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German Pages 306 Year 2023
Utopie und Dystopie
Utopie und Dystopie Beiträge zur österreichischen und europäischen Literatur vom 18. bis zum 21. Jahrhundert Herausgegeben von Nicole Streitler-Kastberger und Martin Vejvar
ISBN 978-3-11-115580-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-120580-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-120620-2 Library of Congress Control Number: 2023933760 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: gremlin / E+ / Getty Images Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Lektorat (Englisch): Deborah Holmes. www.degruyter.com
Inhalt Vorwort
IX
Norbert Christian Wolf Dystopie und Utopie in Johann Pezzls Thesenroman Faustin oder das philosophische Jahrhundert (1783) 1 Christian Neuhuber „ich glaub’ es wird noch ein wildes End nehmen“ Die Geburt des Komödianten Nestroy aus dem Geist von Utopie und Dystopie 15 Daniela Strigl Stadtfluchten im Fin de Siècle Marie von Ebner-Eschenbachs und Peter Roseggers Schreibtischmenschen 25 probieren das Leben auf dem Lande Roland Innerhofer Masse und Ohnmacht Alfred Kubins Die andere Seite – mit Elias Canetti gelesen Konstanze Fliedl Defensive Loyalität Arthur Schnitzler und der Krieg Walter Fanta Katastrophale Ausgänge
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Nicole Streitler-Kastberger Dreimal Himmelwärts, zweimal Figaro Ödön von Horváths Utopien 77 Martin Vejvar Utopien als Falle Zukunft in Ödön von Horváths Volksstücken
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VI
Inhalt
Jürgen Thaler Utopievermeidung Überlegungen zum frühsozialistischen Dorfroman Bruski von Fedor Ivanovič Panferov 103 Kurt Neumann Bedingte Erkenntnisse und Urteile 119 Ein Essay Martin Huber „Sankt Stephan zerfällt zu Asche“ Thomas Bernhards frühe Österreich-Dystopie in Ein Brief aus einem Drama 131 Petra-Maria Dallinger X im Archiv Zu Marlen Haushofers Roman Die Mansarde
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Stefan Maurer Mit Lovecraft, Lebert, Jelinek und Artmann in die Steiermark Oder Österreichische Literatur als Horrorshow, feat. Jörg Drews
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Thomas Eder Digitale Apokalypse zwischen Technikhoffnung und Technikangst Oswald Wieners Notizbücher der 1980er/1990er Jahre 167 Alexandra Strohmaier „Verwirklichte Utopien“ Friederike Mayröckers Schreib- und Texträume
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Fatima Naqvi Fremdschämen The Ethics of Embarrassment in Ulrich Seidl, Erwin Wurm, and Elfriede Jelinek 193 Stefan Alker-Windbichler Abgrund Archiv Bedrohung, Verweigerung und Vernichtung in Archivbildern österreichischer Texte des 21. Jahrhunderts 211
Inhalt
Bernhard Fetz Anatomie des Terrors Zu Péter Nádas’ monumentalem Erinnerungsbuch Aufleuchtende Details Lisa Erlenbusch „Und dann haums es g’schnittn. […] Die Eier. G’schnittn. / Dass koane Saubärn werdn.“ Utopisches und dystopisches Potenzial in Ewald Palmetshofers sauschneidn 233 Sabine Zelger Dystopie statt Psychoanalyse Kathrin Rögglas Nachtsendung (2016)
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David J. Wimmer „Pure Poetry. Pure Meaning.“ Utopien des Verstehens bei Clemens J. Setz Daniela Bartens Bienen und Bücher Gerhard Roths babylonische Utopie
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Gabi Rudnicki Jedoch immerhin Utopisches und Dystopisches bei den Murnauer Horváth-Tagen 1998–2022 281 Personenregister
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VII
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Vorwort „Die Welt steht auf kein’ Fall mehr lang“ schreibt Johann Nestroy (Nestroy 1993, 180) in einem bekannten Couplet des Knieriem in der Komödie Lumpazivagabundus oder Das liederliche Kleeblatt (1833), und Karl Kraus bezeichnet Österreich einmal als „Versuchsstation des Weltuntergangs“ (Kraus 1914, 2). Untergangsszenarien, aber auch ihr Gegenstück, Utopien, bevölkern spätestens seit dem 19. Jahrhundert die österreichische und europäische Literatur. Das 20. Jahrhundert mit Erstem und Zweitem Weltkrieg und Shoa kann geradezu als Inbegriff der Katastrophe, des Dystopischen, begriffen werden. Péter Nádas widmet ihm mit seinen Aufleuchtenden Details (2017) einen Jahrhundertroman. Unsere Gegenwart mit Pandemie und Klimakrise ist von einer medialen Permanenz des Dystopischen gekennzeichnet, das kein utopisches Gegenlager mehr zu kennen scheint. So ist die Gegenwartsliteratur voller panoramatischer Untergangsvisionen, man denke etwa an Elfriede Jelinek oder Kathrin Röggla. Das Utopische, seit Thomas Morus’ Utopia (1516) rekurrentes Motiv der europäischen Literatur, hat sich zurückgezogen, nistet aber im Detail – seien dies Friederike Mayröckers Glück(en)smomente des Schreibens oder die Utopie ‚perfekter‘ Sprachen bei Clemens J. Setz. Utopie wie Dystopie sind Genres der Extreme und scheinen damit besonders geeignet, in ihrem Widerspiel die Faktur unserer Gegenwart zwischen Zukunftsvision und Untergangslust trennscharf hervortreten zu lassen. „Wien hier ist doch ein netter Platz um zu sterben“, schreibt Robert Schindel (1992, 319) in seinem Roman Gebürtig von 1992, und tatsächlich stirbt es sich kaum irgendwo so nett und auch so häufig wie in Wien. Als Kronzeugen dafür können Ödön von Horváth, Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek oder auch Gerhard Roth angeführt werden. Roth etwa vermerkt in seiner essayistischen „Reise zu den Toten“ Orkus (2011): „Solange ich denken kann, zog mich das Unglück an – der Tod, der Selbstmord, das Verbrechen, der Hass, der Wahnsinn.“ (Roth 2011, 11) Und Thomas Bernhards Worte: „es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt“ (Bernhard 2015, 23)¹ hallen durch die Gebäude des historischen Wiens, durch Säulen und Innenhöfe, sie sind ein memento mori im alltäglichen Getriebe unseres Daseins. Wer diese Worte einmal gelesen und durchdacht hat, kann vom Lächerlichen unseres Strebens nicht mehr absehen. Der Staatspreisträger Bernhard holt in seiner ‚Dankesrede‘ zum Österreichischen Staatspreis, aus der die zitierten Worte stammen, zu einem regelrechten dystopischen Rundumschlag aus:
Hervorh. i. Orig. Hervorhebungen in zitierten Texten werden in diesem Band nur ausgewiesen, wenn sie nicht im Originaltext vorkommen. https://doi.org/10.1515/9783111205809-001
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Vorwort
Der Staat ist ein Gebilde, das fortwährend zum Scheitern, das Volk ein solches, das ununterbrochen zur Infamie und zur Geistesschwäche verurteilt ist. Das Leben Hoffnungslosigkeit, an die sich die Philosophien anlehnen, in welcher alles letzten Endes verrückt werden muß. (Bernhard 2015, 23)
Und wie wenn das noch nicht genug Diffamierungen und Dystopien wären, schließt Bernhard noch die folgenden Zeilen an: „Wir sind Österreicher, wir sind apathisch; wir sind das Leben als das gemeine Desinteresse am Leben, wir sind in dem Prozeß der Natur der Größenwahn-Sinn als Zukunft.“ (Bernhard 2015, 23) Dies alles in Anwesenheit eines Ministers und eines österreichischen Publikums. Man hat in der Todesfixierung etwas Spezifisches der österreichischen Literatur gesehen (vgl. etwa Kastberger 2003; Pfeiferová 2007; Herberth 2020; Müller 2020), dabei ist sie natürlich eine Universalie. Das Lächerliche unseres Tuns und Strebens verführt, und auch darin hat man immer wieder ein Kennzeichen der (österreichischen) Literatur gesehen, wo nicht zur Verzweiflung, so doch zur Ironie (vgl. etwa Amann und Hackl 2018; Perloff 2020). Nur mit einem Schuss Ironie und Selbstironie ist das Leben angemessen bewältigbar. Im Widerstreit von Utopie und Dystopie, die jeweils nicht ohne einander auszukommen scheinen, ist (Selbst‐)Ironie jedenfalls wesentlich, um beide als Experimentierfelder unterschiedlicher Zukunftserwartungen so gangbar wie erträglich zu machen. Die Aufsätze dieses Bandes unternehmen den Versuch, Aspekten des Utopischen und Dystopischen in Texten der österreichischen wie europäischen Literatur vom 18. bis ins 21. Jahrhundert nachzugehen. Sie belegen nicht nur die Gegenwärtigkeit des Dystopischen, sondern auch die Proliferation des Utopischen in Texten der europäischen Literatur aus dem genannten Zeitraum. Der Band versteht sich zugleich als Festschrift für Klaus Kastberger (Jg. 1963), der seit 2015 Professor am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung der Karl-Franzens-Universität Graz und Leiter des Literaturhauses Graz ist. Die Auswahl der Autorinnen und Autoren, mit denen sich die Beiträge des vorliegenden Bandes beschäftigen, sind charakteristisch für die Forschungsinteressen Kastbergers: die österreichische Literatur vor allem des 20. und 21. Jahrhunderts, aber auch die europäische Literatur dieses Zeitraums, etwa die ungarische Literatur, die er durch persönliche Kontakte mit ungarischen Germanist:innen in den 1990er Jahren kennenlernte und an deren Entwicklung er immer Anteil nahm. So finden sich in dem Band Beiträge zu Johann Pezzl, Johann Nepomuk Nestroy, Marie von Ebner-Eschenbach und Peter Rosegger, Arthur Schnitzler, Alfred Kubin und Elias Canetti, Fedor Ivanovič Panferov, Reinhard Federmann, Marlen Haushofer, Oswald Wiener, Friederike Mayröcker, Thomas Bernhard, Gerhard Roth, Péter Nádas, Norbert Gstrein, Peter Handke und Elfriede Jelinek, H.C. Artmann als Leser H.P. Lovecrafts sowie zum Archiv als dystopischem Ort.
Vorwort
XI
Auch über die Literatur hinaus geht der Blick, etwa zum Filmemacher Ulrich Seidl und zum bildenden Künstler Erwin Wurm. Einen besonderen Schwerpunkt des Bandes bildet auch die Beschäftigung mit Ödön von Horváth, die Kastberger durch seine Arbeit am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek ab 1996 besonders prägte. Die Frucht der intensiven Beschäftigung mit dem Werk Horváths war eines der renommiertesten neugermanistischen Editionsprojekte der letzten Jahrzehnte: die Wiener Ausgabe sämtlicher Werke Horváths, die im heurigen Jahr abgeschlossen wird (Horváth 2009–2023). Als langjährigem Juror des Bachmann-Preises, erfahrenem Literaturkritiker in Rundfunk und Printmedien sowie als Leiter des Literaturhauses Graz liegt Klaus Kastberger natürlich auch die gegenwärtig erscheinende Literatur am Herzen. Dies spiegelt gleichfalls der vorliegende Band, etwa durch die Beiträge zu Kathrin Röggla, Clemens J. Setz und Ewald Palmetshofer. Nicole Streitler-Kastberger und Martin Vejvar Graz, im Februar 2023
Literaturverzeichnis Amann, Klaus, und Wolfgang Hackl (Hg.). Satire – Ironie – Parodie. Aspekte des Komischen in der deutschen Sprache und Literatur. Innsbruck: Innsbruck University Press, 2018. Bernhard, Thomas. „Verehrter Herr Minister, verehrte Anwesende, [Dankesrede zum Österreichischen Staatspreis]“. Thomas Bernhard. Werke. Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Bd. 22/2. Journalistisches, Reden, Interviews. Hg. von Wolfram Bayer, Martin Huber und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2015: 23–24. Herberth, Arno. „Österreichische Beiträge zur Suizidologie: Adler, Freud, Schnitzler.“ Austrian Studies: Literaturen und Kulturen. Eine Einführung. Hg. von Desiree Hebenstreit et al. Wien: Praesens, 2020: 349–356. Horváth, Ödön von. Wiener Ausgabe sämtlicher Werke. Hg. von Klaus Kastberger. Berlin: De Gruyter, 2009–2023. Kastberger, Klaus. „Über einige Todsünden der österreichischen Literatur unter Berücksichtigung von Elfriede Jelinek“. Lynkeus 5 (2003): 76–87. Kraus, Karl. „Franz Ferdinand und die Talente“. Die Fackel XVI.400–403 (Sommer 1914): 1–4. Müller, Stephan. „felix austria – infelix germania. Tod, Leid und der Beginn der österreichischen Literaturgeschichte im ‚Nibelungenlied‘.“ Austrian Studies: Literaturen und Kulturen. Eine Einführung. Hg. von Desiree Hebenstreit et al. Wien: Praesens, 2020: 31–38. Nestroy, Johann. Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Jürgen Hein, Johann Hüttner, Walter Obermaier und W. Edgar Yates. Stücke 5. Hg. von Friedrich Walla. Wien: Jugend und Volk, 1993. Perloff, Marjorie. Ironie am Abgrund. Die Moderne im Schatten des Habsburgerreichs. Karl Kraus, Joseph Roth, Robert Musil, Elias Canetti, Paul Celan und Ludwig Wittgenstein. Hamburg: Edition Konturen, 2019.
XII
Vorwort
Pfeiferová, Dana. Angesichts des Todes. Die Todesbilder in der neueren österreichischen Prosa: Bachmann, Bernhard, Winkler, Jelinek, Handke, Ransmayr. Wien: Praesens, 2007. Roth, Gerhard. Orkus. Reise zu den Toten. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2011. Schindel, Robert. Gebürtig. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992.
Norbert Christian Wolf
Dystopie und Utopie in Johann Pezzls Thesenroman Faustin oder das philosophische Jahrhundert (1783)
Johann Pezzls zunächst anonym erschienener Roman Faustin oder das philosophische Jahrhundert (1783) gilt als paradigmatischer Roman des literarischen Josephinismus und des josephinischen Tauwetters (vgl. Bauer 1972; Bauer 1975, 7–24; Bodi 1977, 184–190; Rosenstrauch-Königsberg 1992), obwohl sein Autor kein Österreicher war: Der aus Bayern stammende und dort in einer Klosterschule erzogene Pezzl hat nach einem abgebrochenen Jura-Studium im Erzbistum Salzburg, das als geistliches Territorium damals nicht zu Österreich gehörte, seinen satirischen Roman in Zürich verfasst und ebendort bei Orell, Geßner, Füssli & Comp. veröffentlicht, bevor er nach Wien gezogen ist (vgl. Gugitz 1906, 173–179 u. 185; Griep 1982a, 1*–2*). Faustin, dessen Publikation durch das „fortschrittliche Profil“ des Zürcher Verlages erst ermöglicht worden war (Siegrist 1979, 838), kann also trotz seiner abschließenden Apotheose Josephs II. nicht als Resultat der damals in Österreich wirksamen Bedingungen literarischer Produktion begriffen werden, wohl aber als Beleg für die zu Beginn der Alleinregierung des Kaisers herrschende Begeisterung unter den Intellektuellen innerhalb und außerhalb der habsburgischen Erblande. Nicht zuletzt aufgrund der Apotheose Josephs II. und seiner Regierung hatte der Text jedoch mittels seiner extensiven Rezeption auf die folgende josephinische Romanproduktion – und nicht nur auf diese – eine traditions- und formbildende Wirkung: Er erlebte vier rechtmäßige Auflagen und mindestens sieben illegitime Nachdrucke, aber auch zwölf unautorisierte Fortsetzungen bzw. Nachahmungen, die im Zeitraum 1784 bis 1801 in ganz verschiedenen Gebieten des deutschsprachigen Raums erschienen sind (vgl. Gugitz 1906, 182–184; Siegrist 1979, 841–848; Griep 1982b, 19*, 103*–114* u. 121*–123*). Darüber hinaus wurde der Roman sogar ins Französische übersetzt, was in der damaligen deutschsprachigen Literatur nicht oft vorkam, und sein Protagonist sowie dessen Lehrer Bonifaz geronnen zu stehenden Begriffen „für eine bestimmte Reaktionsform auf die gesellschaftliche Realität“, die gleichsam aus den Buchdeckeln herausgetreten sind (Griep 1982a, 3*–4*). Eine besonders nachhaltige Wirkung hatte Faustin freilich auf die österreichische Literatur, zumal der reale Autor selbst dem fiktionalen Protagonisten seines Buches nach Wien folgte. Er verstand diesen Schritt in die Residenzstadt des Alten Reiches als programmatische Entscheidung für jenen Wohn- und Wirkungsort, in dem sich die sukzessive Entfaltung allgemeiner Aufklärung am sichtbarsten abzeichnete. Der „österreichische Voltaire“ (Gräffer 1918, 288) Pezzl etablierte mit https://doi.org/10.1515/9783111205809-002
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seinem von der damaligen Kritik gepriesenen und sogar imitatorisch ‚fortgesetzten‘, also in jeder Hinsicht überaus erfolgreichen Erstling, der den österreichischen Roman überhaupt erst begründete, auch zahlreiche jener Topoi, die in der österreichischen Literatur rezeptionsästhetisch große Wirksamkeit entfalteten. Dementsprechend heißt es 1835 in Eduard Bauernfelds Abriss Die schöne Literatur in Oesterreich, Historische Skizze zu den poetischen Hervorbringungen der Wiener Aufklärung: [A]ls höchst bezeichnend hat sich ein Werk erhalten, welches den Titel seiner Zeit an der Stirne trägt: Faustin oder das philosophische Jahrhundert, eine Art philosophischer Romane [sic] durch Voltaire’s Art und Weise angeregt, worin sich die Tendenz der Zeit vollkommen ausspricht, und welches nicht ohne Verdienste ist. (Bauernfeld 1835, 301)
Im Folgenden soll dieses „erste repräsentative Romanwerk der josephinischen Reformaufklärung“ (Bodi 1977, 190) hinsichtlich der in ihm verfolgten dystopischen und utopischen Strategien untersucht werden, wobei Utopie als „[n]arrative Entfaltung eines idealen funktionierenden Gesellschaftsmodells“ verstanden wird, während Dystopie einen „Umschlag des idealen Modells in sein Gegenteil“ bezeichnet (Friedrich 2003, 739). Charakteristischerweise bildet Letztere in Faustin jedoch die der Utopie vorausgehende negative Folie als katastrophale Zustandsbeschreibung der Welt des 18. Jahrhunderts, vor der sich der erwünschte Idealzustand erst abschließend erzählerisch entfalten kann. Das Augenmerk der Darstellung gilt allerdings nur jenen der überaus zahlreichen Episoden dieses Romans, die im besonderen Sinn einschlägig für diese Fragestellung sind.¹
1 Die Kritik der Sklaverei als real existierende Dystopie Generell besticht Pezzls Faustin zwar kaum durch erzählerische Raffinesse, wohl aber durch eine sehr engagierte publizistische Auseinandersetzung mit himmelschreienden Missständen der damaligen Kultur und Gesellschaft (vgl. Bauer 1975, 12–13; Stiening 2021, 229), zu denen – neben der vorherrschenden Religionskritik – auch der in der damaligen Literatur selten in dieser Schärfe thematisierte Soldatenhandel zählt (vgl. Pezzl 1783, 237–247). ‚Aufklärung‘ wird hier nicht als theoretische Herausforderung, sondern als praktisches Pensum der Gesellschaftskritik
Einen ideengeschichtlichen Überblick über sämtliche thematische Bereiche aufklärerischer Kritik im Roman gibt Stiening 2021.
Dystopie und Utopie in Johann Pezzls Thesenroman
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verstanden, das in der täglichen sozialen Praxis zu bewältigen sei. Das ist sicherlich ein bemerkenswertes Charakteristikum von Pezzls Aufklärungsverständnis, das die herrschende Wirklichkeit als reale Dystopie zeichnet. Es liegt nahe, dies als Säkularisierungsphänomen eines Katholizismus zu deuten, der im Unterschied zu den verschiedenen Spielarten des Protestantismus die sittliche Bewährung und die Erlösung des Menschen nicht allein durch die Schrift (sola scriptura), den Glauben (sola fide) und die Gnade Gottes (sola gratia) gewährleistet sieht, sondern genauso durch das menschliche Handeln bzw. die Taten der Gläubigen. Darin bewährt sich deren Glaube, der nicht nur für sich selbst steht. Bezieht sich ein so geprägter intellektueller Habitus nun auf einen profanen Bereich wie die Frage nach der ‚wahren‘, ‚richtigen‘ Aufklärung, dann sucht und findet er diese weniger in trefflichen Definitionen und schlüssigen Folgerungen abstrakter Art, sondern allererst in der konkreten gesellschaftlichen Praxis, etwa der Frage nach den angeborenen Rechten aller Menschen – denen der deutschen Untertanen absoluter Monarchen, aber genauso der Afrikaner, die damals von tiefgläubigen Puritanern ohne nennenswerte moralische Skrupel versklavt wurden (vgl. Stiening 2021, 239–242), wie das Romankapitel mit der Überschrift „Europäische Bestialitäten“ über Faustins Beobachtungen in Guinea vor Augen führt: Erst kam ein kleiner Trupp Schwarzer mit auf den Rüken gebundenen Händen. Es waren Männer und Weiber, und alle hatten Knebel am Munde, die ihr Jammengeheul erstikten. Nebenher trug man ein paar Säke voll kleiner mitgeraubter Kinder, die, wie Kaninchen zu Markte geschleppt werden, übereinander lagen, und vor Hunger, Durst und unbarmherzigen Stössen gequält, ein dumpfes Gewimmer erhoben. (Pezzl 1783, 267)
Schilderungen wie diese sind dazu angetan – und zielen ausdrücklich darauf –, das menschliche Herz durch ‚Mitleiden‘ (pitié) im Sinne der Rousseau’schen Philosophie zu erweichen (vgl. Rousseau 21984 [1755], 140–151),² wie der empathische Protagonist, „dem bereits das Herz blutete“, an sich selbst bemerkt, als er sich „geschwinde ans Ufer rudern“ lässt, „um den Elenden beizuwohnen, wenn es auf irgend eine Art möglich wäre“ (Pezzl 1783, 267). Doch ist eine solche tätige Anteilnahme angesichts der herrschenden Machtverhältnisse nicht realisierbar, wie das gänzlich empathielose Gegenüber mit sprechendem Namen zeigt: Der englische Kapitän, Namens Stone-Heart, kaufte den ganzen Trupp. Die Sklavenhändler boten ihm auch die Kinder an; aber er wollte sie nicht, und so wurden die unglüklichen Geschöpfchen – abscheuliche Grausamkeit!!! – ohne weiters auf den glühenden Sand hinge-
Die Sklaverei wird übrigens als „le dernier terme de l’inégalité“ („das letzte Stadium der Ungleichheit“, Rousseau 21984 [1755], 262–263) bezeichnet. Zur Wirkung dieses Textes auf die „Debatte über die Stellung der Afrikaner auf der Scala Naturae“ vgl. Stiening 2021, 239–240.
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worfen, wo sie sich eine Weile wie zertretene Würmchen krümmten, und bald vor unausstehlicher Sonnenhitze verschmachteten. (Pezzl 1783, 267–268)
Als ob das noch nicht genug des Horrors wäre, setzt Pezzl dem die Krone auf: „Durch ihr Geschrei wurden ein paar hungrige Tiger herbeigeholt, und diese frassen sie in wenig Minuten vor den Augen ihrer Väter und Mütter auf.“ (Pezzl 1783, 268) Bei so viel Bestialität tut es wenig zur Sache, ob es in Guinea Tiger gibt oder nicht. Die aufklärerische Kritik ist so stark auf das Auslösen moralischer Empörung beim Publikum getrimmt, dass der ansonsten vorherrschende dokumentarische Anspruch ein wenig aus dem Blick gerät und die fiktionale Ausschmückung überhandnimmt. Das Ziel des Textes besteht nicht in der Vermittlung zoologischer und klimatologischer Kenntnisse, sondern darin, im Namen der Humanität eine allgemeine Verurteilung der Sklaverei zu befördern. Mit höflichen Worten sucht Pezzls Protagonist Faustin auch den herzlosen Kapitän davon zu überzeugen, indem er seinen eigenen früheren Optimismus in die Schranken weist: Er wolle sich zwar nicht auf den allgemeinen Sieg der Menschheit unsrer Zeiten berufen, aber er dächte doch, Geschöpfe die sich Menschen und wohl gar noch Kristen hiessen, seyen die unverschämtesten Dinge unterm Monde, wenn sie troz der empörenden Behandlung ihrer schwärzern Mitgeschöpfe noch auf jene Titel Prätension machten. Stone-Heart lachte ihm unter die Nase, hieß ihn einen deutschen Hund, und schwur auf seine Seele, die schwarzen Hunde verdienten kein besseres Traktament. (Pezzl 1783, 268–269)
Drastischer ließ sich im 18. Jahrhundert die Depravation menschlichen Einfühlungsvermögens und kreatürlichen Mitleids durch das Gift des rassistischen Vorurteils kaum vor Augen führen. Die zahlreichen weiteren Details unmenschlicher Behandlung von Sklaven während der Schiffsreise von Afrika in die Neue Welt und auch nach der Ankunft in Port Royal, die in ihrer Drastik fast surreal anmuten (vgl. Pezzl 1783, 269–274), müssen hier ausgespart bleiben, um den zentralen „Monolog“ Faustins in den Blick zu nehmen, der als „Selbstgespräch“ mit einer typographisch als Zitat aus dem Hannoverischen Magazin gekennzeichneten Reflexion anhebt: „Ein Privatmann verdiente ohne alle Gnade gehangen zu werden, wenn er nur 1/1000 [typografisches Bruchzeichen für ein Tausendstel, N.C.W.] von dem an seinen Nachbarn gethan hätte, was unsre Europäische Landsleute an ihren Afrikanischen und Amerikanischen Nachbarn gethan haben, und noch diese Stunde thun.“[³] Hast recht, ehrlicher Mitarbeiter aus dem
Es handelt sich um eine leicht abgewandelte Passage aus N. N. 1777, 1551. Griep (1982b, 74*) zufolge hat Pezzl sie Schlözer (1779, 196–197) entnommen, wo sie in einer Fußnote zum Artikel SklavenJagd auf Isle de France, in Süriname, und in Deutschland abgedruckt ist. Die weitgehende Entsprechung der Orthografie und des Wortlauts in Schlözers und Pezzls Zitat bestätigt diese Angabe.
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Hannövrischen Magazin! Diese Stelle erschöpft in der That alles, was man über unsere Sklavenhändlerei, Sklavenräuberei, Skavenschänderei und Sklavenwürgerei sagen kann. Das heißt doch wohl mit den heiligen Namen Menschheit, Naturrecht, Nächstenliebe und Religion, spielen; heißt sie aufs abscheulichste erniedrigen. (Pezzl 1783, 274)
Indem die hier kolportierten Informationen wie auch ihre kritische Bewertung durch die Erzählinstanz explizit als direkte Übernahme aus mehr oder weniger aktuellen aufklärerischen Periodika gekennzeichnet werden, erscheint der solches Wissen vermittelnde Roman als Fortsetzung des kritischen publizistischen Diskurses über die Sklaverei. Dass Pezzls Faustin demgegenüber an einer reinen Buchgelehrsamkeit und der davon geprägten abstrakten Definition von ‚Aufklärung‘ (vgl. Stiening 2021, 226 u. 240) sowie an einer allein auf den Glauben bezogenen protestantischen Theologie oder auch katholischen Religionspraxis entschieden Anstoß nimmt, zeigt folgende Überlegung: Das sogenannte Naturrecht und die gepriesene Menschenliebe ist wohl nur in den europäischen Büchern zu Hause. – Und die Religion! … die sanfte Kristus-Religion! … Wenn diese Sklavenmäkler und Sklaventyrannen keine Gottesläugner sind, dann giebts wahrlich keine mehr in der Welt! – – Die vor Andacht flammende Königin von Portugal glaubte, die Welt würde vergehen, wenn sie nicht alle Morgen und Abende ihr Paternoster herabsagte, und sich fleissig beweihwasserte; aber ihren Braßilischen und Ostindischen Gewürzkrämern den Sklavenkauf oder doch die unkritische Sklavenbehandlung zu untersagen, daran denkt weder ihre andächtige Majestät noch der geistliche Gewissens-Rath. (Pezzl 1783, 275–276)
Gerade auf die Kirchen und ihre gelehrten Institutionen wie die theologischen Fakultäten sei hinsichtlich der allgemeinen Durchsetzung basalster Menschenrechte kein Verlass, weil deren Vertreter sich lieber in scholastische Spitzfindigkeiten verlören, als praktisches und verständliches Wissen zu vermitteln, und emanzipatorische Ansinnen sogar aktiv unterdrückten, wie Faustin weiß – und dabei sämtliche damals relevanten Konfessionen in die Kritik einbezieht (vgl. Pezzl 1783, 276–277). Pezzls Erzähler beklagt einen „unbegreifliche[n] Widerspruch in unsrer Art zu denken und zu handeln“ (Pezzl 1783, 277), also zwischen (aufklärerischer) Theorie und (unaufgeklärter) Praxis, der dazu führe, dass sich auf der nördlichen Erdhalbkugel „Parlamente, Synoden, Konsistorien, Fakultäten, hohe und niedere Gerichtsstuben“ mit abstrakter Proselytenmacherei abgaben und sich darin erschöpften, ohne auf die wirklich drängenden Probleme und schreienden Ungerechtigkeiten zu achten: Aber gegen diese schändliche Praxis unsrer Sklavenbehandlung, die schon Jahrhunderte lang fortwährt, die recht gräßlich alle Bande der Gesellschaft und Menschheit zertrümmert und mit Füssen darnieder stampft; da ist im Tribunal und auf der Kanzel – tiefe, tiefe Stille. – Weder Parlament, noch Synode, noch Konsistorium, noch Fakultät, noch Staatsrath, nach Polizeiamt
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spricht dagegen ein Wörtchen! Kaum haben es ein par ehrliche Privatmänner gewagt, etwas weniges darüber zu sagen; aber die wirklichen Gewaltsmänner, schwarz und gefärbt, Priester und Layen, sizen bequem in ihren Polsterstülen, schlürfen behaglich ihren Kaffe und schmauchen ihr Pfeifchen dazu, ohne sich auch nur an die armen schwarzen Wichte zu erinnern, die ihnen mit Aufopferung ihres Schweisses und Blutes den Gaumen und die Nase kizeln müssen. – Ist wohl Sieg der Menschheit, philosophisches Jahrhundert! … Aber ich muß es neuerdings wiederholen: Diese Sklavenhändler und Konsorten, diese sind die wahren, die einzigen Atheisten! (Pezzl 1783, 278–279)
Informationen, die solchen Urteilen im Sinne einer praktischen Aufklärung zugrundeliegen, hat Pezzl nicht nur aus der Tages- und Wochenpresse, sondern auch aus zeitgenössischen französischen Reiseberichten des Naturforschers Pierre Sonnerat und des Physiokraten und Botanikers Pierre Poivre bezogen, die er selbst ins Deutsche übersetzte. Sie haben – neben Voltaires Candide – sogar „den Aufbau und die Stilhaltung“ des Faustin geprägt, die Werner M. Bauer zufolge „vom Standpunkt des Historiographischen“ zu verstehen sind, „nämlich als eingekleidete Darstellung historisch dokumentierbarer Gegenwartszustände“ (Bauer 1975, 11). Nicht die fiktionale Fabel steht im Vordergrund, sondern das, was sie faktual für ein empirisches Lesepublikum an praktischem Aufklärungspotenzial enthält (vgl. Bauer 1975, 12). Dementsprechend ging es Pezzl in Faustin oder das philosophische Jahrhundert um die Frage nach dem tatsächlichen, sicht- und spürbaren Realisierungsgrad von ‚Aufklärung‘ im praktischen Leben der Menschen, um eine ‚gelebte‘ Aufklärung also, die das titelgebende „philosophische Jahrhundert“ realiter charakterisiert und „als Oberbegriff verwendet wird für ein nicht genau definiertes Bündel von Forderungen wie religiöse Toleranz, Trennung von Kirche und Staat, politische Repressionsfreiheit, Möglichkeiten der Entwicklung des bürgerlichen Individuums usw.“ (Siegrist 1979, 838). Die Utopie „wird im Roman durch die Erfahrungen des Helden relativiert, aber nicht negiert“ (Siegrist 1979, 838) – und abschließend sogar als verwirklicht präsentiert, wie im Folgenden gezeigt werden soll.
2 Die Apotheose Wiens und des Kaisers als Realutopie Pezzl musste seinen Studienort Salzburg fluchtartig verlassen, weil er 1780 mit der Veröffentlichung seiner Briefe aus dem Noviziat bei der benediktinisch geführten Universität in Ungnade gefallen war (vgl. Griep 1982a, 1*–2*; Griep 1984). So kehrte er gegen Ende des Jahres 1780 dem an sich durchaus aufklärerisch regierten geistlichen Territorium den Rücken und ging nach Zürich, wo er neben vielen Gelegenheitsarbeiten auch den Roman Faustin verfasste, der ihm den Weg in die Kai-
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serstadt ebnen sollte.Wenn man nun nach objektiven Gründen dafür sucht, weshalb er sich 1783 entschied, nach Wien zu ziehen, dann ist vor allem die allenthalben bemerkbare kulturelle Aufbruchsstimmung zu Beginn der Regierungsübernahme Josephs II. zu berücksichtigen (vgl. Bodi 1977; Weigl 1997, 210–229). Pezzl stand damit um 1780 keineswegs allein: Die damals insbesondere aus den katholischen Territorien des Alten Reiches in die Residenzstadt des Kaisers gesetzten gewaltigen Hoffnungen werden dann konkret nachvollziehbar, wenn man sich vergegenwärtigt, gegen welchen politischen und kulturellen status quo sie sich richteten: So beschwört der Protagonist des Faustin gegen Ende des nach ihm benannten Romans, „daß noch vor dem neunzehnten Jahrhundert die wahre Epoche der Philosophie und Erleuchtung ihren Anfang nehmen werde“ (Pezzl 1783, 328). Von einer finalen Realisierung der Aufklärung, wie sie sein Lehrer Pater Bonifaz prophezeit hatte, ist hingegen keine Rede mehr. Sein aus München stammender Freund und Gesprächspartner Traubach stimmt dem zu und präzisiert Faustins Beschwörung insofern, als er den Anfang dieser Aufklärungsepoche – von der Tendenz her durchaus übereinstimmend mit den Hoffnungen des Bonifaz, doch nun mit mehr Berechtigung – bereits eingeleitet sieht: Diese lang erwünschte, lang erwartete, Deutschland hoch empor hebende Epoche begann im Jahr 1780. Begann mit der Regierung unsers allgeliebten Josephs: Diesen erhalte uns die Vorsicht [d. i. die Vorsehung, N.C.W.], und dann, Bruder! dann lass uns stolz seyn, daß wir Deutsche sind; dann ist es Glük für uns, daß wir in diesem Jahrhundert geboren sind […]. (Pezzl 1783, 328–329)
Um Joseph II. „besser, noch unendlich schätzbarer zu finden“, als er sich „ihn selbst vorstellen“ könne, müsse Faustin mit Traubach „nach Wien“ ziehen; er selbst habe die Hauptstadt „auf Zeit Lebens“ zu seiner „Freistätte gewählt, um dort die weisen Götteraussprüche des philosophischen Kaisers zu bewundern“ (Pezzl 1783, 329). Dasselbe solle nun auch Faustin tun, statt weiter „den traurigen Zustand unsers baierschen Völkleins“ zu beklagen: „Für jezt mache dich reiserüstig, und laß uns hin eilen zum Thron der Philosophie und Erleuchtung.“ (Pezzl 1783, 330) Nachdem Faustin sich eingehend mit den Aussagen und Reformvorhaben Josephs II. vertraut gemacht hat, sieht er mit dem Kaiser „die wahre Epoche der deutschen Aufklärung“ (Pezzl 1783, 365) anbrechen und bestätigt Traubachs Diagnose, indem er ein zweites Mal den Beginn der Alleinregierung Josephs zum entscheidenden Datum stilisiert: Du hast Recht, das Jahr der Erleuchtung ist das Jahr von Josephs Regierungsantritt, das Jahr 1780. Seitdem ist’s Sieg der Vernunft, ist’s wahres philosophisches Jahrhundert. (Pezzl 1783, 365–366)
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Mit Blick auf Kants berühmte Beantwortung der vom Berliner Pfarrer Johann Friedrich Zöllner gestellten Frage „Was ist Aufklärung?“ wird hier eine Parallele zwischen Pezzls Verehrung Josephs II. und jener Friedrichs II. durch den Königsberger Philosophen sichtbar; dieser hatte ja gegen Ende seiner Argumentation die Aufklärung nicht als (bereits erreichten) Zustand, sondern als Prozess gekennzeichnet: Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. Daß die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im Ganzen genommen, schon im Stande wären, oder darin auch nur gesetzt werden könnten, in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines Andern sicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel. Allein, daß jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu bearbeiten, und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung, oder des Ausganges aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit, allmälig weniger werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen. In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung, oder das Jahrhundert Friederichs. (Kant 1968 [1784], 59)
Die Voraussetzung einer„allgemeinen Aufklärung“ besteht demnach darin, dass den Menschen „das Feld geöffnet“ werde, „sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines Andern sicher und gut zu bedienen“ bzw. dahin „frei zu bearbeiten“. Auch im josephinischen Wien gab es Pezzl zufolge „deutliche Anzeigen“ dafür, dass „die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung, oder des Ausganges“ der Menschen „aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit, allmälig weniger werden“. Während Kant diese Bedingung 1785 unter Friedrich II. längst geschaffen sieht, ist Pezzl zwei Jahre zuvor hinsichtlich Berlins etwas zurückhaltender: Zwar rühmt auch Faustin den König als Vorkämpfer für ein „aufgeklärtes, tolerantes, wahres philosophisches Jahrhundert“ (Pezzl 1783, 318; vgl. schon 307–308), doch mischen sich in „den Glanz“ des preußischen Monarchen kleinere „Flecken, als Faustin feststellen muß, daß anstelle eines revidierten, ‚vernünftigen‘ Gesangbuches“ aufgrund starken Druckes der Öffentlichkeit „das überkommene wieder gestattet“ wird (Siegrist 1979, 840), das bloß „abgeschmackte geistliche Bänkelsängerei“ (Pezzl 1783, 316) enthalte. Ihm zufolge ist es zwar angemessen, „Fridrich dem Weisen, dem Grossen, dem Philosophen“ zu folgen und dessen „goldnen Grundsaz über die Thore“ aller Paläste zu heften: „Bei mir kann Jeder glauben was er will, wenn er nur ehrlich ist.“ (Pezzl 1783, 322) Doch sei die Epoche ‚wahrer Aufklärung‘ in den 1780er Jahren erst von Joseph II. in Wien gegen ihre Feinde wirklich institutionell durchgesetzt und garantiert worden. Nach seiner Ankunft in Wien erkennt der aus dem katholischen Bayern stammende Faustin dementsprechend, „daß unter Joseph II. die Römischen Usurpazionen über den größten Theil von Deutschland ihr Ende erreichten“ (Pezzl 1783, 366), also die Ansprüche des katholischen Klerus auf eine Art von ideologischer
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Vormundschaft, die als solche Kant zufolge dem „Ausgang“ der Menschen aus ihrer „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ prinzipiell im Weg stehen. Bei diesem Aufklärungsoptimismus ist freilich stets zu bedenken, dass Pezzls Begeisterung zu diesem Zeitpunkt nicht auf eigener Anschauung gründete, sondern nur auf den Berichten, die er in Zürich davon erhielt. Sie entzündete sich nicht allein daran, dass der päpstliche und kirchliche Machtanspruch durch Joseph II. in die Schranken gewiesen wurde, sondern auch an der in den höchsten Tönen gelobten Menschenliebe des aufgeklärten Kaisers selbst. Nachdem die Freunde Traubach und Faustin endlich in Wien angekommen sind, wird das folgendermaßen anschaulich gemacht: „Ihr erster Gang war nun in den Augarten“, den der philanthropische Kaiser – wie auch den Prater – erstmals für die Bevölkerung geöffnet hatte: Faustin las die Aufschrift ober dem Eingang, die Joseph hingesezt: Allen Menschen gewiedmeter Belustigungsort von ihrem Schäzer. Heiliger Hain! rief er bei Ansicht dieser Aufschrift: Wonnigliches Denkmal der Philosophie auf dem Thron! wie glüklich sind wir, unter deinen Schatten, in der Nähe des erhabnen Schäzers der Menschheit wandeln zu können! – Diese Aufschrift war ihm schöner als alle die je eine Akademie der Inschriften zur Welt gebracht hatte. (Pezzl 1783, 367)
Im weiteren Verlauf des abschließenden Kapitels „Die Philosophie auf dem Thron“ beklagt Faustin im Sinne des gemeinaufklärerischen Prinzips der Kritik trotz aller Euphorie allerdings wenig später, dass es „mit der Litteratur des katholischen Deutschlands […] äusserst elend“ bestellt sei, was trotz seines oberdeutschen Patriotismus eine entwickelte Kritikfähigkeit anzeigt und auf eigenen Erfahrungen gründet: „Die katholischen Idioten scheinen sich gegen alle Aufklärung zusammen verschworen zu haben. Sie pissen [!] jeden an, der dem Mönchswesen, dem Aberglauben und den Pfaffismus zu Leibe geht[.]“ (Pezzl 1783, 370) In der Folge liefert er demgegenüber eine ausführliche Auflistung aller aufklärerischen Leistungen Josephs nach dessen Regierungsübernahme im Jahr 1780, die einer regelrechten Apotheose des aufgeklärten Herrschers gleichkommt und das Kritikprinzip deutlich in den Hintergrund stellt. Diese Inkonsequenz der romanesken Gestaltung korrespondiert mit der ‚ungleichzeitigen‘ Beschaffenheit der Aufklärung in Wien, deren kritische Prüfung meist nicht konsequent auf sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens gleichermaßen bezogen wurde. Auch das war wohl mit ein Grund, weshalb der Roman hier so großen Erfolg haben konnte. Angesichts der gepriesenen Reformen vergisst Faustin, der „das Licht der Philosophie unaufhaltsam über Deutschland aufgehen sieht“ (Pezzl 1783, 376), sogar „[a]ll sein ausgestandenes Ungemach […] und alle jene Feinde der Aufklärung und Duldung, des Menschenverstandes und Menschengefühls, die ihm so manche herbe, bittere Stunde gemacht hatten“ (Pezzl 1783, 374). Den Angehörigen des katholischen Klerus als „den habsüchtigen Aposteln der Finsterniß“ wird unter Berufung auf „Vater
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Voltäre“ mit „der Donnerstimme der Wahrheit“ gedroht, sie mögen zittern „vor dem Anbruch der Tage der Vernunft“ (Pezzl 1783, 376). In solchen emphatischen Worten erscheint die plakative Bildlichkeit der Zauberflöte vorweggenommen: „Sie sind angebrochen diese schönen Tage, und die Elenden schnauben und knirschen umsonst. Das Joch des tyrannischen Roms ist abgeschüttelt[.]“ (Pezzl 1783, 376) Die Perhorreszenz der „Pfaffen“ als „Antipoden in der Schöpfung der Vernunft“ (Pezzl 1783, 378) spricht eine unmissverständliche Sprache. Generell geht es den Freunden Traubach und Faustin ähnlich wie später in der Zauberflöte Tamino und Pamina mit Sarastro, indem sie immer klarer die segensreichen Wirkungen der weisen Herrschaft Josephs II. in Wien erkennen: „Je länger sie da waren, je mehr Beweise von dem schöpferischen Umschwung der ehedem finstern und eingeschränkten Denkart des Wienerschen Publikums entdekten sie.“ (Pezzl 1783, 378) Aufgrund der sich daran wieder entzündenden Euphorie möchte Faustin gleich „eine neue Aere“ ausrufen, nämlich „die Aere des aufgeklärten südlichen Deutschlandes, die Josephische Aere, und das Jahr 1780 zum Stuffenjahr derselben festsezen“ (Pezzl 1783, 378). Er hegt freilich keine allzu große Zuversicht, sich damit im gesamten Reich durchsetzen zu können, womit er Recht behalten sollte. Nur ein gutes Jahr später versicherte Kant in seinem Aufklärungsaufsatz hinsichtlich der „Denkungsart eines Staatsoberhaupts“ in „Religionssachen“ sowie „in Ansehung seiner Gesetzgebung“, die im besten Fall darauf hinauslaufe, „seinen Unterthanen zu erlauben, von ihrer eigenen Vernunft öffentlichen Gebrauch zu machen, und ihre Gedanken über eine bessere Abfassung derselben, sogar mit einer freimüthigen Kritik der schon gegebenen, der Welt öffentlich vorzulegen“: Dafür habe man „ein glänzendes Beispiel“ in Friedrich II., „welchen wir verehren“, zumal ihm „noch kein“ anderer Monarch darin vorgegangen sei (Kant 1968 [1784], 60). Von vergleichbaren Monarchen, die Friedrich darin gleichgekommen oder zumindest gefolgt sind, ist bei Kant hingegen nicht die Rede. Angesichts solcher Idolatrie des aufgeklärten Königs Friedrich II. im nördlichen Deutschland konzentrieren sich Faustin und Traubach auf den südlichen Teil des Heiligen Römischen Reichs und können sich auf folgenden Lobpreis Josephs II. und seiner Alleinregierung einigen, wobei sie deren Beginn ein drittes Mal zum Anbruch einer neuen Epoche stilisieren: [I]n der Erwartung, daß unser Vaterland wohl noch seinem größten Wohltäter, dem Hersteller der Denkensfreiheit, der gereinigtern [sic] Religion; der Rechte des Thrones gegen die Römischen Eingriffe; der Rechte der Vernunft gegen Pedanten, steife Schulfüchse und Apostel des Aberglaubens; der Rechte der Menschheit gegen die Schikane und Unterdrükung der schwelgenden Untertyrannen, dieses Denkmal der Dankbarkeit sezen werde, statuirten sie unter sich das Jahr 1780 zum Jahr des Heils, zum Gränzpunkt des erleuchteten philosophischen Jahrhunderts, das künftige Generazionen mit Jubel feyern, und in den Urkunden des Menschengeschlechts neben
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die Regierungsjahre des Sesostris, Fohi, Orpheus, Antonins und Mark Aurels sezen werden. (Pezzl 1783, 379)
Eingedenk ihrer Erfahrungen im josephinischen Wien, die ihr realer Autor zu diesem Zeitpunkt noch nicht selbst gemacht hatte, entschließen sich die beiden Freunde, „ihre noch übrigen Tage in der beglükten Kaiserstadt zu verleben. […] Das Nazionaltheater, die Hofbibliothek und der Gräffersche Buchladen, sind die Pläze, die sie zu ihrem Unterricht und Vergnügen am meisten besuchen.“ (Pezzl 1783, 380) So endet der Roman, der mit einer satirischen Bloßstellung eines naiven Aufklärungsverständnisses eingesetzt hatte, kaum minder naiv, wie sich in den späteren Jahren der Regentschaft Josephs II. erweisen sollte: Hoffnungsvoll bliken sie in die schöne Regierung hin, deren gesegnete Jahre dem frohen Deutschland das volle Maß seiner Glükseligkeit versprechen; und so oft Joseph einen neuen Schritt auf seiner grossen Laufbahn thut, umschlingen sie entzükt dessen Bild mit wallendem Herzen, und rufen in die Wette: / Unter Josephs Regierung wird es allgemeiner Sieg der Vernunft und Menschheit; wird es aufgeklärtes, tolerantes, wahres philosophisches Jahrhundert! (Pezzl 1783, 381)
Es handelt sich hier offensichtlich weniger um das Resultat einer kritischen Prüfung der Verhältnisse im Sinne des gemeineuropäischen Aufklärungsverständnisses als vielmehr um die schon erwähnte Apotheose des absoluten Herrschers, „dessen Regierung ganz im Sinne einer barocken Licenza […] als Zeit des Heils und des Lichts gepriesen wird, die der Verwirklichung des wahren philosophischen Jahrhunderts am nächsten kommt“ (Bauer 1975, 16). Eine solche Herrscheridolatrie bleibt dem Aufklärungsdenken prinzipiell heterogen und kann als „geschickte Autorenspekulation“ (Bodi 1977, 189) im Sinne eines ‚Eintrittsbillets‘ Pezzls in der Kaiserstadt zwar produktionsästhetisch erklärt, aber romanpoetisch nicht überzeugend integriert werden. Selbst wenn man sie „aus dem allgemeinen Enthusiasmus für die erste Reformperiode des Kaisers“ (Bodi 1977, 189) zu rechtfertigen sucht, erscheint sie inhaltlich unbegründet. So hat schon Gustav Gugitz desillusioniert bemerkt: In der Nähe nahmen sich die von Pezzl selbst so gepriesenen Wiener Verhältnisse unter Josef II. denn doch ganz anders aus und er mußte einsehen, daß er selbst den Mund im Lobe ein wenig zu voll genommen hatte, noch ohne Augenzeuge gewesen zu sein. (Gugitz 1906, 187)
Aus dem Romanausgang des Faustin lässt sich mithin keineswegs auf Pezzls „ziemlich genaue[ ] Kenntnis der Wiener Verhältnisse“ (Rosenstrauch-Königsberg 1992, 751) schließen, sondern eher auf immense Hoffnungen, die von der aufklärerischen Intelligenz zumindest der katholisch-oberdeutschen Territorien des Alten
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Reichs auf Joseph II. und dessen Reformen projiziert wurden. Die herrschergläubige Beschaffenheit dieser Hoffnungen lassen es freilich als unangemessen erscheinen, Pezzls Roman tatsächlich als Produkt einer süddeutschen ‚Radikalaufklärung‘ bzw. eines bayerischen ‚Radikalaufklärers‘ zu werten.⁴ Der Umstand, dass die Regierung Josephs II. in Pezzls Faustin „ganz im Sinne einer barocken Licenza als Zeit des Heils und des Lichts gesehen wird“ und „den Sieg eines wahren philosophischen Jahrhunderts“ anzeigen soll (Bauer 1972, 149), verweist auf die innere Widersprüchlichkeit der Begriffe ‚aufgeklärter Absolutismus‘ oder ‚aufgeklärter Despotismus‘, deren zweite Komponente in einem eminenten Spannungsverhältnis zur ersten steht. Diese strukturelle Ambivalenz, die eine Gleichsetzung von Pezzls Philosophiebegriff „nicht nur mit dem der radikalen Aufklärung, sondern mit den Emanzipationsbestrebungen im allgemeinen“ (Rosenstrauch-Königsberg 1992, 752) als abwegig erscheinen lässt, konnte auch Kants Aufklärungsaufsatz nicht wirklich lösen, der genausowenig ‚radikalaufklärerisch‘ war: Durchaus ähnlich wie Kant setzen Pezzls Protagonisten „auf eine staatlich verordnete Aufklärung, auf das Konzept des aufgeklärten Absolutismus“ (Stiening 2021, 238), mehr noch: „Angesichts des katholischen, protestantische [sic] oder selbst atheistischen Fanatismus scheint ihm die Autorität des aufgeklärten Absolutismus die einzige Chance auf ein Überleben der praktischen Vernunft.“ (Stiening 2021, 245) Diese Überzeugung unterscheidet Pezzls Ansatz (vgl. Stiening 2021, 241–242) von dem der zeitgenössischen Radikalaufklärer, die – wie Diderot in seiner 1774 verfassten und ab 1783 in der Correspondance littéraire handschriftlich verbreiteten Réfutation suivie de l’ouvrage d’Helvétius intitulé L’homme (vgl. Diderot 1875, 381)⁵ – ganz grundsätzlich jede Form von Absolutismus als despotisch verwarfen und dabei häufig auch provokant materialistisch argumentierten. Obrigkeitshörige und obrigkeitsgläubige Idolatrie eines noch so aufgeklärten absoluten Herrschers und aufklärendes ‚Selbstdenken‘ eines mündigen Staatsbürgertums im Sinne der citoyenneté sind strukturell nicht kompatibel. Insbesondere in Österreich – aber nicht nur hier – ist Letzteres lange von Ersterer verhindert worden. Unabhängig davon übten Pezzls Roman Faustin oder das philosophische Jahrhundert und die von ihm vermittelte Vorstellung praktischer Aufklärung einen erheblichen Einfluss auf die österreichische Literaturentwicklung aus, und das sogar noch zwei Jahrhunderte nach der Erstveröffentlichung: So lässt sich seine zwar
Stiening (2021, 234) relativiert diese seine These (vgl. Stiening 2021, 224–225) freilich selbst; mehr dazu in Stiening 2021, 244–245. Anlass dieser radikal obrigkeitskritischen Reflexionen war die in der Berliner Akademie vorgetragene These Friedrichs II., es gebe keine bessere Regierungsform „que le gouvernement arbitraire sous des princes justes, humains et vertueux.“ Diderot zufolge handelte es sich dabei jedoch um die „maxime d’un tyran“.
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nicht allzu sichtbare, aber umso tiefergründige Wirkung an Ingeborg Bachmanns augenzwinkernder Übernahme einer bezeichnenden Kapitelüberschrift des kirchenkritischen Romans als Titel für einen sozialkritischen Essay veranschaulichen: Aus „Was Faustin in Rom sieht und hört“ (Pezzl 1783, 61) wird bei ihr: „Was ich in Rom sah und hörte“ (Bachmann 22010 [1955], 29–34). Johann Pezzl musste schließlich auch in Wien manches sehen und hören, was seinen hochgesteckten Erwartungen nicht entsprach.
Literaturverzeichnis Bachmann, Ingeborg. „Was ich in Rom sah und hörte“. Akzente. Zeitschrift für Dichtung 2 (1955): 39–43; wiederabgedruckt in: Ingeborg Bachmann. Werke. Bd. 4: Essays, Vermischte Schriften, Reden, Anhang. Hg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. München und Zürich: Piper, 22010: 29–34. Bauer, Werner M. „Der Roman der josephinischen Aufklärung. Strukturen und literarhistorische Bedeutung, gezeigt an Johann Pezzls ‚Faustin‘“. Jahrbuch für österreichische Kulturgeschichte 2 (1972) [Themenschwerpunkt: Joseph Haydn und seine Zeit]: 147–152. Bauer, Werner M. „Bekämpfte und erfundene Welt. Zum österreichischen Roman des ausgehenden 18. Jahrhunderts“. Sprachkunst 6 (1975): 1–36. Bauernfeld, Eduard. „Die schöne Literatur in Oesterreich, Historische Skizze (Fortsetzung)“. Oesterreichische Zeitschrift für Geschichts- und Staatskunde 76 (23. 9. 1835): 301–303. Bodi, Lesli. Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung 1781–1795. Frankfurt am Main: Fischer, 1977. Diderot, Denis. „Réfutation suivie de l’ouvrage d’Helvétius intitulé l’Homme“. Œuvres complètes de Diderot. Hg. von Jules Assézat und Maurice Tourneux. Bd. 2. Paris: Garnier, 1875: 263–456. Friedrich, Hans-Edwin. „Utopie“. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. III: P–Z. Hg. von Jan-Dirk Müller u. a. Berlin und New York: De Gruyter, 2003: 739–743. Gräffer, Franz. Kleine Wiener Memoiren und Wiener Dosenstücke. In Auswahl hg., eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Anton Schlossar unter Mitwirkung von Gustav Gugitz. Bd. 1. München: Müller, 1918. Griep, Wolfgang. „Nachwort“. Johann Pezzl. Faustin oder das philosophische Jahrhundert. Reprograf. Nachdruck 1982. Hildesheim: Gerstenberg, 1982a: 1*–17*. Griep, Wolfgang. „Kommentar“. Johann Pezzl. Faustin oder das philosophische Jahrhundert. Reprograf. Nachdruck 1982. Hildesheim: Gerstenberg, 1982b: 19*–124*. Griep, Wolfgang. Johann Pezzl (1756–1823). Leben und Werk. 2 Tle. Universität Bremen: Diss. 1984. Gugitz, Gustav. „Johann Pezzl. Zu seinem 150. Geburtstage“. Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 16 (1906): 164–217. Kant, Immanuel. „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ [1784] Immanuel Kant. Werke in zwölf Bänden. Bd. XI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1968: 53–61. N. N. „Miscellanien über Armuth, Reichthum, und andere dahin einschlagende Materien“. Hannoverisches Magazin 15. Jg. 97. St. (5. 12. 1777): Sp. 1537–1552.
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Pezzl, Johann. Faustin oder das philosophische Jahrhundert. o. O.: o. V. [Zürich: Orell, Geßner, Füßli und Cie] 1783. Reprograf. Nachdruck. Hildesheim: Gerstenberg, 1982. Rosenstrauch-Königsberg, Edith. „Die Philosophie der österreichischen Illuminaten, abgelesen an Pezzls Faustin“. Verdrängter Humanismus – verzögerte Aufklärung. Österreichische Philosophie zur Zeit der Revolution und Restauration (1750–1820). Hg. von Michael Benedikt, Wilhelm Baum und Reinhold Knoll. Wien: Turia & Kant, 1992: 747–763. Rousseau, Jean-Jacques. Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inégalité [1755]. Kritische Ausgabe des integralen Textes. Mit sämtlichen Fragmenten und ergänzenden Materialien nach den Originalausgaben und den Handschriften neu ediert, übersetzt und kommentiert von Heinrich Meier. Paderborn u. a.: Schöningh, 21984. Schlözer, Ludwig August. Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalts. Tl. 5. Göttingen 1779, H. 27. Siegrist, Christoph. „Antitheodizee und Zeitkritik. Zur Situierung von Pezzls Roman Faustin“. Die österreichische Literatur. Ihr Profil an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert (1750–1830). Hg. von Herbert Zeman. 2 Tle. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt, 1979: 829–851. Stiening, Gideon. „‚Katholische Idioten‘. Johann Pezzls Faustin-Roman als Beispiel einer Selbstaufklärung der Aufklärung im katholischen Raum“. Aufklärung 33 (2021): 223–248. Weigl, Engelhard. Schauplätze der deutschen Aufklärung. Ein Städterundgang. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1997.
