünf Töchter in unheilbringende Liebe versetzt hätte.102
92 Cicero, De Nat. Deo. 3.59. 93 Platon, Symp. 180d–181c. 94 Hesiod, Theo. 176–210, Ovid, Her. 7.59–60, Ibycus Frag. 324, Paus. Hell. Per. 9.27.1, Sen. Phaedra 274–276, Apuleius, As. Aur. 11.2, Nonn. Dion. 41.128–130. 95 Aelianus, Tierg. 14,28. 96 Virgil, Aen. 8.372–392, Libellus, V. 97 Hesiod, Theo. 933–937, Sim. F 263 (=PMG 575), Aisch. Hik. 662–264, Paus. Hell. Per. 5.18.5, Cicero, De Nat. Deo. 3.59, Statius, Silv. 1,2.51, Nonn. Dion. 5.88–90. 98 Hom. Od. 8,267–366, Platon, Rep. 390c, Quint. Smyr. Posthom. 14.40–59, Athenaeus, Deip. 1. 14c, Philos. Leb. Apoll. 7. 26, Ps.-Hyg. Fab. 148, Ovid, Met 4.170–189, Virgil, Georg. 4.346–347, Sen. Phaedra 124–127. 99 Ps.-Apoll. Bib. 3.187, Nonn. Dion. 5.580–585. 100 Ps.-Hyg. Fab. 166. 101 Statius, Theb. 2.269–273, Nonn. Dion. 5.580–585. 102 Fulg. Myth. 2,7.
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Darüber hinaus sind Liebschaften mit dem Götterboten Hermes,103 Zeus,104 Dionysus105 sowie mit Poseidon und Nerites106 bekannt. Neben den Verhältnissen mit Göttern stehen zahlreiche Liebesepisoden mit Menschen: So wird von Liebschaften mit Phaethon,107 Phaon108 und Butes109 berichtet. Am breitesten ist jedoch die Liebe zwischen Venus und Adonis tradiert,110 während die Liebe zu Anchises111 häufig im Zusammenhang mit der Aeneis erzählt wird, worin Venus als Mutter von Aeneas zum Hauptinitiator der Flucht des trojanischen Erben wird. Doch bereits im Trojanischen Krieg spielt Venus eine entscheidende Rolle. Da sie als Siegerin aus dem Urteil des Paris hervorgeht112 und dem trojanischen Prinzen dafür die griechische Schönheit Helena verspricht, ist sie entscheidend am Beginn des Trojanischen Kriegs beteiligt. Auch verlängert sie diesen, indem sie im Zweikampf zwischen Paris und Menelaos den unterlegenen Paris rettet.113 Einmal wird sie sogar selbst verletzt, als sie Aeneas rettet und dabei von Diomedes angegriffen wird.114 Dargestellt wird Venus entweder nackt oder mit außerordentlich viel Schmuck, Parfüm und kostbaren Kleidern115 sowie mit einer von Tauben116 oder
103 Diod. Siculus, Bib. Hist. 4.6.5, Ps.-Hyg. Fab. 271, Ovid, Met. 4.288–289. Dass Venus in Ägypten von Hermes verführt wurde, berichtet Ps.-Hyg. Astronomica 2.16. 104 Nonn. Dion. 5.611–613, 14.193–195 berichtet davon, dass Zeus versucht Venus zu vergewaltigen. 105 Orph. Hym. 57, Paus. Hell. Per. 9.31.2, Diod. Siculus, Bib. Hist. 4.6.1. 106 Aelianus, Tierg. 14,28. 107 Hesiod, Theo. 986–989, Ps.-Apoll. Bib. 3.181. 108 Die Liebe zu Phaon steht in eklatanter Ähnlichkeit zum Venus-Adonis Mythos. Beide werden in den Mythen in Salat gebettet: Adonis als er stirbt, Phaon bei seiner Geburt, vgl. Athenaeus, Deipn. 2. 69d, Aelianus, Varia Hist. 12,18, Palaiphatos, 48. 109 Ps.-Apoll. Bib. 1.135, Ps.-Hyg. Fab. 14. 110 Ps.-Apoll. Bib. 3.183, Paus. Hell. Per. 6.24.7, Orph. Hym. 56, Ant. Lib. Met. 34, Aelianus, Tierg. 9,36, Athenaeus, Deipn. 2. 69b–d, Ps.-Hyg. Fab. 58, 248, 251, 271, Ps.-Hyg. Astr. 2.7, Ovid, Met. 10.298–739, Prop. Eleg. 2.13, 52–56, Cicero, De Nat. Deo. 3.59, Nonn. Dion. 48.264–292, Fulg. Myth. 3,8. 111 Hesiod, Theo. 1008–1010, Hom. Il. 2.820–824, 5.247–248, 5.311–313, 20.105–106, Hom. Hym. 5. 58–202, Ps.-Apoll. Bib. 3.141, Paus. Hell. Per. 8.12, Ps.-Hyg. Fab. 94 und 270, Ovid, Met. 9.425, 13.624–629. 112 Cypria, PEG 1, Ps.-Apoll. Epit. 3, E2, Strabo, Geogr. 13.1.51, Ps.-Hyg. Fab. 92, Ovid, Her. 5.35–36, 16.87–88, 16.139–140, 16.168a–168b und 17.115–118, Apuleius, As. Aur. 10.30–33, Fulg. Myth. 2,1. Kolluthus, Hel. Rap. passim. 113 Hom. Il. 3.369–4.13, Ps.-Hyg. Fab. 112, Ps.-Apoll. Epit. 4, S1. 114 Hom. Il. 5.131–132 und 5.297–430, Ps.-Hyg. Fab. 112, Ps.-Apoll. Epit. 4, E2. 115 Hom. Od. 18.193–195, Hom. Hym. 5. 58–74, Hom. Hym. 6. 1–13, Cypria, PEG 1. 116 Fulg. Myth. 2,1.
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Schwänen gezogenen Kutsche,117 einem magischen Gürtel118 und mit Perlen.119 Daneben ist sie auch vielfach mit einem oder drei Äpfeln120 oder mit Salatblättern121 beschrieben worden. Heilige Blumen der Venus sind die Rose, die Anemone und die Myrte,122 die alle im Zusammenhang mit der Venus-AdonisEpisode genannt werden. Begleitet wird Venus von vielerlei Tieren, wie etwa von Schwalben,123 Muscheln,124 Schweinen,125 Fischen126 sowie von Schwänen, Turteltauben und Spatzen.127 Weitere Begleiter sind die Eroten Eros, Himeros und Pothos,128 die Grazien129 und die Horen.130 Da die vorliegende Studie der poetischen Venus-Rezeption gewidmet ist, beschränkt sich der nachstehende forschungsgestützte Überblick auf literarische Quellen.131 Um die Deutungen zu umreißen, die den barocken Poeten zur Verfügung standen, wird insbesondere die Rezeptionsgeschichte vor dem siebzehnten Jahrhundert behandelt.132 117 Orph. Hym. 55, Ovid, Met. 14.596–598, Apuleius, As. Aur. 6.6–7. 118 Hom. Il. 14.181, Philostr. Jüng. Imag. 8, Apuleius, As. Aur. 2.8–9, Kolluthus, Hel. Rap. 155–156, Nonn. Dion. 32.10–37. 119 Nonn. Dion. 32.10–37. 120 Philostr. Ält. Imag. 1.6, Nonn. Dion. 13.333–354, Athenaeus, Deip. 3. 84c. 121 Athenaeus, Deip. 2. 69b–d. 122 Perv. Ven. 8. 123 Aelianus, Tierg. 10,34. 124 Athenaeus, Deipn. 3. 88a, Nonn. Dion. 32.10–37. 125 Aesop, Fab. 222, Athenaeus, Deip. 3. 95 f–96a. 126 Ps.-Hyg. Fab. 197, Ps.-Hyg. Astr. 2.30, Ovid, Met. 5.336. 127 Aelianus, Tierg. 10,33, Ps.-Hyg. Fab. 197, Ovid, Met. 13.673–674 und 14.596–598, Apuleius, As. Aur. 6.6. 128 Hesiod, Theo. 176–210, Paus. Hell. Per. 1.43.6. Nicht spezifiziert sind die Eroten bei: Orph. Hym. 55, Prop. Eleg. 2.2, 8a–8b, Val. Flaccus, Arg. 6.455–657 und 7.171, Statius, Silv. 1,2.51, Kolluthus, Hel. Rap. 15–16. 129 Hom. Il. 5.337–338, Hom. Od. 18.193–195, Hom. Hym. 5.61, Cypria, PEG 6, Ibycus, Frag. 288, Paus. Hell. Per. 6.24.7, Apuleius, As. Aur. 2.8–9 und 10.30, Nonn. Dion. 3.110–112. 130 Hom. Hym. 6. 1–13, Cypria, PEG 6, Ibycus, Frag. 288, Apuleius, As. Aur. 10.30–33. 131 Für die ikonographische Rezeption der Venus sei auf die überaus umfangreichen Artikel von Angelos Delivorrias, Gratia Berger-Doer, Anneliese Kossatz-Deissmann: [Art.] Aphrodite. In: Lexicon iconographicum mythologiae classicae. Bd. 2,1. Aphrodisias – Athena. Hg. von Nikolaos Yalouris. Zürich u. a. 1984, S. 2–151 und Evamaria Schmidt: [Art.] Venus. In: Lexicon iconographicum mythologiae classicae. Bd. 8,1. Thespiades – Zodiacus. Hg. von Nikolaos Yalouris. Zürich u. a. 1997, S. 192–230, verwiesen. 132 Grundsätzlich wird für den nachstehenden Rezeptionsüberblick, teils durch neuere Literatur ergänzt, der maßgebliche Artikel von Full, Aphrodite, S. 97–114, referiert. Lesenswert ist auch die als begleitende Lektüre konzipierte Studie von Nora Clark: Aphrodite and Venus in Myth and Mimesis. Newcastle 2015, besonders S. 7–80, die einen chronologischen Überblick zu den Quellen über Venus/Aphrodite liefert, dabei jedoch teilweise methodische und strukturelle
1 Quellenüberblick und Forschung – Venus in der Kunst und Literatur
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Bereits in den frühsten literarischen Zeugnissen ist die Macht der Venus über den Kosmos angelegt: Besonders der durch Hesiods Theogonie geprägte Geburtsmythos, in dem Venus aus dem Schaum der in das Meer geworfenen Genitalien des Uranos entsteht, charakterisiert Venus als kosmologisch wirkendes Prinzip der universalen Vereinigung. Ihre anthropomorphen Züge verdichten sich in der homerischen Ilias, in der vielfältige Interaktionen mit den Menschen geschildert werden. So wird sie von Paris zum weiblichen Idealbild gekürt und entfacht die Liebe zwischen dem trojanischen Prinzen und der griechischen Schönheit Helena. Ferner greift sie etwa beim Zweikampf zwischen Menelaos und Paris schützend in die Kampfhandlungen ein und wird im Spiegel ihrer Affäre mit dem Kriegsgott Mars selbst zum Opfer der durch sie verursachten Liebe.
Schärfe vermissen lässt, etwa wenn in den Unterkapiteln der chronologischen Darbietung der Quellen einzelne Autoren, einzelne mythische Episoden, religiöse Aspekte und neuzeitliche Rezeptionen vermischt dargestellt werden. Dagegen sind die monographischen Würdigungen von Geoffrey Grigson: The Goddess of Love: The Birth, Triumph, Death and Return of Aphrodite. London 1976, und Andrew Dalby: The Story of Venus. London 2005, eher als romanhafte Lesebücher konzipiert, die nicht die Grundlage eines Forschungsüberblicks bilden können. Ohne Gewinn bleibt die populärwissenschaftliche Studie von Wolfgang Beutin: Aphrodites Wiederkehr. Beiträge zur Geschichte der erotischen Literatur von der Antike bis zur Neuzeit. Frankfurt/M. u. a. 2005, die keinem wissenschaftlichen Standard gerecht wird. Während der durchaus materialreiche Querschnitt durch die literarischen Zeugnisse über Aphrodite Sekundärliteratur weitgehend vernachlässigt und zudem nur selten kritische Textausgaben benutzt oder angibt, bleibt auch die angestrebte Typologie der „fünf dominierende[n] erotische[n] Motive in der Geschichte der Dichtung“ (ebd. S. 7) nicht nur aufgrund der fehlenden stringenten Methode unzureichend. Vielmehr bleibt fraglich, inwiefern beispielsweise die unreflektierten Reproduktionen eines nicht identifizierten Interviews in dramatischen Ellipsen („Sie […] wird vergewaltigt und bekam als Folge davon ein Kind (wächst entfernt von ihr auf). Alkohol- und Haschischkonsum. Sie beichtet sadistische Neigungen“, S. 103–104) dazu beitragen, das literarische Motiv der Prostitution zu schärfen. Fragliches Analysematerial, wie etwa ein Zeitungsartikel der ‚Bild Zeitung‘ (S. 100) oder eine Sendung des Fernsehsenders RTL (S. 324) verstärken den unseriösen Eindruck des Bandes, der überdies die sexuellen Neigungen von Menschen kategorial verurteilt (etwa, wenn Beutin danach fragt, ob Transvestitismus „eine Perversion oder lediglich eine sexuelle Variante“ (S. 334) sei und selbiges „Raster an übergeordneten Fragen“ (S. 338) für Transsexualismus vorschlägt, vgl. S. 339). Auch das vergleichsweise spärliche Literaturverzeichnis weist Mängel auf, da einschlägige Titel teils nur sekundär in Form von Besprechungen durch Zeitungsartikel gewürdigt werden (Jan Assmann: Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus. München, Wien 2003, genannt durch den Artikel des Zeit-Redakteurs Thomas Assheuer) oder ganz fehlen, wie Jean Seznec: Das Fortleben der antiken Götter. Die mythologische Tradition im Humanismus und in der Kunst der Renaissance. München 1990 (Zuerst frz. La survivance des dieux antiques. London 1940).
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Die Homerische Hymne an Aphrodite verbindet die kosmologische Wirkmacht der Venus mit ihrer erotischen Prägung.133 Anchises in ihren Liebesbann ziehend zeugt Venus mit ihm Aeneas, den trojanischen Helden und späteren Gründer Roms. Die geschilderte sexuelle Vereinigung mit Anchises intensiviert ihre anthropomorphen Wesenszüge und macht sie zum Symbol menschlicher Prokreation. Überdies avanciert sie zur kosmologisch wirkenden, zukunftsbestimmenden Göttin, die den Verlauf der Weltgeschichte entscheidend beeinflusst.134 Poetologische Aspekte der Homerischen Hymne an Aphrodite hat indes Pascale Brillet-Dubois herausgearbeitet. Indem sie die narratologische Struktur der Hymne mit der achillischen Aristie aus der Ilias vergleicht, zeigt sie, wie die Genregrenzen zwischen Hymne und Epos aufgeweicht werden.135 In den antiken griechischen Tragödien differenziert sich ein ambivalentes Bild der Venus aus, welches die Göttin im Spannungsfeld zwischen allumfassender Liebe und hasserfüllter Rachsucht darstellt. In Aischylos’ Hiketiden wird der Antagonismus zwischen Venus und der Jagd- und Keuschheitsgöttin Artemis geprägt, den Euripides in seinem Hippolytos konkretisiert und in der Bestrafung von Hippolytos’ Übermut auf die destruktive Seite der Venus abhebt. Gleichermaßen profiliert Euripides die Liebesgöttin in seiner Medea als kulturstiftende Kraft, wenn der Chor im dritten Stasimon die Attika als ein von Venus kultiviertes Land lobt, welches niemals eine Kindsmörderin aufnehmen würde.136 Während Platon die gegensätzlichen Venusfigurationen im Symposion ethisch wertet und durch die Unterscheidung zwischen Venus Urania und Venus Pandemos den Gegensatz zwischen der körperlich niedrigen und der geistigen Liebe prägt, poetologisiert Apollonius von Rhodos die Venus in der Argonautika. Darin erscheint Venus als himmlische Göttin, die gemeinsam mit ihrem Sohn Cupido den Kosmos beherrscht. Die poetologische Funktion der Venus wird bereits durch den Musenanruf an Erato angedeutet, in dem Erato mit Venus überlagert wird und so die Wirkungsbereiche der Liebesgöttin und der Muse zusammenführt. 133 Diese Verbindung resultiert nicht allein aus der motivischen Weiterentwicklung, sondern auch durch die sprachlichen Anleihen aus der Ilias und der Theogonie, die Bündig zusammengefasst sind von Andrew Faulkner: The Homeric Hymn to Aphrodite. Introduction, Text, and Commentary. Oxford, New York 2008, S. 31–38. 134 Vgl. S. Douglas Olson: The Homeric Hymn to Aphrodite and Related Texts. Text, Translation and Commentary. Berlin, Boston 2012 (Texte und Kommentare 39), S. 28–34. 135 Vgl. Pascale Brillet-Dubois: An Erotic Aristeia. The Homeric Hymn to Aphrodite and its Relation to the Iliadic Tradition. In: The Homeric Hymns. Interpretative Essays. Hg. von Andrew Faulkner. Oxford, New York 2011, S. 105–132. 136 Vgl. Ursula Bittrich: Aphrodite und Eros in der antiken Tragödie. Mit Ausblicken auf motivgeschichtlich verwandte Dichtungen. Berlin, New York 2005 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 75), S. 115–116.
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Besonders der Spielball des Zeus, den Venus ihrem Sohn als Geschenk verspricht, sollte er Medeas Liebe zu Jason entfachen, symbolisiert die Macht der Venus über den Erdball und auf einer metapoetischen Ebene auch über den weiteren Handlungsverlauf.137 Auch in der kaiserzeitlichen Argonautica-Adaption von Valerius Flaccus, in der die furiale Venusfiguration überwiegt, kommt der Liebesgöttin eine metapoetische Funktion zu. Bereits zu Beginn wird sie als janusköpfig dargestellt, indem ihre Schönheit zunächst in der vertrauten Motivik vorgestellt wird, bevor eine Umkehrung der Schönheitsbeschreibung auch ihre dunkle Natur sichtbar macht. Bei Flaccus ist Venus’ Einschreiten in die Mordund Kampfszenen, in denen sie als Furie Gestalt annimmt, durch ihren Zorn auf die Lemnierinnen motiviert, den Flaccus kausal mit der von Helios und Vulcanus aufgedeckten Ehebruchsszene verknüpft.138 Ihre Eingriffe strukturieren dann auch den weiteren Handlungsverlauf und präfigurieren Medeas Entwicklung. Venus kommt demnach eine die Handlung vorantreibende, metapoetische Funktion zu.139 In Ovids Metamorphosen nimmt Venus eine vielschichtige Rolle ein: Neben ihrer Funktion als Reflexionsfigur weiblicher Schönheit wird sie als ehebrecherisch140 und rachsüchtig portraitiert, indem sie Hippomenes für seinen Undank straft141 und Diomedes und dessen Gefährten in Vögel verwandelt, weil sie von Diomedes im Kampf verletzt wird.142 Ovid zeigt die Liebesgöttin als passionierte Liebende, die den Tod des Adonis betrauert,143 aber auch und vor allem als vielfache Mutter und Schöpferin. Das polyvalente Wesen der Venus vereint bei Ovid demnach die wesentlichen Liebeskonfigurationen und verkörpert ideale Schönheit.144 Überdies hat Hélène Vial die politische Dimension der Venus bei Ovid
137 Christine Kossaifi: Qu’il est difficile d’être maman! Scène de genre dans les Argonautiques d‘Apollonios de Rhodes (III, 1–166). In: Aphrodite-Vénus et ses enfants. Incarnations littéraires d’une mère problematique. Hg. von Hélène Vial. Paris 2014, S. 51–66, besonders S. 60–63 und S. 66. 138 Vgl. Dorothee Elm von der Osten: Liebe als Wahnsinn. Die Konzeption der Göttin Venus in den Argonautica des Valerius Flaccus. Stuttgart 2007 (Potsdamer altertumswissenschaftliche Beiträge 20), S. 18–33. 139 Vgl. von der Osten, Liebe als Wahnsinn, S. 13. 140 Ovid, Met. 4.170–189. 141 Ovid, Met. 10.681–707. 142 Ovid, Met. 14.477–511. 143 Ovid, Met. 10.524–739. 144 Vgl. neben Full, Aphrodite, S. 97–99, auch den neueren Artikel von Hélène Vial: Puissance transformatice et passion du pouvoir: Vénus et ses enfants dans les Metamorphoses d’Ovide. In: Aphrodite-Vénus et ses enfants. Incarnations littéraires d’une mère problematique. Hg. von Hélène Vial. Paris 2014, S. 93–111.
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hervorgehoben, indem sie die Bezeichnung der Venus als „Genetrix“145 als ironischen, intertextuellen Verweis auf die translatio imperii Cesars wertet, der die Abstammung der Julier (und damit seine eigene) auf den Venus-Sohn Aeneas zurückführte, um seine Herrschaft genealogisch zu rechtfertigen (Suet. Iul. 6.1).146 Vials These bleibt jedoch besonders deshalb zu hinterfragen, weil die Bezeichnung von Venus als Schöpferin bereits in der Literatur vor Ovid weit verbreitet war und vor allem durch das Lehrgedicht De rerum natura von Lukrez geprägt worden war, in dem Venus als „Aeneadum genetrix“147 apostrophiert und darauffolgend zu einer den Kosmos erhaltenden und vorantreibenden Liebes, Sexualitäts- und Fortpflanzungsgöttin stilisiert wird.148 Tibullus entwickelt im ersten Buch seiner Elegien ein religiös verklärtes Bild der Liebesgöttin: Als strafende Göttin muss sie von Spöttern149 und Treulosen150 gefürchtet werden, während sie ihre Verehrer beschützt und ihr Liebesverlangen begünstigt. Damit avanciert die Göttin zu einem ordnenden Prinzip und gleicht darin dem Venus-Bild, das Lukrez im Proömium zu seinem Lehrgedicht De rerum natura entwirft.151 Im zweiten Buch Tibulls wird das religiös geformte Bild der Venus hingegen konterkariert, nahezu ironisch gebrochen. In Berufung auf die alles überschattende Habgier der Geliebten wendet sich das lyrische Ich zugunsten von weltlichen Gütern von Venus ab.152 Anhand der tibullischen Venusfiguration lassen sich folglich der Wandel der Liebeskonzeption sowie ein poetologischer Umbruch in Tibulls Liebesdichtung nachvollziehen. Während Tibull die Liebesgöttin besonders anhand der sich wandelnden Haltung des lyrischen Ichs zur Venus porträtiert, zeichnet Horaz ein vielfältigeres Bild: Einerseits tritt Venus auch bei Horaz als Personifikation einer kosmologischen Liebesmacht hervor,153 andererseits betont er die Funktion der Venus als
145 Ovid, Met. 10.605. 146 Zu den ikonographischen, archäologischen und literarischen Quellen, welche die Identifikation der Julier mit Venus bezeugen vgl. Carol U. Merriam: Love and Propaganda. Augustan Venus and the Latin Love Elegists. Brüssel 2006, S. 19–30. 147 Lukrez, De rerum nat. V. 1. 148 Vgl. Luciano Landolfi: [Art.] Lukrez (Titius Lucretius Carus). De rerum natura. In: Der Neue Pauly. Supplemente Bd. 7. Die Rezeption der antiken Literatur. Hg. von Brigitte Egger, Christine Walde. Stuttgart, Weimar 2010, Sp. 475–508, besonders S. 476–477. 149 Tibullus, Carm. 1.2, 89–95. 150 Tibullus, Carm. 1.6, 77–80. 151 Willibald Heilmann: Die Bedeutung der Venus bei Tibull unter besonderer Berücksichtigung von Horaz und Properz. Frankfurt/M. 1959, S. 25–30. 152 Tibullus, Carm. 2.4, vgl. Heilmann, Die Bedeutung der Venus bei Tibull, S. 54–59. 153 Tibullus, Carm. 1.4.
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Stammmutter Roms,154 die er intertextuell durch einen Verweis auf Vergils Aeneis steigert,155 in der sich die Rolle der Venus als Schutzgöttin, Mutter und Wegbereiterin des trojanischen Stammvaters von Rom mit ihrer religiösen Funktion als römische Nationalgöttin in der dynastischen Form des julischen Kaiserhauses deckt.156 Das erotische Potential von Venus lässt Horaz indes nicht ungenutzt, vielmehr konturiert er sowohl ihre grausamen als auch ihre gütigen Charakterzüge, welche allegorisch Liebesleid und Liebeserfüllung abbilden. Auch poetologisiert Horaz seine polyvalente Venus-Darstellung, indem er die Liebesgöttin und die Stammmutter Roms überlagert, um sie so als Mittlerin zwischen Liebesdichtung und Epik zu inszenieren.157 Im anonymen Pervigilium Veneris wird Venus als Epiphanie des Frühlings und der wiedererwachenden Natur gefeiert. Indes stellen die Epithalamien der Spätantike Venus häufig als pronuba dar, die gemeinsam mit Amor oder dem Hochzeitsgott Hymenaeus zur Eheschließung aufruft oder sie besiegelt.158 Das von Statius (Silv. 1,2) geprägte, von Claudian (c.m. 25) erotisch geschärfte und von Ennodius (carm. 1,4) voyeuristisch-frivol gesteigerte Bild der lethargisch-trägen, ruhenden Venus wurde als metaphorische Beschreibung der zwischen den Brautleuten erwachenden Liebe gedeutet.159 Zudem ist die Erotisierung der Venus im Zusammenhang mit der expliziten Ausrichtung der Ehe auf die Fortpflanzung zu verstehen, die durch den mythologischen Götterapparat bildlich-suggestiv ausgestaltet wurde.160 Ferner wird Venus mit der Erneuerung der Natur im Frühling
154 Tibullus, Carm. 1.2. 155 Tibullus, Carm. c. 1.3, vgl. Barbara Lynne Carter: Horace’s Venus: some aspect of her role in the Odes. Ohio 1975, S. 82–85. 156 Antonie Wlosok: Die Göttin Venus in Vergils Aeneis. Heidelberg 1967 (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaft NF 21), S. 139 und ergänzend James Burbidge: O quam te memoriem, virgo? Interpreting Venus in Aeneid 1.314–417. In: Brill’s Companion to Aphrodite. Hg. von Amy C. Smith, Sadie Pickup. Leiden 2010, S. 51–78. 157 Carter, Horace’s Venus, S. 151–155. Zwei barocke, aemulative Aneignungen der Horazischen Oden, die den weltlichen Charakter der Liebe, für die Venus steht, hervorheben und den davon abgeleiteten carpe-diem-Topos konträr wenden, bietet Jacob Balde in seiner neulateinischen Odensammlung (Lyrica, 4, 22 und 4, 23), vgl. Gérard Freyburger: Venus dans les Odes d’ Horace et dans celles de Jacob Balde (Lyr. 4,22; 4,23). In: Balde und Horaz. Hg. von Eckard Lefèvre, Karin Haß, Rolf Hartkamp. Tübingen 2002 (NeoLatina 3), S. 219–232. 158 Eine ausführliche Würdigung der spätantiken Epithalamien findet sich neben Sabine Horstmann: Das Epithalamium in der lateinischen Literatur der Spätantike. München, Leipzig 2004 (Beiträge zur Altertumskunde 197), auch bei Beate Hintzen: Paul Flemings Kußgedichte und ihr Kontext. Göttingen 2015 (Super alta perennis 16), S. 391–411. 159 Vgl. Horstmann, Das Epithalamium in der lateinischen Literatur der Spätantike, S. 191. 160 Vgl. Hintzen, Flemings Kußgedichte, S. 402–403.
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verbunden, die einerseits topisch sexualisiert wird und in der sich andererseits die Natürlichkeit der Sexualität widerspiegelt.161 Neben der christlichen Apologetik und Patristik, die das erotische Potenzial der Venus als Ausdruck teuflischer Verführung wertete und die mit Venus assoziierte weibliche Sexualität und sinnliche Liebe in die von Augustinus geprägte Erbsündenlehre einordnete, weisen im Mittelalter vor allem die Epik und Liebeslyrik einen produktiven Umgang mit der antiken Mythologie auf. Die Rezeption mythologischer Handbücher162 und besonders die breite Rezeption von Vergils Aeneis, die durch den anonymen französischen Roman d’Eneas und die mittelhochdeutsche Nachdichtung Heinrich von Veldekes (Eneide) befördert wurde, konturiert das Bild der Venus als Stammutter Roms und Göttin der Liebe.163 Doch auch die Minnelyrik schöpfte aus der antiken Mythologie. So entwickelt Heinrich von Mohrungen eine elaborierte Venus-Epiphanie (MF, XXII),164 in der er eine Bestimmung der „Vênus hêre“ (der machtvollen Venus) vornimmt, sie mit seiner Geliebten vergleicht165 und zur Überhöhung der Geliebten die ovidische revocatio des Paris-Urteils (MF, XVIII) aktualisiert, mit der Paris im 16. Heroidenbrief Helenas Schönheit rhetorisch über die der Venus gestellt hatte.166 Entgegen der dämonisierenden Deutungstradition wird Venus damit auch im mittelhochdeutschen Liebesdiskurs zum Reflexionsobjekt weiblicher Schönheit, weshalb die vereinfachende Gleichsetzung der Venus mit der Personifikation Minne unzulässig ist.167 Ferner tradiert Konrad von Würzburg in seinem Minneleich „Vênus diu
161 Vgl. ebd., S. 403–407. 162 Einen detaillierten Überblick zu den methodischen Unterschieden spätantiker und mittelalterlicher Mythographen bietet Theresa Tinkle: Medieval Venuses and Cupids: Sexuality, Hermeneutics, and English Poetry. Stanford 1996, S. 42–77. Der Einfluss der mythologischen und mythographischen Handbücher ist seit der bahnbrechenden Studie von Seznec, Das Fortleben der Antiken Götter, nicht mehr von der Hand zu weisen. 163 Vgl. Ulrich Müller: Venus: ‚Diu werde kuniginne Venus, gotinne über die minne‘. In: Mittelalter Mythen. Bd. 3. Verführer – Schurken – Magier. Hg. von Ulrich Müller und Werner Wunderlich. St. Gallen 2001, S. 969–986, hier S. 973–974. Zur Mythologie in den mittelalterlichen Troja-Epen vgl. ferner Elisabeth Lienert: Deutsche Antikenromane des Mittelalters. Berlin 2001 (Grundlagen der Germanistik 39), S. 103–163. 164 MF = Hugo Moser, Helmut Tervooren (Hgg.): Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moritz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus. Bd. 1. Texte. 38., erneut rev. Aufl. mit einem Anh.: Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment. Stuttgart 1988. 165 Vgl. Manfred Kern: Edle Tropfen vom Helikon: Zur Anspielungsrezeption der antiken Mythologie in der deutschen höfischen Lyrik und Epik. Amsterdam u. a. 1998 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 135), S. 31–44. 166 Vgl. ebd., S. 81–84. 167 Vgl. ebd., S. 389–408.
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feine diu ist enslâfen | diu wîlent hôher minne wielt“ (Incipit) das allegorische Bild der schlafenden Venus und des herrschenden Mars, welches er mit einer Anspielung auf die Ehebruchszene in eine optimistische Zukunftsweisung wendet.168 Die barocke Venus-Rezeption ist dagegen bisher nur lückenhaft erforscht: Lediglich in ein paar wenigen verstreuten Einzelstudien wurden die VenusDichtungen einzelner Autoren schlaglichtartig beleuchtet,169 während diachron konzipierte Sammelbände und Monographien zur Rezeption der Venus die frühneuzeitlichen Zeugnisse häufig ausklammern.170 Einzig Harry Fröhlich hat mit seiner maßgeblichen Studie zur Sinnlichkeit in der Barocklyrik eine Monographie vorgelegt, welche sich – wenn auch nicht rezeptionsästhetisch, sondern problemgeschichtlich – der Venus-Rezeption im siebzehnten Jahrhundert annimmt. Geleitet von seiner kritischen Auseinandersetzung mit Heinz Schlaffers Arbeit zur erotischen Dichtung in Deutschland, in der diese als eigene Gattung profiliert171 und damit zugleich ihr Deutungsspektrum auf das erotische Scherzen verengt und abgewertet wurde, arbeitet Fröhlich den multidimensionalen Diskurs zum Umgang mit Affekten heraus, der auch in die Barocklyrik überführt wurde.172 So zeigt er, dass die scherzhafte Sinnlichkeit, die Schlaffer als gattungskonstitutives Merkmal der antiken Erotika ausweist, einzig in der hellenistischen und spätantiken Epigrammatik vorwiegen, während in der archaischen Poesie (etwa von
168 Vgl. Michael Rupp: Narziß und Venus: der lyrische Blick auf die Antike bei Heinrich von Morungen, Konrad von Würzburg und dem Wilden Alexander. In: ‚Texte zum Sprechen bringen.‘ Philologie und Interpretation. FS für Paul Sappler. Hg. von Christiane Ackermann, Ulrich Baron, Anne Auditor, Susanne Borgards. Tübingen 2009, S. 35–48, hier S. 43–45. 169 Vgl. dazu den jeweiligen Forschungsüberblick, der den Fallstudien in der vorliegenden Arbeit vorangestellt ist. 170 So etwa die Studie von Monica Silveira Cyrino: Aphrodite. London, New York 2010, in der die Verfasserin hauptsächlich einen einführenden, enzyklopädischen Überblick über die mit Venus in der griechischen Literatur assoziierten Themen und Motive liefert, bevor sie im letzten Kapitel (S. 127–143) kurz literarische und filmische Adaptionen bis zum 20. Jahrhundert bespricht. Auch der Sammelband von Hanjo Berressem, Günter Blamberg, Sebastian Goth (Hgg.): Venus as Muse. From Lucretius to Michel Serres. Amsterdam 2015 (Internationale Forschungen zur allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft 182), der in drei Sektionen die epochenübergreifende Rezeption der Venus in (1) visueller und darstellender Kunst, (2) Literatur und (3) Filmen, Medien und theoretischen Werken thematisiert, zentriert neben antiken Werken vor allem Texte aus der Romantik und der Moderne, während Adaptionen aus der Frühen Neuzeit unberücksichtigt bleiben. 171 Vgl. Heinz Schlaffer: Musa iocosa: Gattungspoetik und Gattungsgeschichte der erotischen Dichtung in Deutschland. Stuttgart 1971 (Germanistische Abhandlungen 37). 172 Vgl. Harry Fröhlich: Apologien der Lust. Zum Diskurs der Sinnlichkeit in der Lyrik Hoffmannswaldaus und seiner Zeitgenossen mit Blick auf die antike Tradition. Tübingen 2005 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 125).
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1 Quellenüberblick und Forschung – Venus in der Kunst und Literatur
Sappho) und in der griechischen Tragödie, aber auch in der römischen Liebeslyrik „eine tiefe Skepsis gegenüber dem erotische páthos oder affectus“173 vorherrscht, die in der griechischen Philosophie angelegt ist: Denn neben dem durch Hesiods Theogonie geprägten Verständnis der Liebe als kosmologische Kraft wurden die Affekte sowohl von den Stoikern als auch von den Humoralpathologen als Wahnsinn oder Krankheit verstanden und wie bei Platon als durch die kausale Verbindung zwischen Schönheitswahrnehmung und Begehren entstehender Zwang.174 Den unausweichlichen und gleichzeitig bedrohenden erotischen Affekten, so Fröhlich, sei erstens mit (aristotelischen) Mäßigungspostulaten begegnet worden, die grundsätzlich der Annahme vertrauten, der Affekt sei durch die stärkere Kraft des lógos zu kontrollieren. Zweitens hätten die Stoiker, welche die Affekte als nur durch Erwiderung heilbare, geistige Störungen (manía und furor) verstünden, zu gänzlichem Verzicht aufgerufen. Gerade die mögliche Heilung durch Gegenliebe sei dann – drittens – von den antiken Lyrikern aufgegriffen und neu variiert worden, weil die erotische Erfüllung in der Lyrik zumindest im imaginären Raum erlaubt gewesen sei und deshalb Wertungen der rationalen Ethik temporär außer Kraft gesetzt habe.175 Die Auseinandersetzung mit den grundsätzlich affektfeindlichen ethischen Bewertungen der Liebe habe jedoch nicht allein polemische Satiren und erotisch-pornografische Wendungen zutage gefördert, sondern auch und vor allem Darstellungen, in denen Affekte als vitalisierende, kulturstiftende und lebensintensivierende Kraft beschrieben worden sind, die in der künstlerischen Verarbeitung sublimiert werden konnten. Somit sei die Kunst als Möglichkeit der Affektbewältigung verstanden worden und umgekehrt der Affekt auch als schöpferisches Prinzip.176 Während Fröhlich also das antike Affektbegreifen aus unterschiedlichen Venus-Darstellungen ableitet und die Rezeption und Weiterentwicklung der antiken Liebeskonzeptionen in der barocken Lyrik nachweist, soll hier der Versuch unternommen werden, die Poetisierungen der Liebesgöttin in ihren verschiedenen Figurationen mit einem rezeptionsästhetischen Forschungsansatz zu konturieren. 173 Ebd., S. 77. 174 Ebd., S. 78. 175 Zu diesen drei Antworten auf die Affektproblematik in der antiken Literatur vgl. ebd., S. 83–84. 176 Ebd., S. 81–83. Als neulateinischer Vorläufer dieser Wendung des Affekts in ein schöpferisches Prinzip darf Simon Lemnius’ Elegie De Ledeide (1542) gelten. Darin wird erst die vergangene Liebeserfüllung pornografisch expliziert, die Trauer über die verflossene Liebe mündet jedoch in einer Apollo-Epiphanie, in der Apollo das lyrische Ich zur Dichtung ermutigt und besonders die elegische Liebespoesie lobt, vgl. Simon Lemnius: Elegia I. De Ledeide (1542). In: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts – Lateinisch und deutsch, Ausgewählt, übers., erläutert und hg. von Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel und Hermann Wiegand. Frankfurt a.M. 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 146), S. 548–560.
2 Drei strukturell dominante Venus-Episoden im Barock Wie bereits Vöhler/Seidensticker in ihrem Konzeptband erläutert haben, sind Mythoskorrekturen und -varianten besonders wirkungsvoll, wenn sie in hoher Dialogizität zu dem Ausgangsmythos bzw. ihrer Vorlage stehen.177 Die dialogische Spannung zum Mythos potenziert sich, wenn eine Mythenvariante besonders bekannt, d. h. besonders häufig in der gleichen Variante abgebildet wurde, da die Erwartung einer ähnlichen Mythendarstellung vorausgesetzt werden kann. Folglich wächst mit der Konjunktur einer mythischen Episode auch die mögliche dialogische Spannung und damit auch die Produktivität der Mythenkorrekturen. Da die vorliegende Studie vor allem die verschiedenen Venuskorrekturen und -varianten in ihrem dialogischen Spannungsverhältnis zu einem konstruierten idealtypischen Mythenverlauf beschreibt, werden drei Episoden zentriert, die in historischer Perspektive eine besonders hohe Konjunktur aufweisen. Weil eine auch nur annähernd vollständige Sammlung von literarischen Zeugnissen der Venus fehlt, stützt sich der Nachweis für die weite Verbreitung der drei Episoden ersatzweise auf die bildenden Künste. K. Bender hat in seiner verdienstvollen Arbeit die gewaltige Menge von über 14.000 bildlichen Venuszeugnissen in Italien, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, den Benelux-Staaten und der Sammelkategorie ‚andere Euro-Regionen‘ zusammengetragen und diese nach achtzehn Themen geordnet.178 In der nachstehenden Tabelle sind die absoluten Zahlen pro Land/Region den Themen zugeordnet – Berücksichtigung finden allerdings nur die knapp 5.000 Quellen, die bis 1700 entstanden sind,179 da nur diese für die Konjunktur der deutschen Venus-Rezeption im siebzehnten Jahrhundert ausschlaggebend sind. Ferner ist der Prozentsatz angegeben (gerundet auf die zweite Nachkommastelle), den die Quellen eines Themas in allen Regionen zusammen in Relation zur Gesamtmenge aller Zeugnisse ausmachen. Zum Vergleich ist zudem die prozentuale Relation der deutschen Quellen eines Themas im Verhältnis zu allen
177 Vöhler/Seidensticker, Mythenkorrekturen, S. 7, ferner S. 10. 178 Vgl. K. Bender: The Iconography of Venus from the Middle Ages to Modern Times. Bd. 1–6. Categorized under 18 main Topics, with an Index of Artists, a Directory of Owners and an extensive Bibliography. 2007–2013, https://sites.google.com/site/venusiconography/ (Zugriff 21. August 2018). 179 Für Werke, die nicht auf ein genaues Entstehungsjahr datiert werden können, sondern nur auf einen Entstehungszeitraum, wurde heuristisch das frühestmögliche Datum angenommen. https://doi.org/10.1515/9783110684209-003
36 60 56
Attribute der Venus
Geburt der Venus
Toilette/Bad der Venus/ Sitzende Venus
38 91 91 76 51
Paris-Urteil
Venus und Mars
Venus und andere Götter
Venus und Psyche
207
30
Venus und Amoretten
Venus und Cupido
Venus und Anchises/ Aeneas
165
27
Apotheose/Tempel/Triumph
Venus und Adonis
40
Italien (2007)
Allegorie des Venus-Planeten
Thema
13
38
43
42
13
45
24
65
20
41
13
12
5
Frankreich (2009)
30
262
217
260
34
264
27
403
56
64
51
65
139
BeneluxStaaten (2010)
Bender Auswertung: Kunstwerke bis einschließlich 1700.
14
113
90
160
13
185
16
78
32
44
27
18
119
Deutschland (2012)
0
9
6
8
1
13
1
10
5
4
2
1
2
UK (2013)
1
6
5
7
3
10
1
3
2
2
1
1
0
109
504
452
568
102
724
99
724
171
205
130
124
305
Andere Gesamt in Euro-Länder absoluten Zahlen (2014)
2,19
10,13
9,09
11,42
2,05
14,56
1,99
14,56
3,44
4,12
2,61
2,49
6,13
Prozent Gesamt
1,35
10,88
8,66
15,40
1,25
17,81
1,54
7,51
3,08
4,23
2,60
1,73
11,45
Prozent Deutsch
46 2 Drei strukturell dominante Venus-Episoden im Barock
28 34 88
Schlafende/Erwachende Venus
Venus Statuen
Venus alleine/abstrakt
1209
60
Venus und Vulcanus
Gesamt bis 1700
31
Venus mit Satyr
439
12
21
10
12
10
2166
54
47
54
85
53
1039
54
5
22
25
24
73
5
1
3
2
3
48
7
2
1
0
2
4974
220
110
118
184
123
100
4,42
2,21
2,37
3,70
2,47
100
5,20
0,48
2,12
2,41
2,31
2 Drei strukturell dominante Venus-Episoden im Barock 47
48
2 Drei strukturell dominante Venus-Episoden im Barock
deutschen Zeugnissen angegeben.180 Neben den drei zu behandelnden Episoden ist auch das Thema ‚Venus und Vulcanus‘ grau unterlegt, da Vulcanus als betrogener Ehemann eine gewichtige Rolle in der Venus-Mars-Episode einnimmt Aus der Tabelle wird ersichtlich, dass die Themen ‚Venus und Adonis‘ sowie ‚Venus mit Cupido‘ mit je 14,56 % (das entspricht je 724 Kunstwerken) den größten Anteil der Venus-Bildnisse einnehmen. Es folgt das ‚Paris-Urteil‘ mit 11,42 % (=568 Zeugnisse) an zweiter Stelle und die Sammelkategorie ‚Venus und andere Götter‘ (10,13 %=504 Kunstwerke) an Stelle drei. Den vierthöchsten Prozentsatz bilden die Zeugnisse, die dem Thema ‚Venus und Mars‘ (9,09 %=452 Quellen) zugeordnet sind, zu der auch die Quellen des Themas ‚Venus und Vulcanus‘ (3,70 %=184 Kunstwerke) hinzugerechnet werden können. Zusammen machen die drei Episoden damit 38,77 % aller Kunstwerke aus und dürfen deshalb als strukturell dominant gelten, besonders im Gegensatz zu Themen, in denen Venus mit anderen mythologischen Figuren interagiert. So sind Repräsentationen der Kategorien ‚Venus und Anchises/Aeneas‘ (1,99 %=99) oder ‚Venus und Psyche‘ (2,19 %=109) um etwa ein Fünffaches seltener als Darstellungen des Paris-Urteils oder der Venus-MarsEpisode, sogar siebenmal seltener als Repräsentationen der Adonis-Liebe. Wie ein deutsch-europäischer Vergleich der prozentualen Verteilung zeigt, zeichnen sich in der deutschen Venus-Überlieferung ähnliche strukturelle Dominanzen ab wie in der gesamteuropäischen. Signifikante Unterschiede weisen nur fünf der achtzehn Kategorien auf. Während sich der Trend der europäischen Verteilung für die Kategorien ‚Paris-Urteil‘, ‚Venus und Cupido‘ und ‚Venus-Statuen‘ auch für die deutschen Zeugnisse abzeichnet, weisen die Kategorien ‚Allegorie des Venus-Planeten‘ und ‚Venus und Adonis‘ unerwartet hohe Abweichungen auf. Die grundsätzlich europäische Ausrichtung der Barockliteratur und die vielfältig nachgewiesenen Wechselbeziehungen im europäischen Literaturbetrieb181 erlauben, besonders aufgrund des rezeptionsästhetischen Forschungsansatzes jedoch die im deutsch-europäischen Vergleich signifikant abweichende Repräsentation der ‚Allegorie des Venus-Planeten‘ zugunsten des gesamteuropäischen Zusammenhangs methodisch nicht zu berücksichtigen. Indes wird keines der Themen von der Untersuchung ausgeschlossen, vielmehr sind die VenusCupido-Interaktionen, ‚Apotheose/ Tempel/ Triumph der Venus‘, ‚Attribute der Venus‘ und ‚Venus mit Amoren‘ in den literarischen Quellen kaum von den 180 Fett gedruckt sind die Prozentsätze, die im deutsch-europäischen Vergleich signifikante (i. e. ≥1%) Abweichung aufweisen 181 Vgl. stellvertretend die grundlegende Arbeit von Gerhard Hoffmeister: Deutsche und europäische Barockliteratur. Stuttgart 1987 (Sammlung Metzler 234) sowie die Beiträge im maßgeblichen Band von Klaus Garber (Hg.): Europäische Barock-Rezeption. 2 Bde. Wiesbaden 1991 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 20).
2.1 Das Paris-Urteil
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Episoden zu trennen und werden besonders in den Preis- und Schmähgedichten miteinbezogen.182 Da die Analyse der empirischen Daten von Bender gezeigt hat, dass das ParisUrteil, der Ehebruch durch die Liebschaft von Venus und Mars und die Liebe zwischen Venus und Adonis im siebzehnten Jahrhundert besonders häufig rezipiert wurden, werden nachstehend im Hinblick auf die Methodik drei (artifiziell konstruierte) Strukturmodelle vorgestellt, die für die weitere Untersuchung als Folie für die Mythenrezeption genutzt werden.
2.1 Das Paris-Urteil Paris ist ein Sohn des trojanischen Herrscherpaares Priamos und Hekabe. Weil ein Traum Hekabe verheißt, Paris werde Unheil über Troja bringen, beschließt das Königspaar, ihn in den Bergen auszusetzen,183 wo er von Sklaven getötet werden soll. Diese lassen ihn jedoch am Leben und geben ihm den Namen Alexandros (griech. etwa: der die Männer abwehrt), weil er Räuber abwehrt,184 bzw. taufen den ursprünglich Alexandros heißenden Prinzen Paris.185 Bei den Hirten geht Paris eine Beziehung mit Oenone ein.186 Als junger Mann kommt er zurück nach Troja, wo er die Wettkämpfe gewinnt, die jährlich zu seinem Gedenken stattfinden. Obwohl Kassandra durch eine Prophezeiung den Traum der Hekabe wiederholt, wird Paris erneut in die Königsfamilie aufgenommen. Auf dem Berg Ida wird Paris zum Richter im Schönheitsstreit der drei Göttinnen Hera, Athene und Venus, der auf der Hochzeit von Peleus und Thetis entfacht wird.187 Ob sich die mythische Episode vor oder nach Paris’ Rückkehr nach Troja begibt, ist nicht eindeutig zu klären.188 Auch die Entstehung des Schönheitsstreits
182 Für eine Einzelanalyse des Themas ‚Die Schlafende Venus‘ vgl. Antonius Baehr: Erotisierende Rezeptionen von Claudians ‚Epithalamium an Palladius und Celerina‘ im Barock. In: Eros und Logos. Literarische Formen des sinnlichen Begehrens in der (deutschsprachigen) Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Albrecht Classen, Wolfgang Brylla, Andrey Kotin. Tübingen 2018 (Popular Fiction Studies 4), S. 70–88, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit entstanden ist. 183 Ps.-Apoll. Bib. 3.148. 184 Ps.-Apoll. Bib. 3.150. 185 Ps.-Hyg. Fab. 91. 186 Ps.-Hyg. Fab. 91, Ps.-Apoll. Bib. 3.154, Ovid, Her. 16,97–98. 187 Eur. Hel. 1097–98, Ps.-Hyg. Fab. 92, Cypria, PEG 1. 188 Die Diskussion über den Zeitpunkt des Paris-Urteils ist in einem detaillierten Forschungsüberblick zusammengefasst in: T.C.W. Stinton: Euripides and the Judgement of Paris. London 1965 (Society for the Promotion of Hellenic Studies 11), S. 51–56.
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2 Drei strukturell dominante Venus-Episoden im Barock
wird unterschiedlich begründet: Häufig wird Zeus als Initiator beschrieben, weil er entweder Venus ehren189 oder den trojanischen Krieg entfachen will, um der möglichen Überbevölkerung der Erde vorzubeugen.190 Andere Quellen nennen Eris, die Göttin der Zwietracht, als Begründerin des Streits, die sich dafür rächen will, dass sie nicht auf der Hochzeit von Peleus und Thetis eingeladen wurde.191 Die drei Göttinnen versuchen das Urteil des Paris auf unterschiedliche Weise zu beeinflussen: Sie präsentieren ihre Schönheit bei einem Bad,192 treten nackt vor Paris auf193 und machen Versprechungen für ein entsprechendes Siegesurteil. Paris wählt Venus zur schönsten Göttin aus,194 missbraucht daraufhin die Gastfreundschaft von Menelaos und raubt Helena,195 weshalb der Krieg um Troja beginnt.196 Im trojanischen Krieg wird Paris im Zweikampf mit Menelaos von Venus gerettet.197 Er widersetzt sich Antenors Aufforderung, den Krieg durch die Rückgabe Helenas zu beenden.198 Im Kampf tötet Paris den griechischen Helden Achilles199 und wird kurz darauf selber von Philoktetes’ Giftpfeilen tödlich verletzt.200 Der verwundete Paris reist dann zurück zum Ida zu Oenone, die ihm das Gegengift verweigert, weil sie noch immer ob seiner Untreue gekränkt ist. Nach seinem Tod erhängt sie sich.201 Daraus ergibt sich ein Strukturmodell mit drei Sequenzen in insgesamt fünfzehn Abschnitten: Sequenz I: Hirtenleben 1. Traum der Hekabe/Aussetzung des Paris 2. Rettung und Aufnahme durch die Hirten 3. Liebschaft mit Oenone 4. Rückkehr nach Troja/Kassandras Weissagung
189 Ps.-Apoll. Bib. 3.155. 190 Cypria, PEG 1. 191 Ps.-Hyg. Fab. 92. 192 Eur. Andr. 284–286, Eur. Hel. 676–678. 193 Ovid, Her. 17,115–118, Lukian, Dial. Deo. 20,9. 194 Eur. Tro. 924–931, Ovid, Her. 17,115–118, Lukian, Dial. Deo. 20,16, Ps.-Hyg. Fab. 92, Cypria, PEG 1, Fulg. Myth. 2,1, Kolluthus, Hel. Rap. 165–169, Ps.-Apoll. Epit. 3, E2. 195 Horaz, Od. 1,3. 196 Ps.-Apoll. Bib. 3.155, Ps.-Hyg. Fab. 92, Cypria, PEG 1. Eur. Tro. 924–931. 197 Hom. Il. 3.369–4.13. 198 Hom. Il. 11.122–125. 199 Ps.-Apoll. Epit. 5, E3. Laut Ps.-Hyg. Fab. 110 tötet Paris Achilles hinterrücks bei einem Treffen mit Polyxena. 200 Ps.-Apoll. Bib. 3.155, Ps.-Hyg. Fab. 112, Ilias parva, PEG 1, Soph. Phil. 1425–1431. 201 Ps.-Apoll. Bib. 3.155.
2.1 Das Paris-Urteil
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Sequenz II: Urteil 5. Hochzeit von Thetis und Peleus/Streit der Göttinnen 6. Zeus zieht Paris als Richter heran 7. Vorstellung der Göttinnen/Bestechungen 8. Urteil und Belohnung 9. Missbrauch des Gastrechts und Raub der Helena Sequenz III: Trojanischer Krieg 10. Beginn des Krieges 11. Zweikampf mit Menelaos 12. Widersetzung Antenors 13. Tötung des Achilles 14. Verletzung durch Philoktetes 15. Rückkehr zum Berg Ida und Verweigerung der Hilfe durch Oenone Den Kern des Mythos bilden wie oben gezeigt die Abschnitte sieben, acht und neun: Der trojanische Prinz Paris urteilt über die Schönheit der drei Göttinnen Athene, Hera und Venus. Für seine Entscheidung erhält er die schönste Frau zur Braut, was den Trojanischen Krieg veranlasst. Während eine Untersuchung zur literarischen Rezeption des Paris-Urteils im Barock noch aussteht, ist die Rezeption in den vorangehenden Epochen relativ gut erforscht. Bereits die Antike kannte mehrere Versionen des Paris-Urteils: Karl Reinhardt hat zwar dargelegt, dass das Paris-Urteil schon in Homers Ilias den Beginn des Trojanischen Krieges markiert, den Hass der Göttinnen Athene und Hera gegenüber Venus begründet und Paris demnach für den Untergang Trojas verantwortlich ist.202 Explizit wird Paris die Schuld jedoch nicht zugesprochen. Stattdessen bleibt seine Figur ambivalent: Von Hektor wird er als Feigling geschmäht, als todbringender Widersacher Achills erscheint er aber auch als tapferer Krieger.203 Anhaltspunkte dafür, dass das Paris-Urteil zunächst nicht allegorisch ausgedeutet wurde, liefern auch seine antiken bildlichen Repräsentationen. Denn wie Andrea Harbach gezeigt hat, spielen die Gaben der Göttinnen in den frühsten Darstellungen keine Rolle.204 Auch in Euripides’ Dramen bleibt eine Deutung aus. Zwar klingt der „misplaced delight in the promises of Aphrodite“ in der Andromache an und auch die trojanischen Frauen aus der Hekabe tadeln Paris 202 Karl Reinhardt: Das Parisurteil. Frankfurt/M. 1938 (Wissenschaft und Gegenwart 11), S. 10–18. 203 Steffen Schneider: [Art.] Paris. In: Moog-Grünewald, Der Neue Pauly, Mythenrezeption, S. 551–556, hier S. 551. 204 Andrea Harbach: Die Wahl des Lebens in der antiken Literatur. Heidelberg 2010 (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften 128), S. 51–54.
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2 Drei strukturell dominante Venus-Episoden im Barock
für seine Entscheidung,205 seine Gefühle und Beweggründe werden indes nicht geschildert. In der Iphigenie in Aulis dagegen wird Paris zum Opfer einer Liebe, der er nicht widerstehen kann,206 insgesamt erscheint Paris bei Euripides jedoch „passiv, er ist nur Glied einer fatalen Ereignisfolge, die er nicht verantwortet.“207 Intensiv verhandelt Euripides die Schuldfrage der Helena. So wird sie in den Troerinnen (415 v. Chr.) von den überlebenden Frauen als Sündenbock genutzt und von Menelaos geopfert.208 In der Helena entlastet Euripides die Griechin, indem er – an die von Platon überlieferte Version des Stesichoros anknüpfend (Plat. rep. 586c) – erzählt, Paris habe lediglich ein Trugbild nach Troja entführt, die wahre Helena sei hingegen nach Ägypten gebracht worden.209 Ovid transponiert Paris aus dem epischen Œuvre in die römische Liebeselegie.210 Sich in einem Brief an Helena wendend (Her. Epist. 16), wird Paris zum „Prototyp des amator“, der mit „allen Mitteln seiner Verführungskunst“ versucht, Helenas Standhaftigkeit zu brechen.211 Jedoch wird seine Schuld trotz seiner schamlosen Aufforderungen zum Ehebruch geschmälert,212 weil Paris’ Liebe zu Helena aufrichtig und durch göttliches Eingreifen begründet ist.213 Ähnlich hatte schon Sappho (frg. 16 L/P) Helena als leidenschaftlich Liebende ihrer Schuld enthoben.214 In der Spätantike wurde das Paris-Urteil dagegen zunehmend moralisierend ausgedeutet. Paris dient als abschreckendes Beispiel, auf dessen Lüsternheit der Niedergang Trojas zurückgeführt wird.215 Cicero weist ihn in den De natura deorum (3,91) als „Inbegriff der ungezähmten Leidenschaft“ aus und auch „Horaz (Briefe 1,2) liest Homers Ilias als Anleitung zu richtigem Verhalten.“216 An 205 Stinton, Euripides and the Judgement of Paris, S. 25. 206 Ebd., S. 27. 207 Schneider, Paris, S. 552. 208 Steffen Schneider: [Art.] Helena. In: Moog-Grünewald, Der Neue Pauly, Mythenrezeption, S. 308–317, hier, S. 309. 209 Ebd., S. 309–310. 210 Cornelia M. Hintermeier: Die Briefpaare in Ovids Heroides. Stuttgart 1993 (Palingenesia 41), S. 13. 211 Hintermeier, Briefpaare, S. 13. 212 Die Aufwertung der Liebe bei Ovid, durch Paris Erklärung Helena würde ewiger Ruhm zuteilwerden, so denn ein Krieg um sie ausbrechen würde, diskutiert Christine Ratschkowitsch: Von der Manipulierbarkeit des Mythos. Der Paris/Helena-Mythos bei Ovid (her. 16/17) und Baudri von Bourgueil (carm. 7/8). Brüssel 2012 (Latomus 334), S. 37–41. 213 Hintermeier, Briefpaare, S. 18–19. 214 Schneider, Helena, S. 309. 215 Harbach, Die Wahl des Lebens in der antiken Literatur, S. 57–58. 216 Eva Hofstetter: Das Parisurteil von der Antike bis Watteau. In: Das Urteil des Paris. Grafik und Elixibris aus der Sammlung Dr. Peter Labuhn. Hg. von Stephanie-Gerrit Bruer. Mainz u. a. 2015 (Kataloge des Winckelmann-Museums 20), S. 11–26, hier S. 18.
2.1 Das Paris-Urteil
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die moralischen Darstellungen schließen sich schnell Parodien des Mythos an: Lukian (dial. deo. 20) parodiert das Paris-Urteil und hebt, ähnlich wie Apuleius (Metamorphosen), das voyeuristische Moment hervor, das sich durch den Anblick der nackten Göttinnen ergibt. Pornographisch überspitzt Rufin das Paris-Urteil in seinen Epigrammen, indem er den Richter zwischen den Geschlechtsteilen dreier Frauen entscheiden lässt (Rufin, 11 und 12).217 Gleichzeitig bilden sich christliche Allegorien heraus. Fulgentius (Myth. 2,1) interpretiert die Göttinnen als Vertreterinnen des aktiven (Hera), des philosophischen (Athene) und des sündigen Lebens (Venus). Auch hier dient Paris als Negativbeispiel, der sich animalisch für die Lust und gegen Reichtum und Tugend entscheidet.218 Die Berichte über den trojanischen Krieg von Dictys Cretensis (Ephemeris belli Troiani, 3. Jhd. n. Chr.) und Dares Phrygius (De excidio Troiae historia, 5. Jhd. n. Chr.) werten das Paris-Urteil ab: Während es bei Dares nur noch als Traumgesicht geschildert wird, ist es bei Dictys vollends getilgt.219 Diese rationalisierende Strategie genügt dem pseudohistoriographischen Anspruch der Troja-Darstellungen, die das mittelalterliche Verständnis des Trojastoffs als welthistorische Realität prägten. So greift der altfranzösische Roman de Troie (ca. 1165) von Benoît de Sainte-Maure, der als wirkungsmächtigste Quelle für die volkssprachliche Trojaliteratur des Mittelalters gilt, auf Dictys und Dares zurück und führt die antike Homerkritik fort. Die Rezeption des Romans de Troje begründet die im ganzen Mittelalter dominierende nicht-homerische Troja-Tradition, die sich durch die weitgehende Tilgung der antiken Mythologie auszeichnet220 und der dann auch die deutschen Übersetzungen folgten.221 Demnach wird in zahlreichen Darstellungen nicht das Paris-Urteil als Ursache des trojanischen Kriegs angeführt, sondern dem Trojanischen Krieg eine Episode über die erste Zerstörung Trojas vorgeschaltet. Darin erobern die von Herakles angeführten Griechen Troja und rauben mit Hesione die Tochter des alten trojanischen Königs Laomedon. Dafür rächt sich Paris mit dem Raub der Helena, worauf der trojanische Krieg beginnt. So ist der Raub der Helena durch Paris in Herbort von Fritzlars Liet von Troye (ca. 1190–1217) sowie im anonymen Basler Trojanerkrieg (15. Jhd.) durch
217 Regina Höschele: Verrückt nach Frauen. Der Epigrammatiker Rufin. Tübingen 2006 (Classica Monacensia 31), S. 34. 218 Hofstetter, Das Parisurteil von der Antike bis Watteau, S. 18. 219 Vgl. Kern, Venus, S. 652. Für eine Sammlung der mittelalterlichen Paris-Rezeption vgl. Manfred Kern: [Art.] Paris. In: Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters. Hg. von Alfred Ebenbauer, Manfred Kern, Silvia Krämer-Seifert. Berlin, New York 2003, 466–475. 220 Lienert, Deutsche Antikenromane des Mittelalters, S. 104–105. 221 Zur europäischen Rezeption des Parisurteils im Mittelalter vgl. Margarethe J. Ehrhardt: The judgment of the Trojan prince Paris in Medieval literature. Philadelphia 1987.
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Rachsucht motiviert. Paris bleibt schuldig, das in den allegorischen Darstellungen verurteilte Verlangen von Paris gerät jedoch zur Nebensache. Die „homerische“ Troja-Tradition kannte hingegen auch im Mittelalter das Paris-Urteil als Ursache des Krieges. In Konrad von Würzburgs Trojanerkrieg (zwischen 1281–87) urteilt Paris über die drei Göttinnen, die allegorisch für Reichtum, Weisheit und Liebe stehen. Obgleich er sich für die Liebe entscheidet und die Katastrophe ihren Lauf nimmt, wird Paris dennoch der „traditionellen moralischen Anrüchigkeit weitestgehend […] enthoben“222 und zum ebenbürtigen Gegner Achills aufgewertet. Im anonymen Göttweiger Trojanerkrieg (zwischen 1270–1300) wird Paris sogar zum zentralen Helden, der mit dem Raub der Helena eine bedrängte Frau rettet.223 Die humanistischen Rezeptionen fassen das Paris-Urteil meist allegorisch auf. Marsilio Ficino wertet als erster die ‚vita voluptaria‘ auf. In einem Brief an Lorenzo de’ Medici (15. Februar 1490) erklärt er, jede einseitige Lebensweise sei falsch und Lorenzo deshalb zu preisen, weil er alle drei Göttinnen geehrt habe.224 Dagegen wird im Einklang mit der christlichen Morallehre z. B. in Jacob Lochers Schauspiel Iudicum Paridis, de pomo aureo, de tribus deabus, et triplici hominum vita (1502) Athene statt Venus der Vorzug gegeben. Auch die drei Bearbeitungen Ein comedi, das judicium Paridis (1532), Historia. Das urteil Paridis sampt der beraubung Helena auss Kriechenland (1546) und Der Traum Paridis (1561) von Hans Sachs (1494–1576) stehen ganz im Zeichen der stoischen Ablehnung der ‚vita voluptaria‘ und drohen didaktisierend mit den negativen Folgen.225 Der rezeptionsgeschichtliche Überblick zeigt deutlich das polyvalente Deutungsspektrum des Paris-Urteils: Das Bild des Paris changiert zwischen einem egoistischen, schuldigen Liebhaber und einem der göttlichen Fügung unterlegenen oder von Helena verführten, unschuldigen Jüngling. Damit stehen didaktisch-moralisierende Versionen, die sich mit der Schuldfrage beschäftigen, neben christlich-rationalisierenden Darstellungen, welche die paganen Götter verdrängen und dabei bis zur gänzlichen Tilgung des Paris-Urteils gehen. Allerdings wurde das Paris-Urteil als Gegenbild auch parodiert und in erotischen Ästhetisierungen, die bis ins Pornographische reichen, von der Schuldfrage entkoppelt.
222 Lienert, Deutsche Antikenromane des Mittelalters, S. 130. 223 Ebd., S. 142. 224 Schneider, Paris, S. 553. 225 Hofstetter, Das Parisurteil von der Antike bis Watteau, S. 20.
2.2 Venus, Mars und Vulcanus
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2.2 Venus, Mars und Vulcanus Im Wesentlichen referieren die Episode des Ehebetrugs durch Venus und Mars drei Quellen in Gänze, die vor allem aufgrund ihrer Wirkung und Autorität hervorstechen: Homers Ilias berichtet als erste Quelle von Vulcanus’ Verstoß aus dem Olymp und seiner Rache durch den verfluchten Thron,226 den er Hera schenkt; in der Odyssee227 und in Ovids Metamorphosen228 ist der Ehebruch ausführlich geschildert. Nachfolgend wird die Episode deshalb nach diesen Quellen wiedergegeben; Entsprechungen bzw. Abweichungen sind in den Fußnoten angeführt. Vulcanus ist der Ehemann von Venus.229 Als Sohn von Hera und Zeus wurde Vulcanus aus dem Olymp verstoßen, als Hera seine Behinderung entdeckte.230 Gerettet und aufgezogen von Thetis und Eurynome wuchs Vulcanus am Fluss Okeanos im Hass gegen seine Eltern auf und schickte mehrere unheilbringende Geschenke. Eines davon war ein goldener Thron für Hera, der sie an sich fesselte, sobald sie sich darauf niedergelassen hatte. Zeus bittet die anderen Götter, seiner Frau zu helfen, und bietet ihnen bei Erfolg Venus als Frau an. Venus willigt darauf ein, in der Hoffnung, dass Mars den Schmiedegott dazu bringen könne, den Bann zu lösen. Den gewaltsamen Versuch von Mars währt Vulcanus jedoch ab.231 Dionysus macht Vulcanus so betrunken,232 dass er auf den Olymp kommt, Hera befreit, dann aber selbst Venus als seine Frau verlangt.233 Die Ehe bricht Venus jedoch mit dem Kriegsgott Mars,234 der Venus viele Geschenke macht, bis sie sich ihm im Ehebett hingibt. Helios entdeckt den Ehebruch und berichtet Vulcanus davon,235 der daraufhin ein unsichtbares und unzerstörbares Netz schmiedet, das er im gemeinsamen Schlafzimmer als Falle installiert. Als
226 Hom. Il. 18.395–405. 227 Hom. Od. 8,267–366. 228 Ovid, Met. 4.170–189. 229 Apoll. Rhodius, Arg. 3.36–38, Virgil, Aen. 8,372–393 (mit Liebesbeschreibung), Virgil, Georg. 4,346–347, Cicero, De Nat. Deo. 3.59. Andere Quellen kennen dagegen Mars und Venus als rechtschaffenes Paar, ohne die Ehe zwischen Venus und Vulcan zu nennen: Hesiod, Theo. 933–937, Sim. F 263 (=PMG 575), Aisch. Hik. 662–664, Ps.-Apoll. Bib. 1.27, Statius, Silv. 1,2.51. 230 Paus. Hell. Per. 1.20.3. 231 Libanius, Prog. 7. 232 Paus. Hell. Per. 1.20.3, Ps.-Hyg. Fab. 166. 233 Ps.-Hyg. Fab. 166 berichtet dagegen, Neptun habe Vulcan dazu bewegt, nicht nach Venus, sondern nach Athene als Frau zu verlangen. Diese habe jedoch mit Waffengewalt ihre Jungfräulichkeit verteidigt. 234 Platon, Rep. 390c, Ps.-Hyg. Fab. 148, Athenaeus, Deip. 1. 14c. 235 Sen. Phaedra 124–127 und Ps.-Hyg. Fab. 148 berichten von dem Hass, den Venus fortan auf Apollo hegt.
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sich Venus und Mars erneut vereinen, werden sie vom Netz gefangen.236 Vulcanus ruft alle Götter zusammen, die beim Anblick der beiden Ertappten in lautes Gelächter ausbrechen;237 Hermes gesteht sogar, auch gerne ein Bett mit der Venus teilen zu wollen. Nur Poseidon kann nicht mitlachen, sondern bittet Vulcanus, die Bande zu lösen. Dieser willigt nur deshalb ein, weil Poseidon ihm verspricht, alle Forderungen, die Vulcanus an die Götter richtet selbst zu bezahlen.238 Manche Quellen berichten, dass die Ehe scheitert,239 andere hingegen, dass sich Vulcanus an Mars und Venus rächt, indem er deren gemeinsame Tochter Harmonia mit einer verfluchten Halskette240/Robe beschenkt, die das fortwährend blutige Schicksal ihres Stammes bedingt.241 Damit lässt sich die Venus-Mars-Episode in zwei Sequenzen mit insgesamt acht Abschnitten gliedern: (1) Die Ehe von Venus und Vulcanus als Vorgeschichte und (2) den Ehebruch mit Mars. Sequenz I: Die Ehe von Venus und Vulcanus als Vorgeschichte 1. Vulcanus wird verstoßen und gerettet 2. Er schickt den verfluchten Thron an Hera 3. Er löst den Bann und erhält dafür Venus als Ehefrau. Sequenz II: Der Ehebruch mit Mars 4. Venus bricht die Ehe mit Mars, Helios entdeckt die beiden 5. Vulcanus schmiedet ein unsichtbares Netz, das die beiden fesselt, als sie sich erneut vereinen 6. Vulcanus stellt das ehebrecherische Paar vor den versammelten Göttern bloß 7. Poseidon erwirkt die Befreiung 8. Die Ehe wird geschieden/Vulcanus rächt sich, indem er Harmonia mit einer verfluchten Halskette beschenkt. Das Strukturmodell erhellt bereits eine Binarität der mythischen Erzählung, die auch die Deutungsgeschichte maßgeblich mitbestimmt. Dabei tritt der erste Teil, der auf Vulcanus’ Verstoß aus dem Olymp zentriert ist, zugunsten des zweiten Teils, also hinter der Ehebruchsszene zurück. Zwar wurde Vulcanus in Tradition der homerischen Deutung zur Reflexionsfigur des künstlerischen Anspruchs,
236 Philos. Leb. Apoll. 7. 26. 237 Quint. Smyr. Posthom. 14.40–59. 238 Ovid, Met. 4.170–189 berichtet den Mythos fast genau wie Homer, bleibt bei der Befreiung des Paares aber ungenauer. 239 Ps.-Apoll. Bib. 3.187, Nonn. Dion. 5.580–585. 240 Statius, Theb. 2.269–273, Nonn. Dion. 5.580–585. 241 Ps.-Hyg. Fab. 148.
2.2 Venus, Mars und Vulcanus
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dessen Sturz vom Olymp prominent in Miltons Paradise Lost (1660) poetologisch aufgewertet wurde.242 Häufiger verblasst die Figur des Schmiedegottes jedoch hinter der Deutung des Ehebruchs, den seine rechtmäßige Frau mit dem Kriegsgott Mars begeht.243 Bereits in Platons Symposion wird die Liebschaft zwischen Mars und Venus als Sieg der Liebe über die Gewalt aufgewertet.244 Im Spiegel von Lukrez’ Lehrgedicht De rerum narura und in Ovids Amores (Ovid, Am. 2,564) sowie in seinen Metamorphosen (Ovid, Met. 4.170–189) festigt sich diese Allegorie der Friedenshoffnung fortlaufend, bevor sie die Mythologiae des Fulgentius (Fulg. Myth. 2,7) moraldidaktisch wendet: Als Personifikation der Tugend wird Mars von Venus zum Ehebruch verführt; die Warnung vor der weiblichen Verführung, die im Mittelalter fortan dominiert, tritt somit in den Vordergrund. Erst im florentinischen Neuplatonismus, namentlich durch Marsilio Ficinos SymposionKommentar De amore (1469), wird die positive Bewertung der Ehebruchsszene als Verbindung von Gegensätzen wieder aufgenommen und bis in den Späthumanismus hineingetragen. Georg Sabinus hingegen kehrt Fulgentius’ moralische Deutung der Episode in seinem neulateinischen Ovid-Kommentar Fabularum Ovidii interpretatio (1555) um. Er zentriert nicht die verführerische Kraft der Venus, sondern prangert das ehebrecherische Verhalten von Kriegern an: „Potest etiam accomodari allegoria ad mores. Sunt enim bellatores plerunque adulteri et scortatores“.245 Im 17. Jahrhundert differenziert sich das Deutungsspektrum allmählich aus. In der ersten Jahrhunderthälfte halten sich Allegorien der Friedenshoffnung und der durch Mars personifizierten Notwendigkeit des Krieges in etwa die Waage: So unterläuft Martin Opitz durch das irenisch geprägte, satirische Enkomium Lob
242 In Paradise Lost (1660) beschreibt Milton den Schmiedegott, an dem Milton seine Position als Künstler spielgelt, als gefallenen Engel, „dessen Kunst […] zum Blendwerk geworden ist,“ vgl. Ruth Neubauer-Petzholdt: [Art.] Hephaistos. In: Moog-Grünewald, Der Neue Pauly, Mythenrezeption, S. 318–321, hier S. 319. 243 Eine spannende sowie prominente Überlagerung der beiden Deutungen findet sich in Jacopo Tintorettos (1518–1594) Gemälde Vulkan überrascht Venus und Mars (1550), in welchem er die Erotik des Liebesspiels von Venus und Vulcanus durch einen unter dem Bett in Rüstung hervorschauenden Mars komisierend unterläuft, gleichzeitig aber die kunstästhetischen Reflexionen über die kreuzenden Kompositions- und Blicklinien und einen Wandspiegel erhält, vgl. Neubauer-Petzholdt, Hephaistos, S. 320. 244 Vgl. hier sowie für den folgenden Überblick der Rezeptionsgeschichte bis zum Barock JanHenrik Witthaus: [Art.] Ares. In: Moog-Grünewald, Der Neue Pauly, Mythenrezeption, S. 132–139, besonders S. 132–136. 245 Georg Sabinus: Fabularum Ovidii interpretatio – Auslegung der Metamorphosen Ovids. Hg., übers. und kommentiert von Lothar Mundt. Berlin, Boston 2019 (Frühe Neuzeit 226), S. 92, Z. 73–75.
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des Kriegesgottes (1628) die stoizistische Anerkennung des Krieges als Fatum,246 während Sigmund von Birken den Kriegsgott im Teutschen KriegsAb- und FriedensEinzug (1650) auch noch nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges als gerechte Entscheidungsgewalt inszeniert.247 Georg Greflinger spitzt seinen Protest gegen die zerstörerische Kraft des Krieges in seiner Satire SA! Lex und Ars die steigen wider hoch! (Incipit, 1651) komisierend zu.248 Die moraldidaktische Allegorese des Ehebruchs fand hingegen Einzug in die christlichen Poetiken von Johann Rist und Sigmund von Birken, die sich gegen die Verwendung der paganen Götter wandten und deshalb die Deutung der Venus als Hure polemisch zum Vortrag brachten.249
2.3 Adonis und Venus Den Hauptbestand des Adonis-Mythos erzählen Ovids Metamorphosen250 sowie die Bibliotheke des Pseudo-Apollodorus.251 Ovid schildert die unglückliche Liebesaffäre von Venus und Adonis; die Bibliotheke ergänzt die Liebschaft durch
246 Vgl. dazu Barbara Becker-Cantarino: Satyra in nostri belli lebitatem: Opitz‘ Lob des Krieges Gottes Martis. In: DVjs. 48 (1979), S. 291–317. Zum irenischen Gedankengut im Schlussgebet des Enkomiums besonders S. 305. 247 Vgl. Hartmut Laufhütte: Der gebändigte Mars. Kriegsallegorie und Kriegsverständnis im deutschen Schauspiel um 1648. In: Ares und Dionysos. Das Furchtbare und das Lächerliche in der europäischen Literatur. Hg. von Hans-Jürgen Horn, Hartmut Laufhütte. Heidelberg 1981 (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 1), S. 121–135. Zu den Schauspielen von Justus Georg Schottelius (Friedenssieg, 1642/48) und Johann Rist (Das Friedewünschende Teutschland, 1647/49) vgl. S. 131–132. 248 Vgl. Dirk Niefanger: Lex mich im Mars. Kriegssatire im 17. Jahrhundert. In: „Mars und die Musen“: das Wechselspiel von Militär, Krieg und Kunst in der frühen Neuzeit. Hg. von Jutta Nowosadtko, Matthias Rogg. Unter Mitarb. von Sascha Möbius. Berlin 2008 (Herrschaft und soziale Systeme in der frühen Neuzeit 5), S. 75–88. Zu Greflinger S. 75–78. 249 Vgl. Berns, Gott und Götter, S. 40–47. 250 Ovid, Met. 10.298–739. 251 Ps.-Apoll. Bib. 3.183–185. Diese war durch die in Heidelberg von Hieronymus Commelinus: Apollodoru tu Athenaiu Grammatiku Bibliothekes, e peri Theōn, biblia g. Apollodori Atheniensis Grammatici Bibliotheces, sive de Deorum origine, Libri III. Benedicto Aegio Spoletino interprete. Hanc editionem Hieronymus Commelinus recensuit; plerisque in locis, mm.ss.ope, emendatiorem reddidit; ac notis variis, ex collatione veterum exemplarium, sed praecipuè Palat. illustrauit. […]. Heidelberg 1599 [VD16 A 3122], ins Lateinische übersetzte Ausgabe sowie durch die zweifach aufgelegte, kommentierte Ausgabe von David Hoeschel: Bibliothēkē Tu Phōtiu: Librorum Quos Legit Photius Patriarcha Excerpta Et Censurae. Augsburg 1601 [VD17 3:314533D], neuaufgelegt 1606, für die Barockdichter zugänglich.
2.3 Adonis und Venus
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die Aufteilung zwischen Venus und Proserpina. Nachstehend wird der Mythos deshalb nach Ovid und Pseudo-Apollodorus dargestellt und in den Fußnoten mit den Varianten ergänzt. Adonis ist der Sohn von Kinyras/Theias und dessen Tochter Myrrha/ Smyrna,252 abweichend werden auch Phoinix und Alphesiboia253 als Eltern angegeben. Myrrha hatte den Zorn der Venus auf sich gezogen, weil sie ihr zu wenig Verehrung entgegenbrachte.254 Als Strafe entflammt Venus in ihr unbändige Liebe zu ihrem Vater Kinyras. Um sich vor der Blutschande zu retten, beschließt sie, sich das Leben zu nehmen. Ihre Amme hält sie davon jedoch ab, indem sie ihr vorschlägt, ihren Vater im Schutz der Dunkelheit255 zu verführen.256 Als Kinyras den Schwindel und die damit verbundene Sünde bemerkt,257 jagt er Myrrha mit gezücktem Schwert, um sie zu töten.258 Als er sie eingeholt hat, fleht sie die Götter/Venus259/Zeus260 um Hilfe an, die sie aus Mitleid in einen Myrrhenbaum verwandeln. Zehn Monate später platzt der Baum auf und Adonis wird aus ihm geboren.261 Aufgrund seiner Schönheit verliebt sich Venus in das Kind,262 versteckt ihn in einer Kiste und vertraut diese Proserpina an. Als diese seine Schönheit erkennt, weigert sie sich, ihn an Venus zurückzugeben. Den resultierenden Streit zwischen den Göttinnen schlichtet Zeus/Calliope, der/die beschließt, Adonis solle je ein Drittel des Jahres bei einer der Göttinnen bleiben und habe
252 Ps.-Hyg. Fab. 58, Ovid, Met. 10.298, Ant. Lib. Met. 34, Oppian, Halieutica 3.402–410. 253 Ps.-Apoll. Bib. 3.183–185. 254 Oppian, Halieutica 3.402–410, Ant. Lib. Met. 34, und Fulg. Myth. 3,8 geben keinen Grund für die inzestuöse Liebe an, bei Ovid, Met. 10.311–312 bestreitet Cupido sogar jemals eine so schändliche Liebe entfacht zu haben. Ps.-Hyg. Fab. 58 dagegen erzählt, Smyrnas Mutter Kenchreis habe die Liebesgöttin gegen sich aufgebracht, weil sie damit prahlte, dass die Schönheit ihrer Tochter die der Venus übertreffe. 255 Bei Fulg. Myth. 3,8 ist Theias betrunken und bemerkt deshalb die Schande nicht. 256 Wie lange das Verhältnis währt ist unterschiedlich überliefert: Ps.-Apoll. Bib. 3.183 gibt zwölf Nächte an, keine Zeitangabe ist überliefert bei Ant. Lib. Met. 34, und Ps.-Hyg. Fab. 58. 257 Bei Ps.-Hyg. Fab. 58 flieht Smyrna aus Scham in die Wälder. 258 Bei Ant. Lib. Met. 34 eröffnet sich Theias sein Vergehen, als er davon erfährt, dass seine Affäre mit der Unbekannten zu deren Schwangerschaft geführt hat. Als er erfährt, dass er mit seiner Tochter ein Kind gezeugt hat, nimmt er sich das Leben. 259 Ps.-Hyg. Fab. 58. 260 Ant. Lib. Met. 34. 261 Bei Ant. Lib. Met. 34 bringt Smyrna den Sohn bereits vor ihrer Verwandlung auf die Welt. Bei Fulg. Myth. 3,8 wird Adonis geboren als Theias den Baum spaltet. 262 Fulg. Myth. 3,8 leitet die Liebe dagegen etymologisch ab: adon sei Griechisch für süßen Genuss. Ovid, Met. 10.525–526 erzählt, dass Cupido unabsichtlich Venus mit einem Pfeil verletzt und so die Liebe entfacht.
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2 Drei strukturell dominante Venus-Episoden im Barock
das letzte Drittel zur freien Verfügung.263 Adonis entscheidet sich jedoch dafür, auch die vier Monate seiner Selbstbestimmung bei Venus zu verbringen. Venus und Adonis werden ein Liebespaar. Das Liebesglück264 endet jedoch, weil Adonis trotz inständiger Warnungen von Venus auf Jagd geht und von einem wilden Eber getötet wird.265 Grund dafür ist der Zorn der Jagdgöttin Artemis.266 Andere Überlieferungen berichten dagegen, der Kriegsgott Mars habe das Tier aus Eifersucht auf Adonis gehetzt oder sich selber in einen Eber verwandelt, um den Nebenbuhler zu töten.267 Den toten Adonis bettet Venus in einen Salatkopf268 oder verwandelt ihn in eine Rose269/Anemone.270 In einem Modell lässt sich der Mythos demnach in drei Sequenzen mit insgesamt elf Abschnitten strukturieren: Sequenz I: Geburt des Adonis 1. Affäre zwischen Kinyras und Myrrha 2. Enthüllung des Inzests 3. Verwandlung der Myrrha in einen Myrrhe-Baum 4. Geburt des Adonis aus dem Myrrhe-Baum Sequenz II: Adonis als Weltenwandler 5. Venus verliebt sich in Adonis 6. Sie übergibt ihn Proserpina, um ihn zu verstecken 7. Proserpina verweigert die Rückgabe; Zeus/Calliope urteilt, Adonis solle je ein Drittel des Jahres bei Venus bzw. Proserpina bleiben und habe das letzte zur freien Verfügung
263 Ps.-Hyg. Astr. 2.7 berichtet, Caliope wäre von Zeus als Richterin ausgewählt worden. Sie habe entschieden, Adonis solle je sechs Monate bei einer der Göttinnen bleiben. Um sich an Caliope zu rächen, weil sie nicht ihren Willen bekommen habe, hätte Venus später Orpheus, Caliopes Sohn, von den thrakischen Frauen zerreißen lassen. Bei Theokrit wird die gemeinsame Zeit des Liebespaars dagegen auf nur einen Tag verkürzt, vgl. Theokrit 15,136–144. Macrobius deutet Adonis als Sonnensymbol, den Eber hingegen als Wintersymbol. Dementsprechend seien auch die sechs Monate, die Adonis bei Proserpina verbringen muss, als Winter, die restlichen sechs als Sommer zu verstehen, vgl. Macr. Sat. 1.21,1–6. 264 Cicero, De Nat. Deo. 3.59 berichtet, dass die syrische Venus, die er Astarte nennt, mit Adonis verheiratet war. 265 Prop. Eleg. 2.13, 52–56, Ps.-Hyg. Fab. 248. 266 Ps.-Apoll. Bib. 3.183–185. Keinen Grund nennt Ovid, Met. 10. 267 Nonn. Dion. 29.135–138 sowie 32.219–222 und 41,209–211. 268 Athenaeus, Deip. 2. 69b–d. 269 Bion. Epith. Ad. 65. 270 Bei Bion. Epith. Ad. 64–66 entstehen die Anemonen aus den Tränen der Venus.
2.3 Adonis und Venus
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Sequenz III: Der Tod des Adonis 8. Liebesverhältnis zwischen Adonis und Venus 9. Adonis will jagen gehen, Venus versucht ihn abzuhalten 10. Adonis wird von einem Eber getötet 11. Venus verwandelt Adonis in eine Anemone Die heuristische Dreigliedrigkeit des Strukturmodells bildet zugleich die drei wichtigsten Aspekte der Rezeptionsgeschichte ab: (1) Die Erbsünde des Adonis, (2) sein doppeltes Bündnis zur Hölle sowie zur Oberwelt und (3) seine Rolle als Liebhaber. Die frühantiken griechischen Quellen wurden meist im Zusammenhang mit verschiedenen Adoniskulten (etwa den in Platons Phaidra beschriebenen Adonisgärten) als Klagen über das Ende der fruchtbaren Jahreszeit271 sowie über das frühzeitige Sterben der jugendlichen Schönheit,272 aber auch als Sinnbild sexueller Potenz interpretiert.273 Kaiserzeitliche Quellen berichten von einem Adonisfest, mit dem das Ende der Getreideernte gefeiert wurde.274 Hans-Peter Müller sieht den Adonis-Mythos in Verbindung mit den Adonisgärten dagegen hauptsächlich als Mythisierung bzw. Sakralisierung des Sterbens, die verschiedene Ausprägungen zulässt.275 In der Rezeption der spätantiken Bibelkommentatoren wird Adonis mit dem im Alten Testament im Buch Ezechiel (Ez. 8,14) auftauchenden sumerischbabylonischen Vegetationsgott Tammuz/Dumuzi überlagert.276 Dieser ist der vorzeitliche König von Uruk und Gemahl von Inanna, die ihn – nach einem gescheiterten Versuch, die Macht über die Unterwelt zu erlangen – den Mächten der Schattenwelt übergibt.277 Mit dem Versprechen eines menschlichen Ersatzes 271 Jutta Weiser: [Art.] Adonis. In: Moog-Grünewald, Der Neue Pauly, Mythenrezeption, S. 15–26, hier S. 16. 272 Carlo Caruso: Adonis. The Myth of the Dying God in the Italian Renaissance. London u. a. 2013, S. 3. 273 Marcel Detienne. Die Adonis-Gärten: Gewürze und Düfte in der griechischen Mythologie. Übersetzt aus dem Französischen von Gabriele und Walter Eder. Darmstadt 2000, S. 148. Dabei sollte stets der wichtige Einwand von Hélène Tuzet: Mort er résurection d’Adonis. Étude de l’évolution d’un mythe. Paris 1987, S. 27, beachtet werden, dass nicht eindeutig geklärt werden könne, ob der Kult eine Aktualisierung des Mythos sei oder der Mythos eine Illustration des Kults. Zu den verschiedenen Kulten vgl. ebd., S. 25–37. 274 Vgl. Beate Ego: [Art.] Adonis. In: Der Neue Pauly, Bd. 1, Sp. 120–122. 275 Vgl. Hans-Peter Müller: Adonis und Adonisgärtchen. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. 154,2 (2004), S. 265–284, der sich mit weiterführender Literatur, besonders aber mit der Studie von Marcel Detienne, Die Adonis-Gärten, kritisch auseinandersetzt. 276 Weiser, Adonis, S. 18. 277 Zur Ähnlichkeit von Tammuz/Dumu-zi/Adonis vgl. Walter Burkert: Structure and History in Greek Mythology and Ritual. Berkley, Los Angeles 1979 (Sather classical Lectures 47), S. 108–111.
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2 Drei strukturell dominante Venus-Episoden im Barock
erwirkt Inanna ihre eigene Freilassung aus den Fängen der Unterwelt. In der sumerischen Variante wird Tammuz dagegen im Reich der Toten gefangen gehalten und seine Schwester bietet an, an seiner statt je die Hälfte des Jahres im Orkus zu verbringen. In zahlreichen akkadischen und sumerischen Kultliedern werden die eintretende Sommerhitze und das Absterben der Vegetation mit dem Unterweltgang des Dumuzi verbunden und beweint.278 Besonders die Ähnlichkeiten zu Christus, die durch Adonis zyklische Wiedergeburt nahelagen, regten vielfältige Korrekturen an,279 die Adonis’ Fehlbarkeit hervorkehrten (Firmicus Maternus, De errore profanum religionum), um seine Divinität zu verneinen oder Adonis die Erbschuld seiner inzestuösen Geburt zur Last legten und ihn als Sinnbild der verwerflichen sexuellen Begierde darstellten (Fulg. Myth. 3,8). In der Frühen Neuzeit wird dagegen eher die dritte Sequenz, die Liebe zwischen Venus und Adonis zentriert. Während Giovanni Pontano (1429–1503) den Adonis-Mythos in der Urania (1505) noch als Allegorie der vegetativen Regeneration interpretierte,280 stilisiert Lope de Vega (1562–1635) in seiner dramatischen Adaption Adonis y Venus (1600) den jungen Helden zum unerfahrenen Liebhaber, der Venus zugunsten der Jagd abweist. William Shakespeare wendet die Widerwilligkeit des Adonis in seinem Kleinepos Venus and Adonis (1592) dagegen in Selbstbeherrschung und Keuschheit, welche die Vereinigung des antiken Paars ganz verhindert. Damit reiht er sich in die Tradition von Tizian (1490–1576), der in seinem Bild Venus und Adonis (um 1554) den sich losreißenden Adonis dargestellt hatte.281 In Giambattista Marinos mythologischen Epos L’Adone (1623) werden schließlich verschiedene Gründe für das grausame Ende der Liebesbeziehung zusammengeführt. Die Eifersucht des Kriegsgottes Mars sowie die Rache der Jagdgöttin Artemis spiegeln das göttliche Fatum ein, das dem freien Willen und der Unvernunft des übermütigen Adonis entgegensteht. Damit wird nicht allein das Verhältnis zwischen göttlicher Vorsehung und menschlicher Vernunft abgewogen, sondern ebenfalls die von weiblichen Reizen korrumpierten Tugenden des Mannes mit heroischem Übermut konterkariert.282 Indes wird auch die Rolle der weiblichen Verführung kontrovers zur Diskussion gestellt: Einerseits
Die von ihm ebenfalls vorgeschlagene Analogie zum Hippolytos-Mythos scheint weniger überzeugend, vgl. ebd., S. 112–118. 278 Vgl. Johannes Renger: Tammuz [Art.]. In: Der Neue Pauly, Bd. 12/1, Sp. 4. 279 Caruso, The myth of the dying god, S. 3. 280 Ebd., S. 10. 281 Weiser, Adonis, S. 19–21. 282 Vgl. Helga Grubitzsch-Rodewald: Die Verwendung der Mythologie in Giambattista Marinos „Adone“. Wiesbaden 1973 (Mainzer romanistische Arbeiten 9), S. 27–43.
2.3 Adonis und Venus
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bildet das verletzte Schamgefühl von Artemis durch Venus den Grund für die Rache der Jagdgöttin, andererseits assimiliert Marino die Liebesgöttin durch die Strophen über die Passionsblume und die Darstellung des Venustempels mit der heiligen Maria.283
283 Vgl. ebd., S. 90–93. So auch schon Hugo Friedrich: Epochen der italienischen Lyrik. Frankfurt/M. 1964, S. 690–691.
3 Gelehrsamkeit in mythographischen Handbüchern, Lehrgedichten und Paratexten Neben der heuristischen Funktion des kompilatorischen Quellenüberblicks, der zur Fertigung der Strukturmodelle diente, wurden zugleich die vielfältigen antiken Quellen zusammengefasst, die den barocken Autoren zur Verfügung standen. Denn während Homer,284 Ovid und Vergil als die vorrangigen Autoritäten gelten dürfen, die vielfältig nachgedruckt, übersetzt und kommentiert wurden,285 waren neben den großen Elegikern (Horaz, Tibull, Properz) und den antiken Tragödiendichtern (Aischylos und Euripides)286 auch zeitgenössische
284 Homers Autorität im deutschen Sprachraum ist eindrucksvoll durch mindestens 106 Homer-Edition im 16. Jahrhundert nachgewiesen, vgl. Regina Toepfer: inn vnserer sprach von new gleich erst geboren: deutsche Homer-Rezeption und frühneuzeitliche Poetologie. In: Euphorion 103,2 (2009), S. 103–130, hier S. 105. Deutsche Übersetzungen der Odyssee lagen vor durch Simon Schaidenreisser (1537); die Ilias übersetzte hingegen Johann Spreng (1610), vgl. Thomas Bleicher: Homer in der deutschen Literatur (1450–1740). Zur Rezeption der Antike und zur Poetologie der Neuzeit. Stuttgart 1972 (Germanistische Abhandlungen 39), besonders S. 107–130. 285 Besonders der Tradition der Metamorphosen-Kommentierung soll an dieser Stelle Rechnung getragen werden, als deren herausragendes Zeugnis Georg Sabinus’ Fabularum Ovidii interpretatio (1555) gelten kann, die zwischen 1555 und 1718 mindestens einundzwanzig Mal neu aufgelegt wurde und nun in der Edition von Lothar Mundt vorliegt. Vgl. Georg Sabinus: Fabularum Ovidii interpretatio – Auslegung der Metamorphosen Ovids. Hg., übers. und kommentiert von Lothar Mundt. Berlin, Boston 2019 (Frühe Neuzeit 226), S. XXIX und S. 359–360. Vgl. zur Ovid-Interpretation in der Renaissance ferner Ann Moss: Ovid in Renaissance France. A survey of the Latin editions of Ovid and commentaries printed in France before 1600. London 1982 (Warburg Institute Surveys 8) und dies. (Hg.): Latin commentaries on Ovid from the Renaissance. Selected, introduced and translated by Ann Moss. Signal Mountain, Tennessee 1998 (Library of Renaissance humanism). 286 Für eine Sammlung der frühneuzeitlichen Editionen und Übersetzungen sei auf die folgenden Artikel im Band von Manfred Landfester, Brigitte Egger (Hgg.): Der Neue Pauly. Supplemente Bd. 2. Geschichte der antiken Texte. Autoren- und Werklexikon. Stuttgart/Weimar 2007, verwiesen: Manfred Landfester: [Art.] Aischylos. In: ebd., S. 16–21; ders.: [Art.] Euripides. In: ebd., S. 236–241; ders.: [Art.] Ovid. In: ebd., S. 424–430; ders.: [Art.] Vergil. In: ebd., S. 639–643; Jessica Ott: [Art.] Horaz. In: ebd., S. 309–315; Anja Bettenworth: [Art.] Propertz. In: ebd., S. 510–514 sowie Henning Horstmann: [Art.] Tibull. In: ebd., S. 617–619. https://doi.org/10.1515/9783110684209-004
3 Gelehrsamkeit in mythographischen Handbüchern, Lehrgedichten und Paratexten
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Ausgaben der griechischen Historiendichtung (Pausanias287 und Diodorus288) sowie des byzantinischen Versepos von Nonnos von Panopolis289 greifbar. Eine überragende Rolle kommt außerdem den antiken Mythographen zu, die auch in der Frühen Neuzeit, vor allem im späten 16. Jahrhundert, durch häufige Wiederauflagen von Sammeldrucken noch gut zugänglich waren.290 Durch die
287 Vgl. Pausanias: Pausaniu Tēs Ellados Periēgēsis, Hoc Est, Pausaniae Accurata Graeciae Descriptio, Qua Lector Ceu Manu Per Eam Regionem Circumducitur/ A Guilielmo Xylandro Augustano Diligenter recognita, & ab innumeris mendis repurgata. Accesserunt Annotationes, quae a G. Xylandro paulo ante obitum inchoatae, nunc vero a Frid. Sylb. continuatae […]. Hannover 1613. [VD17 23:231167Y]. 288 Etwa die lateinische Teilübersetzung von Lorenz Rhodomann: Diodōru Tu Sikeliōtu Bibliothēkēs Istorikē s biblia […] Diod. Siculi Bibliothecae Historicae Libri X: Qui primam decadem sequunter; Quorum Catalogum & rerum praecipuarum in iis contentarum sequentes aliquot pagellae exhibent / Cum Laurentii Rhodomani Cherusci interpretatione. Hannover 1604. [VD17 3:606908F]. 289 Vgl. Eilhard Lubin: Nonni Panopolitae Dionysiaca: Ex Bibliotheca Joannis Sambuci Pannonii Cum Lectionibus, & Coniecturis Gerarti Falkenburgii Noviomagi. Hannover 1605. [VD17 1:087818Z] 290 Die erfolgreichste Sammelausgabe war: C. Ivlii Hygini, Avgvsti Liberti, Fabvlarvm Liber: Ad Omnivm Poetarvm lectionem mire necessarius, & nunc denuo excusus; Eivsdem Poeticon Astronomicon Libri quatuor. Quibus accesserunt similis argumenti; Palaephati De fabulosis narrationibus Liber I. F. Fvlgentii Placiadis Episcopi Carthagiensis Mythologiarum Libri III. Eiusdem De vocum antiquarum interpretatione Liber I. Phornvti De natura deorum, sive poeticarum fabularum allegorijs, speculatio. Albrici Philosophi De deorum imaginibus Liber. Arati phainomenon fragmentum, Germanico Cæsare interprete. Eiusdem Phænomena Græcè cum interpretatione Latina. Procli De sphæra libellus, Græcè & Latinè. Apollodori Biblioth. sive de Deorum origine. Lilii G. Giraldi De Musis Syntagma. Nvnc Primvm Vero Ex Macrobio, Ficino in Plotinum, Natali de Comitibus, & alijs Excerpta lectu dignißima, & Operis argumento convenientissima, subiuncta sunt. Index rerum, sententiarum, & fabularum, in his omnibus scitu dignarum, copiosissimus. Basel 1535. [VD16 H 6479]. Die Basler Erstauflage von 1535 erschien zunächst nur mit den Texten von Hyginus, Fulgentius, Phornutus, Proklos und Aratos, wurde 1549 erneut aufgelegt und ergänzt durch Albricus und wurde nochmals 1570 erweitert mit Palaephatus und Ps.-Apollodorus. Diese Ausgabe erschien dann erneut 1578 in Paris sowie 1582 in Basel, bevor sie 1608 mit den Kommentaren von Macrobius, Ficino und Conti in Lyon gedruckt wurde. Auch die etwas kleinere Sammlung F.P. Fvlgentii Christiani Philosophi Mythologiarum libri tres, in quibus enarrat omnes insigniores ueterum fabula. His acceßit Palaephatus de fabulis supra fidem confictis, Philippo Phasianino Italo interprete. Praeterea Albrici Philosophi, de Deorum imaginibus, Liber. Postremo Phornuti, de natura Deorum, libellus, Iodoco Velareo translatore mit Fulgentius, Palaephatus, Albricus und Phornutius. Basel 1543. [VD16 F 3349] erschien lange vor Hieronymus Commelinus: Mythologici latini: in quibus C. Iul. Hygini lib. I. Fabii Planciadis, Fulgentii v. c. mythologiarum libri III. Eiusdem de allegoria librorum Virgilii lib. I. Iul. Firmici Materni de errore profanarum religionum ad Constantium et Constantem Augg. lib. I. Albrici Philosophi de deorum imaginibus lib. I. Heidelberg 1599. [VD16 ZV 3786] mit Hyginus, Fulgentius, Firmici Marternus und Albricus. Beide sind nicht zu verwechseln mit dem sogenannten Mythographi latini, den Thomas Muncker
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3 Gelehrsamkeit in mythographischen Handbüchern, Lehrgedichten und Paratexten
Überlieferung in mythologischen Kompendien sind differenzierte Rückschlüsse über die Rezeption einzelner Autoren kaum möglich, doch ist die Bedeutung von Giovanni Boccaccios Genealogia Deorum Gentilium (ca. 1365)291 nicht von der Hand zu weisen. Obwohl dieses wegweisende Werk gegen Mitte des 16. Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung verlor,292 muss Boccaccio als wichtigster Mittler zwischen den „mittelalterlichen und den humanistischen Mythographen“293 gelten; nicht zuletzt, weil die Genealogia das Vorbild für die Handbücher von Lilio Gregorio Giraldi, Natale Conti und Vincenzo Cartari war.294 Obgleich zahlreiche Druckauflagen im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert belegen,295 dass die Genealogia auch noch im Barock fortwirkte,296 wurde sie von Giraldis De deis gentium […] (1548), Contis Mythologiae sive explicationum fabularum libri decem (1551) und Cartaris Le Immagini colla sposizione degli Dei degli Antichi (1556) nach und nach verdrängt. Dies zeigt eine regelrechte Auflagenflut der drei Handbücher im Jahrhundert nach ihrer Entstehung.297 Nachfolgend wird deshalb
1681 herausgab, vgl.: Complectens Fabii Planciadis Fulgentii Mythologias, Continentiam Virgilianam, & libellum de Prisco Sermone; Lactantii Placidi Argumenta Metamorphoseôn Nasonianarum; Albrici Philosophi Commentariolum de Imaginibus Deorumvon. Amsterdam 1681. 291 Zur Datierung und Entstehung von Boccaccios Genealogia vgl. Peter R. Schwertsik: Die Erschaffung des heidnischen Götterhimmels durch Boccaccio. Die Quellen der Genealogia Deorum Gentilium in Neapel. Paderborn 2014 (Humanistische Bibliothek 1), S. 18–20. 292 Vgl. Schwertsik, Erschaffung des heidnischen Götterhimmels, S. 42. 293 Vgl. Achim Aurnhammer, Nikolaus Henkel, Mario Zanucchi: Boccaccio in Deutschland. Spuren seines Lebens und Werks 1313–2013. Katalog zur Ausstellung im Goethe-Museum Düsseldorf in Zusammenarbeit mit der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. 5. Mai bis 18. August 2013. Heidelberg 2013, S. 61. Vgl. auch Seznec, Das Fortleben der Antiken Götter, S. 164. 294 Vgl. Seznec, Das Fortleben der Antiken Götter, S. 172–178. 295 Im 16. Jahrhundert erscheinen drei lateinische (1511–1531), zwei französische (1531) und acht italienische (1547–1588) Drucke sowie drei weitere zwischen 1606 bis 1644, vgl. Schwertsik, Erschaffung des heidnischen Götterhimmels, S. 41. 296 Vgl. Brigitte Hege: Boccaccios Apologie der heidnischen Dichtung in der Genealogie deorum gentilium. Buch XIV. Text, Übersetzung, Kommentar und Abhandlung. Tübingen 1997 (Ad fontes 4), S. 1. 297 Von Contis Mythologiae erschienen zwischen 1551 und 1627 in Italien, Deutschland, Frankreich und in der Schweiz insgesamt siebzehn Auflagen sowie eine Französische Übersetzung in sechs Auflagen. Vgl. Seznec, Das Fortleben der Antiken Götter, S. 215. Cartaris Immagini degli Dei erlebte 32 Auflagen, achtzehn davon auf Italienisch, fünf auf Latein, sechs auf Französisch, eine auf Deutsch und eine auf Englisch, vgl. John Mulryan: Translations and Adaptations of Vincenzo Cartari‘s Imagini and Natale Conti’s Mythologiae: The Mythographic Tradition in the Renaissance. In: Canadian Review of Comparative Literature 8,2 (1981), S. 272–283, hier S. 272. Giraldis De deis gentium wurde dagegen nur fünfmal neu aufgelegt, vgl. Karl A. E. Enenkel: The Making of 16th-Century Mythography: Giraldi’s Syntagma de Musis (1507–1511 and 1539), De deis gentium historia (ca. 1500–1548) and Julien de Havrech’s De cognominibus deorum gentilium (1541). In:
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kurz ihr Inhalt in Bezug auf Venus referiert und mit weiteren mythologischen Handbüchern des Barock abgeglichen.298 Während die Schilderungen der vier großen Mythographen nicht weit voneinander abweichen, unterscheiden sie sich am deutlichsten in der Herangehensweise: Bei Boccaccio und Conti liegt das Augenmerk auf der Auslegung des mythischen Stoffs. Giraldi bietet dagegen eine erschöpfende Aufstellung aller Statuen, Denkmäler und Heiligtümer von Venus, während Cartari ihr Wesen nach Bildern und Plastiken beschreibt und deshalb besonders sorgfältig ihre Akzidenzien auflistet.299 Die Geburt der Venus300 wird meist nach Cicero beschrieben,301 wobei Cartari eine Ausnahme bildet, weil er nur den Geburtsmythos nach Hesiod nennt.302 Conti unterschlägt dagegen den assyrischen Geburtsmythos von Venus aus einem Ei.303 Der Adonis-Mythos wird im Wesentlichen nach Ovid geschildert und nach Macrobius ausgedeutet.304 Überdies versteht ihn Boccaccio auch als Humanistica Lovaniensia 51 (2002), S. 9–53, hier S. 23. Die erste deutsche Bearbeitung bietet Johann Herold: Heydenweldt Vnd irer Goetter anfaegcklicher vrsprung/ […] Diodori des Siciliers […] sechs Buecher/ dero jnnhalt anzeigt/ vermeinten anfang der Weldt/ […] bis zu Troianischer vehd […] Dictys des Candioten wharhaffte beschreibung/ von Troianischen krieg […] Hori eins vor dreytausent jaren/ in Aegypten Künigs vnd Priesters/ gebildte waarzeichen […] Planeten Tafeln […] Durch Johann Herold beschriben vnd jns teütsch zusamen gepracht. Basel 1554. 298 Dabei zitiere ich nachstehend aus den folgenden Ausgaben: Natale Conti’s Mythologiae. 2 Bde. Hg. und übers. von John Mulryan. Arizona 2006 (Medieval and Renaissance texts and studies 316). Vincenzo Cartari’s Images of the gods of the ancients: the first Italian mythography. Hg. und übers. von John Mulryan. Arizona 2012. Giovanni Boccaccio. Genealogy of the pagan gods. Books I–V. Hg. und übers. von John Solomon. Cambridge u. a. 2011 (The I Tatti Renaissance library 46) und Lilio Gregorio Giraldi: De Deis Gentium varia et multiplex Historia, Libris sive Syntagmatibus XVII comprehensa […]. Basel 1560. [VD16 G 2104]. 299 Vgl. John Mulryan: Venus, Cupid and the Italian Mythographers. In: Humanista Lovensiensia 23 (1974), S. 31–41. 300 Obwohl Cicero bekanntlich vier Geburtsmythen referiert, deutet Boccaccio ihr Wesen in dreifacher Weise in eine von Caelus und Dies geborene himmlische Venus, eine aus dem Blut und dem Meerschaum entstandene Personifikation von Sexualität und eine assyrisch-klassische Venus, die zwischen der historischen Kultfigur und der poetischen Darstellung dieser Kultfigur oszilliert. Zur Ausdeutung vgl. David Lummus: Boccaccio’s Three Venuses. On the Convergence of Celestial and Transgressive Love in the Genealogie Deorum Gentilium Libri. In: Medievalia et Humanisica 37 (2011), S. 65–88, der überzeugend die Lesart von Robert Hollander: Boccaccio’s two Venuses. New York 1977, widerlegt. 301 Vgl. Boccaccio, Genealogia, 3,22–23, Conti, Mythologiae, 4,316, Giraldi, Synt. 10,372. 302 Cartari, Imagines, S. 229. 303 Conti, Mythologiae, S. 316. 304 Vgl. Ursula Rombach: Venus – Mars – Adonis. Imagination und mythopoetische Innovation. In: Imagination, Transformation und die Entstehung des Neuen. Hg. von Philipp Brüllmann, Ursula Rombach, Cornelia Wilde. Berlin, Boston 2014 (Transformationen der Antike 31), S. 197–220, hier S. 212–214.
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Allegorie der Vergänglichkeit der Schönheit,305 Giraldi führt dagegen mehrere Quellen an, um den Adonis-Kult zu belegen.306 Die Liebschaft mit Mars ist meist nur rudimentär dargestellt: Boccaccio gibt die Enthüllung des Ehebruchs durch Helios als Grund für die mythische Fehde zwischen Helios und Venus an, Cartari deutet die Liebschaft als Macht der Liebe über den Krieg und Conti nutzt die Götterburlesque, um verschiedene Strafen für Ehebrecher zu illustrieren.307 Giraldi dagegen führt in einem gesonderten Kapitel die gesamte Geschichte Vulcans auf, in der er die Verbannung Vulcans aus dem Olymp sowie den Ehebruch schildert.308 Alle kennen Venus darüber hinaus als Erfinderin der Prostitution.309 Das Paris-Urteil310 wird nur von Conti beschrieben. Während Boccaccio den von Homer genannten Gürtel ausdeutet,311 beschreiben Giraldi und Cartari umfangreich den Triumphwagen der Venus, den sie aus der Sachsenchronik (1492) von Conrad Bote kennen.312 Der Wagen wird von zwei Tauben und zwei Schwänen gezogen, darauf steht Venus mit drei Äpfeln in der linken Hand und in der rechten eine Weltkugel. Auf ihrer Brust prangt eine brennende Fackel und ihr Haupt bekränzt das gekämmte Haar.313 Durch einen Blick in die Venus-Kapitel der mythologischen Handbücher des siebzehnten Jahrhunderts lässt sich der Einfluss der drei großen Mythographen des sechzehnten Jahrhunderts ermessen. Die erste deutsche Bearbeitung von Giraldis De deis gentium (1548)314 bietet Johann Herolds Heydenweldt (1554).
305 Boccaccio, Genealogia, 2,51–54. Cartari verknappt den Mythos jedoch auf die Trauer der Venus um den von einem Wildschwein getöteten Adonis, ohne die Vorgeschichte zu erläutern, vgl. Cartari, Imagines, S. 424–425, Conti, Mythologiae, 4,320 und 4,323. 306 Giraldi, Synt. 10,396–398. 307 Boccaccio, Genealogia, 3,22, Conti, Mythologiae, 4,319 und 321 sowie 327, Cartari, Imagines, S. 426. 308 Giraldi, Synt. 10,398–402. 309 Boccaccio, Genealogia, 3,22, Giraldi, Synt. 10,387, Conti, Mythologiae, 4,317, Cartari, Imagines, S. 420. 310 Conti, Mythologiae, 4,561. 311 Boccaccio, Genealogia, 3,22. 312 Zum Triumphwagen der Venus in der Sachsenchronik und den nachfolgenden Mythographien von Giraldi, Herold, Cartari, Münster, Ripa und Hederich vgl. Veronika Mertens: Die drei Grazien. Studien zu einem Bildmotiv in der Kunst der Neuzeit. Wiesbaden 1994 (Gratia 24), S. 163–171. 313 Giraldi, Synt. 10,380; Cartari, Imagines, S. 410. 314 Auf die Abhängigkeit von Giraldi hat bereits hingewiesen: Seznec, Das Fortleben der Antiken Götter, S. 243. Ihm folgt Andreas Burckhardt: Johannes Basilius Herold. Kaiser und Reich im protestantischen Schrifttum des Basler Buchdrucks um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Basel, Stuttgart 1967 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 104), S. 166 und S. 269. Zur Vorrede, ebd. S. 137–138. Neuer und mit einem kurzen Textvergleich: Mertens, Die drei Grazien, S. 164–165.
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Obgleich Herold eine Liste von über 180 Autoren anführt, „auß deren Büchern und mündlichem bericht dise Heydenwelt ersucht und erläuttert“315 sei, täuscht er damit kaum über seine Hauptquelle hinweg, die er in der Vorrede eindeutig benennt: Wo dise von Heydnischen Göttern meine geschribne sechs Bücher […] allein den in vilen Spraachen erübten glerten menschen/ fürgestellt wärend/ versähe ich mich/ entweder Lobs/ […] wöllichs vor mir kein Teutscher auff sich laden wöllen/ oder aber zum wenigsten wurdend die selbigen dises alles on anstoß lesen/ […] so in Griechischer/ Latinischer und andern Spraachen/ zuvor bei Lilio Gyraldo in ganz holdsälig gstellter ordnung (dero ich dann sovil mir möglich nachgefahren) dergleichen meer gelesen.316
Dass sich Herold jedoch nicht nur an Giraldis Struktur orientiert, sondern auch hauptsächlich seinen Text übersetzt, zeigt sich deutlich im Venus-Kapitel. Darin wiederholt er penibel alle von Giraldis angeführten Cognomen und erläutert ihre Bedeutung meist wortgetreu.317 Wie wichtig Herold als Mittler von Giraldis De deis gentium für die deutsche Barockliteratur war, zeigt sich anhand einer genaueren Betrachtung von Heinrich Kornmanns Mons Veneris (1614)318 – ein über 400 Seiten starkes Nachschlagewerk, das in 96 Kapitel gegliedert ein gewaltiges Wissen über die antike Liebesgöttin kompiliert, dieses mit dem spätmittelalterlichen Stoffkreis um Tannhäuser und den Venusberg vermengt und in der Rezeption von Grimmelshausen, Heinrich Heine und Ludwig Tieck europäische Wirkung entfaltete.319 Kornmanns Stoffsammlung zeigt sich jedoch stark beeinflusst von Herold, aus
315 Vgl. Herold, Heydenweldt, S. 1 (aufgrund der unregelmäßigen Paginierung zitiere ich nach den Digitalisatseiten des Heidelberger Digitalisats [VD16 H 2545]). 316 Vgl. ebd., S. 9. 317 Vgl. ebd., S. 249–257 mit Giraldi, S. 374–391. 318 Vgl. Heinrich Kornmann: Mons Veneris, Fraw Veneris Berg: das ist, Wunderbare und eigentliche Beschreibung der alten Haydnischen und Newen Scribenten Meynung von der Göttin Venere […] newlich zusammengetragen und allen der Natur Heymligkeiten Erforschern und Liebhabern zu gutem an Tag geben […]. Frankfurt a.M. 1614, S. 23–55. 319 Vgl. Walter Pabst: Venus und die missverstandene Dido. Literarische Ursprünge des Sibyllen- und des Venusberges. Hamburg 1955 (Hamburger Romanistische Studien A 40), S. 14–15. Ähnlich: Klaus Haberkamm: Kornmanns ‚collectanea‘ Mons Veneris (1614) und De Miracvlis Mortvorvm (1610). Kurioses von stoffgeschichtlicher und hermeneutischer Relevanz. In: Simpliciana. Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft 21 (1999), S. 161–176, besonders S. 163–168. Die Wirkung Kornmanns bekräftigt auch Wilhelm Kühlmann: Eine Lebensspur Heinrich Kornmanns (1579–1627). Sein Brief an Jacques Auguste de Thou. In: Daphnis 34 (2005), S. 369–372. Hier S. 369.
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dessen Heydenwelt Kornmann sein drittes Kapitel „De varijs nominibus Dea Veneris continet“ übernimmt.320 Auch Francois Antoine Pomeys Pantheum mythicum seu fabulosa deorum historia (1659)321 ist Giraldi verpflichtet, wie besonders deutlich im Venuskapitel zutage tritt, in dem Pomey wie Giraldi eine Liste von Cognomen der Venus bietet, um damit die Verbreitung des Venuskultes zu bezeugen und ihre verschiedenen Attribute herzuleiten. Zwar verschleiert Pomey seine Abhängigkeit, indem er die Reihenfolge der Namen verändert und die Liste deutlich kürzt; eine genaue Lektüre macht jedoch schnell deutlich, dass er lediglich in Auszügen Giraldi übersetzt.322 Pierre Gautruches L’ Histoire Poëtique (1669)323 bietet dagegen nur sehr spärliche Informationen über Venus. Ohne Ausführungen nennt er die drei Kultstätten Amathus, Cythéra und Paphos, als Begleiter Hymen, die Grazien und Cupido und verweist auf die Ehe mit Vulcanus.324 Ausführlich schildert er dagegen das Paris-Urteil.325 Adonis nennt er als Liebhaber der Venus, wendet seinen Tod jedoch innovativ, indem er als Mörder die drei Grazien angibt, die ihn zerreißen, weil er sie zur Liebe angestachelt hätte.326
320 Vgl. Antonius Baehr: Heinrich Kornmanns Mons Veneris (1614) als mythologisches Handbuch in der Tradition von Lilio Gregorio Giraldi (De Dei Gentilium, 1548) und Johann Herold (Heydenweldt, 1554). In: Daphnis. 46,4 (2018), S. 1–7. 321 Das Handbuch von Francois Antoine Pomey: Pantheum mythicum seu fabulosa deorum historia. Hoc primo, epitomes eruditionis volumine, breviter dilucideque comprehensa. Lyon 1659, war mit neun Auflagen (1659, 1671, 1675, 1683, 1684, 1690, 1697, 1700, 1701) bis 1701 und einer englischen Übersetzung 1694 (London bereits im 17. Jahrhundert äußerst erfolgreich, mit 22 Auflagen in ganz Europa erreichte es seine wahre Blüte jedoch erst im 18. Jahrhundert. 322 Pomey bietet mit nur neunzehn Namen knapp die Hälfte von Giraldi, vgl. Pomey, S. 108–112. In der Reihenfolge nach Pomey werden die Entsprechungen mit dem jeweiligen Cognomen und der Seitenzahl Giraldis aufgeführt: Amica: 378, Armata: 380, Astarte: 376, Apaturia: 389, Barbata: 380, Cypris: 378–388, Calva: 388, Cluacina: 390, Erycina: 383, Philomedea: 378, Hortensis: 382, Idalia: 384, Anadyomene: 390, Melanis: 385, Meretrix: 386, Murica: 376, Paphia: 388–389, Verticordia: 376. Neu eingefügt hat Pomey die Namen Marina (S. 110) und Migonitis (S. 111). 323 Vgl. Pierre Gautruche: L’Histoire Poëtique, Pour l’Intelligence des Poëtes & des Auteurs Anciens. Lyon 1669. Auch Gautruche erfreute sich großer Beliebtheit: 1671, 1678, 1680, 1681, 1682, 1683, 1684, 1687, 1688, 1689, 1693, 1695, 1700 erschienen dreizehn französische Neuauflagen, während gleichzeitig die englische Übersetzung insgesamt elfmal erschien (1671, 1672, 1674, 1678, 1683, 1685, 1686, 1691, 1693, 1699 und 1701). Ich zitiere nachstehend aus der Berliner Ausgabe von 1700. [VD17 5002:735518Y]. 324 Ebd., S. 41–43. 325 Ebd., S. 157–162. 326 Ebd., S. 26.
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Das erste große mythologische Handbuch aus England, Francis Bacons De Sapienta veterum liber (1609),327 orientiert sich dagegen stark an Natale Conti.328 Diese Tendenz zeichnet sich dann auch für die deutschen Mythographen in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts ab. Heinricus Schaevius orientiert sich in der Mythologia Deorum […] Ex Natali Comite, Torrentino, Ravisii Officina […] (1660),329 wie der Titel bereits ankündigt, stark an Conti und Ravisius Textor. Besonders deutlich zeigt sich dies bei der Geburt der Venus, an den Namen sowie an den Liebschaften, für die Schaevius das Werk Contis paraphrasiert.330 Von Textor übernimmt er dagegen z. B. die „Loca Consecrata.“331
327 Francis Bacon: De Sapienta veterum liber. London 1609. Mit Neuauflagen in London (1617, 1619, 1638, 1645, 1658, 1668, 1673, 1691), Paris (1633), Lyon (1633), Frankfurt (1664) und Amsterdam (1680, 1684). 328 Darüber sind sich neuere und ältere Forschung im generellen einig, vgl. vor allem: Jörg Jochen Berns: Mythographie und Mythenkritik in der Frühen Neuzeit. Unter besonderer Berücksichtigung des deutschsprachigen Raumes. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Hg. von Herbert Jaumann. Berlin, New York 2011, S. 85–155, hier S. 125. Ferner vgl. Berns, Gott und Götter, S. 23–81. Ihm folgt Jürgen Klein: Francis Bacon, De Sapienta Veterum. Inszenierung antiker Mythen im Denken der Neuzeit. In: Rezeption und Identität. Die kulturelle Auseinandersetzung Roms mit Griechenland als europäisches Paradigma. Hg. von Gregor Vogt-Spira, Betina Rommel unter Mitwirkung von Immanuel Musäus. Stuttgart 1999, S. 367–387, hier S. 372. So aber auch schon Seznec, Das Fortleben der Antiken Götter, S. 241. Ein eigenes Venus-Kapitel verfasste Bacon allerdings nicht, sondern subsumiert das Wissen über Venus in den Kapiteln über Cupido und Saturn, vgl. Bacon, De Sapienta, S. 12–13. 329 Heinricus Schaevius: Mythologia Deorum Ac Heroum: Ex Natali Comite, Torrentino, Ravisii Officina ac Poetis Classicis Methodice contracta Cum Geographia Poetica & Mantissa materiae Poeticae. Stettin 1660. [VD17 3:308816U]. Die erste Neuauflage erschien 1661, eine weitere, korrigierte 1683 sowie eine durch u. a. Boccaccio und Hyginius ergänzte 1700 und 1720. Zitiert wird nachfolgend die Ausgabe Heinricus Schaevius: Mythologia Deorum Ac Heroum: Ex Natali Comite, Torrentino, Ravisii Officina ac Poetis Classicis Methodice contracta Cum Geographia Poetica & Mantissa materiae Poeticae. Stettin 1683. [VD17 14:053915E]. 330 Vgl. ebd., S. 715–716 und S. 719. Spannenderweise scheint Schaevius die vierfache Geburt der Venus nach Cicero mit seinem Wissen aus Contis Mythologiae zu vermengen, wenn er schreibt: „tertia ex Jove & Jone: quarta ex Marte“, sinngemäß also „die dritte von Jovis und Juno, die vierte von Mars“, vgl. Schaevius, Mythologia Deorum, S. 715. Richtig lautet das CiceroZitat jedoch: „tertia Iove nata et Diona, quae nupsit Volcano, sed ex ea et Marte natus Anteros dicitur; quarta Syria Cyproque concepta, quae Astarte vocatur, quam Adonidi nupsisse proditum est“, vgl. Cicero, De Nat. Deo. 3.59. Conti hatte die assyrische Geburt aus dem Ei getilgt und nur drei Geburtsmythen geschildert; Schaevius scheint jedoch zu wissen, dass Cicero vier Geburten referiert. 331 Vgl. Schaevius, Mythologia Deorum, S. 718 mit: Texier de Ravisi (alias Ravisius Textor): Officina partim historicis partim poeticis referta diciplinis […]. Paris 1532, S. 225v.
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Auch Philipp von Zesens Erdichteten Heidnischen Gottheiten (1688)332 – das bis dahin umfangreichste mythologische Handbuch in deutscher Sprache – ist Conti und Giraldi verpflichtet. Die über tausend Oktavseiten zeugen von der großen Belesenheit Zesens,333 doch besonders im Venuskapitel ist ersichtlich, dass er große Teile von Giraldi und Conti übernimmt und mit weiteren Quellen ergänzt.334 Das letzte mythographische Handbuch des ‚langen‘ 17. Jahrhunderts bietet Daniel Magnus Omeis mit seiner Teutschen Mythologie im Anhang seiner Poetik Gründliche Anleitung Zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst (1704).335 Auch er referiert das bis hierhin nahezu kanonische Wissen über die verschiedenen Geburtsmythen und übernimmt dabei die von Platon geprägte Dualität zwischen Venus Pandemonia und Urania. Während Omeis’ Schilderung der Venus-Mythen sehr allgemein gehalten ist und sich seine Quellen deshalb kaum nachweisen lassen, ist er deutlich von Zesen beeinflusst. Etwas gestrafft
332 Philipp von Zesen: Der erdichteten Heidnischen Gottheiten/ wie auch Als- und HalbGottheiten Herkunft und Begäbnisse: den Liebhabern nicht allein der Dicht- Bild- und MahlerKunst, sondern auch der gantzen Welt- und Gottes-gelehrtheit zu erleuterung ihres verstandes zu wissen nöthig / kurtzbündig beschrieben durch Filip von Zesen. Nürnberg 1688. [VD17 7:655983G]. (mit einer Neuauflage 1712 in Sulzbach). Zitiert wird Zesen, SW XVII,2. 333 Berns, Mythographie und Mythenkritik, S. 140. Vgl. auch den neueren, etwas konziseren Artikel von Jörg Jochen Berns: [Art.] Mythos/Mythologie. In: Der Neue Pauly. Supplemente Bd. 9. Renaissance-Humanismus. Lexikon zur Antikerezeption. Hg. von Manfred Landfester. Weimar 2014, Sp. 657–669, hier Sp. 668. Etwas überspitzt scheint allerdings Berns Aussage, Zesen habe „erstmals ein wirklich umfassendes mythographisches Handbuch in deutscher Sprache“ vorgelegt, hatte doch bereits 1554 Johann Herold auf über 250 Seiten umfangreich das mythologische Wissen zusammengetragen, vgl. Herold, Heydenweldt. 334 An Conti orientiert sich Zesen deutlich bei der Besprechung des Geburtsmythos; nahezu wörtlich übersetzt ist z. B. die Passage über Apelles Statue der Venus, die Antipater von Sidor bedichtet, vgl. Zesen, Heidnische Gottheiten, S. 593, Z. 28 bis S. 594, Z. 3 mit Conti, Mythologiae, S. 315. Alle Cognomen die Zesen von Venus anführt übernimmt er dagegen von Giraldi, wenn auch in abgeänderter Reihenfolge, vgl. Zesen, Heidnische Gottheiten, S. 603–611 mit Giraldi, S. 374–391. Anstelle Giraldi als Mythographen zu würdigen, führt Zesen sowohl Giraldi und dessen Quellen nebeneinander an, sodass die Grenzen zwischen Giraldi und den Primärquellen verwischen. Dadurch verhüllt Zesen seine Abhängigkeit von Giraldi, weil der Eindruck entsteht, Zesen habe die Kompilationsarbeit selbst geleistet. 335 Zitiert wird die zweite Auflage von 1712: Daniel Magnus Omeis: Gründliche Anleitung Zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst: durch richtige Lehr-Art, deutliche Reguln und reine Exempel vorgestellet: worinnen erstlich von den Zeiten der Alten und Neuen Teutschen Poësie geredet […] Samt einem Beitrage von der T. Recht-Schreibung, worüber sich der Löbl. Pegnesische Blumen-Orden verglichen. Hierauf folget eine Teutsche Mythologie, darinnen die Poetische Fabeln klärlich erzehlet […] werden; wie auch eine Zugabe von etlich-gebundenen Ehr- Lehr- und Leich-Gedichten […] Nürnberg 1712. [VD18 11360607].
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überträgt er die Begründungen dafür, dass der Venus die Myrte heilig ist sowie die Beschreibung der von Homer besungenen aphrodisischen Krone.336 Neben den mythologischen Handbüchern standen den Poeten des Barock jedoch auch Lexika, Lehrgedichte und Sammlungen von Historien wie etwa die von Peter Lauremberg 1633 begründete Acerra Philologica zur Verfügung.337 Darin wird Venus als schönste Göttin beschrieben,338 das Paris-Urteil in voller Länge wiedergegeben,339 das Adonisfest geschildert und auf seine Liebschaft mit Venus angespielt, die durch den Mord an Adonis durch Mars beendet wurde.340 Außerdem kommt in ihr eine Geschichte vor, in der Zeus aus Wut auf die Menschen nicht mehr auf die Erde kommen will. Daraufhin versuchen alle Götter, ihn an einer eisernen Kette vom Olymp herunterzuziehen. Als alle scheitern, versucht sich auch Venus, und zwar mit Erfolg, sodass Zeus sie fortan die stärkste Göttin nennt. Während die Historiensammlung Laurembergs scheinbar innovative Mythenvarianten berichtet, bemüht sich das große Lehrgedicht Zodiacus Vitae Humanae (1536) von Marcellus Palingenius Stellatus, das Johannes Spreng 1564 ins Deutsche übertrug,341 eher um die Auslegung der mythischen Figur Venus. Der Geburtsmythos nach Hesiod wird klar abgelehnt, dagegen werden als Eltern Caelum und 336 Vgl. Omeis, Anleitung, S. 666, mit Zesen, Heidnische Gottheiten, S. 601. 337 Nachstehend zitiere ich die Stettiner Ausgabe von 1688, vgl. Peter Lauremberg: Neue und vermehrte Acerra Philologica. Das ist: Sieben Hundert Außerlesene/ nützliche/ lustige und denckwürdige Historien und Discursen: auß den berühmtesten Griechischen und Lateinischen Scribenten zusammengetragen. Stettin 1688. [VD17 39:126297Q]. Ursprünglich enthielt die Acerra Philologica 200 Geschichten, die in den Neuauflagen auf bis zu 700 angereichtet wurden. „Den Erfolg des Sammelwerks dokumentieren u. a. die siebzig Auflagen bis 1756,“ vgl. Ralf Georg Czapla: Mythologische Erzählstoffe im Kontext polyhistorischer Gelehrsamkeit. Zu Peter Laurembergs Acerra philologica. In: Simpliciana. Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft 21 (1999), S. 141–159, besonders S. 142–143. 338 Lauremberg, Acerra, S. 151. 339 Ebd., S. 453–455. 340 Ebd., S. 872–873. 341 Marcellus Palingenius: Marcelli Palingenii Stellati Poetae doctissimi, Zodiacus uitae, hoc est, de Hominis Vita, studio, ac moribus optimè instituendis Libri Duodècim, […] Cui supra priores editiones acceßêre Dominici Mancini, Antonij Mãcinelli, et Veteris cuiusdam Sapientis de Quatuor uirtutibus Libelli singuli, Carminis suauitate elegantißimi, nec non ad morum synceram utilißimi. Basel 1543. [VD16 M 853] und in deutscher Übersetzung Johann Spreng: Marcelli Palingenij Stellati/ deß weit berhuemten vnd Hocherleuchten Poeten zwoelff Buecher/ zu Latein Zodiacus vitae, das ist Guertel deß lebens genannt/ gruendtlich verteutscht/ vnd in Reimen verfaßt. Frankfurt/M. 1564. [VD16 M 863] Ich zitiere nach der zweiten Auflage Johannes Spreng: Marcelli Palingenij Stellati/ deß weit berhuemten vnd Hocherleuchten Poeten zwoelff Buecher/ zu Latein Zodiacus vitae, das ist Guertel deß lebens genannt/ gruendtlich verteutscht/ vnd in Reimen verfaßt. […] von newem corrigirt vnd gebessert. Lauingen 1599. [VD16 M 864]. Für den
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Dies mit synonymen Namen Uranus und Lopade angegeben. Folglich wird die Liebesgöttin als Venus Urania, als Schirmherrin der Fortpflanzung, interpretiert. Davon stark abgegrenzt ist das Liebesverlangen, das Venus personifiziert durch Cupido auf die Welt gebracht hat.342 In dem eher als mythologisches Nachschlagewerk konzipierten Lexicon Universale Historico-Geographico-Chronologico-Poetico-Philologicum343 (1677) referiert Johann Jakob Hofmann (1635–1706) hauptsächlich die Geburtsmythen der Venus und einige ihrer Kultstätten und Cognomen. Während er sich für letzteres dicht an Thomas Demsters Antiquitatum Romanarum Corpus absolutissimum344 hält, der sich seinerseits auf Giraldi stützt, zitiert er für die Geburtsmythen im wesentlichen Conti. Sammeldarstellungen ikonographischer Quellen boten neben Cartaris Immagini degli Dei vor allem Cesare Ripas Iconologia (1593) und Joachim Sandrarts Teutsche Akademie (1675–1680).345 Der Einfluss von Ripas Iconologia ist unbestritten346 und auch die Bekanntheit in Deutschland ist durch übersetzerische Aneignungen nachgewiesen.347 Ripa, der in alphabetischer Reihenfolge teilweise
Hinweis auf den Zodiacus Vitae danke ich herzlich Miriam Döpfert, die sich in ihrer Dissertation der Zodiacus-Rezeption in Deutschland widmet. 342 Vgl. Spreng, Zodiacus Vitae, S. 64v–67v. 343 Johann Jacob Hoffmann: Lexicon Universale Historico-Geographico-Chronologico-PoeticoPhilologicum […]. Genf 1677. [VD17 1:044840G] erschien in der zweiten Auflage von 1683 deutlich erweitert in drei Bänden. Nachfolgend wird die Ausgabe von 1677 zitiert. 344 Vgl. Thomas Demster: Antiquitatum Romanarum Corpus absolutissimum. Genf 1640. S. 175–177, den Hoffmann, Lexicon Universale, Bd. 2, S. 532, auch als Quelle angibt. 345 Joachim Sandrart: L’Academia Todesca della Architectura, Scultura & Pittura: Oder Teutsche Academie der Edlen Bau- Bild- und Mahlerey-Künste […]. 1675. [VD17 107:739993B]; ders.: Der Teutschen Academie Zweyter und letzter Haupt-Theil/ Von Der Edlen Bau- Bild- und Mahlerey-Künste […]. 1679. [VD17 27:735174L] und ders.: Iconologia Deorum, Oder Abbildung der Götter/ Welche von den Alten verehret worden […]. 1680. [VD17 14:019650Q]. 346 Michael Thimann: Cesare Ripa und die Begriffsbilder der Frühen Neuzeit. Einige Stichworte zur Einführung. In: Cesare Ripa und die Begriffsbilder der Frühen Neuzeit. Hg. von Cornelia Logemann, Michael Thimann. Zürich 2011 (Bilder Diskurs), S. 9–21, hier S. 10. 347 Zur deutschen Ripa-Rezeption im Barock vgl. Claudia Sedlarz: Frühe deutsche RipaRezeption bei Harsdörffer, Masen und Greflinger. In: Logemann/Thimann, Cesare Ripa und die Begriffsbilder, S. 311–334. Unberücksichtigt bleibt darin die Übersetzung von Lorenz Strauß (L.S.D): Herrn Caesaris Ripa von Perusien/ Ritters von St. Mauritio und Lazaro/ erneuerte Iconologia oder Bilder-SprachWorinnen Allerhand anmuhtige Außbildungen/ von den fürnehmsten Tugenden/ Lastern/ menschlichen Begierden/ Wissenschafften/ Künsten/ Lehren […] erklähret werden […] Allen Rednern/ Predigern/ Poeten/ Kupfferstechern/ Mahlern/ Bildhauern/ Reissern/ und dergleichen Künstlern ins gemein […] so hoch-nützlich/ als ergötzlich/ zu gebrauchen. Frankfurt 1669–1670. Bd. 1–2. [VD17 3:302722P].
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illustrierte Stichworte mit Personifikationen erklärt,348 bietet sein Wissen über Venus anhand der Beschreibung des Venuswagens. Sie sei mit Myrten und Rosen geschmückt und aus dem Meerschaum geboren, weshalb sie mit einer Muschel abgebildet werde. Mit Verweisen auf Apuleius, Horaz, Ovid, Statius und Giraldi wird der Venuswagen ähnlich wie auch schon in der Sachsenchronik beschrieben.349 Die Teutsche Akademie von Sandrart ist dagegen als Katalog von Kunstwerken konzipiert, in dem das Wissen über die Antike durch die Beschreibung der Bauwerke, Skulpturen und Bilder ausgebreitet ist.350 Der erste Teil enthält antike Monumente und Skulpturen, der zweite Teil antike Malereien sowie Kunstwerke von „modernen“ italienischen, deutschen und niederländischen Künstlern. Überdies wurde dem zweiten Teil Karel van Manders Paraphrase der ovidischen Metamorphosen beigefügt; in der Neuauflage von 1680 ergänzte Sandrart sein Werk durch eine neuillustrierte Übersetzung von Cartaris Immagini degli Dei.351 In dieser ersten enzyklopädischen Kunstgeschichte in deutscher Sprache bot Sandrart einen riesigen Fundus von über achtzig plastischen, gemalten und gezeichneten Venus-Darstellungen. Neben den ausgewiesenen ikonographischen und mythologischen Sammeldarstellungen dürfen jedoch auch paratextuelle Ergänzungen von lyrischen, dramatischen und prosaischen Drucken als Wissensträger gelten, über die das mythologische Wissen authentifiziert und verbreitet wurde. Als mythologisches Kompendium ist z. B. der Anhang zu Martin Kempes Der in zwölff gevierten Überschrifften abgebildete Cupido (1665) konzipiert, in dem er die verschiedenen Kapitel zu Cupido durch Quellenangaben erklärt.352 Welchen Stellenwert der Anhang einnimmt, lässt sich an dessen Umfang ermessen, der den des Gedichts um fast das Zehnfache übertrifft. Auch die Einleitung der posthum veröffentlichten Heroides-Übersetzung (1708) von Nicolaus Bostel (1670–1704) funktioniert in ähnlicher Weise. Darin 348 Zur Vorgehensweise Ripas vgl. Gelinde Werner: Ripa’s Iconologia. Quellen – Methoden – Ziele. Utrecht 1977 (Bibliotheca emblematica 7), S. 9–15. 349 Vgl. Cesare Ripa: Iconologia Overo Descrittione Di Diverse Imagini cauate dall’antichità, & di propria inuentione. Rom 1603, S. 51. 350 Berns, Mythographie und Mythenkritik, S. 133–134. 351 Vgl. Die einleitende Seite der Online-Edition: Anna Schreurs, Thomas Kirchner, Alessandro Nova, Carsten Blüm, Torsten Wübbena: Joachim von Sandrart: Teutsche Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste. Nürnberg 1675/1679/1680. Wissenschaftlich kommentierte OnlineEdition. 2008–2012. http://www.sandrart.net/de/thema/ (Zugriff 28. März 2017). 352 In: Martini Kempii K.G.P. Poetische Lust-Gedancken in Madrigalen und Einem anmuthigen Spatziergang: Zu belieblicher Ergetzung und Be-Ehrung der reinen deutschen Helden-Sprache hervor gegeben. [VD17 23:331178Q], S. 285–360.
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erörtert Bostel den Hergang des Trojanischen Krieges und lehnt dabei die Versionen von Dictys und Dares ab, um seine Schilderung nach Homer und Vergil zu authentifizieren.353 Vergleichbar ist ferner das einleitende Kapitel, welches der Oper Der Geliebte Adonis (1697) von Christian Heinrich Postel (Musik von Reinhard Keiser) vorgeschaltet ist.354 Postel, der einerseits die poetische Integration der heidnischen Götter mit Verweisen auf den Homerkommentar vom Bischof Eustathios von Thessalonike und durch das von Paulus im Neuen Testament (Tit. 1,12) zitierte epimenidische Lügner-Paradoxon rechtfertigt, bietet ferner ein Kompendium von frühneuzeitlichen Übersetzungen und Rezeptionen. Indem Postel die frühneuzeitlichen Adaptionen von englischen (Thomas Creech, David Withford), italienischen (Giambattista Marino, Laurentius Gambara) und französischen (Hilaire-Bernard de Longepierre) Autoren gemeinsam mit den lateinischen und griechischen Quelltexten referiert, überhöht er nicht nur den Wert der frühneuzeitlichen poetischen Aneignungen, vielmehr erweitert er das funktionale Spektrum seiner mythologischen Zusammenstellung, die nicht allein auf die Vermittlung des mythologischen Wissens, sondern auch auf den poetischen Transfer abzielt. Deshalb und weil Postel die zeitgenössischen Autoren miteinbezieht, darf sein mythologisches Vorwort als Form eines (aus frühneuzeitlicher Perspektive) ‚modernen‘ Kompendiums gelten.355 Der hier gebotene Überblick über die kompilatorischen Werke zur Mythologie zeigt einerseits die Vielfalt an Venusmythen und -attributen, andererseits wird deutlich, dass die Kenntnisse dieser Mythen auf das Studium von mythologischen Handbüchern und Lexika zurückgehen können. Gerade die Kompendien von antiken Mythographen, wie z. B. Thomas Munckers Mythographi latini, zeugen von einem synkretistischen Quellenstudium der Autoren des siebzehnten Jahrhunderts, bei der die Rezeption klassischer Quellen mit der von frühneuzeitlichen
353 Vgl. Nicolaus Bostel: Einleitung zu der Übersetzung einiger Lateinischen Briefe/ Aus dem P. Ovidio Nasone. In: Nicolai von Bostel Stad: Brem: Poetische Neben-Wercke: bestehend In Teutschen und Lateinischen, Geistlichen, Moral-Trauer-Vermischten- und Ubersetzten Gedichten/ Nach des Seel. Autoris Tode aus dessen hinterlassen Schrifften colligirt. Hamburg, 1708. [VD18 10859357], S. 189–200, und die Heroides Übersetzung der Briefe von Helena und Paris S. 200–230. 354 Reinhard Keiser/Christian Heinrich Postel: Der Geliebte Adonis. In einem Singe-Spiel Auff dem Hamburgischen Schau-Platz vorgestellet 1697. [VD17 23:251863N]. Vorrede an den geneigten Leser, unpaginiert. 355 Zur Funktion der Vorworte von Postels Opern vgl. Eberhart Haufe: Die Behandlung der antiken Mythologie in den Textbüchern der Hamburger Oper 1678–1738. Frankfurt/M. u. a. 1994 (Mikrokosmos 37), S. 127–148, der die mythologischen Vorworte im Streit um die Zulässigkeit der durch die Oper zum Ausdruck gebrachten Affekte und der dargestellten heidnischen Mythologie verortet.
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Handbüchern überlagert ist. Für die rezeptionsästhetischen Analysen der vorliegenden Studie ist deshalb besondere Sorgfalt in der Unterscheidung zwischen der Transformation von allgemeinen Motiven sowie Topoi und der Rezeption einzelner Texte geboten. Denn wie Bodo Guthmüller gezeigt hat, gehörte es schon bei Petrarca zur Dichtungspraxis, einzelne Topoi aus den Mythographien zu entnehmen und sie „in ein einheitliches poetisches Bild zusammenzuschließen.“356 Diese Quellenlage rechtfertigt die Methode, die Rezeption der Venus anhand von synthetischen Strukturmodellen zu untersuchen, die idealtypische Mythenverläufe abbilden.
356 Überzeugend legt Guthmüller dar, wie Petrarca in seinem Epos Africa für die Ekphrasis der Venus die Zusammenstellung der visuellen Topoi aus dem Mythographus vaticanus tertius neu variiert, vgl. Bodo Guthmüller: Visuelle Topoi und die Tradition der imagines deorum gentilium. Der Fall Venus. In: Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance. Hg. von Ulrich Pfisterer, Max Seidel. München, Berlin 2003 (Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz IV.3), S. 197–215, hier S. 197–199.
1 Kulturpatriotismus und aemulatio: Philipp von Zesens Lustinne (1645) Unter dem Einfluss seines Gymnasiallehrers, des namhaften Grammatikers und Mitglieds der Fruchtbringenden Gesellschaft Christian Gueintz (1592–1650), und seines Wittenberger Universitätsprofessors, des berühmten Poetikers und Dichters August Buchner (1591–1661), entwickelte sich der in Prirau geborene Philipp von Zesen (1619–1689) zu einem der radikalsten Sprachverfechter und einem der eigensinnigsten Poetologen seiner Zeit. Beflügelt „durch das dem Zeitgeist inhärente Bemühen, mit der Literatur der west- und südeuropäischen Völker in Wettstreit zu treten und diese an dichterischer Leistung zu übertreffen“,357 veröffentlichte er mit seinem Helicon (1640)358 die erste deutsche Poetik nach Martin Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey (1624) und gründete um 1642 nach dem Vorbild der ‚Fruchtbringenden Gesellschaft‘ die ‚Deutschgesinnte Genossenschaft‘, um im Verbund mit zeitgenössischen Dichtern und Sprachwissenschaftlern die deutsche Sprache zu pflegen und dadurch die angebliche „uralte deutsche ‚Treu und Redligkeit‘“359 zu erneuern und zu festigen. Im Zuge dieser sprachpuristischen Bemühungen versuchte er, zahlreiche Neologismen einzuführen, um Deutsch als ‚Hauptsprache‘ neben dem Hebräischen auszuweisen und so die Vormachtstellung der deutschen Sprache im europäischen
357 Ulrich Maché: Zesens Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte der Poetik im 17. Jahrhundert. In: Philipp von Zesen 1619–1969. Beiträge zu seinem Leben und Werk. Hg. von Ferdinand van Ingen. Wiesbaden 1972 (Beiträge zur Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 1), S. 193–221, hier S. 195. 358 Die Poetik von Philipp von Zesen: Deutscher Helicon/ oder Kurtze verfassung aller Arten der Deutschen jetzt üblichen Verse/ wie dieselben ohne Fehler recht zierlich zu schreiben: Bey welchem zu besserm fortgang unserer Poesie Ein Richtiger Anzeiger der Deutschen gleichlautenden und einstimmigen/ so wohl Männlichen/ als Weiblichen Wörter (nach dem abc. Reimweise gesetzt/) zu finden. Wittenberg 1640. [VD17 39:142262W], ist stark durch August Buchners erst posthum veröffentlichte Poetik Anleitung zur Poeterey (1650) beeinflusst und wurde von Zesen in drei weiteren Auflagen bis 1656 bedeutsam überarbeitet und erweitert, vgl. Maché, Zesens Bedeutung für die Poetik, S. 194–195. 359 Zum Programm sowie zur Gründung der Deutschgesinnten Genossenschaft Zesens vgl. überblicksweise mit älterer Literatur Ferdinand van Ingen: Philipp von Zesen in seiner Zeit und seiner Umwelt. Berlin, Boston 2013 (Frühe Neuzeit 177), S. 18–31, allerdings ohne die immer noch nennenswerte Studie von Karl Dissel: Philipp von Zesen und die deutschgesinnte Genossenschaft. Hamburg 1890. Vertiefend zum deutschpatriotischen Programm der Gesellschaft vgl. Ferdinand van Ingen: Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. Zwischen Kulturpatriotismus und Kulturvermittlung. In: Muttersprache. Zeitschrift zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache 96 (1986), S. 137–146. https://doi.org/10.1515/9783110684209-005
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Kulturvergleich geltend zu machen.360 Darüber hinaus nahm Zesen jedoch als Verfasser des ersten eigenständigen deutschen Romans, der Adriatischen Rosenmund (1645), sowie als Autor einer der ersten deutschsprachigen mythologischen Handbücher, Den ertichteten heidnischen Gottheiten […] Erläuterungen (1688), in vielerlei Hinsichten eine Vorreiterrolle für die deutsche Literatur ein und gilt deshalb zurecht noch immer als einer der einflussreichsten und vielseitigsten Autoren des deutschsprachigen Barock. Auf der Basis der verdienstvollen Arbeit von Ferdinand van Ingen, der Zesens Werk mit seiner Gesamtausgabe erstmals vollständig zugänglich gemacht hat,361 ist Zesens Schaffen im letzten Jahrzehnt einerseits durch den Sammelband von Dieter Martin und Maximilian Bergengruen362 neu gewürdigt worden, andererseits hat auch Ferdinand van Ingen in seiner neuesten Zesen-Monographie die Forschungsergebnisse zum Leben und Werk Philipp von Zesens überarbeitet und validiert.363 Darin hat van Ingen auch seine fortwährenden Forschungen zu Zesens Großgedicht Lustinne das ist/ die Gebundene Lust-Rede von Kraft und Würkung der Liebe (1645) konzise zusammengefasst. In dem 344 Alexandriner umfassenden, kulturpatriotisch motivierten Preisgedicht habe Zesen die Venus in eine deutsche Friedensgöttin transformiert. Um sich der christlichen Kritik an der dichterischen Integration mythologischer Figuren zu entziehen, habe er Venus in das christliche Wertesystem überführt und ein deutsches Äquivalent
360 Die meist sehr eigensinnigen Wortschöpfungen vertritt Zesen programmatisch in seiner Hooch-Deutschen Spraach-Übung (1643) und in der Schutz-räde An die unüberwindliche Deutschinne (1644). Die Neologismen hat Herbert Blume: Zur Beurteilung von Zesens Wortneubildungen. In: Philipp von Zesen 1619–1969. Beiträge zu seinem Leben und Werk. Hg. von Ferdinand van Ingen. Wiesbaden 1972 (Beiträge zur Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 1), S. 253–273 geordnet und zusammengefasst. Der Aufsatz vertieft einige Ergebnisse seiner Dissertation: Herbert Blume: Die Morphologie von Zesens Wortneubildungen. Clausthal-Zellerfeld 1967. Aufschlussreich ist ferner die kommentierte Zusammenstellung der sprachpuristischen Texte Zesens von William J. Jones (Hg.): Sprachhelden und Sprachverderber. Dokumente zur Erforschung des Fremdwortpurismus im Deutschen (1478–1750). Berlin, New York (Studia Linguistica Germanica 38), S. 198–243, der auch die Wirkung von Zesens Neuschöpfungen skizziert. 361 Philipp von Zesen. Sämtliche Werke. Hg. von Ferdinand van Ingen. 18 Bde. In 25 Tln. Berlin 1970 ff. – Alle in dieser Ausgabe enthaltenen Werke werden in der vorliegenden Arbeit mit ‚Zesen SW‘ sowie der Angabe von Band/Teil (römischer/arabischer) und Seite (arabischer Ziffer) zitiert. Darüber hinaus ist das Werk bibliographisch gut erfasst durch Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 6, S. 4272–4331, der den bibliographischen Katalog von Karl Frederick Otto: Philipp von Zesen. A bibliographical catalogue. Bern, München 1972 (Bibliographien zur deutschen Barockliteratur 1), grundlegend erweitern konnte. 362 Vgl. Maximilian Bergengruen, Dieter Martin (Hgg.): Philipp von Zesen. Wissen – Sprache – Literatur. Tübingen 2008 (Frühe Neuzeit 130), S. 1. 363 Ingen, Zesen in seiner Zeit und seiner Umwelt.
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geschaffen.364 Harry Fröhlich hat das Großgedicht dagegen im Hinblick auf die inhärente Liebeskonzeption untersucht und gezeigt, dass Zesen die Liebe „in ihrer mythisch-kosmogonischen Tradition als ‚Kraft‘“365 darstellt. Erschienen ist die Lustinne zuerst 1645, in gleich zweifacher Ausgabe: Als Anhang des Romans Die Adriatische Rosemund (1645) wurde das Gedicht unter dem Titel Filip Zesens von Fürstenau Lustinne/ der unvergleichlichen Rosemund zu ehren und gefallen verfasset/ und dem Suchenden über-eignet abgedruckt und erschien auch in der zweiten Auflage des Romans 1664.366 Gleichzeitig wurde das Gedicht als Einzeldruck unter dem veränderten Titel Lustinne das ist/ die Gebundene Lust-Rede von Kraft und Würkung der Liebe (1645)367 in Hamburg veröffentlicht. In der Hoffnung, in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen zu werden, übereignete Zesen diesen Einzeldruck mit einer Widmung dem als Mitglied der Fruchtbringer einflussreichen Grammatiker und Sprachgelehrten Justus Georg Schottelius (1612–1676).368 Indes können die bibliographischen Kenntnisse zu Zesens Venus-Dichtung ergänzt werden, da ich zwei Einzeldrucke aus den Jahren 1666 und 1669 ausfindig machen konnte, die zuletzt, wenn auch ohne Standortangabe, Hugo Hayn und Alfred Grotendorf in ihrer Bibliotheca Germanum Erotica & Curiosa verzeichneten.369 In den maßgeblichen Bibliographien von Dünnhaupt und Otto gelten 364 Ebd., S. 364–382. Die kulturpatriotische Motivation Zesens betont Ferdinand van Ingen: Philipp von Zesen. Stuttgart 1970, S. 61–62, bereits in seiner Werkübersicht. Umfangreicher beleuchtet van Ingen die Mythenrezeption Zesens im Zusammenhang mit dem Mythenstreit, vgl. van Ingen, Mythenkritik und mythologische Invention, S. 333–358. Ebenso auch schon Maché, Zesens Bedeutung für die Poetik, S. 198–199. 365 Fröhlich, Apologien der Lust, S. 126–129, kritisiert den eingeschränkten Blickwinkel von Renate Weber: Die Lieder Philipp von Zesens. Diss. Hamburg 1962, ohne zu honorieren, dass Weber die Liebe in der Lustinne, ganz ähnlich wie Fröhlich selbst, als „welterschaffende“ Kraft mit „welterhaltenden Qualität“ interpretiert, vgl. Weber, Die Lieder Zesens, S. 46. 366 Vgl. Zesen SW IV/2, S. 285–302. 367 Vgl. Zesen SW I/1, S. 238–257. 368 Ingen, Zesen in seiner Zeit und Umwelt, S. 23. Tatsächlich wurde Zesen jedoch erst 1648 als 521. Mitglied unter dem Gesellschaftsnamen ‚Der Wohlsetzende‘ in die Fruchtbringende Gesellschaft aufgenommen, vgl. Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 6, S. 4272. Indes wurden seine kühnen Orthographieregeln und Wortneuschöpfungen von den Fruchtbringern nicht lange geduldet: Bereits 1650 erfolgte der Ausschluss aus der wohl wichtigsten deutschen Sprachgesellschaft des siebzehnten Jahrhunderts. Den Streit zwischen Zesen und den Fruchtbringern hat Andreas Herz: Zesen und die Fruchtbringende Gesellschaft. In: Philipp von Zesen. Wissen – Sprache – Literatur. Hg. von Maximilian Bergengruen, Dieter Martin. Tübingen 2008 (Frühe Neuzeit 130), S. 181–208, aufschlussreich aufgearbeitet. 369 Vgl. Hugo Hayn, Alfred N. Grotendorf (Hgg.): Bibliotheca Germanum Erotica & Curiosa. Verzeichnis der gesamten Deutschen erotischen Literatur mit Einschluß der Übersetzungen, nebst Beifügung der Originale. Bd. VIII (V–Z). 3. Aufl. München 1914, S. 640.
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diese Exemplare als verschollen.370 Bei dem Exemplar von 1666, welches im Besitz der Universitätsbibliothek Warschau ist,371 handelt es sich um eine unrechtmäßige Aneignung des Werks, die laut der Titelangaben angeblich in der Breslauer Druckerei Baumann372 ausgefertigt wurde und von dem Hildesheimer JuraStudenten Wilhelm Molurusca (Meinersen?) stammt,373 wie die Widmung auf dem Frontispiz verrät: Denen Wol-Edlen/ Gestrengen Hochbenambten Herren/ Herrn N.N. PRAESIDI und sämbtlichen Hochansehnlichen Rath-Männern/ der Kaiserl. Stadt Breslau/Meinen allerseits Hochgeehrten Herren und hochgeneigten Gönneren Hat dieses geringfügige nechst Anwünschungen beständiger guter Gesundheut/ langem Leben und allem selbst hochgedeylichen wohlergehen in tieffsten Unterthänigkeit offeriren und dediciren wollen Wilhelm Molurusca/ L.L. Stud. Hildesheimensis.374
Der Druck von 1669, den die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel verwahrt,375 gibt ebenfalls Molurusca als Verfasser an. Darauf deutet die handschriftliche Widmung für Herzog Rudolph August zu Braunschweig Lüneburg (1627–1704): „Dem Durchlauchtigstem Fürsten undt Herrn, Herrn Rudolpho Augusto Hertzogen
370 Vgl. Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 6, S. 4286, und Otto, Zesen. A bibliographical catalogue, Nr. 31 auf die sich im Übrigen van Ingens Werkedition stützt, vgl. Zesen SW I/1, S. 457 und Zesen SW IV/2, S. 344. 371 Vgl. UB Warschau [BUWr 353158]. Die Bayrische Staatsbibliothek besitzt eine mikrofilmische Reproduktion, die unter der Signatur [Film R 2001.281, BUWrC-0703] geführt wird. Für die Zusendung einer digitalen Reproduktion danke ich dem Personal der Bayrischen Staatsbibliothek. 372 Die Druckerei von Georg Baumann gehörte zu den wichtigsten Druckereien in Breslau, die Werke von Opitz, Andreas Tscherning und Andreas sowie Christian Gryphius verlegte, vgl. Miroslawa Czarnecka: Breslau. In: Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum. Hg. von Wolfgang Adam, Siegrid Westphal in Verb. mit Claudius Sittig, Winfried Siebers. Bd. 1. Augsburg–Gottorf. Berlin, Boston 2012, S. 197–238, hier S. 226–227. 373 Die Titel beider Drucke führen dieselben Initialen: Lustinne, Das ist: Gebundene Lust-Rede/ von Krafft und Würkung der Liebe/ Entworffen von W.M.L.L. Stud. Das Warschauer Exemplar ist mit Wilhelm Molurusca unterschrieben, wohingegen das Wolfenbüttler Exemplar handschriftlich mit Wilhelm Meinersen unterzeichnet ist. Es scheint sich folglich um denselben Verfasser zu handeln, dessen biographischen Daten jedoch nicht ermittelt werden konnten. 374 Vgl. das Frontispiz im Exemplar der UB Warschau [BUWr 353158], S. 2, unpaginert. 375 Vgl. HAB [M: Lo 5352] und für das Digitalisat [VD17 23:247938K]. Martin Bircher: Deutsche Drucke des Barock 1600–1720 in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Abteilung B. Mittlere Aufstellung Bd. 1. Literatur 1: A–N. Wolfenbüttel 1982, S. 297, Eintrag B900, hatte diesen Druck zwar gefunden, ihn jedoch nicht mit der Lustinne von Zesen in Verbindung gebracht.
1.1 Die Lustinne als programmatische Opitz-aemulatio
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zu Braunschweig undt Lüneburgh, Seinem Gnädigstem Fürsten undt Hern. Übergiebet dießes in tieffer Demuth. Wilh. Meinersen. iunium And: Hannoverana.“376 Während diese Einzeldrucke die Überlieferungsgeschichte des Preisgedichts vervollständigen, steht eine quellenkritische Untersuchung der Lustinne noch aus: Weder sind die Funktionen der von Zesen im angefügten Kommentarapparat aufgeschlüsselten Quellen untersucht und in diesem Zusammenhang Zesens Rezeptionsstrategien seiner Primärquellen erforscht377 noch sind die Opitz-Zitate ausgewertet worden, auf die Alfred Gramsch bereits 1922 erstmalig hingewiesen hat.378 Auch sind die Dichter und Dichterinnen des Dichterkatalogs bisher noch nicht namhaft gemacht worden, sodass eine systematische Würdigung des Katalogs bisher fehlt. Deshalb soll eine textgenetische Analyse Zesens poetische Bearbeitungsstrategien seiner Vorlagen aufzeigen, um die Funktionen seiner Mythenkorrektur zu beschreiben.
1.1 Die Lustinne als programmatische Opitz-aemulatio Dass die 344 jambische, paargereimte Alexandriner umfassende Dichtung Lustinne als deutschpuristisches Programmgedicht zu lesen ist, mit dem Zesen das antike Pantheon durch eine Aneignung der antiken Liebesgöttin exemplarisch in der deutschen Dichtung integriert, erhellt aus den paratextuellen Ergänzungen des Einzeldrucks, den Zesen dem Sprachgelehrten Justus Georg Schottelius widmete. Indem Zesen der Venus einen aus dem beschreibenden Attribut „Lust“ und dem daran gehängten weiblichen Suffix „-inne“ bestehenden, deutschen Namen verleiht, beginnt er den Transformationsprozess der antiken Liebesgöttin zu einer deutschen Venus bereits im Titel. Durch die Übereignung des Gedichts an Schottelius beschwert er überdies die Bedeutung der Lustinne und inszeniert sich als deutschpuristischer Kulturpatriot, der mit der Eindeutschung der antiken Liebesgöttin andere Kulturnationen, vor allem aber die antiken Texte überflügeln und die deutsche Dichtung aufwerten will. Gleichermaßen hebt er seine Innovation hervor, indem er betont, dass er der Erste gewesen sei, der jemals die deutsche Venus bedichtet habe:
376 Vgl. die handschriftliche Widmung im Exemplar der HAB [M: Lo 5352], [VD17 23:247938K], S. 4, unpaginiert. 377 Nur Dieter Martin hat die Kommentarapparate von Zesens Werken systematisch und am Beispiel von Zesens Prirau-Kommentar (1680) eingehend untersucht, vgl. Martin, Gedichte mit Fußnoten. 378 Vgl. Alfred Gramsch: Zesens Lyrik. Eine literarhistorische Studie. Kassel 1922, S. 63, der mehrere Textstellen als Opitz-Zitate ausgewiesen hat, die seither nicht beachtet worden sind.
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1 Kulturpatriotismus und aemulatio: Philipp von Zesens Lustinne (1645)
Naachdehm ich gesähen/ daß die Deutsche Venus (oder wie ich sie lieber benännen will) Lustinne in unserer Muttersprache noch niemahls recht besungen worden/ so hab ich mich neuerlicher zeit/ doch mehr auf Ahnhalten unserer träu-geliebten Mit-genossen/ als aus eitlem Vohrwiz/ Selbige naach meiner wenigen Geschikligkeit unserer Hooch- und groosmächtigsten Deutschinnen vohr zu ställen/ gelüsten lassen.379
Neben der Widmung ist das Gedicht durch einen Kommentarapparat ergänzt, der mit „Oedipus oder Entwikkelung etlicher fremden Nahmen und Ahrten zu reden“ überschrieben ist. Diesen Anhang von Erklärungen nutzt Zesen, um seine poetische Neuschöpfung zu legitimieren und zu dramatisieren, wenn er konstatiert: „Ich zweifäle nicht/ es wärde der Läser straks im ersten Ahnblikke dieses Getichtes/ theils vohr verwunderung erstarren/ teils aus großem verlangen begierig seyn zu wüssen/ was das span-neue Wort Lustinne bedeute.“380 Performativ mystifiziert Zesen die recht simple Eindeutschung des Namens der Venus und legitimiert die Namensschöpfung über die „alten Deutschen“, die den Namen Freije überliefert hätten.381 Mit Bezug auf ein deutschpuristisches Traktat von Bartholomäus Scheraeus (1574–1616), dessen Ausführungen Zesen durch Tacitus belegt,382 evoziert Zesen eine deutsch-antike Tradition, die er gegen die römische und griechische Antike ausspielt. Gleichzeitig nutzt Zesen seine deutsche Neuschöpfung, um sich im Mythenstreit klar zu positionieren und sich „des verdachts der Heidnischen Abgötterey“383 zu erwehren. Eindeutig ist die Lustinne als überbietende Aneignung antiker Muster konzipiert. Zugleich wirkt das Gedicht jedoch als aemulatio mit dem großen zeitgenössischen Vorbild Martin Opitz, wie ein struktureller Vergleich mit dessen Lob des Krieges Gottes (1628) zeigen kann. Beide Werke sind nach den Regeln der Dispositio von heroischen Gedichten gegliedert, wie sie von Opitz im Buch von der Deutschen Poeterey (1624) formuliert worden waren. Im fünften Kapitel „Von der zuegehör der Deutschen Poesie/ vnd erstlich von der invention oder der erfindung/ vnd der Disposition oder abtheilung der dinge von denen wir schreiben
379 Widmung und Kommentare zitiere ich nachstehend in den Fußnoten mit Seitenzahlen aus der Edition von van Ingen Zesen SW I/1, S. 238–257, hier S. 239. Das Gedicht wird dagegen mit Versangaben im laufenden Text nach den Versnummern der Edition zitiert. 380 Zesen SW I/1, S. 252. 381 Ebd., S. 252. 382 Tacitus, Germania 2.2 beschreibt Istaevon als einen der Stammväter der Germanen. Darauf bezieht sich Bartholomäus Scheraeus: Symmikta hierarchika: Geistliche/ Weltliche/ und Häußliche SprachenSchule: Darinne alle nötigste Wörter/ groß unnd klein/ so auß allerley Sprachen in den drey Ertzständen der Christenheit […] sehr gebreuchlich/ aber fast unverständlich sind […] auff. Wittenberg 1619. [VD17 23:290097C], S. 212–213. 383 Zesen SW I/1, S. 252.
1.1 Die Lustinne als programmatische Opitz-aemulatio
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wollen“384 formuliert er Regeln, nach denen Poeten Gedichte verschiedener Gattungen strukturieren sollten. Er beginnt mit heroischen Gedichten, die neben einer Proposition auch einen Musenanruf enthalten sollten. Allerdings merkt er an, dass sich Musenanruf und Proposition bei Preisliedern auf Gott bzw. die paganen Götter auch überschneiden dürften, weil das poetische Objekt dann zugleich die angerufene Autorität sein könne.385 Wie Rudolf Drux gezeigt hat,386 setzt Opitz diese Vorgaben im Lob des Krieges Gottes um. Das satirische Enkomium ist topisch nach den Regeln der Dispositio387 gegliedert. Es beginnt mit einem (1) Exordium (V. 1–23),388 das einen Musenanruf enthält und mit der (2) Narratio überlagert wird, weil der als Muse angerufene Mars zugleich der Gegenstand der Dichtung ist. Den größten Teil des Gedichts macht (3) die topisch aufgeladene Argumentatio (V. 23–756) aus, die sich in den laus ex parentibus, ex patria und ex cognominibus (V. 23–94), den laus ex actis, der den laus ex sacris ab hominibus datis einschließt (V. 95–544), sowie den laus ex inventis (V. 545–756) unterteilen lässt. Den Schluss bildet (4) die Peroratio (V. 757–848), die sich wiederum in den laus ex spe et exspectatione (V. 757–816), ex gloria (V. 817–836) und ex petitione (V. 836–848) gliedert. Offenbar hat sich Zesen bei der Komposition der Lustinne ebenfalls an diesen Regeln orientiert: Das (1) Exordium (V. 1–64) enthält eine fingiert persönliche Captatio Benevolentiae, in der Zesen das Wohlwollen seiner puellae Rosemund erbittet (V. 1–8), sowie ein Proömium, das nach Lukrez De rerum natura die kosmische Macht der Venus evoziert (V. 9–48), und einen Musenanruf, in dem das lyrische Ich den poetischen Beistand der Venus erbittet (V. 49–64). Folglich ist der Musenanruf mit der (2) Narratio überlagert, denn das dichterische Objekt ist – wie
384 Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey, S. 26, Z. 1–5. 385 Ebd., S. 28, Z. 11–15. 386 Die nachfolgende Gliederung von Opitz’ Laudes Martis folgt Rudolf Drux: Martin Opitz und sein poetisches Regelsystem. Bonn 1976 (Literatur und Wirklichkeit 18), S. 64–77. 387 Das Grundschema der Dispositio ist: (1) Exordium, also der Anfang, der als Proömium, als Captatio Benevolentiae oder als Insinuatio gestaltet sein kann. (2) Die Narratio, die Mitteilung des Sachverhalts, (3) die Argumentatio, die sich häufig in Probatio, die Darstellung eigener Argumente und die Refutio, die Widerlegung gegnerischer Argumente gliedert und schließlich die (4) Peroratio, den Schluss, der das Ergebnis zusammenfasst. Vgl. Stefan Matuschek: [Art.] Dispositio. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. A–G. Hg. von Klaus Weimar, Harald Fricke. Berlin, Boston 1997, S. 376–379, hier S. 377. 388 Die Versangaben beziehen sich auf die Verszählung nach Martin Opitz: Lob des Kriegsgottes (1628). In: Martin Opitz. Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 4/1. Die Werke von 1626 bis 1630. Hg. von George Schulz-Behrend. Stuttgart 1989 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 312), S. 129–180.
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bei Opitz – gleichzeitig die angerufene Göttin. Die (3) Argumentatio (V. 65–308) ist aufgeteilt in den laus ex parentibus, ex patria und ex cognominibus, in dem die Entstehungsmythen der Venus diskutiert werden (V. 65–96), sowie den laus ex actis (V. 97–308), der anhand mythologischer Beispiele die wollüstigen und enthaltenden Wesenszüge der Venus beschreibt. In der Peroratio und Conclusio wird dazu aufgerufen, das Mittelmaß zwischen körperlicher Liebeserfüllung und stoischer Zurückhaltung einzuhalten. Auf die generelle Conclusio (V. 309–324) folgt der laus ex petitione (V. 325–344), der an die einführende Captatio Benevolentiae anschließt, weil darin erneut die puellae zur Hingabe in der Liebe aufgefordert wird, sodass die Captatio Benevolentiae und der laus ex petitione das Gedicht zyklisch rahmen. Die nachstehende Übersicht veranschaulicht die Gliederungen der beiden Enkomien und führt ihre strukturellen Ähnlichkeiten vor Augen: Gliederungsschema der Dispositio / Topoi
Opitz: Lob des Krieges Gottes
Zesen: Lustinne
(1) Exordium – Captatio Benevolentiae – Proömium – Musenanruf (2) Narratio (Überlagert mit Musenanruf) (3) Argumentatio – Laus ex parentibus, ex patria, ex cognominibus, – Laus ex actis – Laus ex inventis (4) Peroratio und Conclusio – generelle Conclusio/ Laus ex spe et exsp. + ex gloria – Laus ex petitione
V. 1–23 – – V. 1–8 – V. 23–756 V. 23–94 V. 95–544 V. 545–756 V. 757–848 V. 757–836 V. 836–848
V. 1–64 V. 1–8 V. 9–48 V. 49–64 – V. 65–308 V. 65–96 V. 97–308 – V. 309–344 V. 309–324 V. 325–344
Während der Vergleich die strukturelle Verwandtschaft der beiden Götterenkomien zutage fördert, handelt es sich bei der topischen Gliederung um ein repetitives Muster, das allein keinen Beweis für eine textuelle Abhängigkeit darstellt. Mehrere referenzielle Aspekte zeigen jedoch, dass Zesens Venus-Dichtung in expliziter Auseinandersetzung mit Opitz’ satirischer Mars-Dichtung und mit seiner Poetik entstanden ist. Dies lässt sich zunächst an den Eingangsversen der Lustinne (V. 9–48) nachweisen, die dem Proömium von Lukrez’ De rerum natura nachempfunden sind. Da Opitz im Buch von der Deutschen Poeterey (wiederum im fünften Kapitel, in dem er die Regeln für die Gliederung der epischen Gedichte nach der lateinischen Rhetorik beschreibt) das lateinische Lehrgedicht von Lukrez als Beispiel für den proömialen Musenanruf anführt: „Wiewohl etliche auch stracks zue erste die anruffung setzen.
1.1 Die Lustinne als programmatische Opitz-aemulatio
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Als Lucretius: Aeneadum genetrix, hominum diuumque voluptas, | Alma Venus, & c.“,389 liest sich Zesens Lukrez-Imitation als metatextueller Verweis auf Opitz’ Poetik. In Lukrez’ De rerum natura verbindet das lyrische Ich den mythisiert beschriebenen Frühlingsbeginn mit einer Apostrophe an Venus und vergleicht dadurch die zyklische Fruchtbarkeit der Erde mit der menschlichen Sexualität.390 Die lateinischen daktylischen Hexameter bildet Zesen mit paargereimten Alexandrinern nach und amplifiziert die Motive des lateinischen Vorbilds: Die einleitende Apostrophe „Aeneadum genetrix, hominum divomque voluptas, | alma Venus“391 aussparend, beginnt Zesen seine Dichtung in medias res. Dieses emphatisierende Verfahren wirkt zusätzlich spannungsbildend, weil mit dem Natureingang die Beschreibung von Venus’ vorgezogen und der eigentliche Lobpreis retardiert wird. Die Pars pro toto, mit denen Lukrez die blühende, von Venus befruchtete Erde beschreibt: „quae mare navigerum, quae terras frugiferentis | concelebras, per te quoniam genus omne animantum“,392 fasst Zesen in einer Metapher zusammen: „Des Himmels keusche Braut/ die Aerd’/ ist schwanger worden“ (V. 9). Geschickt übernimmt er damit die Sexualmetaphorik von Lukrez, fügt durch das Attribut „keusche“ jedoch eine fromme Konnotation hinzu und eröffnet die Dichotomie zwischen christlicher Liebe und wollüstiger körperlicher Hingabe. Die Personifizierung aller Lebewesen, die Lukrez mit denen sich zum Licht reckenden Geschöpfen vornimmt,393 imitiert Zesen mit dem „wieder-grüne[n] Wald“, der „Ohren und Gesicht“ (V. 11) bekommt, nachdem er die ebenfalls personifizierten, bei Venus’ Ankunft fliehenden Winde394 vorgezogen alludiert: „der weisse West vertreibt den sauren Wind von Norden“ (V. 10). Mit der Metonymie „weissen West“, spiegelt er außerdem Zephyr, den die Venus begleitenden Westwind, ein
389 Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey, S. 27, Z. 25–28. 390 Lukrez, De rerum nat. V. 1–25. Im Barock finden sich mehrere, meist etwas kürzere Nachbildung dieses Motivs, vgl. David Schirmer: Auf den Frühling 1647. In: David Schirmer. Poetische Rosen-Gepüsche. 1657. Hg. und mit einem editorischen Anhang versehen von Anthony J. Harper. Tübingen 2003 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock 42), S. 246–249; Paul Fleming: FrüelingsHochzeitgedichte. 1636 Mai. In: Paul Flemings Deutsche Gedichte Bd. 1. Hg. von Johann Martin Lappenberg. Stuttgart 1865, S. 58–68 und Zacharias Lund: An die Venus: Aus der Schäfferischen Comoedie der Dieromene. In: Zacharias Lund: Zachariae Lundii Allerhand artige Deutsche Gedichte/ Poëmata: Sampt einer zu End angehengter Probe außerlesener/ scharffsinniger/ kluger/ Hoff- und Schertz-Reden/ Apophthegmata genant. Leipzig 1636. [VD17 23:293764M], S. 70–71. Letzteres ist, wie der Titel andeutet, eine Übersetzung von: Luigi Groto, Roland Brisset (Übers.). La dieromene ou repentir d’amour pastorale. Tours 1592. 391 Lukrez, De rerum nat. V. 1–2. 392 Ebd., V. 3–4. 393 Ebd., V. 3–5. 394 Ebd., V. 6.
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und unterstreicht durch die Alliteration klanglich sowie farbmetaphorisch die Reinheit der Venus. Die metaphorisch umschriebene Blumenpracht, die Lukrez als von der „kunstreichen Erde“ gefertigtes Kleid für Venus beschreibt: „tibi suavis daedala tellus | summittit flores“,395 amplifiziert Zesen in neun Versen und mythisiert die von Lukrez personifizierte Erde: Bluhminne stükt ihr Kleid mit Tulpen und Narzissen; die Hyazinten-blüht schüß’t auf bey klahren flüssen/ worin das kläglich’ Ach annoch geschrieben stäht: der Lorbeer-baum grühnt auch/ auf dehn kein Donner gäht. Der Bluhmen Keyserin die Rose/ so vohr zeiten auf keinen Dornen stund/ begünnet aus zu breiten der blätter blasses Roht/ da noch der feuchte Kus (durch dehn die Morgen-röht’ ihr Purpur leihen muß) die fahlen furchen zeugt […] (V. 13–21)
Das aemulative Verfahren, mit dem sich Zesen die antike Vorlage aneignet, besteht einerseits aus der Mythisierung der Erde als Blumengöttin Flora, aber auch darin, dass Zesen die antike Göttin, nach derselben Methode wie schon Venus, zu „Bluhminne“ eindeutscht und damit die programmatische Etablierung einer deutschen Mythologie unterstützt. Lukrez’ Bild der in Blumen gekleideten Erde amplifiziert Zesen, indem er den Lorbeerbaum hinzufügt und mit dieser Insignie des Dichtergotts Apollo die Liebe mit dichterischer Inspiration engführt. Die Amplifikationsstrategie setzt Zesen auch im Weiteren fort: Die Vögel, die Venus ankündigen,396 umschreibt er metonymisch als „Luft-heer“, das „ihr- und unsrem Got ein Morgen-ständlein bringen“ (V. 22), und spiegelt erneut die christliche Keuschheit ein, indem er die Lieder für Venus in Lieder für Gott wendet. Auch indem Zesen das „Hürten-volk“ hinzufügt, das sich „ins kühle Grühne säzt/ | und eine Schäferin mit ihrem Buhlen läzt“ (V. 27–28), verbrämt er den ansonsten erotisch aufgeladenen Natureingang mit christlicher Bukolik. Dies schränkt die Beschreibung keinesfalls in den erotischen Anspielungen ein; vielmehr spitzt Zesen die Sexualisierung zu: Das die Wiesen durchstürmende und den geschwollenen Fluss durchschwimmende Vieh397 überbietet Zesen durch die lautmalerische Darstellung der tierischen Brunst, bevor er Lukrez’ Zusammenfassung: „ita capta
395 Ebd., V. 7–8. 396 Vgl. ebd., V. 13: „aeriae primum volucris te“. 397 Vgl. ebd., V. 14–15: „inde ferae pecudes persultant pabula laeta | et rapidos tranant amnis“.
1.1 Die Lustinne als programmatische Opitz-aemulatio
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lepore | te sequitur cupide quo quamque inducere pergis“398 durch die Geminatio „alles alles“ (V. 32) intensiviert: Das stumme Schupen-heer sprüngt/ klitschert/ sträucht und leichet/ in seiner warmen Fluht. Der Reh-bok über-schläuchet die Hindin unvermärkt: er hökkert/ hüpft und sprüngt/ und ist in seiner Brunst Ja alles alles bringt das Jahr mit Lieben zu (V. 29–33)
Geschickt sakralisiert Zesen das epikureische Plädoyer des Lukrez und verbindet so die christlichen Tugenden mit einer Aufwertung der sinnlichen Liebe, die er mit Lukrez als kosmologisches Prinzip eingeführt hatte. Die aemulatio Zesens besteht demnach nicht einzig darin, dass er den lateinischen Text stilistisch überbietet, sondern auch in der semantischen Umwertung: Während er die kosmologische Liebesdurchdringung auch für die deutsche Venus geltend macht, dissimiliert er sie von der heidnischen Göttin, die Lukrez fingiert für sein naturphilosophisches Lehrgedicht anruft, und kann sich so des Häresie-Verdachts erwehren. Aus diesem Zusammenhang erhellt auch, warum Zesen seine Quelle erst verspätet in dem „Oedipus“ vermerkt, denn der explizite Verweis auf das Proömium von Lukrez folgt erst einhundert Verse nach der der poetischen Adaption, als Zesen die allegorische Ausdeutung der Götterburlesque nach Lukrez zitiert: „Du bist es/ die aus Krieg den ädlen Frieden macht/|weil dich der Krieges-Her vohr seine Göttin acht“ (V. 123–124). Im „Oedipus“ führt er sodann aus: Lukrehz von Wäsen der Dinge straks im anfange däs ersten Buuchs/ da er die Lustinne anredet: Effice ut interea fera moenera militiai per maria, ac terras omneis sopita quiescant: Nam tu sola potes tranquillâ pace juvare Mortaleis: quoniam belli fera moenera Mavors Armipotens regit, in gremium qui saepe tuum se Rejicit, aeterno divinctus vulnere amoris &c.399
Indem Zesen den frivolen Charakter des mythischen Ehebruchs ausspart, pointiert er selektiv Lukrez’ Aufwertung der Liebe zu einer friedensbringenden Macht. Überdies markiert er den Bezug zu Lukrez Proömium kommunikativ durch das Zitat samt der Quellangabe im Anhang.
398 Ebd., V. 14–16. 399 Zesen SW I/1, S. 255–256.
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1 Kulturpatriotismus und aemulatio: Philipp von Zesens Lustinne (1645)
Während sich die explizite Bezugnahme auf das lateinische Lehrgedicht, welches Opitz als Paradebeispiel für den Musenanruf in heroischen Versdichtungen angeführt hatte, als metatextueller Verweis auf Opitz’ Poetik interpretieren lässt, können anhand der Argumentatio laus ex parentibus, ex patria und ex cognominibus zusätzlich zur strukturellen Ähnlichkeit exemplarisch auch referenzielle intertextuelle Bezüge zu Opitz’ Lob des Krieges Gottes aufgezeigt werden. Für die Transformationen der Venus-Genese scheinen zwei Bearbeitungsverfahren besonders bedeutsam, weil sie durch die speziellen Ausprägungen eines bestimmten Mythen-Typs bedingt sind: Diese sind Negation und Historisierung, die vor allem dann einen innovativen Zugang zum Mythos erlauben, wenn ein Sachverhalt in mehreren Mythosversionen überliefert ist. Häufig ist dies bei Geburtsmythen von paganen Göttern der Fall, denn es scheint, als seien sie in den unterschiedlichen Kulten variabel ausgestaltet worden. So hat Cicero für Venus vier Geburtsmythen kanonisch überliefert: (1) Die Geburt nach Hesiod, wonach Aphrodite aus dem Schaum entstieg, der sich um die ins Meer geworfene Scham des Uranos bildete, welche ihm von seinem Sohn Kronos mit einer Sichel abgetrennt wurde. Als Eltern sind (2) Dione und Jupiter oder (3) der Himmel und der Tag überliefert. Außerdem berichtet Cicero (4) eine Assyrische Version, nach der Venus von Syrus und Astarte abstammt.400 Diese Vielfalt bietet die besondere Möglichkeit, den kanonischen Quelltext anzuzweifeln, gar zu negieren oder neue Geburtsmythen hinzuzufügen. Bereits Ferdinand van Ingen hat solche „Unstimmigkeiten oder Unsicherheiten in der Überlieferung“ als „Nische für die inventive Phantasie des Dichters“401 beschrieben und darauf aufmerksam gemacht, dass schon Daniel Heinsius (1580–1655) im Hymnus oft Lof-Sanck van Baccus (1616) die mehrfachen Geburtsmythen des Weingottes mit einem erfundenen Geburtsort in den Niederlanden am Rhein überlagert: „Ick meyne dat ghy zijt geboren aen den Rijn.“402 In Petrus
400 Vgl. Cicero, De Nat. Deo. 3. 59. 401 Ingen, Zesen in seiner Zeit und seiner Umwelt, S. 375. Es gehört zu den Leserunfreundlichkeiten von Ingens Arbeit, dass an dieser Stelle die Verse aus Martin Opitz Heinsius-Übersetzung Lobgesang des Bacchi (1622) mit emendierter Rechtschreibung zitiert werden (vgl. Martin Opitz. Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 2/1. Die Werke von 1621 bis 1626. Hg. von George Schulz-Behrend. Stuttgart 1978 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 300), S. 20, V. 24: „Ich meine, [ohne Komma!] daß [das!] du seyst geboren [gebohren!] an dem Rhein [Rein!]“), die Zeilen aber als Heinsius’ Verse bezeichnet sind und überdies keine Quellenangaben geboten werden. Schon in seinem früheren Artikel (vgl. Ingen, Mythenkritik und mythologische Invention, S. 351), dessen Erkenntnisse er in seiner Zesen-Monographie zusammenfasst, wurden die Quellen vermengt und mit falscher Seitenzahl belegt. Ich zitiere deshalb nachfolgend in Originalsprache unter Angabe der entsprechenden Edition. 402 Daniel Heinsius: Hymnus oft Lof-Sanck van Baccus (1616). In: Daniel Heinsius: Nederduytsche Poemata. Faksimiledruck nach der Erstausgabe von 1616. Hg. und eingeleitet von Barbara
1.1 Die Lustinne als programmatische Opitz-aemulatio
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Sciverius’ (1576–1660) Kommentarapparat zu Opitz’ Bacchus-Dichtung wird die Invention mit einem Wortspiel erklärt: „Der Poeet verstaet Baccharah aen den Rijn van waer de beste Rijnsche wijnen komen: geseyt (soomen meent) van het Latijnsche Bacchi ara, dat is, den autaer van Bacchus.“403 Martin Opitz hat sich diese Form der Mythenkorrektur in seinem Lob des Krieges Gottes angeeignet. In der Argumentatio laus ex parentibus, ex patria und ex cognominibus listet er die unterschiedlichen Geburtsmythen, Eltern und Namen des Kriegsgottes auf und belegt die widersprüchlichen Überlieferungen im Kommentar:404 […] Nicht weiß ich, was ich soll Mit deinen Eltern thun. Die Mutter kenn’ ich wol, Du bist der Juno Sohn. Viel wollen mir was sagen, Es sey kein Vatter hier, sie habe dich getragen, Nach dem sie an ein Kraut zu starck gegriffen hat. Vndt diß (verzeihe mir) ist keine newe that Bey dieser meiner zeit. An Kindern da nicht Väter Vndt dennoch Müter sindt/ wird offt ein kraut der thäter Das heut’ vndt morgen wächst. Doch schreiben mehr darvon Du seyest Jupiters, deß Donnergottes Sohn, […] Wo aber bist du her? Von Sparta, wil man sagen, Der werthen Kriegesstadt, die offtmals hat geschlagen. […] Was hast du dann für Namen? Gradivus bist du sehr, dieweil du allzeit gehst Von dem in jenes Landt, kein mal nicht stille stehst Mit deiner Waffen Macht und alle Welt durchstreichest. Man nennt dich Enyal, als der du keinem weichest, Bist wilder Kriegesart. Es ruffet Griechenlandt, Dich Ares und Rom Mars; weil du, dein Hertz und Handt Ein Mann und männlich ist, und du mit Frauensinnen, Mit einem solchen nichts noch kanst noch wilt beginnen, […] Jedoch wo kömpt es her daß du den namen hast Von Weibern auch erlangt/ vndt heissest Weibergast? […] O Mars/ du Weibergast. Doch dieses auch gelassen/ Wer hat dich je gesehn das Frawenzimmer hassen?405 Becker-Cantarino. Bern, Frankfurt/M. 1983 (Nachdrucke deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts 31), S. 2, V. 24. 403 Vgl. ebd., S. 30. Ingen, Zesen in seiner Zeit und seiner Umwelt, S. 375, übersetzt: „Der Dichter meint Baccharah am Rhein, wo die besten Weine her kommen, vom lateinischen Bacchi ara, das ist Altar des Bacchus.“ 404 Vgl. Opitz, Lob des Kriegsgottes, S. 164–167. 405 Vgl. ebd., S. 138–140, V. 23–94.
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1 Kulturpatriotismus und aemulatio: Philipp von Zesens Lustinne (1645)
Satirisch überspitzt Opitz das topische Lob der Eltern (laus ex parentibus) der Gottheit, das üblicherweise die göttliche Abstammung des Heros absichern soll. Indem er die Herkunft in eine fragliche Genealogie wendet, die in der Schilderung, Juno hätte Mars durch den übermäßigen Genuss eines „Krauts“ empfangen, ihren Höhepunkt erreicht, komisiert Opitz die mythischen Geburtsepisoden und setzt dadurch die antike Gottheit herab. Auch stellt Opitz die Namen des Kriegsgottes nebeneinander, um einen neuen Spitznamen für Mars einzuführen. Das Totum pro parte, „Es ruffet Griechenland dich Ares und Rom Mars“,406 vermittelt eine Beliebigkeit der Namen, die es Opitz erlaubt den Pausanischen Spitznamen Gynoecothen einzuführen, den er – vorsätzlich – falsch mit „Weibergast“ übersetzt.407 An die herabsetzende Namensgebung schließt Opitz die Götterburlesque, den aufgedeckten ehebrecherischen Beischlaf von Venus und Mars an, um Mars als ehrlosen, wollüstigen Antiheld zu inszenieren. Zesen geht ähnlich wie Opitz vor: Indem er die vier Geburtsmythen der Venus nach Cicero gegeneinander ausspielt, eröffnet er den Raum für eine neue Genesis der Venus.408 Der Griech’ ist zweifälhaft; Der Römer hats verlohren/ und weis nicht recht wie/ wan und wo du seyst gebohren. Der Deutsche gläubt gewis/ und saget ohne schäu/ daß seine Freije bloos von Deutschem Bluhte sey/ Istevons Ehgemahl/ dehr von dem Man und Sonne sein erstes Wäsen hat/ dehr Deutschen Lust und Wonne; ja dehr im Deutschen Reich der vierde König waar/ und naach ihm hat genänt der Istevoner Schaar. (V. 65–72)
Stilistisch verwandt mit dem Totum pro parte von Opitz würdigt Zesen mit dem Pars pro toto die griechischen und römischen Geburtsmythen als unzuverlässig herab und hebt dann die Überlegenheit der deutschen Mythologie hervor, indem er den Mythos von der deutschen Liebesgöttin Freyja anführt, den er mit Angabe des deutsch-historisch angelegten Wörterbuchs Symmikta hierarchika: Geistliche/ Weltliche/ und Häußliche SprachenSchule: Darinne alle nötigste Wörter/ […] auß allerley Sprachen […] auff Deutsch Fragweise erkleret und abgehandelt werden (1619) von Bartholomäus Scheraeus und mit Rückbezug auf Tacitus’ Germania im
406 Vgl. ebd., S. 140, V. 71–72. 407 Nach Schulz-Behrendt, Martin Opitz, Gesammelte Werke, Bd. 4/1, S. 166, ist die korrekte Übersetzung Gastgeber. 408 Vgl. Ingen, Zesen in seiner Zeit und seiner Umwelt, S. 375–376.
1.1 Die Lustinne als programmatische Opitz-aemulatio
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Fußnotenapparat historisiert.409 Nachfolgend geht Zesen in seiner Mythenkorrektur deutlich aggressiver vor als Opitz: Was machstu/ Grieche/ nuhn? mein! sage/ wo Schauminne/ wie du die Deine nänn’st/ ihr erstes Seyn gewünne? Der nahme zeugt es ahn/ wie Dehr von Sulmo sprücht/ daß sie des Himmels bluht und salz-schaum bracht’ ans Licht: Die Perlen-muschel auch ist Mutter/ Amm’ und Wagen/ als die sie durch das Meer naach Zypern zu getragen/ alda das Lust-kind ihr als-bald entgegen ging/ und seine Meisterin zu erstenmahl entfüng. Viel Römer sagens auch die ihre Venus ehren/ und durch die Tichterey ihr hohes Loob vermehren. Doch seyn sie nimmer eins/ was einer izzo sprücht/ das hat er oftmahl selbst schohn anders ümgeticht. (V. 73–84)
Die Pars pro toto beibehaltend, apostrophiert Zesen die griechische Dichterschaft in rhetorischen Fragen, um den Wahrheitsgehalt der überlieferten Geburtsmythen in den selbst vorgebrachten Antworten zu suspendieren. Dabei wendet er den Erfindungsreichtum der römischen Mythographen in Uneinigkeit und apostrophiert schließlich die gepriesene Göttin selbst: O Venus/ was sag’stu? wo bistu hähr gebohren? hastu dein Vaterland und ältern dan verlohren? Ist keine Mutter da? wie! ists Dione nicht/ die dich von Jupitern gebracht ans tage-licht? O ja! sie ist es auch: Drüm heiss’stu Dioninne/ du feuchte Venus du/ du himlische Lustinne/ was aber hör’ ich noch? was schreibt uns Plato führ? was sag’t Pausanias’ und Zizero von dier? Bestähet dan dein Reich in dreyerley Persohnen/ die alle seyn geziert mit unterschiednen Krohnen? da eine götlich ist/ und wohn’t in Got allein/ die ander Himmelisch und nimt den Himmel ein: Die dritte von der Wält/ die irdisch ist und heisset/ und die beleibte Seel’ zu zähmen sich befleisset? Die lätste/ die bistu/ du Seelen-herscherin/ die dieses gantze Rund beherscht von Anbegin. Du bist es/ die Ovid und Saffo so gepriesen/
409 Zesen SW I/1, S. 252, Z. 5–19, und S. 254, Z. 9–18. Zur nordischen Göttin Freyja vgl. den überaus materialreichen und informativen Aufsatz von: Wilhelm Heizmann: [Art.] Freyja. In: Mittelalter Mythen. Bd. 3. Verführer – Schurken – Magier. Hg. von Ulrich Müller und Werner Wunderlich. St. Gallen 2001, S. 273–315.
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du bist es/ dehr die Wält ganz-götlich’ Ehr’ erwiesen/ Du bist es die ich süng/ du bist es nuhr allein/ dehr so viel Bärge/ büsch’ und Brunnen heilig seyn; (V. 85–104)
In einer Accumulatio von zehn rhetorischen Fragen (V. 85–97) suggeriert Zesen seine Deutungshoheit und führt seine Argumentation in einer anaphorisch verklammerten Apostrophe (V. 101–103) und dreifachen Alliteration (V. 104) auch sprachlich zu einer Klimax. Indem er den vierfachen Geburtsmythos nach Cicero mit der platonischen Dualität der himmlischen Venus-Urania und der gemeinen Venus-Pandemos410 verquickt, kommt er zu dem Schluss, die Venus bestehe „in dreyerley Persohnen“ (V. 93): der himmlischen, der göttlichen und der irdischen. Dadurch evoziert er die Heilige Dreifaltigkeit und indem er die himmlische und die göttliche Venus den antiken Dichtergrößen überlässt, erhebt er den alleinigen Anspruch der irdischen Lustinne für das deutsche Dichtervolk; den tatsächlichen, religiösen Glauben an die heidnische Gottheit schließt er jedoch aus. Mit diesem Kunstgriff gelingt es Zesen, „ein vom christlichen Standpunkt aus annehmbares Äquivalent für die antiken Götternamen zu schaffen“411 und sich den Vorwürfen der Häresie zu erwehren. Dagegen erschafft er einen Venus-Mythos für die eigene Kultur in der eigenen Sprache, den er mit dem deutschen Namen Lustinne manifestiert und durch die germanische Mythologie belegt. Dies diehnt als Nachweis dafür, dass die antiken Sprachideale auch auf die eigene Volkssprache anwendbar sind. Offenkundig ahmt Zesen strukturell Martin Opitz’ Lob des Kriegesgottes nach. Auch verwendet er dieselben Bearbeitungsstrategien der Geburtsmythen wie Opitz und nimmt durch die Lukrez-imitatio metatextuel auf Opitz’ Poetik Bezug. Folglich lässt sich Zesens Lustinne als großangelegte Opitz-aemulatio interpretieren, mit der Zesen eine national-germanische Mythologie etablieren will.
1.2 Dichternetzwerk und Selbstinszenierung im Dichterkatalog Um seine integrative Venus-Rezeption zu legitimieren, stellt Zesen eine Dichterschar von 48 Dichtern und Dichterinnen in den Dienst seiner Lustinne. Die Auflistung von 48 zeitgenössischen Künstlern/innen (V. 144–192), vierzig davon sind männlich und acht weiblich, lässt sich mit der Definition von Michael Müller als Namenkatalog beschreiben:
410 Plat. Symp. 180d–181c. 411 Maché, Zesens Bedeutung für die Poetik, S. 198–199.
1.2 Dichternetzwerk und Selbstinszenierung im Dichterkatalog
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Als Namenkataloge in epischen Texten werden Aufzählungen von mehr als vier Namen verstanden, wenn sie Personen oder Orte bezeichnen, die einer gemeinsamen, entweder durch Erzählzusammenhänge geschaffenen oder durch Vorwissen bekannten Gruppe zugehörig sind und dabei, nach einem auf Rezipientenseite erkennbaren Ordnungsschema aufgebaut, entweder die Existenz oder das auf eine Situation oder Handlung der Erzählung koordinierte Hervortreten dieser Gruppe referieren. Beide Formen, die Namenliste und der episch integrierte Katalog, können durch narrative Elemente erweitert sein, solange das Ordnungsschema dadurch nicht aufgelöst oder verdeckt wird.412
Der Definition zu folgen ist hier keineswegs Selbstzweck; vielmehr bieten die Kriterien Ansatzpunkte, um Zesens Katalog entsprechend seiner spezifischen Merkmale zu interpretieren und dabei seiner literarischen Tradition Rechnung zu tragen.413 Bevor der Katalog textspezifisch interpretiert wird, schlüsselt die nachstehende Tabelle die Namen der genannten Künstler/innen in derselben Reihenfolge wie in der Lustinne und mit Literaturhinweisen auf: 414415 Nr.
Name (Lebensdaten): Sprachgesellschaft/ Dichterkreis
Literaturnachweis
1
Martin Opitz (1597–1639): FG,414 Danziger Dichterkreis415
Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 4, S. 3009–3074.
2
Tobias Hübner (1578–1636): FG
Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 3, S. 2175–2183
412 Michael Müller: Namenkataloge: Funktionen und Strukturen einer literarischen Grundform in der deutschen Epik vom hohen Mittelalter bis zum Beginn der Neuzeit. Hildesheim u. a. 2003 (Documenta onomastica litteralia medii aevi 3), S. 60. 413 Dies fordert Wilhelm Kühlmann: Katalog und Erzählung. Studien zu Konstanz und Wandel einer literarischen Form in der antiken Epik. Diss. Freiburg/Br. 1973, S. 2, der darauf hinweist, dass Kataloge nicht allein durch ihre topische Funktion hinreichend interpretiert sind. 414 Die Mitgliedschaften der Fruchtbringenden Gesellschaft sind für die aufgelisteten Dichter nachgewiesen durch Klaus Conermann: Fruchtbringende Gesellschaft. Der Fruchtbringenden Gesellschaft geöffneter Erzschrein. Bd. 2 Einleitung; Günther Hoppe: Fürst Ludwig I. v. AnhaltKöthen; Wappen; Impresen. Leipzig, Weinheim 1985. 415 Obgleich der Danziger Dichterkreis nicht als Sprachgesellschaft gelten kann, bringt Walter Raschke eine Gruppe von Dichtern, die zeitweise in Danzig gelebt haben, aufschlussreich in Verbindung, vgl. Walter Raschke: Der Danziger Dichterkreis des 17. Jahrhunderts. Rostock 1921. Darüber hinaus bleibt zu prüfen, ob eine Verbindung zur „Brüderschaft vom grünen Palmbaum“, dessen Existenz durch Martin Bircher nachgewiesen wurde, existierte, vgl. Martin Bircher: Die Danziger ‚Brüderschaft vom grünen Palmbaum‘ (1726). Geheim- oder Sprachgesellschaft? In: Sprachgesellschaften, Sozietäten und Dichtergruppen. Arbeitsgespräch in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. 28. bis 30. Juni 1977. Hg. von Martin Bircher, Ferdinand van Ingen. Hamburg 1978 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 7), S. 209–216.
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(fortgesetzt) Nr.
Name (Lebensdaten): Sprachgesellschaft/ Dichterkreis
Literaturnachweis
3
Augustus Buchner (1591–1661): FG
Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 2, S. 855–910.
4
Casper von Barth (1587–1658)
Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 1, S. 401–421.
5
Paul Fleming (1609–1640)
Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 2, S. 1490–1513.
6
Georg Rodolph Weckherlin (1584–1653)
Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 6, S. 4172–4178.
7
Baltasar Venator (1594–1664)
Balthasar Venator: Gesammelte Schriften. Hg. von Georg Burkard, Johannes Schöndorf. 2 Bde. Heidelberg 2001 (= Bibliotheca Neolatina 9).
8
Christoph Köler [Colerus] (1602–1658)
Klaus Garber: [Art.] Christoph Koeler. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 6, S. 423–424.
9
Johan Philipp Schmid (1616–1696):416 Deutschgesinnte Genossenschaft
Mitgliederliste der Deutschgesinnten Genossenschaft in: Zesen SW XII, S. 454.
10
Jesias Rompler von Löwenhalt (1605–1676): Gründer der Aufrichtigen Gesellschaft von der Tannen417
Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 5, S. 3492–3500.
11
Christian Gueintz (1592–1650): FG
Ulrich Maché, Markus Hundt: [Art.] Christian Gueintz. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 4, S. 498–499.
12
Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658): FG, Gründer des Pegnesischen Blumenordens
Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 3, S. 1969–2031.
13
Adam Olearius (1599–1671): FG
Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 4, S. 2979–3004.
416 Ob es sich bei Schmid tatsächlich um Johann Philipp Schmid handelt, kann nicht endgültig entschieden werden. Denkbar wäre auch, dass Zesen, den Freiherrn Johann Rudolf Schmid von Schwarzenhorn (1590–1667) meinte. Vgl. Kosch, Deutsches Literaturlexikon, Bd. 15, Sp. 298–299. 417 Wie Monika Bopp in der bisher einzigen Monographie über den „Tannenorden“ erklärt, finden sich keine Gesellschaftsbücher oder ausführliche Beschreibungen der Dichtergesellschaft. Deshalb können auch die Mitglieder der Aufrichtigen Gesellschaft von der Tannen nur unter Vorbehalt als solche gelten, vgl. Monika Bopp: Die „Tannengesellschaft“: Studien zu einer Straßburger Sprachgesellschaft von 1633 bis um 1670. Johann Matthias Schneuber und Jesias Rompler von Löwenhalt in ihrem literarischen Umfeld. Frankfurt/M. u. a. 1998 (Mikrokosmus 49), S. 13–14.
1.2 Dichternetzwerk und Selbstinszenierung im Dichterkatalog
99
(fortgesetzt) Nr.
Name (Lebensdaten): Sprachgesellschaft/ Dichterkreis
Literaturnachweis
14
Johann Rist (1607–1667): FG, Gründer des Elbschwanenordens
Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 5, S. 3374–3432.
15
Theodor Petersohn (1609–1652): Gründer der Deutschgesinnten Genossenschaft
Dissel, Zesen und die deutschgesinnte Genossenschaft, S. 14, vgl. ferner die Mitgliederliste der Deutschgesinnten Genossenschaft in: Zesen SW XII, S. 445–457.
16
Justus Georg Schottelius (1612–1676): FG
Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 5, S. 3824–3846.
17
Gottfried Finckelthaus (1614–1648)
Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 2, S. 1478–1483.
18
Daniel Czepko von Regensfeld (1605–1660)
Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 2, S. 983–995.
19
Zacharias Lund (1608–1667)
Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 4, S. 2619–2623.
20
Michael Schneider (1612–1639)
Achim Aurnhammer: [Art.] Michael Schneider. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 10, S. 491–492.
21
Theobald Grummer
Dissel, Zesen und die deutschgesinnte Genossenschaft, S. 31.
22
Johannes Freinsheim (1608–1660): Aufrichtige Gesellschaft von der Tannen
Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 3, S. 1578–1589.
23
Andreas Hartman (ca. 1614–1686): Deutschgesinnte Genossenschaft
Bernd Prätorius: [Art.] Andreas Hartmann. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 5, S. 41–42.
24
Johann Peter Titz (1619–1689): Königsberger Dichterkreis,418 Danziger Dichterkreis
Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 6, S. 4029–4071.
25
Christian Brehme (1613–1667)
Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 2, S. 787–794.
26
Enoch Hannman (um 1640–1690)
Als Verleger/ Drucker von Martin Opitz vermerkt in: Marian Szyrocki: Martin Opitz. 2. Aufl. Berlin 1956, S. 191–193.
418 Auch der Königsberger Dichterkreis gilt nicht als Sprachgesellschaft. Dennoch gilt die Kontaktaufnahme der Dichter als bewiesen, vgl. Alfred Kelletat (Hg.): Simon Dach und der Königsberger Dichterkreis. Stuttgart 1986 (Reclam UB 8281), S. 315–330.
100
1 Kulturpatriotismus und aemulatio: Philipp von Zesens Lustinne (1645)
(fortgesetzt) Nr.
Name (Lebensdaten): Sprachgesellschaft/ Dichterkreis
Literaturnachweis
27
David von Schweinitz (1600–1667)
Rudolf Mohr: [Art.] David von Schweinitz. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 10, S. 683.
28
Daniel Heinsius (1580–1655)
Eckard Lefèvre, Eckart Schäfer (Hgg.): Daniel Heinsius. Klassischer Philologe und Poet. Tübingen 2008 (NeoLatina 13).
29
Johannes Plavius (1600– ca. 1630): Danziger Dichterkreis
Achim Aurnhammer: [Art.] Johannes Plavius. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 10, S. 262–263.
30
Georg Mylius (1613–1640): Königsberger Dichterkreis
Ulrich Maché, Reimund B. Sdzuj: [Art.] Georg Mylius. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 8, S. 477.
31
Johannes Heermann (1585–1647)
Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 3, S. 2036–2082.
32
Andreas Tscherning (1611–1659): Danziger Dichterkreis
Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 6, S. 4103–4134.
33
Simon Dach (1605–1659): Königsberger Dichterkreis
Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 2, S. 996–1230.
34
Friedrich von Logau (1605–1655): FG
Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 4, S. 2584–2589.
35
Hermann von Tietz genannt Schlüter (gest. frühestens 1646): FG
Conermann, Fruchtbringende Gesellschaft, Bd. 2, S. 46.
36
Christian Bachmann (um 1609)
Carl L. Lang, Heinz Rupp (Hgg.): Deutsches Literatur-Lexikon. Begr. durch Wilhelm Kosch. 3. völl. neu bearb. Aufl. Bd. 1. Bern u. a. 1984, Sp. 210.
37
Johann Georg Albinus [Weiss] (1624– 1679): Deutschgesinnte Genossenschaft, Danziger Dichterkreis
Jutta Sandstede: [Art.] Johann Georg Albinus d. Ä. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 1, S. 73–74.
38
Martin Rinckart (1586–1649)
Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 5, S. 3350–3373.
39
Andreas Heinrich Buchholz (1607–1671)
Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 2, S. 911–940.
40
Johannes Vogel (1589–1663)
Ferdinand van Ingen, Reimund B. Sdzuj: [Art.] Johannes Vogel. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 12, S. 4–5.
41
Sibylle Schwarz (1621–1638)
Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 5, S. 3895–3897.
1.2 Dichternetzwerk und Selbstinszenierung im Dichterkatalog
101
(fortgesetzt) Nr.
Name (Lebensdaten): Sprachgesellschaft/ Dichterkreis
Literaturnachweis
42
Dorothee Eleonore von Rosenthal (ca. 1641)
Jean M. Woods, Maria Fürstenwald: Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und gelehrte Frauen des deutschen Barock. Ein Lexikon. Stuttgart 1984 (Repertorien zur deutschen Literaturgeschichte 10), S. 101.
43
Marie Elisabeth von Hohendorf (ca. 1641)
Woods/Fürstenwald, Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und gelehrte Frauen, S. 52, sowie Maria Elisabeth von Hohendorf: An ihren Hoochgeleehrten Freunt Herrn Philip Caesies von Fürstenau (entschlüsselter Titel). In: Zesen SW XII, S. 172.
44
Sofia Vismarin419
Philipp von Zesen: Wül-kommen an di ädle Tichterin Jungfer Sofien Vismarin/ als si zu Hamburg anlangte. In: Zesen SW IV,2, S. 304–305.
45
Hildegond von Westohn
Philipp von Zesen: An di hohch-ädle und gelährte Jungfrau/ Jungfrau Hildegond von Westohn. In: Zesen SW IV,2, S. 307.
46
Kristihn von Guthenau
Philipp von Zesen: Wül-kommen an di ädle Tichterin Jungfer Sofien Vismarin/ als si zu Hamburg anlangte. In: Zesen SW IV,2, S. 304–305.
47
Clara Maria Domwaldau
Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Nürnberg 1644. Hg. von Irmgard Böttcher. Bd. 4. Tübingen 1968 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock, 16), S. 438.
48
Magdalena von Bevervoordt
Ilia M. Veldman: Crispijn de Passe and his Progeny (1564–1670). A Century of Print Production. Übers. von Michael Hoyle. Rotterdam 2001 (Studies in prints and printmaking 3), S. 293.
416417418419
419 Denkbar ist, dass Sophia Anna Redslob, Tochter von Nikolaus Vismar gemeint ist. Diese ist als Dichterin aufgeführt in: Woods/Fürstenwald, Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und gelehrte Frauen, S. 99.
102
1 Kulturpatriotismus und aemulatio: Philipp von Zesens Lustinne (1645)
Die Funktionen des Dichterkatalogs lassen sich in generelle und in spezifische unterteilen. Generell hat Michael Müller Namenkataloge als Gattungsmerkmal der Historiographie ausgewiesen. Da die Detailliertheit der Kataloge den Fiktionalitätscharakter der Erzählungen überlagern, trügen sie zur Historisierung des Erzählten bei.420 Ähnlich funktionalisiert Zesen den Dichterkatalog: Um seine Venusdeutung quantitativ zu belegen, listet er 48 Künstler/innen auf und projiziert seine Venusauslegung in die Werke anderer Dichter/innen. Besonders zeigt sich dies in der Häufung des Possessivpronomens „mein“ (V. 157, 159, 160, 163, 166), mit der Zesen seine innigliche Freundschaft zu den Dichtern inszeniert. Folglich nutzt Zesen den Dichterkatalog, um sein weites Netzwerk unter den Gelehrten des 17. Jahrhunderts zu skizzieren und sich in die Reihe der großen Poeten des Barock einzugliedern. Diese Einreihung in die Tradition von Vorgängern und Dichterautoritäten dient der Selbstkanonisierung – eine Strategie, die bereits in antiken Dichtungen beobachtet wurde.421 Indem Zesen die Verfasser der wirkungsvollsten Poetiken (Opitz, Buchner) und die Gründer der bedeutenden Dichtergesellschaften (Georg Philipp Harsdörffer als Gründer des Pegnesischen Blumenordens; Johann Rist als Gründer des Elbschwanenordens und Rompler von Löwenhalt als Gründer der Aufrichtigen Gesellschaft von der Tanne) nennt, erhöht er den Rang seiner eigener Poetik (Deutscher Helicon, 1640) und seiner Sprachgesellschaft, der Deutschgesinnten Genossenschaft. Die spezifischen Funktionen sind durch das Ordnungsschema und durch die Eingliederung des Kataloges in den Erzählkontext zu erkennen. Zunächst lässt sich ein klares Ordnungsschema feststellen: Die genannten Dichter/innen sind einerseits klar nach ihrem Geschlecht getrennt – den männlichen (V. 144–169) folgen die weiblichen (V. 170–192); andererseits deutet Zesen auch eine Hierarchie der Künstler/innen an. Während die Nennung der männlichen Dichter hauptsächlich der Erhöhung des eigenen Schaffens und der eigenen Person dient, kommen dem Frauenkatalog weitere Funktionen zu.422 Indem Zesen neben den prominenten Dichterinnen Sibylle Schwarz (1621–1638)423 und Eleonora Dorothea von Rosenthal (um 420 Müller, Namenkataloge, S. 327. 421 Werner Suerbaum: Der Anfangsprozess der ‚Kanonisierung‘ Vergils. In: Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion: Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart: ein Handbuch. Hg. von Eve-Marie Becker, Stefan Scholz. Berlin, Boston 2011, S. 171–221, hier S. 181–183. 422 Vgl. zum Frauenkatalog jetzt auch Antonius Baehr: Die Frauen im Dichterkatalog in Philipp von Zesens Lustinne (1645). In: Akten des XIII. Intenationalen Germanistenkongresses Shanghai 2015. Germanistik zwischen Tradition und Innovation. Bd. 8. Hg. von Jianhua Zhu, Michael Szurawitzki, Jin Zhao. Frankfurt/M. u. a. 2018, S. 153–158. 423 Woods/Fürstenwald, Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und gelehrte Frauen, S. 113.
1.2 Dichternetzwerk und Selbstinszenierung im Dichterkatalog
103
1641)424 sowie deren Mitstreiterin Maria Elisabeth von Hohendorf (um 1641)425 auch die weniger bekannten Poetinnen Sofia Vismarin, Hildegond von Westohn, Clara Maria Domwaldau, Kristhin von Guthenau und Magdalena von Bevervoordt (1600–1638)426 nennt, bringt er offenkundig seine Wertschätzung für das poetische und künstlerische Schaffen der Frauen zum Ausdruck. Ferdinand van Ingen hat den Frauenkatalog deshalb zu Recht zu den „Förderungsversuchen weiblicher Intellektualität“ gezählt.427 Ferner erhellt der Katalog die Präsenz weiblicher Autoren des Barock und macht die Wertschätzung ihres Schaffens evident. Denn obgleich es nicht überrascht, dass Zesen die bekannteren Dichterinnen Sibylle Schwarz und Dorothea Eleonora von Rosenthal nennt, dürfte die Erwähnung der kaum bekannten Dichterinnen nicht Zesens Anerkennung, sondern die Bekanntheit dieser poeta minores gesteigert haben. Wie eng der (Brief-)Kontakt zwischen Zesen und den Dichterinnen teilweise gewesen sein muss, kann exemplarisch an der Korrespondenz zwischen Zesen und Maria Elisabeth von Hohendorf gezeigt werden. Von Hohendorf ist ein verschlüsseltes Gedicht an Zesen428 überliefert, in dem sie das lange Schweigen Zesens ihr gegenüber beklagt. Die verschlüsselte Form zeugt von hoher Kunstfertigkeit, die Zesen 1643 in einem Gedicht an Hohendorf anerkennend würdigt.429 Über Sofia Vismarin hingegen weiß man weniger.430 Das einzige weitere Zeugnis, das ihre Bekanntschaft mit Zesen belegt, lässt jedoch die Verbindung zwischen den ersten vier Dichterinnen und noch einer weiteren, nämlich Kristhin von Guthenau, erkennen. In Wül-kommen an […] Sofien Vismarin (1642)431 bedichtet Zesen die Ankunft Vismarins in Hamburg. Darin stilisiert er Vismarin, Rosenthal und Hohendorf als drei „Holdgöttinen“, die sich wie Kristhin von Guthenau als
424 Ebd., S. 101. 425 Ebd., S. 52. 426 Veldman, Crispijn de Passe and his progeny, S. 13. 427 Ferdinand van Ingen: Philipp von Zesens zehnte Muse: Dorothea Eleonora von Rosenthal (Poetische Gedancken und Poetischer Rosen-Wälder Vorschmack). In: Grenzgänge: Literatur und Kultur im Kontext. FS für Hans Pörnbacher. Hg. von Guillaume van Gemert. Amsterdam, Atlanta (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 88) 1990, S. 85–110, hier S. 89. Ebenso Ingen, Zesen in seiner Zeit und seiner Umwelt, S. 43. 428 Maria Elisabeth Hohendorf: An ihren Hoochgeleehrten Freunt Herrn Philip Caesies von Fürstenau (entschlüsselter Titel). In: Zesen SW XII, S. 172. 429 Zesen SW IV/2, 305. 430 Woods/Fürstenwald, Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und gelehrte Frauen, S. 99 führen sie als Anna Sophia Redslob, Tochter von Nikolaus Vismar, doch der ausgelassene erste Vorname lässt Restzweifel. 431 Philipp von Zesen: Wül-kommen an […] Sofien Vismarin (1642). In: Zesen SW IV/2, 304–305.
104
1 Kulturpatriotismus und aemulatio: Philipp von Zesens Lustinne (1645)
Nachfolgerinnen der verstorbenen Sibylle Schwarz verdient machen. Da Zesen offenbar ein reales Aufeinandertreffen poetisch vergegenwärtigt,432 müssen Guthenau und Vismarin um 1642 gelebt haben. Indem Zesen die Dichterinnen im Katalog der Lustinne ein zweites Mal in Verbindung bringt, skizziert er unverkennbar das Netzwerk der Frauen untereinander. Dass auch Hildegond von Westohn zu dem Kreis um Rosenthal gehörte, zeigt ein Gedicht von ihr an Rosenthal, welches Zesen in der Spraach-Übung zitiert.433 Zesens Gedicht An […] Hildegond von Westohn (1643) legt jedoch nahe, dass er sie nie persönlich getroffen hat.434 Die Datierung des Briefs beweist allerdings, dass Hildegond von Westohn um 1643 gelebt haben muss und nicht mit der bekannten Elisabeth von Westonia zu verwechseln ist,435 da diese bereits 1612 starb.436 Von Clara Maria von Domwaldau ist nur eine Widmung in Harsdörffers Frauenzimmer-Gesprächsspielen437 überliefert. Durch diese lassen sich ihre Lebensdaten auf den Zeitraum um 1644 bestimmen. Gleichzeitig bezeugt die Widmung ihre Beziehung zu einem weiteren prominenten Poeten neben Zesen und lässt auf ihre damalige Bekanntheit schließen. Die letzte Frau, die Zesen nennt, ist Magdalena von Bevervoordt. Die Kupferstecherin, Tochter des berühmten Künstlers Crispjin de Passe,438 heiratete am 10. Mai 1634 Frederik von Bevervoordt. Ihre Werke scheint Zesen besonders geschätzt zu haben, denn er stellt sie von allen Dichterinnen am deutlichsten heraus: Indem Zesen zunächst bekräftigt, es gäbe noch viele weitere nennenswerte Frauen, die aber unerkannt bleiben wollen, zeigt er sich der christlichen Mythenkritik bewusst,439 die bei der poetischen Integration der Liebesgöttin besonders für Frauen problematisch gewesen sein dürfte. Das verzögernde Moment nutzt er dann, um Bevervoordts Kunstfertigkeit hervorzuheben. Überdies postuliert Zesen für das künstlerische Schaffen von Bevervoordt eine gewisse Autonomie, die sich über die Mythenkritik hinwegsetzt, denn Bevervoordt trete aus dem „dunkeln“ und fertige, trotz drohender gesellschaftlicher Ächtung, die „sachchen“ der Venus
432 Ingen, Zesen in seiner Zeit und seiner Umwelt, S. 17. 433 Jean M. Woods: Dorothea von Rosenthal, Maria von Hohendorff and Martin Opitz. In: Daphnis 11,3 (1982), S. 613–627, hier S. 616. 434 „Mihr zwar seit ihr unbekant/ von gestalt und von gesichte […].“ Vgl. Zesen SW IV/2, 306. 435 So irrtümlich Ingen, Zesen in seiner Zeit und seiner Umwelt, S. 43. 436 Woods/Fürstenwald, Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und gelehrte Frauen, S. 131. 437 Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Nürnberg 1643–1649. Hg. von Irmgard Böttcher. Bd. 1–6. Tübingen 1968–1987 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock, 13–18), hier Bd. 4, S. 438. 438 Veldman, Crispijn de Passe and his progeny, S. 293. 439 Zur Mythenkritik vgl. Ingen, Mythenkritik und mythologische Invention, S. 333–358.
1.2 Dichternetzwerk und Selbstinszenierung im Dichterkatalog
105
in Kupferstichen an.440 Im antonomastischen Vergleich mit Pyrgoteles erhöht Zesen ihre Kunst und rechtfertigt ihr Handeln: Wie Pyrgoteles seine in Edelstein gravierten Kunstwerke zu unsterblichem Ruhm gereicht haben, sollen Bevervoordts Kupferstiche nun sie verewigen. Unmissverständlich wertet Zesen mit dem Frauenkatalog demnach das Schaffen der Künstlerinnen auf. Neben der Gliederung nach dem Geschlecht deutet Zesen auch eine hierarchische Ordnung der Dichter/innen an: Mit Martin Opitz führt Zesen den bedeutendsten Dichter an erster Stelle und analog dazu Sybille Schwarz, die Zesen offenbar als wichtigste zeitgenössische deutsche Dichterin ansieht, als erste der Künstlerinnen. Diese Hierarchie unterstreicht Zesen mit der einführenden Bildlichkeit, mit der er die Dichterschar als Bewohner des Helikons beschreibt: „Schau ahn wie sich bewäget | der Deutsche Helikon“ (V. 142–143). Das Dichterbild, das Zesen damit von sich und den zeitgenössischen Poeten zeichnet, hat Heinz Schlaffer den Dichtern des Barock abgesprochen. Ihnen fehle der „Ansatz zu dem anspruchsvollen Dichterbild des 19. Jahrhunderts.“441 In den Dichtergedichten des neunzehnten Jahrhunderts habe der Aufenthaltsort des Poeten […] numinosen Charakter (Berggipfel, Tempel) und ist stets hoch gelegen […]; er gewährt ihm [dem Dichter] einen weiten Überblick – der dann metaphorisch auch auf die Zeit übertragen wird und Vision und Prophetie ermöglicht, – was den Dichter ebenso wie seine nur ihm erreichbare Höhe vor allen anderen Zeitgenossen auszeichnet. […] Von seiner himmlischen Höhe versucht der Dichter, auf seine Zeit – die doch nie die ‚seine‘ ist – als Priester, Prophet Messias oder Gott einzuwirken.442
Dagegen blieben die Poeten in barocken Dichtergedichten unscheinbar: Die „Poeten-Landschaft“ 443 sei horizontal gestaltet und nicht wie in den Gedichten des neunzehnten Jahrhunderts auch vertikal, deshalb bleibe die „Höhenregion, die auch die ältere Mythologie der Poesie kennt, der Parnaß, […] Apoll und den Musen vorbehalten, dem Dichter jedoch unzugänglich.“ 444 Dem steht Zesens Darstellung entgegen: Die Dichter sind durch ihre Position auf dem Helikon raumdeiktisch erhaben und stehen im direkten Vergleich mit den göttlichen
440 Der Kupferstich, den Zesen meint, ist vermutlich das Abbild des Pygmalion, abgedruckt bei George L. Hersey: Falling in love with statues: artificial humans from Pygmalion to the present. Chicago, London 2009, S. 121. 441 Heinz Schlaffer: Das Dichtergedicht im 19. Jahrhundert. Topos und Ideologie. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 10 (1966), S. 297–335, hier S. 316. 442 Ebd., S. 307. 443 Ebd., S. 317. 444 Ebd., S. 317.
106
1 Kulturpatriotismus und aemulatio: Philipp von Zesens Lustinne (1645)
Dichtermächten der Antike.445 Zesen bezeichnet Dichter explizit als göttliche Propheten, deren Werke sie unsterblich machen: Des Tichters stränger Geist/ die süßen wühtereyen/ die eifer-folle Brunst/ die Ihn der Wält entfreihen/ wan er so klüglich ras’t/ entmuhtet seinen muht/ entherzt sein irdisch Herz/ und nichts als Götlichs tuht; bestähn auf viererley; auf Liebe/ Kunst und Deuten was künftig sol geschähn/ und tieffen Heimligkeiten. (V. 125–130)
Jedoch ist nicht nur die Botschaft göttlich, sondern durch die Verkündung derselben werden auch die Poeten zu göttergleichen Wesen. Eindeutig nutzt Zesen den Dichterkatalog, um den Dichterberuf zu erhöhen und somit seine Profession zu einer göttlichen Aufgabe und sich selbst zum poeta vates zu stilisieren. Schließlich funktionalisiert Zesen den Dichterkatalog durch die Einbindung in den Erzählzusammenhang poetologisch: Des Dichters stränger Geist/ […] bestähn auf vierlerley; auf Liebe/ Kunst und Deuten/ was künftig sol geschähn/ und tieffen Heimligkeiten, Das erste würkest du/ du wez-stein der Vernunft/ drüm ehret dich so hooch der Tichter große Zunft. (V. 125–132)
Die Beschreibung der Liebe als „wez-stein der Vernunft“ übernimmt Zesen aus Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey, in dem es heißt:
445 Auf den Frontispizen vieler zeitgenössischer Gedichtsammlungen lässt sich ein ähnliches Verfahren feststellen. So zeigt z. B. das Titelkupfer von Constantin Christian Dedekinds Sammlung Aelbianische Musen-Lust (1657) einen deutschen und einen griechisch-römischen Parnass: Auf dem einen sitzt Opitz, unter ihm neun zeitgenössische, deutsche Dichter; auf dem anderen thront Apollo, unter ihm sitzen die neun Musen. Vgl. dazu Katrin M. Kohl: Poetologische Metaphern. Formen und Funktionen in der deutschen Literatur. Berlin, New York 2007, S. 548–549. Eine Nachahmung des Titelkupfers findet sich bei Johann Franck (1618–1677): Johann Franckens Geistliches Sion Das ist: Neue Geistl. Lieder/ und Psalmen: nebst beygefügten/ theils bekanten/ theils lieblichen neuen Melodeyen/ sambt der Vater-unsers-Harffe/ Wie auch sein Irrdischer Helicon/ Oder Lob- Lieb- und Leid-Getichte/ und dessen verneuerte Susanna/ Sambt hinzugethanen/ denen Liebhabern der deutschen Poesie dienlichen Erklährungen der Redens-Arten/ und Historien/ auch hierzu nöthigen Registern. Guben 1674. [VD17 12:120767W]. Zur Stilisierung von Opitz als Dichteroberhaupt vgl. Achim Aurnhammer: Dichterbilder mit Martin Opitz. In: Literaturgeschichte und Bildmedien. Hg. von Achim Hölter, Monika Schmitz-Emans. Heidelberg 2015 (Hermeia 14), S. 55–76.
1.2 Dichternetzwerk und Selbstinszenierung im Dichterkatalog
107
weil die liebe gleichsam der wetzstein ist an dem sie [die Dichter] jhren subtilen Verstand scherffen/ vnd niemals mehr sinnreiche gedancken vnd einfälle haben/ als wann sie von jhrer Buhlschafften Himmlischen schöne/ jugend/ freundligkeit/ haß vnnd gunst reden.446
Mit dem Zitat macht Zesen die ingeniöse Poetologie von Opitz, die die Liebe als schöpferische Kraft benennt, für die deutsche Dichterschaft, „der Tichter große Zunft“ geltend. Diese Einführung des Dichterkatalogs hat Ferdinand van Ingen als „Schlüsselstelle des Gedichts“ 447 interpretiert, weil sie die gesellschaftliche Funktion des Dichters problematisiere. Wie Opitz, der im Lob des Krieges Gottes das „Dichteramt als wesentlichen Beitrag zur Rettung des Vaterlands aufgefasst“ habe,448 beschreibe Zesen in der Lustinne eine „Phalanx“ von Dichtern, an deren Spitze Opitz voranschreite, dessen Poesie „die feindselige Kampflust und Aggressivität zerschmelzen macht.“ 449 Während sich Opitz im Lob des Krieges Gottes als poeta doctus inszeniert, dessen Aufgabe die Überwindung des menschlichen Unheils, also des Krieges, durch die Weisheit und Wissenschaft ist,450 scheint Zesen die Rolle der Dichter und der Dichtung im Dreißigjährigen Krieg jedoch zu modifizieren. Denn Zesen interpretiert die Liebe mit Opitz als „wez-stein“ und damit als Inspirationsquelle für die deutsche Dichtkunst, die im Wettstreit mit anderen Kulturnationen das deutsche Volk erheben soll: Mein! schaue Deutschland ahn/ […] Das mit der Krieges-fahn’ auch üm die wette flüget/ und mitten in der Angst dem andern Volk’ obsieget. Ein hohes Loob führ Sie/ ein höhers noch führ Dich/ du deutsche Freije du. Dein Volk erhäbet sich/ stürbt ab der Stärbligkeit/ steigt/ wie die Palme pfläget/ im trükken mehr entpohr. Schau ahn wie sich bewäget der Deutsche Helikon; wie unser Mars auffklimt/ der Held von Boberfäld/ die süße Laute stimt/ dadurch ein stählern Herz mit-leidendlich mus wärden/ des Muhtes unmuht schwündt/ und reisst sich von der ärden zu dehm/ was Himlisch ist. Kom/ schaue/ wie dich ehrt das ganze Deutsche Reich/ und andre süngen lehrt; (V. 133–148)
Vor allem durch die mit reichlich Kampf- und Kriegsmetaphorik („Krieges-fahn“; „Obsiegen“; „sterben ab der Sterblichkeit“; „Mars“, und „dem stählern Herz“) aufge446 Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey, S. 21, Z. 16–20. 447 Ingen, Zesen in seiner Zeit und seiner Umwelt, S. 378. 448 Ebd., S. 378. 449 Ebd., S. 379. 450 Becker-Cantarino, Satyra in nostri belli levitatem, S. 306–308.
108
1 Kulturpatriotismus und aemulatio: Philipp von Zesens Lustinne (1645)
ladene Beschreibung des Dichtervorbilds Martin Opitz, den Zesen selbst als Kriegsgott inszeniert, erhellt, dass Zesen nicht eine befriedende, sondern im Wettkampf siegende Göttin besingt. Die Dichtergeneration, die Martin Opitz nachfolgt, ist demnach keine friedensstiftende,451 sondern eine kämpferische, die „andre süngen lehrt“ (V. 147), und zwar in der deutschen Sprache. Die genannten Dichter repräsentieren also die Überlegenheit der deutschen Sprache und Dichtkunst gegenüber den Dichtungen und den sprachlichen Möglichkeiten anderer Kulturnationen. Überdies ist die Inszenierung von Martin Opitz als Kriegsgott eine aemulative Strategie: Bekanntlich ist Venus die Einzige, die den Kriegsgott unterwerfen konnte. Indem Zesen also die Siegerin über Mars bedichtet und dabei Opitz referenziell sowie strukturell nachahmt, spiegelt er auf einer Metaebene seine Überlegenheit gegenüber dem ‚Vater der deutschen Dichtkunst‘ ein.
1.3 Liberalisierende Frauensatire: Zesens Liebeskonzeption Während die Liebe in der ersten Hälfte der Lustinne (V. 1–192), vor allem durch die Adaption des Proömiums aus Lukrez’ De rerum natura, als allumfassendes Prinzip beschrieben wurde und Zesen die Wirkung der Liebe in der laus ex actis für die Makroebene schildert („du Seelen-herscherin“, V. 99; „du bist es/ dehr die Wält ganz-götlich’ Ehr’ erwiesen“ (V. 102); „Du bist es/ die aus Krieg den ädlen Frieden macht“, (V. 122)), zeichnet sich nach dem Dichterkatalog ein Umbruch ab: Diß alles kömt von Dier/ und würd durch dich getrieben/ Diß alles würkestu/ du starke Kraft im Lieben/ du Himmels-Fürstin du/ du Macht- und Eifer-Kind/ die allen Mänschen ab- ja Göttern selbst gewünnt. Däs Lobes Alp/ der Neid/ vermaag dich nicht zu trükken/ die Götter müssen sich vohr dier/ Liebinne/ bükken; wier arme liegen gahr und fühlen deine Macht/ wier seyn/ wan du begünn‘st bey Läben todt geacht Der Glieder Kraft verschwündt/ der Leib fäht ahn zu zittern; wier seuftzen ach und weh/ wan Lieb-reiz pflägt zu kittern; wier lauffen wan er kömt; wier weinen/ wan er lacht; die Zunge stummet sich/ so bald sein Boge kracht. (V. 193–204)
Unmerklich beginnt die Probatio für die Liebe auf der Mikroebene: Die anaphorisch intensivierte Beschreibung der Liebe als kosmologische Macht („Diß alles“,
451 Ingen, Zesen in seiner Zeit und seiner Umwelt, S. 379.
1.3 Liberalisierende Frauensatire: Zesens Liebeskonzeption
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V. 193–194), der sich „alle Mänschen“ (V. 196) und „Götter“ (V. 198) beugen müssen, wird mit der durch die anaphorischen Personalpronomen („wier“, V. 198–203) markierten Wirkung der Liebe auf einzelne Personen verbunden. Topisch wird die Liebe in parallelistischen Antithesen (V. 201–203) als Krankheit dargestellt, als deren Erreger Cupido dargestellt wird. Von der Liebe ergriffen seien die Menschen „bey Läben todt geacht“ (V. 200), wo Cupido ankomme, würden die Menschen fliehen (V. 203), wenn er lache, müssten sie weinen (V. 203), wenn der onomatopoetisch umschriebene Bogen Cupidos krache, müssten sie schweigen. Indem sich das lyrische Ich in die Leidenden einschließt, wird die Beschreibung der wirkenden Liebe unmittelbarer und das zuvor nur apostrophierende Sprecher-Ich in ein empfindendes lyrische Ich gewendet, das sich in die nachfolgende Heldenschau von zwölf Liebespaaren einreiht, die der Liebeskrankheit erlagen. Die Heldenschau besteht aus einer heterogenen Gruppe von Liebenden, unter denen sich mit dem lateinischen Ovid (V. 217), dem griechischen Alkman (V. 219) und dem italienischen Petrarcha drei Liebeslyriker aus drei idealisierten Epochen finden, die durch ihre Werke für sich und ihre Geliebten unsterblichen Nachruhm erlangten. Außerdem werden mit Alkestis und Admetos452 (V. 221– 222), Orpheus und Eurydike (V. 223–224), Brutus und Porcia453 (V. 225–226), Gunilde und Asmundus454 (V. 227–228), Pantheia und Abradat455 (V. 228–229) und Laodameia und Protesialos456 (V. 229–230) sechs antike und vorantike Paare genannt, von denen sich die/der übergebliebene Partner/in beim Tod 452 Nach dem Mythos von Admetos und Alkestis gab Apollo Admetos „die Gunst, an dem Tage an dem er sterben sollte, einen anderen Sterblichen statt seiner benennen zu dürfen“. Die Einzige, die bereit war für Admetos zu sterben, war seine Gemahlin Alkestis, vgl. Michael Grant, John Hazel: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. 17. Aufl. München 2003, S. 14. 453 Zu Porcia, der Frau von Brutus, die sich nach dem Tod ihres Mannes das Leben nahm, indem sie heiße Kohlen aß bzw. einatmete, vgl. Meret Strohtmann: [Art.] Porcia. In: Der Neue Pauly, Bd. 10, Sp. 156–157. 454 Die Sage über die Liebe der Gunilde zum Schwedenkönig Asmundus, die so stark gewesen sein soll, dass Gunilde nach dem Tod ihres Mannes das Leben nahm, hat noch im frühen 18. Jahrhundert historischen Charakter, vgl Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden: […]. Anderer Band: An-Az. Halle, Leipzig 1732. [VD18 9054014X], Sp. 1859. 455 Zu Pantheia, die sich auf dem Grab ihres Mannes Abradat das Leben nahm, vgl. Amélie Kuhrt, Helene Sancisi-Weerdenburg: [Art.] Abradatas. In: Der Neue Pauly, Bd. 1, Sp. 29. 456 Protesialos, der Mann Laodameias, wird im Trojanischen Krieg von Hektor getötet und bekommt danach einmalig von Hades die Erlaubnis, zu seiner Frau zurückzukehren, die sich nach dem Wiedersehen das Leben nimmt, vgl. Katharina Waldner: [Art.] Laodameia. In: Der Neue Pauly, Bd. 6, Sp. 1126–1127.
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des anderen ebenfalls das Leben nahm. Zesen scheint über die Auflistung der mythischen Paare eine Liebe einzuspiegeln, die den Tod der/des Partners/in überdauert. Um die Gattentreue hervorzuheben, die der fleischlichen Lust entgegensteht, führt er auch Antiochos und Stratonike457 (V. 211–216), Achilles und Briseis458 (V. 233–234) und Viktoria und Ferdinand (V. 235–236) an. Die Heldenschau ist demnach als confirmatio des vorgebrachten Liebespreises konzipiert: Sie hebt mit der Verewigung der Liebenden durch Liebeswerbung und durch die Ewigkeit der Liebe, die mit dem Freitod der Liebespaare veranschaulicht wird, sowie mit der Gattentreue drei Liebesideale hervor, welche Zesens Venus in sich vereint. Der confirmatio folgt eine refutatio (V. 249–296), in der Zesen die Vorwürfe der Unzucht zurückweist und seine Venus in eine keusche, fromme Liebesgöttin transformiert. Die Wollust hingegen schreibt er den Menschen zu und schließt sie aus dem Wirkungsbereich der Venus aus. Für den imperativen Aufruf zur Enthaltung referiert Zesen auf die Elegie. Gedancken bey Nacht/ als er nicht schlaffen kundte (1624)459 von Martin Opitz. In dieser 96 paargereimte Alexandriner umfassenden Elegie, die Opitz einer niederländischen Vorlage nachgestaltete,460 stellt Opitz die Vergänglichkeit den weltlichen Freuden und Gütern, also der Schönheit, dem Reichtum und der Liebeserfüllung in topischen Vanitas-Motiven der moralisch-religiösen Weisheit entgegen.461 Dabei lädt Opitz die von stoischen Idealen geleitete Wendung gegen weltliche Liebeserfüllung und Reichtum poetologisch auf: Während Dichtung über vergängliche Reichtümer wie Liebe, Schönheit und Geld ebenso vergänglich sei wie die Liebe und Schönheit selbst, überdauere Poesie über 457 Zu Stratonike, die nach der Ehe mit Demetrios mit Antiochos, dem Sohn des Demetrios vermählt wurde, vgl. Ernst Badian: [Art.] Stratonike. In: Der Neue Pauly, Bd. 11, Sp. 1044–1045. 458 Zu Achilles, der sich aus dem Kampfgeschehen zurückzog, weil Agamemnon seine im Krieg erbeutete Geliebte Briseis streitig machte, vgl. Anne Ley: [Art.] Achilleus. In: Der Neue Pauly, Bd. 1, Sp. 76–81. 459 Vgl. Martin Opitz: Elegie. Gedancken bey Nacht/ als er nicht schlaffen kundte (1624). In: Martin Opitz. Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 2/2. Die Werke von 1621 bis 1626. Hg. von George Schulz-Behrend. Stuttgart 1979 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 301), S. 625–629. 460 Die erste Hälfte der Elegie bietet eine übersetzerische Aneignung von Daniel Heinsius’ Elegie, of Clacht-Dicht (1608), während die Verse 64–95 die Elegie. Doorluchtige Princes van Neerlandts rijcke stede (1616) übersetzen, die ebenfalls von Daniel Heinsius stammt, vgl. Johanna Bundschuh-van Duikeren: Bibliographie der Niederländischen Literatur in deutscher Übersetzung. Bd. 2. Niederländische Literatur des 17. Jahrhunderts. Berlin, Boston 2011, S. 304–305. 461 Vgl. Janis Little Gellinek: Die weltliche Lyrik des Martin Opitz. Bern, München 1973, S. 46–51 und S. 67.
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Weisheit und Wissenschaft die Zeit ebenso wie Wissenschaft und Weisheit an sich. Deshalb wende sich auch Opitz in seinen Werken der Weisheit und den Wissenschaften zu: Was ich beginn/ und auch/ wann ich schon sterbe/ sterben/ Ob das/ so vnden war/ solt alles oben stehn/ So kann der Weißheit Lob doch nimmermehr vergehn.462
Für Zesens Transformation der Venus in eine tugendhafte Liebesgöttin ist Opitz’ Elegie besonders deshalb anschlussfähig, weil Opitz die Liebe als vergänglich und zuchtlos umschreibt und Venus als Schirmherrin für diese weltliche Liebe herabsetzt: Du Ciprische Göttin hinweg/ so ferne Westen Von Osten/ vnd das Hauß der Höllen von den festen Des hohen Himmels Liecht/ hinweg auß meinem Sinn/ Ich habe nichts mit dir du grosse Kupplerin. Mein Hertze wünschet nicht den Mägden zugefallen Die in dem Koth vnd Wust der Vppigkeiten wallen/ Die nur nach Gut vnd Gelt/ nach Pracht vnd prallen stehn/ Vnd Erbarkeit darfür stillschweigendt vbergehn/ Die von der Jungfrawschafft nichts als den Namen haben/ Die jhrer Keuschheit Schloss mit Hoffen vndergraben/ Vnd derer Augen nichts als nur Irrliechter sein/ Die vns führn in den Sumpff der schnöden Liebes pein.463
Zesen verkürzt den Gedanken, indem er die Verse in etwas abgewandelter Form wiedergibt: Drum wäg du geile Wält/ ihr buhlerischen Frauen/ Die uns ins Ahngesicht mit frächen Augen schauen/ die unsrer Seelen nichts als nuhr ein Ir-wüsch seyn/ und führen in den Sumpf der Lästerlichen Pein. (V. 257–260)
Während Zesen das Zitat unverkennbar durch den beibehaltenen Reim ‚sein / Pein‘ kennzeichnet, schließt er die kurzweilige irdische Liebeserfüllung explizit aus dem Wirkungsbereich der Venus aus: „Doch du hast keine Schuld. Daß wier mit weinen lachen | daß kan ein fräches Weib mit geilem Leibe machen“ (V. 241–242). Durch die Abgrenzung zur irdischen Liebeserfüllung sublimiert er 462 Opitz, Elegie. Gedancken bey Nacht/ als er nicht schlaffen kundte, V. 94–96. 463 Ebd., V. 49–60.
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die durch die Lustinne bewirkten Liebesverbindungen. Dies erhellt auch aus den weiteren Opitz-Zitaten, mit denen Zesen die satirischen Frauendarstellungen von Opitz übernimmt, sie dann jedoch in dialogischer Spannung zu den Prätexten von seiner Venus-Darstellung abgrenzt. Im Lehrgedicht Vielguet (1629)464 weist Opitz auf der Suche nach dem „Ursprung guter Sachen“465 weltliche Reichtümer wie Gold, politische Macht, angeborene Standeshöhe, aber auch Schönheit entsprechend der Vanitas-Topik als vergänglich und nichtig aus:466 […] Die rosenroten Wangen, Der lilienweise Halß, Augen, dieser Mund Sind eine schöne Wandt, ein Hauß, das seinem Grundt Von innen haben muß. An Cedern, an Cypressen, Am Lorbeerbaume zwar ist keine Zier vergessen, Die Früchte desto mehr; ein wolgemahltes Weib, Das nichts zu zeigen weiß, als seinen zarten Leib, Ist ein gemeiner Raub, dem Mann’ ein theures Prangen, Den Eltern eine Schmach, den Frembden ein Verlangen, Der andern Frauen Neyd, […]467
In petrarkistischer Preziosen-Metaphorik beschreibt Opitz die weibliche Schönheit, wendet die Idealisierung dann jedoch, indem er der äußerlichen Schönheit die Tugend gegenüberstellt: „Es weiß die gantze Welt, | Daß reiner Wille sich mit Schönheit kaum gesellt.“468 Mit deutlich pejorativem Vokabular eignet sich Zesen die antipetrarkistische Wendung von Opitz an, wobei die Reimkonkordanzen ‚Weib / Leib‘ und ‚Prangen / Verlangen‘ den intertextuellen Bezug unmissverständlich kennzeichnen: Die Frommen mein’ ich nicht; ich sähe nuhr auf Die/ die jenen buhlern naach mit follem Halse schrie: Komt/ laßt uns lustig seyn/ das Bett’ ist schohn gezieret/ die Wal-stat ist bereit/ das Bol-werk aufgeführet: Die mein’ ich/ die nichts tuht/ ein wohlgebildtes Weib/ das uns nur lüstern macht/ entblöß’t den geilen Leib/
464 Martin Opitz: Vielguet (1629). In: Martin Opitz. Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 4/2. Die Werke von 1626 bis 1630. Hg. von George Schulz-Behrend. Stuttgart 1990 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 313), S. 394–412. 465 Ebd., V. 4. 466 Vgl. zum Opitz’ Vielguet den neuen Aufsatz von Sylvia Brocksteiger: Topographie der Tugend. Martin Opitz’ „Vielguet“ (1629). In: ZfGerm N.F. 28,1 (2018), S. 63–75. 467 Opitz, Vielguet, V. 160–169. 468 Ebd., V. 173–174.
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ist ein gemeiner Bal/ den Buhlern ein Verlangen/ den ältern eine schmaach/ dem Mann’ ein köstlichs prangen/ der andern Frauen Has. (V. 267–275)
Den bei Opitz genannten „zarten Leib“ kehrt er verschärft in den „geilen Leib“ (V. 271). Dämonisierend wirkt ferner die Umstellung des „gemeinen Raubs“ in „gemeinen Bal“ (V. 273). Anstelle einer petrarkistischen Schönheitsbeschreibung skizziert und verurteilt Zesen jedoch polygame Sexualpraktiken von Frauen und schließt fromme Frauen gezielt von der Kritik aus. Dementsprechend rügt er nicht die Fokussierung auf die Schönheit der Frauen, sondern das buhlerische Verhalten. Dies zeigt auch das Zitat aus Opitz’ satirischen, 156 paargereimte Alexandriner umfassenden Hochzeitsgedicht Auff H. Johann Mayers und Jungfraw Margrethen Gierlachin Hochzeit (1625).469 Lehrhaft und mahnend wird in dem Epithalamium die eheliche Liebe gegen die körperliche Liebeserfüllung ausgespielt. Besonders zeichnet sich das Gedicht durch die katalogartige Auflistung satirischer Verführungskünste von Frauen aus,470 durch die Opitz die petrarkistische Idealisierung der geliebten Frauen satirisch unterläuft.471 Eine der von Opitz illustrierten Verführungstechniken bildet ein abstoßend-absurdes Schminkritual: Sie spotten der Natur/ vnd mahlen sich mit Sachen/ So nur die Haut vnd nicht das Hertze schöner machen/ Vermehren jhren Glantz mit Wässern vielerhand; Ja für jhr Antlitz wird auch Kühmist ausgebrannt. Viel riechen nach Zibeth/ ihr ehrliches Gerüchte/ Dem kein Geruch nicht gleicht/ hergegen wird zunichte: Das muster bleich zu seyn wird jetzt auch auffgebracht/ Drumb essen sie nicht satt/ verwachen sich bey Nacht/ Ja pflegen offtermals auch Kreide/ Kohlen/ Aschen/ Kalk/ Essig/ vnd so fort/ wie fast mit Lust zu naschen;472
469 Vgl. Martin Opitz: Auff H. Johann Mayers und Jungfraw Margrethen Gierlachin Hochzeit (1625). In: Martin Opitz. Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 2/2. Die Werke von 1621 bis 1626. Hg. von George Schulz-Behrend. Stuttgart 1979 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 301), S. 584–589. Das Gedicht wurde zuerst in den Acht Büchern Deutscher Poematum (1625) veröffentlicht; das Datum der Hochzeit ist jedoch nicht bekannt, vgl. ebd. 470 Vgl. Gellinek, Die weltliche Lyrik des Martin Opitz, S. 220. 471 Vgl. Jörg-Ulrich Fechner: Der Antipetrarkismus. Studien zur Liebessatire in barocker Lyrik. Heidelberg 1966 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 3,2), S. 58–61. 472 Vgl. Opitz, Auff H. Johann Mayers und Jungfraw Margrethen Gierlachin Hochzeit, V. 73–82.
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Bei Zesen heißt es dagegen: […] die sich den gantzen Taag mit fremden sachchen schmiert/ auf das sie blinken maag: Die sich mit ötter salb’t/ das aus dem Nabel schwöret/ aus Bisem-kazzen fleusst/ und ihre Schönheit mehret; die vohr ihr Ahngesicht des Luchses pisse nüzt/ die er aus neid vergräbt; die Küh-drek-wasser sprüzt auf beyde Wangen hin/ sich schön und glat zu machchen; die Seiden-würmer Koht und viel dergleichen sachchen mit hauffen samlet ein/ schläft kaum die vierteil-nacht/ mit schwarzen schwedichen ihr Antliz weisser macht/ und wäschet sich mit milch. (V. 277–285)
Parodistisch überspitzend, aber deutlich durch die Reimkonkordanz „machchen/ sachchen“473 und die verderbte Übernahme von „Kühmist“ mit „Küh-drek-wasser“ (V. 282) markiert, eignet sich Zesen die satirische Schilderung der Schminkrituale an. Die Frauensatire oszilliert dabei zwischen Belehrung, mit der die Frauen zur Treue und Zucht gemahnt werden, und Komisierung der stoischen Ideale der Enthaltung, welcher Zesen mit seiner Preisdichtung der Liebesgöttin ein liberalisierendes Postulat zur freieren Auslebung der Affekte entgegenstellt.474 Gemeinsam wirken die drei Opitz-Zitate als refutatio gegen die Sexualität, gegen Affekte und Erotik. Die refutatio dient den Regeln der Rhetorik folgend jedoch vor allem dazu, die eigene Argumentation durch das Widerlegen der refutatio zu validieren. Zesen, der Sexualität besonders durch die Aneignung des Lukrez’schen Proömiums naturrechtlich verteidigt, führt mit den Referenzen auf die Opitz-Gedichte die stoische Ablehnung der Affekte an und entgegnet ihr eine durch die Vernunft regulierbare Liebeskonzeption, die nach dem Maßhalteprinzip erotisches Verlangen legitimiert.475 Die conclusio fasst dementsprechend zusammen:
473 Vgl. ebd., V. 73–74. 474 Bereits der Kirchenvater Quintus Septimius Florens Tertullianus (ca. 150–220) verurteilte das Schminken als Vortäuschen von körperlicher sowie geistlicher Schönheit. Zu seiner Rezeption bei Harsdörffer (Frauenzimmer Gesprechspielen Bd. 7, 1647) sowie zum Schminkdiskurs im Barock allgemein vgl. Miroslawa Czarnecka: Listen der (Un)Aufrichtigkeit. Der geschminkte weibliche Körper in der Literatur des Barock. In: Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Hg. von Claudia Benthien, Steffen Martus. Tübingen 2006 (Frühe Neuzeit 114), S. 163–178, hier S. 166–168. 475 Vgl. Fröhlich, Apologien der Lust, S. 127– 128.
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Es maag wohl etwas seyn: Ich halte ganz dahrführ/ daß nichts als Mäßigkeit zerstöhrt die Liebs-begier. Doch laß’t uns nicht so gahr die Liebes-Lust vertreiben; das Mittel ist das bäst’/ und würd das bäste bleiben. […] Zu wenig oder nichts kan auch nicht dienlich seyn/ Das mittel-maas schenkt uns das satte gnügen ein. (V. 307–316)
Die imitierenden Opitz-Zitate, deren satirische Funktion Zesen in dialogischer Spannung zu Opitz auf die stoischen Ideale projiziert, nutzt er folglich, um „grundsätzliche Überzeugungen seines Zeitalters, nämlich die Sündhaftigkeit des Sexuellen und die Notwendigkeit (neu)stoischer Apathie,“476 abzulehnen. Bemerkenswerterweise klammern die von mir wieder aufgefundenen Raubdrucke Moluruscas genau die satirischen Opitz-Zitate und damit auch die inhärente intertextuelle Komik aus – neben den erklärenden Kommentaren zum Schluss des Gedichts wurden auch die Verse 249–296 und 341–344 getilgt.477 Dies scheint der Bewahrung des hohen Sprachduktus zu dienen; die intertextuelle Tiefe des Enkomiums, mit der Zesen sich gegen die stoische Affektablehnung auflehnt, geht durch die Reduktion jedoch verloren. Indes weisen die beiden Einzeldrucke die Wirkung von Zesens VenusDichtung auch zwei Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung eindrücklich nach und zeigen, dass die Lustinne als Programmgedicht zur Verfechtung der deutschen Sprache Anerkennung erfuhr. Zwar stießen Zesens Wortneuschöpfungen sowie seine eigensinnige Orthographie, mit der er die Anerkennung der deutschen Sprache und ihre Reinheit befördern wollte, größtenteils auf Ablehnung und führten sogar zu Zesens öffentlicher Ausgrenzung aus der Fruchtbringenden Gesellschaft.478 Der Mitgründer von Zesens Deutschgesinnter Genossenschaft Hans Kristof von Liebenau schrieb unter dem Gesellschaftsnamen ‚Der Ämsige‘ dagegen jedoch ein Lobgedicht, das in der Adriatischen Rosemund mit abgedruckt wurde.479 Das zwölf kreuzgereimte Alexandriner umfassende Gedicht ist zweigliedrig
476 Ebd., S. 129. 477 Vgl. den Raubdruck der Lustinne in der UB Warschau [BUWr 353158], S. 10–12, unpaginert sowie den Druck der HAB [M: Lo 5352], [VD17 23:247938K], S. 12–14, unpaginiert. 478 Zum Streit zwischen Philipp von Zesen und der Fruchtbringenden Gesellschaft vgl. Herz, Zesen und die Fruchtbringende Gesellschaft, S. 181–208, besonders S. 191. 479 Vgl. Hans Kristof von Liebenau: Dehm zur unstärbligkeit und Erhöbung der Hooch-deutschen Helden-Sprache geborhrnen und mit überirdischen Gaben wohl ausgezierten Faertigen/ Hern Filip-Zesien von Fürstenau […]. In: Zesen SW I/1, S. 258.
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strukturiert: Die ersten sechs Verse bilden eine einzige syntaktische Einheit, die Zesen als Förderer der deutschen Sprache huldigt. Durch den Kreuzreim kunstvoll mit der ersten verbunden, bildet die zweite Hälfte des Gedichts die poetischperformative Dichterkrönung durch die Lustinne selbst: Führwahr Lustinne selbst/ die Ihm den Geist entzündt/ und die er deutsch benant/ und itzund will besünge/ die würd ihm säzzen auf den schönen Myrten-kranz: und Föbus will noch einst die Lorbeerzweige mehren/ und ihn begleiten hin an seiner Nymfen tanz. Dann Arbeit sol ja stäts gekröhnet seyn mit Ehren. (V. 7–12)
Vor allem aber für die Umbenennung der Liebesgöttin in das deutsche Äquivalent Lustinne, das neben Heinrich Mühlpfort (1631–1681)480 auch August Adolph von Haugwitz (1647–1706) in dessen mythologischen Lustspiel Flora (1684) verwendete, um Zesens Spracharbeit zu ehren,481 musste Zesen reichlich Spott von Friedrich Logau (1605–1655) hinnehmen: 47. Poetische Namen (1654)
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Venus soll man mehr nicht sprechen; nur Lustinne soll man sagen, Als wann Name zu der Sache künt ein ander Art beytragen. Ist lateinisch Venus Hure, wird Lustinne deutsch nicht frömer; Ob ein Schuster nicht verstehet, was mit Venus meint ein Römer, Wird er fast noch minder wissen, was ein Deutscher mit Lustinne Für Verstand und Deutung führt. Wann wir Christen in dem Sinne Nicht der Heyden Wesen hausten, wurden wenig ihre Worte Ärgern durch die blossen Namen, die so kennlich aller Orte.482
480 In dem Hochzeitsgedicht von Heinrich Mühlpfort: Die badende Venus an der Oder. Auf Hn. C[aelestino] H[offmann] von G[reiffenpfeil] und Ihr. D. M[argaretha] R[indeln] v. b. Hochzeit dargestellet 1662. 23. May. In: Heinrich Mühlpfort: Teutsche Gedichte. Poetischer Gedichte Ander Theil. Neudr. der Ausg. Breslau und Frankfurt am Main, [Steckh], 1686/87. Hg. und eingel. von Heinz Entner. Frankfurt/M. 1991 (Texte der frühen Neuzeit 8), S. 9–22, unterbricht Mühlpfort die in Alexandrinern gehaltene Haupthandlung durch ein Lied, in dem Venus mit Lustinne apostrophiert, vgl. ebd., S. 17, V. 283–335. 481 Vgl. das Nachwort von Pierre Béhar zu August Adolph von Haugwitz: B.C.D. FLORA, LustSpiel In ungleich-zerstreuten Reimen Deutsch aufgesetzt […]. In: August Adolph von Haugwitz: Prodromus Poeticus, Oder: Poetischer Vortrab. 1684. Hg. von Pierre Béhar. Tübingen 1984 (Deutsche Neudrucke Reihe Barock 32), S. 122–123. 482 Friedrich von Logau: Poetische Namen. In: Friedrichs von Logau Sämmtliche Sinngedichte. Hg. von Gustav Eitner. Tübingen 1872 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 113), S. 370.
1.3 Liberalisierende Frauensatire: Zesens Liebeskonzeption
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In bissiger, epigrammatischer Kürze, die besonders durch die Auslassung des Artikels im irrealen Komparationssatz „Als wann Name zu der Sache“ (V. 2) entsteht, diffamiert Logau die deutsche Lustinne in den acht paargereimten Alexandrinern zur lateinischen „Hure“ (V. 3). Schließlich setzt Logau die Mythenkorrektur von Zesen herab, indem er ihm den Glauben an die heidnischen Götter unterstellt und das Eindringen des heidnischen Gedankenguts in die christlichen Werte Zesens mit den Inversionen (V. 6–7) mimetisch abbildet.483
483 Anna Fritzmann: Friedrich von Logau. The Satirist. Berne u. a. 1983 (American University Studies. Series I: Germanic Languages and Literatures 725), S. 186–187, kennt Zesens Lustinne nicht als Prätext für das Epigramm und ordnet es deshalb nur als generelle Wendung gegen die Eindeutschung der mythologischen Namen ein.
2 Venus-Synthesen in Daniel Casper von Lohensteins Venus (1695) Daniel Casper von Lohenstein (1635–1683) gehört unbestritten zu den bedeutendsten Dichtern des späten siebzehnten Jahrhunderts. Der am 25. Januar 1635 in Nimptsch geborene spätere Jurist484 trat in seiner frühen Schaffensphase vor allem durch seine dramatischen Werke (Ibrahim Bassa 1650, Cleopatra 1661, Anagrippa und Epicharis 1665, Sophonisbe 1669, Ibrahim Sultan 1673) in Erscheinung, für die ihn seine Zeitgenossen als „deutschen Seneca“ feierten.485 Überdies wurde Lohensteins posthum veröffentlichter, von Christian Wagner vollendeter Roman Großmüthiger Feldherr Arminius (2 Bde. 1689/1690) von namhaften Frühaufklärern lobend gewürdigt, wie etwa von Christian Thomasius (1655–1728), der den Roman in seinen Monatsgesprächen (1689) rezensierte.486 Die Neuauflage des Romans 1731 bezeugt den großen posthumen Zuspruch, wenngleich der Roman schon zur Jahrhundertwende in die Kritik Gotthard Heideggers (1666–1711) geriet, der in der Mythoscopia Romantica (1698) den geschwollenen Stil, die Struktur und die fehlenden Charakterisierungen des riesigen Personas anfeindete.487 Besonders jedoch im Echo von Johann Jakob Bodmers (1698–1783) und Johann Jakob Breitingers (1701–1776) Kritik an Lohensteins ‚geschwollener‘ Rhetorik488 wirkte die Abwertung des barock-manieristischen Sprachstils bis in die literaturhistorische Forschung des frühen 20. Jahrhunderts nach.489 Vielleicht haben gerade die Bemühungen, diese Werteurteile zu widerlegen, dazu geführt, dass sich auch die neuere Forschung zu Lohensteins welt-
484 Vgl. Volker Meid, Lothar Mundt: [Art.] Daniel Casper von Lohenstein. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 7, S. 498–502, hier S. 498. 485 Vgl. zur Rezeptionsgeschichte Lohensteins die überaus materialreiche Studie von Alberto Martino: Daniel Casper von Lohenstein. Geschichte seiner Rezeption. Bd. I. 1661–1800. Aus dem Italienischen von Heribert Streicher. Tübingen 1978. Zur barocken Verehrung vgl. ebd., Kapitel II, „Die barocke Apotheose. Der unvergleichliche Lohenstein (1661–1731)“, hier S. 178. 486 Ebd., S. 197–204. 487 Ebd., S. 224–233. 488 Ebd., S. 301–305. 489 Etwa Max-Otto Katz: Zur Weltanschauung Daniel Caspars von Lohenstein. Studien zur deutschen Barockliteratur. Diss. Breslau 1933, der die plastische Darstellung der Gewalt in Lohensteins Cleopatra als „pervers“ verurteilt (S. 21) und das Preisgedicht Venus als „das schlimmste Zeugnis seiner sinnlichtuenden Gelehrtenrhetorik“ heranzieht (S. 43). Doch auch in der späten Literaturgeschichte von Haller, Geschichte der deutschen Lyrik vom Ausgang des Mittelalters bis zu Goethes Tod, S. 174, wird das lyrische Talent Lohensteins in der Tradition Bodmers und Breitingers noch herabgewürdigt. https://doi.org/10.1515/9783110684209-006
2 Venus-Synthesen in Daniel Casper von Lohensteins Venus (1695)
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licher Lyrik und insbesondere zu seinem mythologischen Großgedicht Venus (1695) hauptsächlich auf sprachliche Aspekte konzentrierte, um Lohenstein zu rehabilitieren.490 Obgleich insgesamt vier Neuauflagen (1695–1734) die zeitgenössische Wertschätzung491 sowie vier verschiedene Editionen492 das fortwährende Interesse an dem mythologischen Enkomium bezeugen, beschränkt sich auch die überaus hilfreiche kritische Edition des 1891 Alexandriner umfassenden Preisgedichts durch Charlotte Brancaforte, deren besonderer Mehrwert in der Gliederung nach der enkomiastischen Tradition liegt,493 fast ausschließlich auf rhetorische Aspekte.494 Dagegen bleibt Lohensteins Mythenrezeption vage.
490 Evident wird dies besonders daran, dass Lohensteins Venus in vielen Gesamtdarstellungen als Musterstück der Gelehrtenliteratur und manieristischen Rhetorik angeführt wird, vgl. Volker Meid: [Art.] Das 17. Jahrhundert. In: Geschichte der deutschen Lyrik vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Walter Hinderer. 2. Aufl. Würzburg 2001, S. 74–138, hier S. 126, und Marian Szyrocki: Die deutsche Literatur des Barock: eine Einführung. Bibliogr. erneuerte Ausg. Stuttgart 1997, S. 213–219. 491 Vgl. Benjamin Neukirch. Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte erster theil. Nach dem Druck vom Jahre 1697 mit einer. kritischen Einleitung und Lesarten. Hg. von Angelo G. de Capua, Ernst A. Philippson. Tübingen 1961 (Neudrucke deutscher Literaturwerke N.F. 1), S. VII–XXVIII. 492 Die Venus wurde neben der Edition der ‚Neukirchschen Sammlung‘ von de Capua/Philippson, Neukirchsche Sammlung erster Teil, S. 290–346, ediert von Brancaforte, Lohensteins Preisgedicht Venus; David M. Moore: Critical edition of Daniel Caspar von Lohenstein’s Blumen, Geistliche Gedancken, and the hymn to Venus. Bd. I–III. Diss. University of Hull 1969, hier Bd. II, S. 345–401, (als Reproduktion der Edition von de Capua/Philippson, dafür aber mit einem umfassenden Kommentarteil, vgl. ebd., Bd. III, S. 574–596) und neuerdings auch Daniel Casper von Lohenstein: Venus. Hg. von Alexander Nitzberg. Wien 2015. Nitzberg stellte das Großgedicht außerdem in einer vierteiligen Vorlesungsreihe in der ‚Alten Schmiede‘ (Wien) am 12. und 26. Februar 2015 vor, die von der Wiener Künstlerin Raja Schwahn-Reichmann durch eine barocke Szenerie verbildlicht wurde (vgl. ebd., S. 95). Obgleich der Zuspruch zu Lohensteins lyrischem Werk begrüßenswert ist, setzt diese im Wesentlichen Brancafortes Edition folgende Leseausgabe jedoch keine neuen wissenschaftlichen Impulse, vor allem deshalb, weil das sehr knappe Nachwort (ebd., S. 92–95) ohne wissenschaftlichen Anspruch bleibt. 493 Die heuristische Gliederung des Gedichts in fünf Akte, die Lanthrop P. Johnson vorschlägt, um Venus strukturell mit Lohensteins Dramen- und Romankunst zu vergleichen, liest sich dagegen wenig gewinnbringend, vgl. Lathrop P. Johnson: Dramatic Structure and Epic Breath in a Lyrical Poem? Generic Synthesis in Lohenstein’s Venus. In: Studien zum Werk Daniel Casper von Lohenstein: anlässlich der 300. Wiederkehr des Todesjahres. Hg. von Gerald Gillespie, Gerhard Spellerberg. Amsterdam 1983 (Zugl. Daphnis 12,2/3), S. 79–88. 494 Die Kritik an der Konzentration auf sprachliche Aspekte äußert bereits Gerald Gillespie: Review. Charlotte Brancaforte: Lohensteins Preisgedicht „Venus“. Kritischer Text und Untersuchung. München 1974. In: Studien zum Werk Daniel Casper von Lohenstein: anlässlich der 300. Wiederkehr des Todesjahres. Hg. von Gerald Gillespie; Gerhard Spellerberg. Amsterdam 1983 (Zugl. Daphnis 12,2/3), S. 722–728, hier S. 723. Dabei hatte Hans-Joachim Schöberl: „liljen = milch
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Zwar schlüsselt Brancaforte alle 436 auftretenden mythischen Figuren enzyklopädisch auf, als Vorbilder benennt sie mit Hesiods Theogonie, Homers Ilias und Odyssee, Ovids Metamorphosen, dessen Amores und den Heroides jedoch nur die allgemeinen griechischen und lateinischen Schulautoren, ohne Nachweise über tatsächliche intertextuelle Bezüge zu führen. Gleiches gilt für die Mythographen: Ohne Nachweise und ohne zu reflektieren, dass in den frühneuzeitlichen Mythographien kompilatorisch antike Quellen zusammengefügt wurden, nennt Brancaforte die Genealogia Deorum von Giovanni Boccaccio und Natale Contis Mythologiae gleichberechtigt neben den klassischen Quellen.495 So werden die Übernahmen von allgemeinen Motiven als Bearbeitungen einzelner Quelltexte ausgewiesen, ohne dass intertextuelle Bezüge oder deren Funktionen herausgearbeitet werden. Dies gilt sowohl für die Studie von Brancaforte als auch für die von Clemens Heselhaus, der die Venus-Mars- sowie die Venus-AdonisEpisode in Lohensteins Preisgedicht, ohne Textbelege anzuführen, als Rezeption der ovidischen Metamorphosen einordnet.496 Aber auch David M. Moore, der die Liebschaft zwischen Venus und Mars als Odyssee-Rezeption wertet, die Venus-Adonis-Liebe wie Heselhaus als Übernahme der Metamorphosen und den Geburtsmythos als Theogonie-Adaption einordnet, ohne die maßgeblichen Mythographen als Quellen in Betracht zu ziehen, erhärtet seine Vermutungen nicht durch Textbelege.497 Birgit Linda Emberger hebt in ihrer Dissertation dagegen kurz Lohensteins abwertende Phaedra-Rezeption im Preisgedicht hervor: Lohenstein exemplifiziere an Phaedra die bedrohlichen, destruktiven Aspekte der Liebe, indem er die Heroinnen-Schau aus Vergils Aeneis variiere.498 Einzig Achim Aurnhammer hat Lohensteins intertextuelles Verfahren exemplarisch an der Bearbeitung von Martin Opitz’ petrarkistischen Mustersonett Francisci Petrarchae (1620) beschrieben und konnte dabei auch Lohensteins
und rosen = purpur“. Die Metaphorik in der galanten Lyrik der Neukirchschen Sammlung. Ein Beitrag zur Charakteristik des spätbarocken Stils. Frankfurt/M. 1972 (Germanistik 4), S. 54–55, bereits so aufschlussreich die Häufung der Metaphern in Lohensteins Venus abstrakt als Mittel der manieristischen Übersteigerung beschrieben. 495 Brancaforte, Lohensteins Preisgedicht Venus, S. 101–103, fasst die Quellen auf nicht mehr als zweieinhalb Seiten zusammen. Für die Enzyklopädie vgl. ebd., S. 103–159. 496 Clemens Heselhaus: Metamorphose-Dichtungen und Metamorphose-Anschauungen. In: Euphorion 47 (1953), S. 121–146, hier S. 137. 497 David M. Moore: Lohenstein’s Venus. In: New German Studies 1 (1973), S. 51–66, hier S. 53–54. 498 Birgit Linda Emberger: Reescrituras del mito de Fedra en lengua alemana. Diss. Granada 2011, S. 359–366.
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Abhängigkeit von Giambattista Marino (1569–1625) nachweisen, den Lohenstein in zweischichtiger Intertextualität zitiert.499 Gesa Dane hat ferner auf den intertextuellen Bezug zu Lukrez’ Proömium des Lehrgedichts De rerum natura hingewiesen. Sie sieht in der Venus eine Reflektion der epikureischen Affektlehre, die Lohenstein wie Lukrez als kosmologisches Prinzip beschreibt.500 Da Dane jedoch auf textuelle Nachweise verzichtet, diese sogar im Widerspruch zu ihrer eigenen Argumentation negiert: „In vieler Hinsicht ist dieses Venus-Gedicht einer der gewagtesten Texte, die Lohenstein geschrieben hat, weil es auf textinterne Hinweise zum rechten Verständnis des Gegensinns dieses Lobpreises der Göttin gänzlich verzichtet“501 und durch solche zugespitzten Formulierungen den Erkenntnisgewinn ihrer Studie erheblich schmälert, bleibt zu hinterfragen, ob und wie Lohenstein die epikureische Affektlehre geistlich überlagert. Während Brancaforte überzeugend nachgewiesen hat, dass sich Lohensteins Großgedicht Venus durch die enkomiastische Struktur in die Tradition antiker Preisgedichte einreiht, wird im Folgenden eine Gliederung nach mythischen Episoden vorgeschlagen, welche heuristisch den Zugang zu Lohensteins Bearbeitungen antiker Mythen eröffnet und einer Besonderheit von Lohensteins Mythenrezeption Rechnung trägt. Denn mythische Episoden sind – ausgenommen die Geburtsmythen der Götter, die immer am Anfang stehen müssen – typischerweise
499 Achim Aurnhammer: Martin Opitz’ petrarkistisches Mustersonett Francisci Petrarchae (Canzoniere 132), seine Vorläufer und Wirkung. In: Francesco Petrarca in Deutschland: seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik. Hg. von Achim Aurnhammer. Tübingen 2006 (Frühe Neuzeit 118), S. 189–210, hier S. 208–209. 500 Gesa Dane: Christlicher Epikureismus? Lohensteins Preisgedicht „Venus“. In: Religiöses Wissen in der Lyrik der Frühen Neuzeit. Hg. von Peter-André Alt, Volkhard Wels. Wiesbaden 2015 (Episteme in Bewegung 3), S. 117–126. Im Einklang mit dieser Deutung wird Lohensteins Venus in gleich mehreren Überblicksdarstellungen als Ausdruck einer kosmologischen Liebeskonzeption interpretiert. Vgl. Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Barock-Humanismus: Liebeslyrik. Band 4,II. Tübingen 2006, S. 277–280, ähnlich in ders.: Hölle und ‚Himmel auf der Erden‘. Liebes-, Hochzeits- und Ehelyrik in der Frühen Neuzeit. In: Mittelalter und frühe Neuzeit: Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 30–77, hier S. 62–64, Volker Meid: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock: vom Späthumanismus zur Frühaufklärung 1570–1740. München 2009 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 5), S. 301, und Peter Hess: Poetry in Germany, 1450–1700. In: Early Modern German Literature 1350–1700. Hg. von Max Reinhard. Rochester 2007 (The Camden House History of German Literature 4), S. 395–466, hier S. 435–437. Zudem vgl. Adalbert Wichert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert: Daniel Casper von Lohenstein und sein Werk. Eine exemplarische Studie. Tübingen 1991 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 32), S. 84–86. 501 Dane, Christlicher Epikureismus, S. 118.
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nicht streng chronologisch geordnet. So lässt sich nicht genau bestimmen, ob Venus zuerst von Paris zur schönsten Göttin gewählt wurde oder ob sie zuerst den Kriegsgott in ihren Bann zog. Ebenso ist unklar, ob sich Venus in Adonis verliebte, bevor sie mit Anchises den späteren Erben Trojas Aeneas zeugte oder danach. Dagegen bringt Lohenstein die Episoden über Venus in eine zeitliche Reihenfolge und bietet in seinem Enkomium eine chronologische Biographie der Liebesgöttin. Diese leitet er durch ein Proömium (V. 1–41) ein, das sich in einen Natureingang (V. 1–27) und einen Musenanruf (V. 28–41) untergliedert. Als zweites schildert Lohenstein die Genesis der Venus (V. 42–339), deren Auslegung er mit der Überfahrt vom Geburtsort zur Insel Zypern verbindet. Den dritten Abschnitt (V. 340–670) bildet eine inventio Lohensteins, in der er Venus mit Phaethon kontrastiert. So wie Phaethon sich von seinem Vater wünscht, einen Tag den Sonnenwagen führen zu dürfen, erbittet Venus von Zeus für einen Tag die Macht über die Donnerkeile, die sie mit einem Liebestrank versetzt, um die Liebe auf der Erde zu verbreiten. Der vierte Teil (V. 671–1160) handelt von der Schönheit der Göttin, die Lohenstein durch das Paris-Urteil belegt und als Ursprung der Künste ausweist, während er im fünften Teil (V. 1161–1509) die Wirkung der Liebe an der VenusMars-Episode beispielhaft vor Augen führt. Im sechsten Abschnitt (V. 1510–1775) wird die Allmacht der Liebe, der auch die Göttin selbst unterliegt, anhand der Venus-Adonis-Episode demonstriert, bevor im Schlussteil (V. 1776–1888) die Wirkung der Liebe personalisiert auf das lyrische Ich bezogen wird. Die nachstehende Tabelle veranschaulicht die Gliederung des Gedichts: Gliederung der Venus 1
Proömium
V. 1–41
2
Geburt der Venus
V. 42–339
3
Phaethon-Kontrastierung: Verbreitung der Liebe
V. 340–670
4
Paris-Urteil
V. 671–1160
5
Venus-Mars
V. 1161–1509
6
Venus-Adonis
V. 1510–1775
7
Personalisierte Liebeserfahrung
V. 1776–1888
Nachfolgend werden neben dem Proömium die vier mythischen Episoden und die inventio Einzelanalysen unterzogen, um Lohensteins Bearbeitungsstrategien kenntlich zu machen. Dabei werden ebenso Bearbeitungen von Einzelvorlagen sowie Techniken der Mythenkorrektur ausgewiesen, um schließlich Lohensteins Transformation der Venusfigur ganzheitlich in den Blick nehmen zu können.
2.1 Mehrschichtige Intertextualität: Lukrez, Ovid, Zesen und Lohenstein
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2.1 Mehrschichtige Intertextualität: Lukrez, Ovid, Zesen und Lohenstein Wie Philipp von Zesen, der in seinem Preisgedicht Lustinne (1645)502 die Eingangsverse von Lukrez’ De rerum natura nachempfindet,503 imitiert auch Lohenstein in den proömialen Versen der Venus (V. 1–27) das lateinische Lehrgedicht. Wie Zesen bildet Lohenstein die lateinischen daktylischen Hexameter mit paargereimten Alexandrinern nach und überbietet seine Vorlage durch die Amplifikation der Motive. Anders als Lukrez, der seine Dichtung mit der Apostrophe: „Aeneadum genetrix, hominum divomque voluptas, | alma Venus“504 an Venus eröffnet, beginnt Lohenstein sein Preisgedicht mit der Exclamatio „Izt liebt die ganze welt!“ (V. 1) in medias res. Besonders durch das temporale Deiktikon „Izt“ entsteht eine Spannung, die den Natureingang dynamisiert und sich erst durch die retardierte Apostrophe „Ich meyne Venus dich“ (V. 28) und im darauffolgenden Musenanruf (V. 31–41) entlädt. Manieristisch überformt Lohenstein die bei Lukrez beschriebene Herrschaft und die Befruchtung der Erde und der Lebewesen durch Venus: „quae mare navigerum, quae terras frugiferentis|concelebras, per te quoniam genus omne animantum“,505 indem er die planetaren Elemente mythisiert und personifiziert: […] des Titans glut wird mächtig Die erde zu vermähln/ der himmel machet trächtig Mit regen ihren schooß/ das blumen-gelbe jahr Beschwängert ihren bauch/ der blumen sommer-haar Bekleidet allbereits die unbelaubten wipffel: Des Demus kahlen kopff/ und die unwirthbarn gipffel/ Die hier der süd versengt/ und dort der schnee ableckt/ Hat schon der bunte lentz mit kräutern überdeckt. (V. 1–8)
Während Lohenstein das sexualmetaphorische Vokabular von Lukrez, (etwa das Befruchten der Keime506) erotisch steigert („trächtig“ (V. 2), „beschwängert“ (V. 4) „ableckt“ (V. 7)), verzerrt er die Frühlingsdarstellung vor allem durch die Verbindung von Metaphern und Personifikationen, die er zu kühnen Neologismen zusammenfügt: „das blumen-gelbe jahr“ (V. 3) und „der blumen sommer-haar“
502 Vgl. Zesen, Lustinne, V. 9–48. 503 Lukrez, De rerum nat. S. 6–9, V. 1–25. 504 Ebd., V. 1–2. 505 Ebd., V. 3–4. 506 Ebd., V. 4.
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(V. 4). Auch die Blumenpracht, die Lukrez metaphorisch als ein von der „kunstreichen Erde“ gefertigtes Kleid für Venus umschreibt: „tibi suavis daedala tellus | summittit flores“,507 eignet sich Lohenstein durch Amplifikation an. Dabei greift er auf Philipp von Zesens Lustinne zurück. Zesen hatte sich Lukrez’ Bild des Blumenteppichs, den die „liebliche Bildnerin Erde“ für Venus webt, durch die mythisierende Personifikation der Erde als Blumengöttin Flora, aber auch durch die Eindeutschung der Flora zu „Bluhminne“ angeeignet: Bluhminne stükt ihr Kleid mit Tulpen und Narzissen; die Hyazinten-blüht schüß’t auf bey klahren flüssen/ worin das kläglich’ Ach annoch geschrieben stäht:508
Lohenstein ahmt Zesens Aneignung nach: […] die blumen-göttin schmücket Ihr selbst das braut-gewand/ und ihre kunst-hand stücket Der Tellus grünen rock mit frischem rosen-schnee Und weissen liljen aus. Hier wächset fetter klee Auff hyblens marmel-brust; Dort bücken die narcissen Sich zu den tulpen hin/ einander recht zu küssen. Hier schmeltzt das thränen-saltz vom rauchen hyacinth/ Wo die crystallen-bach aus hellen klippen rinnt/ Voll lust sein herbes leid darinnen zu bespiegeln. (V. 9–17)
Die Eindeutschung „Bluhminne“ hebt Lohenstein auf, bietet jedoch dasselbe Bild der „blumen-göttin“, welche der Erde – ersetzt mit der mythischen Personifikation „Tellus“ – das Kleid mit Blumen bestückt. Während die einzelnen Blumen (Tulpen, Narzissen, Rosen, Hyazinthen) durchaus zufällige Überschneidungen aufweisen können, ist die Referenzialität für die Hyazinthen nicht von der Hand zu weisen: Wie Zesen amplifiziert Lohenstein das lateinische Lehrgedicht von Lukrez, indem er die ovidische Verwandlung des Jünglings Hyakinthos einfügt. In den Metamorphosen schildert Ovid, wie Apollo den jungen Hyakinthos mit einem Diskuswurf unabsichtlich tötete und ihn aus Trauer in eine Hyazinthe verwandelte, deren Blütenblätter die klagenden Rufe des Apollo abbilden (Ovid, Met. X, 215–216). Zesen adaptiert die ovidische Verwandlung durch das Reimpaar: „die Hyazinten-blüht schüß’t auf bey klahren flüssen | worin das kläglich’ Ach annoch geschrieben stäht“509 und weist durch eine Anmerkung Ovids Metamorphosen als
507 Ebd. V. 7–8. 508 Zesen, Lustinne, V. 13–15. 509 Ebd., V. 14–15.
2.1 Mehrschichtige Intertextualität: Lukrez, Ovid, Zesen und Lohenstein
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Quelle aus.510 Lohenstein ahmt die „klahren flüsse“511 metaphorisch übersteigert durch den „crystallen-bach“ (V. 16) nach und spiegelt durch die Antithese „Voll lust sein herbes leid“ (V. 17) die antinomische Konfiguration von der Lust am Liebesschmerz ein. Indes sind weitere Parallelen durch die gemeinsame Vorlage von Zesen und Lohenstein bedingt. Die Vögel, die bei Lukrez die Ankunft der Venus ankündigen: „aeriae primum volucris te“,512 umschreibt Zesen als „Luft-heer“513 und Lohenstein als „Das laute flügel-Volk“ (V. 23). Das die Wiesen durchstürmende und den geschwollenen Fluss durchschwimmende Vieh „inde ferae pecudes persultant pabula laeta | et rapidos tranant amnis”514 ahmt Zesen als „Das stumme Schupenheer“515 nach, Lohenstein umschreibt es als „stumme[s] wasser-heer“ (V. 23). Während die Referenzen auf Zesens Venus-Dichtung als Überbietung des Vorgängers zu interpretieren sind, den Lohenstein quantitativ etwa um ein Fünffaches an Versen übertrifft, tritt auch die komplexe Rezeptionsstrategie Lohensteins zutage: Indem er auf Zesens amplifizierende Lukrez-Adaption zurückgreift, der das lateinische Lehrgedicht mit der ovidischen Hyakinthos-Metamorphose angereichert hatte, eignet sich Lohenstein das Proömium aus Lukrez’ De rerum natura in mehrschichtiger Intertextualität an. Hatte Zesen das Proömium des Lehrgedichts sakralisiert, um die Aufwertung der sinnlichen Liebe christlich zu überformen, scheinen sich bei Lohenstein dieselben antistoizistischen, epikureisch zugespitzten Tendenzen zu spiegeln, die Thomas Borgstedt im Arminius nachgewiesen hat.516 Wie nachfolgend jedoch gezeigt werden soll, suspendiert Lohenstein durch seine Rezeption des Geburtsmythos zunächst den theologischen Glauben an die pagane Göttin und legitimiert die epikureische Aufwertung erfüllter Liebe auch im christlichen Glaubenssystem.
510 Vgl. den Fußnoten Apparat zu Zesens Lustinne: Oedipus oder Entwikkelung etlicher fremden Nahmen und Ahrten zu reden. Zesen, SW I/1, S. 252, Z. 24–34. 511 Zesen, Lustinne, V. 14. 512 Lukrez, De rerum nat. V. 13 513 Zesen, Lustinne, V. 22. 514 Lukrez, De rerum nat. V. 14–15. 515 Zesen, Lustinne, V. 29. 516 Vgl. Thomas Borgstedt: Reichsidee und Liebesethik. Eine Rekonstruktion des Lohensteinschen Arminiusromans. Tübingen 1992 (Studien zur deutschen Literatur 121), S. 450. Zur positiven Bewertung des Epikureismus im Arminius mit Verweisen auf ältere Forschung vgl. ebd., S. 82–87. Die Einordnung der „positiv umgewerteten Erotik [als] ein Teil jener zeitgenössischen Grundlagendiskussion zum Eherecht“, vgl. Wichert, Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 84, bleibt hinsichtlich der knappen Nachweise zu hinterfragen.
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2 Venus-Synthesen in Daniel Casper von Lohensteins Venus (1695)
2.2 Christliche Apologetik: Die aus dem Meer geborene Venus als Bathseba Anders als Zesen, der durch die Eindeutschung der Venus zu Lustinne ein deutsches Äquivalent zur antiken Liebesgöttin geschaffen hatte, referiert Lohenstein die Geburtsmythen in einer Beliebigkeit, die den tatsächlichen Glauben an die antike Göttin in Abrede stellt. Indem er drei der Geburtsmythen schildert, die über Ciceros De natura deorum517 und die frühneuzeitlichen mythographischen Handbücher von Boccaccio, Conti, Giraldi und Cartari518 auch im deutschen Barock zum Kanon des mythologischen Wissens gehörten, zeigt er mögliche Varianten auf, ohne die Wahrheit für einen der Mythen zu beanspruchen. Zwar lehnt er die selbst vorgebrachte Genealogie, nach der die Venus das „kinds-kind“ (V. 47) der Cambyse sei, als „abergläubisch ding“ (V. 48) und „wahnwitz“ (V. 49) ab und benennt die aus Hesiods Theogonie überlieferte Geburt als die wahrscheinlichste. Doch erkennt er diese gleichsam als Mindermeinung an und verleiht den Mythen Gewicht, die Venus entweder als Tochter von Zeus und Dione oder vom Himmel und Tag beschreiben: „Die meisten sind gesinnt | Du seyest Jupiters und der Dionen kind“ (V. 43–44), bzw. „Die meisten aber sagen | Der himmel habe dich in seiner schooß getragen | Als dich der tag gezeugt“ (V. 53–55). Deutlich markiert Lohenstein die Mythen nicht als theologische Wahrheiten, die sich gegeneinander ausspielen lassen, sondern als auslegbare Meinungen: […] Doch scheinet unter allen Mir keine meynung mehr/ als derer/ zu gefallen/ Die deinen stamm erzehln; Daß die geschwellte flut Des blau-gesaltznen schaums/ geschwängert durch das blut Des himmels-saamen sey/ als aus erzürntem wüten Saturnus sichel ihm das manns-glied abgeschnitten So wär es durch die lufft gefallen in die see/ Und aus erregtem schaum sey unsre Cyprie Entsprossen in der Flut. Diß machet uns zu wissen/ Warum die Griechen erst dich Aphrodite hiessen. (V. 61–70)
Mit erotisch doppeldeutigem Vokabular („geschwellte flut“, „geschwängert“, „erregte[r] schaum“) gestaltet Lohenstein die mythologische Szene in frivoler Sprachgewalt aus und belegt die Geburt etymologisch durch den griechischen
517 Vgl. Cicero, De Nat. Deo. 3.59. 518 Zur Wirkung der frühneuzeitlichen Mythographen vgl. grundlegend Seznec, Das Fortleben der Antiken Götter, besonders S. 215–249.
2.2 Christliche Apologetik: Die aus dem Meer geborene Venus als Bathseba
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Namen Aphrodite, der sich von aphros (= altgriech. Schaum) ableitet.519 Gleichwohl bleibt die Darstellung durch die Verben im Konjunktiv „sey“ (V. 65 und 68) bzw. „wär“ (V. 67) als Variation einer wiedererzählbaren Geschichte markiert, die der Auslegung bedarf. Dialogisch verklammert Lohenstein den Mythos mit der allegorischen Ausdeutung desselben, indem er Venus metonymisch mit Liebe gleichsetzt und das Meersalz als Pars pro toto für das Meer einsetzt: „Noch eines fällt mir bey: | Warum das saltz-glaß auch noch sonst dir ähnlich sey“ (V. 85–86).520 Die hergestellte Verbindung zwischen Liebe und dem Meer erlaubt es Lohenstein, die Liebe metaphorisch mit einer Schifffahrt vergleichen. Denn lieben ist nichts mehr/ als eine schifferey/ Das schiff ist unser hertz/ den seilen kommen bey Die sinn-verwirrungen. Das meer ist unser leben/ Die liebes-wellen sind die angst/ in der wir schweben/ Die segel/ wo hinein bläst der begierden wind/ Ist der gedancken tuch. Verlangen/ hoffnung sind Die ancker. Der magnet ist schönheit. Unser strudel Sind Bathseben. Der wein und überfluß die rudel. Der stern/ nach welchem man die steiffen segel lenckt/ Ist ein benelckter mund. Der port/ wohin man denckt/ Ist eine schöne frau. Die ufer sind die brüste. Die anfahrt ist ein kuß. Der zielzweck/ süsse lüste. (V. 97–108)
Der metaphorische Vergleich des Lebens mit einer Schifffahrt, dessen lange antike Tradition521 in der christlichen Spätantike aufgegriffen und geistlich gewendet wurde, gehörte auch im Barock zum Motivarsenal der deutschen Poeten.522 Dagegen überführt Lohenstein die traditionsreiche Metapher in ein erotisches Œuvre, ganz ähnlich wie Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616–1679) in dem Lied So soll der Purpur deiner Lippen.523 Lohenstein bildet die sich plötzlich aufbäumende See mimetisch ab, indem er die zuvor exakt eingehaltenen Mittelzäsuren syntaktisch verschiebt, um die 519 Vgl. Moore, Lohenstein’s Venus, S. 57. 520 Ähnlich begründet Conti die langlebige Überlieferung der ‚Schaumgeburt‘ mit dem Salz des Meeres, das er als Fruchtbarkeitssymbol verwendet, vgl. Conti, Mythologiae, S. 325. 521 Zur antiken Schifffahrtsmetapher und deren mittelalterlichen Rezeption vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 10. Aufl. Bern, München 1984, S. 183–141. 522 Vgl. zur Rezeption der geistlichen Schifffahrtsmetapher z. B. von Gryphius Dietrich Walter Jöns: Das „Sinnen-Bild“. Studien zur allegorischen Bildlichkeit bei Andreas Gryphius. Stuttgart 1966 (Germanistische Abhandlungen 13), S. 191–203. 523 Vgl. zu dem Lied Lothar Noack: Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616–1679): Leben und Werk. Tübingen 1999 (Frühe Neuzeit 51), S. 171–173, dort mit weiterführender Literatur.