Christian Neuhuber
„ich glaub’ es wird noch ein wildes End nehmen“ Die Geburt des Komödianten Nestroy aus dem Geist von Utopie und Dystopie In einem Gespräch mit Eckermann räsoniert Goethe am 21. Juli 1827 über die Furcht als Handlungselement, die nach Aristoteles eine conditio sine qua non für ein gelungenes Trauerspiel sei. Aber auch „in jedem guten Lustspiele, und zwar bei der Verwickelung“ ließe sie sich finden, ja „sogar in den sieben Mädchen in Uniform, indem wir doch immer nicht wissen können, wie der Spaß für die guten Dinge[r] abläuft“ (Goethe 1986, 238). Dass er das genannte Stück, das noch im Entstehungsjahr 1825 auch am Weimarer Hoftheater aufgeführt worden war, als zeitgemäße „halblüstern[e] Posse“ einstufte, verfasst für ein Publikum, das sich „aus einem schweren Traum des Ernstes in die freie Luft der Torheit“ (Goethe 1991, 893) sehnt, wissen wir aus einem Brief an Zelter vom 30. Dezember desselben Jahres. Es war dies freilich eine andere Freiheit, als sie Schiller Jahrzehnte zuvor als wirkungsästhetisches Telos für die Komödie bestimmte, unter anderem bei der gemeinsam mit Goethe ausgelobten Dramatischen Preisaufgabe (1800), mit der man – letztlich erfolglos – ein zeitgemäßes ‚Intrigenstück‘ suchte. Der Gewinnerbeitrag sollte „geistreiche Heiterkeit und Freiheit des Gemüts […] durch eine absolute moralische Gleichgültigkeit“ (Schiller 1991, 326) hervorbringen, um – wie es in Über naive und sentimentalische Dichtung heißt – „frey von Leidenschaft zu seyn“ (Schiller 2001, 446; zu Schillers Komödientheorie vgl. Koopmann 1969; Profitlich 1998, 82–86; Immer 2006). Auch wenn er es nicht so benannte (vgl. Hinderer 2013, 152–153), sprach Schiller mit diesem idealen Zustand der Harmonie die utopische Kraft des Fiktionalen an, das existenziell Bedrohliche als bloße Möglichkeit durchzuspielen (vgl. Krysmanski 1963, 105). Mit ihrem gattungskonstitutiven Happyend kommt der Komödie in diesem Konzept eine exponierte Stellung zu, würde sie doch, wenn sie ihr Ziel – die Aufhebung des Konflikts in leidenschaftslose Serenität – erreichte, durch emotionale Distanzierung „alle Tragödie überflüssig und unmöglich machen“ (Schiller 2001, 446). Zu wissen, dass die skizzierten Katastrophen und Apokalypsen zumindest im Rahmen des künstlerischen Akts suspendiert werden und somit nicht ernstgenommen werden müssen, ließe das Mitfürchten zum lustvollen, da nicht bedrohlichen ästhetischen Nervenkitzel werden (zu der gegensätzlichen Entwicklung hin zur reflexionsfordernden ‚ernsten‘ Komödie vgl. Neuhuber 2003). https://doi.org/10.1515/9783111205809-003
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Komödien nach Schillers Vorgaben wiesen allerdings – wie etwa Brentanos (nicht prämierte) Einsendung Ponce de Leon (1801/1803) zeigt – eine überschaubare Bühnentauglichkeit auf. Das reale Publikum wollte denn doch die eine oder andere Leidenschaft bedient wissen, zumal in den Stücken der Unterhaltungsbühnen, die sich vor der garantierten utopischen Lysis so manche effektvolle Freiheit erlaubten, um Schaulust, Hörvergnügen und Lachfreude zu reizen. Goethes diesbezügliches Beispiel, Sieben Mädchen in Uniform des deutschen Schauspielers und Lustspieldichters Louis Angely, wäre heute als dramatische Dutzendware wohl völlig vergessen, hätte es nicht ein größerer Komiker zu einem Schlüsselwerk seiner Laufbahn gemacht. Als vergleichsweise textnahe Übertragung des einaktigen Vaudevilles Les femmes soldats, ou La forteresse mal défendue (1809) wurde Angelys Fassung zunächst auf allen bedeutenderen Lustspielbühnen des deutschen Sprachraums gespielt und rasch auch für verschiedene Theaterlandschaften adaptiert (vgl. für Wien etwa Johann Alois Gleichs Die Belagerung von Hammelburg oder Zwölf Weiber in Uniform, in dem Nestroy im Jänner 1828 am Grazer Theater den Gratian spielte; vgl. Nestroy 2009, 621). An dystopischen Szenarien, die ein intensiveres ‚Mitfürchten‘ in Goethes Verständnis illustrieren könnten, hat Angelys Posse herzlich wenig zu bieten. Handlungsort ist eine verfallene Festung an der französischen Küste, in der der alte Haudegen Briquet mit seinen Untergebenen, dem einäugigen Sansquartier und dem lahmen Bataille, von Oberst Osmond, Gouverneur einer nahegelegenen Stadt, endlich einmal Gefangene zur Bewachung zugeteilt bekommen hat. Es sind dies Osmonds Sohn Henri, der seinem Vater drohte, mit seiner Geliebten Sophie durchzubrennen, wenn er nicht die Heiratserlaubnis bekomme, und fünf seiner Freunde, die im Karneval über die Stränge schlugen. Unterdessen schickt Victor, Osmonds Neffe und Sekretär, seine Schwester Julie mit Sophie und fünf Schwestern der Inhaftierten in Uniformen und Waffen als lang ersehnte Verstärkung, damit sie bei Gelegenheit die Gefangenen befreien können. Als Osmond davon erfährt, eilt er selbst zur Festung, und spielt sein eigenes Spiel mit der weiblichen Garnison, indem er die Gefangenen insgeheim unter der Bedingung freisetzen lässt, dass sie als türkische Korsaren verkleidet einen Überfall inszenieren. Während Briquet sich mit Begeisterung dem Feind entgegenwirft und seine Invaliden zumindest Gegenwehr leisten, fliehen die Mädchen und schlüpfen wieder in ihre Kleider, um im Anschluss von den vermeintlichen Türken düpiert zu werden. Nach der Anagnorisis – man hatte „blos Komödie gespielt – wie man zu sagen pflegt“ (Angely 1830, 74) – fällt man sich glücklich in die Arme, und das Liebespaar bekommt den väterlichen Segen. Warum die Posse trotz ihrer erstaunlichen Simplizität, der Konstruiertheit des Spannungsbogens, der logischen Brüchigkeit der Intrige u.s.f. Mitte der 1820er Jahre so erfolgreich war, hängt wohl vor allem mit der ‚halblüsternen‘ Potenzierung der
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Hosenrollen zusammen, die neben einer gewissen Erotik etwa auch den Reiz perfekt choreografierter weiblicher Exerzierübungen boten. Nicht umsonst erhöhte sich die Zahl der ‚Mädchen in Uniform‘ je nach den Möglichkeiten des jeweiligen Ensembles. Die Spannung, wie – um mit Goethe zu sprechen – ‚der Spaß für die guten Dinger abläuft‘, hält sich in Angelys Fassung freilich in Grenzen. Zur Entstehungszeit des französischen Originals waren die Überfälle der muslimischen Barbaresken-Korsaren, die an den Küsten auf Sklavenfang gingen, zumindest noch eine reale Bedrohung, die die europäischen Seemächte jedoch immer besser in den Griff bekamen. Aus Berliner Perspektive eineinhalb Jahrzehnte später waren muslimische Freibeuter dagegen allenfalls eine exotische Reminiszenz, die Gefahr der Verschleppung „in das Serail des Groß-Sultans“ (Angely 1830, 74) kein dräuendes Szenario, sondern bereits im Schauergeschichtenrang. Kann es sein, dass auch dem alten Goethe die ‚guten Dinger‘ wegen anderer Gründe als einer furchterregenden Verwicklung in Erinnerung geblieben sind? Dass die Posse bis heute unvergessen blieb, ist der Adaption Johann Nestroys geschuldet, der durch die Überarbeitung der Rolle des Sansquartier am Grazer ständischen Theater letztlich seine Berufung als Komiker und Komödienautor fand. Denn engagiert wurde er in die steirische Landeshauptstadt 1825 in anderer Bestimmung: als vielseitig einsetzbarer Opernsänger, zumal als Rossini-Interpret, als der er sich in Amsterdam, dann in Brünn seine Sporen verdient hatte, ehe er – nach einem Improvisations-Eklat vertragslos geworden – bei Theaterdirektor Johann August Stöger vorstellig wurde (zu Nestroys Zeit in Graz vgl. Miesbacher 2015; Miesbacher 2020; Neuhuber 2022). Dieser war nach den Abgängen seiner Stars Joseph Preisinger und Wenzel Scholz auf der Suche nach einem vielseitig einsetzbaren Bassbariton mit schauspielerischen Qualitäten (auch im komischen Fach), dessen Portfolio mit dem Grazer Repertoire kompatibel war. Beinahe von Beginn an galt das Lob der Kritik freilich weniger Nestroys gesanglichen Fähigkeiten als seinen schauspielerischen und sprachkomischen Vorzügen. So verlagerte sich sein darstellerischer Schwerpunkt in den folgenden Jahren weg vom Operngenre hin zum populären Sprechtheater, wo er zunehmend Anerkennung fand. Mit dem Abklingen des Rossini-Fiebers, das Europa erfasst hatte, klang auch Nestroys Karriere als Opernsänger aus und sein Aufstieg als Volkskomiker begann. Erstmals als Bearbeiter einer Vorlage versuchte er sich Ende des Jahres 1827, als er Angelys Stück einer Teilüberarbeitung unterzog, die schon zwei zentrale Komisierungsstrategien seiner kommenden erfolgreichen Adaptionen zeigt: zum einen die Profilierung der selbstgespielten Rolle zu einer typischen grotesk-komischen ‚Nestroy-Figur‘, zum anderen die Implementierung einer sprachkritischen bzw. theaterreflexiven Ebene. Da Letztere üblicherweise – und so auch bereits hier – vor allem von der vom Autor selbst verkörperten Figur bespielt wird, kommt ihr wesentlich mehr Gewicht und Redeanteil als in der Vorlage zu. Sansquartier avanciert
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in Zwölf [!] Mädchen in Uniform dementsprechend von einer Neben- zur eigentlichen Hauptfigur des Stückes, die die Qualitäten des Nestroy’schen Spieles zur Entfaltung bringt. Dass diese freilich nicht unumstritten waren, zeigt die Rezeptionsgeschichte der Rolle, die Nestroy bis zu seinem Abschied von der Bühne begleiten sollte. Neben hymnischen Kritiken gab es auch üble Verrisse, die sich vor allem an der Frivolität stießen, die weniger im Text zu finden war als in den gestisch-mimischen Erweiterungen bzw. in extemporierten Zusätzen auf der Bühne. Vergleicht man Vorlage und Adaption, lässt sich erkennen, dass der alte Invalide Sansquartier nun wesentlich mehr Sprechanteil hat und – auch wenn Nestroy hier noch auf eine ‚Verwienerung‘ des Settings verzichtet – als einzige Figur dialektale Sprachfärbung aufweist. Sein Wesen ist karikaturesk verstärkt; schon im ersten Aufzug zeigt sich der alte Kämpe beim Hosenflicken und lässt wie so viele spätere Nestroy-Figuren ein widerspenstig-zynisches Phlegma erkennen. Sein running gag „wie man zu sagen pflegt“ wird um ein kontrapunktisches „Hm ja“ und idiolektale Aussprachegewohnheiten wie „tschuvial“ (für jovial) ergänzt. Eine schlüpfrige Deutung lässt nicht nur so manche Nebenbemerkung zu (z. B. „Meiner Seel, auf den Korporalen hätt’ ich selber a Schneid!“, Nestroy 2007, 39), selbst die militärischen Ehrenbezeigungen bekommen bei ihm eine anzügliche Note, die sich auch in Illustrationen belegen lässt (vgl. etwa eine Abbildung Sansquartiers mit phallisch emporgereckter Muskete und der Unterschrift: „Ich kann das mit[t]lere Glied nicht zum Stehen bringen“, Nestroy 2007, 53). Mit allzu ‚tschuvialen‘ Anbiederungen an den Gouverneur überschreitet er soziale und Anstandsgrenzen, während er sich seinem Vorgesetzten Briquet gegenüber bockig bis hin zur Subordination verhält. Wie sehr die Rolle in Nestroys Interpretation durch ihre groteske Körperlichkeit bestach, aber auch irritierte, ist in zahlreichen zeitgenössischen Rezensionen belegt (vgl. Nestroy 2007, 54–66). Bislang der Forschung entgangen ist ein Augenzeugenbericht, der die Faszination verdeutlicht, die seine Darstellungskunst auch für ein internationales Publikum hatte. Als die schottisch-französische Schriftstellerin Marie Blaze de Bury 1849/1850 die deutschen Lande bereiste, ließ sich die polyglotte Baronesse vom Wienerischen Esprit begeistern, der sich in seiner reinsten – und dialektalen – Form auf dem Theater zeigte. Der Zufall wollte es, dass sie Nestroy während ihres Aufenthalts auch als Sansquartier zu sehen bekam, zu jener Zeit also, als es über seine allzu freizügige Spielweise zu einem Theaterskandal gekommen war, da er bei der Neujahrsvorstellung 1850 den bekannten Kritiker Moritz Gottlieb Saphir von der Bühne herab verbal angriff. Saphir hatte bereits 1848 in seiner Zeitschrift Der Humorist ein Verbot des Stückes gefordert, da es ein „Abschaum aller Unflätigkeiten“ sei, ein „Schandstück, in welchem die schamloseste Frechheit und die ekelhafteste und stinkendste Zote zum Volke predigt“ (zit. n. Nestroy 2007, 50). Vielleicht hatte Nestroy die monierte Schlüpfrigkeit inzwischen gemäßigt, denn davon ist in Germania: Germany as it is nicht die Rede:
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But to return to the theatre of the Leopoldstadt: there is the first, the last, the Incomparable! The unique Nestroy! How I wish you could see him[.] Look at that most inimitable invalid as he sits upon his ricketty chair, more ricketty he than it. Look at the patch over the eye that is lost, and then look at the eye that wakes–how it shows you at once that it does the work of two! and that nose! that potation-telling, but most sagacious nose! Did you ever see clothes so hang, and slouch upon so unbendable a frame? so square, so angular, so perfectly drilled a man! You might have had news in the morning of the complete ruin of your West India property, and it would not prevent you from sharing in the general hilarity provoked by Nestroy in the Zwölf Mädel in Uniform.* I defy you to resist him, when, at the head of his little troop he goes through the exercise before the commandant of the fortress. Notwithstanding the rustiness of his limbs, and the weight of his monstrous old musket, he goes strictly through the whole, until at the word links geschaut (eyes left), he finds a sudden and natural obstacle to his discipline. You should see the one eye look at you then, and hear the accent with which he says „Na! that’s beyond my power!“ The words are nothing, but no one can resist them in his mouth. * „Twelve Maidens in Uniform,“ a popular piece. Nestroy, be it said, is as clever an author as he is an actor, and his vaudevilles are famous in Germany. He is the Austrian Henri Monnier, with infinitely more refinement. (Blaze de Bury 1851, 111–112)
Was Blaze de Bury, die sich während ihres Wien-Aufenthalts einen profunden Überblick über das allseits gerühmte Theaterleben vor Ort zu verschaffen suchte, in ihrem Bericht noch hervorhebt, ist die berühmte 7. Szene, in der Sansquartier mit einem Buch in der Hand verschiedene Theaterstücke kommentiert. Auch diese Einlage variierte Nestroy in seinen weit über 200 Auftritten als Sansquartier, nahm er doch neben Klassikern (nicht zuletzt auf Zuruf ) auch tagesaktuelle Stücke aufs Korn: But Nestroy’s masterpiece is the scene where he is alone, and occupied with a book of tragedies, and when he reads passages from them with his own comments. What work the one eye does then, to be sure! He reads scenes from Schiller’s Maid of Orleans, from Don Carlos, from Goethe’s Egmont, stopping at every other line to give forth some plaisanterie de circonstance; and now the public (the popular portion of it) becomes as curious to study as the actor. A communication establishes itself between Nestroy and the heroes of the pit and gallery, and the scene might last till the next day. Each time he attempts to rise or close his book, he is forced by clamours to resume his seat, and publish some fresh „comments“. Then comes the turn of the contemporaries, the authors of yesterday, the very piece perhaps, that is being played at the Burg for the second time; and I leave you to judge how they are handled! It is worse than Jules Janin’s Monday feuilleton, in the Journal des Débats. How he does maul them! and how the public enjoys it! (Blaze de Bury 1851, 112)
Ob diese literaturkritische Erweiterung in der Grazer Uraufführung vom 15. Dezember 1827 noch fehlte, wie in der Forschung aufgrund der erst später einsetzenden Überlieferung vermutet (vgl. Nestroy 2007, 45), sei dahingestellt. Immerhin wird in der ersten, sehr wohlwollenden Rezension ausdrücklich Sansquartiers
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„Neigung zur abenteuerlichen Lectüre“ (zit. n. Nestroy 2007, 55) hervorgehoben. Vielleicht äußerte er schon damals angesichts tragischer Verwicklungen sein bekanntes Bonmot: „ich glaub’ es wird noch ein wildes End nehmen“ (Nestroy 2007, 23). Auch im theatersatirischen Vorspiel Der Zettelträger Papp, das Nestroy eigens für die Uraufführung der Zwölf Mädchen in Uniform verfasst hatte, räsoniert er als Papp in ähnlicher Weise über Literatur. Im Mittelpunkt dieser Überlegungen steht die utopische Kraft der Komödie, der vorgestellten katastrophalen Entwicklung das Unausweichliche zu nehmen. So würde der Schmierenkomödiant Papp Schillers Tragödien kurzerhand umarbeiten, da sie „alle durch die Bank einen schlechten Schluß“ (Nestroy 1979, 98) hätten. Der Konflikt in der Jungfrau von Orleans ließe sich durch simple Umkostümierungen erledigen, „dann kann sich kein Mensch darüber aufhalten, wenn die Johanna d’Arc in der Grenadier-Mützen kommt“; in einer weiteren Bearbeitung „heirathet der Don Carlos die Prinzessin Eboli; […] Das Ganze schließt dann mit einem fröhlichen Auto-Kaffée“ (Nestroy 1979, 98). Wallenstein würde bei ihm „am Schluß in Wien als Courier“ einreiten mit dem „Extrablattl, daß die Schweden geschlagen sind. Das ist doch ganz ein anderer Ausgang!“; und sein verschwörungsloser Fiesco sollte mit einer „Privat-Komödie“ schließen: „So wird doch der Schluß komisch; da müssen die Stuck einen Effect machen“ (Nestroy 1979, 100). Ob dieser Effekt Schillers Forderung nach geistreicher Heiterkeit und Freiheit des Gemüts entsprechen würde, darf zumindest bezweifelt werden. Dass Nestroy als Zettelträger Papp bzw. in den theatersatirischen Glossen Sansquartiers Usancen des zeitgenössischen Unterhaltungstheaters und Erwartungshaltungen des Publikums persiflierte, ist nicht zu übersehen. Zugleich aber nimmt er damit auch seine eigene Schreibarbeit aufs Korn, die die Vorlagen großzügig umgestaltet und umdeutet (im Fall des Zettelträgers Papp Hermann Herzenkrons Heirat durch die Pferdekomödie). In Zwölf Mädchen in Uniform ist damit durch die vis comica des Bearbeiters, seine Formulierungskraft und Dialogführungskunst, seinen Ideenreichtum und satirischen Zugriff bereits eine ästhetische Aufwertung verbunden, ohne allerdings die Tendenz der Vorlage grundlegend zu ändern. Denn der harmlose Optimismus seiner Quelle bleibt intakt, sodass das utopische Versprechen des Happyends – die Lösbarkeit der vorgestellten Konflikte – wie bei jeder Posse die Gefahr birgt, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (man denke nur an das patriarchale Gebaren des Gouverneurs) zu affirmieren. Doch noch in Nestroys Grazer Zeit verliert sich diese heitere Akzeptanz des Bestehenden und weicht einem pessimistischeren Zug, der die gesellschaftlichen Gefährdungen konkretisiert und als virulent erfahrbar macht. Schon seine erste abendfüllende Adaption Des Wüstlings Radicalkur (1828, später unter dem Titel Dreyßig Jahre aus dem Leben eines Lumpen) weicht im sozialkritischen Ton von Johann Wilhelm Lemberts moralinsaurem Melodrama Dreyßig Jahre aus dem Leben eines Spielers ab, in dem Nestroy einige Monate zuvor den Billmann verkörpert
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hatte (vgl. Nestroy 2009, 624), auch wenn in der utopischen Gegenwelt des Geisterreichs ein glückliches Ende im Sinne der Besserungsstückautomatik noch möglich ist. Seinen endgültigen Durchbruch als Lustspielautor feierte Nestroy schließlich 1833 mit dem Sensationserfolg von Der böse Geist Lumpazivagabundus oder Das liederliche Kleeblatt, in dem nicht zufällig das Dystopische akzentuiert wird. Zu Beginn der 1830er Jahre war eine Cholera-Epidemie von Asien ausgehend über Europa gerollt, mit Tausenden Toten auch in Wien, wo Nestroy „aus dem choleraverseuchten Lemberg kommend“ (Nestroy 2005, 11) seit 1831 engagiert war. Die kaiserlichen Wohnsitze Schönbrunn und Belvedere waren zur Entstehungszeit der Vorstufe des Lumpazivagabundus (das Schubladenstück Genius, Schuster und Marqueur, 1832) vom Militär abgeschirmt, da aufgrund grassierender Arbeitslosigkeit nach den notwendigen Fabrikschließungen Unruhen drohten. Das staatliche Versagen in der Epidemie-Bekämpfung und der daraus resultierenden schweren Wirtschaftskrise konnte freilich in Zeiten der totalen Überwachung und des polizeistaatlichen Drucks auf der Bühne nicht direkt thematisiert werden. Was die Polizei- und Zensurhofstelle allerdings nicht unterbinden konnte, war die Dramatisierung eines apokalyptischen Bedrohungsszenarios, für das man das MetternichRegime nicht verantwortlich machen konnte, war doch die Schuld nicht in der politischen Führung hiernieden zu suchen, sondern in höheren Sphären. 1832 genoss ein astronomisches Phänomen höchste mediale Aufmerksamkeit: Gleich zwei Kometen (generell als Vorboten großer Unglücksfälle gefürchtet) sollten noch im selben Jahr am nächtlichen Himmel zu sehen sein, weitere waren in den folgenden Jahren zu erwarten. Diese unheilvolle Trias aus Seuche, Wirtschaftsmisere und bösem Omen ließ einen zwischen Fatalismus und Carpe-diem-Trotz schwankenden Zeitgeist entstehen, den Nestroy über die Kometenmetaphorik epochemachend literarisierte. „Die Welt steht auf kein’ Fall mehr lang“ (Nestroy 1993, 180) prognostiziert bekannterweise der versoffene Schustergeselle Kneipp (zensurbedingt dann Knieriem), einer der drei vazierenden Handwerksburschen, die aufgrund der Krise, aber auch aus eigenem Verschulden verarmt, durch einen Lotto-Gewinn von Fortuna die Chance erhalten, doch noch ihr Glück zu machen. Knieriem freilich (die einzige Rolle, die Nestroy öfter spielte als den Sansquartier) sieht angesichts eines weltzerstörenden Kometen wenig Anlass, sein Leben zu ändern, und auch der Schneidergesell Zwirn bringt lieber als Lebemann sein ganzes Geld durch. Nur der Tischler Leim findet in der Liebe zu Peppi sein privates Glück – doch wird ihr komödienkonstitutives Happyend in der rahmenden Zauberwelthandlung vom Schicksal Knieriems und Zwirns konterkariert, die nach ihrer anarchischen Verweigerung einer normativen Lebensführung „in demüthiger Stellung“ vorgeführt werden: „vor jedem steht EIN WEIB in altbürgerlicher Haustracht, welche eine Ruthe schwingt.“ (Nestroy 1993,
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132) Erst die Druckfassung bringt ein versöhnlicheres Ende mit drei liebenden Familienvätern und den biedermeierlichen Schlussversen: „Häuslich und arbeitsam – so nur allein / Kann man des Lebens sich dauernd erfreun.“ (Nestroy 1993, 187) Dass dieses systemkonforme Ende im Sinne eines Besserungsstücks dem Zensurdruck geschuldet war, ist weiteren Abweichungen der Originalhandschrift Nestroys zu entnehmen, die ein weitaus bedenklicheres Bild der Zeitumstände zeichnet, mit nur wenig kaschierten Hinweisen auf Elendsalkoholismus, Hunger, Bettelei, Gewalt und Ausbeutung im Handwerkermilieu (vgl. Nestroy 1993, 187). Hier greift Goethes eingangs erwähnte Überlegung zur Furcht als gattungskonstitutives Handlungselement, war das Mitfühlen mit den Protagonisten zur Zeit der Uraufführung doch nicht zuletzt ein Mitfürchten aufgrund tatsächlicher zeitgenössischer Missstände. Gerade auch der Vergleich mit der Vorlage – Karl Weisflogs Erzählung Das große Loos (vgl. Nestroy 1993, 222–255) – macht deutlich, wie dieser Wirklichkeitsbezug der Handlung durch die ‚Verwienerung‘ des Settings und die Individualisierung der Figuren in ihren kleinbürgerlichen Nöten akzentuiert wird. Nestroy schlägt damit den Weg von der belanglos-unterhaltenden Posse zum (kritischen) Volksstück ein, dessen dialektische Konzeption die Dekonstruktion tradierter Gattungsausformungen befördert (vgl. Neuhuber 2023). Um die Gefahr der unkritischen Affirmation zu vermeiden, lenkt er den Blick auf die Gemachtheit bzw. den Ausnahmestatus des Happyends in einem dystopischen Normalzustand der Gesellschaft, dem man sich allenfalls in der Liebeserfahrung entziehen kann. Indem (in der Originalfassung) auf ein allumfassendes glückliches Ende verzichtet wird, das die schwierigen Zeitumstände bloß kalmieren würde, negiert Nestroy nicht das utopische Potential der Komödie, sondern fokussiert es: Die Möglichkeit individuellen Glücks bleibt bestehen, doch nicht wegen, sondern trotz der gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese Ambivalenz des Utopischen angesichts virulenter Konflikte reaktiviert die kritische Kraft der Komödie, wie sie sich in vielen von Nestroys folgenden Stücken findet.
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Daniela Strigl
Stadtfluchten im Fin de Siècle Marie von Ebner-Eschenbachs und Peter Roseggers Schreibtischmenschen probieren das Leben auf dem Lande „Ganz glücklich, in der Gegenwart, hat sich noch kein Mensch gefühlt; er wäre denn betrunken gewesen.“ Arthur Schopenhauer
In der Ausgabe der Zeitschrift Heimgarten vom August 1898 erscheint ein mit „R.“ gezeichneter Essay mit dem Titel Rückkehr zur ländlichen Natur. (Antwort auf eine Zuschrift). In einem fiktiven offenen Brief an einen Anhänger des großstädtischen Lebens gibt der Autor eine persönliche Erklärung für seine Stadtflucht und einen Ratschlag zur Lebenskunst: Warum soll es nicht möglich sein, die besten Dinge unserer Zeit mit dem ländlichen Leben zu vereinigen, dem verhängnisvollen Übergewicht geistiger Bethätigung ein erkleckliches Maß an körperlicher Arbeit entgegenzustellen, warum ein Rückschritt, den stinkenden Stadtqualm mit frischer Landluft zu vertauschen, die Menschenmassen aus den Städten zu zerstreuen, aufs flache Land zu gesünderen Zuständen zu bringen? […] Gefiele Ihnen das nicht, auf einem wohleingerichteten Schlosse oder Landhause zu leben, durch unsere zahlreichen Verkehrsmittel beliebig verbunden mit der Stadt, unter Beihilfe unserer Erfindung mit allem Angenehmen versehen, das Naturleben zu beobachten, in Garten, Wald und Feld zeitweilig Hand anzulegen und sich in gesammelten, stimmungsvollen Stunden der Kunst und Literatur zu widmen? (Rosegger 1898, 836)
Es ist kaum überraschend der Herausgeber Peter Rosegger selbst, der dieses Plädoyer der vorletzten Folge seines Romans Erdsegen (1900) gleichsam mit auf den Weg gibt. Im Grunde entspricht es dem Programm, das Marie von Ebner-Eschenbach dem Titelhelden ihrer Erzählung Bertram Vogelweid verschreibt, der als prominenter Wiener Journalist und Autor von Feuilletonromanen an einem veritablen Burnout-Syndrom leidet. Bertram Vogel, wie sein bürgerlicher Name lautet, sucht sein Heil in der Flucht und verbringt seinen Urlaub in einem mährischen Tuskulum, wohin er sich in Bälde ganz zurückzuziehen gedenkt. Ebner-Eschenbach publizierte die Erzählung 1895/96 in Velhagens & Klasings Monatsheften in drei Fortsetzungen – eine Gemeinsamkeit mit ihrem Protagonisten; die Buchausgabe erschien, gemeinsam mit Rittmeister Brand, 1896 bei Paetel in Berlin (vgl. Polheim 1998, 159). Die Veröffentlichung von Roseggers Roman Erdsegen im Heimgarten startete im Oktober 1897, das Buch kam im Oktober 1899 bei Staackmann in Leipzig heraus, wurde allerdings wie Freuds Traumdeutung auf das https://doi.org/10.1515/9783111205809-004
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magische Jahr 1900 vordatiert. Die Geschichte vom Journalisten aus der Stadt, der sich im Zuge einer Wette ein Jahr als Bauernknecht verdingt, entwickelte sich rasch zu einem der meistverkauften Titel in Roseggers Œuvre (vgl. Wagner 1991, 353), während Bertram Vogelweid bis heute zu den weniger bekannten Werken EbnerEschenbachs zählt. Im Folgenden möchte ich, mit Fokus auf Bertram Vogelweid, einen Blick auf die in beiden Texten benannten Defizite des urbanen intellektuellen Lebens und die dagegen aufgebotene utopische Welt ländlicher Frische und Natürlichkeit werfen und einige Fragestellungen kursorisch beleuchten: Sind die Schreibtischmenschen, die ihren Posten verlassen, um auf dem Lande geistige Gesundung zu erfahren, die Verkörperung bloß individueller Unzufriedenheit, oder repräsentieren sie ein kollektives dystopisches Empfinden in den zivilisatorischen Zwängen der Großstadt? Vermitteln sie so, vor dem Hintergrund der Heimatkunstbewegung, eine konservativ-reaktionäre politische Forderung der Jahrhundertwende? Taugt die rurale Utopie für Ebner-Eschenbach und Rosegger überhaupt als Gegenentwurf, oder wird sie nicht in ihrer Beschwörung zugleich schon dekonstruiert? Und welcher Art sind die Unterschiede in der formalen und diskursiven Behandlung des Problems sowie in der Position der Schreibenden?
1 Der falsche Beruf Der Redakteur Bertram Vogel, Nom de plume: Vogelweid, ist, nach heutigen Begriffen, ein Starjournalist, eine Edelfeder, die sich auch auf literarischem Gebiet betätigt. Seinen Namen hat er sich mit dem Sonntagsfeuilleton gemacht, als Kritiker besorgt er außerdem den wöchentlichen „Ueberblick über die neueste Literatur“ (B, 7). Das ist jedoch bei weitem nicht alles, Vogel arbeitet buchstäblich Tag und Nacht und reflektiert das mithilfe des zeitgenössischen Klassenkampf-Vokabulars: Achtstundentag – lächerliches Wort! Sei du ein fleißiger Schriftsteller und Redakteur an der großen Zeitung: „Die junge Grenzenlose“ und sprich vom Achtstundentag. Habe allmorgendlich ein halbes Hundert Briefe zu verschlingen, ein paar Dutzend Manuskripte, Brochuren, Bücher durchzublättern, habe gewohnheitsmäßig zwei Romane unter der Feder und sprich vom Achtstundentag. Ein Roman „läuft“ in einem Volksblatt, der andere in einem Salonblatt, und: Fortsetzung folgt, heißt’s unerbittlich. Eher dürfte die Zeit in ihrem Laufe innehalten, als so ein Roman in dem seinen. (B, 7)
Von seiner literarischen Produktion hat Bertram keine hohe Meinung, billigt er sich doch „kein eigentliches wahres, nur ein Formtalent“ zu, die Form seiner „lustigen Feuilletons“ – in Wahrheit „lauter Zangengeburten“ – sei zwar noch immer„tadellos rein, aber der Inhalt bot nichts Neues mehr“ (B, 8). In diese Richtung zielt auch Karl
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Kraus’ Aphorismus: „Keinen Gedanken haben und ihn ausdrücken können – das macht den Journalisten.“ (Kraus 1909, 29) Seinen Reisebekanntschaften, Graf und Gräfin Neuhaus, sucht Bertram, zunächst inkognito, den Geschmack an diesem von ihnen geliebten „Gebräu“ und dessen Zutaten zu verderben: „Künstlichkeit – Karikatur der Kunst! und natürlich auch Routine.“ (B, 22) Seinen vierwöchigen Urlaub, den er auf jenem Landgut verbringen will, das sein Schulfreund Baron Weißenberg in seinem Auftrag gekauft hat, kann er sich nur gestatten, weil er vier Überblicke, vier Feuilletons und die letzten Folgen seiner Romane vorausproduziert hat. Am Beginn der Erzählung finden wir den Protagonisten im Kampf mit der Materie, er hat gerade „ein Pack Manuskripte in die ohnehin schon überfüllte Lade seines alten Ungeheuers von Schreibtisch gestopft“ und versucht vergeblich, sie zu schließen: „Auf einmal schien sie ein menschliches Gesicht anzunehmen, das einen großen viereckigen Rachen voll Bosheit gegen ihn aufsperrte.“ (B, 5) Als er die widerspenstige Schreibtischlade, die nun gar„wie ein Haifisch“ gähnt, „mit einem gewaltigen Ruck zuschieben“ will, speit „sie ihm, soviel sie von ihrem Inhalt nur herausbringen konnte, vor die Füße“ (B, 11). Wenn Bertrams „animierter Schreibtisch“ (Wozonig 2022) Assoziationen mit der „Tücke des Objekts“ auslöst, kommt das nicht von ungefähr: Ebner-Eschenbachs Erzählung lässt sich als parodistisches Echo auf Friedrich Theodor Vischers Roman Auch Einer (1878) lesen; Vischer wird denn auch, wie viele andere Autoren von Lichtenberg bis Tolstoi, in Bertram Vogelweid zitiert. Wie Vischers Protagonist A.E. ergeht Bertram sich in Wut- und Schimpfreden gegen die Objekte, die sich gegen ihn verschworen zu haben scheinen, wie jener leidet er an einer krankhaften Nervosität, die in einer Szene am Bahnhof, dem Kulminationspunkt urbaner Betriebsamkeit, ihren Höhepunkt erreicht. Sein Hausarzt nennt Bertram gar „hysterisch“ (B, 9). Um der komischen Wirkung des Kontrasts willen gehorcht die Lade der behutsamen Hand der Hausmeisterin sogleich. Bertram rächt sich an seinem Schreibtisch, indem er Frau Hundlgruber zum Abschied anweist, im Brandfalle alles zu retten – bis auf diesen: „den lassen Sie verbrennen, der ist assekurirt“ (B, 13). Dass die „Zerstörungsphantasie“ hier nicht nur der eigenen Produktion gilt, sondern der „Literatur insgesamt“ (Wozonig 2022), wird durch Bertrams Lebensplan unterstrichen: Noch ein Jahr will der Achtunddreißigjährige, der sich als „Tintenmenschen wider Willen“ sieht, im Frondienst als „literarischer Taglöhner“ ausharren (B, 25), dann hofft er genügend Geld angespart zu haben, um seinen Traum als Gutsbesitzer fern der Literatur verwirklichen zu können. Ein Jahr ist in Roseggers Briefroman Erdsegen der Zeitrahmen, der die Erzählgegenwart strukturiert. In weinseliger Laune hat Hans Trautendorffer, Wirtschaftsredakteur der „Kontinental-Post“, eine Wette gegen den Herausgeber angenommen: Wenn er es ein Jahr als Knecht „draußen auf dem Dorfe bei den Idealmenschen“ aushält (E, 20), zahlt dieser ihm zwanzigtausend Kronen, wenn
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nicht, muss er zwei Jahre ohne Gehalt Dienst tun. Anders als Bertram hat er nicht von einer neuen Existenz, von Broterwerb im Schweiße seines Angesichts geträumt, sondern bloß in nationalökonomischen Debatten die Partei des Bauernstands ergriffen und diesem auch eine sittliche Sonderstellung zuerkannt. Von seinem eigenen Stand hält auch Trautendorffer nicht viel, und auch er behauptet, wenn auch in spaßigem Ton, im falschen Beruf gelandet zu sein. „Sechs Jahre“ habe er „unter Feder und Schere emsig den Beruf verfehlt“ und hoffe ihn nun zu finden (E, 5). In den „Vertraulichen Sonntagsbriefen eines Bauernknechtes“, wie der Untertitel lautet, berichtet Trautendorffer zunächst seinen Kollegen in der Redaktion („ihr jammervollen Tintensklaven“, E, 7), dann seinem ehemaligen Schulfreund Alfred Simruck, Philosophieprofessor in der großen Stadt M. (wohl München), von einigen vergeblichen Versuchen, sich zu verdingen, und seinem letztendlichen Unterkommen am Bergbauernhof der Familie Adam. Sowohl in Roseggers Erziehungsroman als auch in Ebner-Eschenbachs ähnlich motiviertem „Porträt eines Autors am Rande des Nervenzusammenbruchs“ (Wozonig 2022) entdecken die Männer der Feder in sich eine durch Zivilisationsschutt verdeckte abstammungsmäßige Inklination zum bäuerlich-ländlichen Leben. „Es sollen ja ein paar Tropfen Bauernbluts in mir sein, auf Umwegen“ (E, 21), schreibt Trautendorffer seinem Freund. Sein Werdegang führte den Waisenknaben über die Lehre bei einem Schmied ins Gymnasium, von dort zum Militärdienst: „Durch all diese Wandlungen hat der junge Mann mit größter Geschicklichkeit den Weg verfehlt und trat also in die Gilde der Zeitungschreiber.“ (E, 139) Er nimmt sich als „zweispältigen Gesellen“ wahr, „dessen Neigungen mit dem Berufe gar nicht übereinstimmen wollten, so daß eine altmodische Weltanschauung mit der großstädtischen Journalistik sich beständig in den Haaren lag“ (E, 139). Auch Bertram Vogel spricht von seinem „sogenannten Berufe, der nicht der meine ist“, er bezeichnet sich als „Försterssohn und durch Natur, Geburt, Neigung zum Forstwesen bestimmt“ (B, 21). Das Erbteil seiner Mutter, einer klassisch gebildeten Professorentochter, kann er freilich nicht verleugnen. Nach dem Tod des Vaters kommt er als Halbwaise aufs Gymnasium. Die Lektüre vieler Gedichte und ein gewisses musikalisches Talent erzeugen in dem Burschen ein „Summen, das herauskommen mußte und herauskam in einer Form, die blinde Mutterliebe und meine unerfahrene Jugend für Poesie hielten. Es regnete nicht, es schüttete Gedichte. Die Pseudomuse kargte nicht“ (B, 30). Bertrams Verse werden gedruckt, das Honorar dafür ist mehr als willkommen, weil die Mutter sich heimlich mit Stundengeben und Näharbeiten aufgerieben hat. Als der junge Dichter auf Wunsch des Herausgebers das Genre wechselt und „pudelnärrische Feuilletons“ liefert (B, 33), hat er rasch Erfolg: „welch ein Glück für den Geldmacher, welch ein Unglück für den Künstler!“ (B, 34)
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2 Betrieb und Kritik Mit der Darstellung der negativen Erscheinungsformen des urbanen Lebens scheinen die beiden Aussteiger-Erzählungen der ab etwa 1890 boomenden Heimatkunstbewegung Tribut zu zollen, zu deren Galionsfigur Rosegger bereits mit seinem Bauernroman Jakob der Letzte (1887) wurde und die ihre Anhänger, wie schon die Zeitgenossen erkannten, vor allem unter jenen ohne Heimat fand, Angehörige des Mittelstands, Aufsteiger und Zukurzgekommene, mit einem heutigen Begriff: Modernisierungsverlierer (vgl. Wagner 1991, 352). Namentlich das großstädtische Pressewesen – in Erdsegen wird Wien nicht genannt –, Zeitungskritik und Kritiksucht überhaupt, aber auch der literarische Betrieb geraten in puncto Korruption, Gesinnungslosigkeit und Opportunismus ins Visier der Autoren. Roseggers Protagonist beklagt die Blattpolitik, die man gegen die eigene Überzeugung zu vertreten habe, und stellt dem „Zeitungmacher, der seinen papiernen Mantel fortwährend nach dem Winde drehen muß“, den Bauern als den „echtere[n] Menschen“ gegenüber (E, 20). Das „Kritisieren über die lumpige Welt“ am Stammtisch gilt als typisch für den journalistischen Beruf (E, 10). In seinem auf Einladung von Hermann Bahr verfassten Essay mit dem Titel Die Entdeckung der Provinz (im Nachdruck Kunst und Provinz, 1899) behauptet Rosegger rundheraus, das „geistige Durchschnittsleben großer Städte“ stehe „auf einer niedrigeren Stufe, als das kleinerer Kulturzentren der Provinz“: Vom Großstädter, insbesondere vom „Literaturmensch[en]“ könne man nämlich gar nicht verlangen, „daß er sich sammle, vertiefe und große Werke schaffe. Seine Sache ist es vielmehr zu karrnen, wenn Könige bauen, nämlich die anderwärtig entstandenen Meisterwerke der Literatur und Kunst zu kritisieren und womöglich zu demolieren“ (Rosegger 2018 [1899], 389–390). Die Figur des „unerbittlichen Kritikers“ (B, 10) Bertram Vogel hätte ihm diesbezüglich als Exempel dienen können. Kritik als intellektuelle Haltung ist für Rosegger ausdrücklich ein urbanes Phänomen: Es wird denn auch nirgends so viel über Schrifttum und Kunst gesprochen, geschrieben, als in großen Städten. Die Ansichten und Meinungen, wie schlecht es die Schaffenden gemacht haben und wie sie es nicht hätten machen sollen, bilden also auch den Hauptgesprächsstoff der geistigen Kreise. Kurz und gut: Auf der Provinz wird mehr geschaffen, in der Großstadt mehr kritisiert. (Rosegger 2018 [1899], 390)
Rosegger bedient damit das zeitgenössische und nachhaltig wirksame Stereotyp des negativ-‚zersetzenden‘ Geisteslebens in der Stadt. Die insbesondere beim völkisch-nationalen Flügel der Heimatkunstbewegung gängige Assoziation der (sozial) demokratischen Wortführer oder der liberalen Presse mit dem pejorativ verwendeten Attribut ‚jüdisch‘ findet sich bemerkenswerterweise weder in Erdsegen noch
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in Bertram Vogelweid (vgl. Strigl 2018, 414 u. 426). Ebner-Eschenbach konkretisiert in ihrer Erzählung aber sehr wohl Wesen und Unwesen der Kritik als eine Praxis der Klüngelei. Der Held klagt über die Anhänger und Freunde, die gelobt werden müssen, weil sie loben, die Gegner, die getadelt werden müssen, wenn auch der eignen Überzeugung zum Trotze. So lange gelobt und getadelt, bis aus all dem Müssen eine Art Wollen sich entwickelt und die aufgedrungene Meinung zur eignen wird, weil man um sie gelitten und Anfeindung erduldet hat. Aus dem fortwährenden Bekennen entsteht ein Glauben. Das Vorurtheil ist zur Religion geworden, das Amt hat den Menschen gefressen. (B, 10)
Die Stadt ist der Boden, auf dem Bertram sein bescheidenes literarisches Talent missdeutet, missbraucht und gewinnbringend ausgebeutet hat, seine Unaufrichtigkeit als Kritiker kann nicht als davon unabhängig gesehen werden, sie wirkt vielmehr darauf zurück. Ebner-Eschenbachs Beschreibung der Korruption im kritischen Gewerbe knüpft an Befunde an, wie sie etwa Honoré de Balzac schon in Glanz und Elend der Kurtisanen (1838) erstellt hat, wo er die Kurtisanen mit dem Kritiker „unserer Tage“ vergleicht: [E]r hat so viele Artikel verfasst, ohne zu sagen, was er denkt und dabei im Dienste seiner Freundschaften oder seiner Feindschaften so oft die Sache der Kunst verraten, dass er gar nichts mehr mag und trotzdem weiterhin Urteile fällt. Es braucht ein Wunder, damit dieser Schreiber ein Werk hervorbringt, genauso wie es für eine reine edle Liebe eine andere Art Wunder braucht, bis sie im Herzen einer Kurtisane erblüht. (Balzac 2022, 43)
So zeigt Bertram Vogel sich auch abgebrüht gegenüber den vielen, die sich dem Kritiker und Starautor „girrend wie die Tauben“ nähern, ihm Manuskripte schicken und eine Empfehlung erbitten, und, sobald er ihnen seinen Applaus versagt, zu „bösartigen Krähen“ werden (B, 10). In fortgesetzter Notwehr reagiert er auf derartige Ansinnen nicht mehr taktvoll-diplomatisch, sondern grob; so auch gegenüber einer gewissen Anna Mimona – von hinten gelesen eine Verballhornung von „anonym“ – die „albern genug ist, die Lyrik als Einnahmequelle anzusehen!“ (Nachweis? Was, nebenbei bemerkt, der junge Vogel genauso tat.) Mimona bekommt, ohne dass der Adressat ihre Gedichte gelesen hätte, den von zeittypischer männlicher Herablassung bestimmten Bescheid: „Kaufen Sie sich eine Nähmaschine.“ (B, 10) Daraufhin hört Bertram nichts mehr von ihr, doch die Gesetze der hier waltenden Lustspieldramaturgie bringen es mit sich, dass er diesen Rat noch bereuen wird. Trautendorffer wie Vogelweid artikulieren die Abneigung ihrer Schöpfer gegen die Presse ihrer Zeit gleichsam von innen, sie äußern Kritik an der Kritik als Selbstkritik. Einerseits verleiht diese Finte dem Tadel Legitimation, andererseits nimmt die humoristische Tönung beider Texte ihm wiederum einiges von seinem Gewicht. Ein Paradoxon besteht darin, dass das Feuilleton als Gattung von beiden
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Protagonisten mit Verachtung gestraft, die Erzählung selbst aber jeweils im Stil eines Feuilletons gehalten wird: Bertram verurteilt zwar die leichte Kost als Betrug an seinen Lesern, er denkt und äußert sich dabei jedoch feuilletonistisch, mit Sinn für das merkwürdige Detail, für Witz und Situationskomik; Hans schreibt seinem Redaktionskollegen „unterm Strich“ zwar, er möge von ihm keinesfalls ein „Feuilleton aus ländlichem Leben“ erwarten (E, 9), er liefert in seinen dem nämlichen Erscheinungsrhythmus gehorchenden „Sonntagsbriefen“ aber genau dieses. Rosegger ist mit der heterogenen Gestalt des Briefromans und der durchaus naturalistischen Motivik (vom unehelichen Kind bis zur Gewalt) ästhetisch avancierter, während Ebner-Eschenbach an der geschlossenen Erzählung festhält. Da wie dort wird Leichtes mit Schwerem narrativ verbunden, werden Dialekt und Akzent eingesetzt, dient der komische Bericht von den Fehlleistungen und Missgeschicken des frischgebackenen Knechts respektive Möchtegern-Landmannes auch zur Ausbalancierung der romantisch-sentimentalen Liebesverwicklungen. Die Kehrseite des Erfolgs ist ebenso wenig wie der Erfolg vom Pflaster der Großstadt zu trennen. Nur im urbanen Milieu konnte aus dem Glück der Arbeit für den Vielschreiber der Fluch des „Sichüberarbeitens“ werden, das den „Tod aller unserer Fähigkeiten“ bedeutet, „nicht der geistigen allein, auch der moralischen“ (B, 24). So ist in Bertrams Vorstellung das Sklavendasein der „widerlichen Tintenkleckserei“ (B, 9) an die Tätigkeit in der Haupt- und Residenzstadt gebunden und ein selbstbestimmtes Leben nur durch Stadtflucht denkbar. Sowohl Ebner-Eschenbach als auch Rosegger beschreiben, fern jenes poetischen Realismus, dem sie zugerechnet werden, in ihren satirisch-humoristischen Zeittexten den Literaturbetrieb ihrer Gegenwart ungeschönt als Markt, der sich von den kapitalistischen Mechanismen der Presselandschaft nicht wesentlich unterscheidet. Betrug im strafrechtlichen wie ideellen Sinn ist an der Tagesordnung. Trautendorffers Chef wird wortbrüchig, er geht in Konkurs und auf und davon. Den entgangenen Wettgewinn macht das Honorar, das der gewesene Bauernknecht für die Publikation seiner Briefe vom Verlag erhält, wieder wett. Die Baronin Weißenberg, Bertrams Gastgeberin im mährischen Obositz, wird vom Verleger Just Carolus zuerst zu einer als Aktienkauf getarnten Investition in seine Zeitschrift gedrängt und, als sie diese verweigert, mit der Publikation ihres Romanmanuskripts erpresst. Bertram Vogelweid erweist sich ihr gegenüber als ritterlich, doch der Name des Minnesängers passt nicht zu ihm als der „Verkörperung des literarischen Marktes und seiner beschleunigten Produktionsbedingungen unter dem Vorzeichen ästhetischer Umbrüche“ (Wozonig 2022).
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3 Utopie und Ernüchterung Das in der Heimatliteratur der Zeit beschworene Heilsversprechen des ländlichen Lebens (vgl. Rossbacher 1975) wird in Bertram Vogelweid quasi individualisiert. Bertrams ganz persönliche Utopie ist eine Existenz „in tiefster Zurückgezogenheit auf seinem eigenen Grund und Boden“: „Er wird sein Feld bebauen, sein Gärtlein pflegen, Bäume pflanzen, … Bäume! Was giebt es Schöneres in der Welt?“ (B, 9) Seinen Sommerurlaub in Obositz betrachtet er als Vorgeschmack auf das Glück, dem er von Anfang an vernünftig, das heißt „ohne zu große Erwartungen“ begegnen will: „Alles hat zwei Seiten, auch mein Besitz wird sie haben.“ (B, 25) Vorläufig freut Bertram sich auf die „absolut litteraturfreie Atmosphäre“ im Hause Weißenberg, auf vier Wochen ohne Bücher, ohne Manuskripte, ohne Zuschriften mit Bitten um Autographe. Dass alles ganz anders kommt, gibt der Erzählung ihre komische Dynamik. Es beginnt damit, dass Freund Hugo Bertram nicht nur ein modernes „Appartement mit Badezimmer und Badewannen, neu!“ zur Verfügung stellt, sondern auch ein prächtiges Arbeitszimmer mit Bücherkästen und einem „kolossale[n] Schreibtisch“ (B, 42) eingerichtet hat. Des Weiteren kommt ans Licht, dass es kein einziges Mitglied der Familie gibt, das nicht mehr oder weniger heimlich dichten würde, wobei jedes sich einer anderen Gattung befleißigt und alle das Urteil des gestrengen Kritikers erbitten: Der Vater hat ein derbes Lustspiel geschrieben, die Mutter einen schrecklichen Roman, Sohn Hagen, ein missmutig-überspannter Nietzscheaner, eine „elende“ Novelle mit der Spur eines „Ferkeltalents“ (B, 119) und seine von der Mutter vergötterte, ständig errötende Schwester Sieglinde erwartungsgemäß Gedichte, vor denen Bertram kapituliert: „Ernstlich prüfen – diese Lyrik? Anker werfen in einem Lavoir!“ (B, 90) Die einzige, die nicht schreibt, scheint Gertrud, die arme Verwandte, zu sein, in die der Gast sich sogleich verliebt. Doch sie entpuppt sich als jene Anna Mimona und hat das Dichten nach Bertrams rüder Antwort aufgegeben. Während das mangels Gebrauch eingetrocknete Tintenfass, an das der Gast sich mit Wonne erinnert, im Hause Weißenberg der Vergangenheit angehört, bewahrt Hans Trautendorffer das seine heimlich im Stall auf, wo er die Briefe schreibt. Als ein Missgeschick das Geheimnis aufdeckt, herrscht Verwunderung: „Tintenfluch im Bauernhause“ (E, 63), wo man auch die Druckerschwärze instinktiv ablehnt. Zu Bertrams Enttäuschung wegen der allgemeinen Literaturverseuchung gesellt sich die Ernüchterung, was den ländlichen Frieden betrifft. Die sozialen und nationalen Spannungen der späten Habsburgermonarchie haben auch die Provinz erreicht. Als Hauslehrer des unleidlichen Hagen fungiert der jungtschechische Fanatiker Dr. Meisenmann, ein Deutschenhasser und Antisemit. Die Landarbeiter auf Vogels eigenem Gut sind merklich empfänglich für nationalistische und sozialdemokratische
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Agitation. Der junge Graf Neuhaus, im Nachbarort zum Bürgermeister gewählt, weiß als Reformer darauf besser zu antworten als der altmodisch wirtschaftende Patriarch Weißenberg. Ob das zur Befriedung ausreicht, bleibt dahingestellt – der Baron berichtet von einem ehemaligen Schlossergesellen, der, einst ein „tüchtiger Arbeiter“, nun „die sozialistischen Lehren auf dem Lande“ (B, 133) verbreite: „wo seine Zunge nicht ausreicht, hilft er mit den Fäusten nach.“ (B, 134) Der unruhestiftende Schlosser als stehende Figur des Dorfromans hat seinen Auftritt auch in Erdsegen, wo Trautendorffer ihm vorwirft „auf eigene Faust Sozialkommunismus“ zu treiben und die „ehrliche Partei“ der Sozialdemokraten zu „schänden“ (E, 155). Nach der Besichtigung seines Gutes resümiert Bertram Vogel: „Schadenfeuer, Deutschenhaß, sozialistische Agitation, Wirbelsturm – das waren freilich Dinge, an die er nicht gedacht hatte, als er […] den Aufenthalt auf dem Lande für die reine Idylle hielt.“ (B, 134) In Ebner-Eschenbachs Tagebuch des Jahres 1893 finden sich nicht nur Ereignisse wie Feuer, Flut und nationalistische Unruhen, sondern auch Aufschlüsse über Menschen aus ihrer Umgebung, die Bertram Vogelweid als satirisch gefärbte Schlüsselerzählung lesbar machen (vgl. Ebner-Eschenbach 1995, 228– 229 u. 233). Das abgekürzte Personenverzeichnis in einem Notizheft verweist unter anderem auf dreierlei Vorbilder für den Baron, auf „B.“ (wohl Ebner-Eschenbachs Neffe Adolph, Spitzname „Butzi“) als Entsprechung für Hagen, auf „Pien.“ (Butzis Lehrer Pienicka als Entsprechung für „Meiselmann“ (sic)) und auf die Baronin: „I“ (Irma Palffy, die Schwester der Schwägerin), „nur noch mehr verlandelt“ (EbnerEschenbach o. D.). Der Titelheld hat sein Vorbild lediglich in Bezug auf sein „Äußeres“ in einem vermutlich als Hieronymus Graf Plaz (1850–1912) zu identifizierenden „Pl.“ Auch Bertrams Vorhaben, auf seinem Gut nach Tolstois Beispiel als Bauer zu arbeiten, „meinen Grund und Boden mit meinem Schweiße“ zu „düngen“ (B, 75), ist nicht wirklich von Erfolg gekrönt, zum einen, weil er sich mit der Sense – wie Trautendorffer mit der Säge – nicht allzu geschickt anstellt und bald ermattet, zum anderen, weil die Leute so, nach Meinung des tüchtigen Vorarbeiters, den Respekt vor ihm verlieren. Was sich hingegen für die Protagonisten beider Erzählungen erfüllt, ist der (von Bertram früh ausgesprochene) Wunsch nach der Frau, die für sie zur perfekten ruralen Idylle gehört. Beide sind, mit achtunddreißig (Bertram) beziehungsweise siebenunddreißig (Hans), für die damalige Zeit alte Junggesellen und schließlich späte Hochzeiter. Beide bewundern ihre Auserwählte wegen ihres natürlichen Wesens, beide müssen zunächst einen Lehrer als Konkurrenten aus dem Feld schlagen, Bertram den Doktor Meisenmann (in Pienicka steckt der Singvogel), Hans den Dorflehrer, der Barbel, die Tochter des Adamshauser, geschwängert und ihr die Ehe versprochen hat.
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Bei der Vermessung des Abstands zwischen Utopie und Wirklichkeit gehen Ebner-Eschenbach wie Rosegger mit Augenmaß und differenziertem Urteil vor. In Bertram Vogelweid liegt der Fokus nicht zuletzt auf Fragen des Künstlertums, dabei werden „Klischees der Geistes- und der Landarbeit gleichermaßen entlarvt“ (Wozonig 2022). Beide Aussteiger-Figuren werden von der jeweiligen Erzählinstanz nicht als gänzlich naiv denunziert, sie erfahren keine Bekehrung, durchlaufen jedoch bei der Verpflanzung in ein ihnen fremdes ‚Biotop‘ einen Erziehungsprozess in Sachen Herzensbildung. Das Gute ist in beiden bereits angelegt, die von Anfang an dem negativen Stereotyp des Journalisten weniger entsprechen, als sie selbst meinen. So übt Hans Trautendorffer Selbstkritik: „Gott, was war ich für ein Windhund in der Zeitungstube! Jetzt kommt es mählig über mich, ich müsse auch für was gut sein. Ich müsse, was da leidet und irrt nach meiner Möglichkeit zum Guten wenden.“ (E, 225) Ähnlich fasst auch Bertram Vogel seine über den Kunstberater hinausgehende Rolle als Mediator und Familien-Therapeut auf (sein schwieriger Schützling Hagen hat in Barbels Bruder Rocherl sein Pendant). Die Wandlung vom nervösen Leidenden zum Ratgeber und Tröster bemerkt Bertram nach der Versorgung des vom Pferd gestürzten Hagen: „Vor zwei Tagen erst hatte er sich krank und elend gefühlt und heute – eben erst sprach er zu seinem Gaste: Ich bin gesund.“ (B, 81) Am Ende verschwindet nicht nur sein misogyner Dünkel, sondern auch seine „Bitterkeit“ (B, 155). Das „Auslüften der staubigen Stadtseele“ (E, 159) führt in Erdsegen nicht zu dauerhafter Zufriedenheit, verspürt Hans doch bald, ganz gegen das Programm der Heimatkunst, „Heimweh nach Geistesleben“ (E, 159), überhaupt „nach – der Stadt“, mit „Gewissensbissen darüber, daß ich mich in Wort und Schrift so oft gegen die moderne Kultur versündiget habe“ (E, 331). Nun träumt er von Sparherd, Klavier und Federbett. Er, der „vor einem Jahre noch vom Bauerntum vielfach gesprochen habe wie ein Blinder von der Farbe“, nimmt für sich in Anspruch, es nicht mehr verklärt, sondern realistisch zu sehen, deshalb freilich nicht weniger zu lieben. Es sei in ihm „neben finsteren Gewalten“ eine „Kraft und eine Geistestätigkeit, von der die Hochmutspinsel im Frack keine Ahnung haben“ (E, 302). Liegt der Grund für die Wandlung des Protagonisten in Erdsegen eher in der Beispielwirkung bäuerlicher Genügsamkeit und Opferbereitschaft, so geht Bertrams Gesundung vor allem das Bewusstsein einer bisher nicht gekannten Autonomie voraus. Für Rosegger (vgl. Wagner 1991, 159) wie für Ebner-Eschenbach (vgl. Strigl 2019, 170) wird Arthur Schopenhauers in den Aphorismen zur Lebensweisheit (1851) vorgenommene Unterscheidung zwischen dem, „was einer ist“, dem, „was einer hat“, und dem, „was einer vorstellt“, relevant: „Was einer in sich ist und an sich selber hat, kurz die Persönlichkeit und deren Wert, ist das alleinige Unmittelbare zu seinem Glück und Wohlsein.“ (Schopenhauer 1906, 383) Die Entwicklung
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der Persönlichkeit ist für Ebner-Eschenbach Voraussetzung für die Kunst. So erklärt Bertram dem auf sein Talent pochenden Hagen: „Talent, mein Lieber, ist viel und – nichts. Was du daraus machst, und was dieses ‚Du‘ für ein Ding ist, darauf kommt’s an! Zuerst mache du dich, dann wirst du vielleicht etwas machen aus deinem Talent.“ (B, 119) Bertram Vogels Ausflug in sein künftiges Leben endet mit einem prolongierten Happy End: Gertrud hat ihm ihr Jawort gegeben, doch er nimmt von ihr und seinem Besitz Abschied auf ein Jahr, womit der allzu märchenhafte Schluss durch ein Element der Ungewissheit konterkariert wird. Man kann das Jahr der Trennung aber auch als Tribut an die Gattung des Erziehungsromans deuten (vgl. Polheim 1998, 204). Hans Trautendorffer heiratet seine Barbel ohne Aufschub, aber er will mit ihr nur im Sommer und Herbst auf dem Adamshof leben, das übrige Jahr im Tal oder gar in der Stadt, von den Erträgen seiner Feder. Die neue Ordnung nach dem Tod des Bauern – Viehzucht statt Kornanbau, alle bleiben am Hof – hat der Knecht sich ausgedacht, er macht aber nicht mit, was er selbstironisch kommentiert: „Den Bauernstand hat der Schelm so lange gelobt, bis er ausspringt.“ (E, 347) Der rustikalen Idylle steht nicht zuletzt das beträchtliche finanzielle Risiko entgegen, das mit dem Aussteigen aus dem urbanen Lebens- und Verdienstkontext einhergeht und das der Realismus beider Fallgeschichten nicht verschweigt. Das notwendige „Betriebskapital“ (B, 36) zur Existenzgründung lässt sich nur aus dem suspekt gewordenen oder gar verhassten intellektuellen Brotberuf lukrieren.