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2 Venus-Synthesen in Daniel Casper von Lohensteins Venus (1695)
parataktischen Vergleichssätze (V. 97 bis zur Mittelzäsur von V. 102) zu konterkarieren. Hatten zuvor Einheiten von je drei oder sechs jambischen Hebungen eine gedankliche Einheit gebildet, bricht dieser metrische Gleichklang ab (V. 102–104), der zusätzlich durch die asyndetische Verbindung „Verlangen/ hoffnung“ (V. 102) sowie den durch die Interpunktion trochäisch zu lesenden Satz „Der magnet ist schönheit“ (V. 103) gesperrt wird. Formal unterstreicht Lohenstein den Vergleich zwischen den beschriebenen Wogen und den Gefühlsschwankungen, die ein Verliebter durchleben muss. Hernach stellt sich die rhythmische Parataxe wieder ein. Die kurzen Parallelismen dynamisieren die Imagination der Liebeserfüllung, wobei die letzten vier Verse in epigrammatischer Kürze vier der fünf topischen, erotischen Aktionsschritte (quinque lineae amoris) durchlaufen: Vom visus, dem Anblick der „schönen Frau“ (V. 107), ohne das colloquium (das Gespräch) über den tactus, die Berührung der „brüste“ (V. 107) und das basium, den „kuss“, zum coitus, dem „zielzweck/ süsse[r] lüste“ (V. 108). Eindeutig vergegenwärtigt die Schifffahrtsmetapher erotische Imaginationen und glorifiziert diese, indem sie in den Wirkungsbereich der gepriesenen Göttin verlegt werden. Diese Verherrlichung der Affekte scheint der christlich-stoischen Morallehre diametral entgegenzustehen und doch vereint Lohenstein Biblisches mit Paganem. Denn entgegen Gesa Danes Behauptung, Venus sei „ein paganer Lobgesang, ohne den geringsten Hinweis auf christliche Vorstellungen“,524 verweist Lohenstein eindeutig auf die Geschichte von David und Bathseba (2. Samuel 11–12): „Unser strudel | sind Bathseben“ (V. 101–102). Die biblische Erzählung berichtet davon, wie König David eines Nachmittags Bathseba, die Frau Urias, im Bade beobachtet, sie zu sich holen lässt und schwängert. Um die uneheliche Empfängnis zu verbergen, befiehlt David dem Ehemann Uria, mit Bathseba zu schlafen, doch dieser lehnt ab. Daraufhin weist David seinen Hauptmann Joab an, Uria an der vordersten Front im Krieg mit den Ammonitern kämpfen zu lassen, damit er dort stirbt. Als Uria fällt, nimmt David nach Ablauf der Trauerzeit Bathseba zur Frau. Gott sendet den Propheten Nathan zu David, der ihm anhand einer Parabel seine Schuld vor Augen führt. David, der seine Schuld anerkennt, wird damit bestraft, dass sein erstes Kind von Bathseba sterben muss; doch aufgrund seiner Reue verzeiht ihm Gott und schenkt ihm als zweiten Sohn Salomon, der später der dritte König von Israel sein wird. Bereits im Mittelalter bildete sich ein polyvalentes Deutungsspektrum der Bathseba-Geschichte aus: Im frühen Mittelalter wurde sie einerseits im Glauben daran, dass „der Schwachheit menschlicher Natur die immer zur Versöhnung
524 Dane, Christlicher Epikureismus, S. 120.
2.2 Christliche Apologetik: Die aus dem Meer geborene Venus als Bathseba
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bereite göttliche Liebe gegenübertrete“,525 als Nachweis göttlicher Vergebung interpretiert. Andererseits exemplifizierte das Vergehen und die Buße Davids in der typologischen Deutung nach Augustinus, die Bathseba mit der Ecclesia sowie Uria mit dem Teufel gleichsetzte, den Sieg Davids über Satan. Dagegen wurde im Spätmittelalter (14.–16. Jahrhundert) die Warnung vor der weiblichen Verführung das Grundmotiv der Bathseba-Rezeption,526 bevor die moralische Ausdeutung im späten sechzehnten und frühen siebzehnten Jahrhundert durch künstlerische Darstellungen überlagert wurden, die Davids Faszination an der Schönheit verstanden und bejahten und die ihren Höhepunkt in den Bathseba-Gruppen von Rembrandt (um 1654) erreichten.527 Obgleich die christlich-exegetischen künstlerischen Darstellungen des Bathseba-Themas im Barock hinter den manieristisch-dramatischen Inszenierungen zurückgetreten waren, dürfte auch die im frühen Mittelalter vorherrschende Interpretation der Vergebung Davids als Exempel der göttlichen Güte zumindest in den Gottesdiensten noch präsent gewesen sein, wie die zahlreichen Psalmendichtungen im Barock vermuten lassen.528 Folglich verbindet Lohenstein die christliche Deutungstradition mit der manieristischen Faszination an der weiblichen Schönheit, indem er Bathseba als weibliches Objekt der Begierde figuriert, auf das „hertz“ (V. 96), „begierden“ (V. 99) und „Verlangen“ (V. 100) gerichtet sind, durch ihren Namen jedoch gleichzeitig antonomastisch die Vergebung Davids einspiegelt. Die praktizierte körperliche Liebe wird damit auch in einem christlichen Kontext legitimiert. Während Lohenstein die fromme Deutung der biblischen Figur Bathseba auf das Wesen seiner Protagonistin überträgt, exemplifiziert er die Faszination an weiblicher Schönheit an Venus selbst. Ja selbst die schönheit schien itzt allererst gebohren/ Weil himmel/ erd und meer für dir den glantz verlohren; Du machtest milch und schnee mit deinem halse grau/ Der marmelstein ward schwartz/ das helffenbein ward rauh/ Für deiner glatten schooß; die blauen türckse schienen Für deinen adern weiß/ die röthe der rubinen Bey deinen lippen fahl; der stirnen glantz gieng vor
525 Vgl. die materialreiche Studie von Elisabeth Kunoth-Leifels: Über die Darstellungen der „Bathseba im Bade“. Studien zur Geschichte des Bildthemas 4. bis 17. Jahrhundert. Mit 73 Abbildungen. Essen 1962, hier S. 4. 526 Ebd., S. 15. 527 Ebd., S. 33. 528 Einen einführenden Überblick zu den Psalmenbearbeitungen bietet Meid, Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock, S. 263–272.
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Dem demant/ und die pracht des purpur-bluts verlohr Die farbe. Ja/ für dir erblaßten die corallen/ Als sie die wangen sah’n; die leuchtenden crystallen/ Die sternen/ wurden selbst für deiner augen glantz Und deinem blincken blind. Aurorens rosen-krantz Ward welck für deinem haar. Für deinem athem büßten Die veilgen den geruch/ die liljen für den brüsten Gepräng und schönheit ein. Kurtz/ unsre Cyprie War aller frauen frau; Der wollust-ströhme see/ Der augen augen-stern/ die sonne der göttinnen/ Der wollust ziel und pfeil/ […] (V. 173–190)
Die parataktische Häufung von Preziosen-Metaphern, die Lohenstein pleonastisch steigert: „milch und schnee mit deinem halse grau|Der marmelstein ward schwartz“ (V. 175–176) und durch die Personifikation: „für dir erblaßten die corallen/ | Als sie die wangen sah’n“ (V. 181–182) sowie durch sekundäre Metaphorik: „Aurorens rosen-krantz | Ward welck für deinem haar“ (V. 184–185) hyperbolisch überformt, verzerrt das Bild der antiken Göttin manieristisch. Die zahlreichen Enjambements (z. B. V. 175–176, 180–181, 184–185), das Zeugma: „Für deinem athem büßten | Die veilgen den geruch/ die liljen für den brüsten | Gepräng und schönheit ein“ (V. 185–187) und der anaphorische Parallelismus: „Für deiner […] | Für deinen […],“ (V. 177–178) dynamisieren die Parataxe; die Modalpartikel „ja“ (V. 173, 181) wirken emphatisierend und die Alliterationen „schönheit schien“ (V. 173), „machtest milch“ (V. 175), „blincken blind“ (V. 184) und „Ward welck“ (V. 184) intensivieren die Schönheitsbeschreibung klanglich. Den exemplarischen Charakter der Darstellung weiblicher Schönheit hebt Lohenstein dagegen durch das Polyptoton: „unsre Cyprie | War aller frauen frau“ (V. 187–188) und die Figura etymologica: „Der augen augen-stern“ (V. 189) hervor. Venus wird als Exemplum weiblicher Schönheit zur Reflexionsfigur poetischer Ästhetik. Programmatisch vollzieht Lohenstein an ihr die Weiterentwicklung der petrarkistischen Metaphorik und erprobt die manieristische Überformung der Schönheitsbeschreibung, die durch die ‚insistierende Nennung‘ der einzelnen Elemente undeutlich wird. Dazu gehört auch die Digression der Darstellung des Venusschiffes, welche die petrarkistischen Preziosen der Schönheitsbeschreibung spiegelt, sodass die Abbildungen des Schiffs und dessen Besitzerin unübersichtlich ineinander übergehen: […] das muschel-schiff/ worinnen Das vordertheil corall/ das hintertheil rubin/ Der mastbaum von smaragd/ das segel carmesin/ Das fähnlein von damast/ das seil aus wurmgespinste/ Das ruder aus saphir/ und alles sonst auffs minste
2.3 Liebe als kosmologisches Prinzip: Venus als Gegenbild des Phaethons
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Gemacht aus perlen war. Der schnecken häußlein war/ Die schoos zugleich/ in der die mutter dich gebahr/ Dein tempel/ dein altar/ dein wagen/ deine wiege/ Dein himmel/ deine burg/ dein schild und helm im kriege/ Dein bette/ ja dein thron/ dein spiegel/ dein gezelt/ Dein garten/ dein gemach/ ja deine gantze welt. (V. 190–200)
Concettistisch überblendet Lohenstein das Muschelschiff mit dem weiblichen Geschlechtsteil (V. 195–196), bevor er im Crescendo einer asyndetischen Reihe von fünfzehn Metaphern, die in der Dihärese „ja deine gantze welt“ (V. 200) mündet, das Bild des Muschelschiffs auflöst. In Lohensteins Darstellung wird Venus zum ästhetischen Kulminationspunkt, zum Spiegel barocker Sprachartistik, der als Nachweis der ästhetischen Erfahrung zum Ende des siebzehnten Jahrhunderts gelten kann. Gerade anhand des Geburtsmythos, den Lohenstein erst in den vier gängigen Varianten schildert, dann allegorisch ausdeutet und hernach amplifizierend mit der Schönheit von Venus verklammert, zeigt sich Lohensteins Selbstverständnis als Dichter, der seine Überlegenheit gegenüber der Antike nicht mehr betonen muss (wie noch Zesen), sondern die überbietenden Aneignungen seiner Vorgänger kunstvoll variiert und steigert. Als poeta doctus – abgesichert durch die autoritäre Venus-Allegorie des Natale Conti, die er überbietend amplifiziert – verbindet er rhetorische Muster der lateinischen Erotik (quinque lineae amoris) mit biblischer Apologetik (Bathseba) und vermag so an die christliche Wendung der epikureischen Affektlehre anzuschließen, die er durch die Lukrez-imitatio im Proömium gedanklich vorbereitet hatte.
2.3 Liebe als kosmologisches Prinzip: Venus als Gegenbild des Phaethons Obwohl eine typologische Einordnung von Lohensteins Venusfigur aufgrund der manieristischen Digressionen, der vielen intertextuellen Verweise und der mythologischen Anspielungen Gefahr läuft, das Deutungsspektrum des mythologischen Kleinepos zu verknappen,529 erhellt die Venusfiguration am deutlichsten anhand einer inventio: Auf der Insel Zypern angekommen, wird Venus’ Schönheit von allen Göttern bewundert und auch Zeus findet so großen Gefallen an ihr, dass
529 Wie etwa bei Moore, Lohenstein’s Venus, S. 56: „and it is definitely Aphrodite Urania, not Pandemos […], who is the heroine of the poem.“
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er sie „für sein kind“ (V. 339) annimmt. Verzückt von ihrer Schönheit verspricht er ihr, „keinen wunsch [zu] verschmähn“ (V. 351). Um sich die ganze Welt zu unterwerfen, bittet Venus ihn daraufhin, die Donnerkeile des Zeus ausleihen zu dürfen (V. 366–422), die sie nachfolgend mit einem Liebestrank versetzt (V. 422–463) und auf die Erde, das Meer und den Himmel niederprasseln lässt. Alle Welt erkrankt an der Liebeskrankheit (V. 463–567), welche Venus mit der Erfindung des Kusses zu heilen weiß (V. 568–670). Die Verlaufsstadien der inventio lassen sich abstrakt als (1) Wunsch an den Vater, (2) Höhenflug, (3) Katastrophe und (4) Heilung beschreiben und spiegeln damit den Verlauf des Phaethon-Mythos. […] Wer weiß/ wie ich erschrocken Mit allen göttern bin/ als das bethörte kind Der sonnen/ an vernunfft/ und am verstande blind/ Auff Titans wagen stieg. Du magst dich an ihm spiegeln; Denn als ihm nicht bewust/ die hengste mit den zügeln Zu hemmen/ schlugen sie die mittel-schrancken aus/ Die wälder wurden brand/ die klippen schutt und grauß. Die brunnen wurden glut/ der schnee ward funck und flammen/ Und hätt ich blitz und keil nicht selbst gerafft zusammen/ Und aus dem wagen ihn gestürtzet in die flut/ So wäre längst das meer verglommen in der glut. Der himmel wäre rauch/ die sternen wären asche. (V. 389–400)
Stark verkürzt referiert Lohenstein den Mythos nach Ovid (Met. I,747–II,400): Phaethon, der als Sohn des Sonnengottes Helios und der sterblichen Mutter Klymene seine göttliche Abstammung beweisen will, wünscht sich von seinem Vater, einen Tag lang den Sonnenwagen führen zu dürfen. Der durch seine Überforderung bedingte Absturz des Sonnenwagens führt zum Weltbrand, den nur Zeus durch einen Donnerschlag, der Phaethon zwar tötet, doch die Welt errettet, löschen kann. Wie Christiane Hansen gezeigt hat, diffundiert der PhaethonMythos „an der Schnittstelle von individueller und kosmischer Katastrophe […] in sehr unterschiedliche Konfigurationen des Scheiterns.“530 Besonders in der frühen Neuzeit – etwa in Georg Wickrams Metamorphosen-Übertragung (1545) – wurde das polyvalente Deutungsspektrum jedoch in euhemeristischer Tradition auf seine moraldidaktische Funktion verengt und als Warnung vor Hochmut und Selbstüberschätzung allegorisiert.531 Mahnend transformiert auch Lohenstein
530 Vgl. Christiane Hansen: Transformationen des Phaethon-Mythos in der deutschen Literatur. Berlin, Boston 2012 (Spectrum Literaturwissenschaft 29), S. 1. 531 Vgl. ebd., S. 51.
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den Phaethon-Mythos, indem er ihn einerseits aus der Perspektive des Göttervaters schildert, der sich selbst als Retter der Welt inszeniert (V. 397–400), und andererseits die heroisierende Grabschrift der ovidischen Version tilgt.532 Dagegen hebt er zugleich die individuelle Ebene des Scheiterns hervor (Zeus diffamiert den Sohn des Sonnengottes als „bethörte[s] kind“ (V. 390), das „an vernunfft/ und am verstande blind“ (V. 391) sei), perspektiviert den Sturz des Sonnenwagens aber auch als kosmische Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes (V. 399–400). Indes markiert Lohenstein den Phaethon-Mythos nicht nur referenziell als Vorlage für seine inventio, vielmehr deutet er die Parallelen auch durch den autoreflexiven Kommentar in der Figurenrede des Zeus voraus: „Du magst dich an ihm spiegeln“ (V. 392). Der Phaethon-Mythos bildet damit eindeutig die Kontrastfolie zu Lohensteins Schilderung. Den Ausgangspunkt der Kontrastierung533 bildet der Wunsch, die göttliche Insignie des Vaters führen zu dürfen, doch Lohenstein parallelisiert seine inventio auch nachfolgend mit dem Phaethon-Mythos. Zunächst überlagert er seine Darstellung des Venuswagens mit der ovidischen Schilderung des Sonnenwagens, indem er den Wagen in ähnlicher Weise mit Preziosen ausstattet: An dem der boden gold/ der bauch aus helffenbeine/ Der spiegel-glatte sitz von alabaster steine/ Die räder aus rubin/ die axt aus perlen war’n. (V. 468–470)534
532 Durch die Grabschrift „Hic situs est Phaethon currus auriga paterni | quem si non tenuit magnis tamen excidit ausis.“ (Ovid, Met. II, 327–328) unterläuft Ovid eine Verurteilung Phaethons, vielmehr heroisiert er ihn, indem er das Wagnis des Menschen hervorhebt, vgl. Hansen, Transformationen des Phaethon-Mythos, S. 31. 533 Angelehnt an die von Aurnhammer, Zum Deutungsspielraum der Ikarus-Figur in der Frühen Neuzeit, S. 143–146, definierte Korrekturform der Mythenallianz, bei der die Handlungsverläufe zweier Mythen überlagert werden, um ihre Semantik zu synthetisieren, schlage ich für die vorliegende Bearbeitungsstrategie den Begriff der Mythenkontrastierung vor. Diese unterscheidet sich einerseits von der Allianz, weil sie streng genommen keine Form der Mythenkorrektur bildet – der vorhandene Mythos wird weder semantisch noch in seiner Handlung korrigiert, während die inventio definitorisch keine Korrektur sein kann. Andererseits wirkt die Kontrastierung nicht durch die Gemeinsamkeiten, sondern durch die Unterschiede der gegenübergestellten mythischen Episoden. 534 Die Nutzung petrarkistischer Motive darf freilich nicht mit Verweisen auf Einzeltexte verwechselt werden; im vorliegenden Kontext scheint die inhaltliche Parallele den Vergleich jedoch zu rechtfertigen, da der Sonnenwagen bei Ovid wie folgt beschrieben wird (die Übersetzung nach: Publius Ovidius Naso. Metamorphosen. In dt. Hexametrer übert. und hg. von Erisch Rösch. Eing. von Niklas Holzberg. 13. Aufl. München, Zürich 1992, S. 51.): Golden die Achse, golden die Deichsel, golden der Räder äußerer Kranz, es strahlt von Silber die Ordnung der Speichen.
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Hernach inszeniert er den Venuswagen sprichwörtlich als zweiten Sonnenwagen: Gleich als der Titan auch das türckis-blaue zelt Der himmels-burg durchmaß. Zwey gläntzende rubinen/ Und zwey Leucothoen/ zwey güldne sonnen schienen Am morgen auffzugehn; der Phöbus spielete Mit seiner strahlen glut durch himmel/ erd und see/ Die Venus aber schlug mit lauter liebes-blitze/ Mit pfeilen ihrer brunst auff ihrem demant-sitze Durch himmel/ erd und meer. (V. 472–482)
Der Höhenflug mündet ebenfalls in eine kosmische Katastrophe: Statt des tatsächlichen Weltbrandes bringt Venus mit der Liebeskrankheit einen metaphorischen Brand auf die Erde. Den Topos der Liebesleiden gestaltet Lohenstein in einer Fülle von petrarkistischen Antithesenpaaren aus, die er chiastisch steigert: „Viel suchten was sie flohn/ und flohen/ was sie funden“ (V. 501) und durch anaphorische Parallelismen intensiviert: „Viel waren kranck und frisch/ und träumten/ wenn sie wachten. | Viel waren lebend tod/ und weinten/ wenn sie lachten“ (V. 504–505). Auch emphatisiert er die Beschreibung der Liebespein durch tautologische Ausrufe: „Umsonst! geh/ fleuch und lauf“ (V. 523) und verzerrt sie durch personifizierende Oxymora: „Es fraß diß süsse weh“ (V. 538). Unverkennbar ruft Lohenstein die petrarkistisch-antinomische Liebeskonzeption auf, die dem Liebenden, ohne dass die Liebeserfüllung in Aussicht steht, trotz eines unüberbrückbaren räumlichen, ständischen und/oder emotionalen Abstand zur Geliebten, ewige Liebe und Treue abverlangt, sich also durch die fingierte Kenntnis der Liebesdame rechtfertigt und deshalb von Niklas Luhmann treffend als Idealisierung beschrieben wurde.535 Mit der überformenden Beschreibung des ‚dulce malum‘ in über siebzig Versen (V. 492–567) bricht Lohenstein die Tragik, die dieser Liebeskonzeption innewohnt, ironisch und suspendiert gleichzeitig die Bewältigungsstrategien (Trauer, Askese und Liebestod): Viel dachten diese pest mit bittern trüben thränen/ Viel mit entäuserung der speisen zu entwehnen; Und als kein kraut nicht halff/ so suchten sie den tod Durch messer/strang und schwerd/ den jammerport der noth (V. 532–535)
Dagegen erfindet seine Protagonistin den Kuss, um der Katastrophe zu lindern. Über das Joch hin zu Reihen gesetzt, Chrysolithe und andre Steine warfen das Licht zurück der leuchtenden Sonne. (Ovid, Met. II, 107–110) 535 Luhmann, Liebe als Passion, S. 51.
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Ein unerhörtes ding in dem smaragden saal Das süße küssen war. Er ward so sehr entzücket/ Als sie die lippen ihm auff seinen mund gedrücket/ Daß er diß neue ding für ein verzuckert gifft/ Und ein bezaubern hielt. Und recht/ sein wesen trifft Mit der beschreibung ein. Wer weiß nicht/ daß durch küssen Die liebes- flammen selbst in hertz und nieren fliessen? Wer weiß nicht/ daß ein kuß mehr als ein feuer sey/ Das iedem gliede fügt absondre regung bey? Ein kuß ist honig-safft/ die saugenden rubinen Der purpur-lippen sind die rosen/ und die bienen/ Ein balsam/ der den mund begeistert und erfrischt/ Daß seele/ blut und hertz sich in einander mischt. Das küssen ist ein thau/ den dürstenden gewächsen Sind warme münde gleich/ die stets nach küssen lechsen Und für begierde glühn. Nun dieses süsse thun Des küssens ließ/ wie vor/ den himmel nicht mehr ruhn: Denn Jupiter nahm wahr/ daß er für seine wunden Durch dieses labsals-kuß ein pflaster hatte funden. (V. 583–601)
Mit der Erfindung des Kusses löst Lohenstein die dilemmatische Situation der Liebeskranken auf und überwindet so programmatisch die Idealisierung, die er zuvor durch die hyperbolische Übersteigerung der petrarkistischen Antithesenpaare ironisiert hatte. Überdies überwindet Lohenstein auch die Paradoxierung, die sich durch die Imagination der Liebeserfüllung rechtfertigt,536 indem er die Erfindung des Kusses onomatopoeisch („saugenden“, V. 592; „dürstenden“, V. 596; „lechsen“, V. 597) realisiert. Dennoch kann von „einer durchgehend panerotischen Verklärung“537 keine Rede sein, schließlich perspektiviert Lohenstein die erfüllte Liebe nicht nur erotisch, sondern auch als Ausdruck zwischenmenschlicher, familiärer Liebe sowie als christlich-eheliche Vereinigung. Die Überformung zum Ausdruck familiärer Liebe ist besonders im Vergleich mit Phaethon ersichtlich, dessen tragischer Tod durch den Absturz auch als Scheitern der Vater-Sohn-Beziehung gedeutet wurde.538 Dagegen kehrt Venus auf den Olymp zurück, unterwirft sich dem Göttervater freiwillig und besiegelt die Vereinigung mit dem Kuss (V. 568–581). Die Deutung des Kusses als legitime körperliche Verbindung zwischen zwei Liebenden erhellt indes über das Motiv der sich vermischenden Seelen, das dem
536 Ebd., S. 57–70. 537 Vgl. Gerhart Hoffmeister: Petrarkistische Lyrik. Stuttgart 1973 (Sammlung Metzler 119), S. 80. 538 Vgl. Hansen, Transformationen des Phaethon-Mythos, S. 28–29.
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pseudo-platonischen Epigramm aus der Anthologia Graeca (5,78)539 entstammt und in zahlreichen poetischen Aneignungen (Michael Marullo, Janus Secundus, Janus Dousa, Daniel Heinsius, Paul Fleming) weiterentwickelt wurde.540 Indes hat auch Marsilio Ficino das Motiv im Zuge seiner Aufwertung der körperlichen Vereinigung funktionalisiert.541 In seinem Platon-Kommentar De amore (1469), das den florentiner Neuplatonismus maßgeblich prägte und im siebzehnten Jahrhundert vor allem in der Rezeption von Athanasius Kircher (1602–1680) fortwirkte,542 heißt es: „Ohne Zweifel geht da etwas wunderbares vor, wo zwei sich in gegenseitiger Zuneigung umarmen: dieser lebt in jenem, jener lebt in diesem. Sie tauschen einander gegenseitig aus: ein jeder gibt sich dem andern hin, um diesen in sich aufzunehmen.“543 Ficino poetisch paraphrasierend, beschreibt Lohenstein den Kuss als „Ein balsam/ der den mund begeistert und erfrischt/ | Daß seele/ blut und hertz sich in einander mischt“ (V. 594–594) und ruft so die christliche Deutungstradition des Kusses auf, die im „Rahmen der Entfaltung des Neuplatonismus erneuert wurde.“544 Besonders gelingt die Transformation des Kusses zum Symbol der christlich-monogamen Gattenliebe jedoch in Verbindung mit dem Motiv der schnäbelnden Tauben: „Die heiligen tauben synd Itzo noch gepriesen“ (V. 608a). Seit der Antike wurde das Schnäbeln der Tauben als Vorspiel der Begattung gedeutet, weshalb Tauben als ständige Begleiter der Venus fester Bestandteil der erotischen Symbolik waren. Gleichzeitig galten sie
539 Vgl. Pseudo-Platon: Flucht der Seelen (Anthologia Graeca 5,78). In: Anthologia Graeca. Bd. 1. Buch I–VI. Mit Namen- und Sachverzeichnis und anderen vollständigen Registern. Hg. von Hermann Beckby. 2. Aufl. Berlin, Boston 2014, S. 99: „Auf den Lippen schon schwebte bei Agathons Kuß mir die Seele; ach die Trunkene kam, überzugehen in ihn.“ 540 Vgl. Die Liste der poetischen Aneignungen bei Beate Hintzen: Sprache der Liebe, Sprache der Freundschaft, Sprache des Glaubens. Zur Interferenz der Diskurse in Paul Flemings Dichtung. In: Was ein Poete kan! Studien zum Werk von Paul Fleming (1609–1640). Hg. von Stefanie Arend, Claudis Sittig. Berlin, Boston 2012 (Frühe Neuzeit 168), S. 159–180, hier S. 166, Anm. 24. 541 Vgl. Thomas Borgstedt: Kuß, Schoß und Altar. Zur Dialogizität und Geschichtlichkeit erotischer Dichtung (Giovanni Pontano, Joannes Secundus, Giambattista Marino und Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau). In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 44 (1994), S. 288–324, hier S. 298. 542 Vgl. Thomas Leinkauf: [Art.] Marsilio Ficino und die Renaissance. In: Platon Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Christoph Horn, Jörg Müller, Joachim Söder. 2. Aufl. Stuttgart 2017, S. 466–476, hier S. 467 und zur Ficino-Rezeption Kirchers: Thomas Leinkauf: Amor in supremi opificis mente residens: Athanasius Kirchers Auseinandersetzung mit der Schrift ‚De Amore‘ des Marsilius Ficinus. Ein Beitrag zur weiteren Rezeptionsgeschichte des Platonischen Symposions. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 43 (1989), S. 265–300. 543 Marsilio Ficino. Über die Liebe oder Platons Gastmahl. Hg. mit einer Einleitung und Anmerkungen von Paul Richard Blum. Hamburg 2014, S. 35–36. 544 Borgstedt, Kuß, Schoß, Altar, S. 294.
2.4 Poetik der Schönheit: Eine Paris-Aktaeon-Synthese
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jedoch als Sinnbild der monogamen Gattentreue,545 vor allem deshalb, weil sie im Hohelied mit Ehepartnern verglichen wurden, was „die christliche Allegorese als Verweis auf die Verbindung zwischen Kirche und Christus als Bräutigam deutet.“546 Eindeutig überlagert Lohenstein die sich in den paganen Lobgesang als Begleiter der Venus fügenden Tauben durch den Zusatz „heiligen“ mit dem christlichen Liebessymbol und kreuzt so die beiden gegensätzlichen Deutungstraditionen, scheint jedoch durch die deiktische Aktualisierung („Itzo“) der christlichen den Vorzug zu geben. Im Spiegel des Phaethon-Mythos, den Lohenstein durch seine inventio kontrastiert, avanciert Venus zur liebesbringenden Heroin, welche die Welt metaphorisch in einen Liebesbrand versetzt, sie aber auch von ihrem Leid erlöst. Besonders durch die Vergeistigung der genuin erotischen Kussmotivik bringt Lohenstein sein Plädoyer für die erfüllte körperliche Liebe in Einklang mit der christlichen, affektfeindlichen Morallehre.
2.4 Poetik der Schönheit: Eine Paris-Aktaeon-Synthese In Lohensteins Rezeption wird das Paris-Urteil zur rechtmäßigen Bestätigung von Venus’ prävalenter Schönheit. Vorfiguriert durch eine Heldenschau elf mythologischer Figuren (V. 695–703), deren äußerliche Vorzüge der Schönheit von Venus sprichwörtlich himmelweit unterlegen sind („sind deinen gaben weit | Noch nicht/ wie mondenschein/ der sonnen zu vergleichen“; V. 703),547 enthebt Lohenstein das Paris-Urteil seiner moraldidaktischen, allegorischen Deutung, die in der Spätantike geprägt wurde und im Humanismus fortwirkte.548 Gegen diese Tradition,
545 Ebd., S. 292–293. 546 Vgl. Adam Lengiewicz: [Art.] Taube. In: Metzler-Lexikon literarischer Symbole. Hg. von Günter Butzer, Joachim Jacob. 2. erw. Aufl. Stuttgart 2012, S. 440–441, hier S. 440. Außerdem zum Einfluss des Hohelieds auf die Kusslyrik im Barock vgl. Thorsten Unger: Barocke Kußgedichte. Weltliche und geistliche Osculogie bei Paul Fleming und Angelius Silesius. In ZfdPh. 123,2 (2004), S. 183–205, besonders S. 197–203. 547 Genannt werden: Athene, Phöbus, Matuta (Göttin des Morgenlichts, vgl. Brancaforte, Lohensteins Preisgedicht Venus, S. 139), Juno, Delia (Artemis), Thetis, Flora, Phöbe (entgegen Brancaforte, Lohensteins Preisgedicht Venus, S. 148, die Phöbe als Beinamen der Artemis einordnet, scheint hier die Titanin Phoibe, Mutter des Apollo und der Artemis gemeint zu sein, da sonst eine Dopplung mit Delia vorliegen würde), Helena, Danae (Mutter des Perseus, vgl. Brancaforte, Lohensteins Preisgedicht Venus, S. 122) und Svada (=Peitho). 548 Vgl. grundlegend Schneider, Paris, S. 551–556, und ferner Hofstetter, Das Parisurteil von der Antike bis Watteau, S. 11–26, hier S. 18–20.
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die Paris’ Entscheidung für die Liebe als Hingabe an die Wollust schmähte,549 wertet Lohenstein das Urteil als Entscheidung für die Schönheit auf. Ein Abgleich mit dem Strukturmodell erhellt, wie Lohenstein seine Korrektur durch subtile Reduktionen des idealtypischen Mythenverlaufs akzentuiert. Während die partielle Reduktion von Paris’ Hirtenleben (Sequenz I,2 – I,4) einerseits seine Liebesbeziehung zu Oenone verschweigt und Paris dadurch vom Vorwurf des Ehebruchs mit Helena entlastet wird, hebt Lohenstein, indem er Hekabe (V. 707) als Mutter von Paris nennt, selektiv die Verbannung des trojanischen Prinzen (Sequenz I,1) hervor, die seinen fehlenden politischen Weitblick im späteren Urteil begründet. Überdies rehabilitiert Lohenstein den mythischen Entscheider, indem er seine passive Rolle im Entstehungsprozess des Urteils aufzeigt: Da der Streit durch den Apfelwurf der Eris auf Thetis’ und Peleus’ Hochzeit (Sequenz II,5) entsteht: „Der zanck/ den Eris schon beym Peleus hat erregt“ (V. 706) und auch die Übertragung des Richteramts (Sequenz II,6) als Fügung des Schicksals beschrieben ist: „den selbst auff Idens wiesen | Du/ Juno/ Pallas euch zum richter habt erkiesen“ (V. 707–708), wird Paris ohne eigenes Zutun zum tragischen Helden. Auch die Bestechungsversuche der Göttinnen (Sequenz II,7) schildert Lohenstein gemäß dem idealtypischen Verlauf, um die Standhaftigkeit des Paris hervorzuheben, die er mit der Inversion im abrupt endenden Zeilensprung: „Wiewohl die Pallas ihn mit weißheit zu bestechen/ | Die Juno mit gewalt und reichthum hat versucht/ | Umsonst“ (V. 712–714) sprachlich vergegenwärtigt. Indes nutzt Lohenstein die partielle Reduktion der dritten Sequenz, die er auf die Zerstörung Trojas verkürzt, nicht, um Paris zu entlasten. Vielmehr bildet die radikale Umdeutung des Untergangs die Pointe seiner Mythenkorrektur, die er kommunikativ hervorhebt: […] Ich lache derer wahn/ Die ihn/ ich weiß nicht wie/ mit was für worten schmähen/ Daß er nicht gold/ noch macht/ noch weißheit angesehen. Schau/ alberner verstand! Hat sie ihn nicht begabt Mit dem/ was Troja nicht/ nicht Phrygien gehabt? Was Sparta groß gemacht/ mit Helena/ dem wunder/ Um derentwegen bloß hernach des krieges zunder Die burg des Assaracs/ das alte königs-hauß/
549 Christine Baro: Wenn Göttergatten Jungfrauen bezirzen. Erotik und ihre Folgen in der moralisierenden Mythenrezeption des Hans Sachs. In: Beiträge der von der GrimmelshausenGesellschaft, der Kulturstiftung und dem Magistrat der Barbarossastadt Gelnhausen veranstalteten Tagung Erotik und Gewalt im Werk Grimmelshausens und im deutschen Barockroman Gelnhausen, 18.–21. Juni 2009. Hg. von Peter Heßelmann. Bern u. a. 2010 (Zugl. Simpliciana 31), S. 377–398, hier S. 393.
2.4 Poetik der Schönheit: Eine Paris-Aktaeon-Synthese
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Des grossen Iliums/ in abgebrannten grauß Und asche hat verkehrt? Was kont er doch nicht schauen An seiner Tyndaris/ der fürstin aller frauen? Gewißlich stimm’ ich hier auch Paris meynung bey: Daß eine schöne frau ein halber himmel sey. (V. 718–730)
Indem sich Lohenstein mit der schmähenden Deutungstradition vertraut zeigt, intensiviert er die Dialogizität, also die Spannung zwischen seiner Korrektur und der moralisierenden Interpretation des Paris-Urteils. Die Apostrophe an den eigenen „alberne[n] Verstand“ (V. 721) suspendiert sodann die rationalistische Deutung, die Paris für die Zerstörung des Vaterlands verantwortlich macht. Hatte Lohenstein den trojanischen Prinzen zunächst durch die selektive Reduktion des idealtypischen Mythenverlaufs entlastet, wertet er nun auch die Zerstörung Trojas paradox im Sinne des Verewigungstopos auf. Denn Paris habe mit Helena diejenige zur Frau bekommen, deren Schönheit ihr selbst, ihrem Liebhaber sowie Sparta und Troja, das Lohenstein in einer dreifachen Parataxe mit zwei Antonomasien („Die burg des Assaracs/ das alte königs-hauß |Des grossen Iliums“, V. 725–726) pleonastisch umschreibt, zum ewigen Nachruhm gereicht. Damit erhöht er einerseits Helenas Schönheit und glorifiziert Paris’ Entscheidung für Helena, andererseits mildert er Paris’ Schuld, indem er Helenas Schönheit und nicht Paris’ Entscheidung für Helena als Grund für den Trojanischen Krieg anführt: „mit Helena/ dem wunder/ | Um derentwegen bloß hernach des krieges zunder“ (V. 723–724). Als Gegenentwurf zu dämonisierenden Deutungen der Helenafigur wirkt Lohensteins Korrektur des semantischen Mythenkerns aber nicht, weil er die Schuld von Paris auf Helena umlagert, sondern dadurch, dass er Helenas Schönheit, und die dadurch entstandene Liebe als legitimen Grund für den Krieg sowie für den Verrat und die Zerstörung des Vaterlandes anerkennt.550 Aus dieser Korrektur des Paris-Urteils entwickelt Lohenstein eine Argumentation, welche die Schönheit zu einer produktiven Inspirationsquelle erhebt. In einer asyndetischen, teils anaphorisch gesteigerten Enumeratio von 21 antithetischen Metaphern (V. 753–770) beschreibt Lohenstein das dionysisch-apollinische Wirkungspotential der Schönheit, das zwischen Besänftigung („Die mord-lust sänfftiget“, V. 765) und Weltzerstörung („Die städte baut und bricht/ die kronen trägt und schlägt/ | Und gantzer länder brand durch einen blick erregt“, V. 769– 770) oszilliert. Diese bipolar ausgerichtete Schönheitskonzeption liegt der Liebe zugrunde. Folglich ist alles, was durch Liebe bedingt wird, auf das Streben nach Schönheit zurückzuführen, denn Venus ist nicht nur die Liebesgöttin, sondern
550 Zur Helena-Rezeption vgl. Schneider, Helena, S. 308–317, besonders S. 312.
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auch die Königin der Schönheit: „Kan diß die schönheit thun? Was würde sie erst stifften | Die schönheits-königin?“ (V. 771–772). Obgleich die Enumeratio durchaus das rasende und das ordnende Potential der Schönheit vergegenwärtigt, schließt Lohenstein die rein zerstörerische Kraft der Schönheit aus dem Wirkungsbereich der Venus durch eine AktaeonKorrektur aus. In der wohl wirkungsmächtigsten Schilderung von Ovid (Met. III, 138–255), die zugleich die vollständigste Version des Mythos bietet, ist Aktaeon ein leidenschaftlicher Jäger, der bei Streifzügen durch den Wald zufällig Artemis, ihres Zeichens Göttin der Jagd und der Keuschheit, nackt beim Baden erblickt. Als Strafe für das voyeuristische Vergnügen am Anblick der nackten Göttin und um zu verhindern, dass Aktaeon von der Begegnung berichten kann, verwandelt Artemis den Jüngling in einen Hirsch, der von seinen eigenen Jagdhunden nicht wiedererkannt und zerfleischt wird. Zur Mythenallianz mit dem Paris-Urteil eignet sich der Aktaeon-Mythos besonders, weil die Konfrontation mit göttlicher Schönheit beide Protagonisten ins Verderben stürzt. Während der Aktaeon-Mythos in seiner Rezeptionsgeschichte551 einerseits funktionalisiert wurde, um die Kontingenz der menschlichen Existenz vor Augen zu führen, andererseits aber auch ekphrasisch-ästhetisch gewendet wurde, zentriert Lohenstein den dritten rezeptionsgeschichtlich relevanten Aspekt des Aktaeon-Mythos, die Keuschheit der Artemis bzw. die Strafe für den Verstoß gegen die Keuschheit, deren ambivalente Bewertung bereits bei Ovid zur Geltung kam.552 Lohenstein wendet sich indes gegen die grausame Bestrafung des Aktaeon: Wiewohl sie [Venus] nicht so stoltz und schädlich/ wie ich meyn’/ Als die Diana dort/ im bade würde seyn/ Die des Actäons kopff (wiewohl sie es beschönte Mit des gestrafften schuld) mit hirschgeweyhen krönte/ Daß kein geheimniß nicht von ihr würd’ offenbahrt/ Weil er vielleicht an ihr der mängel innen ward. Nein Venus dürffte sich wohl nackend lassen sehen/ (V. 781–787)
551 Die im Folgenden vorgestellten drei relevanten Aspekte der Aktaeon-Rezeption nach: Maria Moog-Grünewald: [Art.] Aktaion. In: Der Neue Pauly. Supplemente Bd. 5. Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. von Maria Moog-Grünewald. Stuttgart, Weimar 2008, S. 43. 552 Vgl. Ovid, Met. III, 253–255: Rumor in ambiguo est: aliis viplentior aequo visa dea est, alii laudant dignamque severa virginitate vocant: pars invenit utraque causas.
2.4 Poetik der Schönheit: Eine Paris-Aktaeon-Synthese
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Mit dem Vergleich von Venus und Artemis synthetisiert Lohenstein die mythischen Voyeurszenen des Paris-Urteils und des Aktaeon-Mythos, um Artemis’ Unbarmherzigkeit antithetisch von der Sanftmütigkeit der Venus abzugrenzen. Dabei löst Lohenstein die Begründung der gewaltvollen Strafe – das verletzte Schamgefühl der Artemis und ihre gedemütigte Keuschheit – im Concetto „Weil er vielleicht an ihr der mängel innen ward“ (V. 786) auf: Nicht ihre Keuschheit, sondern ihre Eitelkeit sei der wahre Grund für die Strafe Aktaeons gewesen. Dadurch nobilitiert Lohenstein einerseits Aktaeon, der dem ungerechten Zorn einer Göttin zum Opfer fiel, andererseits jedoch auch die Venus, deren Schönheit die der Artemis übertrifft und besonders im Vergleich mit der Keuschheitsgöttin als unbefleckt und tugendhaft erscheint. Folgerichtig vereint Lohensteins Venus Wollust und Tugend: […] So wenig als ein kreyß Ist ohne mittel-punct/ so wenig schnee und eiß Kan ohne kälte seyn/ die sonne sonder leuchten/ Der himmel ohne stern/ der regen ohne feuchten. Das feuer ohne brand/ der mittag ohne licht/ So wenig kan ein schön und wolgestalt gesicht Auch ohne tugend blüh’n. (V. 809–815)
Mit der asyndetisch-parataktischen Reihung paradoxaler Analogien hebt Lohenstein seine bipolare Schönheitskonzeption nochmals hervor, um sie nachfolgend poetologisch aufzuladen. Denn Venus ist nicht nur die Schönste, sondern auch der Ursprung alles Schönen: „Noch mehrers: du kanst stifften/ | Daß frische schönheit wächst aus hartem stein und grüfften“ (V. 835–836). Dies zeigt Lohenstein zunächst an Phaon: „Wer dencket nicht daran/ […] | Von wannen Phaon hat die schönheit her bekommen“ (V. 838–840)553 und Pygmalion: „Hier ist Pygmalion/ der ihr es zeugniß giebt“ (V. 861), welche die Inspirationskraft der Schönheit im mythologischen System bestätigen. Darüber hinaus weitet er das Schöpfungspotential der Schönheit jedoch auch auf alle Kunstgattungen aus. Dazu gehört die Musik, die Lohenstein metonymisch umschreibt, bevor er ihre Wirkungskraft in einer erneuten asyndetisch-parataktischen Reihung von teils zeugmatisch verklammerten Antithesenpaaren darstellt:
553 Phaon war ein Liebhaber der Venus, der auffällige Ähnlichkeiten mit Adonis aufweist, vgl. Gratia Berger-Doer: [Art.] Phaon. In: Lexicon iconographicum mythologiae classicae. Bd. 7. Oidipous – Theseus. Hg. von Nikolaos Yalouris. Zürich u. a. 1994, S. 364–367.
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Das süsse spiel der saiten/ Die sorgen-tödterin/ der sporn der fröligkeiten/ Die linde zauberey/ die einen hurtig macht/ […] und einen rückweg weist Ans tage-licht der welt aus der beschwärtzten höllen; Die edle freuden-kunst/ die wetter/ wind und wellen Durch sanfften hall beherrscht; der harffen heller klang/ Der lauten künstlich spiel/ der flöten kunstgesang/ Sind deiner sinnen werck/ und deine lust-geschencke; (V. 920–940)
Auf den Orpheus-Mythos anspielend, „einen rückweg weist | […] aus der beschwärtzten höllen“ (V. 935–936), unterstellt Lohenstein der Liebe die reinkarnative Macht der Musik. Überdies entspringe neben der Malerei auch die Poesie aus der Liebe: Wißt auch/ die weißheits-träume Sind nicht die mißgeburt der grünen lorbeer-bäume; Es hat kein pferde-brunn/ kein hippocrenen-safft/ Kein sterbender gesang der schwanen/ eine krafft Zu flössen in das haupt die ader und die gabe Der edlen poesie; daß aber lieben habe Das lieder-dichten uns am ersten unterricht/ Darff besseren beweiß/ als die erfahrung/ nicht. Legt der poeten sinn zusammen auff die wage/ Nicht einer ist/ der nicht zum lieben liebe trage: Dem Naso pflantzt die brunst die kunst des dichtens ein/ Wie soll die poesie denn nicht die tochter seyn? Soll ich den ursprung denn auch ihrer schwester weisen/ Der mahlerey; (V. 992–1005)
Durch die korrigierende Negation, die den mythologischen Musenquellen Aganippe und Hippokrene sowie dem Lorbeerbaum ihre Inspirationskraft abspricht, kann Lohenstein seine poetologische Aufwertung der Liebe entfalten, am Beispiel des Dichtervorbilds Ovid induktiv nachweisen554 und auf die Malerei übertragen. Die aus der Aufwertung des Paris-Urteils entwickelte Argumentation, der eine Schönheitskonzeption zugrunde liegt, durch deren dionysisches-apollinisches Wirkungspotential sich die Liebe begründet und welche die Liebe als Ausgangspunkt jeden künstlerischen Schaffens ausweist, erhellt Lohensteins Dissimilation
554 Vgl. Kohl, Poetologische Metaphern, S. 334–335, die jedoch fälschlicherweise die Poesie als Tochter des Ovids liest.
2.5 Psychologisierung der Liebe
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vom horazischen Diktum ‚prodesse et delectare‘, das Lohenstein im Sinne einer ästhetischen Erfahrung auf das Erfreuen reduziert. Denn der ausgewiesene Ausgangspunkt der Kunst ist im Umkehrschluss ebenfalls ihr Ziel. Folglich zielt Lohensteins Dichtung primär – dies zeigen nicht zuletzt die zahlreichen und repetitiven stilistischen Überformungen einzelner Passagen – auf ästhetische Vollkommenheit.
2.5 Psychologisierung der Liebe Die Liebschaft von Venus und Mars wurde besonders im Dreißigjährigen Krieg in der Hoffnung eines zeitnahen Friedensschlusses allegorisch als Sieg der Liebe über den Krieg gedeutet.555 Im Geiste von Fulgentius’ Mythologiae (2,7), der Venus als personifizierte weibliche Korruption der männlichen Tugenden gedeutet hatte, diente die christlich-moralische Allegorese des mythologischen Ehebruchs jedoch auch der Dämonisierung der paganen Götter, welche die Verfasser christlicher Poetologien zugunsten von biblischem Traditionsgut aus den zeitgenössischen Dichtungen verbannt wissen wollten.556 Lohenstein wendet den Ehebruch dagegen erotisch. In einem Passus von knapp 350 Versen (V. 1161–1509) führt er Mars zunächst als Beispiel für Venus’ Überlegenheit gegenüber den anderen Göttern an: „Zu wissen/ was für krafft der Venus geist erreget | Der schau den zweykampff an/ und jenen großen tag/ | Als der geharnschte Mars zu ihren füssen lag“ (V. 1161–1164). Ein Exkurs, der ihre Dominanz auch am Menschen exemplifiziert (V. 1165–1324), präludiert die Aktbeschreibung und die daraus entwickelte naturphilosophische Legitimation der körperlichen Liebe (V. 1325–1509). Die Szene, in der das Paar von Vulcanus bloßgestellt wird, liefert Lohenstein dagegen erst in der Erzählung der Venus-Adonis-Episode nach (V. 1530–1535) und entkoppelt die Liebe zwischen Venus und Mars somit von der Ehebruchszene. Besonders im Abgleich mit dem Strukturmodell wird augenfällig, dass Lohenstein die Vorgeschichte (Sequenz I, Ehe von Venus und Vulcanus) zugunsten einer Amplifikation des Sexualakts (Sequenz II,4) tilgt und die erfüllte Sinnlichkeit pointiert, indem er einerseits die vermeintliche moralische Schelte (Sequenz II, 5–6) in stark verkürzter Form hintenanstellt und andererseits die Konsequenzen des Ehebruchs (Sequenz II, 7–8) reduziert.
555 Vgl. Witthaus, Ares, S. 132–139, besonders S. 132–136. 556 Vgl. Berns, Gott und Götter, S. 40–47.
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Die strukturelle Distanz verdeutlicht, dass die Liebesszene nicht der moralischen Verurteilung der Untreue dient, obgleich der Ehebruch in einer humoristischen Variante, nämlich als Gegenbeweis zur Jungfräulichkeit der Venus, verspätet angedeutet wird (V. 1530–1535). Vielmehr legitimiert der Liebesakt exemplarisch die erfüllte Sinnlichkeit, die Lohenstein im Rahmen der VenusMars-Episode auch für den Menschen beansprucht. Dies erhellt ein Zitat aus der Anthologia Graeca, mit dem Lohenstein die Liebschaft von Venus und Mars einleitet: […] Wer ferner liebe träget Zu wissen/ was für krafft der Venus geist erreget/ Der schau den zweykampff an/ und jenen grossen tag/ Als der geharnschte Mars zu ihren füssen lag/ Bezwungen ohne schwerdt. Als sie die donner-keile Dem götter-fürsten nahm/ dem Cynthius die pfeile/ Die ruthe dem Mercur/ dem Bachus seinen krantz/ Alciden seinen spieß/ der Hecate den glantz/ Die gabel dem Neptun. […] (V. 1160–1168)
Diese Szene, in der die Götter ihre Insignien der Venus zu Füßen legen, ist frei nach Philippus (Anthologia Graeca, 16,215) übersetzt.557 Während Lohenstein die Ordnung der angeführten Götter variiert, bildet er das Epigramm mit der asyndetischen Reihe, die durch das Zeugma verklammerte ist, formal exakt nach. Dies lässt sich über einen intratextuellen Verweis auf einen Reyen im zweiten Akt von Lohensteins Sophonisbe (Akt II, V. 461–482) erhärten. In den Anmerkungen weist Lohenstein den Reyen als Variation von Philippus Epigramm aus, indem er das griechische Original zitiert und eigens übersetzt:
557 Vgl. Moore, Critical edition of Lohenstein’s Blumen, Geistliche Gedancken, and Venus, Bd. III, S. 589. Das Gedicht von Philippus lautet in der Übersetzung von Herman Beckby: Wie die Eroten, o sieh, den Olympos geplündert! Sie legen im Triumphe die Wehr ewiger Götter sich um, eignen den Bogen Apolls, den Blitz des Kroniden, des Ares Schild und Harnisch und Helm, Herakles’ Keule sich an, schleppen Poseidons dreizackigen Speer, den Thyrsos des Bakchos, Hermes’ geflügelten Schuh, Artemis’ Fackeln davon… Grämt euch, ihr Sterblichen, nicht, vom Geschoß der Eroten zu fallen! Gaben nicht Götter sogar ihnen die Waffen heraus? Vgl. Philippus: Anthologia Graeca 16, 215. In: Anthologia Graeca. Bd. 4, Buch XII–XVI. Mit Namen- und Sachverzeichnis und anderen vollständigen Registern. Hg. von Hermann Beckby. 2. Aufl. Berlin, Boston 2014, S. 419.
2.5 Psychologisierung der Liebe
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Die Liebe hat den Schmuck des Himmels angezogen/ Und in den schönen Raub der Götter sich gehüllt. Sie nam dem Zeus den Keil/ dem Phoebus Pfeil und Bogen Alciden seinen Spiß/ dem KrigsGott Helm und Schild. Die Gabel dem Neptun/ dem Bachus seine Lantze/ Die Flügel dem Mercur/ Dianen Horn und Glutt. Wie sol nun nicht der Mensch für ihrer Waffen Glantze Sich scheuen/ da kein Geist ihr in der Welt was thut.558
Während die Unterwerfungsszene eindeutige Parallelen im Aufbau zeigt, bilden die wörtlichen Übernahmen „Alciden seinen spieß“ (V. 1167) und „Die Gabel dem Neptun“ (V. 1168) markante Zitate, die intratextuell den Bezug zu Philippus Epigramm nachweisen. Den amor-vincit-omnia Topos variierend demonstriert das Epigramm die Macht der Liebe über alle Götter und exkulpiert somit die sich der sinnlichen Liebe hingebenden Menschen. Lohenstein erweitert die Reihe der sich unterwerfenden Götter durch „Ceres“ (V. 1182), Bacchus („Der wein-gott“, V. 1183), Flora („Die erden-mahlerin“, V. 1188) und die Grazien („Die hold-göttinnen“, V. 1194) und überführt die Besitznahme auch auf Menschen: Will Roselinde denn noch worte beygesellen/ Daß aus den lippen ihr die süssen reden qvellen/ Und folget überdiß ein feuchter zucker-kuß/ So ist kein kiesel nicht der sie nicht lieben muß (V. 1202–1205)
Graduell nimmt die Mittelbarkeit Lohensteins Darstellung der Liebesmacht ab. Ausgehend von der abstraktesten Form, über Liebe zu sprechen – durch die Rezitation eines allegorischen antiken Epigramms –, verringert er die Mittelbarkeit durch die erklärende Amplifikation desselben. Indirekt beantwortet er die schließende rhetorische Frage „Gaben nicht Götter sogar ihnen die Waffen heraus?“ (Philippus, 16,216, V. 8), indem er die Unterwerfung weiterer Götter in präziseren Details berichtet und so die Allegorie erweitert. Ferner steigert er die Unmittelbarkeit dadurch, dass er von der Allegorie zur konkreten Schilderung menschlicher Liebesleiden übergeht. Doch auch dabei beginnt er mit abstrakten Vergleichen, die er sukzessiv abschwächt, indem er Erzählertext und Figurentext annähert.559
558 Vgl. Daniel Casper von Lohenstein. Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. II. Dramen. Bd. 3. Ibrahim Sultan. Sophonisbe. Teilbd. 1. Text. Hg. von Lothar Mundt. Berlin, Boston 2013, S. 626, V. 711–718. 559 Die narratologische Terminologie von Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. 2. Aufl. Berlin, New York 2008, S. 151–156, die zwischen Erzählertext und Figurentext unterscheidet, scheint besonders im vorliegenden Fall eine trennscharfe Analyse zu ermöglichen, die der sukzessiven
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Dazu tragen hauptsächlich die in indirekter Rede vorgetragenen Imperative bei, durch die Lohenstein einen inneren Monolog darstellt: Kein wind soll nicht hinzu/ Kein west soll sie nicht an- als seine seuffzer wehen. Kein scheeler stern soll nicht sein liebes lieb ansehen. (V.1245–1247)
Und schließlich geht Lohenstein dazu über, die Gefühlsregungen in einem 27 Verse umfassenden inneren Monolog (V. 1258–1284) wiederzugeben.560 Dieser ist, wie Achim Aurnhammer nachgewiesen hat, dem petrarkistischen Mustersonett von Martin Opitz (Francisci Petrarchae, 1620) nachgebildet,561 wobei besonders die zitierte Pointe des Sonetts den intertextuellen Bezug markiert: Ists lieben? Liebe wird sich selber ja nicht hassen. Ists haß? Haß wird uns wohl nicht so vereinigt lassen. Ists hitze? freurt mich doch. Ists kälte? mir ist heiß. Ich weiß nicht/ was ich will/ ich will nicht was ich weiß! (V. 1266–1269)562
Lohenstein eignet sich das schließende Reimpaar des Sonetts an, indem er „die abstrakte Antimetabole dem antithetischen Temperaturvergleich nachordnet.“563 Während bei Opitz die Antimetabole jedoch das pointierte Ende des Sonetts bildet, steht sie bei Lohenstein etwa in der Mitte des inneren Monologes, den er durch teils epanaleptische Ausrufe: „Nein! Nein!“ (V. 1263) und „thörichter!“ (V. 1279) drastisch emphatisiert und seine Vorlage dadurch übertrifft. Überdies bildet Lohenstein den assoziativen Gedankenstrom pleonastisch („Ich bin begarnt/ bestrickt“, V. 1279) und durch in Anadiplosen verschränkten (redupli-
Senkung der Mittelbarkeit gerecht wird, weil durch sie auch der nuancenreiche Unterschied zwischen innerem Monolog in Erzählertext und innerem Monolog beschrieben werden kann. 560 Dane, Christlicher Epikureismus, S. 125, beschreibt den inneren Monolog, vermutlich in Bezug auf Mieke Bal: Narratology. Introduction to the Theory of Narrative. Toronto u. a. 1988, als „interne Fokussierung“. 561 Vgl. Aurnhammer, Opitz’ petrarkistisches Mustersonett, S. 208 sowie Dane, Christlicher Epikureismus, S. 125, leider ohne Kenntnis des so aufschlussreichen Aufsatzes von Aurnhammer. 562 Bei Opitz lautet das beschließende Reimpaar des Sonetts: „Ich weis nicht was ich will/ ich wil nicht was ich weis: | Im Sommer ist mir kalt/ im Winter ist mir heiß.“ Vgl. Martin Opitz: Francisci Petrarcae (1620). In: Martin Opitz. Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 2/2. Die Werke von 1621 bis 1626. Hg. von George Schulz-Behrend. Stuttgart 1979 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 301), S. 703, V. 13–14. 563 Aurnhammer, Opitz’ petrarkistisches Mustersonett, S. 209.
2.5 Psychologisierung der Liebe
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zierten) Figura etymologica mimetisch ab und senkt die Mittelbarkeit dadurch auf ein Minimum: Ich bin nach kranckheit kranck/ und will doch nicht erkrancken; Was ists denn/ das mich kränckt? sinds nichtige gedancken? Ich denck ja allezeit nicht mehr zu dencken dran? (V. 1270–1272)
Durch den erzähltechnischen Perspektivenwechsel und die graduelle Steigerung der Unmittelbarkeit wird die Beschreibung der Liebe einerseits dramatisiert, andererseits jedoch besonders in Abgrenzung des Opitz-Zitats auch psychologisiert. Am Beispiel des Opitz’schen Mustersonett überwindet Lohenstein sowohl die von Niklas Luhmann als Idealisierung beschriebene Liebeskonzeption als auch die Paradoxierung,564 denn im Zentrum der Liebesklage steht der Liebende selbst, der seine Gefühlslage sprachlich realisiert. Besonders die letzte Emphase vor dem Tod des Liebenden: „Ich liebe!“ (V. 1284) verweist auf die Zentrierung der eigenen Individualität, die nicht notwendigerweise mit Autonomie gleichgesetzt werden kann,565 aber die Erfahrbarkeit von Individualität andeutet. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die Aufwertung des Liebesaktes zwischen Venus und Mars angemessen interpretieren, den Lohenstein bildhaft ausgestaltet. Als der Kriegsgott die Venus ins Bade steigen sieht, entledigt er sich seiner Waffen: […] Weg harnisch/ helm und schwerd! Sie sind nun sperlingen zu nestern unverwerth. Ihr tauben möget wohl in meinem helme brütten/ Mein spieß mag immerfort von kindern seyn beritten/ Der lantze hab’ ich satt/ ein ander nehme dich/ Ich liebe liebes-krieg. Hierauff begab er sich ZurVenus in das bad. (V. 1332–1338)
Dem lateinischen Stufenmodell der quinque lineae amoris folgend vollzieht Lohenstein am mythologischen Beispiel die Liebeserfüllung nach. Dabei vertauscht er die erste Stufe, den Blick (visus): „der augen-thron der bogen | Hier kömmt an statt des pfeils ein liebes-blick geflogen“ (V. 1346–1347) mit der zweiten, dem colloquium
564 Luhmann, Liebe als Passion, S. 51–52. 565 Luhmann beschreibt die dritte Stufe des Codes, durch den Liebe abgebildet werden kann als Reflexion von Autonomie. Trennschärfer ließe sich der Code unterscheiden, wenn eine weitere Stufe, die Reflexion von Individualität als Vorstufe der Reflexion von Autonomie eingeführt würde.
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(der Rede): „Die rede ists geschoß“. Es folgt das basium (der Kuss): „Die lantze/ die man hier muß werffen/ ist ein kuß“ (V. 1348) und der tactus (die Berührung): „Der platz/ worauff sie [die Waffen] schlagen | Ist eine nackte schooß“ (V. 1351– 1352), wobei das Verb ‚schlagen‘ frivol die Doppeldeutigkeit des Kampfes und der aufeinanderprallenden Schenkel vorausdeutet. Das Finale bildet der coitus, der jedoch nicht als hedonistische Hingabe, sondern als reproduktiver Akt perspektiviert wird: „Die frucht/ um welche man das gantze treffen hält | Kommt nach neun monden erst vollkommen auf die welt“ (V. 1360–1361). Der vorgebrachte Aspekt der Fortpflanzung sowie die Darstellung der „verschämte[n] braut“ (V. 1357), die nach der Entjungferung keusche Tränen vergießt (V. 1358), begrenzt die erotische Schilderung auf einen christlich-ehelichen Rahmen.
2.6 Rezeption von Marinos L’Adone (1623) Neben William Shakespeares Venus and Adonis (1593) und Jean de La Fontaines (1621–1695) Adonis gehört das monumentale Versepos L’Adone (1623) des stilprägenden italienischen Barockdichters Giambattista Marino (1569–1625)566 zu den maßgeblichen lyrischen Adonis-Rezeptionen im europäischen Barock. In dem über 40.000 Verse umfassenden Gedicht hatte Marino den mythischen Stoff aus zahlreichen Quellen kompiliert, ergänzt und neu bearbeitet.567 Aufgrund von Marinos Popularität im deutschen Barock568 wurde L’Adone häufig als Quelle für 566 Zum Einfluss Marinos vgl. Klaus Ley: Marinismus – Antimarinismus. Zur Diskussion des Stilproblems im italienischen Barock und zu ihrer Rezeption in der deutschen Dichtung. In: Europäische Barock-Rezeption. Hg. von Klaus Garber. Bd. 2. Wiesbaden 1991 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 20), S. 857–879. Die Besonderheiten des literarischen Manierismus, der entscheidend von Marino geprägt und im frühen 18. Jahrhundert als „Schwulst“ oder „Bombast“ abgetan wurde, beschreibt umfassend und grundlegend Manfred Beetz: Rhetorische Logik. Prämissen der deutschen Lyrik im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert. Tübingen 1980 (Studien zur deutschen Literatur 62), S. 209–245. Die Frühaufklärerische Kritik erörtert aufschlussreich Peter Schwind: Schwulst-Stil. Historische Grundlagen von Produktion und Rezeption manieristischer Sprachformen in Deutschland. 1624–1738. Bonn 1977 (Abhandlungen zur Kunst-, Musikund Literaturwissenschaft 231), S. 205–258. 567 Vgl. die überaus detaillierte und materialreiche Studie von Helga Grubitzsch-Rodewald: Die Verwendung der Mythologie in Giambattista Marinos „Adone“. Wiesbaden 1973 (Mainzer romanistische Arbeiten 9), besonders S. 141–146. Dort werden die Bearbeitungsstrategien Marinos in (1) Kontamination, (2) Intensivierung, (3) Extension, (4) Interpretation, (5) Adaption und (6) Dissoziation und Integration zusammengefasst. 568 Vgl. z. B. zur Marino-Rezeption bei Christian Hofmann von Hoffmannswaldau Noack, Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616–1679), der in Marino Hoffmannswaldaus „wichtigstes Vorbild“ (S. XII) sieht und den Einfluss Marinos besonders für die frühen Hochzeitskarmina
2.6 Rezeption von Marinos L’Adone (1623)
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Lohensteins Venus angenommen, bisher sind dafür jedoch nur spärliche Hinweise geliefert worden.569 Wie nachfolgend gezeigt werden soll, bildet der dritte Gesang von Marinos epochalem Großgedicht (L’Adone III, 15–125)570 jedoch die Vorlage für Lohensteins Adonis-Rezeption. Dies erhellt zunächst aus der parallelen Handlungsführung. Wie bei Marino treiben Venus und Cupido auch bei Lohenstein miteinander ein scherzhaftes Spiel zwischen Ernst und Spaß. Dafür, dass Cupido so viele Götter und Menschen und auch Venus mit seinen Liebespfeilen gepeinigt hat, will Venus ihren Sohn bestrafen. Als sie ihn zu sich lockt, rammt er ihr einen Liebespfeil in die Brust, der ihre Liebe zu Adonis entfacht. Als Diana verkleidet macht sie sich auf die Suche nach Adonis und verletzt sich in ihrer Eile den Fuß an einer Rose. Als sie den schlafenden Adonis findet, lässt sie ihm durch Morpheus ein Traumbild von ihrer Schönheit eingeben und weckt ihn mit einem Kuss, um sich mit ihm zu nachweisen kann, ebd. S. 203–208. Ferner listet Alberto Martino: Die italienische Literatur im deutschen Sprachraum. Ergänzungen und Berichtigungen zu Frank-Rutger Hausmanns Bibliographie. Amsterdam, Atlanta 1994 (Chloe 19), Marino-Übersetzungen von Lohenstein (S. 424) Christian Hölmann (S. 425) und Hans Aßmann von Abschatz (S. 426) auf. Frühere, aber immer noch maßgebliche Studien zur deutschen Marino-Rezeption im Barock sind: Hedwig Geibel: Der Einfluß Marinos auf Christian Hofmann von Hoffmannswaldau. Greifswald 1938 (Gießener Beiträge zur deutschen Philologie 63), vor allem aber Severino Filippon: Il marinismo nella letteratura tedesca. In: Rivista di letteratura tedesca 4 (1910), S. 3–128. Zu Ähnlichkeiten zwischen Marinos L’Adone und Lohensteins Preisgedicht vgl. ebd., S. 63–67. 569 Brancaforte, Lohensteins Preisgedicht Venus, S. 210, konnte sprachliche Ähnlichkeiten kenntlich machen und Aurnhammer, Opitz’ petrarkistisches Mustersonett, S. 208–209, hat nachgewiesen, dass Lohenstein das petrarkistische Mustersonett Francisci Petrarchae (1620) von Martin Opitz im Filter Marinos rezipiert. Die von Johnson, Dramatic Structure in Lohensteins Venus, S. 81–82, angekündigte Studie zur Rezeption Marinos in Lohensteins Venus ist m. W. nie erschienen. Besonders bei Dane, Christlicher Epikureismus, S. 121, bleibt der Bezug zu Marino und auch die Folgerung spekulativ: Einerseits benennt sie Marinos L’Adone ohne Nachweise als Vorlage Lohensteins, andererseits lehnt sie die inhaltliche Abhängigkeit Lohensteins ab, denn während Marino Venus in eine Marienfigur transformiere, würde man „dergleichen […] bei Lohenstein vergeblich suchen.“ Dass Lohenstein das Versepos von Marino kannte, ist indes über Lohensteins Stellenapparate zu seinen Schauspielen Cleopatra (erste Fassung von 1661) und Anagrippa nachweisbar, in denen er das Epos mit Quellenangaben zitiert, vgl. Daniel Casper von Lohenstein. Sämtliche Werke. Abt. II. Dramen Bd. 1/1. Ibrahim (Bassa), Cleopatra (Erst- und Zweitfassung). Text. Hg. von Lothar Mundt. Berlin 2008, S. 320 sowie Daniel Casper von Lohenstein. Sämtliche Werke. Abt. II. Dramen Bd. 2/1. Agrippina. Epicharis. Text. Hg. von Lothar Mundt. Berlin 2005, S. 166–167. 570 Darauf verweist bereits Filippon, Il marinismo nella letteratura tedesca, S. 65, der jedoch die Bearbeitung von Lohenstein als plagiierende Imitation herabsetzt: „Tutto in questa lunga narrazione: situazioni, frasi, è plagiato dal Canto III del poema mariniano.“ Ebd., S. 65. Anm. 2. Die nachfolgenden Zitate und Zeilenangaben beziehen sich auf Giovan Battista Marino: Adone. Hg. von Giovanni Pozzi. 2. Bde. Mailand 1988 (Classici 52).
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2 Venus-Synthesen in Daniel Casper von Lohensteins Venus (1695)
vereinigen. Die strukturellen Gemeinsamkeiten werden durch die nachstehende Tabelle augenscheinlich.571
Handlung
Marino (Canto, Stanze)
Lohenstein
Venus spielt mit Cupido
III, 15–45
V. 1541–1592
Absichtlich entfacht Cupido die Liebe
III, 46
V. 1592–1602
Venus verkleidet sich als Diana und verletzt sich an der Rose
III, 47–67
V. 1602–1617
Venus weckt Adonis durch einen Kuss
III, 68–101
V. 1618–1652
Sie bittet ihn, den Fuß zu verbinden; Liebesvereinigung
III, 102–125
V. 1652–1704
Lohenstein bietet eine konzise imitatio Marinos, in der er die ausschweifende, 110 Stanzen (880 Verse) umfassende Erzählung auf 150 Verse komprimiert und dabei zwei markante Neuerungen des italienischen Vorbilds übernimmt. Mit der vorangestellten Verletzung des Fußes, welche die Umfärbung der Rose bedingt, adaptiert Lohenstein die von Marino so kunstvoll eingeführte, symbolische Verwundung des Körpers, die den metaphysischen Liebesschmerz komplementiert und vorausdeutet.572 Ferner übernimmt Lohenstein auch eine Modifikation der ovidischen Schilderung des Adonis-Mythos. Denn bei Ovid sticht Amor seine Mutter unabsichtlich mit dem Liebespfeil: „Namque pharetratus dum dat puer oscula matri,|inscius exstanti destrinxit harundine pectus.“ 573 Bei Lohenstein, der offensichtlich Marino übersetzt, wird Venus dagegen absichtlich von ihrem Sohn mit einem Liebespfeil verletzt:574
571 Die Gliederung des dritten Cantos übernehme ich von Grubitzsch-Rodewald, Verwendung der Mythologie in Marinos Adone, S. 255. 572 Vgl. Grubitzsch-Rodewald, Verwendung der Mythologie in Marinos Adone, S. 44. Auch Clemens Heselhaus, Metamorphose-Dichtungen, S. 140, hat auf den Unterschied zwischen Lohenstein und Ovid aufmerksam und hat auf Marino als Mittelsmann verwiesen, allerdings ohne Belege dafür anzuführen. 573 Vgl. Ovid, Met. X, 525–526. 574 So auch schon Moore, Lohenstein’s Venus, S. 52–53, der jedoch den italienischen Mittelsmann nicht kennt und die Modifikation deshalb als inventio von Lohenstein interpretiert.
[…] Tien duo veltri la destra, al lato manco pende d’aurea catena indico dente. D’argento in fronte immacolato e bianco, vedesi scintillar luna lucente. Lasciasi l’arco e la faretra al fianco, prende d’acuto acciar spiedo pungente. Tal ch’ai cani, agli strali, al corno, al’asta la più lasciva dea par la più casta.
Marino, L’Adone (1623) Si svelle in questo dir con duolo e sdegno lo stral, ch’è nel bel fianco ancor confitto e tra le penne e’l ferro in mezzo al legno trova il nome d’Adon segnato e scritto. Volto ala piaga poi l’occhio e l’ingegno vede profondamente il sen trafitto e sente per le vene a poco a poco serpendo gir licenzioso foco.
(III, 63)
(III, 46)
Ich brenn’/ ich brenn’ Adon! Ihr auge nahm kaum wahr Die schrifft/ als ihre brunst in ihr schon lust gebahr/ Zu finden ihren schatz. Bald ließ sie sich bekleiden Mit wäßrichtem tobin aus grase grüner seiden/ Wie sonst die Cynthie zur jagd ist angethan. Auff ihrer achsel hieng ein elephanten-zahn/ Ein bogen an der seit/ ein köcher an dem rücken/ Ein mond an ihrer stirn. (V. 1592–1608)
Lohenstein, Venus (1695) Dein heischen ist mir lust/ Sprach er/ und stieß hiermit ihr in die lincke brust Den allerschärffsten pfeil/ der iemahls in ein hertze Von ihm geschossen war. Das gifft zog mit dem schmertze Durch adern/ fleisch und blut/ und nahm die sinnen ein; Sie aber halb entseelt von unversehner pein Zog das geschliffne gold aus ihren warmen wunden/ Auff dem mit diamant geschrieben ward gefunden:
2.6 Rezeption von Marinos L’Adone (1623) 151
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2 Venus-Synthesen in Daniel Casper von Lohensteins Venus (1695)
Exemplarisch lässt sich an dem vorliegenden Passus Lohensteins übersetzerische Aneignungsstrategie erörtern: Die Endecasillabi Marinos gibt Lohenstein gemäß des Metrums seines gesamten Enkomiums in Alexandrinern wieder und formt den Kreuzreim der ersten sechs Verse der Ottava Rima (abababcc) in Reimpaare um. Indem er zwei Stanzen scheinbar nahtlos aneinanderfügt, zwischen denen bei Marino knapp zwanzig weitere in ausschweifenden Digressionen die Liebesentfachung ausführen, kondensiert Lohenstein den Inhalt auf sechzehn Verse. Dabei ahmt er die asyndetisch aneinander gereihten Akzidenzien der Diana, mit denen sich Venus verkleidet, in Parallelismen nach. Die von Marino metaphorisch als sich durch die Venen schlängelndes Gift beschriebene graduelle Liebesentstehung zieht Lohenstein vor und überbietet sie tautologisch: „Das gifft zog mit dem schmertze | Durch adern/ fleisch und blut“ (V. 1595–1596). Auch die Metonymie des Pfeils („e tra le penne e’l ferro in mezzo al legno“), in den der Name des Geliebten eingraviert ist, steigert Lohenstein, indem er das „Holz zwischen dem Eisen und den Federn“ mit Preziosen („geschliffne gold,“ in das „mit Diamant“ (V. 1599–1600) der Name eingraviert wurde) ersetzt und so seine Vorlage übertrifft. Indes wahrt er die Proportionen in der Accumulatio der Tropen, indem er Marinos Tautologie „segnato e scritto“ mit der Alliteration „warmen wunden“ (V. 1599) nachbildet. Überdies wendet Lohenstein den eingravierten Namen des Geliebten in einen performativen Ausruf, den er epanaleptisch intensiviert: „Ich brenn’/ ich brenn’ Adon!“ (V. 1601). Damit aktualisiert er seine Darstellung der psychologisierten Liebe, die er mit der chiastischen rhetorischen Frage „Ich brenne/ brenn ich?“ (V. 1258) eingeleitet hatte und überführt sie so auf die Protagonistin.575 Lohenstein wandelt die Venus von einem Objekt der Begierde in ein begehrendes Subjekt und bricht die genuin männlichen Liebeskonzeptionen der Idealisierung und der Paradoxierung auf. Eindeutig zentriert Lohenstein das Recht der Venus darauf, selbst zu lieben. Dahinter tritt die Frage nach der Schuld an Adonis’ Tod zurück. Anders als Marino, der mit Mars’ Eifersucht, Dianas gekränktem Schamgefühl und mit Adonis’ Übermut drei Gründe ins Felde geführt hatte, die entweder Venus oder Adonis zur Last gelegt werden konnten,576 spielt die Schuldfrage bei Lohenstein keine Rolle. Die Liebesbeschreibung endet abrupt nach dem Koitus (V. 1700–1704); der Tod des Adonis’ wird beiläufig in die Apostrophe an die Rose eingepasst: Und daß diß lob/ womit die rose wird gepriesen/ Ihr auch sey ernst gewest/ hat ihre that erwiesen/ 575 Vgl. Johnson, Dramatic Structure in Lohensteins Venus, S. 86. 576 Vgl. Grubitzsch-Rodewald, die Mythologie in Marinos Adone, S. 27–43.
2.6 Rezeption von Marinos L’Adone (1623)
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Indem sie den Adon/ den ursprung ihrer pein/ Und ihres hertzens hertz/ als ihm das wilde schwein Verkürtzte lieb und geist/ ließ zu der rose werden (V. 1741–1745)
Im Abgleich mit dem Strukturmodell erhellt eindeutig Lohensteins Rezeptionsschwerpunkt. Indem er erstens die inzestuöse Elternschaft des Adonis’ (Sequenz I) reduziert und zweitens die Schuldfrage insofern ausklammert, als er den Tod durch den Eber (Sequenz III, 9–11) zwar vage alludiert, aber nicht ausführt, sowie drittens den Streit zwischen Venus und Proserpina – und damit die Assoziation mit dem Vegetationskult (Sequenz II) – vernachlässigt, isoliert Lohenstein allein die Liebe zwischen Venus und Adonis, die er durch das Symbol der Rose, in die sich der Tote verwandelt, erotisch konnotiert. Während die Dialogizität zum Prätext Lohensteins in der Reduktion der Schuldfrage zugunsten der Liebesepisode liegt, besteht die Gemeinsamkeit zwischen dem italienischen Epos und Lohensteins Enkomium in der Sakralisierung der Venus. Denn ebenso wie Marino die Venus in seinem Versepos einer Marienfigur angenähert hatte,577 spiegelt auch Lohenstein die Heilige Maria in seiner Venus: Und daß das minste ja nicht unverliebet bliebe/ So liebt die königin/ der liebe/ selbst die liebe/ Die grosse göttin dient dem selber/ dessen frau Und mutter sie doch ist. (V. 1510–1513)
Unverkennbar projiziert Lohenstein hier die Heilige Dreifaltigkeit auf die heidnische Göttin und harmonisiert sie dadurch mit Maria. Die Synthese von Venus und Maria ist jedoch nicht als synkretistische, säkularisierende Überblendung des heidnischen Pantheons und des Christentums zu verstehen. Dagegen ist die Sakralisierung der Venus im Zusammenhang mit Lohensteins naturphilosophischer Aufwertung der Liebe zu sehen, die er im gesamten Gedicht als kosmologische Kraft inszeniert und versucht, sie mit der christlichen Morallehre in Einklang zu bringen. Dahingehend ist auch die personalisierte Schlussapostrophe zu interpretieren. Indem sich das lyrische Ich performativ von der Liebesgöttin lossagt, überträgt Lohenstein die Liebeslehren fingiert in eine irdische Liebesbeziehung, die er gleichsam als Ort legitimer körperlicher Liebe bestimmt.
577 Vgl. ebd., S. 90–93. So auch schon Hugo Friedrich: Epochen der italienischen Lyrik. Frankfurt/M. 1964, S. 690–691.
3 Intermediale Venus-Rezeption in Birkens Schlaff der Sicherheit (1659) und Das Erwachen (1660) Sigmund von Birken (1621–1681) gehört zu den produktivsten und einflussreichsten Autoren des siebzehnten Jahrhunderts. Während er unter dem Pseudonym ‚der Riechende‘ seit 1645 in der Mitgliederliste von Philipp von Zesens Deutschgesinnter Genossenschaft geführt wurde, nahmen ihn die Nürnberger Pegnitzschäfer Johann Klaj (1616–1656) und Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658) im selben Jahr unter dem Decknamen ‚Floridan‘ auch in den Pegnesischen Blumenorden auf, dessen Ordensvorsitz Birken von 1662 bis zu seinem Tod 1681 führte. Neben seiner Nobilitierung 1655 wurden seine poetischen Leistungen von seinen Zeitgenossen auch durch die Aufnahme in die Fruchtbringende Gesellschaft gewürdigt, der er ab 1658 mit dem Gesellschaftsnamen ‚der Erwachsene‘ angehörte. Als Mitglied dreier Sprach- und Kulturgesellschaften des siebzehnten Jahrhunderts war er maßgeblich an dem künstlerischen und literarischen Diskurs, vor allem um Nürnberg, beteiligt, wie die vielen Briefwechsel mit führenden Sprachkritikern, Dichtern und Dichterinnen (Georg Philipp Harsdörffer, Johann Rist (1607–1667), Justus Georg Schottelius (1612–1676), Johann Michael Dilherr (1604–1669) und Catharina Regina von Greiffenberg (1633–1694)) zeigen.578 Neben diesen Briefen sind auch handschriftliche Konzeptbücher sowie ein gewaltiges autobiographisches Opus überliefert, das seit neuerem dank einer umfassend kommentierten Edition579 leicht greifbar ist.
578 Vgl. zu Birkens Werk und Wirken überblicksweise Klaus Garber: [Art.] Birken. In. Killy Literaturlexikon, Bd. 1, S. 558–564, mit einer erweiterten Forschungsbibliographie. Ferner sei hier stellvertretend auf drei Sammelbände verwiesen: Erstens Hartmut Laufhütte (Hg.): Sigmund von Birken. Leben, Werk und Nachleben. Gesammelte Studien. Mit einem Vorwort von Klaus Garber. Passau 2007, in welchem vierzig bereits publizierte Aufsätze zum Nürnberger Dichter gesammelt und neu abgedruckt worden sind und so Laufhüttes fortlaufende Birken-Forschung würdigen und zweitens Klaus Garber: Literatur und Kultur im Deutschland der Frühen Neuzeit. Gesammelte Studien. Paderborn 2017, der ebenfalls ältere aber dennoch gewichtige Beiträge von Garber zum Leben (ebd., S. 711–736), zu den Korrespondenzen (ebd., S. 737–761) sowie zum Werk (ebd., S. 763–882) Sigmund von Birkens versammelt. Die neusten Forschungsergbnisse bietet der Tagungsband von Klaus Garber, Hartmut Laufhütte, Johann Anselm Steiger (Hgg.): Sigmund von Birken (1626–1681). Ein Dichter in Deutschlands Mitte. Berlin, Boston 2019 (Frühe Neuzeit 215), der auf den Birken-Kongress (26.–28. September 2013) am Interdisziplinären Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit Osnabrück zurückgeht. 579 Sigmund von Birken. Werke und Korrespondenz. Bd. 1/I–14. Hg. von Klaus Garber, Ferdinand van Ingen, Hartmut Laufhütte, Johann Anselm Steiger. Berlin, Boston 2009–2017 (Neudrucke https://doi.org/10.1515/9783110684209-007
3 Intermediale Venus-Rezeption in Birkens Schlaff der Sicherheit (1659)
155
Dazu gehört auch das zuvor nur als Handschrift bekannte Lied Schlaff der Sicherheit,580 welches an der 33. Stelle im ersten Teil von Birkens dreiteiliger Manuskriptsammlung Psalterium Betulianum (vollendet ca. 1667)581 überliefert ist. Die 25 Strophen des Lieds arbeitete Birken – ohne Melodie und in geänderter Reihenfolge – auch in das fünfte Kapitel des geistlichen Gesprächsspiels Die Gottseelige Gespräch-Lust582 ein, dessen Niederschrift er 1660 begonnen hatte und 1665 abbrach.583 Da Birken seine Arbeit an dem geistlichen Gesprächsspiel durch Einträge in seinem Tagebuch genau dokumentiert hat und dort für die Reinschrift des fünften Gesprächs den 18. Mai 1660 notierte, galt das Jahr 1660 der Birken-Edition als terminus ante quem auch für die Entstehung des Lieds.584 Das Gesprächsspiel entwickelt Birken zwischen zwei älteren Adligen, Gotthart und Edeltraut, zwei jüngeren Adligen, Adelbert und Hildegart, sowie dem Pastor Engelbrecht und dem Kunstliebhaber Dietwald. In den neunzehn Gesprächen werden die einzelnen Abschnitte des Tagesablaufes bis zum Mittag – etwa das Ankleiden (Kapitel 9) oder das Waschen (Kapitel 10) – kontemplativ betrachtet und auf den „geistlich-emblematischen Mehrwert“585 befragt, um den christlichen Glauben erbaulich in die säkulare Lebenspraxis einzuspiegeln. Die abstrakten Ergebnisse der Gespräche werden dann häufig durch Verseinlagen unterbrochen, in denen der geistliche Gehalt in lyrisch-erbauliche Rede überführt wird586 und durch die dem Kunstliebhaber Dietwalt in den Mund gelegten Emblemerfindungen bildlich retransponiert werden.587 Aus dem Gesamtwerk lässt sich
deutscher Literaturwerke. N. F. 41 ff.). Nachfolgend wird diese Ausgabe abgekürzt mit Birken, WuK, Bandnummer, Seitenzahl zitiert. 580 Vgl. Sigmund von Birken, Schlaff der Sicherheit. In: Birken, WuK, 6/I, S. 114–120. 581 Das Psalterium Betulianum ist eine dreiteilige Sammelhandschrift von 151 geistlichen Gedichten, die teilweise andernorts abgedruckt wurden, die frühesten vor 1652. Vgl. Birken, WuK, 6/I, S. XIII–XIV. Aufbewahrt wird die Sammelschrift im Archiv des Pegnesischen Blumenorden [PBlO. B. 3.3.3]. 582 Vgl. Sigmund von Birken: Die Gottseelige Gespräch-Lust. In: Birken, WuK, 8/I, S. 183–422. Dort Sigmund von Birken: Das Erwachen. In: Birken, WuK, 8/I, S. 205–217. Im Erwachen ist Strophe 12 den Strophen 10 und 11 vorangestellt: 12, 10, 11. Vgl. Birken, WuK, 8/II, S. 640. 583 Wie die Skizze von einem Inhaltsverzeichnis zeigt, beendete Birken die Arbeit an dem Manuskript jedoch nach neunzehn von insgesamt dreißig geplanten Gesprächen. Vgl. Birken, WuK, 8/II, S. XXI–XXII. 584 Vgl. Birken, WuK, 6/II, S. 555. 585 Birken, WuK, 8/I, S. XXIII. 586 Ebd., S. XXIII. 587 Ebd., S. XXIV. Unklar ist bisher, ob Birken die Embleme für einen Druck erstellen lassen wollte oder ob er geplant hat, die Embleme aus bestehenden Emblembüchern hinzuzufügen. Auf letzteres weisen die in den Texten angegebenen Nummerierungen der Embleme, vgl. z. B. Birken, WuK, 8/I, S. 185. Z. 2 und die dazugehörige Anmerkung 1: „Embl. §. 15.“
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3 Intermediale Venus-Rezeption in Birkens Schlaff der Sicherheit (1659)
jedes Gespräch als eigenständiger Prozess der hermeneutischen Betrachtung einer alltäglichen Handlung beschreiben, die dann bildlich sowie lyrisch transformiert und vergeistlicht werden. Dies gilt auch für das fünfte Gespräch, Das Erwachen, in dem die Gesprächsteilnehmer das morgendliche Erwachen reflektieren. Darin berichtet Dietwalt, ihm komme „zu gedächniß/ ein AndachtLied, welches ich unlangst auf eine, zumtheil von einem Schweitzerischen Kunstmahler abgesehne Gemäld-erfindung verfasset, dessen Tittel sein kann: Der Schlaff der Sicherheit“.588 Damit ist nicht nur der intertextuelle Verweis auf das Lied explizit markiert, sondern zugleich der intermediale Charakter des Werks benannt, der sich in der doppelten Gattungsbeschreibung als geistliches (Andachts-)Lied einerseits und als Gemäldegedicht – einer ohnehin intermedialen Gattung – andererseits manifestiert. Die in der Fiktion des Gesprächsspiels benannte Inspirationsquelle hat auch die Birken-Edition veranlasst, eine bildliche Vorlage für das Lied ausfindig zu machen; vorgeschlagen wurde der Kupferstich Wach auf von diesem Schall! (Abb. 1)589 des Schweizer Malers und Kupferstechers Conrad Meyer (1618–1689).590 Die Zuweisung scheint recht treffend, denn die Beschreibung im Gesprächsspiel lautet zusammengefasst: Der sichere Sündenschläffer, liget ganz blaß und nacket. […] Er ligt mit dem Haupt im Schoß der Wollust, als in dem Bette der Sicherheit, wie Simson im Schoß der Delia. […] [Venus] erscheint in diesem Gemähl, vornen als ein Engel: von hinten aber ist sie ein Teufel.[…] Neben dem Bette des Sündenschläffers, der Wollust, stehet noch ein kleiner Teuffel, mit Bogen, Köcher und Pfeilen behangen, auch mit Fledermauß-fittchen beflügelt. […] Auf der andren Seiten des Schlaffenden, stehet eine Tafel, mit allerhand köstlichen Speißen und Getränke besetzt. […] Unten, um den Schläffer herüm, liegt allerley Reichtum, Kisten, Kästen und Geldsäcke, auch prächtige Kleider und Geschmuck. […] Der Sünder schläfft: aber seine Feinde, der Teufel und der Tod, wachen. Dieser zielet auf ihn, mit gespanntem Bogen und aufgelegten Pfeil, jener wirfft ein Netze über ihn, und lauret auf sein Verderben. […] So ichs recht errahte, so schwebet im Gemähl über diesem Schäffer, ein Engel, ihm eine Trompete an das Ohr haltend, welche ausbläset das Wort, Wache auf! Diß ist die Posaunenstimme Gottes. […] Von der Trompete des Engels hängt herab, dem Schläffer vors Gesichte, eine Heroldsfahn, worauf gemahlet ist das letzte Weltgericht, mit der Vorladungsstimme der letzten Posaune. […] Um diesen Schläffer her, ists finstere Nacht. (V. 88–331) 588 Vgl. Birken, Das Erwachen, V. 27–30. 589 Der Stich wird von der Zentralbibliothek Zürich unter der Signatur [Meyer Conrad GRA 1.0016.001 Pp] verwahrt und kann als Digitalisat eigesehen werden auf http://dx.doi. org/10.3931/e-rara-38305 (Zugriff 24. April 2018). Ein weiteres Exemplar besitzt die Staatliche Graphische Sammlung München, dort unter der Inventarnummer [119397 D]. Für die Auskunft danke ich herzlich Herrn Achim Riether. 590 Vgl. den Kommentar zu Das Erwachen in Birken, WuK, 8/II, S. 639–643, in dem auch die Variationen im Vergleich mit dem Schlaff der Sicherheit ausgewiesen sind, hier S. 640.
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Abb. 1: Conrad Meyer, Wach auff von diesem Schall!
3 Intermediale Venus-Rezeption in Birkens Schlaff der Sicherheit (1659)
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3 Intermediale Venus-Rezeption in Birkens Schlaff der Sicherheit (1659)
Bis auf den mythologischen Apparat um Venus/Cupido sind viele Elemente detailgetreu auch auf Meyers Kupferstich abgebildet, wobei besonders die genaue Beschreibung des Engels und dessen von der Trompete herabhängenden Fahne mit dem darauf abgebildeten letzten Gericht heraussticht. Überdies kann die Vorlage als wahrscheinlich gelten, weil Birken das Œuvre von Meyer auch um 1660 schon gekannt haben dürfte, wie ein Artikel zu Conrad Meyer in Joachim von Sandrarts Teutschen Akademie (1675) vermuten lässt:591 COnrad Mayr/ […] wurde ein berühmter Mahler und Kupferätzer zu Zürich/ nachdem er Anno 1618. gebohren/ und von Jugend auf sich in den studien seiner Kunst sehr vernünftig gehalten/ auch nicht allein viel gut-gleichende Contrafäte/ sondern mehr andere denkwürdige Sachen gemahlt. So hat er sich gleichfalls auf die Invention guter Historien/ sonderlich exemplarischer geistlicher Geschichten aus der Bibel/ solche in Kupfer zu bringen/ beflißen/ und sich dardurch einen großen Ruhm erworben/ welcher vermehret worden durch eine große Menge wol-geätzter Contrafäten/ und dasjenige Büchlein/ darinnen in hoch vernünftiger Ausbildung eines Todten-Tanzes allerley Stands-Personen aufgeführt/ das von allen Erfahrnen sehr gepriesen/ und in allen Theilen der Invention, schöner Manier der Arbeit in Etzen in hohen Ehren gehalten/ […]. Sein Contrafät/ samt den 5. vorgenannten von seiner Hand/ hat der großgünstige Liebhaber in der Kupferblatte FF.592
Zweifel an der bisherigen Rekonstruktion der Vorlage erweckt jedoch der von mir aufgefundene Einblattdruck Des Sündlichen Menschen/Gefährlicher Schlaff der Sicherheit, der das Gedicht zusammen mit einem Kupferstich abbildet (Abb. 2)593 und sich in die Fülle der anonymen Flugblattdichtungen Birkens einreiht, wie sie z. B. in dessen Zusammenarbeit mit dem Nürnberger Verleger
591 Birken steuerte vielfältige Gedichte zur Teutschen Akademie bei und war überdies maßgeblich war an der sprachlichen Gestaltung sowie an der Organisation und Gestaltung des Drucks beteiligt, vgl. Christian Klemm: Sigmund von Birken und Joachim von Sandrart. Zur Entstehung der Teutschen Akademie und zu anderen Beziehungen von Literat und Mahler. In: Der Franken Rom. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Hg. von John Roger Paas. Wiesbaden 1995, S. 288–313, besonders S. 296–297 und das Verzeichnis der Birken-Schriften in der Teutschen Akademie, S. 303–304 sowie neuer Hartmut Laufhütte: Sigmund von Birken und Joachim von Sandrarts Teutsche Academie. In: Aus aller Herren Länder – Die Künstler der ‚Teutschen Academie‘ von Joachim von Sandrart. Hg. von Susanne Meurer, Anna Schreurs-Morét, Lucia Simonato. Turnhout 2015, S. 433–450. 592 Vgl. Joachim von Sandrart: Teutsche Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste. Nürnberg 1675/1679/1680. Wissenschaftlich kommentierte Online-Edition. Hg. von Anna Schreurs, Thomas Kirchner, Alessandro Nova, Carsten Blüm, Torsten Wübbena. 2008–2012. II, Buch 3, S. 255. http://ta.sandrart.net/de/purl/text-476 (Zugriff 04. September 2018). 593 Vgl. Sigmund von Birken: Des Sündlichen Menschen Gefährlicher Schlaff der Sicherheit. Nürnberg 1659. Nürnberger Stadtbibliothek [Ebl. 2069]. [VD17 75:710100F]. Im VD17 ist das Blatt ohne Autorzuschreibung auf 1690 datiert ist.
3 Intermediale Venus-Rezeption in Birkens Schlaff der Sicherheit (1659)
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Abb. 2: Birken, Schlaff der Sicherheit (1659).
Paul Fürst (1608–1666) nachgewiesen worden sind.594 Darauf ist der mythologische Apparat wie im Gedicht beschrieben abgebildet, einzig die Fahne mit dem Abbild des Jüngsten Gerichts fehlt. Diesen heute am unteren Rand stark
594 Vgl. John Roger Paas: Sigmund von Birkens anonyme Flugblattgedichte im Kunstverlag von Paul Fürst. In: Philobiblon 34,4 (1990), S. 321–339, der vierzehn Flugblättern handschriftliche Gedichte aus den Birken-Wäldern zuweisen konnte.
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beschädigten Einblattdruck im Folioformat verzeichnet Wilhelm Eduard Drugulin unter der Angabe des Incipits und des letzten Verses, was darauf schließen lässt, dass er noch den unbeschädigten Druck oder ein unversehrtes Exemplar vorliegen hatte.595 Er gibt „J. Sandrart“ als Künstler an – hier kommen sowohl Jacob von Sandrart (1630–1708) als auch dessen berühmter Onkel Joachim von Sandrart (1606–1688) infrage, da Birken nachweislich mit beiden zusammengearbeitet hat.596 Diese Angabe deckt sich mit der von Emil Weller, der ebenfalls ein unbeschädigtes Exemplar gekannt haben dürfte und den offensichtlich unter dem Gedicht stehenden Künstler des Kupferstiches wiedergibt: „Am Schlusse: Nürnberg bey J. Sandrart. 1659.“597 Obgleich der Kupferstich des Einblattdrucks zweifellos die im Gedicht beschriebene mythologische Szene abbildet, kann er – sofern die Zuschreibung von Drugulin und Weller stimmt – nicht die Vorlage des Gedichts gewesen sein, denn unmissverständlich nennt Birken das Kunstwerk eines Schweizer Künstlers, während die Sandrart-Familie jedoch aus dem Hennegau stammt. Aus dieser widersprüchlichen Überlieferungslage lässt sich folgende textgenetische Hypothese ableiten, welche die nachstehende Interpretation strukturiert: Angenommen wird, dass Conrad Meyers Kupferstich Wach auf von diesem Schall! als Vorlage für Birkens Lied Schlaff der Sicherheit diente, welches erneut in einem Stich von Jacob oder Joachim von Sandrart verbildlicht und erstmals in den Druck befördert wurde. Schließlich wird die handschriftliche Fassung des Erwachens als abermals neuinterpretierte Version gelesen, die beide Bildzeugnisse didaktisierend überlagert. Plausibilisiert wird diese Hypothese erstens durch die von John Roger Paas beschriebene Arbeitspraxis von Birken, der nicht allein als Schriftsteller tätig war, sondern auch die Zeichnungen, Kupferplatten und die Drucklegungen mit den Künstlern (etwa mit Jacob von Sandrart (1630–1708),
595 Vgl. Wilhelm Eduard Drugulin: Wilhelm Drugulins historischer Bilderatlas. Verzeichnis einer Sammlung von Einzelblättern zur Cultur- und Staatengeschichte vom 15. bis in das 19. Jahrhundert. Bd. 1. Leipzig 1863, S. 95, Eintrag 2457. 596 Vgl. John Roger Paas: Zusammenarbeit in der Herstellung illustrierter Werke im Barockzeitalter: Sigmund von Birken (1626–1681) und Nürnberger Künstler und Verleger. In: Wolfenbütteler Barocknachrichten 24 (1997), S. 217–239. Neues Licht auf das Arbeitsverhältnis zwischen Birken und Sandrart wirft der Beitrag von Esther Meier: Verhältnisbestimmung: Birken und Sandrart, Dichter und Maler in der Teutschen Academie. In: Sigmund von Birken (1626–1681). Ein Dichter in Deutschlands Mitte. Hg. von Klaus Garber, Hartmut Laufhütte, Johann Anselm Steiger. Berlin, Boston 2019 (Frühe Neuzeit 215), S. 297–322, die in den Bild- und Textzeugnissen der Teutschen Academie eher eine Stilisierung der idealtypischen Künstlerfreundschaft sieht und realhistorisch eher eine zweckgebundene Kooperation vermutet. 597 Vgl. Emil Weller: Annalen Der Poetischen National-literatur Der Deutschen Im XVI. und XVII. Jahrhundert. Bd. 2. Freiburg/Br. 1864, S. 222–223, Eintrag 547.
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Peter Troschel (1620–1667), Johann Friedrich Fleischberger (1631–1665) und Cornelius Nicolaus Schurtz (um 1640)) besprach und korrigierte.598 Zweitens lässt sich Das Erwachen stichhaltig als ältere Fassung ausweisen, weil der Kupferstich durch die eingravierte Jahreszahl am unteren rechten Bildrand eindeutig auf 1659 datiert werden kann, während Birkens Tagebucheintrag die Fertigstellung der Gottseeligen Gespräch-Lust auf ein Jahr später festlegt. Ziel ist es, den intermedialen Transformationsprozess599 nachzuzeichnen, um so das Bild-Text-Verhältnis zu erhellen, das Birkens Venus-Rezeption bestimmt. Denn obgleich Birkens produktive Auseinandersetzung mit der Malerei, die er frei nach dem horazischen ut pictura poesis-Diktum als Zwilling der Poesie anerkannte,600 bereits recht gut erforscht ist,601 erlaubt die vorliegende 598 Vgl. Paas, Zusammenarbeit in der Herstellung illustrierter Werke im Barockzeitalter, S. 219. 599 Dass der Intermedialitätsbegriff auch für die Frühe-Neuzeit-Forschung längst von großer Bedeutung ist, zeigen die neueren Bände von Alfred Messerli, Michael Schilling (Hgg.): Die Intermedialität des Flugblatts in der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2015, dort mit einem methodologischen Forschungsüberblick zur Intermedialität von Alfred Messerli: Intermedialität. In: ebd., S. 9–24 sowie Jörg Robert (Hg.): Intermedialität in der Frühen Neuzeit. Formen, Funktionen, Konzepte. Berlin, Boston 2017 (Frühe Neuzeit 209). 600 Im Einklang mit den zeitgenössischen Poetologen wie Martin Opitz und Georg Philipp Harsdörffer beschrieb auch Birken das Verhältnis zwischen Malerei und Dichtung als Verschwisterung: „Die Poesy und Mahlerei sind gleichsam Zwilling-Geschwistere/ und in vielem einander gleich: sonderlich in diesem/ daß sie beide sich befleißigen/ alles/ was ist/ zierlich aus= und vorzubilden. Und solches geschihet/ wie in dieser durch wolgemischte Farben/ also in jener durch wol zusammengesetze Worte.“ Vgl. Sigmund von Birken: Teutsche Rede-bind- und DichtKunst/ oder Kurze Anweisung zur Teutschen Poesy: mit Geistlichen Exempeln/ verfasset durch Ein Mitglied der höchstlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft Den Erwachsenen. Samt dem Schauspiel Psyche und Einem Hirten-Gedichte. Nürnberg 1679. [VD17 12:130456U], S. 73. Vielfältige deutschen und italienischen Zeugnisse, welche die Wechselseitigkeit von Malerei und Poesie in ähnlicher Weise bestimmen und damit zugleich die Wirksamkeit des horazischen Diktums trotz dessen vermeintlicher Fehlinterpretation dokumentieren, sammelt Klaus Peter Dencker: Optische Poesie. Von den prähistorischen Schriftzeichen bis zu den digitalen Experimenten der Gegenwart. Berlin, New York 2011, S. 535–537. 601 Vgl. maßgeblich Klemm, Sigmund von Birken und Joachim von Sandrart. Überdies die Fallstudie von Hartmut Laufhütte: Barlaeus – Vondel – Birken. Drei poetische Reaktionen auf einen Gemäldezyklus Joachim von Sandrarts. In: FS Erich Trunz zum 90. Geburtstag: Vierzehn Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte. Hg. von Dietrich Jöns, Dieter Lohmeier. Neumünster 1998 (Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte 19), S. 23–42 sowie Anna Schreurs: „In allen seinen Werken verstehet man mehr, als das blosse Gemähl zeiget“. Joachim von Sandrart im Zentrum des Dichterlobs. In: Georg Philipp Harsdörffers ‚Kunstverständige Discurse‘. Beiträge zu Kunst, Literatur und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit. Hg. von Michael Thimann, Claus Zittel. Heidelberg 2010, S. 113–147, besonders S. 128–132, die den von Birken mitgestalteten „Lebenslauf“ von Sandrart in dessen Teutscher Akademie als programmatische Fürsprache für den Zusammenhang zwischen Malerei und Poesie ausweisen kann.
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Überlieferungssituation einen tiefen Einblick in Birkens Arbeitsweise und in die Antikerezeption seiner intermedialen Werke, welche das Verständnis seiner Dichtungstheorie ergänzt.
3.1 Intermediale Transformation von Conrad Meyers Wach auf von diesem Schall! Zu dem Œuvre des aus einer Schweizer Künstlerfamilie stammenden Conrad Meyer gehören neben etwa 200 Portraits und ca. 1000 meist landschaftlichen Grafiken auch Illustrationen von literarischen Werken, etwa von Jacob Cats Kinder-Lustspielen (1657) oder von Einzeldrucken Johann Wilhelm Simmlers (1605–1672). Ergänzt wird es von seinem geistlichen Werk, das mehrere Folgen biblischer Szenen umfasst (Spiegel der Christen (1652), Über unsers Herrn Jesus Christi Leiden, Tod und Auferstehung (1636–1666)), aber auch Emblemserien wie die Fünff und zwenzig Bedenklichen Figuren mit Erbaulichen Erinnerungen (1673) und den Sterbespiegel (1650), der stark von den Bildern des Todes (Erstdruck 1538) von Hans Holbein dem Jüngeren beeinflusst ist.602 Überdies gilt Conrad Meyer nicht nur als einer der produktivsten und zugleich am besten vernetzten Künstlerpersönlichkeiten des barocken Zürich, sondern auch als einer der ersten Schweizer Kunstschriftsteller, weil er Texte und Illustrationen zur Teutschen Akademie (1675) von Joachim von Sandrart beisteuerte.603 Der mit „Wach auf von diesem Schall! Daß dich nicht überfall, Im tieffen sünden schlaaff, Die schwäre Gottes straaff“ überschriebene Kupferstich von Meyer604 stellt – aufgeteilt in ein zentriertes, rundes Hauptbild sowie in vier eckige Randbilder – eine Szene der Offenbarung des Johannes dar. Die vier Randbilder
602 Zu Meyers Sterbensspiegel (1650) vergleiche Ingeborg Störle: Totentanz und Obrigkeit: Illustrierte Erbauungsliteratur von Conrad Meyer im Kontext reformierter Bilderfeindlichkeit im Zürich des 17. Jahrhunderts. Frankfurt/M. u. a. 1999 (Europäische Hochschulschriften Reihe 28, Kunstgeschichte 343), welche neben der Abhängigkeit zu Holbein auch weitere Vorlagen kenntlich macht (S. 168–120) und die Zensurdebatte um den Sterbensspiegel nicht zuletzt durch ein Transkript der Zensurakten erhellt (S. 299–369). 603 Vgl. zu Conrad Meyers Leben und Werk vgl. Achim Riether, Germaid Ruck, Renate Treydel: [Art.] Meyer. In: Allgemeines Künstlerlexikon. Die Bildenden Künstler aller Zeiten und Völker. Bd. 89. Mejchar-Minguzzi. Hg. von Andreas Beyer, Bénédicte Savoy, Wolf Tegethoff. Berlin, Bosten 2016, S. 261–264, hier S. 261–262. 604 Eine kurze Besprechung des Kupferstichs liefert Elisabeth Heitzer: Das Bild des Kometen in der Kunst. Untersuchungen zur ikonographischen und ikonologischen Tradition des Kometenmotivs in der Kunst vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Berlin 1995 (Studien zur profanen Ikonographie 4), S. 168–173, die zurecht auf kompositorische Ähnlichkeiten zu Abraham Aubrys
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präsentieren die Macht der vier Elemente als Strafen Gottes: Das Bild, mit der Überschrift „Das Feur zur Straaff genaigt, Dier seine ruten zaigt“ versehen, zeigt im oberen linken Eck einen Feuersturm; links unten – überschrieben mit „Der sünder über-fluß, Bringt diesen waßer-guß“ – ein sintflutartiger Wolkenbruch dargestellt. Auf der rechten Seite ist im oberen Bild eine Art Pestwolke abgebildet, wie die Überschrift „Vergiffte Lufft und schwert Der sünden raach begehrt“ verdeutlicht, und das vierte Bild rechts unten zeigt ein Erdbeben, überschrieben mit: „Die erde bebet fast von deiner sünden last“. Das Rundbild dagegen stellt einen nackten, halb liegenden Mann dar, der sich mit dem rechten Arm auf einen Stein stützt und sich mit der linken Faust – sein Erwachen aber auch seine Trägheit andeutend – die geschlossenen Augen reibt. Mit dem Rücken lehnt er an einer im linken Bildrand stehenden, reich gedeckten Tafel, die gemeinsam mit den vor ihm liegenden (von links nach rechts) Goldsäcken, einem Stapel Karten, zwei Würfeln und einem Köcher voller Pfeile typische Akzidenzien weltlicher Reichtümer andeutet, die durch eine ebenfalls vor ihm liegende zerbrochene Sanduhr und einem hinter dem linken Fuß des Schläfers erkennbaren Knochen als Vanitas- und Memento-Mori-Elemente interpretierbar sind. Zudem ist die weltliche Vanitas-Symbolik geistlich aufgeladen, denn die Goldsäcke (Habgier, avaritia), die Nacktheit (Wollust, luxuria) und die Tafel sowie Anleihen aus der Bacchus-Ikonographie, die durch den mit Weinblättern bedeckten Kopf und das rundliche Gesicht des Mannes angedeutet werden (Völlerei, gula), versinnbildlichen zusammen mit der Trägheit (acedia) des Schläfers vier der sieben Todsünden, derer sich der Schläfer strafbar macht. Schräg rechts über dem Schläfer schwebt auf einer Wolke ein geflügelter Engel, der, den Blick nach rechts vom Schläfer abwendend, in mahnender Gestik den linken Zeigefinger erhebt. In der rechten Hand hält er eine Posaune, mit der er dem Schläfer ins linke Ohr bläst. An ihr befestigt ist eine Fahne, auf der Gott auf einer Wolke thronend zu erkennen ist, während in der linken unteren sowie in der rechten oberen Ecke je zwei Engel mit Posaunen abgebildet sind. Über und unter dem Fahnenbild stehen zwei paargereimte, jambische Dreiheber, die gemeinsam folgenden, den Titel des Kupferstichs variierenden Vierzeiler bilden: Wach auff! wach auff in eil! Zur buß dich nicht verweil: Daß dich nicht über fall der letzt posaunen schall.
Tuerckischer Jammer-Spiegel (ca. 1663/64) hinweist und beide Kupferstiche abdruckt, vgl. ebd., Abb. 48–49.
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Die emphatische, zur Eile mahnende Epanalepse „Wach auff! wach auff“ versprachlicht die dargestellte Erweckung, wohingegen das zeitliche Deiktikum „letzt“ darauf hindeutet, dass auf der Fahne das Jüngste Gericht nach der Offenbarung des Johannes abgebildet ist. Dies wird bestätigt durch die im oberen und unteren Halbkreis der runden Bildeinfassung eingeschriebenen Reimpaare, die in vier jambischen Sechshebern je eine Bibelstelle paraphrasieren. Die obere lautet: Die nacht ist schon am end, der tag in follem Lauff; Die stunde rufft dier zu: Steh nun vom schlaaffe auff: Leg ab die bösen werk der diken finsternüß Bewaaffne dich im Liecht mit ungesparter büß. Rom. XIII, 11–12605
Die untere dagegen: Ich komme wie ain dieb, bei unvermerkter nacht. Wol dem, der wolgerüst mit rainem herzen wacht; Der seine klaider halff, und geht nicht bloß härein, Damitt nicht seine schand mög andern sichtbar sein. Offenb. XVI, 15606
Die Paraphrase aus den Römerbriefen des Paulus verknüpft das dargestellte Motiv geschickt mit der Heilsbotschaft und stellt eine optimistische Zukunftshoffnung in Aussicht, sollte sich der Sünder dem göttlichen Gebot der Buße fügen. Das Zitat der apokalyptischen Prophezeiung des Johannes verweist dagegen auf die Bestrafung der Unfolgsamen durch die Ausgießung der sieben Zornschalen (Off. 16, 1–21). Dadurch werden auch die vier Randbilder sinnfällig, welche die Wirkungen der Zornschalen (das Erdbeben unten rechts, Off. 16, 17–18; und den Feuersturm oben links, Off. 16,8) mit der Sintflut (der Wasserguss unten links, 1. Mos. 7) verbindet. Die Pestwolke (oben rechts) und das im Hintergrund auf einem Pferd reitende Skelett wurde von Elisabeth Heitzer hingegen treffend als apokalyptischer
605 Röm. XIII, 11–12: 11VND weil wir solches wissen/ nemlich die zeit/ das die stunde da ist/ auff zu stehen vom Schlaff (Sintemal vnser Heil jtzt neher ist/ denn da wirs gleubten) 12Die nacht ist vergangen/ der Tag aber her bey komen. So lasset vns ablegen die werck der Finsternis/ vnd anlegen die waffen des Liechtes. Vgl. Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, Ausgabe letzter Hand 1545, https://www.bibel-online.net/buch/luther_1545_letzte_hand/roemer/13/ (Zugriff 14. Juni 2019). 606 Off. XVI, 15: 15Sihe/ ich kome/ als ein Dieb/ Selig ist der da wachet/ vnd helt seine Kleider/ das er nicht blos wandele/ vnd man nicht seine schande sehe. Vgl. Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, Ausgabe letzter Hand 1545, https://www.bibel-online.net/buch/luther_1545_letzte_hand/offenbarung/16/#1 (Zugriff 14. Juni 2019).
3.1 Intermediale Transformation von Conrad Meyers Wach auf von diesem Schall!
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Reiter (Off. 6,8) gedeutet.607 Der Schläfer steht dementsprechend sinnbildlich für die von der Sünde – hier metaphorisch durch Schlaf, Nacht und Dunkelheit abgebildet, aber auch durch die dunkle Schraffierung hinter dem Schläfer und durch den vom Engel ausgehenden Lichteinbruch bildlich realisiert – umgebenen Menschen, die vier Randbilder und das Fahnenbild veranschaulichen derweil die Konsequenzen der Sünden. Schließlich sind die Abbildungen mit achtzehn paargereimten, trochäischen Achthebern unterschrieben, die den christlichen Lehrgehalt zusammenfassen:
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Schaue disen sünden-schläffer, schaue dises lehr-bild an Lieber mänsch! Und nimm zu herzen, was es dich erinnern kan. Wann dich schon der sünden glanz, und die süßen wollust loken, Laße doch im sünden-schlaff deine seele nicht verstocken: Öffne deine krummen oren, öffne fleißig dein gesicht, Anzuhören die posaunen, anzusehen das gericht, Die deß Höchsten engel dier an das or und augen haltet, Eh die seel in sünden todt, und das herz im leib erkaltet. Zieh die buß nicht auff bis morgen, dann dich wol der heutig tag, Noch vor abend, ungerüstet, schnell zu boden werffen mag. Zähle deine lebenszeit, deine jaare, tag, und stunden; Daß du nicht in solchen stund werdest übereilt gefunden. Da der sünden tieffe klüfften, da die schnöde laster-rock, Und deß flaisches üppigkaiten, schaiden dich und deinen Gott; Da du werdest von dem tod, angerennet und getroffen; Wann die buß versäumet ist, wan du nicht mehr hast zu hoffen
607 Vgl. Heitzer, Das Bild des Kometen in der Kunst, S. 170. In der Off. VI, 8 heißt es: 8 Vnd sihe/ vnd ich sahe ein falh Pferd/ vnd der drauff sass/ des name hies Tod/ vnd die Helle folgete jm nach. Vnd jnen ward macht gegeben zu tödten/ das vierde teil auff der Erden/ mit dem Schwert vnd Hunger/ vnd mit dem Tod/ vnd durch die Thiere auff Erden. Vgl. Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, Ausgabe letzter Hand 1545, https://www.bibel-online.net/buch/luther_1545_letzte_hand/offenbarung/6/#1 (Zugriff 14. Juni 2019). Schwer einzuordnen sind dagegen die vier Artefakt-Abbildungen, die in den Zwischenräumen zu sehen sind, die sich durch die unterschiedlichen geometrischen Formen des zentralen Rundbilds und der Randbilder ergeben. Unten sind – jeweils auf einem Schild – ein Drachenwesen mit einem überdimensionierten Messer (links) und ein herzfressendes Medusenhaupt (rechts) abgebildet. Oben sind zwei schwer deutbare Rüstungsgegenstände dargestellt, aus dem sich links eine Hand mit gerecktem Zeige- und Mittelfinger streckt und auf dem rechts ein gekrönter Frosch sitzt. Bei Arthur Henkel, Albrecht Schöne (Hgg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Taschenausgabe. Stuttgart, Weimar 1996, Sp. 601–602, finden sich zwei Embleme, die den Frosch als Symbol der Auferstehung oder des Machtanspruchs deuten. Ein Mann, der sein eigenes Herz isst wird zudem als „verzehrender Gram“ gedeutet, vgl. Henkel/Schöne, Emblemata, Sp. 1025. Dagegen scheint das Medusenhaupt hier eher die verzehrende Wollust zu symbolisieren.
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Aine wonung in dem himmel. Stell also dein leben an, Daß den tod dem Höchsten richter endlich nicht missfallen kann.
Die gehäuften imperativen Apostrophen an den Sünder („nimm“, V. 2; „Laße“, V. 4; „Zieh“, V. 9; „Zähle“, V. 11; „Stell“, V. 17), die teils parallelistisch verstärkt sind („Schaue […], schaue“, V. 1; „Öffne […], öffne, V. 5), prägen den didaktischen Charakter des gesamten Gedichts und schließen damit nahtlos an die emblematischen Abbildungen an. Allerdings überlagern die Apostrophen den Betrachter und den abgebildeten Sündenschläfer, denn während der erste Vers eindeutig den Betrachter auffordert, den sündigen Schläfer anzuschauen, weisen die sich in versus rapportati entsprechenden Parallelismen: „Öffne deine krummen oren, öffne fleißig dein gesicht, | Anzuhören die posaunen, anzusehen das gericht“ (V. 5–6), vor allem aber das nachfolgende Enjambement „Die deß Höchsten engel dier an das or und augen haltet“ (V. 7), darauf hin, dass der dargestellte Schläfer angesprochen wird. Die unklare Kommunikationssituation versetzt den Betrachter somit raffiniert an die Stelle des Sündenschläfers und verdeutlicht die notwendige Bußfertigkeit jedes Einzelnen. Der Mehrwert dieser Bild-Text-Relation wird zudem durch die „Bild-im-Bild“-Technik intermedial intensiviert, denn sowohl der gesamte Stich als auch das Bild auf der Fahne des Engels zeigen die Endzeitprophezeiung der Johannes-Offenbarung. Indes wird die Dringlichkeit der Einsicht mit der Vergänglichkeit des irdischen Daseins begründet, die durch die monosyndetische Klimax „Zähle deine lebenszeit, deine jaare, tag, und stunden“ (V. 11) sprachlich realisiert wird und so die abgebildeten Vanitas-Symbole in das Gedicht transponiert. Zusätzlich wird der Schluss des Gedichts durch die Häufung von deiktischen Zeigemitteln dynamisiert („Da […] da“, V. 13; „Da“, V. 15 und „Wan […] wan“, V. 16), welche ebenfalls die drängende Notwendigkeit der Buße zum Ausdruck bringen. Entgegen der pessimistischen Diesseitsdeutung durch die Johannes-Apokalypse bildet eine optimistische Jenseitsverheißung jedoch den Schlusspunkt des Gedichts. Sollte der Sünder seine Schuld eingestehen und durch Reue seine Gottesehrfurcht beweisen, wird ihm „Aine wonung in dem himmel“ (V. 17) in Aussicht gestellt. Damit werden die in der Einfassung des Rundbilds eingeschriebenen Bibelparaphrasen textuell aktualisiert und die pessimistische Diesseitsbetrachtung barocktypisch mit der Heilserwartung kontrastiert.
3.2 Christliche Überlagerung im Schlaff der Sicherheit Auch ohne den fiktionalisierten Autorkommentar des kunstverständigen Dietwalt aus Birkens Gesprächsspiel Das Erwachen, in dem dieser berichtet, er habe
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das „AndachtLied […] zumtheil von einem Schweitzerischen Kunstmahler abgesehne Gemäld-erfindung verfasset“ (Das Erwachen, V. 28–30), ist Der Schlaff der Sicherheit eindeutig als Gemäldegedicht markiert. In den ersten drei der insgesamt 25 Strophen, die je acht kreuzgereimte trochäische Vierheber (ababcdcd) mit durchgehend alternierenden Kadenzen (klingend, dann stumpf) umfassen, wird ein „Fauler Schläffer, träger Sünder“ (V. 1) aufgefordert, sich anhand des vorgestellten Bildes („wie dieses Bild“, V. 10; „was diß Blat dir bildet vor“, V. 180) selber zu erkennen: „Schau in diesen Spiegel, schaue | deine blinde Sicherheit“ (V. 5–6). Den Hauptteil bilden die Strophen 4–23, welche den Sünder im Schoß der Venus liegend beschreiben, die ihm eine Tafel aufgedeckt und ihn mit Reichtum umgeben hat, während ein Engel ihm mit einer Posaune versucht zu wecken. Die letzten beiden Strophen (24–25) beschließen das Lied mit einem Gebet. Während das Lied kommunikativ also eindeutig als Gemäldenachbildung ausgewiesen wird, lässt sich Meyers Kupferstich auch durch referenzielle Markierungen als Vorlage des Lieds bestimmen. Am deutlichsten sticht die Beschreibung des erweckenden Engels hervor: Höre diese Engelstimme, die dir in die Ohren bläst: Wache auf! diß Wort vernimme. thu, was Gott dir sagen lässt. (V. 121–124) […] Thu die Augen auf, zu schauen, was dir Gott hält vor Gesicht: hier den Tod, das Bild voll grauen; Dort das letzte WeltGericht, (V. 137–140)
Nicht allein die exakte Beschreibung des Kupferstichs, sondern auch die Reimkonkordanz „Gesicht […] Gericht“ und der sinnbildlich in die Ohren geblasene Ausruf „Wache auf“, der auf der Fahne in Meyers Stich zu lesen ist, erweisen durch intertextuelle Referenzen die Vorlage Birkens. Überdies variiert Birken die bei Meyer in die Fassung des Rundbilds eingeschriebene Paraphrase der Johannes Apokalypse (Off. 16,15): „er komt bald und ist nicht fern. | Wie ein dieb, sein Tag wird kommen“ (V. 148–149). Damit lässt sich auch das von Birken gezeichnete Endzeitszenario als textuelle Transformation von Meyers Randbildern interpretieren, insbesondere der beiden linken: Ach! Es sind jetzt Noah Zeiten: die pechschwarze SündenNacht, alles Christentum in Leuten
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blind und finster hat gemacht. Gottes Zorn mit Feuerflammen kürzlich wird die düstre Welt überschwemmen, und verdammen zu dem finstren HöllenZelt. (V. 169–176)
Neben der Endzeitprophetie übernimmt Birken auch die Lichtmetaphorik, welche die Sünde als „Nacht und Finsternuß“ (V. 162) und die Buße, bzw. das Bekenntnis zu Gott als des „Liechtes Waffen“ (V. 163) beschreibt; und auch die VanitasSymbole sind in das Lied überführt, wobei die lakonische Hyperbolik: „eine Tafel voll Gefräß“ (V. 42) und die tautologische Accumulatio: „Reichtum, Schätze, Gold und Geld“ (V. 50) die Wertlosigkeit der weltlichen Reichtümer verdeutlichen, die dann explizit mit der Endlichkeit des Lebens begründet wird: „Sie verlassen dich im Sterben | bleiben alle hinter dir“ (V. 85–86). Folglich ist auch bei Birken die Warnung vor den Sünden, die durch das Jüngste Gericht saldiert werden, und die damit verbundene Aufforderung zur Buße, das Thema des Lieds. Anders als Meyer, der den dargestellten Sündenschläfer und den Betrachter geschickt überlagert, trennt Birken das beschriebene Bild und den Apostrophierten jedoch voneinander, indem die vox poetae hervortritt („und ihm, der dich warnet, traue“, V. 7) und sich als Vermittler zwischen Sünder und Bild inszeniert: höre mich, willst du ja schweigen: ich will dir, du sünder du, deine schwere Krankheit zeigen und die Arzeney dazu. (V. 21–23)
Dies kehrt nicht nur die intermediale Beziehung des Gedichts zum Kupferstich hervor, sondern erhellt zugleich Birkens Dichterverständnis, da er sich als poeta vates, als Deuter und Verkünder der christlichen Botschaft inszeniert. Dementsprechend prägt eine Fülle von Personalpronomen und Imperativen (z. B. „deine Krankheit klag und nenne“, V. 19; „betrachte“, V. 28; „Schau die HöllenCreature“ V. 35) den mahnenden Duktus des Liedes, der teilweise diaphorisch („kenne dich, bekenne“, V. 17) und durch anaphorische Parallelismen („du must kämpfen, du must kriegen, | du must laufen deinen Lauf“, V. 99–100, hier zusätzlich durch die Figura etymologica) intensiviert wird. Die teils parallel konstruierten, mit repetitiven, entpersonalisierten Periphrasen beginnenden Strophen („Todter Sünder“, V. 73; „Sichrer Mensch“, V. 81; „Thummer Sünder“, V. 89; „Träge Seel“, V. 97; „Frecher Sünder“, V. 105; „Taubes Herz“, V. 113; „Blinder Sünder“, V. 129) verleihen dem Lied zudem einen liturgischen
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Charakter, der durch zahlreiche klagende Ausrufe beschwert wird („ach“, V. 29, 47, 74, 75, 80, 82, 132, 169, 185, 193). Besonders über die affektischen Interjektionen lässt sich der intermediale Mehrwert der bild-textlichen Transformation bestimmen, denn wie bereits die Beschreibung des Gedichts als „AndachtLied“ (Das Erwachen, V. 28–29) andeutet, wirkt das Lied nicht allein durch seinen didaktisch vorgetragenen geistlichen Gehalt, sondern ebenfalls indem die Angst vor der Sünde affektvoll vergegenwärtigt wird. Neben der sprachlich zugespitzten Warnung vor der Sünde wirken jedoch besonders die von Birken hinzugefügten Elemente dramatisierend, die auch im Kupferstich Sandrarts abgebildet sind und durch die der Transformationsprozess der biblischen Szene am deutlichsten zutage tritt. Denn anders als Meyer beschreibt Birken den Schläfer nicht alleine, sondern mythisierend im Schoß der Venus liegend: Deiner Schlaffsucht Lagerstätte, ist der Wollust schnöder Schoß: da du, in dem Sündenbette, ligst von aller Tugend bloß. Ach betrachte sie von hinden, nicht von vornen nur allein: eine Teuflinn wirst du finden, angelarvt mit EngelsSchein. Venus nennt sich diese Hure, wilst du auch Cupido sehn? schau die HöllenCreature hier, den kleinen Teufel, stehn. (V. 25–36)
Als „Teufelinn“ (V. 31) und „Hure“ (V. 33) umschrieben, personifiziert Venus die Sünden, insbesondere die „Wollust“ (V. 26) und auch Cupido wird dämonisierend als „HöllenCreature“ (V. 35) und „kleiner Teufel“ (V. 36) dargestellt. Ebenso überführt Sandrart die mythische Göttin und ihren Sohn in seinen Kupferstich. Unten links steht ein bocksbeiniger Putto mit kleinen Hörnern und fledermausartigen Flügeln. Vor ihm liegt sein Bogen und auch ein Köcher, den er auf dem Rücken trägt, ist angedeutet, vordergründig ist aber die Laute, die er in den Händen hält. Seinen Kopf dreht er über die rechte Schulter zu einem hinter ihm stehenden Satyr, der ihm die rechte Hand auf die Schulter gelegt hat. Der wehleidige Blick des Puttos deutet seine kindliche Unschuld an, die jedoch von den satyrischen Elementen überlagert wird. Im Zentrum des Bildes, vor einem Baum sitzend, hält Venus den in ihrem Schoß liegenden Sünder in den Armen. Mit dem rechten Arm greift sie unter der Achsel des Schläfers hindurch und umschlingt so seinen Brustkorb, während
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ihre linke Hand um seinen Hals gelegt ist und so den Mord durch Venus andeutet. Durch diese Komposition scheint Sandrart die typische Ikonographie der um den toten Adonis klagenden Venus zu beleihen (Abb . 3), um den von Venus überwundenen Sünder mit dem mythischen Jüngling Adonis zu überlagern. Damit verzerrt er das Bild der klagenden und umsorgenden Venus, die Adonis vor der Jagd gewarnt hatte, in eine verführerische Dämonin, die sich Adonis gefügig macht und ihn so den metaphorischen Sündentod erleiden lässt.
Abb. 3: Maarten de Vos, Crispjen de Passe, Venus trauert um Adonis (1602).
Mit der entblößten linken Brust, die ihre erotischen Verführungskünste andeuten, wird Venus, zudem mit einem Diadem, einer Kette sowie mit kostbarem Schuhwerk, einem Perlenarmband und Perlohrringen geschmückt, zum Sinnbild weiblicher Erotik. Rechts hinter ihrem Kopf ist der Schatten eines Gesichts zu erkennen, der sie als janusköpfige Dämonin und ihre Schönheit als Verdammnis bringende Versuchung entlarvt. In leichter Variation von Birkens Lied fliegen rechts über Venus zwei Teufel (anstatt wie bei Birken vorgegeben nur einer) auf den Sünder zu, die gemeinsam ein Netz halten; weiter rechts von ihnen steht außerdem ein Skelett mit gespanntem Bogen, den Schädel zum Betrachter gewandt. Hier der Jäger aus der Höllen wirft ein Netze über dich, Sein Verdammnis wirbt Gesellen
3.2 Christliche Überlagerung im Schlaff der Sicherheit
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(Gott behüt!) auf ewiglich. Dorten steht mit Pfeil und Bogen das gefürchte Todgebein, hat die Senne angezogen: du solt ihm erschossen seyn. (V. 65–72)
Obgleich die bei Birken skizzierte, von der Posaune des Engels herabhängende Fahne von Sandrart nicht übernommen ist, mutet die detailfreudige bildliche Transformation von Feinheiten äußerst kunstfertig an, etwa von der im Zentrum des Bildes stehenden Sonnenuhr, deren Stundenzeiger auf zwölf Uhr deutet, wie bei Birken beschrieben: „schau! Der Zeiger zwölfe weißt“ (V. 182). Auch die Öffnung der „vierten Wand“ durch den zum Betrachter blickenden Totenkopf des Skeletts mit Pfeil und Bogen, welche die didaktisierenden Apostrophen mimetisch abbildet, zeugt von Sandrarts Virtuosität. Das über Venus und den Sünder geworfene Netz deutet indes die Venus-Mars-Episode an, in der Venus’ Ehemann Vulcanus den Kriegsgott mit seiner Frau in flagranti erwischt und das ehebrecherische Liebespaar mit einem unsichtbaren Netz gefangen hält, um sie den anderen Göttern verspottend zur Schau zu stellen. Interpretieren lässt sich die Anspielung in der Tradition von Fulgentius’ (Fulg. Myth. 2,7) moraldidaktischer Wendung der Venus-Mars-Episode. Fulgentius hatte Mars als die von Venus zum Ehebruch verführte Personifikation der Tugend dargestellt, um vor weiblicher Verführung zu warnen. Der Verweis auf den Götterbetrug festigt folglich das Bild der dämonisierten Liebesgöttin, die mit ihrer Verführungsmacht auch tugendhafte Christen zur Sünde verführen kann. Im Vergleich zu Meyers Rundbild fällt außerdem die kompositorische Spiegelung in Sandrarts Stich auf: Der bei Meyer schräg rechts über dem Sünder schwebende Engel fliegt bei Sandrart links über dem Schlafenden und auch die bei Meyer am linken Bildrand stehende Tafel und die Reichtümer sind bei Sandrart auf die rechte Seite des Bildes gespiegelt. Auffällig sind überdies sorgfältige Übernahmen wie die Sanduhr im zentralen Vordergrund beider Bilder (wenn auch bei Sandrart unbeschädigt und bei Meyer zerbrochen) und das Kartenspiel, das bei Sandrart zwar auf der Tafel liegt, jedoch ebenso wie bei Meyer zwei schellen- bzw. glöckchenähnliche Prägungen auf der Rückseite der Karten zeigt. Neben diesen Einzelheiten, die Sandrarts Kenntnis von Meyers Kupferstichs vermuten lassen, deutet die merklich detailfreudigere Ausgestaltung der Tafel (zwei weitere Pokale sowie zwei reich gefüllte Teller und ein Messer sind hinzugefügt) und der Schätze, die durch eine Schmuckkiste und eine Geige ergänzt sind, auf einen überbietenden Aneignungsprozess. Sowohl in Birkens Gedicht als auch in Sandrarts Stich werden die pagane Göttin und ihr Sohn in einen christlichen Kontext transponiert, um dem heidnischen Pantheon die theologische Grundlage zu entziehen und sich
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dennoch das bildliche Potenzial der Venus nutzbar zu machen. Besonders für Birken lässt sich zeigen, wie er auf der Folie von Venus ideeller Schönheit eine bereits bei den Stoikern gefestigte Liebeskonzeption dichterisch integriert und abwandelt. Wie bei Harry Fröhlich beschrieben, wurde die Liebe von den Stoikern (und auch von den Humoralpathologen) als Wahnsinn (manía, furor) oder Krankheit (nósos, morbus) verstanden.608 Dies habe auf der Annahme beruht, Affekte seien kausal durch die sinnliche Wahrnehmung von Schönheit entstanden und deshalb zwanghaft.609 Um der Krankheit zu entgehen, sei Mäßigung postuliert, „aber auch die Exstirpation der Affekte gefordert“610 worden. Eine ähnliche Liebeskonzeption liegt bei Birken zugrunde, beschreibt er die sündhafte Wollust doch als „schwere Krankheit“ (V. 23), die durch eine „Arzeney“ (V. 24) geheilt werden könne. Anders als in der weltlichen, petrarkistisch-idealisierenden Liebeslyrik, in welcher der Topos der Liebeskrankheit so häufig bemüht wird, um die schmerzvolle Ablehnung der idealisierten Liebesdame zu beschreiben, die nur durch die Liebeserwiderung, bzw. durch die erotische Erfüllung der Liebeswünsche (Paradoxierung) geheilt werden könne, propagiert Birken die Vereinigung mit Gott als Heilung von den Affekten. Besonders die hochzeitsmystischen Gottesanrufe im schließenden Gebet des Liedes, die Jesus als „Bräutigam der Christenheit“ (V. 194) beschreiben und die Christenheit zur „Himmels HochzeitsFreud“ (V. 196) aufrufen, zeigen, dass Birken die sexuelle Erfüllung als Krankheit auffasst, die nur durch die Affektabwehr und in der Einung mit Gott geheilt werden könne.611 Die zahlreichen Appelle an die visuellen Sinneswahrnehmungen (z. B. „betrachte“, V. 29; „schau“, V. 35) deuten überdies darauf hin, dass Birken die Entstehung von Affekten ebenfalls auf die Wahrnehmung (weiblicher) Schönheit zurückführt. Demnach dient die Betrachtung des beschriebenen Bildes nicht nur der Selbsterkenntnis des Sünders; die Venusdarstellung ermöglicht es zudem, ein Abbild der idealen Schönheit in Augenschein zu nehmen und die Affektabwehr zu erproben. Im intermedialen Zusammenspiel zwischen Bild und Text wird die Venus-Rezeption für die christliche Sublimierung der Affekte möglich. 608 Fröhlich, Apologien der Lust, S. 78. 609 Ebd., S. 78. 610 Ebd., S. 83. 611 Das hochzeitsmythische Frömmigkeitsverständnis von Birken fügt sich lückenlos in den Kontext seiner Johann Arndt-Rezeption, die Thomas Illg herausgearbeitet und besonders für die Gottseeligen Gespräch-Lust nachgewiesen hat, vgl. Thomas Illg: „… leset in des geistigen Arnds Paradiesgärtlein. Sigmund von Birken als Rezipient Johann Arndts“. In: Sigmund von Birken (1626–1681). Ein Dichter in Deutschlands Mitte. Hg. von Klaus Garber, Hartmut Laufhütte, Johann Anselm Steiger. Berlin, Boston 2019 (Frühe Neuzeit 215), S. 139–161. Für viele hilfreiche Hinweise und vor allem für die Einsicht in das damals noch ungedruckte Manuskript des Aufsatzes danke ich Herrn Illg herzlich.
3.3 Das Erwachen als intermediales, geistliches Kolloquium
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Erfolgsverheißend bekennt Birken im Schlussgebet selbst seine Sünden: „Ach ich selber kan nit wachen, der ich andre wecken will“ (V. 185). Damit folgt er seiner eigenen Aufforderung zur Buße und stellt durch die Vereinigung mit Christus und den gemeinsamen Einzug „in das Freudenhaus“ (V. 198) eine Heilserfüllung in Aussicht, die sich mit Meyers optimistischer Jenseitsdeutung („Aine wonung in dem himmel“, V. 17) deckt.
3.3 Das Erwachen als intermediales, geistliches Kolloquium Eine weitere Fassung des Schlaffs der Sicherheit ist von Birken in sein geistliches Gesprächsspiel die Gottseelige Geschpräch-Lust eingearbeitet worden. Johann Anselm Steiger hat gezeigt, dass diese colloquia, in denen alltägliche Gegenstandsbereiche als geistliche Sinnbilder interpretiert werden, exemplarisch die praxis pietatis darstellen, also die private, individuelle Aneignung der im (öffentlichen) Gottesdienst verkündeten göttlichen Botschaft, die besonders im geselligen Gespräch möglich sei.612 Folglich hebt Steiger die geistliche Funktionalisierung der Dialogform hervor und zeigt ferner, wie Birken zur Auslegung einzelner Lebensbereiche antik-jüdische und griechisch-antike Mythen überblendet, um „die paganen Mythologeme genuin christlich zu kontextualisieren.“ 613 Besonders werde die Geselligkeit der privaten Glaubensfestigung im fünften Gespräch exponiert, weil es alle sechs Gesprächsteilnehmer in die Allegorese und den Prozess der Retransponierung des geistlichen Gehalts in ein Kunstwerk einbindet. Ohne die im Text explizit genannte Bildvorlage zu diskutieren,614 geht Steiger von einer gemeinschaftlichen Illustration eines imaginären, emblematischen Gemäldes aus, für das die Liedstrophen die suboder inscriptiones bilden, welche gesungen werden, um den geistlichen Gehalt erneut zu gegenwärtigen.615 Überzeugend legt er ferner dar, wie Birken durch einen Kommentar der adligen Hildegard die Wirkungslosigkeit der intermedialen Genese des geistlichen Kunstwerks und dessen Allegorese einspiegelt, sofern sie nicht im Gebet mit der Bitte um Erweckung der sündigen Menschheit verbunden werde. Gerade durch die intermediale Gestaltung des Gesprächsspiels sei es Birken jedoch möglich, das Gebet nicht nur einzufordern, sondern der Forderung
612 Johann Anselm Steiger: (Bild-)Rhetorik des Gesprächs. Zur Emblematik des Alltags in Sigmund von Birkens Gottseeliger Gespräch-Lust. In: Rhetorik 34,1 (2015), S. 79–94. 613 Ebd., S. 84. 614 Vgl. Birken, WuK, 8/II, S. 640. 615 Steiger, (Bild-)Rhetorik des Gesprächs, S. 87.
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durch die letzten beiden Strophen des Lieds, welche in Gebetform den Schöpfergott apostrophieren, performativ nachzukommen.616 Angesichts des wiedergefundenen, in Zusammenarbeit von Birken und Sandrart entstandenen Kupferstichs lässt sich Steigers Interpretation leicht präzisieren und im Hinblick auf Birkens Programmatik ergänzen. Zunächst lassen sich die Bilder von Meyer und Sandrart durch detailgetreue Entsprechungen als gemeinsame Vorbilder des im Gesprächsspiel entwickelten geistlichen Emblems ausweisen, die im Gespräch synthetisiert werden. Darüber ist der praktische Wert, den Birken der geistlichen Malerei beimisst, zu bestimmen, denn zweifelsohne wird das geistige colloquium durch die Bilder inspiriert. Demnach dient die geistliche Kunst als Mittler zwischen dem irdischen Leben und dem Glauben – der Maler wird somit als Pendant zum poeta vates ebenfalls als Verkünder der göttlichen Botschaft inszeniert. Die von Steiger herausgearbeitete Reflexion darüber, dass alle Veranschaulichung der Heilsbotschaft ohne das nachfolgende Gebet wirkungslos bleiben muss, und insbesondere die von Birken wahrgenommene Möglichkeit, diese Reflexion in ein lyrisches Gebet zu überführen, pointiert die Überlegenheit der Dichtung gegenüber der Malerei. Während die intermediale Gestaltung des Flugblatts die Wirkung von Birkens Lied und Sandrarts Kupferstich synergetisch steigert, scheint Birken in der prosimetrischen Zweitfassung den Sieg im Paragone durch die Prosakommetare seines Personas zu benennen, denn das, was die Malerei anregen kann, lässt sich durch die Dichtung realisieren. Obgleich sich Birkens dämonisierende Venus-Rezeption zur Betrachtung und Reflektion der Sünde durchaus eignet, die Erkenntnis fördert und als Gegenbild der geistlichen Liebe zu Gott dient, scheint sie dennoch paradox, weil das erotische Potential der verteufelten heidnischen Göttin aktualisiert wird. Im Zusammenhang mit Birkens Antikerezeption lässt sich jedoch seine Programmatik konturieren, die nicht auf Verdrängung des mythologischen Bilderguts abzielt, sondern darauf, die antike Mythologie im christlichen Kontext nutzbar zu machen. Dies zeigen vor allem die den Gesprächsteilnehmern in den Mund gelegten Zitate antiker Schriftsteller. So führt Engelbrecht beispielsweise den „Vater der Römischen Beredsamkeit“ an, der Venus als „Mutter alle[n] Ubels“ (Das Erwachen, V. 92–93) bezeichnet habe. Gemeint ist Cicero, wie eine Marginalie zeigt, in der Birken das Zitat aus Ciceros De legibus kenntlich macht.617 Wie 616 Ebd., S. 89–90. 617 Die Marginalie lautet: „e.) Cic. 1.2. de Legg.“ Vgl. Birken, WuK, 8/I, S. 208, Anm. 10. Bei Cicero heißt es: „Den Seelen werden alle nur denkbaren Fallen gestellt: entweder von denen […] die sie […] nach Belieben verbiegen, oder von der Macht, die sich tief im Innern jeder sinnlichen Wahrnehmung fest eingenistet hat, von der Lust, die das Gute nur vortäuscht, in
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schon Martin Opitz im Buch von der Deutschen Poeterey (1624)618 führt Birken den berühmten römisch-antiken Rhetoriker an, um seine Venusdeutung zu autorisieren, andererseits aber auch, um Cicero eine christliche Venusinterpretation zu unterstellen. Ebenso legt Birken dem jüngeren Adligen, Adelbert, ein Pseudozitat des „Heid[en] Ovidius“ (Das Erwachen, V. 100) in den Mund: Die Venus, die da frölich kömmt, bald traurig wieder abschied nimmt. (Das Erwachen, V. 101–102)
Birken benennt Ovid zwar als Quelle,619 dagegen scheint jedoch das dreizehnte Epigramm Venus des walisischen Dichters John (Audoenus) Owen (1564–1622) als Vorlage gedient zu haben, dessen Wirkung auf die deutsche Epigrammatik kaum zu überschätzen ist, da sein Werk bereits zur Jahrhunderthälfte durch vier (Teil-)Übersetzungen gewürdigt worden war und sich zudem zahlreiche übersetzerische Aneignungen bei Friedrich von Logau, Heinrich Hudemann, Zacharias Lund, Ernst Christoph Homburg, Georg Rodolf Weckherlin, Andreas Gryphius, Johann Rist, Andreas Tscherning, August Augspurger und Wencel Scherffer von Scherffenstein finden.620 Wirklichkeit aber die Mutter allen Übels ist.“ Vgl. Birken, WuK, 8/II, S. 641, welche die kritische Edition und Übersetzung Marcus Tullius Cicero. De legibus/ Über die Gesetze. Paradoxa Stoicorum/ Stoische Paradoxien. Lateinisch-Deutsch. Hg. von Rainer Nickel. Berlin, Boston 2011, S. 52, zitieren. 618 Vgl. Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey, S. 19, Z. 36–S. 20, Z. 12: „Die nahmen der Heidnischen Götter betreffendt/ derer sich die stattlichsten Christlichen Poeten ohne verletzung jhrer religion jederzeit gebrauchet haben/ […] zuezeiten aber vorneme Leute/ die wie Cicero im andern buche von den Gesetzen saget/ vmb jhres vordienstes willen in den Himmel beruffen sein.“ 619 Die Birken-Edition (vgl. Birken, WuK, 8/II, S. 642) und Steiger, (Bild-)Rhetorik des Gesprächs, S. 87, gehen von Ovid, Ars Amatoria, V. 675–679, als Vorlage aus, wo es heißt: quaecumque est Veneris subita violata rapina, gaudet, et inprobitas muneris instar habet. at quae, cum posset cogi, non tacta recessit, ut simulet vultu gaudia, tristis erit. Vgl. Ovid: Liebeskunst/ Ars amatoria. Lateinisch-Deutsch. Hg. und übers. von and Niklas Holzberg. Berlin, Boston 2011, S. 86–87. Ohnehin scheint sich die Bagatellisierung von Vergewaltigungen, welche in den Ars Amatoria vorgenommen wird, um die Lust am Sinnlichen auch vermeintlich keuschen Frauen zu unterstellen, nicht recht in den Kontext des Gesprächsspiels zu fügen. 620 Vgl. Erich Urban: Owenus und die deutschen Epigrammatiker des 17. Jahrhunderts. Berlin 1899. Heidelberg 1898, passim. Die vier Übersetzungen stammen von Bernhard Nicaeus: Rosarium, Das ist/ Rosen-Garten / Auß des […] Welsch-Englischen Poeten Joannis Oweni Lateinischem
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Principum dulce est, at finis amoris amarus Laeta venire Venus, tristis abire solet Flumina quaesitum sic in mare dulcia currunt, Postquam gustarunt aequor, amara fluunt.621
Owens Epigramm stellt die „süß“ beginnenden Liebschaften den darauffolgenden traurigen Abschieden antithetisch gegenüber und verkehrt in frivoler Naturmetaphorik den koitalen Austausch süßer Körperflüssigkeiten („dulcia currunt“) zu salzig-bitteren Tränen („amara fluunt“). Birken verkürzt das Epigramm dagegen auf die ersten zwei Verse, wodurch einzig die Reue nach der Sünde betont wird. So erklärt Adalbert: „dann die Reue folget diesem Laster auf den Fuß nach“ (Das Erwachen, V. 100). Die bei Owen noch zentrierten Gefühle der Liebhaber wendet Birken in den aufkommenden Affekt bzw. die sich danach einstellende Reue durch die Bewusstwerdung der Sünde und weist die sentenziösen Verse der lateinischen Autorität Ovid zu. Wichtiger als die korrekte Autornennung scheint die Indienstnahme der antiken Größen für die christliche Botschaft zu sein, denn auch Plautus zitiert Birken fälschlicherweise mit der Gnome von Publius Terentius Afer: „Sine Cerere et Baccho friget Venus“622 und verschärft das Frieren der Venus zur Krankheit:623
Lusthoff übergesetzet/ und auff den Teutschen Boden gebracht und gepflantzet/ […]. Emden 1641. [VD17 23:649337M]; Johann Peter Titz: Florilegii Oweniani centuria, colligente, versibus Germanicis exprimente Joh. Petro Titio. Dantisci. 1643. UB Warschau [BUWr 316311]; Simon Schultz: Centuria Epigrammatum ê Martialis & Ovveni Libris selectorum: Versibusque Germanicis redditorum […] 1644. [VD17 15:728912K] und Valentin Löber: Teutschredender Owenus. Oder: Eilf Bücher der Lateinischen Uberschriften des überaus-sinnreichen Englischen Dichters Oweni/ in Teutsche gebundene Sprache/ eben so kurtz/ übersetzet/ und mit etlichen Anmerckungen erläutert […]. Hamburg 1653. [VD17 23:240022C]. Rezeptionen des 13. Epigramms von Owen finden sich bei Paul Fleming: XX Aus dem Owen. In: Paul Fleming: Teütsche Poemata. Lübeck 1646. [VD17 23:296100X], S. 274; Johann Franck: LXXXVIII. Aus demselben. In: Johann Franck: Poëtischer Wercke Erster Theil. Frankfurt/O. 1648. [VD17 1:638622A], S. 361; Georg Greflinger: Anhang Schimpff und Ernsthaffter Gedichte. Nr. 15. In: Georg Greflinger: Seladons Weltliche Lieder. Frankfurt/M. 1651. [VD17 3:610239X], S. 4 und Jakob Schwieger: Was die Liebe sey. In: Jakob Schwieger: Über-Schrifften/ Das ist Kurtze Gedichte: welche von dem Autore bey müssigen Stunden/ zu Papier gebracht/ und auff etzlicher guten Freunde harte Anforderung herauß gegeben […]. Stade 1654. [VD17 1:639305Y], S. 41–42. Vgl. Urban, Owenus und die deutschen Epigrammatiker, S. 20, 39 und 43. 621 Vgl. John Owen: 13. Venus. In: Ioannis Audoeni Epigrammatum. Edited with introduction, notes, indices. Hg. von John R. Martyn. Bd. I. Libri I–III. Leiden 1976, S. 20. 622 Vgl. Birken, das Erwachen, S. 209, Anm. 11. 623 Vgl. Birken, WuK, 8/II, S. 642.
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Ohn Speiß und Trank Ist Venus krank. (Das Erwachen, V. 135–136)
Während eine Verwechslung der beiden wohl bedeutendsten römisch-antiken Komödiendichter nicht notwendigerweise auszuschließen ist, scheint ein fehlerhaftes Zitat des Schulautoren Ovid kaum denkbar.624 Vielmehr zeugen die fälschlichen Attributionen und die paratextuellen Marginalien, in denen Bibelzitate und der christliche Ordensführer Bernhard von Clairvaux (Das Erwachen, V. 64) gleichwertig neben den antiken Autoren Ovid, Cicero, Plautus und auch Seneca (Das Erwachen, V. 62 und 77 sowie die Marginalien a. und c.) angeführt werden, von einer programmatischen Aneignung der lateinischen Antike, mit der Birken die christliche Botschaft bereits in den Werken der Autoritäten verortet und so die Lehre vom Primat der Bibel nutzbar macht. Dieser Antikerezeption liegt dieselbe Programmatik der Mythenrezeption zugrunde, durch die Birken die pagane Mythologie „christlich kontextualisiert“.625 Auch entspricht die Rezeptionsstrategie der Argumentation von Birkens späterer Poetik, der Teutschen Rede-, Bind- und Dicht-Kunst (1679), in der er sich prinzipiell gegen die Nutzung des antik-mythologischen Traditionsguts aussprechen wird, nicht jedoch ohne einen Altersbeweis „zugunsten des Alten Testaments zu führen“,626 den Ursprung der Kunst aus Gott zu deklarieren und schließlich in der Tradition von Hieronymus zu argumentieren, um die Wirkungsmacht der Antike zu schmälern. Erstmals lässt sich demnach ein exaktes „Entsprechungsverhältnis zwischen poetologischer Theorie und poetischer Praxis herstellen“,627 das Hartmut Laufhütte angesichts von Birkens Poetik noch so vehement abgestritten hatte. Vielmehr scheint Birkens Erwachen die ablehnende Haltung der Teutschen Rede-, Bind- und Dicht-Kunst gedanklich vorzubereiten, die sich bis zur Abfassung der Dichtungstheorie noch deutlich gefestigt haben dürfte.
624 Indes konnte durch erneute Einsicht in ein Digitalisat von Birkens Handschrift – für die ich Herrn Thomas Illg herzlich danke – ein Transkiptionsfehler ausgeschlossen werden. 625 Vgl. Steiger, (Bild-)Rhetorik des Gesprächs, S. 84. 626 Verweyen, Daphnes Metamorphosen, S. 356–358. 627 Vgl. Hartmut Laufhütte: Programmatik und Funktionen der allegorischen Verwendung antiker Mythenmotive bei Sigmund von Birken (1626–1681). In: Sigmund von Birken. Leben, Werk und Nachleben. Gesammelte Studien. Mit einem Vorwort von Klaus Garber. Hg. von Hartmut Laufhütte. Passau 2007, S. 387–401, hier S. 387.
4 Allegorie und Allegorese der Wollust in Jacob Schwiegers Verlachte Venus (1659) Jacob Schwieger zählt zu den spärlich erforschten Dichtern des siebzehnten Jahrhunderts, obwohl sein Werk mit Liederbänden (Liebes-Grillen, vier Bücher mit insgesamt 100 Liedern, 1654), mehreren Schäferdichtungen, einer EpigrammSammlung (Über-Schrifften, 1654) und Predigten ein weites Œuvre umfasst,628 das in Anthologien des frühen neunzehnten Jahrhunderts noch fortwirkte.629 Fast alle bio-bibliographische Forschung fußt auf der verdienstvollen Arbeit von Anke-Marie und Dieter Lohmeier, die Schwiegers Lebensdaten (ca. 1629–1663) eingrenzt, das Inventar seiner knapp 200 Titel umfassenden Bibliothek dokumentiert und auswertet sowie seine Lebensumstände erhellt: Der in HamburgAltona geborene Jacob Schwieger wuchs ab 1644 in Glückstadt auf, wo sein Vater als Münzer für den dänischen König arbeitete. Ab 1650 studierte er Philosophie und Theologie in Wittenberg, bevor er 1653 wieder nach Hamburg zog. Im Jahr 1657 übernahm er die Münzpacht seines Vaters in Glückstadt.630 Die Publikationen aus seiner kurzen, aber intensiven Schaffenszeit – alle seine Werke wurden in den sechs Jahren zwischen 1654 und 1660 veröffentlicht – fanden bei seinen Zeitgenossen großen Anklang: Philipp von Zesen nahm ihn 1654 unter dem Gesellschaftsnamen ‚der Flüchtige‘ in die Deutschgesinnte Genossenschaft auf
628 Bibliographisch ist das Werk Schwiegers erfasst von Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 5, S. 3897–3904. 629 Vgl. Karl Förster (Hg.): Bibliothek deutscher Dichter des siebzehnten Jahrhunderts. Begr. durch Wilhelm Müller. Bd. 9. Auserlesene Gedichte von Jacob Schwieger, Georg Neumark und Joachim Neander. Leipzig 1828, S. 1–160, wo zahlreiche Gedichte von Schwieger abgedruckt sind. Zum Nachwirken barocker Texte in Reihenwerken des 19. Jahrhunderts vgl. Dieter Martin: Barock um 1800. Bearbeitung und Aneignung deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts von 1770–1830. Frankfurt/M. 2000 (Das Abendland N.F. 26), S. 66–71. 630 Anke-Marie und Dieter Lohmeier: Jacob Schwieger: Lebenslauf, Gesellschaftskreis und Bücherbesitz eines Schäferdichters. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 19 (1975), S. 98–137. Auf diese Studie greift Karin Unsicker: Weltliche Barockprosa in Schleswig-Holstein. Neumünster 1974 (Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte 10), S. 233–237 zurück und auch die wenigen Überblicksdarstellungen, die Schwieger würdigen, basieren auf Lohmeiers Arbeit, vgl. Horst Joachim Franck: Literatur in Schleswig-Holstein. Bd. 1. Von den Anfängen bis 1700. Neumünster 1995, S. 401–407 und Volker Meid, Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock, S. 705–706. Aus numismatischer Sicht vgl. auch den neueren Artikel von Percy Lutz: Jacob Schwieger – Dichter und Münzmeister. In Geldgeschichtliche Nachrichten 41 (2006), S. 247–254, in dem Schwiegers Bestallungsurkunden abgedruckt und einige Münzen abgebildet sind, die von der Münzerfamilie Schwieger stammen. https://doi.org/10.1515/9783110684209-008
4 Allegorie und Allegorese der Wollust in Jacob Schwiegers Verlachte Venus (1659)
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und vermutlich war er auch Mitglied von Johann Rists Elbschwanenorden.631 Ferner lässt sich Schwiegers Dichternetzwerk ansatzweise über die Aufnahme seines Lieds mit dem Incipit „Die Tugend säzt uns aus den Schranken“ in Constantin Christian Dedekinds Aelbianische Musen-Lust (1657)632 konturieren, weil dadurch zumindest der indirekte Kontakt zu Dichtergrößen wie Georg Greflinger (1620–1677), Ernst Christoph Homburg (1607–1681) und dem Herausgeber Dedekind (1628–1715) dokumentiert ist. Obwohl das Liedschaffen den größten Teil von Schwiegers Werk bildet,633 sind bisher überwiegend seine Schäferromane die Verlachte Venus (1659) und die Verführete Schäferin Cynthie (1660) gewürdigt worden.634 In seiner Gattungstypologie des Schäferromans führt Klaus Garber die beiden Werke als Beispiele für belehrende Schäferromane an,635 Gerhart Hoffmeister hat indes auf die antipetrarkistische Wendung in der Verführeten Schäferin Cynthie hingewiesen.636 Ewas eingehender hat Karin Unsicker die Schäferdichtungen untersucht und „die Verspottung der unzüchtigen, lasterhaften, ehrlosen, falschen Liebe“637 als programmatische Beförderung der deutschen Tugenden bestimmt, für die sich Schwieger an den deutsch-patriotischen Zielen der zeitgenössischen Sprachgesellschaften orientiere.638 Die intertextuellen Verweise in der Verlachten Venus blieben bisher unbeachtet, obwohl sich Schwiegers Rezeptionsverfahren gerade in dieser Schäferdichtung besonders deutlich nachweisen lassen. Eine inhaltliche Gliederung und Gattungsbestimmung soll zunächst aufzeigen, dass Schwiegers
631 Lohmeier, Jacob Schwieger, S. 105–107. 632 Vgl. Constantin Christian Dedekind: Die Aelbianische Musen-Lust. Faksimile-Druck der Ausg. Dresden, Seyferten, 1657. Hg. und eingeleitet von Gary C. Thomas. Bern u. a. 1991 (Nachdrucke deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts 47), S. 96*. 633 Das musikalische Schaffen Schwiegers ist dagegen fast vollständig vernachlässigt worden. Ein einziger Hinweis auf die Liedtexte von Schwieger, die teilweise von Adam Krieger (1634–1666) vertont worden sind, findet sich bei Werner Braun: Thöne und Melodeyen, Arien und Canzonetten. Zur Musik des deutschen Barockliedes. Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 100), S. 314, mit Verweis auf die Studie von Helmut Osthoff: Adam Krieger (1634–1666). Neue Beiträge zur Geschichte des deutschen Liedes im 17. Jahrhundert. Mit einem Bildnis, einem Faksimile, zahlreichen Notenbeispielen und Kriegers gesammelten frühen Liedern. Leipzig 1929, S. 21–22, 82 und 98. 634 Heinrich Meyer: Der deutsche Schäferroman des 17. Jahrhunderts. Dorpat 1928, S. 95–97, fasst kurz den Inhalt der beiden Schäferromane zusammen. 635 Vgl. Klaus Garber: Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts. Köln, Wien 1974 (Literatur und Leben N.F. 16), S. 75–76. 636 Gerhart Hoffmeister: Antipetrarkismus im deutschen Schäferroman des 17. Jahrhunderts. In: Daphnis 1 (1972), S. 128–141, hier S. 137–138. 637 Unsicker, Weltliche Barockprosa in Schleswig-Holstein, S. 233–249, hier S. 246. 638 Ebd., S. 245.
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4 Allegorie und Allegorese der Wollust in Jacob Schwiegers Verlachte Venus (1659)
Venus-Rezeption grundsätzlich auf dem poetischen Verfahren der Allegorie beruht, bevor durch die Einordnung der intertextuellen Verweise gezeigt wird, wie Schwieger die antike Liebesgöttin durch Negation, christliche Überblendung, Enthistorisierung und Satire in eine christliche Dämonin transformiert.
4.1 Gliederung und Gattungsbestimmung Die Verlachte Venus (1659)639 gehört zu den Schäferromanen. Die prosimetrische Erzählung, die mit fünf Liedern640 und sieben epigrammatischen Verseinschüben durchzogen ist, handelt von einem Gespräch zwischen der Schäferin Constantia, der personifizierten Beständigkeit, und dem Schäfer mit dem sprechenden Namen Siegreich darüber, „[w]as doch eigentlich Venus sey“ (Z. 42). Siegreich, der Constantias Frage nicht unmittelbar beantworten kann, weil sie „ein höhers Nach-sinnen erforderte“ (Z. 45), vertröstet Constantia auf die nächste Zusammenkunft. In der darauffolgenden Nacht erscheint ihm ein Venusbild im Traum; am folgenden Tag beantwortet er Constantias Frage aufgrund dieser Erscheinung. Die Handlung lässt sich folglich in Allegorie und Allegorese gliedern:641 Der erste Teil schildert das Aufeinandertreffen von Siegreich und Constantia sowie 639 Die Schäferdichtung wurde in zwei Auflagen gedruckt: Der Erstdruck wurde 1659 in Glückstadt von Melchior Koch verlegt [VD17 7:685786D], die zweite Auflage erschien zwei Jahre später (1661) am selben Ort. Letztere gehört zu dem Bestand der SBB-PK [Yu 5066], wurde jedoch kriegsbedingt in die UB Kraków verlegt, vgl. Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 5, S. 3901. Im Anhang befindet sich ein Transkript des Drucks von 1659, nach dessen Zeilenangaben nachstehend zititert wird. 640 Die Melodien der fünf Lieder mit den Incipits: „Verdamte Lust“ (Z. 117–143), „Schaut hehr ihr unverführten Herzen“ (Z. 176–204), „Den Vogel man an seinen Federn kennt“ (Z. 246–275), „Wer auf Triebsand im Wasser baut“ (Z. 313–342) und „Wie weh ist uns/ ach weh“ (Z. 382–444) hat Schwieger der Dichtung beigefügt. Das Lied „Verdamte Lust“ ist in die handschriftliche Liedersammlung von Christianus Clodius Neostadius Mißnicus (um 1647) mit dem Titel Hymnorum Studiosorum Pars Prima (1669) unter Nr. 98, S. 146 aufgenommen worden. Vgl. dazu: Wilhelm Niessen: Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius vom Jahre 1669. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Liedes im 17. Jahrhundert. Leipzig 1891, S. 35. „Wie weh ist uns/ ach weh“ ist dagegen in die Anthologie von Förster, Bibliothek deutscher Dichter des siebzehnten Jahrhunderts. Bd. 9, S. 157–160, aufgenommen worden. 641 Unter Allegorie verstehe ich nach Walter Blank: [Art.] Allegorie. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. A–G. Hg. von Klaus Weimar, Harald Fricke. Berlin, Boston 1997, S. 44–48, hier S. 44, einen „Text oder ein umfangreiches, in sich abgeschlossenes Textsegment, das auf dem poetischen Verfahren der Allegorie [ = Mittel zur Erzeugung von Uneigentlichkeit durch eigens zu diesem Mittel geschaffene literarische Ausdrucksmittel] beruht“. Allegorese verstehe ich nach Rudolf Suntrup: [Art.] Allegorese. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft.
4.1 Gliederung und Gattungsbestimmung
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den Traum Siegreichs (Z. 1–79), während im zweiten, fast sechsmal so langen Teil die als Traum fingierte Allegorie ausgedeutet wird (Z. 80–461). Siegreichs Allegorese seines Traums erfolgt in fünf Schritten: Im ersten behandelt er die Genealogie der Venus (Z. 80–143), im zweiten den Weg, der zur Liebesgöttin führt (Z. 144–204), im dritten die Kleidung der Venus (Z. 205–275), im vierten ihre durch Kosmetik manipulierte Schönheit (Z. 276–342) und im fünften ihre Wirkung (Z. 343–461). Alle fünf Aspekte werden zunächst in Prosa ausgeführt, bevor sie in je einem Lied poetisch dargestellt werden. Die strophischen Lieder, zu denen sich jeweils die Notation im Anhang des Schäferromans findet, sind alle zweistimmig komponiert, wobei die Generalbassstimmen beziffert sind und teilweise zusätzlich mit handschriftlichen Bezifferungen ergänzt wurden, die auf eine tatsächliche Nutzung der Noten für Aufführungen oder im Privatgebrauch hinweisen. Die durch Liedeinschübe strukturierte Auslegung rahmt Schwieger mit zwei sentenziösen Reimpaaren und trennt so die Erzählung des Traums von dessen Allegorese. Das erste Reimpaar markiert den Beginn des neuen Tages und somit den Anfang des zweiten Teils: „Die Morgen-röhte ließ schon ihren Purpur sehn/ | und Phoebus wolte jetzt aus seiner Kammer gehn“ (Z. 80–81). Das zweite kennzeichnet das Ende des Tages und damit den Schluss: „Weil schon die Abend-röht aus ihrem Orte kam | und die ermüdte Sonn in Ihre Kammer nam“ (Z. 460–461). Die erzählte Zeit lässt sich so auf etwas mehr als einen Tag eingrenzen; gleichzeitig bettet Schwieger die Deutung der Traumvision in den Zyklus des Kosmos ein und verbindet die Nacht symbolisch nach Paulus „mit der Heilsgewissheit (Röm 13,12).“ 642 Ohnehin trägt die Schäferdichtung biblische Züge, denn die Empfängnis einer göttlichen Warnung oder Botschaft im Traum, so wie es Siegreich widerfährt, stammt aus dem Buch Hiob (Hiob 33,15–18): JM trawm des gesichts in der nacht/ wenn der schlaff auff die Leute fellet/ wenn sie schlaffen auff dem bette. 16 Da öffenet er das ohre der Leute/ vnd schreckt sie vnd züchtiget sie. 17 Das er den Menschen von seinem fürnemen Wie Abimelech/ wende/ vnd beschirme jn fur hoffart. 18 Vnd verschonet seiner Seelen fur dem verderben / vnd seines Lebens / das nicht ins schwert falle.643 15
Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. A–G. Hg. von Klaus Weimar, Harald Fricke. Berlin, Boston 1997, S. 36–40, hier S. 40, als ein „methodisch reflektierte[s] Verfahren der Bedeutungserschließung eines mehrfachen Sinns von religiösen, poetischen und anderen Texten.“ 642 Bei Paulus gilt die Evokation der Nacht als Symbol der eschatologischen Hoffnung, vgl. Birge Gilardoni-Büch: [Art] Nacht/Finsternis. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. 2. Aufl. Hg. von Günter Butzer, Joachim Jacob. Stuttgart, Weimar 2012, S. 288–290, hier S. 289. 643 Vgl. Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, Ausgabe letzter Hand 1545, https://www. bibel-online.net/buch/luther_1545_letzte_hand/hiob/33/ (Zugriff 14. Juni 2019).
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4 Allegorie und Allegorese der Wollust in Jacob Schwiegers Verlachte Venus (1659)
Karin Unsicker hat die Verlachte Venus unter Berufung auf Heinz Klamroth zwar als Traumsatire eingeordnet,644 dieser trennt jedoch klar zwischen Traum- und Visionssatire, indem er als Kriterien für die Traumsatire zwei Motive als konstitutiv benennt: Erstens müsse es eine auf einem „äusserlichen Vorgang beruhende Veranlassung zum Traum“ geben und zweitens müsse ein „Führer [existieren], der den Träumenden von Ort zu Ort führt und ihm alles erklärt.“ 645 Bei Visionen sei ein solcher Führer, wie er in der Verlachten Venus gerade nicht vorkommt, „jedoch nicht unbedingt nötig.“ 646 Des Weiteren führt Klamroth an, bei den Traumsatirikern sei der Traum eigentlich Nebensache, mindestens [werde] nicht verlangt, dass man glauben solle die Sache sei so passiert wie der Träumende sie da vorträgt. […] Die Visionssatiriker dagegen wollen ihre Gesichte eben nicht als wesenlose Träume angesehen wissen. Und wenn sie auch nicht ausdrücklich Glauben an ihre Visionen verlangen, so sprechen sie doch in so ernstem, pathetischen Ton, dass man an ein Faktum glaubt nicht an eine blosse Maske.647
Nach Klamroth ist die Verlachte Venus eindeutig der Visionssatire zuzuordnen, da Schwieger in der Widmung formuliert: „Ich hab’ in einem Traum die Wahrheit wollen träumen“ (Z. 17) und somit klar und deutlich den Anspruch erhebt, das Geträumte sei keine „bloße Maske“. Tatsächlich trifft Peter Dinzelbachers Definition der Vision auf den von Schwieger dargestellten Traum weitestgehend zu. Denn er spricht von einer Vision, wenn ein Mensch das Erlebnis hat, aus seiner Umwelt auf außernatürliche Weise in einen Raum versetzt zu werden, er diesen Raum beziehungsweise dessen Inhalte als beschreibbares Bild schaut, diese Versetzung in Ekstase (oder im Schlaf) geschieht, und ihm dadurch bisher Verborgenes offenbar wird.648
Diese Definition lässt sich auf den Handlungsverlauf der Verlachten Venus übertragen: Die sich zufällig treffenden Schäfer Siegreich und Constantia kommen in ihrem Gespräch auf die Frage, wie das Wesen der Venus beschaffen sei. Siegreich, der nicht sofort zu antworten vermag, wird im Traum an einen Ort versetzt, an dem er Venus trifft. Das Aufeinandertreffen wird als beschreibbares Bild dargestellt und das ihm verborgene Wesen Venus wird durch den Traum offenbar. 644 Unsicker, Weltliche Barockprosa in Schleswig-Holstein, S. 244. 645 Heinz Klamroth: Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Traumsatire im 17. und 18. Jahrhundert. Bonn 1912, S. 3. 646 Ebd., S. 6. 647 Ebd., S. 43–44. 648 Peter Dinzelbacher: Vision und Visionsliteratur im Mittelalter. Stuttgart 1981 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 23), S. 29.
4.2 Schwiegers Venus-Allegorie
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4.2 Schwiegers Venus-Allegorie Das poetische Verfahren der Allegorie erlaubt Schwieger, die heidnische Göttin Venus in einem christlichen Rahmen zu transformieren. Venus wird als Sinnbild verstanden und als solches in den heilsgeschichtlichen Kontext eingebettet: Sie bietet dementsprechend ein geistliches Pendant zur paganen Liebesgöttin. Dies ist bereits aus der Beschreibung der Venus im Traum Siegreichs ersichtlich, die mit zahlreichen Bibelanspielungen versehen ist: Er sahe [8] einen zimlich erhabenen Felß/ der einen ebenen lustigen Weg hinauf hatte/ aber auf derandern Seiten eine stürtzende Stikkelheit/ und unter derselben ein unergründlicher Abgrund/ daraus ein jämmerliches Klagen hervor schallete. Oben auf der Spitzen stand ein schönes Weib mit Spinweben bekleidet/ darunter alles/ was an ihrem Leibe war/ in ihren natürlichen Farben hervorblikte: Womit/ als einer Bezauberung/ Sie die Hertzen der Vorübergehenden an sich zog: Forn an der Brust war in ihr Kleid eingewebet: Die süsse Liebs-Ergetzung macht/ daß man mich eine Göttin acht. Siegreich begierig dise Schönheit recht zu beschauen/ ward hinter Ihr [9] zur Seiten der Abstürtzung gewahr diser Uberschrift: So bring ich zum Verderben hin/ was auf mich wendet seinen Sinn.
(Z. 66–78)
Indem Schwieger die Venus auf einem „erhabenen Felß“ (Z. 67) beschreibt, um den herum steile Wände in einen „unergründliche[n] Abgrund“ (Z. 68–69) abfallen und „ein jämmerliches Klagen hevor schallete“ (Z. 69), evoziert er einen Visionsraum, der ganz in der mittelalterlichen Tradition den Eingang zur Hölle als Vulkan beschreibt,649 zu dem ein „lustige[r] Weg hinauf“ (Z. 67) führt. Gleichzeitig erinnert die Schilderung an die biblische Beschreibung des Hölleneingangs nach Matthäus: „13 GEhet ein durch die enge Pforten/ Denn die Pforte ist weit/ vnd der weg ist breit/ der zur Verdamnis abfüret/ Vnd jr sind viel/ die drauff wandeln. 14 Vnd die Pforte ist enge/ vnd der weg ist schmalh/ der zum Leben füret/ Vnd wenig ist jr/ die jn finden.“ (Matthäus 7, 13–14).650 Der Weg zur Venus wird also mit dem Weg zur Verdammnis gleichgesetzt. Damit transformiert Schwieger die Liebesgöttin in eine unheilbringende Dämonin. Indem er sie als „Weib mit Spinweben bekleidet“ (Z. 70) beschreibt, ruft er eine weitere Bibelstelle ins Gedächtnis:
649 Zum Vulkan als visionären Höllenraum vgl. Dinzelbacher, Visionsliteratur, S. 90–96. 650 Vgl. Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, Ausgabe letzter Hand 1545, https://www. bibel-online.net/buch/luther_1545_letzte_hand/matthaeus/7/ (Zugriff 14. Juni 2019).
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4 Allegorie und Allegorese der Wollust in Jacob Schwiegers Verlachte Venus (1659)
SJe brüten Basilisken eyer / vnd wircken Spinneweb. Jsset man von jren Eyern / so mus man sterben/ Zutrit mans aber / so feret ein Otter eraus. 6 Jr Spinneweb taug nicht zu Kleidern / vnd jr Gewircke taug nicht zur Decke / Denn jr werck ist mühe / vnd in jren Henden ist freuel. 7 Jre Füsse lauffen zum Bösen / vnd sind schnell vnschüldig Blut zuuergiessen. Jre gedancken sind mühe / jr weg ist eitel verterben vnd schaden. 8 Sie kennen den weg des Friedes nicht / vnd ist kein Recht in jren gengen. Sie sind verkeret auff jren strassen / Wer drauff gehet / Der hat nimer keinen Friede. (Jes. 59, 5–8)651 5
Das Kleid aus Spinnweben verbindet Schwieger über die evozierte Bibelstelle mit Verführung zur Sünde, denn es bedeckt den Körper der Venus nur spärlich, sodass „darunter alles/ was an ihrem Leibe war/ in ihren natürlichen Farben hervorblikte: Womit/ als einer Bezauberung/ Sie die Hertzen der Vorübergehenden an sich zog“ (Z. 70–72). Siegreich, dessen sprechender Name hier zum Tragen kommt, weil er nicht von der Schönheit der Venus überwunden wird, bemerkt, dass auf der Vorderseite ihres Kleids die Verse: „Die süsse Liebs-Ergetzung macht/ | daß man mich eine Göttin acht“ (Z. 73–74) eingewebt sind; hinter ihr „zur Seiten der Abstürtzung“ (Z. 75–76) entdeckt er jedoch die Überschrift: „So bring ich zum Verderben hin/ | was auf mich wendet seinen Sinn“ (Z. 77–78). Durch die deiktischen Adverbien wird die offensichtliche Schönheit mit der dahinter verborgenen Sünde kontrastiert. Durch die mit biblischen Anspielungen gestaltete Allegorie überblendet Schwieger das Bild der antiken Liebesgöttin mit dem einer christlichen Höllenkreatur. Dennoch erfüllt die Allegorie zunächst einen poetisch-ästhetischen Anspruch, die didaktische Funktion wird durch die Allegorese ergänzt.
4.3 Die Allegorese der Venus Verspottung durch Negation der Genealogie Schwieger leitet die Allegorese der Venusdarstellung mit einer Metapher ein, die den stoischen Grundton der Auslegung manifestiert: Um Venus zu verspotten, wünscht sich Siegreich „des klugen Democritus lachende Art“ (Z. 95–96) und beteuert: „warlich ich würde über nichts so viel/ als über derer Tohrheit lachen/ welche sich der Venus […] als eine Liebes-Göttinnen ergeben“ (Z. 96–98). Das Lachen des Demokrit wird im Zusammenhang mit seiner philosophischen Lehre
651 Vgl. Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, Ausgabe letzter Hand 1545, https://www. bibel-online.net/buch/luther_1545_letzte_hand/jesaja/59/#1 (Zugriff 14. Juni 2019).
4.3 Die Allegorese der Venus
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als Überwindung des „Ausgeliefertsein[s] an die Macht der Affekte“652 interpretiert. Da es innerhalb der stoischen Wertelehre gilt, sich über die „moralischen Schlechtigkeiten […] bewußt zu werden, um das einzig echte Gut […], die sittliche Vollkommenheit oder Tugend […], zu erlangen“,653 kommt der Überwindung der Affekte eine zentrale Rolle zu: Sie gilt als Weg zum glücklichen Leben. Mit dem Wunsch nach dem Lachen des Demokrit lässt Schwieger seinen Helden Siegreich die im Mittelpunkt der stoischen Moralphilosophie stehende „Frage nach dem glücklichen Leben, nach der Erlangung der Eudaimonia“654 beantworten. Indem er Venus als Quelle der Affekte verlacht, überwindet er die Affekte und findet so den Weg zur Eudaimonia. Leitmotivisch zieht sich dieses Lachen durch die gesamte Dichtung: Constantia fragt „mit lachendem Munde […]: Was doch eigentlich Venus sey“ (Z. 41–42) und Siegreich lacht „der außgestandenen Gefahr […] da [er sich] auf [s]einem Bette ausserhalb Gefahr befunden“ (Z. 351–352). Der Titel von Schwiegers Venus-Dichtung zeigt sich damit programmatisch. Den Geburtsmythos von Venus korrigiert Schwieger dementsprechend durch Negation. Statt die herkömmlichen vier Geburtsmythen nach Cicero655 gegeneinander auszuspielen, negiert er die bekannteste Geburtsvariante nach Hesiod656 und versieht seine Korrektur mit einem Seitenhieb auf die Venus-Darstellungen anderer Dichter: Was die Venus sey/ davon unsre Jugend so viel redens und schreibens machet/ auch viele unter den Tichtern nicht geringe Zeit und Arbeit/ darüber man billich lachen muß/ zugebracht haben. Ich befinde bey den Heidnischen Tichtern/ daß Sie in beschreibung ihres Uhr- [12] sprungs/ ihr Wesen/ so fern Sie ein Wesen hat/ etlicher massen abgebildet haben. (Z. 103–107)
Spott überlagert das mit der Überwindung der Affekte verbundene Lachen, und durch die Konjunktion „sofern“ wird die Existenz der Venus infrage gestellt. Für die Geburt nach Hesiod zitiert Schwieger Natale Contis Mythologiae (1551): „Aus einem abgeschnittenen und ins Meer geworfenen Gliede des Saturnus mit Vermischung des Meerschaums sol die schöne Göttinn Venus entsprossen sein. Eine lächerliche Gebuhrt! Ich achte nicht daß die Sonne jemahls eine solche Gebuhrt wird gesehen haben“ (Z. 108–110). Dies wirkt zunächst wie eine Korrektur von
652 Thomas Rütten: Demokrit, lachender Philosoph und sanguinischer Melancholiker: Eine pseudohippokratische Geschichte. Leiden u. a. 1992 (Mnemosyne Supplementum 118), S. 15. 653 Ebd., S. 15. 654 Ebd., S. 15. 655 Cicero, De Nat. Deo. 3.59. 656 Hesiod, Theo. 176–210.
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4 Allegorie und Allegorese der Wollust in Jacob Schwiegers Verlachte Venus (1659)
Contis Mythendarstellung, denn eindeutig markiert Schwieger seine Quelle657 mit der Fußnote „Natal: Com: lib: 2. cap 1a“. Tatsächlich bestätigt Schwieger jedoch Contis Mythendeutung, indem er Venus und deren Geburt einzig zur allegorischen Erfindung herabwürdigt. Denn neben der Kompilation der antiken Mythen enthält jedes Kapitel von Contis Mythologiae auch die Allegorese der Mythen, in der er die antiken Quellen diskreditiert. So berichtet er von Venus’ Geburt: VENEREM illam, […] natam esse fabulantur è Coeli genitalibus partibus à Saturno caesis, & in mare proiectis, sine matre, ex illa spuma scilicet, quae ex illarium iactu in summa aquae parte exorta est. Hanc, ne furere turpiter, & iumentorum in morem libidine agitari viderentur homines, vnà cum filio Cupidine introduxerunt, & pro Dijs colerunt: quorum in potestate esse dixerunt omnia commode ad libidinem spectantia largiri.658
Schwieger paraphrasiert Conti, der Venus und Cupido metonymisch als männliche Wollust beschreibt. Damit distanziert sich Schwieger von dem Glauben an die heidnischen Götter, indem er sie als Sinnbilder entlarvt: Aber das ist wol mehr als wahr/ daß wir sind Zeuger und Gebährerinnen der geulen Venus/ welche ich die Lust-seuche nennen wil/ die als ein Schaum unserer verderbten Natur oft dermassen schäumet/ daß Sie eine Gebuhrt bringet/ die unsern Sinnen im Anfang schön und lieblich daucht/ aber/ nachdem Sie gebohren ist/ uns ins stete Verderben stürtzet. (Z. 111–114)
Im darauffolgenden Lied wird die diskreditierende Gleichsetzung der Figur Venus mit der sündhaften Wollust fortgeführt. Die drei Strophen des Lieds umfassen je acht Verse, von denen jeweils zwei identische Waisen „Verdamte Lust“ (Z. 118+125; 127+134; 136+143) drei Reimpaare zyklisch rahmen (xaabbccx). Dieser Refrain der einzelnen Strophen verleiht dem Lied einen anklagenden Duktus, der zusätzlich durch das Tongeschlecht (d-Moll) untermalt wird, vor allem aber durch die einleitende, den ersten Vers begleitende übermäßige Quarte ‚c‘ – ‚fis‘, dem Saltus 657 Wenn auch inkorrekt, denn die Geburten der Venus werden im vierten Buch, Kapitel 13 dargelegt und diskutiert. Vgl. Conti, Mythologiae, S. 314–330. 658 Vgl. Natale Conti: Natalis Comitis Mythologiae, Sive Explicationis Fabularim, Libri decem In quibus omnia prope Naturalis et Moralis Philosophiae dogmata contenta fuisse demonstrator. […] Frankfurt 1587. [VD16 C 4974], Lib. IV, cap. 13, S. 381. John Mulryan übersetzt: Venus, whom […] was supposed to have been born from the genitals of Heaven, which Saturn cut off and threw into the sea. She had no mother; instead, she was conceived from the foam that crests the water, a foam that was created when Saturn hurled the genitals into the sea. So that men might not seem to be driven by a repulsive obsession, or agitated by lust like beasts of burden, they invented Venus and Cupid and worshiped them both as gods. And they were supposed to be able to grant all the delights that pleasure can give. Vgl. Conti, Mythologiae, S. 314.
4.3 Die Allegorese der Venus
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duriusculus,659 in der Melodiestimme beschwert wird. Dieser expressive Beginn wird außerdem durch das spannungsreiche Intervall in der Bassstimme mit ‚fis‘ gegen ‚g‘ gesteigert. Das konstante musikalische Metrum – alle Lieder weisen durchgehend ein alla-breve-Metrum auf – steht dem variablen Sprachmetrum der Strophen gegenüber: Während die dritte Strophe ausschließlich jambische Dreiheber umfasst, alterniert Schwieger in den ersten beiden Strophen jambische Dreiheber im ersten und dritten Reimpaar (aa und cc) mit einem jambischen Vierheber im mittleren Reimpaar (bb). Dementsprechend müssen die sechssilbigen Verse (V. 4–5) in Strophe drei in die melodischen Phrasen eingepasst werden. Auch im Satzbau unterscheiden sich Strophe eins und zwei von der dritten, in der alle drei Reimpaare eine syntaktische Einheit bilden. In den ersten zwei Strophen bildet das erste Reimpaar einen Auftakt, der das Thema der Strophe bestimmt; das zweite und dritte Reimpaar bieten daran anschließend die thematische Ausführung. Übereinstimmend wird Venus in allen drei Strophen durch die Rahmung als „Verdamte Lust“ metaphorisch umschrieben. Die Lust wird dann jedoch im ersten Reimpaar einer jeden Strophe apostrophiert: In der ersten Strophe wird sie als „Beherscherin der Sinnen“ (Z. 119) personifiziert, in der zweiten als „Mutter aller Seuchen“ (Z. 128) angesprochen und in der dritten als „Mörderin der Seelen“ (Z. 137) angerufen. Während der repetitiv wirkende, parallele Aufbau der Strophen den anklagenden Charakter des Lieds beschwert, weisen die verunglimpfenden Apostrophen – von der Herrscherin zur Mutter zur Mörderin – eine stete Steigerung auf. Biblische Überblendung Nach der Allegorese von Venus’ Geburt bittet Constantia, das Traumgesicht weiter auszudeuten: „nachdem er mihr das Gesichte erzehlet/ bitte Ich/ solches auf gedachte Venus zu deuten“ (Z. 152). Siegreich beginnt mit dem Pfad zur Venus: Es war ein leichter und lustiger Weg den Felsen hinauf. Nichts leichters acht ich/ sey/ als auf den Weg der schnöden Venus (Lust-Seuche) dazu wir von der Natur geneigt sind/ gerahten/ an welchen sich zugleich tausend-fältige Anlokkungen finden. Da singet einer ein an-muhtiges
659 Zur Wirkung des saltus duriusculus vgl. Hartmut Krones: [Art.] Musik und Rhetorik, III.3.b.α. In: MGG Online, zuerst veröffentlicht 1997, online veröffentlicht 2016, https://www-1mgg-2online1com-1t4lic03t04d2.emedien3.sub.uni-hamburg.de/mgg/stable/13623 (Zugriff 18. September 2018).
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4 Allegorie und Allegorese der Wollust in Jacob Schwiegers Verlachte Venus (1659)
Liedchen von der Venus und ihrem Sohne/ darnach den Vorübergehenden die Ohren gukken: Ein ander spielet ein schönes Kundaichen: Dise [16] winkket mit den Augen/ jene mit der Hand: Eine andere sendet ein verborgenes Brifchen/ oder windet ein schönes Kräntzchen/ Sträußchen/ und wirft es den auf disem Wege spatzierenden zu. (Z. 154–160)
Die Metaphorik des Weges, der vorbei an verführerischen Frauen führt, erinnert stark an die Sprüche Salomons,660 doch Schwieger bemüht ein weiteres Gleichnis aus der antiken Mythologie, um seiner Ausdeutung Gewicht zu verleihen: „Hie spihlt mans also/ daß keiner von diser Bahn möge wiederum kehren/ sondern wie die Schifleute durch der Sirenen liebliches singen zu ihren Klippen nahen.“ (Z. 163–165). Der Mythos von den weiblichen Mischwesen, die an Klippen lauern und vorbeifahrende Seefahrer mit ihrem Gesang verzaubern, um sie anschließend zu töten, stammt aus Homers Odyssee (Hom. Od. 12,39–54 und 12,166–200). Darin entkommt Odysseus dem Sirenengesang, indem er seine Mannschaft anweist, die Ohren mit Wachs zu verschließen, sich selbst jedoch an den Mast fesseln lässt, um den Gesang hören zu können. Bereits in den Bibelkommentaren des Ambrosius (Expositio in Lucam 4,2 und 4,3) finden die Sirenen als Allegorie für den trügerischen Wohlklang des Teufels, der damit versucht, die christlichen Seelen zu verführen, ihren Weg in die christliche Theologie.661 An diese lang tradierte, durch die Bibelkommentare des spätantiken Kirchenvaters autorisierte christliche Allegorese des Sirenen-Mythos knüpft Schwieger mit seiner Rezeption an. Die Synthese der ideellen Schönheit der Venus mit der verführerischen Schönheit der Sirenen dient als Bindeglied zwischen einem bereits in die christliche Dogmatik eingeführten Mythos und dessen Rezeption der paganen Göttin. An diese Mythensynthese schließt Schwieger eine weitere Anekdote an, die wahrscheinlich auf katholische Postillen zurückgeht.662 Angeblich sei die Tochter 660 Dort heißt es: „3 Denn die lippen der Huren sind süsse wie honigseim / vnd jre Kele ist gleter denn öle. 4 Aber hernach bitter wie Wermut/ vnd scharff wie ein zweischneitig Schwert. 5 Jre füsse lauffen zum Tod hinunter/ jre genge erlangen die Hell. 6 Sie gehet nicht stracks auff dem wege des Lebens/ vnstete sind jre tritt/ das sie nicht weis/ wo sie gehet.“ (Spr. 5, 3–6). Vgl. Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, Ausgabe letzter Hand 1545, https://www.bibelonline.net/buch/luther_1545_letzte_hand/sprueche/5/ (Zugriff 14. Juni 2019). 661 Vgl. Berthold Hinz: [Art.] Sirenen. In: Der Neue Pauly. Supplemente Bd. 5. Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. von Maria Moog-Grünewald. Stuttgart, Weimar 2008, S. 655–661, hier S. 656. 662 Noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts findet sich diese Anekdote in den katholischen Postillen, wie etwa bei Leopoldt Fraydt: Christcatholische Hand-Postill, oder kurze Erklärung der […] Evangelien. Zur grösseren Ehre Gottes, zum Heil des Nächsten, zum Trost der Hauss-Väter, und zum Behülf der Seelsorger. Bd. 4. Erklärung der Feyertäglichen Evangelien […]. Wien u. a. 1759, S. 298–299. Zum Volksmissionar Fraydt (1705–1759) vgl. Manfred Brandl: Die deutschen katholischen Theologen der Neuzeit. Ein Repertorium. Bd. 2. Aufklärung. Salzburg 1978, S. 70–71.
4.3 Die Allegorese der Venus
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des Königs von Neapel, Clementia Caroli II,663 von Frankreichs König „zur Gemahlin erkohren/ doch mit dem bedinge/ daß Sie sich erstlich nakend solte sehen lassen/ ehe die Verbündnüß geschlossen würde“ (Z. 167–168). Gegen die Ratschläge ihrer Freundinnen habe die Prinzessin sich entkleidet und so „zugleich Leib und Sehl verunehret“ (Z. 175). Mit der christlichen Anekdote, der christlichallegorischen Rezeption des Sirenen-Mythos und der an Salomons Sprüche erinnernden Semantisierung des Wegs zur Venus rückt Schwieger seine Rezeption der paganen Göttin in einen christlichen Kontext. An die mahnenden Referenzen schließt auch der Duktus des nachfolgenden Lieds an: Die erste der vier Strophen, die je sechs Verse mit einem Kreuzreim und einem schließenden Reimpaar umfassen, setzt mit dem Imperativ „Schaut her […] und lernet“ (Z. 177–178) ein und manifestiert den didaktischen Charakter des Lieds. Die beiden darauffolgenden Strophen sind durch die sechsfache Wiederholung des raumdeiktischen Adverbs „Hie“ (Z. 185, 189, 192, 193, 194, 196) anaphorisch dynamisiert und vergegenwärtigen nachdrücklich die Gefahr, die vom Weg der Wollust ausgeht. Deutlich ist eine Verrohung des Vokabulars, mit dem die Gefahren beschrieben werden, zu erkennen: Das konsonantisch intensivierte „Schatz verschertzen“ (Z. 179) wird durch das Vorpfeifen „geuler Lieder“ (Z. 186) gesteigert und durch die „Huren-Kunst“ (Z. 193), die anaphorisch verstärkte „ungezähmte Zükke“ (Z. 194) und die ansteckende „geule Brunst“ (Z. 195) wirkungsvoll auf die Spitze getrieben. Das Crescendo der herabwürdigenden Umschreibungen der Verführungskünste, das auch durch die steigende Anzahl der raumdeiktischen Zeigemittel potenziert wird, mündet in der imperativen Verweisung der „Huhrer“ (Z. 199), die sich mit flehenden Bitten an die „keuschen Hertzen“ (Z. 201) wenden sollen. Enthistorisierung Im weiteren Verlauf der Allegorese deutet Siegreich als nächstes generalisierend das Spinnenweben-Kleid der Venus als symbolisches Abbild aufreizender und verführerischer Kleidung von Frauen aus: Das Bild/ […] mit einer Spinwebe bekleidet/ darunter alles am Leibe mit seinen natürlichen Farben hervorblikte/ dazu den Reim welchen Sie an der Brust führete/ bedünkken mich fein
663 Gemeint ist Clementia von Habsburg (um 1295), Tochter von König Rudolf I. von Habsburg und Gertrud Anna von Hohenberg, die mit Karl Martell, dem Sohn König Karls II. von Anjou, verheiratet war. Vgl. Ingrid Roitner: [Art.] Clementia (Klemenza) von Habsburg. In: biografiA. Lexikon östereichischer Frauen. Bd. 1. A–H. Hg. von Ilse Korotin. Wien u. a. 2016, S. 510–511.
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abzubilden die heutige leichtfertige Kleidungs-art unzüchtiger Weiber: Die also beschaffen ist/ daß man weiß nicht wie weit [20] hinein/ und wie tief hinunter sehen kan: Lieber möchten Sie nakend als also bekleidet gehen/ weil Sie sich vielleicht alsden schämeten unter die Leute zukommen. Weil aber ihre leichtfertige Kleidung durch den Wahn der Zihrligkeit gebilliget wird/ verstrikket Sie/ wie ein Spinnengewebe die Fligen/ manches Auge und Hertze/ welches der Venus (Lust-Seuche) auf ihrem Altar ein Opfer zubringen bey sich gedenkket. (Z. 209–217)
Um die Wirkung der verführerischen Kleidung zu veranschaulichen, beruft sich Siegreich auf den „in diser Kunst wolerfahrne[n] Ovid“ (Z. 218). Das Demonstrativpronomen „dieser“ und der nachfolgende Verweis auf die Amores beschreibt Ovid als Erlebnisdichter und wertet ihn im Kontext der die Liebeserfüllung ablehnenden Schäferdichtung als lasterhaften amator ab. Schwieger macht seine Vorlage durch die Fußnote kommunikativ kenntlich,664 um selektiv auf eine der Liebeselegien zu verweisen, in denen Ovid die Grenzen der elegischen Liebeskonzeption aufweicht und ein Gegenbild zur unerreichbaren Geliebten zeichnet, der sich der amator sklavisch unterwirft. Diripui tunicam, nec multum rara nocebat, pugnabat tunicâ se tamen illa tegi. Ich riß den Rok hinweg/ auch könt er weinig machen/ [21] weil er gewirkket war von über dünnen Sachen/ daß man schier könte sehn was drunter war verstekt und gleichwol wolte Sie damit sein zugedekt. (Z. 220–227)
In den Amores 1,5 wird das lyrische Ich während der Mittagsruhe vom Besuch seiner Liebesdame überrascht. Von ihrer lasziven Kleidung angespornt, reißt er ihr die Kleider vom Leib, um sie mit langen Blicken ausführlich zu betrachten. Der Vollzug des Beischlaf wird angedeutet, doch im Zentrum steht das voyeuristische Erlebnis des lyrischen Ichs. Schwieger gibt das elegische Distichon, das die Entkleidung der Geliebten beschreibt, in vier paargereimten Alexandrinern wieder. Dabei elaboriert er vor allem die Durchsichtigkeit des Kleids, verschweigt jedoch, dass die Liebesdame Corinna um ihre Bedeckung kämpft („pugnabat tunicâ“). Die bei Ovid passiv laszive Kleidung der Corinna, die ihr der Mann entreißt, wendet Schwieger in eine
664 Vgl. Ovid: Liebeskunst/ Ars amatoria. Lateinisch-Deutsch. Hg. und übers. von and Niklas Holzberg, Berlin, Boston. 2011, S. 50, V. 13–14, mit abweichender Orthographie: deripui tunicam; nec multum rara nocebat, pugnabat tunica sed tamen illa tegi
4.3 Die Allegorese der Venus
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Geste aktiv-aggressiver Verführung, für die das Kleid lediglich eine vorgetäuschte Bedeckung ist, deren Sinn gar nicht erfüllt werden kann. Corinna wird dadurch zur lasterhaften Verführerin, der männliche, gewaltsame Akt des Entkleidens tritt dahinter zurück. Überdies enthistorisiert Schwieger seine Darstellung der Venus: Gegenüber Constantia beklagt Siegreich, „daß einer unzüchtigen WeibesPersohn ein hoher Nahme/ der hohe Tugenden mit sich führen sol/ zugelegt werde“ (Z. 232–233), da „die bey den Tichtern gerühmte Venus eine (mit Erlaubniß) ErtzHure und Ehebrecherin [sei]/ die/ […] ungeachtet ihres Ehemanns Vulcanus mit dem kriegerischen Mars/ biß die helle Sonne aufging/ ihrer Lust pflegete“ (Z. 235–238) und trotzdem eine Göttin genannt werde. Die Venus-Mars-Episode, in der Venus ihren Ehemann Vulcanus mit Mars hintergeht, deutet Schwieger in der spätantiken Tradition, die auch im Mittelalter vielfach rezipiert wurde, als Manipulation der Tugend durch die Wollust. Schon bei Fulgentius (Myth. 2,7) wird Mars als Ebenbild der Tugend angeführt, die durch Venus, die als personifizierte Lust auftritt, korrumpiert wird.665 Anders als die meisten zeitgenössischen Rezeptionen, in denen die Liebschaft zwischen Venus und Mars allegorisch als Sieg der Liebe über den Krieg interpretiert wurde,666 verschärft Schwieger die spottende Interpretation des Fulgentius. Mars wird nicht als Personifikation der Herrschertugenden dargestellt, sondern nimmt – weil er nicht von Venus verführt werden muss – im Ehebruch dieselbe Rolle wie Venus ein. Weder Mars noch Venus haben damit göttliche Attribute, einzig die antiken „Tichter“ (Z. 235) hätten sie zu solchen erhoben. Die Herabsetzung der paganen Götter findet ihren Höhepunkt in der Enthistorisierung, denn, wie Siegreich erklärt, seien „wie ihre Persohn/ also auch ihre Nahmen und Tahten ertichtet“ (Z. 238–239). Ferner projiziert Schwieger seine moraldidaktische Interpretation der VenusMars-Affäre auch generalisierend auf Frauen, welche die Friedensallegorie nutzen, um ihr lasterhaftes Verhalten zu rechtfertigen: „Und Ihr/ die ihr Göttinnen wollet heissen/ müsset nicht Hellinnen (Heldinnen wolt ich sagen) werden/ und mit dem Mars zu Felde liegen und kriegen/ daß euch die Sonne der Wahrheit nicht unversehens verrahte/ und eure hohe Ehre in den Koht falle“ (Z. 242–245). Mit der Annominatio „Hellinen“ / „Heldinnen“ verunglimpft Schwieger pauschal alle hellenischen (d. h. griechischen) Frauen als ‚Venus-Heldinnen‘, also als leichte Damen, und suggeriert so die moralische Überlegenheit der deutschen gegenüber den griechischen Frauen. Deutlich ist hier die kulturpatriotische
665 Vgl. Witthaus, Ares, S. 133–134. 666 Ebd., S. 134–137.
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Wendung gegen die antiken Vorbilder zu erkennen, die bereits von Karin Unsicker beschrieben wurde.667 Das folgende Lied resümiert Siegreichs moraldidaktische Erläuterung zu den Kleidern der Venus. Als erstes Lied in Dur (C) konterkariert es die vorangehenden klagenden Lieder, wobei besonders die durchgehend punktierte Cantus-Stimme im Gegensatz zu der in Vierteln voranschreitenden Bassstimme belebend wirkt. Die lebendige musikalische Gestaltung des Lieds, deren sechs Strophen je vier paargereimte, jambische Fünfheber umfassen, wird auch inhaltlich gespiegelt. Dabei bilden die ersten drei sowie die letzten drei Strophen jeweils eine gedankliche Einheit: Die ersten drei Strophen konkretisieren immer stärker, wie die äußerliche Erscheinung die Gesinnung eines Menschen verrät. In der ersten Strophe werden vier Aphorismen geboten,668 deren übertragener Sinn im letzten Vers unmittelbar zum Ausdruck kommt: „welche Braut sey sihet man am Krantz“ (Z. 250). Die zweite Strophe erklärt, dass deshalb die dünnen Kleider von Frauen ihre „Geulheit“ (Z. 254) anzeigen, während die dritte Strophe mit den Diminutiva der Wörter ‚Favor‘669 und ‚Rose‘ gebildeten Schlagreimen „Favörchen Thörchen“ (Z. 257) und „Rößchen Lößchen“ (Z. 259), die laszive Kleidung im Detail beschreibt. Während die Diminutiva zusammen mit den Schlagreimen zur Lebendigkeit des Lieds beitragen, sind die ‚losen Rosen‘ doppelt kodiert: Einerseits referieren sie auf tatsächlich am Kleid getragenen Blumenschmuck, andererseits beschreiben sie metaphorisch die sexuelle Leichtfertigkeit der satirisch herabgesetzten Frauen. Der zweite Abschnitt des Lieds schildert in den Strophen vier bis sechs die Wirkung der aufreizenden Kleidung. Erneut im aphoristischen Stil („Gelegenheit
667 Unsicker, Weltliche Barockprosa in Schleswig-Holstein, S. 245–246. 668 Besonders das Sprichwort des Incipits „Den Vogel man an seinen Federn kennt“ hat sich lange in Sprichwörterlexika gehalten. Es taucht noch auf bei Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hg.): Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk. Bd. 5. Weib bis Zwug. Zusätze und Ergänzungen. Leipzig 1880, Sp. 1252–1253. Dort werden drei Quellen zitiert, die das Sprichwort schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts belegen. Diese sind: Eucharius Eyering: Proverbiorum Copia: Etlich viel Hundert/ Lateinischer und Teutscher schöner und lieblicher Sprichwörter […]. Teil 1. 1601. [VD17 23:285363N], S. 88; Georg Henisch: Teütsche Sprach und Weißheit. Thesaurus Linguae Et Sapientiae Germanicae […]. 1616. [VD17 12:131438A], S. 1030 sowie Christoph Lehmann: Florilegium Politicum. Politischer Blumengarten […]. 1630. [VD17 32:673989A], S. 916. 669 Ein favor ist ein Band oder eine Schleife, die als Zeichen der Gunst um den rechten Ärmel gewunden oder anderweitig angebunden wurde, vgl. Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Hgg.): Deutsches Wörterbuch. Elektronische Ausgabe der Erstbearbeitung. Online-Version. http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GF01501#XGF01501 (Zugriff 07. September 2018).
4.3 Die Allegorese der Venus
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die meisten Diebe macht“, Z. 262) führt die vierte Strophe die Verführbarkeit der Männer vor Augen. Mit einer apologetischen rhetorischen Frage, welche die wollüstigen Männer verteidigt („Wem solte nicht das Hertz in Lust aufgehn | der durch die Löcher fast kan alles sehn“, Z. 269–270), schließt sich die fünfte Strophe an, bevor die sechste Strophe in einer didaktischen Apostrophe Frauen davor warnt, ihr verführerisches Verhalten fortzusetzen. Anhand des Lieds lässt sich exemplarisch Schwiegers Geschlechterkonzeption darstellen. Frauen, so scheint Schwieger zu vermitteln, bieten durch ihre aufreizende Kleidung ihre Leichtfertigkeit dar, mit denen sie die Männer in Versuchung führen. In der misogynen, weil schuldzuweisenden Konzeption der Frauenrolle deutet sich auch Schwiegers Liebeskonzeption an: Er entwirft ein Gegenbild zur Idealisierung, die aus der Kenntnis der (fingierten) Eigenschaften der Liebesdame besteht, sowie zur Paradoxierung, bei der sich die Liebe durch Imagination der Liebeserfüllung rechtfertigt. Gerade die Imagination der Liebeserfüllung lehnt er durch die übersetzerische Aneignung von Ovids Amores 1,5 ab, ebenso, wie er auch die Fixierung auf die idealtypische Schönheit der Frau zurückweist. Wie sich durch den folgenden Auslegungsschritt des Venusbildes zeigen lässt, muss sich die Liebe nach Schwiegers Konzeption durch Tugend und Keuschheit rechtfertigen. Satire Als vierten Aspekt behandelt Siegreich die Schönheit, die er in eine natürliche und eine geschminkte Schönheit unterteilt. Wie er berichtet, erlaubt er sich im Traum „Des Bildes Schönheit/ […] etwas genauer zubetrachten/ weil Sie [ihm] nicht eine natürliche/ sondern geschminkte […] Schönheit zusein dauchte“ (Z. 277–281). Er erklärt, dass die natürliche Schönheit „ein köstliches Kleinod“ (Z. 282) sei und dennoch für unrechte Zwecke eingesetzt werden könne. Siegreich exemplifiziert dies mit Helena, die Paris als Preis für sein Urteil im Schönheitsstreit zwischen Athene, Juno und Venus erhalten hatte: „Die schöne Königin in Grichenland stieß durch ihre Schönheit das gantze Trojanische Reich und sich selbst ins Verderben“ (Z. 296–297). Schwieger reduziert den Mythos des Paris-Urteils: Indem er Sequenz I (Hirtenleben) und Sequenz II (Urteil) des idealtypischen Mythenverlaufs ausklammert und lediglich auf die dritte Sequenz (Trojanischer Krieg) anspielt, beschuldigt er Helena der Zerstörung Trojas. Diese Mythenreduktion verkürzt den Handlungsverlauf bis zu ihrer Entführung, schließlich wurde sie Paris von Venus versprochen und dann von ihm gewaltsam aus den Gemächern ihres Ehemanns entführt. Helenas passive Rolle im Paris-Urteil wendet Schwieger jedoch ins Aktive: Helenas Schönheit habe Troja ins Verderben geführt. Diese Deutung fügt sich in die mittelalterliche Tradition, in der Helena als Verführerin
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eine Mitschuld am Untergang Trojas angelastet wurde.670 Von dieser rein körperlichen Schönheit grenzt Siegreich die metaphysische Schönheit ab: „von der Schönheit keuscher Tugendliebenden Hertzen rede ich nicht/ welcher ob schon nachgestellet wird bleibet Sie doch/ wie Sie in des Himmels Huht gestellet ist/ in der Ehrbahrkeit Schrankken/ und unbeweglich in dem Schlosse der Keuschheit“ (Z. 290–293). Tugend, Ehrbarkeit und Keuschheit werden mit metaphysischer Schönheit verbunden, die auch durch unnatürliche, ‚geschminkte‘ Schönheit nicht ersetzt werden könne: Was sol ich aber von denen sagen/ welche mit der Gestalt/ damit die gühtige Natur Sie begabet hat/ nicht zu friden sind sondern über dieselbe ihnen eine Schönheit aussm Topffe anschmieren. […] Ich lasse mich leicht bereden/ daß Sie dise Kunst ihrer Schwester Iesabel abgelernet/ von welcher der jenige so nicht lieget/ in seinen wahrhaftigen Zeugnüssen zeuget daß Sie eine Huhre gewesen. (Z. 298–311)
Die satirische Darstellung der Venus als hässliche Frau, die nur durch Schminke zu ihrer Schönheit gelangt, entlehnt Schwieger der Geschichte von Isebel aus dem zweiten Buch der Könige. Mit einer Fußnote macht er seine Quelle kenntlich („2. Reg. 9. V. 22.“, Fußnote zu Z. 311). Isebel verschafft ihrem Mann Ahab, dem König von Samaria, den Weinberg des Israeliten Naboths, indem sie Naboth der Gotteslästerung bezichtigt, woraufhin er gesteinigt wird (1. Kön. 21, 1–16). Zur Sühne dieser schändlichen Tat lässt Gott Jehu nach Samaria reiten, um Ahab und Isebel zu töten. Um dem Tod zu entrinnen, schminkt sich Isebel, aber Jehu entlarvt sie, lässt sie von einem Turm stoßen und sie auf dem Weinberg, den sie von Naboth genommen hatte, nach Gottes Wille von Hunden fressen (2. Kön, 9. 1–37). Während die Praeterito „Ich wil nicht mehr sagen. Andere mögen aus disem Holtze selbst Pfeile drehen und Sie nach gelegenheit verschißen“ (Z. 311–312) suggeriert, Venus solle dasselbe Schicksal wie Isebel erleiden, verdeutlicht der Vergleich die Abwendung von der idealisierenden Liebe, die einzig auf Äußerlichkeiten beruht. Darüber hinaus transformiert Schwieger – wie bereits mit der SirenenRezeption und der Anekdote zu Clementia Caroli II – Venus ins Christliche, indem er eine biblische Geschichte anführt. Mit dieser Korrekturtechnik scheint er den Forderungen seines Zeitgenossen und Dichterfreundes Johann Rist
670 Vgl. den Überblick zur literarischen Wirkungsgeschichte Helenas von Helene Homeyer: Die Spartanische Helena und der Trojanische Krieg. Wandlungen und Wanderungen eines SagenKreises vom Altertum bis zur Gegenwart. Wiesbaden 1977 (Palingesia 12), S. 124–128.
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nachzukommen, der im Vorwort seiner Lyriksammlung Poetischer Schauplatz (1646) die poetische Rezeption antiker Mythen kategorisch ablehnt:671 Aber pfui des Teuflischen Wesens/ und der mehr als heidnischen Blindheit/ Daß ihr/ die ihr euch des wahren Erkentnisse rühmet/ so gahr nich schähmet der elenden Heyden Götter/ welche ihrer alten Lehrer Mährlein-Schreiber selbst eigenem Bekäntnisse nach lauter Rauber/ Diebe/ Mörder/ Ehebrecher/ Knabenschänder/ Bluhthunde/ ja gahr leibhafte Teuffel sind gewesen/ so andächtig anzuruffen/ so meisterlich herauß zustreichen/ und so demüthig zu verehren! Wie lange wollen wier doch das liebe Christenthum mit dieser Heydnischen Larve bedekken? Wie lange wollen wier noch die keusche/ denen Christlichen Eheleuten von Gott eingepflanzete Liebe dem Teufel und seiner Mutter der geilen VenußHuhren zuschreiben? 672
Statt die antiken Mythen im Geiste der Renaissance ästhetisierend zu gestalten, sollten die christlichen Dichter heilsgeschichtliche Motive verarbeiten. Ähnlich wird knapp 20 Jahre nach Schwiegers Verlachter Venus auch Sigmund von Birken in seiner Teutschen Rede-bind- und Dicht-Kunst (1679) zur Bearbeitung biblischer Stoffe aufrufen: Die H. Schrift hat viel warhafte schöne Geschichten/ die man/ an stat dieser Lügen/ einführen kan. Es ist auch ohnedas/ der Heidnischen Götzenkrempel/ lauter Affenwerk des Satans/ aus H. Schrift genommen. Was sind Jupiter und Juno anders/ als Adam und Eva/ das erste paar Menschen? Jubal/ Tubalkain und Naema/ […] sind Orfeus/ Vulkanus und Venus.673
Damit lässt sich Schwiegers Verlachte Venus eindeutig zwischen den Poetiken von Rist und Birken verorten. Nicht allein die mythologischen Handbücher bilden seinen Quellenfundus, vielmehr bedient er sich biblischer Geschichten, um die Liebesgöttin als heidnische Überformung biblischer Figuren auszuweisen. Mit der darauffolgenden Arie in D-Dur schließt Schwieger an die christianisierende Überlagerung von Venus’ Schönheit an: In den ersten drei der insgesamt sechs Strophen wird die Schönheit generell beschrieben, wohingegen in den letzten drei Strophen apostrophierend didaktische Verhaltensregeln für Frauen formuliert werden. Die erste Strophe verurteilt die Forcierung äußerlicher
671 Dass Schwieger sich explizit auf Rists Poetik bezieht, liegt besonders deshalb nahe, weil Rists Poetischer Schauplatz in Schwiegers Bibliothekskatalog nachgewiesen worden ist. Das Exemplar aus Schwiegers Besitz gehört heute zu dem Bestand der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek und trägt die Signatur [Lr 125], vgl. Lohmeier, Jacob Schwieger, S. 128. 672 Johann Rist: Poetischer Schauplatz/ Auff welchen allerhand Waaren Gute und Böse Kleine und Grosse Freude und Leid-zeugende zu finden. Bey und In Verlegung Heinrich Wernern. Hamburg: 1646. [VD17 3:005844D], Bl. C–Cij. 673 Birken, Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst, S. 66–67.
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Schönheit mit einer biblischen Anspielung: „Wer auf dem Triebesand im Wasser baut/ | und nur auf eusserliche Schönheit schaut“ (Z. 314–315). Damit verweist Schwieger auf das Matthäusevangelium im siebten Kapitel, in dem es heißt: 24 DArumb/ wer diese meine Rede höret/ […] den vergleiche ich einem klugen Man/ der sein Haus auff einen Felsen bawet. 25 Da nu ein Platzregen fiel / vnd ein Gewesser kam/ […] fiel es doch nicht/ Denn es war auff einen Felsen gegründet. 26 Vnd wer diese meine Rede höret/ vnd thut sie nicht/ Der ist einem törichten Man gleich / der sein Haus auff den Sand bawet. 27 Da nu ein Platzregen fiel/ vnd kam ein Gewesser […] / da fiel es/ vnd thet einen grossen fall. Luc. 6. (Mat. 7, 24–27)674
Erneut wird durch eine Bibelstelle das antike Abbild der weiblichen Schönheit überblendet und dadurch der Vanitas-Topos, der in der zweiten Strophe ausgestaltet ist („Was ist doch Schönheit? eine leichte Bluhm/ | die gar geschwind verschwindt mit ihrem Ruhm?“ Z. 319–320), in einen christlichen Rahmen überführt. Während die dritte Strophe mit der Tugend die Alternative zur Fixierung auf Äußerlichkeiten bietet, vollzieht sich in den Strophen vier bis sechs eine satirische Wendung: Die vierte Strophe weist schöne Frauen an, sich tugendhaft zu verhalten, auch wenn sie gutaussehend seien, und konterkariert die fünfte Strophe, die unattraktive Frauen mit einem lakonischen Vergleich herabwürdigt: Hat aber die natur dich nicht verehrt/ so mache dich durch Tugend lieb und wehrt: Es gukket offt aus einem schlechten Hauß ein schöner Wihrt zu seinem Fenster aus. (Z. 334–337)
Der Vergleich mit einem „schlechten Hauß“675 wirkt ambivalent, denn einerseits werden Frauen dadurch zu Objekten degradiert, andererseits wird die Reduktion der Frauen auf ihr Äußerliches abgelehnt. Emphatisiert wird diese misogyn wirkende Satire durch die Exclamatio „Pfü!“ (Z. 339) der letzten Strophe, in der erneut ausschließlich die sich verstellenden Frauen mit dem Pars pro toto „ungestalte Haut“ (Z. 339) apostrophiert werden.
674 Vgl. Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, Ausgabe letzter Hand 1545, https://www. bibel-online.net/buch/luther_1545_letzte_hand/matthaeus/7/#1 (Zugriff 14. Juni 2019). 675 „Schlecht“ scheint hier jedoch in seiner alten Bedeutung von ‚schlicht‘ verwendet worden sein, vgl. Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Hgg.): Deutsches Wörterbuch. Elektronische Ausgabe der Erstbearbeitung. Online-Version. http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigl e=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GS10832#XGS10832 (Zugriff 07. September 2018)
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Emphase Die christliche Überblendung der paganen Göttin ergänzt Schwieger schließlich durch naturkundliches Wissen. Die Anziehungskraft der Venus erkläre sich einzig dadurch, dass die Venus ihre „verdamliche Anmuthigkeit“ (Z. 363) verstecke, sodass ihre Opfer ihr unwissentlich verfielen. Als Beleg vergleicht er Venus mit dem Panther, den er nach Solinus wie folgt beschreibt: Ich erinnere mich/ daß ich beim Solinus, der es ohne zweifel aus dem Plinius genommen/ habe gelesen vom Panterthier/ daß es mit seinem lieblichen Geruch die andere Tihre sol an sich zihen/ damit Sie aber vor seinen scheußlichen Kopf sich nicht entsetzen/ verbirget es denselben / biß die Tihre so nahe kommen/ daß Sie können erhaschet und gefressen werden. Auf gleiche art machet es die Venus (Lust-Seuche:) Sie zeucht mit ihrer verdamlichen Anmuhtigkeit ihre Liebhaber so weit an sich daß Sie dieselbe endlich [33] gar frist. (Z. 358–364)676
Mit dem Verweis auf die Sekundärquelle von Solinus inszeniert sich Schwieger als belesen und der antiken Quelle überlegen, da er Solinus als Kopist bezeichnet.677 Zugleich macht er sich das antike naturkundliche ‚Wissen‘ zunutze, um die Venus zu dämonisieren. Dementsprechend gestaltet Siegreich den Abgrund, in den Venus die Menschen stützt, nachfolgend als wahrhafte Hölle aus und wendet den literarisch-fiktiven Liebestod, der durch die Petrarca-Rezeption fester Bestandteil der barocken Liebeslyrik wurde, in einen christlichen Tod um: Disen frist Sie die Ehre/ […] Jenen Leib und Seele: Da muß ein kaltes Eisen der Venus zu ehren durchs Hertz gestoßen sein: Ein zubereiteter Gift muß gesoffen sein der die LebensGeister in die lange Nachtruhe bringe/ da muß aus grosser Venus Begihrde ins Wasser gesprungen sein. Ach deß schönen Leibes/ welches ein Geschöpf Gottes! Ach der edlen Seelen/ die ein Hauch des Höchsten ist/ die beiderseits so viel zu erlösen gekostet/ und müssen der verfluchten Venus / (Lust- [34] Seuche) zu Ehren dem Teufel die Küche füllen! (Z. 367–374)
676 Vgl. Solnius, Collectanea rerum mirabilium XVII, 8–9: „Tradunt odore earum et contemplatione Armenta mire adfici atque ubi eas persentiscant properato convenire nec terreri nisi sola oris torvitate; qua ob causam pantherae absconditis capitibus quae corporis reliqua sunt spectanda praebent, ut greges stupidos in obtutum populentur secura vastatione.” Zitiert nach: Gaius Iulius Solinus. Wunder der Welt. Collectanea rerum mirabilium. Lateinisch und deutsch. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Kai Brodersen. Darmstadt 2014, S. 153–155. 677 Tatsächlich sind etwa drei Viertel von Solinus’ Werk auf die Naturalis Historia von Plinius zurückzuführen, vgl. Brodersen, Wunder der Welt, S. 9. Die vorliegende Stelle lautet bei Plinius: „ferunt odore earum mire sollicitari quadripedes cunetas, sed capitis torvitate terreri; quam ob rem occultato eo reliqua dulcedine invitatas corripiunt.“ Vgl. Plinius Secundus der Ältere: Naturalis Historiae. Naturkunde. Buch VIII Zoologie: Landtiere. 2. Aufl. Berlin/Boston 2007. Hrsg. und übers. von Roderich König und Gerhard Winkler, S. 56.
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Den Liebestod, der in der petrarkistischen Lyrik stets als Höhepunkt der Hingabe zur fiktiven Geliebten spielerisch variiert wurde, invertiert Schwieger in einen Tod der Sünder, denen aufgrund ihrer weltlichen Liebeserfüllung das Paradies versagt wird. Folglich bleibt den beiden Schäfern nichts, als die Seelen in der Verdammnis zu bemitleiden. Das letzte Lied vergegenwärtigt das Leid der Sünder. Die sieben Strophen umfassen je sechs jambische Vierheber, die durch den jambischen, dreihebigen Ausruf „Wie weh ist uns/ ach weh!“ (Z. 383 ff.) zu Beginn und am Schluss jeder Strophe symplokisch gerahmt, aber auch emphatisiert und dramatisiert werden. Zusätzlich werden die refrainartigen Emphasen durch die chromatische Führung der Bassstimme expressiv intensiviert. Durch die in jeder Strophe im zweiten Vers auftretende Apostrophe „Ihr Sterblichen“ (Z. 384 ff.) werden die Sänger/innen als unsterblicher, in der ewigen Verdammnis verharrender Chor stilisiert, dessen Leid durch die zyklushaften, sich wiederholenden ersten und letzten Verse jeder Strophe als körperlich sowie zeitlich endlose Qual dargestellt wird. Die Apostrophe hebt den Gegensatz des endlichen, irdischen Lebens und des unendlichen Leidens der Sünder/innen hervor, welches durch die wiederholenden Hyperbeln „tausend Jahr“ (Z. 414, 433) zusätzlich betont wird. Die Klage des Chors perspektiviert die Allegorese zum Schluss der Dichtung aus Sicht der Sünder und verleiht der belehrenden Komponente Ausdruck.
5 Zusammenfassung Während im strukturellen Vergleich die Parallelen zwischen Zesens VenusDichtung Lustinne und Opitz’ Mars-Dichtung Lob des Krieges Gottes aufgezeigt wurden, konnte auch die Nachahmung von Lukrez’ Lehrgedicht De rerum natura als Aneignung eines von Opitz ausgewiesenen antiken Vorbilds eingeordnet werden, in der Zesen die Liebe nach Lukrez als kosmologisches Prinzip beschreibt, dieses jedoch sakralisierend wendet. Die Analyse des Dichterkatalogs hat ferner das Dichterbild von Zesen konturiert und ebenfalls gezeigt, wie Zesen durch die Inszenierung von Martin Opitz als Kriegsgott der Deutschen ein aemulatives Verhältnis zu Opitz etabliert. Vor allem die Liebeskonzeption Zesens konnte durch intertextuelle Verweise auf drei Opitz-Gedichte, deren affektfeindliche Grundhaltung von Zesen in liberalisierende Satiren gewendet werden, von Opitz’ stoischer Liebesauffassung abgegrenzt werden. Dies ermöglichte Zesens konkurrierende Haltung zu Opitz nicht nur poetisch, sondern auch problemgeschichtlich offenzulegen. Folglich ist Zesens Lustinne eine Programmschrift zur Erhöhung der deutschen Sprache und eine korrigierende Transformation der antiken Liebesgöttin, aber zugleich und vor allem eine aemulatio mit Martin Opitz. Überdies lässt sich anhand der intertextuellen Bearbeitungsverfahren die kritische sowie produktive Auseinandersetzung mit antiken Vorbildern exemplarisch veranschaulichen. Noch deutlicher als in der Lustinne treten die korrektiven Aneignungsprozesse in Lohensteins Preisgedicht Venus zutage, die bisher meist als Musterstück des deutschen Manierismus zum Ende des 17. Jahrhunderts betrachtet wurde. Wie die vorliegende Untersuchung zeigen konnte, lässt sich anhand der Venus-Dichtung jedoch auch Lohensteins intertextuelle und intermediale Gewandtheit ermessen. Lohenstein eignet sich das Lukrezische Lehrgedicht De rerum natura im Filter von Zesens christianisierender Adaption der Lustinne an und referiert die Geburtsmythen der Venus in der Beliebigkeit des frühneuzeitlichen Mythographen Natale Conti, an dessen christliche Allegorese er durch die Überlagerung seiner Protagonistin mit der biblischen Bathseba anschließen kann. Dadurch bringt Lohenstein sein epikureisches Plädoyer in Einklang mit der christlichen Morallehre. Dies erhellt vor allem aus dem intertextuellen Vergleich mit Marinos L’Adone, wird jedoch auch durch die Kontrastierung mit Phaethon ersichtlich. Ferner nutzt Lohenstein die vielschichtigen intertextuellen Verweise, um die Liebesempfindungen kleinschrittig unmittelbar vor Augen zu führen, sie zu psychologisieren und sich damit von der Idealisierung weiblicher Schönheit und Imagination sexueller Erfüllung abzugrenzen. Lohenstein gleicht die https://doi.org/10.1515/9783110684209-009
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Rollenbilder an, indem er dem Mann passionierte Liebe und der Frau sinnliche Liebeserfüllung zugesteht. Schließlich bilden die vielen Prätexte Lohensteins einen Querschnitt durch die griechisch/römische antike (Philippus, Anthologia Graeca und Lukrez, De natura deorum sowie Ovid: Metamorphosen), italienische (Marino, L’Adone) und deutsche (Opitz, Francesci Petrarchae und Zesen, Lustinne) Literatur. Die Aneignungen der zahlreichen Vorbilder trägt einerseits zur Kanonbildung bei, andererseits zeigt die Vielfalt der Vorlagen, wie Lohenstein sich an seinen Vorgängern orientiert, sie modifiziert und weiterentwickelt. Nicht zuletzt die poetologische Aufwertung des Paris-Urteils erweist, dass Lohensteins Venus als dichtungstheoretische Reflexionsfigur fungiert, an der er neben semantischen Umwertungen vielseitige Mythenkorrekturen und -variationen erprobt. Während in der Preislyrik auf Venus folglich vermehrt harmonisierende Tendenzen festzustellen sind, welche mit inventiven Ergänzungen ausgeschmückt sind, verengen die Schmähdichtungen das Deutungsspektrum der Liebesgöttin auf die christliche Dämonisierung. Mit seiner intermedialen Venus-Transformation in eine verführerische Dämonin macht Birken die Bildlichkeit der paganen Mythologie im christlichen Kontext nutzbar. Anhand der intermedialen Text- und Bildgenese zeigt sich, dass Birken nicht auf die Verdrängung der heidnischen Mythologie zielt, sondern sie – wie er später in seiner Poetik erläutert – aufgrund ihrer unwiderruflichen Wirkung in die Tradition der biblischen Lehre integriert. Dabei nutzt Birken besonders die intermediale Gestaltungsvielfalt, um die didaktische Komponente der Dämonisierung zu verstärken. Durch den intermedialen Transformationsprozess und die gemeinschaftliche Auslegung im Kolloquium wird die Affektabwehr praktizierbar und die Anschaulichkeit der Venus-Darstellung drastisch erhöht. Der performative Charakter von Birkens Venus-Dichtung kann auch in Schwiegers Verlachter Venus aufgezeigt werden, in der Schwieger die Didaxe ebenfalls intermedial intensiviert. Anders als Birken nutzt er jedoch nicht die Bildlichkeit, sondern vor allem die expressive Funktion der Musik, welche durch die erhaltenen Noten deutlicher als bei Birken zutage tritt. Die Liedeinschübe ermöglichen die dämonische Wirkung der Venus erfahrbar darzustellen. Die Allegorisierung bildet zunächst einen christlichen Zugang zur antiken Mythologie. In der Traumvision wird Venus als erlebbares Sinnbild fassbar, das in der fiktiven Gesprächssituation zwischen Siegreich und Constantia allegorisch ausgelegt wird und deshalb ohne christliche Reserven dargestellt werden kann. Die Allegorese erfolgt mittels vielseitiger Bearbeitungsstrategien: Die Negation des Geburtsmythos wird kommunikativ durch den Verweis auf die Autorität von Natale Conti gerechtfertigt, bevor Schwieger die Figur der Venus kleinschrittig durch biblische Anspielungen als Dämonin in einen christlichen Kontext
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überführt. Dafür synthetisiert er Venus einerseits mit den Sirenen, die bereits in den Bibelkommentaren von Ambrosius zu christlichen Sinnbildern invertiert wurden, und überlagert Venus andererseits mit der christlichen Anekdote über die Königstochter Clementia Caroli II. Venus’ Ehebruch mit Mars enthistorisiert Schwieger dagegen und diffamiert die paganen Götter zu reinen Erfindungen antiker Dichter. Den Trojanischen Krieg negiert Schwieger dagegen nicht, sondern entmythisiert die Entstehung des historischen Großereignisses, indem er das Paris-Urteil auf die verführerische Schönheit Helenas reduziert. Vor allem als Idealbild weiblicher Schönheit verliert die antike Göttin ihre Konturen, da Schwieger nicht ihre Schönheit, sondern die Konsequenzen der Idealisierung von äußerlicher Schönheit beschreibt und damit die zerstörerische Kraft der Liebe vor Augen führt. Das Werk bietet darüber hinaus Aufschluss zu Schwiegers Liebeskonzeption, die sich grundlegend von der Idealisierung sowie der Paradoxierung unterscheidet. Weder die fingierte Kenntnis der äußerlichen Schönheit der Geliebten noch die Imagination der Liebeserfüllung begründet die Liebe bei Schwieger, vielmehr wird die Forcierung weiblicher Schönheit durch Spott abgelehnt. Dagegen bilden Tugendhaftigkeit, Ehrlichkeit und Keuschheit die Kernwerte für eine erstrebenswerte weltliche Liebe.
1 Das Paris-Urteil: Faszination der Schönheit 1.1 Das Paris-Urteil in Birkens Götterschenkungen (1646) Die prosimetrische Hochzeitsdichtung Götterschenkungen zu dem Freudfeyerlichen Myrten- und EhrenFeste des Lobwürdigen Fontano und Seiner VielTugendbegabten Margaris Verehret/ und mit einem hertzmeinenden Wunschgedichte beygeschikkt678 nimmt unter den Schäferdichtungen von Sigmund von Birken (1626–1681) eine zentrale Stellung ein, wie seine fortlaufende Beschäftigung mit dem Werk zeigt, die aus der komplizierten Überlieferung ersichtlich ist. Die Prosaekloge hat Birken anlässlich der Hochzeit seines damaligen Vorgesetzten Justus Georg Schottelius (1612–1676) verfasst, der am 8. September 1646 Margaretha Cleve ehelichte. Erstmals veröffentlicht wurde die Dichtung anonym in einer Sammelschrift zur Hochzeit von Schottelius,679 in der sie außerhalb der Zählung mit insgesamt zehn weiteren Glückwunschgedichten abgedruckt ist.680 Birkens Autorschaft ist durch eine Anmerkung in seiner Autobiographie nachgewiesen681 und kann insofern als gesichert gelten, als Birken die Götterschenkungen in einer leicht veränderten Fassung in die Guelfis (1669)682 eingearbeitet
678 Birken, WuK, 9/II, S. 85–95. 679 Der volle Titel der Sammelschrift lautet FESTO NUPTIALI, Viri amplißimi, Cnsultißimi et exelentißimi. DNI. IUSTI GEORGII SCHOTTELII J. V. Doctoris, Consiliarij & assessoris Guelphice, SPONSI: & Lectißimae, formaque, et pulcro virtutum Decore eminentißimae Virginis MARGARITAE, Viri quondam admodum reverend, eximii Doctißimique DNI JOHANNIS CLEVEN Canonici & Vice Domini DUcalis & Cathedralis Eccelsiae Blasij in urbe Brunsvvigâ, relictae Filiae, SPONSAE VIII. die Septemb. Anni 1646. Welferbyti Celebrato à Principibus, Fautoribus, Amicis dicata &dedicata Carmina Gratulatoria. Ein Exemplar der gedruckten Sammelveröffentlichung ist in der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover unter der Signatur [Cm 389:1–22] nachgewiesen [VD17 35:741391X]. Hermann Stauffer: Sigmund von Birken (1626–1681). Morphologie seines Werkes. Bd. I. Tübingen 2007, S. 31, notiert zusätzlich ein verloren gegangenes Exemplar aus der Bibliothek des Pegnesischen Blumenordens mit der Signatur [P.Bl.O. 3 (28)]. 680 Zu den weiteren Beiträgern vgl. Birken, WuK, 9/II, S. 714. Dass Birken auch der Verfasser der Beiträge von den Herzögen Anton Ulrich (1633–1714) und Ferdinand Albrecht von Braunschweig-Lüneburg (1636–1687) ist, zeigt eine handschriftliche Fassung der beiden Gedichte aus Birkens Hand, die in der Bibliothek des Pegnesischen Blumenordens erhalten und mit der Signatur [P.Bl.O B.3.1.1] nachgewiesen ist, vgl. Birken, WuK, 9/II, S. 713–714 sowie Stauffer, Morphologie, S. 30–32. 681 Die Notiz lautet: „II. Opus. 2 Pastorale Nuptiale Georgio Schottelio“, vgl. Birken, WuK, 14, S. 31. 682 Sigmund von Birken: Die GUELFIS oder NiderSächsischer Lorbeerhayn: Dem HochFürstlichen uralten Haus Braunschweig und Lüneburg gewidmet/ auch mit Dessen Alten und Neuen Stamm-Tafeln beflanzet. Nürnberg 1669, [VD17 23:231785D], S. 32–48, vgl. Birken, WuK, 9/II, S. 716. https://doi.org/10.1515/9783110684209-010
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hat.683 Vor allem die erneute Bearbeitung 23 Jahre nach dem Erstdruck bezeugt Birkens wiederholte Arbeit an dieser Prosaekloge. In der neueren Forschung ist das Hochzeitsgedicht bisher fast nur bibliographisch gewürdigt worden,684 was damit zusammenhängt, dass es lange als verloren galt. Noch Klaus Garber hat in seiner einschlägigen Studie zur Schäferund Landlebendichtung im siebzehnten Jahrhundert685 darauf hingewiesen, dass viele der Prosaeklogen einzig Heinrich Meyer noch im Erstdruck vorlagen686 und ein Abgleich mit den überarbeiteten Fassungen ein umso dringenderes Desiderat bildet, weil der im Barock so selten nachvollziehbare Prozess der Überarbeitung erhellt werden könne. Seither687 fehlt noch immer ein Vergleich, der die Unterschiede der Fassungen interpretiert und auch die intertextuellen Bezüge zu den von Meyer ausgewiesenen Vorlagen erforscht.688 Nachstehend werden die Götterschenkungen deshalb in drei Schritten untersucht: Zunächst wird der
683 Die Edition von Garber in Birken, WuK, 9/I, S. 85–95, macht den Text zum ersten Mal mit allen Varianten zugänglich. Nach derselben Ausgabe und mit der dort geführten Zeilenzählung wird nachstehend im Text zitiert. 684 Einschlägig und mit älterer Literatur Stauffer, Morphologie, S. 30–32. Stauffer erwähnt jedoch nicht Renate Jürgensen: Melos conspirant singuli in unum. Repertorium bio-bibliographicum zur Geschichte des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg (1644–1744). Wiesbaden 2006 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 50), S. 9, die ihrerseits den Hannoveraner Druck nicht kennt, obwohl bereits Klaus Garber: Ein Einblick in die Bibliothek Sigmund von Birkens. Handexemplare der eigenen Werke und der Ordensfreunde – Überliefertes und Verschollenes. In: Methodisch reflektiertes Interpretieren. FS für Hartmut Laufhütte zum 60. Geburtstag. Hg. von Hans-Peter Ecker. Passau 1997, S. 157–180, hier S. 170, auf diesen verwiesen hatte. 685 Garber, Der locus amoenus und der locus terribilis, S. 29. 686 Meyer, Der Deutsche Schäferroman des 17. Jahrhunderts, S. 38–40, fasst im Wesentlichen den Inhalt der Prosaekloge zusammen, weist jedoch auch zwei Gedichte von Samuel Hund und Johann Klaj als Vorlagen von Birken aus. Allerdings verkennt er die intertextuellen Verweise ganz im Geiste der zeitgenössischen Literaturwissenschaft als Einfallslosigkeit Birkens. 687 Auch Garbers neuste Auseinandersetzung mit Birkens Schäferdichtungen nimmt die Götterschenkungen nicht in den Blick, vgl. Klaus Garber: Wege in die Moderne. Historiographische, literarische und philosophische Studien aus dem Umkreis der alteuropäischen Arkadien-Utopie. Hg. von Stefan Anders, Axel E. Walter. Berlin, Boston 2012, S. 278–287. 688 In der Edition Birken, WuK, 9/II, sind zwar die Varianten ausgewiesen, gemäß dem Forschungsziel einer Edition wird jedoch keine Interpretation geboten. Der Hinweis von Meyer ist allerdings sowohl von Stauffer, Morphologie als auch in der Edition Birken, WuK, 9/II, übersehen worden. Außer den editorischen und bibliographischen Bemühungen hat Ralf Schuster: ‘Jst es hier nit Eitelkeit!‘ Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Johan Rist als Beispiel für literarisches Konkurrenzdenken im Barock. In: Daphnis 34 (2005), S. 571–602, hier S. 577, die Götterschenkungen herangezogen, um Birkens biographische Umstände seiner wolfenbütteler Zeit zu erhellen.
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Inhalt rekapituliert und strukturiert, um mit dem erarbeiteten Strukturmodell die Mythenrezeption Birkens zu erhellen und die immanente Liebeskonzeption der Götterschenkungen herauszuarbeiten. Dann werden Birkens Vorlagen in den Blick genommen, um die Funktionen der intertextuellen Bezüge aufzuzeigen. Schließlich wird der Erstdruck mit der Neufassung, die Birken in die Guelfis (1669) eingearbeitet hat, verglichen, um den Wandel von Birkens Liebeskonzeption und seiner Mythenrezeption festzustellen.
1.1.1 Antonomastische Idealisierung Die Götterschenkungen sind eine der ersten Hirtendichtungen von Birken, der sich Zeit seines Lebens mit den Besonderheiten der Prosaekloge auseinandergesetzt und die Entwicklung der Gattung maßgeblich geprägt hat.689 Der mit lyrischen Passagen durchsetzte Prosatext reiht sich in die Fülle barocker Schäferdichtungen, in denen topisch die poetische Fiktion eines natürlichen Schäferlebens aufgespannt wird.690 Nach antiker Tradition nehmen die Dichter fiktive Schäferrollen ein – im Gewand seines Schäfer-Ichs Floridan691 bedichtet Birken die Hochzeit seines Präzeptors Justus Georg Schottelius und dessen Braut Margaretha Cleve, die die Schäfernamen Fontano und Margaris tragen. Formal lässt sich die Prosaekloge in Rahmen- und Binnenhandlung gliedern: Die Erzählung über einen Spaziergang des Dichterhirten Floridan rahmt das Hochzeitsgedicht, das dieser dem Paar widmet. Die Rahmenhandlung lässt sich wieder in drei Abschnitte gliedern. Der erste Teil (Z. 1–78) schildert prosaisch mit zwei Verseinlagen, wie Floridan in der Umgebung des Wolfenbütteler Schlosses einsam und auf der Suche nach Gleichgesinnten über die gemeinsame Zeit mit den Pegnitzschäfern reflektiert, bis er sich an seine Pflicht erinnert, ein „Wunschgedicht“ (Z. 75–76) auf die Hochzeit seines Freundes Fontano und dessen Geliebter Margaris schreiben zu müssen. Im zweiten Teil (Z. 79–252) wird seine Dichtung vom plötzlichen
689 Garber, Der locus amoenus und der locus terribilis, S. 26–27, hat die Sonderstellung Birkens Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst (1679) hervorgehoben, die als erste Poetik überhaupt eine Unterscheidung zwischen Versekloge und Prosaekloge vornimmt. 690 Zum Schäferroman im Barock vgl. Wilhelm Voßkamp: Der deutsche Schäferroman des 17. Jahrhunderts. In: Helmut Koopmann: Handbuch des deutschen Romans. Düsseldorf 1983, S. 105–116, hier S. 105. 691 Birken wurde unter dem 1645 unter dem Gesellschaftsnamen Floridan als viertes Mitglied in den Blumenorden aufgenommen, vgl. Stauffer, Morphologie, S. XIV.
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Erscheinen der drei Göttinnen Hera, Athene und Venus unterbrochen, die ihrerseits „jetzund von dem Berge Ida daher kämen/ alda ein andrer Paris abermahls der Schönsten unter jhnen einen neu-aufgeworfenen Kranz oder GoldApfel zugesprochen“ (Z. 159–161). Der „andre Paris“ ist Fontano und ihm zu Ehren – das fordern die Göttinnen – solle das begonnene Epithalamium zu Ende geschrieben werden. Weil Floridan in ehrfürchtiger Starre verharrt, schlägt Hera vor, die Göttinnen sollten ebenfalls Glückwunschgedichte für Fontano und Margaris verfassen. Sodann beginnt Hera mit einem Figurengedicht, das in Pokalform abgedruckt ist (Z. 192–219), Athene folgt mit einem Sonett, das im Druck ein aufgeschlagenes Buch abbildet (Z. 223–236), und Venus richtet ein Figurengedicht in Form zweier verbundener Herzen an das Hochzeitspaar (Z. 240–252). Der dritte Abschnitt (Z. 253–363) beginnt damit, dass Venus den verängstigten Floridan auffordert, er solle sein Hochzeitsgedicht für das Brautpaar fertigstellen. Als die Göttinnen wieder verschwinden, kommt er zu sich und bringt das Gedicht zu Ende, bevor die Ekloge mit dem Einbruch der Nacht schließt. Die Binnenhandlung bildet das Glückwunschgedicht Floridans für die Hochzeit von Fontano und Margaris. Dieses ist eine Teilübersetzung des Epithalamiums für Stella und Violentilla (Silv. I,2)692 von Publius Papinius Statius (ca. 40–96 n.Chr.). Da es durch die Erscheinung der drei Göttinnen unterbrochen wird, lässt es sich in drei Teile gliedern. Der erste Teil (Z. 79–147) beschreibt mit vielen mythologischen Anspielungen den Hochzeitstag der Eheleute. Der zweite Teil setzt sich aus den drei Gedichten der Göttinnen zusammen und bildet somit das Bindeglied zwischen Rahmen- und Binnenhandlung. Der dritte Teil (Z. 268–355) schließt zunächst an die Hochzeitswünsche an und fordert dann zum Dichterwettstreit unter den Gratulierenden auf. Die Struktur des Inhalts erhellt den Rezeptionsschwerpunkt: Indem Birken die Vorgeschichte (Sequenz I: Hirtenleben) sowie die fatalen Folgen des Paris-Urteils (Sequenz II,9: Missbrauch des Gastrechts und Raub der Helena und Sequenz III: Trojanischer Krieg) reduziert, rückt er das menschliche Urteil über göttliche Schönheit ins Zentrum seiner Dichtung. Birken spart die Zerstörung Trojas aus und wendet dadurch den semantischen Kern des Mythos positiv, sodass eine antonomastische Indienstnahme des antiken Liebespaars für die Eheleute möglich wird. Fontano wird mit Paris verglichen, die Schönheit der Braut Margaris mit der Helenas: „Wär’ Ida Schäferwirt und Eris Apfel-mild/ Fontano kriegte nicht ein
692 Birken, WuK, 9/II, S. 716–720.
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mehrgeziertes Bild/ üm Urtheil/ über Meer“ (Z. 141–143). Der Missbrauch des Gastrechts und der Raub der Helena (Sequenz II,9) wird dem realhistorischen Kontext entsprechend in eine Liebeshochzeit verkehrt. Die klassischen Bestechungsmittel (Reichtum, Weisheit und Liebe) deutet Birken zu Hochzeitswünschen in Form von Glückwunschgedichten um. Auf diese Weise synthetisiert und amplifiziert er die Verlaufsstadien 7 (Vorstellung der Göttinnen/Bestechungen) und 8 (Urteil und Belohnung). Entgegen der moralisch-didaktischen Deutungstradition bewertet Birken die Entscheidung für die Liebe also positiv und korrigiert damit den semantischen Kern des Mythos. Die Liebeskonzeption, die Birkens Mythenkorrektur zugrunde liegt, erhellt der Inhalt der drei Glückwunschgedichte. Dem Anlass entsprechend verspricht Juno ein üppiges Hochzeitsmahl und zahlreiche Nachkommenschaft; Athene sichert dem Bräutigam, obwohl er sich der Liebe zuwendet, auch unendliche Weisheit zu und Venus garantiert „emotionale Harmonie und erotische Leidenschaft.“693 Junos Gedicht ist in 22 meist trochäischen Versen mit unregelmäßigen Hebungen verfasst. Das mit zwei Paarreimen (aabb) beginnende Figurengedicht wird zunehmend durch die darauffolgenden Haufenreime (cccddddddd) dynamisiert und findet seinen rhythmischen Höhepunkt in den in umarmenden Reimen verklammerten Schlagreimen am Ende des Gedichts (effe fffggf). Die rhythmische Taktung verleiht dem Gedicht einen liedhaften Charakter, der das im Inhalt beschriebene und von Juno gestiftete Hochzeitsmahl formal unterstreicht (Z. 202–207). Darüber hinaus wird der von Juno versprochene materielle Reichtum in eine große Nachkommenschaft umgedeutet. Birken überlagert dabei Juno mit der römischen Geburtsgöttin Lucina, welche die Liebenden zum Vollzug des Beischlafs auffordert (Z. 208–219). Durch den hyperbolischen Kinderwunsch von zehn Nachkommen wird das Liebesspiel an den Zweck der Fortpflanzung gekoppelt und die frivol anmutende Aufforderung mit dem Zusatz, dass die Liebe auch im „Himmel angeschriebet“ werde, sakralisiert.
693 Jeremy Adler, Ulrich Ernst: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne. 1. Aufl. Weinheim 1987 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 56), S. 161.
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Nehmet Was euch Juno schenket, Das euch tränket/ Mit Gut nach Hertzenslust/ Mit Milch aus des Glükkes Brust. Güter sollet Ihr mit Recht besitzen Daß die Küch’ und Keller sollen schwitzen. Die Himmels-Segen und Regen besprützen. Daß die Fässer geben Bier und Wein/ Wan man wolte Gästen schenken ein; Das viel Gold und Silber in den Srein/ Und im Keller Vorraht/ möge seyn/ Die die Küche dann zurichte fein Wann die Hungermäuse regen pein. Ich Lucina/ Die ich heiße Will euch auch Lucina seyn; im fall ihr nach der weiße der verliebten lebt. Schertzet/ hertzet Daß ihr bebt! Spielet/ Wühlet/ fühlet/ zielet/ bis die Wiege zehnmal voll; fordert eins vom andern Liebeszoll Sonst wisst/ daß Euer Lieben im Himmel angeskrieben.
Athenes Gedicht, ein mustergültiges Sonett aus Alexandrinern mit umarmenden Reimen in den Quartetten (abba abba), deren Kadenzen entsprechend der Reime wechseln, bietet in den Terzetten drei Paarreime, ebenfalls mit wechselnden Kadenzen, welche die Terzette zu einer Einheit verklammern. Besonders kunstvoll ist die typographische Gestaltung, weil die Mittelzäsuren der Alexandriner graphisch die Faltmitte eines Buches darstellen.
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Ich Pallas war bis her Fontano; hast du nun Bin ich der Margaris/ Soll ich von meinem Schatz Ach nein! Ich weis das noch In Liebe gegen mir; Ein neuer Flammen trieb Bey Tag behalt ich dich/ Wohl an so lieb nur fort Wir Beyde wollen uns Wann du mit Beyden so Sonst wisse/ wo du mich Will ich dein Sinnen Lob. Du sollst von manchem Buch
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bey dir in hoher Acht/ die alte Treu gebrochen/ der Schönen abgestochen? Fontano seyn verlacht? dein Hertz in Liebe wacht/ ob schon in dir wil pochen der deine Pein gerochen Sie hat dich bey der Nacht. und theile deine Flammen! vertragen wol zusammen/ den Liebeswechsel übst/ mit jhr beharrlich liebst/ hin an die Sterne schikken die Sterne über blikken.
Inhaltlich stehen sich die Quartette antithetisch gegenüber: Während im ersten Quartett Athene als lyrisches Ich in rhetorischen Fragen Fontanos Liebe zu ihr in Zweifel zieht, weil er Margaris heiratet, versichert sie sich seiner Liebe im zweiten Quartett, das mit der correctio „Ach nein!“ (Z. 227) eingeleitet ist. Der fingierte Kompromiss zwischen Margaris und Athene, die sich Fontano nach Tageszeiten aufteilen, setzt antithetisch den Schlusspunkt der Quartette: „Bey Tag behalt ich dich/ Sie hat dich bey der Nacht“ (Z. 230). Dabei wird die Aufteilung der Liebe auf die Göttin bei Tag und die Ehefrau bei Nacht mit dem in Liebe gegen Athene wachenden Herzen (Z. 227) und dem gleichzeitig pochenden „Flammen trieb“ (Z. 229) metaphorisch vorbereitet. Während das erste Terzett die Synthese der Quartette bildet, weil Athene beteuert, die Frauen werden sich „vertragen“ (Z. 232), schließt das zweite Terzett semantisch an das Pokal-Gedicht Junos an. Den Schlussvers des Pokalgedichts paraphrasierend beschwört Athene eine metaphysische Liebe (Z. 234–236). Birken verschränkt die sakrale Liebe ambivalent mit dem Verewigungstopos, denn mit dem „Buch“ ist einerseits das Werk des Dichters Schottelius gemeint, welches ihm zu ewigem Nachruhm gereichen soll. Andererseits wird hier das durch das Technopägnion abgedruckte Buch semiotisch eingespiegelt: Das Buch, welches Birken in der Handlungsfiktion durch Athene schenken lässt, ist gleichzeitig das Buch, was auch Birken als Verfasser der Gratulationsschrift ewiges Nachleben verschaffen soll. Ein ähnliches Vorgehen begegnet in Venus’ Gedicht, das zwei miteinander verbundene Herzen abbildet und sich als zweistrophiges Gedicht mit je elf Versen lesen lässt.
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Sie Die Er Der Die edle dir slug den Fontano befeuret Margaris HertzensRiß/ Deine Lust deine Brust Brennet dich mit keuschen flammen Brennt von deinen Wechselflammen Drüm so schlägt in Beyder Hertz en eine Lieb und Loh zusammen/ Beyde fühlen einen Schmertzen/ Beyde wollen einbar schertzen. Nun so liebet sonder Ende/ Nun so lebet sonder Streiten! Verknüpft Herz und Hände kriegt bei Nachteszeiten unauflöslich – fäst. üm den Küsse-Sieg! Der Eintracht Nest Der Liebes-krieg Sey Euer Sey Ewer Beider Beyder Hertz. Schertz.
Drucktechnisch sind der vierte und fünfte Vers des jeweiligen Herzgedichts in einer Zeile abgedruckt. Dadurch sind die Herzen miteinander verbunden und spiegeln so den Inhalt der Verse wider: „Drüm so schlägt in Beyder Hertzen eine Lieb und Loh zusammen“ (Z. 244). Dieses kunstvolle Verfahren wird durch den parallelen Aufbau der Strophen und durch den Reim der beiden Waisen am Ende einer jeden Strophe intensiviert. Inhaltlich beschreiben die ersten drei Verse der ersten Strophe metaphorisch, wie Margaris „mit Wechselflammen“ (Z. 241) die Liebe im Bräutigam entzündet, bevor mit der Verknüpfung von „Herz und Hände[n]“ (Z. 246) die eheliche Vereinigung beschworen wird. Parallel dazu wird in den ersten drei Versen der zweiten Strophe geschildert, dass Fontano die Liebe seiner Braut „befeuret“ (Z. 240) und dann die körperliche Vereinigung topisch mit dem „Liebes-krieg“ (Z. 249) umschrieben. Die strophische Aufteilung bewirkt eine Geschlechterzuordnung: Die sakrale Liebe wird in die Frau projiziert, die körperliche in den Mann. In allen drei Gedichten wird die körperliche Liebe mit sakraler, metaphysischer Liebe gekoppelt. Dadurch entsteht der Eindruck eines konditionalen Verhältnisses: Die sakrale Bindung der Ehe legitimiert die Liebesvereinigung. Liebe wird nicht als Gefühl beschrieben, sondern ist – wie es Luhmann postuliert – als Ideal codiert,694 das sich über ein Ziel definiert und an den gesellschaftlichen Erwartungen gegenüber den geschlechtstypischen Eigenschaften orientiert. Somit dient die antonomastische Indienstnahme des antiken Liebespaares dazu, beide Ehepartner zu idealisieren: Schönheit und Tugend der Braut sowie die Gelehrsamkeit des Bräutigams werden überspitzt dargestellt. Gleichzeitig wird Schottelius, der alle Lebenswege im neuplatonischen Sinne Marsilio Ficinos695 694 Luhmann, Liebe als Passion, S. 49–52. 695 In der Rezeption Marsilio Ficinos wurde die Entscheidung für die ‚vita voluptaria‘ im Paris-Urteil zum ersten Mal allegorisch aufgewertet. Ficino hatte in seinem Brief an Lorenzo de’ Medici vom 15.02.1490 erklärt, dass jede einseitige Lebensweise falsch sei und Lorenzo deshalb
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vereint, gepriesen und zum Exempel der richtigen Lebensweise erhoben. Durch die große Dialogizität zur humanistischen Deutungstradition des Mythos wird die Korrektur besonders wirkungsvoll.
1.1.2 Überbietung von Samuel Hunds Schäfergedicht Weitere Facetten von Birkens Mythenaneignung lassen sich vor dem Hintergrund von Birkens Vorlagen bestimmen. Neben der übersetzerischen Aneignung von Statius Epithalamium (Sliv. 1,2), nutzte Birken – wie Meyer schon 1928 bemerkte – zwei Lobschriften auf den fünften Teil von Georg Philipp Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspielen (1645) als Vorlage.696 Samuel Hunds Schäfergedicht697 und die Fortsetzung des vorhergehenden Schäfergedichts von Johann Klaj (1616–1656)698 sind seither jedoch nicht als Prätexte gewürdigt worden.699 Indes steht außer Frage, dass Birken die Dichtungen gekannt hat, weil sie in den Ehrengedichten dem Spielenden […] zu Ausfertigung des fünften Theils der Gesprächspiele übersendet700 mit Georg Philipp Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspielen veröffentlicht wurden und dort durch die Folge der Hirtengedichte,701 einer gemeinschaftlichen Gratulationsschrift von Birken, Johann Sechst (†1674) und Christoph Arnold (1650–1695), ergänzt werden. Inhaltlich, strukturell und formal sind Birkens Götterschenkungen eindeutig der Dichtung von Samuel Hund nachempfunden: In der prosimetrischen Schäferekloge von Hund ist es sein Schäfer-Alias Myrtillus, der bei einem Spaziergang in Gedanken an vergangene Zeiten mit den Pegnitzschäfern schwelgt, bis ihm einfällt, dass er Harsdörffer für den fünften Teil der Gesprächsspiele aus Dankbarkeit zu einem „Beygedicht“ (Z. 47) verpflichtet sei. Als er mit dem Dichten beginnen will, tauchen die drei Göttinnen auf und laden ihn zu einem Gesprächsspiel ein. Myrtillus stimmt in das Gesprächsspiel mit einem Emblem ein (Abb. 4), das die zu preisen sei, weil er alle drei Göttinnen geehrt habe. Zur Paris-Rezeption Ficinos vgl. Schneider, Paris, S. 553. 696 Vgl. Meyer, Der Deutsche Schäferroman, S. 38–40. 697 Zu Samuel Hund vgl. Jürgensen, Melos conspirant singuli, S. 102–104. 698 Samuel Hund: Schäfergedicht. In: Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele. Nürnberg 1645. Hg. von Irmgard Böttcher. Bd. 5. Tübingen 1969 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock, 17), S. 53–63 und Johann Klaj: Fortsetzung des vorhergehenden Schäfergedichts. In: ebd., S. 64–78. 699 Meyer hat die intertextuelle Beziehung als Einfallslosigkeit Birkens verkannt: „Die Erfindung hat ihm [Birken] keine Sorge gemacht,“ vgl. Meyer, Der Deutsche Schäferroman, S. 39. 700 Vgl. Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, Bd. 5, S. 21–92. 701 Vgl. ebd., S. 79–86.
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Abb. 4: Emblem aus Hunds Schäferspiel, vgl. Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, Bd. 5, S. 59.
drei Göttinnen abbildet. Daraufhin verfassen die Göttinnen ihrerseits drei Lobgedichte auf Harsdörffer, die Hund in Form seiner Schäferdichtung Harsdörffer zur Ehrerbietung überbringt: „Wollte also solche Begegniß zu Papyr setzen/ und es dem Spielenden zufertigen“ (Z. 140–141). Der Beginn von Hunds Schäferekloge alludiert das Pegnesische Schäfergedicht (1644) von Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658) und Johann Klaj (1616–1656), das deshalb von epochaler Bedeutung ist, weil es zusammen mit der Fortsetzung der Pegnitz-Schäferey (1645) von Sigmund von Birken den Gründungsmythos des Pegnesischen Blumenordens schildert.702 Die beiden Gründer des Blumenordens – Klaj alias Clajus und Harsdörffer alias Strephon – begegnen sich in der Ufergegend der Pegnitz bei Nürnberg und schließen in einem Dichterwettstreit einen Freundschaftsbund. In Birkens Fortsetzung wird der Wettkampf fortgeführt, doch da er unentschieden bleibt, hängt Strephon den ausstehenden Preis, einen Blumenkranz, als Zeichen der Hirtengenossenschaft an einen Baum. Fortwährend wird in den beiden Gründungsgedichten des Blumenordens durch
702 Zum Pegnesischen Blumenorden vgl. Garber, Wege in die Moderne, S. 223–242, zur Gründungslegende besonders S. 223.
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mystifizierende Beschreibungen der Pegnitz ein Raum poetischer Inspiration konstruiert.703 An das Pegnesische Schäfergedicht und dessen Fortsetzung anschließend beschwört auch Hund in seiner Schäferdichtung den inspirierenden Charakter der Pegnitz: „Ich hatte noch nicht lange verlassen der Pegnitz grünen Strand/ die zwar kein Gold und Perlen nicht führet; doch treibt ihr reiner Sand viel kluge Künste mit“ (Z. 1–3). Er folgert: „Scheinet doch/ als wann des Sandes röhtliches Gleissen ihnen guldene Gedanken eingebe/ die gleichsam ohne Mühe zu Papyr flüssen/ wie der anmuhtige Pegnitzstrom die grünen Augen Trifften durchsausselt“ (Z. 15–18). Die poetische Schöpfungskraft des Raumes projiziert Hund dann auf den „Haagen Wald“ (Z. 34), in dem er seine Dichtung erschafft. Der Bezug zum Pegnesischen Schäfergedicht ist dadurch markiert, dass Myrtillus als Grund für seine Erinnerungen an die Pegnitz die Zusendung des „Schäfersspiels“ angibt: Ihr schönes Schäfersspiel/ mir neulich zu geschikket aus treugewogner Gunst/ hat mir so sehr behaget daß jetzt der Gegendank verbleibet ungesaget/ ich melde dieses nur. Sobald ich es erblikket/ entbrand’ ich in Begier/ mich selbsten zu mengen mit ein/ der dritt in diesem Lust/ bey Strephon und Klajus zu seyn/ bey Strephon und Klajus zuseyn – – – Doch zwange ich mich/ so viel möglich/ in diesem Verlangen und gedachte/ nach Betrachtung der Unmöglichkeit/ ihnen nach zu ahmen/ und auch an meinem Ort etwas Schäferliches zu beginnen – – – drauf hemt ich die Gedankken/ gieng in der Einsamkeit zu meinem HaagenWald/ gab meinem Sinne Lufft/ und freyen Aufenthalt: ersahe hin und her zu finden Stell und Schranken. ich wünschte wiederum bey Strephon und Klajus zu seyn bey Strephon und Klajus zuseyn: Jetzt hört ich dieses treiben die Teutsche Rednerkunst in freundbeliebter Zier und jener brachte bald viel schöner Spiel herfür. ich sahe nach dem Wahn! Sie beyd in Baumen schreiben/ in schroffen Rindentranfft. Das Denken nahm mich ein und wünscht und wünschte stets bey Strephon und Klajus zu seyn/ bey Strephon und Klajus zuseyn. (Z. 23–44)
703 Zur Konstruktion des poetischen Raums bei im Pegnesischen Schäfergedicht vgl. PeterAndré Alt: Imaginäres Geheimwissen. Untersuchungen zum Hermetismus in literarischen Texten der Frühen Neuzeit. Göttingen 2012 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 12), S. 152–153.
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1 Das Paris-Urteil: Faszination der Schönheit
Die umarmend gereimten Alexandriner (abba), die durch den prosaischen Einschub unterbrochen werden, sind durch den paargereimten Refrain strukturiert, welcher der Verseinlage ihren Liedcharakter verleiht. In der dreihebigen daktylischen Vershälfte des Refrains formuliert Hund durch die Anadiplose wiederholt den Wunsch, der dritte im Bunde mit Klaj und Harsdörffer zu sein (Z. 28–29, 37–38, 43–44). Eindeutig markiert Hund sein Schäfergedicht als imitatio des Pegnesischen Schäfergedichts und hierarchisiert das Verhältnis zu den beiden Gründungsmitgliedern des Blumenordens. Birken schließt ebenfalls an den Gründungsmythos des Blumenordens an, geht dabei jedoch deutlich selbstbewusster vor. Bereits 1645 hatte er sich mit seiner Fortsetzung der Pegnitzschäfferey (1645) als ebenbürtig zu Harsdörffer und Klaj erwiesen und galt seither als drittes Gründungsmitglied des Blumenordens. Bei der Konstruktion des poetischen Raumes verdeutlicht er diesen Umstand. Statt wie Hund das Pegnesische Schäfergedicht zu imitieren, zitiert er intratextuell seine Fortsetzung: Es slürften in der Näh kohlkrause Silberwellen/ Die an das Ort geschikkt der Oker Nymfenzellen Der lallend Lispelschuß versüßte seine Rast. Es bebten über jhm die Bläter an dem Ast Und buhlten mit dem Wind/ Der sonst aus Suden wehet/ Der Auen/Wald/ und Feld mit Anmut übersäet Und Freudenträchtig macht. Der Lüfte Cantorey Das leichte Sängervolk fand sich auch bald herbey. Es lachte Luft und Erd. – – (Z. 16–24)
Den umarmenden Reim der vier Verse aus der Fortsetzung der Pegnitzschäfferey704 arbeitet Birken in alexandrinische Reimpaare um, die nun die Oker statt der 704 Die Verse aus der Fortsetzung der Pegnitzschäfferey lauten: Des Baches Wasser Straß rauscht mit dem Säusselgiessen: Es schläfert das Geschlürff die lassen Hirten ein. Des Flusses Lispelschuß schleusst unsrer Augenschein/ Vnd wil durch nassen Kies/ das Schäferspiel versüssen. Vgl. Sigmund von Birken: Fortsetzung Der Pegnitz-Schäferey: behandlend/ unter vielen andern rein-neuen freymuhtigen Lust-Gedichten und Reimarten/ derer von Anfang des Teutschen Krieges verstorbenen Tugend-berümtesten Helden Lob-Gedächtnisse/ abgefasset und besungen durch Floridan/ den Pegnitz-Schäfer. Nürnberg 1645. In: Georg Philipp Harsdörffer, Johann Klaj: Pegnesisches Schäfergedicht/ in den Berinorgischen Gefilden/ angestimmet von Strefon und Klajus. Nürnberg 1644. In: Georg Philipp Harsdörffer – Sigmund von Birken – Johann Klaj. Pegnesisches Schäfergedicht. 1644–1645. Hg. von Klaus Garber. Tübingen 1966 (Deutsche Neu-
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Pegnitz beschreiben. Indem er die s-Konsonanzen, die in der Fortsetzung noch lautmalerisch das Rauschen des Flusses darstellen, vermindert und vier weitere Verse hinzufügt, in denen er den mit den Blättern buhlenden Wind und die blühenden „Auen/Wald und Feld“ beschreibt, harmonisiert er das Verhältnis der auf ihn wirkenden Elemente. Die Aposiopese „Es lachte Luft und Erd. –“ konterkariert dagegen diese Harmonie und unterstreicht rhetorisch das spontane Moment der dichterischen Eingebung durch die Einwirkung der Natur. Mit der Umarbeitung der eigenen Verse verweist Birken auf seinen Erfolg und stilisiert sich – in Konkurrenz zu Samuel Hund – als dritter im Bunde mit Klaj und Harsdörffer. Seine Zugehörigkeit verdeutlicht Birken darauffolgend, indem er mit der zweiten Verseinlage der Götterschenkungen eine Passage des Pegnesischen Schäfergedichts frei nachbildet: Dorten wurd ein Wasserrad von der Pegnitz umgetrieben/ Das man muste/ wan es trof/ um den Silberregen lieben Den es in dem Felgendrehen von den Schöpfgefäßen goß Da dann/ wie ein Tau/ das Wasser wieder in das Wasser schoß. Hier ein See war nah dabei/ den die Pegnitz angeströmet/ In dem sich of mancher Fisch hat beleichet und besämet/ Der den Ufern ihr Gesichte Spiegelmässig wiedergab/ In den auch die Nachbarlinden warfen ihren Schatten ab. O wie oft hat mich gereitzt eine von den Schattenlinden/ Daß ich mein Gedächtnüß grub’ in die Wunden jrer Rinden! Zwar vergrolte Momusnägel kratzten das Gedächtniß ab; Doch/ sie wird beharrlich schützen meinen Namen meine Gab. Ach ich denke noch daran/ wie die Feldheuschrekken sungen/ Wie sie dorten nächst dem Pfad in der Sommersonne sprungen Wo die bunten Blumentäler hönen jhrer Berge Sand/ Und die Kleebeseeten Wiesen weben Flora Bettgewand. (Z. 44–59)705
drucke, Reihe Barock 8), S. 78. Auf die Übernahme des Neologismus „Lispelschuß“ wird verwiesen in: Birken, WuK, 9/II, S. 720. 705 Die Passage aus dem Pegnesischen Schäfergedicht lautet: Da die schlanke Pegnitz fliesset/ in dem schönen Wiesenthal/ Da sie dieses Land durchgiesset/ und die Blumen ohne Zahl In den grünen Auen frischt/ da der Vogel lieblich singet/ Da die Wollenheerde tischt/ und mein Schäferspiel erklinget/ Da die hohen Bäume schatten/ da das Bienlein Blumen bricht/ Da die Fische sich begatten/ und der Fischer Reusen richt/ Da die kleine Mükke sumt/ und die falschen Angeln schwimmen Da so manche Müle brumt/ und die Hirten Pfeiffen stimmen/ Da spatziert ich auf und nieder/ als ich etwas rauschen hört/
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1 Das Paris-Urteil: Faszination der Schönheit
Der Bezug ist durch die vorangehende Prosasequenz hinreichend markiert, in der Birken nicht nur den Titel des Prätextes umschreibend zitiert und durch eine größere Drucklegung hervorhebt, sondern auch auf die Beschreibung der Pegnitz anspielt: „Meine Augen/ waren diese auch jemahls so dunkel/ als jetzund/ da sie der seeligen Anschauung der Pegnitzischen Lustgefilde beraubet?“ (Z. 39–40). Die schwindenden Erinnerungen an die Pegnitz bildet Birken mimetisch ab, indem er die zehn deiktischen Adverbien („Da“) aus dem Pegnesischen Schäfergedicht, welche die Landschaftsbeschreibung anaphorisch dynamisieren, auf ein einziges „Dorten“ (Z. 44) verknappt und den Frühlingsbeginn mit dem Vers „In dem sich oft mancher Fisch hat beleichet und besämet“ (Z. 39) verspätet alludiert. Überdies sind die achthebigen trochäischen Reimpaare denen von Harsdörffer und Klaj zwar metrisch nachgestaltet, die von Martin Opitz im Buch von der Deutschen Poeterey verpönten706 Zäsurreime übernimmt Birken hingegen nicht. Birkens konkurrierende Haltung zu Hund lässt sich deutlicher noch an den drei durch die Göttinnen eingegebenen Glückwunschgedichten zeigen. In Hunds Schäferdichtung liefern die drei Göttinnen je eine Strophe mit sechs Versen mit unterschiedlicher Metrik: Die erste, Juno in den Mund gelegte Strophe besteht aus einem Paar- und einem umarmenden Reim (aabccb) in jambischen Dreihebern. Athenes Strophe spiegelt das Reimschema (abbacc) und bietet als Besonder-
Und bedachte/ wie nicht wieder Zeit und Fluß zu rükke kehrt. Ich ersahe nechst dem Pfad/ daß der schnelle Strom ümlenkte/ Ein erhabnes Wasserrad/ so die Blumenwiesen tränkte: An den Felgen war zu sehen manches tiefes Schöpfgefäß/ Deren jedes/ in dem Drehen/ brachte seinem Halt gemäß Wasser/ welches abgewandt/ schlürfte durch die trägen Auen/ Die der Sonnenstral verbrant/ und verzehrt das Morgentauen. Ach/ wünscht ich in meinen Sinnen liesse gleich dem Silberbach Jeder aus der Feder rinnen in die Felder Teutscher Sprach’ Alles/ was uns unbewust/ was von fremder Zung entspringet Und nicht ohne Hertzenslust Welt verlangte Früchte bringet. Vgl. Georg Philipp Harsdörffer, Johann Klaj: Pegnesisches Schäfergedicht/ in den Berinorgischen Gefilden/ angestimmet von Strefon und Klajus. Nürnberg 1644. In: Georg Philipp Harsdörffer – Sigmund von Birken – Johann Klaj. Pegnesisches Schäfergedicht. 1644–1645. Hg. von Klaus Garber. Tübingen 1966 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock 8), S. 13. 706 Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey, S. 54, Z. 9–12: „Bey dieser gelegenheit ist zue erinnern / das die cæsur der sechsten syllben / sich weder mit dem ende jhres eigenen verses / noch des vorhergehenden oder nachfolgenden reimen soll; oder kürtzlich; es sol kein reim gemacht werden / als da wo er hin gehöret“
1.1 Das Paris-Urteil in Birkens Götterschenkungen (1646)
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heit zwei daktylische Vierheber im abschließenden Paarreim. Die letzte Strophe wiederholt das Reimschema der ersten Strophe, wobei der jambische Vierheber im vierten Vers eine Senkung zu viel aufweist: „Der Spielend mit seinen Schreiben“ (◡ – .◡ ◡ – .◡ –. ◡). Inhaltlich ist Hund um Wortspiele bemüht, die den Gesellschaftsnamen Harsdörffers (der Spielende)707 mit dem Titel des Werks, den Gesprächsspielen, verquicken und so auf die ‚spielende‘ Einfachheit verweisen, mit der Harsdörffer die Schöpfung seiner Werke von der Hand geht. Dieses wenig innovative Vorgehen spiegelt zwar ein relativ häufig verwendetes Verfahren wider, bleibt hinter dem ästhetischen Anspruch Birkens jedoch weit zurück. Dies zeigt sich nicht nur durch die metrische Unregelmäßigkeit, sondern auch darin, dass Hunds Dichtung keine Aneignung des Paris-Urteils bietet und auch die Attribute der Göttinnen in den drei Gedichten nicht widerspiegelt, während Birken die Göttergedichte mit seiner Rezeption des Paris-Urteils verbindet und sie so in den inhaltlichen Nexus einschließt.
1.1.3 Dichterlob und Frauensatire: Johann Klajs Fortsetzung von Hunds Schäfergedicht Auch Johann Klajs Fortsetzung gleicht strukturell den Gedichten von Hund und Birken. Klaj berichtet von einem seiner Spaziergänge entlang der Pegnitz, bis er „unter [der] von Strephons Hand bezeichnete[n] Eichen“ (Z. 36) einschläft. Im Traum erscheint ihm der Götterbote Hermes, der ihm ein Trauergedicht auf Martin Opitz eingibt, bevor ihm ebenfalls Pallas Athene, Juno und Venus erscheinen und entscheiden, dem „schlummernden Schäfer Klaj/ welcher seinem vielgeehrten Oberhirten Strephon ein Gedicht zu dem fünften Theil seiner wolausgedachten Gesprächsspiele […] eine Glükkwünschung/ an die Hand [zu] geben“ (Z. 109–113). Anders als bei Hund und Birken werden Klaj die Gedichte jedoch nicht von den Göttinnen eingegeben, sondern sie entstehen, als Klaj seinen Traum poetisch reflektiert. Die Gedichte ergänzend interpretiert er die Bedeutung seines Traums in einem „dreyständigen Sinnbild“ (Z. 178), bei dem es sich um ein Emblem mit derselben Pictura wie bei Hund handelt. Die nachstehende Tabelle macht die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen den drei Prosaeklogen augenscheinlich:
707 In der Fruchtbringenden Gesellschaft wurde Harsdörffer unter dem Namen „der Spielende“ geführt, sein Gesellschaftsname in dem Blumenorden war hingegen Strephon, vgl. Jürgensen, Melos conspirant singuli, S. 26.
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1 Das Paris-Urteil: Faszination der Schönheit
Inhalt
Samuel Hund
Johann Klaj
Sigmund von Birken
Spaziergang und Erinnerungen an die Pegnitzhirten
Z. 1–51
Z. 1–39
Z. 1–78
Erscheinen der Göttinnen
Z. 52–95
Z. 40–141
Z. 79–191
Die Gedichte
Z. 96–118
Z. 142–168
Z. 192–252
Überbringungsformel
Z. 119–142
Z. 169–194
Z. 253–363
Wie Hund und Birken alludiert auch Klaj zu Beginn seiner Prosaekloge das Pegnesische Schäfergedicht mit einer kurzen Anspielung: Mit „dem bekannten Ort“, an dem er sich „unter die von Strephons Hand bezeichnete Eichen“ (Z. 34–36) setzt, referiert er eindeutig auf den Ort, an dem er und Strephon sich im Pegnesischen Schäfergedicht zum ersten Mal begegnen und Strephon „etwas in den Baum [schnitt]/ vielleicht/ wegen des genossenen Ruhschattens/ sich dankbarlich zu bezeugen.“ 708 Diese kurze Anspielung genügt, um den Raum poetischer Inspiration aus dem Pegnesischen Schäfergedicht zu konstruieren; anders als Birken führt Klaj keine langen Zitate ein, um sich als Gründungsmitglied zu stilisieren und auch gegenüber Hund, der Klaj imitierend nacheifert, ist das hierarchische Verhältnis eindeutig. Überdies inszeniert sich Klaj als Nachfolger von Martin Opitz. Denn als Klaj in der Handlungsfiktion träumt, gibt ihm der Götterbote Hermes ein Trauergedicht auf Opitz ein (Z. 44–71). Die sieben Strophen mit je vier jambischen Fünfhebern bieten umarmende Reime und lassen sich inhaltlich in Trauer (erste und zweite Strophe), Trost (Strophe drei bis vier) und Überwindung (Strophe fünf bis sieben) gliedern. Den Umbruch vom Ausdruck der Trauer zum Trost markiert vor allem der Tempuswechsel vom Präteritum: „Der Boberschwan […] ist zwar jüngsthin zur grossen Schar gegangen“ (Z. 44–45) und „die Lieder […] die er […] sang“ (Z. 50–51) zum Präsens: „Er ist dahin! Doch bringt er schöne Frucht“ (Z. 52); „Herr Opitz lebt/ ist er gleich abgelebt“ (Z. 56). Den Übergang vom Trost zur Überwindung markiert dagegen ein Wechsel der Sprechsituation; ab der fünften Strophe wird die deutsche Dichterschaft apostrophiert: „Doch glaube mir“ (Z. 61), „Drüm fahret fort ihr Geister Teutscher Welt“ (Z. 64), „Der euch wird hoch erhöhen“ (Z. 78). Geschickt verbindet Klaj Trost und Überwindung, indem er den Verewigungstopos „So lebet er/ so lang man Lieder schreibet“ (Z. 59) in einen Aufruf zur Erneuerung transformiert: „Es schreibt und bleibt noch mancher Teutscher Held“ (Z. 67), der auch durch die metaphorische Beschreibung von Opitz als „Phönix“ (Z. 53) semantisch vorbereitet wird. Sechs Jahre nach Martin Opitz’ Tod autorisiert sich Klaj gewissermaßen selbst zur 708 Harsdörffer/Klaj, Pegnesisches Schäfergedicht, S. 31.
1.1 Das Paris-Urteil in Birkens Götterschenkungen (1646)
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Abwendung von den starren Regelvorgaben aus dem Buch von der Deutschen Poeterey und stellt in den drei Gedichten, die er über Juno, Athene und Venus schreibt, sogleich das rhythmische Potenzial neuer metrischer Formen vor. Anders als Birken, der sich das Paris-Urteil durch die Umwertung des semantischen Kerns aneignet, parodiert Klaj den Mythos, indem er den Schönheitsstreit in eine Hässlichkeitswahl verkehrt:709 Eines kam mir lächerlich vor/ daß es mir besser gangen/ als Karln von Burgunden/ dem in einem Schauspiele drey Mutternakkende/ und schöngekrönte alte Weiber vorgestellet worden/ welche nicht um die Schönheit stritten, sondern es solte der Prinz den Ausschlag geben/ welche die häßlichste ungestalt unter ihnen were“. (Z. 137–141)
Die Inversion des Schönheitsurteils übernimmt Klaj aus Michael Piccarts (1574–1620) Observationum Historico-Politicarum (1613),710 auf das er in einer 709 Johann Franck bietet in gleich zwei Hochzeitsgedichten ähnliche Parodien, in denen die Göttinnen als besonders hässlich dargestellt werden, vgl. Johann Franck: Jüngst eröffnetes Schäffer-Urtheil/ Bey der Hochzeit Herrn Christian Brehmens /Churfürstlicher Bibliothecarii/ ChurPrinzlich geheimlibden Cammer-Dieners und des Raths Bau-Meisters in Dresden/ und Jungfrauen Ursulen Rosinen Schäferin/ in Niederlausitz Auff der Lübbischen Schöppenbanck gesprochen. Anno 1653, den 13 September. In: Johann Franckens Geistliches Sion Oder Neuen geistl. Liedern/ un[d] Psalmen/ nebst beygefügten/ theils bekandten/ theils lieblichen neuen Melodeyen […]. Guben 1674. [VD17 12:120767W], S. 234–244, besonders S. 239, V. 121–124 und ders.: Auf Herrn Valentin Wernickes/ und Jungf. Annen Ortilien Hofmannin Hochzeit. Ebd. S. 334–335. 710 Ich zitiere die zweite Edition von 1624, vgl. Michael Piccart: Observationum HistoricoPoliticarum Decades […] – Noribergae: Impensis Simonis Halbmayeri, Bd.1: Decades sex priores. Cum Episodio Decadis unius Narrationum Ridicularum. – Editio secunda. Nürnberg 1624. [VD17 12:108137X], S. 332–333. Dort heißt es: CAPUT XI. Ridiculum spectaculum Principi exhibitum. CUm anno Salutis partae 1468. Carolus Burgundus Philippi filius Princeps potentissimus subjugatis Leodiensibus ex Hannonia Insulam Urbem venisset, inter alia spectacula honori Principis data unum etiam fuit ridiculum admodum et ad oblectandum Principem unice institutum. Collocarant in conspectu Principis tres mulieres vivas, totas nudas, coronatas pulcherrime sub titulis, Veneris, Junonis et Palladis, quae judicem sibi Carolum deposcebant, ad exemplum veteris fabulae, qua tres illae Deae Paridem olim Pastorem Phrygium in Ida monte judicem sibi delegetant. Verum alia fuerat Dearum olim ratio, alia harum trium mulierum. Illae enim Deae de formae praestantia certabant, treshae Insulanae de deformitate et corporis vitiis. Nam quae Veneris titulum praeferebat, procera quidem statura erat, sed adeo obeso corpore, ut crassior nusquam posset reperiri. Iuno staturâ Veneri pari, sed tota ossa atque pellis, adeoque pellucens tanquam laterna Punica, quaque ex multis millibus nulla macilentior aut strigosior. Tertia, quae Palladem mentiebatur, statura erat brevi ac nana, sublatis humeris, gibbosa et omnibus vitiati coroporis deformitatibus insignis. Quod spectaculum adeo Carolum oblectasse fertur, ut reliquis omnibus longe anteferret, et magni honoris loco acciperet.
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1 Das Paris-Urteil: Faszination der Schönheit
Marginalie verweist: „M. Piccart in Narrat Ridicul.n.5“ (Marginalie neben Z. 137–140).711 Sie traten hinein in schändlicher Blösse; Venus war zwar von nemlicher Grösse Gemästet/ gestopfet die garstige Humml/ vergleichte sich einer gespanneten Trumml/ gleich denen Bekkersauen/ war Venus anzuschauen/ Ja wie ein Jahrkochsschwein Das säufft/frist Weizen klein/ Laß mir das die Venus sein. Frau Juno die ähnlichte Venus an Grösse Folgte derselben verdorret in Blösse Ganz hager und mager wie eine Latern/ Die Leber und Lunge man sahe von fern. Es kunt der krumme Stekken Die Zähne nicht bedekken/ Ein alter Schiebekarrn Der nichts nicht kan als knarrn Taug nur in das Grab zu scharrn. Die Pallas die hökkrichte kam auch gekrochen/ Triefäugig/ Zahnlos wol völlig an Knochen/ Gerunzelt wie eine gebakkene Birn Verschrumpelt/ gefalten an Wangen und Stirn Ein Laster von dem Weibe/ Kohlkreidenweiß am Leibe Ein Beinhauf dürrer Tod Gefärbet weiß und roht Wie der Schmiede feuerschlot.
Angeblich wurde Karl dem Kühnen von Burgund (1433–1477) ein solches Schauspiel zur Siegesfeier nach der Eroberung von Lüttich vorgespielt; ein Theatertext mit den Bühnenanweisungen ist m.W. jedoch nicht überliefert. 711 Ein anonymes, von Paul Fürst (1608–1666) verlegtes Flugblatt mit dem Titel Neu-auspolierter Venus-Spiegel. In welchem drey der aller schönsten Weibesbilder/ so jemals auf Erden gelebet/ vorgestellet werden, bietet eine intermediale Adaption von Klajs Parodie, die nicht die drei Göttinnen, sondern Cleopatra, Lucrece und Helena beschreibt, vgl. Wolfgang Harms, Cornelia Kemp (Hgg.): Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Bd. 4. Die Sammlungen der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek in Darmstadt. Tübingen 1987, S. 40–41.
1.1 Das Paris-Urteil in Birkens Götterschenkungen (1646)
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Jede Strophe besteht aus neun Versen mit je drei Paarreimen und einem Reimterzett (aabbccddd). Die ersten zwei Reimpaare einer jeden Strophe bieten daktylische, katalektische Vierheber mit einem Auftakt,712 wobei der zweite Vers keinen Auftakt aufweist. Das erste Reimpaar hat je klingende Kadenzen, das zweite je männliche. Durch die klingende Kadenz des zweiten Verses und dem Auftakt des dritten Verses wird die Katalexe des zweiten Verses scheinbar aufgehoben und die beiden Reimpaare rhythmisch zu einer Einheit verbunden ( ◡.– ◡ ◡.– ◡ ◡.– ◡ ◡.– ◡ |◡.– ◡ ◡.– ◡ ◡.– ◡ ◡.– ). Dagegen bieten die letzten fünf Verse je vier jambische Dreiheber und einen katalektischen, trochäischen Vierheber. Da die Verse fünf und sechs einer jeden Strophe klingende, die Verse sechs und sieben jedoch stumpfe Kadenzen vorweisen, entsteht zwischen dem achten und neunten Vers ein harter Hebungsprall, der den letzten Vers jeder Strophe rhythmisch pointiert. Die aufwendige Transformation von Piccarts Anekdote in ein dreistrophiges, metrisch stark durchkomponiertes Gedicht zeugt von großem Formbewusstsein und äußerster Kunstfertigkeit, mit der Klaj seine Vorlage überbietet, aber auch die Schäferdichtung Samuel Hunds überflügelt. Inhaltlich überlagert Klaj die Vorstellung von den Göttinnen als schöne, junge Frauen durch eine Häufung von Metaphern: Venus als „garstige Humml/ vergleichte sich einer gespanneten Trumml/ gleich denen Bekkersaun/ […] wie ein Jahrkochsschwein“ (Z. 144–148); Juno „wie eine Latern/ […] ein alter Schiebekarrn“ (Z. 153–157); Pallas „wie eine gebakkene Birn […] ein Laster von dem Weibe/ […] Ein Beinhauf dürrer Tod“ (Z. 162–166). Gekonnt weitet Klaj die Bedeutung der diffamierenden Beschreibungen aus der Vorlage aus: Die Darstellung Piccarts von der krankhaft dünnen Juno, die so hager sei, dass man sie mit einer Laterne durchleuchten könne (Piccart: „Iuno […] sed tota ossa atque pellis, adeoque pellucens tanquam laterna“), formt Klaj erst metaphorisch um: „ganz hager und mager wie eine Latern“ (Z. 153) und ergänzt dann die Semantik der Vorlage: „die Leber und Lunge man sahe von fern“ (Z. 154). Die Parodie dient jedoch nicht nur der Komisierung des Mythos, sondern bringt auch Klajs kritische Haltung gegenüber der antiken Mythologie zum Ausdruck, die er bereits zu Beginn seiner Dichtung thematisiert: „Im Fortgehen gedachte ich bey mir selbsten/ wie es auch müste in der blinden Heydenschaft kluge Leute gegeben haben“ (Z. 17–18). Eindeutig trennt Klaj den heidnischen Glauben an die paganen Götter von der Kenntnis der antiken Autoren und dem gekonnten literarischen Umgang mit
712 Eine Ausnahme bilden die ersten zwei Verse der ersten Strophe, in denen Klaj Daktylen und Trochäen alterniert, also die Silbenanzahl um eine Silbe verkürzt und so den Eingang in medias res dynamisiert.
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1 Das Paris-Urteil: Faszination der Schönheit
den mythischen Stoffkreisen, dem er sich mit der Parodie des Paris-Urteils eindrücklich gewachsen zeigt. Indes überwindet er durch den innovativen Gebrauch der daktylischen Verse auch die metrischen Regelvorgaben von Opitz, der in der Poeterey einzig alternierende Versmaße erlaubt hatte.713 Dass Birken an den kompetitiven Impetus von Klaj anschließt, lässt sich anhand der von ihm in seine Götterschenkungen eingearbeiteten Gedichte ermessen. Hatte er sich mit den in den Prosatext eingefügten frei nachgebildeten Passagen aus dem Pegnesischen Schäfergedicht gegenüber Samuel Hund als überlegen erwiesen, nimmt er mit den Glückwunschgedichten die aemulatio mit Klaj auf. Anstelle der metrisch aufwendigen Parodie von Klaj bietet Birken drei Technopägnien und schließt mit der aus der griechischen Literatur stammenden Form von Figuren- oder Umrissgedichte, die „durch wechselnde Verslängen die Konturen eines Gegenstandes“ abbilden,714 an die griechisch-antike Bukolik an. Damit rückt er seine Prosaekloge deutlich näher an die antiken Vorbilder und inszeniert sich als im gattungspoetischen Vergleich überlegen.715 Die Symbolik der durch die drei Figurengedichte abgebildeten Gegenstände – ein Pokal, ein aufgeschlagenes Buch und zwei miteinander verbundene Herzen – ist doppeldeutig: Einerseits symbolisieren sie die klassischen Bestechungsgüter der Göttinnen, andererseits sind sie als Signifikate der Göttinnen zu deuten. Im intermedialen Vergleich ist ersichtlich, dass Birken mit seinen Technopägnien die Pictura des bei Klaj und Hund verwendeten Emblems einspiegelt. Die Umarbeitung des Emblems von Klaj und Hund in Figurengedichte ist damit in den poetologischen Diskurs zum Figurengedicht in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts einzuordnen, denn obwohl in den zeitgenössischen Poetiken nur selten die „Konstruktionen von ‚carmina figurata‘, […] mit dem Explikationsmodell der emblematischen Poesie verknüpft [wurden]“, stellt Birken eben diese Ver-
713 Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey, S. 52, Z. 3–4: „Nachmals ist auch ein jeder verß entweder ein iambicus oder trochaicus.“ 714 Vgl. Die Definition von: Adler/Ernst, Text als Figur, S. 322. Allgemeiner zur visuellen Poesie im Barock vgl. die neuere Studie von Seraina Plotke: Gereimte Bilder. Visuelle Poesie im 17. Jahrhundert. München 2009, mit einem umfassenden Überblick über die Rezeption der Figurengedichte in den Poetiken des deutschen Barock, vgl. ebd., S. 20–28 sowie die Arbeit von Ulrich Ernst in Verb. mit Oliver Ehlen und Susanne Gramatzki (Hgg.): Visuelle Poesie. Historische Dokumentation theoretischer Zeugnisse. Bd. 1. Von der Antike bis zum Barock. Berlin, Bosten 2012, dessen Editionen der gesammelten Poetiken nun auch die Rezeption des Figurengedichts im europäischen Kontext erhellt. 715 Adler und Ernst gehen davon aus, dass Birken die für die Gattungsgeschichte wichtige Verknüpfung von visueller Poesie und bukolischer Dichtung von Theokrit kannte und übernahm, hatte Birken doch Theokrits Syrinx mit seinem Figurengedicht Shallmay in die Fortsetzung der Pegnitzschäferey eingearbeitet. Vgl. Adler/Ernst, Text als Figur, S. 156.
1.1 Das Paris-Urteil in Birkens Götterschenkungen (1646)
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bindung her, indem er „die typographischen Figuren als konstruktive Zeichen [nutzt], die nicht durch beigeordnete Verse, sondern in der Lesung des bildspendenden Textgefüges zu deuten“ sind.716 So wie Klaj die Weiterentwicklung der Gattung der Prosaekloge durch seine metrischen Experimente befördert, treibt Birken den Fortschritt der deutschen Bukolik durch die Reflexion der Poetologie von Figurengedichten voran.
1.1.4 Programmatischer Dichterwettstreit: Birkens Statius-Rezeption Ein weiterer Prätext der Götterschenkungen ist das Epithalamium für Stella und Violentilla (Silv. 1,2)717 von Statius (ca. 40–96 n.Chr.). Dass es sich bei dem „Wunschgedicht“ (Z. 75–76) um eine übersetzerische Aneignung von Statius Epithalamium handelt, weist Birken in der umgearbeiteten Fassung in der Guelfis (1669) mit einer Fußnote aus,718 doch da Statius Silvae im Barock zur Kanonlektüre gehörte, die auch Schottelius kannte,719 liegt bereits für die erste Fassung der Götterschenkungen ein hohes Maß an Kommunikativität vor. Die deutliche Markierung des Prätextes in der zweiten Fassung sowie durch das ohnehin hohe Maß an Referentialität in beiden Fassungen betont die Intention Birkens: Zweifelsohne ist seine Statius-Rezeption in den Kontext der kulturpatriotischen Nationalliteratur zu verorten, die seit Martin Opitz versuchte, antike Vorbilder imitierend zu überbieten. Dies lässt sich bereits an Birkens programmatischer Wahl der Vorlage ermessen. Indem er mit dem Epithalamium ein Gedicht aus der Silvae wählt, schließt Birken an die Silvendichtung an, die im Barock vor allem als Kunst des schnellen Schreibens und Improvisierens geschätzt
716 Vgl. Wilhelm Kühlmann: Kunst als Spiel: Das Technopaegnium in der Poetik des 17. Jahrhunderts. Mit Anmerkungen zu Baldassare Bonifacios Urania (Venedig 1628). In: Daphnis 20 (1991), S. 505–529, hier S. 505. 717 Das 277 daktylische Hexameter umfassende Epithalamium wird auf ca. 89/90 n. Chr. datiert; zum Inhalt und dem widmungsempfangenden Brautpaar Stella und Violentilla vgl. Horstmann, Das Epithalamium in der lateinischen Literatur der Spätantike, S. 79–88. 718 „Zum theil aus Statio abgesehen“, vgl. Birken, Guelfis, S. 40. Die Entsprechungen sind kenntlich gemacht in: Birken, WuK, 9/II, S. 716–720: Götterschenkungen, Z. 79–147 = Statius, Silv. I,2 V. 1–45; Götterschenkungen, Z. 268–297 = Statius, Silv. I,2 V. 201–217 und Götterschenkungen, Z. 308–355 = Statius, Silv. I,2 V. 241–277. 719 Zur Rezeption der Silvendichtung im Barock vgl. die maßgebliche Studie von Wolfgang Adam: Poetische und Kritische Wälder: Untersuchungen zu Geschichte und Formen des Schreibens ‚bei Gelegenheit‘. Heidelberg 1988 (Beihefte zum Euphorion 22), zu Schottelius besonders S. 192–200.
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1 Das Paris-Urteil: Faszination der Schönheit
wurde:720 Fontano, das Hirten-Ich Birkens, nimmt, bevor er mit dem Dichten des Hochzeitsgedichts beginnt, „das Bleyrohr aus seinem Tanister/ spitzte es zu/ und nach dem er auch Papier hervor gelanget/ finge er an aufzuzeichnen/ was ihme in der eil seine verwirreten Gedanken eingaben“ (Z. 77–78). Damit eignet sich Birken das (fingierte) Schreibprinzip721 von Statius an und profiliert sich mit seiner Kenntnis der antiken Gattungskonventionen. Auch formal ist die aufwendig gearbeitete Teilübersetzung, die nah an der Vorlage erläutert, wie erst die Götter und Musen ihre Glückwünsche überbringen (Z. 79–115), dann erzählt, wie Fontano und Margaris – die Birken anstelle des antiken Brautpaars Stella und Violentilla einsetzt – die Gerüchte im Vorfeld der Hochzeit überwanden (Z. 115–147), weshalb es dem Ehepaar nach den Widrigkeiten nun wohlwollend gestattet ist, sich der Liebe hinzugeben (Z. 268–312), eindeutig als aemulatio mit Statius konzipiert. Denn einerseits überbietet Birken die komplexe Erzählstruktur von Statius Epithalamium, die vor allem durch Rückblenden geprägt ist und von dem hohen literarischen Anspruch des lateinischen Hochzeitsgedichts zeugt,722 durch die Komposition der Rahmenund Binnenhandlung und der zusätzlichen Rückblenden mit intertextuellen Verweisen. Überdies arbeitet Birken die lateinischen daktylischen Hexameter in fast doppelt so viele paargereimte Alexandriner um und ahmt die Stilfiguren nach: So verdoppelt Birken (Z. 79–85) die zwei eröffnenden rhetorischen Fragen des Epithalamiums (Silv. I,2 V. 1–3); auch die darauffolgende Parenthese, die berichtet, wie die Musen vom Helikon zum Hochzeitsort herabsteigen, die bei Statius nach der zweiten rhetorischen Frage in der Versmitte einsetzt (Silv. I,2 V. 3–10), beginnt bei Birken mit der Mittelzensur nach der vierten rhetorischen Frage: Apollo/ wem hast du bezogen deine Leyer/ Und um den Hals gehengt (der glänzt von Götterfeuer) Bezüngtes Helfenbein? Es steigt der MusenSchaar Von ihrem Sängerberg/ macht ihre Saiten klar (V. 83–86)
Die anaphorischen Akkusativpronomen, mit denen Statius die rhetorischen Fragen nach der Parenthese auflöst: „nosco diem causasque sacri: te concinit iste
720 Vgl. ebd., S. 34–39 und S. 127–131. 721 Die Behauptung eines spontanen Dichtungsprozesses ist sowohl in der spätantike als auch im Barock topisch, vgl. ebd., S. 37. 722 Vgl. Horstmann, Das Epithalamium in der lateinischen Literatur der Spätantike, S. 80–81.