4 Biographie und Politik Ebner-Eschenbach wie Rosegger nehmen mit ihren utopischen Erzählungen vom Landleben – mit unterschiedlichem Nachdruck – politisch Stellung und sprechen zugleich von persönlichen Erfahrungen. Dabei sind ihre biographischen Voraussetzungen denkbar verschieden. Marie Baronin von Ebner-Eschenbach (1830–1916), geboren als Tochter des Grafen Dubsky auf Schloss Zdislawitz nahe Kremsier in Mähren, kennt das ländliche Milieu aus der Perspektive einer Schlossherrin mit lebhaftem Interesse an den Lebensbedingungen der ‚einfachen‘ Bevölkerung. Von klein auf verbrachte sie, die auch Tschechisch sprach, die Sommer in Zdislawitz und die Winter in Wien. Ursprünglich Sympathisantin der Revolution von 1848, vertrat sie in den 1890er Jahren einen gemäßigten Konservativismus, der den sozialen und nationalen Gärungsprozessen mit grundlegenden Reformen begegnen wollte. Deutscher wie tschechischer Extremismus war Ebner-Eschenbach ein Dorn im Auge (vgl. Wozonig 2021), der Erhalt der Monarchie oberstes Ziel. Peter Rosegger (1843– 1918) war vom Liberalen zum Konservativen einen ähnlichen Weg gegangen, hatte allerdings bereits Allianzen mit deutsch-nationalen Kreisen geschlossen (vgl. Wag-
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ner 1991, 349–352 u. 355). Auch Rosegger wollte die Reform, nicht die Revolution. Seinen Protest gegen die Zumutungen der Moderne verstand er selbst als Erbteil seiner bäuerlichen Herkunft. Dass er den (später zwangsverkauften) Bergbauernhof seiner Eltern im steirischen Alpl verlassen hatte, um mit der Unterstützung des Chefredakteurs der Tagespost und anderer Gönner in Graz sein Glück zu machen, verursachte dem Landflüchtling lebenslang Schuldgefühle (vgl. Wagner 1991, 92 u. 229). Der erfolgreiche Schriftsteller wohnte – wie von seinem Hans Trautendorffer ausgemalt – winters in der Stadt und sommers in seiner Villa in Krieglach im Mürztal. Mit Erdsegen verfolgt Rosegger das mit Jakob der Letzte begonnene, nun humoristisch verbrämte didaktische Projekt, die wirtschaftlichen Nöte des Bauernstands einem städtischen Publikum nahezubringen. Sein Held geht den umgekehrten Weg des Waldbauernbuben, von der Stadt aufs Land, aber dann wieder halb retour, weshalb Autor und Alter ego beim selben Lebensmodell landen. Was immer in dieser Ethnographie des Landvolks beschrieben wird, kennt Rosegger aus eigenem Erleben, von den Tücken der Pflugführung bis zum vernichtenden Hagelschlag. So genau der Text in der Diagnose der Probleme des Bergbauerntums ist, so widersprüchlich zeigt er sich bezüglich der vorgeschlagenen Therapien. Seine Gattungsbezeichnung „Ein Kulturroman“ sollte man ernstnehmen, auch wenn der Kulturroman in Gestalt eines Agrikulturromans erscheint: Die Kultur des Fin de Siècle ist hier, und sei es als Negativ, die eigentliche Hauptfigur, widergespiegelt in so manchen Diskursen, die dem Heimatkünstler nicht ins Konzept passen. Roseggers Prognose weist voraus in eine Epoche industrieller Landwirtschaft und neuer Landlust: „Das zwanzigste Jahrhundert, an dessen Schwelle wir stehen, wird ein Zusammenbruch und eine Wiedergeburt werden.“ (Rosegger 1898, 838) Sein abgedankter Bauernknecht in Erdsegen entwirft am Ende eine neue, ‚vernünftige‘ Utopie als Synthese von Bauerntum und aufgeklärter Welt: „dann wird ein Stadtmensch nicht erst um zwanzigtausend Kronen ein Jahr lang Landmann sein, dann tut er’s umsonst, oder zahlt noch etwas drauf, weil die Kultur mitten in der Natur draußen erst den ganzen Daseinsgenuß ermöglicht“ (E, 332). Auch Ebner-Eschenbachs Erzählung ist als (agrar)politische Intervention angelegt, sie propagiert Reformgeist und Demokratisierung aus der Perspektive des Gutsbesitzers und tadelt den Fanatismus jeder Art. Doch in erster Linie hat die Autorin Bertram Vogelweid als Satire des literarischen Betriebs gestaltet, die das Verhältnis von Künstlertum und Dilettantismus mit durchaus beißendem Witz beleuchtet – gleichsam als epische Illustration ihres Aphorismus: „Es gibt überall verschämte Arme, nur nicht in der Literatur.“ (Ebner-Eschenbach 2015, 110) Als berühmter Autor weiß Bertram Vogel als einziger in der Schar der Pseudoliteraten um sein unzureichendes Talent und handelt entsprechend. Auch EbnerEschenbachs Protagonist ist gleichwohl ein camoufliertes Selbstportrait. In ihm
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spiegelt sich die von den Aufregungen des städtischen Verkehrs und von der Zudringlichkeit ihrer Fans ebenso wie von jener vieler Möchtegerndichterinnen und -dichter überforderte Kultautorin der Jahrhundertwende. Ohne Zweifel ist den beiden kritischen Konservativen die Gestaltung ihres Stoffes in puncto Problemlage, Komplexität und Lösung ‚moderner‘ geraten, als es ihrem künstlerischen Programm entspricht. Die humoristisch-satirische Form erlaubt hier jedoch eine versöhnliche Fügung: Die angestrebte Utopie ist naturgemäß auf Erden nicht zu haben, doch so etwas wie Lebensglück ist den beiden Protagonisten immerhin vergönnt.
Literaturverzeichnis Balzac, Honoré de. Glanz und Elend der Kurtisanen. Hg. und übersetzt von Rudolf von Bitter. München: Hanser, 2022. Ebner-Eschenbach, Marie von. Tagebücher IV. 1890–1897. Kritische Texte und Deutungen. Hg. von Karl Konrad Polheim und Norbert Gabriel. Tübingen: Niemeyer, 1995. Ebner-Eschenbach, Marie von. Bertram Vogelweid. Eine Erzählung. Hg. von Edda Polheim. München: Langen Müller, 1998. (Im Text zitiert mit der Sigle B samt Seitenzahl.) Ebner-Eschenbach, Marie von. Leseausgabe in vier Bänden. Bd. 4. Erzählungen und Aphorismen. Hg. von Evelyne Polt-Heinzl, Daniela Strigl und Ulrike Tanzer. St. Pölten, Salzburg und Wien: Residenz, 2015. Kraus, Karl. „Aphorismen“. Die Fackel 281–282 (1909): 29. Polheim, Edda. „Nachwort“. Marie von Ebner-Eschenbach. Bertram Vogelweid. Eine Erzählung. Hg. von Edda Polheim. München: Langen Müller, 1998: 161–209. R. [i. e. Peter Rosegger]. „Rückkehr zur ländlichen Natur. (Antwort auf eine Zuschrift.)“ Heimgarten 22 (1898): 835–838. Rosegger, Peter. „Kunst und Provinz“ [1899]. Peter Rosegger. Ausgewählte Werke in vier Bänden. Hg. von Daniela Strigl und Karl Wagner. Bd. 4. Erdsegen. Vertrauliche Sonntagsbriefe eines Bauernknechtes. Ein Kulturroman. Hg. von Daniela Strigl. Graz und Wien: Styria, 2018: 387–391. Rosegger, Peter. Erdsegen [1900]. Peter Rosegger. Ausgewählte Werke in vier Bänden. Hg. von Daniela Strigl und Karl Wagner. Bd. 4. Erdsegen. Vertrauliche Sonntagsbriefe eines Bauernknechtes. Ein Kulturroman. Hg. von Daniela Strigl. Graz und Wien: Styria, 2018. (Im Text zitiert mit der Sigle E samt Seitenzahl.) Rossbacher, Karlheinz. Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende. Stuttgart: Ernst Klett, 1975. Schopenhauer, Arthur. Sämmtliche Werke in 5 Bänden. Bd. 4. Parerga und Paralipomena. Hg. von Hans Henning. Leipzig: Insel, 1906. Strigl, Daniela. „Der Traum vom geerdeten Leben. Nachwort.“ Peter Rosegger. Ausgewählte Werke in vier Bänden. Hg. von Daniela Strigl und Karl Wagner. Bd. 4. Erdsegen. Vertrauliche Sonntagsbriefe eines Bauernknechtes. Ein Kulturroman. Hg. von Daniela Strigl. Graz und Wien: Styria, 2018: 411– 435. Strigl, Daniela. Berühmtsein ist nichts. Marie von Ebner-Eschenbach. Eine Biographie. 2. überarb. Auflage. Salzburg und Wien: Residenz, 2019.
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Wagner, Karl. Die literarische Öffentlichkeit der Provinzliteratur. Der Volksschriftsteller Peter Rosegger. Tübingen: Max Niemayer, 1991. Wozonig, Karin S. „‚Ich bin Österreicher, ich habe ein Vater- und ein Mutterland …‘ Marie von Ebner-Eschenbachs Erzählung ‚Bertram Vogelweid‘ als Schauplatz deutsch-tschechischer Begegnungen“. Germanoslavica 32.1 (2021): 62–75. Wozonig, Karin S. „Ein Geistesarbeiter wird Gutsbesitzer. Marie von Ebner-Eschenbachs Erzählung Bertram Vogelweid“. Unveröffentlichter Vortrag im Rahmen des Symposiums „Autor:innenschaft und/als Arbeit: Zum Verhältnis von Praktiken, Inszenierung und Infrastrukturen um 1800, 1900 und 2000“, Universität Innsbruck, 2022.
Roland Innerhofer
Masse und Ohnmacht Alfred Kubins Die andere Seite – mit Elias Canetti gelesen
1 Widerruf des apokalyptischen Narrativs Auf den ersten Blick scheint Alfred Kubins „phantastischer Roman“ Die andere Seite (1909) dem Verlaufsmodell apokalyptischer Endzeitvisionen zu folgen. Doch weicht er in mehrfacher Hinsicht von theologisch geprägten Apokalypsevorstellungen ab: (1) Auf das Weltende folgt kein himmlisches Jerusalem, die Apokalypse ist nicht mehr Teil eines Heilsplans. (2) Der Kampf zwischen Gut und Böse, der in der biblischen Apokalypse zu einem endgültigen Sieg des Guten führt, bleibt bei Kubin unentschieden. Gut und Böse fließen ineinander und lassen sich nicht scharf voneinander trennen. Wenn bei Kubin im Unterschied zum traditionellen apokalyptischen Verlaufsmodell auf den Untergang keine Erlösung und kein Neubeginn folgt, so ist dieses fehlende Heilsgeschehen für moderne Apokalypse-Narrative kennzeichnend: sie sind kupiert (Vondung 2018). Doch selbst der Begriff der kupierten Apokalypse erweist sich bei näherer Betrachtung von Kubins Roman als unzutreffend. Denn der Untergang des Traumreichs ist ein zyklischer Prozess, der stets wieder von Neuem beginnt. Die Apokalypse wird bei Kubin zu einem Vorgang in Permanenz: „Die Apokalypse vollzieht sich zu jeder Zeit und unter unseren Blicken.“ (Brunn 2000, 255) Neben der Apokalypse liefert vordergründig die Gattung der Utopie und ihr Pendant, die Dystopie, ein für Kubins Roman prägendes Schema. Aspekte wie die gezielte Anwerbung von Bewohnern, die exotische Lokalisierung der Traumstadt und ihre Abgegrenztheit durch eine Umfassungsmauer verdanken sich dieser Gattungstradition. Trotz dieser Ähnlichkeiten verfehlt aber auch die Zuordnung zur Dystopie den Kern der Anderen Seite. Mögen die Vorgänge in Perle auch erschreckend sein, sie üben auf die Bewohner der Stadt unwiderstehliche Faszination aus und werden lustvoll erlebt. Im Epilog spricht der Icherzähler vom „Zauber der gewaltigen Schauspiele, die ich erlebte“ (Kubin 2009 [1909], 285). Er empfindet die Verführungskraft des Todes, der als „Aufgehen in Tierexistenzen“, als „bloße[s] bewußte[s] Hindämmern in Urelementen“ (Kubin 2009 [1909], 285) erscheint. Während die Rückkehr ins Leben in der Heilanstalt mit Eintönigkeit, „Untätigkeit und Langeweile“ (Kubin 2009 [1909], 285) verbunden ist, erfüllt ihn der Tod mit Ekstase und Entzückung: https://doi.org/10.1515/9783111205809-005
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[I]n den folgenden, vom Lichte des Mondes erfüllten Nächten gab ich mich ihm [dem Tod; Anm.] völlig hin, schaute ihn an, fühlte ihn und genoß überirdische Wonnen. Ich war der Vertraute dieses ungeheuersten Herren, dieses glorreichen Weltfürsten, dessen Schönheit unschilderbar ist für alle, die ihn fühlen. (Kubin 2009 [1909], 285–286)
Bei Kubin wird das apokalyptische und dystopische Geschehen weniger im Rahmen einer religiösen Mythologie als in dem moderner Psychologie gedeutet. Im Mittelpunkt stehen massenpsychologische Phänomene. Das zeigt sich schon in der narrativen Form des Romans. Denn der Icherzähler, der das Geschehen retrospektiv aus einer Nervenheilanstalt berichtet, ist nicht nur wenig vertrauenswürdig. Im dritten, mit „Die Hölle“ betitelten Kapitel löst sich selbst diese unzuverlässige in eine unverortbare Erzählperspektive auf. Der Untergang Perles, die Rückverwandlung von Kultur in Natur, wird als ein anonymer, kollektiv erlebter Vorgang dargestellt. Obwohl Elias Canettis Masse und Macht 1960, gut fünfzig Jahre nach Kubins Anderer Seite, erschienen ist, ermöglicht die anachronistische Gegenüberstellung eine überzeugende Lektüre der Bilder und Symbole, welche der Struktur von Kubins Roman zugrunde liegen. In Masse und Macht flossen die Erfahrungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs, der Zwischenkriegszeit mit ihren verfeindeten politischen Massenbewegungen, aber auch der Inflation als unkontrollierte negative Vermehrung ein. Eben diese historischen Erfahrungen, die Canetti in seinem philosophischen Hauptwerk verarbeitet, klingen in Kubins Roman an und zeigen seine weitblickende Brisanz und Tragweite.
2 Wucherung und Destrukturierung Massen treten im Prozess des Zerfalls der Traumstadt Perle zunächst in der Gestalt von Tiermassen in Erscheinung. Bei Canetti sind Tiere die Vorbilder für gerichtete Menschenmassen, die er als „Meuten“ (Canetti 1994 [1960], 147) bezeichnet. Im Roman sind allerdings die Machtverhältnisse umgekehrt: Nicht Menschen machen Jagd auf Tiere, sondern die Tiere bedrohen und bedrängen die Menschen, indem sie sich ungezügelt vermehren. Die wachsenden Massen von Tieren, seien es Wölfe oder Bären, Affen oder Büffel, Kamele oder wilde Esel, Tiger oder Alligatoren, Schlangen oder Skorpione, Ameisen oder Heuschrecken, Küchenschaben oder anderes Ungeziefer, übernehmen die Herrschaft. Sie zerstören die Pflanzen und leiten einen sich immer mehr beschleunigenden Zerfallsprozess ein. Canetti deutet die Konfrontation mit einer Unzahl von angreifenden Insekten als grundlegende Erfahrung des Menschen:
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Ob es Moskitos oder Läuse, Heuschrecken oder Ameisen waren, die Phantasie des Menschen war von jeher mit ihnen beschäftigt. Ihre Gefährlichkeit bestand immer in ihrer Massenhaftigkeit und in der Plötzlichkeit, mit der diese Massen auftraten. Vielfach sind sie zu Massensymbolen geworden. (Canetti 1994 [1960], 429–430)
Die ungezügelte Wucherung des organischen Lebens, das sich in der Flut der Tiere manifestiert, geht in Kubins Roman mit der Zersetzung anorganischer Körper und Strukturen einher. Die Auflösungsprozesse betreffen hauptsächlich die Baukörper und deren Einrichtungen. Kunstwerke und Kulturprodukte sind einem unerbittlichen natürlichen Verfall anheimgegeben: Das Unheimlichste war ein rätselhafter Prozeß, der mit dem Überhandnehmen der Tiere begann; unaufhaltsam und immer rascher zunahm und die Ursache zum völligen Untergang des Traumreiches wurde. – Die Zerbröckelung. – Sie ergriff alles. Die Bauten aus so verschiedenem Material, die in Jahren zusammengebrachten Gegenstände, all das, wofür der Herr sein Gold hingegeben hatte, war der Vernichtung geweiht. Gleichzeitig traten in allen Mauern Sprünge auf, wurde das Holz morsch, rostete alles Eisen, trübte sich das Glas, zerfielen die Stoffe. Kostbare Kunstschätze verfielen unwiderstehlich der innern Zerstörung, ohne daß sich ein zureichender Grund dafür angeben ließ. (Kubin 2009 [1909], 196)
Die „Zerbröckelung“, die in Perle alles erfasst, ist ein natürlicher, wenn auch in seinem Ausmaß und seiner Geschwindigkeit naturwissenschaftlich nicht erklärbarer Prozess. Während durch pflanzliche Wucherungen und animalische Invasionen die ungezähmte Natur überhandnimmt, zerbröckeln die Dinge. Geschichte wird zu Naturgeschichte, zum Mythos. Die Natur erobert im Eilschritt die Artefakte der Zivilisation zurück: Der Bahnhof etwa, Symbol des technischen Fortschritts und der Mobilität, versinkt im Sumpf. Die Destrukturierung sozialer, architektonischer und organischer Ordnungsprinzipien manifestiert sich zuletzt geologisch: Durch eine Verschiebung der Gesteinsschichten verschwindet die gesamte Stadt in der Landschaft. Der Destrukturierungsprozess annulliert nicht zuletzt die Grenzen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten. Eine geheimnisvolle Kraft besorgt bei Kubin das, was bei Canetti die Masse anstrebt. Über die „Zerstörungssucht“ (Canetti 1994 [1960], 18) der Masse schreibt er: Die Zerstörung gewöhnlicher Art […] ist nichts als ein Angriff auf alle Grenzen. Scheiben und Türen gehören zu Häusern, sie sind der empfindlichste Teil ihrer Abgrenzung gegen außen. Wenn Türen und Scheiben eingeschlagen sind, hat das Haus seine Individualität verloren. Jeder kann dann nach Herzenslust hinein, nichts und niemand darin ist geschützt. In diesen Häusern stecken aber gewöhnlich, so glaubt man, die Menschen, die sich von der Masse auszuschließen suchen, ihre Feinde. Nun ist, was sie abtrennt, zerstört. Zwischen ihnen und der Masse steht nichts. Sie können heraus und sich ihr anschließen. Man kann sie holen. (Canetti 1994 [1960], 19)
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Auch in Perle wird die Zerstörung der Häuser und privaten Rückzugsorte als Befreiung empfunden. Während die städtische Bausubstanz wie alle anderen Kulturgüter unaufhaltsam zerbröselt, vermodert und zerfällt, gleichen sich die Menschen immer mehr einander und den Tieren an. Die Angst vor den Tieren, vor der „Tierflut“ (Kubin 2009 [1909], 202), dient wiederum als Vorwand für Grenzüberschreitungen und sexuelle Exzesse: Den vielen gefährlichen Tieren gegenüber war es selbstverständlich, daß man sich zum gegenseitigen Schutze zusammentat. Unter diesem Vorwande schlief man in den Zelten gruppenweise unter einer Decke. Der schöne Name für diesen Schutzbrauch war „Gesellschaftsschlaf“. (Kubin 2009 [1909], 218)
Das Niederreißen der Grenzen der eigenen Person und Individualität ist auch für Canetti eine fundamentale Triebkraft der Masse. In ihr fühle sich der Mensch „erleichtert, da alle Distanzen aufgehoben sind, die ihn auf sich zurückwarfen und in sich verschlossen. Mit dem Abheben der Distanzlasten fühlt er sich frei, und seine Freiheit ist die Überschreitung dieser Grenzen“ (Canetti 1994 [1960], 19). Bei Kubin verschmilzt nicht nur der einzelne Mensch mit der Menschenmasse. In der sexuellen Vereinigung gleichen sich die Menschen den Tieren an: „[…] ein Meer von nacktem Fleisch wallte und zitterte. […] Ich konnte nicht umhin, etwas insektenhaft Groteskes in dem konvulsivischen Schauspiel zu finden.“ (Kubin 2009 [1909], 219) Menschen- und Tiermassen vermischen sich im Laufe des Geschehens immer mehr. Bezeichnend dafür ist das 15. Kapitel des dritten Teiles des Romans: Die Bevölkerung von Perle ist ohne ersichtlichen Grund in Aufruhr geraten. Der Aufstand soll vom Militär niedergeworfen werden. Als mehrere Eskadronen Kürassiere die Barrikaden der Aufständischen stürmen wollen, bricht unter den Pferden Panik aus. Sie kündigen das Dienstverhältnis zu ihren Reitern auf, jagen wild durch die Stadt und zertrampeln dabei sowohl die Soldaten als auch die Aufständischen. Pferde dienen auch bei Canetti als Beispiel einer unaufhaltsamen Fluchtmasse: „Es [das Pferd] hat immer in Herden gelebt, und diese Herden waren es gewohnt, zusammen zu fliehen. […] Massenflucht ist eines der häufigsten Erlebnisse und etwas wie eine natürliche Eigenschaft von Pferden geworden.“ (Canetti 1994 [1960], 373) In der Anderen Seite treffen Menschen- und Tiermassen aufeinander. Durch den Zusammenprall werden die Menschen in einen Menschenbrei verwandelt. Die Zerstörung von Körpern und Organismen geht mit der Zersetzung anorganischer Materialien einher. In einem Vorgang der Amalgamierung von Organischem und Anorganischem werden menschliche und tierische Lebewesen zu einer amorphen Masse:
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Von dem hochgelegenen französischen Viertel schob sich langsam wie ein Lavastrom eine Masse von Schmutz, Abfall, geronnenem Blut, Gedärmen, Tier- und Menschenkadavern. In diesem, in allen Farben der Verwesung schillernden Gemenge stapften die letzten Träumer herum. Sie lallten nur noch, […] sie hatten das Vermögen der Sprache verloren. Fast alle waren nackt, die robusteren Männer stießen die schwächeren Frauen in die Aasflut, wo sie, von den Ausdünstungen betäubt, untergingen. Der große Platz glich einer gigantischen Kloake, in der man mit letzter Kraft einander würgte und biß und schließlich verendete. (Kubin 2009 [1909], 258–260)
Eine formlose, mit den Dingen verschmolzene Menschenmasse reagiert auf den Untergang der Stadt mit ausgelassener Lust und enthemmter Gewalt – oder sie verfällt einer unbändigen, sich seuchenartig verbreitenden Schlafsucht, welche die Kardinalsünde der acedia evoziert. Hans Richard Brittnacher kommentiert diesen Vorgang wie folgt: Welche Erleichterung, als das Traumreich Perle mit all seinen monströsen Gestalten endlich untergeht, welches Aufatmen über die Flut, die verschlingt, was nicht sein darf, über die Schlammlawine, die begräbt, was sich am Leben versündigt hat, über den Rost, der zerfrisst, was nicht sein soll. (Brittnacher 2009, 213)
3 Depotenzierung Kubins Erzähler wundert sich über die „gute Laune“ (Kubin 2009 [1909], 197) der Traummenschen inmitten der Untergangsszenarien. Sie resultiert aus einem Gefühl der Erlösung von der Last der Individuation. Das Traumreich versinkt frohgemut in einer „graugelben Sintflut“ aus Urin und Fäkalien, in den „purpurnen heißen Fluten“ eines „Blutozeans“ (Kubin 2009 [1909], 270). Darin lösen sich Lebewesen auf, verlieren ihre Gestalten und nehmen neue an. Dieser Vorgang wird vom Erzähler ekstatisch mitvollzogen: „[I]ch hatte mich vergessen, ich selbst ging auf in diesen Welten, nahm Teil am Schmerz und an der Freude zahlloser Wesen.“ (Kubin 2009 [1909], 272) Die lustbesetzte Depotenzierung betrifft demzufolge das menschliche Kollektiv ebenso wie die Individuen. Mit dem Konzept souveräner Subjektivität wird nicht zuletzt die Position originärer Autorschaft verabschiedet. In Kubins Theorie des Traumerlebens und -schaffens ist die künstlerische Produktion ein von außen über das ohnmächtige Subjekt hereinbrechender Prozess (vgl. Kubin 1974, 41–45). An die Stelle des Ichs tritt eine unpersönliche, sich selbst hervorbringende Einbildungskraft, eine Serie gleitender Paradoxe. Dieser Erzählform entspricht auf der Ebene des Romangeschehens der ständige Wechsel von Formung und Entformung:
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Weiche knochenlose Massen entstanden […]. Es durchpeitschte sie ein intensiver Formungsdrang; prickelnd glühten Lichtpunkte auf, tausend Harmonien durchfuhren die Räume. Diese wieder flossen ineinander zu einem unteilbaren, wässerigen, leuchtenden Schleim. (Kubin 2009 [1909], 272)
Die Lust an der Selbstauflösung, die sich im Versinken der Bauwerke in einer Schlammflut spiegelt, gehört zu den stärksten individuellen und kollektiven emotionalen Energien, die Kubin in seinem Roman ins Bild setzt. Anders als die klassische Massenpsychologie eines Gustave Le Bon, der die Dynamik der Massenbewegung als gefährlichen Irrationalismus und Verantwortungslosigkeit negativ beurteilte (vgl. Le Bon 1950 [1895]), erkannte Canetti den Akt der Befreiung, der mit dem Verlust der Individualität einhergeht. Der Einzelne steht nicht mehr alleine einer feindlichen Umwelt gegenüber: Es ist die Masse allein, in der der Mensch von dieser Berührungsfurcht erlöst werden kann. Sie ist die einzige Situation, in der diese Furcht in ihr Gegenteil umschlägt. Es ist die dichte Masse, die man dazu braucht, in der Körper an Körper drängt, dicht auch in ihrer seelischen Verfassung, nämlich so, daß man nicht darauf achtet, wer es ist, der einen ‚bedrängt‘. Sobald man sich der Masse einmal überlassen hat, fürchtet man ihre Berührung nicht. In ihrem idealen Falle sind sich alle gleich. Keine Verschiedenheit zählt, nicht einmal die der Geschlechter. (Canetti 1994 [1960], 14)
Identität ist bei Canetti wie bei Kubin stets verkörpert. So gestaltet sich die Auflösung der diskreten Identitäten und ihre Verschmelzung geradezu als physikalisches Geschehen. Die Massenbildung ist ein psychophysikalischer Vorgang. Die psychischen Kräfte, die dabei zur Wirkung kommen, sind nicht vom Ich gesteuert, es sind die Kräfte des Kollektivs, denen die Individuen ausgeliefert sind und denen sie sich genussvoll ausliefern. Die Masse erscheint als ein einziger, mit Gefühlen und mit Willenskraft ausgestatteter Körper: Wer immer einen bedrängt, ist das gleiche wie man selbst. Man spürt ihn, wie man sich selber spürt. Es geht dann alles plötzlich wie innerhalb eines Körpers vor sich. Vielleicht ist dies einer der Gründe, warum die Masse sich so dicht zusammenzuziehen sucht: sie will die Berührungsfurcht der einzelnen so vollkommen wie nur möglich loswerden. Je heftiger die Menschen sich aneinanderpressen, um so sicherer fühlen sie, daß sie keine Angst voreinander haben. Dieses Umschlagen der Berührungsfurcht gehört zur Masse. Die Erleichterung, die sich in ihr verbreitet […], erreicht ein auffallend hohes Maß in ihrer größten Dichte. (Canetti 1994 [1960], 14)
Diese Ermächtigung durch massenhafte Zusammenballung erhält bei Kubin noch eine weitere Wendung, wenn in der Traumstadt besonders auch die Geistes- und Nervenkrankheiten massenhaft auftreten (vgl. Kubin 2009 [1909], 157). Es sind die Devianten, die Exkludierten, die sich in der Masse ihrer Fesseln und Hemmungen
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entledigen. So werden die apokalyptischen Plagen, an die die bacchantische Entfesselung der Triebe, die Orgien, Massenvergewaltigungen und blutigen Aufstände, der Kannibalismus, die Massenselbstmorde und das „Überhandnehmen der Tiere“ (Kubin 2009 [1909], 196) gemahnen, nicht nur als Strafe empfunden, sondern ebenso als Befreiungsschlag. Die Auflösung jeder Ordnung, die die Stadt in einen „gigantische[n] Müllhaufen“ (Kubin 2009 [1909], 279) verwandelt, wird orgiastisch genossen. Kubins Roman strebt jener „Entladung“ (Canetti 1994 [1960], 17) zu, in der nach Canetti alle Trennungen abgeworfen werden und sich die Menschen möglichst dicht zusammenballen: „Die Masse liebt Dichte. Sie kann nie zu dicht sein. Es soll nichts dazwischenstehen, es soll nichts zwischen sie fallen, es soll möglichst alles sie selber sein. Das Gefühl größter Dichte hat sie im Augenblick der Entladung.“ (Canetti 1994 [1960], 30) In der Aufhebung des Abstands zwischen den Körpern, in ihrer Zusammenballung werden die Unterschiede zwischen den Individuen und die sozialen Schranken aufgehoben. Die Tilgung der Ich-Grenzen, der Differenzen und Rangunterschiede zwischen den Individuen führt Canetti zufolge zu einer glücklichen Erleichterung. Die Einzelnen vereinen sich im Gefühl der Gleichheit: „Innerhalb der Masse herrscht Gleichheit. Sie ist absolut und indiskutabel und wird von der Masse selbst nie in Frage gestellt. Sie ist von so fundamentaler Wichtigkeit, daß man den Zustand der Masse geradezu als einen Zustand absoluter Gleichheit definieren könnte.“ (Canetti 1994 [1960], 30) Bei Canetti ist dieses Glücksgefühl der Gleichheit nur kurzzeitig und fragil. Jederzeit läuft die Masse Gefahr, zu zerfallen, sodass die Einzelnen wieder in den Zustand vor der Entladung zurückfallen und das Gleichheitsgefühl als temporäre Illusion wahrnehmen: Sie kehren in ihre separaten Häuser zurück, sie legen sich in ihre Betten schlafen. Sie behalten ihren Besitz, sie geben ihren Namen nicht auf. Sie verstoßen ihre Angehörigen nicht. Sie laufen ihrer Familie nicht davon. (Canetti 1994 [1960], 17)
4 Verschmelzung und Verwandlung Kubins Traumstadt kennt dagegen keinen Rückfall der Einzelnen in alte Verbindungen, in das, was Canetti „Massenkristalle“ (Canetti 1994 [1960], 84) nennt. Die tödliche Verschmelzung der Einzelnen in einer einzigen, undifferenzierten Masse scheint in Kubins Roman unwiderruflich. Erst im Epilog erwacht der Erzähler in einer Heilanstalt. Nur außerhalb des Traumreichs ist eine Rückkehr zu persönlicher Identität möglich. Im Traumreich lösen sich nicht nur die Individuen, sondern auch die geschlossenen Massen auf. Das manifestiert sich in der Zerbröckelung archi-
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tektonischer Strukturen, die die Masse begrenzen. Die räumlichen Begrenzungen, die Architektur als umbauter Raum bereitstellt, werden damit gesprengt. Canetti schreibt über das architektonische „Gefäß“ (Canetti 1994 [1960], 15) der geschlossenen Masse: Die Grenze verhindert eine regellose Zunahme, aber sie erschwert und verzögert auch das Auseinanderlaufen.Was an Wachstumsmöglichkeit so geopfert wird, das gewinnt die Masse an Beständigkeit. Sie ist vor äußeren Einwirkungen geschützt, die ihr feindlich und gefährlich sein könnten. Ganz besonders aber rechnet sie mit Wiederholung. Durch die Aussicht auf Wiederversammeln täuscht sich die Masse über ihre Auflösung jedesmal hinweg. Das Gebäude wartet auf sie, um ihretwillen ist es da, und solange es da ist, werden sie sich auf dieselbe Weise zusammenfinden. Der Raum gehört ihnen, auch wenn er Ebbe hat, und in seiner Leere gemahnt er an die Zeit der Flut. (Canetti 1994 [1960], 16)
Im Gegensatz zu dieser Festigkeit, Beständigkeit und Begrenztheit der Masse steht bei Kubin der Vorgang der Verwandlung. Sie resultiert aus der Verschmelzung von Menschen, Tieren und anorganischen Materialien. In Masse und Macht sind für diese Verschmelzungsprozesse die „Zwitterbildungen“ (Canetti 1994 [1960], 431) grundlegend und exemplarisch: „[E]in einzelnes Geschöpf tut sich mit einem einzelnen anderen zusammen, und es entsteht daraus etwas Neues, wie wenn sie übereinander photographiert worden wären.“ (Canetti 1994 [1960], 431) In der Anderen Seite sind es die konkurrierenden Führerfiguren Patera und Herkules Bell, die zu einer hybriden Einheit verschmelzen. Damit werden sie zum Symbol für eine coincidentia oppositorum, den Zusammenfall der Gegensätze. „Der Demiurg ist ein Zwitter“ (Kubin 2009 [1909], 286), lautet der letzte Satz des Romans. Zwar verkörpern die beiden Führerfiguren zwei konträre Herrschaftstypen – Patera, entsprechend dem Max Weber’schen Schema (1988 [1922]), den traditionalen, religiös legitimierten, und Bell den rationalen, ökonomisch-kapitalistisch legitimierten – doch bewegen sich Kubins Massen ohne Führung. Die beiden Führerfiguren symbolisieren stattdessen entgegengesetzte Prinzipien. Dabei setzt sich die von Patera verkörperte Todesverfallenheit der Traumstadt gegen den rationalistischen Fortschrittsglauben des Amerikaners durch. Unbewusste Triebe werden freigesetzt, Kontrolle und Steuerung ausgeschaltet. Gerade Bells Versuch, die Dekadenz durch rationalen Ordnungswillen zu überwinden, führt zu einer Beschleunigung des Untergangs. So gemahnt Bell, der auf einem schwarzen Pferd durch Perle prescht, an die Figur eines apokalyptischen Reiters. In der destruktiven Kraft des technischen Fortschritts enthüllt sich dieselbe atavistische Archaik, die eben dieser Fortschritt zu beseitigen vorgibt. Bell ist nichts anderes als Produkt und Maske Pateras.
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5 Schöpferische Zerstörung Für den zerstörerischen Impetus der Masse, die der Führung entbehren kann, bildet das Feuer ein zentrales Symbol. In der Anderen Seite brennen, von unsichtbarer Hand in Brand gesteckt, die Gebäude ab, die verschiedene Sektoren gesellschaftlicher Ordnung symbolisieren: das Archiv, die Post und die Bank (Kubin 2009 [1909], 258). Die Institutionen des kulturellen Gedächtnisses, der Kommunikation und der Ökonomie werden von den Flammen zerstört. Für Canetti ist das Feuer ein zentrales Massensymbol. Es verbindet im Nu, was zuvor getrennt war: Die isolierten und unterschiedlichen Gegenstände gehen alle in gleichen Flammen auf. Sie werden so sehr gleich, daß sie ganz verschwinden: Häuser, Geschöpfe, alles wird vom Feuer gepackt. Es ist ansteckend: Die Widerstandslosigkeit gegen Berührung durch die Flammen ist immer wieder erstaunlich. Je mehr Leben etwas in sich hat, um so weniger kann es sich dagegen wehren; nur das Lebloseste, die Mineralien, sind dem Feuer gewachsen. Seine rapide Rücksichtslosigkeit kennt keine Grenzen. Es will alles enthalten, es hat nie genug. (Canetti 1994 [1960], 87)
Das Feuer repräsentiert in der Anderen Seite wie in Masse und Macht neben der Feuchtigkeit, den Wasser- und Schlammfluten eine unaufhaltsame, unersättliche Zerstörungssucht. In diesem Zerstörungsvorgang werden alle Unterschiede und Einzelheiten zu einer einzigen, gleichförmigen Masse eingeebnet. Wenn im Roman die Verschmelzung zum obersten schöpferischen Prinzip erklärt wird, so zeigen sich die Amalgamierungen und Hybridisierungen als destruktive Vorgänge: Sie erinnern an den Gedanken der ‚schöpferischen Zerstörung‘, dessen Wurzeln im Hinduismus liegen und die von Kubins Zeitgenossen Joseph Schumpeter (vgl. Schumpeter 2005 [1942]) als Triebkraft kapitalistischer Wirtschaft und Innovation verstanden wurde. Doch Die andere Seite beschränkt sich, wie schon der Titel andeutet, auf die Darstellung zerstörerischer Dynamiken, ohne ihr produktives Potential zu entfalten. Der wiedererwachte, dem Traumreich entflohene Erzähler bleibt der Masse der Toten verbunden, er sehnt sich danach, in das Totenreich einzugehen und zu ihrem Teil zu werden: „An mein eigenes Sterben dachte ich wie an die größten, himmlischen Freuden, die ewige Hochzeitsnacht wäre dann angebrochen.“ (Kubin 2009 [1909], 286) Canetti spricht mit Blick auf Krieg und Epidemien vom „Haufen der Toten“ (Canetti 1994 [1960], 78). In einer Vision des Propheten Jeremias (25, 33) erscheint, so Canetti, „die ganze Erde als ein Feld verrottender Leichen“ (Canetti 1994 [1960], 78). Ein solches Bild malt auch das Ende der Anderen Seite aus – und danach sehnt sich der Erwachte im Epilog des Romans. Die Leichenhaufen und Massengräber sind bei
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Kubin Resultat von Bürgerkrieg, Massenselbstmord und Seuchen. Wie Canetti schreibt, mündet die Epidemie […] in die Masse der Sterbenden und Toten. […] Es ist oft nicht mehr möglich, die Opfer einzeln zu begraben, wie es sich gehört; in riesigen Massengräbern werden sie übereinandergelegt, Tausende von ihnen in einem Grabe beisammen. (Canetti 1994 [1960], 324)
In der Anderen Seite findet der Erzähler in einer verlassenen Polizeistation eine „Halle für plötzlich Verstorbene“ (Kubin 2009 [1909], 234). Hier stapeln sich Hunderte von Leichen: Sie steckten in grauen Getreidesäcken, die man am Hals zugebunden hatte, so daß nur die Köpfe herausschauten, meistens grünliche Gesichter, die lachten und die Zähne bleckten; – viele wie getrocknet mit staubigen, zerdrückten Augäpfeln – andere waren ganz eingepackt und mit aufgeklebten Adressen versehen. Die vorstehenden Knie und Ellbogen, sowie die Schädelrundungen, ließen die verrenkten Stellungen ahnen. (Kubin 2009 [1909], 234)
Die in grotesken Bildern evozierte Masse der Toten vermehrt sich in der Anderen Seite beständig auf Kosten der Masse der Lebenden. Die Handlungsmacht geht von der Kohorte der Lebenden immer mehr auf die der Toten über. Die Leichen werden am Ende des Romans „langsam in den Schoß der Erde eingesogen“ (Kubin 2009 [1909], 265). Die Erde verschlingt die Lebenden wie die Toten, um aus ihrem Innern neues, wenn auch nicht menschliches Leben hervorzubringen. Der Sumpf ist der Überlebende, der Sieger, während der Erzähler, mit den Auslassungszeichen die Paradoxie der eigenen Auflösung prospektiv in Szene setzend, Zeugnis ablegt vom Verschwinden und Verklingen der Menschenmasse: Es war, wie wenn sich eine Wasserschicht zwischen mich und die Dinge da in der Tiefe schieben wollte. Von oben senkten sich Nebel, undeutlich verschwimmend glänzte der Feuerherd, einige Male noch hörte ich Massengeschrei, ein langgedehntes: ohooo – ohooo – – – dann sah ich nichts mehr […]. (Kubin 2009 [1909], 265)
Literaturverzeichnis Brittnacher, Hans Richard. „Zeit der Apathie. Vergangenheit und Untergang in Alfred Kubins ‚Die andere Seite‘“. Faszination des Okkulten. Diskurse zum Übersinnlichen. Hg. von Wolfgang Müller-Funk und Christa Tuczay. Tübingen: Francke, 2008: 201–217. Brunn, Clemens. Der Ausweg ins Unwirkliche. Fiktion und Weltmodell bei Paul Scheerbart und Alfred Kubin. Oldenburg: Igel, 2010. Canetti, Elias. Masse und Macht. Elias Canetti. Werke. Bd. 3. München: Hanser, 1994 [1960]. Kubin, Alfred. Aus meinem Leben. Gesammelte Prosa mit 71 Abbildungen. Hg. von Ulrich Riemerschmidt. München: Edition Spangenberg, 1974.
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Kubin, Alfred. Die andere Seite. Ein phantastischer Roman. Mit 51 Zeichnungen und einem Plan. Mit einem Nachwort von Josef Winkler. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009 [1909]. Le Bon, Gustave. Psychologie der Massen. Mit einer Einführung von Helmut Dingeldey. Stuttgart: Kröner, 1950 [1895]. Schumpeter, Joseph A. Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Tübingen u. a.: Francke, 82005 [1942]. Vondung, Klaus. Apokalypse ohne Ende. Heidelberg: Winter, 2018. Weber, Max. „Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft“ [1922]. Max Weber. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hg. von Johannes Winkelmann. Tübingen: Mohr Siebeck, 71988: 475–488.
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Defensive Loyalität Arthur Schnitzler und der Krieg
1 Was seine Haltung im ersten Weltkrieg betrifft, genießt Arthur Schnitzler einen einwandfreien Ruf. Anders als viele seiner Schriftstellerkollegen hat er sich in der Tat niemals dazu hergegeben, lauthals patriotische Propaganda zu machen oder aber gegen die militärischen Widersacher publizistisch zu Felde zu ziehen (vgl. Belobratow 2017, 202–203). Selbst Karl Kraus, der Schnitzler seit Jahren satirisch aufs Korn genommen hatte, honorierte diese Disziplin bereits Ende 1917 mit einer vielzitierten Hommage: Sein Wort vom Sterben wog nicht schwer. Doch wo viel Feinde, ist viel Ehr: er hat in Schlachten und Siegen geschwiegen (Kraus 1989, 154)
– wobei noch dieser Anerkennung abzulesen ist, dass ein freiwilliges ‚Schweigen‘ für Kraus nicht so viel zählte wie sein eigenes, von der Zensur erzwungenes, das in der Fackel in Form getilgter Passagen und leerer Seiten wieder sprechend wurde. Immerhin: In den Letzten Tagen der Menschheit (1915–1922), in denen Kraus Hugo von Hofmannsthal, Hermann Bahr, Franz Werfel, Leopold von Andrian und viele andere, im Kriegsarchiv oder im Kriegspressequartier diensttuende Autoren vorkommen lässt, hat Schnitzler sehr zu Recht keinen Platz. Private Aufzeichnungen hat Schnitzler allerdings gemacht. Schon am 8. September 1914 heißt es in seinem Tagebuch: „Schreibe allerlei Bemerkungen zu dem Thema – ‚Und einmal wird der Friede wiederkommen‘.“ An eine Veröffentlichung der ab 1915 immer vehementeren Plädoyers gegen die Kriegsführung war freilich nicht zu denken; selbst seiner Frau und seinem damals achtzehnjährigen Sohn Heinrich las er erst nach Kriegsende aus diesen Blättern vor ([4.1.1919], Schnitzler 1985, 216). Zwanzig Jahre später, im Angesicht eines neuen Krieges, gab Heinrich Schnitzler, bereits in die Vereinigten Staaten emigriert, unter dem Titel Über Krieg und Frieden eine Auswahl aus dem nachgelassenen Konvolut beim Bermann-Fischer Verlag in Stockholm heraus. Aus dieser unheimlich aktuellen Publikation ging Arthur Schnitzlers ganzes Entsetzen über die Grauenhaftigkeit des Krieges und die ihn https://doi.org/10.1515/9783111205809-006
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erzeugende und von ihm erzeugte Phrase hervor. Parallelen zu Kraus’ Antikriegspolemik lassen sich durchaus sehen (vgl. Welzig 1983, 431; Le Rider 2016, 73): „Große Zeit, das ist diejenige, in der die Entdeckungen und Erfindungen, die in der kleinen Zeit gemacht worden sind, zur Tötung und Verstümmelung von Menschen sowie zur Vernichtung der in der kleinen Zeit entstandenen Werte und Werke ausgenützt werden.“ (Schnitzler 1939, 26) Zur nun wieder bevorstehenden „sinnlosen Menschenschlächterei“ (Schnitzler 1939, 38) wurde Schnitzlers Stimme als Kriegsgegner laut. Die Edition seines Sohnes festigte aber auch sein Bild als Pazifist der ersten Stunde. Und das ist Schnitzler nicht gewesen. Aus freilich sehr verständlichen Gründen hat Heinrich Schnitzler die Ausgabe mit Aufzeichnungen aus dem Jahr 1915 beginnen und alles fortgelassen, was diesen vorausging. Erst als die ganze Sammlung aus dem Nachlass unter dem Titel Und einmal wird der Friede wiederkommen 1967 von Robert O. Weiss im Rahmen des Bandes Aphorismen und Betrachtungen vorgelegt wurde (vgl. Schnitzler 1967, 187–230), konnte man lesen, dass Schnitzler im Oktober 1914 ein Bekenntnis zur „unerbittlichen Notwendigkeit“ des Krieges abgelegt und sogar vermutet hatte, selbst Bertha von Suttner würde angesichts der „ungeheueren Ereignisse“ der Gegenwart „irgend etwas im Herzen spüren, das der Andacht zum mindesten verwandt ist“ (Schnitzler 1967, 188). Und mit dem Einblick in das 1983 und 1985 publizierte Tagebuch aus den Kriegsjahren kam auch eine sehr fair abwägende Studie zu dem Schluss: „Schnitzler’s initial reaction shows that he was subject to the war fervor that pervaded Europe in 1914“ (Roberts 1989, 72). In einem Brief an Theodor Tagger vom 11. Dezember 1916 scheint Schnitzler auch ironisch darauf hinzudeuten: Ihre liebenswürdige Annahme, ich wäre einer von den wenigen deutschen Dichtern, die in diesem Krieg nicht den Kopf verloren hätten, bescheinige ich mit gebührender Bescheidenheit, und gebe zu bedenken, ob Sie mit Ihrer Anerkennung nicht am Ende voreilig gewesen sind. Sie wissen ja nur, daß ich nichts Dummes habe drucken lassen, aber wer sagt Ihnen, daß ich dergleichen nicht geschrieben oder zum mindesten gedacht habe? (Schnitzler 1984, 117)
Dass sich Schnitzlers ursprüngliche Haltung schon Ende 1914 radikal änderte, sei keineswegs bestritten. Dennoch gab es, auch über diesen Zeitpunkt hinaus, zumindest ein Zugeständnis an die Öffentlichkeit, in Form eines Selbstzitats, das durchaus mehrdeutig verstanden werden konnte. Zugunsten der Kriegsfürsorge und anderer wohltätiger Zwecke hielt Schnitzler in diesen Jahren verschiedene Lesungen aus seinen Werken.Von Dezember 1914 bis Dezember 1917 schloss er dabei sein Programm jedes Mal mit den letzten Versen aus dem Schauspiel Der Schleier der Beatrice (1900) ab. Diese Passage überließ Schnitzler auch der Publizistin Clara Körber für eine Anthologie mit dem Titel Österreichs Geist und Schwert (vgl. Körber [1915], 10–11) – eine Sammlung übrigens, die, ganz zeitgemäß, ‚keine Parteien mehr‘
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kannte und Texte von Altenberg und Zweig ebenso enthielt wie solche von Enrica Handel-Mazzetti und Karl Hans Strobl. Das Drama, eine Konzession Schnitzlers an den Renaissancismus des Fin de siècle, spielt Anfang des 16. Jahrhunderts in Bologna und endet mit der Aussicht auf eine bevorstehende Entscheidungsschlacht. In der – von Schnitzler leicht kompilierten – Passage spricht der kriegführende Herzog, und zwar an der Leiche eines auf tragische Weise zu Tode gekommenen Poeten. Nun stellt sein Monolog zwar die Dichtkunst an Rang und Dauer über das Waffenhandwerk: „Ein Lied von dem, verweht’s der Zufall nicht – / Ist ew’ger als der kühnste unsrer Siege, / Der wieder nur Vergängliches erringt!“ (Körber [1915], 10) Andererseits bildet das eigentliche Finale eine lebensphilosophisch-vitalistisch getönte Beschwörung kämpferischer Zuversicht: „[…] wir gehn / Von allen Abenteuern, die im Dunkel warten, / Dem neusten und gewaltigsten entgegen! / Glocken von allen Türmen […] / Ich freue mich des guten Kampfs, der kommt […]. / Das Leben ist die Fülle, nicht die Zeit, / Und noch der nächste Augenblick ist weit!“ (Körber [1915], 11) Im Kontext einer Kriegslesung oder -lektüre konnte die Stelle einerseits ein (poetologisches) Trostpotenzial entfalten – der Dichter sei „ein Bote, ausgesandt / Das Grüßen einer hingeschwundnen Welt / Lebendig jeder neuen zu bestellen / Und hinzuwandeln über allen Tod“ –, sie gilt aber eben auch der ‚guten‘ Kriegshandlung, die, so buchstäblich das ‚heroic couplet‘, das ‚Leben‘ gerade in der Todesgefahr erhöht und entzeitlicht. Schnitzler traf die Wahl dieses Textes nicht zufällig: Im Oktober 1914 hatte ihn die Nachricht erreicht, dass der befreundete Schauspieler Bernhard von Jacobi in Frankreich gefallen sei. Dieser habe auf seiner „erste[n] Feldpostkarte“ davon geschrieben, „wie er nun den Schlussvers der Beatrice verstehe!“ ([30.10.1914], Schnitzler 1983, 147) In welche Richtung sein Verständnis der hochambivalenten Botschaft tendierte, ist nicht mehr mitgeteilt.
2 Ambivalenzen, Mehrdeutigkeiten, Widersprüche also kennzeichnen Schnitzlers Haltung auch über 1914 hinaus; nirgendwo findet sich ein Bekenntnis zum Pazifismus um jeden Preis. Die komplexe Gemengelage seiner Einstellungen geht darauf zurück, dass seine identitätsverbürgenden Loyalitäten gefährdet wurden. Unmittelbar bedroht war er nicht durch die realen Gegebenheiten des Kampfgeschehens: Da weder für ihn selbst noch für seinen 1901 geborenen Sohn eine Einberufung absehbar, da er in seiner finanziell privilegierten Lage von den Versorgungsengpässen an Nahrungsmitteln und Heizmaterial kaum betroffen war, erlebte er den Krieg überwiegend als „erzählte[n]“, „zitierte[n]“ (Welzig 1981, 102), jedenfalls medial vermittelten (vgl. Ballhausen und Krenn 2008). Ins Kreuzfeuer gerieten hin-
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gegen Aspekte seines Selbstverständnisses als österreichischer, jüdischer und deutschsprachiger Schriftsteller. Betroffen war zunächst seine Position als Autor. In der weisen Voraussicht, dass Schnitzler, dem wegen seiner die k. u. k. Armee ‚verunglimpfenden‘ Novelle Lieutenant Gustl (1900) der Offiziersrang aberkannt worden war, in Zeiten des aufbrausenden Patriotismus kaum als vaterländischer Dichter gefeiert werden würde, veröffentlichte der Freud-Schüler Theodor Reik schon im September 1914 im Berliner Tageblatt einen vorbeugenden Aufsatz, in dem er Schnitzlers Werk militaristisch zurechtbürstete (vgl. Reik 1914). Reik, dessen psychoanalytische Monographie zu Schnitzler im Jahr zuvor erschienen war (vgl. Reik [1913]), bescheinigte dessen Protagonisten – übrigens mit dem einschlägigen Verweis auf den Schleier der Beatrice – eine „durch die Todesaussicht vertieft[e] Lebenslust“ (Reik 1914) und konstatierte den ungezügelten Kampfesmut seiner Offiziers- und Soldatenfiguren. Damit belegte er nicht nur die Tüchtigkeit österreichischer Truppen „in diesen Tagen“, sondern zuletzt auch die militärische Tauglichkeit des so präsentierten Schriftstellers: Auch Schnitzler sei „ein tapferer Soldat in diesem großen Kampfe“ (Reik 1914). Schnitzler war durchaus angetan und fand den Artikel „sehr hübsch“ ([13.9.1914], Schnitzler 1983, 135). – Genützt hat solche propagandistische Umfärbung nichts: Wie vorhersehbar, verstärkten sich die Angriffe gegen Schnitzler, der, wie es jetzt hieß, der ‚großen Zeit‘ sittlich nicht gewachsen erscheine (vgl. Roberts 1986, 217–219). Der sehr unkriegerische Held der im Jahr 1809 spielenden ‚dramatischen Historie‘ Der junge Medardus (1910) wurde als defaitistisch empfunden (vgl. Müller-Seidel 2000, 20–22); auf die im Oktober 1914 am Berliner Lessingtheater gezeigte Inszenierung reagierte die Kritik mit „theils böswilligen Verständnislosigkeiten“ ([30.10.1914], Schnitzler 1983, 147). Die im Oktober 1915 zeitgleich stattfindenden Wiener, Darmstädter und Frankfurter Uraufführungen des Einakterzyklus Komödie der Worte, der satirische Kritik gerade an der Phrase übte, lösten dann böse Polemiken aus. In der Kölnischen Zeitung hieß es: Glaubt ernstlich jemand in Deutschland heute noch an die Überlegenheit jener sogenannten österreichischen Kultur, […] oder sind nicht gerade jene letzten Dokumente eines wienerischen Literatentums und jener viel zu sehr künstlich gezüchteten Geschmäcklerkunst Beweis dafür, daß unser trefflicher Bundesbruder in diesem Weltkrieg auch einer innern Reformation an Haupt und Gliedern bedarf, um fortan im Geiste einer neuen deutschen Weltkultur ernsthaft bestehen zu können. (Anonym 1915)
Immer wieder legt Schnitzlers Tagebuch Zeugnis von seiner Erbitterung ab, am Weltkrieg gemessen und als zu leicht befunden zu werden. In Hinblick auf die Verfasser pathetisch-nationaler Historiendramen schrieb er schon 1914: „Glauben die Leute wirklich, dass, weil die Leute sich jetzt gegenseitig morden, – Wildenbruch eher ein Dichter ist, als ich?“ ([30.10.1914], Schnitzler 1983, 147) Im Lauf des Krieges verstärkten sich die Anfeindungen; 1916 zitierte die Reichspost mit großer Genug-
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tuung betreffende Anwürfe, so einen Artikel des Grazer Literaten Franz Goldhann, in dem die „Schnitzler-Schule“ beschuldigt wird, „das große Unheil über die Welt gebracht“ zu haben. Diesem „verkappte[n] Gelichter, das […] im sicheren Hinterlande sein Unwesen treibt, dessen schleichendes Gift nicht weniger Schaden anstiftet als die vernichtenden Bomben des erklärten Feindes“, müsse nun auch der Krieg erklärt werden (Anonym 1916a). Wenig später folgte die Wiedergabe eines Beitrags des völkischen Publizisten Friedrich Lienhard, der sich „jetzt in bitterblutiger Zeit unserer schwersten Kämpfe“ gegen Schnitzlers „Buhlereien“ wandte: „Wenn sich das deutsche Volk in seinen gesunden, rein und edel empfindenden Teilen nicht mit ganzer Wucht dieser Brünstler erwehrt, wird unser Reich zwar nicht zerschellen, dank unsrer Tapfern und ihres grunddeutschen Generalstabes, aber verfaulen, weil die Bazillen zu mächtig werden“ (Anonym 1916b) – wie Schnitzler im Tagebuch vermerkte, „ein Beispiel für Dutzende“ ([20.6.1916], Schnitzler 1983, 296). Nicht nur sei sein Werk der ‚heldischen‘ Zeit nicht gewachsen, es sei – als ‚Gift‘, ‚Bombe‘, ‚Bazillus‘ – auch eine feindliche Waffe; Schnitzlers Position als zeitgenössischer Autor wurde zusehends unterminiert. Dass nach der Premiere der Journalistensatire Fink und Fliederbusch im November 1917 von einem „Machwerk“ die Rede war, das Gesinnungslosigkeit verherrliche und „jede positive Weltanschauung“ verspotte (B. [= Hans Brecka?] 1917), erscheint nur mehr wie eine bereits reflexhafte Reaktion der in Stellung gebrachten klerikalen und völkischen Presse. Selbstverständlich waren diese Polemiken antisemitisch grundiert. Mit Bestürzung hatte Schnitzler Berichte von judenfeindlichem Verhalten bei Hof, Behörden und Heeresleitung verfolgt (vgl. Miklin 1987, 61–66; Riedmann 2002, 39–60), zumal da während der ersten Phase allgemeinen patriotischen Hochgefühls noch die utopische Idee aufgetaucht war, der Krieg würde „irgend etwas wie eine Lösung der Judenfrage“ ([20.9.1914], Schnitzler 1983, 137) mit sich bringen; so versprach sich etwa Jakob Wassermann zumindest „ein Aufhören des Antisemitismus“ ([20.9.1914], Schnitzler 1983, 137). Spätestens mit dem Eintreffen jüdischer Flüchtlinge aus Galizien trat das Gegenteil ein. In einer extrem widersprüchlichen Aufzeichnung vom Januar 1915 – die Heinrich Schnitzler aus seiner Ausgabe fortgelassen hat – schreibt Schnitzler, es habe ihn „als Juden“ im Lauf der Jahre, „eher ergrimmt und angeekelt als kummervoll“, immer wieder zu der Frage gedrängt: „Warum kennt ihr uns nicht? Warum wollt ihr uns nicht kennen?“ Nun erlebe er „als Deutscher, als Angehöriger des deutschen Volkes, mit Millionen anderer Deutschen“, dass sich die Frage wiederhole: Das Ressentiment der Völker richte sich gegen „das große Deutschland […], in dem ich, ein Abkömmling jüdischer Rasse, ein Österreicher, mich jederzeit als dazugehörig, gleichberechtigt und mitverantwortlich gefühlt habe“. Nun werde es vielleicht für „die Deutschen“ verständlich, „was in all den Jahrzehnten in den Juden vorgegangen ist“ (Schnitzler 1967, 198–199). Die Kon-
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struktion einer Gemeinsamkeit als Hass-Objekt – die „Ähnlichkeit der Schicksale“ ([20.10.1917], Schnitzler 1985, 84) von Juden und Deutschen hat Schnitzler auch weiter beschäftigt – verdeckt eigenes Leid ebenso wie den Umstand, dass diese Gemeinsamkeit umgekehrt keineswegs gefühlt wird: Gerade die jüdische Loyalität an der Front wurde geleugnet, im antisemitischen Reflex auch die Kriegsschuldfrage einschlägig beantwortet. Im Sommer 1918 erfuhr Schnitzler von einer Predigt des Jesuitenpaters Heinrich Abel, der behauptet habe, „nur die Juden hätten im Weltkrieg ihre Pflicht nicht gethan, sie seien an […] allem Elend schuld; man müsse sie ausrotten“ ([16.7.1918], Schnitzler 1985, 162). Schnitzler erwog eine Klage der jüdischen Offiziere und einen Brief an den Kaiser, musste sich aber schließlich davon überzeugen lassen, dass auf diese Weise Recht nicht zu bekommen sei. In den letzten Monaten des Krieges und über den Umsturz hinaus lebte das Ehepaar Schnitzler, so wie viele Mitglieder der Gemeinde, in dauernden Pogromängsten (vgl. Bachleitner 2016, 82–83). Allerdings verzeichnete Schnitzler mit großer Bitterkeit auch mangelnde Solidarität unter Juden. Diese Kränkung verschärfte sich, wenn sie mit Herabsetzung des Österreichischen einherging – denn die Identifikation als ‚Deutscher‘ ließ sich schon insofern nicht halten, als österreichisch-deutsche Differenzen auch durch den Krieg nicht aufzuheben waren. So schrieb etwa Schnitzlers Verleger Samuel Fischer schon im September 1914, es sei schade, „daß sich die Österreicher, wie es scheint, auch jetzt nicht auf der Höhe der Situation zeigen“ (Schnitzler 1984, 853). Schnitzler hat an seinem Verteidigungsbrief lange gefeilt; nachdrücklich wies er darin auf die „Opferwilligkeit“ der österreichischen Bevölkerung und die „außerordentlich[en]“ und „bewunderungswürdig[en]“ Leistungen der k. u. k. Armee hin (Schnitzler 1984, 46). Dass Fischer und seine Mitarbeiter österreichische Autoren benachteiligten, hat ihn immer wieder geärgert und verletzt, zumal als der Verlag bei herrschender Papiernot etwa die Zuteilung für seine ‚Gesammelten Werke‘ drosselte. Darüber hinaus aber sorgte auch das „byzantinische Verhältnis gegen die christlichen Autoren“ für Verstimmung ([8.6.1918], Schnitzler 1985, 150). Der Krieg erwies sich für Schnitzler also als ein intersektionaler Angriff auf alle seine Gruppenzugehörigkeiten, Identifikationsmöglichkeiten und Positionierungen als Autor. An einem radikalen Pazifismus hinderte ihn seine Loyalität zur Heimat; seine Aufzeichnungen während der Kriegsjahre müssen daher vor dem viel komplexeren Hintergrund sich verschränkender Identitäts-Defensiven gesehen werden.