1.1 Das Paris-Urteil in Birkens Götterschenkungen (1646)
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(pande fores!) te, Stella, chorus;“ (Silv. I,2 V. 16.17), imitiert Birken auf ähnliche Weise: Fontano sol das Bild/ Fontano sind die Trachten Der Lieder zuvermeint/ der Hauf sucht seine Thür. Auf/ macht sie spärweit auf/ Ihr unser Wälder Zier/ (Z. 100–103)
Die apostrophierenden Akkusativpronomen wendet Birken in den anaphorischen Ausruf „Fontano“ und fügt er eine weitere Wiederholungsfigur hinzu, indem er Statius’ parenthetischen Zusatz „(pande fores!)“ mit dem Kyklos „Auf/ macht sie spärweit auf“ nachbildet. Birken ahmt jedoch nicht nur die von Statius gebotenen Figuren amplifizierend und ergänzend nach, sondern fügt auch eigene Stilmittel hinzu, um die antike Vorlage ästhetisch zu überbieten. Besonders sticht die Antimetabole heraus, mit der er die Liebeserwiderung in der Hochzeitsnacht abbildet: „die erste FreudenNacht | Macht euch zu Mann und Frau/ im Fall ihr slaffend wacht | und wachend slaffet ein“ (V. 130–132). Neben der formalästhetischen aemulatio zeugt auch die inhaltliche Gestaltung von Birkens Überbietungsvorhaben: So verlegt er den mythischen Beginn dem Anlass entsprechend in die Umgebung Wolfenbüttels („Wölpenfelder“, Z. 81) und stellt die Apostrophe an Apollo ambivalent um: Anders als Statius fragt er nicht, für wen sich Apollo selbst die Leier umgehängt habe,723 sondern wem er die Leier „bezogen […] und um den Hals gehängt“ (Z. 83–84) habe. Durch die offen gestellte rhetorische Frage suggeriert Birken, dass er selbst der von Apollo begabte Dichter ist, durch den nun „tausend Lieder“ (Z. 82) in Wolfenbüttel erklingen. Ferner ersetzt Birken auch Elegea, die personifizierte elegische Dichtung,724 die sich bei Statius zu den neun Musen gesellt, mit der deutschen Muse Teutillis, die mit den anderen neun wetteifert und „gewillet [ist] eine Wett mit ihnen zuversingen“ (Z. 91–92).725 Der Überbietungsgestus bildet eindeutig den Impetus der übersetzerischen Aneignung Birkens. Doch rahmt der Wettkampfgedanke auch schon bei Statius die mythologisch eingekleidete Hochzeitsdichtung,726 denn den
723 Bei Statius, V. 2–3 heißt es: „cui, Paean, nova plecta moves umeroque comanti facundum suspendis ebur?“ 724 Birken, WuK, 9/II, S. 721. 725 Statius lässt Elegea erscheinen, um auf die literarische Tätigkeit des Bräutigams als Elegiker hinzuweisen. Vgl. Horstmann, Das Epithalamium in der lateinischen Literatur der Spätantike, S. 86. Dagegen verweist Birken indem er Elegea mit Teutilles ersetzt auf Schottelius’ Leistungen als Dichter und Sprachforscher. Vgl. Birken, WuK, 9/II, S. 721. 726 Vgl. Horstmann, Das Epithalamium in der lateinischen Literatur der Spätantike, S. 86.
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Schluss des Gedichts bildet neben dem obligatorischen Kinderwunsch die Aufforderung an alle Poeten, die Hochzeit zu besingen:
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Nunc opus, Aonidum comites tripodumque ministri, diversis certare modis: eat enthea vittis atque hederis redimita cohors, ut pollet ovanti quisque lyra. sed praecipui qui nobile gressu extremo fraudatis opus, date carmina festis digna toris. hunc ipse Coo plaudente Philitas Callimachusque senex Vmbroque Propertius antro ambissent laudare diem, nec tristis in ipsis Naso Tomis divesque foco lucente Tibullus. Me certe non unus amor simplexque canendi causa trahit: tecum similes iunctaeque Camenae, Stella, mihi, multumque pares bacchamur ad aras et sociam doctis haurimus ab amnibus undam. At te nascentem gremio mea prima recepit Parthenope, dulcisque solo tu gloria nostro reptasti. nitidum consurgat ad aethera tellus Eubois et pulchra tumeat Sebethos alumna; nec sibi sulpureis Lucrinae Naides antris nec Pompeiani placeant magis otia Sarni.727
Ebenso ruft Birken zum Dichterwettstreit auf: […] Jetzt ferner ist vonnöten/ Daß sich mit Reimkampf belüsten die Poeten Ihr Aoninnen auf/ auf was nur dichten kan/
727 Heinz Wissmüller: Statius. Silvae. Das lyrische Werk in neuer Übersetzung. Neustadt, Aisch 1990, S. 23 übersetzt: Nun ans Werk, nun müsst ihr Gefolgsmänner der Aoniden (Musen) und Diener der Dreifüße (der Orakel) in verschiedenen Melodien wetteifern! Voll Begeisterung setze sich der Hochzeitszug in Bewegung, mit Binden und Efeu geschmückt, wie jeder mit seiner jubelnden Leier es vermag! Aber vor allem ihr, die ihr das edle Werk mit dem letzten Schritt (Versfuß) verkürzt, bringt würdige Lieder für die Hochzeit! Diesen Tag hätten selbst Philitas unter dem Beifall von Kos preisen mögen und der greise Kallimachos und Properz in seiner umbrischen Höhle und Naso (Ovid) wäre selbst in Tomi nicht traurig und Tibull reich durch das leuchtende Feuer. Mich zieht wirklich nicht nur die eine Liebe und der Grund zum Dichten (zu dir). Unsere Camenen (Musen) sind ähnlich vereint, Stella, wir geben uns unserer Begeisterung hin vor den gleichen Altären und schöpfen das Wasser gemeinsam aus den gelehrten Strömen. Und als du, (Violentilla), geboren wurdest, nahm dich in ihren Schoß zuerst mein liebes Parthenope und du krochst als süße Zierde auf unserem Boden herum. Das euböische Land erhebe sein Haupt zu dem glänzenden Äther und anschwelle der Sebethos, stolz auf seine schöne Tochter! Die Najaden vom Lukrinersee sollen aufhören, sich ihrer Schwefelhöhlen zu rühmen, und ebenso der pompejanische Sarnos seiner Ruheplätze!
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Auf du bekränzte Schaar! Singt dieses Lieben an! Vor andern aber ihr/ die ihr lauft in die Saiten Mit kunstgelehrter Hand/ stimmt diese Feyerzeiten Ein Freudenloblied an/ das deren würdig ist/ Darin man Zier/ und Kunst/ und Geist/ und Feuer liest/ Das reucht nach Ewigkeit. Ich wollte gerne singen; Die Ursach ist nicht schlecht/ die mich heißt Gaben bringen Zu diesem Myrtenfest. Fontano könnt es bas/ Weil ihn Calliope vorlängsten machte naß Im klaren Castalis. Zwar ich bin auch begossen; Doch ist in seinen Mund Thalia selbst geflossen/ Der meinen Schamroht macht. Er ware kaum gebohrn/ Da haben Erato und Themis ihn erkohrn Zu ihrem Wunderfreund; daß er bald thät’ erwidern. Die Oker weis sich viel mit seinen klugen Liedern Sein Einbekk schiket er hin an das Sternenzelt/ Sein Teutsches Wolken-an/ die Oker in die Welt. Die Sprach/ die Teutsche Sprach hat seiner Hand zu danken Das ihren Wunderschmukk vergrößern reine Schranken Er hat ihr nachgeforscht mit sindendem Gesuch/ Inmassen seiner Nahm verewigt manches Buch Das er der Welt geschenkt/ das man auch sollte wählen Vor grüner Wälderrast/ vor den bemosten Hölen/ Vor einem Nymphenhaus/ da man beglücket sitzt/ Im fall der Sirius die schwangre Welt beblitzt. (V. 312–339)
Die von Statius genannten griechischen Dichtergrößen Philitas und Kallimachos sowie die drei lateinischen Autoritäten Ovid, Tibull und Properz konterkariert Birken mit der von Schottelius betriebenen Forschung an der deutschen Sprache (Z. 331–332).728 Während Statius die großen antiken Liebeselegiker aufzählt und sie fingiert zum wetteifernden Liebespreis auffordert, um sein Hochzeitsgedicht satirisch von den Liebesklagen abzugrenzen und sein Epithalamium als Liebesdichtung auszuweisen, wendet Birken die Hochzeitswünsche in eine 728 Schottelius hatte sich bis 1646 in der Sprachforschung vor allem durch die drei folgenden Werke verdient gemacht: Iusti-Georgii Schottelii Einbeccensis, Teutsche Sprachkunst: Darinn die Allerwortreichste/ Prächtigste/ reinlichste/ vollkommene/ Uhralte Hauptsprache der Teutschen auß ihren Gründen erhoben/ […] Braunschweig 1641. [VD17 12:130705V]; Der Teutschen Sprach Einleitung/ Zu richtiger gewisheit und grundmeßigem vermügen der Teutschen Haubtsprache/ […]. Lüneburg 1643. [VD17 23:292955U] und Iusti-Georgii Schottelii Teutsche Vers- oder ReimKunst: darin Unsere Teutsche Muttersprache, so viel dero süßeste Poesis betrift, in eine richtige form der Kunst Zum ersten mahle gebracht worden. Wolfenbüttel 1645. [VD17 23:297080Y]. Sein wirkmächtigstes Werk zur deutschen Sprache, die Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache […] erschien erst 1663 [VD17 12:130315E].
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Lobdichtung der deutschen Sprache und Literatur. Birken eignet sich die antike Vorlage demnach nicht nur übersetzerisch und durch die formale Ästhetisierung an, vielmehr modifiziert er die Semantik von Statius’ Epithalamium. Dementsprechend arbeitet er auch die Verse auf Violentilla in ein Lob auf Schottelius um. Dafür transponiert er die Landschaftsbeschreibung vom Golf von Neapel (Pompeij, die Insel Euböa, den Lukrinersee und den Fluss Sebethos) in die Umgebung von Schottelius’ Heimatstadt Einbeck. Polysyndetisch hebt Birken hervor, dass sich Schottelius durch die „Zier/ und Kunst/ und Geist/ und Feuer“ (Z. 319) seiner Lieder verewige: „Das reucht nach Ewigkeit“ (Z. 330). Gleichzeitig stellt sich Birken jedoch in unmittelbare Konkurrenz zu seinem Präzeptor. Zwar ordnet er sich Schottelius hierarchisch unter, den er als von Calliope geweihten Dichter (Z. 323) stilisiert: „Fontano könnt es bas /“ (Z. 322), unterläuft das Lob jedoch wieder, indem er sich als ebenfalls durch Castalis729 begossen beschreibt („Zwar ich bin auch begossen“ (Z. 324)) und sich damit wieder auf eine Stufe mit Schottelius stellt. Indem Birken den Hauptteil des antiken Epithalamiums, die Entstehung der Liebe durch Venus und Amor, ausklammert und das Lob auf den Bräutigam zwar ausweitet, es aber auch unterläuft, pointiert er den Wettkampfgedanken. Ohnehin präsentiert er sich durch den souveränen Umgang mit der antiken Vorlage sowie mit der antiken Mythologie als poeta doctus und bietet mit den Bildgedichten sein erweitertes Repertoire, aber auch sein Gattungsverständnis dar. Besonders hebt Birken mit seiner Bearbeitung des Statius-Gedichts jedoch den Aspekt dichterischer Konkurrenz hervor und thematisiert damit auf einer Metaebene autoreflexiv die Funktion seiner Aneignungen der Dichtungen von Hund und Klaj. Die strukturellen und referenziellen Anlehnungen scheinen indes nicht einzig durch die barocktypischen Verfahren der imitatio und aemulatio motiviert zu sein, sondern die inspirierende Wirkung von Erinnerungen an Orte gemeinsamer Spaziergänge, Emotionen und Dichtungen zu beschwören.
1.1.5 Die Neufassung der Götterschenkungen in der Guelfis (1669) Dreiundzwanzig Jahre nach dem Erstdruck der Götterschenkungen (1646) veröffentlicht Birken die Guelfis (1669), ein historiographisch-panegyrisches Werk auf 729 Calliope ist die oberste der Musen und Schutzgöttin der Dichtkunst; Castalis ist die Quelle am Fuß des Parnass, deren Berührung als Quelle dichterischer Inspiration gilt. Vgl. Jan Söffner: [Art.] Musen. In: Supplemente Bd. 5. Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. von Maria Moog-Grünewald. Stuttgart, Weimar 2008, S. 441–442.
1.1 Das Paris-Urteil in Birkens Götterschenkungen (1646)
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das Welfenhaus, das sich aus der Prosaekloge Guelfis (S. 1–270), einer Genealogie der Welfen (S. 271–310) und einem Anhang von Ehrengedichten (S. 311–405) zusammensetzt.730 Darin ist, neben einer Vielzahl von früheren Schriften, auch eine überarbeitete Fassung der Götterschenkungen eingearbeitet.731 Während die Verseinlagen nahezu unbearbeitet in die Guelfis-Fassung übernommen sind,732 zeichnet sich die zweite Fassung hauptsächlich durch den stark revidierten Prosatext aus,733 in dem Floridan nun nicht mehr von seinem Spaziergang durch die Wolfenbütteler Umgebung und der unmittelbar bevorstehenden Hochzeit von Fontano und Margaris berichtet, sondern im Zwiegespräch mit Filanthon734 reflektiert, wie ihm vor der Hochzeit im Schlaf die Glückwunschgedichte eingegeben wurden. Filanthon bittet Floridan, er möge ihm „noch ein und anders von deinen Gedichten wiederholen/ deren zweifelsfrey viele/an der Oker und anderswo/ aus deinen Gedanken werden geflossen seyn.“ 735 Bereitwillig berichtet Floridan, was ihm „dazumal im Traum begegnet“:736 Als mir/ liegendem auf einem Graßhügel an der Oker […] der Schlaff die Augen zugedrücket: dünckte mich/ als ob ich vor mir sähe/ drey Frauenpersonen. Der Ersten ihr güldnes Krönlein/ mit welchem ihre noch güldnere Haare eingefangen waren/ kame mir vor wie Ovidius die gemahlinn seines Jupiters mit Worten abmahlet. So wuste ich auch/ die Andere/ vor die (allein in der PoetenSchrifften) verhimmelte Pallas achten: weil Casquet/ Schild und Lanze ihre Verähter waren. Die Dritte/ gieng halb-nackicht/ und truge in der rechten Hand eine zart-brennende Fakel; mit der Linken aber hielte sie einen dünnen Schleyer/ der ihr über die Schulter herabhienge/ unter den Brüsten zusammen. Es ist unnötig/ dir die Letzere zu benennen: weil du nun schon aus dieser Beschreibung erähtest/ daß es die Herzzwingerin Venus gewesen; wiewohl sie niemals gewesen.737
730 Birkens Guelfis ist auch in der umfassenden Werkedition bisher nicht ediert worden, weshalb im Folgenden nach den Seitenzahlen aus dem Digitalisat [VD17 23:231785D] zitiert wird. 731 Stauffer, Morphologie, S. 699. 732 Die erste Verseinlage der ersten Fassung hat Birken in der zweiten Fassung getilgt, die zweite Verseinlage wird dagegen in einer gekürzten Variante geboten, vgl. Guelfis, S. 5. Die Gedichte der Göttinnen sind komplett übernommen; die Teilübersetzung des Statius-Gedichts ist mit der Überschrift „Hochzeits-Glückwunsch“ ohne die Unterbrechung der ersten Fassung geschlossen übertragen, vgl. Guelfis, S. 39–48. Zu den stilistischen Varianten vgl. Birken, WuK, 9/II, S. 716. 733 Stauffer, Morphologie, S. 32. Die stilistisch-orthographischen Varianten sind kenntlich gemacht in: Birken, WuK, Bd. 9/II, S. 716–725. 734 Den Schäfernamen Filanthon trug Anton Burmeister (†1670). Zu ihm vgl. Jürgensen, Melos conspirant singuli, S. 183–185. 735 Guelfis, S. 31. 736 Ebd., S. 31. 737 Ebd., S. 32.
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1 Das Paris-Urteil: Faszination der Schönheit
Auffällig an dieser Umarbeitung der Begebenheit in einen Traumbericht ist die Fiktionalisierung der paganen Mythologie: Juno existiere nur in der Beschreibung Ovids, Athene werde „allein in der PoetenSchrifften“ vergöttert und auch Venus sei „niemals gewesen“. Deutlich markiert Birken seine Mythenrezeption als Aneignung antiker Literatur und distanziert sich von dem vermeintlichen Glauben an die paganen Götter. Anders als noch in der spielerischen ersten Fassung scheint sich Birken etwa zwanzig Jahre später die mythenkritische Haltung aus der Vorlage Johann Klajs angeeignet zu haben. Hartmut Laufhütte beobachtet diese „partielle Umorientierung“ bereits ab 1662/1663 und sieht sie im Zusammenhang mit dem „damals beginnenden Freundschaftskontakt zu […] Catharina Regina von Greiffenberg (1633–94).“738 Im kulturpatriotischen Bewusstsein einer jungen deutschsprachigen Dichtungstradition, die im Geiste des Martin Opitz versuchte, die antiken Vorbilder zu überbieten, scheint der unermessliche Erfindungsreichtum des Altertums für Birken auch 1669, zehn Jahre, bevor er die Ablehnung der paganen Mythologie in seiner Poetik, der Teutschen Rede-bind- und Dicht-Kunst (1679), programmatisch zuspitzt, noch unverzichtbar gewesen zu sein.739 Indes gehört es auch zu Birkens Fiktionalisierungsstrategie, die Begebenheit in den Götterschenkungen in einen Traumbericht umzuarbeiten. Durch diese Revision rückt Birken seine Götterschenkungen näher an Klajs Fortsetzung von Hunds Schäferdichtung, denn bereits Klaj hatte die Göttinnen nur im Traum erscheinen lassen.740 Doch Birken entlehnt nicht nur die Fiktionalisierungsstrategie, sondern erhebt auch die bei Klaj aus dem Traum entstandene Inspiration zum Prinzip und funktionalisiert den Traumbericht poetologisch: „Mir traumte poetisch: dann ich ware in den Gedanken/ zu besagtem Myrtenfest etwas zu poetisieren/eingeschlafen.“ 741 Die Handlungsführung wird dann wie in den Götterschenkungen erläutert und anschließend abstrakt reflektiert: 738 Laufhütte, Programmatik und Funktionen, S. 309. 739 Dort heißt es: Weg mit eurer Huren-Göttin/ Heide/ Mahler und Poet! Weg auch mit dem kleinen Teufel/ der ihr an der Seite geht! Eine Jungfrau/ die ihr Kind trägt in den Keuschen Mutter-Armen/ lobt und mahlet mir/ seit Christen… Vgl. Sigmund von Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst/ oder Kurze Anweisung zur Teutschen Poesy: mit Geistlichen Exempeln/ verfasset durch Ein Mitglied der höchstlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft Den Erwachsenen. Samt dem Schauspiel Psyche und Einem Hirten-Gedichte. Nürnberg 1679. [VD17 12:130456U], S. 70. 740 Vgl. Klaj, Fortsetzung, in Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, Bd. 5, S. 66–73. 741 Guelfis, S. 32
1.1 Das Paris-Urteil in Birkens Götterschenkungen (1646)
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Du hast wohl geträumet! Sagte hierauf Filanthon. Ich erinnere mich jetzt noch eines solchen Traums/ den du zwar vor eine Geschicht erzehlet/ die uns dein Edler Freund/ der Spielende/ zu lesen gegeben. Auch der vorige/ (versetzte Floridan/) ist unter solchem Namen erstlich gelesen worden. Und was sind die Gedichte anders/ als Träume eines Wachenden? Das ist wahr! Täte Filanthon hinzu. Und eben darum wird von den alten Poeten geschrieben/ daß sie/wann sie ein gutes Gedicht verfassen wollen/ aus dem Claros-brunnen sich berauschet/ alsdann auf dem Parnassus eingeschlafen und geträumet. Es hat damit (unterfuhre Floridan/) diese Meinung/ daß die äußerlichen Sinne müssen schlaffen gehen/ wann der Poetische Geist erwachen soll. Ja die rechte geistige Dichterey/ erfordert gleichsam eine Entzückung/daß man mit höret/ sihet oder fühlet/ sondern allein inwendig die Gedanken spielen lässet.742
Während Birken in der ersten Fassung mit der Naturbeschreibung einen Raum künstlerischer Inspiration konstruiert, dessen Wirkmacht das Dichtungsvermögen katalysiert und durch den intertextuellen Verweis die Schöpfungskraft des Raumes evoziert, formuliert er in der Guelfis-Fassung selbst ein poetologisches Konzept: Nach Birken wird Poesie im Schlaf eingegeben oder sie entspringt Sinneseindrücken, die inwendig reflektiert werden. Dichten wird damit zur geistigen Leistung, die nicht durch das Befolgen der Verslehre erbracht oder erlernt werden kann. Mit dieser an neuplatonische Inspirationskonzepte erinnernden Beschreibung grenzt sich Birken eindrücklich von den zeitgenössischen Regelpoetiken ab. Entsprechend abwertend fällt sein Urteil über andere Dichter aus: „Fantasten/ die nichts von dieser Kunst verstehen/ halten dafür/ ein Poet könne nichts/ als Verse schmieden: da doch/ zu einem wahren Poeten/ aller Künste Wissenschaft erfordert wird.“ 743 Da wahre Poeten alle Künste beherrschen sollten, reicht die einfache Produktion von Versen nach einem Regelsystem nicht aus. So fährt Birken fort: „Es gibt Reimere und Zeilenleimere/die ihnen selber trefflich wohl gefallen/ wann sie auf einem Fuß stehend ein halb-Schock Reimen ausgrölzen können/ darin weder Zier noch Geist ist: und solche Pritschmeistere wollen Poeten heissen.“ 744
742 Ebd., S. 48–49. 743 Ebd., S. 56. 744 Ebd., S. 58.
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1.2 Plädoyer für das Versepos: Weckherlins Gedichte von dem Urtheil (1648)745 Georg Rodolph Weckherlins (1584–1653) Werk stand, auch in der zeitgenössischen Rezeption, lange im Schatten des Reformpoeten Martin Opitz, der mit seiner Versreform im Buch von der Deutschen Poeterey (1624) Epoche machte. Weckherlins Reflektion im Vorwort seiner Geistlichen und Weltlichen Gedichte (1648) legt davon eindrucksvoll Zeugnis ab: Was mir sunsten (wie ich höre) von andern, welche ihnen allein die Musen ihre süsse Lieb und küsse verleyhen, und Apollo selbs seine Leyr übberaichet, und sie über die Teutsche Poesy Oberhäupter, Befelchs-haber und Richter verordnet, fürgeworffen wird, daß ich ihrem Befelch und Satzungen in meinen Dichtungen nicht gehorche und nachkomme, sondern unter andern, ihnen widrigen oder mißfälligen sachen, wol schreiben darf meine Ehr; und neig, Herr deine Ohren; und nicht dein’ Ohren, mein’ Ehr, etc. und dergleichen: halt ich kaum nöhtig, darauf zu antworten.746
Offensichtlich bezieht sich Weckherlin hier auf die zeitgenössische Kritik an seiner frühen Lyrik, in der er die strenge Alternation von Vershebungen, die Opitz in seiner Poetik so wirkmächtig forderte, nicht konsequent eingehalten hatte. Auch in der Forschung wurde Weckherlins Orientierung an dem romanischen Versifikationsprinzip im Hinblick auf das von Martin Opitz eingeführte alternierend-akzentuierende Versmaß als „barbarische Misshandlung des Wortakzents“ abgewertet.747 Dagegen hat als erster Christian Wagenknecht die Einflüsse der englischen und französischen Vorbilder auf Weckherlin aufgezeigt und auf seine innovativen rhythmischen Muster hingewiesen.748 Obwohl 745 Das vorliegende Kapitel bietet eine abweichend akzentuierte Version von Antonius Baehr: Weckherlins „Gedichte von dem Urtheil so der Troanische Jüngling, Paris, mit dem Apfel gegeben“ (1648). Eine aemulative Aneignung des französischen Romans Le Jugement de Paris (1608) von Nicolas Renouard. In: Privatmann – Protestant – Patriot – Panegyriker – Petrarkist – Poet: Neue Studien zu Leben und Werk Georg Rudolf Weckherlins (1584–1653). Hg. von Heiko Ullrich. Passau 2018, S. 293–322. 746 Für das Vorwort der zweiten Ausgabe von Weckherlins Gaistlichen und Weltlichen Gedichten (1648) vgl. Georg Rodolph Weckherlin. Gedichte. Hg. von Hermann Fischer. 3 Bde. Tübingen 1894/1895/1907 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 199, 200, 245), hier Bd. 1, S. 294. Fischers Edition wird nachstehend abgekürzt zitiert mit: Fischer, Weckherlins Gedichte, Bandnummer, Seitenzahl. 747 Hans Lentz: Zum Verhältnis von Versiktus und Wortakzent im Versbau G.R. Weckherlins. München 1966 (Studien und Quellen zur Versgeschichte 1), S. 105–106. 748 Christian Wagenknecht: Weckherlin und Opitz. Zur Metrik der deutschen Renaissancepoesie. Mit einem Anhang: Quellenschriften zur Versgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts. Passau 1971.
1.2 Plädoyer für das Versepos: Weckherlins Gedichte von dem Urtheil (1648)
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besonders die neuere Forschung Weckherlin einen Platz als Wegbereiter von Opitz eingeräumt749 und seine Wirkung in der Rezeption der Aufklärung herausgearbeitet hat,750 ist das Gesamtwerk Weckherlins nur wenig erforscht worden.751 Auch Weckherlins 848 Verse umfassendes Kleinepos Gedichte von dem Urtheil so der Troanische Jüngling, Paris, mit dem Apfel gegeben (1648) ist bisher nur unzureichend gewürdigt worden. Vor allem ältere Arbeiten haben den Entstehungszeitpunkt des Gedichts diskutiert: Weil Weckherlin das Paris749 Vgl. vor allem die umfassende Arbeit zu barocken Poetiken von Nicola Kaminski: Ex Bello Ars oder der Ursprung der ‚Deutschen Poeterey‘. Heidelberg 2004 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 205), besonders S. 115–123 sowie S. 124–151 und S. 184–203. Neuer, wenn auch knapper und leider ohne die Kenntnis der so umfangreichen Abhandlung von Kaminski, vgl. Knut Kiesant: Georg Rodolf Weckherlin (1584–1653) – ein ‚Vorläuffer der neuen Dichtung‘? In: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005. Germanisten im Konflikt der Kulturen. Bd. 5. Kulturwissenschaft vs. Philologie? – Wissenschaftskulturen: Kontraste, Konflikte, Synergien – Editionsphilologie: Projekte, Tendenzen und Konflikte. Hg. von Jean-Marie Valentin. Bern u. a. 2008 (Jahrbuch für Internationale Germanistik Reihe A, Kongressberichte 81), S. 327– 333, der sich für die Neuedition von Weckherlins Werken ausspricht und ferner auch Klaus Haberkamm: Georg Rodolf Weckherlin als Advokat von ‚reichthumb und schönheit‘ der deutschen Sprache: zur Kontroverse mit Opitz um die prosodische Suprematie. In: Simpliciana. Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft 35 (2013), S. 263–281, der versucht die Beobachtungen von Kaminski durch die Untersuchung des Dichtersonetts von Weckherlin: An Herrn Martin Opitzen fürtrefflichen deutschen Poeten“. In: Fischer, Weckherlins Gedichte, Bd. 1, S. 435, textuell zu erhärten. 750 Stephan Knödler: Wiederentdeckung und Missverständnis. Zur Weckherlin-Rezeption bei Johann Gottfried Herder, Karl Philipp Conz und August Wilhelm Schlegel. In: Daphnis, 34 (2010), S. 611–636. 751 Editorisch hat sich hauptsächlich Fischer, Weckherlins Gedichte, Bd. 1–3. verdient gemacht. Ferner haben Ludwig Krapf, Christian Wagenknecht (Hgg.): Stuttgarter Hoffeste. Texte und Materialien zur höfischen Repräsentation im frühen 17. Jahrhundert. 2 Bde. Tübingen 1979 (Neudrucke deutscher Literaturwerke N.F. 26–27), Weckherlins Triumph (1616) erstmals auch mit der Kupferstichfolge von 1616 aufbereitet. Inhaltlich ist die frühe Hofdichtung jedoch lediglich in einer Monographie gewürdigt, vgl. Silvia Weimar-Kluser: Die Höfische Dichtung Georg Rudolf Weckherlins. Bern, Frankfurt/M. 1971 (Europäische Hochschulschriften Reihe 1, 59). Die bisher einzige Monographie über Weckherlins Oden und Gesänge (1618/19) 150 Jahre liegt zurück, vgl. Ernst Höpfner: G.R. Weckherlins Oden und Gesänge. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Dichtung. Berlin 1865. Diese wird neuerdings maßgeblich ergänzt durch das Kapitel zu Weckherlins Oden in der Studie von Heba Fathy: Nachahmung und Neuschöpfung in der deutschen Odendichtung des 17. Jahrhunderts. Eine gattungsgeschichtliche Untersuchung. Hamburg 2007 (Schriften zur Literaturgeschichte 9), S. 33–70. Den Gaistlichen und Weltlichen Gedichten (1648) hat sich bisher nur Ingrid Laurien: ‚Höfische‘ und ‚bürgerliche‘ Elemente in den ‚Gaistlichen und Weltlichen Gedichten‘ Georg Rodolf Weckherlins (1648). Stuttgart 1981 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 89), in einer Monographie gewidmet. Die Biographie Weckherlins wurde maßgeblich erhellt durch Leonard Wilson Forster: Georg Rudolf Weckherlin. Zur Kenntnis seines Lebens in England. Basel 1944 (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 2).
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Urteil bereits im Triumph (1616) bearbeitet hat, plädiert Ernst Höpfner für eine ähnlich frühe Entstehung des Versepos.752 Hans-Georg Kemper bemüht dasselbe positivistische Argument, um das Kleinepos als „beachtlich liberales Werk“ zu qualifizieren, das Weckherlin „erst mehr als 30 Jahre später zu veröffentlichen wagte.“753 Dabei verkennt er, dass Weckherlin das Paris-Urteil im Triumph panegyrisch im Sinne der translatio imperii aufwertet und die Schöpfungskraft der Entscheidung für die Liebe betont: Alß habe ich [Priamos] […] mich hierher begeben/ Umb/ neben den drey Göttinen Iunone, Pallade und Venere […] meine und ihre Dienst/ nach eines jeden gebührlichen begehren/ dergesalt anzubieten/ daß es ihnen allen Erstlich an Ehr/ Herrlichkeit und Reichthumb/ dero die Juno und ihre Knecht/ Hector/ Deiphobus und Troilus: Zum andern/ an Tugendt/ Kunst unnd Geschickligkeit/ dero Pallas unnd meine Kinder Helenus und Cassandra: Und dann zum Dritten/ an Frid/ Frewd/ Liebe und Freundligkeit/ dero Venus neben dem Paride und Achille/ sampt ihren getrewen Liebhaberin/ der Helena und Polyxena/ durch deß grossen Gottes willen getrewe Außspender seind/ in ewigkeit nicht mangeln soll/754
Daher scheint es einerseits unzutreffend, das Kleinepos in Abgrenzung zum Triumph als besonders liberal zu beschreiben, andererseits mutet die Datierung auf 1616 etwas vorschnell an, auch weil sie die von Aaron Schaffer angeführte überwiegend einheitliche Metrik des Gedichts nicht berücksichtigt.755 Andere Arbeiten haben dagegen versucht, Weckherlins Quelle kenntlich zu machen. Als Erster hat Hermann Fischer Lukians Göttergespräche als Vorlage vorgeschlagen, weil die anfängliche Weigerung des Paris sowie die Einzelunterredungen bei Weckherlin ebenso prominent sind wie bei Lukian. Allerdings nimmt Fischer an, dass eine Quelle von „einem der zahlreichen neulateinischen Nachahmer Virgils“ zwischengeschaltet war.756 Davon geht auch Heiko Ullrich noch aus, der in seiner Studie auf zahlreiche Ähnlichkeiten zu anderen Rezeptionen des Paris-Urteils hinweist.757 Überdies vertritt Ullrich die
752 Vgl. Höpfner, Weckherlins Oden und Gesänge, S. 20–22. 753 Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der Frühen Neuzeit. Bd. 4,I. Barock-Humanismus: Krisen-Dichtung. Tübingen 2006, S. 127. 754 Krapf/Wagenknecht, Stuttgarter Hoffeste, S. 41. 755 Aaron Schaffer: Georg Rudolf Weckherlin. The Embodiment of a Transitional Stage in German Metrics. Baltimore 1918 (Hesperia 10), S. 89–90, hat sich aufgrund der relativ einheitlichen Metrik – 75% der Verse seien makellose Alexandriner – für eine spätere Entstehung ausgesprochen. 756 Fischer, Weckherlins Gedichte, Bd. 2, S. 498. 757 Heiko Ullrich: Der ‚augenschein/ Der nackenden warheit’: Juristische Rhetorik und poetische Ästhetik in Weckherlins ‚Urtheil des Paris’. In: Dichterjuristen. Studien zur Poesie des Rechts vom 16. bis 21. Jahrhundert. Hg. von Yvonne Nigels. Würzburg 2014, S. 31–48, hier S. 32.
1.2 Plädoyer für das Versepos: Weckherlins Gedichte von dem Urtheil (1648)
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These, in Weckherlins Kleinepos lasse sich die „Parallelisierung von poetischästhetischem und juristisch-rhetorischem Diskurs“ feststellen:758 Das von Paris subjektiv gefällte Urteil über die Schönheit der Göttinnen sei als ironischer Kommentar auf die petrarkistische Liebesdichtung zu verstehen, die aufgrund der repetitiven Beschreibungsmuster der weiblichen Schönheit notwendigerweise fiktiv sein müsse: „[S]o begründet die Subjektivität, die jeder Beurteilung weiblicher Schönheit […] innewohnt, die Notwendigkeit der Fiktionalität in der Liebesdichtung.“759 Thomas Borgstedt hat im Zuge seiner Untersuchung zur Abhängigkeit von Weckherlins Buhlereyen-Zyklus von Edmund Spensers Amoretti-Zyklus auch die den beiden Sonettzyklen angeschlossenen Großgedichte, Weckherlins Gedichte von dem Urtheil und Spensers Epithalamion, verglichen und versucht, in Weckherlins Kleinepos Parallelen zu Spensers Epithalamium nachzuweisen.760 Aus zwei Gründen bleibt die vergleichende Analyse Borgstedts jedoch unbefriedigend: Erstens wird sein Blick durch die fehlleitende Grundannahme verstellt, dass der Sonettzyklus „der eigenen Ehefrau gewidmet ist und also eine Liebe beschreibt, die in die Ehe mündet.“ 761 Dies sei in der älteren Forschung „biographisch im Sinne einer Abbildung von Weckherlins eigener Ehe gedeutet“ worden; einem „solchen Befund [stehe] nichts entgegen.“762 Dafür beruft sich Borgstedt einerseits auf Forschungsarbeiten einer veralteten Wissenschaftstradition, die unzulässigerweise die puellae der petrarkistischen Lyrik biographisch deutet, indem die fiktiv angebetete Dame Myrta mit Weckherlins Ehefrau Elizabeth Weckherlin 758 Ebd., S. 47. 759 Ebd., S. 48. Während es durchaus schlüssig ist, Weckherlins Rezeption des Paris-Urteils als ironischen Kommentar auf die petrarkistische Liebeslyrik zu lesen, leuchtet es weniger ein, das Kleinepos auch als „ausführliche Problematisierung des Richteramts“ (Ullrich, Der ‚augenschein/ Der nackenden warheit‘, S. 32) und damit als Beitrag zum juristisch-rhetorischen Diskurs zu interpretieren. Das liegt einerseits daran, dass Ullrich den juristisch-rhetorische Diskurs nicht spezifiziert, andererseits kann das mythische Schönheitsurteil über drei Göttinnen des paganen Pantheons nicht als exemplarischer Rechtsstreit betrachtet werden, da für einen solchen immerhin Regeln in Form von Gesetzen vorliegen würden. Dass Weckherlin die fehlenden Prozessregeln und die mangelnde Objektivität der Gerichte im 17. Jahrhundert diskutiert, geht jedoch keinesfalls aus dem Text noch aus Ullrichs Studie hervor, denn seine Argumentation, Paris verlasse sich ausschließlich auf die „optischen und akustischen Eindrücke“ (Ullrich, Der ‚augenschein/ Der nackenden warheit‘, S. 32) und könne deshalb nur zu einem subjektiven Urteil kommen, lässt die Frage offen, wie ein Schönheitsstreit zu entscheiden sei, wenn nicht über die optische Wahrnehmung. 760 Vgl. Thomas Borgstedt: Georg Rodolf Weckherlins Buhlereyen-Zyklus und sein Vorbild Edmund Spenser. In: Arcadia 29 (1994), S. 240–266. 761 Ebd., S. 242. 762 Ebd., S. 242.
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(geb. Raworth) gleichgesetzt wird.763 Andererseits bezieht sich Borgstedt auf die Studie von Eberhard Berent, der jedoch zu dem Schluss kommt, Weckherlins Gedichte eigneten sich gerade nicht, um Rückschlüsse auf seine persönlichen Liebeserfahrungen abzuleiten: [D]as Persönlich-Bekenntnishafte in Weckherlins Liebesdichtung [nimmt] einen so geringen Raum ein, daß wir mit gutem Gewissen sagen dürfen, es fehlt. Die persönliche Unbezogenheit von Weckherlins Liebesdichtung gibt sich allein schon dadurch zu erkennen, daß es schwierig sein dürfte, die Myrtagedichte von solchen zu unterscheiden, die sich auf eine frühere oder auf eine fiktive Geliebte beziehen.764
763 Vgl. Forster, Georg Rudolf Weckherlin. Zur Kenntnis seines Lebens in England, S. 42. Dagegen herrscht in der neueren Forschung generell Konsens darüber, dass die Liebeslyrik des Barock nicht ohne Weiteres als Erlebnislyrik deutbar ist und gerade die von Borgstedt zitierte Forschung problematisiert den Erlebnisgehalt der barocken Lyrik: „Die Frage nach dem Erlebnisgehalt der Barocklyrik ist eine durchaus problematische.“ Vgl. Eberhard Berent: Die Auffassung der Liebe bei Opitz und Weckherlin und ihre geschichtlichen Vorstufen. Den Haag, New York 1970 (Studies in German literature 15), S. 75. Auch Ingried Laurien, ‚Höfische‘ und ‚bürgerliche‘ Elemente, S. 280, die zwar die Möglichkeit einer Beschreibung von realer Liebe einräumt, sieht in Weckherlins Sonettzyklus eine Kunstübung: „Der Sonettzyklus stellt sich dar als ein ‚Kunstwerk‘ im eigentlichen Sinne: Liebessituation und Lob der Geliebten geben Anlass zur scharfsinnigen Demonstration der eigenen Kunst.“ Ferner lässt sich der fiktionale Charakter der bedichteten Damen bereits in der Rezeption der Dichter des 17. Jahrhunderts nachweisen, wie der folgende Auszug aus David Schirmers Poetischen Rosen-Gepüsche (1657) zeigt: Daß ich aber so vieler Damen und Buhlschafften gedacht/ ist keines weges dahin zudeuten/ als solte […] unter einem ieden verblümten Worte eine absonderliche Person/ vermummet und verbildert stehen. Ich bin hier denen vortreflichen Leuten/ als ein kleiner Schatten einem grossen Leibe/ nachgegangen/ […] Mich düncket aber/ Plato/ Cicero/ Plinius/ Apuleius/ Horatius/ Naso/ Tibullus/ Propertius/ und andere tapfere Geister […] werden deswegen nicht zuverwerffen seyn/ daß sie ihre Arbeit mit einer angebildeten Liebe/ und zwar mit frembden und unbekannten Benamungen/ durch süsset und besänfftiget haben. […] Angerianus liebet Celien/ Marullus Neeren/ Secundus Julien/ Strotza Antien/ Cobanus Flavien/ Petrarche Lauren/ der übermenschliche Scaliger Crispillen und Telesillen/ Lotichius Claudien und Callyrhoen/ der holländer Homer Heinsius Leßbien/ Rossen und die Phyllis/ Melissus Rosinen/ Lernutz/Hyellen/ Jan von der Döß seine Ida/ Acidatius Ninen/ Ovintien/ Psychen und Venerillen/ Opitz Flavien/ Asterien/Galatheen/ Detien und Vandalen/ Rist seine Galatheen/ Myneien/ Dorinden u.d.g Homburg seine Julien/ Fillis Chloris und Dorillen/ der tapfere Augspurger seine Flora. Ja alle Poeten haben ihre sonderliche Namen/ die sie […] verehren. Wer wollte sagen/ daß der edle Flemming und sein Finckelthaus so viel Weibsbilder solten geliebet haben/ als sich Namen in ihren Schrifften befinden? Vgl. David Schirmer: Poetische Rosen-Gepüsche. 1657. Hg. und mit einem editorischen Anhang versehen von Anthony J. Harper. Tübingen 2003 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock 42), S. B3–B4. 764 Berent, Liebe bei Opitz und Weckherlin, S. 82–83.
1.2 Plädoyer für das Versepos: Weckherlins Gedichte von dem Urtheil (1648)
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Und nochmals an anderer Stelle: Liebesdichtung ist grundsätzlich keine Ehedichtung. […] Dargestellt wurde bereits, daß Weckherlins Myrta-Gedichte nicht dazu geeignet sind, uns ein Bild von der Ehefrau des Dichters zu vermitteln. Es dürfte deshalb auch kaum möglich sein, an Hand dieser Gedichte Weckherlins Auffassung von der Ehe abzuleiten.765
Zwar beobachtet Borgstedt durchaus richtig, dass Weckherlin das traditionell im Petrarkismus mitgedachte Scheitern der Liebe antipetrarkistisch wendet, indem er die Liebeserfüllung zulässt766 und darin zurecht einen Anknüpfungspunkt an Spensers Amoretti-Zyklus sieht, doch krankt seine Untersuchung an terminologischer Unschärfe. Denn die Emotionsforschung ist sich im Wesentlichen einig darüber, dass die Ehe in der frühen Neuzeit keine private Angelegenheit, sondern Familiensache war, die nicht aufgrund gegenseitiger Liebe, sondern vornehmlich aus sozioökonomischen und politischen Gründen geschlossen wurde, um Rang, Status und ökonomische Lage der etwaigen Eheleute zu erhöhen.767 Mit seiner Annahme, Weckherlin knüpfe in seinem Sonett-Zyklus mit der „Ausrichtung des petrarkistischen Musters auf eine ehebezogene Liebeserwiderung der Dame“768 an Spensers Amoretti-Zyklus an, scheint Borgstedt jedoch Liebeserwiderung und Ehe unzulässigerweise gleichzusetzen. Zweitens bleibt seine vergleichende Musterung der den Sonettzyklen angehängten Großgedichte aufgrund der mangelnden Kenntnis der Vorlage von Weckherlins Kleinepos ungenügend. Denn nicht Spensers Epithalamium, sondern der französische Roman Le Jugement de Paris (1608) von Nicolaus Renouard bildet die Vorlage für Weckherlins Gedicht. Um die bisher unbemerkte Vorlage und die Umarbeitung Weckherlins als solche zu würdigen, werden nachstehend erst der Roman von Renouard und die zeitgenössische Übersetzung von Gottfried Finckelthaus: Le Jugement de Paris. Das Urtheil des Schäffers Paris (1638) vorgestellt, um anschließend die strukturellen und textuellen Bearbeitungen Weckherlins kenntlich zu machen und im Hinblick auf seine Rezeption des Paris-Urteils neu zu interpretieren.
765 Ebd., S. 149. 766 Borgstedt, Weckherlins Buhlereyen-Zyklus, S. 245. 767 Vgl. mit einem ausführlichen Forschungsüberblick Anette Baumann: Eheanbahnung und Partnerwahl. In: Venus und Vulcanus: Ehen und ihre Konflikte in der Frühen Neuzeit. Hg. von Siegrid Westphal, Inken Schmidt-Voges, Anette Baumann. München 2011 (Bibliothek Altes Reich 6), S. 26–87, besonders S. 28–31. 768 Borgstedt, Weckherlins Buhlereyen-Zyklus, S. 256.
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1.2.1 Nicolas Renouards Le Jugement de Paris (1608) als Prosaepos Nicolas Renouard, ein von der Forschung wenig beachteter Dichter, arbeitete als Advokat und Historiograph für Louis XIII.769 Als Hauptwerk Renouards darf seine Ovid-Übersetzung Les métamorphoses d’Ovide gelten, die von 1606 bis 1670 mit 32 teils illustrierten Auflagen überaus erfolgreich war.770 Ergänzt wird Renouards Ovid-Rezeption durch seinen häufig der Metamorphosen-Übersetzung beigebundenen Roman Le Jugement de Paris (1608),771 in den er ebenfalls zahlreiche Reminiszenzen aus den Metamorphosen eingearbeitet hat, wie er im Vorwort berichtet:
769 Vgl. André Maurois: [Art.] Nicolas Renouard. In: Dictionnaire des lettres françaises. Le XVIIe siècle. Hg. von Georges Grente. Paris 1996, S. 879. 770 Die achtzehn illustrierten Ausgaben sind neuerdings bibliographisch erfasst von Gerlinde Huber-Rebenich, Sabine Lütkemeyer, Hermann Walter: Ikonographisches Repertorium zu den Metamorphosen des Ovid. Die textbegleitende Druckgraphik. Bd. 2. Sammeldarstellungen. Berlin 2004, S. 205–216. Damit ist die Bibliographie der Ovid-Übersetzung Renouards von Roméo Arbour: L’Ere baroque en France. 4 Bde. Genf 1977–1985 (Histoire des idées et critique littéraire), die zuvor bereits 25 illustrierte und nicht-illustrierte Ausgaben kannte, um sechs weitere Ausgaben ergänzt. Weder Abour noch Huber-Rebenich/Lückemeyer/Walter verzeichnen jedoch die Ausgabe von 1637. Diese ist im Besitz der UB Erlangen-Nürnberg mit der Signatur [H62/4 SLG.RICKLEFS B1]. Nicht nur die vielen Auflagen beweisen den Erfolg der Metamorphosen-Übersetzung; so hat Monika Maier-Speicher: Otto Greis – das zeichnerische Werk: mit einem Werkverzeichnis. Berlin 2013 (Kunstgeschichte 93), S. 49, z. B. gezeigt, dass Renouards Ovid-Rezeption als Vorlage für Nicolas Poussins Zeichnung Geburt des Adonis (ca. 1623) diente. Don Cameron Allen: Mysteriously Meant. The Rediscovery of Pagan Symbolism and Allegorical Interpretation in the Renaissance. Baltimore, London 1970, S. 195–197, hebt den moral-didaktischen Charakter der Übersetzung hervor. Wenig Neues findet sich dagegen bei Alexandra Nyseth: Darstellungen des Merkur- und des Argus-Mythos’ in der Malerei und Grafik des 17. und 18. Jahrhunderts. Diss. Kiel 2005, S. 32–33, die im Wesentlichen nur Allens Charakterisierung übersetzt. Helena Taylor: The Lives of Ovid in Seventeenth-Century French Culture. Oxford, New York 2017, S. 50–55, zeigt dagegen den nationalpatriotischen Anspruch Renouards auf. 771 Der Roman erlebte zwischen 1608 bis 1651 zwanzig Auflagen und wurde außer ins Deutsche auch ins Spanische übersetzt, vgl. Arbour, L’ Ere baroque en France. Bd. I–IV. Genève 1977–1985. Die Einträge 6629 und 8166 dokumentieren die zweifach aufgelegte spanische Übersetzung von César Oudin: El juyzio de Pâris (1612 und 1616). Oudin bietet den französischen Text neben der wörtlichen Übersetzung ins Spanische. Beigefügt ist dem Vorwort ein Auszug aus dem königlichen Privileg, welches den Verlegern der französischen Originalausgabe, Matthieu Guillemot, und Samuel Thibout, das Recht zum Druck und Verkauf der spanischen Version gibt. Offenbar hatten sie die Übersetzung ins Spanische in Auftrag gegeben, vgl. César Oudin: El Iuyzio de Paris. Hecho en Frances por N. Renouard. Y traduzido en Epañol por Cesar Oudin, Secretario. Paris 1612. Unpaginiert. Das Exemplar der Österreichischen Nationalbibliothek mit der Signatur [26.N.139] ist digital zugänglich über: http://data.onb.ac.at/rec/AC10242407 (Zugriff 12. September 2018).
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Ce […] presume a fait naistre en plusieurs le desir de la voir, d’un style pareil à celuy des Metamorphoses, & ce desire a invité l’Autheur de la derniere traduction de recueillir ca & là ce qui en a esté escrit, pour former ce petit ouvrage, & le faire voir à part, sans le mestre dans les oevres d’Ovide, qu’il s’est efforcé d’imiter autant qu’il a peu. Peut ester que cette imitation affectée fera iuger ses paroles plus Poetiques, qu’elles ne devoient [deudient?] ester: mais il s’est creu obligé de s’accomoder à son subiect, & representant une feinte, bien que ce soit en prose, reigler plustost son discours aux loix de la Poesie, qu’à celles de l’Histoire.772
Anders als in seiner Übersetzung habe sich Renouard vorbehalten, keine weitere wörtliche Übertragung der Metamorphosen zu bieten; dagegen habe er, um sein poetisches Können unter Beweis zu stellen, neue Elemente hinzugefügt und diese poetisch verarbeitet. Während Renouard in dieser Captatio Benevolentiae unmissverständlich auch sein Überbietungsvorhaben zum Ausdruck bringt („Peut ester que cette imitation affectée fera iuger ses paroles plus Poetiques“), erscheint sein Vorwort ebenfalls als poetologischer Kommentar der zeitgenössischen gattungspoetischen Diskussion um die Berechtigung des Romans als modernes Äquivalent des antiken Versepos.773 So wie Pierre de Ronsard (1524–1585) im Vorwort der Franciade (1572) den Roman mit dem Epos gleichgesetzt und der prosaischepischen Erzählform einen Platz auch im antiken Gattungssystem eingeräumt hatte,774 scheint Renouard die Umarbeitung von Ovids epischem Sammelgedicht, den Metamorphosen, in einen Roman zu legitimieren. Das Werk ist dementsprechend als Prosaepos konzipiert.775 Erhärten lässt sich dieser Befund zunächst an der Stoffwahl Renouards: Der sich grob in zwei Teile gliedernde Roman, der im ersten Abschnitt Paris’ Urteilsfindung beschreibt (S. 1–33) und diese im zweiten Teil durch die Schilderung von Oenones Liebesschmerz moral-didaktisch perspektiviert (S. 33–48), nimmt mit dem Ursprungsmythos des Trojanischen Kriegs auf das in den klassischen Versepen von Vergil (Aeneis) und Homer (Odyssee) geschilderte (pseudo-)
772 Zitiert wird mit Seitenangaben im laufenden Text aus der Ausgabe von 1615: Nicolas Renouard: Le Jugement De Paris. Cologni 1615. [VD17: 14:703279L], hier S. aiiijr–aiiijv. 773 Schon bei Scaliger, der in seiner Poetik Poetices libri septem (1561) mit der Aithiopika des Helidors einen Prosaroman als Vorbild für epische Dichtungen anführt, deutet sich die Gleichstellung von antikem Epos und antikem Roman an, vgl. Ernst Rohmer: Das epische Projekt. Poetik und Funktion des ‚carmen heroicum‘ in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts. Heidelberg 1998 (Beihefte zum Euphorion 30), S. 10. Inwiefern die Gleichsetzung bei Scaliger in der Rezeption der frühen Neuzeit eventuell missverstanden wurde, vgl. ebd., S. 61–62. 774 Zum Verhältnis des französischen Epos zum Roman vgl. Rohmer, Das epische Projekt, S. 171–175. 775 Zur Entwicklung des Romans als „moderne Epik“ vgl. Helmut Koopmann: Vom Epos und vom Roman. In: Handbuch des deutschen Romans. Hg. von Helmut Koopmann. Düsseldorf 1983, S. 11–30, besonders S. 11–13.
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historische Großereignis Bezug und zielt damit auf die „Darstellung größerer zeitlicher, biographischer und weltbildlicher Zusammenhänge.“ 776 Fundierter noch lässt sich die Konzeption von Renouards Roman als epischer Erzähltext an der inhaltlichen Gestaltung im Hinblick auf die für das Epos gattungstypische Motivik zeigen. Dazu gehören neben dem Beginn in medias res:777 [der] Musenanruf […], genealogische oder anderweitige Kataloge […], Schlachtbeschreibungen, Wettkampfspiele, Ratsversammlungen mit Rededuellen, Gastmahlszenen, die Verknüpfung der sich unter Menschen vollziehenden Handlung mit übernatürlichen Wesen (‚epische Maschinerie‘, mythologischer Apparat), Metamorphosen und andere Instanzen des Wunderbaren, Unterweltfahrten, die Liebesgeschichte des Helden, elaborierte Beschreibungen (Ekphrasis) von Waffen, Wandteppichen etc. (nach dem Muster des Schilds des Achill). Allegorien sind zunächst sehr beliebt, […] werden aber im ausgehenden 17. und 18. Jh. zunehmend kritisch gesehen.778
Eine feingliedrige Strukturierung des Romans in neun Abschnitte zeigt, dass sich fast jedem Handlungsabschnitt ein epostypisches Motiv zuweisen lässt: Bevor die Handlung in medias res beginnt, schaltet Renouard dem Roman anstelle eines Musenanrufs (1) eine allegorisierende Apostrophe an die Leser vor (S. 1–2), in der er dazu auffordert, sich der Wollust, der vita voluptaria („vie flatteuse“, S. 1) zu
776 Die stofflich-thematischen Festlegungen des Epos divergieren geringfügig: Während Rohmer aus einzelnen Poetiken der Frühen Neuzeit die von den Dichtern vorgeschlagenen Themen für Epen herausarbeitet (bei Scaliger z. B. die „Taten von Helden und das Wirken der Götter“, vgl. Rohmer, Das epische Projekt, S. 59, oder bei Ronsard die „Darstellung der Genealogie der Französischen Könige“, vgl. ebd., S. 141.), werden diese Stoffe in den maßgeblichen Lexika unter „kollektiv bedeutsame[n] Taten der Vergangenheit“, (vgl. Bernd Auerochs: [Art.] Epos. In: Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. Hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moennighoff. Begr. von Irmgard und Günther Schweikle. 3. Aufl. Stuttgart, Weimar 2007, S. 200–202, hier S. 200.) bzw. unter der „Darstellung größerer zeitlicher, biographischer und weltbildlicher Zusammenhänge“ (Hans Fromm: [Art] Epos. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. A–G. Hg. von Klaus Weimar, Harald Fricke. Berlin, Boston 1997, S. 480–484, hier S. 480) abstrakt zusammengefasst. Dieter Martin, der für seine Studie das Epos als „eine Handlung erzählende Versdichtung gehobenen Anspruchs und größeren Umfangs“ (vgl. Dieter Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert. Studien und kommentierte Gattungsbibliographie. Berlin, New York 1993 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker. N.F. 103), S. 3) definiert, ist insofern genauer, als dass sein Kriterium des „gehobenen Anspruchs“ die Wirkungsintention des jeweiligen Textes miteinschließt. Umso schwerwiegender ist, dass das Reallexikon seine Arbeit nicht kennt und die Untersuchung des neuzeitlichen Epos als ein Desiderat ausweist, dem Martins umfassende Studie Abhilfe leistet. 777 Vgl. Auerochs, Epos, S. 201. 778 Ebd., S. 201.
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erwehren und stattdessen die Lebenswege der vita activa („vie laborieuse“, S. 1) und der vita contemplativa („d’une [vie] tranquille“, S. 1) zu vereinen.779 Darauf folgt die (2) Beschreibung des Hochzeitsfests von Peleus/Thetis (S. 2–7), die als Gastmahlszene fungiert, und (3) die Ekphrasis der Kleidungsstücke der Göttinnen (S. 7–15), bevor (4) die Göttinnen selbst in einem Rededuell zu Wort kommen und versuchen, Paris mit den bekannten Versprechen zu bestechen (S. 15–27). Erst dann verlangt Paris (5), die Göttinnen nackt zu sehen (S. 27–30) und fällt (6) sein Urteil zugunsten der Venus (S. 30–33). Auf das Urteil folgt notwendigerweise die Verknüpfung der sich unter Menschen vollziehenden Handlung mit übernatürlichen Wesen, die gleichsam den Wendepunkt des Romans bildet, denn fortan beginnt die Schilderung der Liebesgeschichte des Helden aus Oenones Perspektive: Zunächst (7) äußert sie ihr Misstrauen gegenüber Paris’ plötzlicher Abreise (S. 33–37), (8) worauf Paris mit ausschweifenden, meineidigen Liebesbekenntnissen ihr gegenüber reagiert (S. 37–38). (9) Oenone durchschaut den Betrug jedoch; der Ausdruck ihres Liebesschmerzes, der mit Paris’ und Helenas gemeinsamer Rückkehr ihren Höhepunkt erreicht, beschließt den Roman (S. 38–48). Narratologisch konterkariert der zweite Teil des Romans den ersten: Während das Urteil des Paris primär von einem extradiegetischen Erzähler geschildert und nur selten durch Einschübe in Figurentext dynamisiert wird, dominiert im zweiten Teil des Romans die figurale Darstellung: Oenone schildert analeptisch die Verlaufsstadien der Sequenz I, um Paris’ Ehrlosigkeit und Undankbarkeit hervorzuheben. Als sie den Traum Hekabes reflektiert (Sequenz I, 1): „Miserable, il falloit que ie susse brustlée de ce flambeau fatal, dont Hecube en dormant se perduada d’estre enceinte“ (S. 45), bezieht sie die zerstörerische Kraft der Fackel, die in Hekabes Traum die Vernichtung Trojas durch Paris’ Handlungen bedeutet, auf die Liebe zwischen ihr und Paris. Ferner berichtet sie davon, wie sie (anstatt der Hirten) Paris aufnahm und sich die Liebe zwischen Paris und ihr entwickelte (Sequenz I, 2–3). Den Kunstgriff, das Paris-Urteil analeptisch aus der Perspektive Oenones wiederzugeben, übernimmt Renouard von Ovid, denn der zweite Teil des Romans ist Ovids Heroides 5, dem Brief von Oenone an Paris, nachgebildet.780 779 Damit knüpft Renouard an die Deutungstradition von Fulgentius (Myth. 2,1) an, bei dem Paris als Negativbeispiel dient, der sich gegen ein aktives (Juno) bzw. philosophisches Leben (Athene) entscheidet und sich ganz der Sünde (Venus) hingibt, vgl. Hofstetter, Das Parisurteil von der Antike bis Watteau, S. 18. 780 Vgl. Ovid, Her. 5, V. 9–32. nondum tantus eras, cum te contenta marito edita de magno ilumine nympha fui. qui nunc Priamides – absit reverenda vero! servus eras; servo nubere nympha tuli!
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1 Das Paris-Urteil: Faszination der Schönheit
Pâris peut-il negliger celle, qui Nymphe, & fille dun grand fleuve, ne desdaigna point de l’aimer aut temps qu’il n’estoit que simple berger? Bien qu’auiourd’huy tu sois Prince de Troye, & recongnu l’un des fils de Priam, pense que tu ne l’estois pas alors, que mon amour me fit tant oublier ma qualité de Nymphe, que pour toy ie perdis la honte d’espouser un valet. I’ay esté plusieurs foist e voir parmi les troupeaux de bestial que tu gardois, & plusieurs fois I’ay bien daignié reposer avec toi sur l’herbe. Ie t’ay esté plusieurs fois monster les endroits de ceste forest plus propes à la chasse, ie t’ay guidé pour descouvrir les grottes, où les bestes nourrissent leurs petits. I’ay pris la peine de conduire tes chiens dedans l’espaisseur de ce bois, qui couvre les sommets de la montagne: Et tant de courtoisies n’ont rien produit que de l’ingratitud! Tu te mescognois en la face de ta fortune change, & peut ester, oses-tu bien dire maintenant par desdain, que iamais tu n’eus d’amour pour Enone? Toutesfois tu ne peux, ces arbres te desmentent, car ils tesmoignent presques tous le respect que tu m’as porté. Plusieurs font voir en leur escorce mon nom gravé du burin de ta serpe. On lit le nom d’Enone, taillé de la pointe de ton Cousteau en divers lieux, où mon nom va croissant tout ainsi que le tronc des arbres. Croissez tousiours, & vous rendez immortels, heureux arbres, afin de render ma memoire immortelle. Mais il y a un peuplier, planté sur la rive du fleuve, où on void nos deux noms ensemble. Ha! faut-il que nos corps soyent separez, & que la seule alliance des noms demeure? Meursfidelle peuplier, afin qu’elle se perde: mais non, conserve toy, pour convaincre Pâris. Tu fus tesmoin de ses premieres flames, tu le seras de sa perfidie, autant de fois, que sur ton escorce rabouteuse, on lira ces vers: Alors que Pâris infidelle Sans Enone respirera, Le Xanthe a soy-mesme rebelle Vers sa source retournera.
saepe greges inter requievimus arbore tecti mixtaque cum foliis praebuit herba torum; saepe super stramen faenoque iacentibus alto defensa est humili cana pruina casa, quis tibi monstrabat saltus venatibus aptos, et tegeret catulos qua fera rupe suos? retia saepe comes maculis distincta tetendi; saepe citos egi per iuga longa canes, incisae servant a te mea nomina fagi et legor OENONE falce notata tua, et quantum tranci, tantum mea nomina crescunt. crescite et in títulos surgite recta meos! populus est, memini, pluviali consita rivo, est in qua nostri littera scripta memor. popule, vive, precor, quae consita margine ripae hoc in rugoso cortice carmen habes: « PARIS OENONE POTERIT SPIRARE RELICTA, AD FONTEM XANTHI VERSA RECURRET AQUA» Xanthe, retro propera versaeque recurri te lymphae! sustinet Oenonen deseruisse Paris.
1.2 Plädoyer für das Versepos: Weckherlins Gedichte von dem Urtheil (1648)
245
Helas! Pâris les a escrit, & sa bouche pariure les a mille fois prononcez. Robrousse donc ton flux, ô fleuve trop constant en ta course, fai remonter tes eaux en haut, car Pâris vit, & il vit sans Enone: mais il ne vit pas seulement sans elle, il vit avec un autre, qu’il a esté recercher au delà de ces longues plaines de mer, que son inconstance a passees. (S. 42–43)
Auch Cassandras Weissagung (Sequenz I,4), mit der sie die Trojaner vergeblich vor dem Trojanischen Pferd warnte, transformiert Renouard nach Ovid in eine Vorhersehung der scheiternden Beziehung: „Il me souvient, qu’agitee de ses divines fureurs, elle [Cassandra] me dit, il y a fort long temps: Que fais-tu pauvte Enone? Pourquoy perds-tu ton grain sur des fablons? C’est sur l’arenee que tu semes, ton travail sera sans profit, iamais tu ne verras sortir aucun fruit de ton labourage“, (S. 44–45).781 Mit dem Wechsel vom dominanten Erzählertext zum primären Gebrauch des Figurentexts im zweiten Teil des Romans dramatisiert Renouard die Handlung und die Darstellung des Schmerzes. Damit rückt er Paris’ Schuld in den Vordergrund, indem er ihn als Ehebrecher und Lüstling darstellt, der sich ganz seiner Wollust hingibt. Anders als bei Ovid belastet Oenone den ehebrecherischen Paris jedoch nicht nur auf der Ebene ihrer Liebesbeziehung, sondern nennt den Raub der Helena ebenfalls als Grund für den Beginn des Trojanischen Kriegs. Das Freudenfest zur Ankunft von Paris und Helena sei „le dernier acte des felicitez de Priam“ (S. 47), der letzte Akt der Freude für Priamos gewesen, denn: Depuis toute la Grece armee pour la vengeance de l’iniure receue par Menelas, fit recognoistre à Pâris, au milieu du sang & des meurtres, combine la faveur de Venus lui estoit funeste: car elle lui cousta la vie, celle de tous les siens, & la ruine entire de son pays, où le feu & les armes ne laisserent qu’un desert à la place de ceste puissante & fameuse Troye, autresfois la Reyne des villes de l’Asie. (S. 47–48)
Renouards Paris-Rezeption schließt nahtlos an seine moraldidaktische Auslegung der Metamorphosen an. Die Allegorisierung des Paris-Urteils in der Apostrophe zu Beginn des Romans nimmt die am Ende beschriebenen fatalen Folgen des Urteils vorweg. Darüber hinaus wendet Renouard die Liebeselegie Ovids moraldidaktisch. Oenone trauert nicht allein um die zerbrochene Liebesbeziehung,
781 Vgl. Ovid, Her. 5, V. 113–118. hoc tua – nam recolo – quondam germana canebat, sic mihi diffusis vaticinata comis: «quid facis, Oenone? quid harenae semina mandas? non profecturis litora bubus aras. Graia iuvenca venit, quae te patriamque domumque perdati io prohibe! Graia iuvenca venit!
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1 Das Paris-Urteil: Faszination der Schönheit
sie klagt Paris als Ehebrecher an. Ihn trifft eine doppelte Schuld auf persönlicher und auf staatlicher Ebene; die Macht der Venus über ihn tritt dahinter zurück.
1.2.2 Privatisierung der Liebe in Finckelthaus’ Übersetzung des Romans Der Leipziger Dichter und Jurist Gottfried Finckelthaus (1614–1648) hat Renouards Roman, dreißig Jahre nach dessen Veröffentlichung, ins Deutsche übertragen. Der zweisprachigen Titel Le Jugement de Paris. Das Urtheil des Schäffers Paris (1638) verweist unverkennbar auf die französische Vorlage.782 Finckelthaus bietet eine wörtliche Übersetzung des französischen Textes, die sich in die imitierende Literatur des deutschen Barock fügt, mit der die Literaturfähigkeit der Nationalsprache unter Beweis gestellt werden sollte. Der Übersetzung geht ein seitengroßes Titelkupfer voran (Abb. 5), außerdem ergänzt Finckelthaus den Roman durch ein 21 Strophen umfassendes Gedicht.783 Das Titelkupfer zeigt Paris am linken Bildrand sitzend und im schäferlichen Gewand. Rechts vor ihm, zentral im Bild, steht Venus, die mit der rechten Hand den Eris-Apfel von Paris empfängt, mit der linken einen zwischen ihr und Paris stehenden Eroten an der Hand hält und von einem zweiten, über ihr fliegenden Eroten mit einem Blumenkranz gekrönt wird. Zu ihrer Rechten steht, gut erkennbar an Lanze und Helm, Athene; links und leicht vor Venus sitzt, am weitesten vorne im Bild und mit dem Rücken zum Betrachter gewandt, Juno. 782 Vgl. Renate Jürgensen: Die deutschen Übersetzungen der ‚Astrée’ des Honoré d’Urfé. Tübingen 1990 (Frühe Neuzeit 2), S. 166, die in ihrer bibliographischen Übersicht der barocken Übersetzungsliteratur im Umfeld Leipzigs zwei erhaltene Drucke der Erstauflage von 1638 (HAB [Qu H 167 (1)] und [60. 2 Eth. (9)]) sowie ein Exemplar der zweiten Auflage von 1645 (HAB [A 73.2 Eth. (3)]) ausweist. Ferner ist von der ersten Auflage ein Exemplar erhalten in: Thüringer ULB [8 Arch.III,7] und von der zweiten Auflage in: UB Augsburg, [02/IX.1.8.39angeb.]; UB Erlangen-Nürnberg [H61/VAR 92]; SBB-PK [Yu 4661]; Stadtbibliothek Braunschweig [C 1442/6 (8°)]. Interpretatorisch ist Finckelthaus’ Übersetzung nicht wissenschaftlich gewürdigt worden. Insgesamt hat sich mit mehreren kleineren Arbeiten und der einzigen Monographie zu Finckelthaus’ Werk hauptsächlich und fast ausnahmslos Anthony J. Harper: The Song-Books of Gottfried Finckelthaus. Glasgow 1988 (Scottish Papers in Germanic Studies 8), verdient gemacht. Eine Bibliographie bietet Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 2, S. 1478–1484. Zur Biographie von Finckelthaus vgl. Renate Jürgensen: [Art.] Gottfried Finckelthaus. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 3, S. 444–445. 783 Die Übersetzung von Finckelthaus wird nach der folgenden Ausgabe zitiert: Gottfried Finckelthaus: Le Jugement De Paris. Das Urtheil des Schäffers Paris. Leipzig 1645. [VD17 23:285227M]. Aufgrund der unregelmäßigen Paginierung wird nach den Digitalisatseiten des VD17-Digitalisats zitiert. Für das Titelkupfer vgl. S. 8. Ein Transkript des Gedichts (vgl. S. 93–93) befindet sich im Anhang. Das Lied wird nach den dort angegebenen Versnummern im laufenden Text zitiert.
1.2 Plädoyer für das Versepos: Weckherlins Gedichte von dem Urtheil (1648)
Abb. 5: Titelkupfer zu Finckelthaus’ Romanübersetzung (1645).
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248
1 Das Paris-Urteil: Faszination der Schönheit
Sie ist erkennbar durch eine hinter ihr stehende Schatztruhe und einen Pfau, der mit geöffnetem Federkranz den am rechten Bildrand stehenden Hermes bis zur Hüfte verdeckt. Hermes kann eindeutig durch seinen geflügelten Helm und den von ihm an der linken Schulter lehnenden Hermesstab identifiziert werden, dagegen wird Juno durch ihren Kopfschmuck, eine Mondsichel, mit der Jagdgöttin Diana überlagert. Die drei Göttinnen sind bis zur Hüfte entblößt, alle dargestellten Figuren richten ihren Blick auf Paris. Dadurch wird einerseits die Spannung, mit der die Göttinnen das Urteil erwarten, und andererseits die Übermacht, die von den göttlichen Figuren ausgeht, porträtiert. Die dargestellte Szene der Apfelübergabe retardiert jedoch die fatale Wirkung des Urteils, denn obwohl eindeutig ist, dass Venus den Schönheitswettbewerb für sich entscheidet, enthält der Kupferstich keine Wertung. Dadurch, dass die vorderste Figur im Bild mit dem Rücken zum Betrachter gewendet abgebildet ist, wirkt er wie von der Szene abgeschirmt; er erhascht nur einen kurzen Einblick in das Leben des Schäfers Paris. Damit wird die vermeintliche Staatsaffäre zu einer privaten Szene verklärt. Der Illustration des Paris-Urteils entsprechend modifiziert Finckelthaus auch den Titel der französischen Vorlage, indem er Paris als „Schäffer“ beschreibt und damit das Prosaepos bukolisiert. Obwohl die Übersetzung die Liebesschmach der Oenone gemäß der Vorlage wiedergibt und auch der Raub der Helena als Ursache des Trojanischen Kriegs angeführt wird, entlastet Finckelthaus den trojanischen Prinzen in dem hinzugefügten Gedicht. Formal erscheinen die 21 Strophen, die jeweils sechs trochäische Vierheber umfassen und je einen Kreuzreim mit wechselndem Reimgeschlecht und einen Paarreim mit männlichen Kadenzen (ababcc) bieten, wie ein Lied: Durch die häufigen Synkopen und gelegentliche Tonbeugungen (V. 76, V. 78, V. 99 und V. 118) wirken die Verse wie auf eine Melodie angepasst. Den liedhaften Charakter verstärken neben zahlreichen Hyperbata (z. B. V. 7, V. 76, V. 97) auch der lakonische Sprachstil, der den ‚hohen Stil‘ des Prosaepos kontrastiert. Inhaltlich lässt sich das Gedicht zweiteilig strukturieren. (1) Die ersten elf Strophen rekapitulieren den Hergang des Paris-Urteils, (2) Strophe 12–24 reflektieren Paris’ Entscheidung. Dabei zeigt die gleichmäßige Verteilung der einzelnen Handlungsabschnitte auf die Strophen, dass Finckelthaus das Gedicht minutiös durchkomponiert hat: Die ersten beiden Strophen beschreiben die Hochzeit von Thetis und Peleus sowie den Apfelwurf durch Eris, Strophe 3–4 schildern den ersten Streit der Göttinnen, den erst Jupiter schlichten kann, indem er Paris als Richter auswählt (Strophe 5–6), während Strophe 7–8 wiedergeben, wie Merkur dem Paris das Richteramt überträgt. Die folgenden drei Strophen schildern dann in je einer Strophe die Bestechungsgüter jeder Göttin: Junos Angebot des unendlichen Reichtums in der neunten, Athenes Weisheit in der zehnten und Venus’
1.2 Plädoyer für das Versepos: Weckherlins Gedichte von dem Urtheil (1648)
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Versprechen der schönsten Frau in der elften Strophe. Die darauffolgenden zwei Strophen bilden jedoch einen Bruch mit der Vorlage, denn darin überlagert Finckelthaus die moraldidaktische Allegorese Renouards: Paris von den dreyen Künsten Ganz verzuckt weiß nicht wonaus/ Wird befochten von drey Künsten/ Die ihm machten manchen Strauß: Juno war Rhetorica Pallas Dialectica.
Ob zwar die vernünfftig schlosse/ Jene gläublich riehte da/ Alles doch zu Boden schosse Der Venus Poetica; Die mit solchen Meister-Sang Ihr macht Paris zum Anhang. (V. 67–78)
Jede der drei Göttinnen personifiziert eine der drei Lehren der Redekunst: Juno steht für die Rhetorik, die „Kunst des wirkungsvollen Redens,“784 Athene für die Dialektik, also für die „Lehre der Wahrheitsbedingungen von Aussagen“785 und Venus für die Poetik, die hier scheinbar „im gleichen Sinne wie der Begriff […] der literarischen Ästhetik“786 verstanden wird. Denn offensichtlich unterscheidet Finckelthaus die wirkmächtige, die wahrheitsfindende und die poetisch-ästhetische Rede voneinander. Damit wendet er den Schönheitsstreit in einen Wettkampf der Redekünste, das Paris-Urteil wird zum Reflexionsmodell der künstlerischsprachlichen Ästhetik. Mit dem Sieg der Poetik über die Rhetorik, vor allem aber über die Dialektik, wertet Finckelthaus den belehrenden, wahrheitsfindenden Wert der Dichtkunst, entgegen der horazischen Formel prodesse et delectare, ab und hebt die unterhaltende, ästhetische Qualität von Poesie hervor. Dies zeigt sich auch daran, dass Finckelthaus Paris entlastet: Aber wer hat je genommen Von demselben ein Beispiel? Wer ist in der Männer Zahl Der nicht folget Paris Wahl? (V. 87–90)
784 Georg Braungart, Dietmar Till: [Art] Rhetorik. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. P–Z. Hg. von Jan-Dirk Müller, Georg Braungart. Berlin, Boston 2003, S. 290–295, hier S. 290. 785 Udo Kühne: [Art.] Artes liberales. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. A–G. Hg. von Klaus Weimar, Harald Fricke. Berlin, Boston 1997, S. 144–147, hier S. 144. 786 Harald Fricke: [Art.] Poetik. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. P–Z. Hg. von Jan-Dirk Müller, Georg Braungart. Berlin, Boston 2003, S. 100–105, hier S. 100.
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1 Das Paris-Urteil: Faszination der Schönheit
Die rhetorischen Fragen negieren die Wirkung der moraldidaktischen Allegorisierung des Paris-Urteils; nie habe sich jemand ein Beispiel an dem fatalen Ausgang des Urteils genommen und sich nicht für Liebeserfüllung entschieden. Vor allem die Interrogativpronomen „wer“ konterkarieren die vermeintliche Allgemeingültigkeit der Allegorie, die Paris im Sinne von Fulgentius als Negativbeispiel für ein wollüstiges Leben anführt. Indem Finckelthaus die moralische Wirkungsabsicht des Prosaepos und die darin exemplifizierte historisch relevante Entscheidung eines Prinzen mit den Einzelentscheidungen individueller Personen vergleicht, betont er die Privatheit des Einzelnen in Abgrenzung von der höfischen Öffentlichkeit und modifiziert die als Prosaepos konzipierte französische Vorlage zu einem Schäferroman.787 Dementsprechend wendet er auch die moralische Verurteilung des trojanischen Prinzen in eine allegorische Aufforderung zur gemäßigten Lebensweise nach Marsilio Ficino.788 Dann zwar dreyerley gehören, Güter zur Glückseligkeit (V. 109–110) […] Seelig wer sie bringen thut, All drey unter einen Hut. (V. 125–126)
Das von Finckelthaus ergänzte Titelkupfer sowie das abschließende liedhafte Gedicht stellen Paris als einfachen Schäfer in einer arkadischen Idylle dar, der durch die Einmischung der paganen Götter mit der politisch-höfischen Öffentlichkeit konfrontiert wird. Damit stellt seine Übersetzung eine freilich im französischen Roman durch die ausschweifenden Liebeserklärungen der Oenone bereits angelegte Gattungstransformation zum Schäferroman dar, mit der Finckelthaus einen gewichtigen, bisher unbeachteten Beitrag zur Etablierung der Bukolik auch in Deutschland leistet.
787 Wilhelm Voßkamp, der vor allem die vielfältigen Ausprägungen des Schäferromans im 17. Jahrhundert hervorhebt, fasst die Hauptkennzeichen des deutschen Schäferromans wie folgt zusammen: „Der Charakter des ‚Privaten‘ verweist auf die Sphäre des Nichtöffentlichen, d. h. für das 17. Jahrhundert auf die des Nichtrepresentativ-Höfischen und also auf den Bereich des amtlosen, unpolitischen Landlebens“, vgl. Voßkamp, Der deutsche Schäferroman des 17. Jahrhunderts, S. 107. 788 Marsilio Ficinos hatte das Paris-Urteil zum ersten Mal allegorisch aufwertete. Anstatt eine einseitige Lebensweise zu wählen, seien alle drei Göttinnen, also die Juno (vita activa), Athene (vita contemplativa) und Venus (vita voluptaria) in gleicher Weise zu verehren. Zur Paris-Rezeption Ficinos vgl. Schneider, Paris, S. 553.
1.2 Plädoyer für das Versepos: Weckherlins Gedichte von dem Urtheil (1648)
251
1.2.3 Weckherlins versifizierte Rezeption Georg Rodolf Weckherlin eignet sich mit seinem Gedichte von dem Urtheil (1648) Nicolas Renouards Roman Le Jugement de Paris (1608) überbietend an. Ob Weckherlin ausschließlich das französische Original oder auch die deutsche Übersetzung von Finckelthaus kannte, ist nicht endgültig zu beurteilen, denn er unternahm nach seinem Eintritt in den württembergischen Staatsdienst zwischen 1606 und 1608 mehrere Dienstreisen nach Frankreich und beschäftigte sich bei seinen Aufenthalten intensiv mit der französischen Literatur.789 Dass sich Weckherlin, der sich auch in seinen späteren Werken noch an dem französischen Versifikationsprinzip orientierte, auch in den darauffolgenden Jahren eingehend mit der Entwicklung der französischen Literatur auseinandergesetzt hat und demnach das äußerst erfolgreiche Prosaepos von Renouard im Original kannte, liegt auf der Hand. Überdies lässt die Widmung des französischen Romans an die Fürstin Louise-Marguerite de Lorraine de Conti die Vermutung zu, dass Weckherlin das Jugement de Paris in der Originalsprache rezipierte, denn wie ein Briefwechsel von 1638 belegt, hatte Weckherlin beruflich mit dem Adelsgeschlecht Lothringen Kontakt, vor allem aber mit Charles IV. von Lorraine (1604–1675), dem Cousin der Widmungsempfängerin.790 Diese positivistischen Argumente widerlegen jedoch nicht, dass Weckherlin auch die Übersetzung von Finckelthaus kannte. Vielmehr legt ein struktureller Vergleich der drei Werke nahe, dass Weckherlin sowohl Renouards Original als auch Finckelthaus Übersetzung benutzt hat.
789 Vgl. Forster, Georg Rudolf Weckherlin. Zur Kenntnis seines Lebens in England, S. 20–22. Weckherlins Rezeption der französischen Literatur ist vereinzelt nachgewiesen worden, vgl. etwa Annemarie Nilges: Imitation als Dialog. Die europäische Rezeption Ronsards in Renaissance und Frühbarock. Heidelberg 1988 (Germanisch-romanische Monatsschrift Beiheft 7), besonders S. 167–176. 790 Bei dem Briefverkehr handelt es sich um eine Beschwerde Anthony Fortescues, der im Auftrag von Charles IV von Lorraine beklagt, Weckherlin habe eine Übersetzung des Pariser Beschlusses Arrest de la Cour de Parlement (1634) veröffentlichen lassen, die Louise-Marguerite de Lorraine der Scheinhochzeit und den Herzog der Vergewaltigung bezichtigte. Eine Autorisierung durch Weckherlin lag deshalb nahe, weil sich unter den Druckern sein Schwager Robert Raworth befand. Im Namen von Sir James Coke entledigte sich Weckherlin jedoch des Vorwurfs, er habe den Druck autorisiert, vgl. die Briefe Cal. of St. P. 1637/1638, 117 und 223–224, abgedruckt in: Fischer, Weckherlins Gedichte, Bd. 3, S. 94 und 102. Ferner vgl. die Ausführungen über den Briefwechsel bei Forster, Georg Rudolf Weckherlin. Zur Kenntnis seines Lebens in England, S. 77 und Sabrina Alcorn Baron: Licensing Readers, Licensing Authorities in Seventeenth-Century England. In: Books and Readers in Early Modern England. Material Studies. Hg. von Jennifer Andersen, Elisabeth Sauer. Philadelphia 2002, S. 217–243, hier S. 233.
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1 Das Paris-Urteil: Faszination der Schönheit
Weckherlins Kleinepos791 lässt sich inhaltlich grob in sieben Abschnitte gliedern: Auf den für das Versepos konstitutiven (1) Musenanruf (V. 1–18) folgt (2) die Beschreibung der Hochzeit von Peleus und Thetis, bei der Eris den Zankapfel an die Hochzeitsgäste gibt und damit den Schönheitsstreit auslöst (V. 19–132). Im dritten Abschnitt werden (3) die Kleidungsstücke der Göttinnen beschrieben, bevor Paris erbittet, das Urteil nicht fällen zu müssen (V. 133–219). Der vierte Abschnitt beginnt mit (4) den Selbstdarstellungen der Göttinnen, woraufhin Paris verlangt, die Göttinnen nackt zu sehen, um ein objektives Urteil fällen zu können (V. 220–572). Im fünften Abschnitt zeigen sich (5) die Göttinnen einzeln nackt und versuchen, Paris durch Bestechungen zum Urteil zu verleiten (V. 573–744). Darauf entscheidet sich (6) Paris für Venus (V. 745–816). Seine Entscheidung (7) wird in einem abschließenden Lied glorifiziert (V. 817–848). Die folgende Tabelle macht die strukturellen Ähnlichkeiten der Werke von Renouard, Finckelthaus und Weckherlin augenscheinlich und bezieht die unterschiedliche Rezeption des Paris-Urteils zugleich auf das Strukturmodell: Handlung
Renouard
Finckelthaus
Weckherlin
Strukturmodell
1
Musenanruf/Widmung
S. aij–aiij
S. 8–9
V. 1–18
–
2
Hochzeit von Peleus und Thetis
S. 1–7
S. 10–20
V. 19–132
Sequenz II: Urteil
3
Ekphrasis: Kleidungsstücke der Göttinnen
S. 7–15
S. 20–39
V. 133–219
5. Hochzeit von Thetis und Peleus/Streit der Göttinnen
4
Selbstdarstellungen der Göttinnen (und Bestechung bei Renouard/ Finckelthaus)
S. 15–27
S. 39–56
V. 220–572
6. Zeus zieht Paris als Richter heran
5
Nackte Göttinnen (und Bestechungen bei Weckherlin)
S. 27–30
S. 56–60
V. 573–744
6
Urteil für Venus
S. 30–33
S. 60–65
V. 745–816
7. Vorstellung der Göttinnen/ Bestechungen 8. Urteilsfällung und Belohnung
791 Weckherlins Gedichte von dem Urtheil so der Troanische Jüngling, Paris, mit dem Apfel gegeben (1648) wird mit der Verszählung nach Fischer, Weckherlins Gedichte, Bd. 2, S. 345–370, im laufenden Text zitiert.
1.2 Plädoyer für das Versepos: Weckherlins Gedichte von dem Urtheil (1648)
253
(fortgesetzt) Handlung
Renouard
Finckelthaus
Weckherlin
Strukturmodell
7
Zweiter Teil des Romans: Oenones Liebesschmerz
S. 33–48
S. 65–92
–
Sequenz I: Hirtenleben (analeptisch, ganz)
7.1
Oenone misstraut Paris
S. 33–37
S. 65–69
7.2
Paris Meineidige Liebe
S. 37–38
S. 69–71
7.3
Oenone durschaut den Betrug
S. 38–48
S. 71–92
Abschließendes Lied
–
8
Sequenz II: Urteil 9. Missbrauch des Gastrechts und Raub der Helena Sequenz III: Troj. Krieg 10. Beginn des Krieges
S. 93–98
V. 817–848
–
Die Strukturanalyse zeigt, dass Weckherlin nur den ersten Teil der französischen Vorlage umarbeitet. Das Urteil, das bei Renouard und Finckelthaus den Wendepunkt markiert, bildet bei Weckherlin den Schluss. Dementsprechend rezipiert er nur Sequenz II, 5–8 des idealtypischen Mythosverlaufs. Den zweiten Teil, in dem Renouard die Sequenz I, 1–4 analeptisch sowie Sequenz II, 9 und Sequenz III, 10 mit der Schilderung von Oenones Liebesschmerz rezipiert und Paris als gewissenlosen Lüstling moralisch verurteilt, klammert Weckherlin dagegen aus. Sein Kleinepos zentriert die Urteilsfindung und scheint Paris zu entlasten. Indes bildet das bei Finckelthaus und Weckherlin angehängte Lied eine deutliche Strukturparallele, die Weckherlins Kenntnis von Finckelthaus’ Übersetzung andeutet. Bevor diese Befunde semantisch erhärtet werden, sollen zunächst Weckherlins Bearbeitung der französischen Vorlage anhand detaillierter Textvergleiche des Musenanrufs, der Ekphrasis, der Rededuelle und des darauffolgenden Urteils beispielhaft bestimmt werden. Musenanruf Ebenso wie Renouards Prosaepos ist auch Weckherlins Gedichte von dem Urtheil als epischer Erzähltext konzipiert. Dies lässt sich daran zeigen, dass Weckherlin den Prosatext der französischen Vorlage mit seiner überbietenden Umarbeitung in 408 alexandrinische Reimpaare mit wechselndem Reimgeschlecht und ein zusätzlich angehängtes, acht Strophen umfassendes Lied mit je vier kreuzgereimten Alexandrinern formalästhetisch an die kanonischen Versepen Homers und Vergils assimiliert. Darüber hinaus überführt er die epentypischen Motive aus Renouards Prosaepos in sein Versepos und transformiert die bei Renouard gebotene Widmung
254
1 Das Paris-Urteil: Faszination der Schönheit
in einen Musenanruf. Wie Renouard, der in der Widmung die Fürstin LouiseMarguerite de Lorraine de Conti mit Juno, Athene und Venus vergleicht, erhebt auch Weckherlin seine puellae Myrta antonomastisch über die drei Göttinnen: Den bitter-süssen Strit, der Zartheit groben Zanck, Der Göttinen zwitracht, den dir vermeinten danck, Waferr du, Myrta, nu selbs werest dort gewesen, Begehrest du, von mir beschrieben, durch zu lesen. […] Darumb, du, die allein der wissenschafft klarheit, Der Mayestet fürbild, der Lieblichkeit warheit, Und der holdseeligkeit, ein unbeflöckter Tempel, Der dreyen Göttinen dreyfacher zierd exempel, Verleyh mir deines augs, lieb-lächelnd-reichen glantz, Erfrisch mein hirn und stirn mit deinem Myrten krantz; Und meiner federn lauf der warheit nach zu stewren, Erlaub mir einen schmatz, damit hie zu bethewren, Was ich schön und liebreich in disem Lied beschreib, Das alles ist allein dein all-schön lieber Leib. (V. 1–18)
Die ‚insistierende Nennung‘ der eröffnenden Verse (V. 1–2) paraphrasiert die Ankündigung Renouards, das Paris-Urteil vorzustellen, welches der trojanische Prinz sicher für die apostrophierte entschieden hätte, wenn die Fürstin zugegen gewesen wäre. Die durch ihre Synonymie tautologisch wirkenden Oxymora („bitter-süssen Strit“, „Zartheit groben Zanck“ und „zwitracht“, V. 1–2) verklären die Beschreibung des Paris-Urteils zu einem poetischen Vergnügen für Myrta, die bei Weckherlin die Widmungsempfängerin und Muse zugleich ist. Weckherlin erhebt Myrta in sekundären Metaphern zum Exempel, die alle Tugenden der drei Göttinnen („wissenschafft klarheit, Der Mayestet fürbild, der Lieblichkeit warheit“, V. 9–10) vereint und eignet sich damit Renouards antonomastische Indienstnahme der Göttinnen für Louise-Marguerite de Lorraine an.792 Mit der Paronomasie, die Myrta als „Der drey Göttinen dreyfacher zierd exempel“ (V. 12) beschreibt, stilisiert Weckherlin seine puellae numerisch zu einer der neun Musen. 792 Um Redundanzen zu vermeiden und trotzdem die Vergleichsstellen möglichst vollständig anzugeben, werden die Textstellen nach dem französischen Original angegeben und danach die Seitennummern aus Finckelthaus’ Übersetzung geboten. Vgl. hier Renouard, Le Jugement de Paris, S. aiijv: „Iunon aduoue, ques a Maiesté doit ceder au graue maintien, que les Graces temperent en vous, d’vne plus qu’aimable douceur: Minerue, honteuse de se dire scaucante en vostre presence, admire tant les rares beautez de vostre ame […]. Et Venus est forcée de confesser, que son visage aupres du vostre demeurant sans attraits, elle vous doit la pomme“. Finckelthaus, Das Urteil des Schäffers Paris, S. 8–9.
1.2 Plädoyer für das Versepos: Weckherlins Gedichte von dem Urtheil (1648)
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Ihre inspirierende Kraft erbittet er sodann in drei imperativen Parallelismen, die als Versus rapportati den drei Göttinnen entsprechen: „Verleyh mir deines augs lieb-lächelnd-reichen glantz, | Erfrisch […] meiner federn lauf der warheit nach zu stewren, | Erlaub mir einen schmatz“ (V. 13–16). Die durch Alliterationen („Darumb du, die“; V. 9, „lieb-lächelnd“; V. 13, „lieber Leib“ V. 18) sowie Doppelund Binnenreime („klarheit […] warheit“; V. 9–10, „Lied beschreib […] lieber Leib“; V. 17–18, „Erfrisch mein hirn und stirn“; V. 14) klanglich intensivierte, ästhetische Überformung des Musenanrufs lässt sich auf der Folie von Renouards Widmung durchaus programmatisch deuten. Anders als bei Renouard, der die Tugend zum höchsten Prinzip erhebt, durch welche die Widmungsempfängerin schöner als Venus, würdiger als Juno und weiser als Athene wird,793 bildet die Ästhetisierung des Mythenstoffs den alleinigen Impetus von Weckherlins Kleinepos: Was ich schön und liebreich in disem Lied beschreib, Das alles ist allein dein all-schön lieber Leib. (V. 17–18)
Selektiv hebt Weckherlin mit seinem Musenanruf die Verkehrung von Renouards moraldidaktischer Programmatik in eine Ästhetisierung des Mythenstoffs hervor und kommentiert die ästhetische Umformung des Prosatexts autoreflexiv, indem er seine Dichtung als „Lied“ (V. 17) beschreibt, das hier synonym zu ‚carmen heroicum‘ verstanden werden kann. Ekphrasis Referenziell lässt sich die aemulatio mit Renouard deutlich an der Ekphrasis der Bekleidung von Juno, Hera und Venus nachweisen, für die Renouard aus dem 6. Buch von Ovids Metamorphosen schöpft. Darin wird der Webwettkampf zwischen Arachne und Athene geschildert, für den sowohl Athene als auch Arachne Teppiche weben, auf denen mythologische Szenen abgebildet sind. Den von Athene gewebten Teppich transformiert Renouard in ein Gewand von Juno und einen Rock der Athene, den von Arachne in Kleid der Venus.794 Die in der Ekphrasis vorgenommene Aufteilung der auf den Kleidern abgebildeten mythologischen Szenen auf die drei Göttinnen hat eine vorausdeutende Funktion, denn sie über-
793 Vgl. Renouard, Le Jugement de Paris, S. aiijv–aiijr: „Aussi est-ce aux Vertus qui vous le donnet, que Pâris offre de changer d’aduis, pour ne vous iuger pas seulement plus belle que Venus, mais plus digne d’un sceptre que Iuno, & plus […] scauante que Minerve.“ Finckelthaus, Das Urteil des Schäffers Paris, S. 9. 794 Vgl. Renouard, Le Jugement de Paris, S. 7–15. Finckelthaus, Das Urteil des Schäffers Paris, S. 20–39.
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1 Das Paris-Urteil: Faszination der Schönheit
lagert die Arachne-Metamorphose mit dem Paris-Urteil. Ebenso wie Arachne mit der Abbildung von Venus’ Liebesmacht im Wettkampf mit Athenes Webkunst besteht, die ihre eigene Weisheit und Junos Herrschaftsgewalt darstellt hatte, wird Venus auch im Schönheitsstreit gegen Athene und Juno bestehen und wie Arachne wird auch Paris für die Demonstration von Venus’ Macht mit göttlichem Zorn bestraft. Gleichzeitig betont Renouard mit der Transformation der Arachne-Metamorphose, mit der er diskursiv einen Künstlerwettbewerb einspiegelt, seinen eigenen überbietenden Anspruch gegenüber Ovid. Auf Junos Gewand sind von ihr bestraften Frauen illustriert, die sich als ebenso schön wie die Göttin erachteten:795 La mere de ces petit peuples, qui ne font la guerre qu’aux Grues, paroissoit sur l’vn des costez du deuant de la robbe, & d’vne face où se lisoit l’outre cuidance, iettoit Vn oeil de mespris sur Iunon, en se flattant d’estre plus belle: puis on la voyoit elle mesme punie par la Déesse mesprisée, couuerte des plumes, auec vn long col souspirer son indiscretion, & plaindre sa laideur. La fille de Laodemon, pourtraicte de l’autre costé auec vne presomtion pareille s’exposoit à la haine de la mesme Déesse, & changée apres en Cigagne sembloit confesser, qu’vne so iuste vengeance estoit deue à sa temerité. Sur le derriere estoient representeez les actes de la tragedie de Cynare, miserable viellard, pleutant estendu sur des pierres, autrefois ses filles, qui seruoient des degrez pour monter au temple de celle, qu’elles s’estoient vantées d’egaller en beauté.796
Getreu nach Ovid beschreibt Renouard, wie Juno die Gerana und Antigone sowie Cynaras Töchter mit Verwandlungen in einen Kranich, einen Storch bzw. in die Treppenstufen eines Tempels bestrafte. Auch ergänzt Weckherlin hier die von Renouard getilgten Rhodope und Haemus, die sich als Zeus und Juno ausgegeben hatten und dafür in die Rhodopen verwandelt wurden: 795 Ovid, Met. VI. 87–100: Threiciam Rhodopen habet angulus unus et Haemum, (nunc gelidi montes, mortalia corpora quondam), nomina summorum sibi qui tribuere deorum. altera Pygmaeae fatum miserabile matris pars habet: hanc luno victam certamine iussit esse gruem populisque suis indicere bella. pinxit et Antigonen ausam contendere quondam cum magni consorte Iovis, quam regia luno in volucrem vertit; nec profuit llion illi Laomedonve pater, sumptis quin Candida pennis ipsa sibi plaudat crepitante ciconia rostro. qui superest solus, Cinyran habet angulus orbum; isque gradus templi, natarum membra suarum, amplectens saxoque iacens lacrimare videtur. 796 Renouard, Le Jugement de Paris, S. 7–8. Finckelthaus, Das Urteil des Schäffers Paris, S. 21–22.
1.2 Plädoyer für das Versepos: Weckherlins Gedichte von dem Urtheil (1648)
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Alhie sah man wie sich ab dieser Göttin raach Mit ihrem langen halß, tief-seufzend und ohn sprach, Gerana, zu vor schön und jetzt ein Kranch, beklaget Dort, dieweil Emus sich und Rhodope gewaget Sich selbs den Höchsten Got und seiner Göttin gleich Zu halten, sihet man sie beed (auch noch liebreich) Gestrafet, nach und nach in ein gebürg verkehret. An einem andern end ist Cynara beschweret Und trawrend gleichsam noch ab seiner töchtern tod, Und dieser Göttin zorn, als ursach seiner noht. Die schön Antigone, sich rühmend (zu verwegen) Daß sie der Göttin selbs an schönheit überlegen, War auch auf disem Rock mit grosser Nadelkunst Und schöner farben ziertd, auß zorn, neyd und mißgunst In einen storken sich verwandelnd, abgemalet, Da ihren frevel sie stehts glotterend bezahlet. (V. 137–152)
Deutlich komprimiert gibt Weckherlin den Prosatext in sechzehn Versen wieder und imitiert dabei stilistisch die langen Einschübe und Enjambements, die Ovids Verse prägen. Indem er das fehlende mythische Paar ergänzt, rückt er sein Gedicht jedoch auch inhaltlich näher an das ovidische Original. Auch löst er die Antonomasien der französischen Vorlage einerseits („La fille de Laomedon“797 für Antigone) und des lateinischen Prätexts andererseits auf („Pygmaeae“798 für Gerana) und verdeutlicht dadurch seine detaillierte Kenntnis der antiken Vorlage. Auch bei der Ekphrasis von Athenes Kleid ergänzt Weckherlin fehlende Stellen aus dem antiken Original, um die französische Vorlage zu überbieten und sich als gebildet und belesen zu inszenieren. Bei Ovid ist auf dem Teppich Athenes Streit mit Neptun um die Schirmherrschaft der Attika abgebildet und wie folgt beschrieben: stare deum pelagi longoque ferire tridente aspera saxa facit, medioque e vulnere saxi exsiluisse fretum, quo pignore vindicet urbem; at sibi dat clipeum, dat acutae cuspidis hastam, dat galeam capiti, defenditur aegide pectus, percussamque sua simulat de cuspide terram edere cum bacis fetum canentis olivae mirarique deos: operis Victoria finis.799
797 Renouard, Le Jugement de Paris, S. 8. Finckelthaus, Das Urteil des Schäffers Paris, S. 22. 798 Ovid, Met. VI. 90. 799 Ovid, Met. VI. 75–82.
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1 Das Paris-Urteil: Faszination der Schönheit
Statt die Entstehung der Aganippe durch Neptuns Stoß mit dem Dreizack nach dem 6. Buch der Metamorphosen zu beschreiben, fügt Renouard den zweiten Entstehungsmythos der Dichterquelle durch den Hufenschlag des Pegasus hinzu, der im 5. Buch der Metamorphosen dargestellt ist.800 Indes schildert er danach nicht die vier Verwandlungen durch Juno, sondern ergänzt den Musikwettstreit zwischen Pan und Apollo nach dem 11. Buch der Metamorphosen:801 La scauante & guerriere Pallas se vestit d’vn accoustrement, autresfois tissue de sa main, où les neuf doctes Soeurs, tutrices des sciences, estoyent representees comme au naturel, autour d’vn rocher, sur lequel vn cheual aislé faisoit d’vn coup de pied naistre la source d’vne fontaine. En vn autre endroit le pourtraict de la querelle, qu’elle mesme auoit eue contre son oncle Neptune, pour l’auantage de nommer la ville d’Athenes: Et là s’esleuoit l’oliuier qui sortit de la terre en vn instant, tout chargé de fruict, & lui donna la victoire, comme elle son nom à la ville. Puis on y voyoit cà & là les histoires de plusieurs grands exploicts de guerre, esgalement tesmoins de sa valeur & de sa prudence.802
Weckherlin übernimmt dieses quodlibetische Verfahren: […] Bald nam auch Minerva ihren spieß, Und auf ihr haupt das Helm, die flügel an die füß, An ihren arm den schilt; die brust (ganz unbeflöcket) Mit dem Medusa haupt abschewlich war bedöcket; Ihr vier-gethailter Rock, kaum raichend an den grund, Der machet ihre macht durch seine arbeit kund. Umb einen berg sah man dreymahl drey schwestern sitzen, Von eines pferds fußtrit ein wasserquell aufspritzen, Schnell das geflüglet Pferd, der wasserbron war klar Die Musen schön und jung, als lebendig und wahr. In einem andern theil auf einem wasser wagen Sah man den Got des Meers an einem felsen schlagen, Mit seinem gabelstab, daß bald ein starcker fluß Herauß floß als ein Meer mit tobendem außguß. So war auch Pallas selbs gewürcket dort zu sehen, Und wie von ihrem stoß der öhlbaum thät entstehen, Der ihr mit seiner frucht den sig, wie sie der stat mit ihrem sig den ruhm und namen geben hat. (V. 177–194)
Wie Renouard umschreibt Weckherlin – zwar deutlich komprimiert – den Musikstreit zwischen Pan und Apollo (V. 195–206) und die Entstehung der Aganippe 800 Vgl. Ovid, Met. V. 262–263. 801 Die Metamorphose des Midas ist bei Renouard nach Ovid, Met. XI, 146–193, geschildert. Vgl. Renouard, Le Jugement de Paris, S. 9–10. Finckelthaus, Das Urteil des Schäffers Paris, S. 24–25. 802 Renouard, Le Jugement de Paris, S. 9. Finckelthaus, Das Urteil des Schäffers Paris, S. 23–24.
1.2 Plädoyer für das Versepos: Weckherlins Gedichte von dem Urtheil (1648)
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durch Pegasus Hufschlag (V. 184–185). Ferner fügt er mit der Beschreibung von Athenes Rüstung (V. 177–180)803 und dem Entstehungsmythos der Aganippe durch Neptuns Dreizack-Stoß (V. 197–200)804 zwei ovidische Details hinzu. Während er die französische Vorlage durch die inhaltlich detailreichere Nachahmung Ovids übertrifft, werden die dargestellten Szenen durch die formale Ästhetisierung, vor allem durch die Häufung von Antonomasien („mit dem Medusa haupt“ für die Aigis (V. 180), „einen berg“ für den Parnass (V. 183), „dreymahl drey schwestern“ für die Musen (V. 183), „wasserquell“ für Aganippe (V. 184), „geflügelt Pferd“ für Pegasus (V. 185), „Got des Meers“ für Neptun (V. 188), „starcker fluß“ für Aganippe (V. 189) und „der stat mit ihrem sig“ für Athen (V. 193–194)) bis in die Undeutlichkeit verzerrt. Die Unkenntlichkeit wird durch die Paronomasie „machet ihre macht“ (V. 182), die assonantische Alliteration „wasserbron war klar“ (V. 185) und die konsonantische Figura etymologica „fluß Herauß floß […] außguß“ (V. 189–190) klanglich gesteigert sowie durch die verknappenden Techniken, wie das Zeugma „sah“ (V. 183), das die aufgelisteten Motive mit den bewertenden Beschreibungen der Abbildungen („schnell“, V. 185, „klar“, V. 185, „schön und jung, als lebendig und wahr“, V. 186) syntaktisch verklammert und den Chiasmus (V. 193–194), der die Ursache von Athenes Sieg im Wettstreit mit Neptun mit der Wirkung des ihres Triumphes verschränkt, manieristisch intensiviert. Die ursprünglich mahnende Botschaft an Paris, der durch die Darstellungen der mythologischen Szenen Athenes Macht anerkennen und sie deshalb zur Schönsten wählen soll, verblasst jedoch hinter der ästhetischen Überformung. Metapoetisch wirkt die ästhetisierende Bearbeitung der belehrenden Mythendarstellungen wie eine Wiederholung der von Finckeltaus vorgenommenen Reduktion der horazischen Formel auf das delectare, auf die ästhetisch-vergnügende Qualität der Dichtung. Den Ausgang des Paris-Urteils scheint der Umstand zu antizipieren, dass Venus gar keine Kleidung benötigt. Dagegen wird ihre Schönheit in petrarkistischer Preziösen-Metaphorik beschrieben, das Kleid, das sie anzieht, trägt sie jedoch nur zum Vergnügen: Die rosen ihres munds, und braunen augen brand, Die glider ihres leibs bedörffen kein gewand, Versichert sie sich selbs, die schönheit zu vermehren, Noch ihres Richters haupt und urtheil zu bethören: Und sie vergnüget sich mit einem zarten klaid, (V. 209–213)
803 Ovid, Met. VI. 78–79. 804 Ovid, Met. VI. 75–77.
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1 Das Paris-Urteil: Faszination der Schönheit
Das bei Renouard beschriebene Kleid, das unverkennbar als das von Arachne gewebte markiert ist,805 transformiert Weckherlin in eine Art Standarte, die den Venuswagen schmückt.806 Hatte er bei den Kleidern von Juno und Athene noch fehlende Passagen von Ovid ergänzt, reduziert er die Ekphrasis nun drastisch:
805 “Venus estoit lors paree d’vn chef d’oeuure sorti des industrieuses mains d’Arachne […]. Iupiter mesine, non pas en sa maiesté de souuerain des cieux (car la grauité d’vn sceptre n’est pas en sa bien-séance aupres des ieux de l’amour) mais sous les forms empruntees d’vn aigle, d’vn taureau, d’vn cygnet, d’vn berger, & d’vnsatyre, recognoissoit là que sa courone doit quelque homage au myrte de sa fille. Neptune disguise en Dauphin, proche de la belle Melanthe, & son frere Pluto, auec la fille Ceres, y confessoient tous deux, l’vn ses euax, l’autre ses ombes tributaries deu feu de Copido Apollo forcé d’aduouer que la lumiere de son grand oeil cede à celle du flambeau d’vn enfant, y regrettoit de n’auoir pres de soy sa rebelle Daphne.”, vgl. Renouard, Le Jugement de Paris, S. 10. Finckelthaus, Das Urteil des Schäffers Paris, S. 26–27. 806 Vgl. Ovid, Met. VI. 103–128. Maeonis elusam designat imagine tauri Europam: verum taurum, freta vera putares: ipsa videbatur terras spectare relictas et comites clamare suas tactumque vereri adsilientis aquae timidasque reducere plantas. fecit et Asterien aquila luctante teneri, fecit olorinis Ledam recubare sub alis; addidit, ut Satyri celatus imagine puldiram no Iuppiter implerit gemino Nycteida fetu, Amphitryon fuerit, cum te. Tirynthia, cepit, aureus ut Danaen, Asopida luserit ignis, Mnemosynen pastor, varius Deoida serpens, te quoque mutatum torvo, Neptune, iuvenco us virgine in Aeolia posuit; tu visus Enipeus gignis Aloidas, aries Bisaltida fallis; et te flava comas frugum mitissima mater sensit equum, sensit volucrem crinita colubris mater equi volucris, sensit delphina Melantho: Omnibus his faciemque suam faciemque locorum reddidit, est illic agrestis imagine Phoebus, utque modo accipitris pennas, modo terga leonis gesserit, ut pastor Macareida luserit Issen. Liber ut Erigonen falsa deceperit uva, ut Saturnus equo geminum Chirona crearit. ultima pars telae, tenui circumdata limbo, nexilibus flores hederis habet intertextos.
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Doch umb ihr wägelein ein leibfarber umbschlag (Auf welchem ihr Triumf artlich gesticket) lag. Hie ist die Göttin selbs gleichsam gecontrofehet, Nicht weit von ihr ihr Sohn mit seinem bogen stehet. Da warten höflich ihr die Gratien auch auf; Dort deren, die der Lieb lieb seind, ein grosser hauf, Erweysen sich (getrew) der Göttin Unterthanen, Da ist ihr Vatter selbs gleich einem Hirten, Schwanen, Stier, Adlern, und Waldgot, dort seufzet Pluto tief; Hie wirt Neptun ein fisch; dort Phoebus gleichsam lief Der keuschen Daphne nach: dort ist von gold ein regen Auf Danae gantz bloß auf ihrem beth gelegen; Leander, Hercules, Mars und vil andre sunst, Die ihrer Liebsten lieb, und dieser Göttin gunst Ersuchet, sihet man noch gleichsam von lieb brennen, Und diser Göttin macht und ihre pflicht bekennen; (V. 207–240)
Die unüberschaubaren Liebschaften der Götter sind in der vorgezogenen, durch die vierfache Alliteration „Dort deren, die der Lieb“ (V. 222) rhythmisch vorbereiteten Dihärese „ein grosser hauf“ (V. 220) dargestellt, die durch die fünfgliedrige, asyndetische Reihe der verliebten Götter Jupiter, Pluto, Neptun und Phoebus aufgelöst wird. Die monosyndetische Reihe von Jupiters Verwandlungen (V. 224–225) innerhalb der Dihärese sowie die Häufung der acht unbestimmten deiktischen Adverbien „Hie“ (V. 219, 226), „Da“ (V. 221, 224), „Dort“ (V. 222, 225, 226, 227) dynamisieren die Ekphrasis zusätzlich. Indem Weckherlin die von Renouard hinzugefügten, inzestuösen, tragischen und tödlich endenden Liebes- und Freundschaftsbeziehungen von Phaedra und Hippolytos, Cyparissus und dessen Hirsch, Orpheus und Eurydike sowie Leucothoe und Apollo tilgt,807 inszeniert er Venus als gutmütige, freundliche Göttin, anstatt ihre rachsüchtigen, dionysischen Charakterzüge zu porträtieren. Damit steht sie im scharfen Gegensatz zu der kämpferisch dargestellten Athene und zur rachsüchtigen Juno, die ihre Kleider einzig wählen, um Paris belehrendend zu warnen. Nach der Ekphrasis von Junos Kleid heißt es dementsprechend: Und dieser reiche rock, gantz eigentlich und zart Mit seyden, perlein, gold auf maisterlichste art Gew ürcket, möchte wol den Richtern gnugsam lehren, Er solt die Göttin nicht erzürnen, sondern ehren, Waffer er anderst will von gleicher straf und pein Frey, und der Göttin huld gewiß und sicher sein. (V. 152–158)
807 Vgl. Renouard, Le Jugement de Paris, S. 11. Finckelthaus, Das Urteil des Schäffers Paris, S. 27.
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1 Das Paris-Urteil: Faszination der Schönheit
Und bei Athene: „Und dises alles war dem Paris eine lehr, | Daß (Richter) Er bedenck sein und der Göttin ehr“ (V. 205–206). Dagegen wird Venus ausdrücklich als „Liebreich und hochfart loß, mit unachtsamer art, | Doch höflich und haßfrey“ (V. 245–246) beschrieben. Damit wird die durch Venus personifizierte Liebe, aber auch Paris Entscheidung für die Liebe aufgewertet. Hatte dies der Abgleich mit dem Strukturmodell bereits angedeutet, kann die Liebeskonzeption erst durch die Analyse der Urteilsszene endgültig bestimmt werden. Rededuelle und Urteil Während Weckherlin den Musenanruf parallel zur allegorisch-antonomastischen Widmung Renouards konzipiert und auch die Ekphrasis dicht an der Vorlage orientiert, weicht er bei der Beschreibung des Rededuells und der Urteilsfindung stärker von Renouard ab. Indem er Paris eine Art ‚doppelten Cursus‘ durchlaufen lässt, amplifiziert Weckherlin die Rededuelle. Bei Renouard verbinden die Göttinnen die Argumente mit den Bestechungen, bevor Paris darum bittet, die Göttinnen nackt zu sehen und dann das Urteil für Venus fällt. Dagegen präsentieren die Göttinnen bei Weckherlin zunächst ihre Argumente, die Paris alle abwehrt, bevor er um die Entkleidung bittet. Als die Göttinnen nackt vor ihm stehen, überwältigt ihn der Anblick, weshalb er die Göttinnen um Einzelaudienzen ersucht. Erst dann bringen die Streitenden ihre Bestechungen vor, die Paris ablehnt, bevor er sich für Venus entscheidet. Damit entzerrt Weckherlin das Geschehen einerseits, pointiert andererseits jedoch Paris’ Bemühungen, ein faires Urteil zu fällen und betont die Übermacht der Göttinnen gegenüber dem Menschen. Im Wesentlichen gleichen sich die Argumente der Göttinnen bei Weckherlin und Renouard: Juno besteht auf ihre Hoheit, da schon Zeus sie zur Schönsten gekürt hätte, als er sie zur Frau nahm: Wan meine schönheit dan, dadurch himmel mich Für Jupiters gemahl, und Königin für sich Erkoren, längst bekannt und andern fürgezogen, So wirst du ja, mit ihm mich ehrend, nicht betrogen. (V. 333–336)
Athene beharrt darauf, dass die Tugend das höchste Gut sei und sie deshalb auch den Preis der Schönheit verdiene:
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Und dieses ist mein thun. Die Tugent, Paris, ich Ich, Paris, kan allein durch meine schönheit dich Mit weißheit, wissenschaft und dapferkeit erlaben, Beständiglich mit lieb, reichtumb und ehr begaben. (V. 441–444)808
Venus dagegen versucht Paris davon zu überzeugen, dass nicht Macht oder Tugend, sondern nur Schönheit mit dem Apfel belohnt werden solle. Auf der Folie von Venus’ Selbstbeschreibung bei Renouard wird jedoch der Unterschied zwischen den Schönheitskonzeptionen deutlich: Commande à ta veue de lire sur ce riche fruict que tu as en main, l’arrest dont tu es l’interprete, puis vois le marbe poli de mon front, les douces flammes qui luisent au dessouz dedans le cristal de mes yeux, les roses de mes ioues, le double corrail de mes leures, qui sert de rempart à vn double rang de perles, le neiges de mon sein sur lequel les amours iouent auec les graces mes compagnes, tu diras àlors, ie m’asseure, que cet arrest graué en or ne parle sinon de Venus. Serois-tu sans amour, Pâris le plus aimable des hommes, pour m’escognoistre les meruelleis de mon visage, où sont peinctes les marques de mon souuerain pouuoir?809
Die Schönheit der Venus ist idealisierend in petrarkistischen Preziösen-Metaphern nach dem Muster der descriptio pulchritudinis beschrieben: Die Stirn wie Marmor, die Augen wie Kristall, die Wangen wie Rosen, die Lippen wie Korallen und die Brüste weiß wie Schnee. Venus wird damit zum idealtypischen Modell weiblicher Schönheit. Anhand der nachgestellten rhetorischen Frage, ob Paris denn keine Liebe empfände, weil er trotz Venus’ Schönheit ihre (Liebes-)Macht nicht erkennen könne, zeigt sich, dass Liebe bei Renouard konditional an die idealisierte weibliche Schönheit geknüpft ist. Wie von Niklas Luhmann beschrieben,810 begründet sich diese idealisierende Liebe durch die (fingierten) idealen Eigenschaften der Geliebten.811 Weckherlin kontrafiziert die idealisierte Schönheit der Venus dagegen: 808 Bei Renouard lautet Junos Argument: „Lors que Iupiter me chousit pour compagne il iugea ma beauté auant esleuee au dessus du merite de toutes les autres beautez, comme l’est son pouuoir sur toutes les puissances du monde,“ vgl. Renouard, Le Jugement de Paris, S. 19. Finckelthaus, Das Urteil des Schäffers Paris, S. 40–41. Und das von Athene: „Ces riches dons sont les vertus & les sciences, ce sont mes beautez, Pâris, tu es heureux & la pomme est à moi,“ vgl. Renouard, Le Jugement de Paris, S. 24–25. Finckelthaus, Das Urteil des Schäffers Paris, S. 50–51. 809 Renouard, Le Jugement de Paris, S. 25. Finckelthaus, Das Urteil des Schäffers Paris, S. 53–54. 810 Luhmann, Liebe als Passion, S. 51–52. 811 Es soll an dieser Stelle nicht darüber hinweggesehen werden, dass Renouard diese Liebeskonzeption wieder unterläuft, indem er im zweiten Abschnitt seines Prosaepos aus Oenones Sicht andere Gründe als ideale Schönheit für die Liebe und andere Werte der Liebenden (etwa:
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1 Das Paris-Urteil: Faszination der Schönheit
Schaw ich nur einen an, schaw mich nur einer an, So mißfall ich ihm nicht, ist anderst er ein man; Mit ehr, gelübd und dienst wirt er mir bald liebkosen, Ihm meine wangen seind vil süsser dan die rosen, Und so seind sie gewiß; daß einer mein fleisch seh Vil weisser ist es ihm dan gilgen, milch und schnee. Kan meiner augen glantz verblinden, raitzen, quählen, So meines munds Rubin kann baitzen und besehlen; Vernunft, verstand, witz, lehr, ja die natur und kunst Bemühen sich zugleich (mit eyfer) meine gunst Durch schmaichlen, lob und lieb zu werben, zu erwerben, Oder, sich mir zu dienst aufopfrend, gern zu sterben; Erkennend, daß mein leib (holdseelig) der lieb thron, Bekennend, daß mein geist (liebseelig) des lusts wohn, Und keines menschen zung, wie immer hoch gelehret, Und keine feder auch, wie immer hoch vermehret, Ja keines menschen hertz, kann meines leibs gestalt, Noch meiner glieder zierd, und schöner form gewalt, Mehr dan ich wol verdien, mit seiner kunst bereichen, Noch allein nach verdienst beschreiben und außstreichen. (V. 493–512)
Dem einleitenden paronomastischen Isokolon (V. 493) folgt ein Katalog petrarkistischer Metaphern, der Renouards Venusbeschreibung ähnelt. Dessen Bezug zur ‚wahren‘ Schönheit wird jedoch tautologisch („gilgen, milch und schnee“, V. 498) und durch die hyperbolischen Steigerungen („vil süsser“, V. 496; „vil weisser“, V. 498) suspendiert. Als ironischer Kommentar wirkt auch die Zusammenfassung der typisch petrarkistischen, antinomischen Beziehungskonfiguration, die durch die Figura etymologica „zu werben, zu erwerben“ (V. 503) und das Oxymoron „gern zu sterben“ (V. 504) gnomisch intensiviert ist. Indes führen die anaphorischen, paronomastischen Isokola (V. 505–506 und V. 507–508) die kontrafaktische Brechung auf ihre Klimax, in der die Möglichkeit der Abbildung von Schönheit durch petrarkistische Motive in Abrede gestellt wird: „Und keines menschen zung […] | Und keine feder auch | […]kan meines leibs gestalt, | Noch meiner glider zierd, und schönen form gewalt, | […] mit seiner kunst bereichen“ (V. 507–511). Mit der poetologisch aufgeladenen Schönheitsbeschreibung überwindet Weckherlin die hier mit „kunst“ gemeinte imitierende Wiederholung des petrarkistischen Motivarsenals programmatisch, indem er ihr den ästhetischen
Treue) anführt. Die vielschichtigen Aspekte, die mit der Gegendarstellung Oenones einhergehen (z. B. ob Renouard Gender-typische Liebeskonzeptionen vorstellt), können im Rahmen dieses Kapitels jedoch nicht belichtet werden.
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Wert abspricht. Dieser Befund lässt sich anhand der moralisatio des lyrischen Ichs erhärten, das die Quintessenz aus dem Kleinepos nach dem Urteilsspruch zusammenfasst: Den Frawen kann fürwahr nichts dann ihr lob erschallen, Und ihrer schönheit macht lobsingen, baß gefallen: Sprich ihrer augen stern ein doppeltes gestirn, Das Haar ein zartes gold, Alabaster ihre stirn, Die Lippen zween Rubin, Rosen die Zwilling-wangen Weiß gilgen ihre kehl, und voll lieb und verlangen, Die berglein ihrer brust, und daß ihr gantzer Leib Wol wehrt, daß sie ein Got erkiese für sein Weib, So wirst du sie alßdan (und gar nicht sunst) vergnügen Und freindlich, wie du sie, wirt sie dich auch betriegen. Verachtest aber du nur das geringste glid An einer, ist für dich mehr weder frewd noch frid; So schmertzlich lasset sie sich solchen schimpf verdriessen, Daß kein gelübd, bit, buß kann deinen fehl ausbüessen. Zwar billich. Dan wiewol der schönen glider pracht, Sehr ungleich, auch in uns ein sehr ungleiche macht: So soll man keine doch ertzürnen noch betrüeben, Sondern sie alle seind zu ehren, loben, lieben. (V. 763–780)
Der als Anleitung zum Frauenpreis konzipierte Katalog petrarkistischer Metaphern entlarvt den artifiziellen Charakter petrarkistischer Lyrik als künstlerische Spielform und thematisiert die Entindividualisierung der Liebeslyrik. Allein die instruktionelle Komponente des Katalogs zeigt, dass jeder Mann eine jede Frau mit denselben Beschreibungen „freindlich […] betriegen“ (V. 772) kann. Demnach wird die petrarkistische Kunst einerseits als erlernbar und deshalb als unabhängig vom dichterischen Talent herabgewürdigt. Andererseits zeigt Weckherlin, dass die poetische Beschreibung keinen Bezug zur tatsächlichen Schönheit der dargestellten Frau aufweist: „Dan wiewol der schönen glieder pracht, sehr ungleich“ (V. 777–778). Sie bildet demnach weder Schönheit ab noch ist sie künstlerisch-ästhetisch anspruchsvoll. Die Forschung hat die mögliche Entindividualisierung des Petrarkismus als Liebesdiskurs bereits problematisiert: Da sich petrarkistische Dichtung einerseits um die „sprachliche Artikulation eines persönlichen Liebesempfindens“ bemühe, andererseits „jedoch um sprachkünstlerische Perfektion im agonal ausgerichteten Umgang mit autoritativ und rhetorisch verbürgten Mustern“, stelle sich für den Petrarkismus als Liebesdiskurs „immer auch die Frage nach dem Grad seiner Entindividualisierung“ und er sei deshalb „ein zentraler Ort zur Verhandlung
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der Frage frühneuzeitlicher Subjektivität.“812 Indem Weckherlin eben diese Diskrepanz zwischen einstudierter Kunst und der Artikulation individueller Gefühle aufdeckt, fordert er eine Neuerung der Liebesdichtung ein, die subjektive Empfindungen ausdrücken kann und sich dafür von der Imitation traditioneller (hier: petrarkistischer) Muster emanzipieren muss. Dies bedeutet eine Ausdifferenzierung der von Luhmann als Idealisierung benannten Liebeskonzeption, da sich die weiterhin durch die Kenntnis der Eigenschaften bzw. der Schönheit der Geliebten begründet, doch die Kenntnis nicht mehr fingiert sein muss und die Eigenschaften nicht standardisiert in ein Ideal projiziert, sondern entsprechend der subjektiven Auffassung von Schönheit dargestellt werden. Dementsprechend ist die Stoffwahl motiviert: Auf der Folie des Paris-Urteils reflektiert Weckherlin die Subjektivität von Schönheit und Gefühlen. Deshalb wird nicht Paris’ Entscheidung für die Liebe moralisch verurteilt, sondern die Begründung für seine Entscheidung kritisiert. Denn wie die wiederholten Revidierungen seiner Urteilssprüche zeigen, konnte er bei der Beurteilung von Schönheit durch objektive Kriterien nicht zu einem allgemeingültigen Ergebnis kommen. So entscheidet er zunächst für Juno: O Göttin, Paris sprach, ich sih und weiß gewiss, Daß aller schönheit ihr ein treflicher abriß. Wer das geringst an Euch zu tadeln sich darf wagen, Den darf mit warheit ich torrecht zu sein wol sagen. (V. 365–368)
Dann jedoch für Athene: Wie seelig bin ich nu! Weil (seelig) mein gesicht Kan das gesicht, das sunst des Menschen augen nicht Zusehen billich ist, den Göttern gleich anschawen! O Himmelisches bild! O wunder aller frawen! Ja aller Göttinen! O die ihr für und für Zu preysen! ihr allein seit wol die höchste zier, (V. 465–470)
Zwar ist das Urteil für Athene durch die dreifache Exklamatio „O“ (V. 468–469) deutlich emphatisiert und doch verwirft er es nach der Rede von Venus erneut: Ja, sinnlos, weil in euch ich die Schönheit so groß Und wunderreich befind, daß sie mich so berühret, Daß ich gestehen muß, daß euch das pfand gebühret. (V. 530–532)
812 Jörg Wesche: Petrarkismus. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Hg. von Herbert Jaumann. Berlin, New York 2011, S. 55–84, hier S. 70.
1.2 Plädoyer für das Versepos: Weckherlins Gedichte von dem Urtheil (1648)
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Daraufhin kommt er selbst zu dem Schluss, dass er zwischen den Schönheiten nicht entscheiden kann: Dan disen süssen strit, und schönen Schönheit zanck Kan gäntzlich stillen nichts dan ein dreyfacher danck: Es seind ja ihrer drey, drey Götliche Schönheiten, Schönheiten, deren schmuck seind taussent seltenheiten. (V. 537–540)
Die dilemmatische Entscheidungssituation wird durch die Wiederholungsfiguren (Figura etymologica „schönen Schönheit“ (V. 537), Epanalepse „drey, drey“ (V. 539) und Anadiplose „Schönheiten, Schönheiten“ (V. 539–540)) sprachlich kunstvoll abgebildet. Aus der Schlussfolgerung, Paris müsse allen drei Göttinnen den Schönheitspreis verleihen, lässt sich abstrakt ableiten, dass über die Schönheit nur subjektiv und nicht objektiv entschieden werden kann. Bei seiner endgültigen Entscheidung dient Paris diese Ressource jedoch nicht. Dagegen basiert sein Urteil wiederum auf der idealen Schönheit, der ihm von Venus versprochenen Frau: Doch für ein süsse frucht des mühsamen Gerichts, Das du verwaltest hie, will ich dein junges leben Zu segnen, dir zum weib daß schönste Fräwlein geben Das ie geboren war, des Himmels Maisterstuck Des gantzen Griechenlands, ja der welt höchsten schmuck. (V. 738–743)
Metapoetisch verbannt Weckherlin eine Liebeslyrik, die auf der petrarkistischen Idealisierung basiert, aus dem Epos und wendet sich gegen Renouard, der mit Oenones Liebesklage ein Einzelschicksal darstellt. Dagegen erhebt Weckherlin die Liebe im abschließenden Gedicht zu einem welterhaltenden Prinzip und stellt sich gegen eine generelle Verurteilung der Entscheidung für ein erfülltes Liebesleben. Die acht Strophen mit je vier kreuzgereimten Alexandrinern und alternierenden Kadenzen sind durch die nahezu exakte Wiederholung813 der ersten Strophe zum Schluss des Gedichts zyklisch gerahmt. Dadurch wird die reproduktive Komponente der Liebe mimetisch abgebildet, die das Gedicht leitmotivisch prägt. Während die zweite Strophe die Überlegenheit der Schönheit über Reichtum und Weisheit konstatiert und damit den Inhalt der ersten und letzten
813 Erste und letzte Strophe unterscheiden sich einzig darin, dass im ersten Vers der letzten Strophe das Attribut dem Objekt vorangestellt ist: „Stark zwar der Hochheit Schein“ (V. 845) anstatt von „Der Hochheit schein ist starck“ (V. 817).
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1 Das Paris-Urteil: Faszination der Schönheit
Strophe paraphrasiert, wird in den Strophen 3–7 die Liebesgöttin apostrophiert und als Venus Genetrix dargestellt. Dabei wird die Liebe in der dritten Strophe im Sinne der translatio imperii aufgewertet: „Also kan kein geschlecht ohn deine gnad lang wehren!“ (V. 828). In der vierten Strophe wird die Liebe, durch die „Lufft, himmel, meer und erd […] erhalten“ (V. 830) wird, den topischen, hier chiastisch verklammerten Attributen „öd“, „trüb“, „verkaltet“ und „veraltet“ (V. 831–832) gegenübergestellt, um sie als Überwindung der Vanitas, der menschlichen Vergänglichkeit, darzustellen. Dieser kosmologischen Einordnung der Liebe folgen die Strophen fünf und sechs, in denen zunächst die Macht der Liebe über alle Lebewesen („Was immer in der welt kan kriechen, fliegen, gehen“, V. 834) und dann in allen Elementen (Strophe sechs) beschworen wird. Die siebte Strophe beschreibt Venus überdies als friedensbringend und streitschlichtend: „Du stillend allen Zanck/ du lögend allen Streit und dämpfend allen haß“ (V. 841–842). Diese Interpretation der Liebesgöttin steht der Deutungstradition der Venus – besonders im Kontext des Paris-Urteils – diametral entgegen, denn anders als Renouard und Finckelthaus perspektiviert Weckherlin das mythische Schönheitsurteil im Schlussgedicht nicht als Beginn des trojanischen Kriegs, der die Zerstörung des Vaterlandes von Paris bringen wird, sondern überblendet die verheerenden Folgen des Urteils mit der welterhaltenden Macht der Liebe, die im letzten Vers der siebten Strophe sentenziös zusammenfasst wird: „Daß dadurch alle welt (verliebet) sich vermehret“ (V. 844).
1.3 Fazit – Faszination der Schönheit Birkens minutiös durchkomponierte Götterschenkungen ist ein Werk von außergewöhnlicher Komplexität, das sich vor allem durch ein vielschichtiges Verständnis von Intertextualität auszeichnet. Mit Bezügen zu vier zeitgenössischen Hirtendichtungen (Klaj/Harsdörffer: Pegnesisches Schäfergedicht, Birken: Fortsetzung der Pegnitzschäferei, Hund: Schäferdichtung, Klaj: Fortsetzung), die Birken mit einer mustergültigen übersetzerischen Aneignung der antiken Vorlage von Statius autoreflexiv kommentiert, misst Birken das funktionale Spektrum von Intertextualität aus, das über die Imitation und Überbietung von Vorlagen durch die Befolgung regelpoetischer Vorgaben hinausgeht. Dagegen wertet Birken die poetische Schöpfungskraft von Träumen, Imagination und Erinnerungen auf und wendet sich, vor allem in der zweiten Fassung, gegen die barocktypischen Regelpoetiken. Indes löst er sich von denselben keinesfalls; seine Statius-Aneignung ist klar als aemulatio mit der Antike zu bewerten, die sich in den Kontext der kulturpatriotischen Bemühun-
1.3 Fazit – Faszination der Schönheit
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gen, Deutsch zur Literatursprache zu erheben, verortet und Birkens Stellung unter den Gründungsmitgliedern des Pegnesischen Blumenordens manifestieren soll. Indes zentriert Birken in seiner Rezeption die Urteilsfindung des trojanischen Prinzen Paris, ohne jedoch den Trojanischen Krieg mahnend als Folge der Liebe anzuführen. Idealisierend vergleicht er die Widmungsempfänger seiner Hochzeitsdichtung antonomastisch mit Paris und Helena und nobilitiert damit die Entscheidung für die Liebe. Weckherlin wertet die Liebe zum welterhaltenden und friedensstiftenden Prinzip auf, indem er das petrarkistische Motivarsenal als repetitives Muster entlarvt und auf der Folie des mythologischen Urteils die Subjektivität von Schönheit und Liebe zur Sprache bringt. Programmatisch überwindet er dadurch die imitatio der idealisierenden petrarkistischen Motivik, um eine Neuerung der Liebeslyrik einzufordern. An der kritischen Auseinandersetzung mit der petrarkistischen Nachahmung zeigt sich deutlich die Ausdifferenzierung der Liebeskonzeptionen, da Weckherlin gerade die Artifizialität der Idealisierung unterläuft. Die poetologische Kritik an der petrarkistischen Schönheitsdarstellung verbindet Weckherlin mit einem Plädoyer für das Versepos. In einem Verfahren mehrschichtiger Intertextualität arbeitet Weckherlin auf der Folie von Ovids Metamorphosen das Prosaepos von Renouard in ein Versepos um und begibt sich damit in den gattungstheoretischen Diskurs um die Berechtigung des Romans als moderne Form des antiken Versepos. Durch die Umarbeitung von Renouards Widmung in einen Musenanruf fügt Weckherlin ein wichtiges konstitutives Element des Versepos hinzu. Ferner assimiliert er sein Kleinepos einerseits inhaltlich durch ekphrasische Ergänzungen und andererseits formal durch die stilistisch ästhetisierende Umarbeitung des Prosatexts in Verse an die lateinische Vorlage. Nicht zuletzt wegen seines autoreflexiven Kommentars, mit dem Weckherlin sein Versepos als „Lied“ (V. 17), als ‚carmen heroicum‘ betitelt, ist seine Umarbeitung poetologisch als Aufwertung der antiken Epik gegen die modernere Prosaform zu deuten. Besonders vor dem Hintergrund, dass das Epos „im Barock […] als die höchste Form innerhalb der Gattungshierarchie galt,“814 kann Weckherlins Rezeption des französischen Prosaepos durchaus als Bemühung um ein nationalsprachliches Versepos gelten, dessen zeitnahe Entstehung Martin Opitz im Buch von der Deutschen Poeterey in Abrede gestellt hatte.815
814 Rohmer, Das epische Projekt, S. 4. 815 Ebd., S. 193.
2 Venus und Mars: Die kulturstiftende Kraft der Liebe 2.1 Mars-Allegorien in Christoph Kaldenbachs ‚Heroischen Getichten‘ Die allegorische Ausdeutung der Liebe zwischen Venus und Mars bildet eine der häufigsten Strategien bei der Rezeption Venus-Mars Episode.816 Bereits Platon hatte im Symposion die Liebschaft zwischen Kriegsgott und Liebesgöttin als Überwindung der Gewalt durch die Liebe aufgewertet.817 Gefestigt hat sich die Allegorie der Friedenshoffnung in Lukrez’ Lehrgedicht De rerum narura, in Ovids Amores (Ovid, Am. 2,564) sowie in dessen Metamorphosen (Ovid, Met. 4.170– 4.189). Statius (Silv. 1,2) schöpfte in der Spätantike das erotische Potential der Liebesszene aus,818 indem er die ruhende Venus nach dem Beischlaf mit Mars allegorisch als neuerwachende Liebesmacht darstellte, wohingegen Fulgentius (Fulg. Myth. 2,7) die Verführungsmacht der Venus als Korrumpierung der durch Mars personifizierten Tugend moraldidaktisch wendete. Diese Warnung vor der weiblichen Wollust trat in den Vordergrund der Rezeption und dominierte auch im Mittelalter. Im Barock erhielt die moraldidaktische Allegorese Einzug in die christlichen Poetiken819 sowie in die Friedensspiele, in denen Mars als gerechte Entscheidungsgewalt inszeniert wird.820 In der Lyrik und auch in anderen dramatischen Interpretationen differenzierte sich das Deutungsspektrum der Venus-Mars-Allegorie allmählich aus: Die stoizistische Anerkennung des Krieges als Fatum unterläuft Martin Opitz in
816 Unter Allegorie verstehe ich nach Blank, Allegorie, S. 44–48, hier S. 44, einen „Text oder ein umfangreiches, in sich abgeschlossenes Textsegment, das auf dem poetischen Verfahren der Allegorie [=Mittel zur Erzeugung von Uneigentlichkeit durch eigens zu diesem Mittel geschaffene literarische Ausdrucksmittel] beruht“. 817 Vgl. hier sowie für den folgenden Überblick der Rezeptionsgeschichte bis zum Barock Witthaus, Ares, S. 132–136. 818 Vgl. Horstmann, Das Epithalamium in der lateinischen Literatur der Spätantike, S. 84. 819 Vgl. Berns, Gott und Götter, S. 40–47. 820 Vgl. Laufhütte, Der gebändigte Mars, S. 121–135. Zu den Schauspielen von Justus Georg Schottelius (Friedenssieg, 1642/48) und Johann Rist (Das Friedewünschende Teutschland, 1647/49) vgl. ebd., S. 131–132. Zu Birkens Darstellung des Krieges in Teutscher KriegsAb- und FriedensEinzug vgl. die umfangreiche Abhandlung von Karl-Bernhard Silber: Die dramatischen Werke Sigmund von Birkens (1626–1681). Tübingen 2000 (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft, 44), S. 52–122, zur Mars-Allegorie besonders S. 87–90. https://doi.org/10.1515/9783110684209-011
2.1 Mars-Allegorien in Christoph Kaldenbachs ‚Heroischen Getichten‘
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dem Lob des Kriegsgottes (1628) satirisch,821 Georg Greflinger (1620–1677) spitzt den Protest gegen die zerstörerische Kraft des Krieges komisierend zu.822 Längst haben die neueren Studien von Becker-Cantarino und Niefanger die allzu pauschale Analyse von Laufhütte widerlegt, der den Kriegsgott Mars „überall“823 im Dienst der Heilsordnung als gerechte Entscheidungsmacht repräsentiert sah und deshalb die Lyrik außen vor ließ.824 Doch obgleich Lothar Mundt die motivische Anlehnung an Statius in Simon Dachs lateinischer Gelegenheitsdichtung nachgewiesen hat,825 fehlt eine Musterung der Mars-Allegorien in Hochzeitsdichtungen des Barock, zu der ein lateinisches Epithalamium von Martin Opitz den entscheidenden Anstoß gegeben haben könnte. In dem Hochzeitsgedicht auf die eheliche Verbindung von Nikolaus von Buckau (1593–1621) und Anna Maria Geisler, der Tochter des kaiserlichen Pfalzgrafen und Liegnitzer Kanzlers Andreas Geisler (1572–1624), schildert Opitz in 154 Hexametern, wie Venus ihren Mann Mars darum bittet, den in Schlesien tobenden Krieg enden zu lassen und sich anschließend von ihren Schwänen nach Liegnitz fliegen lässt, um mit der aufflammenden Liebe zwischen den Brautleuten ihre Macht wiederherzustellen.826 Den Beginn bildet eine Beschreibung der grausamen Kriegshandlungen, deren Sinnhaftigkeit Opitz kunstvoll in Abrede stellt, indem er die Darstellung in rhetorischen Fragen formuliert.
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Nuper ab Hesperio procul huc devecta Cythero, Gravidum Venus alma suum quaerebat, et inter Tot deplorati furibunda tonitrua belli Invento, quo ferris, ait, Mars saeve, tumult, Committisque feras in propria viscera dextras? Non satis innocuo stagnavit sanguine Mulda Natorum, et miseras viduarunt praelia matres, Albicolisque enses avidi maduere Bohemis? Nequicquamnè novis candens flagraverti aether Ignibus, et tanto volitantem lampada tractu 821 Vgl. Becker-Cantarino, Satyra in nostri belli lebitatem: Opitz’ Lob des Krieges Gottes Martis, S. 291–317. Zum irenischen Gedankengut im Schlussgebet des Enkomiums besonders S. 305. 822 Vgl. Niefanger, Lex mich im Mars. Kriegssatire im 17. Jahrhundert, S. 75–78. 823 Laufhütte, Der gebändigte Mars, S. 132. 824 Ebd., S. 133. 825 Vgl. Mundt, Simon Dachs lateinische Gelegenheitslyrik, S. 225–294. 826 Fritz Felgentreu: [Art.] Claudian. In: Der Neue Pauly. Supplemente Bd. 7. Die Rezeption der Antiken Literatur. Hg. von Christine Walde. Stuttgart, Weimar 2010, Sp. 253–262, hier Sp. 253, sieht in dem Epithalamium aufgrund einer ähnlichen Allegorie, besonders aber wegen der durch Venus und Cupido veranlassten Hochzeit der Widmungsempfänger eine Aneignung von Claudians Epithalamium für Honorius und Maria. Die motivische Verwandtschaft scheint für eine intertextuelle Beziehung der Texte jedoch kein ausreichender Nachweis zu sein.
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2 Venus und Mars: Die kulturstiftende Kraft der Liebe
Impunè altitonans caeco suspenderit orbi? […] […] Pestis quoque tibida quovis Saevius hoste furit, ignavâqve aegra queruntur Corpora morte mori, nec stantia posse perire; Et sibi se superesse dolent, felixque putatur Quisquis caede perit, quemque oderat opprimit, atque Luctantem patrias animam projectit ad aras. 827
Keinesfalls wird Mars hier als Personifikation eines gerechten, gottgewollten Kriegs dargestellt, der als göttliches Fatum zu ertragen und zu dulden sei, vielmehr scheint Opitz mit der satirischen Darstellung des durch die Pest verhinderten Heldentodes schon in diesem frühen Hochzeitsgedicht die Heroisierung von Kriegstaten höhnisch abzuwerten und die Sinnhaftigkeit der Kriegsleiden anzuzweifeln. Zugleich eignet sich Opitz die mythologische Allegorie an, indem er sie in die kulturelle Heimat integriert, den Kriegsgott für den wütenden Krieg im realhistorischen Kontext verantwortlich macht und den Mythos dadurch aktualisiert. Tatsächlich hatten die Habsburger 1618 empfindliche Niederlagen hinnehmen müssen: Die in Böhmen einmarschierte Armee des Erzherzogs Ferdinand
827 Vgl. Martin Opitz: „Nuper ab Hesperio“. In: Martin Opitz. Lateinische Werke. Bd. 1. 1614– 1624. In Zsarb. mit Wilhelm Kühlmann, Hans-Gert Roloff und zahlr. Fachgelehrten hg., übers. und kommentiert von Veronika Marschall und Robert Seidel. Berlin 2009, S. 149–157, V. 1–20, dort mit folgende Übersetzung: Kürzlich fuhr Venus, die holde, hierher vom westlichen Kultort, Fernher, und suchte nach Mars, ihrem Mann, dem Gradivus, und als sie Mitten im rasenden Donnern des vielbejammerten Krieges Endlich ihn fand, da entfuhr ihr: „Von welcher Verwirrung ergriffen, Mars, läßt du zu, daß grausame Hand gegen Mitbürger wütet, Furchtbarer? Stockt denn noch nicht genug vom schuldlosen Blut der Eigenen Söhne die Moldau? Macht Kampf noch nicht ausreichend Mütter Elend und kinderlos? Triefen der Böhmen am Elbufer Schwerter, Gierige Schwerter, noch nicht genug? Hat ein glühender Himmel Sinnlos mit neuem Feuer gezuckt? So blitzend erhob der Donnrer ein fliegendes Licht ohne Wirkung verblendeten Menschen?“ […] […] Und schlimmer als jeder Feind tobt verzehrende Seuche, es klagen die Kranken, sie stürben Eines zu langsamen Todes und könnten doch aufrecht nicht sterben; Klagen, sie lebten zu lange. Für glücklich wird jeder gehalten, Der in den Schlachten dahinsank, verhaßte Feinde erschlug und Der seine Kämpferseele dem Vaterland opferte. (V. 1–20)
2.1 Mars-Allegorien in Christoph Kaldenbachs ‚Heroischen Getichten‘
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wurde von den Truppen des Grafen Thurn besiegt, Pilsen wurde von Ernst von Mansfeld eingenommen und Thurn hatte die habsburgische Armee in Budweis eingekreist.828 Dem antizipierten Kriegsausbruch in Schlesien stellt Opitz jedoch die Liebe entgegen, die Venus zwischen den Widmungsempfängern entfacht. Dadurch wird die prokreative sowie die kulturerhaltende Kraft der Liebe als Gegenpol zum zerstörerischen Krieg dargestellt.829 Wie die Allegorie der kulturerhaltenden und friedensstiftenden Liebe weiterentwickelt wurde, lässt sich exemplarisch an zwei „heroischen Getichten“ von Christoph Kaldenbach zeigen, der maßgeblich von Opitz beeinflusst wurde. Nach einem kurzen Überblick zu Kaldenbachs Leben und Werk soll gezeigt werden, wie er unter Rückgriff auf Statius’ Epithalamium auf Stella und Violentilla (Silv. 1,2) die Allegorie in seinem großen Gedicht auf die Hochzeit von König Wladislaw IV. mit Luise Maria von Gonzage, dem Sarmatischen Hymen (1646), invertiert und sie im Hochzeitsgedicht für Jacob Kettler von Kurland und Luise Charlotte von Brandenburg, der Preussischen Venus (1645), in eine Allegorie der Friedenshoffnung wendet.
2.1.1 Forschung Das Leben des Tübinger Universitätsprofessors für Rhetorik und Poetik Christoph Kaldenbach ist durch die umfassenden Arbeiten von Wilfried Barner vergleichsweise gut erforscht:830 Der am 11. August 1613 in der niederschlesischen 828 Vgl. Martin Opitz: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 1. Die Werke von 1614–1621. Hg. von Georg Schulz-Behrend. Stuttgart 1968 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 295), S. 126. 829 Vgl. Barbara Becker-Cantarino: Opitz und der Dreißigjährige Krieg. In: Martin Opitz (1597– 1639). Nachahmungspoetik und Lebenswelt. Hg. von Thomas Borgstedt, Walter Schmitz. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit 63), S. 38–52, hier S. 39–40. Nicht übergangen sei hier die anregende These von Kaminski, Ex Bello Ars oder Ursprung der ‚Deutschen Poeterey‘, die deutsche Dichtung sei wegen und nicht trotz des Dreißigjährigen Krieges entstanden, die Kaminski auch in Opitz’ „Nuper ab Hesperio“ bestätigt sieht. Vielmehr ist das schließenden Appell des lyrischen Ichs, das Kaminski nicht in Ihre Interpretation einbezieht, zuträglich für ihre Argumentation. Dort heißt es: „At nos | Deseuetos socco ferri leviore, cruentis | Rectius assereret proles Latonia bellis“ (Doch mich, auf leichteren Schuhen zu geh’n nicht gewöhnt mehr, | Schickte Apollo wohl besser zum Dienst im blutigen Kriege), vgl. Opitz, Nuper ab Hesperio, V. 152–154. Im Sinne Kaminskis lässt sich dieser Zusatz als Vorausdeutung des kulturpatriotischen, kämpferischen Programms von Opitz lesen, welches Kaminski im Buch von der Deutschen Poeterey (1624) festgeschrieben sieht. Spekulativ bleibt diese Deutung, weil die Mahnung ebenso als Ankündigung einer epischen Versdichtung interpretierbar ist, zugunsten derer Opitz die Liebesdichtung aufzugeben gewillt ist. 830 Vgl. die grundlegenden Arbeiten von Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 425–447; ders.: Tübinger Poesie und Elo-
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2 Venus und Mars: Die kulturstiftende Kraft der Liebe
Kleinstadt Schwiebus geborene Sohn des Tuchmachers Matthäus Kaldenbach wurde 1622 mit neun Jahren an dem der Universität Frankfurt/Oder angegliederten Gymnasium eingeschult, nahm 1629 ebenfalls in Frankfurt ein akademisches Grundlagenstudium auf, bevor er 1631 nach an die Königsberger Universität wechselte. Nach Stationen als Konrektor (ab 1640) und Prorektor (ab 1646) des Altstädtischen Gymnasiums Königsberg wurde er 1651 als Professor für griechische Philologie an die Königsberger Universität berufen. Erst 1655 holte er seine Promotion zum Magister der Philosophie nach und trat im April desselben Jahres den Ruf an die Universität Tübingen an, wo er bis zwei Jahre vor seinem Tod (17. Juli 1698) unterrichtete.831 Während seiner Universitätstätigkeit verfasste Kaldenbach ein Rhetorik-Lehrbuch, welches in mindestens fünf Auflagen bis 1765 nachwirkte und auch in der Generation des jungen Schiller noch benutzt wurde.832 Indes veröffentlichte Kaldenbach ein weites poetisches Œuvre mit lateinischen, hebräischen und deutschen, vereinzelt aber auch französischen, italienischen und polnischen833 Gedichten und Liedern834 sowie eine lateinische Poetik
quenz im 17. Jahrhundert: Christoph Kaldenbach. In: Ders.: Pioniere, Schulen, Pluralismus. Studien zu Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft. Tübingen 1997, S. 69–96, zuvor in Attempto 34/35 (1970), S. 98–118. Vgl. ferner Christoph Kaldenbach. Auswahl aus dem Werk. Hg. und eingeleitet von Wilfried Barner. Tübingen 1977 (Neudrucke deutscher Literaturwerke Sonderreihe 2), S. XI–LII und Wilfried Barner: Christoph Kaldenbach (1613–1698). Poet und Rhetoriker im Barockzeitalter. In: 500 Jahre Tübinger Rhetorik, 30 Jahre Rhetorisches Seminar. Katalog zur Ausstellung im Bonatzbau der Universitätsbibliothek Tübingen vom 12. Mai bis 31. Juli 1997. Hg. von Joachim Knape. Tübingen 1997, S. 76–79. Vgl. überdies mit leicht aktualisierten Erkenntnissen Friedrich Seck: Der Rhetoriker und Poet Christoph Kaldenbach (1613–1698). In: Die Universität Tübingen zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung. Hg. von Ulrich Köpf. Ostfildern 2014 (Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte 25), S. 283–314. Schließlich konzise zusammengefasst bei Ulrich Maché, Axel E. Walter: [Art.] Christoph Kaldenbach. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 6, S. 260–261 sowie Ulrike Aringer-Grau: [Art.] Christoph Kaldenbach. In: MGG Online, zuerst veröffentlicht 2003, online veröffentlicht 2016, https://www-1mgg-2online-1com-1t4lic0qu0b65.emedien3.sub.uni-hamburg.de/mgg/stable/27765 (Zugriff 22. August 2018). 831 Abweichende Daten für die Lehrtätigkeit am Königsberger Gymnasium und die nachgeholte Magisterpromotion bietet Barner, Tübinger Poesie und Eloquenz, S. 70–71, vgl. dagegen Seck, Der Rhetoriker und Poet Christoph Kaldenbach, S. 287–288 sowie zum korrigierten Todesdatum ebd., S. 301–302. 832 Barner, Barockrhetorik, S. 442–443 sowie Barner, Auswahl, S. XI–XII. 833 Kurze Hinweise zu den polnischen Gedichten Kaldenbachs sowie zu seinen Panegyrica auf polnische Herrscher finden sich bei Miroslawa Czarnecka: Deutsch-polnische Kommunikation im plurinationalen Kulturkontext des Barock. In: Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Bd. I. Hg. von Klaus Garber. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 111), S. 361–383, hier S. 369–381. 834 Vgl. die Werkbibliographie von Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 3, S. 2214–2257, die Axel E. Walter: Caldenbachiana in St. Petersburg. Ein Beitrag zur Bibliographie des Königsberger Dichterkreises. In: Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber,
2.1 Mars-Allegorien in Christoph Kaldenbachs ‚Heroischen Getichten‘
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zur deutschen Dichtung, in der Reinhard Aulich die – verglichen mit den Nürnbergern Georg Philipp Harsdörffer, Sigmund von Birken und Johann Klaj – recht konservativen Tendenzen des späten ‚Opitianers‘ Kaldenbach nachweisen konnte, der sich vornehmlich an der Poetik von Johann Peter Titz (1619–1689) orientierte.835 Neben seiner Verbindung zum Dichterkreis um die ‚Königsberger Kürbishütte‘836 wurde auch auf die freundschaftliche Beziehung zwischen Kaldenbach und dem prominenten Komponisten Heinrich Schütz (1585–1672) hingewiesen,837 dem er anlässlich der Hochzeit seiner Tochter, Euphrosyne Schütz, zwei Hochzeitsgedichte zukommen ließ, die beide in die Sammlung der Deutschen Lieder und Gedichte (1683)838 aufgenommen worden sind.839
Manfred Komorowski, Axel E. Walter. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 56), S. 961–993, hier S. 978– 993), um 43 Titel ergänzen konnte. Vgl. auch John L. Flood: Poets Laureate in the Holy Roman Empire. A Bio-Bibliographical Handbook. Bd. 2. D–K. Berlin, New York 2006, S. 959–964. 835 Reinhard Aulich: Von der ‚Sorgfalt etwas Gutes zu erfinden‘. Christoph Kaldenbachs Verständnis vom Umgang mit dem Wort. Zur literarhistorischen Einordnung eines wiederentdeckten Poeta doctus. In: Daphnis 22 (1993), S. 393–412, besonders S. 396–398. 836 Während das Konstrukt einer Königsberger Dichtergruppe um Simon Dach längst verworfen wurde, gilt die unregelmäßige Zusammenkunft eines Dichternetzwerks mit wechselnden Teilnehmern doch als gesichert. Dazu gehörte neben Simon Dach (1605–1659) u. a. Johann Stobaeus (1580–1646), Robert Roberthin (1600–1648), Heinrich Albert (1604–1651) und eben auch Kaldenbach, vgl. grundlegend Albrecht Schöne: Kürbishütte und Königsberg. Modellversuch einer sozialgeschichtlichen Entzifferung poetischer Texte am Beispiel Simon Dach. München 1975. Den Forschungsstand fasst bündig zusammen Walter, Caldenbachiana in St. Petersburg, S. 963–966. Zu den Musikern im Kreis der ‚Kürbishütte‘ jetzt auch Peter Tenhaef: Entwicklung in der Königsberger Gelegenheitsmusik des 17. Jahrhunderts. In: Dichtung und Musik im Umkreis der Kürbishütte. Königsberger Poeten und Komponisten des 17. Jahrhunderts. Hg. von Peter Tenhaef, Axel E. Walter. Berlin 2016 (Greifswalder Beiträge zur Musikwissenschaft 22), S. 191–212, besonders S. 195. 837 Vgl. Hans Joachim Moser: Heinrich Schütz. Sein Leben und Werk. 2. Aufl. Kassel, Basel 1954, S. 166–167; Eberhard Möller: Neue Schütz-Funde in der Ratsschulbibliothek und im Stadtarchiv Zwickau. In: Schütz-Jahrbuch 6 (1984), S. 5–22, hier S. 10–11 sowie ausführlich ders.: Eine Hochzeit im Hause Schütz. In: Beiträge zur musikalischen Quellenforschung, Protokoll-Band Nr. 3 der Kolloquien im Rahmen der Köstritzer Schütz-Tage 1994–1995. Hg. von Ingeborg Stein. Bad Köstriz 1995, S. 19–53, besonders S. 27–50, wo die vielen Hochzeitsglückwünsche gesammelt und auszugsweise abgedruckt sind, und zuletzt Eberhard Möller: Heinrich Schütz und August Buchner. In Schütz-Jahrbuch 24 (2002), S. 123–139, hier S. 126. 838 Christoph Kaldenbachs Deutsche Lieder und Getichte: In gewisse Bücher eingetheilet / Editore Filio Cognomini. Tübingen 1683. [VD17 1:638593Y]. 839 Diese sind erstens: Hn. Christoph Pinckert/ B.R.D. und J[ungfrau]. Euphrosynen/ des Hochberühmtesten Musici, Heinrich Schützen/ einigen Tochter/ nach Dresen überschickt [1648]. In: Christoph Kaldenbachs Deutsche Lieder und Getichte: In gewisse Bücher eingetheilet/ Editore Filio Cognomini. Tübingen 1683. [VD17 1:638593Y], S. 105–108, und als Separatdruck in dem in der RSBZ verwahrten Sammelgratulation: Glückwünschung An […] Herrn Heinrich Schützen/
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2 Venus und Mars: Die kulturstiftende Kraft der Liebe
Kaldenbachs Lyrik ist erst kürzlich und nur in zwei Studien gewürdigt worden: Exemplarisch für das Frühwerk behandelt Jörg Robert das Epicedium Galathee. Des weitberühmten Poeten Martin Opitzen Grab-Lied aus den Deutschen Eclogen (1648) und zeigt die Vielschichtigkeit der Totenklage, die als imitatio von Opitz’ sogenannter Coridon-Strophe Galathee einerseits das Gedicht von Opitz aktualisiert und andererseits die literaturgeschichtliche Wirkung des großen Dichtervorbilds in der Schäferfiktion festschreibt.840 Das Liedschaffen Kaldenbachs hat dagegen erstmals Astrid Dröse anhand der dreißig Lieder umfassenden Sammlung Deutsche Sappho (1651) untersucht und dabei auf die Zitate klassischer und zeitgenössischer, internationaler Autoritäten hingewiesen, die Kaldenbach als Motti nutzt, um seine Lieder – vor allem aber auch die in die Sammlung eingegliederten Dichtungen befreundeter Poeten – im internationalen poetischen Diskurs zu verorten.841 Dass Kaldenbachs lyrisches Werk neben diesen Pionierstudien weitgehend unbeachtet blieb, überrascht umso mehr, da allenthalben auf die Wertschätzung durch Johann Christoph Gottsched (1700–1766) hingewiesen wurde, der Kaldenbach als meisterhaften Oden-Dichter rühmte.842 Übersehen wurde dabei stets, Churfürstl. Durchl. […] Capelmeister/ Als Er seine einzige Herzliebste Tochter Jungfrau Euphrosynen/ Herrn Christoph Pinckern […] Ehelich anvertrauete […]. Dreßden bey Simel Bergens sel. Erben/ den 25. Januarij/ im 1648. Jahr. Bl. Aiijr–Aivr. [VD17 125:001616W], RSBZ [6.5.18.b.(46)] und [6.5.20.(62)]. Die übrigen Gratulanten sind der berühmte Gelegenheitsdichter Simon Dach, der Komponist Heinrich Albert (1604–1651) und ein Neffe von Heinrich Schütz, Christoph Georg Schütz (1623–1696). Zweitens ein weiteres Hochzeitsgedicht auf dieselbe Ehe: An Hn. Heinrich Schützen/ Churfl. Sächsischen Capellmeister/ Als er seine eigene Tochter/ J[ungfrau]. Euphrosynen/ Hn. Christoph Pinckert/ B.R.D. ehlich anvertrawet/ aus Preussen überschickt [1648]. In: Christoph Kaldenbachs Deutsche Lieder und Getichte: In gewisse Bücher eingetheilet/ Editore Filio Cognomini. Tübingen 1683. [VD17 1:638593Y], S. 482–492, und schließlich das Epicedium Fr. Euphrosynen Pinckertin/ gebohrner Schützin/ nach Dreßden überschickt [1655]. In: Christoph Kaldenbachs Deutsche Lieder und Getichte: In gewisse Bücher eingetheilet/ Editore Filio Cognomini. Tübingen 1683. [VD17 1:638593Y], S. 156–157. 840 Vgl. Jörg Robert: Königsberger Genealogie. Opitz – Dach – Kaldenbach. In: Dichtung und Musik im Umkreis der Kürbishütte. Königsberger Poeten und Komponisten des 17. Jahrhunderts. Hg. von Peter Tenhaef, Axel E. Walter. Berlin 2016 (Greifswalder Beiträge zur Musikwissenschaft 22), S. 111–131, besonders S. 124–127. 841 Vgl. Astrid Dröse: Christoph Kaldenbachs musikalische Lyrik. In: Dichtung und Musik im Umkreis der Kürbishütte. Königsberger Poeten und Komponisten des 17. Jahrhunderts. Hg. von Peter Tenhaef, Axel E. Walter. Berlin 2016 (Greifswalder Beiträge zur Musikwissenschaft 22), S. 133–152. 842 So einstimmig: Barner, Barockrhetorik, S. 426; Barner, Tübinger Poesie und Eloquenz im 17. Jahrhundert, S. 69; Barner, Auswahl, S. XI; Aulich, Von der „Sorgfalt etwas Gutes zu erfinden“, S. 402–203; Seck, Der Rhetoriker und Poet Christoph Kaldenbach, S. 287; Robert, Königsberger Genealogie, S. 130–131 sowie Dröse, Christoph Kaldenbachs musikalische Lyrik, S. 139.
2.1 Mars-Allegorien in Christoph Kaldenbachs ‚Heroischen Getichten‘
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dass Gottsched ein weiteres Mal auf Kaldenbach rekurriert, um drei seiner lateinischen ‚heroischen Lobgedichte‘843 herauszustellen: Im folgenden Jahrhunderte würde es noch schwerer fallen, alle lateinische Dichter dieser Art zu nennen. Doch will ich ein paar nennen, die mir aus Liebe zu meinem Vaterlande gefallen haben. Der erste ist Christoph Kaldenbach, ein Schlesier, dessen Gedichte 1651. und also eben vor 100 Jahren zu Braunsberg in Preussen in 12. herausgekommen; daraus seine AQUILA, CUPRESSUS, und die BORUSSA PHILÆNIS hieher gehören.844
Während Gottsched also die lateinischen Heroica Kaldenbachs hervorhebt, übergeht er, dass Kaldenbach im zweiten Teil der von seinem Sohn herausgegebenen späten Anthologie Deutsche Lieder und Getichte ein ganzes Buch „heroischer Getichte“ versammelt, zu denen auch Die Preussische Venus (1645) und Samartischer Hymen (1646) gehören. Bemerkenswert an dieser Kategorie in der sonst recht zeittypischen Einteilung des ersten Teils in (1) Sonette, (2) Hochzeitsgedichte, (3) Klag-Lieder und Trauergedichte, (4) vermischte Lieder und (5) Alexandrinische Gedichte und des zweiten Teils in (6) Heroische Gedichte, (7) Pindarische Oden und Gesänge sowie (8) Ethopoeia oder Personenbildungen ist, dass die Unterscheidung von heroischen und alexandrinischen Gedichten zunächst eine Qualifizierung eines heroischen Gedichts allein durch formale Aspekte – d. h. durch die Verwendung des heroischen Versmaß, als dessen vernakulares Äquivalent zum Hexameter im Griechischen und Lateinischen bekanntlich der Alexandriner galt – ausschließt. Ebenso wie die Länge der Gedichte nicht allein als Kriterium für eine Klassifizierung als heroisches Gedicht gelten kann, da manche der Poeme mit etwas mehr als einhundert Versen nicht bedeutend länger, teils sogar kürzer sind als solche, die unter Alexandrinische oder Hochzeitsgedichte fallen, ist auch die Standeshöhe der Widmungsträger kein Indikator für die Einordnung. Dies ist unschwer daran zu erkennen, dass Kaldenbach neben dem heroischen Gedicht auf die Hochzeit von Schützens Tochter ein weiteres unter den Hochzeitsgedichten führt. Ferner sind alle zehn „heroischen Gedichte“ anlässlich von Hochzeiten oder auf Begräbnisse geschrieben und dennoch hat Kaldenbach sie
843 Heroische Lobgedichte, die Gottsched aus der Tradition der Homerischen Hymnen herleitet, spezifiziert er in Abgrenzung vom Epos als längere, nicht strophisch gegliederte Gedichte epischen Inhalts – „episch, das ist erzählend; indem er die Geburt, die Erziehung, und die Thaten seiner Götter […] erzählet“ – in langen Versen, d. h. Hexametern bzw. Alexandrinern, vgl. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Anderer besonderer Theil. 4. Aufl. 1751. In: Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. Bd. VI/2. Hg. von Joachim und Brigitte Birke. Berlin, New York 1973 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 40), S. 478–479. 844 Vgl. Gottsched, Ausgewählte Werke. Bd. VI/2, S. 482–483.
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nicht unter die Hochzeits- oder Trauergedichte eingeordnet. Die Gebundenheit an einen Anlass kann deshalb nicht als Indikator für oder wider eine Klassifizierung als heroisches Gedicht gelten. Folglich deutet die Anordnung der Sammlung auf eine immanente Poetik des ‚carmen heroicums‘. Um die Faktur der Sammlung im Hinblick auf die poetologischen Aspekte zu würdigen, werden die beiden Hochzeitsgedichte nicht in chronologischer, sondern in der Reihenfolge der Sammlung analysiert.
2.1.2 Statius-Rezeption und Inversion der Friedensallegorie in Kaldenbachs Hochzeitsgedicht für den polnischen König Wladislaw IV. Im Februar 1646 heiratete der polnische König Wladislaw IV. (1595–1648), der zugleich Großfürst von Litauen, Titularkönig von Schweden, ab 1610 auch gewählter Zar von Russland und dann zwischen 1613 und 1634 Titularzar von Russland war, die Prinzessin Luise Maria Gonzage (1611–1667) aus dem italienischen Adelsgeschlecht der Gonzage. Die zehn Tage andauernden Festlichkeiten zu dieser zweiten Hochzeit des polnischen Königs nach dem Tod seiner ersten Ehefrau Erzherzogin Cäcilia Renata von Habsburg (1611–1644), Tochter von Kaiser Ferdinand II.,845 werden heute zu den prunkvollsten des siebzehnten Jahrhunderts gezählt – es heißt etwa vierhundert Soldaten und zweihundert Adlige hätten die Braut von Wladislaw IV. vom Kloster Oliva ins Zentrum von Danzig eskortiert, wo sie zum Donnern von 150 salutschießenden Kanonen von vier der Danziger Majoren und zwölf Konsuln in Empfang genommen wurde. Begleitet von unzähligen Schaulustigen sei Gonzage dann durch die mit mythologischen und allegorischen Figuren und Gemälden geschmückte Stadt geführt worden; ferner fand ein prächtiges Feuerwerk und die Aufführung von Virgilio Puccitellis (1599–1654) Oper Le nozze di Amore e di Psyche (1646) statt.846 845 Vgl. zu der Regierungszeit und den Hochzeiten des polnischen Königs bündig Almut Bues: Die Jagiellonen: Herrscher zwischen Ostsee und Adria. Stuttgart 2010 (Kohlhammer-Urban-Taschenbücher 646), S. 231–234. 846 Vgl. zu den Festlichkeiten die ältere Arbeit von Richard Roepell: Der Empfang der Königin Louise Marie von Polen in Danzig 1646. In: Zeitschrift des Westpreussischen Geschichtsvereins 22 (1887), S. 1–30; Johannes Bolte: Das Danziger Theater im 16. und 17. Jahrhundert. Hamburg, Leipzig 1895 (Theatergeschichtliche Forschungen 12), S. 71–76 sowie den neueren und konziseren Beitrag von George Gömöri: [Art.] Entries in Poland. In: Spectacvlvm Evropaeum. Theatre and Spectacle in Europe (1580–1750). Hg. von Pierre Béhar und Helen Watanabe-O’Kelly. Wiesbaden 1999 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 31), S. 757–768, zum Empfang von Luise Marie vgl. S. 760–762. Vgl. ferner zur Oper von Puccitelli den Beitrag von Bernhard Jahn: Die Danziger Oper von ihren Anfängen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. In: Kulturgeschichte
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Neben einem lateinischen Epithalamium von Georg Preutten (1595–1650)847 und einer polnischen Hochzeitsschrift von Jerzy Wladyslaw Judycki848 haben Georg Greflinger849 und Johan Peter Titz,850 aber eben auch Christoph Kaldenbach, die eheliche Verbindung der Königshäuser von Frankreich und Polen mit deutschen poetischen Berichten und Gratulatoria bedacht. Mit 1248 paargereimten Alexandrinern ist Kaldenbachs episches Hochzeitsgedicht Sarmatischer Hymen/ Oder Auff Königliches Beylager/ Vladislai, des Vierdten/ […] Wie auch […] Pr. Loysen Marien/ von Gonzage/ (1646)851 bei weitem das größte Poem auf die Königshochzeit – es überrascht umso mehr, dass es bisher unbeachtet blieb.
Preußens königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit. Hg. von Sabine Beckmann, Klaus Garber. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 103), S. 755–771, hier S. 756–765, der ebenfalls drei zeitgenössische Berichte gesammelt hat: Adam Jacob Martini: Kurtze Beschreibung und Entwurff alles dessen was bey […] Frewlein Ludovicae Mariae Gonzagae/ Hertzogin zu Mantua und Nivers etc. etc. etc. Königlicher Mayst: zu Polen und Schweden etc. […] geschehenen Einzuge in die Königl: Stadt Dantzig/ sich denckwürdiges begeben/ und zugetragen: auch waß ferner auff der reise biß Warschaw vorgelauffen […]. Danzig [1646]. [VD17 23:233947N]; Johann Peter Lotichius: Theatri Europaei Fünffter Theil: […] verlegt Durch Matthaeum Merian. [Frankfurt/Main] 1647. [VD17 23:233981T], S. 1043–1045 sowie Jean Le Laboureur: Relation Du Voyage De La Royne De Pologne […]. Paris 1647. SBB-PK [50 MB 624]. 847 Georg Preutten: Venus Francica Sive Nuptiae Serenissimi, Potentissimi, ac Gloriosissimi Principis, Vladislai IV. Dei Gratia Regis Poloniae […] Et Serenissimi ac Potentissimae Ludovicae Mariae Gonzagae […]. Danzig 1646. [VD17 32:675606T], vgl. auch die lateinische Hochzeitsrede von Friedrich Meibohm: Oratio Gratulatoria Ad Serenissimam Poloniae Sveciaeque Reginam Ludovicam Mariam Gonzagam Serenissimi Ac Potentissimi Regis Vladislai IV. […]. [Elbing] 1646. [VD17 7:693157D]. 848 Jerzy Władysław Judycki: Helikon Polskiego Apollina Y Mvz Sarmackich Na Wesele […] Władysława IV. Krola Polskiego Y Szwedzkiego […] Z […] Lvdwiką Marią de Gonzagae Cleves Xiezną De Mantva […] / Piorem Oiczystym Przez Ierzego Wladyslawa Ivdyckiego […] wystawiony. Warschau [1646]. UB Warschau [Sd.714.1522]. 849 Vgl. Astrid Dröse: Georg Greflinger und das weltliche Lied im 17. Jahrhundert. Berlin u. a. 2015 (Frühe Neuzeit 191), S. 60–61. 850 Johann Peter Titz: Gratulatio, Augustissimi Serenissimi […] Vladislai IV. regis Poloniae […] et Serenissimae […] Ludovicae Mariae Gonzagae, reginae Poloniae et Sveciae […] nuptiis […]. Danzig 1646. UB Warschau [BUWr 535483]. Verzeichnet bei Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 4, S. 4037 sowie Johann Peter Titz: Deutsche Gedichte. Hg. von Leopold Hermann Fischer. Halle 1888, S. XLVI, Nr. 2, der das Werk mit der Signatur der ehemaligen Stadtbibliothek Danzig [XVII A q 91 No. 1] verzeichnet. 851 Kaldenbachs Sarmatischer Hymen/ Oder Auff Königliches Beylager/ Vladislai, des Vierdten/ Der Polen und Schweden Unüberwindlichsten Königes/ u.f.f. Wie auch Der Durchleuchtigsten Princessinn/ Pr. Loysen Marien/ von Gonzage/ von Cleeff/ Herzoginn von Mantua/und Nevers/ u.f.f. In Warschaw hochfeyerlichst begangen. [1646] ist als erstes im Abschnitt unter den „Heroischen Getichten“ abgedruckt, vgl. Christoph Kaldenbachs Deutsche Lieder und Getichte: In gewisse Bücher eingetheilet/ Editore Filio Cognomini. Tübingen 1683. [VD17 1:638593Y], S. 382–422.
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Im Sarmatischen Hymen schildert Kaldenbach – nach einer Apostrophe an das festlich geschmückte Warschau und einem Musenanruf – wie Mars sich nach der Schlacht festlich gekleidet in die Schlafgemächer von Venus begibt und ihr vorschlägt, das Kriegsgeschehen vorerst ruhen zu lassen. Venus willigt ein und versetzt Polens Herrscher anstelle von Kriegslust in Liebesschmerz. Im Traum erscheint Wladislaw IV. darauf der Götterbote Hermes, der ihm den Beschluss der olympischen Götter mitteilt, er solle sich mit Luise Maria vermählen. Sogleich macht sich Cupido ans Werk und trifft die Brautleute mit seinen Liebespfeilen, worauf die Vorbereitungen für die Festlichkeiten beginnen können, deren Höhepunkt das Auftreten des Stammesvaters Vandalus ist, der die Nymphen beauftragt, einen Wandteppich für das Königspaar anzufertigen, auf dem die Herrschergenealogie der Jagiellonen abgebildet wird. Mit dem Abschied des Vandalus, mit Geschenken der Götter aus dem griechisch-römischen Pantheon und mit Jubelgeschrei der Anwesenden endet das epische Hochzeitsgedicht. Die angesichts der Länge des Gedichts recht überschaubare Handlung lässt sich in erstens die Apostrophe an Warschau und den Musenanruf (V. 1–92), zweitens den Dialog zwischen Venus und Mars (V. 93–356), drittens die Traumvision und Liebesentstehung durch Venus und Cupido (V. 357–652), viertens die Ekphrasis des Wandteppichs von Vandalus (V. 653–1098) und fünftens die schließenden Hochzeitswünsche (V. 1099–1248) gliedern. Lose lehnt sich Kaldenbach mit dem Dialog zwischen Mars und Venus, aber auch durch die Liebesentstehung durch Venus und Cupido an die Handlung von Statius Epithalamium für Stella und Violentilla (Silv. 1,2) an. Statius beschreibt darin mit einem Beginn in medias res zunächst die pompösen Hochzeitsfeierlichkeiten, von denen die ruhende Venus erwacht und darauf von ihrem Sohn Amor mit einer Laudatio auf den Bräutigam bekniet wird, die Liebe zwischen Stella und Violentilla entfachen zu dürfen. Venus antwortet mit einer Laudatio auf die Braut, worauf die Hochzeit von Hymenaeus geschlossen wird und die Dichterschaar der griechischen und lateinischen Elegiker zu wetteifernden Lobliedern auf das Liebespaar aufgefordert wird.852 Im Unterschied zu Statius beginnt Kaldenbach jedoch mit zwei epischen Elementen. Historiographisch funktionalisiert scheint die Apostrophe an Warschau, da Kaldenbach darin die Festlichkeiten zur Heimführung der Braut und zum Empfang in Warschau poetisch vergegenwärtigt: Was regt/ O Warschau/ dich? Wem gehstu solch Gepränge In deinen Mauren an? Was soll der Fürsten Menge? Der Königliche Pracht? Wem schmückst du Wall und Thor? Führst deiner Thürne Licht mit höherm Preiß empor?
852 Vgl. Horstmann, Das Epithalamium in der lateinischen Literatur der Spätantike, S. 80–88.
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Wem lacht der Gassen Schmuck? Der Zierrath an Gebäwen? Der Pforten Glanz? wohin seyn die Tapecereyen? […] Vulcanus ist bemüht; wirfft fewrige Raqueten: Für seines Pulvers Blitz mus Cynthia erröhten/ Der Sternen Königinn. Die Fackel Hymens brennt: An ihrer Reyhen Pracht wird Venus selbst erkennt. Ich seh der Sorgen Ziel/ das Recht der hohen Feyer: Der grosse Wladislaw wird wiederumb ein Freyer; (V. 1–18)
In der Häufung rhetorischer Fragen beschreibt Kaldenbach die zur Hochzeit glanzvoll mit mythologischen-allegorischen Figuren ausstaffierte Stadt, mythisiert die pyrotechnischen Raffinessen, mit denen das Fest begleitet wurde und exponiert stilistisch das Herrscherlob, das anlässlich der zweiten Hochzeit – nach dem Tod von Wladislaws erster Frau Cäcilia Renatas –episches Ausmaß erhält. Mit dem Musenanruf transponiert Kaldenbach den Parnassus zunächst nach Preußen, wobei die ‚Heimholung‘ des mythischen Dichterberges nicht, wie sonst so häufig, allein im Wettstreit mit der Antike den Sieg erringen soll, sondern vor allem in Konkurrenz zu anderen deutschen Regionen: Auff/ meiner Musen Spiel! o edler Stamm Latonen/ Apollo Vater/ auff! ob itzt dir zu bewohnen Dein Pindus/ oder wo Parnassen Schloß gefellt: Dir wincket schaw! Du Lust der Götter/ und der Welt/ Ein andrer Helicon/ den Preussenland dir gibet […] Nicht so hat ewer Thun am Necker zugenommen; Nicht an der Elb/ und Rhein/ und wo der ferne Strich Mit meiner Deutschen Rhum und Grenzen krönet sich. (V. 29–44)
Kaldenbachs Selbstinszenierung als göttlich inspirierter Dichter überschneidet sich hier mit der Darstellung des Mäzenatentums von Wladislaw IV., der als Kunstförderer, -liebhaber und -sammler bekannt war853 und unter anderem Martin Opitz als Historiographen angestellt hatte.854 Mit regionalem Kulturpatriotismus grenzt Kaldenbach Preußen von den anderen deutschen Kulturzentren „am Necker […] Elb/ und Rhein“ (V. 42–43) ab und hebt die für Preußens kulturelle Entwicklung wichtige Rolle des Königs hervor. Zugleich stellt er sich jedoch 853 Vgl. Bues, Die Jagiellonen, S. 233. 854 Zu Opitz als Historiograph von Wladislaw IV. vgl. Marian Szyrocki: Martin Opitz. 2. Aufl. München 1974, S. 102–124.
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als Nachfolger von Opitz dar, der zu Lebzeiten gleich zwei panegyrische Gedichte auf Wladislaw IV. verfasst hatte – ein deutsches,855 welches später von Johann Christoph Gottsched gelobt wurde856 und ein lateinisches, das Christoph Koeler (1602–1658) ins Deutsche übertrug:857
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[…] Der/ nie von Scham entfärbet/ Dein Stimmwerck selbst gerührt/ Opitz/ der edle Schwan/ Den Bunzlaw trug ans Licht/ auff dessen hoher Bahn Ich/ Phoebe/ setze nach/ fand bei ihm [Wladislaw] Huld und Gnade; Dem er sein schönes Lob am Balthischen Gestade Auch rühmlich sang: hier wo sein irrdisches Gebein Der welt geehrten Grufft noch steht gesencket ein. Er gab ihm Raum und Fug sein werthes Lob zu schreiben; Hieß seiner zeiten Lauff der Weißheit einverleiben Die auff die Nachkunfft siht. So lange man forthin Der edlen Wiegen-Rhum am Bober an-wird-ziehn/ Und das berühmte Grab hat Danzig auff zu weisen/ Wird auch dein süßes Volk den linden Pupur preisen Der ihm sich zugewandt. […] (V. 62–75)
In Anspielung auf die beiden Lobgedichte von Opitz auf Wladislaw IV. beschreibt Kaldenbach, wie der polnische König den ‚Vater der deutschen Dichtkunst‘ in 855 Martin Opitz: Lobgedicht An die Königliche Majestät zu Polen unnd Schweden. Dantzig/ Gedruckt durch Andream Hünefeldt/ Im Jahr/ 1636. [VD17 1:710110N]. Vgl. dazu Grazyna Barbara Szewczyk: Bilder des Krieges und der Friedensgedanke im Gedicht von Martin Opitz Lobgedicht an die Königliche Majestät zu Polen und Schweden. In: Memoria Silesiae: Leben und Tod, Kriegserlebnis und Friedenssehnsucht in der literarischen Kultur des Barock. Zum Gedenken an Marian Szyrocki (1928–1992). Hg. von Mirosława Czarnecka. Warschau 2003 (Acta Universitatis Wratislaviensis 2504), S. 139–146. 856 Vgl. Gottsched, Ausgewählte Werke, Bd. VI/2, S. 484–485. 857 Martin Opitz: Felicitati Augustae Honorique Nuptiar. Serenissimor. Principum Vladislai IV. Pol. Suec.que Regis Et Caeciliae Renatae Archiducis Austriae / D.D. Mart. Opitius Majest. Eor. Devotiss. 1637. [VD17 23:000300E] und die Übersetzung von Christoph Colerus: Martini Opitii […] Glückwünschung Auff der Königl. Majestat zü Polen und Sweden Vladislai IV. Beylager […]. Gedruck durch Hünefeldius [1637]. [VD17 32:628685K]. Zu Opitz’ Werken auf die polnische Königsfamilie vgl. Robert Seidel: Von Atheisten und nüchternen Prinzessinnen. Martin Opitzens Schriften auf Angehörige des polnischen Königshauses. In: Realität als Herausforderung: Literatur in ihren konkreten historischen Kontexten. FS für Wilhelm Kühlmann zum 65. Geburtstag. Hg. von Ralf Bogner, Ralf Georg Czapla, Robert Seidel, Christian von Zimmermann. Berlin, New York 2011, S. 211–232, mit weiterer, auch polnischer Sekundärliteratur, der vor allem die von Gerhard Kosellek: Martin Opitz im Dienst des polnischen Königs Wladislaw IV. Wahrheit und Legende. In: Germanoslavica 19 (2008), S. 17–33, versuchte Argumentation, Opitz sei nie bei Wladislaw als Hofhistoriograph angestellt gewesen, entkräftet, vgl. Seidel, Von Atheisten und nüchternen Prinzessinnen, S. 213, Anm. 15–16.
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dessen späten Lebensjahren anstellte und seine Poesie förderte. Indem er jedoch hervorhebt, die in der Danziger Marienkirche befindliche Grabstätte von Opitz858 gewährleiste auch zukünftig die dichterische Überlegenheit der preußischen Poeten – dafür trägt Kaldenbach, der Opitz ‚nachsetzt‘ (V. 65), selber Sorge –, bestimmt er mit Opitz’ Grab den exakten Ort, der in Zukunft als deutscher Parnass gelten soll und suggeriert, dass unter der Schirmherrschaft des polnischen Königs Kunst und Dichtung in den Kulturzentren um Danzig auch nach Opitz’ Tod gefördert und vorangetrieben werden soll. Herrscher- und Dichterlob verbindend reiht Kaldenbach sein panegyrisches Hochzeitsgedicht in die Tradition von Opitz. Überdies dient der Musenanruf jedoch als Exposition des Lobgedichts, welches Wladislaw nicht nur als König und Herrscher, sondern vor allem als Kulturstifter preist, ihm aber unterschwellig auch auferlegt, das Erbe von Opitz würdig zu verwalten. Dies verdeutlicht erneut die Zusammenfassung des nachfolgenden Lobpreises, mit der Kaldenbach eine Captatio Benevolentiae verbindet und den Musenanruf beendet:
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Dein Königlicher Berg sey munter an zu hören/ Wie Mars und Venus selbst das hohe Fest zu ehren/ Das Polen dich verknüpft/ und Frankreich/ sind bedacht: Und Vater Vandalus soch auch gesehen macht Mit seiner GabenPreiß. Ward eh die Lorbeer-Krone/ Die Hermes ihm durch mich zu unverwelcktem Lohne Der Helden-Thaten gab; da/ als ob seinem Dach Den Hirten Cleomed dein werther Andersbach Für königlichem Licht und Beyseyn aufgeführet/ Und/ edle Venda/ mich in deinen Rock gezieret; Ward/ sag’ ich/ dieser Kranz ihm damals lieb und werth: Sey gleiche Gnad’ auch zu-itzt diesem Lied-gekehrt. (V. 81–92)
Mit dem Verweis auf das zugleich herrschaftskritische und dennoch panegyrische Schäferspiel Cleomedes (1635), das Simon Dach (1605–1659) anlässlich von Wladislaws Besuch in Königsberg geschrieben und hatte aufführen lassen,859
858 Eine von Volker Kreidler fotografierte Abbildung der in den Boden der Marienkirche eingelassenen Grabplatte ist abgedruckt bei Walter Schmitz, Anja Häse, Eckhard Gruber, Jochen Strobel (Hgg.): Martin Opitz (1597–1639). Orte und Gedichte. Dresden 1999, S. 184. 859 Vgl. Simon Dach: Cleomedes. In: Simon Dachen/ Weyland berühmten Poeseos Professoris bey der Königsbergischen Academie Poetische Wercke: Bestehend in Heroischen Gedichten/ Denen beygefüget zwey seiner verfertigten Poetischen Schau-Spiele. Königsberg 1696. [VD17 23:232433U]. Unpaginiert. Für eine kurze Charakterisierung des Schäferspiels vgl. Christiane Caemmerer: Deutsche Schäferspiele im 17. Jahrhundert. Eine Textsorte und ihre Funktion. In: Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Tradition und Transformation eines europäischen Topos. Hg. von Nina Birkner, York-Gothart Mix, unter Mitarb. von Jessica Helbig. Berlin, Boston 2015 (Untersuchungen
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erbittet Kaldenbach einerseits die günstige Aufnahme seines Gedichts durch den polnischen Herrscher und deutet andererseits intertextuell die kriegskritische Haltung auch in seinem Panegyrikus voraus. Vor dem Hintergrund der durch die Prätexte angedeutete Friedenshoffnung, die Kaldenbach offenkundig mit einem kultur- und kunstfördernden Gesellschaftsentwurf verbindet, ist auch die von Statius adaptierte Mars-Allegorie zu interpretieren. So schildert Kaldenbach, wie Mars ohne seine Waffen, „Die noch Europe fühlt“ (V. 94), Venus’ Gemächer betritt. Statt mit seiner Rüstung hat sich der Kriegsgott edel gekleidet: 105
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Es spielt’ umb seinen Hut die schön gekrauste Feder. Sein Krebs war ein Kollet von zugeschicktem Leder Der Thier’ aus Nordenland. Das Bayrische Rappier Blitzt umb die Seiten her/ von güldnem Schmuck und Zier/ Mit Steinen untersetzt die Eos zu-uns-schicket. Der ganzen Rüstung Tracht war schön mehr/ und geschmücket/ Als nach gewohnheit stark. Er selber schien durch Kunst Und artliche Manier itzund zu suchen Gunst/ (V. 105–112)
In Abgrenzung zu seiner sonst so furchteinflößenden Erscheinung wird Mars gezielt als besonders zivilisiert dargestellt, seine Rüstung erscheint sogar eher schöner als „nach gewohnheit stark“ (V. 111). Mit Präfigurationen wie Achilles, Hector und Anchises, die um Briseis, Andromache und Venus warben (V. 113–120), transformiert Kaldenbach den kriegstreibenden Mars zum höfischen Helden. Besonders wirkungsvoll gestaltet Kaldenbach die Transformation jedoch durch den Kontrast zu der darauffolgenden Beschreibung des Vulcanus, der „aus seiner Mutter Haß/ Umb daß er hinckend war“ (V. 127–128), dann von Thetis „gesäugt“ (V. 129) und den Wassernymphen aufgezogen wurde und nun „Rauch und Rostes voll“ (V. 136) dem Schmiedewerk nachgeht. In Abgrenzung zum infamen Schmiedegott wirkt das Auftreten des Kriegsgottes, der von Venus mit einem Kuss in Empfang genommen wird, umso eleganter. Die erotische Zusammenkunft des Liebespaars übergeht Kaldenbach mit einer Präteritio: „Den andern Anmut laß ich sämtlich an-itzt-stehen | Wie sie einander da entgegen kundten stehen“ (V. 149–150). Dagegen beginnt Mars mit einer ausschweifenden Laudatio auf Wladislaw, die er mit Huldigungen für die verstorbene Cäcilia Renata von Habsburg beginnt, daran aber auch die rhetorische Frage knüpft, ob Wladislaw nach ihrem Tod nun zur deutschen Literaturgeschichte 148), S. 78–104, hier S. 94–95 sowie Andreas Andreas Waczkat: Simon Dachs Liederspiele und die Anfänge der deutschen Oper. In: Simon Dach (1605–1659). Werk und Nachwirken. Hg. von Axel E. Walter. Tübingen 2008 (Frühe Neuzeit 126), S. 321–336, der vor allem die fragmentarisch überlieferte Vertonung durch Heinrich Albert bespricht.
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ohne Gattin bleiben solle (V. 153–172). Es folgt eine Topographie von Wladislaws Kriegen, beginnend mit dem Polnisch-Russischen Krieg, den Wladislaws Vater Sigismund III. für Polen entschieden hatte und dadurch seinen Sohn zum rechtmäßigen Erben des moskowitischen Throns machte (V. 179–182),860 und endend mit dem 1635 in Stuhmsdorf geschlossenen Waffenstillstand zwischen Polen und Schweden (V. 224–225),861 wobei die realpolitischen Folgen – den Anspruch auf den moskowitischen Thron musste Wladislaws Vater Sigismund III. bereits beim Waffenstillstand von Deulino (1618/1619) aufgeben, das Recht auf die schwedische Thronfolge büßte Wladislaw beim Frieden von Stuhmsdorf (1635) ein – freilich unerwähnt bleiben. Die Abkehr von den als erfolgreich inszenierten Kriegen begründet Mars topisch mit der alles besiegenden Kraft der Liebe: Itzt/ Aphrodyte/ laß’ ich hier nun ein dich-nehmen Den Platz/ den Mavors fand: dich/ die du auch zu zähmen Mit Waffen pflegst die Welt; der auch Cupido kriegt/ Und machen kühnen Held mit güldnem Pfeil besiegt. (V. 237–240)
Um die Hingabe an die Liebe zu rechtfertigen, füllt Mars den amor vincit omniaTopos sodann mit einer Reihe von mythischen Helden – Herakles und Omphale, Aeneas und Lavinia, Theseus und Ariadne bzw. Phaedra sowie Jason und Medea (V. 241–252) – und fordert Venus schließlich auf, endlich auch Wladislaw neu zu vermählen. Die Aufzählung, die Wladislaw einerseits mit den antiken Helden gleichsetzt, führt andererseits vor Augen, dass auch alle diese Helden sich Venus’ Macht beugen müssen. Kunstvoll gelingt Kaldenbach so die Engführung des Lobpreises von Wladislaw und die Darstellung der Überredungskünste des Mars, der seine eher untypische Redegewandtheit „freundlich zu bezeugen“ (V. 274) weiß, ohne dabei seine Neigungen für Venus zu stark zur Geltung kommen zu lassen. Mit dem gelungenen diplomatischen Verhalten des Kriegsgottes begründet Kaldenbach, dass „Vulcanus länger blieb“ (V. 279) und das göttliche Gelächter über das unter Vulcanus’ Netz gefangene Liebespaar ausbleibt. Erwartungsgemäß hat Venus gegen die Bitte ihres Liebhabers nichts einzuwenden, vielmehr setzt sie zur Laudatio auf Luise Maria Gonzage an, die Kaldenbach teilweise aus Statius entlehnt und dadurch den Verweis auf das spätantike Epithalamium referenziell markiert. Statius’ Vergleiche der Violentilla mit den Nymphen, Diana und Venus selbst sowie mit Ariadne, Leda, Europa und Danae:862 860 Vgl. Bues, Die Jagiellonen, S. 225. 861 Vgl. ebd., S. 232. 862 Ariadne, die Tochter von Minos und ursprünglich die Frau von Theseus, dem sie half den Minotaurus zu töten, war mit Dionysus liiert, nachdem sie auf Naxos von Theseus verlassen
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[…] Latias metire quid ultra emineat matres: quantum Latonia Nymphas virgo premit quantumque egomet Nereidas exsto. Haec et caeruleis mecum consugere digna fluctibus et nostra potuit considere concha, […] […] si in litore Naxi Theseum iuxta foret haec conspecta cubile, Cnosida desertam profugs liquisset et Euhan. quod nisi me longis placasset Iuno querelis, falsus huic pennas et cornua sumeret aethrae rector in hanc verso cecidisset Iuppiter auro. 863
eignet sich Kaldenbach übersetzerisch an: […] Wie viel den Nereinnen Ich selbst/ und Cynthia der Schaar mag ab gewinnen/ Die ihrem Bogen folgt: geht auch sie in dem Chor Der Nymphen an dem Po an Pracht und Ansehn vor. Sie kundte/ Mars/ mit mir auff einer Muschel fahren Itzt/ da ich erst entstund: kundt auch entführet paaren/ Du schöner Paris/ dich und auff Rhoeteen Feld Dein Urtheil ziehen ein. Ihr hette sich gesellt Der süsse Trauben-Gott für Minos zartem Kinde Bey so geklagter Flucht. Er selbst/ der so geschwinde Bald Stier/ bald Goldes Art/ bald falsche Flügel nimmt/ Fund hier/ was seiner Glut vorab zu statten kömmt. (V. 325–336)
Die ausgelassenen Verse bei Statius (V. 116–130) ersetzt Kaldenbach, der die Vorlage ansonsten stark rafft, durch einen weiteren Vergleich mit Venus, indem
wurde, vgl. Ovid, Her. X. Leda, Europa und Danae sind aus der Antike als besonders schöne Jungfrauen bekannt, mit denen Zeus seine Ehefrau Hera betrog und dafür unterschiedliche Verwandlungen seiner selbst vornahm, vgl. Ovid, Met. VI. 87–100. 863 Vgl. Statius, Silv. 1,2 V. 114–118 und V. 131–136. Wissmüller, Statius. Silvae. Das lyrische Werk in neuer Übersetzung, S. 18: Urteile, womit sie die latinischen Mütter übertrifft. So übertrifft die Jungfrau Latonia (Diana) die Nymphen, so überrage ich die Nereiden. Sie wäre würdig gewesen, mit mir zusammen aus den blauen Fluten aufzusteigen und in meiner Muschel hätte sie sitzen können. […] Wenn Euhan am Strand von Naxos neben dem Bett des Thesoeus diese gesehen hätte, dann hätte auch er die geflohene Gnossierin verlassen. Hätte mich nicht Juno mit langen Klagen beschwichtigt, für sie (Violentilla) hätte der falsche Lenker des Himmels Federn und Hörner aufgenommen, auf sie wäre Jupiter in wirklichem Gold gefallen.
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er auf das Paris-Urteil verweist, welches die Braut ebenso für sich hätte entscheiden können. Darüber hinaus ist die teils in komplizierten Parenthesen wiedergegebene Übersetzung jedoch dicht am lateinischen Text orientiert, wobei Kaldenbach besonders die Antonomasien zu imitieren scheint, wenn er die bei Statius mit „Cnosida“ umschriebene Ariadne, das ‚zarte Kind‘ des Minos (V. 333) nennt, Zeus ebenfalls antonomastisch als Stier, Gold und mit falschen Flügeln beschreibt und den bei Statius verwendeten Beinamen von Bacchus, Euhan, mit „Der süsse Trauben-Gott“ (V. 333) ersetzt. Kaldenbach, der für die Laudatio auf Luise Maria Gonzage also augenscheinlich Statius imitiert, distanziert sein Hochzeitsgedicht von der lateinischen Vorlage, indem er die Laudatio auf den Bräutigam, die bei Statius Amor vorträgt, dem Kriegsgott Mars in den Mund legt. Während Statius die erotische Komponente der Venus-Mars-Episode hervorkehrt, indem er Venus als von der harten Umarmung ihres Mannes entkräftet darstellt, „amplexu duo Getici resoluta mariti“,864 und damit auf den topischen Liebeskrieg anspielt, macht Kaldenbach den Kriegsgott zum Initiator einer neuen Liebe, welche fortan über den Krieg triumphieren soll. Dass Kaldenbach die allegorische Friedenshoffnung an die Vorstellung einer kulturbeflissenen Gesellschaft mit einem kunstfördernden Herrscher knüpft, zeigt sich jedoch nicht nur an dem Erfolg des Kriegsgottes durch seine Redegewandtheit und an seinem zivilisierten Auftreten, sondern erhellt besonders im Abgleich mit dem idealtypischen Mythenverlauf: Indem Kaldenbach mit dem Verstoß von Vulcanus aufgrund seiner Behinderung auch die Vorgeschichte des Ehebruchs schildert (Sequenz I,1), exponiert er das zivilisierte Verhalten des Kriegsgottes. Dagegen korrigiert Kaldenbach bei gleichzeitiger Reduktion von Sequenz I, 2–3 (Vulcanus schickt den verfluchten Thron an Hera und bekommt Venus als Ehefrau, als er den Bann löst) den Ehebruch. Zwar schildert er, wie Mars die Gemächer von Venus betritt, schöpft jedoch nicht das erotische Potenzial der Liebesszene (Sequenz II, 4) aus, sondern berichtet den gehobenen Dialog zwischen Venus und Mars, die sich nicht im ‚Liebeskrieg‘ und auch nicht in kriegerischen Auseinandersetzungen einigen. Die gesittete Auseinandersetzung hat zur Folge, dass Vulcanus die Liebenden nicht bloßstellt – zwar spielt Kaldenbach geschickt auf das ‚homerische Gelächter‘ an (Sequenz II, 5–7), spart es dann aber aus, weshalb auch die Reduktion des Racheakts durch Vulcanus (Sequenz II, 8) einleuchtet. Während Kaldenbach die der Episode innewohnende Erotik durch die Präteritio dämpft, wird die Liebe auch nicht als Korruption von Mars’ Tugenden dargestellt. Vielmehr trägt sie dazu bei, dass sich die Tugenden des Kriegsgotts
864 Statius, Silv. 1,2, V. 53, vgl. dazu Horstmann, Das Epithalamium in der lateinischen Literatur der Spätantike, S. 84.
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entfalten. Dies wird noch deutlicher, vergleicht man Kaldenbachs Schilderung mit der sonst so gängigen Allegorie, welche die Besänftigung des Kriegsgottes durch Venus abbildet. Diese wird von Kaldenbach invertiert, indem er Mars zum Initiator des Friedens verkehrt, der den Friedenswunsch der Venus vorträgt. Mit seiner Mythoskorrektur exemplifiziert Kaldenbach Mars als idealtypischen Herrscher, der vor keiner kriegerischen Auseinandersetzung zurückschreckt und sich im Krieg auch bewiesen hat, nun aber durch Diplomatie und kulturelle Errungenschaften sein Reich zu verteidigen und sein Lob zu steigern weiß. Durch die Inversion wird die Liebe folglich als friedensstiftend beschrieben und die Möglichkeit, durch die Liebe dem Krieg zu entgehen und damit eine kunstfreundliche Kulturlandschaft zu errichten, als Errungenschaft des Herrschers inszeniert. Dazu tragen auch maßgeblich die von Kaldenbach verwendeten epostypischen Elemente bei, die er metapoetisch hervorhebt. So beklagt Venus in ihrer Antwort auf das Anliegen von Mars, dass die Braut nicht durch Vergil gepriesen werden könne: O daß noch itzund sich der werthen Spons zu ehren/ Der Göttliche Poet von Andes liesse hören/ Der seinen Mincius hier eh bekandt gemacht/ Und mein verwandtes Rom durch süßer Verse Pracht Der Welt gepriesen hat. […] (V. 321–325)
Mit dem Verweis auf Vergil und dessen Aeneis benennt Kaldenbach das lateinische Epos als Vorbild, aus dem er offenbar die Elemente Musenanruf, Ekphrasis, Herrschergenealogie und Heldenschau in sein Hochzeitsgedicht überführt. Metapoetisch vergleicht sich Kaldenbach aber auch mit Vergil, schließlich ist er der Dichter, der in den nachfolgenden Versen die Schönheit der Braut in petrarkistischen Preziosen-Metaphern hyperbolisch überformt: […] Der Wangen Milch und Blut/ Der Rosen-rothe Mund/ der Augen Sternen-Glut/ Der Hals als von Elffenbein/ die Locken gleich Violen. (V. 339–341)
Mit dem Wechsel zwischen epischer Erzählung und poetischer Metaebene verdeutlicht Kaldenbach seinen Anspruch, zur Hochzeit ein episches Versgedicht beizusteuern. Dieser tritt am prominentesten durch die Ekphrasis des durch Vandalus überbrachten Teppichs hervor. In knapp 450 Versen (V. 653–1098) beschreibt Kaldenbach die auf dem Teppich abgebildete Ahnengalerie der polnischen Thronfolge und verbindet dadurch geschickt die Ekphrasis mit der Darbietung der Herrschergenealogie.
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Er beginnt mit dem sagenumwogenden Stammvater Lech, welcher der Chronica principum Polonia nach die Stadt Gniezno gründete und damit den Grundstein des polnischen Königreichs legte. Von dessen Nachfolgern Cracus, Venda und Primislaw I. sowie dessen Sohn Leszek II. und dem ihm folgenden Enkelsohn Popilius I. leitet Kaldenbach zur Piastendynastie über. Für diese führt er zuerst den Urvater Piast an und nennt dann Mieszko I. (935–992), Boleslaw den Tapferen (966–1025), Casimir den Erneuerer (1016–1058), Boleslaw II. (1041–1082), Boleslaw Schiefmund III. (1086–1138), Boleslaw IV. (1121–1173), Casimir den Großen (1310–1370) und Ludwig von Ungarn (1326–1382). Da Ludwig keine männlichen Nachkommen hatte, wurden nach ihm seine Tochter Hedwig (1373–1399) gemeinsam mit ihrem Mann Wladyslaw II. Jagiello (1351–1434) zu den gemeinsamen Regenten Polens, welche die Jagiellonische Dynastenfolge begründeten. Auch sie werden von Kaldenbach genannt und nach ihnen Wladyslaw von Warna (1424–1444), Casimir IV. (1427–1492) sowie dessen Söhne Johann Albrecht (1459– 1501), Alexander I. (1461–1506) und Sigismund I. (1467–1548). Nach Sigismund I. folgt dessen Sohn Sigismund August (1520–1572), der ebenfalls kinderlos blieb, darauf Heinrich III. Valois (1573–1574), Stephan Báthory (1575–1586), Sigismund III. (1587–1632) und schließlich Wladislaw IV.865 Solche Herleitungen der piastisch-jagiellonischen Erbfolge waren im siebzehnten Jahrhundert nicht ungewöhnlich, vielmehr stehen sie in einer langen Tradition, welche sich um die nebeneinander bestehenden Dynastien bildete und bis ins Mittelalter zurückreicht. Besonders seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts wurden die in unterschiedlichen polnischen Chroniken des Mittelalters verworrenen Erbschaftsfolgen und Traditionslinien nach der Cronica principum Polonie866 jedoch verkürzt, vereinheitlicht und vom Hause Wasa vielfach in Auftrag gegeben, da es auf keine vergleichbare dynastische Legitimation
865 Aufgrund der Menge und der ungesicherten Historizität mancher Herrscher wird auf ausführliche Literaturangaben zu den einzelnen Herrschern verzichtet. Stellvertretend sei auf das umfangreiche biographische Lexikon von Stanislaw Szucur, Krzysztof Ozóg (Hgg.): Piastowie. Leksykon Biograficzny. Krakau 1999, verwiesen, besonders auf die darin befindlichen Herrscherstammbäume, aus denen auch die von Kaldenbach vorgenommenen Auslassungen ersichtlich sind. Vgl. auch die etwas konzisere Übersicht bei Francis Dvornik: The Slavs in European History and Civilization. New Bruswick 1962, S. 558–559. 866 Zur Cronica principum Polonie vgl. einführend Wojciech Mrozowicz: Cronica principum Polonie und Cronica ducum Silesie – Die Hauptwerke der Fürstenchronistik Schlesiens (einige Überlieferungs- und Deutungsprobleme). In: Die Hofgeschichtsschreibung im mittelalterlichen Europa: Projekte und Forschungsprobleme. Hg. von Rudolf Schieffer und Jaroslaw Wenta. Torun 2006 (Subsidia Historiographica III), S. 147–159.
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zurückgreifen konnte.867 In historiographischen Werken prominenter deutscher Autoren, wie etwa Jacob von Sandrart (1630–1708),868 dem Neffen des berühmten Joachim Sandrarts, oder Heinrich Anshelm von Zigler und Kliphausen (1663– 1697)869 finden sich solche Herrscherfolgen; Salomon Neugebauers Kunstreiche/ Eygentliche Bildnüssen und Contrafeyt aller und jeder Fürsten und Könige in Polen (1626),870 über die Kaldenbach die dynastische Erbfolge kennen konnte, war sogar mit entsprechenden Portraits geziert. Auch Wladislaw IV. selbst ließ eine solche Herrschergenealogie anfertigen, allerdings in Form eines ganzen Saales im Warschauer Königsschloss, den er zwischen 1640 und 1643 in Marmor verkleiden und mit zweiundzwanzig von Peter Danckerts de Rij (1605–1661)871 gemalten Portraits seiner Ahnen ausstaffieren ließ, die seinen Machtanspruch hervorheben sollten.872 867 Zur Tradition und zur Rezeption der Polnischen Chroniken vgl. Hans-Jürgen Bömelburg: Das polnische Geschichtsdenken und der Piasten- und Jagiellonenkult in der Frühen Neuzeit. In: Die Konstruktion der Vergangenheit: Geschichtsdenken, Traditionsbildung und Selbstdarstellung im frühneuzeitlichen Ostmitteleuropa. Hg. von Joachim Bahlcke, Arno Strohmeyer. Berlin 2002 (Zeitschrift für Historische Forschung 29), S. 193–220 und ders.: Frühneuzeitliche Nationen im östlichen Europa. Das polnische Geschichtsdenken und die Reichweite einer humanistischen Nationalgeschichte (1500–1700). Wiesbaden 2006 (Veröffentlichungen des Nordost-Instituts 4), zum Wasahof besonders S. 176–276 und mit Bezug auf Wladislaws Marmorsaal S. 180. 868 Jakob Sandrart: Des Königreichs Pohlen Lands- Staats- und Zeit-Beschreibung/ Aus den besten und neuesten Scribenten/ auch desselben Königreichs eignen Land-Rechten alles gründlich und kürtzlich biß auf diese Zeit/ nebenst des jetzigen Königs Joannis III. Verrichtungen und grossen Thaten / mit Fleiß zusammen getragen. […]. Sulzbach 1687. [VD17 3:003193G], S. 288–345. 869 Heinrich Anshelm von Zigler und Kliphausen: Historisches Labyrinth der Zeit: darinnen die denckwürdigsten Welt-Händel, absonderlich aber die richtigsten Lebens-Beschreibungen […], ferner eine accurate historische und genealogische Vorstellung […], ingleichen die merckwürdigsten Schlachten, Eroberungen, königliche Krönungen, Staats-Veränderungen, Verräthereyen, Feuers-Brünste […]. Leipzig 1701. [VD18 90392760]. Anhang, unpaginiert. 870 Salomon Neugebauer: Kunstreiche/ Eygentliche Bildnüssen und Contrafeyt aller und jeder Fürsten und Könige in Polen/ von dem Uralten Lecho an biß auff die jetzregierende Königliche Mayestät Sigismundum III.: Sampt einer kurtzen Chronologischen unnd Historischen Beschreibung ihres Lebens/ Wandels und verrichteten Thaten/ dabevor in Latein beschrieben Durch den Edlen […] Salomon Neugebauer a Cadan, &c. Jetzo aber auff instendiges begeren ins Teutsch trewlich ubergesetzt/ unnd […] Ediret. Frankfurt am Main 1626. [VD17 12:647421F], mit einer zweiten Auflage von 1644. [VD17 32:632945B]. 871 Zu Danckerts de Rij vgl. Tadeusz Bernatowicz: [Art.] Danckerts. In: Saur. Allgemeines Künstlerlexikon. Die Bildenden Künstler aller Zeiten und Völker. Bd. 24. Damdama-Dayal. Hg. von Günter Meißner. München, Leipzig 2000, S. 80. 872 Zur Gestaltung des Warschauer Königsschlosses, zur Errichtung, der Zerstörung und dem Wiederaufbau des Marmorsaals vgl. Jerzy Lileyko: Władysławowski Pokój Marmurowy na Zamku Królewskim w Warszawie i jego twórcy – Giovanni Battista Gisleni i Peter Danckers de Rij. In: Biuletyn Historii Sztuki, 37,1 (1975), S. 13–31 und ders.: Zamek Królewski w Warszawie [Das
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Vor diesem Hintergrund scheint es nicht gerade zufällig, dass Kaldenbach die Genealogie, die sonst als fester Bestandteil des Panegyrikus gelten darf, in Form der Ekphrasis bietet. Zwar ist es unwahrscheinlich, dass Kaldenbach den Marmorsaal selbst betreten hat, auch stimmen die in Danckerts de Rijs Portraits verewigten Könige und Königinnen nur teilweise mit Kaldenbachs Genealogie überein,873 und dennoch liest sich die Ekphrasis als intermedialer Verweis auf die von Wladislaw IV. geförderte architektonische Meisterleistung, über die Kaldenbach durch Adam Jarzebskis epische Beschreibung Warschaus Gościniec, abo krótkie opisanie Warszawy (1643) informiert gewesen sein könnte, die auch eine poetische Darstellung des Schlosses enthält874 – ohnehin stand er bereits während der Arbeiten am Marmorsaal mit Wladislaw IV. in Kontakt.875 Das reflektierende Moment, das der Ekphrasis als Poesie über ein (wenn auch fingiertes) Kunstwerk innewohnt, scheint sich Kaldenbach zunutze zu machen, um dem polnischen Machthaber die Möglichkeit vor Augen zu führen, seine Legitimation als Herrscher durch Kunst darzustellen und zu wahren. Wie tiefschichtig Kaldenbachs metapoetische Inszenierung von Herrschaft ist, zeigt sich daran, dass Vandalus die Ahnengalerie erst zum Hochzeitsschluss übergibt, die Legitimation also erst mit der Hochzeit eintritt. Die Liebe – hier in Person von bezeichnenderweise nicht nur Venus, sondern eben auch Mars – welche zum (diplomatischen) Eheschluss führt, scheint also die Bedingung für den legitimen Herrschaftsanspruch zu sein. Mit der Inversion der Friedensallegorie stellt Kaldenbach die Liebe einerseits als zivilisierende Kraft dar, andererseits transformiert er den Kriegsgott in einen zivilisierten Diplomaten. Besonders führt Kaldenbach vor Augen, wie die Königsschloss in Warschau]. 3. Aufl. Warschau 1986, S. 80–88. Virtuell betreten lässt sich der Marmorsaal im heutigen Zustand über die Homepage des Königsschlosses: http://www.ai360. pl/panoramy/85,103.html (Zugriff 17. September 2018). Zur Funktion des Saales vgl. auch Robert I. Frost: Obsequious Disrespect: the Problem of Royal Power in the Polish-Lithuanian Commonwealth under the Vasas, 1587–1668. In: The Polish-Lithuanian Monarchy in European Context, c. 1500–1795. Hg. von Richard Butterwick. Basingstoke, New York 2001, S. 150–171, hier S. 160 sowie Bömelburg, Das polnische Geschichtsdenken, S. 212–213 und ders., Frühneuzeitliche Nationen im östlichen Europa, S. 180. 873 Zur Rekonstruktion der Porträts und den darauf abgebildeten Herrschern, vgl. Lileyko, Władysławowski Pokój Marmurowy, S. 21–28. 874 Vgl. Adam Jarze̜bski: Gościniec, abo krótkie opisanie Warszawy. [Andenken oder kurze Beschreibung Warschaus]. Hg. von Wladyslaw Tomkiewicz. Warschau 1974, S. 95–100, besonders S. 97, V. 836–848. 875 Bereits 1641 schrieb Kaldenbach den polnischen Panegyrikus Holdowana Klio mit dem Nachruf Do Slawnej Nacjej Polskiej auf Wladislaw IV., vgl. Czarnecka, Deutsch-polnische Kommunikation, S. 375. Auszüge der Holdowana Klio sind mit Übersetzung abgedruckt bei Barner, Auswahl, S. 4–11.
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den Frieden erwirkende Liebe den notwendigen Raum zur kulturellen Entfaltung eröffnen kann und verbindet die topische Allegorie der Friedenshoffnung mit Kulturstiftung.
2.1.3 Historiographie in Kaldenbachs Preussische Venus (1645) Auch Kaldenbachs zweite ‚heroische‘ Venus-Dichtung ist anlässlich einer Fürstenhochzeit entstanden: Mit Die Preussische Venus (1645) bedachte er die ein Jahr vor Wladislaws Hochzeit geschlossene Ehe zwischen Luise Charlotte von Brandenburg (1617–1676), der ältesten Tochter des „Winterkönigs“ Friedrich V.,876 und Jacob Kettler von Kurland (1610–1681), die am 9. Oktober 1645 in Königsberg begangen wurde.877 Aus den Dankes- und Glückwunschschreiben an das Hochzeitspaar, die zusammen mit den Akten zur Planung und Durchführung der Feierlichkeiten im Geheimen Staatsarchiv von Berlin verwahrt werden, geht hervor, dass ranghohe Gäste wie etwa Johann Georg II. von Sachsen (1613–1680) und Herzog Adolf Friedrich I. von Mecklenburg-Schwerin (1588–1658) sowie die Kurfürstin Magdalena Sibylle von Sachsen (1617–1668), der Markgraf Christian von Brandenburg-Bayreuth (1581–1655) und Elisabeth Magdalena von Pommern (1580–1649) der Hochzeit beiwohnten.878 Zur Belustigung der Gäste, aber auch als
876 Vgl. Sophie Ruppel: Verbündete Rivalen. Geschwisterbeziehungen im Hochadel des 17. Jahrhunderts. Köln u. a. 2006, S. 355. 877 Zu Luise Charlotte vgl. August Robert Seraphim: Eine Schwester des Grossen Kurfürsten, Luise Charlotte, Markgräfin von Brandenburg, Herzogin von Kurland (1617–1676). Berlin 1901 (Quellen und Untersuchungen zur Geschichte des Hauses Hohenzollern 2), zu den Hochzeitsfestlichkeiten besonders S. 21–24. Auf diese Arbeit basiert auch der populärwissenschaftlich angelegte Artikel von Ulrich Schoenborn: Die Frau an Jakobs Seite. Luise Charlotte von Brandenburg, Herzogin von Kurland (1617–1676). In: LZA Vēstis 67,3–5 (2013), S. 119–132, der kaum Neues liefert. Zu Jacob Kettler dagegen Almut Bues (Hg.): Eine schwierige Erbschaft: die Verhandlungen nach dem Tode Herzog Jakobs von Kurland 1682/83. Wiesbaden 1995 (Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien 1), S. 7–11. 878 Die erhaltenen Akten zur Hochzeit liegen im Geheimen Staatsarchiv Stiftung Preußischer Kulturbesitz Berlin unter den Signaturen [BPH, Rep. 34, Nr. 101–104], Blattzahlen sind am oberen Rand mit Bleistift nachträglich hinzugefügt worden, darauf beziehen sich alle Blattangaben. [BPH, Rep. 34, Nr. 101] enthält u. a. das Konzept zur Ehevereinbarung, [BPH, Rep. 34, Nr. 102] die Dokumente und die Berechnung der Aussteuer und Ehegelder, wohingegen [BPH, Rep. 34, Nr. 103] die Dokumente über die Planung der Feierlichkeiten, die Fest- und Prozessionsordnung sowie Ergebnistabellen Spielordnung (Kartell) zu den Turnieren, aber eben auch die Glückwunschschreiben von Kurfürst Johann Georg II (Bl. 126r–126v), Herzog Adolf Friedrich I. von Mecklenburg-Schwerin (Bl. 127r–127v), Kurfürstin Magdalena Sibylle von Sachsen (Bl. 129r–130r), Markgraf Christian von Brandenburg-Bayreuth (Bl. 136r–136v) und einen französischen Brief von
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„Zucht und Schule der tapfferen Gemüther,“ in der die Teilnehmer „ihre Mannheit und angebohrnen Helden Sinn […] vorbereiten und außüben“879 sollten, wurde am 11. Oktober 1645 ein Kopfrennen mit Lanze, Chevellier und Degen, am 12. Oktober ein Ringrennen und am 13. Oktober ein Quintanrennen ausgetragen.880 In einem gedruckten Kartell881 sind, in 49 Paragraphen untergliedert, die Durchführungsbestimmungen aufgeführt, zu denen neben den Wettkampfregeln auch die einzuhaltende Etikette gehörte – etwa die Obligation, das Fluchen zu vermeiden und im Falle einer Verfehlung einen Obolus von fünf Reichstalern an die Jury zu entrichten882 oder die Pflicht, nur nüchtern am Turnier teilzunehmen.883 Überdies geht dem Kartell ein bisher unbekannter Druck von Simon Dachs Sonett Auff etzliche Ritterliche Ubungen bey jetztgedachten hohen Fürstl. Beylager884 voran, welches zu Dachs insgesamt vier Glückwunschgedichten auf die Hochzeit gehört.885 Neben Dachs Gedichten findet sich ein Sammeldruck mit den Beiträgen von Christfried Hegenitius, Michael Brauer, Ludwig Keppler (1607–1663) und Johann Stobaeus (1580–1646)886 und schließlich steuerte auch
Jakobs Tante Elisabeth Magdalena von Pommern (Bl. 137r) enthält. In [BPH, Rep. 34, Nr. 104] ist die Heimführung der Herzogin dokumentiert. 879 Vgl. GStA-PK [BPH, Rep. 34, Nr. 103], Bl. 113r. 880 Vgl. GStA-PK [BPH, Rep. 34, Nr. 103], Bl. 113v. Beim Ringrennen mussten mit leichter Lanze auf dem Boden drapierte oder aufgehängte Ringe durchstochen werden, während beim Quintanrennen eine Holzfigur getroffen werden musste, die verschieden geartet sein konnte. Beim Kopfrennen wurde dagegen Mohren- und Türkenköpfen mit verschiedenen Waffen zugesetzt, vgl. Claudia Schnitzer: Höfische Maskeraden: Funktion und Ausstattung von Verkleidungsdivertissements an deutschen Höfen der frühen Neuzeit. Tübingen 1999 (Frühe Neuzeit 53), S. 115. 881 In die sonst handschriftlichen Akten sind zwei gedruckte Exemplare des Kartells eingefügt, vgl. GStA-PK [BPH, Rep. 34, Nr. 103], Bl. 111r–119r und 120r–124v. 882 Vgl. GStA-PK [BPH, Rep. 34, Nr. 103], Bl. 114r, § 2. 883 Vgl. GStA-PK [BPH, Rep. 34, Nr. 103], Bl. 114v, § 15. 884 Vgl. GStA-PK [BPH, Rep. 34, Nr. 103], Bl. 111r bzw. 120r. Der Druck fehlt bei Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 3, S. 1076–1077. 885 Die deutschen Gedichte sind gesammelt abgedruckt in Simon Dach. Gedichte. Bd. 2. Weltliche Lieder. Gedichte an das kurfürstliche Haus. Dramatisches. Hg. von Walther Ziesemer. Halle/ Saale 1937 (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft 5), Nr. 125: Als […] Herr Jacob in Lieffland/ zu Churland […] wegen Hoch-Fürstl. Ehe-Beredung umb […] Louise Charlotte […] in eigener hohen Person befande; Nr. 126: Auff das darauff noch selbten Jahres den 10. WeinM. Daselbst Hoch Fürst-und Feyerlichst gehaltene Beylager und Nr. 128: Freuden Ode für Louise Charlotte geb. Maeggräfin zu Brandenburg. 1645. 18. Weinmonats. Das lateinische Gedicht Nempe srenatos spondentia sidera soles ist verzeichnet ebd., S. 360, Nr. 80. Zu Dachs Gedichten auf den Königsberger Hof vgl. auch David Heyde: Subjektkonstitution in der Lyrik Simon Dachs. Berlin 2010 (Frühe Neuzeit 155), S. 95. 886 Christi-Fried Hegenitius: Post nubila Phoebus; Michael Brauer: Hochzeitlicher Ehren-Wunsch Wegen des friedseligen Anfangs und frewdenreichen Fortgangs der noch immergrünenden und
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der lettische Pastor Johann Bürger ein Kompendium von Hochzeitsgedichten bei, welches zwei deutsche Sonette, ein lateinisches Epithalamium und eine Zugabe in lettischer Sprache umfasst.887 Mehrteilig ist auch Kaldenbachs Preussische Venus, die bisher nur aus seinen Deutschen Liedern und Getichten bekannt ist.888 Allerdings konnte ich einen bisher unbekannten Separatdruck ausfindig machen, der in der polnischen Nationalbibliothek verwahrt wird889 und bedeutende Unterschiede zur Version in Kaldenbachs späterer Sammlung aufweist. Dieser vom Königsberger Drucker Johann Reusner (1598–1666) verlegte Einzeldruck ist durch ein Titelkupfer mit einem ovalen Emblem geziert, welches mit zwei verschlungenen Händen und einem geflügelten Herz, darunter ein Totenschädel und im oberen Rund des Ovals in einer Strahlen-Mandorla das hebräische Jahwe-Tetragramm, den ehelichen Treuebund bis zum Tod versinnbildlicht.890 Wie in Christoph Kaldenbachs Deutschen Lieder und Getichten gliedert sich das Hochzeitsgedicht in (1) die „Vorrede“, einen Musenanruf aus je acht trochäischen Vierhebern, die je einen umarmenden Reim mit zwei Reimpaaren alternieren (abbaccdd), (2) ein paargereimtes, alexandrinisches Lobgedicht und (3) einen achtzehn Verse umfassenden lateinischen Abgesang. Im Separatdruck zählt das Lobgedicht jedoch mit 648 Alexandrinern genau fünfzig Verse mehr als
stets-blühenden Liebe; Ludwig Keppler: Aenigma Nuptiale Oder Hochzeit-Rätzlein und Johann Stobaeus: Fürstlicher Ruhm vnd Schutz/ Auß dem 20. Psalm des Königes Davids genommen Vnd Auff Fürstliches Beylager/ Königsberg, Reusner, 1645. GStA-PK [XX.HA,EM, Abt. 85 d 2, Nr. 10]. 887 Johannes Bürger: Fröliche Glückwünschung auff den Durchleuchtigen Hochgebohrnen Fürsten und Herrn/ Herrn Jacobum, In Lieffland zu Churland und Semgallen […] nach dero zu Königsberg in Preussen gehaltenem Beylager Mit […] Fräwlein Louise Charlotte, […] Princessin zu Brandenburg in Preussen/ […] Gestellet durch Iohannem Bürger/ der Lettischen Gemeine zu Lübaw bestalten Pastorem. Riga 1645. [VD17 7:704154H]. Das lettische Gedicht erwähnt Mara Grudule: Die Gelegenheitsdichtung in lettischer Sprache im 17. Jahrhundert. In: Paul Fleming und das literarische Feld der Stadt Tallinn in der Frühen Neuzeit. Zum Sprach-, Literatur- und Kulturkontakt einer Region. Hg. von Mari Tarvas. Würzburg 2011, S. 127–142, hier S. 129, Anm. 10. 888 Vgl. In: Christoph Kaldenbachs Deutsche Lieder und Getichte: In gewisse Bücher eingetheilet/ Editore Filio Cognomini. Tübingen 1683. [VD17 1:638593Y], S. 426–450. 889 Der ganze Titel lautet: Preussische Venus/ Oder Hochzeit-Getichte Dem Durchläuchtigen/ Hochgebornen Fürsten und Herren/ Herren/ JACOBO, In Liefflanden/ zu Curlanden und Semigallen/ Hertzogen. Mit Durchläuchtigsten/ Hochgebornen Fürstinn und Fräwlein/ Fräwlein/ Loysen Charlotten/ Marggräffinn zu Brandenburg/ in Preussen/ zu Gülich/ Cleve/ Berge/ Stetin/ Pommern/ der Cassuben/ und Wenden/ auch in Schlesien zu Crossen und Jägerndorff Herzoginn etc. etc. Vermählet / Geschrieben von Christoph Kaldenbachen. Anno 1645. Königsberg/ Gedruckt durch Johann Reusnern. Biblioteka Narodowa [SD XVII.4.2571 adl.]. Mir lag ein Scan des Mikrofischs mit der Signatur [mf. 81247] vor. 890 Vgl. Henkel/Schöne, Emblemata, Sp. 1016.
2.1 Mars-Allegorien in Christoph Kaldenbachs ‚Heroischen Getichten‘
295
die Version in Kaldenbachs Deutschen Lieder und Getichten, weshalb der frühe Druck im Anhang geboten wird, nach dem die Hochzeitsschrift im Folgenden zitiert wird. Dass Kaldenbach sich auch für dieses Hochzeitsgedicht an Statius’ Epithalamium für Stella und Violentilla (Silv. 1,2) orientiert, erhellt aus dem Musenanruf, der zugleich als Captatio Benevolentiae dient: Die erregte Glut und Flammen/ Die vor Statius empfand/ Als Violantillen Band/ Stella/ brachte dich zusammen; Die den Pharier entzündt/ Als/ Rom/ deine Fürsten sind/ Und ihr keusches Fest besungen/ Laß sich itzt in mir verjungen.891
Mit dem aktualisierenden Musenanruf scheint Kaldenbach referenziell seine Programmatik im Hinblick auf die lateinische Vorlage zu formulieren, die er sich im Geiste von Opitz’ imitatio-Lehre „verjung[t]“ aneignet. Nicht die Übersetzung, sondern die Imitation des Motivkomplexes um Venus, Mars und Amor scheint vordergründig. Kaldenbach beginnt, nachdem er erneut Apollos Musengunst erbittet (V. 1–24), mit einer Schilderung der kürzlich im Krieg verstorbenen Fürsten aus Preußen und Brandenburg (V. 25–44). Die Verwüstung stellt auch Venus fest, die in ihrem Wagen über Deutschland fliegt (V. 45–152) und dabei auf die Klagen der Braut, Luise Charlotte von Brandenburg aufmerksam wird, die ihrerseits die Zerstörung und die Toten des Kurfürstenhauses im Dreißigjährigen Krieg betrauert (V. 153–224). Charlotte Luise neuen Mut verleihend verspricht Venus, einen neuen Ehemann für sie zu finden und trägt Amor auf, Jacob Kettler von Kurland ausfindig zu machen (V. 225–276). Dem Befehl seiner Mutter Folge leistend findet Amor den Fürsten, der seine Ahnengalerie betrachtet (V. 277–352) und verkündet ihm Venus’ Wunsch, erklärt ihm aber auch den Nutzen der Ehe, der die Nachkommenschaft absichere und besiegelt die Liebe mit einem Pfeilschuss (V. 353–452). Daraufhin wird der Palast geschmückt, die Hochzeitsfeier vorbereitet und das Epithalamium mit Hochzeitswünschen geschlossen (V. 453–648). Die wie bei Statius um Venus und Cupido entwickelte Handlung von Kaldenbachs Epithalamium lässt sich in erstens einen Musenanruf (V. 1–44), zweitens einen Dialog zwischen Venus und Luise Charlotte von Brandenburg (V. 45–276), drittens einen Dialog zwischen Amor und Jacob Kettler von Kurland (V. 277–452) 891 Vgl. die „Vorrede“, V. 9–16.
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2 Venus und Mars: Die kulturstiftende Kraft der Liebe
und viertens die mythisierte Schilderung der Hochzeitsvorbereitungen und -feier (V. 453–648) strukturieren. Auffällig im Vergleich mit Statius ist aber besonders die von Kaldenbach beschriebene Motivation der Venus, die neue Liebe zu entfachen. Muss sie bei Statius noch geweckt und von ihrem Sohn überredet werden, trifft sie bei Kaldenbach auf der von ihr selbst unternommenen Fahrt über Preußen auf die Braut, deren Klagen die von Venus beobachtete Zerstörung bestätigen. Kaldenbach kodiert Statius’ erotische Allegorie der Venus-MarsEpisode um. Statius schildert die ungleiche Liebesverbindung, um die in Venus personifizierte Schönheit nach einer Liebesnacht mit Mars lasziv erwachend darzubieten und damit die zwischen dem Brautpaar noch zu erweckende Erotik zu versinnbildlichen: Forte, serenati qua stat plaga lactea caeli, Alma Venus thalamo pulsa modo nocte iacebat amplexu duro Getici resolute mariti.892
Dagegen personifiziert Kaldenbach mit Mars die Zerstörung durch den Dreißigjährigen Krieg: 90
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Wie? sprach sie bey sich selbst: Mag da denn nicht gebieten Fort keine Cypris mehr/ da Clotho so kan wüten? Mus Amors Köcher da nur ganz seyn unbemüht/ Wo mehr und mehr der Tod den grimmen Bogen zieht? Hier mus der thewre Held/ George Wilhelm/ schliessen Den so berühmten Lauff/ und seine Ruhstet wissen/ Die nicht gehoffte Stet/ wo seiner Samen Feld Der richte Pregel in gewisse Grentzen helt. Ihm steht zur Seiten da die Kron der Princessinnen/ Die Gräffin aus der Pfalz/ die andern Heroinnen Wie Luna sonst/ geht vor: und Marggraff Sigmund ihr/ Der gleich den Sternen führt der edlen Thaten Zier. Dort umb die lawe Spreh mus Marggraff Ernst verbleichen/ Den Rosen gleich/ die wo die volle Zeit erreichen Nicht ihr Verhengnis lest/ und jung noch leget hin. Unfern nach Norden zu/ wo die fast matte Dühn Mit nah geführter Flut die Semigallen trencket/ Ligt Herzog Friedrich in die letzte Grufft gesencket; Sein Bruder neben ihm/ das werthe Fürsten Paar/ Das Castorn gleich zu gehen/ und Pollux würdig war. […] Ich schwere bey der Glut/ für der nicht kan bestehn Der grosse Jupiter, die/ Mars/ in blossen Armen
892 Vgl. Statius, Silv. 1,2, V. 51–53.
2.1 Mars-Allegorien in Christoph Kaldenbachs ‚Heroischen Getichten‘
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Dir unschwer sieget ob/ daß auch mir zuerwarmen Noch Hertzen übrig sind. […] (V. 89–115)893
In der bedeutend amplifizierten Allegorie vergegenwärtigt Kaldenbach das Elend im Krieg: Beginnend mit Georg Wilhelm, dem Kurfürst und Markgraf von Brandenburg und Herzog in Preußen (1595–1640), bietet er mit der ältesten Tochter des Pfälzer Kurfürsten Friedrich IV., Louise Juliane Kurprinzessin der Pfalz (1594– 1640), Ernst Markgraf von Brandenburg, Titularherzog von Jägerndorf (1617–1642) und dem Sohn des Brandenburger Kurfürsten Johann Georg, Sigismund Markgraf von Brandenburg (1592–1640) sowie mit Friedrich Kettler, Herzog von Kurland und Semgallen (1569–1642) und dessen Bruder Wilhelm Kettler (1574–1640) eine tragische Heldenschau der verstorbenen Fürsten und Fürstinnen, welche den realgeschichtlichen Kontext historisierend mit der mythischen Rahmenhandlung zusammenführt. Diese Klage wird in der Diegese von Luise Charlotte wiederholt, wobei Ernst von Brandenburg, der sich 1641, also ein Jahr vor seinem Tode, mit Luise Charlotte verlobte,894 anagrammatisch hervorgehoben wird: Sie [Bellona] schnit den edlen Faden Euch/ liebster Vater/ ab/ den seiner Völker Schaden Je mehr und mehr betrübt. O Tag/ o finstres Licht/ An dem euch Königsberg erwieß die letzte Pflicht! Sie hat nicht wenig euch die schwere Zeit verkürtzt/ Herr Vetter/ dessen Sarck und sterbliches bestürzet Erst Cleve für sich sah. Ach! die mich Neffin hies/ Die Mutter ist auch hin. Bleibt denn noch wo ein Riß Zu klagen übrig mir? Aw ja, mein Licht und Leben/ Mein heller STERN/ Fürst ERNST mus auch die Welt begeben/ In so beliebter Blüt. […] (V. 169–179)
Die wehmütige Klage erhört Venus und verspricht der brandenburgischen Kurprinzessin einen neuen Ehemann: „Was je euch dort entgieng/ | Bringt Kurland wieder ein“ (V. 263–264) und entsendet ihren Sohn Amor die Liebe zu entfachen. Dieser findet Jacob Kettler, wie er „Der edlen Vorfahrt Ruhm aus künstlichen Gemählden“ (V. 289) betrachtet. In eklatanter Ähnlichkeit zum Hochzeitsgedicht auf Wladislaw IV. evoziert Kaldenbach eine Genealogie, aus der er den Herrschaftsanspruch des Bräutigams herleitet. So nennt er mit Gotthard Kettler „der erst den Meister-Stand | On Lieffland übergab/ und Herzog wurd genandt“ (V. 291–292), den 893 Hervorhebung durch den Vf. 894 Vgl. Seraphim, Eine Schwester des Grossen Kurfürsten, S. 15–18.
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2 Venus und Mars: Die kulturstiftende Kraft der Liebe
letzten Landmeister des Deutschen Ordens in Livland, der ab 1561 erster Herzog von Kurland und Semgallen wurde. Auch stellt Kaldenbach Jakob in eine Reihe mit Gotthards „Bruder Wilhelm/ den ihm Münster wol erwogen | Zum Bischoff außersehn“ (V. 301–302). Um die Ahnenfolge Jacob Kettlers jedoch noch weiter in die Vergangenheit zu rücken, inszeniert er das Brüderpaar Gotthard und Wilhelm, welches die Kettler-Dynastie in Kurland begründete, als Nachfolger der livländischen Stammesväter. 895 Er beginnt mit den ersten drei Bischöfen von Livland, „Meinard“ (V. 321), „Berthold“ (V. 323) und „Albrecht“ (V. 325) – gemeint ist Albert von Buxthoeven –, die in der livländischen Chronistik als die ersten christlichen Missionare im mittelalterlichen Livland gefeiert werden und daher als Stammväter der Livländer gelten.896 Ferner nennt er mit „Vinno“ (V. 331) und „Volquin“ (V. 335) die ersten Herrenmeister des Schwertordens897 und schließt mit „Herman“ (V. 337), dem Bruder von Albert von Buxthoeven.898 Während die Ahnengalerie einerseits ein wichtiges Zeugnis der livländischen Geschichtsschreibung ist und zugleich rhetorisch dazu dient, den Machtanspruch Jacob Kettlers zu festigen und seine hohe Abstammung zu bekunden, hebt Kaldenbach durch die Faktur der Genealogie den Nutzen der Kunst für eben diese Zwecke hervor. Nicht allein reiht er Jacob Kettler in Tradition der livländischen Gründungsväter ein; vielmehr beschreibt er, wie Jakob den Ruhm seiner Vorfahren „aus künstlichen Gemählden“ (V. 389) besieht und wie er „die gantze Reyh | Der alten Meisterschafft“ (V. 343–344) liest. Folglich betreibt Kaldenbach
895 Die Vielfalt der livländischen Chronistik wird bündig zusammengefasst von Ulrich Müller: Johann Lohmüller und seine livländische Chronik „Warhafig Histori“. Biographie des Autors, Interpretation und Edition des Werkes. Lüneburg 2001 (Schriften der Baltischen Historischen Kommission 10), S. 141–144, der neben der von ihm untersuchten Warhaften Histori sechzehn Chroniken seit Ende des zwölften Jahrhunderts bis ins siebzehnte Jahrhundert gesammelt hat. Ausführlich untersucht Stefan Donecker: Origines Livonorum. Frühneuzeitliche Hypothesen zur Herkunft der Esten und Letten. Köln u. a. 2017 (Quellen und Studien zur Baltischen Geschichte 25), die Rezeption der livländischen Chronistik in der Frühen Neuzeit. Da Kaldenbach für seine historiographische Genealogie der Livländer also auf einen reichen Quellenfundus zur livländischen Geschichte zurückgreifen konnte, ist eine direkte Quelle nicht ermittelbar. Eine herausragende Stellung für die Historiographie Livlands und deren Rezeption nimmt jedoch das um 1225 entstandene, lateinische Chonicon Livioniae von Heinrich von Lettland ein, auf welches hier für die Ahnenfolge Bezug genommen wird. Für Beiträge zur mittelalterlichen livländischen Historiographie sei stellvertretend verwiesen auf den Band von Matthias Thumser (Hg.): Geschichtsschreibung im mittelalterlichen Livland. Berlin 2011 (Schriften der Baltischen Historischen Kommission 18). 896 Vgl. Heinrich von Lettland: Livländische Chronik. Neu übersetzt von Albert Bauer. Darmstadt 1959 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 24), S. 3–21. 897 Ebd., S. 97–107. 898 Ebd., S. 253.
2.1 Mars-Allegorien in Christoph Kaldenbachs ‚Heroischen Getichten‘
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nicht primär Geschichtsschreibung, er referiert auf die Historiographie und beschwert – wie im Hochzeitsgedicht auf Wladislaw IV. – metatextuell den Nutzen der Kunst für den Herrscher. Indes setzt Kaldenbach die mit der Ahnenreihe evozierte Missionierung durch Krieg gegenüber der Heiratspolitik herab, welche im ‚modernen’ Zeitalter, d. h. in der Frühen Neuzeit, die Thronfolge legitimiert. Amor, der Jakob Kurland mit „Pfeil und Bogen“ (V. 350) zur Liebe zwingt, erklärt: Itzt macht ihm Amor auch die Herrschafft dieser Lande Verpflicht und unterthan. Wie viel hat diesem Strande Die Nachwelt doch vergunnt! der vor lag wüst und öd/ In tieffer Barbarey: itzt schön und lustig steht. Der Städt’ und Schlösser Baw/ der Felder Tracht und Grünen/ Der Sitten Maaß’ und Zucht war euch nicht/ ihr Sudinen/ Vor hie bewohnt/ bekandt. […] (V. 357–362)
Die eheliche Verbindung, welche hier mit Liebe gleichgesetzt wird, bewirkt, dass die Thronfolge nicht mehr umkämpft wird, sondern sich aus der Genealogie beider Herrschaftshäuser erschließt und deshalb zum Frieden führt. Ferner wird die Abkehr von feindlichen Auseinandersetzungen kausal mit den zivilisatorischen Errungenschaften des Städtebaus und der Agrarwirtschaft verbunden sowie mit Sittlichkeit und Zucht gleichgesetzt. Augenscheinlich stellt Kaldenbach die Liebe als friedensstiftend und den Frieden als zivilisierend dar, welcher durch die Heiratspolitik erhalten werden kann und die Ahnenreihe verlängert: […] Sucht ewres Stammes Art/ Der Kinder schöne Zucht/ die/ wann ihr hin itzt fahrt/ Euch überbleiben macht […] (V. 408–410)
2.1.4 Zusammenfassung: Versepische Hochzeitsdichtung bei Kaldenbach Im Hinblick auf die Liebeskonzeption bieten Kaldenbachs Hochzeitsgedichte Sarmatischer Hymen und Preussische Venus ein einheitliches Bild. Liebe wird als friedensstiftend und Frieden als kulturstiftend bzw. zivilisierend dargestellt. Die Allegorie der Liebe zwischen Venus und Mars ist folglich als Friedenshoffnung semantisiert. Liebe wird zusammen mit den furchtbaren Folgen des Krieges illustriert und die durch die Liebe entstehende Kunst und Kultur als zivilisatorischer Fortschritt inszeniert. Nach fast dreißig Jahren Krieg mahnt Kaldenbach die Herrscher implizit zum Frieden und führt ihnen die Möglichkeit vor Augen, sich in der
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2 Venus und Mars: Die kulturstiftende Kraft der Liebe
Kunst verewigen zu lassen und damit ihre Herrschaftsansprüche und die ihrer Nachfolger zu legitimieren. Klar erkennbar ist eine immanente Poetik des ‚carmen heroicums‘, des heroischen Gedichts, da Kaldenbach die panegyrischen Hochzeitsgedichte nicht allein aus der topischen Rhetorik des Epithalamiums entwickelt, sondern in beide Gedichte epostypische Elemente integriert. Mit dem Musenanruf in beiden Hochzeitsgedichten, den Genealogien der jagellionisch-piastischen bzw. livländischen Dynastien und besonders mit der Ekphrasis des von Vandalus übergebenen Wandteppichs nutzt Kaldenbach Komponenten, die über das feste Motivarsenal der laudierenden Epithalamien-Dichtung herausgehen, weshalb beide der hier vorgestellten Werke zu den „episch-panegyrischen, personalpolitisch oder dynastisch konzentrierten, jedenfalls anlassbezogenen Huldigungs- oder Festtagsdichtungen“ gezählt werden können, die Wilhelm Kühlmann ergänzend zu Heinz Hofmanns typologischer Auffächerung als Untergruppe der epischen Versdichtungen benennt.899 Dass Christoph Kaldenbach d. J., der die gesammelten Gedichte seines Vaters in dessen späten Schaffensphase herausgab, die epischen Elemente ebenfalls erkannte und sie deshalb als „heroisch“ klassifizierte, liegt auf der Hand, bedarf aber weiterer Untersuchungen, um am Beispiel von Kaldenbach das bisher nur spärlich erforschte Feld der epischen Versdichtungen im Barock weiter zu erhellen.900
899 Vgl. Wilhelm Kühlmann: Der Dreißigjährige Krieg im heroischen Epos. Der ‚Heldentod‘ (1622) des Magnus von Württemberg in Bernhard Dieterlins Magneis (1623). In: Daphnis 46,1–2 (2018), S. 143–187, hier S. 146, mit Bezug auf Heinz Hofmann: Von Africa über Bethlehem nach America: Das Epos in der neulateinischen Literatur. In: Von Göttern und Menschen erzählen. Formkonstanzen und Funktionswandel vormoderner Epik. Hg. von Jörg Rüpke. Stuttgart 2001 (Potsdamer Altertumswissenschaftliche Beiträge 4), S. 130–182. 900 Die neusten Beiträge zur Epik in der Frühen Neuzeit entstanden im Rahmen des Heidelberger Forschungsprojekts Epische Versdichtungen des ‚langen‘ 17. Jahrhunderts im deutschen Kulturraum, vgl. die Bände von Dirk Werle (Hg.): Erforschung von epischen Versdichtungen im langen 17. Jahrhundert (ca. 1570–1740). Themenschwerpunkt in ZfG N.F. 28,1 (2018) sowie Dirk Werle, Uwe Maximilian Korn, Katharina Worms (Hgg.): Das carmen heroicum in der frühen Neuzeit. (=Sonderheft Daphnis 46,1–2 (2018)), in denen nun endlich vielfältige exemplarische Studien zu epischen Versdichtungen in der Frühen Neuzeit versammelt sind – weitere sind in einem Sonderheft des Euphorion zu erwarten. Zur dennoch defizitären Forschungslage vgl. Dirk Werle, Uwe Maximilian Korn, Katharina Worms: Das carmen heroicum in der frühen Neuzeit. Zur Gattungsgeschichte epischer Versdichtungen im deutschen Kulturraum. In: Daphnis 46,1–2 (2018), S. 1–14, besonders S. 3–6.
2.2 Johann Francks Mythenrezeption in Der Neugeborene Cupido (1649)
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2.2 Johann Francks Mythenrezeption in Der Neugeborene Cupido (1649) Der aus einer alten niederlausitzischen Patrizierfamilie stammende, in Guben geborene Jurist Johann Franck (1618–1677) gehört zu den wenig bekannten Dichtern des Barocks, obwohl seine Biographie bereits seit der frühen Studie von Hugo Jentsch recht gut erforscht ist.901 Nach Stationen auf den Gymnasien in Guben, Cottbus, Stettin und Thorn war Franck ab 1638 in Königsberg immatrikuliert, kehrte jedoch schon 1640 nach einem abgebrochenen Studium der Rechtswissenschaften in seine Geburtsstadt Guben zurück, wo er zunächst als Anwalt tätig war, dann als Ratsherr berufen wurde und ab 1661 sogar das Amt des Bürgermeisters bekleidete.902 Francks literarisches Schaffen dagegen blieb bisher weitestgehend im Dunkeln, so ist zunächst die bibliographische Bestandsaufnahme in Gerhard Dünnhaupts Standardwerk zu ergänzen:903 Einen Einzeldruck von Francks Hochzeitsgedicht auf Christian Brehme (1613–1667) verwahrt die Ratsschulbibliothek Zwickau,904 außerdem sind Francks Poëtischer Wercke/ erster Theil 1659 in zweiter Auflage erschienen905 und auch von seiner Weit-erschallende[n] Zeitund Lob-Rede (1666) findet sich ein weiterer Abdruck in Elias Pistorius’ NiederLausitzischen Introduction-Predigt (1669).906 Zudem wies bereits Jentsch darauf
901 Vgl. Hugo Jentsch: Johann Franck von Guben. Quellenmäßige Beiträge zu der Geschichte seines Lebens und seiner Dichtung. Zur Feier seines zweihundertjährigen Todestages. Guben 1877 (Neues Lausitzisches Magazin 53), S. 1–58. Die Ergebnisse zur Biographie sind konzis zusammengefasst bei Alexander Völker: Johann Franck 1618–1677. In: Musik und Kirche 47 (1977), S. 157–163, hier S. 157, ferner auch bei Dietmar Peil: [Art./Red.] Franck. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 3, S. 521–522 und Markus Rathey: [Art.] Johann Franck. In: MGG Online, zuerst veröffentlicht 2001, online veröffentlicht 2016, https://www-1mgg-2online-1com-1t4lic0qu0b65.emedien3.sub. uni-hamburg.de/mgg/stable/24064 (Zugriff 22. August 2018). 902 Vgl. Völker, Johann Franck, S. 157. 903 Alle folgenden Angaben ergänzen Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 3, S. 1551–1553. 904 Johann Franck: Juengst eroeffnetes Schaeffer-Urtheil/ Bey der Hochzeit Herrn Christian Brehmens/ […] und Jungfrawen Ursulen Rosinen Schaeferin/ […]. Niederlausitz 1653. [VD17 125:022842G]. RSBZ [5.3.26.(109)] und [6.5.20.(65)]. 905 Johann Franck: Poëtischer Wercke/ erster Theil. Frankfurt/Oder 1659. [VD17 1:638663K]. 906 Johann Franck: Weit-erschallende Zeit- und Lob-Rede An den Hoch-würdigsten/ Durchlauchtigsten/ Hochgebohrnen Fürsten […] Christian/ Hertzogen zu Sachsen/ […] Am 6. und 7. April. dieses 1666sten Jahres […]. In: Elias Pistorius: Nieder-Lausitzische Introduction-Predigt/ […] Als Der Hochwürdigste/ […] Herr Christian/ Hertzog zu Sachsen/ […] Dero Ober-Ambts- und LandesRegierung im Marggraffthumb Nieder-Lausitz/ installirte und aufrichtete: […] 28. Martii/7. Aprilis Anno 1666. gehalten. Guben 1669. [VD17 12:140164X].
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2 Venus und Mars: Die kulturstiftende Kraft der Liebe
hin,907 dass in den drei Bänden der Liedersammlung Sorgen-Lägerin (1648)908 von Johann Weichmann (1620–1652) insgesamt 28 Lieder von Franck neben solchen von Martin Opitz (1597–1639), Georg Mylius (1618–1640) und Andreas Heinrich Buchholz (1607–1671) publiziert wurden. Ferner finden sich Widmungsgedichte von Franck auf die jeweiligen Autoren in den Gedichtsammlungen von Heinrich Held (Incipit: „Ich weiß nicht wem ich hier Herr Heldes Reime gleiche“)909 und Jacob Klinckebeils von Grünwald (Auf seines werthen Freundes/ Herrn Klinckebeils von Grünwald/ Buß-Psalmen).910 Vom auslaufenden siebzehnten bis zur Mitte des achzehnten Jahrhunderts wurden die geistlichen Lieder von Franck vielfach in Liederbücher aufgenommen, etwa in Johann David Meyers Geistliche Seelen-Freud: Oder Davidische Hauß-Capell (1692),911 in Georg Serpilius’ Regenspurgisches Lieder-Manual (fünf 907 Vgl. Jentsch, Johann Franck, Anm. 81, S. 49. 908 Johann Weichmann: Sorgen-Lägerin, das ist etliche Theile Geistlicher und Weltlicher zur Andacht und Ehren-Lust dienende Lieder. 3 Teile. Königsberg 1648. Besitzende Bibliotheken sind: Berlin, GStA-PK [XX.HA, StUB Königsberg, Nr. 108], Halberstadt, Gleimhaus [A 50], BSB München [2 Mus.pr. 99], UB Tübingen [De 1 a.2-OR], Niederländische NB [KW 10 B 15], London British Library [Music Collections G.75] und Biblioteka Jagiellońska Krakau [Mus.ant.pract. W 210 (1–3)]. Von den insgesamt 28 Liedern sind elf im ersten Teil, neun im zweiten und acht um dritten Teil abgedruckt, sie werden nachfolgend aus dem Digitalisat der BSB München mit Nummer und Incipit wiedergegeben. Erster Teil: 6. „Sey gnädig HErr/ sey gnädig“; 7. „Mein Herz du solt den HErrn“; 11. „Wer da will mag stolzes prangen“; 13. „Schönstes Bild der Schönen“; 14. „Worzu dient melancholieren“; 15. „O mein Argine“; 17. „Es war im eisenfesten Schloß“; 19. „Wer nicht liebt und wird doch geliebt“. Zweiter Teil: 6. „O Trawrigkeit! O Herzens-Sehnen!“; 7. „Mein liebstes Seelchen sey gegrüsset“; 8. „Celadon gieng einst voll Schmerzen“; 10. „Du Göttin meiner krancken Sinnen“; 12. „Denckt ihr nun ihr Otter-Zungen“; 13. „So solt ich dich darumb nicht lieben“; 16. „Edles Bild o du mein leben“; 17. „Nun ach! Die Zeit ist hie“; 18. „Sol mein Geist/ weil ich muß“. Dritter Teil: 4. „Unsre Müden augen-lieder“; 5. „Ihr Todten die ihr seyd verblichen“; 6. „Muß denn deiner zarten Wangen“; 8. „Galathe ich hätte zwar“; 9. „Der Liebes-Gott hat“; 13. „Du o mein hochbetrübter Sinn“; 14. „Charintis edles Lieb“; 15. „Liebste Seele meiner Seelen“; 16. Parodie: „O du Irrweg meiner Seelen“; 7. „Sollen meine Liebesschmerzen“; 20. „Ein ander liebe groß Getümmel“. Das Exemplar der BSB München trägt außerdem ein Widmungsschreiben des Herausgebers an Franck, in dem Weichmann die „verträuliche Freunschaft“ (unpaginiert, Digitalisat S. 4) als Grund für die besonders hohe Anzahl an Titeln von Franck in der Sammlung angibt. 909 Vgl. Heinrich Held: Henrich Heldes Deutscher Gedichte Vortrab. Frankfurt/Oder 1643. [VD17 1:637696X]. Unpaginiert, Digitalisat S. 19. Dasselbe in der zweiten Auflage von 1649. [VD17 3:005852V]. Unpaginiert, Digitalisat S. 19. 910 Vgl. Jacob Klinckebeils von Grünwald: Geistlicher Gedichte Erstes Dutzend / Mit gar lieblichen/ von Christoph Petern/ der Fürstl. Sächs. Stadt Guben/ bestalten Cantore, wolgesetzten Melodeyen. Guben 1663. [VD17 1:667477R]. Unpaginiert, Digitalisat S. 18. 911 Vgl. Johann David Meyer: Geistliche Seelen-Freud: Oder Davidische Hauß-Capell: Bestehend In Theils gantz Neu- und Andern mehr schönen/ auch Lehr- und Trost-reichen Arien und
2.2 Johann Francks Mythenrezeption in Der Neugeborene Cupido (1649)
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Auflagen zwischen 1710 und 1744),912 in zwei Gesangbücher, die zwei unterschiedlichen Neuauflagen von Johannis Lassensis’ Biblischer Weyrauch, Zum süssen Geruch Gottseliger Andachten (1723 und 1742)913 beigebunden sind, in Johann Wilhelm Hartmanns Neueröfneter Lieder-Schatz (1737)914 und in Christoph Lorenz Messerers Gespräch des Herzens Mit Gott (sechs Auflagen zwischen 1753 und 1769).915 Gesängen/ Zu Göttlichen Lobs Außbreit […] verfertiget/ Von Einem Davidischen Music-Freunde. Ulm 1692. [VD17 12:120504Y], darin „Jesu meine Freude“ (ebd., S. 238–240), „Alle Welt was kreucht und webet“ (ebd., S. 289–291) und „Herr ich habe mißgehandelt“ (ebd., S. 362–365) wiedergegeben. 912 Vgl. Georg Serpilius: Regenspurgisches Lieder-Manual: Mit alten und neuen Evangelischen Psalmen, Lobgesängen und geistlich-lieblichen Liedern vermehret […]. Regensburg 1710 [VD18 1092440X], 1712 [VD18 10924426] und 1714 [VD18 10924450]: „Drey Einigkeit“ (ebd., S. 214), „Jesu, meine Freude“ (ebd., S. 240), „Schmücke dich, o liebe Seele“ (ebd., S. 309) und „Du, o schönes Weltgebäude“ (ebd., S. 704). In der vierten und fünften Auflage (1738 [VD18 10283404] und 1744 [VD18 14826798]) mit veränderter Reihenfolge und um ein Lied ergänzt: „Drey Einigkeit“ (ebd., S. 155), „Jesu, meine Freude“ (ebd., S. 171), „O angst und leid, o traurigkeit“ (ebd., S. 198), „Schmücke dich, o liebe Seele“ (ebd., S. 225), „Du, o schönes Weltgebäude“ (ebd., S. 305) und „Unser müden augen-lieder“ (ebd., S. 512). 913 Vgl. Johannis Lassensis: Biblischer Weyrauch, Zum süssen Geruch Gottseliger Andachten: Aus H. Schrifft also zusammen gelesen, […] Mit einem Geistreichen Gesang-Buch und unterschiedlichen Kupffern versehen. Leipzig 1723. [VD18 11274859]. Darin: „Schmücke dich, o liebe Seele“ (ebd., S. 75), „Jesu, meine Freude“ (ebd., S. 104), „Du, o schönes Weltgebäude“ (ebd., S. 108) und in der Königsberger Ausgabe von 1742 [VD18 10831568] „Jesu, meine Freude“ (ebd., S. 28), „Herr Jesu, Licht der Heyden“ (ebd., S. 77), „Schmücke dich, o liebe Seele“ (ebd., S. 93), „Herr ich habe mißgehandelt“ (ebd., S. 129), „O angst und leid, o traurigkeit“ (ebd., S. 135) und „Du, o schönes Weltgebäude“ (ebd., S. 178). 914 Vgl. Johann Wilhelm Hartmann : Neueröfneter Lieder-Schatz von mehr als tausend Geistlichen lieblichen Liedern der evangelischen kirche älterer und neuer zeit: worinnen alle glaubenslehren und lebenspflichten […] nach der ordnung des heils enthalten mit der Hochgräflichund Hochfreyherrlich Degenfeldischen Herrschaft […]. Frankfurt/Leipzig 1737. [VD18 11006986]: „Herr Jesu, licht der heyden“ (Nr. 168), „Dieses ist der Tag der wonne“ (Nr. 231), „Schmücke dich, o liebe seele“ (Nr. 363), „Herr ich habe mißgehandelt“ (Nr. 396), „Jesu, meine Freude“ (Nr. 424), „Gott! der du in liebes-Brunst“ (Nr. 594), „Alle welt, was lebt und webet“ (Nr. 604), „Gott, du stiffter aller wonne“ (Nr. 607), „Auf, auf, mein geist“ (Nr. 623), „Unser müden augen-lieder“ (Nr. 691), „Bereite dich, mein herz“ (Nr. 811), „Des Herren huld gefällt“ (Nr. 836), „Leit mich, Herr, auf deinen wegen“ (Nr. 890) und „Du, o schönes welt-gebäude“ (Nr. 941). 915 Vgl. Christoph Lorenz Messerer: Gespräch des Herzens Mit Gott: In Psalmen und Lobgesängen Und geistlichen Lieblichen Liedern. Onolzbach 1753. [VD18 14663554]. Mit Neuauflagen 1754 [VD18 12439983], 1759 SBB-PK [Ei 5936] und Bibl. Michaeliskloster Hildesheim [GBA 1759], 1763 BSB-München [Liturg. 1361 n], 1768 Bibl. Michaeliskloster Hildesheim [GBA 1768], 1769 HAAB [232255 – A], darin: 30. „Herr Jesu! Licht der Heyden“, 268. „Jesu meine Freude“, 326. „Unsere müden augen-lieder“, 327. „Nun dancket mit mir alle Gott“, 364. „Ach! Was soll ich sünder machen?“, 365. „Du, o schnödes welt-gebäude!“ und 370. „Machs mit mir, Gott“.
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Während die weite zeitgenössische Verbreitung seiner Kirchenlieddichtungen Francks Bekanntheit auch nach seinem Tod belegt, wirken einige der Kirchenlieder – vor allem „Schmücke dich, o liebe Seele“ (EG 218),916 „Jesu, meine Freude“ (EG 396)917 sowie „Du, o schönes Weltgebäude“918 – bis heute in den evangelischen Kirchengesangbüchern und besonders in der Rezeption Johann Sebastian Bachs (1685–1750) fort. Die wenigen kleineren Arbeiten zu Francks geistlichem Œuvre haben eben solche Vertonungen prominenter Komponisten wie Bach oder auch Johann Crüger hervorgehoben919 und auf Ähnlichkeiten zu Paul Gerhardts (1607–1676) Liedschaffen aufmerksam gemacht.920 Francks weltliche Dichtung wurde dagegen nahezu gänzlich vernachlässigt, und auch seine Antikerezeption blieb bisher unerforscht. Sie soll deshalb nachstehend am Beispiel von Francks Hochzeitsgedicht Der Neugeborne Cupido (1649),921 einer übersetzerischen Aneignung von Daniel Heinsius’ neulateinischer Elegie De phallis, qui in littore Batauica reperiuntur (1610), untersucht werden.
916 Vgl. Konrad Klek: [Art.] ‚Schmücke dich, o schöne Seele‘. In: Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch 23. Hg. von Ilsabe Alpermann, Martin Evang. Göttingen 2017 (Handbuch zum Evangelischen Gesangbuch 3), S. 8–13. 917 Vgl. Martin Petzoldt: J. S. Bachs Bearbeitung des Liedes „Jesu, meine Freude“ von Johann Franck. In: Musik und Kirche 55 (1985), S. 213–225 sowie Markus Rathey: [Art.] ‚Jesu, meine Freude‘. In: Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch 16. Hg. von Wolfgang Herbst, Ilsabe Seibt. Göttingen 2011 (Handbuch zum Evangelischen Gesangbuch 3), S. 59–64. 918 Vgl. Christian Brunners: Johann Crüger (1598–1662) – Berliner Musiker und Kantor, lutherischer Lied- und Gesangbuchschöpfer. Aufsätze, Bildnisse, Textdokumente. Berlin 2012 (Kunst-, Musik- und Theaterwissenschaft 11), S. 47, der ebd., S. 47–49 darauf hinweist, dass Robert Schneider in seinem Weltbestseller Schlafes Bruder (1992) Francks Liedstrophe Du, o schönes Weltgebäude im Filter von Bachs Kreuzstabkantate rezipiert. Dabei geht er allerdings hauptsächlich auf die musikalische Variation ein, um die Wirkung von Crüger zu belegen. 919 Vgl. Brunners, Johann Crüger (1598–1662), S. 14. 920 Völker, Johann Franck, S. 158–160 und Lisbet Foss: Paul Gerhardt. Eine hymnologischkomparative Studie. Aus dem Dänischen übersetzt von Monika Wesemann. Kopenhagen 1995, S. 189. Zur geistlichen Dichtung Francks vgl. Judith P. Aikin: The ‘Vater-unser’ in all shapes and sizes: a poetical-musical-devotional exercise in the works of Johann Franck and Caspar Stieler. In: Gebetsliteratur der frühen Neuzeit als Hausfrömmigkeit. Funktionen und Formen in Deutschland und den Niederlanden. Hg. von Ferdinand van Ingen, Cornelia Niekus Moore. Wiesbaden 2001 (Wolfenbütteler Forschungen 92), S. 207–226, welche die Vaterunser-Vertonungen von Franck und Stieler vergleichend mustert und ihre Anwendung in der Glaubenspraxis diskutiert. 921 Vgl. Johann Franckens Geistliches Sion Das ist: Neue Geistl. Lieder/ und Psalmen: nebst beygefügten/ theils bekanten/ theils lieblichen neuen Melodeyen/ sambt der Vater-unsers-Harffe/ Wie auch sein Irrdischer Helicon/ Oder Lob- Lieb- und Leid-Getichte/ und dessen verneuerte Susanna/ Sambt hinzugethanen/ denen Liebhabern der deutschen Poesie dienlichen Erklährungen der Redens-Arten/ und Historien/ auch hierzu nöthigen Registern. Guben 1674. [VD17 12:120767W], S. 195–205.
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Dafür wird zunächst das programmatische Titelkupfer des Geistlichen Sion und irrdischen Helicons (1674) gemustert, ferner werden die Vorreden innerhalb der Sammlung auf die theoretischen Prämissen für Francks Mythenrezeption befragt. Anschließend sollen die praktischen Bearbeitungsstrategien der neulateinischen Vorlage kenntlich gemacht werden, um die immanente Poetologie in Francks Mythenrezeption herauszuarbeiten.
2.2.1 Francks Geistliches Sion und irrdischer Helicon – Zur Trennung von geistlicher und weltlicher Dichtung Die Struktur des Bandes, der in geistliche und weltliche Gedichte eingeteilt ist, wird bereits im Titel von Francks später Gedichtsammlung, das Geistliche[…] Sion Das ist: Neue Geistl. Lieder/ und Psalmen […] Wie auch sein Irrdischer Helicon/ Oder Lob- Lieb- und Leid-Getichte (1674), angedeutet. Dass dieser Titel programmatisch zu interpretieren ist, verdeutlicht das doppelseitige Titelkupfer von Francks Sammlung, welches offensichtlich dem Titelkupfer aus Constantin Christian Dedekinds Aelbianische Musen-Lust (1657)922 nachempfunden (Abb. 6) ist, da es ebenso wie bei Dedekind einen Doppelparnass zeigt (Abb. 7). Dedekinds Titelkupfer greift den bereits in der Antike verankerten Topos vom Dichterberg Parnassus/Helikon auf.923 Auf der linken Seite zeigt es den von den neun Musen bevölkerten Parnassus mit Apollo an der Spitze und rechts einen Dichterberg, auf dessen Gipfel Martin Opitz weilt, direkt darunter (von links nach rechts) Paul Fleming (1609–1640) und Gottfried Finckelthaus (1614–1648), in der mittleren Reihe Johann Rist (1607–1667), Andreas Tscherning (1611–1659) sowie Simon Dach (1605–1659) und in der untersten Reihe David Schirmer (1623–1686), Justus Sieber (1628–1695), Heinrich Held (1620–1659) und Dedekind (1628–1715) selbst.924 Zwischen den Gipfeln des antiken und des generationell
922 Vgl. Astrid Dröse: Paragonale Relationen? Das Verhältnis von Musik, Bild und Text in Titelkupfern barocker Liedsammlungen. In: Intermedialität in der Frühen Neuzeit. Formen, Funktionen, Konzepte. Hg. von Jörg Robert. Berlin, Boston 2017 (Frühe Neuzeit 209), S. 261–284, hier S. 264–265, Anm. 22, die das Titelkupfer von Dedekind bespricht und auf Francks Imitation hinweist, allerdings ohne auf das Verhältnis der beiden Titelkupfer einzugehen. Für das Titelkupfer vgl. Constantin Christian Dedekind: Die Aelbianische Musen-Lust. Faksimile-Druck der Ausg. Dresden, Seyferten, 1657. Hg. und eingeleitet von Gary C. Thomas. Bern u. a. 1991 (Nachdrucke deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts 47), S. 134. 923 Vgl. Dröse, Paragonale Relationen, S. 264–265. 924 Vgl. ebd., S. 270–271 sowie Braun, Thöne und Melodeyen, Arien und Canzonetten, S. 271–272 und Kohl, Poetologische Metaphern, S. 548–549.
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hierarchisierten deutschen Helikons925 fliegt das geflügelte Pferd Pegasus. Mit einem Spruchband umwunden, welches den Titel der Liedersammlung trägt, scheint es den Brückenschlag zwischen der Antike und den deutschen Poeten zu bilden – wie auch die sich vereinenden Dichterquellen Aganippe und Hippokrene andeuten. Die Verlegung des Parnassus per „translatio sedis musarum […] nach Sachsen“926 gelingt durch die dem sächsischen Elbsandsteingebirge ähnelnde Landschaft sowie durch die prädominant sächsischen Autoren, welche durch die zwischen antikem und deutschem Helikon heranlaufenden Dichter Enoch Glaser (1628–1668), Christoph Homburg (1607–1681), Johann Christoph Göring (1624– 1684) und Christoph Bernhard (1628–1692) ergänzt wird. Auf die Tradition weiterer zeitgenössischer Titelkupfer zurückgreifend ordnet sich Dedekind zugleich in die Reihe der bedeutendsten Poeten Deutschlands sowie in die Nachfolge von Opitz’ dichterischem Erbe ein.927 Johann Francks Doppelparnass lässt sich als geistliche Kontrafaktur von Dedekinds Titelkupfer bestimmen. Während der rechte Helikon von neun Dichterfiguren bevölkert ist, welche dieselben Musikinstrumente wie bei Dedekind spielen (einzig der am Orgelpositiv sitzende Dedekind ist nun nicht mehr dem Berg zugewandt, sondern blickt wie alle anderen Figuren zum Betrachter), sitzen auf dem linken Berg nicht die Musen und Apollo, sondern eine Engelschar unterhalb eines thronenden Gottvaters. Neben der imitierten Bildkomposition markieren die übernommenen Musikinstrumente der Dichter die Referenz zu Dedekinds Titelkupfer hinreichend, weshalb auch ohne die Namenszüge erkennbar ist, dass dieselben Dichter wie bei Dedekind gemeint sind. Indes ist die Spiegelung der Musikinstrumente teilweise aufgegeben: Hatten bei Dedekind die Instrumente der Dichter noch spiegelbildlich denen der Musen entsprochen, ist bei Franck die Leier von Opitz durch eine Harfe beim Gottvater ersetzt, mit der Franck auf seine Sammlung vertonter Variationen des Vaterunsers verweist.928 Auf dem Engelberg finden sich hingegen – wenn auch nicht alle an gespiegelter Stelle – Flemings Flöte (in der Mitte der zweiten Reihe), die Laute von Finckelthaus (erste Reihe rechts), die Posaune von Rist (zweite Reihe rechts), Tschernings Harfe (dritte
925 Vgl. Aurnhammer, Dichterbilder mit Martin Opitz, S. 63–65. 926 Vgl. Dröse, Paragonale Relationen, S. 269, Hervorhebung durch dieselbe. 927 Vgl. dazu ausführlich Aurnhammer, Dichterbilder mit Martin Opitz, S. 55–76, der die nach 1639 entstandenen Gruppenbilder sammelte und zeigen konnte, wie die Bezugnahme auf Opitz besonders in den frühen Titelkupfern für „den Anspruch auf dessen poetische Nachfolge“ (vgl. ebd., S. 74) und zur Nobilitierung der eigenen Werke genutzt wurde. 928 Vgl. Johann Franckens Hundert-Thönige Vater-Unsers-Harffe/: in die bekandten Melodeyen der Evangelischen Kirchen-Gesänge eingestimmet. […] Zum Druck befodert/ Durch Benedictum Müllern […]. Wittenberg 1646. [VD17 3:309259Q].
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Abb. 6: Peter Troschel, Kupfertitel zu Dedekinds Aelbanische Musen-Lust (1659).
Reihe links) und Schirmers Viola (zweite Reihe links). Die Triangel von Sieber findet in dem Schellenkranz (dritte Reihe rechts) seine Entsprechung, schließlich beschreibt Dedekind dessen Lieder als der „Drei Angel“ und „dem Päukgen“ gleichend.929 Allein von Helds Zink und Dedekinds Orgelpositiv sind keine übereinstimmenden Instrumente auf dem Engelberg abgebildet. Da ein Analogon für den Zink von Francks engem Freund Heinrich Held fehlt,930 muss offenbleiben, ob die Aussparung von Dedekinds Orgel als überbietender Seitenhieb zu werten ist, mit
929 Vgl. zu den Instrumenten den unpaginierten Vohrbericht zur Erläuterung des Kupfertituls „Woraus Die Ordnung des ganzen Werkes zugleich erhellet“. In: Dedekind, Die Aelbianische Musen-Lust, und Dröse, Paragonale Relationen, S. 273. 930 Vier Ehrengedichte an Franck in Helds Liedersammlung belegen die Freundschaft zwischen den Kirchenlieddichtern eindrücklich, vgl. in Heinrich Held: Henrich Heldes Deutscher Gedichte Vortrab. Frankfurt/Oder 1649. [VD17 3:005852V]: An Hn Johann Francken (S. 67–68), An Hn Johann Francken (S. 80–81), Hn Johann Francken (S. 83–84) und Abschied-Elegie an Hn Johann Francken (S. 195–197).
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dem sich Franck dafür revanchierte, auf Dedekinds Titelkupfer nicht gewürdigt worden zu sein, obwohl er zwei Lieder zur Aelbianischen Musen-Lust beitrug.931
Abb. 7: Titelkupfer aus Francks Geistliches Zion und irrdischer Helicon (1674).
Der Überbietungsgestus lässt sich derweil über die räumliche Position von Franck selbst bestimmen, der sich am unteren rechten Rand des linken Berges kniend mit gefalteten Händen und die Harfe vor sich niedergelegt in die Engelschar einreiht und damit den fehlenden neunten Engel darstellt. Der Lorbeerkranz auf seinem Haupt deutet seine Zugehörigkeit zur gekrönten Dichterschar an; die betende Geste sowie seine Verortung auf dem Titelkupfer verweisen auf einen himmlischen Boten Gottes, mit denen er sich als poeta vates, als Verkünder der göttlichen Botschaft, inszeniert. Folglich lassen sich die Angaben von Psalm 121
931 In Dedekind, Die Aelbianische Musen-Lust, sind die Lieder „Dänkt ihre nuhn ihr Otter Zungen“ (ebd. II–d–2) und „Ich verwundre mich nicht drüber“ (ebd. III–d–4) aufgenommen.
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(unten vor der Harfe Francks) und von Psalm 65 (oben neben dem Gottvater) als Selbstzitate interpretieren, die auf Francks eigene Psalmenparaphrasen referieren. So lauten die ersten Verse des 65. Psalms bei Franck: Zu Zion wird dein Nahm’ erhoben/ O Gott mit Lob und Preiß/ Und was die Leut’ hier angeloben/ Bezahlen sie mit Fleiß.932
Und auch die erste Strophe des 121. Psalms zeigt sich im Einklang mit der Raumsemantik des Titelkupfers, auf dem sich Franck knieend mit dem Blick gen Gipfel des Zions wendet: Wenn in den größten Ängsten Die Noth mir thut am bängsten/ Schwing ich mich bald empor Mit meiner Augen Flügeln/ Wo von den hohen Hügeln mir Hülffe blickt hervor.933
Den mythischen Musenberg durch einen christlichen überlagernd alludiert Franck die göttliche Inspirationskraft, welche ihm anstelle der paganen Mythologie zur Dichtung verhilft. Extrapoliert wird die Integration der antiken Bildtradition durch den Schwan, der Pegasus substituiert und sinnbildlich für Martin Luther steht934 und zugleich auf Martin Opitz verweist, der häufig auch 932 Vgl. Johann Franck: 65. Psalm. In: Franck, Geistliches Sion und irrdischer Helicon, S. 100– 102, hier S. 100–101. 933 Johann Franck: Psalm 121. In: Franck, Geistliches Sion und irrdischer Helicon, S. 146–147. 934 Abbildungen von Martin Luther mit oder als Schwan sind in der Lutherikonographie schon früh verankert und waren auch im 17. Jahrhundert präsent, vgl. Gerhard Seib (Hg.): Luther mit dem Schwan. Tod und Verklärung eines großen Mannes. Katalog zur Ausstellung in der Lutherhalle Wittenberg anläßlich des 450. Todestages von Martin Luther vom 21. Februar bis 10. November 1996. Berlin 1996. Die Darstellungstradition wird auf eine Prophezeiung des tschechischen Kirchenkritikers und Reformators Jan Hus (1369–1415) zurückgeführt, der einen Reformator vorhergesagt hatte, der hundert Jahre nach ihm folgen sollte, und sich dafür, seiner Namensetymologie entsprechend (husa ist tschechisch für Gans), als Gans beschrieb, den Nachfolger hingegen als Schwan oder Adler. Luther, der diese Prophezeiung kannte, inszenierte sich selbst als diesen Nachfolger und wird seither auch als oder mit Schwan dargestellt, vgl. Volkmar Joestel: Einleitung: Die Gans und der Schwan. Eine Allegorie auf Martin Luther. In: Luther mit dem Schwan. Tod und Verklärung eines großen Mannes. Katalog zur Ausstellung in der Lutherhalle Wittenberg anläßlich des 450. Todestages von Martin Luther vom 21. Februar bis 10. November 1996. Hg. von Gerhard Seib. Berlin 1996, S. 9–11, dort mit weiterer Forschungsliteratur. Mehrere Kupferstiche aus dem Künstlerkreis um Franck legen nahe, dass Franck mit dieser Lutherikonographie vertraut war. So ist bei Seib, Luther und der Schwan, neben einem Stich von Andreas
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Boberschwan genannt wurde.935 Die Einführung des deutschen Reformators dient offenkundig dazu, den von Martin Opitz im Buch von der Deutschen Poeterey (1624)936 so wirkungsvoll festgeschriebenen kulturpatriotischen imitatioGedanken, mit dem Opitz zum Wettstreit mit der antiken Dichtung aufgerufen hatte,937 auch auf das geistliche lateinische Schrifttum zu überführen, wie Franck in seiner Vorrede erklärt: Gnug ist es! daß zu den Zeiten des Sel. Herrn Lutheri, nebst dem hellen Lichte des Heil. Evangelij/ nicht allein die Zier- und Reinligkeit der edlen deutschen Sprache/ durch Verdolmetschung der H. Bibel/ sich noch klährer hervor gethan/ sondern auch bey unserm Gottes-Dienste/ bey welchem vorhero nichts/ als lateinische/ dem gemeinen manne unvernehmliche Psalmen gehöhret worden.938
Ferner semantisiert das vom Schwan getragene Spruchband, auf dem der verkürzte Titel der Sammlung zu lesen ist und jeden Berg entsprechend überschreibt, die Raumaufteilung des Bildes, indem es die Wirkungsbereiche der biblischen und der paganen Poesie klar voneinander trennt, ohne sie in ein konkurrierendes Verhältnis zu bringen. Aus dem erklärenden Vorwort geht hingegen unstrittig hervor, dass der geistlichen Dichtung der Vorzug zu geben sei: Das Lob und den Tadel/ Brauch und Mißbrauch der Poesie/ allhier nach der Länge anund außzuführen wäre unnötig/ und wiewohl es auch nöthig wäre/ so ware es doch zu
Tschernings Vetter David Tscherning (ebd., S. 93, Nr. 22) auch ein Kupferstich von Peter Troschel verzeichnet (ebd., S. 94, Nr. 26), der das Kupfertitel zur Aelbianischen Musen-Lust gestochen hatte, vgl. Dröse, Paragonale Relationen, S. 269. 935 Vgl. Rudolf Drux: ‚So singen wie der Boberschwan‘, ein Argumentationsmuster gelehrter Kommunikation im 17. Jahrhundert. In: Res Publica Litteratia. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. Hg. von Sebastian Neumeister, Conrad Wiedemann. Bd. 2. Wiesbaden 1987, S. 399–408. 936 Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey, S. 71, Z. 14–22: Eine guete art der vbung aber ist/ das wir vns zueweilen auß den Griechischen vnd Lateinischen Poeten etwas zue vbersetzen vornemen: dadurch denn die eigenschafft vnd glantz der wörter/ die menge der figuren/ vnd das vermögen auch dergleichen zue erfinden zue wege gebracht wird. Auff diese weise sind die Römer mit den Griechen/ vnd die newen scribenten mit den alten verfahren: so das sich Virgilius selber nicht geschämet/ gantze plätze auß andern zue entlehnen. 937 Vgl. dazu Thomas Borgstedt: Nachahmung und Nützlichkeit. Renaissancediskurse, Poeterey und Monumentsonette. In: Martin Opitz (1597–1639). Nachahmungspoetik und Lebenswelt. Hg. von Thomas Borgstedt, Walter Schmitz. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit 63), S. 53–72, besonders S. 64–65. Zur dichterischen Übersetzungspraxis bei Opitz vgl. im selben Band Rüdiger Zymner: Übersetzung und Sprachwechsel bei Martin Opitz, S. 99–111. 938 Vgl. Franck, Geistliches Sion und irrdischer Helicon, unpaginiert, Digitalisat S. 17–18.
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weitläuftig. […] Gnug ist es! daß/ (wie Hieronymus bezeuget) die H. Schrift selbst guten Theils in der Grund-Sprache/ in Poetische Versch-Arten verfasset seyn solle!939
Wie fünf Jahre später Sigmund von Birken in seiner Teutschen Rede-Bind- und Tichtkunst940 argumentiert auch Franck in der Tradition des Kirchenvaters Hieronymus mit der Lehre vom Primat und der Prärogative der Bibel vor der antiken Dichtung und führt apologetisch die Auffassung eines poetischen Alten Testaments, einer Bibelpoetik, an. Im panegyrischen Widmungsgedicht an Christian I. Herzog zu Sachsen-Merseburg (1615–1691) und dessen Frau Christiana von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg (1634–1701) konkretisiert Franck den Nutzen von christlicher bzw. weltlicher Poesie: Nun! Hier auch findet man/ theils/ was auf Sions-Zinnen Theils/ was am Helicon die keuschen Musen spinnen. Was? Sion? Ja! Dann hier steht Davids Psalmen-Werck/ Und jede fromme Sel‘ ist wie ein Sions-Berg […] Jedennoch wann ein Lied von großen Leuten singt/ So spricht man Daß es biß im Helicon erklingt.941
Die bildliche Trennung von geistlicher und weltlicher Poesie aus dem Titelkupfer aufnehmend verdeutlicht Franck im Widmungsgedicht erneut, dass die mythische Dichtung panegyrisch nutzbar gemacht werden darf, wohingegen die geistliche Dichtung der Erbauung und der Andacht dient. Als bekennender protestantischer Kirchenlieddichter im öffentlichen Amt des Bürgermeisters eignet sich Franck das Titelkupfer aus Dedekinds Aelbianischer Musen-Lust überbietend an, um die pagane Bildtradition in einen christlichen Kontext zu überführen. Nutzbar wird der Doppelparnass jedoch nicht allein, um die Wirkungsbereiche von weltlicher und geistlicher Poesie zu trennen, sondern auch, um die mythologische Inspiration christlich zu überblenden und im Sinne einer Bibelpoetik auf ein christliches Fundament zu stellen. Um jeglichem Vorwurf der Häresie vorzubeugen, fügt Franck zur Erklärung der mythologischen und biblischen Anspielungen fast ausnahmslos jedem Gedicht einen ausschweifenden Kommentarapparat bei. Erdmann Neumeister (1671–1756) hatte in seiner kritischen Übersicht der deutschen Dichter De Poetis Germanis (1695) im Abschnitt über Johann Franck, dessen Kirchenlieder er lobend hervorhebt, bereits die übermäßige Verwendung antiker Mythen und erklärender Kommentare beklagt: 939 Vgl. ebd., unpaginiert, Digitalisat S. 17. 940 Zu Birkens Poetik vgl. Verweyen, Daphnes Metamorphosen, S. 356–358. 941 Vgl. Johann Franck: An Höchst-geachte/ Ihr […] Hochfürstl. […] Durchl. In: Franck, Geistliches Sion und irrdischer Helicon, unpaginiert. Digitalisat S. 21–24, V. 13–16 und V. 43–44.
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[V]on allen, die es versuchten, hat er wohl am leichtesten die Psalmen Davids den Maßen der deutschen Lyra angepasst. Gewiss, er dichtet, während er den Sion besteigt, nicht wenig anmutiger, als wenn er selbst mitten auf dem Gipfel des Helikons steht. Das tut er wohl als einziger, aber wie lieblich, wie voll von Glut und Empfindungen! […] Damit aber kein Vorzug ohne Mangel sei, darf man bei unserem FRANCKE anmerken, daß er an mehreren Stellen Götzen und Fabeln der Heiden bis zum Erbrechen hereinstopft […]. Es ist dies eine unbegründete Überzeugung, und viele Dichter sind diesem Irrtum erlegen, daß keine deutsche Dichtung gut sei und in dem ihr zukommenden Glanz erstrahle, wenn sie nicht ganz und gar nach den Gesetzen der alten griechischen und lateinischen Dichter ausgerichtet sei. […] Für alle dichtet man, und von allen wünschet man verstanden zu werden; wie aber soll das geschehen, wenn in eine Dichtung beinahe alle Bücher der Metamorphosen und die ganze Ilias hineingestopfet werden? Davon kommt das bekannte Ungemach, daß wir gezwungen sind, Kommentare, die mehr als doppelt so umfänglich sind wie das Werk selber, beigeben zu müssen.942
In Neumeisters Polemik gegen Francks Mythengebrauch scheint die bereits bei Zeitgenossen, wie etwa Christian Weise (1642–1708), gedanklich vorbereitete frühaufklärerische Frontstellung gegen die verbale Hyperbolisierung in der Dichtung943 angelegt zu sein und wenn sie auch verunglimpfend wirkt, so ist sie doch nicht unbegründet. Mit den weitläufigen Kommentarapparaten inszeniert sich Franck als poeta doctus, als belesener Kenner der paganen Mythologie und der antiken Autoritäten. Entgegen Neumeisters Kritik scheint Franck jedoch gerade zu befürchten, dass die Kommentare nicht ausführlich genug seien, wie er im Vorwort zu den im Helicon befindlichen Hochzeitsgedichten erklärt: Wiewol der Autor gemeinet war/ die Erklährung derer in seinen Getichten begriffenen Gleichnüsse/ Sprüch-Wörter/ und poetischen Redensarten )(: etwas ausführlicher beyzufügen; So hat doch/ solches ins Werk zustellen/ die beliebte Kürze verhindert; derowegen der Günstige Leser mit denen kurzen Anmerckungen/ welche ihm dennoch zu fernerer Nachschlagung derer angeführten Autorum gleichsam als ein Index oder Register sein/ und reiferes Nachsinnen geben können/ vor dieses mal vergnüget seyn wolle.944
Aus dieser apologetischen Passage des Vorworts wird deutlich, dass Franck die paratextuellen Apparate neben seiner Inszenierung als Gelehrtendichter auch zur eindeutigen Kennzeichnung von den allegorisch und als Redeschmuck verwendeten Mythen nutzt, um den religiösen Glauben an die paganen Götter zu suspendieren. 942 Vgl. Erdmann Neumeister: De poetis germanicis. 1695. Hg. von Franz Heiduk, Günter Merwald. Bern, München 1978, S. 168. Hervorhebungen durch die Herausgeber. 943 Dazu grundlegend Schwind, Schwulst-Stil, und Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland: Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983 (Studien zur deutschen Literatur 75), speziell zu Weise vgl. S. 333–346. 944 Franck, Geistliches Sion und irrdischer Helicon, S. 194.
2.2 Johann Francks Mythenrezeption in Der Neugeborene Cupido (1649)
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2.2.2 Satire und Synthese bei Franck und Daniel Heinsius Das 214 paargereimte Alexandriner umfassende Hochzeitsgedicht Der Neugeborne Cupido (1649)945 schrieb Johann Franck auf die Hochzeit des brandenburgischen Ratsherrn und Rechtslizenziaten Peter Weitzken (1613–1665)946 mit Anna Catharina Seidel (1628–1688).947 In dem Epithalamium, welches gemäß den poetologischen Paratexten den hohen Anlass mythisiert, beschreibt Franck, wie Venus nach ihrer Geburt von Vulcanus umworben wird und sich auf eine Hochzeit mit ihm einlässt. Doch bereits während der Zeremonie stellt sie fest, dass der grobe Schmiedegott nicht ihren Ansprüchen genügt und so lässt sie sich von Mars verführen, was neun Monate später in der Geburt des Sohnes Cupido mündet. Kaum geboren versetzt Amor alles um sich herum und auch das Brautpaar in Liebe, bevor Hochzeitswünsche das Gedicht beschließen. Wie der Untertitel „Meistentheils aus Herrn Daniel Heinsii lateinischer Erzehlung“ zeigt, imitiert das Epithalamium ein lateinisches Gedicht des niederländischen Dichters und Poetologen Daniel Heinsius. Dabei handelt es sich um die Fabula ex occasione phallorum, qui in littore battavico reperiuntur,948 deren
945 Der vollständige Titel des Gedichts lautet: Auf Herrn Peter Weitzken J.U.L. Churfürstl. Brandenb. Raths. Und Jungfer Anna Catharinen Seidelin/ Hochzeitlichen Ehrentag/ Anno 1649 dargestellet. Meistentheils aus des Daniel Heinsii latheinischer Erzählung. In: Franck, Geistliches Sion und irrdischer Helicon, S. 195–205. 946 In Martin Friedrich Seidel: Icones Et Elogia Virorum Aliquot Praestantium: Qui Multum Studiis Suis Consiliisq[ue] Marchiam Olim Nostram Iuverunt Ac Illustrarunt/ Nunc Vero Tanquam Phoenices Ex Cineribus Redivivi Sistuntur Ex Collectione Martini Friderici Seidel Consiliarii Brandenburgici. 1671. [VD17 14:072399G], Nr. 96 befindet sich ein Porträt sowie ein kurzer Lebenslauf von Peter Weitzken. Vgl. auch die Neuausgabe der Bildersammlung von Georg Gottfried Küster (Hg.): Martin Friedrich Seidels Bilder-Sammlung, in welcher hundert gröstentheils in der Mark Brandenburg gebohrne, allerseits aber um dieselbe wohlverdiente Männer vorgestellet werden, mit beygefügter Erläuterung, in welcher Derselben merkwürdigste Lebens-Umstände und Schrifften erzehlet werden. Berlin 1751, S. 197. 947 Anna Catharina Seidel ist vermutlich eine verwandte des bekannten Historikers Martin Friedrich Seidel (1621–1693), vgl. Susanne Knackmuß: ‚Scholae columba‘ und ‚Berlinische Siren und KirchenNachtigal‘. Johann Crüger am Berlinischen Gymnasium zum Grauen Kloster. Schüler (1616–1620) und Lehrer (1622–1662): In: ‚… die Edle und niemals genug gepriesene MUSICA‘. Johann Crüger – (nicht nur) der Komponist Paul Gerhardts. Hg. von Günter Balders, Christian Brunners. Berlin 2014 (Beiträge der Paul-Gerhardt-Gesellschaft 8), S. 145–246, hier S. 164, Anm. 45. 948 Das Gedicht wurde erstmals veröffentlicht in Daniel Heinsius: Poematum nova editio, auctior emendatiorque. Leiden 1606. S. 123–128 und findet sich dann fortlaufend in den weiteren Auflagen der Poemata. Vgl. Beate Czapla: Daniel Heinsius’ Mythenauffassung und Erzähltechnik in seinen aitiologischen Fabulae und die Apologie erotischer Dichtung. In: Daniel Heinsius. klas-
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gattungsbeschreibenden Titel Fabula Franck mit „Erzehlung“ übersetzt.949 Sie gehört zu Heinsius’ aitiologisch-mythologischen Gedichten, in denen er kombinatorische Techniken der Mythenrezeption erprobt, indem er verschiedene Mythen zusammenfügt oder mit Neuerfindungen ausschmückt.950 In der Fabula ex occasione phallorum bietet Heinsius eine innovative Mythensynthese aus der Venus-Mars-Episode und der Adonis-Metamorphose nach Ovid.951 Diese präsentiert er als Vision, die ihm im Traum von Cupido – der ihm die Annalen der Venus überreicht – eingegeben wird (V. 1–38). In den Annalen wird Venus’ Geburt erzählt (V. 39–53), ferner, wie sie durch Amor in Liebe zu Vulcanus entbrennt und wie dieser sich in Venus verliebt (V. 54–69). Schon bei der Hochzeit wird Venus jedoch klar, dass Vulcanus, der sich als tollpatschig und sittenlos präsentiert, nicht der richtige für sie ist und so lässt sie sich vom Kriegsgott Mars umwerben (V. 70–81). Neun Monate nach der Hochzeit wird Cupido geboren – offen bleibt, ob Vulcanus oder Mars Vater des Götterkinds ist – und er beginnt, nachdem Vulcanus dem Venussohn auf einem Fest der Opalien einen Bogen kauft, alles in Liebe zu versetzen (V. 82–119). Auch seine Mutter wird nicht verschont; sie entflammt in Liebe zu Adonis und verführt ihn, als sie ihn beim Baden erblickt (V. 120–176). Das Liebesglück ist jedoch nicht von langer Dauer, da Mars den Jüngling aus Eifersucht tötet (V. 177–186). Anders als bei Ovid lässt Venus aus dem toten Adonis nicht eine Anemone, sondern aus seiner Leiste Zwiebeln entstehen, die in Zukunft als Mittel gegen Neid genutzt werden sollen. In der Diegese werden diese Zwiebeln dann von der mythologischen Szenerie in das Bataverland, das heutige Betuwe (Niederlande), transportiert. Dafür bemüht Heinsius eine weitere Mythensynthese: Medea, die nach dem Mord an ihren Kindern bekanntlich mit dem Drachenwagen von Korinth nach Athen flieht,952 lässt die Zwiebeln über dem Bataverland fallen (V. 186– 200), wodurch die adonische Metamorphose in die kulturelle Heimat von Heinsius überführt wird.
sischer Philologe und Poet. Hg. von Eckard Lefèvre, Eckart Schäfer. Tübingen 2008 (NeoLatina 13), S. 75–96, hier S. 75. 949 Im Kommentarapparat nennt Franck seine Quelle zwar ein „Hochzeits-Getichte“ (Franck, Geistliches Sion und irrdischer Helicon, S. 204), jedoch besteht kein Zweifel, dass die Fabula ex occasione phallorum Franck als Prätext dient, wie nachfolgend gezeigt wird. 950 Vgl. Czapla, Heinsius’ Mythenauffassung, S. 76. 951 Für eine ausführlichere Inhaltsangabe vgl. Czapla, Heinsius’ Mythenauffassung, S. 85–88. 952 Vgl. Euripides: Medea. Hg. und übers. von Johann Jakob Christian Donner. Stuttgart 1997, V. 1291–1296.
2.2 Johann Francks Mythenrezeption in Der Neugeborene Cupido (1649)
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2.2.3 Kulturstiftende Liebe: Eine satirische Herabsetzung des Schmiedegottes Vulcanus Eine vergleichende Lektüre des lateinischen Prätextes und der deutschen Nachdichtung zeigt, dass Franck die Vorlage inhaltlich und motivisch nachahmt und sich auch in einem übersetzerischen Verfahren, das zwischen wörtlicher Übersetzung, Ausweitung und Reduktion changiert, sprachlich an Heinsius orientiert. Stark raffend variiert er die Eingangsverse von Heinsius, die das nachfolgende Geschehen der fingierten Traumvision zu einer allegorischen, göttlichen Botschaft verklären953: In Possen wird erzehlt/ sonst keinem mehr bewust/ Als bloß den Göttern nur/ und was sie selbst zur Lust Uns Tichtern offenbart; die wir all’ Händel wissen/ Und ihre Heimligkeit auf Blätter schreiben müssen/ Als Secretarien. Wir sind hierzu bestellt Zu schreiben/ wenn/ und wo/ und wie auf diese Welt Cupido sey gezeugt. (V. 1–7)
Ohne selbst eine Traumvision darzustellen – und dadurch deutlich expliziter als Heinsius – überhöht Franck die Rolle der Dichter, die er als Mittler zwischen Menschen und Göttern inszeniert. Nach dem poetologischen Beginn, der den allegorischen Charakter der weiteren Handlung festlegt, bietet Franck (V. 7–166) eine amplifizierende Übersetzung von Heinsius (V. 30–119), bevor er mit einer dem Anlass entsprechenden nupitalen Wendung das Epithalamium beschließt. Dicht am Prätext orientiert übersetzt Franck den Beginn von Heinsius’ Traumvision, welcher alternativ zur humanbiologischen Geburt eine gebärende Erde beschreibt:
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[…] Es war das Ehlich seyn/ Das Band der keuschen Lieb’/ und Joch der süssen Pein Noch allen unbekant. Man wuste nichts vom Weibe. Zwar Venus kam zur Welt/ doch nicht aus Mutter-Leibe: Der Schaum war Mutter hier. Es bracht‘ ein Erden-Kloß Kraut und auch Menschen vor. Kein Wald war Kinder-loß. Vom Baume kunte man Obst und auch Knaben schütteln. Wenn man ein’ Eiche nur berührete mit Knütteln Fiel Kind und Eichel ab. Es war in einem Ast Die zweyerley Geburth zusammen eingefast.