3 „Friedenssehnsucht, überall“, verzeichnete Schnitzler bereits im März 1915 ([13. 3. 1915], Schnitzler 1983, 180). Was ihn selbst betraf, war die Hoffnung auf ein Ende der
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Kampfhandlungen ja auch mit einer – utopischen – Aussicht auf eine Vergewisserung seines literarischen, ‚nationalen‘ und herkunftsmäßigen Status verbunden. Allerdings stellte er sich in der ‚Kriegsschuldfrage‘ zunächst auf einen patriotisch einwandfreien Standpunkt. Es mag in der Tat überraschen, wie häufig er Wilhelm II. in Schutz nahm – in einer kinematographischen Aufnahme beispielsweise erschien ihm der deutsche Kaiser „ernst und gut“ ([25. 2.1915], Schnitzler 1983, 176) – und wie heftig er Entente-Politiker verurteilte: So ist etwa von der „glatte[n] Snob- und Bürgerschurkerei“ Poincarés die Rede oder von der „Hinterhältigkeit“ Wilsons ([1.8. 1917; 6.10.1918], Schnitzler 1985, 68, 186). In einer auch noch in der Edition von 1967 fehlenden, erst 1989 publizierten Aufzeichnung zu Und einmal wird der Friede wiederkommen von März 1916 (vgl. Roberts 1989, 187–191) nahm Schnitzler ausführlich Stellung zu Romain Rollands Essay Au-dessus de la mêlée (1915). Ausgerechnet in diesem, international als pazifistisch geltenden Manifest vermisste er „Gerechtigkeit und Objektivität“ und beklagte die Einseitigkeit in der Beurteilung der Kriegsschuld. Gegen Rollands Kritik am deutschen Imperialismus wandte er ein: „Deutschland sollte tatsächlich gewünscht haben, zugleich gegen Frankreich, Rußland, England, Belgien Krieg zu führen?! Glaubt das ein vernünftiger Mensch?“ (Roberts 1989, 190) In dieser Haltung wusste Schnitzler sich einig mit dem Sozialphilosophen Josef Popper-Lynkeus, mit dem er während der Kriegsjahre ausführliche Gespräche zu führen pflegte (vgl. Miklin 1987, 85–124). Auch publizistisch vertrat Popper die Ansicht, der Deutschenhass vor allem Englands sei schuld an der Ausweitung eines lokalen Konflikts zwischen Österreich-Ungarn und Serbien zum Weltkrieg (vgl. zum Beispiel Popper-Lynkeus 1916); beide Autoren teilten diese ‚Bündnistreue‘ bis in die letzte Phase der Kampfhandlungen – eine Überidentifikation mit der nationalen Propaganda und eine Hyperloyalität, von der schon klar war, dass sie sich für jüdische Österreicher nicht bezahlt machen würde. Der Destabilisierung seiner so betroffenen Identitäten suchte Schnitzler ansonsten mit einem Verfahren der Selbstvergewisserung zu begegnen, das er in den Jahrzehnten des Tagebuchschreibens entwickelt hatte: Memorialtechniken und Erinnerungsrituale, etwa an Gedenktagen, sorgten für eine, wenn auch immer prekäre, Kontinuität des ‚Ich‘. Darüber hinaus hat er, spätestens ab der Jahrhundertwende, auch manche seiner Figuren mit einem unbestechlichen Gedächtnis ausgestattet – etwa den Professor Bernhardi (1912) – und sie den ‚Vergesslichen‘ und ‚Augenblicksmenschen‘, wie etwa Politikern oder Journalisten, gegenübergestellt; Erinnerung galt ihm als eine „höhere Wahrheit“ (Schnitzler 1967, 75). Kein Wunder also, dass er, ausgerechnet im Krieg, den Plan einer Autobiographie aufnahm (vgl. [24. 5.1915], Schnitzler 1983, 200) und zu diesem Zweck frühe Tagebücher und Korrespondenzen wieder las – eine Vergegenwärtigung, die seinen Werdegang bestätigen und sein So-geworden-Sein gegen alle feindseligen Verleugnungen und Verleumdungen außer Frage stellen sollte.
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Umso bemerkenswerter – und anscheinend paradoxer – ist, dass sich Schnitzler die Utopie des Friedens unter kategorial anderen Prämissen dachte. An keiner anderen Stelle seines Werkes hat dieser Anwalt persönlicher, politischer und poetischer Erinnerung etwas Ähnliches ausgesprochen: ein Plädoyer fürs Vergessen. Denn abgesehen von sehr abstrakten und zum Scheitern verurteilten Plänen einer internationalen Allianz der Intellektuellen beschäftigte sich Schnitzler mit einer unabdingbaren Friedens-Voraussetzung. Der Rolland-Polemik schickte er die Bemerkung voraus, dass hinsichtlich der Möglichkeit eines künftigen „Weltfriedens“ von der Vergangenheit und besondere von den Kriegsursachen nicht mehr die Rede sein sollte (Roberts 1989, 187). Die ersten Aufzeichnungen dazu gehen vermutlich schon auf den Februar 1915 zurück: So sonderbar es klingt, bei dem künftigen Friedenskongreß dürfte von Politik im rückschauenden Sinn nicht gesprochen werden. Die Schuldfrage darf nicht aufgerollt werden […]. Man kann sich nicht anders helfen als durch eine vollkommene, auch die nächste Gegenwart miteinbeziehende Amnestie. […] Und so wenig man im bürgerlichen Leben dem Verurteilten nach Abbüßung die Strafe vorhalten darf, darf es gestattet sein, im politisch-historischen Dasein dem Schuldigen seine Schuld vorzuhalten, ob sie nun abgebüßt ward oder nicht. (Schnitzler 1967, 202)
Schnitzler verfolgte damit ein Friedenskonzept der Amnesie, wie es von Hugo Grotius entwickelt und im Westfälischen Friedensvertrag festgehalten war, demzufolge „perpetua oblivio et amnestia (ewigwärende Vergessenheit vnd Amnestia)“ aufgerichtet werden sollten (APW 2022 [1648]) – eine Zielvorstellung, die dann europäische Friedensschlüsse bis zum Ersten Weltkrieg prägte und die der Idee eines ‚Friedens durch Recht‘ entgegenstand. Denn, wie Schnitzler ausführt, würde man einem Prinzip des Schuldausgleichs folgen, müsste man historisch immer weiter zurückgehen, beispielsweise bis zu einer Zeit, „wo Frankreich und Deutschland überhaupt noch eines und die Staaten, die heute existieren, weder ideell noch politisch vorgebildet waren“ (Schnitzler 1967, 221). Im Gegensatz zu seinen persönlichen Bewältigungsstrategien macht die Exploration der Vergangenheit hier keinen Sinn: Sie ist um eines friedlichen Neuanfangs willen zu löschen. Dass ein solch intentionales kollektives Vergessen mit einer individuellen Schmerzerinnerung vereinbar wäre, hielt Schnitzler offenbar durchaus für möglich. Wie die Geschichte zeigt, blieb ein solcher Friede aus: Die Verträge von 1919 befanden über Kriegsschuldfragen und verfügten ‚Bestrafungen‘ in Form von Reparationen; dass sie einen neuen Konflikt mitverursachen würden, war bereits vorherzusehen (vgl. [25.6.1919], Schnitzler 1985, 266). Den utopischen Vorschein eines dauerhaften, weltweiten Friedens sah Schnitzler, bei allen realen Problemen, in der Aussicht auf eine globale Demokratie der Vernunft: „Ungeheure Schwierigkeiten, aber alle aufgehoben durch die eine unbestreitbare Tatsache, daß die unge-
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heure Mehrheit nirgends in der Welt den Krieg will und daß diese Mehrheit am Ende Recht behalten muß […].“ (Schnitzler 1967, 224)
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Walter Fanta
Katastrophale Ausgänge
1 Wovon ich ausgehe Bei der Planung meiner Vorlesung mit dem Titel Romanausgänge in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts im Wintersemester 2022/2023 an der Universität Wien habe ich mich unter anderem auf zwei Bücher gestützt. Das eine ist das von Klaus Kastberger, den ich für seinen Eigensinn als Literaturwissenschaftler und Kritiker immer bewundert habe. Es trägt den Titel Vom Eigensinn des Schreibens und enthält Fallstudien zur Entstehung von Literatur nach dem Motto, den „Eigensinn literarischer Texte zu verstehen, heißt: ihre Produktionsweise zu verstehen“ (Kastberger 2007, 11). Für meine Vorlesung am meisten beeinflusst hat mich, was Kastberger über die „Kunst, nicht zu enden“ (Kastberger 2007, 31) im Zeitalter der Moderne schreibt. Das Lesen moderner Literatur läuft darauf hinaus, dass „der Akt der Sinngebung am Ende von Texten eine besondere Zuspitzung erfährt […], ob das Werk am Ende nicht doch als ein Ganzes erscheint“ (Kastberger 2007, 11). Und genau dieser Akt der Wiederherstellung der zerbrochenen Totalität scheint in der Moderne nicht mehr möglich, es gehört zu ihrem Programm, dass die ‚Scheinwohlordnung‘, wie Robert Musil die im Roman vorgespiegelte Totalität einmal nennt, eben nicht wiederhergestellt werden kann. Darum sind „letzte Sätze oft besserwisserisch“ (Kastberger 2007, 33), merkt Kastberger an, sie wirken aufgesetzt, wie Notdurft, Ausdruck von Hilflosigkeit, „um eine Totalität vorzuschwindeln, die es in dieser Form nicht mehr gibt“ (Kastberger 2007, 35). Was ich also in meine Vorlesung von Kastberger mitgenommen habe, ist die Voraussetzung, dass der Ausgang des modernen Romans des 20. Jahrhunderts keine Lösungen mehr aufzubieten vermag, weil die Romanschreibenden, wenn sie modern sein wollen, mit ihrem Wunsch, zu einem Ende zu gelangen, bis zur verzweifelten letzten Anstrengung allein gelassen sind. Das Ende ist nicht mehr als eine feste Struktur von außen vorgegeben, es muß ein jedes Mal aufs neue produziert werden, und dieses je eigenwillige Produziertsein haftet in der Moderne dann auch einem jeden literarischen Ende an. (Kastberger 2007, 36)
Das zweite Buch, jenes von Roger Caillois Die Spiele und die Menschen (Caillois 2017), habe ich zur systematischen Grundlage für die Besprechung von Romanausgängen in meiner Vorlesung erhoben. Caillois entwickelte aus dem intensiven Forschungsinteresse, das er außereuropäischen Gesellschaften entgegenbrachte, die Grundgedanken für sein Buch, sein methodologisches Instrumentarium ist als rehttps://doi.org/10.1515/9783111205809-007
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ligionssoziologisch zu bezeichnen, Caillois‘ Theorie der Spiele will im Grunde genommen nicht bloß das Spiel erklären, sondern auch die Gesellschaft, in der das Spiel gespielt wird, und sein soziologisches Ordnungsdenken lässt ihn die Regeln des Spiels erklären und aufzeigen, wo die in seinen Augen h e i l i g e We l t d e s S p i e l e s von der gesellschaftlichen Realität bedroht, korrumpiert und zerstört wird. Für uns als Literaturwissenschaftler liegt es nahe, Caillois‘ Spiele mit den Kulturerzeugnissen zu assoziieren, die uns interessieren: die Literatur als Spiegel der Welt, die Literatur als Spiel mit der Welt, der Roman als dasjenige Format der Literatur, das am besten geeignet ist, gesellschaftliche Strukturen im Zeichensystem der Kunst, in Textspielen zu r e - i n s z e n i e r e n . Was lassen die vier Typen, nach denen Caillois alle Spiele klassifiziert, für den jeweiligen Spielausgang erwarten, wenn das Spiel ein Roman ist? – Der erste Typ ist A g o n , der Wettstreit. Kann der Roman, ein fiktives Textspiel, ein A g o n sein, ein Wettstreit? Natürlich! Romane zeigen Akteure in Konfrontation miteinander und mit der Welt. Fast immer geht es in der Spielanlage eines Romans um Antagonismen, Konflikte und darum, dass im Verlauf der Auseinandersetzung ein konkretes Resultat erspielt wird; fast immer drängt die Romanhandlung auf eine Entscheidung, auf einen Sieg oder eine Niederlage. – Der zweite Typ betrifft A l e a , das Glücksspiel, dessen Verlauf im Unterschied zum A g o n nicht vom Spieler abhängig ist, auf das dieser keinen Einfluss hat, bei dem es weniger darum geht, einen Gegner zu besiegen als vielmehr das Schicksal zu bezwingen. Im Textspiel als A l e a ist also der Zufall von Bedeutung, das Spiel beginnt mit einer Bewegung, deren Folge nicht berechenbar ist. Beim Würfelspiel würfeln die Spieler, im Spiel der Weltgeschichte würfelt Gott oder eine andere kosmische Instanz, und im Romanspiel würfelt der Autor oder die Autorin, indem er oder sie das Gesetz des Handelns einer erzähllogischen Kombinatorik übergibt. Doch steht am Ende von A l e a auch die Alternative von Gewinnen und Verlieren, wenn das Auf und Ab der Bewegungen zum Stillstand gekommen ist und mit den Maßstäben der Referenzwelt Bilanz gezogen wird. – Der dritte Typ ist M i m i k r y, das Maskenspiel, mit der Verstellung des Spielers, dem Hineinschlüpfen in fremde Persönlichkeiten und dem Vortäuschen einer Illusionswelt.Wir denken bei dieser Art von Textspiel an das Theaterspiel, also das Drama. Doch auch im Roman ereignet sich M i m i k r y : Der Autor, die Autorin, sie schlüpfen in Rollen, sie maskieren sich im Text, um sagen zu können: der und die hier in dieser Geschichte, das bin nicht ich – vielleicht um unangreifbar zu werden! Der Eingangsimpuls besteht in Verwandlung und Anverwandlung, der Spielausgang in Rückverwandlung, Demaskierung und Desillusionierung.Während in A g o n und A l e a die Erträge in das Leben stillschweigend mitgenommen werden, steht am Ende der M i m i k r y die Notwendigkeit, eine stellvertretende Rückführungshandlung aus der Textwelt vorzunehmen. – Der vierte Typ ist I l i n x , der Spielrausch, die Aufhebung der Realität in Rausch und Subversion, die Freisetzung einer anarchi-
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schen Gegenwelt des Spiels und der Narretei gegen natur- und machtgemäße Abläufe. Für diese Art von Spiel fällt uns vielleicht nicht gleich ein passender Roman ein. Wir denken wieder eher an das Drama, wie zum Beispiel das Fastnachtspiel, wo eine solche Auflösung der sozialen Ordnung Platz greifen kann, oder an die Lyrik, an den Rausch der Worte in einem Gedicht. Aber auch im Roman können utopische Parallelwelten errichtet und ekstatische andere Zustände geschildert werden. Und was steht an deren Ende? Aufwachen, Ernüchterung, der verschämte Rückzug in die normale Welt.
2 Spiel mir das Lied vom Tod In meiner zweiten Vorlesung habe ich über katastrophale Romanausgänge gesprochen, ausgehend von folgenden Überlegungen: Wie endet ein Roman? Wenn das Schreiben aufhört. Wenn das Lesen aufhört. Der Roman ist ein Spiel, an dessen Ausgang jedenfalls mit dem Tod zu rechnen ist. Oder anders gesagt: Nur wenn der Tod ausbleibt, kann das Spiel fortgesetzt werden. Die Alternative zum Tod ist – das Spiel ohne Ende. Der Tod signalisiert das definitive Ende des Spiels. Nach dieser Logik bedeutet das Spiel Leben, und Leben bedeutet Spiel. Wir alle spielen das Lebensspiel, das Liebesspiel – das Spiel der Libido. Hier stoßen wir auf eine ontologische Grundtatsache, auf ein Gesetz, das tiefer verankert ist als die Regelsysteme der Kultur, ein biologisches Gesetz: Die sexuelle Fortpflanzung beschert uns den Tod. Oft ist das im Mythos beschworen worden, von Eros und Thanatos zum Beispiel. Dahinter steckt jedoch eine sehr banale Wahrheit: Weil wir uns fortpflanzen, müssen wir sterben. Weil wir unsere Gene weitergeben, weil unser Erbgut unsterblich ist, wird unser individueller Organismus der Vergänglichkeit preisgegeben. Alle Spiele, die in den Gemeinschaften der Lebenden gespielt werden, von Tieren wie von Menschen, haben mit der Sexualität zu tun. Es handelt sich immer um Liebesspiele. Wie sehr eine Philosophie des Spieles mit der Philosophie der Liebe verschränkt ist, wie sehr die Liebe beim Menschen der Kultur bedarf, wie die Geste der Liebe beim Menschen zum Dialog wird, das bringt das kürzeste Kapitel des Romans Der Mann ohne Eigenschaften (1930/1933) von Robert Musil zum Ausdruck, das dieser kurz vor seinem Tod geschrieben hat, dem er dann nur mehr drei weitere Kapitel angefügt hat, die schon von der Stimmung des Todes durchtränkt sind. Ich möchte Ihnen zumindest den Anfang dieses Kapitels nicht vorenthalten, dessen Reinschrift auf einer einzigen Manuskriptseite Platz gefunden hat. Gespräche über Liebe Der Mensch, recht eigentlich das sprechende Tier, ist das einzige, das auch zur Fortpflanzung der Gespräche bedarf. Und nicht nur, weil er ohnehin spricht, tut er es auch dabei; sondern
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anscheinend ist seine Liebseligkeit mit der Redseligkeit im Wesen verbunden, und das so tief geheimnisvoll, daß es fast an die Alten gemahnt, nach deren Philosophie Gott, Menschen und Dinge aus dem ‚Logos‘ entstanden sind, worunter sie abwechselnd den Heiligen Geist, die Vernunft und das Reden verstanden haben. (Musil 2017, 404)
Für die literarische Gattung des Romans ist L i e b e und T o d bestimmend. Zeigen Sie mir einen einzigen Roman, in dem Liebe und Tod nicht vorkommen! Manchmal sprechen wir etwas geringschätzig von Sex & Crime als Skelett von Romanhandlungen. Aber es steckt mehr drinnen und bezieht sich nicht nur auf die Geschichte, die ein Roman erzählt, sondern auch auf das Romanschreiben und das Romanlesen, wenn wir sagen, im Roman verkörpert sich das Spiel der Liebe im Leben, beendet immer vom Tod. Zur Vorstellung vom Roman als Spiel passt, was Stefan Grätzel in seiner Vorlesung über den Ernst des Spieles in der Aufhebung der Zeit in der Zeit gesagt hat: Wir sind natürlich an die Endlichkeit gebunden. Irgendwann ist unser Leben ausgelaufen, ausgespielt. Dieses Spiel des Lebens selber kann man nicht aufheben. Aber man kann in dieser Weise mit dem Leben selbst, mit der Zeit, die eben diese Notwendigkeit für uns bringt, mit der Endlichkeit, der Begrenztheit, spielen. Und genau das ist der Ernst des Spieles […]. Das Spiel, die Aufhebung der Zeit in der Zeit, bedeutet eben nicht eine Eliminierung, ein Weglaufen von dem, was letztlich die Realität selbst bedeutet, nämlich Endlichkeit, Tod, Sterben und Verlust, sondern es besagt, mit diesen Grenzen, die natürlich gesetzt sind, zu spielen. (Grätzel 2007, 21)
In meiner zweiten Vorlesung habe ich den Tod, der an der Grenze steht, dort, wo das Spiel aufhört, in den Fokus meiner Betrachtung genommen und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten von katastrophalen Romanenden systematisch untersucht, dabei von Klaus Kastbergers Eigensinn des Schreibens und von Roger Caillois‘ Typen des Spiels ausgehend. Die Ergebnisse zeigen sich auf drei Ebenen: erstens im Tod der Person, die den Roman schreibt, zweitens auf der Ebene des individuellen Todes am Ende der Romanhandlung und drittens auf der kollektiven Ebene mit dem Krieg als Romanausgang.
3 Um sein Leben schreiben Ich beginne mit dem T o d d e s A u t o r s (1968), dem Titel des Essays von Roland Barthes. Barthes geht es natürlich weder um das Sterben eines Autors in einem Roman, noch um den wirklichen Tod eines konkreten Romanschriftstellers als Akteur im literarischen Betrieb. Sondern der Tod des Autors ist eine Metapher. Barthes möchte sich von einer Funktion des Textspiels distanzieren:
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Die Abwesenheit des Autors […] ist nicht nur ein historisches Faktum oder ein Schreibakt, sondern verwandelt den modernen Text von Grund auf. Mit anderen Worten: Der Text wird von nun an so gemacht und gelesen, dass der Autor in jeder Hinsicht verschwindet. Zunächst einmal verändert sich die Zeit. Der Autor – wenn man denn an ihn glaubt – wird immer als die Vergangenheit seines eigenen Buches verstanden. Buch und Autor stellen sich in ein und dieselbe Reihe, unterschieden durch ein Vorher und Nachher. Der Autor ernährt vermeintlich das Buch, das heißt, er existiert vorher, denkt, leidet, lebt für sein Buch. Er geht seinem Werk zeitlich voraus wie ein Vater seinem Kind. Hingegen wird der moderne Schreiber im selben Moment wie sein Text geboren. Er hat überhaupt keine Existenz, die seinem Schreiben vorausginge oder es überstiege; er ist in keiner Hinsicht das Subjekt, dessen Prädikat sein Buch wäre. Es gibt nur die Zeit der Äußerung, und jeder Text ist immer hier und jetzt geschrieben. (Barthes 2007, 58)
Was hat diese Behauptung von Barthes mit unserem Thema, den katastrophalen Ausgängen von Romanen zu tun? Im ersten Anschein gar nichts. Barthes formuliert hier ein Unbehagen gegenüber der Rolle, die dem dichterischen Genie, der schöpferischen Kraft des Schriftstellers in der europäischen Literatur seit dem 18. Jahrhundert immer zugestanden worden ist. Der Urheber des Textes, sein auctor, ist sein Herr und Meister, der Souverän, der letztlich darüber bestimmt, wie allein dieser Text gelesen werden kann, also auch, wenn der Text ein Roman ist, wie sein Ende zu verstehen ist. Barthes stellt den modernen Romanschreiber als jemanden hin, der seinem Schreiben gegenüber angesichts der zeitbedingten Umstände jegliche Souveränität verloren hat. Das zu Schreibende beherrscht den Schreiber, nicht der Schreiber das, was er schreibt. Kann es sein, dass Kastberger mit seinem Eigensinn des Schreibens hinter Barthes zurückfällt? Oder ist es die moderne österreichische Literatur, die bei Kastberger im Fokus steht, die zurückfällt und gar nicht modern ist, weil deren eigensinnige Produktionsweisen sehr autorabhängig zu sein scheinen? Auch hinter Michel Foucaults literaturtheoretischen Vortrag Was ist ein Autor? (1969) zurückfällt? Dieser bezieht sich auf Barthes, er lässt den Autor leben; aber er löst ihn auf, in Diskurse bestimmende Autorfunktionen, sodass auch bei Foucault das lebende Subjekt keinen direkten Bezug zum Text aufweist, den es verfasst hat. Was Barthes und Foucault uns sagen wollen, ist, wenn wir die Argumentation für unser Thema zu Ende denken, folgendes: der konkrete Tod des konkreten Romanciers ändert nichts an einem katastrophalen Romanausgang; vielmehr ist die Katastrophe am Ende notwendig. Das Geschriebene schreibt sie dem Schreiber vor, der Diskurs dem realen Individuum. Foucault sieht das literarische Werk in unserer Kultur in einem neuen Kontext: „Das Werk, das die Aufgabe hatte, unsterblich zu machen, hat das Recht erhalten zu töten, seinen Autor umzubringen. Denken Sie an Flaubert, Proust, Kafka.“ (Foucault 2003, 239) Darin zeigt sich das zutiefst Widersprüchliche in Foucaults Vortrag. Der zuletzt genannte Kafka dokumentiert gerade durch seine Biografie die gegenseitige Ab-
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hängigkeit: des Werkes vom Leben, des Lebens vom Werk. Das Schreiben von Franz Kafka, darin sind sich vielleicht alle seine Leser:innen einig, steuert in allem stetig und mit großer Konsequenz einer Katastrophe zu. Es ist der französische Schriftsteller und Philosoph George Bataille, der in seinem Buch Die Literatur und das Böse (1957) darauf aufmerksam macht, dass Kafka vor den Augen seines übermächtigen Vaters sein eigenes Schreiben als eine Kinderei betrachtet hat, die er vor diesem nicht verantworten konnte, die er aber um keinen Preis aufgeben wollte. Auf diese Weise unternahm er einen tödlichen Kampf, um in die väterliche Gesellschaft mit allen ihren Rechten aufgenommen zu werden, er wollte dies aber nur unter der Bedingung, das unverantwortliche Kind bleiben zu können, das er war. Er kämpfte kompromisslos, bis zum letzten Atemzug, einen aussichtslosen Kampf. Er hatte niemals Hoffnung. Der einzige Ausweg war, durch den Tod, unter völliger Preisgabe der Eigentümlichkeit (der Laune, der Kinderei) in die Welt des Vaters zu gelangen. (Bataille 2011, 128)
Batailles Studie über Kafka tritt den schlagendsten Gegenbeweis gegen Barthes‘ Diktum an, der moderne Schreiber habe „überhaupt keine Existenz, die seinem Schreiben vorausginge“ und gegen Foucaults Autorfunktion, die besagt, dass man keinen Diskurs bloß einem Produzenten zuschreiben könne; doch hat auch Batailles Kafka alle Souveränität verloren: Dies ist wohl das Verhängnis alles menschlich Souveränen, das Souveräne kann nicht dauerhaft bestehen, es sei denn in der Selbstverneinung […] oder im beständigen Augenblick des Todes. Der Tod ist das einzige Mittel, der Souveränität die Abdankung zu ersparen. Im Tod gibt es keine Knechtschaft; im Tod gibt es nichts mehr. (Bataille 2011, 130)
Mit der Häufung des Paradoxen bei Kafka hat sich der österreichische Lyriker und Essayist Franz Josef C z e r n i n beschäftigt; er erklärt sie aus dem Bestreben Kafkas, sich selbst, sein eigenes Leben so zu beschreiben, dass die aus solcher Forderung resultierende Schrift im Stande sein sollte, ihn vollständig zu vertreten, schliesslich er selbst zu sein. Das Ziel seines Schreibens wäre also nichts anderes als er selbst, das immer gesuchte authentische Selbst, vielleicht auch seine eigene Verwandlung, die Verwandlung des Mistkäfers in etwas, das er für sich selbst noch nicht ist oder vielleicht auch gar nicht sein kann. (Czernin 1992, 62)
Czernin zufolge ist das Schreiben für Kafka eine körperliche Zerreißprobe, die, konsequent zu Ende gedacht, zum Zerreissen führen müsste; so als ob sich jedes Paradoxon im Vollzug seines Verstehens zu einem letzten Wort auswachsen sollte – ähnlich dem berühmten Satz Kafkas auf seinem Sterbebett: ‚Töten Sie mich, sonst sind Sie ein Mörder.‘ (Czernin 1992, 44)
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Czernin resümiert: „Kafka scheint zu verlangen, dass die Literatur die Entfaltung des Gedankens des Todes zu sein und deshalb auch mit dem Tod zu enden habe.“ (Czernin 1992, 62) Von hier ist es naheliegend, den Blick auf Robert Musils Schreiben am Mann ohne Eigenschaften zu wenden. Ein Romanschreibspiel unter diesem Titel findet bis 1942 ein Vierteljahrhundert lang fast ohne Unterbrechung statt. Der anscheinend einzige Spieler heißt Robert Musil. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass es nicht nur einen Herrn des Spieles gibt. Ein Auftraggeber bestimmt den Autor, das Spiel zu einem Ende zu führen, ein Gegenauftraggeber dazu, das Ende zu verzögern. Man könnte so spitzfindig sein zu sagen, darin liege der Sinn des Spiels. Auch für Musil gilt der Satz von Bataille über Kafka: „Der Tod ist das einzige Mittel, der Souveränität die Abdankung zu ersparen. Im Tod gibt es keine Knechtschaft; im Tod gibt es nichts mehr.“ (Bataille 2011, 130) Zunehmend empfand sich Musil nicht mehr als Herr des Spiels, sondern als Sklave seines Romans. Immer wieder versuchte er vergeblich, die Verkettung der eigenen Existenz mit dem Schreiben am Roman zu lösen. Schließlich wird ihm klar, dass ihm dies unmöglich geworden ist. Die Wahl gegen das Leben und für das Schreiben, die er einmal getroffen hat, ist irreversibel. Sein ersatzweises Leben ist untrennbar ans Schreiben, an jenes a n d e r e Leben gekettet, das er sich für seine Figur ausgedacht hat: Knapp vor seinem Tod notiert er: „Mit der Erschöpfung der Frage des anderen Zustands hat der Motor der schriftstellerischen Existenz Robert Musil eigentlich keine Existenz mehr!“ (Musil 2009, Mappe V/5/224) Das Thema der Erschöpfung ist das der gescheiterten Loslösung des produzierenden Ichs von den Gewaltverhältnissen, den Wettbewerbsbedingungen. Aus dem Studium des Nachlasses von Musil können wir das genau erkennen. Und es betrifft nicht nur Musil, sondern geht jeden Schriftsteller, jede Künstlerin an. Musil hat diese existenzielle Künstlerproblematik in seinem berühmten Kurzprosatext Das Fliegenpapier gestaltet: „Immer aber ist der Feind bloß passiv und gewinnt bloß von ihren verzweifelten, verwirrten Augenblicken. Ein Nichts, ein Es zieht sie hinein.“ (Musil 2019, 409) Die Fliegen am Fliegenpapier als erliegende Subjekte symbolisieren das Scheitern des Künstlertums vor der Realität. Angesichts des letzten Publikationsdatums 1935 drängt sich auf, die Parabel auf die geänderte Situation zu beziehen: auf die Zeitumstände, auf die Situation des Einzelnen im Verhältnis zur totalitären Politik, auf die persönliche Erschöpfung des Autors, dessen resignative Selbstsicht auf sein Schreiben am Mann ohne Eigenschaften längst genau den im Fliegenpapier geschilderten Vorgängen entspricht. Und in der Vorbemerkung von 1935 zum Nachlaß zu Lebzeiten bestätigt Musil dies ausdrücklich, indem er gerade das erste Publikationsdatum des Fliegenpapiers 1913 erwähnt, „weil man [es] sonst leicht für erfundene Umschreibungen späterer Zustände halten könnte. In Wahrheit sind sie eher ein Vorausblick gewesen“ (Musil 2019, 405). Das Ermüden, das Langsamerwerden der Bewegung, die Unmöglichkeit,
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sich zu lösen, das Festkleben an einer unpersönlichen Instanz, das Versiegen jeden Antriebs im Bild des Fliegenpapiers liest sich als Vorausschau auf die spätere Schreibgeschichte: „Ich bin kein flinker Fisch, sondern ein gestrandeter Walfisch“ (Musil 1981, 1005), lautet eine briefliche Selbstcharakteristik. Musil schrieb sich am Mann ohne Eigenschaften zu Tode. Im wachsenden Unwillen zu leben, liegt der erlahmende Wille und der steigende Unwille zu schreiben. Die von diesem Unwillen hervorgebrachte Zerstreuung des Geistes über eine gigantische Zahl beschriebener Manuskriptseiten ist heute materiell und geistig zerstreut über die Welt, der unwillige Körper aber verbrannt, seine Asche in den Wäldern in der Umgegend von Genf verstreut. Kurz vor dem Vollzug der materiellen Verstreuung äußert sich der Geist ein letztes Mal, auf der vermutlich letzten beschriebenen Heftseite: Man ist noch begehrlich, wenn man schon längst nicht mehr begehrenswert ist. Man wird leiblich alt, und bleibt seelisch jung. Um das Sexuelle ist die widerstandsfähigste menschliche Komplikation. Ist das schon im Leben das Vorbild der Unsterblichkeit? […] Wenn man annimmt, daß Gott am Mann ohne Eigenschaften […] etwas gelegen sein könnte, wenn man diese Tätigkeit so überschätzt, muß man sich töten, wenn sie nicht vorwärtsgeht. (Musil 2009, Heft 30/130)
4 Helden sterben tausend Tode Die Romanfiguren in Musils Spielanlage des Mann ohne Eigenschaften eignen sich auch für die Betrachtung der zweiten Ebene des individuellen Todes im Roman nach den Caillois‘schen Kategorien. Diese Spielanlage ist vertreten durch Musils Nachlass, bestehend aus einem Realraum von niedergeschriebenen Kapitelentwürfen des Romans (das ist das T e r r i t o r i u m ) und einem dazu gehörigen Phantasieraum von ebenfalls notierten Gedanken und Erkenntnissen, Einfällen und Ideen, Überlegungen und Planungen (das ist die K a r t e ); auf dieser werden die Romanfiguren anscheinend endlos hin- und hergeschoben. Doch Musils Spiel kennt eine Reihe von definitiven Begrenzungen, neben den biographischen diejenigen, die aus der Raum-Zeit-Simulation hervorgehen, die das Spiel zum Gegenstand hat: das Ende des Spiels ist in einer frühen Regelfestlegung, von der der Spieler nicht mehr so leicht abweichen kann, durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs markiert. Auf die Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, bin ich in der nächsten Vorlesung eingegangen; in ihr habe ich multiple Romanausgänge untersucht. In Hinblick auf die Möglichkeit des katastrophalen Ausgangs für einzelne Figuren habe ich aus der Sicht der Spieltheorie anhand des Mann ohne Eigenschaften in dieser Vorlesung folgendes festgestellt: Nach der Bestimmung des Spiels als A g o n werden am Ende Antagonismen entschieden – oder bleiben unentschieden –, die zwischen den Figuren, aber auch
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innerhalb der Figuren, bestehen. Ulrich, die Hauptfigur im Mann ohne Eigenschaften, vertritt im Agon den Autor, den Spielgestalter. Ulrich hat den Körper eines Wettkämpfers, er ist ein Sportlertyp, durchaus in der Lage, anderen Männern ihre Frauen auszuspannen, auch seinem besten Freund. Er verkörpert aber auch den Prototyp des etwas streitsüchtigen Intellektuellen, und es wird ihm auch zugetraut, im Salongeschehen der so genannten Parallelaktion die Führung an sich zu reißen. Dem Riss, der sich durch diese Figur zieht, kommt höchste Bedeutung für den Ausgang des Romanspiels zu. Für welche Haltung wird sich Ulrich angesichts der Mobilmachung für den Ersten Weltkrieg im Sommer 1914 entscheiden, welches e t h i s c h e P r i n z i p wird den Sieg davontragen? Das Resultat des Spiels bleibt in dem Maß offen, in dem sich der Spielgestalter nicht zu entscheiden vermag, seiner Hauptfigur eine letztgültige, eine s i e g r e i c h e Haltung zuzuordnen. Die Nebenfiguren sind durch die Anlage des Spiels von vornherein dazu verurteilt, Besiegte zu sein. Am Ende wird ihre Niederlage manifest, wenn sie ihr bisheriges Lebenskonzept – ihre Scheinmoral, ihre Verhaftetheit in Lebenslügen – verraten und im Romanfinale der Lächerlichkeit preisgeben. Eigenschaften zu haben gilt in diesem Roman als Negativum, es fungiert im Agon als zählbare Werteinheit, um die gekämpft wird. Die Kontrastfiguren zur eigenschaftslosen Hauptfigur Ulrich geben am Ende ihre Eigenschaften ab; Ulrich gewinnt welche, aber welche? Wir erfahren es nicht, der Roman wurde nicht fertig geschrieben. Doch eine billige Lösung dürfte es Musils Plänen zufolge für Ulrich nicht geben. Entweder er und Agathe begehen gemeinsam Selbstmord, oder er geht freiwillig in den Krieg, auch eine Form von Suizid, oder er überlebt mit der Utopie der induktiven Gesinnung, ohne hehre Ideale, als geläuterter Eremit sozusagen. Nach dem Konzept von A l e a werden Haupt- und Nebenfiguren des Romans in verschiedenen sich steigernden Szenarien mit dem Los der ganzen Gesellschaft konfrontiert, nämlich am Ende im Krieg unterzugehen. Die Mobilmachung wird für die Figuren zu ihrem Schicksal, das sie ergreift und in eine neue Richtung wendet. Die Aufgabe des Spielgestalters am Spielende ist es, zu bestimmen, wie die Figuren aus dem Lackmustest der Mobilisierung hervortreten, welches Produkt die Multiplikation ihrer Eigenschaften mit dem Faktor Kriegsausbruch abwirft. Musil hat sich im Laufe der Jahre für jede der etwa zwanzig wichtigen Figuren im Roman mehrere Möglichkeiten ausgedacht, was sich angesichts des Krieges in ihrem Leben drastisch ändern könnte. Zum Beispiel ein Partnertausch. Auf die Katastrophe des Krieges reagiert die Gesellschaft mit einer Massenhysterie, wie in einem Karneval werden alle Werte und Bindungen über Bord geworfen. Den Menschen ist alles einerlei geworden. Ein Würfelspiel, ein Zufallsgenerator matcht Mann und Frau, wer mit wem. Die möglichen Paarungen hat sich Musil wie auf einem Wettschein notiert, er hat aber das Spiel nicht zu Ende gespielt, den Roman nicht zu Ende gespielt. Doch täuschen wir uns nicht: Das kann nicht gut ausgehen. Die Promiskuität,
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die Beliebigkeit, die Nivellierung aller Werte beschert letzten Endes einen einsamen Tod. Der Anlage des Spiels entspricht die Maskierung der Figuren mit Eigenschaften: die Masken sind die ideologischen Haltungen, was die Figuren von sich und der Welt glauben, ihre Werte, ihre Moral. Der Roman Der Mann ohne Eigenschaften gehorcht dem von Musil selbst aufgestellten T h e o r e m d e r m e n s c h l i c h e n G e s t a l t l o s i g k e i t . Von sich aus ist ein menschliches Individuum amorph, wie eine Amöbe; durch seine Erziehung erhält es ein bisschen ein Rückgrat und ein Gesicht; es passt sich konsequent den jeweiligen Umständen an. Die Physiognomie eines Menschen ist seine M a s k e , seine P e r s o n a , seine Person, sogar seine Persönlichkeit spiegelt sich in ihr. Außen hui, innen pfui. But shit happens. Passieren schlimme Dinge, dann zeigt die Person ihr anderes Gesicht. Nach der Auffassung des Spiels als M i m i k r y bringt der Romanausgang des Mann ohne Eigenschaften angesichts der Konfrontation mit der bitteren Realität des Krieges die Demaskierung.Wenn sich das Prinzip der Tat durchsetzt, zeigt sich der Charakter in seiner Nacktheit. Dabei spielt die ideologiekritische Intention eine Rolle. Im Demaskierungsvorgang müsste sich herausstellen, in welcher Weise eine bestimmte I d e o l o g i e zum Krieg geführt hat und was angesichts der Realität des Kriegs von ihr bleibt. Ist es nicht schlimmer als ein wirklicher Tod, wenn die Maske heruntergerissen, die Illusion zerstört, vor Gericht die bittere Wahrheit erwiesen ist? Im Mann ohne Eigenschaften werden zwei Gegenwelten errichtet: das S e i n e s g l e i c h e n g e s c h i e h t der Parallelaktion und das T a u s e n d j ä h r i g e R e i c h der Utopien von Ulrich und Agathe. In diesem Sinn entspricht der Roman einem I l i n x-Spiel mit jeder Menge rauschhafter Zustände, assoziiert mit knisternder Erotik. Sexualität wird als Rausch beschrieben, aber auch der esoterisch und fast schon religiös anmutende sogenannte ‚ a n d e r e Z u s t a n d ‘ der sexualitäts-befreiten vollkommenen Liebe – im Roman als Geschwisterliebe vertreten – erscheint als eine Art von Liebestrunkenheit. Die ungelöste Frage für das Romanende lautet, ob und wie die Figuren, die diese Parallelwelten und anderen Zustände repräsentieren, am Ende wieder in eine Realitätseinstellung zurückgeholt werden und welche Veränderungen sie dabei durchlaufen müssen. Ob sich unter Narretei und Gottesträumertum nicht ein Normalzustand verbirgt; aber welcher? Wie schrecklich ist das Erwachen aus dem Rausch, egal, ob es sich um Alkohol, andere Drogen oder sexuelle Ekstase handelt. In die Normalität zurückkehren zu müssen, den Entzug zu spüren, das ist manchmal wie tausend Tode sterben.
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5 Kriegsspiele Nachdem ich in meiner Vorlesung an Hand von Musils Roman die individuellen Katastrophen durchdekliniert haben, welche Figuren am Ende ereilen können, habe ich mich abschließend der dritten Ebene der kollektiven Katastrophe zugewandt, dem Krieg als Romanausgang. Alle Romane der deutschsprachigen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts haben in irgendeiner Weise, direkt oder indirekt, mit den beiden Weltkriegen zu tun. Auf welche Weise sie das tun, daraus ergibt sich die Gruppenbildung für die vierzig Romane, die ich in der Vorlesung dann noch besprochen habe. ‒ Sie sind entweder v o r d e m E r s t e n We l t k r i e g geschrieben worden und enthalten eine Vorahnung des Krieges, oder anders gesagt, sie stellen dar, wie es zum Krieg gekommen ist. ‒ Oder sie sind in der Z w i s c h e n k r i e g s z e i t entstanden, dann bieten sie eine Aufarbeitung der Kriegserfahrung und eine Vorahnung des Zweiten Weltkriegs, der ja in angeblich unvermeidbarer Weise aus dem ersten Krieg hervorgegangen ist. ‒ Oder aber sie sind N a c h k r i e g s r o m a n e im doppelten Sinn, weil in ihnen beide Kriege als zumindest mögliches Thema enthalten sind. Kann man sagen, der Krieg setzt sich, nachdem er in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts angeblich verschwunden oder zumindest ‚erkaltet‘ ist, in den Romanen fort? Je weiter sich die Romane im späteren Verlauf des Jahrhunderts vom Krieg zu entfernen beginnen, desto mehr werden sie zum Spiegel des Krieges, desto mehr fixieren sie den Krieg in einer oft zwangsneurotischen Weise und zwängen ihn in das, was wir euphemistisch k o l l e k t i v e s G e d ä c h t n i s nennen. Irgendwann neigt sich das Jahrhundert dem Ende zu und einen Moment lang scheint es, als ob mit dem Mauerfall, zumindest in deutschen Landen, auch der Krieg für alle Zeit abgeschafft wäre. Es tritt das ein, was knapp ein Jahrzehnt zuvor eine Sängerin in ihrem Lied noch als Dystopie geträllert hatte: Neunundneunzig Jahre Krieg / Ließen keinen Platz für Sieger / Kriegsminister gibt’s nicht mehr / Und auch keine Düsenflieger / Heute zieh’ ich meine Runden / Seh’ die Welt in Trümmern liegen / Hab’ ’n Luftballon gefunden / Denk’ an dich und lass’ ihn fliegen (Nena 1983)
Diese Verse haben mich auf die Idee gebracht, die Ausführungen in einem Kapitel des Buches Homo ludens (1938) von Johan Huizinga weiter zu denken. Huizinga führt unter dem Titel „Spiel und Krieg“ aus, dass ‒ der geordnete Kampf ein Spiel ist; ‒ der archaische Krieg Wettkampfcharakter hat;
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der gerichtliche Zweikampf in früheren Zeiten die Schlacht ersetzt; der archaische Krieg einen sakralen und agonalen Charakter aufweist; die Höflichkeit gegen den Feind in früheren Zeitaltern üblich ist; Zeremonie und Taktik dem Krieg einen spielerischen Anstrich verleihen; und Idealvorstellungen vom Heldenleben existieren, die den Helden des Krieges wie einen Romanhelden erscheinen lassen.
Doch das sakrale und agonale Prinzip des Krieges hat seine Grenzen, das räumt Huizinga ein. Angesichts der Gegenwart, in der er sein Buch geschrieben hat – das war am Vorabend des Zweiten Weltkriegs –, nimmt er die Grenzziehung in folgender Weise vor: Bis in jüngste Zeit konnte der Krieg unter dem Aspekt einer Kulturfunktion betrachtet werden, solange eine Gemeinschaft die andere als ‚Menschheit‘ mit Rechten und Ansprüchen auf Behandlung als ‚Menschen‘ anerkannte und den Kriegszustand deutlich und ausdrücklich – durch eine Kriegserklärung – vom Friedenszustand einerseits und von verbrecherischer Gewalt andererseits schied. Erst die Theorie des totalen Kriegs verzichtet auf den letzten Rest des Spielmäßigen im Kriege und damit zugleich auf Kultur, Recht und Menschlichkeit überhaupt. (Huizinga 2019, 102)
Huizingas Zäsur antizipiert Hitlers Angriffskriege ohne Kriegserklärung und das Wollt-ihr-den-totalen-Krieg von Joseph Goebbels. Nach der Logik eines Theodor W. Adorno – nach Auschwitz keine Gedichte! – gibt es nach dem Dritten Reich und dem Zweiten Weltkrieg zwar noch Romane, aber es kann der Roman – zumindest im Mainstream – den Krieg nicht mehr als heldenhaftes Spiel darstellen. Zunächst. Nenas Lied nimmt aber vorweg, was in der ausgehenden Ära des so genannten Kalten Kriegs im Diskurs in den deutschsprachigen Ländern wieder möglich wird: die Verarbeitung von Hitler und Holocaust in Literatur und Film als ästhetisierte unfassbare Apokalypse. Als entfernte finale Katastrophe. Als in den Tagen des Zusammenbruchs des Sowjetimperiums plötzlich die Zeit still zu stehen scheint und man das Ende der Geschichte postuliert, da blüht der postmoderne Roman auf, in dem der Krieg als Spiel eine Renaissance erleben darf. Im Roman, im Film, in Videound Computerspielen, überall spielen wir wieder Krieg und freuen uns. Und im Sport, besonders im Fußball, können wir eine sublimierte Form des Kriegsspiels erkennen. Ich habe mir erlaubt, in meiner Vorlesung zu dieser unernsten Angelegenheit ein Schmankerl zum Besten zu geben, wo ich – natürlich auf Kosten von Musil – unter dem Stichwort Nur ein Spiel, nur Literatur folgenden Bezug hergestellt habe: Schon in Musils Mann ohne Eigenschaften steht im Kakanien-Kapitel eine Prophezeiung über das künftige Europa:
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„Es hatte sich bloß die Abneigung jedes Menschen gegen die Bestrebungen jedes andern Menschen, in der wir heute alle einig sind, in diesem Staat schon früh, und man kann sagen, zu einem sublimierten Zeremoniell ausgebildet, das noch große Folgen hätte haben können, wenn seine Entwicklung nicht durch eine Katastrophe vor der Zeit unterbrochen worden wäre.“ (Musil 2016, 50) Erst nach der Unterbrechung durch die zweite Katastrophe haben sich die europäischen Völker dazu bequemt, die Europäische Union und die UEFA einzurichten, wo die Politiker in Kommission, Rat und Parlament und die „beteiligten Kreise der Bevölkerung“, wie Graf Leinsdorf verlangt haben würde, in Fußballstadien, unter Schlachtgesängen und unter anderem auch durch das fallweise Einschlagen von Köpfen in Hooligan-Ausschreitungen ihr sublimiertes Zeremoniell zur Kriegsvermeidung ausüben. (Fanta 2022, 108)
Heute aber haben wir wieder Krieg in Europa. Was macht das mit uns, als Fußballfans, als Romanleser:innen, als Romanschreiber:innen? Ich habe am Ende meiner Vorlesung eine Prophezeiung gewagt: Inzwischen ist unsere Fähigkeit, uns als Avatar in eine virtuelle Welt zurückzuziehen, schon so weit fortgeschritten, dass wir uns ohne weiteres Katastrophen, Apokalypsen und Dystopien immer schrecklicheren Ausmaßes reinziehen und in ihnen mit lustvollem Stöhnen mitspielen, so dass wir gar nicht mehr merken, dass auch draußen Krieg ist und alles den Bach hinunter geht. Bis es vielleicht zu spät ist.
6 Vierzig Romanausgänge Im weiteren Verlauf des Semesters habe ich vierzig Ausgänge von Romanen der deutschsprachigen Literatur besprochen, ausgewählt aus einem lesefreundlichen Kanon, nach Caillois‘ Kategorien und streng dem Eigensinn Kastbergers Folge leistend, der in meinen Augen weniger einer der Produktionsweisen österreichischer Autor:innen ist als vielmehr einer des österreichischen Literaturkritikers, ein untrüglicher Sinn Kastbergers für „österreichische Endspiele“ (Kastberger 2007, 359). Das Gesamtergebnis halte ich hier im Überblick fest: Die Ausgänge sind in vielen Fällen katastrophal, doch mitunter geht das Spiel für eine der Spielfiguren auch gut aus (G↑), obwohl die Umstände apokalyptisch sind. Bisweilen stirbt der Autor vor dem Ende des Spiels (A↓†); in der Mehrzahl der Fälle ereilt eine der Figuren die individuelle Katastrophe (F↓†), die nicht immer den Tod bedeuten muss, oft ist Weiterleben im Bewusstsein des Scheiterns schlimmer als Sterben (F‽). Oft steht am Ausgang der kollektive Tod, der Krieg (K↓), manchmal in einer komplizierten Gemengelage, neben den beiden Weltkriegen hält das 20. Jahrhundert apokalyptische Szenarien bereit, Kriege im Kopf (K‼), welche katastrophale Romanausgänge weiter bedingen, weil Krieg nach dem Krieg nicht mehr wegzukriegen ist.
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Walter Fanta
Fin de siècle
Heinrich Mann: Professor Unrat ()
Unrat verliert alles, wird mit Rosa Fröhlich F‽ abgeführt.
Robert Walser: Geschwister Tanner ()
Simon Tanner findet in die schützende Gebärmutter.
G↑
Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß ()
Törleß rettet seine kühle Gelassenheit.
G↑
Arthur Schnitzler: Der Weg ins Freie ()
Anna und das Kind sterben, Georg ist befreit.
F↓ G↑
Alfred Kubin: Die andere Seite ()
Traumreich geht unter, Patera stirbt, Erzähler im Irrenhaus.
K↓ F↓‽
Krieg I
Hermann Hesse: Demian ()
Demian stirbt im Krieg, Sinclair erlebt Individuation.
F↓ K↓ G↑
Ernst Jünger: In Stahlgewittern ()
Soldat bleibt Soldat.
K↓ G↑
Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues ()
Bäumer stirbt, das Epilog-Ich wird sich seinen Weg suchen.
F↓ K↓ G↑
Hermann Broch: Die Schlafwandler ()
Ruf aus der Finsternis: Es war alles gut. Huguenaus Mord.
F↓ K↓ G↑
Joseph Roth: Radetzkymarsch ()
Zweifacher Trotta-Tod, Krieg ist Untergang F↓ K↓ der Monarchie.
Weimarer Republik Joseph Roth: Das Spinnennetz ()
Nazi-Karriere von Lohse, Brandauer-Lenz stirbt nur im Film.
F↓ K‼ G↑
Thomas Mann: Der Zauberberg ()
Castorp sollte im Fleische wohl kaum überleben.
F↓‽ K↓
Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz ()
Biberkopf geht drauf, oder wird anständig. F↓‽ K‼ Kriegsgetrommel. G↑
Erich Kästner: Fabian ()
Fabian ertrinkt.
Hans Fallada: Kleiner Mann, was nun? () Der Junge kriecht beim Lämmchen unter.
F↓ K‼ K‼ G↑
Österreich I Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden ()
Mein lieber Jude! – Ende gut, alles gut!
K‼ G↑
Franz Kafka: Das Schloss ()
Brod: Ein Abschlußkapitel hat Kafka nicht geschrieben.
A↓
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Katastrophale Ausgänge
Franz Werfel: Der Abituriententag ()
Geschichte einer Jugendschuld eilig weggesperrt.
F‽
Friedrich Torberg: Der Schüler Gerber ()
Suizid Gerbers.
F↓
Elias Canetti: Die Blendung ()
Autodafé Kiens.
F↓
Hermann Broch: Die Verzauberung (/ )
Broch starb bei Letztfassung; Mutter Gisson in Erstfassung.
A↓ K‼ F↓
Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott ()
Der ‚Neger‘ fährt zu den ‚Negern‘ als indi- K‼ G↑ viduelle Lösung.
Anna Seghers: Das siebte Kreuz ()
Heisler kann sich retten.
Thomas Mann: Doktor Faustus ()
Leverkühn fällt in den Wahn, stirbt, mit ihm F↓ K↓ das Vaterland.
Ilse Aichinger: Die größere Hoffnung ()
Ellen von der Granate in Stücke gerissen.
F↓ K↓
Max Frisch: Stiller ()
Stiller bleibt in Glion und lebt allein.
F‽
Günter Grass: Die Blechtrommel ()
Oscar feiert . Geburtstag, fürchtet Schwarze Köchin noch.
K‼ F‽
Uwe Johnson: Mutmaßungen über Jakob ()
Jakob Abs verunglückt, Unfall wird nicht aufgeklärt.
K‼ F↓
Heinrich Böll: Ansichten eines Clowns ()
Hans verliert Marie, bleibt ein trauriger Clown.
F‽
Siegfried Lenz: Deutschstunde ()
Siggi löst seine Aufgabe.
K‼ G↑
Thomas Bernhard: Das Kalkwerk ()
Konrad resigniert nach dem Mord an seiner Frau.
F‽
Peter Handke: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter ()
Der Elfer geht nicht ins Tor, doch was nützt F‽ es Bloch?
Albert Drach: Untersuchungen an Mädeln ()
Die Mädel werden schuldig gesprochen.
Ingeborg Bachmann: Malina ()
Das Ich verschwindet in der Wand. Es war K‼ F↓ Mord.
Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin ()
Erika sticht sich in die Schulter, muss bei Mutter bleiben.
Krieg II
K‼ G↑
Schweiz – BRD – DDR
Österreich II
F‽
F‽
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Walter Fanta
Österreichisches Jahrhundertende Christoph Ransmayr: Die letzte Welt ()
Cotta scheitert bei seiner Suche, hört nur mehr sein Echo.
F‽
Elfriede Jelinek: Lust ()
Gerti ertränkt ihr Kind.
K‼ F↓
Michael Köhlmeier: Die Musterschüler () Die Aufklärung über die kollektiv verübte Tat ändert nichts.
K‼ F‽
Norbert Gstrein: Die englischen Jahre ()
Der echte H. ertrinkt, Anrecht auf FakeBiografie ungeklärt.
K‼ F↓
Lilian Faschinger: Wiener Passion ()
Rosa wird hingerichtet, das Erzähler-Paar glücklich.
F↓ G↑
Literaturverzeichnis Bataille, Georges. Die Literatur und das Böse. Hg. von Gerd Bergfleth. Aus dem Französischen von Cornelia Langendorf. Berlin: Matthes & Seitz, 2011. Barthes, Roland. „Der Tod des Autors“. Roland Barthes. Das Rauschen der Sprache. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005: 57–63. Caillois, Roger. Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. Durchgesehene und erweiterte Ausgabe. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Peter Geble. Berlin: Matthes & Seitz, 2017. Czernin, Franz Josef. Sechs tote Dichter. Wien: Sonderzahl, 1992. Fanta, Walter. „Österreich als ein Spiel“. Österreichbilder. Mediale Konstruktionen aus Eigen- und Fremdperspektive. Hg. von Ulrike Krieg-Holz und Arno Rußegger. Marburg: Schüren, 2022: 97–116. Foucault, Michel. Schriften zur Literatur. Hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Aus dem Französischen von Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek und Hermann Kocyba. Auswahl und Nachwort von Martin Stingelin. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003. Grätzel, Stephan. Der Ernst des Spieles. Vorlesungen zu einer Philosophie des Spiels. 2., erweiterte Aufl. London: Turnshare, 2007. Huizinga, Johan. Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. 26. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2019. Kastberger, Klaus. Vom Eigensinn des Schreibens. Produktionsweisen moderner österreichischer Literatur. Wien: Sonderzahl, 2007. Musil, Robert. Briefe 1902–1942. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1981. Musil, Robert. Klagenfurter Ausgabe. DVD-Edition. Hg. von Walter Fanta, Klaus Amann und Karl Corino. Klagenfurt: Robert-Musil-Institut, 2009. [Der Nachlass Robert Musils steht seitens der Österreichischen Nationalbibliothek online zur Verfügung, zitiert nach Mappe bzw. Heft.] Musil, Robert. Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes Buch. Robert Musil Gesamtausgabe. Bd. 1. Hg. von Walter Fanta. Salzburg: Jung und Jung, 2016. Musil, Robert. Der Mann ohne Eigenschaften. Zweites Buch. Fortsetzung aus dem Nachlass 1937–1942. Robert Musil Gesamtausgabe. Bd. 4. Hg. von Walter Fanta. Salzburg: Jung und Jung, 2017. Musil, Robert. Bücher II. Robert Musil Gesamtausgabe. Bd. 8. Hg. von Walter Fanta. Salzburg: Jung und Jung, 2019.
Nicole Streitler-Kastberger
Dreimal Himmelwärts, zweimal Figaro Ödön von Horváths Utopien Horváth ist vor allem für eines bekannt: für Volksstücke mit tragischem oder zumindest melodramatischem Ausgang. Doch der Autor hat insbesondere in der Zeit nach 1932/33 mit sich selbst um ein anderes Schreiben gerungen. Mit der „Pessimität“ (Brief Horváths an Rudolph S. Joseph vom 30.10.1933, Horváth 2022, 84) seiner Volksstücke der frühen 1930er Jahre glaubte er nicht mehr reüssieren zu können und suchte deshalb nach einer Form der Komik, die kein „höherer Blödsinn“ (Brief Horváths an Rudolph S. Joseph vom 30.10.1933, Horváth 2022, 84) sein sollte, sondern ernsthafte Komödie mit Tiefsinn: der „Ernst des Komischen“ (Musil 1978b, 1581) gewissermaßen. So kamen viele Texte des sogenannten „Spätwerks“ (Schröder 1981 [1976]) zustande, in denen sich der Autor als Komödien-Schreiber versuchte (vgl. Balme 1988). Verwirrend oft greift er dabei zu dem Titel Himmelwärts, den er für eine Zauberposse (1931), einen ‚romantischen Roman‘ (1932/33) und ein dramatisches ‚Märchen‘ (1934) verwendet. Dabei ist nur Letzteres in einer Endfassung vorhanden, die beiden früheren Werkprojekte hingegen sind nur als Fragmente überliefert. Allen diesen Texten gemein ist indes, dass sie die soziale Wirklichkeit (der Volksstücke) zugunsten einer Traumwelt transzendieren, in der neue Formen des Menschseins, „lockende Vorbilder, wie man Mensch sein kann“ (Musil 1978b, 1029), durchgespielt werden (vgl. Bossinade 1988). Sie sind also Utopien. Dies gilt auch für die beiden Figaro-Texte Figaro läßt sich scheiden (1936) und Adieu, Europa! (1938). Für alle diese Texte und für einige andere im Horváth’schen Œuvre ist verbindlich, dass sie ohne den „Möglichkeitssinn“ (Musil 1978a, 16) des Autors nicht zustande gekommen wären, denn: „Möglichkeitsdenken ist die Voraussetzung für jede Form philosophischer, sozialer und künstlerischer Utopien.“ (Voßkamp 2020, 37) Utopien leisten damit etwas, was Adorno ursprünglich dem Essay, als quasi utopische Kraft, zugeschrieben hat, das „Neue als Neues, nicht ins Alte der bestehenden Formen Zurückübersetzbares“ (Adorno 1981, 30) zu erarbeiten.