953 Heinsius, Fabula ex occasione phallorum, V. 1–29.
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Wer Erben haben wolt’ ist in den Wald gelauffen Und schlug nur an den Stamm/ da fielen sie mit Hauffen; Drauf hat ein jeder bald den Kober vollgefüllt/ Das Best herauß geklaubt; jedoch blieb alles wild/ Biß Venus erst hernach es hat also bestellet/ Das Mensch/ und Vieh/ und Wild/ und Vogel sich gesellet. (V. 13–28)
Während Franck die Dauer von Venus’ Geburt tilgt954 und dafür die Entstehung der Menschen aus Erde und Pflanzen ausschmückt, negiert er die Institution der Ehe im archaischen Zeitalter und betont die unzivilisierte Lebensweise der Arkadier: „jedoch blieb alles wild“ (V. 26). Dafür schließt er an die ebenfalls bei Heinsius alludierte topische Vorstellung eines vorzeitlichen, primitiven Arkadiens an, die sich bereits bei Apollonius von Rhodos, Vergil und Ovid findet, später aber auch von Seneca, Statius und Nonnos weiter tradiert wurde.955 Dass Franck explizit an diesen Topos – genauer gesagt an Statius’ Beschreibung des unzivilisierten Arkadiens – anschließt, wird durch eine Anmerkung im Kommentarapparat nachgewiesen. Franck exponiert die rückständige Lebensweise der Arkadier und berichtet, dass die „Heydnischen Poeten von den Bäurischen und groben Arcardern […] fabuliret haben. Daß nemlich/ weil damals noch kein Ehestand gewesen wäre/ sie von denen Eichen/ wann sie geklopffet worden/ zugleich mit herab gefallen wären“.956 Dafür beruft er sich auf Erasmus von Rotterdams Adagia und zitiert zusätzlich aus Statius’ Thebais (IV, 279–282): – – Nondum arva domusq’ nec urbes, Connubiisq modus. Qvcercus, Lauriq’ ferebant Cruda puerperia, ac populos umbrosa creavit Fraxinus, & faetâ viridis puer excidit orno.957
Die Anmerkung, die kommunikativ auf die Vorlage des Prätextes hinweist, bezeugt paratextuell Francks Verständnis einer zweischichtigen Intertextualität. Auf der Folie von Statius’ Thebais eignet sich Franck das Gedicht von Heinsius an und schreibt dem intertextuellen Verweis bei Heinsius eine komisierende, den Glauben an die pagane Mythologie negierende Wirkung zu, wenn er berichtet, schon Heinsius habe sich „[d]ieses Scherzes“958 bedient. Obgleich Heinsius den 954 Heinsius, Fabula ex occasione phallorum, V. 41–42. 955 Vgl. Judith Steiniger: P. Papinius Statius, Thebais. Kommentar zu Buch 4, 1–344. Stuttgart 2005 (Altertumswissenschaftliches Kolloquium 14), S. 34–38, besonders S. 34. 956 Franck, Geistliches Sion und irrdischer Helicon, S. 204. 957 Ebd., S. 204. 958 Ebd., S. 204.
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Mythos der arkadischen Baumgeburten wohl eher aus Nonnos’ Dionysika übernommen haben dürfte, denen er seine Dissertation widmete,959 verdeutlicht die Anmerkung, dass Franck den intertextuellen Bezug herstellt, um Arkadien satirisch als unkultiviert herabzusetzen und die allegorische Bedeutung der nachfolgenden Handlung hervorzuheben. Die satirisch als verroht dargestellten Arkadier kontrastiert Franck indes mit der zivilisierend wirkenden Liebe, die durch Venus auf die Erde gebracht wird: Biß Venus erst hernach es hat also bestellet/ Das Mensch/ und Vieh/ und Wild/ und Vogel sich gesellet. Die schöne Venus hat es erst zu Stande bracht/ Und zu der Eh‘ allhier die erste Bahn gemacht. Die schöne Venus schafft das unser Stamm nicht minder Auf Kindes-Kindes-Kind/ und Kindes-Kindes-Kinder In ungezehlter Zahl und langer Ordnung steigt/ Und das ein jeder Mensch itzt seines gleichen zeigt. (V. 27–34)960
Mit der ausgedehnten Übersetzung, welche die anaphorisch-parallelistische Struktur der lateinischen Vorlage um einen weiteren Parallelismus ergänzt und die beschriebene, durch Venus entstehende Fortpflanzung mimetisch durch das Polysyndeton „Das Mensch/ und Vieh/ und Wild/ und Vogel sich gesellet“ (V. 28) und das Polyptoton „Kindes-Kindes-Kind/ und Kindes-Kindes-Kinder“ (V. 32) abbildet, überbietet Franck die lateinische Vorlage stilistisch und akzentuiert die kultivierende Macht der Liebe noch deutlicher. Die aemulativen Tendenzen in der Übersetzung, die komisierende Variation der Ehe-Episode sowie die Konzeption der kulturstiftenden Liebe sind auch im weiteren Verlauf des Hochzeitsgedichts anhand der Beschreibung des verliebten Vulcanus nachzuvollziehen, die Franck auf die doppelte Länge amplifiziert: 45
Vulcanus sahe sie ward drauff in Pein gesetzet/ Er zog sie weit! weit! vor den Oefen in Sican Und wo sie ging und stund/ da folgt‘ er ihrer Bahn. 959 Darauf verweist bereits Czapla, Heinsius’ Mythenauffassung, S. 86, Anm. 38. Zur Dissertation von Heinsius vgl. Ursula Gärtner: Vom Rausch des praeco immodicus zur Literaturkritik: Heinsius und seine Dissertatio zu Nonnos. In Daniel Heinsius. klassischer Philologe und Poet. Hg. von Eckard Lefèvre, Eckart Schäfer. Tübingen 2008 (NeoLatina 13), S. 57–74. 960 Vgl. Heinsius, Fabula ex occasione phallorum, V. 48–51: Pulchra Venus tandem pecudes hominesque feras Et placido mixtas foedere iunxit aves. Pulchra Venus seros fecit superesse nepotes, Et similem iußit quemque creare sibi.
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Er brante hefftiger für grosser Liebes-Hitze Als selbst sein Lipara/ (b)961 und seines Etna Spitze/ Die Liebe macht‘ ihn ganz der alten Sorgen frey; Er dacht‘ auf sonst nichts mehr als auf die Löffeley. All‘ Arbeit lag und schlief: Es wurden Catans Funcken (c) Durch Amors Feur verlescht: Die schwartzen Essen funcken Weil niemand bessern wolt‘: es lagen hier und dar Die Bälge gar zerstickt/ die Mäuß‘ in grosser Schaar Die hatten drein genist: Das Wasser sambt den Zangen Lag auf den Flur verschütt‘: Das Loch/ das Rauch sol fangen War von der Spinn‘ umwebt: den Amboß fraß der Rust: Er selbst/ der Mulciber/ ward nicht mehr voller Wust: Er strehlet seinen Bart mit einer alten Striegel/ Und will nu schöne thun; auch/ weil er keinen Spiegel In seinen Hütten hat/ sieht er ins Wasser hin/ Spricht drauf: Es wundert mich das ich so hübsch noch bin. Den Kohlen ward er feind/ weil sie so häßlich schwärtzen/ Und das er hinckend ist/ das daß kränckt ihn im Hertzen! Damit ihm nu hierumb nicht würd‘ ein Korb ertheilt Hat er zur Buhlschafft nie/ als nur bey Nacht/ geeilt. Doch mercht‘ es Cypris bald und als sie nu beym Lichte Stracks erstlich hatt‘ erblickt sein schmutziges Gesichte/ Und den versengten Barth; da ward sie gar verzagt/ Und fehlte gar nicht viel/ sie hätte nein gesagt.962 (V. 44–70)
961 Die Buchstaben in Klammern verweisen auf den Kommentarapparat von Franck. 962 Vgl. mit Fabula ex occasione phallorum, V. 55–70: Omnia cesserunt (quid enim non cederet illi, Gratius & quo nil fortius orbis habet?) Omnia cesserunt, cedit Cythereia mater, [62] Quaeque alios gaudet laedere, laesa gemit. Mulciber hanc coepit Siculis praeferre caminis, Et calidum toto pectore vulnus alit. Plus Liparetota, plus hoc accenditur AEtna: Et veteres curas pectore pellit amor. Omnia cessebant, flammamque extinxerat ignis, Nec solitum quisquam continuabat opus. Sub pedibus frustra folles iacuere solute: Forcipe cum lapso lapsa iacebat aqua. Iam metuit furuus, metuit iam claudus haberi Et vitium mauult dißimulare suum. Illa quidem nollet, quoties fuligine pectus Aspicit, et nigras ignibus esse manus,
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Franck ahmt die parallelistische Dopplung „Plus Liparetota, plus […] AEtna“963 in einer vorangestellten Geminatio „Er zog sie weit! weit! vor den Oefen in Sican“ (V. 45) nach und ergänzt das Oxymoron „flammamque extinxerat ignis“,964 mit einer Synekdoche für Vulcanus’ Schmiede im Ätna: „Es wurden Catans Funcken (c.) | Durch Amors Feur verlescht“ (V. 51–52). Der stilistischen Nachahmung steht die inhaltliche Erweiterung von Vulcanus’ kosmetischen Bemühungen entgegen, durch die Franck die ironische Komik der ungleichen Götterhochzeit intensiviert. Besonders die Betrachtung im Wasserspiegel, die Vulcanus hyperbolisch selbstbewusst kommentiert: „Es wundert mich das ich so hübsch noch bin“ (V. 62), verschärft die ironisch-spottende Darstellung. Auch die Schilderung seiner ausschließlich nachts unternommenen Besuche (V. 65–66) verdeutlicht, wie aussichtslos alle Schönheitsrituale sind, wird Venus doch sogar noch bei Nacht der Hässlichkeit ihres Verehrers gewahr. Spöttisch setzt Franck mit der satirischen Rezeption der Dreieckskonstellation zwischen Mars, Venus und Vulcanus das heidnische Pantheon herab und entledigt sich metatextuell des Vorwurfs der Götterverehrung. Während sich die satirischen Tendenzen, die Franck durch die Darstellung der Hässlichkeit evoziert, auch in anderen Hochzeitsgedichten nachweisen lassen,965 zeigt zusätzlich die verunglimpfende Synekdoche: „Gleich kahm ein Fest heran/ da die verlognen Grichen | Der Opis opfferten/ und nach dem Tempel schlichen“ (V. 131–132), dass Franck durchaus auf eine Diffamierung des heidnischen Götterkults abzielt. 963 Heinsius, Fabula ex occasione phallorum, V. 60. 964 Ebd., V. 62. 965 Vgl. Johann Francks Hochzeitsgedicht Auf Herrn Christian Brehmen […] und Annen Rosinen Schäfferin Hochzeit-Fest. Anno 1653. In: Franck, Geistliches Sion und irrdischer Helicon, S. 234– 244, in dem Franck das Paris-Urteil satirisch rezipiert und Venus als besonders hässlich darstellt: Hingegen Scotia steht dar/ am Häupte kahl; Und um den Busen schlaff; und ihrer Augen strahl Sieht trüb und düster aus/ und weil sie offt gebohren/ Hat ihrer Wangen Kalck sich allgemach verlohren. (V. 121–124) Und ferner Francks Hochzeitslied Auf Herrn Valentin Wernickes/ und Jungfr. Annen Ottilien Hofmannin Hochzeit […]. In: Franck, Geistliches Sion und irrdischer Helicon, S. 334–335, in dem Franck in einer weiteren satirischen Paris-Rezeption Athene als hässlich beschreibt: Auch/ so bald die dürren Knochen Er an Pallas Leibe fand Ward der Preis ihr abgesprochen Und der Venus zuerkannt. (V. 25–28)
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Dagegen prononciert die dargestellte Schönheitspflege erneut die zivilisierende Wirkung der Liebe, da Vulcanus, der sonst abgeschieden von den anderen Göttern lebt, beginnt, sich aufgrund seiner Liebe zu Venus mit den gesellschaftlichen Konventionen auseinanderzusetzen und versucht, seinen von der Arbeit gezeichneten Körper entsprechend des Schönheitsideals herzurichten. Fördert die vergleichende Lektüre besonders Francks Übernahmen aus dem lateinischen Prätext zutage, so lassen sich die Unterschiede zwischen der Vorlage und der übersetzerischen Rezeption und damit auch die Dialogizität der beiden Gedichte anhand eines Strukturvergleichs sowie durch einen Abgleich mit den idealtypischen Mythenverläufen nachverfolgen.
2.2.4 Mythensynthese der Venus-Mars-Episode mit dem Paris-Urteil Heinsius’ kunstvolle, wenn auch teils widersprüchliche Synthese aus der VenusMars- und der Venus-Adonis-Episode966 spielt mit der verspottenden Beschreibung des Vulcanus zunächst auf die Verstoßung des Schmiedegotts durch seine Mutter an (Sequenz I,1: Vulcan wird verstoßen und gerettet). Seine Rache (Sequenz I,2: Vulcanus schickt den verfluchten Thron an Hera) wird jedoch ausgeklammert und auch Junos bannlösendes Versprechen, mit dem die Ehe zwischen Vulcanus und Venus besiegelt wurde (Sequenz I,3), kommt nur entfernt zur Sprache. Der Ehebruch mit Mars wird ebenfalls lediglich durch die Sequenz II,1 (Venus betrügt die Ehe mit Mars, Helios entdeckt die beiden) angedeutet, wobei die Enthüllung durch Helios sowie alle weiteren Sequenzen getilgt sind. Damit wird einerseits die Feindseligkeit zwischen Mars und Vulcanus ausgeklammert, andererseits wird Venus’ Treulosigkeit nicht zentriert, sondern eher beiläufig erwähnt. Die Adonis-Episode gestaltet Heinsius hingegen ausführlicher: Während die Sequenz I (Geburt des Adonis) vollständig dargestellt wird, amplifiziert Heinsius die Sequenz II,1 (Venus verliebt sich in Adonis) partiell, indem er durch die Badeszene, in der sich Venus in Adonis verliebt, eine Inversion des Aktaeon-Mythos andeutet. Die körperlichen Vorzüge des nackten Adonis schildernd erotisiert Heinsius den Mythos, weist durch die Aktaeon-Inversion jedoch auch auf die zerstörerische Kraft des sexuellen Verlangens voraus, für welches Aktaeon von Diana in einen Hirsch verwandelt und anschließend von seinen eigenen Hunden zerfleischt wurde. Einzig auf das Begehren Proserpinas anspielend, reduziert
966 Czapla, Heinsius’ Mythenauffassung, S. 86, verweist auf den logischen Bruch der Mythensynthese, der dadurch entsteht, dass Cupido einerseits die Liebe zwischen Venus und Vulcanus entfacht, andererseits jedoch erst nach der Hochzeit der beiden Götter geboren wird.
2.2 Johann Francks Mythenrezeption in Der Neugeborene Cupido (1649)
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Heinsius den Konflikt zwischen Venus und Proserpina, die sich beide in Adonis verlieben (Sequenz II,2–3). Der Tod des Adonis (Sequenz III) ist hingegen partiell um Adonis’ Jagddrang (Sequenz III,9) reduziert. Eine Korrektur widerfährt derweil der Verwandlung des Getöteten in eine Anemone (Sequenz III,11), die Heinsius in eine Metamorphose von Adonis’ Geschlechtsteil zu einer Zwiebel wendet. Obgleich Heinsius in seiner Rezeption der Venus-Mars-Episode durch die Beschreibung von Vulcanus’ ungeschickten Buhlversuchen durchaus komische Akzente setzt, rückt der adonische Tod die zerstörerische Kraft der Liebe, die Mars zum Mord verleitet, ins Zentrum seiner Mythenaneignung. Die geschilderte Geburt der Venus und ihres Sohnes, welche die Liebe auf die Erde bringen, wird somit untrennbar mit Eifersucht und Tod verknüpft. Durch die sexualisierende Korrektur wird der metamorphe Adonis außerdem metaphorisch zum Mahnmal verklärt, das vor Neid und dessen Folgen warnt. Ein Vergleich der Handlungsführung bei Franck und Heinsius erhellt die Parallelen, aber auch die Unterschiede der Mythendarstellungen. Franck orientiert sich im ersten Teil seines Epithalamiums (V. 1–166) dicht an Heinsius’ Rezeption der Venus-Mars-Episode (Heinsius, V. 1–119), erweitert jedoch die komisierende Herabsetzung des Vulcanus und betont noch stärker die kulturstiftende Kraft der Liebe. Die Synthese mit der Venus-Adonis-Episode löst er dagegen zugunsten einer nupitalen Wendung auf (V. 167–214), in der er die Braut antonomastisch mit Helena von Sparta, Venus und den Musen vergleicht:
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Und du/ O edle Braut! Du vierdte Hold-Göttinne/ Du andre Cypria/ und zehnde Pegasinne/ Geh nun/ geneuß die Lust die dir der Himmel gönt/ Und mach es/ daß man dich die Uberwundne nent. Es kan der Venus Preiß das Wasser dir nicht reichen; (o) Denn was ist das so groß wenn Zwene Einer weichen? Zu mal da eben der hierinnen Urtheil spricht Der auf dem Ida ist geboren an das Licht/ Und den der Wald erzog/ von Städten fern entlegen; Der unbewandert war. (p) Da/ Göttin/ du hergegen In deinem Vaterland/ Held Friedrich Wilhelms Stadt Die alle Gassen fast voll Nereinnen hat/ Von diesen Augen hier wirst andern vorgezogen Mit welchen doch dein Schatz ist manches Land durchflogen/ Und tausend Muster hat in frembder Welt beschaut Die wohl an Schönheit sonst beschämten Paris Braut. (V. 191–206)
Mit der vierfachen Antonomasie, welche die Schönheit der Braut überhöht und das Paris-Urteil aktualisiert, fügt auch Franck einen Mythos hinzu und eignet sich die kompilierende Rezeptionsstrategie von Heinsius an. Während die Reduktion
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2 Venus und Mars: Die kulturstiftende Kraft der Liebe
des Adonis-Mythos das dionysische Potenzial der Liebe bereits ausschließt und ihre kulturstiftende Wirkung in das Zentrum von Francks Mythenrezeption rückt, glückt die Überführung der elegischen Dichtung von Heinsius in das fröhliche Genre des Hochzeitscarmens überzeugend, weil Franck auch in seiner ParisRezeption die zerstörerische Macht der Liebe ausklammert. So reduziert er den Mythenverlauf um den Missbrauch des Gastrechts (Sequenz II,9) sowie den Trojanischen Krieg (Sequenz III) und lässt dadurch die fatalen Folgen des mythischen Urteilsspruchs außen vor. Dagegen kommen Paris’ Entscheidung sowie seine Belohnung zur Sprache (Sequenz II,6–8). Negativ bewertet wird das Paris-Urteil nur retrospektiv, weil er „auf dem Ida […] den Städten fern entlegen“ (V. 199) aufgezogen wurde und nicht die Stadt des „Held[en] Friedrich Wilhelms [II. von Sachsen-Altenburg]“ (V. 201) kannte. Paris wird dementsprechend nicht moralisch geächtet, vielmehr wird der Bräutigam antonomastisch mit Paris verglichen, der sich die Braut aus „tausend Muster[n]“ (V. 205), die alle Helena „beschämt“ (V. 205) hätten, ausgesucht hat. Francks Paris-Rezeption überhöht nicht nur die Schönheit der Braut und nutzt das mythologische Gewand des Hochzeitsgedichts panegyrisch, vielmehr setzt er auch den mythologischen Paris aufgrund seiner ländlichen Herkunft und seiner Erziehung im Wald (V. 199) gegenüber dem Bräutigam, den er zum sächsischen Paris stilisiert, herab. Im kulturellen und literarischen Wettstreit mit der Antike hebt Franck exemplarisch den zivilisatorischen Rückstand des trojanischen Prinzen hervor und verlegt den Mythos aktualisierend nach Sachsen, deren höfische Gesellschaft er gegen die Antike aufwertet. Auch diese Technik, mit der Franck das Paris-Urteil in die eigene kulturelle Heimat integriert, ist von Heinsius übernommen, der den metamorphen Adonis in Form von Zwiebeln durch Medea ins Bataverland tragen lässt. Indes löst Franck mit der Integration des antiken Mythos nach Sachsen die auf dem Titelkupfer programmatisch angedeutete Transformation der Antike auch dichterisch ein. Zudem akzentuiert Franck die Überlegenheit der deutschen Dichtung gegenüber der lateinischen paratextuell, indem er den Reim als bedeutungstragende Einheit ausweist: Was düncket euch hierbey/ Herr Bräutgam/ Sohn der Dicen? Habt ihr nicht auch gefühlt die Macht des scharffen Schützen? (m.) Wie reimet sich nu das? Mit Weißheit sein verwahrt/ Und Amors Sclave sein? Klingt das nicht trefflich hart? (V. 167–170)
Die Gegenüberstellung von Weisheit und Liebe erklärt Franck im Kommentarapparat: „(m.) […] Daß sich aber alhier/ Dicen/ und Schützen; verwahrt und hart; nicht wohl reimet/ sondern hart klinget/ solches gibt die Außsprache. Kan also der Kunst-ergebne Leser hieraus leicht ermessen/ warumb solche Reime allhier
2.3 Fazit – Kulturstiftung und Verewigung
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mit Fleiß gebrauchet worden.“967 Die als Wortspiel integrierte Ungereimtheit („Wie reimet sich nu das?“, V. 169) von gleichzeitiger Liebe und Weisheit realisiert Franck im unreinen Reim, dessen harten Klang er ebenfalls textuell kommentiert: „Klingt das nicht trefflich hart?“ (V. 170). Damit demonstriert er einen der wichtigsten Vorzüge der deutschen gegenüber der lateinischen Dichtung und verweist implizit auf die poetische Überlegenheit der deutschen Version gegenüber seiner Vorlage. Francks Hochzeitsgedicht, mit dem er im Filter von Heinsius’ Fabula die paganen Götter für die deutsche Dichtungspraxis nutzbar macht, darf damit als wichtiges Zeugnis der späteren Heinsius-Rezeption gelten, weil es die poetische Autorität von Heinsius auch noch zur Mitte des siebzehnten Jahrhunderts nachweist.968
2.3 Fazit – Kulturstiftung und Verewigung In den Rezeptionen der Venus-Mars-Episode werden die mögliche Wirkung der Liebe und ihre Begründung verbunden. Besonders Kaldenbach bringt in seinen epischen Hochzeitsgedichten allegorische Friedenshoffnungen zum Vortrag, welche die frieden- und kulturstiftende Kraft der Liebe als wichtigere Machtinstrumente als den Krieg inszenieren. Während die Inversion der Wirkungsbereiche von Venus und Mars etwa durch die Transformation des Mars zum diplomatischen Edelmann im Sarmaritischen Hymen gelingt, führt Kaldenbach die Wirkung der Liebe – ihre prokreative Kraft und ihre herrschaftssichernde Funktion – durch die genealogischen Herrscherfolgen vor Augen. In Johann Francks Neugeborner Cupido lässt sich dagegen der Wandel der Liebeskonzeptionen anhand der Bearbeitung der neulateinischen Vorlage, Heinsius’ Fabula ex occasione phallorum, bestimmen. Hatte Heinsius noch das zerstörerische Element der Liebe prononciert, hebt Franck das kultivierende Moment der Liebe hervor: Einerseits formt er die todbringende Eifersucht des Mars zu einer kulturstiftenden Neugeburt des Cupidos um und erweitert dadurch das Deutungsspektrum der Venus-Mars-Episode, andererseits schildert er, wie sich
967 Franck, Geistliches Sion und irrdischer Helicon, S. 205. 968 Achim Aurnhammer: Daniel Heinsius und die Anfänge der deutschen Barockdichtung. In: Daniel Heinsius. klassischer Philologe und Poet. Hg. von Eckard Lefèvre, Eckart Schäfer. Tübingen 2008 (NeoLatina 13), S. 329–345, hat am Beispiel des petrarkistischen Mustersonetts Vilius es aurum. Op de gouden tantstocher einleuchtend die Überwindung des niederländischen Vorbilds in Rezeptionen bis 1640 nachgewiesen. Die hier vorgestellte spätere Rezeption von Heinsius’ lateinischer Dichtung fordert jedoch dazu auf, die Untersuchung zur literaturgeschichtlichen Wirkung von Heinsius außerhalb der Sonettistik zu ergänzen.
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2 Venus und Mars: Die kulturstiftende Kraft der Liebe
der sonst abgeschieden lebende Vulcanus aus Liebe zu Venus um kulturelle Anpassung bemüht. Indes zeichnet sich in der Rezeption von Heinsius’ Fabula auch Francks dichtungstheoretische Position ab, die sich im Titelkupfer von Francks späterer Gedichtsammlung Geistliches Sion und irrdischer Helicon (1674), ablesen lässt. Einerseits erhebt Franck hier die Trennung von geistlicher und weltlicher Dichtung zur Prämisse seiner poetischen Praxis, andererseits stellt er die Aneignung des paganen Pantheons programmatisch auf ein christliches Fundament. In seiner übersetzerischen Aneignung von Heinsius’ Fabula adaptiert er die Rezeptionstechniken von Heinsius, indem er die Mythensynthese der Vorlage auflöst und anstelle der Adonis-Episode das Paris-Urteil hinzufügt, welches er aktualisierend in seine kulturelle Heimat integriert und dabei die antike Kultur abwertet, um die Errungenschaften der deutschen Zivilisation zu erhöhen. Dazu tragen auch die satirisch zugespitzten Darstellungen der paganen Götter – insbesondere von Vulcanus – bei, die den theologischen Glauben an das heidnische Pantheon negieren.
3 Venus und Adonis: Treue 3.1 Adonis-Variationen in späten Gelegenheitsdichtungen von Heinrich Mühlpfort 3.1.1 Forschung und bibliographische Ergänzung Das poetische Werk des in Breslau geborenen Juristen und Dichters Heinrich Mühlpfort (1639–1681) wird häufig als Beispiel für die sogenannte ‚Zweite Schlesische Schule‘ angeführt, als deren prominente Vertreter Christian Hofmann von Hoffmannswaldau (1616–1679), Caspar Daniel von Lohenstein (1635–1683) und eben auch Heinrich Mühlpfort gelten. Während neuere Arbeiten die literaturgeschichtliche Stellung von Hoffmannswaldau und Lohenstein bereits gewürdigt haben,969 ist die Forschung zu Mühlpforts Schaffen auch nach dem Neudruck seiner Teutschen Gedichte (1686)970 und seiner lateinischen Poemata (1686)971 überschaubar geblieben. Obzwar Gerhard Dünnhaupt Mühlpforts Werk recht gründlich erschlossen hat,972 sind neun Einzeldrucke deutscher Kasualcarmina zu ergänzen, die alle in der polnischen Nationalbibliothek verwahrt werden, wohingegen sechs lateinische Gelegenheitsgedichte durch das Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts zutage gefördert wurden: Deutsche Gedichte in der Biblioteka Narodowa (1) Der Seelen Sieggepraenge, Welches, Als […] Frau Barbara, geborne Schindlerin, Dess […] Herrn Caspar Liehmans […] Wittib […] Nach […] langwuerdiger Kranckheit sich Anno 1664 den 23 Mertz der Sterblikeit entbrochen […]. Breslau 1664. Biblioteka Narodowa [BN.XVII.4.4254 adl.]. (2) Illustrissimi ac celsissimi principis ac domini dn. Georgii Wilhelmi, ducis Silesiorum Lignicensis, Bregensis et Wolaviensis domini sui clementissimi
969 Dies gilt im besonderen Maße für Hoffmannswaldau, stellvertretend sei die neuere Studie von Noack, Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616–1679), genannt. 970 Vgl. Heinrich Mühlpfort: Teutsche Gedichte. Neudr. der Ausg. Breslau und Frankfurt am Main, [Steckh], 1686/87. Hg. und eingeleitet von Heinz Entner. Frankfurt/M. 1991 (Texte der frühen Neuzeit 8). Nachstehend abgekürzt mit MTG. 971 Heinrich Mühlpfort: Heinrici Mühlpforti poemata. Hg. von Lutz Claren und Joachim Manuel Huber. Neudr. der Ausg. Breslau und Frankfurt am Main. 1686. Frankfurt/M. 1991 (Texte der Frühen Neuzeit 7). 972 Vgl. Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 4, S. 2887–2932. https://doi.org/10.1515/9783110684209-012
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pubertatem augustalem anno 1674 die 29 Septembr. […]. Brieg 1674. Biblioteka Narodowa [BN.XVII.4.2353 adl.]. Hochzeit- Gedichte, Mit welchem Dess […] Herrn Balthasar Goldbaches […] Und Der […] Jungfr. Rosina, Dess […] Herren Johann Christian Richters […] Tochter Ehliche Verbuendbis […] vollzogen wurde […]. Breslau 1675. Biblioteka Narodowa [BN.XVII.4.4224 adl.]. Als dess edlen […] Hn. Hanns George Frantzes […] Tochter Anna Catharina […] den 13. Aprilis dieses 1675. Jahres diese Sterbligkeit gesegnet […]. Breslau. 1675. Biblioteka Narodowa [BN.XVII.4.4399 adl.]. Die Zu End- gelauffene Lebens- Frist, Dess […] Herren Christoph Kuehnes J.U. Licenciati […] Welcher den 11 May dieses 1675sten Jahres […] seelig verschieden und den 16 darauff […] beerdiget worden. 1675. Biblioteka Narodowa [BN. XVII.4.4403 adl.]. Der gefrorne Cupido Bey dess […] Hr. Johann Wilhelm Burchdorffes […] Und der […] Jungfrau Christina Albertina, Dess […] Herrn Christian Benjamin Alberti […] Tochter, Ansehnlichen Hochzeit- Festin, So den 7 febr. Anno 1679 […] in Bresslau […] vollzogen wurde […]. Breslau 1679. Biblioteka Narodowa [BN.XVII.4.4237 adl.] Das verliebte Riesen- Gebirge. Bey […] Herrn Joachim Jaenisches […] Und […] Jungfrau Mariana […] Herrn Christian Riesens […] Tochter, Den 6 Februarii dieses 1680 Jahres angezielten Hochzeit- Feyer Glueckwuentschende vorgestellet. Breslau 1680. Biblioteka Narodowa [BN.XVII.4.4247 adl.]. Die Todten- Beine seiner gewesenen Eh- Liebsten […] Frauen Regina gebohrner Sommerfeldin, wolte […] Herr Adam Kaldenbach, Alter Buerger und Handelsmann allhier, Als selbige den 26 Octobr. dieses […] 1680. Jahres […] seelig entschlaffen, Und den 3 Novembr. darauff […] beerdiget wurde […]. Breslau 1680. Biblioteka Narodowa [BN.XVII.4.4478 adl.]. Der sanffte Tod, Als […] Susanna Herrin gebohrne Kaewitzin, Dess Weyland […] Herren Gottfried Herres, Eines […] Gestrengen Raths dieser […] Stadt Bresslau […] Frau Wittib […] Den 27 Novembr. Anno 1680 seelig Verschieden, Den 1 Decembr. darauff […] beerdiget wurde, […]. Breslau 1680. Biblioteka Narodowa [BN.XVII.4.4479 adl.].
Lateinische Gelegenheitsgedichte im VD17 (10) Hymenaeum Nuptiis Giganti – Knorrianis/ Sacratum ex veteris Amicitiae lege Vratislavia Glogoviam transmittit Henricus Mühlpfort. Breslau 1664. [VD17 125:040507A]. (11) Votivi Applausus In natali Die Kiloniensis Academiae: Famae. Honori. Gloriaeque […] D. Christiani Alberti. Episcopi Lubecensis, Haeredis Norwegiae, Ducis Sleswigae […]. Kiel 1666. [VD17 23:271974P].
3.1 Adonis-Variationen in späten Gelegenheitsdichtungen von Heinrich Mühlpfort
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(12) Scazon Nuptiis Florentissimis Pomario-Rigerianis dicatus ab Henrico Mühlpfort. Breslau [ca. 1666]. [VD17 3:612752T]. (13) Viro Praecellentissimo Et Praeclarissimo D. M. Joachimo Fellero, Cygneo, P. L. C. Poes. Professori in Academia Lipsiensi Publ. & Facultatis Philosoph. Adsessori […] Annam Dorotheam […] Friderici Rappolti, […] &c. Filiam Tenere Dilectam In Matrimonium solenniter Anno M. DC. LXX. die 28. Augusti, Stil. veteris, accipienti / Thalassionem hunc Sacrum esse vult, […]. Breslau 1670. [VD17 125:025066V]. (14) Contesserationem Nuptialem Viri Nobiliss. Excellentissimi Experientissimi Dn. Theodori Steudneri […] Physici apud Gryphibergensis celeberrimi Cum … Anna Barbara […] Friderici Kaetzleri & Scabini in Schmideberga Primarii, FIlia: […] in Patria auspicato consummaudam / hoc Scazonte mactare Animumq[ue] veteris Amicitiae memorem indicare L M Q. […]. Breslau 1674. [VD17 125:040536N]. (15) Ein knapp 300 Verse umfassendes lateinisches Widmungsgedicht (Incipit: „Stemmata magnanimis clarata“) in: Ephraim Ignaz Naso: Monimentum Historico-Panegyricum, tam antiqui, quam gloriosi Stemmatis, Equitum, Baronum, Comitum, & Sacri Romani Imperii Principis ab Herberstein. Breslau 1680. [VD17 14:018383M]. Unpaginiert zwischen Vorbericht und Beginn des Textes. Überdies kann hier ein bisher unbemerkter Einzeldruck des Portraits von Mühlpfort zum Abdruck gebracht werden (Abb. 8), welcher von der Universitätsbibliothek Hamburg (Signatur: [Portrait 16 1: M 23]) verwahrt wird und in der posthumen Sammlung Heinrich Mühlpforths Teutsche Gedichte (1686)973 als Frontispitz dient. Unterschrieben ist es mit dem Epigramm: Der Jungen Jahre Lust, der Manheit kluge Sinnen Verlobter Hertzen Glut verstorbner Leichen Glantz Sang Mühlpforth lieblich vor dem Chor der Pierinnen Wofür Sie Ihm geschenckt den im verwelckten Krantz.
Die letzte Monographie zu seinem Werk, die auch die Lebensumstände Mühlpforts erhellt, erschien vor über einhundert Jahren.974 Darüber hinaus wurden
973 Vgl. Heinrich Mühlpforths Teutsche Gedichte. Breslau, Frankfurt/M. 1686. [VD17 39:120801S]. 974 Karl Hofmann: Heinrich Mühlpfort und der Einfluss des Hohen Liedes auf die zweite schlesische Schule: nebst einem Anhang: Coemeterium Henrici Muehlpfortii. Heidelberg 1893. Neuer und konzise zusammengefasst von Erika A. Metzger: [Art.] Heinrich Mühlpfort. In: Killy Literaturlexikon, Bd. 8, S. 372.
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3 Venus und Adonis: Treue
Abb. 8: Portrait von Heinrich Mühlpfort: Kupferstich auf Papier. 15,1 × 9,0 cm, Platte 16,2 × 10,2 auf Blatt 17,3 × 10,7 cm.
3.1 Adonis-Variationen in späten Gelegenheitsdichtungen von Heinrich Mühlpfort
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nur drei Artikel Mühlpforts Lyrik gewidmet.975 Dennoch lässt sich der erhabene Künstlerkreis skizzieren, in dem Mühlpfort verkehrte. Lothar Noack hat poetische und berufliche Abhängigkeiten zwischen Hoffmannswaldau und Mühlpfort nachgewiesen976 und David G. Halsted den Einfluss von Christoph Koeler (1602– 1658) auf seinen Schüler Mühlpfort gezeigt.977 Mühlpforts Leichengedichte lassen zudem auf regen Austausch mit Capar Barth (1587–1658) und Andreas Gryphius (1616–1664) schließen.978 Ferner haben mehrere Arbeiten unabhängig voneinander auf die Fülle von Venus-Variationen in Mühlpforts Gelegenheitsdichtungen hingewiesen.979 Obwohl Georg Kamper, der Herausgeber der posthumen Gedichtsammlung Mühlpforts, besonders dessen erfinderischen mythologischen Ideenreichtum gerühmt
975 Vgl. Cordula Reichert: Heinrich Mühlpforts lyrische Körperwahrnehmung: Petrarkistische Tradition und neue Perspektivierung. In: Euphorion 101 (2007), S. 337–367; Ferdinand van Ingen: Architekturformen und -elemente in der schlesischen Kasualdichtung: Mühlpfort, Christian Gryphius, Hoffmannswaldau. In: Theorie und Praxis der Kasualdichtung in der Frühen Neuzeit. Hg. von Andreas Keller u.a. Amsterdam, New York 2010 (Chloe 43), S. 368–380, besonders S. 368–371 sowie Wolfgang Adam: Urbanität und poetische Form. Überlegungen zum Gattungsspektrum städtischer Literatur in der Frühen Neuzeit. In: Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit. Bd. 1. Hg. von Klaus Garber. Tübingen 1998 (Frühe Neuzeit 39), S. 90–111, besonders S. 94–102. Ferner entnimmt Claudia Benthien: Barockes Schweigen. Rhetorik und Performativität des Sprachlosen im 17. Jahrhundert. München 2006, S. 138 und S. 285–286, einige Beispiele für topische Unsagbarkeitsfiguren aus Mühlpforts deutscher Dichtung. 976 Noack, Hoffmannswaldau (1616–1679), S. 314–317. 977 Vgl. David G. Halsted: Poetry and Politics in the Silesian Baroque. Neo-Stoicism in the Work of Christopherus Colerus and his Circle. Wiesbaden 1996 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 26), S. 232–237. 978 Zum Epicedium auf Caspar Barth vgl. die Einleitung von Claren/Huber in: Heinrici Mühlpforti poemata, S.VIII–IX, sowie Ralf Georg Bogner: Der Autor im Nachruf: Formen und Funktionen der literarischen Memorialkultur von der Reformation bis zum Vormärz. Tübingen 2006 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 111), S. 151–155, zu Mühlpforts Sonetten auf den Tod von Andreas Gryphius. Vgl. auch Hans-Joachim Koppitz: Der Verlag Fellgiebel. In: Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Bd. 1. Hg. von Klaus Garber. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 111), S. 445–512, besonders S. 455 sowie S. 462–488, dessen Beitrag zur Druckereigeschichte Schlesiens zeigt, dass Mühlpforts Werke im selben Verlag wie etwa die von David Casper von Lohenstein, Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, Martin Opitz und Christian Hallmann gedruckt wurden. 979 Vgl. Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977, S. 364, Anm. 112 zu S. 135 und Lothar Mundt: Simon Dachs lateinische Gelegenheitslyrik – Analysen ausgewählter Gedichte. In: Simon Dach (1605–1659). Werk und Nachwirken. Hg. von Axel E. Walter. Tübingen 2008 (Frühe Neuzeit 126), S. 226–294, hier S. 228, Anm. 13.
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3 Venus und Adonis: Treue
hat,980 fehlt jedoch bislang eine systematische Musterung der Venus-Dichtungen, welche die experimentellen Mythenvariationen Mühlpforts erforscht. Deshalb wird nachfolgend anhand des Leichengedichts Die flüchtige Anemone (1676)981 und der drei Hochzeitsgedichte Die verwittibte Venus (1678),982 Die geharnischte Venus (1678)983 sowie Auf Hn. G[eorg] E[rnst ] v[on] S[ommerfeld] u. J[ungfrau] M[aria] C[atharina] v[on] B[utschky] Hoch-Adel. Hochzeit-Fest 22. Oct. 1680984 exemplarisch Mühlpforts Rezeption der Venus-Adonis-Episode untersucht. Die vier der insgesamt fünfzehn Gedichte, die den mythologischen Apparat um Venus variieren,985 bilden einen repräsentativen Querschnitt durch Mühlpforts Venus-Dichtungen und können aufgrund ihrer zeitlichen Nähe auch schlaglichtartig seine späte Schaffensphase erhellen.
3.1.2 Adonis-Variation in Die Flüchtige Anemone (1676) Die 104 kreuzgereimte Alexandriner umfassende Trauerklage Die flüchtige Anemone/ Bey Absterben Fr. A. E. R. g. H. den 20. April 1676 kondoliert einem Mann zum Tod
980 Vgl. die Einleitung von Entner in MTG, S. XVIII, sowie das Vorwort zur Sammlung in MTG, Bl. 4v–5r: „Seine [Mühlpforts] nette Erfindungen/ herrliche Worte/ und aus allen Zeilen hervorblickende Gelehrsamkeit/ giebt genugsam zu erkennen/ daß ihm die Römische und Griechische Poeten/ nebst den Geheimnüssen der innersten Weißheit nich unbekandt gewesen.“ 981 Vgl. MTG, S. 241–244. 982 Vgl. ebd., S. 100–103. 983 Vgl. ebd., S. 103–107. 984 Vgl. ebd., S. 143–145. Die Auflösung der Initialen vermute ich, da Johannes Sinapius: Schlesischer Curiositäten [...] Vorstellung: darinnen die ansehnlichsten Geschlechter des schlesischen Adels [...] beschrieben [...] werden […]. Teil 2: Des schlesischen Adels anderer Theil, oder Fortsetzung Schlesischer Curiositäten [...]. Leipzig/Breslau/ Rohrlach 1728. S. 1020, die Hochzeit zwischen dem Kammerjunker Georg Ernst von Sommerfeld und Falckenhayn auf Boberau und Maria Catharina von Butschky, Tochter des berühmten Prosaikers Samuel Butschky von Rutinfeld (1612–1678) am 22. Oktober 1680 dokumentiert. Diese Annahme lässt sich durch den inhaltlich einbezogenen Adelstitel des Bräutigams erhärten, den der Herausgeber durch Fettdruck hervorgehoben hat: „Noch dennoch gleichen sie nicht unsern Sommer-Feldern“, vgl. MTG, S. 145, V. 86. 985 Diese sind neben den vier hier behandelten: Auff Hn. M. P. K. D. zu T. und Fr. M. B. g. L. Hochzeit, 1658 (S. 3–6); Die badende Venus an der Oder, 1662 (S. 9–22); Der gepeinigte Cupido, 1664 (S. 22–26); Auf die Z. und H. Hochzeit den 24. Octobr., 1665 (S. 26–28); Abgebildte güldne Liebes-Bach, 1674 (S. 59–63); Auf Hn. B[althasar] G[oldbaches] und J[ungfrau] R[osina] R[ichters] Hochzeit, 1675 (S. 67–72); Auf die H. u. H. eheliche Verbindung, 1676 (S. 76–78); Der geforne Cupido, 1679 (S. 108–110); Die Wonneburg der Liebe, 1680 (S. 140–142); Die Ritterliche Venus, 1680 (S. 146–148); Liebes-Wurm (S. 24–29), die Seitenangaben beziehen sich auf MTG.
3.1 Adonis-Variationen in späten Gelegenheitsdichtungen von Heinrich Mühlpfort
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seiner mit nicht einmal zwanzig Jahren verstorbenen Ehefrau.986 Das Gedicht folgt dem klassischen Aufbau des Epicediums, welcher aus der antiken Rhetorik über die neulateinischen Poetiken von Helius Eobanus Hessus (Illustrium ac Clarorum aliquot Virorum Memoriae scripta Epicedia, 1531), Julius Caesar Scaliger (Poetices libri septem, 1561) und Gerhard Johannes Vossius (Poeticarum Institutionum, libri tres, 1647) auch den Weg in die deutschen Poetiken des siebzehnten Jahrhunderts fand.987 Folglich lässt sich das Epicedium dreigliedrig in laudatio (Lob der Toten), lamentatio (Klage um die Tote) und consolatio (Trost der Hinterbliebenen) strukturieren. Eine die (1) laudatio einführende Beschreibung der trauernden Venus, die den toten Adonis in Anemonen verwandelt, erlaubt die Verstorbene mit einer Anemone zu vergleichen (V 1–66), um ihre Schönheit und Keuschheit lobend hervorzuheben. Die (2) lamentatio schließt an den Vergleich an, indem die kurze Blütezeit der Anemone als Exemplum für die Vergänglichkeit des Lebens angeführt wird (V 67–92). Ausgerichtet ist der Vergleich jedoch auf die (3) consolatio, welche der Vanitas die wiederkehrende Blüte der Anemone entgegenstellt (V 93–104) und somit dem hinterbliebenen Ehemann Trost zu spenden vermag. Vergleicht man die einleitende Erzählung der Adonis-Metamorphose mit dem Strukturmodell, erhellt zugleich Mühlpforts Rezeptionsschwerpunkt und die dem Epicedium zugrundeliegende Liebeskonzeption:
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Adonis/ den man mag der Schönheit Seele nennen/ Den auch die Venus selbst dem Himmel zoge für/ Nachdem ohn unterlaß ihr Herze pflag zubrennen/ Gieng auff ein hauend Schwein voll muthiger Begier/ Wird/ weil er zu viel wagt/ biß auff den Tod verletzet. Bald läst die Göttin sich von der gestirnten Höh/ Und findet den erblast/ den sie so hoch geschätzet/ Siht ihre Lust verkehrt in ein erbärmlich Weh. Sie küste tausendmahl die schon erkalten Glieder/ Und goß den Trähnen-Strom auff das geronne Blut/ Sie rieff: Ach mein Adon/ mein Leben/ kommt nicht wieder!
986 Die im Titel angegebenen Initialen sind nicht zu entschlüsseln, das Alter der Toten wird jedoch im Gedicht auf „nicht zweymal Zehn“ (V. 86) Jahre beschränkt. 987 Vgl. zum Epicedium Hans-Hendrik Krummacher: Lyra. Studien zur Theorie und Geschichte der Lyrik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Boston, Berlin 2013, S. 215–271, besonders S. 219–230, der die Übernahme aus neulateinischen Poetiken in Johann Peter Titz’ Zwei Bücher Von der Kunst Hochdeutsche Verse und Lieder zu machen (1642), Johann Henrich Hadewigs Wolgegründete teutsche Verskunst (1660), Sigmund von Birkens Rede-bind und Ticht-kunst (1679), Johann Christoph Männlings Europäischen Helicons (1704) und Daniel Magnus Omeis’ Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst (1704) nachweist.
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Ihr Götter/ daß ihr doch so grausam an mir thut! Doch solt du meiner Gunst ein prächtig Denckmal haben/ Holdseeligster Adon/ dein Blut wird ewig blühn/ Und andrem Garten Werck und schönen Frühlings-Gaben/ An Glantz und Herrligkeit gar weit seyn fürzuziehn. Urplötzlich sprosten auff die zarten Anemonen/ Man sah’ den Purpur-Safft auff ihren Blättern stehn Zum Zeichen steter Pflicht/ zum Ehren-Mahl Adonen/ Daß treue Liebe nicht im Grabe kan vergehn. (V. 1–20)
Die kurze Schilderung verknappt die mythische Episode auf Sequenz III,8–11 (Tod des Adonis), und klammert das inzestuöse Elternverhältnis (Sequenz I,1–4: Geburt des Adonis) und die damit verbundene Erbschuld des Jünglings aus. Auf den Streit zwischen Proserpina und Venus (Sequenz II,5–7: Adonis als Weltenwandler) spielt – wie gezeigt werden muss – die consolatio kurz an, erwähnt werden die Streitigkeiten zwischen Liebes- und Todesgöttin jedoch nicht. Das Liebesverhältnis zwischen Venus und Adonis (Sequenz III,8) wird dagegen ebenso beschrieben (V. 1–4) wie die riskante Jagd auf den Eber (V. 4–5), zu der sich Adonis aufmacht (Sequenz III,9). Obgleich Adonis’ Übermut angedeutet wird: „weil er zu viel wagt“ (V. 5), bleiben Venus’ Versuche, ihn von der Jagd abzuhalten (Sequenz III,10), unerwähnt. Den größten Teil der Schilderung (V. 6–20) nimmt die Trauer um Adonis und seine Verwandlung in eine Anemone ein (Sequenz III,11). Die Häufung von Metonymien wie „erbärmlich Weh“ (V. 8), „die schon erkalten Glieder“ (V. 9), „das geronne Blut“ (V. 10), die in „Ach mein Adon/ mein Leben“ (V. 11) ihre Klimax erreicht und zusätzlich hyperbolisch („Sie küste tausendmahl“, V. 9) und mit der Injektion „Ach“ (V. 11) intensiviert ist, beschreibt affektvoll die Trauer der Venus. Gesteigert werden die Liebesbekundungen durch die Metamorphose, die der Verewigung von Adonis dient und zugleich die fortdauernde Liebe der Venus symbolisiert: „Daß treue Liebe nicht im Grabe kan vergehn“ (V. 20). In diesem gedanklich durch die Adjektive „ewig“ und „stet[er]“ vorbereiteten Bekenntnis zum Geliebten auch nach dem Tod konkretisiert sich eine von Treue geprägte Liebeskonzeption. Pointiert wird diese durch einen Sprecherwechsel, mit dem die mythologische Erzählung abrupt abbricht und die vox poetae hervortritt, um die Liebeskonzeption auf den Ehemann der Verstorbenen zu übertragen, der mit Venus verglichen wird: Ich weiß/ Betrübster Freund/ daß mit dergleichen Schmertzen Und tieffem Seelen-Leid er seinen Schatz beklagt/ Daß er ein ewig Grab auffbauet in dem Hertzen/ Und Leben/ Geist/ und Blut zulieffern nicht versagt. (V. 21–24)
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Deutlicher lässt sich die Liebeskonzeption noch an der Beschreibung der mit dem metamorphen Adonis verglichenen Toten konturieren, deren Schönheit Mühlpfort durch die Variation petrarkistischer Konventionen überhöht:
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Es hat fast der Natur die Kunst die Hand geboten/ Der Anemonen Pracht vielfärbig anzuschau’n/ Bald funckelt ihr Gewand vom lichten Feuer Rothen/ Bald sieht es gelb als Gold/ bald fängt es an zu Blau’n/ Jetzt ist es Purpur-Braun und denn Schneeweiß erschienen/ Sieht wie die volle Ros’ und wickelt Blat in Blat/ So daß fürn Blumen wol/ die in den Gärten grünen/ Der Anemonen Glantz den ersten Vorzug hat. War seine Liebste nicht dergleichen Anemone/ Der Purpur keuscher Scham mählt ihrer Wangen Roth/ Und die Beständigkeit reicht ihr die göldne Krone Der unverrückte Treu biß an den blassen Tod. Sah’ man der Gottesfurcht sie Himmelblau nicht kleiden/ Wenn gleich der Kranckheit Glut den zarten Leib gebräunt? Und ihre Reinligkeit hat in Schnee weisser Seiden Der Sitten holde Krafft mit Demuth stets vereint. (V. 41–56)
Eingeleitet durch den poetologischen Kommentar, der den Systemcharakter der künstlichen Übersteigerung der weiblichen (natürlichen) Schönheit eingesteht (V. 41), gleicht Mühlpfort die Farbenvielfalt von Anemonen (V. 42–48) farbmetaphorisch mit den Tugenden der Verstorbenen ab (V. 49–56). Manieristisch variiert Mühlpfort die sonst aus der petrarkistischen descriptio pulchritudinis bekannten Schönheitsmerkmale (rote Wangen, goldenes Haar, weiße Schultern/Brüste), indem er die personifizierten Tugenden als Grund für die äußere, teils in sekundären Metaphern dargestellte Schönheit angibt. So bildet etwa die „göldne Krone“ (V. 51) die Haare der Geliebten ab, zugleich werden die Haarpracht jedoch als Zeichen der Beständigkeit und Treue angegeben und die Tugenden der Verstorbenen mit ihrer äußeren Schönheit verschränkt. Diese an das griechische Ideal der Kalokagathie erinnernde Präsentation der Toten mutet umso kunstvoller an, als die sekundären Metaphern Redeschmuck und Ausdruck vereinen, also das Ideal auch formalästhetisch abbilden. Entscheidend ist jedoch, dass Mühlpfort mit dem Motivkatalog das petrarkistische Liebeskonzept aufruft, dessen klassisches Modell das Liebesbegehren als zunächst genuin männliche Erfahrung auffasst, welches durch die Betrachtung oder Imagination einer idealtypischen Frauenfigur entsteht, deren Ablehnung
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die Liebe des männlichen Sprecher-Ichs sublimiert.988 Die weibliche Liebeserfahrung wird hingegen weithin ausgespart und kommt meist nur argumentativ im Sinne des carpe-diem-Topos zur Sprache. Dabei wird die Vergänglichkeit der Schönheit beschworen, um auf eine Liebeserfüllung im Diesseits zu drängen.989 In dieser Wendung der petrarkistischen Lyrik kann jedoch keine Verstorbene als Geliebte vorgesehen sein. Dennoch bringt Mühlpfort die petrarkistischen Preziosen-Metaphern auch in der lamentatio vor und variiert die formelhafte petrarkistische Antithese von Feuer und Eis:
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Diß was vor Anmuth hieß muß da zum Scheusal werden/ Der Augen Sterne sind ein Wasser/ das zerfleust/ Der Athem nur ein Wind/ die lieblichen Geberden/ Die Haut so Perlen gleich in ihrer Schöne gleist Nichts als ein schlechter Thon und ein gebrechlich Scherben/ Das leicht ein einzig Stoß der Krankheit schlägt entzwey/ Corallen/ die vorhin so Lipp- als Wangen färben Macht eine böse Lufft zu einem bleichen Bley […] Ein hitzig Todes-Wind verbrennt die schöne Blume Schafft vor den May der Lust dem Liebsten kaltes Eis (V. 73–90)
Die aus der petrarkistischen Liebeslyrik entliehenen Antinomien und PreziosenMetaphern parallelisiert Mühlpfort mit Vanitas-Motiven, um die Sublimation der Liebe durch die Unerfüllbarkeit, welche hier nicht durch Ablehnung, sondern 988 Bei den vielfältigen Gegenstimmen, welche dieses Grundmuster variieren und negieren und deshalb von der Forschung als Antipetrarkismus beschrieben wurden (vgl. grundlegend Fechner, Der Antipetrarkismus und in kritischer Auseinandersetzung mit Fechners Studie Ulrich Schulz-Buschhaus: Antipetrarkismus und barocke Lyrik. Bemerkungen zu einer Studie Jörg-Ulrich Fechners. In: RJb 19 (1968), S. 90–96), kann kaum von einer einheitlichen petrarkistischen Liebeskonzeption gesprochen werden. Dennoch scheinen sich petrarkistische Parodien vorzugsweise an dem Modell eines männlichen Sprechers abzuarbeiten, der um die Zuwendung einer idealisierten Liebesdame wirbt, die ihm jedoch das Liebesglück verwehrt und seine Liebe dadurch sublimiert. Dass die weibliche Sexualität – auch mit homoerotischer Konnotation – zur Sprache kommt, hat u. a. Erika Greber: Der (un)weibliche Petrarkismus im deutschen Barock: Sibylle Schwarz’ Sonettzyklus. In: Francesco Petrarca in Deutschland: seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik. Hg. von Achim Aurnhammer. Tübingen 2006 (Frühe Neuzeit 118), S. 223–242, gezeigt. 989 Als prominentes Beispiel für die topische Wendung des Schönheitspreises kann das Lied von Martin Opitz „Ach Liebste/ laß vns eilen“ (Incipit) gelten, vgl. dazu Wulf Segebrecht: Rede über die rechte Zeit zu lieben. Zu Opitz’ Gedicht Ach Liebste/ lass vns eilen. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 1. Renaissance und Barock. Hg. von Volker Meid. Stuttgart 1982, S. 137–147, wo auch (ebd., S. 136) das Lied abgedruckt ist.
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durch den Tod der Geliebten bedingt ist, maximal zu steigern. Statt die Idealisierung der Liebesdame argumentativ durch die Vanitas der Schönheit paradoxal im carpe-diem-Topos zu wenden, prononciert Mühlpfort die Beständigkeit des Ehemanns, der seiner verstorbenen Gattin auch ohne die Aussicht auf weltliche Liebeserfüllung die Treue hält.990 Auch wertet Mühlpfort die topische Vergänglichkeitsmahnung um. Achtundzwanzig Jahre nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs prägt nicht mehr die stoische constantia-Lehre, in der sich die pessimistische Haltung gegenüber dem weltlichen Leben ausdrückt, das Epicedium Mühlpforts. Vielmehr wird die Erneuerung der Natur, welche die Erinnerungen an die Verstorbene aufleben lässt, als weltlicher Trost aufgefasst.
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Und diese [Tränen] will er auch dem Grab unendlich schencken/ (Gleich Tropffen die der Thau bey hell-gestirnter Nacht Pflegt Blumen und Gewächs ersprießlich einzusencken/) Biß jener Frühling sie lebendig wieder macht. Denn/ muß die Anemon in ihrem Purpur sterben/ Sieht das verjüngte Jahr sie doch in neuer Zier! Vielmehr wird seine Liebst’ im Grabe nicht verderben/ Und in weit grosserm Glantz und Klarheit gehn herfür. (V. 93–100)
In der consolatio verbindet Mühlpfort die petrarkistische laudatio und die mahnende lamentatio mit einer diesseitsbejahenden Adaption der Adonis-Episode, die auf den aufklärerischen Optimismus vorausdeutet. Die idealisierte Schönheit, die mit dem Tod vergehen muss, gleicht den jährlich wieder aufblühenden Anemonen. Der Tod wird damit nicht allein als Ende des irdischen Leidens beschrieben, sondern auch als Möglichkeit der Erneuerung zelebriert, an der sich der Hinterbliebene erfreuen kann. Besonders im Spiegel des Vegetationskults um Adonis,991 der sich in seiner weltenwandlerischen Gestalt begründet (Sequenz II), wird Mühlpforts Adonis-Rezeption sinnfällig, welche die Trauer über das Ableben mit Freude über die Erinnerung konterkariert. Folglich kann die zugrundeliegende Liebeskonzeption weder unter der – zwar anklingenden – Luhmannschen Idealisierung noch unter der Paradoxierung gefasst werden, denn die Liebe begründet sich nicht in dem idealisierten
990 Eklatant unterscheidet sich die hier genutzte Anemonen-Metapher mit der Blumenisotopie in Mühlpforts Gedicht Über die Kaltsinnigkeit der Liebsten, in dem die kurzzeitige Blüte der Anemone persuasiv als Begründung zur weltlichen Liebeserfüllung angeführt wird, vgl. Reichert, Heinrich Mühlpforts lyrische Körperwahrnehmung, S. 351. 991 Dass Mühlpfort diesen kannte, lässt sich unschwer an seiner gleichnamigen Adaption des anonymen Pervigilium Veneris ermessen, vgl. Pervigilium Veneris in nupitas L.H. oblatum. In: Mühlpfort, Poemata, S. 68–72.
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Liebesobjekt und auch nicht in der möglichen Liebeserfüllung, sondern in der Erinnerung an die Hinterbliebene. Die Rechtfertigung der Liebe muss deshalb im Subjekt verortet werden, dessen diesseitsbejahende Weltsicht reflektiert wird. Durch die Überwindung der (artifiziellen) Idealisierung und der Paradoxierung lässt sich die präsentierte Liebesauffassung als Vormodifikation der Luhmannschen Reflexion von Autonomie einordnen: Sie begründet sich in der Treue des liebenden Subjekts und rechtfertigt sich durch die Erinnerung an die Geliebte. Wie nachstehend gezeigt werden soll, erprobt Mühlpfort die vielfältigen Bearbeitungsverfahren in seinen weiteren Adonis-Variationen: Die geharnischte Venus (1678) bietet eine weitere Auseinandersetzung mit der petrarkistischen Liebeslyrik, Die verwittibte Venus (1678) variiert dagegen wiederholt das Treuemotiv, indem die Adonis-Rezeption auf Venus’ Trauer reduziert wird, während im späten Epithalamium auf die Hochzeit von Georg Ernst von Sommerfeld und Maria Catharina von Butschky (1680) abermals der Vegetationskult um Adonis aufgegriffen wird.
3.1.3 Das Treuemotiv in Mühlpforts Claudian-Rezeption Die verwittibte Venus (1678) Die Widmungsempfänger des mit umständlichen Abkürzungen verschlüsselten Hochzeitsgedichts, Die verwittibte Venus Bey Hn. D. v. R. u. Fr. M. E. S. v. S. g. B. v. L. Hochzeit den 20. Jun. 1678, lassen sich dank eines Separatdrucks ermitteln,992 in dem die abgekürzten Namen ausgeschrieben sind: Beim Bräutigam handelt es sich um den am 10. Juli 1668 in den Adelsstand erhobenen Daniel von Reusch, der in erster Ehe mit Susanna Schollin (†1674)993 verheiratet war; die Braut ist Maria
992 Vgl. Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 4, S. 2920. 993 Den Tod von Reuschs erster Frau, aber auch die Ehe zwischen Reusch und Schollin bezeugen die drei Leichengedichte von Martin Hanke: Der Christen Wechsel/ Als Die Edle/ Viel Ehr- und Tugendreiche Frau Susanna Schollin/ Deß [...] Daniel Reusches/ Vornehmen Bürgers und Handels-Manns [...] Eh-Liebste/ Im 1674sten Jahre/ den 19. Mertz/ seelig verblichen/ und der 26sten [...] zur Erden bestattet wurde […]. Breslau 1674. [VD17 3:700724D]; Georg Kamper: Den Getrosten Abschied Der weiland Edlen/ Viel Ehr- und Tugend-begabten Fn. Susannae Schollin/ Deß [...] Daniel Reusches/ Vornehmen Bürgers und Handelsmannes [...] Hertzgeliebten Ehefrauen/ als Dieselbe […] auß diesem Vergänglichen abgefordert wurde […]. Breslau 1674. [VD17 3:700727B] und auch Heinrich Mühlpfort: Heilsame Myrrhen/ Als Die Edle/ Viel- Ehr- und Tugendreiche Frau Susanna Gebohrne Schollin/ Deß [...] Daniel Reusches/ Vornehmen Bürgers und Handels Mannes [...] Ehe-Liebste […]. Breslau 1674. [VD17 3:700725M].
3.1 Adonis-Variationen in späten Gelegenheitsdichtungen von Heinrich Mühlpfort
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Elisabeth Reusch geb. Burghardt von Löwenhoff (1634–1708),994 die ihren Namen aus der ersten Ehe mit Christian Sommer von Sommersburg führte.995 Der Anlass des Hochzeitsgedichts ist folglich eine Hochzeit zwischen zwei bereits verwitweten Eheleuten, die in zweiter Ehe zusammengeführt werden. Ausschweifend beschreibt Mühlpfort in den insgesamt 114 Alexandrinern, die in neunzehn sechsversige Strophen mit je einem umarmenden und einem folgenden Paarreim zerfallen (abbacc, die Reimpaare mit weiblichen Kadenzen, die umarmenden Verse mit männlichen Versschlüssen), wie Venus sich aus Trauer um ihren verstorbenen Adonis in eine wüste Einöde zurückzieht, um sich im Witwenstand von der Liebe abzuwenden. Aus ihrer Einsamkeit wird sie jedoch von dem Hochzeitsgott Hymenaeus gerissen, der sie mit einer prunkvollen Hochzeitsgesellschaft aufsucht und ihr als Ausweg aus der dilemmatischen Situation zwischen Treue zum Verstorbenen und der daraus resultierenden Lieblosigkeit vorschlägt, dass zwei durch den Tod von ihren Ehegatten Geschiedene erneut heiraten dürften. Begeistert von Hymenaeus’ Idee staffiert sich Venus mit den bekannten Akzidenzien zu gewohnter Schönheit und verbindet das Brautpaar. Folglich lässt sich das Hochzeitsgedicht in drei Abschnitte gliedern: Der erste beschreibt die trauernde Venus (V. 1–48), der zweite Teil umfasst den Dialog zwischen Venus und Hymenaeus, der die Liebesgöttin aus ihrer Lethargie erweckt (V. 49–102) und den Schluss bildet die Zusammenführung der Brautleute durch Venus (V. 103–114). Strukturell scheint sich Mühlpfort an Claudius Claudianus’ 145 Hexameter umfassendem Epithalamium an Palladius und Celerina (c.m. 25) zu orientieren. In der Eingangsszene beschreibt Claudian die nackte, ruhende Venus, welche fortan häufig in der Malerei und Dichtung nachgebildet wurde,996 nicht zuletzt
994 Ihre Lebensdaten lassen sich ablesen am Epicedium von Martin Hanke: Die Himmels-Burg, Als Die Wohl-Edelgebohrne und Tugend-begabte Frau Maria Elisabet geb. Burckhardtin von Leuenhof, Des Weyland Wol-Edelgebornen und Gestrengen Herrn Daniel von Reusch, Vornehmen des Raths, […] Im 1708ten, ihres Alters im 74sten Jahre, Den 25. August-Monats-Tag, Ihr löblichgeführtes Leben seelig beschlossen, Und Dero Adeliches Leich-Begängnüs Den 2. Herbst-MonatsTag, bey der Kirchen zu St. Elisabet In ansehnlicher Begleitung gehalten worden […]. Breslau 1708. [VD18 10508708], der bereits ein Hochzeitsgedicht auf die erste Ehe von Maria Elisabeth Reusch beigesteuert hatte. 995 Dies zeigt das anonyme Hochzeitsgedicht von Heinrich Mühlpfort: Eine Woche Voll lustiger Hochzeit-Gedancken […] auf die wohlgetroffene Hairath [...] Christian Sommers/ Fürnehmen Handelsmannes/ Als Bräutigams/ mit [...] Marien Elisabethen Burckhardtinn/ als Braut […] kurtzweilig zusammen geraspelt/ und eilfertig aufgeladen von etlichen Ohne Scheu FrölichKurtzweiligen/ Glückwündschendq-Schertzhafftigen Deutschen. 1654. [VD17 125:002196A]. 996 Vgl. Peter Lüdemann: Virtus und Voluptas. Beobachtungen zur Ikonographie weiblicher Aktfiguren in der venezianischen Malerei des frühen Cinquecento. Berlin 2008 (Studi.
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im Barock.997 Ausführlich schildert das lateinische Epithalamium, wie sich Venus in der Mittagshitze zum Schlafen zwischen ihrem Gefolge von Amoretten und Nymphen in eine Grotte begibt, dann jedoch vom plötzlichen Lärm eines Hochzeitsfestzuges geweckt wird und sofort Hymenaeus herbeiruft. Weil sich dieser im Flötenspiel übt, statt die Ehe vorzubereiten, wird er von Venus getadelt und dazu aufgefordert, Auskunft über die Brautleute zu geben. Hymenaeus huldigt den Familien des Ehepaars, worauf Venus zum Brautpaar fährt, um die Vorbereitungen für die Hochzeit zu treffen und die Ehe besiegelt. Claudians Epithalamium kann folglich in (1) die Beschreibung der ruhenden Venus (V. 1–24), eine darauffolgende (2) Laudatio auf das Brautpaar in Form eines Dialoges zwischen Venus und dem Hochzeitsgott Hymenaeus (V. 25–99) und in (3) die Eheverbindung durch Venus zum Schluss des Hochzeitsgedichts (V. 99–145) gegliedert werden. Die nachstehende Tabelle veranschaulicht die strukturellen Ähnlichkeiten zu Mühlpforts Verwittibter Venus:
1 2 3
Inhalt
Claudian
Mühlpfort
Beschreibung der ruhenden/trauernden Venus Dialog zwischen Venus und Hymenaeus Eheschließung durch Venus
V. 1–24 V. 25–99 V. 99–145
V. 1–48 V. 49–102 V. 103–114
Ferner lässt sich Mühlpforts Abhängigkeit auch anhand intertextueller Referenzen nachweisen, denn Mühlpfort arbeitet den von Claudian evozierten locus amoenus, den sich Venus zum Schlafplatz auserkoren hat, in einen locus terribilis um:998 Ein öd und wüster Ort/ wo nie kein Stern erscheint/ Den nicht das Morgen-Roth mit seinem Purpur zieret/ Umb den nie einen Tantz die göldne Sonne führet/ Wo nichts als Schatten sind und stets der Himmel weint/ […] Kein Weyrauch angezündt die Göttin zu versöhnen/ Es kam kein einzig Mensch ihr Altar zu bekrönen.
Schriftenreihe des Deutschen Studienzentrums in Venedig N.F. 1), S. 23–62, der mit weiterführender Literatur besonders auf die ikonographische Rezeption von Claudians Epithalamien eingeht. 997 Vgl. Baehr, Erotisierende Rezeptionen von Claudians ‚Epithalamium an Palladius und Celerina‘, S. 70–88. 998 Vgl. dazu die wegweisende Studie von Garber, Der locus amoenus und der locus terribilis, S. 226–298.
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Man sah der Schwanen nicht in frischen Rosen gehen/ Es schwieg der liebe Mund der schwesterlichen Tauben/ Die Fürstin selber saß verkappt in Flor und Hauben; Kein Liebes-Engel wolt’ ihr da zu Dienste stehn/ Die Köcher hingen leer ohn ein’ge Pflitz und Pfeile/ Ihr Bogen und Geschoß ward andern nur zu Theile. (V. 1–24)
Vor allem die als abwesend beschriebenen Amoretten, die Claudian als umtriebig darstellt, markieren referenziell den intertextuellen Bezug. So heißt es bei Claudian: pennati passim pueri quo quemque vocavit umbra iacent; fluitant arcus ramisque propinquis pendentes placido suspirant igne pharetrae (V. 10–13)999
Indes wendet Mühlpfort die „Grotte“ („antri“, V. 2), in die sich Venus zum Schlafen zurückzieht, in eine dunkle Wüste; den „dichten Rasen“, auf welchem Venus ihre „prachtvollen Glieder“ („sidereos per gramina fuderat artus“, V. 3) ausstreckt, profanisiert er in einen „bemosten Stein“, der als „Stuhle“ (V. 14) dienen muss, und kodiert die bei Claudian beschriebene lustvolle Grotte in einen tristen Ort der Trauer um. Die Kontrafaktur des locus amoenus wirkt dennoch paraliptisch, denn die Häufung von negierten Aktivitäten der Schwäne, Tauben, Amoretti und der erwachenden Natur rufen deutlich die gängigen Beschreibungen des mythologischen Apparats um Venus auf, welcher die weltliche Liebeserfüllung versinnbildlicht. Formal gelingt es Mühlpfort mit der paraliptischen Konstruktion, die Erinnerung an vergangene Liebesfreuden mimetisch abzubilden und damit die vorwärtsgewandte Raumsemantik des locus amoenus, der den Sexualakt vorausdeutet, entgegengesetzt in einen Ort der Vergegenwärtigung zurückliegender Sinnlichkeit zu wenden. Wie in Mühlpforts Flüchtiger Anemone begründet sich die Liebe in der Treue und rechtfertigt sich durch die Erinnerung an den Geliebten. Dies zeigt sich auch in der Bearbeitung der Adonis-Episode. Ohne Adonis’ Erbschuld (Sequenz I,1–4) anzudeuten oder den Götterstreit um den Jüngling zu erwähnen (Sequenz II,5–7), verkürzt Mühlpfort den Mythos allein auf das 999 Das Epithalamium wird nach der kritischen Ausgabe Claudii Claudiani carmina. Hg. von John Berrie Hall. Leipzig 1985, S. 358–365, zitiert. Horstmann, Das Epithalamium in der lateinischen Literatur der Spätantike, S. 192 übersetzt die Verse mit: Überall liegen die geflügelten Knaben, da, wohin jeden der Schatten rief, ihre Bögen hängen herab, die Köcher baumeln von benachbarten Zweigen, erfüllt von stillem Feuer.
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3 Venus und Adonis: Treue
Liebesverhältnis zwischen Venus und Adonis (Sequenz III,8). Indem er weder die Todesursache noch die möglichen Mordmotive von Mars bzw. Diana angibt und auch die Metamorphose des Adonis nicht berichtet (Sequenz III,9–11), isoliert Mühlpfort die Trauer um den Verstorbenen und zentriert die Treue, die sogleich zum Gesetz erhoben wird: Wo ist […] Mein schönester Adon/ der Außzug meiner Seele/ Schleust meine Hoheit ein die ungeheure Höle? Recht/ diese Wüsteney hab’ ich mir selbst erwehlt/ Umb mein unendlich Leid und Klagen auszuschütten/ Der Welt durch ein Gebot das Lieben zu verbitten; Und ich/ nach dem Adon den Sternen zugezehlt/ Füg allem Frauen-Volck als Königin zu wissen/ Wenn sie verwittibt sind/ die Werckstadt zuzuschliessen. (V. 28–36)
Diese Satzung wird – in bedeutender Dialogizität zu Claudians Epithalamium – nachfolgend wieder abgeschwächt. Während Hymenaeus bei Claudian von der erwachten Venus zum Vollzug der Ehe aufgefordert werden muss, rüttelt der Hochzeitsgott bei Mühlpfort die Liebesgöttin aus ihrer Trauer und schlägt ihr vor, Witwern „in gleich-gesinnter Treu“ (V. 57) die erneute Hochzeit zu erlauben. Anders als bei Claudian führt also nicht das Erwachen der Venus, welches häufig „als Gleichnis für die noch zu erweckende eheliche Liebe und Sexualität“1000 interpretiert worden ist, zur Eheschließung; vielmehr erneuert sich in der zweiten Ehe die Liebe zum verstorbenen Partner.
3.1.4 Die geharnischte Venus (1678) als petrarkistische Travestie Auf den Tag genau drei Monate, nachdem Mühlpfort Die verwittibte Venus zur Hochzeit von Daniel und Maria Elisabeth Reusch beigesteuert hatte, bedachte er die Ehe des Dichters Hans Assig von Siegersdorff (1650–1694) mit Sophie Rosina Gloger von Schwanenbach,1001 welche am 20. September 1678 geschlossen wurde, mit der Venus-Dichtung Die geharnischte Venus.1002 Die zeitliche 1000 Vgl. Horstmann, Das Epithalamium in der lateinischen Literatur der Spätantike, S. 191. 1001 Auch hier lassen sich die Widmungsempfänger der Dichtung anhand eines Separatdrucks ermitteln, vgl. Dünnhaupt, Personalbibliographien, Bd. 4, S. 2922, sowie Noack, Hoffmannswaldau (1616–1679), S. 441, und ebd., S. 441–443 kurz zum Leben und Werk von Hans von Assig. 1002 Die bekannte Liedersammlung von Kaspar Stieler: Die Geharnschte Venus oder LiebesLieder im Kriege gedichtet mit neuen Gesang-Weisen zu singen und zu spielen gesezzet: nebenst
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Nähe beider Epithalamien spiegelt sich in der formalen Gestaltung: Auch die 186 Alexandriner der Geharnischten Venus sind in sechsversige Strophen mit je einem umarmenden Reim und einem darauffolgenden Paarreim gegliedert (abbacc), wobei – anders als in der Verwittibten Venus – beide Reimpaare je männliche und die umarmenden Reime weibliche Versschlüsse aufweisen. Die inhaltliche Ähnlichkeit zeigt sich an der erneuten Variation der adonischen Venus-Episode, die Mühlpfort jedoch anders akzentuiert. Eingangs schildert er, wie die Braut – die hier den schäferlichen Decknamen Sylvia trägt – bei einem herbstlichen Morgenspaziergang Cupido begegnet, der sie in den Palast der Venus führt. Dort zeigt Amor ihr den Harnisch des Kriegsgottes Mars und überredet sie, die Rüstung anzulegen. Amors Jubel über seinen gelungenen Scherz hört der herannahende Adonis, mit dem der Bräutigam antonomastisch verglichen wird – „Unfern gieng Siegersdorff/ den wir Adonis nennen“ (V. 85) – und der sich anstelle des aussichtslosen Liebesdienstes in den Kriegsdienst begeben will. Bei seiner Suche nach Mars trifft er auf die verkleidete Sylvia, der er sich – ohne sie zu erkennen – zu Füßen wirft. Im selben Moment erscheint Venus, die sich vom Wein angetrunken über Mars hermachen will und dabei ebenfalls auf Sylvias Verkleidung hereinfällt. Um Venus von Sylvia abzuhalten, deckt Cupido den Schwindel auf, worauf Adonis die Liebesgöttin um Rache anfleht. Die Bitten erhörend, entkleidet Venus die ängstliche Sylvia, legt ihr dafür kostbaren Schmuck an und schenkt sie Adonis als Kriegsbeute. Reumütig gesteht sich Sylvia ihre Liebe zu Adonis ein, der die Liebe mit einem Kuss endgültig besiegelt. Im Abgleich mit dem Strukturmodell zeigt sich, dass Mühlpfort den gewaltsamen Tod des Adonis, der durch einen von Mars gesendeten Eber getötet wird (Sequenz III,10), ins Zentrum stellt, indem er Sequenz I und II ausklammert. Dabei unterliegt die korrigierende Aneignung der Adonis-Episode hauptsächlich der Inversion: So entzieht sich Adonis nicht den liebevollen Bitten der Venus, der Jagd zu entsagen (Sequenz III,9), sondern er entsagt der Liebe zugunsten des Kampfes, da seine liebevollen Bitten nicht erhört worden sind. Vor allem aber wendet Mühlpfort die kriegerische Begegnung zwischen Adonis und Mars – dem realhistorischen Kontext angemessen – in eine Liebesszene und lädt die Waffen des Mars in phallischer Metaphorik erotisch auf: „Die Picque die du hast jetzt gegen ihn gekehrt/ | Gedenck es/ wenn sie dir weit nach dem Hertzen fährt“ (V. 143–144). Dadurch assoziiert er den Todeskampf mit dem Topos des Liebeskrieges und konnotiert den Tod des Adonis erotisch, der hier zur piccola morte – zum Orgasmus – verklärt wird:
ettlichen Sinnreden der Liebe/ Verfertiget und Lustigen Gemühtern zu Gefallen heraus gegeben von Filidor dem Dorfferer. Hamburg 1660. [VD17 23:283157S], weist außer der Titelgleichheit keine intertextuellen Bezüge zu Mühlpforts Hochzeitsgedicht auf.
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Adonis schien auffs neu ins Leben wieder kommen/ Er band die Sylvia durch einen solchen Kuß/ Als nicht die Epheu sich flicht umb der Bäume Fuß/ Als nicht zwei Muscheln thun die auß der Fluth geschwommen. Als kaum der Tauben Paar durch langes schnäbeln zeigt/ Wenn gleiche Liebes-Lust in ihr Geblüte steigt. Es rief nun der Adon/ jetzt hab ich überwunden/ Nun ruh’ ich in des Glücks und in der Liebsten Schoß. Mein Unstern wandelt sich/ nun bin ich Sorgen loß; Dem Himmel dem sey Danck/ daß ich den Port gefunden! (V. 163–172)
Überdies unterliegt auch die fiktive Verkleidung der Braut als Kriegsgott dem invertierenden Verfahren Mühlpforts. Die Verkleidungsszene, die das Geschlecht von Mars travestiert und dadurch die Geschlechterrollen angleicht, erinnert stark an den Gründungsmythos der Parthenier, welcher die Beinamen Lacedämonische Venus oder Venus Armata prägte.1003 Dass die Travestie nicht allein der erotischen Umwertung des Kampfes zwischen Mars und Adonis dient, zeigt ein Verweis auf Martin Opitz’ petrarkistisches Mustersonett Francisci Petrarchae (1620), mit dem er Petrarcas Canzoniere 132 ins Deutsche übertragen und vielfachen Nachbildungen in der deutschen Dichtung den Weg geebnet hatte.1004 Mit der doppelten Antimetabole im schließenden Paarreim, „Ich weis nicht was ich will/ ich wil nicht was ich weis: | Im Sommer ist mir kalt/ im Winter ist mir heiß“,1005 hatte Opitz die petrarkistische antinomische Liebeskonzeption formal abgebildet und auf eine wirkungsmächtige sentenziöse Formel gebracht.1006 Indem Mühlpfort diese Antimetabole variiert, zitiert er das opitz’sche Sonett:
1003 Giraldi, der sich auf Lactantius bezieht, berichtet, dass Lacedämonien von den Messeniern belagert worden sei. Bei einem Angriff der Messenier in Abwesenheit der spartanischen Männer seien die lacedämonischen Frauen gegen die Messenier zu Felde gezogen und hätten sie besiegt. Bevor sie wieder zurück gewesen wären, seien dann jedoch die lacedämonischen Männer ausgezogen und hätten ihre bewaffneten Frauen nicht erkannt. Als diese sich zu erkennen gegeben hätten, habe eine Orgie stattgefunden, aus der die Parthenier hervorgingen. Vgl. Giraldi, Syntagmata, S. 380. 1004 Vgl. Aurnhammer, Martin Opitz’ petrarkistisches Mustersonett, S. 189–210, der neben den neulateinischen Vorläufern auch sechs deutsche Imitationen von Ernst Christoph Homburg, Paul Fleming, Sibylle Schwarz, David Schirmer, Friedrich von Logau und Daniel Casper von Lohenstein gesammelt und auf den Wandel des petrarkistischen Liebesdiskurses befragt hat. 1005 Vgl. Martin Opitz: Francisci Petrarchae (1620). In: Martin Opitz. Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 2/2. Die Werke von 1621 bis 1626. Hg. von George Schulz-Behrend. Stuttgart 1979 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 301), S. 703, V. 13–14. 1006 Vgl. Aurnhammer, Martin Opitz’ petrarkistisches Mustersonett, S. 196.
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Sie denckt nicht was sie weiß/ und thut nicht was sie wil/ Sie ist der Hoffnung Raub / und der Begierden Spiel (V. 29–30)
Den Parallelismus beibehaltend, aber ohne die chiastische Gegenüberstellung der Verben ‚wissen‘ und ‚wollen‘, wandelt Mühlpfort die Sentenz ab und löst das Liebesdilemma auf. Denn im Gegensatz zum Rollen-Ich von Opitz kennt die Protagonistin bei Mühlpfort die erotische Erfüllung, lässt die Gedanken daran jedoch nicht zu und weiß auch was sie will, „thut“ es jedoch nicht. Dass es sich hier um die Erfüllung sinnlicher Liebe handelt, zeigt der anaphorisch verstärkte Parallelismus, mit dem Mühlpfort den antithetischen Temperaturvergleich substituiert und dessen doppelte Metonymien sich eindeutig auf das Begehren männlicher Liebhaber beziehen. Damit enttarnt Mühlpfort die im Petrarkismus ausgeklammerte weibliche Sinnlichkeit als literarische Konvention. Dementsprechend kommt Sylvia am Schluss des Epithalamiums noch einmal zu Wort: Es ist mir mein Adon in Seel und Hertz geschrieben/ Und sein Gedächtnüs brennt in der getreuen Brust; Mein Alles liegt an ihm/ dem Außzug meiner Lust Ich will ihn/ als wie du den Mars umfangen/ lieben. (V. 157–160)
Durch die Mars-Travestie, die invertierte Kampfszene zwischen Mars und Adonis und die Teilparodie von Opitz’ petrarkistischen Mustersonett weicht Mühlpfort die geschlechterspezifische Rollenzuweisung von männlichem Begehren und weiblicher Ablehnung auf und bringt dadurch die weibliche Sexualität offen zur Sprache.
3.1.5 Vegetationskult und erfolgreiche Liebe: Adonis und Chloris Das 108 Alexandriner umfassende Gedicht auf die im Oktober 1680 gefeierte Adelshochzeit zwischen dem Kammerjunker Georg Ernst von Sommerfeld und Falckenhayn auf Boberau und der Tochter des berühmten Prosaikers Samuel Butschky von Rutinfeld (1612–1678), Maria Catharina von Butschky, gleicht formal den ersten beiden adonischen Hochzeitsgedichten von Mühlpfort. Die achtzehn Strophen mit je sechs Versen wiederholen das Reimschema (abbacc), wobei hier die beiden Reimpaare je weibliche und die umarmenden Reime männliche Kadenzen aufweisen. Anders als in den drei vorangehenden Adonis-Rezeptionen rückt Mühlpfort in diesem Epithalamium jedoch nicht Adonis’ gewaltsamen Tod und die Trauer der Venus ins Zentrum des Gedichts. Dagegen gestaltet er in einer antonomastischen Aktualisierung die Liebes-Episode neu, in der sich Adonis nicht für Venus
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entscheidet, sondern der Nymphe Chloris hingibt. In Betrachtung der herbstlichen Fruchtbarkeit wünscht sich auch Adonis eine Geliebte (V. 1–18). Fortan begibt er sich in den blühenden Feldern auf die Suche, wo er die Nymphe Chloris findet (V. 19–60). Gegenseitige Ehrbekundungen münden in einer von Amoretten begleiteten ehelichen Vereinigung (V. 60–108). Während die Beschreibung der Herbstblüte auf den Zeitpunkt des realhistorischen Anlasses rekurriert, deutet sie auch den Vegetationskult um Adonis an, der sich in dem Götterzwiespalt zwischen Venus und Proserpina begründet: Proserpina, der Venus den schönen Jüngling ins Versteck gegeben hatte, verliebte sich ebenfalls in Adonis und verweigerte die Rückgabe, weshalb sich Venus und Proserpina die Zeit mit Adonis aufteilen mussten. Durch die Anspielung auf den zwischen Unter- und Oberwelt wandelnden Adonis aktualisiert Mühlpfort die Deutung des Adonis als Vegetationsgott.1007 Mit der Reduktion von Sequenz I rückt die alludierte Sequenz II,5–7 vor allem deshalb ins Zentrum der Rezeption, da Mühlpfort Sequenz III auf den Tod des Adonis durch den Eber (Sequenz III,10) reduziert, diesen jedoch in die Vergangenheit verlegt, um eine neue Liebe mit glücklichem Ausgang zu schildern. Die logische Unstimmigkeit vermag Mühlpfort durch die aktualisierende Antonomasie zu lösen, der Tod des Adonis dient mit vier weiteren mythischen Beispielen dagegen zum Anlass der neuen Partnerwahl. 20
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Wer hilfft mir? Venus nahm Adonis in die Schoß. Leander der entschlief in seiner Hero Armen. Den Paris hat erfreut der Helenen Erbarmen. Man weiß was Hercules von Omphalen genoß. Soll ich Adonis seyn/so wünsch ich gleiches Glücke/ Daß eine Venus mich in meiner Noth erquicke. Wo aber such ich sie/ in einem Myrthen Wald? Nein/ hat ein wildes Schwein nicht den Adon zerrissen? (V. 19–26)
Die tödlich endenden Liebesbeziehungen zwischen Adonis und Venus, Leander und Hero, Paris und Helena sowie die gescheiterte Ehe von Herakles und Omphale veranschaulichen das zerstörerische Potenzial der Liebe. Dagegen findet der ‚neue‘ Adonis in Chloris die „schönste Gärtnerin“ (V. 79), die aus den „Sommer-Feldern“ (V. 86) ein paradiesisches „Schatten-Weck“ (V. 91) formt und deshalb zur „Blumen-Göttin“ (V. 103) stilisiert wird. Indem Mühlpfort die Braut mit Chloris mythisiert, scheint er ein annehmbares Äquivalent für Proserpina
1007 Vgl. Weiser, Adonis, S. 16; Caruso, Adonis. The myth of the dying god in the Italian Renaissance, S. 3; Detienne, Die Adonis-Gärten, S. 148; Tuzet, Mort er résurection d’Adonis, S. 27 sowie Müller, Adonis und Adonisgärtchen, S. 265–284.
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zu schaffen, die ihrerseits als Fruchtbarkeitsgöttin geehrt wurde1008 und bei der Adonis nach dem Urteil des Zeus die Hälfte des Jahres verbringen musste. Anstelle die Braut antonomastisch mit der Unterweltsgöttin zu vergleichen, überlagert Mühlpfort Proserpina mit der Blumengöttin Chloris, mit der sich der ‚andere‘ Adonis vermählt. Mit seiner mythologischen Überblendung trägt Mühlpfort einerseits dem hohen Anlass Rechnung, vor allem bringt er der Adonis-Episode jedoch eine innovative Korrektur bei, welche die tödliche Liebe zu Venus mit der fruchtbaren Beziehung zu Chloris kontrastiert: Angesichts der zerstörerischen Macht der Liebe entscheidet sich Adonis, dessen Fertilität das Gedicht leitmotivisch durchzieht, zu einem Liebesverhältnis mit der durch Chloris überlagerten Proserpina.
3.1.6 Poetik und Wirkung der Venus-Variationen In der vergleichenden Betrachtung von Mühlpforts Adonis-Variationen kommt seine mythologische Versatilität zur Geltung. Das produktive inventio-Prinzip, welches sich als immanente Poetik in der vielfachen Neuvariation der mythologischen Episode abzeichnet, erörtert Mühlpfort in den Eingangsversen der 160 Alexandriner langen, kreuzgereimten Venus-Dichtung Liebes-Wurm:
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Nun frische Myrten sich umb seine Scheitel winden/ Nun ihm die Juno hat das Braut-Bett aufgesetzt/ So soll sich/ werther Freund/ auch unsre Pflicht hier finden/ Und bringen ein solch Lied das Hertz und Seel’ ergetzt. Zwar wenn Cupido nur die Feder wolte führen/ Und jede Gratie in jeder Zeile stehn/ Es sollt ein solcher Klang ihm das Geblüthe rühren/ Das aller Adern Puls weit stärker würde gehen. Alleine Venus ist sehr karg mit ihren Gaben/ Sie flößt uns nicht den Thau verliebter Reden ein; Die Anmuths-volle Schaar der nackten Flügel-Knaben Will uns in diesem Werck gar nicht behülflich sein.1009
1008 Proserpina wurde von Hades geraubt und in die Unterwelt gebracht, wo sie für immer bleiben musste, da Hades sie zum Essen eines Granatapfels verführte. Aus Wut über den Raub verweigerte Proserpinas Mutter Ceres, Göttin des Ackerbaus, der Fruchtbarkeit und der Ehe, alle Ernteerträge und rang Zeus einen Kompromiss ab: Proserpina sollte nur die Hälfte des Jahres in der Unterwelt bleiben, die anderen sechs Monate jedoch an der Oberwelt verbringen. Proserpina gilt daher auch als Fruchtbarkeitsgöttin, mit deren Wiederkehr aus der Unterwelt die fruchtbare Jahreszeit beginnt. Vgl. Hinz, Persephone, S. 563. 1009 Vgl. MTG, S. 24–29, hier S. 24, V. 1–12.
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Die anaphorischen temporalen Deiktika „Nun“ (V. 1–2) vergegenwärtigen die zwanghafte Schreibsituation bei der „Pflicht“ (V. 3), ein Gelegenheitsgedicht zu verfassen, die sonst durch Eingaben der Liebesgötter Cupido, der drei Grazien und Venus erleichtert würde. Eindeutig reflektiert Mühlpfort sein poetisches Verfahren, aus den Mythologemen um Venus und Cupido dichterische Inspiration zu schöpfen und durch Variation der mythischen Episoden den Anlass der Eheschließung zu mythisieren. Gewisse Redundanzen in seiner eigenen Dichtung eingestehend, kommentiert Mühlpfort seine metapoetische Reflexion im Anmerkungsapparat des Gedichts: „Weil auf allen Hochzeiten die Venus und Cupido herhalten müssen/ so ist auf etwas neues gesonnen worden.“1010 Auch in der zeitgenössischen Rezeption Mühlpforts scheint die im poetologischen Kommentar selbstkritisch eingeschätzte Dichtungspraxis problematisiert worden zu sein, wie Georg Kampers Epicedium Den Verthäidigten Poeten/ bey Beerdigung […] Heinrich Mühlpforts vermuten lässt, welches in der posthumen Sammlung von 1687 zum ersten Mal veröffentlicht wurde.1011 Der Titel deutet das ambivalente Urteil der Zeitgenossen gegenüber Mühlpforts Werk bereits an, denn offensichtlich fühlt sich Georg Kamper, der auch als Herausgeber der posthumen Sammlung gilt, zur Verteidigung der Poesie allgemein und besonders der Mühlpforts genötigt. In 114 kreuzgereimten Alexandrinern (abab) rechtfertigt Kamper den Gebrauch antiker Mythen in der Dichtung, indem er sie als heidnisches Abbild der göttlichen (christlichen) Wahrheit legitimiert. Anhand von fünfundzwanzig Beispielen – begonnen bei Venus’ Geburt und den vielfachen Liebschaften des Zeus und der Gigantomachie über den Raub der Proserpina, dem Wettstreit des Midas zur Bestrafung des Tantalus und der Entführung des Ganymed – stellt Kamper seine Kenntnis der antiken Mythologie zur Schau (V. 1–28), qualifiziert sie jedoch als „kindisch“ (V. 26) ab. Während „Augustin“ (V. 29) sowie Platon das tatsächliche Wesen der Götter in Abrede gestellt hätten, sei durch „Natalis Comes“ (V. 35) der „Fabeln kluges Licht“ (V. 35) zutage getreten, seither wisse man, dass „der Weißheit Schatz in der Poeterey“ (V. 37) liege. Moses als Dichter vor Hesiod und Homer anführend (V. 43–46), bestimmt Kamper den Ursprung dieser ‚Weisheiten‘ jedoch in der Bibel und harmonisiert dadurch antike Mythologie und christliche Lehre. Mit den Argumenten des Altersbeweises und Bibelpoetik,
1010 Vgl. ebd., S. 28. 1011 Vgl. ebd., S. 161–166. In der ersten Auflage von Mühlpforts Teutschen Gedichten (1687) [VD17 39:120801S] befindet sich das Gedicht auf S. 161–166, in der zweiten Auflage von 1698 [VD17 23:248064D] auf S. 920–924. Zudem ist es in Des Schlesischen Helicons auserlesene Gedichte Oder Etlicher vortreflicher Schlesier biß anhero ohnbekandte Poëtische Galanterien: Nebst einer Vorrede von Vortrefligkeit der Neueren Deutschen Poëten. Bd. 1. Frankfurt/Leipzig, 1699. [VD17 23:302282A], S. 472–476, erneut abgedruckt.
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kann Kamper die Mythologie als christlich geprägtes Kulturgut ausweisen, auf das auch Martin Opitz zurückgegriffen habe, der Torquato Tasso und Saadi nachgefolgt sei (V. 64–67), um die deutsche Dichtung international konkurrenzfähig zu machen. Überdies reiht Kamper den verstorbenen Mühlpfort in die Tradition der antiken Dichtergrößen ein, die nach der apologetischen Abhandlung auch in einem christlichen Kontext als Vorbilder angesehen werden dürfen: Er war an Hurtigkeit dem schnellen Naso gleich! Nachdrücklich wie Virgil, ein Flaccus mit der Leyer/ An der Erfindung gut/ an schönen Worten reich/ Die Anmuth war niemals in seinen Schrifften teuer. Es war sein Statius, wie auch der Claudian Ihm täglich in bey der Hand/ […] (V. 83–88)
Indem Kamper den verstorbenen Mühlpfort mit Ovid, Vergil und Flaccus vergleicht, daneben jedoch Statius und Claudian als dessen Vorbilder deklariert, vermengt er die huldigenden Antonomasien mit der Angabe von Mühlpforts Quellen. Somit dient das Epicedium nicht nur der Ehrerbietung, vielmehr zielt es auf die Rechtfertigung von Mühlpforts Mythenrezeption, die Kamper durch seine ausschweifende „Verthaidigung“ gleichzeitig als eines der wichtigsten poetologischen Parameter in Mühlpforts Werk hervorhebt.
3.2 Adonis-Klagen in ‚Zincgrefs Anhang‘ (1624) und Neukirchs ‚Anthologie‘ (1695–1734) 3.2.1 Literaturhistorische Stellung der Teutschen Poemata und der ‚Neukirchschen Sammlung‘ Während ‚harte Epochengrenzen‘ den steten Wandel und die Kontinuitäten im Literaturbetrieb zu unterschätzen scheinen, ist die epochemachende Wirkung mancher Werke nicht von der Hand zu weisen, die in der Retrospektive im gleichen Maße den Beginn sowie das Ende einer Literaturperiode markieren können. Dazu gehören die Teutschen Poemata (1624) von Martin Opitz, die Julius Wilhelm Zincgref (1591–1635) erweitert mit einem Anhang „Auserlesener Gedichte Deutscher Poeten“ veröffentlichte.1012 Zusammen mit dem Buch von der Deutschen
1012 Bundschuh-van Duikeren, Bibliographie der niederländischen Literatur in deutscher Übersetzung, hat den niederländischen Einfluss auf die Teutschen Poemata und den ‚Anhang‘
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Poeterey (1624) gab die Sammlung der Teutschen Poemata den entscheidenden Anstoß zur Neuerung der volkssprachlichen deutschen Poesie und bildet deshalb eine wichtige Zäsur in der Literaturgeschichte, die Opitz den Nachruhm als ‚Vater der deutschen Dichtung‘ sicherte.1013 In umgekehrter Weise läutete die sogenannte ‚Neukirchsche Sammlung‘ mit ihren sieben Bänden zwischen 1695 und 1734 das Ende des ‚langen‘ siebzehnten Jahrhunderts ein. Als prominenteste zeitgenössische Anthologie barocker Gedichte unterläuft sie mit ihrer fulminanten Wirkung zugleich die Abgrenzungsversuche der Frühaufklärer, leitet aber auch den Abgesang der barockmanieristischen Ästhetik ein.1014 Aufgrund ihrer herausragenden Stellungen dürfen die beiden Sammlungen heuristisch als Grenzpfeiler der literarischen Barockepoche verstanden werden: Die Teutschen Poemata mit dem sogenannten ‚Zincgref’schen Anhang‘ als Anfang, die ‚Neukirchsche Sammlung‘ als Endpunkt. Um exemplarisch den Wandel der Liebeskonzeptionen, aber auch die Dynamik der barocken Adonis-Rezeption zutage zu fördern, werden Zincgrefs Adonis Nachtklag vor seiner Liebsten Thür aus dem Anhang der Teutschen Poemata und zwei anonyme Adonis-Klagen aus der ‚Neukirchschen Anthologie‘, Der Venus klag um Adonis Grab (1697) und Sonnet. Andere klage der Venus über den todt Adonis (1703), vergleichend gemustert.
nachgewiesen, indem sie die Vorlagen für eine Vielzahl der Gedichte kenntlich gemacht und gesammelt hat und dadurch die Kontinuitäten der voropitz’schen Ära nachgewiesen hat (vgl. ebd., die Einträge: [dt-309], [dt-0922–23], [dt-0922–23], [dt-0937], [dt-0945], [dt-0948–50], [dt-0956–59], [dt-0965], [dt-0970–74], [dt-0978], [dt-0983], [dt-0988], [dt-0991], [dt-1001], [dt1007], [dt-1012–15], [dt-1061], [dt-1615], [dt-1737], [dt-1933–37], [dt-1964], [dt-1001], [dt-2371–74], [dt-2377–95], [dt-2398–2404]) Dennoch ist auch die Wirkung der opitz’schen Gedichtsammlung unbestritten, vgl. Achim Aurnhammer: Zincgref, Opitz und die sogenannte Zincgref’sche Gedichtsammlung. In: Julius Wilhelm Zincgref und der Heidelberger Späthumanismus. Zur Blüteund Kampfzeit der calvinistischen Kurpfalz. Hg. von Wilhelm Kühlmann, Hermann Wiegand. Ubstadt-Weiher 2011 (Mannheimer historische Schriften 5), S. 263–283. 1013 Vgl. dazu Garber, Martin Opitz – ‚der Vater der deutschen Dichtung‘, S. 37–73 und Kühlmann, Martin Opitz. Deutsche Literatur und deutsche Nation, S. 7–18, sowie nun auch die umfassende Studie von Garber, Der Reformator und Aufklärer Martin Opitz, besonders S. 1–40. 1014 Vgl. Benjamin Neukirchs Anthologie Herrn Hoffmannswaldau und anderer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte. Bd. I–VII. Hg. von Angelo George de Capua, Ernst Alfred Philippson. Tübingen 1961–1991 (Neudrucke deutscher Literaturwerke N.F. 1 ff). Nachstehend abgekürzt zitiert mit: NS, Bandnummer, Seitenzahl.
3.2 Adonis in Zincgrefs Anhang und Neukirchs Anthologie
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3.2.2 Adonis Nachtklag von Zincgref als idealisierendes Paraklausithyron Adonis Nachtklag vor seiner Geliebten Thür. Ex Anglico ist eins von 22 Gedichten von Zincgref, die er zusammen mit 33 weiteren Gedichten von zwölf anderen Autoren im Anhang der Teutschen Poemata veröffentlichte.1015 In sieben Strophen mit je acht Versen schildert Zincgref, wie Adonis als exclusus amator nachts auf der Türschwelle seiner geliebten Venus um Gehör fleht, die nicht erwiderte Liebe beklagt und sich den Tod wünscht. Damit gehört die Klage der Gattung der Paraklausithyra an, die zuerst in Plutarchs Erotikos überliefert ist, besonders aber von den römischen Elegikern Horaz, Tibull, Propertius und Catullus aufgegriffen und von Ovid in den Amores weiterentwickelt wurde.1016 Obgleich die Druckgeschichte der Teutschen Poemata vermuten lässt,1017 dass Zincgrefs Paraklausithyron vor der von Opitz im Buch von der Deutschen Poeterey festgeschriebenen Versreform entstanden ist, weisen die Strophen mit je zwei Paarreimen, gefolgt von einem Kreuzreim (aabbcdcd), eine auffällig konstante metrische Komposition auf. Die Paarreime alternieren je trochäische Drei- und Vierheber, wohingegen die Kreuzreime jambische Dreiheber bieten. Bei durchgehend männlichen Kadenzen und stets gleichbleibender Silbenanzahl (5-7-5-76-6-6-6) fallen Versakzent und die natürliche Betonung bis auf eine Ausnahme zusammen.1018 Die Beobachtung von Achim Aurnhammer, der anhand der Faktur des Anhangs und der Paratexte sowie durch einzelne intertextuelle Bezüge und Motivverwandtschaften zwischen Opitz’ Sammlung und dem Zincgref’schen Anhang zeigen konnte, dass Zincgref mit der Beigabe zu den Teutschen Poemata die Rolle
1015 Die Teutschen Poemata und der ‚Anhang‘ sind ediert worden in der kritischen Ausgabe Martin Opitz. Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 2/1. Die Werke von 1621 bis 1626. Hg. von George Schulz-Behrend Stuttgart 1979 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 300). Für Opitz’ Gedichte vgl. ebd., S. 161–217 sowie für den ‚Anhang‘ ebd., S. 218–292. Für Adonis Nachtklag vor seiner Liebsten Thür vgl. ebd., S. 274–275, nachstehend wird aus dieser Edition nach den dort angegebenen Verszahlen zitiert. 1016 Vgl. Hans Armin Gärtner: [Art.] Paraklausithyron. In: Der Neue Pauly, Bd. 9, Sp. 317–318. 1017 1620 floh der 21-jährige Martin Opitz vor der spanischen Armee aus Heidelberg und übermittelte seinem Freund Zincgref eine Sammlung von Gedichten, die womöglich der vier Jahre nach Opitz’ Flucht, 1624, in Straßburg veröffentlichten Teutschen Poemata glichen. Um die den Zeitumständen geschuldete verspätete Drucklegung auszugleichen, hatte Zincgref weitere Gedichte von Opitz, aber auch seinen „Anhang ungedruckter Getichte“ hinzugefügt, vgl. Aurnhammer, Zincgref, Opitz und die sogenannte Zincgref’sche Gedichtsammlung, S. 263–264. 1018 Die einzige Ausnahme bildet V. 25, der dem Metrum entsprechend auch ein trochäischer Dreiheber sein müsste. Der natürliche Wortakzent würde jedoch die erste Silbe von „järlich“ (V. 25) betonen, wodurch ein Hebungsprall entstünde.
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von Opitz als Reformator der deutschen Dichtung abschwächen und sich selber als Wegbereiter inszenieren wollte,1019 scheint sich auch in der die Versreform antizipierenden, formbewussten Gestaltung von Zincgrefs Paraklausithyron widerzuspiegeln. Indem Zincgref eine antike Gattung aufgreift und sie im deutschen Gattungssystem etabliert, jedoch, wie der Titel zeigt, zugleich eine englische Quelle nachahmt1020 und sich metrisch an Opitz’ Mustern orientiert, bringt er seine Türklage in ein dreidimensionales Konkurrenzverhältnis mit der antiken Dichtung einerseits, im kulturpatriotischen Wettstreit mit der englischen Poesie andererseits und schließlich mit seinem Dichterfreund und Kontrahenten Martin Opitz. Während sich über den aemulativen Charakter des Gedichts der dichterische Impetus bestimmen lässt, bietet Zincgref inhaltlich eine korrigierende Aneignung der Adonis-Episode. In der ersten Strophe des von Albert Pick zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts überschwänglich als goethegleich gelobten Paraklausithyrons,1021 welches in Anthologien der späten Aufklärung und der Romantik fortwirkte,1022 wird aus Adonis’ Perspektive geschildert, wie er nachts auf der Türschwelle seiner geliebten Venus um Gehör fleht. In der zweiten Strophe erbittet er den Tod, da Venus ihn ohnehin nicht erhören werde. Die Strophen drei bis fünf beschreiben seine Reflexion über das Grabmal, das ihm errichtet werden solle. Statt eines Grabsteines solle ein Epitaph auf einer Urne Vorübergehende daran erinnern, dass Adonis aus Liebe zu Venus gestorben sei. Überdies sollen aus seinen Überresten jährlich Blumen wachsen, die von unglücklichen Liebhabern zu Sträußen für ihre Geliebten gebunden werden sollen. In den letzten beiden Strophen verkündet Adonis dagegen seine Hoffnung, Venus werde wenigstens um ihn trauern, wenn er verstorben sein wird und sie sein Grab anschauen werde. Folglich lässt sich das Gedicht dreigliedrig in erstens die adonische Klage (V. 1–16), zweitens seine Reflexion über das Liebesverhältnis (V. 17–40) und drittens die Hoffnung auf Erwiderung der Liebe im Tod (V. 41–56) strukturieren. Dabei offenbart sich durch die inhaltliche Gliederung und die Sprechsituation bereits die 1019 Vgl. Aurnhammer, Zincgref, Opitz und die sogenannte Zincgref’sche Gedichtsammlung. 1020 Zincgrefs Prätext konnte bisher nicht aufgefunden werden. 1021 Vgl. Albert Pick: Studien zu den deutschen Anakreontikern des XVIII. Jahrhunderts, insbesondere J. W. L. Gleims. In: Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte 7 (1907), S. 45–109, hier S. 70. 1022 Vgl. etwa Johann Joachim Eschenburg (Hg.): Auserlesene Stücke der besten Deutschen Dichter. Bd. 3. Von Martin Opitz bis auf gegenwärtige Zeiten. Nach des sel. Zachariae Tode fortgesetzt und mit historischen Nachrichten und kritischen Anmerkungen versehen. Braunschweig 1778, S. 247–250; Wilhelm Müller (Hg.): Bibliothek deutscher Dichter des siebzehnten Jahrhunderts. Bd. VII. Auserlesene Gedichte von Julius Wilhelm Zinckgref, Andreas Tscherning, Ernst Christoph Homburg und Paul Gerhard. Leipzig 1825, S. 3–6 und Ludwig Wihl (Hg.): Geschichte der Deutschen National-Literatur von ihren ersten Anfängen bis auf unsere Tage. Hamburg Altona 1840, S. 441–443.
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radikale Korrektur der Adonis-Episode, die Zincgref vornimmt. Durch die Reduktion des inzestuösen Geburtsmythos (Sequenz I,1–4: Geburt des Adonis) zentriert Zincgref zunächst das Liebesverhältnis zwischen Venus und Adonis, welches er jedoch umkehrt. Er stellt nicht die nach Adonis schmachtende Venus dar (Sequenz II,5: Venus verliebt sich in Adonis), sondern projiziert das unerfüllte Liebesbegehren in den mythischen Liebhaber. Der Umkehr der Liebesrichtung unterliegen auch die weiteren Inversionen von Zincgrefs Korrektur. Den Streit zwischen Proserpina und Venus (Sequenz II,6–7) ausklammernd wendet Zincgref das beidseitige Begehren und die Liebeserfüllung (Sequenz III,8) in ein einseitiges Verlangen des Adonis. Auch den gewaltsamen Tod durch einen Eber und die vorangehende Jagdsequenz (Sequenz III, 8–9) korrigiert Zincgref in einen Tod durch unerfüllte Liebe und variiert die Metamorphose in Anemonen (Sequenz III,10) in eine Verwandlung in „Rote Rößlein“ (V. 26), Vergissmeinnicht (V. 27) und „Roßmarein“ (V. 28). Durch das korrigierende Verfahren überträgt Zincgref die idealisierende Liebeskonzeption auf den Mythos und nimmt eine klare Zuweisung der Geschlechterrollen vor. Bereits im ersten Vers der ersten Strophe, welche die Klage mit einer emphatischen Apostrophe der Venus durch Adonis einleitet: „MAg dann/ ach Schetzlein“ (V. 1), wird Adonis zum Werbenden und Venus durch den diminutiven Kosenamen zur Angebeteten stilisiert. Die Häufung der zeitlichen Deiktika „dann“ (V. 1, 13, 25, 41, 49) und „wann“ (V. 33) bildet mimetisch das drängende Werbungsmoment ab, wobei Zincgref gezielt an petrarkistische Motive anknüpft, um Adonis zum petrarkistischen amator zu transformieren. In hyperbolischer Bildlichkeit schildert Adonis, wie er Tränenbäche (V. 6) auf der Türschwelle seiner Geliebten vergießt, diese jedoch sogleich „Mit Seufftzen“ (V. 7) trocknet. Gedanklich bereitet die durch die Hyperbolik fast komisch anmutende Schilderung den metaphorischen Vergleich des Herzens der Geliebten mit einem Stein vor: So manches tröpfflein Kan erweichen einen Stein Ewer steinen Hertz Kan erweichen gar kein schmertz (V. 9–12)
Die im anaphorisch intensivierten Parallelismus formulierte Antithese greift die auf der Türschwelle vergossenen Tränen der ersten Strophe wieder auf, versinnbildlicht jedoch vor allem die Ablehnung der Liebesdame mit dem ‚steinernen Herzen‘, welches von keiner Trauer oder Bitte des Liebenden erreicht werden kann.1023 Der
1023 Zu diesem Motiv vgl. Hans Pyritz: Paul Flemings Liebeslyrik. Zur Geschichte des Petrarkismus. Göttingen 1963 (Palaestra 234), S. 214–215.
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im fingierten Epitaph auf Adonis formulierte Grund für seinen eigenen Tod repliziert hingegen das petrarkistische Motiv des Liebestodes, welchen der Werbende sterben muss, weil seine Geliebte ihn nicht erhört: Der hie zu tode blieb/ Den hat gebracht dahin/ Sein Trew vnd grosse Lieb. (V. 22–24)
Obgleich die Blumen, die „järlich“ (V. 25) aus dem Kadaver des Adonis wachsen sollen, die adonische Metamorphose durchaus antizipieren, sind sie bei Zincgref als Zeichen der Liebe und nicht der Trauer semantisiert, die auch nach dem Tode von Adonis eine hofierende Wirkung auf Venus ausüben sollen. Schließlich soll auch Adonis’ Tod die Liebe der Venus befördern, so erhofft er, sie werde ihn bei Anblick seines Grabes bitterlich beweinen (V. 42) und eingestehen, dass sie „nur zu schew“ (V. 44) gewesen sei, um seine Liebe zu erwidern. Deutlich projiziert Zincgref die im Petrarkismus mitgedachte Standeshöhe der Liebesdame, die dem Liebhaber zwar zugeneigt gewesen wäre, aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung jedoch ablehnen muss, in die mythische Liebschaft, um Venus als Liebesdame zu idealisieren und Adonis’ Liebe zu sublimieren. Formal verklammert Zincgref die Beschreibung der ideellen Standeshöhe mit der Sublimation und Verewigung der Liebe durch einen strophenübergreifenden Parallelismus, der Adonis’ Triumph einleitet: Als dann wird sie mich Erst beweinen bitterlich […] Als dann erst werd ich In dem tode frewen mich Vnd in aller Leut Munde triumphieren weit. (V. 41–52)
Die in der Treue trotz Ablehnung sublimierte Liebe, die durch die Verewigung des Liebhabers noch gesteigert wird, stellt Adonis ins Zentrum der Liebesbeziehung. Dies zeigen einerseits die gehäuften Personalpronomen der ersten Person Singular, die sich durch die gesamte Liebesklage ziehen: „mir“ (V. 1, 14, 17, 25, 36, 39), „ich“ (V. 4, 7, 16, 43), „mein“ (V. 14, 20, 48) und „mich“ (V. 41, 50), andererseits deutet auch die Parallelstellung von Adonis’ Grab und Venus’ Türschwelle darauf hin, die Zincgref durch Reimkonkordanzen („mein […] Pein“ (V. 14–16), „klein […] mein Gebein“ (V. 19–20), „Aeugelein […] mein gebein“ (V. 46–48), „sein […] Pein“ (V. 53–55)) und das erneut variierte Motiv des durch Tränen
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erweichten (Grab-)Steins bewirkt: „Ein tröpflein auff das Grab/ | Erquicket mein Gebein“ (V. 47–48). Eindeutig bringt Zincgref die Adonis-Episode durch seine Korrektur zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts in Einklang mit dem petrarkistischen Liebesmodell, welches in der Liebeslyrik des frühen Barock dominierte. Seine Adonis-Rezeption repräsentiert folglich den zeitgenössischen Geschmack der deutschen Liebeslyrik und scheint gleichzeitig dem kulturpatriotisch motivierten Aufholbedarf der deutschen Dichtung zu unterliegen, dem Opitz mit dem Buch von der Deutschen Poeterey und seinen Teutschen Poemata Abhilfe leisten wollte, da sie motivisch und durch die Liebeskonzeption eines der wichtigsten Muster der europäischen Liebeslyrik – Petrarcas Canzoniere – nachahmt.
3.2.3 Die anonymen Adonis-Klagen der ‚Neukirchschen Sammlung‘ Das anonyme Alexandrinergedicht Der Venus klag um Adonis grab (1697) aus dem ersten Band der ‚Neukirchschen Sammlung‘,1024 in dem das Sprecher-Ich aus Venus’ Perspektive den Tod des Adonis beklagt, steht im eklatanten Gegensatz zu Zincgrefs Klage. Die Liebesrichtung entspricht dem idealtypischen Mythosverlauf, da Venus ihren verstorbenen Liebhaber beklagt und Adonis nicht wie bei Zincgref als amator dargestellt wird. Durch die dargebotene Klage der Venus wird die Liebe der Frau zur Sprache gebracht. Damit ist ein wichtiger Paradigmenwechsel im Geschmack der Liebesdichtung benannt, da die Liebeslyrik hier keine Werbelyrik darstellt. Die 72 Alexandriner sind nicht strophisch gegliedert, doch das Reimschema – auf einen umarmenden Reim folgt je ein Paarreim (abbacc), wobei die Paarreime weibliche und die umarmenden Reime männliche Versschlüsse aufweisen – strukturiert die Klage, da das Ende von einer gedanklichen Einheit meist mit dem jeweils sechsten Vers zusammenfällt, in zwei Fällen mit dem zwölften. Der Reim wird folglich als Strukturelement genutzt, was die inhaltliche Gliederung der sonst stark durch Wiederholungsfiguren und Brüche in der Erzählkohärenz geprägten Klage erleichtert.
1024 Vgl. NS. Bd. 2, S. 71–73. Vgl. zur Neukirchschen Sammlung neben der Edition die verdienstvolle Arbeit von Franz Heiduk: Die Dichter der galanten Lyrik. Studien zur Neukirchschen Sammlung. Bern 1971, der eine Vielzahl der Dichter kenntlich gemacht hat. Vgl. ebd., S. 156, Anm. 114 bzw. S. 207 zur hier behandelten anonymen Venus-Klage, von der Heiduk eine handschriftliche Version im anonymen Heldenbuch (Abschriften des 19. Jahrhunderts), S. 159. SBB-PK [Ms. germ. qu. 768] ausfindig gemacht hat.
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3 Venus und Adonis: Treue
Grob lässt sich das Gedicht zweiteilig strukturieren: In eine Renarrativierung von Adonis’ Tod durch den Eber (V. 1–30) und in ein Versprechen der Venus, dem verstorbenen Adonis ein Grab zu errichten (V. 31–72). Der erste Teil zerfällt in (1) die Klage um den Toten (V. 1–12) und in (2) einen Bericht der Venus, in dem sie wiedererzählt, wie sie den toten Adonis auffindet (V. 13–30). Der zweite Teil, das Versprechen eines Grabmals, beginnt hingegen mit (3) der Vergegenwärtigung von erotischen Erlebnissen mit Adonis (V. 31–42) und tastet dann (4) alle Möglichkeiten der Verewigung ab. Der klassische Grabstein (V. 43–48) wird übertroffen durch die Metamorphose in Anemonen (V. 49–54), durch Klagen der Elementargötter (V. 55–60), einem Vergleich mit Artemisia von Halikarnassos, welche den antiken Chroniken nach das als Weltwunder betrachtete Mausoleum für ihren Mann erbauen ließ (V. 61–66), und mündet schließlich in der Hypostase von Venus’ Liebe im Grabstein des Adonis (V. 67–72). Der Abgleich mit dem Strukturmodell zeigt, dass die zweite Sequenz (Adonis als Weltenwandler) in der anonymen Rezeption ganz getilgt ist, wohingegen sich die Aneignung von Sequenz I (Geburt des Adonis) in der doppelten Beschreibung des mythischen Liebhaber als Sohn andeutet: „In hoffnung meinem Sohn und besten schatz zu rathen“ (V. 24) und „Mein einzig liebes kind/entseelt mein kranckes hertze“ (V. 44). Die ungewöhnliche Doppelbeziehung als Sohn und Geliebter verweist insofern auf die inzestuöse Geburt des Adonis, als dass Venus aus Wut über die versagte Huld Myrrha in Liebe zu ihrem Vater Kinyras entbrennen lässt und sie, als sie von Kinyras verfolgt wird, in die Myrrhe verwandelt, aus der Adonis entsteht. Die Verwandlung und die von ihr verursachte Liebesbeziehung zwischen Kinyras und Myrrha bedingen Venus’ Anteil an Adonis’ Geburt, weshalb sie zugleich als Mutter und Geliebte von Adonis dargestellt werden kann. Im Mittelpunkt der Klage steht jedoch die amplifizierte Sequenz III, in der das Liebesverhältnis zwischen Venus und Adonis (Sequenz III,8), der Tod durch den Eber (Sequenz III,10) und die Verwandlung in eine Anemone (Sequenz III,11) variiert und ausgestaltet wird, wohingegen Venus’ Versuch, Adonis von der Jagd abzuhalten (Sequenz III,9), getilgt wird. Da die Klage das mythologische Geschehen retrospektiv und in der Erzählung von Venus selbst referiert, dabei die Trauer um den Verstorbenen ins Zentrum des Gedichts rückt und dementsprechend lyrische und erzählerische Passagen enthält, wird die Adonis-Klage nachstehend als ‚lyrisches Trauernarrativ‘1025 1025 Im Band von Achim Aurnhammer, Thorsten Fitzon (Hgg.): Lyrische Trauernarrative. Erzählte Verlusterfahrung in autofiktionalen Gedichtzyklen. Würzburg 2016 (Faktuales und fiktionales Erzählen 2), wurde die moderne Erzählforschung mit der modernen psychosomatischen Trauerforschung in Verbindung gebracht, um eine erzähltheoretische Heuristik zu entwerfen, mit der die zwischen Aktualisierung und Distanzierung changierende Dynamik einer
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aufgefasst. Achim Aurnhammer und Thorsten Fitzon definieren „Gedichte [als Trauernarrative], in denen Verlusterfahrungen aus der Sicht eines Sprecher-Ichs erzählerisch repräsentiert sind“ und plädieren dafür, diese auf der theoretischen Grundlage von Wolf Schmids Elementen der Narratologie „mit narratologischen Methoden [zu] analysieren“.1026 Damit gelingt ihnen, die aktuelle Erzählforschung fruchtbar auf die psycho- und soziolinguistische Trauerforschung zu beziehen. Während mithilfe der genannten Analysemethode stichhaltig die Psychologisierung der Liebe zum Verlorenen greifbar gemacht und anhand der Psychologisierung die Reflexion des Subjekts in der Liebeslyrik verortet werden kann, sollen danach drei weitere Bearbeitungsverfahren – Sakralisierung, Personalisierung und Historisierung – in der anonymen Adonis-Klage sichtbar gemacht werden, um anschließend den Wandel des Liebesdiskurses im Vergleich von Zincgrefs frühen und der späten Venus klag um Adonis grab aufzuzeigen. Psychologisierung der Klage Dass sich Der Venus klag um Adonis grab als lyrisches Narrativ auffassen lässt, kann anhand der ‚Sequentialität‘ gezeigt werden, denn eindeutig wird die vergangene Freude und die gegenwärtige Trauer kontrastiert: „Bedenk ich jene lust und gegenwärtig leid“ (V. 31). Die zeitlichen Sequenzen lassen sich dabei auf die vier inhaltlichen Abschnitte übertragen: die (1) gegenwärtige Klage (V. 1–12) wird gefolgt von (2) der Erzählung von Adonis Tod (V. 13–30). Daran schließt die (3) Erzählung der vergangenen Liebeserfüllung (V. 31–42) und die (4) gegenwärtige Bestimmung einer Zukunftshandlung (V. 43–72) an. Die Erzählung ist demnach als dynamische Abfolge von (1) Gegenwart, (2) Vergangenheit, (3) fernere Vergangenheit und (4) zukunftsorientierter Gegenwart konzipiert, die eine ebenfalls
Verlusterfahrung in den Trauertexten erfasst werden kann. Dabei wird Narrativ durch Sequentialität und Medialität definiert, also durch die innere oder äußere, temporale Zustandsänderung einerseits und durch die Erzählinstanz andererseits. Vgl. Achim Aurnhammer, Thorsten Fitzon: Einleitung. In: Aurnhammer/Fitzon, Lyrische Trauernarrative, S. 9–17, hier S. 9. Von dem Erfolg des Vorhabens zeugen die Beiträge in eben diesem Band. Den Forschungsstand der Trauerforschung fasst Carl E. Scheidt: Narrativierung von Trauer und Verlust – zur aktuellen psychosomatischen Trauerforschung. In: Aurnhammer/Fitzon, Lyrische Trauernarrative, S. 19–30, aufschlussreich zusammen. 1026 Vgl. Aurnhammer/Fitzon, Einleitung, S. 9. Bereits Schmid hatte kritisiert, dass „[d]ie klassische Konzeption […] nur solche Werke [erfasst], die eine vermittelnde Erzählinstanz enthalten, darunter auch rein beschreibende Reiseberichte und Skizzen, und […] alle lyrischen, dramatischen und filmischen Texte aus dem Bereich des Narrativen aus[schließt]“, vgl. Schmid, Elemente der Narratologie, S. 2.
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eine Dynamik der ‚Medialität‘ bedingt. Als Klagende hält Venus figural und narratorial motivierte Anteile der Erzählerrede. In der anfänglichen Klage dominiert – wie auch in der schließenden Klage – figural motivierter Erzähltext:
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Adonis grab ist hier; mehr sagt die liebe nicht / Und Venus seel entschläft bey diesem leichen-steine. Ach hochgeliebter leib! ach werthste todten-beine! Ach himmlischer Adon! mein mattes herze bricht In lieb und thränen aus: die thränen sollen zeugen/ Daß meine liebe wird zu keinen zeiten schweigen. Wo ist Adonis sarg? wo ist Adonis grab? Daß Venus nicht zugleich sich auf die baare leget/ Wie wenn ein rauher wind die blumen niederschläget/ Schlägt tulp und nelck entzwey / und bricht die blumen ab. So war mein lebens-geist von herz und seel entrissen/ Als meinen lieben schatz ein wildes schwein gebissen. (V. 1–12)
Der örtlichen Bestimmung des Grabes in Figurentext „Adonis grab ist hier“ (V. 1) schließt sich die Präteritio „mehr sagt die liebe nicht | Und Venus seel entschläft bey diesem leichen-steine“ (V. 1–2) in Erzählertext an, wie die Antonomasie „liebe“ für Venus zeigt. Ein erneuter Wechsel in Figurentext dynamisiert die parallelistisch-anaphorischen Ausrufe, die durch die dreifache Wiederholung der affektischen Interjektion „Ach“ (V. 3–4) geprägt sind und so das Klagen mimetisch abbilden. Dabei wirken die Antonomasien „hochgeliebter leib! ach werthste toten-beine“ (V. 3) spannungsbildend, weil in ihnen der lebendige und tote Adonis gegenübergestellt werden, bevor der dritte Ausruf Adonis mit dem Attribut „himmlischer“ (V. 4) sakralisiert. Die Spannung entlädt sich dann in dem Enjambement der nachfolgenden Strophen, welches die erstarrte Metapher des ‚gebrochenen Herzens‘ synekdochisch als Pars pro toto auflöst: „mein mattes herze bricht | In lieb und thränen aus“ (V. 4–5). Die anaphorischen rhetorischen Fragen im Isokolon „Wo ist Adonis sarg? wo ist Adonis grab?“ (V. 7) wirken dagegen als Zäsur, indem sie der anfänglichen Ortsbestimmung des Grabes von Adonis widersprechen und dadurch zugleich für einen Bruch in der Erzählkohärenz und in der raumzeitlichen Verankerung sorgen. Solche Brüche gelten in der modernen Trauerforschung als Zeichen nicht bewältigter Trauer, die besonders in Aktualisierungen von traumatischen Ereignissen vorkommen.1027 Ohne die diachrone Diskrepanz zwischen der heutigen 1027 Vgl. Anja Stukenbrock: Die Rekonstruktion potenziell traumatischer Erfahrungen: Sprachliche Verfahren zur Darstellung von Kindsverlust. In: Gesprächsforschung. Online-Zeitschrift zur
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psychosomatischen Trauerforschung und der barocken Liebeslyrik zu unterschlagen, kann der herbeigeführte Bruch der Erzählkohärenz auch hier als psychologisierende Strategie eingeordnet werden, mit welcher der unverarbeitete Verlust des Geliebten dargeboten wird. Neben zwei weiteren Wiederholungen der Grabesbeschreibung – „So bau ich hier dein grab“ (V. 46) und „Hier ist Adonis grab“ (V. 49) – wird die Psychologisierung zusätzlich durch Wiederholungsfiguren intensiviert, die durch Dopplungen die Erzählkohärenz unterlaufen: Wie wenn ein rauher wind die blumen niederschläget/ Schlägt tulp und nelck entzwey/ und bricht die blumen ab. (V. 9–10)
Ähnlich wie die chiastische Konstruktion „In lieb und thränen aus: die thränen sollen zeugen/ | Daß meine liebe wird zu keinen zeiten schweigen“ (V. 5–6) bildet die chiastische Anadiplose im tautologischen Vergleich von Venus’ Tod mit den vom Wind niedergedrückten Blumen das verzweifelte Verweilen bei dem Gedanken an den Verstorbenen formal ab, wobei die polysemantische Metapher der ‚brechenden Blumen‘ zugleich die Erinnerungen an erotische Zusammenkünfte einspiegelt. Sakralisierung der Liebe zwischen Venus und Adonis Obgleich die psychologisierte Klage den Trauerfall zunächst aktualisiert, wird der Bericht über Adonis’ Tod durch einen Tempuswechsel vom Präsens zum Präteritum distanziert. Zwar dominiert in der Wiedererzählung figural motivierter Erzählertext, dieser ist jedoch von emphatischen Ausrufen („Ach ewiger verlust! unwiderrufflich fall!“ [V. 13], „Holdseeliger Adon!“ [V. 15], „Vergebens!“ [V. 25]) und Interjektionen („Ach“ [V. 13], „ja“ [V. 27]) durchzogen, die aktualisierendend wirken. Besonders der Einschub von direkter Rede: „Und tausend mahl geschryn: erwache meine seele!“ (V. 26) sorgt für Textinferenzen, da sich hier Erzähler- und Figurentext überlagern. Auch der erneute Tempuswechsel ins Präsens „Adonis sternen-glieder | Sind durch des wildes biß besprützet hin und wieder“ (V. 20–21) aktualisiert den Bericht, wohingegen die Auslassung des Hilfsverbs „nun [ist] seel und geist verflogen“ (V. 15) sowie das Adverb „fast“ (V. 16), welches Unsicherheiten in der Wiedergabe andeutet und dadurch die Erzählkohärenz durchbricht, mimetisch die stockende Erzählweise der Trauernden abbildet. Bedeutsam ist überdies, dass der Geliebte nicht idealisiert, sondern sakralisiert wird.
verbalen Interaktion 14 (2013), S. 167–199, vgl. www.gespraechsforschung-ozs.de (Zugriff 15. September 2018), hier S. 168–171.
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3 Venus und Adonis: Treue
[…] Adonis sternen-glieder Sind durch des wildes biß besprützet hin und wieder Vom schaum des rothen bluts. Ich bracht ihm himmel-wein Und edlen perlen tranck […] (V. 20–23)
Durch die chiastische Stellung der Farbmetaphorik der „sternen-glieder“, des „rothen bluts“, des „himmel-wein[s]“ und des „perlen tranck[s]“ wird das Blut des Adonis mit dem himmlischen Wein überlagert und die Rettungsversuche der Venus mit der Leibwerdung Christi verschränkt. Sinnfällig wird die Überblendung besonders im Hinblick auf die durch Adonis’ zyklische Wiedergeburt naheliegenden Ähnlichkeiten zu Christus, welche bereits die spätantiken Bibelkommentatoren Origenes und Hieronymus dazu veranlasste, Adonis mit dem babylonischsumerischen Vegetationsgott Tammuz gleichzusetzen,1028 der im Alten Testament als Exemplum des moralischen Verfalls von Jerusalem angeführt wird (Ez. 8,14).1029 Gegen diese Tradition wird der antike Mythos hier mit dem christlichen Gedankengut harmonisiert, indem die Liebe zwischen Venus und Adonis sakral belegt wird. Damit lässt sich auch die wiederholte Beschreibung des Adonis als Sohn der Venus („In hoffnung meinem Sohn und besten schatz zu rathen“ (V. 24) und „Mein einzig liebes kind/entseelt mein kranckes hertze“ (V. 44)) als Überblendung von Venus und Maria interpretieren, durch die das Liebesverhältnis sakralisiert wird. Personalisierung der rituellen Adonia Indes prägt den mythischen Bericht ein Motiv, welches aus Bions Epitaph für Adonis entlehnt sein dürfte. In der hellenistischen Hexameterklage, in der die Adonia, eine rituelle Klage um Adonis, poetisch vergegenwärtigt wird, steht Venus wie in der anonymen Klage aus der ‚Neukirchschen Sammlung‘ im Mittelpunkt des Geschehens. Sie wird von einem weiblichen, fiktiven Sprecher-Ich apostrophiert, die Venus wechselnd zur Trauer und zum Handeln auffordert und in die Klage einstimmt.1030 Unregelmäßig gegliedert durch refrainähnliche, unterschiedlich variierte Klageausrufe wird der Tod des Adonis, die hastige Suche der Venus nach dem verwundeten Liebhaber, ihr Abschied vom Toten sowie die seine feierliche Beilegung geschildert. Neben der sprunghaften literarischen Technik,
1028 Weiser, Adonis, S. 18. 1029 Caruso, Adonis. The Myth of the Dying God in the Italian Renaissance, S. 3. 1030 Vgl. zu Bion und dem Epitaph für Adonis einführend Doris Meyer: Bion von Smyrna. In: Handbuch der griechischen Literatur der Antike. Bd. 2. Die Literatur der klassischen und hellenistischen Zeit. Hg. von Bernhard Zimmermann, Antonios Rengakos. München 2014, S. 233–237, hier S. 234–235.
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die mimetische und narrative Elemente abwechselt1031 und durchaus als Vorbild für die anonyme deutsche Adonis-Klage gedient haben könnte, scheint besonders das Motiv der mit dem Tod von Adonis einhergehenden sterbenden Schönheit der Venus aus dem hellenistischen Epitaph entlehnt zu sein: Hin ist ihr holder Gemahl und hin ist auch ihr göttlicher Liebreiz Strahlend war Kypris an Schönheit, indes Adonis noch lebte; Mit Adonis erlosch ihr eigener Schimmer.1032
Gleich drei Mal variiert die anonyme Adonis-Klage die schwindende Schönheit der Venus: Holdseeliger Adon! nun seel und geist verflogen So stirbt die Venus auch. (V. 15–16) […] Ich werd auch nimmer schön/ mein’ anmuth ist gestorben/ Und mit Adonis pracht der Venus glantz verdorben. (V. 29–30) […] Und saget nun iemand/ daß Venus bleich und kranck/ Der wisse/ da Adon mein trost und lieb erblichen/ Daß ich zugleich mit ihm aus der welt gewichen. (V. 65–66)
Anders als im bionischen Epitaph wird Venus in der anonymen Klage jedoch nicht von einem dritten Sprecher-Ich beschrieben, sondern schildert den Zerfall ihres eigenen Ichs, ihrer eigenen Schönheit. Die veränderte Erzählsituation personalisiert das Motiv der Selbstaufgabe und konterkariert dadurch den formelhaften Charakter der rituell-zeremoniellen Adonis-Klage des Bion. Die personalisiert formulierte Selbstaufgabe kann als Reflexion von Individualität aufgefasst werden, weil sie die Einzigartigkeit der Liebe vergegenwärtigt. Sie ist in keinem anderen Verhältnis replizierbar und begründet damit die Notwendigkeit des Todes der Liebenden.
1031 Zum Wechsel zwischen mimetischen und narrativen Elementen vgl. die Einführung von James Donald Reed (Hg.): Bion of Smyrna. The fragments and the Adonis. Edited with introduction and commentary. Cambridge 1997 (Cambridge classical texts and commentaries 33), S. 1–101, hier S. 16–18. 1032 Vgl. die deutsche Übersetzung von Bions Epitaph für Adonis, V. 29–31. In: Die griechischen Bukoliker. Theokrit – Moschos – Bion. Hg. von Hermann Beckby. Meinenheim am Glan 1975, S. 306–313, hier S. 309.
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3 Venus und Adonis: Treue
Historisierung der adonischen Liebe Um ihre Liebe zu Adonis auch im Tode zu würdigen, verspricht Venus, dem toten Adonis ein Grabmal zu errichten, „das keine zeit zerreib’“ (V. 46). Den Verewigungstopos ausschmückend werden alle Möglichkeiten, den Nachruhm zu sichern, in einer Aufzählung vorgebracht. Mit der Metamorphose des adonischen Bluts in Anemonen wird die Überlegenheit der Götter gegenüber den Menschen antithetisch unter Beweis gestellt („Ein mensch mag […] Ich göttin will“, V. 50–51), da mit der jährlichen Wiederkehr der Anemonen, die „bey dem rosen-lentz in purpur-kleidern blincken“ (V. 54) sollen, der Verewigungsanspruch realisiert wird. Ferner sichert Venus ein göttliches Epicedium, „den leichgesang/ das bittre todten-lied“ (V. 55), zu, welches von dem „westenwind“ (V. 57) Zephyrus vorgetragen werden soll. Besonders gesteigert wird die Verewigung jedoch durch einen Vergleich mit Artemisia II (†351/350 v. Chr.), der Frau von Mausolos von Mylasa, dem König von Karien: Daß Artemisja dort des ehmanns asche tranck/ Ist viel und liebes werth; Ich opffre meine seele/ Die zwar nicht sichtbar ist/ der lieben grabes-höle; (V. 61–63)
Artemisia, die nach dem Tod ihres Mannes selbst für zwei Jahre die Herrschaft über das satrapale Königreich übernahm, ist in der Geschichte bekannt, da sie angeblich für ihren verstorbenen Ehemann das unter den sieben Weltwundern der Antike geführte Grabmal errichten ließ, welches heute das Mausoleum von Halikarnassos genannt wird.1033 In der Literatur und den bildenden Künsten wurde jedoch auch eine bei Aulus Gellius überlieferte Episode rezipiert,1034 nach der Artemisia aus Sehnsucht und Trauer über den Tod ihres Mannes die Asche der verbrannten Gebeine mit Wasser mischte und trank.1035 Den heroischen
1033 Vgl. Peter Högemann: [Art.] Artemesia [1+2]. In: Der Neue Pauly, Bd. 2, Sp. 59. 1034 Mit Matthaeus Merians Artemisia (1655) erwähnt Joachim Sandrart in seiner Teutschen Akademie eine bedeutende bildliche Rezeption der Artesemia, vgl. Joachim von Sandrart: Teutsche Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste, Nürnberg 1675–1680, Wissenschaftlich kommentierte Online-Edition. Hg. von T. Kirchner u.a. 2008–2012, II, Buch 3, S. 325. Permalink: http://ta.sandrart.net/-text-551. (Zugriff 15. September 2018). Dagegen bietet das anonyme Libretto Arthemisia oder Die beständige Liebe. Weißenfels 1700. [VD17 32:623863V], eine von mehreren dramatischen Bearbeitungen von Niccolò Minatos L’Artemisia (1656) im auslaufenden siebzehnten Jahrhundert, vgl. Martino, Die italienische Literatur im deutschen Sprachraum, S. 165–166. 1035 Vgl. Aulus Gellius: Noctes Atticae. 10.18,3: „Artemisia, luctu atque desiderio mariti flagrans uxor, ossa cineremque eius mixta odoribus contusaque in faciem pulveris aquae indidit ebibitque multaque alia violenti amoris indicia fecisse dicitur.“ Zitiert nach A. Gellii Noctium Atticarum libri XX. Bd. I. Libri I – X. Hg. von Karl Hosius. Leipzig 1903. Nachdruck 1981, S. 362.
3.2 Adonis in Zincgrefs Anhang und Neukirchs Anthologie
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Liebesbeweis der Artemisia herabsetzend vergleicht sich Venus über ihr eigenes Liebesopfer, die dem Grab beigegebene Seele, mit der Königin von Groß-Karien und evoziert auch das von Artemisia in Auftrag gegebene Mausoleum. Die Konkurrenz zur realgeschichtlichen Person historisiert die Liebesklage der Venus und impliziert die Überlegenheit des literarischen Epitaphs gegenüber dem monumentalen Grabmal für Mausulos. Begründet wird die Prävalenz der Ruhestätte für Adonis durch die Hypostase von Venus’ liebesbringender Macht in das Grabmal: Die überschrifft wird sonst dem marmel einverleibt; Ich will sie ins gemüth der späten nachwelt graben / Dran soll der buler volck den schönsten spiegel haben / Wo nicht der grosse schmerz die lieb ins elend treibt: Hier ruht der schönheit schatz und Venus holde zierden / Tritt nicht zu nah hinzu! der stein macht die begierden. (V. 67–72)
Indes stammt das Motiv der Liebesmacht, die Venus in das transzendierte Grab von Adonis überträgt, zweifelsohne aus dem italienischen Versepos L’Adone (1623) von Giambattista Marino. Im neunzehnten Buch schildert Marino, wie Venus die Asche des verbrannten Adonis in einer Urne sammelt, in die Amor mit der Spitze eines vergoldeten Pfeils ein Epitaph auf Adonis eingraviert: “O peregrin che passi, arresta il passo al marmo, se non hai di marmo il core. Giace sepolto Adone in questo sasso e giace seco incenerito Amore. Nel cener freddo e nel sepolcro basso spento il lume è però, non già l’ardore. E che sia ver, tocca la pietra un poco che senz’altro focil n’uscirà foco”. (Buch XIX, Canto 404)1036
1036 Vgl. Giovan Battista Marino: Adone. Hg. von Giovanni Pozzi. Bd. 2. Mailand 1988 (Classici 52). Auf eine recht getreue Übersetzung der Oktave von Christian Hölmann, die in der Neukirchschen Sammlung überliefert ist, verweist Martino, Die italienische Literatur im deutschen Sprachraum, S. 426. Durch die Überschrift wandelt auch Hölmann das Epitaph von Amor in eine Grabschrift von Venus: Grabschrifft des Adonis / welche ihm die Venus gesetzt beym Marini in seinem L’Adone Ihr leute: die ihr sonst hier pflegt vorbey zu gehn Bleibt/ seyd ihr selbst nicht stein/ bey diesem steine stehn/ Hier ist’s Adonis grab! die liebe hälts so werth/ Daß sie darinnen selbst in asche sich verkehrt. Ist gleich ihr licht hier todt/ lebt doch noch ihre glut/
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3 Venus und Adonis: Treue
Unverkennbar variiert das schließende Reimpaar die beiden letzten Verse des 404ten Cantos. Der herausfordernde Imperativ „tocca la pietra un poco“ ist dabei warnend in „Tritt nicht zu nah hinzu!“ (V. 72) gewendet und die metaphorische Entzündung der Liebe in „der stein macht die begierden“ (V. 72) aufgelöst. Auch ist die Kommunikationssituation umgebildet, denn nicht Amor schreibt dem Grabstein das Epitaph ein, sondern Venus selbst will es ins „gemüth der späten nachwelt“ (V. 68) einprägen. Indem der anonyme Dichter die Grabinschrift Venus und nicht ihrem männlichen Sohn in den Mund legt, wird die Mittelbarkeit der Liebesklage gesenkt und die Geschlechterrollen angeglichen: Nicht Amor formuliert die Hypostase der Liebesmacht, sondern Venus selbst. Überdies wirkt der versprochene Liebestod in der anonymen Klage pointiert, da mit ihm das Gedicht endet und nicht wie bei Marino über 4000 weitere Verse folgen, welche die Selbstaufgabe zur Formel abschwächen. Somit deutet sich auch in dem abgewandelten Motiv aus Marinos Epos die Reflexion der Individualität an, die besonders in Abgrenzung von dem aus der Historie bekannten Beispiel der Artemisia hervortritt. Die luhmannsche These der Reflexion von Autonomie deutet sich ferner auch in der Vergegenwärtigung der erotischen Erfüllung mit Adonis an, in der Venus die Singularität der Ereignisse beschwört: „So hat niemand geliebt/ und niemand weiß es so/ | Die Seelen nur allein beschlossen was geschehen/“ (V. 37–38). Indes begründet die Bewusstwerdung der Individualität nicht allein die Liebe, sondern sie wird auch durch Treue nach dem Tod und die Erinnerung an vergangene Liebeserfüllungen gerechtfertigt. Zwar beleiht der anonyme Dichter mit den Preziösen-Metaphern „Sein alabaster arm umschränkte meine brüste“ (V. 36) und „Sein mund hieß mein rubin“ (V. 41) den stilprägenden petrarkistischen Motivkatalog zur Beschreibung von idealtypischer Schönheit, welche für die Idealisierung als Begründung der Liebe dient. Nicht jedoch kann die idealisierte Schönheit als Argument für die Liebe nach dem Tod gelten und ebenso wird die Paradoxierung, die sich mit der Imagination einer noch ausstehenden Liebeserfüllung erklärt, durch die erinnerte Erotik unterlaufen, da sie durch den Tod des Geliebten nicht wiederholbar ist. Während die Psychologisierung des Mythos mimetisch die verzweifelte Trauer der Liebenden abbildet und die Überblendung von Adonis und Christus die Liebesbeziehung sakralisiert, wird durch die Personalisierung der rituellen Adonia die Singularität der Liebe hervorgekehrt, die einerseits mit dem historisierenden Der weder so ein grab noch kalter staub was thut. Daß dies die wahrheit sey/ so rührt den stein nur an/ Wie der auch ohne stahl doch Feuer geben kann.
(Vgl. NS. Bd. 4, S. 86–87)
3.2 Adonis in Zincgrefs Anhang und Neukirchs Anthologie
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Vergleich mit Artemisia beschwert wird, andererseits jedoch der Reflexion von Individualität dient.
3.2.4 Andere klage der Venus über den todt Adonis (Johann von Besser?) Im dritten Band der ‚Neukirchschen Sammlung‘1037 erschien 1703 eine weitere Adonis-Klage in Sonettform, die Johann von Besser zugeschrieben wird.1038 Darin wiederholen sich einige Aspekte der psychologisch-personalisierten Klage Der Venus klag um Adonis grab, besonders weil Venus auch im Sonett das lyrische Rollen-Ich einnimmt: Sonnet. Andere klage der Venus über den todt Adonis
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Ach weh! Ach ewig weh! mein leben das ist todt! Die seele/ meine seel/ Adonis ist erblasset/ Ach! daß mich nicht zugleich des schicksals rath gefasset! O herber sternen-schluß! O unerhörte noth! Weg was ich sonst geliebt/ weg was ich sonst gebot. Es ist durchaus geschehn! Ich bin mir selbst verhasset Ich ruf euch götter an/ wie daß ihr mich verlasset? Euch sag ich ruff ich an/ und mir zu hohn und spott. Verflucht sey dieses thier das meinen schatz zerritzet/ Geseegnet dieser platz/ der durch sein blut besprützet / Das grabmahl bau ich hier/ das soll ihm heilig seyn/ Aus diesem rothen safft soll blühn die Anemone/ Des lentzens höchste zier und aller blumen krone/ So lange leuchten wird der göldnen sonnen schein.
Im Oktett des alexandrinischen Sonetts wird die Klage über den Tod des Adonis dargestellt (V. 1–8), das Sextett fasst hingegen die Metamorphose zu einer Anemone (V. 9–14). Die klare gedankliche Trennung wird schulmäßig durch die
1037 Vgl. Anonym: Sonnet. Andere Klage der Venus über den todt Adonis, in NS, Bd. 3, S. 65. 1038 Heiduk, Die Dichter der galanten Lyrik, S. 127 vermutet Christian Weise als Verfasser des Sonetts, ohne jedoch eine Begründung anzugeben; Arthur Hübscher: Die Dichter der Neukirchschen Sammlung. In: Euphorion 24 (1922), S. 1–28 und S. 259–287, hier S. 276, vermutet in Johann von Besser den Autor: Viele der Gedichte aus der Neukirchschen Sammlung, die mit drei Asterixen gekennzeichnet sind, konnten Besser zugewiesen werden. Da auch dieses Sonett mit drei Sternen gekennzeichnet ist, wird Besser von Hübscher für den Autor gehalten. Carola L. Gottzmann, Petra Hörner (Hgg.): Lexikon der deutschsprachigen Literatur des Baltikums und St. Petersburgs. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 1. A–G. Berlin, New York 2007, S. 230, übernehmen Bessers Autorschaft.