1 Himmelwärts I Noch bevor Horváth das Volksstück Kasimir und Karoline (1932) abgeschlossen hatte und dessen Uraufführung über die Bühne gegangen war, begann er mit Versatzstücken dieses Volksstücks an einer Zauberposse mit dem Titel Himmelwärts (1931) zu arbeiten. In frühen Entwürfen dazu findet sich deshalb die Figur Merkl Franz als https://doi.org/10.1515/9783111205809-008
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Hauptfigur, in späteren tauchen Kasimir und Karoline auf. In den meisten Skizzen zu der Zauberposse ist eine Himmelfahrt vorgesehen. Diese führt den Protagonisten von der Erde weg und nach „Arkadien“ (Horváth 2020, 43), wie das Land zwischen Erde und Himmel, das Ziel der Flugreise, genannt wird. Der Flug wird mit einer Rakete absolviert, und die von der Himmelfahrt Zurückkehrenden werden am Ende mit einem Denkmal geehrt. Deshalb notiert Horváth in vielen Entwürfen als letztes Bild oder Epilog der Zauberposse eine „Denkmalsenthüllung“. Der Grund für die Himmelfahrt ist ein simpler; Merkl Franz fasst ihn in einer Skizze folgendermaßen zusammen: „Also jetzt, nachdem wir so weit weg sind, kann man es ja laut sagen: es ist nicht schön da unten auf der Erden!“ (Horváth 2020, 39) Im selben Entwurf wird Arkadien als Paradies für irdische Männer beschrieben, denn Merkl wird als „[e]twas Neues“ betrachtet, als „stattlicher Mann“, weshalb alle „Weiber“ sofort ihre Männer verlassen und sich dem Neuen an den Hals werfen (Horváth 2020, 39): „Alle Weiber werden verrückt nach dem Merkl Franz“ (Horváth 2020, 41), heißt es dazu an anderer Stelle. In manchen frühen Entwürfen bilden ein Ingenieur und ein Feinmechaniker die beiden Hauptfiguren, die von der Erde wegfliegen und in Arkadien landen (vgl. etwa Horváth 2020, 35 u. 43). Dieses Arkadien, das auf einer „Wolke“ (erstmals in Horváth 2020, 31) verortet ist, wird einmal als „Reich der Solidarität“ (Horváth 2020, 31) bezeichnet, in dem es keinen Individualismus gebe, sondern nur Kollektivismus. Die Utopie von der menschlichen Solidarität prägt auch den Schluss des Romans Der ewige Spießer (vgl. Horváth 2010, 852), in dem Reithofer der arbeitslosen Anna Pollinger eine Stelle als Schneiderin vermittelt, obwohl sie ihn ausgenutzt hatte. Denn es müsse ja noch etwas geben „auch ohne das Verliebtsein“, meint Reithofer, nämlich die „menschliche Solidarität“ (Horváth 2010, 852). Die Arkadier werden an anderer Stelle als „freie[s] Vol[k]“ (Horváth 2020, 35) bezeichnet. Die Zauberposse Himmelwärts ist so gesehen als Utopie von der Freiheit, ja als „Staatsutopi[e]“ (Stauffer und Dziudzia 2022, 8) konzipiert. Einen wesentlichen Aspekt dieser neuen Freiheit bildet die vom Ingenieur erfundene „künstliche Befruchtung“ (Horváth 2020, 37 u. 39), die die Fortpflanzung der Art unabhängig von Paarbeziehungen macht. Die Frauen revoltieren jedoch „gegen die künstliche Befruchtung“ (Horváth 2020, 43; vgl. auch Horváth 2020, 53). Horváth war sich über die Funktion dieser Erfindung selbst nicht ganz im Klaren. An anderer Stelle notiert er nämlich, dass die Frauen sogar die „Einführung der Erfindung“ fordern: „Wir wollen dann auch nichtmehr gebären“ (Horváth 2020, 59). In diesem Fall sind es jedoch die Männer, die dagegen „protestieren“ (Horváth 2020, 59). Eine weitere Erfindung, die erwähnt wird, ist das „perpetuum mobile“, das „ewig[e] Pendel“ (Horváth 2020, 47), dessen Funktion aber nicht erläutert wird. Für die Musik zu seiner „Zauberposse mit Gesang und Tanz“ hatte Horváth niemand Geringeren als „Kurt Weill“ im Sinn (Horváth 2020, 55); eine Zusammenarbeit, zu
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der es jedoch nicht kam. Die Königin von Arkadien spricht einmal davon, dass sie die „äusser[e] Natur“ überwunden hätten: „Wir haben Regen, Gewitter, Tag, Nacht – wie lange wir wollen, wenn wir wollen!“ (Horváth 2020, 67) Sie hätten „nach langen Kämpfen die Form gefunden, eine soziale Form“, doch die „innere Natur“ hätten sie noch nicht überwunden. Darin glichen sie den Menschen: „[W]ir sind genau so wie Ihr und Ihr seid wie die Urmenschen!“ (Horváth 2020, 67) An anderer Stelle heißt es von Arkadien: „Der ganze Staat ist ein Gesangverein.“ (Horváth 2020, 109) Diese Idee prägt vor allem die Entwürfe von Vorarbeit 2, in der Kasimir die Hauptfigur abgibt. In einer längeren dialogischen Ausarbeitung wird zunächst der Rakete größeres Augenmerk geschenkt. Der Raketenflieger heißt hier Kasimir Kratler (vgl. Horváth 2020, 157), der Ingenieur der Rakete Dr. h.c. Ferdinand Luder. Dieser verkündet: „Nach jahrzehntelanger intensivster Arbeit ist es mir gelungen, eine Rakete zu konstruieren – diese Rakete, die uns in das Weltall bringen soll und wird.“ (Horváth 2020, 157) Der Raketenflug hat unmittelbare wirtschaftliche Zwecke: „Wir hoffen dabei, ungeahnte Kraftquellen erschliessen und selbe unserer vaterländischen Industrie dienstbar machen zu können.“ (Horváth 2020, 157) Doch die „Hundsraketen“ explodiert auf ihrem Flug, sodass Kasimir auf einer Wolke „[w]eit droben über der Erde“ (Horváth 2020, 158) landet. Dort sinniert er: Oh Himmelherrgottsakrament – hab ich das jetzt gar so notwendig gehabt, mich von dieser Scheisserden da drunten wegschiessen zu lassen? Es war ja nicht schön da drunten und wenn Du für jemanden, der wo kein Geld hat – und wenn Du nicht etwas ganz Aussergewöhnliches unternimmst, dann bleibst Du Dein Leben lang nur eine Nummer! Aber ich hab halt keine Nummer sein wollen, sondern eine gefeierte Ausnahmeerscheinung – auweh, armer Kasimir, auweh – Da hast jetzt Deine Ausnahmeerscheinung! (Horváth 2020, 158)
In der Folge trifft Kasimir mit Karoline zusammen, die eine „Fee“ (Horváth 2020, 159) ist. Sie hat Angst vor „Menschen“ (Horváth 2020, 159) und ruft deshalb nach ihrem Mann Eugen. Dieser erklärt Kasimir, wo er sei, nämlich in Arkadien, „[u]ngefähr genau in der Mitte zwischen Erde und Himmel – aber doch bereits etwas näher zum Himmel –“ (Horváth 2020, 160). Merkl ist hier eine Figur aus Arkadien und lädt Kasimir zum Abendessen ein. In weiterer Folge wird dieser offiziell in Arkadien begrüßt. Dabei schildert der Vorsitzende das „Märchenland“ (Horváth 2020, 156) Arkadien als Schlaraffenland, als „Paradies“: Arkadien repräsentiert die höchste Vervollkommnung gewissermassen der staatenbildenden Wesen! Wir haben keine Stufe mehr vor uns! Wir beherrschen die Natur, wir haben die Maschine überwunden, wir müssen nichts arbeiten – der ausgesprochene Wunsch allein, genügt schon. Wir haben die gesellschaftlichen Probleme längst überwunden, wir haben weder Klassen noch Rassen noch Bekenntnisse, wie diese prähistorischen Dinge alle heissen! Unsere Gemeinschaft ist das höchste was Menschen je erreicht haben! Auch wir waren mal Men-
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schen – aber wir sind Millionen Jahre älter wie Ihr – wir nennen unsere Frauen Feen und wir selbst sind die guten Geister – hier ist Arkadien, hier ist das Paradies! (Horváth 2020, 162)
Schließlich lädt der Vorsitzende Kasimir ein, selbst Arkadier zu werden, was aber eine „Bedingung“ habe: „Du musst mit uns singen – im Chor. Du darfst keine Solosachen machen. Du bist nur ein Teil und musst alle Deine egoistischen Triebe unterdrücken.“ (Horváth 2020, 162) Kasimir beschließt zu bleiben und Arkadier zu werden. Der Vorsitzende verspricht ihm seine „Flügel“ und dass er am Abend „feierlich eingeführt“ werde (Horváth 2020, 163). Wieder allein, probiert Kasimir seine papagenoartige Wunschkraft aus, die er bekommen hat und über die jeder Arkadier verfügt. Er lässt sich einen „Schweinsbraten mit Kartoffelknödel und gemischten Salat und ein Bier vom Fass“ (Horváth 2020, 163) kommen. Als er gegessen hat, möchte er noch „etwas weibliches“ (Horváth 2020, 164) haben, doch dieser Wunsch wird ihm nicht erfüllt. Er erkundigt sich bei einem Nachbarn, dem Pantoffelhelden, wieso er sich kein Mädchen wünschen kann, und erfährt, dass das leider nicht möglich sei, denn das hätte „ja ein fürchterliches Durcheinander“ (Horváth 2020, 164) gegeben: „[W]as glauben Sie, was sich da manche alte Schachtel zusammenwünschen tät!“ (Horváth 2020, 165) Die Paare würden einander „einfach zugeteilt“ werden: „Und sonst wird gesungen.“ (Horváth 2020, 165) Zuletzt versichert der Pantoffelheld, „in puncto Innenleben“ seien die Arkadier „nicht viel weiter“ (Horváth 2020, 165) als die Menschen: „Und was einen Arkadier erhöht, das ist doch nur der Gesang – das ist doch das Wichtige im Leben, nicht?“ (Horváth 2020, 165) Der Epilog zeigt eine Reihe von Honoratioren, die ein Denkmal für die „beiden kühnen Männer“ enthüllen, die sich „in das Weltall schiessen“ (Horváth 2020, 166) haben lassen und nicht mehr zurückgekehrt sind. Wieso hier von zwei Männern die Rede ist, wirkt irritierend, allerdings ist das Material, das hier zu einer Fassung zusammengestellt wurde, sehr heterogen und entstammt teils möglicherweise einem anderen Zusammenhang. Dennoch sind die Ausarbeitungen zu der Zauberposse Himmelwärts aufschlussreich. Arkadien ist als ein besserer Ameisenstaat konzipiert, ein wahres Kollektiv, in dem es keine Konflikte gibt, eine genuine ‚Staatsutopie‘ in finsteren Zeiten, eine „spatial utopi[a]“, keine „temporal utopi[a]“ (Stauffer und Dziudzia 2022, 9). Das Leben in Arkadien variiert das seit Thomas Morus‘ Utopia (1518) gängige „Insel-Motiv“ (Manojlovic und Putz 2020, 9), ist doch dieses Arkadien als eine Art Insel der Seligen jenseits der Erde, auf einer Wolke, die wie eine Insel anmutet, angesiedelt. Das von Horváth geschilderte Arkadien ist überdies eine Heterotopie, eine Anderswelt der irdischen Welt, im Foucault’schen Sinne (vgl. Foucault 2005).
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2 Himmelwärts II Im Herbst 1932 hat Horváth an dem „[r]omantische[n] Roman“ (Horváth 2017, 319) Himmelwärts gearbeitet, auch bekannt unter dem Titel Schlamperl-Fragment (vgl. Horváth 2017, 644 [Kommentar]). Es handelt sich um das umfangreichste Fragment innerhalb des Konvoluts der Prosa-Fragmente. Auch hier ist das ‚Insel-Motiv‘ wieder rekurrent, wie bereits der erste Entwurf zeigt, wo von den „Autarkie-Inseln“, den „Inseln, die immer miteinander Krieg führen“, den „Inseln der Verbannten“ und der „Termiten-Insel“ (Horváth 2017, 319) die Rede ist. Auch eine „gütige Fee“ (Horváth 2017, 319) ist für das Werkprojekt vorgesehen. Auf eines der bekanntesten utopischen Bücher der Weltliteratur, Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719), beziehen sich bereits die frühesten Skizzen zu dem Projekt (vgl. Horváth 2017, 319 u. 321). Der „österreichische Robinson“, den Horváth dabei konzipiert, soll „[v]or vierzig Jahren schiffbrüchig“ gewesen sein, nicht vor 28 Jahren wie bei Defoe. Zu ihm notiert der Autor: „Erzählung über die letzten vierzig Jahre. (Der Robinson, der sich von seinem Hunde nichtmehr trennen kann – die Generationen Hunde, die er grossgezogen hat – der Robinson bleibt auf der Insel)“ (Horváth 2017, 321). Auch ein „Krieg gegen die Wilden“ ist in einem Entwurf vorgesehen, weiters eine „Rakete in den Himmel“ und „geschlechtslos[e] Menschen“, die einen „Termiten-Staat“ bilden (Horváth 2017, 321). Als Figuren notiert Horváth auf einem Blatt Schlamperl, Ludwig und Lenz. Zuletzt vermerkt er in der Skizze einen Dialog zwischen Schlamperl und der gütigen Fee. Auf Schlamperls Satz „Das Leben hat keinen Sinn“ repliziert die Fee: „Geh red doch nicht so saudumm daher, { } Du Leichtgläubiger! Glaub mir, ich bin eine Abgesandte der Güte, und ich zerreiss Dir das Maul, wenn Du mir nochmal so etwas sagst.“ (Horváth 2017, 323) Das ist genuine Horváth-Dialogsprache, die sich also auch in den utopischen Texten findet. Die längste narrative Ausarbeitung des Werkprojekts ist mit der Fassung WP17/ TS3/A5 gegeben. Sie ist eine Art utopischer Schelmenroman mit deutlichen pikaresken Zügen, eine weitere ‚spatial utopia‘. Die Geschichte setzt ein mit einem märchenhaften „Es war einmal“ (Horváth 2017, 344) und beginnt bei der Figur des Christian Schlamperl, der exponiert wird. Dabei wird gewissermaßen eine Dystopie innerhalb der Utopie geschildert, denn die Welt, in der Schlamperl lebt, der gerade die Schule abgeschlossen hat und Kellner werden möchte, ist aus dem Lot: Kurz: es waren furchtbare Jahre, die Schulen wurden geschlossen und die Krankenhäuser und Gefängnisse waren überfüllt[,] die Fabriken standen still, die Hochöfen waren ausgeblasen, die Bergwerke waren still, im Hafen verrosteten die schönsten Schiffe, die Geschäfte wurden geschlossen. Die Wohnungen standen leer, weil sie keiner mehr bezahlen konnte und die Leute verhungerten und erfroren auf der Strasse. (Horváth 2017, 346)
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Nicole Streitler-Kastberger
Abb. 1: Manuskriptblatt zum Werkprojekt Himmelwärts. Romantischer Roman (1932), Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, ÖLA 3/W 336 – BS 61 [1], Bl. 2.
Christian will nur fort. Im Hafen entdeckt er ein verwaistes Segelboot, besteigt es und segelt davon. Er hat „günstigen Wind“ (Horváth 2017, 348), sodass er gut vorankommt. Weit draußen im Meer sieht er noch bis zum Grund. Was er dabei sieht, ist durchaus utopisch: „[D]a gab es Fische, die bestanden nur aus Kopf, andere
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hatten wieder keinen Kopf, welche waren kugelrund, andere platt, wie Seidenpapier, wieder andere bestanden nur aus einer Flosse –“ (Horváth 2017, 348). Schlamperl begegnet schließlich einem elegant – mit Frack und Zylinder – gekleideten Herrn in einer alten hölzernen Badewanne. Er nimmt ihn in sein Segelboot auf. In mehrfachen Reprisen wird in der Folge das ‚Insel-Motiv‘ variiert. Zunächst landen die beiden auf einer Art Robinson-Insel. Dort haust der sogenannte „Bieber“ (Horváth 2017, 349), ein Schiffbrüchiger, der seit 40 Jahren auf der Insel wohnt, die ein wahres tropisches Eiland voller Obst und Gemüse ist. Außerdem hat der Bieber 987 Hunde, Möpse, die alle Nachfahren eines einzigen Mops-Weibchens sind, das er beim Schiffsuntergang gerettet hat. Zunächst will sich der Bieber Schlamperl und dem Kavalier anschließen, doch es bricht ihm fast das Herz, als er die Hunde verlassen soll, und so bleibt er auf seiner Insel zurück. Neben dem kleinen Segelboot Schlamperls fährt plötzlich ein großes Schiff vorbei, es ist ein „Narrenschiff“ mit einem „Narrenkönig“ (Horváth 2017, 355), der in Schlamperl und dem Kavalier verwandte närrische Seelen erkennt. Wie der Kavalier versichert, möchte er„ohne Närrischkeit“ nicht leben, denn dann würde er immer noch bei den „schweigsamen Matrosen“ (Horváth 2017, 354) im Hafen stehen. Der Narrenkönig aber „freute sich über die vielen Narrheiten“ (Horváth 2017, 355). Auf dem Schiff herrscht ein buntes Treiben, das täglich noch gesteigert wird durch „neue Gäste“: „So trafen sie Rekordschwimmer, Bauch, Brust, Seite, Unterseeboot mit Nordpolbohrung, Flieger ohne Motor, Wasserflugzeuge mit ganzen Narrenfamilien, Badewannen, und was es alles gibt.“ (Horváth 2017, 356) Das Narrenschiff landet in der Folge u. a. auf den „Autarkie Inseln“ und bei „Pazifisten“ (Horváth 2017, 357). Ausführlich wird jedoch nur die Sport-Insel geschildert. Sie ist ein wahres Insel-Idyll und gekennzeichnet von einem friedlichen Nebeneinander der Menschen: Hier wurde in gesunder Luft nur Sport getrieben. Es war ein toller Betrieb. Leichtathletik, Fussball, Faustball, Boxen, Ringen, Radrennen – und einmal im Jahre stieg die Stafette, immerwährend ging eine ganze Stafette durch das ganze Reich. Einer gab dem anderen den Stab, ohne Gegner, nur auf Verbesserung der Zeit. Aber keiner durfte aussetzen und alle waren glücklich und friedlich. (Horváth 2017, 357)
Schlamperl entdeckt auf der Insel ein ideales „Kollektiv“ (Horváth 2017, 357), das ihn anzieht, weshalb er bleiben will. Vor allem die Mädchen beim Turnen und Tanzen haben es ihm angetan. Eine versichert ihm: „Man muss innerlich wachsen, an seinem inneren Menschen arbeiten.“ (Horváth 2017, 358) Schlamperl erfährt überdies eine „Liebe auf den ersten Blick“ und beschließt deshalb, zu bleiben und das Narrenschiff zu verlassen, denn der Mensch muss „irgendwo hingehören“ (Horváth 2017, 358). Was Horváth dann über die Sport-Insel berichtet, ist eine nur zu irdisch anmutende ‚Staatsutopie‘, kein idealer Staat:
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[N]atürlich drehte es sich bei diesen Sporttreibenden nur um eine Oberschicht, die Unterschicht, das waren Sklaven – nicht nur aktive, sondern auch passive Mitglieder, und das waren diejenigen, die Geld hatten. Das waren die fördernden Mitglieder, denen die Arena, die Stäbe, die Zielbänder und Stoppuhren gehörten. Diese Mitglieder betätigten sich nicht am Sport. Aber sie waren doch die Ersten. (Horváth 2017, 359)
Schließlich landet Schlamperl im Venusberg, hat dort aber eine negative Liebeserfahrung; keine Utopie ohne dystopische Momente (vgl. Stauffer und Dziudzia 2022, 13). Er erlebt daraufhin eine Art Persönlichkeitsspaltung: „[A]n jedem Kreuzweg teilte er sich, ging ein Schlamperl von ihm fort […].“ (Horváth 2017, 362) Ein „Wirtshaus“ bringt ihm Erlösung von sich selbst, indem alle Schlamperl wieder zu ihm zurückkehren. Er kommt dann unter die Holzfäller und lernt beim Verkaufen des Holzes eine Wirtstochter kennen, deren Vater gerade verstorben ist. Da sagt ihm die Intuition: „Eigentlich bin ich Kellner“ (Horváth 2017, 363). Bald heiraten die beiden: „Weder er noch sie lebten nach den Gesetzen der Religion, aber es schadet nichts, vor den Herrgott hinzutreten und zu sagen: ‚Lieber Gott, wir beide haben uns lieb. Ich bin verliebt.‘“ (Horváth 2017, 363) So wird aus Schlamperl letzlich ein „braver Bürger“ (Horváth 2017, 363): [U]nd das Glück der Zufriedenheit strahlte zum Fenster hinein. Er beugte sich vor der Autorität, denn es ging ihm gut, und die Autorität kam jeden Tag zu ihm zu Gast. Sie nickte ihm freundlich und herablassend zu, klopfte ihm auf die Schultern und gab ihm gute Ratschläge. (Horváth 2017, 363)
Wie so oft endet die Utopie bei Horváth im bürgerlichen Milieu, in der kleinbürgerlichen Beschaulichkeit, im alltäglichen kleinen Glück: „Die romantischen Motive des Romanfragments zerschellen an der gesellschaftlichen Wirklichkeit, das Scheitern selbst wird zur Farce.“ (Kastberger 2007, 66) Von Schlamperl heißt es, dass er eine ganze Folge von „Stationen“ hinter sich hatte, dass der „alte ‚junge‘ Schlamperl […] tot“ war: „Er hatte sich gehäutet. Es war eine brave Haut, etwas monoton, aber glücklich.“ (Horváth 2017, 363) Irgendwie kommen dem Autor an dieser Stelle der Humor und das Utopische abhanden. Wie wenn er dies selbst bemerkt hätte, schlägt die Erzählung dann nochmals einen Haken. Die Stadt, in der Schlamperl wohnt, hat einen König, der ein „gemütlicher“ (Horváth 2017, 364) Mensch ist. Doch seine Minister sind „hemmungslose Egoisten“, „Schurken und Verbrecher“ (Horváth 2017, 364). Jenseits der Grenze leben „richtige Wilde, Menschenfresser“, bei denen „Blutschande“ (Horváth 2017, 364) auf der Tagesordnung steht. Es gehen aber auch Gerüchte um, dass die Wilden „anständige Menschen“ (Horváth 2017, 364) seien. Doch eines Tages steht auf allen Plakaten: „Krieg! Die Wilden wollen uns unseren Gott nehmen und das lassen wir uns nicht bieten! Krieg!“ (Horváth 2017, 364) Das Stichwort „Krieg“ ist bei
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Horváth immer eine Chiffre, um Korruption und Geschäftemacherei anzuprangern; so auch in Himmelwärts. Von den Waffenhändlern heißt es: „Die Waffenfabriken zögerten noch etwas, denn sie lieferten auch den Wilden die Waffen.“ (Horváth 2017, 364) Der Kriegsminister wendet sich schließlich an den Waffenlieferanten: „Sie liefern ja auch den Wilden Waffen, Sie gemeiner Schuft, und wenn Sie mich bei dem Geschäft nicht mitnehmen, dann sag ichs dem König. Der ist ein Tepp und glaubt eh alles!“ (Horváth 2017, 365) Schlamperl, der diese Konversation mitanhört, will sich daraufhin aus dem kriegerischen Geschehen zurückziehen. Doch das kostet ihn beinahe den Kopf. Er wird verhaftet und eingesperrt. Im Gefängnis erlebt er eine Art Erleuchtung: „In den sieben Jahren war es dunkel und es wurde ihm vieles klar. So zum Beispiel, dass man sich rächen muss, dass man helfen muss, dass man sich um alle kümmern muss.“ (Horváth 2017, 367) Damit ist eine Form der solidarischen Utopie angesprochen, wie sie auch den Schluss des Romans Der ewige Spießer kennzeichnet (vgl. oben). Als Schlamperl zum Tode verurteilt wird, taucht ein kleines Weiblein auf, dem er erzählt, was er mitangehört hat. Sie erzählt es weiter und erscheint dann als Personifikation der Revolution, die dazu aufruft, Schlamperl zu befreien. Das Weiblein animiert die Bevölkerung, die Minister zu erschlagen, denn diese seien schuld an dem Krieg. Schließlich wird jemand Kriegsminister, der gegen den Krieg ist und „[e]wige[n] Friede[n]“ verspricht (Horváth 2017, 367). Das ist der Sieg des Pazifismus, eine Utopie, die Horváth schon in Der ewige Spießer behandelt hat und die sein Werk bis zum späten Roman Ein Kind unserer Zeit (1938) prägen wird. Der Sohn des Waffenlieferanten soll bestraft werden, doch einige appellieren an die „Menschlichkeit“ (Horváth 2017, 367), ein Begriff, der als „Komponente des Humanen“ (Fritz 1973, 152) auch in Figaro läßt sich scheiden eine wichtige Rolle spielen wird. Schlamperl ist jedoch dafür, die verantwortlichen Minister und den König zu erschlagen. Die Ausarbeitung endet damit, dass er Minister wird. Wie im Märchen erlangt der Tapfere das Königreich, gelangt der arme Kellnersohn schließlich an die Macht. Das funktionierende Kollektiv, das Horváth im Roman Himmelwärts anhand der Sport-Insel beschreibt, ist eine Utopie, eine ‚Staatsutopie‘, der er immer wieder huldigte. Bereits im Sladek (1929) hatte er den „ewigen Kamp[f ] zwischen Individualismus und Kollektivismus, Egoismus und Altruismus, Internationalismus und Nationalismus, diesem Totengräber der Völker“ (Horváth 2023, 58) zu gestalten versucht, wie er in einem kurzen Pressetext zur Uraufführung schreibt. Bemerkenswerterweise bekennt sich der frühe Horváth eher zum Kollektiv – Schnitzler (1990, 56) spricht diesbezüglich von der „Absage an bürgerlich-individualistische Haltungen“ –, während sich der späte auf das Recht des Einzelnen gegenüber der Masse beruft, eine Entwicklung, die wohl durch die fatalen kollektivistischen Ideologien des frühen 20. Jahrhunderts befördert wurde. So gesehen stellt der Roman Himmelwärts einen Schritt in dieser Entwicklung dar. Horváth optiert hier
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noch für das Kollektiv, allerdings ist dieses im Roman auch nicht ideal realisiert und ist mit diversen Störfaktoren konfrontiert.
3 Himmelwärts III Horváth hat, ausgehend von der Zauberposse Himmelwärts von 1931 (Himmelwärts I), die Fragment geblieben ist, zwei, drei Jahre später ein Stück entwickelt, das die Gattungsbezeichnung ‚Märchen‘ trägt, aber letztlich ein kleinbürgerliches Drama mit Zügen eines Zaubermärchens ist. Wie bei der Zauberposse dürften Ferdinand Raimund und Johann Nestroy hier vorbildhaft gewirkt haben (vgl. Horváth 2020, 20 [Vorwort]). Das Utopische des Märchens Himmelwärts (1934) besteht darin, dass die drei Ebenen Himmel, Erde und Hölle, auf denen das Stück wie selbstverständlich spielt, miteinander eng verflochten sind, wodurch Übergänge und Übertritte möglich werden. So ist etwa der Teufel mit Petrus in einem ständigen Austausch, es werden Seelen aufgenommen und wieder auf die Erde geschickt oder zwischen Himmel und Hölle hin- und hergeschoben. Auch der faustische Pakt der Sängerin Luise Steinthaler mit dem Teufel ist Teufelszeug im wahrsten Sinne des Wortes, eine Negativ-Utopie. Sie erkauft sich um ihr Seelenheil eine irdische Karriere als Operndiva. Als sie jedoch bemerkt, dass ein Leben ohne Emotionen und ohne partnerschaftliche Bindung sinnlos ist, bittet sie den Teufel um eine Vertragsauflösung, zu der dieser schließlich einwilligt. So landet Luise zuletzt in einem armen kleinbürgerlichen Ehebett, im „Traum vom kleinen Glück“ (Bossinade 1988, 154), doch ihre Seele kann sich dort ausruhen, wie es am Schluss des ‚Märchens‘ heißt (vgl. Horváth 2020, 274).
4 Figaro I Die Komödie Figaro läßt sich scheiden (1936) ist nicht nur ein Narrativ von Exil und Emigration, sondern auch ein utopischer Text. Es wurde mehrfach darauf hingewiesen, wie in dieser Komödie Realität und Märchenwelt ineinandergreifen, und wie etwa der positive, utopische Schluss einer demokratischen ‚Staatsutopie‘, einer verkehrten Welt, in der die vormaligen Diener zu Herren werden, eben nur in der Welt des Schlosses, also des Märchens, möglich ist, nicht in der realen Welt (vgl. Balme 1988, 111; Bartsch 2000, 136). Die Komödie entwirft überdies mit dem Begriff der „Menschlichkeit“ (Horváth 2011, 279, 309, 318 et passim) ein utopisches Gegenprogramm zu Exil und Verfolgung. Dieser Begriff wird in Form eines Rätsels eingeführt. Figaro formuliert es folgendermaßen: „Immer gesucht, nie gefunden, und dennoch immer wieder verloren – – Was ist das?“ (Horváth 2011, 318)
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Die Menschlichkeit trägt im Stück letztlich den Sieg davon, indem der Graf Almaviva nicht eingesperrt wird, sondern ein unbehelligtes Leben in der neu strukturierten Gesellschaft des utopischen Staatsgebildes führen kann (vgl. Bossinade 1988, 115). Figaro kommentiert dies mit folgenden Worten: „Jetzt erst hat die Revolution gesiegt, indem sie es nicht mehr nötig hat, Menschen in den Keller zu sperren, die nichts dafür können, ihre Feinde zu sein.“ (Horváth 2011, 370) Mit dieser „Utopie des gerechten Staates“ (Stauffer und Dziudzia 2022, 7) endet das Stück und versucht damit, den düsteren Zeiten des Entstehungskontextes ein fiktives Anderes entgegenzusetzen. Der Schelmenroman Himmelwärts und die Komödie Figaro läßt sich scheiden realisieren damit am deutlichsten das, was Kant Adorno zufolge der Vernunft als Aufgabe zuschrieb, „die Herstellung der Menschheit, die Utopie“ (Adorno 1981, 30). Vom „Paradigma des Menschen“, das in der Komödie realisiert werde, im Gegensatz zum „Kleinbürger“ der Volksstücke, spricht Johanna Bossinade (1988, 118, 120 u. 128–131). Christian Schnitzler (1990, 191) hat darauf hingewiesen, dass in den Jahren 1936 bis 1938 „[m]oralisch gebesserte, gewissermaßen humanisierte Individuen […] die Hoffnungsträger des Autors [Horváth; N.S.K.] innerhalb einer bedrohlichen Umwelt dar[stellen]“. Dies gilt für Figaro läßt sich scheiden, Jugend ohne Gott (1937) und Ein Kind unserer Zeit und hätte wahrscheinlich auch für Adieu, Europa! Gültigkeit besessen.
5 Figaro II Horváths letztes Werkprojekt, das Romanprojekt Adieu, Europa! (1938), von dem nur ein paar Skizzen und Textausarbeitungen überliefert sind, kreist ebenfalls um die Themen Exil und Emigration. Auf einem Entwurfsblatt notiert Horváth insgesamt drei ‚Emigrationen‘ und eine Rückkehr, mit denen er zugleich seinen eigenen, biographischen Weg seit 1933 nachzeichnet (vgl. Huish 1983; Streitler-Kastberger 2018). Zur „Rückkehr“ vermerkt der Autor den Titel „Figaro lässt sich scheiden“ und das Konzept der „Korruption“. Dazu hält er fest: „Die Leere durch die Korruption, die Sehnsucht nach dem Menschen.“ (Horváth 2017, 469) Damit stellt Horváth letztlich wieder die Menschlichkeit als Utopie der bestehenden Korruption gegenüber. Zur dritten Emigration hält er den Werktitel „Adieu, Europa!“ fest und deutet damit an, dass Europa zugunsten eines anderen Kontinents – es ist vermutlich Amerika bzw. die USA (vgl. Horváth 2017, 471) – verlassen werden sollte; eine Idee, die Horváth auch für sich selbst vorgeschwebt haben dürfte. Jedenfalls ist der Blick in den Briefen aus dem Jahr 1938 immer wieder auf Amerika gerichtet, vor allem was Buch- und Filmrechte betrifft. Bekanntlich kam es dazu nicht mehr. Doch die spatiale Utopie eines Neuanfangs in Übersee wird hier deutlich formuliert und auf den alten Kontinent ein Abgesang angestimmt. In einem
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Abb. 2: Manuskriptblatt zum Werkprojekt Adieu, Europa! (1938), Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, ÖLA 3/W 319 – BS 16 a, Bl. 2.
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weiteren Entwurf zu dem Werkprojekt notiert Horváth die Replik des „lange[n] Peter“: „,Ich halte nichtsmehr von Europa […] Denn entweder gibts einen Krieg oder Europa versinkt in der Barbarei.‘“ (Horváth 2017, 465) Beides Grund genug, dem alten Kontinent Lebwohl zu sagen: „Adieu, Europa!“
Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W. „Der Essay als Form“. Noten zur Literatur. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981: 9–33. Balme, Christopher. „Zwischen Imitation und Innovation. Zur Funktion der literarischen Vorbilder in den späten Komödien Ödön von Horváths“. Horváths Stücke. Hg. von Traugott Krischke. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988: 103–120. Bartsch, Kurt. Ödön von Horváth. Stuttgart und Weimar: Metzler, 2000. Bossinade, Johanna. Vom Kleinbürger zum Menschen. Die späten Dramen Ödön von Horváths. Bonn: Bouvier, 1988. Foucault, Michel. „Die Heterotopien“. Michel Foucault. Die Heterotopien. Der utopische Körper. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005: 7–36. Fritz, Axel. Ödön von Horváth als Kritiker seiner Zeit. Studien zum Werk in seinem Verhältnis zum politischen, sozialen und kulturellen Zeitgeschehen. München: List, 1973. Horváth, Ödön von. Der ewige Spießer. Hg. von Klaus Kastberger und Kerstin Reimann. Berlin und New York: De Gruyter, 2010. Horváth, Ödön von. Figaro läßt sich scheiden. Hg. von Nicole Streitler-Kastberger. Berlin und Boston: De Gruyter, 2011. Horváth, Ödön von. Sportmärchen, Kurzprosa und Werkprojekte Prosa. Hg. von Martin Vejvar. Berlin und Boston: De Gruyter, 2017. Horváth, Ödön von. Himmelwärts. Mit dem Kopf durch die Wand. Hg. von Nicole Streitler-Kastberger. Berlin und Boston: De Gruyter, 2020. Horváth, Ödön von. Briefe, Lebensdokumente, Akten. Hg. von Martin Vejvar. Berlin und Boston: De Gruyter, 2022. Horváth, Ödön von. Autobiographisches, Theoretisches, Lyrik, Rundfunk und Film, Revue. Hg. von Nicole Streitler-Kastberger. Berlin und Boston: De Gruyter, 2023. Huish, Ian. „‚Adieu Europa!‘ Entwurf zu einer Autobiographie?“ Horváth-Blätter 1 (1983): 11–23. Kastberger, Klaus. Vom Eigensinn des Schreibens. Produktionsweisen moderner österreichischer Literatur. Wien: Sonderzahl, 2007. Manojlovic, Katharina, und Kerstin Putz. „,Utopokalyptisch‘?! Die Erfindung der Zukunft. Vorwort“. Utopien & Apokalypsen. Die Erfindung der Zukunft in der Literatur. Hg. von Katharina Manojlovic und Kerstin Putz. Wien: Zsolnay, 2020: 7–10. Musil, Robert. Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek: Rowohlt, 1978a. Musil, Robert. Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek: Rowohlt, 1978b. Schnitzler, Christian. Der politische Horváth. Untersuchungen zu Leben und Werk. Frankfurt am Main u. a.: Lang, 1990. Schröder, Jürgen. „Das Spätwerk Ödön von Horváths“ [1976]. Ödön von Horváth. Hg. von Traugott Krischke. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981: 125–155.
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Stauffer, Isabelle, und Corinna Dziudzia. „Dystopische Utopien und utopische Dystopien. Eine Einleitung“. Utopien und Dystopien. Historische Wurzeln und Gegenwart von Paradies und Katastrophe. Hg. von Isabelle Stauffer, Corinna Dziudzia und Sebastian Tatzel. Bielefeld: Aisthesis, 2022: 7–20. Streitler-Kastberger, Nicole. „Ödön von Horváth: Adieu, Europa!“ Das Literaturmuseum. 101 Objekte und Geschichten. Hg. von Bernhard Fetz. Salzburg und Wien: Jung und Jung, 2015: 166–167. Voßkamp, Wilhelm. „Möglichkeitsdenken und literarische Utopie“. Utopien & Apokalypsen. Die Erfindung der Zukunft in der Literatur. Hg. von Katharina Manojlovic und Kerstin Putz. Wien: Zsolnay, 2020: 37–45.
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Utopien als Falle Zukunft in Ödön von Horváths Volksstücken Begreift man literarische Utopien (wie auch Dystopien) mit Wilhelm Voßkamp als von ‚Möglichkeitsdenken‘ gesteuerte Texte, die wesentlich von einem wie auch immer gearteten Verhältnis zur Zukunft definiert werden (vgl. Voßkamp 2016, 3–14), so scheint die Welt der Volksstücke Horváths jenseits davon verortet. Helmut Lethen hat für diese Stücke überzeugend nachgewiesen, dass darin konsequent die in der Zwischenkriegszeit entwickelte Anthropologie der ‚Weltoffenheit‘, der Möglichkeit des Menschen, seine Umwelt zu transzendieren, hintertrieben wird. Die Figuren sind völlig auf ihre eigenen „Biotope“ (Lethen 2001) beschränkt, die zu verlassen ihnen unmöglich ist. Innerhalb dieser geschlossenen Gesellschaften herrscht allein die Zirkulation ihrer Akteur:innen, in der‚Zukunft‘ vornehmlich als Spielform einer ewigen Wiederkehr des Gleichen denkbar ist. Bemerkenswert ist dabei wiederum der Aktivitätsgrad, sind diese geschlossenen Gesellschaften doch keineswegs statisch. Auch wenn umfassende Pläne geschmiedet werden, ergibt sich zum Schluss immer nur eine neuerliche Iteration des Status Quo, allenfalls modifiziert um die endgültige Desillusion einzelner Figuren im Ensemble.
1 Treppenhäuser und Verunmöglichungsräume Die erst 2015 wiederentdeckte frühe Tragödie Niemand (1924) kann als Etüde gelesen werden, die diese Form der ausbruchslosen Wiederholung formal mustergültig durchdekliniert. Der einzige Handlungsort, ein gesichtsloses Treppenhaus im Zinshaus des körperlich behinderten Wucherers Fürchtegott Lehmann, definiert mit seinen Hausparteien zugleich die Positionen, die zu vergeben sind. Fällt eine Figur aus, wird sie sofort nachbesetzt: Die Kellnerin, die entlassen wird, findet sogleich eine „Nachfolgerin“ (Horváth 2019, 343); sie selbst übernimmt die Rolle der Prostituierten Gilda, die zuvor gemeinsam mit ihrem Liebhaber/Zuhälter Wladimir aufgrund des Raubmordes an einem Freier namens Lehmann, nicht mit dem Zinshausbesitzer verwandt, verhaftet wurde; kurz darauf erscheint ein ‚neuer‘ Wladimir (vgl. Horváth 2019, 366). Wo keine unmittelbaren Substitutionsprozesse geschehen, deuten Figuren wie besagter Freier Lehmann, die den Namen, ein markantes biografisches Detail etc. mit anderen Figuren teilen, ein umfassendes System von Doppelgängertum an, das als Reservoir für künftige Substitutionen dient und die entindividualisierte Funktionalität der einzelnen Figuren betont (vgl. dazu https://doi.org/10.1515/9783111205809-009
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Haag 1995, 41–46). Klischeehafte, semiotisch überaufgeladene und damit höchst dubios inszenierte Versatzstücke der Literaturgeschichte wie ein zerbrochener Krug oder ein (falscher) Ring ergänzen eine Ökonomie symbolischen Kreislaufwuchers, aus der kreißend nichts außer dem bereits Bekannten hervorgeht. Der Bruder Fürchtegott Lehmanns, Kaspar, übernimmt schlussendlich die Position des Hausherrn, nachdem dieser beim Sturz über die Treppen gestorben ist, und formuliert mit eschatologischer Unausweichlichkeit: „Nichts wird erlöst!“ (Horváth 2019, 375) Selbst für das Kind, das Ursula, Fürchtegotts Witwe und nun Kaspars Frau, erwartet, scheint das Schicksal als ‚neuer‘ Fürchtegott vorbestimmt: „Und jetzt steig ich hinab und hole seine Krücken herauf / und du, Ursula, hebe sie auf für unser Kind.“ (Horváth 2019, 375) Am Ende der Tragödie zeichnet sich ihre Wiederholung ab. In gewisser Hinsicht finden alle Stücke Horváths bis 1933 in solchen deterministischen Treppenhäusern statt, in denen die Figuren zu ihrer Funktion im System verflucht sind (vgl. zur Raumstruktur hier auch Haag 1995, 168–172). Insbesondere die Volksstücke Geschichten aus dem Wiener Wald (1931), Kasimir und Karoline (1932) und der ‚kleine Totentanz‘ Glaube Liebe Hoffnung (1933) inszenieren vergleichbare Schicksale dieser zum ewigen Kreislauf Verdammten, kaschieren sie aber besser, indem der symbolische Formalismus hinter einer Genre-Kulisse verborgen wird. Besonders anschaulich gerät das in der Genese von Geschichten aus dem Wiener Wald. Ein Nukleus des Stückes sind Fragmente mit dem Titel Ein Fräulein wird verkauft (1930), die zugleich eng mit der Posse Rund um den Kongreß und dem Dramenfragment Die Mädchenhändler (beide 1929) verwandt sind (vgl. Gartner und Kastberger 2003). Die Handlung hebt hier just in einem gesichtslosen Treppenhaus an, in dem sich ein junges Fräulein, ledig zur Mutter geworden, in den Tod stürzen will (vgl. Horváth 2015, 47–96). Zugleich verbarrikadieren die Volksstücke konsequent jeden noch so kleinen Ausweg. Kaspar Lehmann kann in Niemand noch im Rahmen des für die frühen Stücke charakteristisch vernehmbaren religiösen Hintergrundrauschens (vgl. Gamper 1987) mit „manchmal fühlen wir doch auch Sehnsucht in uns / nach dem großen Einen“ (Horváth 2019, 375) zum Ende hin eine fragile Hoffnung auf Erlösung formulieren, wenngleich diese bis zum Jüngsten Tag aufgeschoben wird. In Kasimir und Karoline wird die Sehnsucht vollends zum Abgesang: „Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich – aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln, und das Leben geht weiter, als wär man nie dabei gewesen –“ (Horváth 2009, 505) Eine glückende Flucht aus den geschlossenen Systemen ist in frühen Stücken zumindest denkbar, wenngleich dafür etwa in Zur schönen Aussicht (1927) ein „lieber Gott“ (Horváth 2019, 433) helfen muss, der, anders als der sehr nebulöse ‚Niemand‘ der frühen Tragödie, einen recht konkreten Umfang von „[z]ehntausend Mark“ (Horváth 2019, 433) hat. Christine ist hier als einem der wenigen Horváth-Fräulein überdies vergönnt, eine Fahrkarte zu erwer-
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ben, mit der sie auch wieder wegkommt. Marianne, Karoline und Elisabeth bleibt dies verwehrt: „Sonst sind Züge dazu da, sich davor zu werfen.“ (Lethen 2001, 5) Die Fräulein-Figuren um 1930 sind dabei nicht nur mit der bloßen Abwesenheit von Möglichkeiten konfrontiert, sondern finden sich in regelrechte Verunmöglichungsräume versetzt, in denen ihnen alle Optionen systematisch genommen werden. Das Schicksal Mariannes in Geschichten aus dem Wiener Wald, die den Fehler macht, offen zu rebellieren, steht dafür exemplarisch. Ihren Aufstand gegen die Unterdrückungsgesellschaft der ‚Stillen Straße‘ sowie ihre ‚Verzweckung‘ zum patriarchalen Handelsgut zwischen Vater und Bräutigam und ihren Versuch, ein ‚eigenes‘ Leben zu leben, bezahlt sie im Volksstück-Vordergrund mit einem unbarmherzigen sozialen Abstieg. Auf einer symbolischen Ebene wird sie dafür konsequent ‚zur Sau‘ gemacht, geschlachtet und schließlich in die ‚Stille Straße‘ zurückgetrieben, die ihr endgültig zur Sackgasse wird (vgl. Gartner 2006; Kastberger 2009).Wie sich zeigt, kann nur ein kreativer, utopiefreier Zyniker wie Alfred leidlich unbeschadet durch sie hindurchziehen (vgl. Lethen 2001, 17). Allerdings ist Mariannes private Utopie eines Ausbruchs, der harsch sanktioniert wird, selbst schon eine Finte der abgeschlossenen Dramenwelt, ist ihre Vorstellung davon ‚falsch‘ im weitesten Sinne des Textes wie des sich darin offenbarenden Bewusstseins. Der Dialog mit Alfred an den Strandbänken der „schönen blauen Donau“ (Horváth 2015, 723), als sie ihm ihre Liebe offenbart und die Verlobung aufkündigen will, lässt Marianne so als mehrfach Betrogene dastehen. Sie wird sowohl von Alfreds taktierender Rhetorik getäuscht, die erst durch das fait accompli der Entdeckung durch die Festgesellschaft in zerknirschte Zustimmung umschlägt, als auch durch die eigenen, verkitschten Vorstellungen, die ihr, unfähig zu einem ‚authentischen‘ Ausdruck, emotionale Krücken wie Hemmschuhe gleichermaßen sind. Ihren Auftakt findet das Gespräch in Mariannes Naturschwärmerei, als sie phantasiert, im Freien zu übernachten: „Ach, wir armen Kulturmenschen! Was haben wir von unserer Natur!“; worauf Alfred repliziert: „Was haben wir aus unserer Natur gemacht? Eine Zwangsjacke.“ (Horváth 2015, 723) Die damit aufgebrachte zeitgenössisch-zivilisationskritische Dichotomie von Kultur und Natur läuft ironisch auf das Fake-Setting der Szene hinaus, sabotiert sich in der schiefen Weiterentwicklung des Sprachbildes auf der Dialogebene aber auch gleich selber. Anstelle der Kultur ist es irritierenderweise die Natur, die zur Zwangsjacke (ihrer eigenen?) wird und damit, wie Winfried Nolting argumentiert hat, die „Grammatik des Jargons“ als eigentliche Zwangsjacke offenlegt und schließlich Natur „in der Rede von der Landschaft zum Begriff des verhinderten Wollens“ (Nolting 1976, 21) degenerieren lässt. Während der Zyniker Alfred sich im Verlauf dieser Szene, im Hochstapeln geübter, durch seine Floskeln Freiräume erspielen kann (was er bei der Trennung später auch wieder nutzen wird, um sich gegen
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Kritik zu immunisieren), verheddert sich Marianne beim Versuch, ihre Gefühle zu formulieren, vollends in Klischees (vgl. dazu Kurzenberger 1974, 19–21). Die Sprach-Klischees sind dabei so falsch wie die Szenerie selbst: Die Bilder an der‚schönen blauen Donau‘ evozieren, wie auch die in der Wachau, eine Idylle als bukolisch-utopische Orte vor allem städtischer Sehnsucht. Rasch geben sie sich als Postkartenszenerien zu erkennen, so gestellt wie das Foto, das Oskar am Beginn des Bildes „Am nächsten Sonntag im Wiener Wald“ (Horváth 2015, 715) anfertigt. Es wurde in diesem Zusammenhang von „Täuschungsmanöver[n]“ (Haag 1995, 46) der Schauplätze gesprochen, wo die Natur-Räume eben kein Bruch mit der gesellschaftlichen Ordnung sind, sondern sie im Gegenteil sogar verstärken und als „Vor‐stellung“ Teil der die Volksstücke bestimmenden „Fassade“ werden (Haag 1995, 47). Sie sind keine Alternative und schon gar kein Freiraum, wie auch das dort stattfindende Fest nicht, das bei Horváth fast naturgemäß ein ‚verpatztes‘ ist (vgl. Schmidt-Dengler 1989). Marianne sitzt somit nicht nur ihren Sprachklischees auf, sondern missversteht auch Handlungsort und Fest als ‚freie’ Orte, als Möglichkeit der Transgression. In der Folge schleudert sie sich mit aller Kraft aus ihrem ‚Biotop‘, nur um festzustellen, dass sie für ein Leben außerhalb davon kaum brauchbare Organe hat – abgesehen von ihrem Körper, den sie mit anderen „Donaunixen“ (Horváth 2015, 748) nackt für wenige Schilling zur Schau stellt. Sehnsuchts- und Rückzugsorte verformen sich im Verlauf des Stückes von ihren freundlichen Ansichtskartenfronten in „monströse Idylle[n]“ (Haag 1995, 50).
2 Verdächtige Utopien Wie dubios überdies deklarierte politische, gesellschaftliche oder technische Utopien sind, ist selbst den Figuren in ihren streng abgezirkelten Wahrnehmungshorizonten zumindest diffus bewusst. Während die kleinen, utopischen Idyllensehnsüchte zu Todesfallen geraten, sind politische Utopien allerdings mitunter Teil der umfassenden sprachlichen Falschmünzerei, zirkulieren als einige der vielen „ungedeckten Scheck[s]“ (Bartsch 2000, 43; vgl. auch Vejvar 2018) innerhalb des Jargons. In ihrer am stärksten verdichteten Form artikuliert der gerade arbeitslos gewordene Kasimir aus Kasimir und Karoline die Zweifelhaftigkeit zeitgenössischer, insbesondere technischer Utopien. „Jetzt werden wir bald alle fliegen“, schwärmt Karoline angesichts des Zeppelins, worauf Kasimir meint: Ich scheiß dir was auf den Zeppelin, ich kenne diesen Schwindel und hab mich damit auseinandergesetzt – Der Zeppelin, verstehst du mich, das ist ein Luftschiff, und wenn einer von uns dieses Luftschiff sieht, dann hat er so ein Gefühl, als tät er auch mitfliegen – derweil haben
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wir bloß die schiefen Absätz, und das Maul können wir uns an das Tischeck hinhaun! (Horváth 2009, 465)
Freilich spricht Kasimir hier das Richtige aus den falschen Gründen an. Seine Utopiekritik entspringt vornehmlich ökonomischer Frustration eines durch Technologie ausgedrückten Potenz-Spiels, das er nicht aufgrund einer Einsicht verweigert, sondern nur mangels finanzieller Möglichkeit nicht mitspielen kann, was sich in seiner Angeberei gegenüber den Wiesenbekanntschaften Elli und Maria in Form eines mehrdeutigen, deutlich sexuell konnotierten „Kompressor[s]“ (Horváth 2009, 488) zeigt. Kasimirs Kritik am Zeppelin reflektiert die verschiedener anderer pseudo-kritischer Figuren aus Horváths Texten um 1930, die oft mit utopischen Potenzialen des Marxismus hausieren gehen, etwa die verschiedenen Emanationen des bei Horváth häufig auftauchenden Herrn Reithofer in der Erzählung Das Fräulein wird bekehrt oder im unveröffentlichten Roman Herr Reithofer wird selbstlos (beide 1929). Besonders offensichtlich ist der Vorwand politischer Rede, um eine eigentlich sexuelle Absicht zu verbergen, in der Erzählung. Im Roman, der später in Der ewige Spießer (1930) aufgehen wird, trifft die politische Utopie bzw. Dystopie indirekt mit der von Kasimir bezweifelten technischen Utopie des Fliegens zusammen. Die Beobachtung der über dem Münchner Oberwiesenfeld kreisenden Flugzeuge geht über in Vorstellungen von zweistündigen Reisen nach Australien und das Gespräch mündet alsbald im Untergang Europas. An dem seien „zwar nicht die Maschinen schuld, sondern die anarchischen Produktionsverhältnisse, und er habe gestern gelesen, daß sich das Sphinxgesicht der Wirtschaft langsam dem Sozialismus zuwende, weil sich die Kapitalisten anfangen, zu organisieren“ (Horváth 2010, 715), so der Kulminationspunkt des Gesprächs. Dieses erweist sich als Sammelsurium zeitgenössischer Utopie- bzw. Dystopievorstellungen, die aber bemerkenswert folgenlos und verworren einfache Bestandteile eines dem Geschlechtsverkehr im Englischen Garten vorangehenden Smalltalks bleiben. Selbst einer konkreten Aussicht auf eine neuerlich dräuende Apokalypse begegnen diese vom Ersten Weltkrieg gezeichneten Gestalten achselzuckend bzw. sofort ins Ressentiment übergehend. „Jaja, Europa muß sich schon einigen, denn beim nächsten Krieg gehen wir alle zugrund – Aber was sich da nur die Tschechen wieder herausnehmen!“ (Horváth 2015, 756), so der Zauberkönig in Geschichten aus dem Wiener Wald. Das Schicksal Europas ist zugleich das übergreifende Thema des Romanteils ‚Herr Kobler wird Paneuropäer‘ in Der ewige Spießer. Hier gerät die Paneuropa-Idee Richard Coudenhove-Kalergis, 1922 angesichts der Schrecken des Ersten Weltkrieges als Utopie eines vereinten Europas formuliert, zum anschaulichen Fall, wie politische Utopien den Figuren zu ablösbaren Vignetten für alles Mögliche werden. Paneuropa oder eine behauptete paneuropäische Gesinnung kaschieren blanken Nationalismus genauso wie sexuelles Interesse; und ist die gerade noch frenetisch
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gefeierte Utopie einem erotischen Abenteuer hinderlich, wird sie auch gleich wieder über Bord geworfen, wie Alfons Kobler in seiner Begegnung mit der deutschnationalen Industriellentochter Rigmor Erichsen beweist (vgl. Horváth 2010, 820–821). Der ‚Kobler‘-Teil des Romans ist zugleich ein satirischer Abgesang auf die Zeitutopie, die das utopische Ideal anstelle eines Ortes als zu erringendes Ziel in der Zukunft verortet (vgl. Voßkamp 2016, 135–147). Als Persiflage eines Bildungsromans konzipiert, lässt er seinen Protagonisten in allen Belangen einer persönlichen, charakterlichen Bildung scheitern: Bereits der Grund der Reise – das Kennenlernen einer reichen „Ägypterin“ (Horváth 2010, 785 u. ö.), mithin eine Spielform männlicher Prostitution (vgl. Carstens 1982, 83–94) – ist ein niederer und wird zynisch durch die vorgebliche berufliche Weiterbildung als ‚Kaufmann‘ beschönigt, indes Kobler nichts mehr als ein Hochstapler und Betrüger ist. Die paneuropäische Idee als bildungsbürgerlichen Mehrwert trägt er schließlich allein aus Frustration mit sich nach Hause, sein eigentliches Ziel nicht erreicht haben zu können. Utopien wie Dystopien, egal ob technische oder politische, so könnte man zusammenfassen, sind in Horváths Spießer- und Volksstück-Welt hochgradig dubios und werden von den Figuren bestenfalls zynisch ihren eigenen Zwecken untergeordnet. Die Unglaubwürdigkeit aller Zukunftsvisionen reagiert dabei auf eine bemerkenswerte Inflation utopischen Denkens in der Zwischenkriegszeit, die von (real‐)sozialistischen Utopien bis hin zu völkischen Erlösungsfantasien und den ihnen als jeweils konstitutives ‚Spiegelbild‘ zugehörigen Dystopien das ganze politische Spektrum abdeckten (vgl. überblickend Hardtwig 2003). Als Reaktionen auf die tatsächlich eingetretene Apokalypse des Ersten Weltkriegs und die permanente Krisenstimmung der Weimarer Republik (die die Weimarer Periode so anschlussfähig für unsere Gegenwart zu machen scheint) werden am laufenden Band Utopien wie Dystopien produziert, die Effekte eines umfassenden Zukunftsdiskurses der Zeit sind (vgl. dazu Graf 2008). Sie werden von umfangreichen philosophischen Reflektionen über das Wesen der Utopie flankiert, etwa von Ernst Bloch (Geist der Utopie, 1918) oder Karl Mannheim (Ideologie und Utopie, 1929) sowie ihren dystopischen Gegenparten, prominent etwa in Gestalt Oswald Spenglers (Der Untergang des Abendlandes, 1918). Der inflationären Vermehrung des Angebots entspricht die zunehmende Wertlosigkeit der jeweiligen einzelnen Utopie, die von Horváths Figuren folgerichtig auch wie Inflationswährung behandelt werden: Entweder gibt man das, was man erhält, sogleich aus; oder verwendet die wertlos gewordenen Scheine für ihren Brennwert. Utopie und Dystopie geraten so in den Mechanismus einer„universalisierten Inflation“ (Wolf 2018, 215), die bei Horváth zum grundlegend existentiellen Phänomen wird (vgl. Huder 1970). Dies erstreckt sich sowohl auf politisch-gesellschaftliche Utopien wie auch auf technische, womit sich Horváth von einer rein neusachlichen Haltung abhebt, die hier durchaus noch ein gewisses Erlösungspotential zugelassen hätte (vgl. Lethen 2000, 58–92). Es scheint damit kein
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Zufall zu sein, dass der in der Anthologie 24 neue deutsche Erzähler Hermann Kestens erschienene Text Das Fräulein wird bekehrt zugleich die größte Exposition Horváths innerhalb einer deklarierten Literatur der Neuen Sachlichkeit als auch die Abwendung davon darstellt (vgl. Vejvar 2014).
3 Heimtückische Zukunft Die Figuren Horváths erweisen sich vor dem Hintergrund der Erfahrungen von Weltkrieg und Zeitgeschichte als gewiefte Post-Apokalyptiker; sie als desillusionierte oder gar abgeklärte Utopieskeptiker zu klassifizieren, greift indes zu kurz. Dies nicht zuletzt, da eine Utopie unter Zynikern wie Alfons Kobler oder Alfred immer noch etwas einzubringen vermag oder man Utopien, zusammengeschrumpft auf häusliche Idyllen, zaghafte Versuche der Selbstverwirklichung oder die Vorstellung eines persönlichen Fortkommens, immer noch fatal auf den Leim gehen kann. Es sind kaum andere Topoi denkbar, wenn man Lethens These der Horváth‘schen „Biotope“ als reine Immanenz einer hermetisch abgedichteten Sprach-Lebenswelt konsequent weiterdenkt. Über die „scheinbar utopielos[e]“ (Nolting 1976, 20) Faktur der Volksstücke hinaus ist es die Zukunft selbst, als Ermöglichungsbedingung jeder Utopie oder Dystopie im Sinne eines Möglichkeitsraums, die nicht nur dubios geworden ist, sondern völlig fehlt. Die Kreisläufe der geschlossenen Gesellschaft kennen Zukunft eben nur als ewige Wiederkehr des Gleichen oder als heimtückische List des Schicksals: „Es ist immer der gleiche Dreck“ (Horváth 2009, 506), ruft Karoline, die Unmöglichkeit der Situation erkennend, zuletzt aus. Dem stellt ihr neuer Galan Schürzinger, als illusionsloser Zyniker des Stückes zum „Oberleutnant“ (Horváth 2009, 505) avanciert, die Autosuggestionslehre von Coué und damit den fröhlichen Selbstbetrug entgegen: „Es geht immer besser, besser – immer besser –“ (Horváth 2009, 506). Wie heimtückisch die Zukunft selbst sein kann, kommt in Herr Reithofer wird selbstlos in den Blick, wo Agnes Pollinger der Zukunft (unbestimmt gehalten zwischen ‚ihrer‘ Zukunft und ‚der‘ Zukunft) als Allegorie begegnet; eine ähnliche Passage findet sich auch, der Anna Pollinger zugedacht, in Der ewige Spießer: Zukunft! Da stand nun wieder dies Wort vor ihr, setzte sich auf den Bettrand und strickte Strümpfe. Es war ein altes verhutzeltes Weiblein und sah der Tante ähnlich, nur, daß es noch älter war, noch schmutziger, noch zahnloser, noch vergrämter, noch verschlagener –. „Ich stricke, ich stricke“, nickte die Zukunft, „ich stricke Strümpfe für Agnes.“ (Horváth 2010, 730; vgl. auch Horváth 2010, 832)
Agnes begegnet dieser Allegorie, als ihr der Zimmerherr der Tante, ein an ihr sexuell interessierter Herr Kastner, rät, doch endlich an ihre Zukunft zu denken
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und ihre „Sinnlichkeit produktiv“ (Horváth 2010, 731) zu gestalten. In Gestalt des Strümpfe strickenden „Weiblein[s]“ ist die Anspielung an eine den Faden der Zukunft spinnende Parze der römisch-griechischen Mythologie kaum zu übersehen. Das entwickelte Bild ist so vielsagend wie weitreichend: Nicht nur ist in den aus dem Zukunftsfaden hergestellten biederen Strümpfen die nicht erwähnenswerte Alltäglichkeit des Schicksals Agnes Pollingers signalisiert, eine verborgene Pointe besteht auch darin, dass man, um einen Strumpf zu stricken, diesen Faden rundstricken und damit im Kreis führen muss. In der von Kastner als Zukunftsaussicht vermittelten Stelle als Nacktmodell steht sie folgerichtig auch nur mit (zerrissenen) Strümpfen bekleidet da (vgl. Horváth 2010, 741 u. 743). Die Aussicht auf eine geringe Verbesserung der Lebensumstände führt stracks in Spielformen der Prostitution, wenn Agnes im Atelier des Kunstmalers den Eishockeyspieler und Autobesitzer Harry Priegler kennenlernt, der sie nach Feldafing ausführt, um später mit ihr zu schlafen – die Darstellung in „Fräulein Pollinger wird praktisch“ im Roman Der ewige Spießer wird den geschäftlichen Charakter der Szene vollends vereindeutigen. Der Abstieg Agnes/Annas ist dabei auch kein Moment einer besonders dystopischen Gesellschaftsordnung, sondern die Welt „wie sie halt leider ist“ (Horváth 1988, 203), so Horváth 1932 im Interview mit Willy Cronauer; im selben Jahr wird er in der Randbemerkung zu Glaube Liebe Hoffnung das Verhältnis von Individuum zur Gesellschaft als „gigantischen Kampf“ und „ewige[s] Schlachten“ fassen, in dem bloß die „Illusion eines Waffenstillstandes“ möglich ist (Horváth 2020, 296). In einer Welt, die ist, wie sie ‚halt leider‘ ist, sind Utopien wie Dystopien bedeutungslos und ist ‚Zukunft‘ allein die Aussicht, neuerlich aufs Kreuz gelegt zu werden. Einen Ausbruch aus diesen Konstellationen gibt es nur unter besondere Bedingungen: In frühen Texten wie Niemand und Zur schönen Aussicht ein sehr eigenwilliger ‚Niemand‘ bzw. ‚lieber Gott‘; in Herr Reithofer wird selbstlos bzw. Der ewige Spießer ist es ein unerhörter Akt der Solidarität. Die Vermittlung einer Stelle an Agnes/Anna Pollinger durch Herrn Reithofer ist einer der wenigen Momente genuiner Hoffnung in Horváths Werk dieser Zeit, eine Utopie en miniature, die, naturgemäß, quasi keine Figur des Textes glauben kann. Diese Form des ‚un-monströsen‘ Happy End ist indes selten, und Horváth macht sich schon in parallel entstehenden Texten darüber lustig. In der Posse Rund um den Kongreß muss schon ein veritabler deus ex machina samt Durchbrechung der Vierten Wand aufgebracht werden, um das Ruder der Handlung noch gattungskonform zu wenden: Ein Vertreter des Publikums schreit auf, er wolle seine Posse haben und ist erst zufrieden, als der „Hochzeitsmarsch“ (Horváth 2019, 487) ertönt. Ein übersteigertes Kitsch-Ende, das Horváth in Form eines Hochzeits-Tableaus, ebenfalls flankiert vom Hochzeitsmarsch Felix Mendelssohn-Bartholdys, zunächst auch für Geschichten aus dem Wiener Wald in der Fassung in sieben Bildern erwogen (vgl. Horváth 2015, 702), dann aber zugunsten des bestehenden, ausweglosen Schlusses verworfen hat.
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Ein wie auch immer geartetes utopisches Potenzial in Horváths Volksstücken bleibt damit allein auf eine Wirkung außerhalb des Textes beschränkt: „[D]ie Utopie zu entwickeln, bleibt Aufgabe des Rezipienten. Horváths Werk ist Schema nicht der Utopie, sondern Schema für mögliche Ausarbeitung von Utopie.“ (Nolting 1976, 24) Nolting bleibt hier ganz eng bei Adornos Ansatz einer dialektischen Negation, um einen utopischen Zustand (oder zumindest die Einsicht darin) zu erreichen; hier konkret in Gestalt des Jargons, der so die Negativfolie für den Gedanken an ein utopisch-herrschaftsfreies Sprechen evoziert (vgl. auch Nolting 1976, 49). Für die Dramenwelt, die damit zu einer Art Anschauungsdystopie gerät, bleibt dies aber ohne Konsequenz. Ganz ähnlich, mit Berufung auf Adorno und Bloch, verfährt auch Calvin Jones in seinem Vergleich von Negation und Utopie bei Raimund und Horváth. Jones versteht insbesondere Kasimir und Karoline als Offenlegung falscher Glücksmomente, die zum Ausgangspunkt einer negativen Dialektik der Utopie geraten können (vgl. Jones 1991, 332–336). Jedoch weist Jones auf einen den sprachutopischen Anspruch Noltings stark einschränkenden Aspekt hin: „To a great extent these figures coincide with their limited language, which presents a negative picture of contemporary reality in a manner that is difficult for audiences to overlook or escape.“ (Jones 1991, 334–335) Horváths artifizielle Darstellungsweise ist so ‚nahe‘ an einer sprachlichen Gegenwart, dass seinerseits Dialektik entsteht und eine notwendige Distanzierung schwierig scheint. Die von Lethen festgestellte Zirkulationslogik setzt sich auch hier gewissermaßen fort: In Horváths Volksstücken gibt es kein ‚Dahinter‘, die Demaskierungen sind nur „Drehtüren des immergleichen Diskurses“ (Lethen 2001, 12) und vermeintliche ‚Bruchstellen‘ fraglich.
4 (Todes‐)Fallen Es sind zuletzt allein die kleinen, persönlichen Utopien, die in diesem Ensemble an Unmöglichkeiten die gefährlichsten Irrwege darstellen. In allergrößter Schärfe ist dies in Glaube Liebe Hoffnung umgesetzt, wo das Streben nach einem noch so kleinen Glück zu einer Todesfalle gerät – und Elisabeth ist folgerichtig auch das einzige der Volksstück-Fräulein, das nicht allein einen symbolischen, sondern auch einen realen Tod erleidet. Das vierte Bild des ‚kleinen Totentanzes‘ spielt im möblierten Zimmer Elisabeths, einer der wenigen privaten Innenräume der Volksstücke. Hier findet Elisabeth kurzzeitig eine Erfüllung mit ihrem Schupo, zugleich läuft hier aber auch eine Vielzahl an um die Allegorie des Todes gruppierten Motivketten zusammen (vgl. dazu Gamper 1976 u. Müller 2001), die das Zimmer zum „Grab der Liebe“ (Haag 1995, 102) werden lassen. Während der platt in „Unterhosen“ daliegende Schupo das „Bild des glücklichen Friedens zweier glücklicher Herzen“ (Horváth 2020, 314) bereits ironisiert, bringen die weißen Herbstastern, klassische
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Friedhofsblumen, den eigentlichen Misston ins Bild. „Totenblumen“ (Horváth 2020, 219) heißt sie in der vorangehenden Fassung in sieben Bildern noch ganz direkt der Amtsgerichtsrat. Die Zuflucht ist nur eine scheinbare, denn die Staatsgewalt, die bereits Elisabeths öffentliches Leben zerstört hat, dringt hier in Gestalt eines Kommissars der ‚Sitte‘ bis in ihr Schlafgemach vor und durchwühlt ihre Kästen. Die Staatsgewalt findet darin prompt einen der ‚ihren‘, „der von seiner Uniform nur den Rock und die Mütze anhat“, was den Kommissar „peinlich“ (Horváth 2020, 317) zu berühren scheint. Der Schupo wird sogleich auf Linie gebracht, das häusliche Glück zerbirst. Die privaten Innenräume sind, analog den ‚monströsen‘ Idyllen, nicht die Absenz der alles dominierenden Fassade in Horváths Volksstücken, nicht einmal ein Riss darin, sondern fungieren als Kontrapunkte, die ihre Macht nur noch stärker hervorstreichen (vgl. Haag 1995, 89). So, wie die Bahnhöfe hier keine Fahrkarten verkaufen, scheinen die privaten Zimmer keine Schlösser zu besitzen. Die kurz aufflackernde Utopie häuslichen Glücks ist für Elisabeth damit zu keinem Zeitpunkt eine Aussicht auf ein Happy End, was sich bereits in der ihr Schicksal doppelnden Geschichte zwischen dem Baron mit dem Trauerflor und Maria im vorherigen vierten Bild abgezeichnet hat (vgl. Horváth 2020, 309–310), sondern der Auftakt ihrer endgültigen Vernichtung. Wie die Innenräume Teile der Fassade sind, sind auch die (falschen) Zukunftsvisionen in die Kreisstruktur der Volksstücke eingepasst und führen arglose Figuren wie das Publikum gleichermaßen in die Irre, sind präzise aufgestellte Fallen, die den Fall vorwegnehmen. Die Randbemerkung Horváths zu Glaube Liebe Hoffnung vor diesem Hintergrund konsequent weitergedacht, gibt es somit für die Figuren wie auch für das Publikum der Volksstücke nur die „Illusion des Waffenstillstandes“ im Rahmen des „ewige[n] Schlachten, bei dem es zu keinem Frieden kommen soll“ (Horváth 2020, 296). In diesen Horizont reihen sich auch Potenziale zukunftsorientierten Möglichkeitsdenkens dieser Texte ein, die gegenüber Utopien wie Dystopien als Funktionen der hier per se ‚unmöglichen‘ Zukunft (oder überhaupt einer Veränderung) eine zwischen Gleichgültigkeit und Unbehagen changierende Haltung vermitteln. Sie sind nicht nur sprachlich „imprägniert“ gegen mögliche „Hilfsangebote“ oder „Interventionen“ (Koberg und Kastberger 2013, 131), sondern wehren sich geradezu gegen die Möglichkeit, erlöst zu werden. Denkbar wird bei Horváth in der Zeit um 1930 Glück, abseits eines plötzlich auftauchenden deus ex machina, allein als Form jeglicher persönlichen Utopie, allein in Gestalt einer hochironischen Jagd nach demselben. Gemeinsam mit Robert A. Stemmle stellt Horváth im Revue-Fragment Magazin des Glücks (1932) Glück (wie alles andere auch) als Teil einer kapitalistischen Verwertungslogik dar, das käuflich durch den Eintritt ins Magazin zu erwerben ist. Die Pointe der Revue besteht schließlich darin, dass auch der Versuch, sich dem Magazin zu entziehen, als Teil des Magazins gedacht ist: Die beiden Protagonist:innen Reithofer und Annemarie flüchten sich aus dem Magazin auf eine
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Bank im Berliner Tiergarten, wo sie endlich ihr privates Glück erleben und ein Paar werden. Prompt erscheint King Atlas, der Betreiber des Etablissements und eröffnet ihnen, dass auch diese Bank Teil des Magazins des Glücks sei (vgl. Horváth 2001, 184). Auch hier, unter den gegenüber den Volksstücken umgedrehten Vorzeichen einer Satire auf die Kulturindustrie (vgl. Schuh 2012, 31), gibt es keinen Ausweg. Das Glück zu entdecken, bedeutet hier zugleich zu erkennen, dass man eingeschlossen ist.
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Jürgen Thaler
Utopievermeidung
Überlegungen zum frühsozialistischen Dorfroman Bruski von Fedor Ivanovič Panferov Die junge Sowjetunion hat vielfaches Interesse in den intellektuellen Zirkeln des Westens ausgelöst.¹ Moskau war in diesen Jahren ein begehrtes Reiseziel, das unter anderem Egon Erwin Kisch, Walter Benjamin, Ernst Toller oder Joseph Roth ansteuerten (vgl. Honold 2014). Man war fasziniert von den Möglichkeiten einer neuen Gesellschaft, studierte genau die entstehenden ästhetischen Formen und künstlerischen Praktiken.Von neuen russischen Kinderbüchern und vom neuen russischen Film wollte man sich ebenso inspirieren lassen wie von der neuen russischen Literatur. Insgesamt von einer Kunst, die unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen entstand, andere Aufgaben und Zielsetzungen hatte als diejenige des kapitalistischen Westens. Wien und Berlin waren maßgebliche Umschlageplätze (vgl. Mieraum 1990; Lehmann 2015, 130–190) dessen, was von Osten nach Westen transferiert wurde, um geläufige Formen bürgerlicher, moderner Kunst zu korrigieren, Avantgarden zu proklamieren oder eingeführte Gattungstraditionen neu zu kontextualisieren. Punktuell kamen so eben auch Gattungen – und damit Gattungsfragen – auf den Prüfstand, die in den Zirkeln forcierter westlicher Ideologie und Ästhetik der Zwischenkriegszeit bislang keinen großen intellektuellen Marktwert besaßen – wie eben auch die Gattung des Dorfromans. Die Geschichten über die Dörfer der jungen Sowjetunion sind eine Marke auf der großen Landkarte der universalen Gattung Dorfgeschichte (vgl. Twellmann 2015) die, wie viele andere literarische Formen und Genres, durch Sprachkenntnis oder Übersetzung verfügbar, zur Korrektur von Entwicklungen innerhalb der ‚eigenen‘ Literatur in Stellung gebracht wurden. Man hat diese kulturellen Transfers glücklich unter den Begriff der „wandernden Formen“ gestellt.² Die Gattung der Dorfgeschichte, des Dorfromans mit den Anfängen im frühen 19. Jahrhundert wurde in den 1920er und 1930er Jahren im Westen zumindest aus
Erstmals wurden von mir Überlegungen zu Panferovs Bruski angestellt im Rahmen eines Arbeitstreffens des Projekts „Experimentierfeld Dorf“ zum Thema „Dorfgeschichten der Sozialistischen Moderne“ an der Universität Konstanz im November 2017. Seit 2020 widmet sich ein Forschungsprojekt der Universität Konstanz diesen kulturellen Praktiken unter dem Titel „Traveling Forms/Wandernde Formen“, siehe https://www.uni-konstanz.de/ universitaet/aktuelles-und-medien/aktuelle-meldungen/aktuelles/wandernde-formen/ (10. November 2022). https://doi.org/10.1515/9783111205809-010
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zweifacher Hinsicht unter dem Epitheton ‚neu‘ verhandelt. Inhaltlich und ideologisch wurde der Dorfroman in der Sowjetunion konträr zur westlichen Tradition ausgerichtet, rezeptionsgeschichtlich weckte die Gattung das Interesse einer neuen (professionellen) Leserschicht, die vormals nichts mit dieser Literaturform anzufangen wusste – nun aber unter dem Zeichen neuer gesellschaftspolitischer Formen und Ideen auch dieser Literatur fiebrige Aufmerksamkeit schenkte. Zur frühsozialistischen Spielart der Dorfprosa (vgl. Hofmann 1983; Hiersche 1985) zählt, an prominentester Stelle, der Roman Bruski, den Fedor Ivanovič Panferov in vier Bänden in den Jahren 1928 bis 1937 vorgelegt hat. Dass dieser Roman in der deutschen Übersetzung seines ersten Teiles, die schon 1928, als im gleichen Jahr wie die Originalausgabe, erschien, noch heute sichtbar ist, dass der Name des Autors und der Titel seines Romans außerhalb des (Post‐)Sowjetischen Raums heute noch verhandelt wird, verdankt sich nicht nur seiner außergewöhnlichen Stellung im Kontext heftig geführter (innerrussischer) literaturtheoretischer und literaturpolitischer Debatten auf buchstäblich höchster Ebene und auf höchstem Niveau, sondern auch einer Dorfgeschichte der anderen Art, einer aus dem intellektuellen Milieu der Weimarer Republik: Nämlich, dass Walter Benjamin den Roman in einer Sammelbesprechung unter dem Titel „Russische Romane“ am 15. März 1929 in der Literarischen Welt dann doch besprochen hat. Dies wollte er zunächst nämlich nicht. An Alfred Cohn, seinen Freund aus Jugendtagen, dem er gelegentlich die Möglichkeit verschaffte, Rezensionen zu veröffentlichen, schreibt er: Bitte entschuldige, daß der angekündigte Panferov (‚Die Genossenschaft der Habenichtse‘) nicht kam. Ursprünglich hatte ich es auf meinen Namen genommen und auch schließlich behalten, weil meine russische Freundin, die seit einiger Zeit hier ist, mit Panferov sehr gut bekannt ist und mir allerlei von ihm erzählen will, was ich einer Rezension zugute kommen lassen will. (Benjamin 1997, 446)
Benjamin spielt hier auf Asja Lacis an, jene gut vernetzte Regisseurin aus Moskau, die er auf Capri, wo Benjamin war, um seine Habilitationsschrift zu schreiben, kennen und lieben gelernt hat und die zu seiner wichtigsten Inspirations- und Informationsquelle wurde, was das ‚Neue Russland‘ anging. Man darf davon ausgehen, dass sie Benjamin die Aktualität des Romans verdeutlicht hat. Seine Lektüre des Romans fließt neben der genannten Besprechung auch ein in einen Bericht über einen Vortrag, den der Moskauer Literaturwissenschaftler und Formalist Ossip Maximowitsch Brik bei einer der letzten Versammlungen des großen ‚Vereins der Freunde des neuen Russlands‘ Mitte des Jahres 1930 gehalten hatte.³ Benjamin be-
Zu diesem Verein siehe Lehmann 2005, 140.
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richtete darüber unter dem Titel „Russische Debatte auf Deutsch“ am 4. Juni 1930 ebenfalls in der Literarischen Welt. Walter Benjamin war ein umsichtiger Leser des ersten Teiles des Romans, der unter dem charmanten Titel Die Genossenschaft der Habenichtse auf Deutsch veröffentlicht wurde. Er nennt ihn einen „Aufbauroman der Landwirtschaft“ (Benjamin 1991a, 161), lobt darin, dass es keine „Schlagwörter des Parteiprogramms“ (Benjamin 1991a, 161) gebe, dass sich der Autor an die Wirklichkeit halte und es so vermeide, „Utopie, auch die bescheidenste“ (Benjamin 1991a, 161) zu formulieren. Seine Besprechung fütterte er mit biografischen Details an: Der Autor stamme aus dem Bauernstand, arbeitete sich hoch, war Journalist in einer wichtigen Zeitung, der Krestanskaja Gazieta. Der Roman habe seinem prekären Leben eine Wende gegeben, nach Benjamin seien 30.000 Exemplare verkauft worden, die Filmrechte habe das Sowkino erworben, der Volkskommissar für Bildung A. W. Lunatscharski – der im Roman übrigens an späterer Stelle dann selbst vorkommt – habe das Buch in der Prawda begrüßt. In der Tat stieß der Roman auf großes Interesse der russischen Machthaber: Stalin selbst hat sich dem Roman beherzt angenommen und in einem beeindruckenden Brief an Molotov einen präzisen Plan formuliert, wie der Roman seine größtmögliche Aufmerksamkeit erreichen könnte. Am 9. August 1928 schreibt er an Molotov, der zu dieser Zeit als Politbüromitglied und engster Stalinvertrauter ein führender Antreiber der ‚Entkulakisierung‘ war, als der zwanghaften, oftmals gewalttätigen Enteignung der Bauern: Vyacheslav! You must read Panfyorov’s Bruski. It is a wonderful book. Today’s concentrations in village life, the class struggle, the artisans artels, and the remnants of the old world, all appear in it. All this is described by the writer observantly. I suggest: 1. We make Pravda, Komsomolkaya Pravda, and Bednota publish two-three articles about the content of Bruski in popular form. These articles shouldn’t be artistic-review rubbish; 2. Make Krestyanskaya Gazeta publish Bruski in installments; 3. Commission Shvedchikov to make a film of the novel; 4. Commission the Moscow State Proletars‘ Theater company, perhaps Kirson personally, to dramatize it, if the writer does not want or cannot adapt the novel for the stage; 5. Accept Panfyorov into the Central Committee’s circle and give him all support. Bruski is good because it is an objective work. It does not have the sentimental features that typify Gladkov’s stories about the peasant communes. It is excellent that the novel reflects a contemporary and sound feeling towards the new development in village life. It is true that it does not provide the most typical examples of class struggle and the kolkhoz movement. Real life produces much more plastic and expressive stories. But this is not a big problem. It does, however, depict the new, the most everyday, the most elementary. It could influence the widest mass of peasants, especially the village communists. Well enough for now. J[oseph] Stalin. August 9, 1928. (Kun 2003, 251)
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Stalins forcierte Pläne, dem Roman größtmögliche Öffentlichkeit zu verschaffen, verdeutlichen nicht nur, in welcher Form die Identität von Ästhetik und politischem Willen in der Sowjetunion umgesetzt wurde und wie Kunstformen zur Bildung von Klassenbewusstsein vorgesehen waren, sondern vor allem auch, mit welcher Literatur aus der Sowjetunion man sich im Westen unter anderem beschäftigte. Es lässt sich nicht leicht eruieren, welche Pläne Stalins umgesetzt wurden, gerade die hohe Auflage, die Übernahme der Filmrechte, das Bekanntwerden des Autors sind Momente, die Walter Benjamin wohl von Asja Lacis mitgeteilt bekommen hatte und in seiner Besprechung erwähnt.Während, so meint Benjamin, die Informationen über den Autor und über die Verbreitung seines Werkes in der Sowjetunion vor allem für den russischen Kritiker von Interesse seien, müsse der deutschsprachige Kritiker die Bewunderung im Text selbst suchen: Den deutschen Rezensenten aber muß unmittelbarer ein Anderes betreffen: Wie ist dies mit Geruch und Klima der Wolga-Niederung gesättigte Werk doch gastlich, frei, nach allen Seiten offen, kurz ganz das Gegenteil der süffisanten, kleinbürgerlichen Enge, die hierzulande „Heimatkunst“ genannt wird. Die Erwartungen, Erfahrungen, Hoffnungen, Parolen der Sowjetpolitik sind freilich unter diesen Bauern erst im Entglimmen. Im Buche aber sind sie strahlend da und dringen in das Dorf wie riesenhafte Scheinwerfer ein, die dem Raum mit ihren einander überschneidenden Kegeln ein ungeahntes neues Gesicht geben. (Benjamin 1991a, 161)
Der Verweis auf die „Heimatkunst“ ist nicht unbegründet, wird in dieser Spielart der westlichen Antimoderne in der Regel doch das (gesunde) Dorf gegen die (kranke) Großstadt ausgespielt, die Stadt vom Dorf her kritisiert. Das Dorf im sowjetischen Roman erscheint in einem anderen, beinahe umgekehrten Verhältnis. Es ist das Wolga-Dorf, das sich dem Licht, den Ideen, die aus der Großstadt kommen, zunächst widersetzt, dann aber, getreu den ideologischen Vorschlägen, die in der Stadt formuliert werden, zuwendet und sich zum Besseren entwickelt, und das nicht nur im Bereich der Landwirtschaft, sondern, entscheidend, auch in grundsätzlicheren Belangen des Zusammenlebens und des Sozialgefüges. Die Modernisierung des Dorfes mittels neuester Errungenschaften wie Rundfunk, Strom und Gasleitungen, also Sachen, die keinesfalls Erfindungen des Dorfes sind, mache „aus dem sozialökonomischen Wesen ‚Dorf‘ etwas völlig Neues“ (Benjamin 1991a, 160). Damit formuliert Benjamin seinen zweiten wichtigen Punkt: es geht nicht darum, eine Tradition neu zu schreiben, sondern einen Schlussstrich zu ziehen, um eine gänzlich neue Form dörflicher Gemeinschaft (durch und in der Literatur) zu generieren. Panferovs Romanzyklus ist zweifellos ein Musterbeispiel dafür, wie die Wechselwirkungen zwischen Dorf und Stadt sich kontinuierlich intensivieren. Das Dorf wird wie die Stadt, Städter werden zu Dörflern. Die Leute aus dem Dorf werden in
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der Stadt geschult, um so die Dorfbevölkerung von ihrem Elend zu befreien. Dass sich dabei das Dorf neu organisiert, liegt auf der Hand. Dieser Umstand macht den Roman auf den ersten Blick zunächst ideologisch eindimensional, öffnet aber doch Einsichten in die Gattung und gibt einen Ausblick auf eine interessante Variante, die zumindest die westeuropäische Produktion so nicht bietet. Darauf zielen meine Überlegungen, dass Panferovs Bruski neben vielen anderen Anforderungen und Herausforderungen, die an die Literatur der frühen Sowjetunion herangetragen wurden, eben auch eine Dorfgeschichte ist, die es gattungshistorisch mit ähnlichen Voraussetzungen und Fragen zu tun hat, wie sie die Gattungstradition seit jeher beherrscht: „Das Dorf erzählen“! Wer schreibt über das Dorf? (Also Fragen der Authentizität unterworfen ist.) Für wen schreibt man über das Dorf (Fragen nach Aspekten von Volksaufklärung stellen sich ein.) Was ist das Dorf? (Fragen nach dem sozialen Gefüge, das beschrieben wird.) Wie verhält sich das Dorf zur Stadt? Wie sprechen die Dorfbewohner, die Bauern, und, besonders wichtig, wie werden die Dorfbewohner, die Bauern dargestellt – also Fragen nach der sozialen Klassifikation. Welches Wissen über das Dorf vermag die Literatur zu archivieren? Wie kann dieses Wissen lesbar gemacht werden? Solche und andere Fragen machen den russischen Bauernroman anschlussfähig für manche kulturgeschichtliche Belastungsprobe, der die Literatur der Dörfer und die Dörfer in der Literatur immer schon ausgesetzt war, bis heute: vom Biedermeier bis zu Juli Zeh. Der Blick auf die sozialistischen Varianten öffnet aber auch den Blick für Fragen nach Strukturähnlichkeiten der jeweiligen Gattungsmanifestationen. Der erste Band des Romanprojekts Bruski ist unter dem Titel Die Genossenschaft der Habenichtse 1928 in der Übersetzung von Edith Hajós, der ersten Frau von Béla Balázs, im Wiener Verlag für Literatur und Politik erschienen. Ausgestattet wurde der Band vom Hausgrafiker des Verlags, John Heartfield. Verlag und Gestaltung gaben dem Inhalt des Buches einen zeitgenössischen, revolutionären Dreh. Mit der Publikation des ersten Bandes in deutscher Übersetzung, der gleichzeitig 1928 in Moskau erschienen war, begann eine eher abenteuerliche Übersetzungs- und Rezeptionsgeschichte des russischen Originals; vor allem auch deshalb, weil es den jeweiligen Ausgaben nicht eingeschrieben wurde, dass sie nicht nur Teil eines Ganzen, sondern dass dieses Ganze auch noch als work in progress konzipiert war. Der zweite Teil des Romanprojekts erschien im gleichen Verlag und in derselben Ausstattung unter dem Titel Die Kommune der Habenichtse 1931, der dritte Band wurde in einem Schweizer Verlag, bei Ring, zwar mit gleichem Satzspiegel, aber geänderter Ausstattung und durch einen anderen Übersetzer, nämlich von A. Tschornaja unter dem Titel Mit festem Schritt und gleichzeitig in Moskau in der Verlagsgenossenschaft ausländischer Arbeiter in der UdSSR 1934 veröffentlicht.
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Hitler war zu diesem Zeitpunkt in Deutschland schon an der Macht. 1937 erschien der vierte und abschließende Teil im Original in Russland, der erst im Rahmen der bislang einzigen Komplettübersetzung ins Deutsche übertragen wurde, die 1953 unter dem Titel Wolgabauern im Dresdner Sachsenverlag veröffentlicht wurde. Der detaillierte Verweis auf die Erscheinungs- und Übersetzungsgeschichte von Bruski soll und muss auch verdeutlichen, dass jedes Echo, das dieser Roman ausgelöst hat, logischerweise immer nur von einem ganz bestimmten Teil der Romanserie ausging. Blickt man punktuell auf die verschiedenen russischen Ausgaben dieses vierteiligen Werkes in zwei Bänden, dann stellt man fest, dass Panferov seinen Roman von Auflage zu Auflage umgeschrieben hat. Das heißt, dass die jeweiligen Neuauflagen vom Autor immer wieder verändert wurden. Vor allem überraschend ist die Differenz zwischen der ersten Ausgabe von 1928 und der Neuauflage von 1933, zumal man ja zu berücksichtigen hat, dass die Fortsetzungsbände im engen zeitlichen Umfeld der jeweiligen Neuausgaben erschienen sind. 1928 beginnt der Roman im russischen Original und in seiner deutschen Übersetzung folgend: На гумнах кукишами торчали остатки стогов прошлогодней соломы, сумрачно глядели риги, а из-под навоза таращились желтоватые зеленя. (Panferov 1928a, 3) Auf den Tennen starrten die übriggebliebenen Halme des vorjährigen Heus wie mit einer spöttischen Geste in die Luft, finster blickten die Scheunen, und unter dem Dünger glotzte gelbliches Grün hervor. (Panferov 1928b, 4)
Die Neuausgabe von 1933 vermindert den Einsatz expressionistischer Stilmittel drastisch: Она должна была наступить в конце марта. В конце розового марта, когда утренние оловянные заморзки становятся нежными, как фиалки, ̶ земля должна освободиться от зимнего покрово, отрыгнуться, отдавая пространству испарину, издали похожую на дымку озер. (Panferov 1933, 9) Er sollte Ende März kommen. Am Ende des rosafarbenen März, wenn die morgendlichen Zinnfröste zart wie Veilchen werden, sollte sich die Erde von der Winterdecke befreien, sich rächen, den Raum dem Schweiß überlassen, aus einer Ferne ähnlich dem Dunst von Seen.⁴
Die Ausgabe von 1950 verbessert wiederum die Version von 1933 stilistisch folgendermaßen: Übersetzung aus dem Russischen von Marion Kaufer, Bregenz. Ich danke Marion Kaufer auch für die Hilfe und das Engagement den verschiedenen Fassungen von Bruski auf die Spur zu kommen. Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes mehr als sprengen, die russische Sekundärliteratur zu durchforsten, um Gründe und Praktiken dieser verschiedenen Versionen auszuleuchten. Hier kommt die von mir betriebene „Auslandsslawistik“ definitiv an ihre Grenzen.
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Весна должна была наступить в конце марта. В конце розового марта утренние оловянные заморзки становятся нежными, как фиалки, а земля обильно дышит прозрачной испариной. ̶ Ну, слава те господи, земля отошла, ̶ говорят в такие дни мужики. (Panferov 1950, 5) Ende März muß es Frühling werden. In den letzten Tagen dieses Monats, die manchmal schon einen rosigen Schein haben, werden die zinnernen Frühfröste zart wie Anemonen, und die Erde strahlt in reichen Mengen ihren perlklaren Schweiß aus. (Panferov 1953, 7)
Der Roman Bruski versucht anhand des Dorfes Sirokija Buerak die Kollektivierung der Landwirtschaft darzustellen; die Erzählung setzt im Jahr 1921/22 ein. Stepan Ognev, der Held der ersten beiden Teile des Romans, kehrt mit kommunistischen Ideen und als Rotarmist in sein Heimatdorf zurück; er fordert von der Dorfgemeinde ein Stück brachliegendes Land aus ehemaligem Gutsbesitz, um es gemeinsam mit anderen ‚Habenichtsen‘ zu bebauen und eine Kommune zu gründen. So zeigt sich die klassische Erzählform der Robinsonade im Gewand der frühsozialistischen Dorferzählung.⁵ Trotz des Widerstandes der Kulaken erhält Ognev die „Bruski“ (in deutscher Übersetzung „Schleifsteine“, steht buchstäblich für ein von Steinen überzogenes Stück Grund, hat aber auch eine metaphorische Bedeutung) und wird Vorsitzender des Artels, der wirtschaftlichen Organisation, das die bäuerlichen Arbeiten übernimmt, also einer Art Genossenschaft. Der Roman verliert dann aber rasch das Interesse an der weiteren Entwicklung der Genossenschaft und kümmert sich intensiv um das Leben im Wolgadorf. Ein Überfall einer Bande, die Wahlen zum Dorfrat sowie eine breit ausgesponnene Liebesintrige zwischen Ognevs Tochter und einem Kulakensohn werden verhandelt. Wichtig wird später der Erwerb eines ersten Traktors durch Ognev, der zu einem starken Argument für die Befürworter der Genossenschaft wird. Es tritt eine neue Hauptfigur auf den Plan: Kirill Zdarkin, der versucht, die Bauern von neuen Anbaumethoden zu überzeugen (der also auf Kulturbauern setzt); er sieht aber rasch ein, dass er damit keinen Erfolg hat, und verlässt, unter anderem gezwungen durch Ehezwist, das Dorf; angewidert von einem Ausbruch „von viehischer Leidenschaft“ (Panferov 1928b, 341) der Bauern in Zusammenhang mit der Errichtung eines Wehrs zur Bewässerung der Felder. In der Folge geht das Leben auf dem Dorf weiter, eine neue landwirtschaftliche Maschine wird angeschafft. Man agiert für die Kollektivwirtschaft, Ognev entwickelt sich aber negativ, er verliert den Überblick über die Entwicklungen im Staat, kümmert sich nur um Kleinigkeiten und versucht sogar, sich dem notorischen Getreideaufbringen zu widersetzen, und sympathisiert mit den Bauern, die das Ge Dass sich zum Beispiel auch in Franz Michael Felders Dorfgeschichte Nümmamüllers und das Schwarzokaspale eine Robinsonade findet, sei an dieser Stelle zumindest vermerkt.
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treide vor dem Zugriff der Gemeinschaft verstecken. In dieser kritischen Situation wird der schon bekannte Zdarkin wieder nach Sirokija Buerak entsandt, um zu retten, was noch zu retten ist: Ihm gelingt es, durch den Hinweis auf die drohende Kriegsgefahr, die Bauern zur Getreideablieferung zu überreden. Ognev erleidet eine (literarisch) entscheidende Niederlage bei dem Versuch, den von Treibeis bedrohten Staudamm zu retten. Seine Appelle an die Einsatzkräfte der Kommunarden bleiben wirkungslos. Sie arbeiten erst, als Zdarkin ihnen einen Rubel für ihre Dienste anbietet; Ognev verletzt sich und bleibt querschnittsgelähmt. Im zweiten Buch löst Zdarkin Ognev im Amt ab. Er führt städtische, industrielle Arbeitsformen ein, Festlohn wird durch ein Akkord- und Preissystem ersetzt. Und scheitert, weil sich die Bauern nicht durch Dekrete und Vorschriften erziehen lassen wollen. Der Roman holt an vielen Stellen weit aus, er schildert die Entstehung der Industrie in der Gegend, Zementfabriken, Hüttenwerke werden genannt, die in Wechselwirkung mit der Landwirtschaft für Fortschritt einstehen sollen. Im Dorf Sirokija Buerak und in den Nachbardörfern kommt es zu wüsten Auseinandersetzungen, zu Sabotage, zu Mord und Totschlag, die in der Tat oftmals drastisch geschildert werden, zwischen den Kulaken, Einzel- und Mittelbauern, die Genossenschaft wird zu einer Kommune umgestaltet, die das Leben der Bauern umfassend verbessern soll. Zdarkin, der stählerne Held des Romans, steigt in der Nomenklatur nach oben, erhält aber auch Konkurrenten im Dorf, verheddert sich in Frauengeschichten, zieht in die Stadt. Ganz interessant auch die Schilderungen der Mobilität, die Ankunft der Städter im Dorf mit ihren Autos; Experten kommen ins Dorf, die neue Methoden der Landwirtschaft propagieren, aber auch das Dorf erforschen wollen, über die Erfolge in der Landwirtschaft berichten die Zeitungen, auf Kongressen wird referiert, unvergessen die Aktion, als mit toten Fischen der Acker erfolgreich gedüngt wird. Unvergessen die Audienz, die Stalin gewährt, um sich der Vorschläge aus dem Dorf zu widmen. Neue Leute bringen aber auch Unruhe ins Dorf, nicht nur in die ‚Staryi byt‘, die alten Gewohnheiten, sondern auch in den Gefühlshaushalt der Bauern, Handwerker und Funktionäre, so etwa als gegen Ende des Romans der Maler Arnoldow auftritt, eine interessante Figur, die auch für die sich verlassen fühlende Frau von Zdarkin eine Option in Sachen Liebe darstellt. Am Schluss, nach dichtbedruckten, oftmals gewaltig ausufernden, verqueren 1000 Seiten feiert der Roman „in time“ mit einem großen Fest den 20. Jahrestag der Revolution. „Das große Fest eines großen Landes nahm seinen Anfang.“ (Panferov 1953, Zweiter Teil, 564) Ohne hier weiter auf den Inhalt einzugehen, soll damit doch auch ersichtlich geworden sein, dass es der Anspruch des Romanprojektes war, die Umgestaltung der Landwirtschaft, ihre Kollektivierung Schritt für Schritt zu begleiten, von Band zu Band sollte der Leser erfahren, wie es in der Zwischenzeit im Dorf an der Wolga zugegangen ist, insgesamt von der Genossenschaft für eine gemeinsame Bodenbe-
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stellung hin zu einer Produktionsgenossenschaft, in der Nutzvieh, Zugtiere und Ackergerät vergesellschaftet sind, wo aber auch der Kampf gegen das Kulakentum geschildert wird, der ja propagandistisch wichtig war. So geht ‚Planliteratur‘, die sich hier im Speziellen dem ersten Fünfjahresplan der Sowjetunion unterwarf, durch den das eine Ziel erreicht werden soll, die Landwirtschaft zu kollektivieren. Es ist offensichtlich, dass Panferovs Bruski ein Bewusstsein auf dem Weg zur neuen agrarökonomischen Ausrichtung schaffen will. Die deutschsprachige rezente Diskussion ist getragen von genau diesem gesamtgesellschaftlichen Anspruch der Literatur, einer Idee zum Durchbruch zu verhelfen. Auch in Benjamins zweiter Einlassung zu dem Roman anlässlich des Berichts über eine Diskussionsveranstaltung des schon erwähnten ‚Vereins der Freunde des neuen Russlands‘, bei der der bereits genannte Ossip Brik aus Moskau referiert hat. Es drehe sich um den Grundsatz des „Primats des revolutionären Stoffes“ (Benjamin 1991b, 592), aus dem alles andere sich ableite. Deshalb auch der Einwand des Referenten gegen Panferovs Roman: Da ist Panferov mit seiner „Genossenschaft der Habenichtse“, bestimmt ein schöner Roman; immerhin der Form nach ein Roman wie andere, die Menschen sind realistisch abgeschildert; vorsichtiger: geschildert wie wir sie zu sehen gewohnt sind. „Aber“, fragt Brik, „was soll uns das? Was soll uns der arme Bauer, der ein tüchtiger Kommunist ist, aber freilich ein Trinker? Oder was soll uns der reiche Bauer, der ein Ausbeuter ist, aber freilich ein gutes Herz hat? Ist ein Bauer, der trinkt, ein Kommunist? Ist das gute Herz eines Ausbeuters etwas Gutes?“ (Benjamin 1991b, 592)
Die Diskussion, über die Benjamin berichtet und in die sich neben dem Verleger Wieland Herzfelde auch der ungarische Schriftsteller Béla Illész einbrachte, endete in der Frage nach dem Zuschnitt von Propagandaliteratur, vom Recht auf das Buch im Gegensatz zu reinen politischen Drucksorten, vom Unterschied des objektiven Romans gegenüber taktischen Propaganda-Erzählungen und ähnlichen Fragestellungen der Zeit, denen sich auch noch ein anderer Leser der Habenichtse zuwandte. Nach Erscheinen des zweiten Bandes in deutscher Übersetzung (Panferov 1930) setzt sich Georg Lukács mit diesem Bauernroman auseinander; in der Moskauer Rundschau, einer deutschen Exilzeitung in der Sowjetunion, veröffentlicht er eine umfangreiche Besprechung. Er wird sich an seine Zeit in Ungarn erinnert haben, an eine Zeit, als er noch nicht der marxistischen Doktrin des sozialistischen Realismus und des Klassenkampfes verfallen war, als er feststellte, dass die Übersetzerin des Bandes eine alte Bekannte aus gemeinsamen Tagen zwischen Budapest, Berlin und Heidelberg war, die schon genannte erste Frau seines engen Freundes Béla Balázs: Edith Hajós.
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Es ist bekannt, dass Lukács während seines ersten Moskauer Exils zwischen Herbst 1930 und Sommer 1931 in einer Reihe von Aufsätzen seine ästhetische Position geschärft hat. Alexander Stephan weist darauf hin, dass es gerade diese zwölf Romanbesprechungen in der Moskauer Rundschau waren, in denen Lukács als marxistischer Literaturtheoretiker hervorgetreten sei (vgl. Stephan 1975, 79). Lukács versucht an den zum Zeitpunkt des Abfassens seiner Besprechung vorliegenden zwei Teilen des Romanzyklus seine marxistische Ästhetik zu stählen, indem er zunächst ein Plädoyer für den Zyklus als Möglichkeit, der objektiven Darstellung der Revolution in Schritten gerecht zu werden, hält. „So wird hier der Stoff zur Kontrolle der Formung.“ (Lukács 1931, 4) Oder an anderer Stelle heißt es: „Die Strenge der Komposition solcher Bücher beruht auf der richtigen Widerspiegelung der objektiven Entwicklungstendenzen der Gesellschaft und wird gerade durch die losere Verknüpfung der persönlichen Schicksale umso mehr je richtiger und lebendiger sie gestaltet sind – unterstrichen und gefördert.“ (Lukács 1931, 4) Auch Lukács bemerkt etwas, was auch schon für Benjamin wichtig war, nämlich ein gänzlich anderer literarischer Umgang mit dem Dorf. Was der Dorfliteratur des Westens in der Regel negativ aufstößt, wird der revolutionären Variante zum Vorteil. Das Dorf verliert immer mehr seine Abgeschlossenheit und Weltabgeschiedenheit; immer stärkere Fäden verknüpfen es mit der gesamten Sowjetwirklichkeit; der Klassenkampf, der sich in seinen Häusern und Straßen, auf seinen Äckern und Feldern abspielt, spiegelt immer reicher und vielseitiger die großen Klassenkämpfe um den Aufbau des Sozialismus im Unionsmaßstab. (Lukács 1931, 3)
Der„instinktive, spontane, eruptive“ Ausdruck der „Klassenziele“ der rückständigen Bauern, der sich im ersten Teil nur „in menschlicher“ und „naturhafter“ Form äußert, mache nun einem „bewußteren und weitsichtigeren Handeln und damit einer gegliederten, klareren, politischeren Sprache Platz“ (Lukács 1931, 3): Panferovs Kunst zeigt sich nicht nur in einem feinen Sinn für die allmählichen Übergänge dieser Entwicklung, sondern im schonungslosen Aufdecken der Langsamkeit des Prozesses, der Hemmungen und Rückschläge, des wirtschaftlichen und kulturellen Tiefstands als Basis aller Bewegungen und Gegenbewegungen. (Lukács 1931, 4)
Man sieht, dass Georg Lukács sich hier auf die Seite der Mächtigen, auf die Seite der ‚Planliteratur‘ schlägt, und, so wird man sagen müssen, ästhetischen Rabatt gewährt. Ablesbar ist hier aber auch, dass seine Auseinandersetzung mit dem Roman von Panferov dazu dient, seine Ansichten zum ‚sozialistischen Realismus‘, die er prominent 1938 in der Zeitschrift Das Wort veröffentlicht hat, vorzubereiten. Nach seiner Rückkehr aus Moskau warf sich Lukács in die deutsche Debatte um eine zukünftige Literatur, die in der Zeitschrift Linkskurve ausgetragen wurde. Was in
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Moskau quasi unter Parteiaufsicht formuliert wurde, trug wesentlich zur Ausrichtung der Aufsätze der frühen 1930er Jahre bei. Bruski von Panferov diente Lukács auch hier als Blaupause für den aus seiner Sicht richtigen, den sozialistischen Weg der Literatur. In den hier nicht rekonstruierbaren Diskussionen, die sich um die Begriffe ‚Tatsachenroman‘, ‚Reportage‘ und ‚Gesellschaftsroman‘ in Auseinandersetzung mit Ernst Ottwalts Justizroman Denn sie wissen was sie tun entspannen, ruft Lukács Panferov in origineller Weise in den Ring der heftig geführten Debatte, in die Ottwalt den Bauernroman eingeführt hat (vgl. Ottwalt 1932). Während Ottwalt auf die Notwendigkeit hinweist, egal in welcher Romangattung, die „Romanform [zu] sprengen“, um die Kompliziertheit der „gesellschaftlichen Zusammenhänge“ überzeugend behandeln zu können, verweist Lukács auf Panferov, um die richtige „schöpferische Methode“ in Stellung zu bringen: Oder: ich (Panferov) habe die Entstehung der Kollektivwirtschaft in einem Dorfe gestaltet, also den Prozeß und nicht bloß das Resultat, und ich hielt es für überflüssig, eine Sitzung des Polbüros, eine Beratung im Volkskommissariat für Landwirtschaft unmittelbar einzuführen. Ich meinte, wenn ich jene gesellschaftlichen Kräfte, die im Dorf und der Stadt für und gegen die Kollektivierung kämpfen, wirklich umfassend gestalte, wenn ich also die „Gesamtheit der Momente der Wirklichkeit“ gestaltend erfasse, so habe ich in einem Wirklichkeitsausschnitt die wirklich treibenden Kräfte der Gesamtentwicklung und damit ihre Gesamtentwicklung selbst gestaltet. Denn auch Lenin hebt wiederholt hervor, daß Hegel recht hat, wenn er die Dialektik als „einen Kreis, der aus Kreisen besteht“, beschreibt. (Lukács 1961, 155)
Lukács schreibt davon, dass er Panferov deshalb als denjenigen gewählt habe, der Ottwalt fiktiv antwortete, weil der davon ausgehe (im Jahr 1932), dass der Autor allen bekannt sei (vgl. Lukács 1961, 156). Wichtig ist aber auch, dass der, der übers Dorf schreibt, selbst von dort kommt. Es gibt wohl kaum eine andere Gattung als die Dorfgeschichte, die so stark ihr kulturelles Kapital über die Klasse des Verfassers, der Verfasserin bezieht. Der bäuerliche Bildungsgrad (in der Regel seine Schreib- und Lesekompetenz) war immer schon, und ist es bis heute, ein wesentliches Merkmal, wie die Dorfliteratur mit ihren Protagonisten umgeht, sie darstellt. In Bruski wird der Zusammenhang von Bildung und Lesekompetenz vielfach demonstriert, zum Beispiel anlässlich des Besuchs von Zdarkin bei Stalin. „Gut also!“ sagte Stalin mit leisem Selbstvorwurf. „Wir haben noch viel vor.“ Er nahm Kirills schriftlichen Bericht und begann darin zu lesen. Bei der Lektüre stieß er auf das Wort „Lasus“ und verbesserte es sogleich in „Lapsus“. „Ihre Stenotypistin hat aus einem Lapsus einen neuen Lapsus gemacht“, sagte er und blickte Kirill an. (Panferov 1931, 289)
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Ferdinand Kürnberger, der große österreichische Schriftsteller und Essayist, meinte einmal in Bezug auf Franz Michael Felder, dass der bäuerliche Schriftsteller keine Sprache habe, diese zunächst einmal lernen müsse (vgl. Thaler 2009, 17). Diese abgründige Bemerkung verschärft sich mit Blick auf kommunistische Zusammenhänge, denn so wie die Bauern – und Panferov wird nicht müde darauf zu verweisen, dass auch er aus dem ärmlichen Bauernstand kommt: „Mein Vater, Iwan Iwanowitsch Panfjorow, wurde der ‚unruhige Bauer‘ genannt. […] Er war ein halber Analphabet, konnte kaum seinen Namen schreiben und hatte in seinem ganzen Leben kein einziges Buch gelesen“ (Panferov 1956, 565) –, so hat auch die Revolution keine eigene (literarische) Sprache; ein heißumkämpftes Feld, in das auch Panferov mit seinem Bruski-Zyklus hineingezogen wurde: Maxim Gorki hat nach Erscheinen des dritten Bandes von Bruski (Panferov 1934) eine Debatte über diesen Dorfroman initiiert und damit eine Diskussion über Sprachreinigung losgetreten (vgl. Eisman 1986, 123–192; Rosenthal 2002, 317–318; Robin 1992, 166–178). Dass dabei Distinktionskämpfe im literarischen Feld der neuen sowjetischen Literatur eine entscheidende Rolle spielen, ist offensichtlich, so schreibt Gorki am 2. August 1934 an Stalin: Ich glaube nicht an die Aufrichtigkeit des Kommunismus von Panfjorow, gleichfalls ein unzureichend gebildeter Bauer, gleichfalls hinterlistig und krankhaft ehrgeizig, aber mit einem starken Willen begabt. Er kämpft sehr aktiv gegen die kritische Einstellung zu seinen „Bruski“, hat sich Warejkis als Verteidiger herangezogen, irgendein Gretschischnikow hat ein lobendes Büchlein über ihn herausgebracht, in dem behauptet wird, der „Erkenntniswert“ der „Bruski“ sei „ohne Übertreibung – gewaltig.⁶
Die Debatte um die Sprache in Panferovs Bruski begann mit einem scharfen Artikel, den Gorki im Jänner 1934 in der Literaturnaia Gazeta veröffentlichte. Ausgangspunkt der Diskussion war ein Beitrag von Panferov auf einer vom GICHL-Verlag veranstalteten Diskussion über seinen Roman Bruski (der dritte Band war gerade erschienen), darüber berichtete die Presse. Panferov war zu der Zeit Chefredakteur der Gorki nicht immer wohlgesonnenen Zeitschrift Oktjabr. Es ist hier nicht der Platz, diese Diskussion in den Moskauer Blättern zu rekonstruieren, wichtig an dieser Stelle ist aber, dass die Sprache, die die Bauern sprechen, hier zur Diskussion steht, genauer die Sprache des aus dem Bauernstand kommenden Panferov und jene Sprache, die seine Bauern im Roman sprechen. Gorki tritt für eine Orientierung an den klassischen Autoren ein. Den Romanzyklus Bruski kritisiert er wegen der vielen Zischlaute in einem Satz, wegen einer verqueren Satzökonomie, wegen zu
Dieses Zitat konnte ich 2017 noch präsentieren, 2022 ist es mir – trotz erheblichem Aufwand – nicht mehr möglich, die Quelle nachzuweisen. Ich bitte um zweckdienliche Hinweise, J.T.
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vieler willkürlicher Wortneuschöpfungen, wegen zu vieler Dialektismen und auch Fremdwörter. Die Diskussion wird insgesamt breit geführt. Neben der Diskussion über eine adäquate Sprache der sowjetischen Literatur, neben dem Furor der von Gorki betriebenen Sprachreinigung, gab der Romanzyklus Gorki natürlich Gelegenheit, auf sein eigenes Bauernbild zu sprechen zu kommen. Wie ja überhaupt die Frage, wie man den Bauern in eine Fortschrittsfigur verwandelt, von zentraler Bedeutung nicht nur dieser Form des Bauernromans ist. Gorki hat seine Einschätzungen zum Bauerntum in einem 1922 erschienenen Pamphlet ausgebreitet. Darin liest man über die Dörfer von einem „Milieu von Halbwilden“: „Wer im Leben des Dorfes etwas Eigenes, Neues einführen will, dem tritt es mit Mißtrauen und Feindseligkeit gegenüber.“ (Gorki 1991, 90) Oder aber: Die Arbeit des Städters bietet Abwechslung, ist von bleibendem Wert und für die Dauer. Aus formlosen Klumpen toten Erzes erschafft er Maschinen und Apparate von erstaunlicher Feinheit der Zusammensetzung, die er mit seinem Verstand beseelt, belebt. (Gorki 1991, 108)
Auch die Abgrenzung des Arbeiters zum Bauern ist eine Konstante des Romanzyklus‘ von Panferov, der damit beginnt, dass die, die den Traktor fahren, sich als Arbeiter und nicht als Bauern verstehen. Viele Beispiele könnte man anführen. Ohne diesen unglaublichen Text von Gorki weiter vertiefen zu wollen, ist dennoch schon jetzt offensichtlich, dass Gorki den Bauern als Hemmnis versteht und auffordert, sich den Zielen der Revolution unterzuordnen. Auch Panferov schlägt – soll man sagen? – notgedrungen in die gleiche Kerbe, man liest bei ihm: Der Bauer ist ein Tier, eine Bestie, sagte er, jeder denkt nur an sich selbst. Er will keine Miliz, und er will weder Regierung noch Behörde; er möchte am liebsten nur jemanden haben, der, ohne ihm Steuern abzunehmen, ihn beschützt und ihm gestattet, seinen eigenen Nachbarn zu bestehlen. Aber du willst die Bauern gleich auf einen Haufen zusammen haben. Das gibt es nicht. (Panferov 1958, 301)
Das Bauerntum und der Fortschritt ist das bestimmende Thema in Bruski, freilich verschärft durch die Umstellung der Landwirtschaft von Moskau aus und mit einer anderen Struktur der bäuerlichen Gesellschaft als zum Beispiel in Mitteleuropa. Der Besitz von Land ist dabei ein zentrales Motiv, das auch bei Panferov permanent angesprochen wird. „Also, worum geht es dem bäuerlichen Herzen? Ums Land? Für das Land muß gezahlt werden“, (Panferov 1958, 135) oder: „Ich will, verstehst du, durch eine individuelle Hofwirtschaft zum Kommunismus“ und nun versucht er, Ognev von seinem aufrichtigen Bestreben zu überzeugen, den Bauern die Verschwendung und ihre empörende Einstellung zum Boden abzugewöhnen. „Unser Bauer“, sagte er, „ist gewöhnt, das Land wie eine Kuh zu melken. Jahr um Jahr melkt er es, aber füttern
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tut er sie nie.“ (Panferov 1958, 403) Die Mentalität der Bauern ist ein Knackpunkt der Volksaufklärung, aber auch ein Knackpunkt der sowjetischen Anstrengungen auf diesem Feld der Literatur. Dieses Problem hat meiner Meinung nach niemand besser beschrieben als der Marxist John Berger in seinem von ihm sogenannten „Historischen Nachwort“ zu seinem bemerkenswerten Roman Pig Earth, auf Deutsch: Sauerde. Er beschreibt darin die bäuerliche Überlebenskultur, die sich Zukunft, im Gegensatz zum neuzeitlichen Fortschrittsbegriff, aufgrund der täglichen Erfahrung „als eine Folge wiederholter Überlebensakte“ (Berger 1992, 280) vorstellt. Diese gegen Veränderung resistente Ökonomie des Mangels verpflichtet zur Weitergabe der ‚means of survival‘ an die nachfolgende Generation. Dies führe, so Berger, zu einer ganz besonderen Form des Konservatismus, dieser habe weder zu tun mit dem Konservatismus einer privilegierten Klasse noch mit dem einer ‚sycophantic petty-bourgeoisie‘: Es ist ein Konservatismus nicht der Macht, sondern der Sinngebung. Er stellt eine Vorratskammer der Sinngebung dar, welche von gelebtem Leben und von Generationen bewahrt wurde, die von beständiger und unerbittlicher Veränderung bedroht waren. (Berger 1992, 286)
Diese Ambivalenz, dieser Konflikt zwischen bäuerlicher Überlebenskultur und der Ökonomie des Fortschritts ist letztlich bis heute ungelöst. Es ist aber genau dieser Widerspruch vom Kreislauf des Jahres, an dem die bäuerliche Kultur sich orientiert, dem Festhalten an Grund und Boden, und der Fortschrittsidee, basierend auf welcher Ideologie auch immer, die genau diesen Kreislauf durchbrechen muss, will sie erfolgreich sein. Dass dieser Konflikt in der frühen Sowjetunion ganz besonders an Literarizität gewonnen hat und weidlich ausgespielt wurde, sollte nicht verwundern – die Bruski von Panferov sind wohl auch dafür das beste Beispiel, und, wie Walter Benjamin festgestellt hat, kein utopisches.
Literaturverzeichnis Benjamin, Walter. Gesammelte Briefe. Band III. 1925–1930. Hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997. Benjamin, Walter. „Russische Romane“. Walter Benjamin. Gesammelte Werke. Bd. III: Kritiken und Rezensionen. Hg. von Hella-Tiedemann-Bartels. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991a: 159–161. Benjamin, Walter. „Russische Debatte auf Deutsch“. Walter Benjamin. Gesammelte Werke. Bd. IV/1: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen. Hg. von Tillman Rexroth. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991b: 591–595. Eisman, Wolfgang. Von den der Volkskunst zur proletarischen Kunst. Theorien zur Sprache der Literatur in Rußland und der Sowjetunion. München: Verlag Otto Sagner, 1986.
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Bedingte Erkenntnisse und Urteile Ein Essay Da waren wir tatsächlich verblüfft, der Klaus Kastberger und ich, als uns ein sehr kundiger Literaturwissenschaftler im Herbst 2018 den von Milo Dor und Reinhard Federmann gemeinschaftlich verfassten und 1953 veröffentlichten Polit-Thriller Internationale Zone, den wir in der Reihe Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945 als ein solches Grundbuch würdigen wollten, aus-, und dafür Reinhard Federmanns sechs Jahre später veröffentlichten Roman Das Himmelreich der Lügner für solch eine Würdigung eingeredet hat. Verblüfft nicht nur deshalb, weil weder er noch ich diesen Roman gelesen, sondern bis dahin nicht einmal eine Silbe über dessen mögliche Bedeutung vernommen hatten. Zudem meinten wir, ganz gute Gründe sprächen für Internationale Zone in unserem gemeinsamen Projekt, Kastberger die ersten fünfzehn Jahre allein im Auftrag des StifterHauses Linz, seit seiner universitären Berufung nach Graz auch als Kooperationspartner mit dem Literaturhaus Graz, ich im Auftrag der Wiener Alten Schmiede. Internationale Zone war als eine der nicht sehr häufigen und noch weniger oft glückenden Gemeinschaftsarbeiten zweier Autoren entstanden, die mit Kalkül ein Genre der Unterhaltungsliteratur, den politischen Spannungsroman, für ihre zeit- und sozialgeschichtliche Erzählung über die Nachkriegsjahre in Österreich gewählt hatten, obgleich sie sich als ‚seriöse‘ Schriftsteller verstanden und auch als solche anerkannt sein wollten. Davon, dass es sich in den 1950er und 1960er Jahren bei ‚Unterhaltungsliteratur‘ und bei ‚ernsthafter Literatur‘ um getrennte Welten handelte oder handeln sollte, wird später noch die Rede sein. Doch Günther Stocker hielt aus den Gründen, die er dann in seinem literaturwissenschaftlichen Beitrag über das Buch auch ausformulierte und im dritten Dokumentationsband der Reihe Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945 veröffentlichte, Federmanns Das Himmelreich der Lügner für ein noch wichtigeres Buch. In diesem Referat streifte er auch die Umstände, die vermutlich dazu beigetragen haben mochten, dass weder Kastberger noch ich das Buch kannten: „Drittens hat er sich Anfang der 1970er Jahre im Streit zwischen dem konservativen PEN-Club und der Grazer Autorenversammlung […] auf die falsche Seite geschlagen und heftig gegen Jandl, Jelinek und die Avantgarde polemisiert.“ (Stocker 2019, 341) Nun, wir schlossen uns Günther Stockers Plädoyer vorerst ‚nur‘ in gutem Glauben an und wurden, wie sich dann später herausstellte, durchaus und sogar reichlich belohnt.
https://doi.org/10.1515/9783111205809-011
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Stocker hatte auch von der für heutige Verhältnisse erstaunlich umfangreichen literaturkritischen Reaktion auf Federmanns Roman berichtet – über fünfzig Rezensionen und redaktionelle Beiträge waren 1959 und 1960 in deutschsprachigen Zeitungen erschienen oder in deutschen Rundfunkanstalten gesendet worden. Die meisten Reaktionen seien positiv ausgefallen, meinte Stocker und erwähnte kursorisch auch Einwände. Während sich diese vor allem auf den Stil des Romans bezogen hätten, habe das Lob vor allem den inhaltlichen Aspekten des Buches gegolten. Im Grunde schloss sich Stocker sechzig Jahre nach Erscheinen des Buches derselben, auf inhaltliche Qualitäten konzentrierten Lesart an. Auch wenn sich seine Erzähltechnik wohl kaum als avantgardistisch oder innovativ bezeichnen lässt, so ist sie doch keineswegs naiv, mit Blick auf ebenfalls 1959 erschienene Titel wie Günter Grass‘ Die Blechtrommel oder Heinrich Bölls Billard um halb zehn hingegen durchaus auf der Höhe der Zeit. (Stocker 2019, 343)
Das hatte mich zusätzlich neugierig gemacht, denn meine inzwischen nachgeholte Lektüre des Romans führte mich zu der Ansicht, dass dessen Bewertung unter weitgehender Ausklammerung oder kurz angebundener Abfertigung der formalen Qualitäten nur zu unzulänglichen Beurteilungen und Darstellungen führen müsse; vermutlich auch zu Verzerrungen des Anspruchs, den Federmann offensichtlich mit seinem Roman erheben wollte. Diese weitgehende Nichtbeachtung und Aburteilung der gestaltenden Elemente geben die damals erschienenen Rezensionen weitgehend vor. Besonders erstaunlich ist dies bei Federmanns vorwiegend wohlmeinend eingestellten Schriftstellerkollegen, die sich zu dem Roman in Ihren Besprechungen grundsätzlich positiv eingestellt zeigten. Stocker zitiert in diesem Zusammenhang zu Recht Gerhard Fritsch: Ich kenne keinen Roman, in dem der Februar 1934 und seine vielfache Tragik so unmittelbar und bedrängend dargestellt ist. […] Kein parteipolitischer Roman, dafür ein politischer Roman im besten Sinne, der beste, der in Österreich seit langer Zeit geschrieben wurde. (zitiert nach Stocker 2019, 347)
Herbert Eisenreich wiederum sah in seiner Besprechung für den Bayerischen Rundfunk das „Wechselverhältnis zwischen Ideologie und Wirklichkeit“ eindrücklich dargestellt, das Buch führe die „Blamage der Ideologie“ vor Augen. Einschränkend fügte er allerdings hinzu, die Personen seien zu wenig plastisch und glaubwürdig gestaltet, sie seien „nur mit den politischen Komponenten ihres Lebens geschildert“.