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3 Venus und Adonis: Treue
Reimordnung abgebildet – die zwei umarmenden Reime (abba abba) verklammern das Oktett zu einer Einheit, die beiden Terzette verbindet dagegen der Schweifreim (ccd eed), wobei die Reimpaare klingende Versschlüsse bieten, alle anderen Verse stumpfe. Ähnlich wie der Beginn von Der Venus klag um Adonis grab ist die Klage im Oktett von Wiederholungsfiguren und emphatischen Ausrufen geprägt (V. 1, 3, 4, 6). Besonders das erste Quartett ist von affektischen Interjektionen („Ach“ (V. 3)) durchsetzt, die in reduplizierten („Ach weh! Ach ewig weh“ (V. 1)) und parallelistischen Konstruktionen („O herber sternen-schluß! O unerhörte noth!“ (V. 5)) intensiviert sind. Neben der invasiv-chiastisch wiederholten Apostrophe an die Götter „Ich ruf euch götter an/ […] | Euch sag ich ruff ich an“ (V. 7–8), die mit dem vorgezogenen Pronomen die Schuld der Götter am Tod des Adonis beklagt, verstärken zwei weitere Epanalepsen das repetitive Moment des Klage-Oktetts: Die erste, die mit einer Personifikation von Venus’ Seele durch Adonis gekoppelt ist: „Die seele/ meine seel/ Adonis ist erblasset“ (V. 2), überlagert die Liebhaber stilistisch, wohingegen die zweite Epanalepse im assonantischen Isokolon: „Weg was ich sonst geliebt/ weg was ich sonst gebot“ (V. 5), die Ursache und Wirkung der Liebe in die antike Göttin projiziert. Liebesobjekt und -subjekt ineinander verschränkend wirkt auch die paradoxe Antonomasie „mein leben das ist todt!“ (V. 1). Die vielen Dopplungen verleihen der Klage einen rituellen Charakter, dessen Klang durch die Mittelzäsuren beschwert wird, die im Oktett – Vers zwei ausgenommen – je mit dem Ende einer syntaktischen Einheit zusammenfallen. Das Sextett steht dem Oktett stilistisch und inhaltlich entgegen. Ohne die emphatischen Ausrufe und Interjektionen konterkariert die geschilderte Errichtung des Grabmals die affektive Klage und treibt die zuvor stillstehende Handlung voran. Antithetisch wird der Fluch gegen den Eber dem Segen des Verstorbenen gegenübergestellt, aus dessen Blut die Anemonen entstehen sollen: „Verflucht sey dieses thier das meinen schatz zerritzet/ | Geseegnet dieser platz“ (V. 9–10). Zugleich bildet die Antithese das Verbindungsglied zwischen Sextett und Oktett, denn der Hilferuf an die Götter, welcher Venus „hohn und spott“ (V. 8) einbringt, scheint zu suggerieren, dass der Eber – wie im mythologischen Kontext durchaus verankert – von den zuvor um Hilfe angerufenen Göttern gesandt wurde. Der Fluch richtet sich folglich gegen den eifersüchtigen Mars oder die in ihrem Schamgefühl durch Venus’ polygames Verhalten gekränkte Diana. Dadurch wird auch der verbalisierte Selbsthass „Ich bin mir selbst verhasset“ (V. 6) der Venus sinnfällig; offenkundig nimmt sie die Schuld für Adonis Tod auf sich, da sie ihn nicht von der Jagd abhalten konnte. Die Mythendarstellung des Sonetts zentriert demnach Sequenz III, von der alle Verlaufsstadien angespielt werden, wohingegen Sequenz I und II gänzlich reduziert sind. Dabei läuft das zweite Terzett, das die Verewigung des Adonis
3.3 Fazit – Treue und Rollenwechsel
365
durch die Metamorphose berichtet (Sequenz III,11), auf eine ambivalente Pointe zu. Denn der letzte Vers, der durch den Schweifreim besonders hervorgehoben wird, bindet die Verewigung konditional an den Schein „der göldnen sonnen“ (V. 14). Während dies einerseits metaphorisch die nie verglühende Sonne meint, lässt sich die Konjunktion „So lange“ (V. 14) auch als Begrenzung bis zum Untergehen der Sonne interpretieren und metaphorisch als bis zum Ende des Sommers. Im Hinblick auf den Vegetationskult um Adonis, auf den durch die antonomastische Beschreibung der Anemone „Des lentzens höchste zier“ (V. 13) angespielt wird, deutet die Ambivalenz der Pointe folglich eine ritualisierte Liebesklage an, deren Versprechen der ewigen Liebe einer zeremoniellen Performanz unterliegt. Die Verewigung dient dann dazu, die Aufrichtigkeit der Liebe auszudrücken, die gleichwohl von dem performativen Charakter der Klage negiert wird. Für eine solche Deutung der Pointe sprechen nicht nur die ritualisierenden Wiederholungsfiguren im Oktett, sondern auch, dass Adonis im gesamten Sonett hinter dem Liebessubjekt zurücktritt. Nur viermal wird auf den mythischen Jüngling rekurriert, einmal namentlich (V. 2) und einmal durch das Kosewort „mein[en] schatz“ (V. 9) sowie einmal auf „sein blut“ (V. 10) und einmal indirekt auf das „ihm heilig[e]“ (V. 11) Grab. Dagegen rücken dreizehn Personalpronomen die Venus ins Zentrum des Sonetts: „mein“ (V. 1), „meine“ (V. 2), „ich“ (V. 5, 6, 7, 8, 11), „mich“ (V. 3, 7), „mir“ (V. 8), „meinen“ (V. 9). Die Charaktereigenschaften oder Taten des Adonis bleiben damit unberücksichtigt. Auch distanziert sich Venus von dem Toten, wenn sie ihm die Grabstätte als Heiligtum zuspricht, ohne diese für sich als Erinnerungsschrein in Anspruch zu nehmen. Venus wird damit zur eigenständigen Liebenden, die ihren verstorbenen Geliebten bis zum Anbruch des neuen Frühlings in ‚ewiger‘ Treue vergöttert. Das Liebeskonzept, welches dem Sonett unterliegt, lässt sich demnach als weibliches Pendant zur paradoxierten Idealisierung auffassen. Sie begründet sich in fingierter, ewiger Treue zum Geliebten, die jedoch ebenso in andere Geliebte projiziert und deshalb in Abhängigkeit vom Liebesobjekt repliziert werden kann. Das Sonett bildet damit ein wichtiges Zeugnis für die Pluralisierung des Liebesdiskurses, weil es auf der mythischen Folie eine weibliche Liebeskonzeption zur Sprache bringt, die den Code geschlechterspezifisch anpasst.
3.3 Fazit – Treue und Rollenwechsel Die barocke Rezeption der Adonis-Episode zeichnet sich besonders durch die wandelbare Semantik des Mythos aus. Vor allem in Mühlpforts AdonisVariationen zeigt sich die Gewandtheit, mit der er den mythologischen Stoff beherrscht und in verschiedenen Diskursbereichen nutzbar macht: Indem er
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3 Venus und Adonis: Treue
dem carpe-diem-Topos in der Flüchtigen Anemone ein durch Treue geprägtes Liebeskonzept entgegenstellt, welches er in der Verwittibten Venus festigt, höhlt er die paradoxierende petrarkistischen Wendung aus und bringt in der Geharnischten Venus durch die erotisierende Inversion der adonischen Todesszene und der gewandelten opitz’schen Antimetabole, mit der er die Geschlechterrollen angleicht, die im Petrarkismus konventionell ausgeblendete weibliche Sexualität offen zur Sprache. In dem Hochzeitsgedicht für Sommerfeld und Butschky korrigiert Mühlpfort dagegen die Partnerwahl des Adonis, um die todbringende Liebe zu Venus mit der fruchtbaren Verbindung zu dem Proserpina-Pendant Chloris zu kontrastieren, und schließt damit an seine diesseitsoptimistische Perspektivierung der Reproduktion aus der Flüchtigen Anemone an. Ferner lässt sich durch den poetologischen Beginn sowie durch den Anmerkungsapparat des Liebes-Wurms die auch in Georg Kampers Epicedium verteidigte immanente Poetik von Mühlpfort konturieren: Als poeta doctus dient die antike Mythologie Mühlpfort als Inspirationsquelle, die er kunstvoll variiert und korrigiert, um christlich geprägtes Gedankengut in den Mythen zu verorten. Noch stärker als bei Mühlpfort tritt die Angleichung der Geschlechterrollen im diachronen Vergleich der Adonis-Klagen zwischen dem ‚Zincgref’schen Anhang‘ und der ‚Neukirchschen Sammlung‘ hervor. Während sich Zincgrefs Paraklausithyron als innovative Wendung der Adonis-Episode zeigt, welche Adonis zum petrarkistischen amator und Venus zur petrarkistischen Liebesdame stilisiert und damit die idealisierende Liebeskonzeption in die mythische Episode projiziert, nutzen die beiden Dichtungen aus der ‚Neukirchschen Sammlung‘ die mythische Folie, um im sich ausdifferenzierenden Liebesdiskurs weitere Liebeskonzeptionen abzubilden. Die psychologisierte Venus klag um Adonis grab nutzt die mimetische Darstellungsweise der Trauer und Treue, um die Individualität der Liebe zu reflektieren. Die sonettistische Adonis-Klage entwirft dagegen durch das paradoxierte Treuemotiv ein Pendant zur (genuin) männlichen Paradoxierung. Der Wandel der Liebeskonzeptionen kann indes nicht nur anhand der Begründung der Liebe konturiert werden, er zeigt sich vielmehr auch in der weiblichen Liebesverbalisierung. Indem beide späten Adonis-Klagen die Liebe der Frau zur Sprache bringen, tragen sie erheblich zur Neuerung des Liebesdiskurses bei, in dem bisher vornehmlich die männliche Perspektive dominierte.
Schlussbetrachtung Die vorliegende Studie hat erstmals die Fülle und Vielfalt der lyrischen VenusRezeptionen im deutschen Barock nachgewiesen. Dabei konnte vor allem die selektive Konjunktur des Paris-Urteils, der Venus-Mars-Episode und der Venus-Adonis-Episode festgestellt werden, die in bedeutender Korrelation zur bildnerischen Venus-Rezeption bis 1700 steht, sodass sich die Selektivität der Venus-Episoden als europäisches Phänomen verorten lässt. Die europäische Orientierung kommt besonders in der Vorlagenforschung zum Tragen. Einerseits konnte die bereits von Jean Seznec1039 postulierte Popularität und Verbreitung ausgewählter mythographischer Handbücher von Natale Conti, Lilio Gregorio Giraldi und Vincenzo Cartari etwa in Philipp von Zesens Lustinne oder Jacob Schwiegers Verlachter Venus nachgewiesen werden, andererseits zeigen die identifizierten Vorlagen der einzelnen Dichtungen den regen europäischen Austausch in der Literatur. So konnten neben Adaptionen der ovidischen Metamorphosen und spätantiker lateinischer Hochzeitsgedichte von Claudian (c.m. 25) und Statius (Silv. 1,2), mit Weckherlins Renouard-Adaption, Johann Francks Heinsius-Nachbildung und Lohensteins Rezeption von Marinos L’Adone auch Transferprozesse aus dem Französischen, Niederländischen und dem Italienischen aufgezeigt werden. In den rezeptionsästhetisch angelegten Einzelstudien trat besonders deutlich das komplexe Verständnis von Intertextualität und Intermedialität zutage, welches die barocke Venus-Rezeption prägt. Nicht allein die Nachahmung antiker und zeitgenössischer Vorbilder, sondern der experimentierfreudige, produktive Umgang mit den mythischen Episoden und Motiven lässt sich für die VenusRezeption konstatieren. Die in Sigmund von Birkens Götterschenkungen aufgezeigte strukturelle Adaption der deutschen Glückwunschgedichte von Samuel Hund und Johann Klaj, die Birken durch die integrierten Technopägnien intermedial übertrifft, um mit seiner Statius-Übersetzung metapoetisch auf den Dichterwettstreit mit den beiden Pegnitz-Schäfern hinzuweisen, bietet nur ein Beispiel der intertextuellen und intermedialen Versatilität, die in den Venus-Dichtungen zutage tritt. Lohensteins Venus-Synthesen in seinem großen Preisgedicht veranschaulichen indes den produktiven Umgang mit dem mythischen Repertoire, der von der Kontrastierung mit Phaethon zur semantischen Inversion des ParisUrteils reicht. Die tiefe intertextuelle Durchdringung der Dichtungen wird zudem in Weckherlins Gedichte von dem Urtheil deutlich, in dem er die ovidischen Metamorphosen in zweischichtiger Intertextualität im Filter von Renouards Roman Le
1039 Seznec, Das Fortleben der Antiken Götter. https://doi.org/10.1515/9783110684209-013
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Jugement de Paris rezipiert, analog zu Lohenstein, der in der Venus Marinos Versepos L’Adone auf der Folie von Opitz’ Mustersonett Francesci Petrarchae adaptiert. Überdies tritt im diachronen Vergleich die Vielfalt der poetischen Strategien im Umgang mit der paganen Götterfigur hervor, der in den barocken Poetiken teils so vehement abgelehnt wurde. Zur christlichen Dämonisierung der Venus als Verführerin zur sündhaften Wollust nutzen sowohl Sigmund von Birken als auch Jacob Schwieger dialogisch-dramatisch konzipierte Werke, welche die Abwehr der Sünden nicht nur exemplarisch vorführen, sondern durch die intermediale Gestaltung der Dichtungen ermöglichen, die Affektabwehr zu erproben und die Hingabe zu Gott gemeinsam zu realisieren. Durch den performativen Charakter wird die soziale Dimension der dämonisierenden Venus-Dichtungen evident, welche Einblicke in die tatsächliche Rezeptionssituation erlaubt, wobei besonders die handschriftlichen Bezifferungen der Lieder in Schwiegers Verlachte Venus auf konkrete Vortragssituationen der Schäferdichtung hinweist. Im Einklang mit den ablehnenden Poetiken macht Schwieger wie auch Birken in den Götterschenkungen jedoch auch die degradierende Negation zur Erscheinung im Traum nutzbar, um das bildliche Repertoire der Venus adaptieren zu können und gleichzeitig die Grenze zur vollständigen poetischen Integration der Liebesgöttin zu wahren. Doch sind Negation und Dämonisierung der Liebesgöttin nur zwei Strategien zur christlichen Positionierung im Streit um den Mythos. Philipp von Zesen fügt seiner Preisdichtung einen ausführlichen Kommentarapparat an, um sich kommunikativ des theologischen Glaubens an die paganen Götter und damit auch der Häresie zu erwehren. Die kommunikative Technik verwendet auch Johann Franck, der seine christliche Haltung zudem jedoch durch ein doppelseitiges Titelkupfer zum Ausdruck bringt, mit dem er die Trennung von geistlicher und weltlicher Dichtung programmatisch festlegt und die deutschpatriotische imitatio-Poetik auch auf die geistliche Dichtung überträgt. Die scharfe Trennung steht harmonisierenden Tendenzen entgegen. Im Preisgedicht Venus überlagert Lohenstein die Protagonistin – ähnlich wie Marino im L’Adone – mit Maria, um die als kosmologisches Prinzip vorgestellte Liebe zu sakralisieren. In der anonymen Venus klag um Adonis grab wird Adonis – mit derselben Intention – dagegen Christus angeglichen. Die Untersuchungsergebnisse der dichtungspraktischen Mythenrezeption stehen den Befunden der mythologischen Dichtungstheorie diametral entgegen. Nicht ein allumfassender Synkretismus von christlichen und paganen Elementen, sondern ein scharfsinniger, produktiver Umgang mit dem antiken Mythos ist zu beobachten, sodass auch das Antikenbild im siebzehnten Jahrhundert bedeutend geschärft werden kann. Der argwöhnischen Frontstellung gegen die heidnischen Götter steht die Vielfalt erkenntniskritischer Interpretationen der antiken
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Mythen gegenüber, in denen die Poeten des Barock christliche Wahrheiten bestätigt oder vorangelegt sahen. Folglich konnte auch Venus durch christliche Kontextualisierung, Negation, Allegorisierung, aber auch durch Harmonisierung und kommunikative Erklärungen in die Dichtung christlicher Poeten integriert werden. Neben der kunstvollen Gestaltungsvielfalt der Venus-Episoden konnte auch die Pluralisierung des Liebesdiskurses im siebzehnten Jahrhundert nachgewiesen werden. Ohne dass sich die Konzeptionen in eine enge zeitliche Sukzession zwingen lassen, zeigt die separate Betrachtung der Venus-Episoden die Differenzierung einzelner Konzepte. In kritischer, ironischer Auseinandersetzung mit idealisierenden Musterbeschreibungen von Frauen, die noch in Birkens Antonomasien des Brautpaares in den Götterschenkungen vorherrscht, prononciert Weckherlin in seiner Paris-Rezeption die Einzigartigkeit des Liebesobjekts, die zur Wahrnehmung des Subjekts beiträgt. Während allein mit Weckherlins Paris-Dichtung die zeitliche Zuordnung Luhmanns, der die Reflexion von Individualität erst im späten achtzehnten Jahrhunder verankert sieht, nicht mehr haltbar ist, kommt in Kaldenbachs Mars-Allegorien die friedens- und kulturstiftende Qualität der Liebe zur Sprache, die bereits in den antiken Allegorien angelegt ist und die Johann Franck mit seiner satirischen Vulcanus-Darstellung auf einzelne Figuren zuspitzt. In den Adonis-Adaptionen kommen dagegen Liebeskonzeptionen zur Sprache, die auf der Treue der Liebenden nach dem Tod basieren und in denen sich folglich die Reflexion von Individualität andeutet. Vor allem durch die Psychologisierung der dargestellten Liebestrauer werden die Subjektkonstruktionen augenfällig. Eine Besonderheit der Adonis-Dichtungen ist dabei, dass in ihnen häufig die Grenzen geschlechterspezifischer Rollenzuweisungen aufgeweicht werden. In Mühlpforts Flüchtige Anemone wird etwa der hinterbliebene Ehemann mit der trauernden Venus verglichen, in der Geharnischten Venus travestiert Mühlpfort gar die Rollenaufteilung und bringt – ganz ähnlich wie in Lohensteins Venus in dialogischer Spannung zu Opitz’ petrarkistischem Mustersonett Franchesci Perarchae – die in der petrarkistischen Liebeslyrik sonst meist ausgeklammerte weibliche Sexualität offen zur Sprache. Greifbar wird die Angleichung der Rollenbilder jedoch vor allem im Vergleich von Zincgrefs frühen Paraklausithyron Adonis Nachtklag vor seiner Geliebten Thür und der späten anonymen Venus klag um Adonis grab, denn während Zincgref den Adonis zum klassischen amator exclusus stilisiert, wird in der anonymen psychologisierten Liebesklage das weibliche Liebesverlangen dargestellt. Damit wird auch die liberalisierende Funktion der Venus-Dichtungen offenbar: In den verschiedenen Ausprägungen der Venus-Rezeption wird der Wunsch nach Sinnlichkeit und gegenseitiger Liebeserfüllung verhandelt, der den gesellschaftlichen, christlich geprägten Idealen der Enthaltung und Monogamie entgegensteht.
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Dabei reicht das Spektrum von energischer Befürwortung der Keuschheit zur offenkundigen Verbalisierung von männlicher sowie weiblicher Sexualität bis hin zur onomatopoeischen Realisierung von Liebkosungen, welche von der Diesseitsgewandtheit der barocken Dichter zeugt. Die Pluralisierungs- und Liberalisierungstendenzen werden indes auch in poetologischer Hinsicht evident, mehr noch scheinen sie mit der Ausdifferenzierung des Liebesdiskurses einherzugehen. Unverkennbar ist etwa in Weckherlins Gedichte von dem Urtheil die poetologische Kritik an der repetitiven Nachahmung der petrarkistischen Motive mit der Frontstellung gegen die einseitige Idealisierung verschränkt. Zesen nutzt die Venus in seiner Lustinne als Spiegelfigur seiner deutschpuristischen Poetik. Lohenstein dient die Venus dagegen als Reflexionsobjekt seiner immanenten Poetik, die – wie seine Deutung des Paris-Urteils zeigt – allein auf das ästhetische Empfinden des Rezipienten zielt. Zudem werden in den Venus-Dichtungen auch gattungspoetologische Neuerungen erprobt. Zincgref führt mit Adonis Nachtklag vor seiner Geliebten Thür die antike Gattung des Paraklausithyrons in die deutsche Dichtung ein, Birken trägt mit seinen Figurengedichten in den Götterschenkungen zur Etablierung der Technopägnien in der deutschen Barocklyrik bei. Vor allem aber zeichnet sich in den Venus-Dichtungen die Auseinandersetzung mit der epischen Versdichtung ab. Während Lohensteins Venus ohnehin als eines der wenigen bisher bekannten barocken Versepen gelten darf, plädiert Weckherlin mit seiner Versifizierung von Renouards Roman gegen eine Neuerung im Gattungssystem, die dem Roman einen Platz als modernes Äquivalent des Epos einräumt, und liefert mit seiner versifizierten Aneignung des französischen Romans die Probe aufs Exempel mit. Schließlich müssen auch Christoph Kaldenbachs panegyrische Hochzeitsgedichte zu den Versepen des siebzehnten Jahrhunderts zählen, die bisher völlig unbeachtet blieben, obgleich ihre Erforschung allein aufgrund ihrer Kategorisierung in Kaldenbachs später Gedichtsammlung als ‚heroische Gedichte‘ zu den dringenden Desideraten der Epos-Forschung im Barock gehören. Durch die unterschiedlich funktionalisierte dichterische Einbindung in die kontrovers geführten Diskurse der Liebe und der Poetologie bedingt sich das polyvalente Deutungsspektrum der Venus. Die Liebesgöttin wird als poetologische Reflexionsfigur, als friedens- und kulturstiftendes, gar welterhaltendes Prinzip sowie als unheilbringende Dämonin, als Beschützerin der Liebenden, aber auch selbst als Liebende dargestellt, wobei die gegensätzlichen Figurationen die Venus-Rezeption im Barock dynamisieren. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie sollen schließlich zur weiteren Erforschung von Göttergedichten im Barock anregen. Denn während hier erstmalig die Venus-Dichtungen des siebzehnten Jahrhunderts gesammelt und zusammenhängend untersucht wurden, fehlen Bestandsaufnahmen zu weiteren Götterfiguren
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wie Bacchus, Mars oder Apollo, obgleich Martin Opitz – dessen unbestreitbare Wirkung auch in dieser Arbeit zutage getreten ist – mit dem Lobgesang Bacchi (1622) und dem Lob des Kriegesgottes (1628) schon früh im Jahrhundert zwei Göttergedichte schuf, die später etwa von Andreas Tscherning (Lob des Weingottes, 1636) nachgebildet wurden. Solche Studien zu den Göttergedichten können nicht nur die Mythenrezeption im Barock bedeutend erhellen, sondern vor allem einen gewichtigen Beitrag zur Epos-Forschung leisten.
Anhang 1 Jacob Schwieger: Verlachte Venus (1659) Verlachte Venus/
aus Liebe der Tugend und teutsch-gesinnten Gemühtern zur ergetzung/ sonderlich auf begehren Der Hoch- Tugend Edelen und Ehren- wehrten Constantia/ aufgesetzet von Jacob Schwigern Glükstad/ gedrukt bey Melchior Koch/ im Jahr 1659. [1]
Zuschrift/
Denen Hoch- Ehr- und Tugendedelen Gluksburginnen/ und allen keuschen/ Tugendliebenden Hertzen [2]
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Ihr Tugend-edles Volk/ Ihr unverführten Hertzen die niemahls angeflammt von Venus Unzucht Kertzen/ schaut hihr ein Ebenbild der grossen Kuplerinn und lachet derer Thun in eurem keuschen Sinn. Umdenkket dise Welt/ schliest Sie in einen Hauffen und lasset das Gemüht durch alle Dinge lauffen/ so wird doch sein der Schluß: Daß Zucht und Ehrbahrkeit allein beständig sey in diser eitlen Zeit. Die dises Guht nicht hat wird immer Bökke melken https://doi.org/10.1515/9783110684209-014
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und Füchse spannen an: Ihr’ Ehre wird verwelken und Ihre beste Blüht so Ihr die Hoffnung gab im Lentzen ohne Frucht und Erndte fallen ab. [3] Ihr sehet manches mahl der Venus zugefallen bald hie bald da ein Hertz in Wust und Lastern wallen/ Last disen Hertzens Gift nur stets fürüber flihn und eurer Keuschheit Schloß ja nimmermehr bezihn. Ich hab’ in einem Traum die Wahrheit wollen träumen und leeren Schaum zugleich von guhtem Silber schäumen: Welch’ Ehrbahrkeit beliebt/ die keusche Zucht ergetzt wird im geringsten nicht durch meine Schrift verletzt. Euch schreib’ ich dises zu/ Ihr keuschen Glücksburginnen! ey lachet meiner nicht/ daß ich verlachen künnen der geilen Venus Werk. Was ist Sie? Traum und Schein: Drum muß Sie eine recht Verlachte Venus sein. Glükstad den 26. Octobr: Anno 1659.
Hiemit bleibe ich Euer in Ehren Dienstfertiger Jacob Schwiger [4] Der arbeitsahme Baur fing nun mehr an zu dreschen in seinem strohern Hauß: es warffen Linden/ Eschen hinweg ihr grünes Haar: der faule Herbst war schier verflossen/ und stand uns der Winter vor der Tühr.
Als eine liebens-wehrte Zunft der Schäfer und Schäferinnen der Jungfräulichen Glüksburg an der gelb-flißenden Elbe den Schäfer Siegreich in seiner geringen Wohnung besuchte. Es war ihnen üm nichts so sehr/ als üm ein anmuhtiges Gespräch zuthun/ dazu den die guhte Erfindung etlicher Gemühter und die lange Abend-Zeit guhte Gelegenheit gab. Siegreich baht/ die Zeit zugewin- [5] nen/ daß ein jeder sich wolte belieben lassen nieder zusitzen und den Anfang zu machen/ er wolte den Schäferinnen mit gebührender Ehrenbezeugung aufwarten. Es war das Gespräch mit grosser annehmligkeit eine guhte Zeit gepflogen/ und war nunmehr die gantze Zunft zur Nacht-Ruhe geneigt/ da die ihrer hohen Tugenden und Holdsehligkeit halber berühmte Schäferinn Constantia den Schäfer Siegreich/ als er über die gewaltsahme Beherschung der Venus bey Ihr klagete/ mit lachendem Munde fragete: Was doch eigentlich Venus sey/ derer Nahme bey den jungen Leuten/ und sonderlich/ wie Sie angemerket/ Verliebten/ üblich/ entweder als eine mächtige Helferinn angeflehet/ oder als eine Ungühtige in ihren Klag-Liebes Liedern gescholten würde? Siegreich (weil dise Frage ein höhers Nach-sinnen erforderte/) wüste sich nicht so bald außzuwikkeln/ sondern sagte nur [6] zum Vorschub seiner Antwort: Daß er ihre Wirkung zwar empfunde/ und davon in Gegenwart zeugen könte/ aber die müglichste Antwort bat er biß auf ihre wider Zusammenkunft zuerwarten. Der Bähr war üm den Pohl schier halb herüm gegangen/ der meiste Theil war schon mit süßem Schlaf ümfangen/ der Wächter bliß sein Horn/ und rief die Stunden aus/ ein jeder Haußwihrt solt also versehn sein Hauß
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daß aus Unachtsahmkeit nicht möcht’ ein Feur entstehen/ dadurch dem Nach-bahr könt’ ein Ungelük geschehen/ Es regte sich/ohn dem/ was uns zu Nacht bewacht/ nichts aufs den Gassen mehr. Es war nun Mitternacht. Da nam die im Gespräch aufgehaltene [7] Constantia mit wünschung einer Glük-sehligen Nacht Abschied von der Geselschaft/ welche Ehrenbezeugung halber Sie zu ihrer Wohnung begleiteten. Siegreich hatte sich nicht so bald zur Ruhe begeben/ und die Augen geschlossen als die Ehrenwehrte Constantia im Traum üm die aufgeschobene Antwort wider bey Ihm anforderte. Die Seele/ weil Sie im Schlafe von der Beschwerung des Leibes in etwas geleichtert wird/ gehet als-dann oftmahls weit höher als Menschliche Sinnen reichen können. Das begegnete auch dem Schäfer Siegreich/ welcher mit der Lob-würdigen Schäferin in ein so anmuhtiges Traum-gespräch geriht/ daß die beredste Zunge nicht wird vermögen dergleichen hervor zubringen/ noch die geschärffte Feder ein Schatten-werk davon entwerffen. In solcher Anmutigkeit ruhete er/ biß ein unverhoftes Gesicht Ihn derselben beraubete. Er sahe [8] einen zimlich erhabenen Felß/ der einen ebenen lustigen Weg hinauf hatte/ aber auf der andern Seiten eine stürtzende Stikkelheit/ und unter derselben ein unergründlicher Abgrund/ daraus ein jämmerliches Klagen hervor schallete. Oben auf der Spitzen stand ein schönes Weib mit Spinweben bekleidet/ darunter alles/ was an ihrem Leibe war/ in ihren natürlichen Farben hervorblikte: Womit/ als einer Bezauberung/ Sie die Hertzen der Vorübergehenden an sich zog: Forn an der Brust war in ihr Kleid eingewebet: Die süsse Liebs-Ergetzung macht/ daß man mich eine Göttin acht.
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Siegreich begierig dise Schönheit recht zu beschauen/ ward hinter Ihr [9] zur Seiten der Abstürtzung gewahr diser Uberschrift: So bring ich zum Verderben hin/ was auf mich wendet seinen Sinn. Mit disem Gesichte verlohr sich zugleich die dunkle Nacht.
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Die Morgen-röhte ließ schon ihren Purpur sehn/ und Phoebus wolte jetzt aus seiner Kammer gehn. Siegreich der nicht gewohnet war daß die Sonne ihm zuvor kam/ als ihm die Morgen-röhte in die Augen strahlete/ sprang eilend aus seinem Bette/ dem Gesichte in den Elb-auen bey seiner Herde etwas nachzusinnen/ dazu die Morgen-zeit ihm bequähm kam/ weil er in Einsahmkeit seine Schäflein biß an den Mittag weidete. Als aber die Sonne den Mittag mach- [10] ete/und die Herde ihre gewöhnliche Ruhe hihlt/ funden sich die Schäfer und Schäferinnen zusammen/ denen die Ehrenwehrte Constantia auch nicht absein wolte. Siegreich hatte gestriger Frage halber guhte Gelegenheit sich in ein Gespräch mit Ihr zulassen/ welches nach freundlicher Grüssung und Danksagung vor Gestrige Ehrenbezeugung Er also anfing. O Glüksehlige Nacht/ die eben darum glüksehlig zunennen/ weil Sie mich aus meiner unglüksehligen Dienstbahrkeit/ darin ich schier were gerahten/ auf der Freyheit Bahn
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geführet hat! niemahls hat die Verführerin der Jugend die Schnöde Lust meine Sinnen lassen so hoch steigen/ daß ich hätte können ihre vergiftete Süssigkeit und süssen Gift/ das eines verachtenden Lachens wehrt ist/ verlachen. Numehr aber wolt ich mihr des klugen Democritius lachende Art wünschen/ warlich ich würde über nichts so viel/ [11] als über derer Tohrheit lachen/ welche sich der Venus/ (davon Sie/ Ehren-wehrte Constantia/ gestern gefraget/) als eine Liebes-Göttinnen ergeben. Mihr ist zwar nicht unbewust daß unterschiedliche Dinge/ als der Stern der des Morgens vor der Sonnen hehrgehet/ und der Morgen-stern/ des Abends der Sonnen folget und der Abend-stern heisset: Die liebliche Gestalt und Wolberedenheit: Ein glüklicher Wurf im Würfel-spihl/ mit dem Worte Venus genennet werde: Welches Ich den gelahrten Wort-klaubern anheim stelle. Aber diß ist der Knoten/ der da sol aufgelöset werden: Was die Venus sey/ davon unsre Jugend so viel redens und schreibens machet/ auch viele unter den Tichtern nicht geringe Zeit und Arbeit/ darüber man billich lachen muß/ zugebracht haben. Ich befinde bey den Heidnischen Tichtern/ daß Sie in beschreibung ihres Uhr- [12] sprungs/ ihr Wesen/ so fern Sie ein Wesen hat/ etlicher massen abgebildet haben. 1037*Aus einem abgeschnittenen und ins Meer geworfenen Gliede des Saturnus mit Vermischung des Meerschaums sol die schöne Göttinn Venus entsprossen sein. Eine lächerliche Gebuhrt! Ich achte nicht daß die Sonne jemahls eine solche Gebuhrt wird gesehen haben. Aber das ist wol mehr als wahr/ daß wir sind Zeuger und Gebährerinnen der geulen Venus/ welche ich die Lust-seuche nennen wil/ die als ein Schaum unserer verderbten Natur oft dermassen schäumet/ daß Sie eine Gebuhrt bringet/ die unsern Sinnen im Anfang schön und lieblich daucht/ aber/ nachdem Sie gebohren ist/ uns ins stete Verderben stürtzet/ und wir gleich werden den Ottern/ von welchen die Erförscher der Natur schreiben/ daß ihre eigene Kinder in der Gebuhrt ihnen/ den Müt- [13] tern/ den Bauch durchfressen und tödten.
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1. Verdamte Lust/ Beherscherin der Sinnen/ die dihr den Wohn-platz günnen! Zeuch hin an einen andern Ort/ an mihr wirst du nun nimmerfort ein einigs Antheil haben/ ich kenne deine Gaben: Verdamte Lust.
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2. Verdamte Lust/ Du Mutter aller Seuchen/ wem sol ich dich vergleichen? Du bist ein aufgeblaßner Schaum/ ein recht betrigelicher Traum/ der uns im Schlaf ergetzet. und wachend oft verletzet; Verdamte Lust. [14]
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Natal: Com: Mythol: lib: 2. cap: 1a.
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3. Verdamte Lust/ Du Mörderin der Seelen/ du bringst zur Höllen höhlen die selbst/ die dich gezeugt: Und die dihr sind geneigt weist du mit deinem stellen in kurtzer frist zufällen: Verdamte Lust. Aber damit ichs Ihr/ Ehrenwehrte Constantia/ ein wenig deutlich mache/ bedünkket mich daß ich Sie nicht besser könne beschreiben als aus dem Traum-gesichte/ welches mihr dise Nacht ist vorgestellet/ darüber Ich/ Lob-würdige Constantia ihre süsse Gegenwart und zusammen Sprache im Traum habe verlohren. Constantia die ein Verlangen trüge solches zuvernehmen/ sprach derwegen also: Geehrter Siegreich er lasse ihm belieben das Gesicht zuerzehlen/ Er sol in [15] der Wahrheit mich eine so fleissige Zuhörerin finden/ so begierig ich bin dasselbe zu vernehmen. Hierauf widerhohlete der Schäfer das TraumGesichte/ und nach Erzehlung dessen sprach die Lob-würdige Constantia nochmahlen: Geehrter Schäfer/ nachdem er mihr das Gesicht erzehlet/ bitte Ich/ solches auf gedachte Venus zudeuten. Siegreich weigerte sich dessen nicht sonder fing flugs also an zureden: Es war ein leichter und lustiger Weg den Felsen hinauf. Nichts leichters acht ich/ sey/ als auf den Weg der schnöden Venus (Lust-Seuche) dazu wir von der Natur geneigt sind/ gerahten/ an welchen sich zugleich tausend-fältige Anlokkungen finden. Da singet einer ein an-muhtiges Liedchen von der Venus und ihrem Sohne/ darnach den Vorübergehenden die Ohren gukken: Ein ander spielet ein schönes Kundaichen: Dise [16] winkket mit den Augen/ jene mit der Hand: Eine andere sendet ein verborgenes Brifchen/ oder windet ein schönes Kräntzchen/ Sträußchen/ und wirft es den auf disem Wege spatzierenden zu. Ich habe oft Schwesterchen gesehen üm die Abend-zeit gleich den Fleder-Mäusen hervorfligen/ und mit gefügten Händen durch disen Weg streichen und hie und da Venus-Häkchen anwerffen/ dadurch Sie manchen an sich gezogen haben. Hie spihlt mans also/ daß keiner von diser Bahn möge wiederum kehren/ sondern wie die Schifleute durch der Sirenen liebliches singen zu ihren Klippen nahen. Denn wenn man Vogel fangen wil/ muß man Korn streuen/ und lieblich pfeiffen. Clementia Caroli II. Königes von Neapolis Tochter/ ward durch Legation vom König in Frankreich zur Gemahlin erkohren/ doch mit dem bedinge/ daß Sie sich erstlich nakend solte sehen lassen/ ehe die Verbündnüß geschlossen würde: Et- [17] liche der Princessin Gefreundte wiederrihten ihr dises als eine UnEhre nicht einzugehen. Aber die muhtige Princessin antwortete: Um einen Rok weiniger oder mehr abzulegen/ laß Ich die Krohne von Frankreich nicht fahren. Dise Princessin achtete nicht eine kleine UnEhre (so es heutiges Tages eine UnEhre zunennen/ wenn Frauen und Jungfrauen sich entblössen:) hohe Ehre dadurch zuerlangen: Aber das ist ein schlechter Wechsel den die meisten allhie halten: Sie meinen einen schönen Vogel zufangen/ daran Sie sonderliche Ergötzung haben wollen/ da er ihnen doch das Netze der Ehre gemeiniglich zerreist/ und Schande krigen die zugleich Leib und Sehl verunehret. 1. Schaut hehr ihr unverführten Hertzen/ und lernet kennen dise Bahn/ da wir den besten Schatz verschertzen
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geblendet durch verkehrten Wahn: [18] Hie sind die Klippen der Sirenen die nur nach unserm Schif-bruch sehnen. 2. Hie wird der Ehre vorgepfiffen durch geuler Lieder süssen Tohn/ biß Sie im Lust-Netz ist ergriffen/ und wird belohnt mit Schimpf und Hohn: Hie streuet man mit leichten Sachen dadurch die Hertzen leicht zumachen.
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3. Hie giebt man falsche Liebes-Blikke/ Hie braucht man nichts als Huren Kunst: Hie übt man ungezähmte Zükke/ nur anzustekken geule Brunst: Hie spielet man mit Würfeln/ Karten/ nur der Gelegenheit zuwarten.
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4. Geh Huhrer du magst immer gehen/ wohin dein leichter Sinn dich führt! [19] Ihr keuschen Hertzen bleibet stehen in dem was eure Tugend zihrt. Kein Hertz ist blieben ungefangen das disen Lustweg ist gegangen.
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Constantia redete hierauf den Schäfer folgender gestalt an: GeEhrter Siegreich/ daß nicht das Haupt und die Füsse zugleich an Ihm arbeiten/ und er nicht ermatte/ bitte ich sich nieder zulassen auf die halb-erblaßte Rasen/ Ich trage großes Verlangen seiner Rede weiter in der Stille zu zuhören. Siegreich bedankte sich mit einer ihm wolanstehenden Höfligkeit und fuhr in der Rede fort: Das Bild/ Ehrenwerte Constantia/ mit einer Spinwebe bekleidet/ darunter alles am Leibe mit seinen natürlichen Farben hervorblikte/ dazu den Reim welchen Sie an der Brust führete/ bedünkken mich fein abzubilden die heutige leichtfertige Kleidungs-art unzüchtiger Weiber: Die also beschaffen ist/ daß man weiß nicht wie weit [20] hinein/ und wie tief hinunter sehen kan: Lieber möchten Sie nakend als also bekleidet gehen/ weil Sie sich vielleicht alsden schämeten unter die Leute zukommen. Weil aber ihre leichtfertige Kleidung durch den Wahn der Zihrligkeit gebilliget wird/ verstrikket Sie/ wie ein Spinnengewebe die Fligen/ manches Auge und Hertze/ welches der Venus (LustSeuche) auf ihrem Altar ein Opfer zubringen bey sich gedenkket. In betrachtung dessen/ was der in diser Kunst wolerfahrne Ovid von dem Kleide der Corinnen (welches die heutigen Venus-Schwestern auch gerne haben wollen) schreibet0183*
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Lib 1. Amor: Eleg. V.
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Diripui tunicam, nec multum rara nocebat, pugnabat tunicâ se tamen ill tegi Ich riß den Rok hinweg/ auch könt er weinig machen/[21] weil er gewirkket war von über dünnen Sachen/ daß man schier könte sehn was drunter war verstekt und gleichwol wolte Sie damit sein zugedekt. Und dise gewaltsahme Entzükkung/ welche eine Wirkung der leichtfertigen Kleidung ist/ muß nicht Menschlich/ sonder Göttlich/ und die derselben sich befleissigen/ Göttinnen/ Beherscherinnen der Sinnen/ Printzessinnen der Sehlen und dergleichen heissen: Da Sie billiger Verführerinnen/ Reitzerinnen u.f.f. möchten genennet werden. Es verdreust mich/ Ehrenwehrte Constantia daß einer unzüchtigen WeibesPersohn ein hoher Nahme/ der hohe Tugenden mit sich führen sol/ zugeleget werde. Aber was wunder ist es/ daß von verkehrten Sinnen verkehrte Wohrte hehrkommen und die Töchter der Mütter gleich geach- [22] tet werden. War nicht die bey den Tichtern gerühmte Venus eine (mit Erlaubniß) ErtzHure und Ehebrecherin/ die/ daß ich anderer geschweige/ ungeachtet ihres Ehemanns Vulcanus mit dem kriegerischen Mars/ biß die helle Sonne aufging/ ihrer Lust pflegete/ und dennoch eine Göttin heissen müste. Es sey denn/ daß/ wie ihre Persohn/ also auch ihre Nahmen und Tahten ertichtet sind. Ich lasse dasselbe gern also seyn. Aber daß man unzüchtige Menschen/ Göttinnen/ und Laster/ Tugenden heisset/ kan Ich nicht billigen: Es sey dann daß man wolle der Ehre die Ader schlagen/ und die Zucht lassen außbluhten. Und Ihr/ die ihr Göttinnen wollet heissen/ müsset nicht Hellinnen (Heldinnen wolt ich sagen) werden/ und mit dem Mars zu Felde liegen und kriegen/ daß euch die Sonne der Wahrheit nicht unversehens verrahte/ und eure hohe Ehre in den Koht falle. [23]
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1. Den Vogel man an seinen Federn kennt/ der Baum nach seinen Früchten wird genennt: Den schlauen Fuchs verräht sein dikker Schwantz/ und welche Braut sey sihet man am Krantz.
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2. So zeigen auch die Kleider das Gemüht/ wie hie und da ein kleiner Narr außsiht/ wie Geulheit unterm dünnen Kleid‘ und Flor in ihrer rechten Farbe gukt hervor.
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3. Favörchen Thörchen spielen auf dem Huht das man der Liebe nur zu liebe thut. [24] Die Rößchen Lößchen auf der Brüste höh’ entdekken wo der Sinnen Lust hinsteh.
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4. Gelegenheit die meisten Diebe macht: Ihr bietet dar/ wornach ein ander tracht: Drüm mancher auch verbotne Kirschen plükt und näschet kühnlich weil es Ihm so glükt.
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5. Ihr Lieben macht die Löcher besser zu/ und gönnet doch den Sinnen ihre Ruh: Wem solte nicht das Hertz in Lust aufgehn/ der durch die Löcher fast kan alles sehn.
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6. Wer aber gerne fremde Tauben fängt/ [25] und hie und da sein Liebes Netz außhängt: Der mag auch sehn was dise Wirkung bringt/ und wie der Tohn des Lieds am Ende klingt.
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Eines fuhr der Schäfer fort/ were ich schier vorbey gegangen/ welches ich mich wider erinnere. Des Bildes Schönheit/ die meine Augen eine guhte Zeit an sich zog und mit ihrer Anmuhtigkeit im Traume gleichsahm gefangen hielt/ so daß ich vorwitzig ward diser Schönheit näher zutreten/ und Sie etwas genauer zubetrachten/ weil Sie mihr nicht eine natürliche/ sondern geschminkte (wie Sie in der Taht war und ich in näherer beschaung befand:) Schönheit zusein dauchte. Ich bekenne daß Schönheit/ so die zeugende Natur einem Menschen gegeben/ ein köstliches Kleinod sey/ und dem jenigen der damit begabet ist zu seiner belobung mehr [26] nütze als alle Brife und Lob-schriften/ wie der weise Aristoteles redet. Ich kan Sie billich gleichen einem zihenden Magneht/ der aller Gunst au sich zeucht/ daß schöne Leute oftmahls an Orter kommen da andere müssen weg bleiben. Wie weit Sie aber andern an Gunst vorgehen/ so einer weit größern Gefahr sind Sie vor andern unterworffen: Weil die Schönheit von dero Liebhabern/ wie einer weissen Tauben vom Habicht/ nachgetrachtet wird/ du wahr zusein scheinet/ was in gemein gesaget wird: Ein schön Weib und steife Schürtz haben viel anstösse. Welches ich also verstehe: Daß Schönheit/ wie Sie an sich selbst bey denen/ die derselben übel gebrauchen (den von der Schönheit keuscher Tugendliebenden Hertzen rede ich nicht/ welcher ob schon nachgestellet wird bleibet Sie doch/ wie Sie in des Himmels Huht gestellet ist/ in der Ehrbahrkeit Schrankken/ und unbeweglich in dem Schlosse der Keuschheit) verdächtig [27] ist/ als welche die Unkeuschheit zu einer Gefährtin hat/ daran mancher als eine Klippe stoßet und Schif-bruch leidet: Dabey Sie selbst aber nicht ohn Verletzung bleibet/ sondern/ indem Sie andern zu einen Anstoß gereichet/ sich selbst verletzet. Die schöne Königin in Grichenland stieß durch ihre Schönheit das gantze Trojanische Reich und sich selbst ins Verderben. In erwegung dessen haben viele ihre Schönheit lieber als andere und sich selbst durch dieselbe verletzen wollen. Was sol ich aber von denen sagen/ welche mit der Gestalt/ damit die gühtige Natur Sie begabet hat/ nicht zu friden sind sondern über dieselbe ihnen eine Schönheit aussm Topffe anschmieren. Ich bin gäntzlich der Meinung/ es müsse nichtes guhtes an ihnen sein. Verdorbene Wahren pfleget man mit andern Farben anzustreichen/ damit Sie desto eher verkauft werden: Vielleicht mögen Sie auch üm ein billiges feil sein: Weil aber keine [28] Käuffer sich finden/ wollen Sie dieselbe mit einer gemachten Schönheit an sich zihen. Wer hat je gesehen daß
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ein Schaf sein Fell mit einem Fuchsbalg oder Wolfspeltz überzogen? Oder daß eine Taube ihre Federn mit einem Pfauen Schwantz versetzet hat? Das aber habe ich wol gesehen/ daß Sie ihre Unreinigkeit in fliessenden Bächen abgebadet/ damit Sie ihren natürlichen Glantz erhielten. Wen Sie dessen gleichfals alle Morgen an statt der Salbe gebrauchten würde man andere Farben an ihnen sehen. Ich lasse mich leicht bereden/ daß Sie dise Kunst ihrer Schwester Iesabel abgelernet/ von welcher der jenige so nicht lieget/ in seinen wahrhaftigen Zeugnüssen zeuget*9301daß Sie eine Huhre gewesen. Ich wil nicht mehr sagen. Andere mögen aus disem Holtze selbst Pfeile drehen und Sie nach gelegenheit verschißen. [29]
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1. Wer auf dem Triebesand im Wasser baut/ und nur auf eusserliche Schönheit schaut/ der sucht Bestand in Unbeständigkeit/ und fehlt in seinem Sinne Himmel weit.
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2. Was ist doch Schönheit? eine leichte Bluhm/ die gar geschwind verschwindt mit ihrem Ruhm; ein kurtzer Glantz der güldnen Morgen-röht die Morgens auf und wieder niedergeht.
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3. Doch hat die Schönheit billig ihren Preiß/ wen Sie verknüpfet ist mit Tugend fleiß/ weil Tugend/ die von schönen Thätern fliest noch eins so angenehm als sonsten ist. [30]
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4. Zeigt nun dein Spiegel an daß du bist schön/ so soltu stets nach solcher Arbeit stehn/ die deine Schönheit schöner machen kan/ und Ihr nie einen Flekken werffen an.
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5. Hat aber die natur dich nicht verehrt/ so mache dich durch Tugend lieb und wehrt: Es gukket offt aus einem schlechten Hauß ein schöner Wihrt zu seinem Fenster aus.
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6. Pfü! schäme dich du ungestalte Haut daß man dich mit geschminkten Wangen schaut: Fürwar/ wer achtzehn Pfennig vor dihr giebt dem hat gewiß ein teurer Kauf beliebt. [31]
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2. Reg. p. v. 22.
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Constantia meistens vergnüget sprach: Wol getroffen geehrter Siegreich! Ich bitte er wolle ihm nicht verdrissen lassen mihr auch zuerleichtern/ was die stikkele jähe abstürtzung/ daraus Ihm in abschaung ein klägliches Geheul entgegen geschallet/ in sich habe? Siegreich antwortete: Ich empfinde itzo noch ein grauen/ wen ich jähe Grausamkeit des Ortes/ an den kläglichen Jammer/ und jämmerliche Klage gedenkke. Der Schwindel verwirrete mihr/ wiewol im Traum/ das Gehirn/ blendete das Gesichte/ lenkete das oberste Theil meines Leibes allgemählig zur abstürtzung: Darüber ich so sehr erschrak daß ich plötzlich erwachte. Ich muß gestehen/ Ehrenwehrte Constantia/ daß ich mich höchlich erfreuet und der außgestandenen Gefahr gelachet habe/ da ich mich auf meinem Bette ausserhalb Gefahr befunden. Doch habe ich darbey angemerket/ das Verderben/ darin die Venus (Lust-Seuche) stürtzet/ eben [32] die Münze sey/ damit Sie ihre Diener pfleget abzulohnen. Ich möchte wünschen daß dise jähe abstürtzung forn am Aufwege dises Hügels were/ möchte vielleicht mancher dadurch von seinem Verderben abgeschrekket werden. Weil aber dise Verderbung nicht eher gespühret wird als wan man in dieselbe hinunter fällt/ sihet man weinige/ die disem Verderben wegen eingebildeter Anmuhtigkeit nicht zu lauffen. Ich erinnere mich/ daß ich beim Solinus, der es ohne zweifel aus dem Plinius genommen/ habe gelesen vom Panterthier/ daß es mit seinem lieblichen Geruch die andere Tihre sol an sich zihen/ damit Sie aber vor seinen scheußlichen Kopf sich nicht entsetzen/ verbirget es denselben / biß die Tihre so nahe kommen/ daß Sie können erhaschet und gefressen werden. Auf gleiche art machet es die Venus (Lust-Seuche:) Sie zeucht mit ihrer verdamlichen Anmuhtigkeit ihre Liebhaber so weit an sich daß Sie dieselbe endlich [33] gar frist. Einem frist sie weg Geld und Guht/ daß er hernach die Hunger-klauen saugen/ und das Elend schmeltzen muß: Dem andern seine Gesundheit daß er sich mit der Neapolischen Krankheit schleppen und als ein Ferkel/ (weil jederman seine Gesällschaft scheuet) seine eigene Schussel und Kanne haben muß. Disen frist Sie die Ehre/ welche wider zusuchen Sie of in andere Länder gewisen werden/ krigen wol einen Staub-besem und Brandmahl auf den Rukken dazu: Jenen Leib und Seele: Da muß ein kaltes Eisen der Venus zu ehren durchs Hertz gestoßen sein: Ein zubereiteter Gift muß gesoffen sein der die LebensGeister in die lange Nachtruhe bringe/ da muß aus grosser Venus Begihrde ins Wasser gesprungen sein. Ach deß schönen Leibes/ welches ein Geschöpf Gottes! Ach der edlen Seelen/ die ein Hauch des Höchsten ist/ die beiderseits so viel zu erlösen gekostet/ und müssen der verfluchten Venus / (Lust- [34] Seuche) zu Ehren dem Teufel die Küche füllen! Ach des Jammers welches wir uns selber schmieden! Mich jammerte traumend derer/ die ihren Jammer in dem Abgrund klageten/ und wünschete wen es were müglich gewesen/ Ihnen zuhelffen. Aber nun trage ich wachend in der Wahrheit ein Mitleiden mit allen die in derselben Seuche krank liegen und zu gleichen Jammer eilen. Es solte mein höchster Wunsch sein/ wen ich ihnen könte eine Artzeney zubereiten und Sie zur Gesundheit bringen. Ich weiß nichts bessers als die klagende Jammer-Worte der Betrübten im Abgrunde/ so viel ich dieselbe wider besinnen kan/ Ihnen vorzusingen: 1. Wie weh ist uns/ ach weh! Ihr Sterblichen/ die Ihr den Erden dort oben noch geniest und lebt/ die ihr der losen Lust nachstrebt/ dadurch uns endlich gleich zu werden [35] hört unsern Jammer-Klagen zu
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wie wir gequählt sind ohne Ruh/ wie weh ist uns/ ach weh! 2. Wie weh ist uns/ ach weh! Ihr Sterblichen kehrt eilig wieder/ schaut alle Spuren vorwerts gehn und keinen nicht zurükke stehn: Wer einmahl kömt zu uns hernieder wird niemahls mit der Widerkunft erfreuen seiner lieben Zunft. Wie weh ist uns/ ach weh! 3. Wie weh ist uns/ ach weh! Ihr Sterblichen/ last unsern Schaden doch euern steten Lehrer sein daß Ihr mit gleicher Quahl und Pein nicht werdet so/ wie wir beladen/ schaut unsern Schmerz und Jammer an wie uns der Abgrund quählen kan wie weh ist uns/ ach weh! [36] 4. Wie weh ist uns/ ach weh! Ihr Sterblichen die ihr die Plagen der allergrößten Grausahmkeit erdulden müsset kurtze Zeit/ Wir wollen tausend Jahr Sie tragen/ wen nur gemindert werden mag von unser Quahl ein halber Tag. Wie weh ist uns/ ach weh! 5. Wie weh ist uns/ ach weh! Ihr Sterblichen ein glüend Eisen/ ein Rost am Feur/ ein höltzern Spieß/ sol uns nie werden ein Verdrieß/ Ihr mögt zum heissen Pech uns weisen. Ein glüend Roß des Schwefels Pein sol uns wie sanfte Rosen sein/ Wie weh ist uns/ ach weh! 6. Wie weh ist uns/ ach weh! Ihr Sterblichen und das so lange: [37] Hie mindert sich nicht unsre Zeit/
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Sie wächst/ mit Ihr auch Quahl und Leid: Diß lange machet gar zu bange? Nach tausend Jahren werden wir diß alte Liedlein klagen hihr: Wie weh ist uns/ ach weh! 7. Wie weh ist uns/ ach weh! Ihr Sterblichen/ diß sind die Früchte so uns die lose Venus gab/ als Sie uns stürtzte plötzlich ab hinunter in das Quahl-gezichte: Und dises haben wir davon. O ein recht jämmlicher Lohn! Wie weh ist uns/ ach weh!
Als die edle Constantia dises Lied mit scharfer Aufmerkung angehöret/ sprach Sie: Kaum kan ich mich der Trähnen enthalten/ so gehen mihr die Klage-Worte ins Hertz. So es in der Wahrheit so ist/ wie den kein zweifel/ daß die Liebes-Seuche/ [38] die die jungen Leute Venus nennen/ in solchen Stand setzet/ solte man den Nahmen und ihre Wirkung zugleich verfluchen. Auf welchen Worten der Schäfer sprach: Was zuthun oder zulassen sey/ habe ich keinem vorzuschreiben/ würde mihr auch als dem geringsten unter allen Schäfern übel anstehen. Allein/ Ehrenwehrteste Constantia/ Ich habe aus meinem Traum-gesichte eine kurtze und geringe Antwort auf ihre vorgebrachte Frage stellen/ und meine Meinung von der Venus/ so viel mein geringer Verstand hat können nachsinnen/ entdekken wollen. Bitte Sie wolle es günstig vermerken/ und ihren geringsten Diener in fernere Gewogenheit einschlißen. Constantia nach freundlicher Danksagung für geleistete Ehren-bezeugung/ nam Abschied/ und wünschete dem Schäfer eine Glüksehlige Nacht. Siegreich allein gelassen/ sahe sich nach seiner Herde [39] um/ welche schon den Hürden zueilete/ und folgete derselben allmählig nach.
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Weil schon die Abend-röht aus ihrem Orte kam und die ermüdte Sonn in Ihre Kammer nam. ENDE [40]
2 Johann Georg Finckelthaus: Das Urtheil des Schäffer Paris (1638) [Auszug]
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2 Johann Georg Finckelthaus: Das Urtheil des Schäffer Paris (1638) [Auszug] Transkript nach: Gottfried Finckelthaus: Le Jugement De Paris. Das Urtheil des Schäffers Paris. Leipzig 1645. [VD17 23:285227M], S. 93–98.
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Damals wie die Götter alle/ Ausser ihre Schwester-Zanck/ Eingeladen zu dem Mahle/ Kosten wohl des Peleus Tranck/ Wolte jene nehmen Rach/ Kehren diese Freud’ in Ach. Einen Apffel sie von Golde Nahm/ und diese Schrifft grub drein/ Daß er dienen solt zu Solde Deren/ so die Schönst würd seyn/ Und aus einer Ecken drauff Ihn warff in den Götter-Hauff. Ob ihn zwar nun iede haben Wolt von diesem Göttin-Volck/ Deren Schönheit sie erhaben Von der Erd hett in die Wolck/ Waren doch vor alle drey/ So die andern schweigten frey: Nemlich Juno so stolzirte Auff Schmuck/ Schätz und hohen Stand/ Und Minerva/ die da führte Ein Muth so nach Ehre rannt/ Auch Fraw Venus Wollusts voll/ Jed’ ihn meint zu kriegen wol. Weil in ihrer eignen Sache Keine ihr möchte sprechen Recht/ Auch selbst Jupin fürcht die Rache/ Und weil es Verdacht doch brächt/ Wolt er ein Mensch richten solt Unparteylich von dem Gold; Welche deß von diesen dreyen Möchte am besten würdig seyn: Giebt ihn Mercur zum Laqueyen/
Der sie solt furieren ein Bey Paris/ den er antraff Als ein Heerder seiner Schaff. Wie nun diesen fürgetragem Sein Befehl der Götter-Both/ Und ihm thet die Ohren zwagen/ Daß ihn aller Götter-Rott Zum Hoff-Richter hett erwehlt/ Daß er hier das Urtheil fällt. Welch’ er schätzt daß sie verdienet Hette aller Schönheit-Preiß. Drauff ihn jede sich versühnet/ Und anwandte allen Fleiß/ Wie sie Paris an sich brächt/ Daß er ihr am besten dächt. Juno meynt ihr könts nicht fehlen/ Weil sie sonst gebieten thet Uber alle Reich und gehlen Schätz der Welt/ und auch schon hett Selbst im Himmel den Vorzug Daß sie zu dem Gold hett Fug. Pallas dacht in Jungfrawn Ehre Daß die grösste Schonheit steckt/ Und der weisen Sprach die Köhre Solt zufallen; sich erkeckt/ Und sagt/ wo er richten wolt/ Müsst er seyn der Weisheit hold Venus aber kiess es wäre Unb die weisse Schönheit nun/ Nicht umb Gold/ und weise Ehre/ Als umb Güldnes Haar zu thun: Geb er ihr nun deren Sold/ Ihm ein so schön Weib auch solt
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Paris von den dreyen Künsten Ganz verzuckt weiß nicht wonaus/ Wird befochten von drey Künsten/ Die ihm machten manchen Strauß: Juno war Rhetorica Pallas Dialectica.
Nicht weiß man/ ob mehr zu trawen Sey auff Pallas Jungfrawschafft/ Oder ob Juno zur Frawen Uns sol helffen? Doch vergasst Man sich offt an Venus Rott/ Die courteisch bringet Spott.
Ob zwar die vernünfftig schlosse/ Jene gläublich riehte da/ Alles doch zu Boden schosse Der Venus Poetica; Die mit solchen Meister-Sang Ihr macht Paris zum Anhang.
Sonderlich wer nun sol freyen/ Sich meist kehr- und wendig sind/ Zweifelt/ welcher von den dreyen/ Er sich geb zum Hoff-Gesind? Ob man recht nach Gut und Muth/ Oder Leibes-Gaben Thut?
Er ward nicht nur übertäubert/ Von der Wunder-Schönheit klar/ Sondern gleichsam mit bezäubert Von der eingebildten Waar: Venus ihm das Gold abjagt/ Weil sie Helena zusagt.
Dann zwar dreyerley gehören 110 Güter zur Glückseligkeit/ Uns nur Eins nicht muß bethören/ Daß man mach kein Unterscheid: Seelen-Gaben forne stahn/ Leibs- und Glücks-Geschenck nachgahn.
Paris ist zwar schlecht bekommen/ Daß ihm Venus nur gefiel: Aber wer hat je genommen Von demselben ein Beispiel? Wer ist in der Männer Zahl Der nicht folget Paris Wahl?
Wer es aber wolt umbkehren/ Wündscht nur das getünchte Grab/ Oder stellt nach Gold zum zehren/ Der kriegt im Ausgang Schabab: Da er suchte Lust und Rast/ Find er lauter Ach und Last.
Zumal ist man in der Jugend/ Wohl am wenigsten bedacht Auff Gut/ noch auff Pallas Tugend; Venus-Lärfflein man nur acht: Daß durch Brunst und gute Tag Man der Kunst und Gunst absag.
Pallas deut ein stilles Leben/ Juno viel Mühseligkeit; Wer der Venus bloß ergeben/ Lebt in Angst und stetem Streit Selig wer sie bringen thut All drey unter einen Hut.
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3 Christoph Kaldenbach: Preussische Venus (1645)
3 Christoph Kaldenbach: Preussische Venus (1645) Preussische Venus/ Oder Hochzeit-Getichte Dem Durchläuchtigen/ Hochgebornen Fürsten und Herren/ Herren/
JACOBO,
In Liefflanden/ zu Curlanden und Semigallen/ Hertzogen. Mit Durchläuchtigsten/ Hochgebornen Fürstinn und Fräwlein/ Fräwlein/
Loysen Charlotten/
Marggräffinn zu Brandenburg/ in Preussen/ zu Gülich/ Cleve/ Berge/ Stetin/ Pommern/ der Cassuben/ und Wenden/ auch in Schlesien zu Crossen und Jägerndorff Herzoginn etc. etc. Vermählet / Geschrieben von Christoph Kaldenbachen. Anno 1645. Königsberg/ Gedruckt durch Johann Reusnern.
Vorrede
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Fürst der Musen und Poeten/ Den schon lang‘ itzt Cyrrha schweigt/ O Apollo/ sey geneigt! Laß mein Spiel sich nicht erröthen/ Was am Preussischen Revier1040 Erycina nimmet für/ Mit Teutoniens edlen Weisen Umb den kalten Belt zu preisen. Die erregte Glut und Flammen/ Die vor Statius empfand/ Als Violantillen Band/
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Stella/ brachte dich zusammen;1041 Die den Pharier entzündt/ Als/ Rom/ deine Fürsten sind/ Und ihr keusches Fest besungen/ Laß sich itzt in mir verjungen. Auch ich/ Phoebe/ bin erkühnet Auff ein Fürstlich Hochzeit-Lied/ Das dir/ Curland/ sich bemüht/1042 Und dich/ Brandenburg/ bedienet.1043 Gabstu gern der Delpher Thron Umb der Samen Helicon: Müß’ auch hier umb diese Stellen Hippocrene lauter quellen. Wie gering sonst meine Seiten:1044 Auch der Deutschen zartem Ohr Claros Art noch raw kömmt vor; Stehstu doch nur mir zur Seiten: Hefft’ ich/ Paean/ ohn Gefahr Deine Lorbeern umb diß Haar/ Und getrawe mich vor allen Meinen Fürsten zu gefallen.
1041 [ Mit dir/ Stella/ gieng zusammen/ 1042 [ ist bemüht/ 1043 [ Und umb Brandenburg bedienet. 1044 V. 25–30: Doch nein: seid nur ihr geneiget/ Fürst Jacobus/ meinem Spiel; Phoebus bleibe/ wo er wil. Wird mir ewre Gunst erzeiget: Hefft‘ ich frewdig ohn Gefahr Phoebus Lorbeern umb diß Haar;
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Du güldnes Licht der Welt/ Du1045 o des Himmels Frewde/ Der Erden Lust und Zier; O Titan/ dem ein Heyde1046 Auch hier sich vor geneigt, den Preussen auch geehrt/1047 Nicht nur der Persen Volk/ so dir voraus gemehrt Den unbeliebten Dienst; nicht nur die Massageten/ Auch nicht Carthago nur/ und/ die vorab erröthen Ob ihrer Götzen Zahl/ der Pharier tolle Schaar/ Da Hund’ und Katzen auch/ und Knoblauch heilig war: Apollo/ oder so du lieber Phoebus heissen/ Und Hyperion wilt: imfall das edle Preussen/ Und den begräntzten Strich nicht noch Thessaliens Flut/ Da als Deucalion der Wasser Ubermut/ Und Pyrrha nur entfloh, imfall uns nicht die Wellen/ So umb Athen gemust vor Zeiten auff-so-schwellen/ Noch sollen übergehn: so mache deinen Glantz/ Das röthlichte Gesicht auff heute wieder gantz. Brich endlich durch die Last der umb bewölckten Kreise/ Und geh verklärter auff. Dir tret’ in milderm Preise Tithonen Ehweib vor.1048 Es trübe diesen Tag Dir keine Plejas nicht/ noch was je sonst vermag Orions wilder Blick/ an dem in keuschen Flammen So nah sich Brandenburg mit Curland gibt zusammen; An dem der Sternen Schluß auff so ergrimmtes Leid Den hohen Häusern Ruh/ und newen Trost verleyht. Wie lang’ itzt ist es doch/ da Königsberg zwo Leichen Auff zweene Tag’ außtrug?1049 Das Mitaw auch ingleichen In solcher Frist gethan. Die Beine schleust ihr Grab: Ob dieser Brust nimbt ihr Verlangen nimmer ab.1050 Dis war noch nicht genung.1051 Berlin must’ auch verscharren Den Printzen/ und mit ihm so vieler Völcker Harren/ Und helle Zuversicht. Ihm folgte nach die Zier
1045 [ du 1046 [ O Sonne/ der ein Heide 1047 V. 3–10 (gekürzt auf vier Verse): Sich vormahls tieff geneigt/ du grosses Wunderwerck Des Höchsten über uns; ein kenntliches Gemerck Der unbezirckten Macht die dich hat lauffen heissen So schnell und sonder Rast: im Fall das edle Preussen 1048 [ Aurora glentzend vor. 1049 [ ans trug? 1050 [ nie ihr süßes Sehnen ab. 1051 [ genug
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Oraniens/ die auch fand die letzte Grufft allhier. Sol dann den wüsten Thon der Glocken nie vertreiben Der Feld-Trompeten Laut? Sol fest nur immer bleiben Fort Libitinen Steg?1052 weis auch kein Frewden-Lied Thalia/ seit ihr Spiel Melpomene bemüht Auff lauter Klagen nur? Tregt Paphos keine Myrten Für die Cypressen mehr? Sol nimmer an-fort-gürten Den weichen Lorbeer-Strauch ein dienstlicher Poet/ Der seinen Eppich trug? Und ob betrübt nur geht [Aijr] Fort Aganippen Quell? Nein/ nein; die Trawer-Röcke Birgt itzt ein rother Schleyr; für Proserpinen1053 Decke/ Dem finstern Leichen-Tuch/ zeigt Hymen seinen Schein: Und so viel Särcke1054 holt ein fruchtbar Ehbett ein. Dis zog ihr Venus mehr/ die Lust durch Lufft/ und Felder/ Und Wasser/ zu Gemüt/ da als sie ihre Wälder/ Ihr reiches Cypern lies/ und/ Vater Nereus/ dich/ Und deine Nymphen zu besuchen1055 schickte sich/ Euch/ ihr verwandtes Blut. Dem Perlen-gleichen Wagen/ Den Mulciber ihr vor so köstlich schön beschlagen/1056 Da als mit milder Brunst er erstlich entzündet war/ Dem stund itzt allbereit das Amyclaeer Paar Der Schwanen vorgespannt. Cupido viel ergetzet Der hatte vorn sich auff die Deichsel hingesetzet.1057 Den Zaum hielt die Begier. Die weissen Führer trieb Die Leichte Jugend an; der zum Gefährten schrieb Sich Wahn und Irrthumb zu. Umbher zog Furcht und Hoffen/1058 Und/ die in solcher Zahl sonst nirgend angetroffen/ Der Sorgen bleiche Schaar. Stoltz/ und Verwegenheit Angst/ Schwelgen/ Müßiggang gab dieser Zunfft Geleit. Hier ward der Götter Spott/ der Meineyd auch gespüret; List/ Untrew/ Weh/ und Leid von fernen nachgeführet; Das bitter’ Armut auch/ und Klagen wol gewohnt/ Das offt der Tyrier Schmuck mit grimmer Hand nicht schont. Dem Hauffen mischte sich mit so beredtem Wincken 1052 [ Dir/ Clotho/ dein Beginn? 1053 [ Libertinen 1054 [ Särge 1055 [heim-zu-suchen 1056 [ Den Mulciber ihr eh auff frembder Eß beschlagen 1057 [ Hatt‘ auff die Deichsel hin von fornen sich gesetzet. 1058 V. 57–64 (gekürzt auf vier Verse): Sich Furcht und Hoffnung zu. Die Schaar der bleichen Sorgen Zog unvermercket mit/ ob kurtzer Lust verborgen. List/ und beruhte Muß/ und klagen mancher Art/ Hat miteinander da zusammen sich gepaart.
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Das herbe Schweigen ein. Umb sich her sah man blincken Den Zierrath mancher Art/1059 der seiner Göttin Stand Und Hoheit/ nechst dem Schein der Glieder/ gnug bekandt. Der Hauben Schnee umbgab den Schlaff; die edlen Steine/ Hydaspis Raub/ den Hals. Von Purpur schien der Beine; Von ihm des Leibes Schmuck. Umb den sein langes Kleid/1060 Mit Rosen eingewirckt/ den Winden sich befreyht.1061 Des Gürtels sein Geruch gab nichts den Nabathaeern/ Nichts euch/ ihr Syrer/ nach. Was von den Eythraeern Und Indianern weit wird in die Welt geführt/ Hat Erycinen da mit süssem Dienst geziert. So weit der Wagen gieng/ und je die zarte Leise Der Lüffte Bahn zertheilt/ ward der geehrten Reise Wald/ Feld und Wasser inn. Der Praenestiner Schmuck Mahlt seinen Erdkreis aus; es schiessen ohn Verzug Viol- und Lilien auff. Man siht die geile Reben Und hohe Rüstenbäum genawer sich umbgeben; [Aijv] Die Esch’ und Ebhew auch. Die Palmen paaren sich: Und Cythereen Laub1062 stund schöner nie umb dich/ Du keuscher Lorbeerbaum. Die heischen Turtur buhlen/ Samt allem Volck der Lufft. Wz in den feuchten Pfuhlen1063 Der grossen Tethys wohnt/ brennt selbst in kalter Flut; Merckt/ Venus/ deine Krafft/ die angesteckte Glut. Wie? sprach sie bey sich selbst: Mag da denn nicht gebieten Fort keine Cypris mehr/ da Clotho so kan wüten? Mus Amors Köcher da nur gantz seyn unbemüht/ Wo mehr und mehr der Tod den grimmen Bogen zieht? Hier mus der thewre Held/ George Wilhelm/ schliessen Den so berühmten Lauff/ und seine Ruhstet wissen/ Die nicht gehoffte Stet/ wo seiner Samen Feld Der richte Pregel in gewisse Grentzen helt.1064 Ihm steht zur Seiten da die Kron der Princessinnen/ Die Gräffin aus der Pfalz/ die andern Heroinnen Wie Luna sonst/ geht vor: und Marggraff Sigmund ihr/ Der gleich den Sternen führt1065 der edlen Thaten Zier. Dort umb die lawe Spreh mus Marggraff Ernst verbleichen/ Den Rosen gleich/ die wo die volle Zeit erreichen Nicht ihr Verhengnis lest/ und jung noch leget hin.
1059 [ nach gebühr 1060 [ der kostbar/ nett und zart/ 1061 [ umbher geschawet ward 1062 [ Der Paphier Zweige Laub 1063 [ Pfuhlen 1064 [ Des schlanken Pregels Furt in seinen Grentzen helt. 1065 [ bringt
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Unfern nach Norden zu/ wo die fast matte Dühn Mit nah geführter Flut die Semigallen trencket/ Ligt Herzog Friedrich in die letzte1066 Grufft gesencket; Sein Bruder neben ihm/ das werthe Fürsten Paar/ Das Castorn gleich zu gehen/ und Pollux würdig war. Dis treibt der Parcen Sinn. Ich nur mus/ wie vorweilen/ So immer ruhen noch. Ich schwere bey den Pfeilen/ Den selbst den Acheron mit heilger Krafft durchgehn; Ich schwere bey der Glut/ für der nicht kan bestehn Der grosse Jupiter, die/ Mars/ in blossen Armen Dir unschwer sieget ob/ daß auch mir zuerwarmen Noch Hertzen übrig sind. Ich seh noch wol den Stamm Der grünen Zweige voll/ die bald/ durch diese Flamm/ Als ihre Sonn’/ ergetzt/1067 uns zarte Frucht verheissen; Ich seh die schöne Saat an süsser Hoffnung weissen/ Dem reiffen Sommer zu; davon auff mein Altar So werthes Opffer sich wird willig bieten dar. Dis denckend/ war sie itzt dem Ufer zu schon kommen. Es ligt ein rundes Feld/ mit vieler Lust benommen/ Da wo den Agtstein/ von Nord-Westen her betrübt/1068 Der Balthische Neptun dem tapffern Sudaw gibt; [Br] Die wunderbahre Frucht/ die Rom an deinem Strande/ Du Papel-reicher Po/ in der Venedier Lande Vorzeiten hat gesucht; hier wo auch unserm Meer Und Volck der alte Nam der Wenden noch kömpt her. Der Bawren Einfalt lest den Streit Minerven Söhnen/ Wo dieses Gut entsteh, weis auch sonst von Clymenen Gesambter Nachkunfft nichts/ kennt keinen Phaeton: Schöpft nur getrost/ und macht den Fürsten reich davon. Nicht weit hin in Süd-Ost steigt bey den rechen Samen Die Schöne Burg empor/ die ihrer Fräwlein Namen Ihr newlich hat beliebt: und ferner führt der Berg/ Der seine Stadt itzt täufft/ des alten Königs Werck Aus Böhmer Landen her/ das sicher Haupt der Sternen Je mehr und näher bey; dem sich/ geneigt von fernen/ Mit zwier gekrümmter Flut der edle Strom beut an/ Und seine Reussen stelt auff freyen Handels Plan. Hier lencket Venus zu. Ihr stillt gleich ebnem Lande Der feuchte Marmor sich. Ihr helt an festem Bande Der Aeol seine Schaar; itzt ruht von aller Müh Der grimme Boreas/ die offt noch Orithy/ Sein altes Lieb/ ihm macht. Halcyone die schweiget;
1066 [ auch in seine 1067 [ Und linde Glut erweicht/ 1068 [ aus Nord in West betrübt/
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Rufft ihrem Ceyx nicht. Auch du bist schon geneiget/ Halbwilder Triton/ da/ mit zwey-gespanntem Roß Zu führen deine Fraw in Amphitriten Schloß. Dircaeen Vögel gehen des linden Jochs befreyet1069/ Und spielen umb den Rand/ der seiner ehr sich frewet: Als einer Nymphen Stimm für Venus Ohren kömmt/ Die etwan sie von fern auff diesen Schlag vernimmt: Wen klag’ ich erst doch an? Was sol ich erst euch rücken/ Ihr wilden Götter1070/ vor? Welch Ruhm dann wird euch schmücken/ Imfall ihr nur gebracht noch auff ein Fräwlein nun Den Rest der Grawsamkeit? O grimmige Fortun/ Du deren Anlitz mir so lange sich verstellet/ Sey fort der Ehren froh/ die Nero zugesellet Selbst in Tarpeien Schloß dem grossen Jupiter/ In lautres Gold gebildt; die Ancus hin und her In seiner Stadt geweyht; der noch Altar und Flammen Praeneste gibet zu. Du kuntest ja verdammen Das Land zu wüstem Krieg: die Häupter musten nach/ Die ich zu spätem Trost ach! mir umbsonst versprach. Wo ist Bellonen Grimm nicht endlich hin gedrungen? Sie hat den wilden Brand rings dort umbher geschwungen/[Bv] So weit sich Elbe/ Rhein/ und Oder Brennus Stamm Je zugethan bekennt. Wie schwach ist doch der Tamm/ Der ihre Flut hier hemmt! Sie schnit den edlen Faden Euch/ liebster Vater/ ab/ den seiner Völker Schaden1071 Je mehr und mehr betrübt.1072 O Tag/ o finstres Licht/ An dem euch Königsberg erwieß die letzte Pflicht! Sie hat nicht wenig euch die schwere Zeit1073 verkürtzt/ Herr Vetter/ dessen Sarck1074 und sterbliches bestürzet Erst Cleve für sich sah. Ach! die mich Neffin hies/ Die Mutter ist auch hin. Bleibt denn noch wo ein Riß Zu klagen übrig mir? Aw ja, mein Licht und Leben/ Mein heller STERN/ Fürst ERNST mus auch die Welt begeben/ In so beliebter Blüt. O unglückgafftes Band/ Das Euphrosyne schlos/ du Atropos zertrannt! Ist das die Fackel/ die mir Hymen vor-solt-tragen?1075 Ist dis der Heyraths-Schluß? der Brautschmuck? das Behagen? Die Hochzeit-Pracht und -Lust? O falscher Hoffnung Schein/
1069 [ befreyhet 1070 [ Sternen 1071 [ den solch Verlust und Schaden 1072 [ An seinem Volk betrübt. 1073 [ Lebens-Zeit 1074 [ Sarg 1075 [ Ist das der Fackel Licht/ die Hymen vor-solt-tragen?
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Die auff so rawes Leid mich je genommen ein! Schon’ o dich/ Venus/ mir in hartem Weh zu gleichen/ Ob schon Adonis mus in deiner Schos verbleichen/ Durch wilden Rüssel wund. Andromache/ sey still/ Ob Hector dir erligt. Hat gleich der eitle Will’ Ulyssis sich gewand; Calypso/ las dein Klagen: Ich bin allein befugt den Sternen anzusagen Den Kummer/ der mich trifft; will Stein’ und Felsen hier Mit ödem Wimmern fort belegen für und für. Wie da betrübt und bloß auff Naxos wüstem Sande Itzt Ariadne saß/ und mit ergrimmtem Stande Wald/ Feld und Wild bethewrt/ das sämptlich ohne Ruh Ihr ihren Theseus rieff von allen Seiten zu; Der nach Athen indeß getrost schon zu gezogen: So komm’ ich itzt mir für. Zwar nie hat mich betrogen Ewr trawtes Hertz/ o Fürst/ das selbst die Warheit war; Nie durfft’ ich/ trewster Schatz/ euch etwan wandelbahr/ Wie ihren Jason vor Aeeten Kind/ beweinen: Doch last ihr mich nur hie. Ich irr’ in Thal/ und Haynen/ Und fernen Klippen umb/ dir gleich Hypsipyle/ Nach dem dir Aesons Held sein trawriges Ade Bey so viel Thränen gab. Ich girre gleich Oenonen/ Die keinem Unmuth weis umb Ida her zu schonen/ Nach ihres Hirten Flucht. O Babels wethes Paar/ Das auch der grimme Tod nicht gnug zu trennen war! [Bijr] Wie sonst ein Wasser pflegt/ das seinen Wall durchbrochen/ Und itzt/ der Rinder Müh/ die Saaten ungerochen/ Itzt Wald und Dorff hinlegt: so gieng der Nymphen Laut Auff ferne Klagen zu. Ihr Anlitz ward geschawt Den reinsten Perlen gleich/ die irgend mit Corallen An eine Schnur versetzt. Sie must’ itzt mehr gefallen/ Des vielen Zierraths ohn. Der heissen Sinnen Brand Mahlt’ ihre Wangen mehr. Ein Indischer Demant Warff solche Stralen nie/ als ihrer Augen Kreise/ Das flammende Revier. Mit dem genetzten Preise Der Haare war sein Spiel zum Theil dem Zephyr frey. Die Brüste stunden bloß/ als ob itzt ohne Schew Der Schmertz sein Recht verübt. Sie kunte so sich gleichen Dianen hohe Zier; durfft keiner Charis weichen; Nicht/ Aphrodyte/ dir. Die/ längst ob solcher Pracht Bestürtzet/ ihrer Red’ erzielten Anfang macht: Die Klagen sind ja recht/ o Fräwlein/ hoch gezieret: Doch fehlt geziemte Maaß. Ob dann fort stets gebühret Euch so ertheilter Huld der Ort? Die Trawrigkeit? Der einsam-feste Sinn? Gönnt die vollnbrachte Zeit Der gnug beklagten Zahl; die anderweit erfrewet:
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Bey euch gerühmet wird. Wird auch das Band berewet/1076 So Lachesis zerries: wisst/ das Idaliens Macht Und Bogen gantz noch ist. Was Hero eh volnbracht/1077 Als in Phryxeen Tieff der süsse Schwimmer blieben; Der unbedachte Grimm’/ der Sappho angetrieben/ Als Phaon sie geschertzt; und/ edle Phyllis/ dich/1078 Seit dein Demophoon von dir entwandte sich:1079 Der1080 stehet euch nicht zu; nicht Dido ihr Beginnen/ Und was je tödtlich liebt. So bricht die rawe Sinnen Der Götter unter euch auch kein Betrübnis nicht. Welch Hercules ist/ der sich ewrem Licht das Licht1081 Hier1082 zu erstatten wagt? Thuts Orpheus Spiel und Seiten? Der im Elyser Thal dort die gewündschte Zeiten Mit seinem Vortrab fort so lieblich bringet zu/ Und selbst euch nicht mißgönnt der newen Heyrath Ruh. Wolt ihr so einsam euch der schönen Gnosis gleichen/ Umb daß ewr Theseus hin: so denckt auch zu erweichen Mit ihr den harten Muth/ bey der so lieben Raum Lyaeus bald vertrat. Thessaliens Held wird kaum Von seiner Colchis los/ da ihr von unsrem Theile Schon Aegeus ist bedacht. Dis sind die scharffen Pfeile/[Bijv] Die/ wann es noth/ dich/ Pan/ und dich/ Endymion/ Bey Luna machen hold. Sie sinds/ die dir/ Tithon/ Und dir/ Orion/ bey Aurora Platz verschaffen1083 Zu unterschiedner Frist. Wenn zwischen Glück und Waffen Creusa kömmet umb/ mus dem braubten Bett Hernach/ Lavinia ersetzen ihre Stet. Euch auch/ LOYSE/ wird ein newer Bräutgam letzen Auff so bezeugtes Leid. Schawt sich die Welt ergetzen Mit wiederbrachtem Licht1084/ wenn Corus außgestürmt/1085 Und für bewölckter Nacht sie Cynthius1086 beschirmt: So geht es auch mit euch. Denckt itzt auff newe Frewden/ Auff Lieb’/ und Liebligkeit; die Venus euch bescheiden/ Und ihr verbuhltes Kind. Was je euch dort entgieng/
1076 [ bereuet 1077 [ vollnbracht 1078 [ und Phyllis wilder Schluß/ 1079 [ Seit itzt Demophoon nicht helt bewehrten Fuß: 1080 [Das 1081 [ Welch Hercules ist wo/ der ewrem Licht das Licht 1082 [ Sich 1083 [ Und dir/ Orion/ auch Platz bey Aurora schaffen 1084 [ Glantz 1085 [ ausgestürmt 1086 [Phoebus fort
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Bringt Curland wieder ein. Die Zier/ so an-itzt-fieng Den Rosen gleich zu stehn/ die mit vollkommnem Scheine Lucanien bricht ab; den Muth/ den ich vermeine Achillis gleich zu seyn/ da als der Griechen Schaar Die grosse Stadt ohn ihn nicht überwindlich war; Der Sitten Höffligkeit. Was sag’ ich/ wie die Jugend Mit grawem Witz sich krönt? dem Stamm so edle Tugend Und Tapfferkeit geht vor? welch Meder weis sein Roß So artig zu bestehn? welch Parther sein Geschoß Gewisser abzuziehn? Er kunte Libers Stelle Am Ganges nehmen ein; kunt’ an der heilgen Schwelle Zu Delphis gläntzen vor. Ihn wündschet Leda ihr An Castors statt; ihn zeucht Narcissen Echo für. Der süssen Rede Macht kunt ihre Göttin zeugen/ Und zwang der Nymphen Sinn. Sie ist/ schrie bald/ mein eigen/ Das blinde Knäblein aus/ und suchte mit Begier Den scharffen Rüstzeug durch. Ihm kam ein Boltze für/ Von lauterm Gold geetzt/ in Honig eingetauchet/ Dergleichen er zuvor beym Ithacus gebrauchet/ Da als er ihn zu erst der keuschen Gattin gab; Den schos er in das Hertz CHARLOTTEN tieff hinab. Dis war noch nicht genug. Mit solcher Rüstung Waffen Eilt’ er den Curen zu/ ein gleiches hier zu schaffen/ Da wo der tapffre Held/ ihr Fürst/ JACOBUS sitzt An Wasserreicher Stadt. Den fand er eben itzt Der edlen Vorfahrt Ruhm aus künstlichen Gemählden Entzündet übersehn. Ihm kam das Licht der Helden/ Der werthe Gothard für/ der erst den Meister-Stand In Lieffland übergab/ und Hertzog wurd genandt; [Cr] Der viel gelobte Fürst/ der an beliebten Sitten Trajanen stehet gleich. Die Macht/ dem Moscowiten Vor Ringen eh bezeugt/ gewan den frischen Muth; Nicht anders als ihm wo ein kühner Adler thut/ Der/ seiner Lufft gewiß/ itzt dem geehrten Stamme/ Dem er zuvorn/ bewehrt an heller Phoebus Flamme/ Den schnellen Flug ab sah/ mit hoch geführtem Lauff Noch vor zu kommen denckt. Ihm frischt die Sinnen auff Sein Bruder Wilhelm/ den ihm Münster wol erwogen Zum Bischoff außersehn; und wer sonst/ vorgezogen Zu Geistlichem Gebiet/ mit Stab und Hut sich weit Der Welt bekandt gemacht. Das Lob/ so lange Zeit Der grawen Väter Reyh in weit berühmten Orden Der güldnen Ritterschafft in Bergen eigen worden/ Stach ihn/ itzt Herzog/ an/ dem mehr zu setzen nach; Wie/ Neoclides/ dir vorzeiten auch geschach/ Dem Marathons Gemerck/ das tapffre Sieges-zeichen
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Den süssen Schlaff verbot. Er dachte sich zugleichen1087 Durch eigner Tugend Preis dem edlen Phocion/ Den so Athen geehrt. Worinnen dann ihm schon Der hohe Vater auch/ und Vetter vorgegangen Mit kenntlich-ebner Spur. Ihm häuffte sein Verlangen Der Römer Tullius/ und Tullus/ die erkühnt Durch löblichen Beginn/ so reichen Danck verdient. Er lies der Liven Stand ihm Buch und Taffeln melden/ Wo seine Vorfahrt saß; und die berühmten Helden/ Die erst mit keckem Blut hier ihren Gott bekandt/ Und Märtrer worden sind, wie Bremen dieses Land Bey Kircholm erst bewohnt:1088 und Rom die heilge Würde Dem frommen Meinard gab; von dem die leere Bürde Der strenge Berthold nam/ den seines Eyffers Macht In endlichen Verlust des Lebens auch gebracht: Drauff Albrecht ihm gefolgt/ der Riga erst gebawet/ Den Bischofflichen Sitz/ und seinem Schutz vertrawet Der edlen Brüder Zahl/ die Fulco/ wie man meint/ Zu Salem eingesetzt/ und wieder Gottes Feind/ Den Satan/ und die Schaar der hart verstockten Heyden/ Mit ihres Ordens Merck/ dem Schwerdte lies bekleiden/ Das auch sie hat benennt. Er schawte/ Vinno/ dich/ Der Brüder erstes Haupt/ der mit Gebäwen sich Und Schlössern hin und her/ wie auch mit tapffern Kriegen Der Nachwelt kund gemacht: doch schändlich must’ erliegen [Cv] Durch Meuchelmörders Hand. Dich schawet’ er/ Volquin/ Den sein Verhängnis ries in offner Schlacht dahin: Und/ tapffrer Herman/ dich; der erst das Schwerdt begeben/ Und mit dem Creutz vertauscht/ das damals hoch zu schweben Schon allerseits fieng an. Der Fürsten edle Schaar/ Die Sachsen/ Dennemarck/ und Pommern in Gefahr/ Und Holstein her geschickt/ die führt’ ihm zu Gemüthe Der Fürsten rechte Zier/ die gar nicht auff Geblüte/ Auff Tugend aber fusst. Er las die gantze Reyh Der alten Meisterschafft/ die heilig-werthe Trew Je Lieffland hat bezeugt; bis das begräntzte Polen Selbst Meister hat gespielt. Von welchem doch zu holen Sein Recht noch Schweden weis: seit das sonst edle Land So mach erregter Feind verderblich angerannt. Dies hatt’ ihm ingesampt zu Hertzen tieff gezogen Der kühn-entbrandte Fürst/ als itzt mit Pfeil und Bogen Cupido schon gerüst sich für ihm nieder lest/ Und so ihn auch schickt zu zum newen Hochzeit-Fest:
1087 Der ganze Vers fehlt in Kaldenbachs Ausgabe von 1683. 1088 [ besetzt
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Die Zeiten edler Printz/ der hier gesaßten1089 Brüder/ Da ein Gelübde mir und Venus war zu wieder; Als noch die freye Pflicht itzt offentlich trug Schew Für Hymens festem Band/ sind weg nun/ und vorbey. Itzt macht ihm Amor auch die Herrschafft dieser Lande Verpflicht1090 und unterthan. Wie viel hat diesem Strande Die Nachwelt doch vergunnt! der vor lag wüst und öd/ In tieffer Barbarey: itzt schön und lustig steht. Der Städt’ und Schlösser Baw/ der Felder Tracht und Grünen/ Der Sitten Maaß’ und Zucht war euch nicht/ ihr Sudinen/ Vor hie bewohnt/ bekandt. Der Aesthen lange Nacht Scheint itzund hell und klar. Gradiven strenge Macht Ruht auch schon lange Zeit. Die anbewohnte Reussen/ Die solcher Anzahl je zu kriegen sich befleissen/ Sind längst schon hinterbracht. Den wüsten Littaw helt Ein nahes Band verknüpfft. Der Cimber lest dis Feld/ Mit seinem itzt bemüht. Die sieghaften Sveonen Verrücken selber nicht der außgesöhnten Kronen Des großen Wladisla der Waffen Stillestand; Der Waffen/ die itzt sind in aller Welt bekandt. Und dieser linde Thon der Wörter/ der itzt rühret Bis an der Nerve Strom; den hier ein Knabe führet Für euch/ glückhaffter Held/ wie weit doch stimmt er ab Dem rawen Laut/ den vor ein wilder Lette gab! [Cijr] So must’ auch mancher Wahn und Aberglaube schwinden/ Seit König Sigmund wolt das letzte Haupt entbinden Der strengen Geistligkeit/ und ewr geehrter Stamm Das erste Herzogthumb/ und drauff die Braut ihm nam Vom Hause Mecklenburg. Auff dessen Pfad getreten Der Nachkunfft edles Paar. Was nun kan euch verspäten/ O viel gezierter Fürst/ zu folgen ihrer Spur/ Darein euch freundlich rufft die sämbtliche Natur? Voraus der Jugend Blüet? der Jugend/ die mit Bächen Und Strömen hin verfleust; die Blumen gleich zu brechen Die stete1091 Zeit gewohnt. In solchen Alters Frist War Peleus da/ als ihm die Thetis worden ist. So gieng Pirithous die Wangen rab gefärbet/ Als ihn Hippodamie mit einem Blick verderbet/ Und wieder macht gesund. Achillis war so roth/ Da als Briseris ihm den ersten Kuß dar bot. Wisst/ daß ich itzund hier ein newer Hochzeit-Bote/ Und Stiffter selbst komm’ an. Schewt euch nicht/ zu Gebote
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Dem Kinde mir zustehn/ ob gleich sonst Hectors Krafft Uns ewre Hand verspricht: der ich in starcker Hafft Offt Jupitern selbst hielt; dem Mavors seinen Degen/ So offt ich wil/ legt hin. Mir fochte nie entgegen Der starcke von Tyrinth. Der Held/ den Maro schreibt/ Und den Homerus rühmt/ sind von mir überteubt. Was dann hilfft euch die Zier/ nach der euch Pollux weichet/ Nach der ihr Phoebus selbst/ dem Haupt der Musen/ gleichet; Im fall sie so verschleist/ wie itzt der Wälder Kleid/ Ihr Laub/ und solcher Schmuck/ der hie und da verschneyt? Eilt/eilt die süsse Lust/ die keuscher Liebe bleibet; Das heilig-feste Band; den Namen/ dem erleubet/ Dem Sohn und Enckel rufft. Sucht ewres Stammes Art/ Der Kinder schöne Zucht/ die/ wann ihr hin itzt fahrt/ Euch uberbleiben1092 macht. Schawt hier die linde Waffen/ Die kurtz zuvor gespannt das edle Fräwlein traffen Des Hauses Brandenburg/ die euch mit eignem Mund Die Mutter Venus selbst besprach in trewen Bund. Die gelten itzund euch. Was soll ich euch die Helden/ Die ihr Geschlecht zeigt auff/ und so viel Titel melden/ Die dieser Name führt? was1093 dann der Sitten Zier? Den Muth? die Klugheit/ die fast männlich leuchtet für?1094 O welcher Wangen Naß steht euch fort zu zu schlichten/ So noch den Bräutigam zeugt/ den von so milden Früchten [Cijv] Sein früher Abschied rieß! Sie kunt auff Trojen Feld Penthesileen Schild zu führen seyn1095 bestelt; Kunt inner Schloß und Ertz Acrisiens Furcht vermehren/ Und Perseus Mutter seyn. Sie war dich zu bethöhren/ Du wilder Nessus/ werth; umb deren Huld allein Sich ließ’ Hippomenes in grimme Schrancken ein. Dis hatt’ er kaum geredt/ als schon selbst in dem Hertzen1096 Das schnelle Gold behieng. Gleich wie bey erstem Mertzen Der Erden Schos erwarmt/ so bald sie Titan new Mit starckem Anlitz trifft; und wie ein flüchtig Bley/ Das wo die Schleuder wirfft der strengen Balearen/ Je mehr und mehr erhitzt/ so bald es los gefahren: So brennt der edle Fürst. Sein erstes Thun/ ein Pfeil/ Ein stolzer Hengst/ die Jacht/ findt itzt nicht bey ihm Theil/ Und alles Ritterspiel. Er lest Britannien sorgen/ Welch Jagthund besser sey. So offt mit hellem Morgen
1092 [ überbleiben 1093 [ Was 1094 [ Den Muth/ Verstand/ der auch fast männlich leuchet für? 1095 [ sein 1096 Ohne Einrückung in Kaldenbachs Ausgabe von 1683.
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Ihr Haar Pallantis schmückt/ wird ihr LOYSE gleich; Sie brennt im Mittag ihn. Der späten Phoebe Reich1097 Ist dunckel ohne sie. Nicht einmal färbt die Wangen Die innerliche Brunst. Sein sorgliches Verlangen Stillt keiner Bücher Trost; die allenthalben voll Des süssen Namens sind; den auch zum offtern wol Die Hand unwissend schrieb. Itzt kan den tapffern Sinnen Ein linder Seufftzer/ itzt das Klagen abgewinnen Der langsam-trägen Zeit; ihm scheint das stille Rad Dictynnen nur zu stehn am blawen Himmels-Pfad. Dann sucht er für die Braut die köstlichsten Geschencke/ So gut sie Tyros hat; die thewren Ohrgehencke/ Die Ganges je verbirgt; der Haar’ und Hände Schmuck/ Und was der Hals erheischt: die weit doch nicht genug CHARLOTTEN1098 hoher Zier. Er wünschdt für sie zu grüssen Der Abydener Flut; lest gantz sich nicht verdriessen/ Wo noth/ den König der Aetoler zu bestehn/1099 Und/ Pisa/ deinen Kampff behertzet einzugehn. Cupido eilt indeß die Mutter zu erfüllen Mit seiner Thaten Ruhm; gleich ob ihm aber brüllen Auff Sidons feistem Land der falsche Stier gemust: Und Phoebus etwan am Peneus seine Lust/1100 Und flüchtig Schawspiel wer. Sie war schon eingekehret In Thetis feuchter Burg/ unfern da wo bewehret Der Preussen engen Schlund die Festung an der See/ Daß niemand ab und zu ohn ihren Willen geh. [Dr] Ihr Antrit war an Pracht und sattem Schmuck zu spüren/ Den Vater Nereus itzt das gantze Haus lies zieren/ Da Venus innen war. Das Haus selbst ward geschawt Von lauterm Börrenstein gantz künstlich aufferbawt; Dem keiner Güter Schein/ so je in ihren Gründen Die blawe Doris hegt/ itzt irgend blieb dahinden. Ihm hatt’ auch Triton schon die Nymphen aus dem Meer/ Aus Brunn- und Flüssen/ Wald und Bergen rund umbher Am Ufer auffgebracht/ umb Venus mehr zu dienen. Hier war Cymodoce/ und Xantho schon erschienen/ Und Spio neben ihr. Nisaca1101 war bemüth; Phyllodoce nimbt wahr/ was Venus gerne siht. Sie selbst die Göttin hatt’ itzt manch Gespräch gepflogen Mit Vater Nereus dir; wie erst sie von den Wogen/
1097 „[…] Der späten Phoebe Reich |Ist dunckel ohne sie“ fehlt in Kaldenbachs Ausgabe von 1683. 1098 Nicht in Großbuchstaben in Kaldenbachs Ausgabe von 1683. 1099 [ Selbst der Aetoler Haupt/ wo nöthig/ zu bestehn/ 1100 [ Und am Peneus wo Apollo seine Lust/ 1101 [ Nisaea
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Und ihrem Schaum entstund, wo ihre Muschel sie Im Anfang hingeführt; wie viel sie je und je Von Paphos/ Salamin/ und Gnidos vor geehret/ Und umb Cythera her; das itzt doch theils zerstöret/ Theils lieg’ in tieffer nacht und wüsten Barbarey; Und was der Sachen mehr. Vorab/ weil Prophecey Von später Zeiten Glück je Nereus zugekommen/ Hatt’ umb der Lechen Thron sie viel von ihm vernommen/ Welch Schluß Caecilien Stell’ itzt glücklich eingebracht; Und wann ihr künfftig auch der Held sey zubedacht/ Den Brandenburg noch weis/ auff den der Märcker Hoffen/ Der Preussen Wundsch und Trost schon lange zu getroffen/ Des Reiches edle Seul’: als Amor her sich schwingt/ Und der Verrichtung so gewündschte Zeitung bringt.1102 Wol! schrie bald Cypris aus. Ihr Nymphen/ die zu gegen/ Schawt was euch ob-itzt-ligt der newen Hochzeit wegen; Wieviel ihr diesem Tag mit Kegenwart/1103 und Pflicht Der Gaben schuldig seyd. Ich zwar seum hier mich nicht. Wie hoch Idalien je/ und Amathus mich ehren/ Komm’ ich Persöhnlich1104 an. Die Anzahl wird vermehren Selbst Nereus neben mir. Dann tragt ihr Nymphen aus Der newen Heyrath Fest/ so weit Neptunen Haus Sich irgend hier erstreckt. Lasts umb die Dühne wissen/ Und umb den fernen Rhein. Sagts an der Elbe Flüssen;1105 Und wo die Uker See/ und Land/ und Stadt benennt/ Und mit dem Oder-Strom in einen Hafen rennt. Rufft unsrer Allen zu/ und was je hier in Preussen/ Und dort in Bergenland mus von der Anger heissen; [Dv] Der Lick und Drebnitz auch. Bringt die Gesellschafft auff/ Die an der Isel spielt/ und lustig sich zuhauff Taucht in der Wipper Flut. Die irgend umb die Hügel Dem Tantz und freyer Lust erweitern Zaum und Zügel/ Da wo die alte Stadt/ von ihnen so genandt/ Den Wolcken steiget zu/ die Caesar in den Sand Und ersten Grund gelegt; die lasset hier erscheinen/ Der edlen Nymphen Schaar. Sich müsse nicht verneinen Der Lieb’ und Lippen Chor. Die Düssel/ Spreh/ und Ucht Wird’ umb der Schwestern Dienst und trewe Schuld ersucht. Ihr auch/ mein kleines Volk/ ihr jung behertzte Knaben/ Und Schützen durch die Lufft/ wofern ihr meine Gaben/ Die Pfeil’ und Köcher wündscht/ schawt zu/ daß diesem Licht
1102 [ Und der Verrichtung Post und gute Zeitung bringt. 1103 [ Gegenwart 1104 [ persöhnlich 1105 [ flüssen
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Von euch geziemter Fleiß ja wo gebreche nicht. Eilt theils auff Ida zu die lieblichen Violen/ Theils Rosen von Praenest/ und Lilien zuholen; Brecht Zimmetrinden ab/ so gut sie Saba nehrt/ Und was Panchaeen Laub je süsser Frucht gewährt. Schont mit geblümter Saat nicht Bett’ und Saal zu füllen; Giest ewren Nectar aus; seid mit dem Safft zu willen/ Des Balsams edlem Safft/ so fett ihn Nilus Rand Und Palaestina zeugt. Sucht/ was Eoen Strand Für besseren Geruch je anzustecken gibet. Vergest der Myrten nicht/ die meine Paphos liebet/ Und Sparten grünes Feld. Euch steh’ Aglaja bey/ Und ihrer Schwestern Paar/ das mit ihr embsig sey Der Seren thewren Schmuck der Fürstinn anzulegen/ Und den Arabien schickt; der doppelt müß’ erregen Der Sonnen liechten Glantz. Die schaw dem Zindel zu/ Der Scham und Zucht verhüllt. Bild’ Euphrosyne du Das Gold-geflammte Haar/ mit Narden wol geträncket/1106 Den Achaemenien trägt. Thalia sey gelencket Auff andre Sorgen hin/ den Tyrer Purpur ihr Recht anzufügen/ sampt der edlen Steine Zier.1107 Dann schlägt mein Hymen auff das zarte Bettgeschmeide/ Was Phrygien künstlich stickt/ und in Metall und Seyde1108 Der schwartze Barbar wirckt. Der Decken stolzer Pracht Von Alexandrien her wird durch ihn auffgebracht. Ich selber bin erfrewt/ das selig’ Haar zu zieren Mit Blumen/ welche nie kunt’ Aquilo berühren; Noch Sirius verletzt. Lucina steht bereit/ Und schafft der Sternen Trug/ die öde Frucht beyseit. [Dijr] Indessen lüfft die Frist der viel geklagten Stunden Mit herber Säumnis weg. Apollo geht/ entbunden Der vor betrübten Nacht/1109 mit hellerm Antlitz vor/ Und führt sein gläntzend Licht/ so mild er kann/ empor. Es scheinet Königsberg von Mitaw gleich zu streiten Umb erster Beylag Ehr. Es schickt sich aller Seiten Die Blüt der Fürsten zu/ die unsre Zeit je kennt/ Und kömpt in Preussen an/ das Venus selbst benennt/ Der Heyrath Stiffterinn. Der kecke Natang pranget/ Schmückt seiner Fürstinn sich. Den Pomesan verlanget/ Den Sam- und Barten auch/ geziert auffs allerbest/ In Frewden zu begehn das süsse Hochzeit-Fest.
1106 [ getrencket 1107 [ Recht anzutuhn und dann der edlen Steine Zier. 1108 [ Seide 1109 [ Der vor bewölckten Lufft
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Die edle Ritterschafft wird in das Feld geführet/ Das der Trompeten Hall mit lauter Lust dupliret.1110 Der Fürsten Blum und Zier/ der Curen Haupt und Licht JACOBUS kömmet ein. Ihm fast sich selber nicht Die viel erfrewte Stadt. Sie wündscht mit Thor und Wällen/ Wie weit sie je erstreckt/ doch weiter sich zu stellen So werth-geehrtem Gast. Der Pöfel/ Lufft/ Gebäw’/ Und Strassen fallen ihm mit hellem Jauchzen bey. Des Pregels stoltzer Strom lehrt seine Flut sich neigen/ Und schwillt gebrüstet auff. Ihm will geehrter steigen Der Berg/ die edle Burg/ die Ottokar gegründt; Und frewt des Vorzugs sich zur Wirtschafft ihr vergönnt. O welcher Flammen Glut steigt auff dem süssen Paare/1111 Das freundlich sich empfängt! wie mit ernewtem Jahre1112 Natura fühlt/ wann itzt ihr Winter-Joch zerfleust/1113 Und mit geraderm Licht sie Cynthius begeust. So pflegt ein Purpur durch die helle Lufft zu strahlen/ Als ihr Gesichte brennt. Wie viel kan ab-schon-mahlen Ein Blick verschwiegner Lust/ als sonst kein Nestor thet! Es wird mit erstem Kuß die keusche Lust beredt/ Die Hesperus verspricht. Und itzt mit heilgem Grusse Des Himmels sich fängt an; der mit geneigtem Schlusse Ihr Bündniß machet fest. Die Taffeln stehn bereit. Wie viel das edle Land an Meng’ und Fruchtbarkeit Den andern je gieng vor/ gibt Ceres itzt zu spüren/ Und ihr gesambter Dienst. Sein Seitenspiel zu rühren Trägt Phoebus selber Lust/ der diesen Berg besitzt. Lenaeus milder Safft hat manchen Kopff erhitzt. Was sag’ ich von der Pracht der angestelten Reyhen/ Die Cypris selbst führt auff? von Gaben/ die sich zeyhen [Dijv] Nicht denen nach zu stehn/ die Agamemnon nam/ Als seine Tyndaris vermählet zu ihm kam? Ein Börresteinen Werck hat Nereus auffgesetzet/ Das für dem thewren Werth die Kunst doch höher schätzet. Korallen schickt die Marck/ und dich/ du edler Stein/ Den sonst ein hohes Nest der Adler gibt allein. Mit seinem Deamant siht man den Pregel prahlen/ Der newlich hier sich fand; der Elbe Strom mit Schalen/ Und köstlichem Geschirr. Die Tanger/ Stolpe/ Rohr/ Und Havel thun hier mit Geschencken sich hervor.1114
1110 [ mit heller Musick zieret 1111 [ O welcher Anmut bringt das süsse Paar zusammen/ 1112 [ Das freundlich sich empfängt/ und so beliebten Flammen 1113 V. 571–578 fehlen in Kaldenbachs Ausgabe von 1683. 1114 [ Und Havel thun beliebt sich mit Geschencken vor
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Die Dühn und Memel sind gesehn mit ihren Fellen/ Der Zobeln edlen Wahr. Zu denen sich gesellen Mit Wachs/ der Bienen Werck/ die kleiner’ Oeckaw thar/ Von dem itzt Hymens Licht sey mehr begläntzt1115 und klar. Hier bleibt der tapffte Rhein und Necker nicht dahinden Mit Evans süsser Kost/ die Gäst’ itzt baß zu binden Zur Lust und Fröligkeit. Der Donaw wüste Flut/ Und so viel neben ihr sind da mit reichem Gut. Dann will auch Mavors sich von hinnen nicht entfernen; Gibt seiner Gunst Gemerck dem Tag’ und liechten Sternen: Rufft auff bezirckter Bahn den Rittern zu Thurnier; Spielt mit Racketen durch der fernen Lufft Revier. Doch schawt/ Idaliens Licht brennt schon/ und wirfft die Flammen1116 Von hellem Schloß’ herab. Geht/ geht gewündscht zusammen/1117 Ihr süß verliebtes Paar. Cupido fast zuhauff1118 In güldnem Geschirr die edlen Thränen auff/ Die Boten solcher Lust. So gibt ein rawer Hecken Hyblaeen Rosen umb; den Honig sucht zu decken Hymetten scharffes Volk. Die Furch/ die Trawrigkeit Rufft newen Frewden zu; die Juno selbst nicht schewt: Und hier lest gültig seyn. Wer macht’ in gleichem Zagen/ O Leda/ dich getrost? sprach/ Rhea/ dir Behagen Und süsses Gnügen ein? Nembt/ Fürst JACOBUS/ wahr Der hohen Tröstung Pflicht; macht/ andrer Phoebus/ klar Der Wangen trübes Rund/ so lang genug genetzet Mit Leid-befugter Flut. Itzt endlich werd’ ersetzt Der trawrige Verzug; bringt alle Klagen ein/ Die besser nie/ denn so/ ergetzet kunten seyn. Und du/ Uranien Stamm/ komm/ Hymen; laß itzt gläntzen Der Fackeln hellen Schein; seyn fertig dich zu kräntzen Mit frischem Tausendschön/ und lindem Majoran: Komm/ tritt dem edlen Paar zu Ruhstet selbst voran. [Cr] Laß deinen Helicon/ und die begrünten Klüffte Umb Medusaeen Quell. Brich frewdig durch die Lüffte/ Und schmück’ hier deinen Platz; geh selber du mit ein Das selige Gemach: hier magstu Dritter seyn. Dir sieht das süsse Thun/ der stille Zwist zu wissen. Der keuschen Sinnen Brand/ der erste Thurst/ das Küssen/ Die blöd-erkühnte Hand/ der süß beredte Mund/ Der Arme Band und Schluß: dis wird dir/ Hymen/ kund. In dessen mahlt ihr Reich mit tausend güldnen Kertzen
1115 [ beglentzt 1116 [ Doch wer vermag die Lust und Pracht so hoher Zeiten 1117 [ Zu melden nach Gebühr? Itzt steht die Pflicht zu deuten/ 1118 V. 611–642 fehlen in Kaldenbachs Ausgabe von 1683.
3 Christoph Kaldenbach: Preussische Venus (1645)
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Die stille Cynthia; die niemaln ewrem Schertzen Von fernen sihet zu/ daß nicht auch ihr Beginn In Latmier Hölen ihr solt kommen in den Sinn. Der andern Sternen Chor/ die je vor dem geliebet/ Theils noch verliebet sind/ wündscht/ daß stets auff-noch-schiebet Aurora ihren Blick: und zielt mit festem Schluß1119 Auff ewrer Liebe Frucht; wie wo Telemachus1120 Der zarten Mutter Schos nach Jahres Frist besessen/ Und ihr Ulyssen Bild gebährdig abgemessen: Daß auch in solcher Zeit CHARLOTTEN Arm schließ’ ein/ Was an Gestalt und Art dem Vater gleich mag seyn.
1119 [ Die unser Wundsch enthelt/ und nach des Himmels Schluß 1120 [ Zielt auff der Liebe Frucht: wie wo Telemachus
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Anhang
CELSISSIMIS PRINCIBUS SPONSIS De Borussa Venere
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15
Dum, quacunq; potest, genetrix AEneia laeto Tollere Prussiacas optat honore faces: Jam dudum toto molitur carmina Pindo Phoebus, & aurata gestit adesse lyra. Nec sua Bistonio temnuntur ludicra Marti, Plaudit & armisonis virgo Minerva tubis. Alma Ceres campis properat, lucisq; Diana, Hic ubi Livonium saepe secuta Ducem. AEquoreas pertentat opes, & caerula Nereus: Sollicitatq; suas plurima Nais aquas. Tum sacra Maeonius commendat pocula Liber: Quaerit & officiis Juno placere piis. Omnia Coelituum vacuantur limina turbis, Nec capit undantem terra Borussa chorum. Ut Superos Cytherea videt toto agmine pronos, Qua datur, obsequiis festa beare suis: Si merito tot sacra colunt Hymeneia Divi; Certe, ait, huc venio non minus aequa Venus.
Abbildungsverzeichnis Abb. 1
Abb. 2
Abb. 3 Abb. 4
Abb. 5 Abb. 6
Abb. 7 Abb. 8
Conrad Meyer, Wach auff von diesem Schall! Zentralbiliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv. [Meyer Conrad GRA 1.0016.001 Pp], undatierte Radierung, Bild 22 × 36,8 cm, Blatt 29,9 × 37,4 cm 157 Sigmund von Birken: Des Sündlichen Menschen/ Gefährlicher Schlaff der Sicherheit (1659), Stadtbibliothek im Bildungscampus Nürnberg, [Ebl. 2069], [VD17 75:710100F], Kupferstich ca. 36 × 31 cm, Satzspiegel: 35,5 × 29 cm, Illustration: 159 15 × 26,1 cm Crispjin de Passe d. Ä. nach Maarten de Vos, Venus trauert um Adonis (1602), Fine Arts Museum of San Francisco [Nr. 96], Kupferstich: 84 × 130 mm 170 Georg Philipp Harsdörffer Frauenzimmer Gesprechspiele, so bey Ehr- und Tugendliebenden Gesellschaften […] beliebet und geübet werden mögen […]. Nürnberg 1645. HAB Wolfenbüttel [M: Lo 2622 (5)] http://diglib.hab.de/drucke/ lo-2622-5/start.htm?image=00063 214 Gottfried Finkelthaus, Titelkupfer zu Le Jugement De Paris/ Das Urtheil des Schäffers Paris (1645) SBB-PK [Yu 4661], [VD17 23:285227M] 247 Peter Troschel, Kupferstich zu Constantin Christian Dedekinds Aelbianische MusenLust (1657), Staats- und Universitätsbibliothek Dresden [Mus.1805.K.1], [VD17 14:635857F] 307 Johann Franck, doppelseitiges Titelkupfer zu Geistliches Sion […] Wie auch sein Irrdischer Helicon (1674), SBB-PK [Yi 3592], [VD17 12:120767W] 308 Heinrich Mühlpfort, Portrait, UB Hamburg [Portrait 16 1: M 23], Kupferstich auf Papier, 15,1 × 9,0 cm, Platte 16,2 × 10,2 auf Blatt 17,3 × 10,7 cm 328
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2 Bibliothekssiglen BSB-München FB-Gotha GStA-PK GWLB-NB HAB HAAB RSBZ SBB-PK StaBi Nürnberg SUB UB ULB
Bayerische Staatsbibliothek München Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Niedersächs. Landesbib. Hannover Herzog-August-Bibliothek, Wolfenbüttel Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar Ratsschulbibliothek Zwickau Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Nürnberg, Stadtbibliothek Staats- und Universitätsbibliothek Universitätsbibliothek Universitäts- und Landesbibliothek
3 Quellen 3.1 Venus-Dichtungen 1.
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414 5.
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13. 14. 15. 16.
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Literaturverzeichnis
Anonym: Lützawisches gehaltenes Treffen/ bey WohlAdelichen Beylager Des unter der Reiche und Cron Schweden Hochlöblichen Bawyrischen Regiments bißhero Wohlbestallten Kriegs-Capitains/ jtzo aber auch noch/ unter der Veneris Leib-Regiment/ newgeworbenen […] Ritters/ u. Herrn Barthol Lützaw Bräutigams/ Und […] Annen Magdalenen Minckwitzin Braut. Erfurt 1639. [VD17 125:002005D]. Anonym: Als Herr Licentiat Theodor Möstel Jungfer Anna Magdalenen Nehlin Durch seine Hertzhafftigkeit in der Nacht überfallen und niedergeleget/ haben Hymen und Venus zu gesehen und singend durch Cupiden den Strohkrantz überantworten lassen: Zu jedermans Nachricht den 24. Tag des Herbstmonats Im Jahr 1650. Dresden 1650. [VD17 125:001590X]. Anonym: Myrtillio Erscheinet auff dem Heinßbergischen und Lorentzischen Ehe-Verbindungs-Feste/ Mit Befehl von Mercurio und dem kleinen Cupiden. [1666]. [VD17 125:035409D]. Anonym: Poetischer Vogel-Heerd Welchen Cupido, der Venus-Sohn angerichtet/ Einen Edlen Falcken gefangen/ und auf Bitt Einer Edlen Nimphen/ Ihr denselben geschencket. 1667. [VD17 125:028036P]. Anonym: Venus Blumen-Brechen und Liebes-Sprechen: In denen Nordgauischen Gefilden abgemerket Von einem an der Pegnitz weydenden Land-Schaefer. Altdorff 1667. [VD17 125:040612Z]. Anonym: Recht-mässige und glückliche Verbindung Zwischen Mars und Venus/ in einer Scherz-Ernstischen Oden Bey dem […] zu Eylenburg den 5. Junij dieses 1660. Jahres angestellten Hochzeit-Fest […] Michael Friedrich Marths/ […] mit […] Dorotheen […] Urban Jahns/ vornehmen Bürgers zu Eylenburg […] Wittben: erwiesen und eingegeben Von Denen sämptlich zu Leipzig studierenden Voigtlandern. Leipzig: 1660. [VD17 125:013603D]. Anonym: Schertz-Gedicht Von der wieder-versöhnten Venus Und Glücklicher ZusammenBindung der Schönen Dorinden mit einem Ungerischen Bauer/ Welches […] Andreas Ungebauern/ Wohlverordneten Pfarrherr in München-Bernsdorff/ Als Derselbe Mit […] Dorotheen […] Sein Hochzeitliches Ehren-Fest/ War der 19. Julii 1659. Begienge […]. Leipzig 1659. [VD17 125:013593G]. Anonym: Bey der Försterisch und Goldbachischen Hochzeit. In: Des Schlesischen Helicons auserlesene Gedichte Oder Etlicher vortreflicher Schlesier biß anhero ohnbekandte Poëtische Galanterien: Nebst einer Vorrede von Vortrefligkeit der Neueren Deutschen Poëten. Bd. 1. Frankfurt, Leipzig 1699. [VD17 23:302282A], S. 159–163. Anonym: Die Schlaffende Venus nach des lateinischen Claudianii. In: Neukirchsche Sammlung, Bd. 2, S. 140–142. Anonym: Der Verbrannte Cupido. In: Neukirchsche Sammlung, Bd. 2, S. 254–258. Anonym: Der Venus klag um Adonis grab. In: Neukirchsche Sammlung, Bd. 2, S. 71–73. Anonym: Der Winter im Sommer oder Die unverlöschliche Flamme der Liebe, Bey dem Raderischen Hochzeitsfeste, 1687. In: Neukirchsche Sammlung, Bd. 5, S. 411–413. Auch in: Des Schlesischen Helicons auserlesene Gedichte Oder Etlicher vortreflicher Schlesier biß anhero ohnbekandte Poëtische Galanterien: Nebst einer Vorrede von Vortrefligkeit der Neueren Deutschen Poëten. Bd. 1. Frankfurt, Leipzig 1699. [VD17 23:302282A], S. 276–280. Anonym: Bey der Vermählung des Rectoris Magnifici des Tit Herrn Gottfried Straussen, […] Johanna Barbara, verwittweten Zieglerin/ gebornen Börnerin/ wollten ihre Schuldigkeit abstatten Dero magnificentz sämtliche Tisch-Genossen in Wittenberg. In: David Christian Walther (Pseud. Menander) (Hg.): Die Poetisirende Welt/ Das ist: Allerhand auserlesene und noch niemahls zusammen gedruckte Teutsche Gedichte. Hamburg, 1705. [VD18 10857176], S. 68–71.
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Register Abradat 109 Achilles 50, 51, 54, 110, 236, 284 Admetos 109 Adonis 3, 18, 24, 28, 29, 35, 36, 39, 46, 48, 49, 58, 59, 60–62, 67, 68, 70, 73, 76, 120, 122, 141, 143, 148–150, 152, 153, 170, 240, 314, 320–322, 324, 325, 330–337, 339, 341–345, 347–370, 394, 396 Aelianus, Claudius 33–36 Aeneas 35, 38, 40, 46, 48, 122, 285 Agamemnon 110, 403 Aganippe 142, 258, 306 Aischylos 38, 64 Aktaeon 137, 140, 141, 320 Albert, Heinrich 275, 276, 284 Albinus (Weiss), Johann Georg d. Ä. 100 Alkestis 109 Alkman 109 Ambrosius 188, 201 Amor 10, 11, 13, 17, 41, 136, 150, 230, 280, 287, 295–297, 299, 313, 314, 318, 319, 322, 341, 361, 362, 378, 391, 398, 401 Anchises 35, 38, 46, 48, 122, 284 Andromache 51, 284, 394 Antenor 50, 51 Antigone 256, 257 Antiochos 110 Apollo 1, 44, 55, 90, 106, 109, 124, 137, 226, 227, 234, 258, 260, 261, 273, 281, 305, 306, 371, 387, 389, 400, 402 Apollodorus 58, 65 Apollonius von Rhodos 38, 316 Apuleius 33–36, 53, 75, 238 Arachne 255, 260 Ariadne 285, 287, 394 Aristophanes 3 Arndt, Johann 172 Arnold, Christoph 213 Artemis 38, 60, 62, 137, 140, 141, 144 Asmundus 109 Astarte 60, 70, 71, 92 Athene 22, 49, 51–55, 137, 193, 208, 209, 211, 219, 221, 232, 243, 246, 249, 250, 254, 255, 260–263, 266, 319 https://doi.org/10.1515/9783110684209-017
Augsburg, Balthasar zu 8, 9, 12, 14, 15 Augspurger, August 175, 238 Bacchus 93, 145, 163, 287, 371 Bach, Johann Sebastian 304 Bachmann, Christian 100 Bacon, Francis 6, 71 Balhorn, Johann [d.J.] 8 Balzac, Jean-Louis Guez de 2 Banstingl, Siegmund 8 Barth, Casper von 98, 329 Báthory, Stephan 289 Bathseba 126, 128, 129, 131, 199 Benoît de Sainte-Maure 53 Bernhard, Christoph 306 Bevervoordt, Frederik von 104 Bevervoordt geb. de Passe, Magdalena von 101, 103–105 Bion 60, 358, 359, 409 Birken, Sigmund von 4–6, 29, 30, 58, 154–156, 158–162, 166–177, 195, 200, 205–209, 211, 213, 214, 216–221, 224–233, 268–270, 275, 311, 331, 367–370 Blankaart, Steven 28 Blumenberg, Hans 17, 21, 22, 25 Boccaccio, Giovanni 66–68, 71, 120, 126 Bodmer, Johann Jakob 118 Boleslaw der Tapfere, Herzog von Polen 289 Boleslaw II. Herzog von Böhmen 289 Boleslaw Schiefmund III. Herzog von Polen 289 Boleslaw IV. Herzog von Polen 289 Bostel, Nicolaus 75, 76 Bottegari, Cosimo 7 Brandenburg-Bayreuth, Christian von 292 Brandenburg, Ernst von 297 Brandenburg, Georg Wilhelm von 297 Brandenburg, Johann Georg von 297 Brandenburg, Luise Charlotte von 273, 292–295, 387 Brandenburg, Sigismund von 297 Brauer, Michael 293 Braunschweig-Lüneburg, Ferdinand Albrecht von 205
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Register
Braunschweig-Lüneburg, Rudolph August zu 84 Braunschweig-Wolfenbüttel, Anton Ulrich von 205 Brehme, Christian 99, 301 Breitinger, Johann Jakob 118 Briseis 110, 284 Brisset, Roland 89 Brutus 109 Buchholz, Andreas Heinrich 100, 302 Buchner, August 81, 98, 102, 275 Buckau, Nikolaus von 271 Bürger, Johann 294 Burmeister, Anton 231 Butes 35 Butschky, Maria Catharina von 330, 336, 343 Butschky von Rutinfeld, Samuel 330, 343 Buxthoeven, Albert von 298 Buxthoeven, Herman von 298 Calliope 59, 60, 229, 230 Cartari, Vincenzo 66–68, 74, 75, 126, 367 Casimir der Erneuerer, Herzog von Polen 289 Casimir der Große, Herzog von Polen 289 Cassandra 236, 245 Cats, Jacob 162 Catullus 349 Ceres 145, 260, 345, 403, 406 Chloris 238, 343–345, 366 Cicero, Marcus Tullius 2, 17, 33–35, 52, 55, 60, 67, 71, 92, 94–96, 126, 174, 175, 177, 185, 238 Clairvaux, Bernhard von 177 Claudianus, Claudius 41, 49, 271, 336–340, 347, 367 Clementia von Habsburg 189, 194, 201 Clodius Neostadius Mißnicus, Christianus 180 Conti, Natale 3, 65–68, 71, 72, 74, 120, 126, 127, 131, 185, 186, 199, 200, 346, 367 Cracus 289 Creech, Thomas 76 Crüger, Johann 304, 313 Cupido 3, 30, 34, 38, 46, 48, 59, 70, 71, 74, 75, 109, 149, 150, 169, 186, 271, 280, 285, 295, 301, 304, 313–315, 320, 323, 326, 330, 341, 345, 346, 390, 397, 400, 404
Cynara 256 Cyparissus 261 Czepko von Regensfeld, Daniel 99 Dach, Simon 99, 100, 271, 275, 276, 283, 284, 293, 305, 329 Danae 137, 261, 285, 286 Danckerts de Rij, Peter 290, 291 Dares Phrygius 53 Dedekind, Constantin Christian 106, 179, 305–308, 311 Deiphobus 236 Demokrit 184, 185 Demster, Thomas 74 de Passe, Crispjin d. Ä. 104 Diana 140, 149, 150, 152, 248, 285, 286, 320, 340, 364, 406 Dictys Cretensis 23, 53 Diodorus Siculus 65 Diomedes 35, 39 Dione 33, 92, 95, 126 Dionysus 35, 55, 285 Domwaldau, Clara Maria 101, 103, 104 Dousa, Janus 136 Ennodius, Magnus Felix 41 Erato 38, 229 Eris 50, 138, 208, 246, 248, 252 Eros 36, 38, 49 Euripides 38, 49, 51, 52, 64, 314 Europa 285 Eurydike 109, 261 Eurynome 55 Eustathios von Thessalonike, Bischof 76 Ferdinand II. Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 278 Ficino, Marsilio 54, 57, 65, 136, 212, 213, 250 Finckelthaus, Gottfried 99, 238, 239, 246, 248–258, 260, 261, 263, 268, 305, 306, 385 Flaccus, Valerius 36, 39, 347 Fleischberger, Johann Friedrich 161 Fleming, Paul 89, 98, 136, 137, 176, 238, 294, 305, 342 Flora 90, 124, 137, 145, 217, 238
Register
Fortescue, Anthony 251 Franck, Johann 30, 106, 176, 178, 221, 301, 302, 304–324, 367–369 Freinsheim, Johannes 99 Freyja 94, 95 Friedrich V. König von Böhmen 292 Fulgentius, Fabius Planciades 34, 53, 57, 65, 143, 171, 191, 243, 250, 270 Fürst, Paul 159, 222 Fusorius, Bernhardus 8 Gambara, Laurentius 76 Ganymed 346 Gautruche, Pierre 70 Geisler, Andreas 271 Geisler, Anna Maria 271 Gellius, Aulus 360 Gerana 256, 257 Gerhardt, Paul 304, 313 Giraldi, Lilio Gregorio 65–70, 72, 74, 75, 126, 342, 367 Glaser, Enoch 306 Goldbach, Balthasar 330 Goldbach geb. Richter, Rosina 330 Gonzage, Luise Maria von 273, 278, 279, 285, 287, 418 Göring, Johann Christoph 28, 306 Gottsched, Johann Christoph 276, 277, 282 Grazien 36, 68, 70, 145, 346 Greflinger, Georg 58, 74, 176, 179, 271, 279 Greiffenberg, Catharina Regina von 232 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 69, 73, 138, 235 Groto, Luigi 89 Grummer, Theobald 99 Gryphius, Andreas 127, 175, 329 Gueintz, Christian 81, 98 Gunilde 109 Guthenau, Kristhin von 101, 103, 104 Habsburg, Cäcilia Renata von 278, 281, 284 Hades 109, 345 Hadewig, Johann Henrich 331 Haemus 256 Halikarnassos, Artemisia von 354, 360 Hanke, Martin 336, 337
467
Hannman, Enoch 99 Harmonia 56 Harsdörffer, Georg Philipp 6, 74, 98, 101, 102, 104, 114, 161, 213, 214, 216–219, 232, 268, 275 Hartman, Andreas 99 Hartmann, Johann Wilhelm 303 Haugwitz, August Adolph von 116 Hector 29, 236, 284, 394 Heermann, Johannes 100 Hegenitius, Christfried 293 Heidegger, Gotthard 118 Heine, Heinrich 69 Heinsius, Daniel 2, 6, 30, 92, 100, 110, 136, 238, 304, 313–317, 319–324, 367 Heinsius, Nicolas 28 Hekabe 49, 50, 51, 138, 243 Hektor 51, 109 Held, Heinrich 302, 305, 307 Helena 22, 35, 37, 42, 50–54, 76, 137–139, 193, 194, 201, 208, 222, 236, 243, 245, 248, 253, 269, 321, 322, 344, 386 Helios 34, 39, 55, 56, 68, 132, 320 Hera 22, 33, 49, 51, 55, 56, 208, 255, 286, 287, 320 Herakles 22, 25, 53, 144, 285, 344 Herbort von Fritzlars 53 Hermes 35, 56, 144, 219, 220, 248, 280, 283 Herold, Johann 67–70, 72 Hesiod 3, 33–37, 44, 55, 67, 73, 92, 120, 126, 185, 346 Hesione 23, 53 Hessus, Helius Eobanus 331 Hieronymus 5, 58, 65, 177, 311, 358 Himeros 36 Hippokrene 142, 306 Hippolytos 38, 62, 261 Hippomenes 39, 399 Höck, Theobald 8 Hoffmannswaldau, Christian Hoffmann von 119, 127, 136, 148, 149, 325, 329, 340, 348 Hofmann, Johann Jakob 74, 148, 149, 327 Hohenberg, Gertrud Anna von 189 Hohendorf, Marie Elisabeth von 101, 103 Holbein (d.J.), Hans 162
468
Register
Homburg, Ernst Christoph 175, 179, 238, 306, 342, 350 Homer 33, 51, 52, 55, 56, 64, 68, 73, 76, 120, 188, 238, 241, 253, 346 Horaz 40, 41, 50, 52, 64, 75, 238, 349 Horen 36 Hübner, Tobias 97 Hudemann, Heinrich 175 Hundertmarck, Heinrich Elias 28 Hund, Samuel 30, 206, 213–220, 223, 224, 230, 232, 268, 367 Hyakinthos 124, 125 Hymenaeus 41, 280, 337, 338, 340 Ikarus 17, 18, 133 Inanna 61 Jagiello, Alexander I. 289 Jagiello, Casimir IV. 289 Jagiello, Johann I. Albrecht, König von Polen 289 Jagiello, Sigismund August, König von Polen 289 Jagiello, Sigismund I. König von Polen 289 Jagiello, Wladyslaw II. 289 Jarzebski, Adam 291 Jason 39, 285, 394 Judycki, Jerzy Wladyslaw 279 Juno 71, 93, 94, 137, 138, 193, 195, 209, 210, 218, 219, 221–223, 232, 236, 243, 246, 249, 250, 254–256, 258, 260–262, 266, 286, 345, 385, 386, 404, 406 Jupiter 3, 92, 93, 95, 126, 135, 195, 231, 248, 261, 262, 286, 296, 392, 393, 399 Kaldenbach, Christoph 30, 270, 273–292, 294–300, 323, 369, 370, 387, 397, 399, 400, 403, 404 Kaldenbach, Matthäus 274 Kallimachos 228, 229 Kamper, Georg 329, 336, 346, 347, 366 Karl II. von Anjou 189 Kassandra 49, 50 Keiser, Reinhard 28, 76 Kempe, Martin 75 Keppler, Ludwig 293, 294
Kettler von Kurland, Friedrich 297 Kettler von Kurland, Gotthard 297 Kettler von Kurland, Jacob 273, 292, 295, 297, 298 Kettler von Kurland, Wilhelm 297 Kinyras 59, 60, 354 Kircher, Athanasius 136 Klaj, Johann 30, 206, 213, 214, 216–225, 230, 232, 268, 275, 367 Klinckebeil von Grünwald, Jacob 302 Koch, Melchior 180 Koeler, Christoph (Colerus) 98, 282, 329 Konrad von Würzburg 42, 43, 54 Kornmann, Heinrich 69, 70 Krieger, Adam 51, 179 Kronos 33, 92 La Fontaine, Jean de 148 Lange, Paul 8 Laodameia 109 Laomedon 23, 53, 257 Lassensis, Johannis 303 Lauremberg, Peter 73 Lavinia 285, 395 Lech, Stammvater der Tschechen 289 Leda 285, 286, 396, 404 Leszek II. 289 Leucothoe 261 Liebenau, Hans Kristof von 115 Livland, Berthold von 298 Locher, Jacob 54 Logau, Friedrich von 100, 116, 117, 175, 342 Lohenstein, Daniel Casper von 15, 28, 29, 118–147, 149–153, 199, 200, 325, 329, 342, 367–370 Longepierre, Bernard de 76 Lorraine, Charles IV. von 251 Lorraine de Conti, Louise-Marguerite von 251, 254 Lucina 209, 210, 402 Luhmann, Niklas 26, 27, 134, 147, 212, 263, 266, 362, 369 Lukian 50, 53, 236 Lukrez 40, 57, 87–91, 96, 108, 114, 121, 123–125, 131, 199, 200, 270 Lund, Zacharias 89, 99, 175
Register
Mander, Karel van 75 Männling, Johann Christoph 331 Marino, Giambattista 62, 63, 76, 121, 136, 148–153, 199, 200, 361, 362, 367, 368 Mars 3, 7, 18, 25, 29, 34, 37, 43, 46, 48, 49, 55–58, 60, 62, 67, 68, 71, 73, 87, 88, 93, 94, 107, 108, 120, 122, 143, 144, 147, 152, 171, 191, 199, 201, 261, 270–272, 280, 283–288, 291, 295, 296, 299, 313, 314, 319–321, 323, 340–343, 364, 367, 369, 379, 392, 394 Martell, Karl 189 Marullo, Michael 136 Maternus, Firmicus 62 Mausolos von Mylasa 360 Mecklenburg-Schwerin, Adolf Friedrich I. von 292 Medea 38, 39, 285, 314, 322 Medici, Lorenzo de‘ 54, 212 Menelaos 35, 37, 50–52 Merkur 240, 248 Messerer, Christoph Lorenz 303 Meyer, Conrad 156, 160, 162, 167–169, 171, 173, 174 Meyer, Johann David 302 Midas 258, 346 Mieszko I. Herzog von Polen 289 Milton, John 57 Minos 285, 286, 287 Moller, Martin 8 Molurusca (Meinersen?), Wilhelm 84, 115 Mühlpfort, Heinrich 30, 116, 325–327, 329–331, 333–347, 365, 366, 369 Muncker, Thomas 65, 76 Musitano, Carlo 28 Mylius, Georg 100, 302 Myrrha 59, 60, 354 Naboth 194 Neptun 55, 144, 145, 392, 257, 258, 259, 260, 261, 260 Nerites 34, 35 Neugebauer, Salomon 290 Neukirch, Benjamin 30, 347, 348 Neumeister, Erdmann 310–312 Nonnos von Panopolis 34, 65, 316, 317
469
Ödipus 86, 91, 125 Oenone 49–51, 138, 241, 243–245, 248, 250, 253, 263, 264, 267 Olearius, Adam 98 Omeis, Daniel Magnus 72, 73, 331 Omphale 285, 344 Opitz, Martin 1, 2, 6, 7, 10, 15, 30, 57, 58, 81, 84–89, 92–97, 99, 102, 104–108, 110–115, 120, 121, 146, 147, 149, 161, 175, 199, 200, 218–220, 224, 225, 232, 234, 235, 238, 269, 270–273, 276, 281–283, 295, 302, 305, 306, 309, 310, 329, 334, 342, 343, 347–350, 353, 368, 369, 371 Origenes 358 Orpheus 21, 60, 109, 142, 261, 395 Oudin, César 240 Ovid 3, 11, 33–36, 39, 40, 49, 50, 52, 55–60, 64, 67, 75, 95, 109, 120, 123, 124, 132, 133, 134, 140, 142, 150, 175–177, 190, 193, 200, 228, 229, 232, 238, 240, 241, 243, 245, 255–260, 269, 270, 286, 314, 316, 327, 347, 349, 378, 430 Owen, John 175, 176 Palingenius Stellatus, Marcellus 73 Pan 6, 258, 395 Pantheia 109 Paris 17, 18, 22–25, 29, 35, 37, 42, 46, 48–54, 68, 70, 73, 76, 122, 137–142, 193, 200, 201, 205, 208, 212, 219, 221, 224, 234–237, 239, 240, 241, 243, 245, 246, 248–263, 266–269, 286, 287, 319–322, 324, 344, 367, 369, 385, 386, 244 Pausanias 65, 94, 95 Pegasus 258, 259, 306, 309 Peleus 49, 51, 138, 243, 248, 252, 385, 398 Petersohn, Theodor 99 Petrarca, Francesco 5, 77, 109, 121, 197, 334, 342, 353 Pfalz, Friedrich IV. von der 297 Pfalz, Louise Juliane von der 297 Phaedra 33, 34, 55, 120, 261, 285 Phaethon 35, 122, 132, 133, 135, 137, 199, 367 Phaon 24, 35, 141, 395 Philitas 228, 229
470
Register
Philoktetes 50, 51 Phoebus 3, 145, 181, 261, 403, 388–390, 395, 396, 399, 400, 404, 406, 260 Piast, Stammvater der Piastendynastie 289 Piccart, Michael 221–223 Pinckert, Christoph 275, 276 Pistorius, Elias 301 Platon 3, 34, 38, 44, 52, 55, 57, 61, 72, 95, 136, 238, 270, 346 Plautus 176, 177 Plavius, Johannes 100 Plinius 197, 238, 382 Plutarch 349 Polyxena 50, 236 Pomey, Francois Antoine 70 Pommern, Elisabeth Magdalena von 292, 293 Pontano, Giovanni 62, 136 Popilius I. 289 Porcia 109 Poseidon 35, 56 Postel, Christian Heinrich 28, 76 Pothos 36 Poussin, Nicolas 240 Preutten, Georg 279 Priamos 49, 236, 244, 245 Primislaw I. von Teschen 289 Properz 40, 64, 228, 229, 238, 349 Propp, Vladimir 18, 25 Proserpina 24, 59, 60, 153, 321, 332, 344–346, 351, 366 Protesialos 109 Psyche 46, 48, 161, 232, 278 Puccitelli, Virgilio 278 Pygmalion 105, 141 Pyrgoteles 105 Redslob, Sophia Anna 101, 103 Regnart, Jacob 7, 8, 9, 11–15 Rembrandt Harmenszoon van Rijn 129 Renouard, Nicolas 30, 234, 239–243, 245, 246, 249, 251–258, 260–264, 267–269, 367, 370 Reusch, Daniel von 336, 337 Reusch geb. Burghardt von Löwenhoff, Maria Elisabeth 337, 340 Reusner, Johann 294 Rhodope 256, 257
Rinckart, Martin 100 Ripa, Cesare 68, 74, 75 Rist, Johann 2, 3, 4, 58, 99, 102, 175, 179, 194, 195, 206, 238, 270, 305, 306 Roberthin, Robert 275 Rohrbach, Vinno von 298, 397 Rompler von Löwenhalt, Jesias 98, 102 Ronsard, Pierre de 241, 242 Rosenthal, Dorothee Eleonore von 101, 102, 103, 104 Ross, Wilhelm 8 Rotterdam, Erasmus von 316 Rovigo, Francesco 7 Rudolf I. von Habsburg 189 Rufin 53 Sabinus, Georg 57, 64 Sachsen, Johann Georg II. von 292 Sachsen, Magdalena Sibylle von 292 Sachsen-Merseburg, Christian I. 311 Sachs, Hans 54, 138 Sandrart, Jacob von 160, 290 Sandrart, Joachim von 74, 75, 158, 160–162, 169–171, 174, 290, 360 Sappho 3, 33, 44, 52, 95, 276, 395 Scaliger, Julius Caesar 238, 241, 242, 331 Schaevius, Heinricus 71 Schein, Johann Hermann 8, 28 Schenk von Winterstein, Volquin 298 Scheraeus, Bartholomäus 86, 94 Scherffer von Scherffenstein, Wencel 175 Schiller, Friedrich von 274 Schirmer, David 89, 238, 305, 307, 342 Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg, Christiana von 311 Schmid, Johan Philipp 98 Schneider, Michael 99 Schollin, Susanna 336 Schottelius, Justus Georg 58, 83, 85, 99, 205, 207, 211, 212, 225, 227, 229, 230, 270 Schottelius, Margaretha geb. Cleve 205, 207 Schurtz, Cornelius Nicolaus 161 Schütz, Christoph Georg 276 Schütz, Euphrosyne 275 Schütz, Heinrich 275, 276 Schwahn-Reichmann, Raja 119
Register
Schwarz, Sibylle 100, 102–104, 334, 342 Schweinitz, David von 100 Schwieger, Jacob 29, 178, 179, 183, 185, 193, 195, 200, 201, 367, 368 Sciverius, Petrus 2, 93 Sechst, Johann 213 Secundus, Janus 136, 197, 238 Segeberg, Meinard von 298 Seidel, Martin Friedrich 313 Seneca 118, 177, 316 Serpilius, Georg 302, 303 Seyferdt, Johann 8 Shakespeare, William 62, 148 Sieber, Justus 305 Siegersdorff, Hans Assig von 340, 341 Siegersdorff, Sophie Rosina, geb. Gloger von Schwanenbach 340 Simmler, Johann Wilhelm 162 Simonides 3 Sinapius, Johannes 330 Sirenen 188, 189, 194, 201, 377, 378 Sisyphos 17 Solinus 197, 382 Sommerfeld und Falckenhayn auf Boberau, Georg Ernst von 330, 343 Sommer von Sommersburg, Christian 337 Spenser, Edmund 237, 239 Spreng, Johannes 64, 73, 74 Statius 30, 34, 36, 41, 55, 56, 75, 208, 213, 225–231, 268, 270, 271, 273, 278, 280, 284–287, 295, 296, 316, 347, 367, 387 Stieler, Kaspar 28, 340 Stobaeus, Johann 275, 293, 294 Stratonike 110 Syrus 92 Tacitus 86, 94 Tammuz 61, 62, 358 Tantalus 17, 346 Terentius Afer, Publius 176 Tertullianus, Quintus Septimius Florens 114 Thalia 229, 390, 402 Theokrit 3, 60, 224 Theseus 141, 285, 394, 395 Thetis 49, 51, 55, 137, 138, 243, 248, 252, 284, 398, 400 Thomasius, Christian 118
471
Tibullus 33, 40, 41, 64, 228, 229, 238, 349 Tieck, Ludwig 69 Tietz (genannt Schlüter), Hermann von 100 Tintoretto, Jacopo 57 Titian 62 Titz, Johann Peter 99, 176, 275, 279, 331 Troilus 236 Troschel, Peter 161, 310 Tscherning, Andreas 84, 100, 175, 305, 310, 350, 371 Tscherning, David 310 Ungarn, Ludwig von 289 Uranos 33, 37, 92 Uruk 61 Valois, Heinrich III. 289 Vega, Lope de 62 Veldeke, Heinrich von 42 Venator, Baltasar 98 Venda 283, 289 Venella, Hector di [Pseud.] 29 Venus 1, 3, 4, 7, 9, 10, 13, 15–19, 21–30, 33–51, 53–62, 67–75, 77, 79, 82, 83, 85–92, 94–96, 104, 108, 110, 111, 115, 116, 118–131, 134–137, 139–141, 143, 144, 147–153, 161, 167, 169–172, 174–195, 197, 199, 200, 208, 203, 221–223, 230–232, 236, 239, 243, 245, 246, 248–250, 252, 254, 255, 259–263, 265–268, 270–273, 277, 279–281, 283–288, 291, 292, 294–297, 299, 313–317, 319–321, 323, 325, 329–332, 336–346, 348–370, 402, 406, 373, 374, 377–379, 382, 384–387, 389–395, 398–400, 404, 405, Vergil 41, 42, 64, 76, 102, 120, 241, 253, 288, 316, 347 Vismarin, Sofia 101, 103, 104 Vogel, Johannes 100 Vossius, Gerhard Johannes 331 Vulcanus 25, 34, 39, 47, 48, 55–57, 70, 143, 171, 191, 239, 281, 284, 285, 287, 313–315, 317, 319–321, 324, 369, 379 Wagner, Christian 118 Warna, Wladyslaw von 289 Wasa, Sigismund III. 285, 289
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Register
Weckherlin, Elizabeth 237 Weckherlin, Georg Rodolph 30, 98, 175, 234–239, 251–258, 260–269, 367, 369, 370 Weichmann, Johann 302 Weise, Christian 312, 363 Weitzken geb. Seidel, Anna Catharina 313 Weitzken, Peter 313 Westohn, Hildegond von 101, 103, 104 Westonia, Elisabeth von 104 Wickram, Georg 132 Withford, David 76 Wladislaw IV. 273, 278, 280–282, 289, 299
Zephyr 89, 360, 394 Zesen, Philipp von 6, 7, 20, 21, 29, 72, 73, 81–99, 101–108, 110–117, 123–126, 131, 178, 199, 200, 367, 368, 370 Zeus 24, 33, 35, 39, 50, 51, 55, 59, 60, 73, 122, 126, 131–133, 145, 252, 256, 262, 286, 287, 345, 346 Zigler und Kliphausen, Heinrich Anshelm von 290 Zincgref, Julius Wilhelm 30, 347–351, 353, 355, 366, 369