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Hans Weigel hatte in seinem Beitrag für den Norddeutschen Rundfunk zu Recht die Stärken der politischen Analyse Federmanns hervorgehoben, indem er das Buch als „Zeugnis für die Tragödie des demokratischen Sozialismus in Europa“ und als „Roman der heimatlosen Linken“ bezeichnete. Die formalen Aspekte jedoch erledigt er mit der unverbindlichen und etwas sybillinischen Bemerkung, dass mit der anschaulichen Darstellung „vieler Ebenen und Perspektiven“ der „Leser auf seine Rechnung“ komme. Wie und weshalb der Autor diese Ebenen ins Spiel bringt, schien nicht weiter von Interesse. Es ist also ein kleines, ebenso unterhaltsames wie erkenntnisträchtiges Abenteuer, sich diesen Fundus der damals aktuellen Rezensionen etwas genauer anzusehen. Immerhin gab es einige, die auf Federmanns Schreibverfahren etwas deutlicher eingingen. Gunar Ortlepp konstatierte in der Deutschen Zeitung (Stuttgart), es handle sich um einen naturalistischen Roman, den man „bei aller modernen Rückblendetechnik […] als konventionell bezeichnen darf“. Warum naturalistisch, warum konventionell, wird nicht weiter begründet. (Stockers Bewertung scheint nach sechs Jahrzehnten im Grunde diese Sichtweise aufgegriffen und variiert zu haben. Die ‚moderne Rückblendetechnik‘ scheint hier in die etwas kryptische Formulierung ‚durchaus auf der Höhe der Zeit‘ abgewandelt.) Im Hessischen Rundfunk markierte Grete Schüddekopf mit der beiläufigen Bemerkung einer„hintergründig naiven Simplizität“ – zwar etwas unscharf – immerhin eine Spur, der heute nachzugehen genauso lohnt wie den Hinweisen der Winterthurer Zeitung auf die vom Autor eingesetzten „filmischen Mittel, Rückblenden, Reflexionen“. Auch dem Hinweis auf den „bisweilen konstruierten Zusammenhang zwischen den Personen“ wäre zu folgen, und wenn man den einschränkend gemeinten Befund der Neuen Wege in Wien, es handle sich „im Hauptteil“ um eine „gängige Konstruktion der Illustrierten“, der in der Rezension durchaus negativ konnotiert ist, fürs erste neutral auffassen und nicht bewerten wollte, begibt man sich auf eine literarhistorisch möglicherweise ergiebigere Spur. Mit dem Querverweis derselben Besprechung auf Alfons Petzolds Das rauhe Leben (1920) auf andere Weise ebenso. Diese „gängige Konstruktion der Illustrierten“ hatte Die Furche einige Monate zuvor schon mit moralischem Aplomb kritisiert: „Im letzten Drittel unterliegt er jedoch der Gefahr, in die Kolportage abzugleiten. Man nippte eben nicht ungestraft als Literat am Freudenbecher der Wirtschaftswunderseligkeit.“ Die spielerische Kampfansage des Himmelreichs der Lügner gegen die kategoriale Trennung zwischen ‚hoher‘ Literatur und ‚Unterhaltungs- bzw. Illustriertenliteratur‘ wurde zwar durchaus registriert, aber nicht als ein mit der inhaltlichen Ebene verschränktes Konstruktionselement verstanden.
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Für die Teile des bürgerlichen Lagers, die durch ihre Tolerierung und ihren fatalen Pakt mit den Nationalsozialisten eine Menschheitskatastrophe unvorstellbaren Ausmaßes mit heraufbeschworen hatten, bekam in den ersten Jahrzehnten nach den Zer- und Verstörungen auf allen Ebenen der Kulturkampf um die reinen und edlen Formen der Künste eine besondere Bedeutung. Man könnte ihn als einen symbolischen und obendrein kostenlosen Akt der Läuterung deuten, in dem sich praktischerweise auch die Position eines unantastbaren Richteramts über die Verhältnisse jenseits individueller Verantwortlichkeiten von neuem behaupten ließ. In dem Einwand der Furche blitzt jedoch, gänzlich unerwartet und gleichsam aus düster drohendem Himmel, mit der Koppelung von Wirtschaftsentwicklung und ästhetischer Form ein wiederum kühner strukturanalytischer Ansatz auf. Das nur nebenbei erwähnt. Als taugliche Wegzehrung auf einer neuerlichen Lektürereise durch Das Himmelreich der Lügner erweisen sich jedenfalls einige Anmerkungen in dem Kommentar, den der Schriftsteller und Dichter Robert Schindel im Anschluss an seine Lesungen aus dem Buch in den Grundbücher-Veranstaltungen im Jahr 2019 in Graz, Linz und Wien formuliert hat. Darin erkannte er „eine gewisse Parallele“ zu Jura Soyfers So starb eine Partei (Schindel 2019, 349). Gemeinsam wäre den Büchern das „Thema des Verrats“, eine Sichtweise „von unten“ und eine damit verbundene „Kritik am Apparat“ (Schindel 2019, 349): Federmanns Text allerdings erweist sich als frei von ideologischen Positionierungen, er beschreibt ein Panorama der verschiedenen Auffassungen innerhalb der Linken anhand einzelner Romanprotagonisten und bleibt dabei in Bezug auf eine ‚eigene‘ Meinung und Parteinahme des Erzählers zurückhaltend. Das macht den Roman so interessant und lehrreich, denn er widerspiegelt recht authentisch die von den Ereignissen bewegten Gefühls- und Verstandeslagen der Protagonisten, zugleich liest er sich wie ein Manifest für eine demokratische Gesellschaft. […] Dabei fällt Federmanns außerordentlich subtile Textdramaturgie auf. Ereignisse werden erlebt und beschrieben, zu einem späteren Zeitpunkt jedoch noch einmal einer kommentierenden Revision unterzogen. Einzelne Textpassagen werden im Abstand von Jahrzehnten kritisch bewertet. Durch diese Technik wird jede Besserwisserei im Nachhinein vermieden, was bei politischen Romanen eher selten vorkommt. Die Setzung einer selbstkritischen ErzählInstanz ist eindrucksvoll und zählt zu den besonderen Leistungen von Federmanns Roman, der auf diese Weise Entwicklungen und Widersprüche einer politischen Bewegung anschaulich und plausibel macht. […] Federmanns analytischer Befund ist deshalb so überzeugend, weil er erzählend – und nicht erklärend – offenlegt, wie auf der Strecke zwischen politischer Idealvorstellung und politischer Praxis die Lüge erst in das ideologische und in weiterer Folge ins gesellschaftliche Gefüge eindringt und die Verhältnisse ihre unauflösbare Ambivalenz gewinnen. (Schindel 2019, 349–350)
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Soweit und erhellend Robert Schindel, ebenfalls nachzulesen im dritten Dokumentationsband der Grundbücher-Reihe, der schon wenige Monate nach den Veranstaltungen erschienen war. Bemerkenswert ist, dass nichts davon Federmanns kritischen Zeitgenossen von 1959/1960 aufgefallen war. Lässt sich das nur mit den individuellen Eigenschaften der an jener öffentlichen Verständigung über das Buch beteiligten Personen erklären, oder reicht diese Erklärung nicht aus. Warum konnten damals diese Qualitäten des Romans nicht erkannt, gar anerkannt werden? Diese Frage sollte uns ernsthaft beschäftigen. Jedenfalls derart gerüstet fällt bei einer neuerlichen Lektüre des Buches zum einen sofort auf, dass der Text einen möglichen Zweifel an dem, was er erst im Begriffe ist, zu erzählen, von Anfang an artikuliert. Das wird damit begründet, es handle sich doch um Aufzeichnungen aus dem Jahr 1956, mehr als zwei Jahrzehnte nach den ersten Ereignissen, von denen danach berichtet wird und Zeugnis gegeben werden soll, und deshalb könnten nicht mehr alle Einzelheiten präzise erinnert werden. Die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit der gesamten Romanerzählung wird also in Frage gestellt, indem der Ich-Erzähler sogleich anmerkt: „Aber etwas stimmt schon hier nicht.“ (Federmann 1959, 7) Und die Formulierungen „Ich könnte sagen“ oder „Diese Zusammenhänge könnte ich erzählen“ (Federmann 1959, 8) machen schon einleitend klar, dass des Autors erzählerische Kalküle entscheiden, welche Wahrheiten des politischen und persönlichen Lebens zur Sprache kommen werden und welche nicht. Das Programm einer spielerisch-literarischen Artistik ist somit verkündet. Zum anderen zeigt sich bald, wie diese Erzählung strukturiert ist: Der Autor sendet seinen Helden, den Jus-Studenten und späteren Journalisten Bruno Schindler, durch eine lange Reihe von Szenen, die sich als prototypische Situationen des Zeitgeschehens verstehen lassen, charakteristische Lebens- und Gesellschaftskonstellationen, ohne dabei besonders Rücksicht und Bedacht darauf zu nehmen, ob diese Überfülle von so unterschiedlichen Situationen und gesellschaftlichen Zusammenhängen im Lebenslauf eines einzelnen Menschen überhaupt Platz haben können, oder ob dies eher unwahrscheinlich erscheinen muss. Das scheint den Autor nicht sonderlich zu kümmern. Ihm kommt es nicht darauf an, einen realistischen, glaubwürdigen Lebenslauf zu erzählen, sondern auf exemplarische und besonders dramatische Konstellationen hinzuweisen, denen Menschen in Österreich, in Deutschland, in der Sowjetunion jener Jahre ausgesetzt waren und für die es dokumentarische Zeugnisse gibt. Es handelt sich genau genommen um die Zeit zwischen Juli 1927, dem Brand des Justizpalastes in Wien, und November 1956, als im benachbarten Ungarn der Volksaufstand – oder die Revolution, je nach Gesichtspunkt – von der sowjetischen
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Armee niedergeschlagen wurde, worüber der Ich-Erzähler als Journalist von Wien aus berichten soll. Zentrales Scharnier des gesamten Erzählbogens jedoch bilden die bürgerkriegsartigen Ereignisse des Februar 1934 in mehreren österreichischen Städten mit Brennpunkt Wien. Ein Roman, der erzählend durch typische Konstellationen eines Zeitalters führt: Solche Muster scheinen uns doch aus der Literaturgeschichte bekannt? Richtig, das antike Heldenepos und der sogenannte Schelmenroman sind die in dieser Hinsicht führenden und folgenreichsten Genres. Deshalb dürften Urteile wie „zu wenig Plastik und Glaubwürdigkeit“ (Bayerischer Rundfunk); „mehrfache totale Wandlungen der Lebensumstände der Protagonisten nicht voll bewältigt“ (Die Presse – und weitere neun Zeitungen in Deutschland und der Schweiz, mithin ein Teil des elaborierten medialen Netzwerks des Wolfgang Kraus, nota bene); „Held wirkt manchmal blaß und unentschieden“ (Münchner Merkur); „statt Chronologie assoziative Ordnung“ (Deutsche Zeitung Stuttgart); „Abrechnung mit sich selbst nicht geradlinig“ (Neue Zürcher Zeitung); „bisweilen konstruierter Zusammenhang zwischen den Personen“ (Winterthurer Tagblatt); „zu wenige Augenblicke des Selbsterlebens Federmanns“ – „in ‚Menschlichkeiten‘ des Romans verheddert“ (Der Tag, Berlin) zwar den Sachverhalt aus der Sicht der Rezensierenden, aber allesamt nicht die Intention des Autors getroffen haben. Würde jemand auf die Idee kommen, derlei Kritikpunkte ernsthaft zum Beispiel gegen den Abenteuerlichen Simplicissimus Teutsch (1669) (hier sei nochmals an die Ausnahme des beiläufigen Hinweises im Hessischen Rundfunk erinnert: „hintergründig naive Simplizität“), den Don Quijote (1605), den Till Eulenspiegel (1510) oder den Soldaten Schwejk (1925) vorzubringen, erschiene das zumindest als unangemessen und irritierend, jedenfalls irrig und verfehlt. Zwischen den Lebensstationen Wien – Brünn – Leningrad – Moskau – Kusnezker Becken – Brjansk – Kriegsfront und Kriegslazarett bei Bjelgorod – Wien – Frankfurt des Bruno Schindler schaffen nur zweierlei Faktoren einen Zusammenhang: das von Federmann eingesetzte, offensichtlich recherchierte umfangreiche dokumentarische Material und seine ausschweifende Fabulierkunst. Der vom Tages-Anzeiger (Zürich) bemängelte Zerfall der Romanhandlung „in eine unendliche Reihe winziger Einzelszenen“ erfüllt in Federmanns poetologischem Konzept eine pure kompositorische Notwendigkeit. Mit diesen unzähligen Details versucht er einerseits, den einzelnen Szenen so etwas wie Authentizität und Anschaulichkeit zu verleihen, andererseits bilden sie eine Art Sprungbrett in die erzählend ausgestalteten Reflexionen zum Zeitgeschehen und zum Beziehungsgeflecht des Romanpersonals.
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Drei ausgewählte Beispiele mögen dies veranschaulichen: Das Bild, das im Wohnsalon der wohlhabenden Verlobten des besten Freundes des Ich-Erzählers hängt, wird ausführlich beschrieben, während Olga ihren schwer verletzten Verlobten Heinz im nebenan liegenden Schlafzimmer verarztet. Eine Badeszene des Ich-Erzählers Bruno mit seiner jungen Parteigenossin Trude wird mit nahezu impressionistischer Feinheit beschrieben, während sie sogleich als Ausgangspunkt einer Rückblende auf eine Gerichtsverhandlung dienen wird, in der die Beurteilung der brutalen Attacke auf jenen Freund Heinz zu Gunsten der beschuldigten Nazi-Schläger und gegen das Opfer gewendet wird. Die Ausgrabung der im Augarten versteckten Gewehre der sozialdemokratischen Aktivisten am zwölften Februar 1934 wird seitenlang detailreich ausgeschmückt und assoziativ literarisch umspielt – „nein, keine Beerdigung, keine Knochenreste“ (Federmann 1959, 193) usw. usf. –, während diese Aktion unter höchstem Zeitdruck steht und auch kein klares, sondern nur ein vage vorgestelltes Ziel („Dann würden wir dem Kampflärm nachgehen“) (Federmann 1959, 193) verfolgt. Die Beispiele sind auch deshalb gewählt, weil in ihnen eine Eigenschaft des gesamten Buches aufblitzt, die in dessen Rezeption erstaunlicher Weise überhaupt nie benannt wird. Das ist die Ironie. Vielleicht deshalb, weil sich eine Verbindung zwischen dokumentarisch politischer Aufklärung, zeitgeschichtlicher Reflexion und Ironie so vehement gegen jede von herkömmlichen Mustern gebahnte Erwartung richtet. Freilich könnte man an ein Hauptwerk der österreichischen literarischen Ironie, Robert Musils monumentales Romanfragment Der Mann ohne Eigenschaften (1930/33) denken, oder auch an die subtile, jedoch punktuell und nicht methodisch gesetzte Ironie in Hermann Brochs Romanwerk, aber Federmanns Ironie scheint sich geradezu programmatisch gegen die besserwisserische, sich über die Phänomene der Welt erhebende Art der Ironie Musils zu richten. Sie ist, näher bei Broch, bescheidener und spielerischer – so handelt es sich bei dem Gemälde in Olgas Wohnsalon um Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins Bild Hektors Abschied von Andromache, das sich im Niedersächsisches Landesmuseum Oldenburg befindet, und in dessen ironisierende Analyse Federmann die Beschreibung des Zimmerinterieurs übergangslos verwandelt: „Die weinerliche Miene der Andromache auf dem Bild war ein Irrtum.“ (Federmann 1959, 19) Und die Ironie wendet sich mehrfach gegen den Ich-Erzähler selbst, der seine Verliebtheit in die Bräute seiner Freunde beinahe vergessen haben wollte, vergessen, jemals große Lust gehabt zu haben, sich dieses Mädchens zu bemächtigen, während er im Badedress genau neben diesem Mädchen nahe am Wasser liegt, sie ist die Freundin des tatkräftigen und bewunderten Schutzbund-Führers Robert Gernhardt. Auch als er eines der endlich ausgegrabenen Gewehre in Händen hielt, halb auf der Flucht, halb hin zu
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einem vermuteten Gefechtsplatz, wusste er nicht mehr, ob das Gewehr nun entsichert und damit schussbereit war, oder nicht. Und kein differenziertes Wort über das über fünfhundert Romanseiten durchgehaltene Spiel mit den unterschiedlichsten Erzählmustern? Das ist aber nicht die einzige wunderliche Blindheit der veröffentlichten Romanrezeption. Vielleicht ebenso schwer wiegt, dass es bis heute für keinen der österreichischen Rezensenten in Frage gekommen war, in den Referenzrahmen für Federmanns Buch die literarischen Impulse und Bewegungen einzubeziehen, die im selben Jahrzehnt seiner Entstehung in Wien äußerst vehemente Debatten evoziert hatten. Hätte schon angesichts der Gemeinschaftsarbeit Internationale Zone von Reinhard Federmann und Milo Dor der Groschen und der Blick auf die Gemeinschaftsarbeiten der Autoren der Wiener Gruppe fallen können, umso mehr hätte die gleichzeitige spielerische Verwendung der literarischen Trivialmuster des Kolportage- bzw. Illustriertenromans vor allem von H.C. Artmann, Konrad Bayer und Gerhard Rühm auffallen können. Freilich: legten es die ‚experimentellen‘ Autoren einmal mehr auf Subversion, das andere Mal mehr auf Destruktion der tradierten Genres an, so schien Federmann zu versuchen, die konventionelle Romanform letztlich zu erhalten. Ganz sicher kann man sich dabei aber nicht sein. Man könnte aber behaupten, Federmann habe die Romanform auf schillernde Weise ‚riskiert‘. Jedenfalls spielen bei dieser gegenseitigen Nicht-Beachtung die Konkurrenzen literarischer Gruppierungen die entscheidende Rolle, in deren Folge das ästhetische Urteil viel mehr auf gruppendynamischen Notwendigkeiten und viel weniger auf objektiven analytischen Befunden gründete. Das war bei literarischen Gruppierungen schon immer so, man denke nur an die heutzutage eher absurd erscheinenden Abgrenzungskämpfe zwischen Realismus und Naturalismus, in denen die Realisten der zweiten und dritten Generation den Naturalisten im Kern ja nichts anderes vorwerfen konnten, als dem Ursprungsprogramm des Realismus bedingungslos gefolgt zu sein, während der Realismus seine ästhetischen Register und Ansprüche längst gelockert und ausgeweitet hatte. Entscheidend für die Beurteilung aber bleiben die operativen Bearbeitungsschritte des Materials der Sprache und der literarischen Sujets. Für Federmanns Roman lässt sich behaupten, dass er, darin durchaus ein Verfechter der literarischen Moderne, die herkömmliche Romanform gerade durch die Zerlegung der Romanhandlung „in eine unendliche Reihe winziger Einzelszenen“ (Tagesanzeiger Zürich, 27. 8.1960) ‚dekonstruiere‘, während sich in Summe eine Art tachistischcollagierte ‚Rekonstruktion‘ der Romanform ergäbe. In einer tatsächlich literaturwissenschaftlichen Arbeit müsste und könnte nun die Aufzählung und Erläuterung der erstaunlichen Vielzahl von verschiedenen literarischen Ausdrucks- und Erzählformen, die Federmann in eine Art fließende Montage einbindet, stolz paradieren. Im Gegensatz zu den Arbeiten der sogenannten Experimentellen, die vor
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allem vorgefundenes Sprach- und Erzählmaterial gegeneinander mit ‚hartem Schnitt‘ montieren, stellt Federmann die verschiedenen Musterstücke entweder selbst her oder modifiziert zitierte Passagen, bevor er das so erstellte Material anordnet. Jedenfalls vermeidet er in den meisten Fällen diesen ‚harten Schnitt‘, sondern bevorzugt Übergänge in einer Art Verwandlung, mit der er, wie als Beispiel schon angemerkt, die detailgenaue Beschreibung des Interieurs von Olgas Salon nahtlos überführt in die ironisch-kritische Auslegung der Darstellung des Gemäldes, das zugleich ein Teil dieses Interieurs ist. Aber in den 1960er Jahren gab es offensichtlich niemanden in Wien, der aus Neugier und wachem Interesse Analogien und Gegenläufigkeiten in der Literatur, die aktuell in Wien geschrieben wurde, aufspüren und bedenken wollte. Offenbar war die makropolitische Aufteilung von Weltsicht und Weltinterpretation – dafür stehen die Stichworte ‚Kalter Krieg‘ und (auf Österreich und Deutschland beziehbar) – ‚Lagerdenken‘ – so wirkmächtig, dass auch das literarisch-intellektuelle Leben gerne den Regeln eines polarisierenden Parteigängertums folgen wollte. Auch dass Dor und Federmann ihre literarischen Gemeinschaftsarbeiten noch etwas früher als die Mitglieder der Wiener Gruppe umgesetzt und veröffentlicht hatten, scheint selbst heute noch keine weiteren Überlegungen und Rückschlüsse herauszufordern. Nicht nur in Hinblick auf die Bewertung der Erzählstruktur des Romans, sondern auch auf die Ausgestaltung einzelner inhaltlicher Details wäre die durch gesellschaftliche und politisch-historische Entwicklungen bedingte Differenz der Möglichkeiten zwischen dem Erscheinungsdatum des Buches und heute einer Überlegung wert. Während 1960 der Hessische Rundfunk und die Zeitschrift Welt und Wort den Abschnitt aus dem vierten Kapitel Die Lügner, in dem der Freund des Ich-Erzählers, Heinz Rubin, die letzten Stunden und Minuten seines Lebens auf dem Weg ins KZ und dort in der Gaskammer erleidet, als „entsetzenerregendes und unvergessliches Kernstück des Buches“ und als „erschütternd“ (Hessischer Rundfunk, Welt und Wort) hervorhoben und würdigten, scheint es zweifelhaft, ob ein Verlagslektorat heute einer Publikation solch einer Passage überhaupt noch zustimmen würde. Zu effekthascherisch und zu zynisch könnte heute ein moralisierendes Urteil darüber lauten, während für den Autor die Absicht, eine aufklärerische und aufrüttelnde Wirkung auf das sich eben neu erhebende Selbstbewusstsein der Wirtschaftswundergesellschaft, die jede Art von Rückschau als schädliche Geschäftsstörung erachtete, zu erzielen, entscheidend für die Art der Gestaltung des Abschnitts gewesen sein könnte. Man kann Das Himmelreich der Lügner, wie oben dargelegt, wegen seiner Montagetechnik und der Zersplitterung konsistenter Erzähllinien als Roman der Moderne bewerten. Dieselben Argumente, dazu noch die spielerische Reflexion der Erzählform und die ironische Selbstreflexion des Autors genommen, könnten aber
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mit einer gewissen Berechtigung auch zu einer Bewertung als postmoderner Roman führen. Wenn es denn auf eine kategorische Trennung zwischen Moderne und Postmoderne ankäme. Erinnert auch das nicht an die heute überkommen und obsolet scheinenden Abgrenzungsmanöver zwischen Realismus und Naturalismus? Die Stimmen einer nachforschenden jungen Generation in der zeitgeschichtlichen Erzählliteratur – mit Die kleine Figur meines Vaters (2004) von Peter Henisch oder Februarschatten (1989) von Elisabeth Reichart seien dafür zwei Beispiele aus der Grundbücher-Reihe genannt – wurden selbstverständlich als Qualitäten eines realistischen Erzählens verstanden. Aber wem ordnet man die Stimme eines sich selbst, die eigene Erinnerung und das eigene literarische Rüstzeug in spielerischen Zweifel ziehenden Erzählers zu? Herkömmliche Erzählliteratur? Experimentelle Avantgarde? Postmoderne? Es handelt sich immer um Urteile, die von Zeit- und Gesellschaftsumständen oder auch von gruppendynamischen Phänomenen bedingt sind. Problematisch, und in den schlechteren Fällen verfälschend, wirkt denn erst die nicht überprüfte Fortschreibung verzerrender Sichtweisen durch ihre stete Wiederholung im Zitatenkanon der Geschichts- und Literaturgeschichtsschreibung. So sind wir miteins auf ein schwerwiegendes Problemfeld menschlicher Zivilisation geraten, den gemeinsamen Tummelplatz von Legendenbildung, Mythos, geschichtlicher Erzählung und rationalem Erkenntnisstreben, deren Elemente unterschiedslos in denselben Mahlstrom der Traditionsbildung geraten. So kann aus der Überlieferung von unangemessenen und tendenziellen Urteilen mitsamt den daraus folgenden Fehleinschätzungen ein Konstruktionselement verhängnisvoller gesellschaftlicher und politischer Geschehnisse entstehen, deren Fortschreibung durch Jahrzehnte und Jahrhunderte immer wieder zu fatalen Konsequenzen führen. Diese bittere Lehre führt uns derzeit die aktuelle Kriegssituation in Europa sehr nüchtern vor Augen. Im Fall der Literaturgeschichtsschreibung geraten die Folgen meist deutlich harmloser, auch wenn sie aus analog strukturierten Vorgängen entstehen. Jedenfalls handelt es sich bei den veröffentlichten Bewertungen von Federmanns Roman um bedingte Erkenntnisse. Wir stimmen, ich glaube, damit auch für Klaus Kastberger sprechen zu dürfen, Günther Stockers Befund, der Roman bewege sich „auf der Höhe der Zeit“ (Stocker 2019, 343) also gerne zu, aber durchaus nicht nur auf der Höhe jener Zeit seiner Veröffentlichung, vielmehr auch unserer Gegenwart, in der sich seine Kapazitäten ohne Zwang der Parteinahme für oder gegen eine literarische Gruppierung weitaus entspannter und mit viel größerer Freude an seinem Einfallsreichtum ermessen lassen. Es hatte ja, wie gesagt, seine Gründe, dass weder Kastberger noch ich das Buch kannten. Er war über seinen Professor Schmidt-Dengler und dessen prägende literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit den Arbeiten Jandls und Mayröckers,
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Jelineks, der Wiener Gruppe und zahlreicher anderer Autorinnen und Autoren der formalen Erneuerungen in der österreichischen Literatur angeleitet, ich war, ein gutes Jahrzehnt früher, wesentlich durch Rühm, Mayröcker und Jandl in Wien literarisch sozialisiert, sodass es mich nicht wundert, aus Gründen persönlicher Verbundenheit damals auf die Arbeiten eines durch seine Funktion bedingten – und eher vermeintlichen als tatsächlichen – kulturpolitischen Widersachers nicht weiter geachtet zu haben. Dass Federmann durchaus zu den Autoren der literarischen Neuerung gezählt hätte werden können, hatte ja niemand behauptet oder erkannt. Am ehesten noch, und das auf sehr mittelbare Weise, der experimentelle Dichter Reinhard Priessnitz, indem er für die Neuauflage von Internationale Zone im Medusa-Verlag gesorgt hatte. Was aber in jener Auseinandersetzung damals zwischen PEN-Club und Grazer Autorenversammlung die ‚richtige‘ Seite gewesen wäre? Betrachtet man die Kontinuität eines international sich artikulierenden politisch-kulturellen Engagements des PEN-Clubs, so kommt den kulturpolitischen Engagements der Grazer Autorenversammlung höchstens ein passagerer Charakter zu. Seit Jahrzehnten nunmehr ist gar keine Aktivität in dieser Richtung zu verzeichnen. Standespolitische Agenden hatte die Grazer Autorenversammlung von vornherein an die IG Autoren (später IG Autorinnen Autoren) abgegeben, wo jedoch der enge Federmann-Freund Milo Dor Funktionen und Verantwortungen übernommen hatte, so wie später auch in der Literarischen Verwertungsgesellschaft. In diesen Funktionen waren PEN-Mitglieder längst aktiv, bevor von Mitgliedern der GAV ein Engagement zu registrieren war. Und zöge man dazu noch u. a. Federmanns frühes ästhetisch-formal akzentuiertes Erzählspiel in Betracht: Die richtige Seite? Die falsche Seite? Wer? Was? Wie? Wo? Wann? Man ersucht um genaue Analysen und Begründungen. Es ist also höchste Zeit, Das Himmelreich der Lügner aus den mit zeitgemäßer Partialblindheit formulierten Zuschreibungen zu befreien und zusammen mit seinem ästhetischen, politischen und gesellschaftlichen Umfeld nochmals zu bedenken. Eine neuerliche Lektüre, zusammen mit einer Durchsicht der Zeugnisse seiner Rezeption, mag zu einer lohnenden und produktiven Unternehmung geraten und wird vielleicht auch näher an die Schreibabsichten des Autors heranführen. Und es ist nicht das einzige Buch, dem solch eine unvoreingenommene Kur sehr gut bekäme. Aber eines muss uns wohl klar bleiben: Was immer wir uns dabei vornehmen werden, es wird sich auch bei unseren Bewertungen und Rückschlüssen um bedingte Urteile handeln.
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Kurt Neumann
Literaturverzeichnis Federmann, Reinhard. Das Himmelreich der Lügner. München: Langen Müller, 1959. Schindel, Robert. „Die hellsichtige Aktualität von Reinhard Federmanns Roman ‚Das Himmelreich der Lügner‘“. Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945. 3. Lieferung. Hg. von Klaus Kastberger und Kurt Neumann. Wien: Zsolnay, 2019: 349–350. Stocker, Günther. „‚was die rettenden Schubfächer der Archive nie erreicht‘. Reinhard Federmann: ‚Das Himmelreich der Lügner‘“. Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945. 3. Lieferung. Hg. von Klaus Kastberger und Kurt Neumann. Wien: Zsolnay, 2019: 340–348.
Presseauswahl Studio Vorarlberg, 11. 7. 1960 Die Furche: Weihnachten 1959 Kritische Blätter / Walter Helmut Fritz – ohne Angabe Hessischer Rundfunk / Grete Schüddekopf, III/1960 Bayerischer Rundfunk / Herbert Eisenreich, 27. 1. 1960 NDR / Hans Weigel, 7. 2. 1960 Deutsche Rundschau, Stuttgart / Kristian Schäffer, Heft 12 Wort in der Zeit, Wien / Gerhard Fritsch, Dezember 1959 Die Presse, Wien / Wolfgang Kraus, 20. 12. 1959 Münchner Merkur / Burkhard Nadolny, 1. 11. 1959 AZ, Wien / j.h., 10. 12. 1959 Deutsche Zeitung, Stuttgart / Gunar Ortlepp, 21. 11. 1959 Hamburger Echo / Heinz Albers, 7. 11. 1959 Tagesanzeiger, Zürich / anonym, 27. 8. 1960 NZZ / N.N., 25. 8. 1960 Neue Wege, Wien / N.N., März 1960 Welt und Wort, München, Tübingen / Fritz Knöller, Heft 4/1960 Winterthurer Tagblatt / th.t., 10. 9. 1960 Ostbrief, Würzburg XII/1960 Kölnische Rundschau / d., 29. 10. 1959 Der Tag, Berlin / Werner Wien, 6. 3. 1960
Martin Huber
„Sankt Stephan zerfällt zu Asche“ Thomas Bernhards frühe Österreich-Dystopie in Ein Brief aus einem Drama Am 21. Oktober 1957 wendet sich Thomas Bernhard aus dem Kärntner Maria Saal, wo er sich damals als Gast der Lampersbergs für längere Zeit aufhielt, in einem handschriftlichen Brief an Gerhard Fritsch, adressiert an die Wiener Städtischen Büchereien, dessen damalige Arbeitsstätte. „[D]a ist“, so kommt Bernhard ohne Einleitungsfloskeln sofort auf den Punkt, „das kurze Stückl, von dem ich erzählt habe – es ist aus einem größern Zyklus von ‚Essays‘. Ich würde mich freuen, wenn Du’s drucken könntest!!!“ (Fellinger und Huber 2013, 15). Und wie wichtig ihm sein Anliegen ist, unterstreicht er nochmals zu Ende des kurzen Briefes, wo es heißt, „er brauche so notwendig ein paar Kreuzer“, und wo er abschließend noch fragend anregt, „das Manuskript vielleicht auch bei der ‚Presse‘ unter[zu]bringen“. Bernhards dringender Wunsch nach einer Publikation erfüllte sich damals – aus bisher ungeklärten Gründen – nicht; erst postum wurde Ein Brief aus einem Drama, so der Titel des siebenseitigen Typoskripts mit handschriftlichen Korrekturen des Autors (Wienbibliothek, Nachlass Gerhard Fritsch: 4. 20. 18.; Thomas-Bernhard-Archiv NLTB; SL 14.13) als späte Pointe in der Presse vom 7. Februar 2014 erstveröffentlicht (vgl. Bernhard 2015c, 527–528). Wäre Bernhards Text damals veröffentlicht worden, hätte der nur acht Jahre jüngere Claudio Magris für seine 1959 begonnene Dissertation über ein weiteres, ganz aktuelles Untersuchungsmaterial eines Autors verfügt, dessen literarischer Durchbruch mit dem Roman Frost erst noch bevorstand und just in jenem Jahr 1963 erfolgte, in dem auch Il mito absburgico nella letteratura austriaca moderna erscheinen sollte (deutsch 1966 in der Übersetzung von Madeleine von Pásztory als Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur bei Otto Müller in Salzburg, jenem Verlag, bei dem 1957 auch Bernhards erster Gedichtband Auf der Erde und in der Hölle erschien; Neuauflage bei Zsolnay, dem Verlag des „Großvaters mütterlicherseits“, vgl. Magris 2000; Claudio Magris war es übrigens auch, der 1977 zusammen mit Wolfgang Kraus in seiner Heimatstadt Triest das erste Bernhard-Symposium organisierte, zu dem Thomas Bernhard zusammen mit Hedwig Stavianicek anreiste und eine Lesung hielt). Eine genaue Lektüre dieses bis heute wenig bekannten Textes Thomas Bernhards lohnt sich, da er bei allem Wandel seines Schreibens und bei aller Zuspitzung und Potenzierung der öffentlichen Wirksamkeit seiner Österreich-Kritik in den folgenden drei Jahrzehnten ein Licht wirft auf das schon in den Jahren seiner lihttps://doi.org/10.1515/9783111205809-012
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terarischen Etablierungsversuche ausgeformte Unterfutter seines Österreich-Bildes. Bernhard entwirft darin ein dystopisches Bild der Zukunft Österreichs vor der Folie einer glorreichen, eindeutig habsburgisch konnotierten Vergangenheit, wobei er diesen Befund einerseits auf ganz Europa ausdehnt, andererseits auf Wien als Zentrum dieser diagnostizierten Entwicklung fokussiert. Wie schon aus dem Titel ersichtlich, ist Bernhards „Essay“ in Form eines Briefes an einen namenlosen „liebe[n] Freund“ (Bernhard 2015c, 345) verfasst, was es mit dem im Titel ebenfalls genannten „Drama“ auf sich hat, das auch zum Missverständnis Anlass geben könnte, es würde sich hier um einem Brief aus einem Theaterstück handeln, wird sich erst im Verlauf der weiteren Lektüre herausstellen. Dem „liebe[n] Freund“ wird jedenfalls gleich im ersten Satz eröffnet, dass es sein „großes Unglü ck“ sei, dass er „jetzt existiere[]“ (Bernhard 2015c, 345). Und sogleich wird eine Zeitachse von einer erfüllten Vergangenheit in eine defizitäre Zukunft postuliert – „Es war, es ist, es wird nicht mehr sein“ (Bernhard 2015c, 345) – wobei in der Gegenwart noch ein Nachhall vergangener Größe zu hören ist. Deren Belege stammen aus der Vergangenheit der habsburgischen Metropole, wobei zunächst jene Kunstform evoziert wird, die Thomas Bernhard wie sein philosophischer Gewährsmann Schopenhauer für die höchste hielt – die Musik: „Sie hören eine Musik, die den Ruhm dieser Stadt und den Ruhm dieses Volkes verbreitete, die Ozeane mit Leichtigkeit und Eleganz überbrückte“ (Bernhard 2015c, 345). Dass es sich bei „dieser Stadt“ um Wien, spezifischer um die habsburgische Residenz handelt, wird spätestens aus der Fortsetzung klar, in der davon die Rede ist, dass die Musik „mit den Zymbeln im Schloß Schönbrunn begann auf einen Wink jener Kaiserin, deren Töchter das Reich auf die wunderbarste und natü rlichste Weise vergrößerten“ (Bernhard 2015c, 345). Bernhard bringt damit, ohne zunächst seinen Namen zu nennen, Mozart, „die Musik gewordene Idee Österreichs“ schlechthin, wie Magris – Werfel zitierend – ihn in seiner Untersuchung nennt, ins Spiel (zit. n. Magris 2000, 44), ist damit doch wohl das Vorspielen des sechsjährigen Mozart vor Maria Theresia im Spiegelsaal des Schlosses Schönbrunn gemeint. Gleichzeitig wird mit Maria Theresia eine zentrale Habsburger-Herrscherfigur aufgerufen („die größte Gestalt der österreichischen Geschichte“; Magris 2000, 40) und darüber hinaus die habsburgische Heiratspolitik (tu felix Austria nube) superlativisch gerühmt. Als weitere Beispiele vergangener Größe ist vom „Hymnus des österreichischen Geistes und der österreichischen Philosophien, die einmal mehr beherrschten, als heute zu rühmen ist“ (Bernhard 2015c, 345) die Rede, bevor die Landschaft gepriesen wird – eine Konstante, die sich auch noch beim späteren Bernhard gerade im Kontrast zur Einschätzung des österreichischen Staates findet. Der Briefschreiber spricht vom „Quell einer Landschaft, die sich nicht nur in sanften Hü geln, hohen schneebedeckten Bergen, verlassenen Seen und berü hmten verschlossenen Kathe-
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dralen erschöpft“ (Bernhard 2015c, 345). Die aus dieser Landschaft hervorgegangene „Größe und Überlegenheit“ könne man zwar noch „hören“, aber, so fragt der Briefschreiber suggestiv, ist sie nicht nur noch eine papierene, archivierte Erinnerung, „ist es wahr, daß Sie es nur aus den Bü chern Ihrer Bibliothek, die sie sich mühsam haben sammeln müssen, hören […]?“ (Bernhard 2015c, 345) „Die Leidenschaft Ihrer Bü rger heiß[e] Reisen“, fährt der Briefschreiber fort, wobei zumindest zwei der genannten Städte neben einer zeitweiligen habsburgischen Vergangenheit bzw. Signifikanz für die österreichische Geschichte durchaus auch eine autobiographische Grundierung erkennen lassen: „Sarajewo kennen Sie“, heißt es da und „Ihnen ist Venedig zur zweiten Heimat geworden“ (Sarajewo besuchte Bernhard mit Hedwig Stavianicek im Herbst 1955, Venedig im Jänner 1956 und im April 1957; vgl. Huber, Mittermayer und Karlhuber 2001, 207). Nach einem Gedankenstrich und einem irisierenden „denn“ (Reisen als, zumindest zeitweilige, Flucht vor dem Untergang? – aber gerade in eine Stadt, deren „Mythos“ der drohende „Untergang“ mit-konstituiert?) kehrt der Text in die habsburgische Residenzstadt zurück, die als Zentrum und zugleich Menetekel für die Zukunft des ganzen Kontinents angesprochen wird. Als Pars pro toto für die Stadt wird dabei die Kathedrale in ihrem Zentrum genannt: „denn nirgendwo stirbt Europa mehr, als in seinem erhabenen Mittelpunkt: in Wien!, der Kern fault, Sankt Stephan zerfällt zu Asche“ (Bernhard 2015c, 345–346). Absatzlos, ja im selben Satz wird als weiteres Indiz dieser Verfallsgeschichte angeführt, dass „die Namen der Chirurgie und der Medizin, die Sie in Ihren Schulbü chern zuerst entdeckten, […] längst keinen Glanz mehr“ (Bernhard 2015c, 346) hätten – womit wohl, auch wenn abermals keine Person genannt wird, die Wiener medizinische Schule und speziell, da die Chirurgie extra hervorgehoben wird, Theodor Billroth gemeint sein dürfte. Bernhards Weg in die Innenstadt von seinem Wiener Domizil in der Wohnung Hedwig Stavianiceks in der Döblinger Obkirchergasse, in der er seit August 1957 polizeilich gemeldet war, führte ihn durch die nach dem berühmten Chirurgen benannte Straße vorbei an dessen Wirkungsstätte im Rudolfinerhaus. Nach Musik, Habsburger-Residenz, Nationalheiligtum und Medizinschule folgt in der Aufzählung vergangener und vom Verfall und/oder Vergessen bedrohter kultureller Glanzleistungen die Nennung zweier Werke der österreichischen Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nämlich die Titel zweier Stücke des ebenfalls nicht namentlich erwähnten Ferdinand Raimund: „Sie erkennen kaum mehr das Märchen- und Zauberspiel, den ‚Barometermacher’ und den ‚Verschwender’“ (Bernhard 2015c, 346). Ein „marmornes Standbild“, entdeckt „in einem dieser kaiser- und königlichen Höfe, zwischen den wohlgenährten Putten der Herrenhäuser“, erscheint als „ein Friedhof, auf dessen prunkvollen Grabsteinen Gras wächst“, wo es dem Brief-
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Adressaten gar nicht mehr einfällt, „die unzählbaren großen und kleinen Namen […] zu entziffern“ (Bernhard 2015c, 346). Diese Namen von „Tänzerinnen und Poeten, Sängern und Staatsmännern“ bezeichnen keine gegenwärtige, lebendige kulturelle oder politische Praxis, sondern sind – abermals verwendet Bernhard dieses Bild – „nurmehr Inhalt eines süß und sehr schmerzlich duftenden Buches, das Sie gelangweilt zuklappen“ (Bernhard 2015c, 346). Für eine (Traum-?)Nacht möge der Freund werden wie sein Vater, beim Wiedertreffen „bei Sonnenaufgang“ solle er ihm erzählen, was er erlebt habe, wobei aber (weil zu schmerzlich?) geographische oder historische Evokationen der Monarchie gemieden werden sollen: „[S]chwärmen Sie nicht von Bosnien und der Herzegowina, reden Sie nicht von Böhmen und Ungarn und erinnern Sie mich nicht an den Namen Clemenceau“ (Bernhard 2015c, 346; Bernhard spielt hier wohl auf den angeblichen Ausspruch des französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau an, der im Zusammenhang mit dem Friedensvertrag von St. Germain en Laye geäußert haben soll: „L‘Autriche, c‘est ce qui reste“). Vielmehr solle sich ihr Gespräch „[r]eduzieren […] auf die sieben Millionen Hinterbliebenen, auf die Milchkühe im Montafon […], […] die Unfähigkeit der Minister, die in ihrem Privatberuf Metzger und Schuhhändler, Eisenbahnschaffner und Versicherungsabenteurer sind“ (Bernhard 2015c, 346–347). Weiters solle – wie es in einer zunächst enigmatisch erscheinenden Metapher heißt – die Rede sein vom „Kopf, von dem der Körper mit einem ü berseeischen Messer abgetrennt wurde“ (Bernhard 2015c, 347). Damit dürfte ein weiteres Mal auf den Friedensvertrag von St. Germain en Laye (und den von Trianon) angespielt werden, mit dem „überseeischen Messer“ die Beteiligung der USA am Ersten Weltkrieg und die Bedeutung derselben für dessen Ausgang gemeint sein bzw. das „Vierzehn-Punkte-Programm“ des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, worin das Selbstbestimmungsrecht für die „Völker Österreich-Ungarns“ gefordert wurde, auf welcher Grundlage sich die Nachfolgestaaten der Donaumonarchie konstituierten. Und der Kopf ist dann wohl das territorial radikal verkleinerte Österreich oder noch spezifischer die für den Kleinstaat nun sehr große Hauptstadt Wien, die ob dieses Verhältnisses nach 1919 oft als ‚Wasserkopf‘ bezeichnet wurde. In einer weiteren Wendung des über den Umgang mit der Vergangenheit offenbar hin- und hergerissenen Briefschreibers fordert er den Freund dann doch wieder auf, ihn an vergangene Exzellenz zu erinnern, wobei er selbst die Namen abermals nicht nennt und der Brief daher abschnittsweise den Charakter eines Österreich-Quiz annimmt: „Nennen Sie mir die Namen der Musik und Literatur, ich will sie hören – auch den, der mit der Schiffsschraube zusammenhängt und den andern, der ü ber dem Suezkanal nach Osten strahlt“ (Bernhard 2015c, 347). Wahrscheinlich waren die hiermit gemeinten Josef Ressel und Alois Negrelli in den 1950er Jahren noch mehr im Bildungs-/Schul-Kanon verankert als das wohl heute der Fall
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ist. Gerade den Namen, der „nicht zu oft“ genannt werden sollte, nennt der Briefschreiber dann selbst: „[S]agen Sie nicht zu oft den Namen Strauß, das macht uns alle zu einem Haufen lächerlicher Alltagsgeschöpfe“ (Bernhard 2015c, 347). Was diese Ablehnung begründet, wird nicht ausgeführt – möglicherweise wird deren Musik als für zu wenig ernsthaft und daher als inadäquat der historischen Situation empfunden, wird doch der Freund aufgefordert, „Zeuge und Mitleidender“ zu bleiben „dieser unserer traurigsten aller Völkergeschichten!“, ist von der „Angst vor dem Untergang nach dem Untergang“ die Rede, von der „Angst und Verzweiflung über den Hinfall nicht nur dieser einen und einzigen Epoche“ (Bernhard 2015c, 347). „Seit hundert Jahren“ bröckle „der Stein ab“ (womit der Beginn dieses Verfallsprozesses, nimmt man diese Zeitangabe wörtlich, jedenfalls schon tief im 19. Jahrhundert angesetzt wäre, nämlich genau in der Ringstraßenära, die gemeinhin nicht als Verfallszeit rezipiert wird), Kirchenlieder „übertünch[t]en oft diese Zerfallsmusik“ – und der Rat des Briefschreibers, der offenbar nicht an die politische oder sonstige Beeinflussbarkeit dieses historischen Prozesses glaubt, an den Freund besteht in der Aufforderung, all dies als Rezipient, als Zuschauer eines Theaterstücks zu verfolgen: „[B]etrachten Sie dieses grandiose Lust-Schauspiel von einem erhöhten Platz aus, beobachten Sie den Absturz dieses glänzenden Akrobaten – spectrum austriae – […] mit dem Blick des zwanzigsten Jahrhunderts, […] und atmen Sie ruhig und ohne Verbitterung die Vielfältigkeit dieses dramaturgisch erstklassigen Dramas ein“ (Bernhard 2015c, 347–348) – womit sich auch der zweite Teil des Titels erklärt: das Drama, von dem hier die Rede ist, ist die Geschichte und Entwicklung Österreichs. In der Folge wird das „Bühnenbild“ dieses Theaterstücks des Verfalls nochmals und facettenreich ausgemalt, wobei Schönbrunn abermals eine der Kulissen bildet: Dem Freund, einem „der bedauernswü rdigsten Opfer der laufenden Geschichte“, würde „kein Gänsemenü bei Franz I. mehr zuteil“, seine „Karosse“ sei „in die Wagenburg gewandert“ (Bernhard 2015c, 348). Nach Namedropping von Aischylos bis Pascal und Verlaine wird abermals unterstrichen, dass hier „vom Untergang“ die Rede ist, „vom Sterben einer erhabenen Lebenszeit, eines Volkes, eines Reichs, in dem Sie mit Ihrem Leib und mit Ihrer Seele gefangen sind“ (Bernhard 2015c, 349). Auch eine imaginäre oder tatsächliche Flucht nach Übersee („pflanzen Sie Reis in Texas“) kann diesen Prozess nicht aufhalten: Sie werden als faules Enkelkorn dieser riesigen Fäulnis im Herzen Europas, dieser österreichisch-ungarischen Monarchie, absterben, denn dieses natü rliche Gebilde aus Poesie und Ökonomie, aus Religion und Aristokratie, ist […] tot […]. (Bernhard 2015c, 349)
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Die „Dirigierenden unseres Staates“, die „Verwalter des Ruhmes“ werden als „Biersäufer auf Staatskosten“, „raffinierte[] Gesetzerlasser“ und „sozialreformierend[e] Toilettewitwen“ (Bernhard 2015c, 349) diskreditiert. Abermals wird der vergangene Glanz durch die Aufrufung von Musik und Orten evoziert, „wo die Musik aus den Schlössern kam, an der March und an der Donau, in Kärnten und in Tirol, im flachen und im hü geligen Land“, Orte, an denen im Kontrast dazu heute „die Tiere dieses Verfalls an der Tränke“ (Bernhard 2015c, 350) stünden. Die „Fü rsten und die fü rstlichen Dichter“ seien tot, „uns“ erginge es „wie es Pompeji erging“, allerdings hätten wir „nicht in einer einzigen Nacht“, „sondern über ein ganzes Jahrhundert“ „unseren Herd“ (Bernhard 2015c, 350) verloren. Und dann mit einem Bildwechsel von der Vulkanasche zum Wasser: Venedig würde sich ausbreiten, „es ist, als wü chse die Lagune ü ber Europa, die rauschhaften Wasser der Fäulnis erreichen Wien, die letzten Eckpfeiler, die Kirche und die Theater werden hinweggespü lt von der unterirdischen Flut der kranken Götter“ (Bernhard 2015c, 350). „Aus dieser Flut, die deutlich die Merkmale der Verwesung“ trage, höre der Freund „noch einmal ein Menuett von Mozart, eine Fuge von Bach – aber es ist alles schon ü berdeckt von Lachen und Traurigkeit, denn Sackleinen paßt nicht mehr zu den Tanzschritten des Herrn Haydn“ (Bernhard 2015c, 350). „In den Museen“ würde „uns die Angst“ befallen, die „aus den Vitrinen heraufsteigt und durch unsere Nasenlöcher den Weg zum schutzlosen Herzen findet“, weil nämlich „dieses Land, das einmal, vorgestern, noch ein Reich war, vor dem Gott selbst die Götter niederknien ließ, in dem die Sonne nicht unterging und das von Wein- und Weizenduft lebte, aus dessen unerschöpflichen Wäldern der Honig der Philosophien und der Musik floß“, „zum sommerlichen Treffpunkt allerweltlicher geschlechtsloser Museumsbesucher herabgekommen“ (Bernhard 2015c, 350–351) sei. In der Folge wird der Freund als eine Art (imaginärer) Museumsführer angesprochen, der „den Flügelaltar von Sankt Wolfgang […] und den Verduner Altar zu Klosterneuburg“ (Bernhard 2015c, 351) hervorziehen solle, der Abraham a Sancta Clara „präludieren“ und „betonen“ solle, „daß die Burgen einmal stark waren und Speere genügten, den Feind, der aus der Pußta kam, im geeigneten Augenblick aufzuspießen“ (Bernhard 2015c, 351). Er möge dabei nicht vergessen, dass er sich „ in dem von der Ersten Republik gegrü ndeten Museum“ (Bernhard 2015c, 351) befinde, hier würde er alles sehen, was Ihr Herz schwer macht und Ihre Seele traurig, Sie sehen hinter dem Glas Ihrer Jugend die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Maria Theresia, Ottokar, Franz und den Kronprinzen Rudolf, die böhmischen Fü rsten, Metternich, und den Herzog von Reichsstadt, Mozart und Schubert, Grillparzer und den lieben Augustin, Ferdinand Raimund und Nimbsch von Strehlenau […]. (Bernhard 2015c, 351–352)
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Er sehe „das glorreiche Gebäude“ seines Vaterlandes, seiner Geschichte, „eine unvergleichliche Klarheit und eine symphonische Dü sternis, wie sie nicht ein zweites Mal erschaffen werden kann auf dieser Erde; […] den Anfang und das Ende einer patriarchalischen Welt“ (Bernhard 2015c, 352). Der Freund möge „zu jeder Gelegenheit und Stunde“ betonen, dass er dieses Land liebe, dann sage er nämlich „die reinste Wahrheit“ (Bernhard 2015c, 351). Und zum Schluss bittet er ihn, „diese Stätte des Ruhms, der Trauer und der erhabenen Mü digkeit nicht nur mit dem Ihnen angeborenen Gefü hl tiefsten Respekts, sondern in treuer Ergebung und schmerzhafter Liebe, die Sie als kostbarstes Gut von Ihren versunkenen Vätern ererbt haben“ (Bernhard 2015c, 352) zu verlassen. Denn „[d]ieses Land“ sei „noch immer eitel“, „diese Menschen“ jedoch „nicht mehr von Gottes Ruhm, sondern nurmehr von Gottes Gnaden“, was an ihnen „liebenswü rdig“ sei, sei „ihre unbegrenzte Begabung und Armut“, aber verachtenswert sei ihre „heiter[e] Lust am Zerstören“: [D]ieser schauerliche Ablauf der Geschichte ist ihr alleiniges Werk, diese Fäulnis, die unsere Säulen zerfraß, haben sie gesät, wenn auch im Taumel ihres musikalischen Temperamentes, so doch im Auftrag der rastlosen Mächte der Finsternis. (Bernhard 2015c, 352)
Man mag das für den Widerhall Freumbichler’scher Gedankenwelten in der Formulierungslust eines sich noch hauptsächlich als Lyriker verstehenden Jungautors halten – etwa einen Monat vor seinem Brief an Gerhard Fritsch war im September 1957 Bernhards erster Gedichtband Auf der Erde und in der Hölle bei Otto Müller in Salzburg erschienen, in dem sich im Gedicht In meiner Hauptstadt ähnliche Gedanken finden, nur dass der Akzent weg von der verklärten Vergangenheit auf die düstere Gegenwart verschoben ist, in deren Zeichnung als autobiographische Folie die Selbstwahrnehmung eines aus der Provinz gekommenen Außenseiters durchschimmert. „[…] und ich sah durch die Fenster / der Hofburg und dachte, daß ich niemals residieren werde / an einem dieser Schreibtische“ (Bernhard 2015a, 80), heißt es da etwa, es ist von Wien als „dieser Verstorbenen an der Donau“ (Bernhard 2015a, 81) die Rede, und die Antwort auf die Frage „was fand ich in meiner Hauptstadt?“ lautet: „Den Tod mit seinem Aschenmaul, vernichtend, Durst und Hunger“ (Bernhard 2015a, 82). Doch auch nach seinem literarischen Durchbruch mit dem Roman Frost finden sich ganz ähnliche Formulierungen und Gedanken wie in Ein Brief aus einem Drama, z. B. in der Politischen Morgenandacht, 1966 in einem Sonderheft von Wort in der Zeit erschienen just im selben Jahr wie die deutsche Übersetzung von Magris‘ Il mito absburgico (vgl. Bernhard 2015b, 812–815): Die österreichische Politik und mitgemeint wohl auch die österreichische Kultur, ja Geschichte des „österreichischen Vaterlandes“ allgemein, von denen schon im Eröffnungssatz dieses Essays die
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Rede ist, sei von „glänzenden, den ganzen Erdball ü berstrahlenden und erwärmenden Höhen […] im Laufe von nur einem einzigen halben Jahrhundert in ihr endgü ltiges Nichts gestü rzt“; „ein halbes Jahrhundert nach der Zertrü mmerung des Reiches [sei] das Erbe verbraucht, die Erben selbst sind bankrott“ (Bernhard 2015b, 595). „Unsere Existenz“, heißt es im Schlusssatz, sei „nur erbärmlich“ (Bernhard 2015b, 599). In seiner Staatspreis-Rede von 1968, die zum sogenannten StaatspreisSkandal, gleichsam der Mutter aller Bernhard-Skandale, führte, knüpft er nahtlos daran an, wenn er darin ausführt, er hätte „nichts zu berichten, als daß wir [Österreicher] erbärmlich sind“ (Bernhard 2015c, 23). Ähnliches lässt sich als eine Folie seiner Österreich-Kritik praktisch durch sein gesamtes Œuvre finden – hier sei nur mehr sein letztes und nicht zuletzt aufgrund des von einigen Medien inszenierten Skandals zumindest in Österreich breitenwirksamstes Stück Heldenplatz angeführt – dessen im Skandal-Geschrei völlig unbeachtetes Motto im Kontrast zur folgenden Dystopie eine Art Utopie ex negativo, festgemacht an konkreten Orten in Wien, formuliert: „Kann schon sein daß Sie sich ein paarmal im Jahr / in dieser Stadt wohlfühlen / wenn Sie über den Kohlmarkt gehen / oder über den Graben / oder die Singerstraße hinunter in der Frühlingsluft“ (Bernhard 2012, 217).Vorgetragen wird die Österreich-Kritik in Heldenplatz freilich – und das macht durchaus einen Unterschied – in der Rede einer in sich widersprüchlichen, mit seinen Aussagen Reaktionen sowohl der anderen Dramatis personae als auch des Publikums provozierenden Figur, nämlich der des überlebenden Professor Schuster. Beim Rückweg vom Begräbnis seines Bruders, der durch den Sprung aus der Wohnung am zentralen Gedächtnisort Österreichs Suizid begangen hat, hebt er mit Blick auf das Parlament seinen ihn begleitenden Nichten gegenüber zu einem Monolog als Lamento an: Jetzt hat alles den Tiefpunkt erreicht / […] die Menschen die Kultur alles / in ein paar Jahrzehnten ist alles verspielt worden / […] wenn man bedenkt was dieses Österreich / einmal gewesen ist / […] Ich war nie ein Anhänger der Monarchie / […] aber was d i e s e Leute aus Österreich gemacht haben / ist unbeschreiblich / eine geist- und kulturlose Kloake / die in ganz Europa ihren penetranten Gestank verbreitet (Bernhard 2012, 285)
In der Erinnerung eines der Gäste des Totenmahls, bezeichnenderweise an ein Treffen im Palmenhaus im Schlosspark von Schönbrunn, kommt dann zum Schluss indirekt auch der verstorbene Professor Schuster noch einmal zu Wort, wobei ihm bei aller Sehnsucht nach einer für Juden besseren Vergangenheit als das mörderische 20. Jahrhundert das Moment des Illusorischen einer Umkehrung des Zeitstrahls und das der Verklärung des Vergangenen offenbar durchaus bewusst waren: Einmal habe ich ihn im Palmenhaus getroffen / und er hat bedauert / daß er nicht ein ganzes Jahrhundert frü her gelebt hat / Wir leben doch immer in der falschen Zeit hat er gesagt / wir
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wollen alle nur in der Vergangenheit leben / die haben wir uns so schön eingerichtet die Vergangenheit / wie wir wollen (Bernhard 2012, 323)
Literaturverzeichnis Bernhard, Thomas. Dramen 6. Hg. von Martin Huber und Bernhard Judex. Werke 20. Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Berlin: Suhrkamp, 2012. Bernhard, Thomas. Gedichte. Hg. von Raimund Fellinger. Werke 21. Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Berlin: Suhrkamp, 2015a. Bernhard, Thomas. Journalistisches, Reden, Interviews. Hg. von Wolfram Bayer, Martin Huber und Manfred Mittermayer. Werke 22.1. Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Berlin: Suhrkamp, 2015b. Bernhard, Thomas. Journalistisches, Reden, Interviews. Hg. von Wolfram Bayer, Martin Huber und Manfred Mittermayer. Werke 22.2. Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Berlin: Suhrkamp, 2015c. Fellinger, Raimund, und Martin Huber (Hg.). Thomas Bernhard – Gerhard Fritsch: Der Briefwechsel. Mattighofen: Korrektur Verlag, 2013. Huber, Martin, Manfred Mittermayer, und Peter Karlhuber (Hg.). Thomas Bernhard und seine Lebensmenschen. Der Nachlaß. Linz: Adalbert-Stifter-Institut, 2001. Magris, Claudio. Il mito absburgico nella letteratura austriaca moderna. Torino: Einaudi, 1963. Magris, Claudio. Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur. Wien: Zsolnay, 2000.
Petra-Maria Dallinger
X im Archiv
Zu Marlen Haushofers Roman Die Mansarde Der literarische Nachlass der 1920 in Steyr geborenen und 1970 in Wien verstorbenen Autorin Marlen Haushofer ist nicht in Form eines geschlossenen Bestandes überliefert. Korrespondenz findet sich in Nachlässen von Briefpartner:innen in verschiedenen Archiven, manches ist in Privatbesitz, handschriftliche Fassungen von Haushofers wohl bekanntestem Roman Die Wand (1963) liegen in der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur, Wien, ein größerer Teil an Werkmanuskripten wird im OÖ. Literaturarchiv am Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich, Linz, verwahrt.¹ Die Umstände, die zur Zersplitterung und zum Verlust von Material beigetragen haben, sind vielfältig, nicht zuletzt hat Haushofer selbst einen Anteil daran, wurden doch Dokumente offenbar teils von ihr selbst vernichtet (vgl. Studer 2000, 9–10; Strigl 2007, 11).² Daraus lässt sich freilich nicht zwangsläufig ein mangelndes Nachlass-Bewusstsein der Autorin ableiten. Die Verlagerung des Archivs in den Text, als Strategie, damit Vergangenheit lebendig zu halten, wie Nick Büscher meint (vgl. Büscher 2021, 48),³ könnte eines der möglicherweise unbewussten Motive für Haushofers Umgang mit den eigenen Materialien sein. Das literarische Archiv der Schriftstellerin entzieht sich infolge der lückenhaften Überlieferung dem Seziertisch der Literaturwissenschaft weitgehend, für einige veröffentliche Texte Haushofers sind jedoch Vorstufen erhalten, die Aussagen über die Werkgenese ermöglichen. Das ist etwa für Haushofers letzten Roman, Die Mansarde, erschienen 1969 im Claassen Verlag (Hamburg und Düsseldorf ) der Fall,
Der Teilnachlass Marlen Haushofers am OÖ. Literaturarchiv/Adalbert-Stifter-Institut umfasst: Werkmanuskripte zu den Romanen Himmel, der nirgendwo endet und Die Mansarde, zu Erzählungen, Hörspielen und vier Kinderbüchern; daneben Erstausgaben, Korrespondenzstücke und Photographien. Als Nachlassverwalter war ursprünglich Oskar Jan Tauschinski eingesetzt worden, vgl. Strigl 2007, 328. Vgl. dazu Büscher 2021, 48: „Literatur entgrenzt sich im Interfiktionalen der Texte zur Realität dergestalt, dass nicht die Literatur im Archiv aufbewahrt wird, sondern die Literatur selbst zum Archiv wird. Haushofers Literatur unternimmt dabei den Versuch, sich der eigenen Archivierung zu entziehen, indem sie das Leben archiviert und sich selbst dadurch ‚verlebendigt‘.“ https://doi.org/10.1515/9783111205809-013
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für den handschriftliche Fassungen sowie ein Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen vorliegen.⁴ Folgt man den Überlegungen von Büscher, dass das Archiv obsolet wird bzw. seine Funktion verliert, weil es ja in den literarischen Text verlagert wird, so gilt das, wie eine Äußerung Haushofers nahelegt,⁵ nicht nur für die (verlorene) Welt der Kindheit, es gilt gleichermaßen für das im Freud‘schen Sinn Unheimliche (vgl. Freud 1919), das im Text gebannt – ‚contained‘ – wird, und zwar im Roman Die Mansarde in Kollaboration von Autorin und Ich-Erzählerin. Das Archiv verweigert also nicht gänzlich die Auskunft über den dem veröffentlichten Text ‚Vorangegangenen‘: Er scheint in ihm – obgleich einer offensichtlichen Tendenz zum Verdrängt-, Eliminiert- oder auch Bagatellisiert-Werden unterworfen – noch durch, blitzt zuweilen noch auf. Zu fragen ist, was der veröffentlichte Text verschweigt, was in ihm gleichwohl als Subtext aufgehoben ist, als abwesend Anwesendes, das auf Ungesagtes bzw. Unsagbares verweist. Das, was zu erzählen wäre und doch nicht explizit ausgesprochen wird oder gar besprochen werden kann, ist in Die Mansarde eine Geschichte von Gewalt, Verrat und Schuld, die über das individuelle Versagen hinaus die Katastrophe von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg meint. Versuche einer Bändigung der dem Inhalt konstitutiv innewohnenden Virulenz problematisieren das Schreiben; das Unaussprechliche wird zunehmend ‚liquidiert‘,⁶ es verbirgt sich im oder hinter dem Text. Das zeigt sich augenscheinlich nicht nur am Manuskript von Die Mansarde, auch die Entwicklung der Protagonistin spiegelt die Strategie des Verdrängens.
Das früheste im Teilnachlass Marlen Haushofers im OÖ. Literaturarchiv erhaltene Manuskript ist auf Seite 1 mit „Zwischenspiel“ betitelt und mit „22.3.68“ datiert. Es umfasst in drei Umschlägen abgelegtes Material. Ein weiteres, durchgehend paginiertes Manuskript (223 Seiten, meist doppelseitig beschriebene Blätter) ist als „2. Fassung“ bezeichnet. Das Typoskript auf Durchschlagpapier – 231 Blatt – bezieht sich auf die Veröffentlichung im Claassen-Verlag. Im Folgenden wird vor allem auf die frühe Fassung Bezug genommen. Für den Nachweis wird die Sigle DM-MS1 bzw. DM-MS2 mit Angabe der Seitenzahl eingeführt, da im ersten Manuskript Seitenzahlen teilweise doppelt verwendet werden, mit Incipit; Die Mansarde = DM mit Seitenzahl. Ein Typoskript und Druckfahnen zu Die Mansarde befinden sich im Nachlass Hans Weigel, Wienbibliothek im Rathaus. Vgl. dazu Marlen Haushofer im Interview mit Dora Dunkl (zitiert in: Duden 1986, 136): „Auch dieses Buch [Himmel, der nirgendwo endet] lese ich nicht wieder, es genügt mir, in ihm ein Stück Vergangenheit eingefangen zu haben und manchmal daran zu denken.“ In der Buchfassung wird oftmals von der Notwendigkeit, Vergangenheit zu „liquidieren“ gesprochen. „Ich wußte, daß ich dort oben in der Mansarde ein Stück Vergangenheit zu liquidieren hatte.“ (DM, 47) „[…] war ich plötzlich überzeugt davon, daß ich die Baronin aus meinem Leben tilgen mußte. […] da ich schon daran gegangen war, die Vergangenheit auszurotten“ (DM, 70). Roebling (vgl. 1989, 320) sieht die Verwendung dieser Begriffe im Kontext eines Assoziationsfeldes zur NS-Zeit.
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Abb. 1: Notizblatt zu Die Mansarde, Teilnachlass Marlen Haushofer, OÖ. Literaturarchiv / Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich.
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In den unauffälligen Alltag einer Frau in mittleren Jahren bricht unvermittelt verdrängte Vergangenheit herein: Aufzeichnungen aus einem Zeitraum von etwa eineinhalb bis zwei Jahren, die die Ich-Erzählerin (in der ersten Fassung Eva genannt) nach einer spontanen, als psychosomatisch diagnostizierten Ertaubung getrennt von der Familie in einer Jagdhütte verbrachte,⁷ werden ihr 17 Jahre später im Verlauf einer Woche zugesandt. Die damals verfertigten „Papiere“ (DM, 60), die der Protagonistin – so vermutet sie – von einem Mann zukommen, mit dem sie in einer rätselhaften Beziehung stand, waren bei der Abreise aus dem ,Exil‘ in den Bergen unter die Kleider in einen Koffer gepackt worden und blieben danach unauffindbar.⁸ Das Tagebuch entpuppt sich – seiner Bestimmung gemäß – als eine Art Zeitkapsel.⁹ Die darin eingeschlossene Zeit von Verbannung oder Exil, die teilweise beinahe märchenhafte Züge trägt, drängt sich in die Gegenwart einer konventionellen Hausfrauen-Arbeitswoche der 1960er Jahre.¹⁰ Die ‚Erinnerungskonvolute‘, deren Portionierung zu täglich, von Montag bis Samstag, eintreffenden Postsendungen eher beliebig-pragmatisch als inhaltlich begründet erscheint, umfassen im Buch in der ersten Lieferung Einträge datiert mit: 6.¹¹ und 12. September sowie 1. und 13. November. In einem zweiten Schritt folgen Niederschriften zum 2. und 10. Dezember, zum 30. Jänner und 14. Februar. Die dritte und umfangreichste Sammlung enthält Berichte vom 2. April, dem 26. Juni, dem 4. Juli, dem 6. August und schließlich vom 7. September und 15. Oktober. In der vierten bis sechsten Zustellung befinden sich Tagebuchnotizen zum 24. Oktober, dem 26. November und 1. Jänner, danach welche für den 17. Februar, den 1. und 4. März; den Abschluss bilden die beiden letzten Einträge vor der Beendigung des Aufenthalts in den Bergen vom 19. bzw. 20. April.¹²
Die Erfahrung des Ertaubens ist autobiographisch, vgl. Strigl 2007, 308. Die Protagonistin sucht das Tagebuch zwar kurz, ist dann jedoch unsicher, ob sie es eingepackt oder nicht vielleicht selbst verbrannt hat (vgl. DM, 61); davor versteckt sie die Aufzeichnungen während des Aufenthalts in der Jagdhütte in der Matratze (vgl. DM, 172). Die von Adalbert Stifter in Die Mappe meines Urgroßvaters (1841) angesprochene Praxis von autobiographischer Aufschreibung, anschließendem Verschluss und späterer Lektüre scheint auch Haushofer praktiziert zu haben, vgl. Stifter 1979, 25 und Strigl 2007, 11. Auf einem Notizblatt im Teilnachlass Marlen Haushofers ist die dem Roman unterlegte Wochentagsstruktur mit unterschiedlichen Hausarbeiten bzw. Verpflichtungen dargestellt: „Montag Bücherordnen […], Dienstag: Besuch bei alten Leuten […], Mittwoch: Putztag […], Donnerstag: Nachfragen in der Schule f. Ilse.“ In der zweiten Fassung „6. September 1949 Pruschen“ (DM-MS2, 21). In der ersten Fassung ist der Eintrag mit 22. April datiert; mit der Abänderung der Handlung erfolgt eine Neudatierung des letzten Tagebucheintrags auf den 20. April, den Geburtstag Adolf Hitlers, in der 2. Fassung und im Buch.
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Das Manuskript erzählt zunächst noch mehr, es erzählt anders und anderes: In einem ersten erhaltenen Entwurf des Romans erinnert sich die Protagonistin Eva im Gespräch mit ihrem Sohn an die Zeit in der ehemaligen Jagdhütte des Schwiegervaters; der Sohn beendet die Befragung mit der Bemerkung: „Dann reden wir lieber nicht darüber, nicht.“ […] Eva bestätigt: „Nein, es ist ja alles vorbei.“¹³ Das Schweigegebot wird in der Buchfassung konsequent befolgt, Mutter und Sohn sparen verfängliche Themen gänzlich aus. Bereits in einer frühen Phase des Schreibens wird das Intime diskret in einen vermeintlich kontrollierbaren Separatbereich verlagert: Tagebuchpassagen, die das in den Bergen Erlebte konservieren, werden eingeführt; die Erzählperspektive wechselt.¹⁴ Während des Schreibprozesses kommt es zu Tilgungen, dem eigenen Tagebuch wird bereits in der zweiten handschriftlichen Fassung manches verschwiegen,¹⁵ dennoch beunruhigt seine Existenz und unerwartete Präsenz: „Ich spürte nichts als Widerwillen und jenen Schock, den mir unvorhergesehene Ereignisse immer versetzen.“ (DM, 26) In der Abfolge von sechs Werktagen erzwingen die Tag für Tag eintreffenden Kuverts mit gefährlichem Inhalt (vgl. DM, 103) eine wiederholte Rückkehr in den Raum eingekapselter Erinnerung. In einem Akt von Selbsttherapie stellt sich die Ich-Erzählerin – gewissermaßen im Zeitraffer – der eigenen Vergangenheit. „In meiner Erinnerung war die Zeit in Pruschen [dem Ort der Verbannung; P.D.] ein sehr verschwommener Alptraum, ich will die Einzelheiten gar nicht mehr wissen, muß sie aber lesen, damit ich weiß, was da verbrannt und zerstört wird.“ (DM, 103) Dem Nachvollzug der Aufschreibung in der Lektüre im Rückzugsort Mansarde folgt die jeweils sofort anschließende Vernichtung des Materials im Heizofen im Keller. Im Roman ist die „Vernichtung von Beweismaterial“ (DM, 59–60) grundsätzlich gängige Praxis. Die ‚Gesprächspartner’ der ertaubten Frau – der Jäger (vgl. DM, 59), der Ehemann (vgl. DM, 97), aber auch der junge Pfarrer (vgl. DM, 196), der sie besucht – bringen die ,Konversationszettel’, die sie im Umgang mit der gehörlosen Frau verwenden, ängstlich bedacht an sich und vernichten sie. Nicht selten werden die Blättchen, auf denen im Grunde sehr harmlos erscheinende Fragen notiert sind, im Ofen verbrannt, ohne dass ersichtlich wäre, welche konkrete Gefahr von ihnen
„Das muß scheußlich für dich […]“ (DM-MS1, 26). Die zwei Erzählperspektiven sind gewissermaßen ineinandergeschoben, ab dem Abschnitt „Serafine“, „Serafine Im Saal standen 10 Betten […]“ (DM-MS1, 48), ist der Wechsel vollzogen. Anhand der Paginierung des Manuskriptes können die Tagebuchpassagen als neuer Schreibansatz bzw. als gesondert konzipiert betrachtet werden. Ähnliche Versuche einer (ironischen) Selbstüberlistung finden sich auch in Die Wand, vgl. etwa Haushofer 1968, 64: „Die Methode der systematischen Uhrenvernichtung habe ich aber sogar vor mir selbst verheimlicht.“
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ausgehen könnte.¹⁶ Es scheint sich beinahe um eine Art von magischem Akt zu handeln. Vernichtet oder getilgt wird allerdings bereits davor, und zwar Entscheidendes. Davon legt das Archiv Zeugnis ab. Evident wird die Methode des Tilgens bzw. des Überschreibens am Beispiel einiger zentraler Szenen, nämlich jener, die die Beziehung der Ich-Erzählerin zu einer Zufallsbekanntschaft während der Zeit ihres ‚Exils‘ schildern.¹⁷ Bei einem Spaziergang trifft sie am Ufer eines Sees auf einen Mann, dem sie rasch näherkommt, und den sie schließlich regelmäßig besucht. Die erste Begegnung wird unter dem Datum des 15. Oktober festgehalten: „Gestern ging ich am See entlang, die Badehäuser waren im Sommer zeitweise bewohnt, jetzt sind sie wieder leer. Aber gestern saß ein Mann auf dem Bootssteg und fischte.“¹⁸ In der Buchfassung wird der (namenlose) Mann „der Einfachheit halber“ (DM, 168) als X bezeichnet: „Er hat sich mir nicht vorgestellt, wozu auch?“ (DM, 168) Im Gegensatz dazu erscheint X im Manuskript noch mit einem Vornamen, der von der Ich-Erzählerin aber nicht notiert wird: „Der Fremde heißt –. Er hat es mir aufgeschrieben keinen Zunamen u. ich frage nicht.“¹⁹ Die Einladung zu kaltem Tee und Cognac nimmt die Ich-Erzählerin an – „Ich wollte mutig sein u. ging mit ihm, vielleicht war das das Wunder, das ich für mich tun mußte, mit diesem Fremden sprechen.“²⁰ Im Buch wird daraus „ein großes Abenteuer, mit einem anderen Menschen ein Glas Limonade zu trinken“ (DM, 140). Rasch zeigt sich ein ambivalentes Bild: „Der Gesamteindruck ist eher häßlich als schön und ein wenig furchterregend.“ (DM, 140) „Er sieht aus wie ein Mensch, der ganz allein ist, aber das Alleinsein nicht ertragen kann.“ (DM, 141) Die Ich-Erzählerin beruhigt sich: „Ich glaube jetzt nicht mehr, daß er verrückt ist, obgleich diese Art von Augen nicht ganz normal sein kann; ich nehme an, er muß etwas verschweigen, und das ist für ihn unerträglich.“ (DM, 141) Auch im Manuskript ist an X „nichts liebenswürdiges […]. Er sieht aus wie ein großes trauriges Tier, nicht häßlich u. nicht schön“.²¹ Die Frau fühlt sich gleich beim ersten Beisam-
Offenbar sollen die Zettel nicht in die Hand der Ich-Erzählerin gelangen: „Er [der Jäger] will nicht, daß etwas von ihm in meine Hände fällt. Ich kann mir aber nicht genau vorstellen, was in seinem urweltlichen Gehirn vorgeht.“ (DM, 101) Von X wird berichtet, dass er die Zettel nicht zerreißt, „aber in Druckbuchstaben“ schreibt, die Ich-Erzählerin will ihm Gelegenheit geben, sie zu vernichten (DM-MS1, 17 verso, „24. Okt.“). Auf die ursprüngliche Rolle von X als Geliebten der Ich-Erzählerin hat bereits Strigl hingewiesen, vgl. Strigl 2007, 306. DM-MS1, 16, „15. Oktober“; vgl.: „Als ich zum See hinunter kam, saß vor einem der Holzhäuser ein Mann und starrte ins Wasser.“ (DM, 140) DM-MS1, 17 verso, „24. Okt.“. Auch im Manuskript wird X als Ersatz für einen (Vor)Namen verwendet. DM-MS1, 16, „15. Oktober“. DM-MS1, 16, „15. Oktober“.
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mensein vom Alkohol leicht „schwindlig“, als X seine Hand auf die ihre legt, beginnt sie zu ihrem „Entsetzen […] zu weinen“.²² Der Geruch des Mannes ist eine Mischung aus „Sommer, Heu u. Fischen u. ein bißchen […] Schweiß. Kein unangenehmer aber ein sehr verwirrender Geruch.“²³ Im Buch riecht X „scharf und unangenehm“ (DM, 141); die Ich-Erzählerin hofft, sich daran gewöhnen zu können (DM, 142), was umso erstaunlicher ist, in Anbetracht dessen, dass sich das Gesicht des Mannes im Laufe seines Redens, dann Schreiens in etwas Schreckliches verwandelt: es ist „ganz aufgelöst und zerronnen, eigentlich […] überhaupt kein Gesicht mehr“ (DM, 141). In diesem Mann, der wohl selbst an dem entlegenen Ort unterzutauchen versucht, sind Verbrechen, Schuld, Verstrickungen der NS-Zeit repräsentiert. Bereits in der frühen Fassung ist er gewalttätig – latent und offensichtlich –, dennoch verhilft er der Protagonistin zu einem Gefühl des Lebendig-Seins. In den Begegnungen mit X sind Untergang (Apokalypse) und Hoffnung (Utopie) – „umgebracht werden“ und „wieder auferstehen“²⁴ – in greller und extremer, ja untrennbarer Weise ineinander verwoben. Die Beziehung zwischen der Ich-Erzählerin und X dauert über einen Zeitraum von insgesamt sieben Monaten und hat wohl am 12. oder 13. Oktober begonnen.²⁵ Bis zum Ende der Zeit in Pruschen bleibt X regelmäßig Gegenstand der Reflexion im Tagebuch.²⁶ Was über die Besuche im Badehaus, später in einem Holzhaus, preisgegeben, und wie der Mann erlebt wird, das unterscheidet sich in der Darstellung zwischen Manuskript und Buch allerdings wesentlich.²⁷ Schon unter dem 15. Oktober wird in der Manuskriptfassung von einer raschen Annäherung berichtet: „Es ist nicht beim Streicheln geblieben. Man könnte lachen, wirklich ich habe einen Liebhaber dessen Namen ich nicht weiß u der mit mir reden will obwohl ich ihn nicht hören kann.“²⁸ Unter demselben Datum heißt es: „Am Abend war ich sehr glücklich und schlief in der Nacht ganz ohne Angstträume.“²⁹ Ganz offen bekennt die Ich-Erzählerin: „Es ist ein gutes Gefühl einen Mann zu haben, ich war viel zu lange allein.“³⁰ Zweimal pro Woche findet ein „Tausch-
DM-MS1, 16 verso, „er nicht viel arbeitet“. DM-MS1, 16 verso, „er nicht viel arbeitet“. DM-MS1, 19 verso, „12. Dezember“. „Vorgestern war ich wieder dort u. gestern u. heute.“ (DM-MS1, 17, „Sind sie ganz allein?“) Eine Ausnahme bildet der Eintrag zum 4. März, in dem X nicht angesprochen ist. Der Tagebucheintrag zum 12. Dezember wird nicht ins Buch übernommen und verschwindet bereits in der 2. Manuskriptfassung. DM-MS1, 17, „Sind sie ganz allein“. DM-MS1, 17, „Sind sie ganz allein“. DM-MS1, 17, „Sind sie ganz allein“.
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handel“³¹ nach einem bestimmten Muster statt: der Mann entledigt sich einer seelischen Last im Angesicht seines tauben Gegenübers, danach vollzieht sich ein aggressiver Sexualakt,³² dessen Beschreibung in einem gewissen Widerspruch zu auch geschilderten Zärtlichkeiten steht. Unter dem 26. November heißt es: „Nachher wenn er mir seine Ungeheuerlichkeiten ins Gesicht geschrien hat muß er mich umbringen. Das heißt er wirft mich auf das Sofa u. fällt über mich her. Das ist Das tut ein bißchen weh, nicht sehr.Wenn er mich umgebracht hat, darf ich wieder lebendig werden […]“.³³ Das Zusammenfallen von Eros und Tod wird mehrfach angesprochen.³⁴ Der Ehemann, Hubert, tritt (wie auch der kleine Sohn) zunehmend in den Hintergrund, was in der Manuskriptfassung über die Beziehung zu X begründet scheint,³⁵ während sich Ursachen für die Entfremdung zwischen dem Paar in der Buchfassung in Richtung Verrat – Schuld des Mannes verschieben: Zugunsten des ungestörten Aufbaus einer bürgerlichen Existenz und der gesellschaftlichen Etablierung, die die Anwesenheit seiner tauben Frau behindern könnte, ,schiebt’ er sie ab und übersiedelt mit dem gemeinsamen Sohn zur Mutter.³⁶ Die Figur des X ist im Manuskript zunächst uneindeutig gezeichnet: ein „großes trauriges Tier“,³⁷ „verstört, andererseits ist es ganz gut möglich, daß er etwas verbergen muß.“³⁸ Die Möglichkeit, dass er selbst Opfer sein könnte, wird bald verworfen: „Was da aus ihm herausbricht ist Mord.“³⁹ Die Vorstellung, X könne sie wirklich umbringen, beschäftigt die Ich-Erzählerin im Zusammenhang mit der Frage, ob das Zusammensein mit ihm auch sie selbst verändert habe: „Bin ich überhaupt noch ein Mensch […] am besten wäre es X würde mich wirklich um „Ich bin die Eingeborene mit der er Tauschhandel betreibt. […] Es müssen schreckliche Dinge [sein] die er mir, seinem Opfer, seiner Geliebten u. seinem Beichtvater erzählt. Ich kann ihn nicht lossprechen, trage nur diesen Sack voll Blut u. Schmutz und Wahnsinn mit mir aus dem Haus u. lasse ihn im Wald frei.“ (DM-MS1, 19 verso, „12. Dezember.“) „Mir bleibt nur X, seine lautlosen Ausbrüche u. seine warme Hand auf meinem Hals. Er drückt nie fest zu, er weiß wie weit er gehen darf.“ (DM-MS1, 21 verso, „1. März“ und 22, „X“) DM-MS1, 19, „dunkler sind“. „Zweimal in der Woche lasse ich mich von ihm umbringen u gehe auferstanden heim.“ (DM-MS1, 19 verso, „12. Dezember.“) Unter dem Datum vom 19. April, „ganz anderes gesagt zu haben“ das Bekenntnis: „er faßt mich an u gibt mir das Gefühl lebendig zu sein.“ (DM-MS1, 23 verso) „Je öfter ich zu X gehe desto weiter entferne ich mich von Hubert u. gleichzeitig hab ich immer größere Sehnsucht nach den paar Jahren, die wir hatten. Diese leichte schwebende Zärtlichkeit […] u. wir haben so oft gelacht.“ (DM-MS1, 20, „1. Jänner“) Die Ich-Erzählerin weiß, dass ihr Mann ihr – zumindest in einem Moment – den Tod wünscht, vgl. DM, 95–96. DM-MS1, 16, „15. Oktober“. DM-MS1, 17 verso, „24. Okt.“. DM-MS1, 20, „1. Jänner“.
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bringen. Ich nehme an es wäre nicht sein erster Mord.“⁴⁰ Im Eintrag zum 12. Dezember hat die Ich-Erzählerin Mitleid mit X, dem „Drachen […] den niemand liebt.“⁴¹ Der Drache, den sie dann zeichnet, schaut „so traurig u. entsetzlich böse aus, daß [sie] weinen könnte.“⁴² Als der potenzielle Verbrecher, während er die IchErzählerin „ermordet“,⁴³ weint, sind es allerdings „Menschentränen“;⁴⁴ im Buch wird damit ein Tabu verletzt: „Ich sollte nicht mehr zu X gehen. Er hat unseren Vertrag gebrochen, auch wenn er mich nicht berührt hat. Seine Tränen sind auf meinen Mund gefallen.“ (DM, 192) Die Möglichkeit, seine Schuld sei Hass auf jemanden, der ihm etwas angetan habe, wird am 17. Februar noch einmal erwogen.⁴⁵ Zwischen der Angst vor einem möglichen ‚toxischen‘ Eindringen der ungehörten Geständnisse durch die Haut,⁴⁶ und einem Bedürfnis X zu trösten – was die IchErzählerin sich selbst verbietet⁴⁷ – entsteht die Vorstellung von Hölle: von getrennten Höllen, die völlig lautlos wären.⁴⁸ Die Verwandlung des Menschen in ein Ungeheuer kann ganz „unmerklich“ geschehen – „[…] wer ist schon kein Mörder, nach allem was geschehen ist“⁴⁹ – sie „befällt“ eine Generation, als „Folge von Ereignissen, denen [sie] nicht gewachsen“ (DM, 104) war. Im Manuskript zeigt sich das unmittelbar in der Schrift: „Mehr als mi Ich nah auch nicht A mehr Angst vor ihm. X ist wenigstens ein Mensch wenn auch wahrscheinlich sehr fremd böse oder wahnsinnig ein Ungeheuer“.⁵⁰ In der Buchfassung ist die Metamorphose beinahe gänzlich vollzogen – ‚im passiv‘ erlitten.⁵¹ Ungeheuer sind zu einer beinahe alltäglichen Erscheinung geworden; die Frage
DM-MS1, 20, „1. Jänner“. DM-MS1, 19 verso, „12. Dezember“. DM-MS1, 20 verso, „wahnsinnig vor Angst.“ Roebling (vgl. 1989, 316) sieht den Drachen im Zusammenhang mit Feuer und der Reinigung von der Vergangenheit; beim Verbrennen der letzten Dokumente denkt die Protagonistin an X und sieht mit einem Mal einen Drachen: „Ich habe Drachen immer geliebt […].“ (DM, 214) DM-MS1, 21, „17. Febr.“. DM-MS1, 21, „17. Febr.“. Vgl. DM-MS1, 21, „17. Febr.“. Eine Art von „Eindringen“ wird auch in Bezug auf Hubert beschrieben: „Ich spürte, wie seine Angst in meine Fingerspitzen sickerte.“ (DM, 100–101) „Nein, nein, nein er darf nicht getröstet werden u. es gibt keinen Trost für ihn.“ (DM-MS1, 21, „17. Febr.“) Vgl. auch „Ich versuche nie ihn zu trösten, weder mit Worten noch mit Zärtlichkeiten. Das ist nicht vorgesehen.“ (DM-MS1, 19 verso, „12. Dezember.“) Vgl. auch DM, 192. Vgl. DM-MS1, 21, „17. Febr.“. DM-MS2, 141. DM-MS1, 23 verso, „ganz anderes gesagt“. „Man kann unmerklich in ein Ungeheuer verwandelt werden.“ (DM, 176) Mitgefühl schwingt mit in der Erkenntnis: „Aber von Zeit zu Zeit wünscht dieses Ungeheuer, geliebt und gestreichelt zu werden, und kriecht winselnd zurück zu den Menschen.“ (DM, 93)
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nach ihrem ,Davor’ – i. e. vor dem Krieg – scheint relevanter: „Vielleicht ist X wirklich ein Ungeheuer, aber was war er früher einmal?“ (DM, 176) Insbesondere die Hände von X verselbständigen sich, sie werden zu Tieren (DM, 170), sind „schamlos“ (DM, 171), ja „mordgierig“, als X aufgefordert wird, leiser zu sprechen (DM, 173); sie fahren auf den eigenen „Hals los und würgen ihn“ (DM, 173) und nicht mehr den der Geliebten. Letztlich kann sich die Ich-Erzählerin nicht vorstellen, jemals dort zu sein, wo diese Hände sind (vgl. DM, 211). Ein Rest an der in der Buchfassung nun vollständig verborgenen Beziehung zu X klingt durch in ambivalenten Gefühlen von Anteilnahme, Abscheu, Angst und pragmatischem Sarkasmus ihm gegenüber: Ich hatte großes Mitleid mit ihm, aber gleichzeitig verabscheute ich ihn mehr als je zuvor. […] Ich will mich nicht vor mir selber fürchten müssen. […] Vielleicht könnte ich mich an ihn gewöhnen, obwohl er wie ein wahnsinniger Mörder aussieht. Auch wahnsinnige Mörder brauchen einen anderen Menschen […]. (DM, 210)
Die tatsächliche Qualität des ‚Tauschhandels‘ wird in der Buchfassung verschleiert, wenn die Ich-Erzählerin meint: „Es ist ein sonderbares Gefühl, wieder gebraucht zu werden“ (DM, 142), oder vage andeutet, das „Geschäft“ sei nicht einseitig, als sie eine angebotene finanzielle Entlohnung („wie ein Nachhilfelehrer“) ablehnt (DM, 169). Immerhin schläft sie gut (vgl. DM, 171) und verdankt X das Empfinden, sich bei den eigenen Bildern „daheim“ zu fühlen (DM, 175). In merkwürdiger Umkehr rückt Hubert gerade durch X näher (vgl. DM, 175).⁵² Ob solche ‚Benefits‘ aufzuwiegen vermögen, was der Protagonistin abverlangt wird, nämlich eine abgenötigte Zeugenschaft von zwar ungehörten, aber in jedem Fall erschreckenden, ja ungeheuerlichen Geständnissen, ist zu bezweifeln. Interessant zu beobachten ist, dass vereinzelt Züge von X auf dem Weg vom Manuskript zum Buch auf Hubert übertragen werden; so heißt es etwa in der zweiten handschriftlichen Fassung, X sehe „unangenehm lebendig aus“⁵³, was im Buch etwas abgeschwächt von Hubert behauptet wird (vgl. DM, 94); die Berührung, die die Ich-Erzählerin weinen lässt,⁵⁴ übernimmt im Buch Hubert bei seinem ersten Besuch (vgl. DM, 72). In der Verbindung mit X kommt es zu höchst unterschiedlichen Wendungen: In der Buchfassung beschließt die Protagonistin zunächst, ihre Besuche bei X einzustellen (vgl. DM, 209); als sie sieht, wie der Jäger, bei dem sie untergebracht ist, junge Katzen tötet, ändert sie ihre Meinung: „Es war mir gleichgültig, wohin X mich bringen würde, nur weg von hier.“ (DM, 211) Dazu kommt es schließlich nicht, denn was immer X in den Augen der Ich-Erzählerin lesen kann, als sie ihn in seinem Haus
„Je öfter ich X sehe, desto näher kommt mir Hubert wieder.“ (DM, 175) DM-MS2, 139. DM-MS1, 16 verso, „er nicht viel arbeitet“.
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aufsucht, versetzt ihn in derartige Erregung, dass er ein Glas in seinen Händen zerbricht und sich dabei verletzt. Der Anblick des tropfenden Blutes löst spontan die Taubheit der Frau; sie flüchtet vor X und verlässt Pruschen am nächsten Tag. Der letzte im Tagebuch vermerkte Entschluss gilt der Rückkehr zum Sohn und dem Vergessen.⁵⁵ Im Manuskript kommt es am 19. April zu einer letzten Begegnung: handschriftlich bittet X die Protagonistin, ihn beim Weggehen zu begleiten und versichert: „Ich werde dich nie im Stich lassen, das mußt du mir glauben.“⁵⁶ Die IchErzählerin vermerkt, beinahe ja gesagt zu haben;⁵⁷ verräterisch nimmt sich die den Tagebucheintrag beendende Anmerkung aus: „Ich wundere mich, daß ich Hubert nicht hasse.“⁵⁸ Auch in diesem Setting verhindert die unerwartete Heilung der Taubheit den Bruch mit der Familie. Sie verläuft allerdings anders als im Buch: als die Ich-Erzählerin den Jäger dabei beobachtet, wie er einen Wurf junger Katzen tötet, beginnt sie zu schreien und hört mit einem Mal den eigenen Schrei. Von X nimmt sie daraufhin „Abschied mit dem Mißtrauen eines Menschen, der etwas zu verlieren hat“.⁵⁹ Sie schiebt im Morgengrauen einen Zettel unter der Tür für ihn durch und reist mit dem Frühzug ab, mit dem Vorsatz, X und die Katzen zu vergessen. Die entsprechende Tagebuchnotiz vom 22. April im Manuskript wird nicht in die Buchfassung übernommen. Auch in der 2. Fassung schockiert die Tötung der Kätzchen durch den Jäger die Ich-Erzählerin; sie flüchtet zu X, der erkennt, wie „widerwärtig“ sein Anblick ihr ist, und der darauf mit Brutalität reagiert: „Und dann spürte ich die Hände um meinen Hals u. wußte daß sie endlich ihr Ziel gefunden hatten.“⁶⁰ Während die IchErzählerin zunächst „ganz einverstanden u. zufrieden“ ist, regt sich plötzlich ein Lebenswille, sie schreit – und hört eine „fremde Stimme“, die „Dinge sagt, die ich nicht niederschreiben werde“⁶¹. Die Protagonistin kann sich retten, als Holzknechte am Haus vorüber kommen. Auch hier steht am Ende der Aufzeichnungen der Wunsch nach Vergessen und der Gedanke an den Sohn.
„Niemand wird mir den kleinen Ferdinand wieder wegnehmen können. Alles war ein böser Traum, ich werde ihn vergessen und ich werde auch vergessen, was X mir sagte, als er noch nicht wußte, daß ich wieder hören kann. Bestimmt werde ich es vergessen.“ (DM, 212–213) DM-MS1, 23, „19. April“. „Beinahe hätte ich ja gesagt, aber ich es war sein Ernst, sonst hätte er nicht in seiner wirklichen Schrift geschrieben. Ich hätte den Zettel einstecken u. mitnehmen können. Ich ließ ihn liegen […].“ (DM-MS1, 23, „19. April“) DM-MS1, 23 verso, „ganz anderes gesagt“. DM-MS1, 24 verso, „und ich hörte ihr Sirren“. DM-MS2, 216. DM-MS2, 216.
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Im Manuskript steht X für ein Begehren, das in der Buchfassung weitgehend aus dem Text gedrängt wird.⁶² Verlangen verschwindet⁶³ – es ist geradezu gefährlich – Melancholie durchdringt die gesamte Atmosphäre.⁶⁴ Die Zeit in Pruschen, im Manuskript durch das Verhältnis zu X noch ein Ort zwischen Leben und Tod, ist zum „Ersatz für den Tod“ (DM, 201) geworden; das „ermordet werden“ zum „erlöschen“ (DM, 98, 127).⁶⁵ „Erstarrung“ wird zur Überlebensform (DM, 111), im Umgang zwischen Mann und Frau, in der fragilen Absicherung des eigenen Selbst. In ihrer Auseinandersetzung mit Haushofers Die Mansarde hat die kanadische Literaturwissenschaftlerin Lorraine Markotic nach Ursachen für diese auffällige Melancholie gesucht und ausgehend von Sigmund Freuds Abhandlung Trauer und Melancholie (Freud 1917) unterschiedliche Konzepte von Trauer und Melancholie als Folie für die Interpretation des Romans angelegt.⁶⁶ Zentral sind in ihrem Verständnis existenzielle Verlusterfahrungen, die im Realen – etwa in der Kindheit – erlebt wurden, oder auch in einem ,Davor’ liegen können. Markotic stellt die Frage nach dem Ursprung der (weiblichen) Melancholie in einen Kontext mit dem Eintritt der Frau in die symbolische Ordnung, der mit Verlust(en) verbunden ist (vgl. Markotic 2008, 83). In der Manuskriptfassung von Die Mansarde ist das Begehren der Frau allerdings noch nicht gänzlich „liquidiert“, es ist präsent in den später unterdrückten Aufzeichnungen aus Pruschen, und es klingt noch an in der Erinnerung an „frühere Spiele“, an die man besser nicht denken darf (DM, 14), oder an das „Morgengefühl“ nach Nächten, die die Ich-Erzählerin mit einem Mann verbracht hatte – „müde zum Umfallen, aber hellwach“ (DM, 197). Die Zeit, als die „Welt noch rund und ungebrochen war“ (DM, 5), liegt außerhalb des Lebensbogens der Ich-Erzählerin; es gibt diese Welt nicht mehr, alles ist längst verloren, ehe die Verluste offensichtlich werden. Bereits die Kindheit der
Strigl (2022, 163) spricht von „hoffnungslosem Begehren“: „Es wurde wie immer, wenn der Alkohol ihn ein bißchen enthemmt hat. Dann schläft er sofort ein, und ich liege noch eine Weile wach. Ich hatte ja schon vor dem Fernsehapparat eine Stunde geschlafen.“ (DM, 143) Die Ich-Erzählerin denkt in Pruschen an den bevorstehenden Besuch ihres Mannes: „Ich habe kein Verlangen nach seiner Berührung.“ (DM, 94) Bereits zu Beginn des Romans wird die Melancholie zwischen Mann und Frau angesprochen: „Natürlich haben wir einander manchmal satt bis zum Hals, aber sobald uns das klar wird, versinken wir in tiefe Melancholie, bis dieser beklagenswerte Zustand vorüber ist.“ (DM, 9–10) Konstanze Fliedl stellt ihren Beitrag zum Werk Haushofers unter den Titel „Die melancholische Insel“ (Fliedl 1986). Strigl (vgl. 2019, 201–202) deutet die Beschreibung Huberts als „ausgetrocknet“ (DM, 78–79) als Zeichen seiner eingeschränkten sexuellen Potenz. Markotic (2008) berücksichtigt in ihrer Untersuchung neben Freud Julia Kristeva und Jacques Lacan.
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Protagonistin ist geprägt von Verlust:⁶⁷ Dem frühen Tod der Eltern durch TBC geht ein gänzlicher Verzicht auf Nähe, eine Nicht-Beziehung, voraus. Einen Ersatzort für selbstverständliche Geborgenheit findet das Mädchen zeitweilig im Haus des Großvaters, das nach dessen Tod unzugänglich ist, wenn auch aufgehoben in Erinnerung und Sehnsucht. Verlusterfahrungen generalisieren sich – sie betreffen Zeichnungen, Geschenke, Menschen – und werden meist eher resignativ zur Kenntnis genommen.⁶⁸ Verlust und Vergessen(‐müssen) liegen nahe beieinander. Vergessen, eine ‚Nachkriegstugend‘, ist unabdingbar notwendige Überlebensstrategie im Wiederaufbau, in der Abwehr von Schuld, in der Bewältigung von erlittenen Verlusten, wiewohl sie nur unter äußerster Anstrengung einigermaßen gelingt.⁶⁹ „Das einzig wirkliche Gegenüber dieser Frau ist das Unausgesprochene, das Verschwiegene, das sich zu heimlichem Wissen verdichtet hat und damit zu einem unauflöslichen Nichts.“ (Duden 1986, 109) Die dem Körper eingeschriebenen Erfahrungen führen zu psychosomatischen Reaktionen wie etwa zur Ertaubung, will man deren Auslöser – der Ton einer Sirene mitten in der Nacht – als Retraumatisierung durch die Erinnerung an Sirenenalarme während der Kriegszeit lesen. Sie äußern sich als unkontrollierbare Ticks, wie im Fall des mysteriösen X, dessen Hände in ihrem bedrohlichen Spiel übereinander herfallen (vgl. DM, 170) und dabei die eingeschlossene Gewalt und gleichzeitig – wie Strigl meint – sexuelle Handlungen ausagieren (vgl. Strigl 2019, 207). Der Körper macht sichtbar, was in ihm eingesperrt ist, er offenbart nicht nur innere Unruhe bzw. Erregung, sondern unnennbare Schuld – er wird zum unzuverlässigen Archiv. Im Zusammenhang mit Marlen Haushofer ist oft von (Ab)Spaltung die Rede, die sich auch in der ambivalenten Bedeutung von Raumstrukturen äußert (Die Tapetentür, Die Wand, Die Mansarde; vgl. Lühe 1986, 84). An der Konnotation von Räumen – Zuflucht und Ausgrenzung – wird deutlich, wie Erinnern-Erzählen und Vergessen-Verschweigen als gegenläufige Bedürfnisse und Bewegungen einander bedingen und einander begrenzen. Trotz der Parole und Notwendigkeit zu verges Vgl. zur „Vertreibung aus dem Paradies“ als Topos des Schreibens Strigl 2000, 122. „Ich hatte immer einen Hang, Dinge zu verlieren, auch Menschen, das geschah ganz leicht und spielerisch.“ (DM, 41) Auch das Aufgeben von Mutterschaft (es betrifft Sohn und Tochter auf unterschiedliche Weise) wiederholt sich im Leben der Ich-Erzählerin; dauerhafte Nähe ist nicht herstellbar. Vgl. Strigl 2022, 179 zum Werk Marlen Haushofers: „Die ironische Perspektive und die forcierte Brutalität ihrer Erzählungen und Romane kündigen das Selbstverständliche der patriarchalen Nachkriegsordnung ebenso radikal auf wie den Konsens des Vergessens.“ Roebling (1989, 319) sieht taub bzw. stumm-sein als stellvertretend für die kollektive Haltung der Nachkriegszeit. Auf einem handschriftlichen Blatt zu Die Mansarde sind die Personen in die Zeitgeschichte eingebettet: „geb. 1921 Hubert geb. 1916 geh. 1944 Ferdinand geb. 1945 Ilse geb. 1953 […].“
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sen, ist das Sprechen, das Erzählen des Unsagbaren für die Überlebenden unerlässlich, sei es in Form eines obsessiven unerhörten Schreiens, als manisches immer wieder Aussprechen desselben, als selbstauferlegte Relektüre, die das Vergessen unterläuft oder im Akt des (Über)Schreibens: Nur das Denken macht und wartet nicht mit, es preßt sich durch die Verschlüsse, an den Rändern vorbei, geht in Fleisch und Blut über, zirkuliert, nistet sich ein, einmal hier, einmal dort, zieht ab, taucht unerwartet wieder auf – das wilde Denken, das natürliche Urteil. (Duden 1986, 109)
X bleibt in Die Mansarde eine Art unauflösbare Unbekannte in der Gleichung, das große Geheimnis,⁷⁰ er ist das Gefährliche (vgl. DM, 103), ihn zu vergessen meint wohl nicht nur oder nicht in erster Linie die sexuelle Beziehung zu ihm, sondern Zeugenschaft und Wissen um die Gewalt der NS-Diktatur, des Krieges, der Verbindung mit unentschuldbarer Schuld (vgl. DM, 213).⁷¹ Die Mansarde erzählt von der Zeit nach dem Untergang der Welt – er hat bereits stattgefunden (vgl. DM, 208),⁷² und wird nicht mehr benannt. Die Möglichkeit, Vertrauen zu haben, in sich, in andere, ist vertan, das Begehren verloren. Als Fluchtraum bleibt die Mansarde, getrennt vom übrigen Haus – die Spaltung, als Möglichkeit der Psyche auf Unerträgliches zu reagieren. Die Rückkehr ins Haus, in die Welt des Wiederaufbaus – oder auch ein Leben in zwei Welten, von dem Haushofer spricht⁷³ – erfordert Verdrängen des Verrats, den der eigene Mann begangen hat, und Vergessen der eigenen Vergangenheit, des eigenen Begehrens, einer Beziehung wie jener zu X.⁷⁴ Die Notwendigkeit zu verstummen, zu verschweigen gilt auch für das Tagebuch, das sich auf dem Weg vom Manuskript zum veröffentlichten Buch selbst zensiert und dennoch alles in sich birgt, und manches verrät – weil das
Die von Arlaud (vgl. 2019, 179) vorgeschlagene Deutung von X als mögliche Markierung eines Schatzes verweist auf den in der Buchfassung des Romans nachwirkenden Subtext, der X zum „Schatz“ für die Ich-Erzählerin macht, zum lebendigen Ort im Zwischenreich von Pruschen. Vgl. dazu etwa DM, 61: „Ich hatte versucht ihn zu vergessen, und es war mir auch gelungen. […] An gewisse Dinge und Menschen zu denken, kann ich mir einfach nicht leisten, wenn ich leben will.“ Die Ich-Erzählerin träumt von Nixen und Wassermännern: „Dann wurde es finster, und eine Stimme sagte: ,,‚Sie haben uns verlassen, das ist das Ende der Welt.‘ Ich weinte, bis Hubert mich wachrüttelte. Ich wußte nicht, wo ich war, alles um mich herum war fremd. Die Welt war untergegangen. […] Aber die Trauer um einen endgültigen Verlust verfolgte mich noch tagelang.“ (DM, 208) Vgl. dazu einen Brief Haushofers an Jeannie Ebner vom 20.10.1964, zitiert in Strigl 2007, 274. Vgl. dazu auch Polt-Heinzl 2019, 165–171. Arlaud sieht in der antipodischen Raumstruktur von Mansarde und Keller das Verdrängen abgebildet (vgl. Arlaud 2019, 180).
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Buch in der spürbaren Anstrengung des Verschweigens erst recht auf das Verschwiegene verweist.
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Strigl, Daniela. „‚Es gibt keine vernünftigere Regung als die Liebe.‘ Zum Verhältnis von Eros und Zeit in den Romanen Die Mansarde und Die Wand“. Dekonstruktion der symbolischen Ordnung bei Marlen Haushofer. ‚Die Wand‘ und ‚Die Mansarde‘. Hg. von Sylvie Arlaud, Marc Lacheny, Jacques Lajarrige und Éric Leroy du Cardonnoy. Berlin: Frank & Timme, 2019: 191–211. Strigl, Daniela. „Wer hat Angst vor Marlen Haushofer? Humor, Sarkasmus, Grausamkeit in der österreichischen Literatur nach 1945“. Marlen Haushofer: Texte und Kontexte. Hg. von Andrea Capovilla. Berlin: Frank & Timme, 2022: 159–183. Studer, Liliane (Hg.). Die Frau hinter der Wand. Aus dem Nachlaß der Marlen Haushofer. München: Claassen, 2000.
Stefan Maurer
Mit Lovecraft, Lebert, Jelinek und Artmann in die Steiermark Oder Österreichische Literatur als Horrorshow, feat. Jörg Drews Meinen Eltern gewidmet
Was dem US-amerikanischen Schriftsteller des ‚kosmischen Horrors‘ H. P. Lovecraft die Kleinstadt Providence (Rhode Island), ist für seinen Nachfolger Stephen King der Bundesstaat Maine. Und um einen transatlantischen Sprung von einer Provinz in die nächste zu vollführen: für einige österreichische Schriftsteller:innen ist es in der Steiermark lokalisiert. ‚Es‘ – das ist die Heimat und das stets damit in Verbindung stehende Element des Unheimlichen – als „etwas, das […] nur an seinen Rändern existiert und stets amorph bleibt“ und „das Erhabene, Gespenstische, Widrige, Fantastische (und mehr)“ (Angeloch 2016, 577) in sich trägt. Und es dürfte auch kein Zufall sein, dass die Hauptstadt der Steiermark, also Graz selbst als „unheimliche Literaturhauptstadt“ (Gruber 1975, 139) in die Literaturgeschichte eingegangen ist. In dieser unheimlichen Gemengelage lauert um die Ecke zumeist ein verwandtes Phänomen, nämlich der Horror, der ganz allgemein als „auf Erfahrung beruhender, schreckerfüllter Schauder, Abscheu, Widerwille“, so der Duden, definiert werden kann. Mit „zunehmendem Abstand zum zwanzigsten Jahrhundert und der damit einhergehenden Erweiterung unserer kulturellen Perspektive“, hat Alan Moore diagnostiziert, rückt mit Lovecraft „eine der faszinierendsten und rätselhaftesten Gestalten der Literatur dieser stürmischen Epoche hervor“ (Moore 2018, 9). Ebenso hat Eva Geulen jüngst auf die von Lovecraft ausgehende Faszinationsgeschichte hingewiesen, die „hoch auf der literarischen Rangleiter“ angesiedelt sei und von Tennessee Williams, Joyce Carol Oates, aber auch Arno Schmidt, ebenso wie David Lynch und Lars von Trier reiche (vgl. Geulen 2019). Jedoch muss „nicht nur seine literarische, sondern auch ideengeschichtliche Wirkmächtigkeit“ (Schmutzler 2022, 104) hervorgehoben werden, beruft sich doch die philosophische Strömung des ‚Spekulativen Realismus‘ rund um Philosophen wie Quentin Meillassoux und Ray Brassier (vgl. Avanessian und Quiring 2013) ebenso auf Lovecraft wie die Kulturwissenschaftlerin Donna Haraway, die das „Cthulhuzän“ (vgl. Schmutzler 2022, 105) ausgerufen hat – eine Epoche, in der eben nicht mehr, wie im Anthropozän, der Mensch im Mittelpunkt stehe, sondern, sich dabei auf ein ‚tentacular thinking‘ berufend, das von Lovecraft ersonnene tintenfischartige Monster. Vor knapp dreißig Jahren hat Hans Richard Brittnacher in seiner wegweisenden Studie Ästhetik https://doi.org/10.1515/9783111205809-014
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des Horrors (1994) noch moniert, dass das phantastische Genre und als Subvariante der Phantastik insbesondere der Horror verpönt seien. Der popularisierte Horror Lovecraft’scher Prägung hat also mittlerweile Eingang in die Populärkultur gefunden und die Spuren, die er hinterlassen hat, sind Legion. Sie umfassen neben Filmen, TV-Serien und Comics, auch Rollen-, Brett- sowie Videospiele. Stephen King hat in Danse Macabre (1981) „seiner großen Studie der finsteren Literatur und Kunst“ (Dath 2022, 14) festgehalten, dass seine „Philosophie als Verfasser von Horrorliteratur“ sei, „Schrecken zuoberst, darunter Horror, und ganz unten der Würgereflex des Ekels“ (zit. n. Dath 2022, 14). Lovecraft, der einen Essay über Horrorliteratur betitelt Supernatural Horror in Literatur (1925–1927) verfasst hat, diagnostiziert als „älteste und stärkste menschliche Gefühlsregung die Angst“ und als die „älteste und stärkste Art von Angst“ eben „die Angst vor dem Unbekannten“ (Lovecraft 1995, 7). Generell wimmelt es in der österreichischen Literatur nach 1945 von Texten, die dem Horror-Genre nahestehen, diese älteste und stärkste Emotion hervorrufen (wollen) oder auch mit dem „Würgereflex des Ekels“ spielen. In je anderen produktionsästhetischen Zusammenhängen sind diesbezüglich vor allem Hans Lebert, H.C. Artmann, Peter Handke und Elfriede Jelinek zu nennen. Zahlreiche literarische Texte nehmen genretypische Elemente produktiv auf und verarbeiten bzw. invertieren diese. Einige Schriftsteller:innen begründen sogar Rezeptionszusammenhänge und -traditionen mittels Transposition und Übersetzung. In der unmittelbaren Nachkriegszeit kommt es zunächst zögerlich, dafür aber dann umso nachhaltiger, zu einer Kontinuation, die phantastische Literatur betreffend, die im Gefolge – so hat Clemens Ruthner festgehalten – „eines ‚Neuen Subjektivismus‘, aber auch unter dem Eindruck zeitgenössischer Literatur aus dem anglophonen Raum“ in ein „neues irrationalistisches Zeitalter“ (Ruthner 2004, 67) führen. Grob gesehen spaltet sich die Phantastik, und damit auch die Horrorerzählungen, in der österreichischen Literatur in den 1960er Jahren in zwei Richtungen. Einerseits würde eben eine, partiell in Verbindung mit der Anti-Heimatliteratur, stehende Literatur, die düster und bedrückend aus der scheinheiligen dörflichen Gemütlichkeit und den verdrängten, und nun wiederauferstehenden Toten des Zweiten Weltkriegs, hervorgehen. Andererseits würde sich eine, wie Franz Rottensteiner meint, „verspielte und sprachspielerische Variante, […] die ein Wechselspiel von Fiktivität und nicht einer Realität, sondern verschiedenen Realitätsebenen betreibt, eine poetische Metaliteratur“ (Rottensteiner 1999, 266–267) bilden, die stark von der Tradition des Horrors beeinflusst sei. ‚Heimat‘ war in Österreich seit den 1930er Jahren stets als antimodernistischer Kampfbegriff im Einsatz und das ideologisch höchst aufgeladene Wort ‚Heimatkunst‘ richtete sich gegen die sogenannte Großstadtliteratur, die als national zersetzend galt, d. h. eigentlich gegen die experimentierende und sprachkritische Literatur der Moderne (vgl. Müller 1990, 10). Noch bevor in den 1970er Jahren der
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Begriff der Anti-Heimatliteratur als zentrale Gegenkategorie eines anderen, nicht affirmativen Verständnisses der idyllischen heimatlichen Verhältnisse Bedeutung erhielt, finden sich erste Spuren zum Feld von Heimat und Horror zu Beginn der 1950er Jahre. Ein Beispiel für Ersteres wären die frühen Erzählungen von Hans Lebert, der mit Die Wolfshaut 1960 schlagartig berühmt wurde, und sich, wie sein Verwandter im Geiste H. P. Lovecraft, als Erzähler gespenstischer und unheimlicher Phänomene erweist. Denn mit den Texten von Lebert, der die steirische Provinz gut kannte, ist das Dorf ein endgültig entidyllisierter Ort und die Bewohner „keine harmlosen Ländler, die Berge keine Postkartenmotive“, vielmehr entsteht „ein Horrorszenario aus unbarmherziger Kälte, stinkenden Jauchegruben, feisten Wirtstöchtern, brutalen Verbrechern“ und der „Alpentraum ward zum Alptraum“ (Hoell 2000, 207). Der „kosmische Regionalschriftsteller“ (vgl. Frenschkowski 1997) Lovecraft wurde 1890 in Providence geboren und verstarb 1937 ebendort. Er vertrat „problematische Positionen zu den gesellschaftlichen Fragen seiner Zeit, sein Rassismus, seine mutmaßliche Frauenfeindlichkeit, sein Klassendünkel, seine Verurteilung der Homosexualität und sein Antisemitismus“ (Moore 2018, 9) verhinderten zunächst eine ernsthafte literaturwissenschaftliche Erforschung seiner Werke. Lovecraft haftete der Ruf eines Sonderlings an, der sich in ständigen Geldnöten befand und zu Leibzeiten „als Autor über einen kleinen Kreis von Enthusiasten und einen größeren, aber unkritischen Kreis von ‚Pulp‘-Lesern nicht hinausgedrungen war“ (Fischer 1980, 315). Seit den 1970er Jahren gibt es in den USA auch so etwas wie einen „akademische[n] Lovecraftismus“ mit „einer anwachsende[n] Sekundärliteratur und einer bereits mehrbändigen Briefedition“ (Fischer 1980, 315–316) sowie kommentierten Ausgaben seiner Werke und der Aufnahme in die Reihe Library of America. Lovecraft verbrachte praktisch sein gesamtes Leben in Providence, wo er als Sohn einer alteingesessen neuenglischen Familie, von Winfield Scott Lovecraft und Sarah Susan Phillips Lovecraft, bereits im Alter von drei Jahren seinen Vater verlor, denn dieser war in ein Hospital für Geisteskranke eingewiesen worden. Lovecraft wurde von seiner Mutter, seinen beiden Tanten und seinem Großvater mütterlicherseits großgezogen und galt als besonders begabtes Kind (vgl. Joshi 2017, 24). Im Alter von vierzehn Jahren erkrankte er an einem psychosomatischen Leiden, verließ 1908 die Highschool ohne Abschluss und erlebte, – eigenen Aussagen zufolge –, einen „schweren gesundheitlichen Zusammenbruch“ (vgl. Joshi 2017, 159). Er gab den Plan, das College zu besuchen, auf und wurde auf Betreiben seiner Mutter als untauglich für den Militärdienst im Ersten Weltkrieg erklärt. Bis 1924 widmete er sich vielen Bereichen, die mit den Naturwissenschaften, aber auch dem Amateurjournalismus in Zusammenhang standen, da er eine Vorliebe für Chemie, Astronomie, griechische und lateinische Klassiker hatte. 1921 kam es zu einer tiefgreifenden
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Veränderung, verstarb doch seine Mutter, die seit 1919 aufgrund depressiver Phasen und Symptomen in Behandlung war. Lovecrafts Biograph S. T. Joshi hat darauf hingewiesen, dass sie ihrem Sohn psychologischen Schaden zugefügt hätte, weil sie ihm suggerierte, er sei körperlich hässlich (vgl. Joshi 2017, 965). Er lernte in weiterer Folge die um sieben Jahre ältere ukrainische Jüdin Sonia Greene kenne, die ebenfalls literarische Ambitionen hegte und die er 1924 heiratete. Gemeinsam lebten sie bis 1926 im berüchtigten New Yorker Armenviertel Red-Hook in Brooklyn, dann kehrte Lovecraft nach Providence zurück, denn in New York, das ihm als Ort zuwider war, fühlte er sich unfähig zu schreiben (vgl. Joshi 2020, 92). Den stärksten Einfluss auf Lovecrafts Literatur hatte nach eigenen Angaben Edgar Allan Poe auf ihn ausgeübt, den er im Alter von acht Jahren in der großväterlichen Bibliothek entdeckt hatte. Mit der Zeit empfand er „das Gewicht von Poes Werk und Ruf jedoch zunehmend als Belastung“ (Klinger 2018, 20), und viele seiner frühen Erzählungen erschienen ihm rückblickend als bloße Nachahmungen seines Vorläufers. Hatte er seine Laufbahn als Autor im Alter von fünfzehn Jahren begonnen, fallen seine ersten Publikationen mit The Tomb und Dagon erst ins Jahr 1919. Ab 1923 begann er Erzählungen zu schreiben, die „in der wiedererkennbaren Landschaft Neuenglands angesiedelt sind“ (Klinger 2018, 45), und führte fiktionale Orte in die Landschaft ein, wie z. B. die Stadt Arkham, wobei es ihm aber nicht vorrangig darum ging, als Heimatschriftsteller zu gelten. Um 1926 entstanden die prototypischen Erzählungen Cthulhus Ruf (Call of Cthulhu), in der diese unheimliche Gottheit aus dem All mit ihren schleimigen Tentakeln das erste und einzige Mal auftritt und mit der der sogenannte Cthulhu-Mythos begründet wird. Auf das Sonische, also das Akustische als wesentliches Element des Horrors, wurde bereits oft hingewiesen (vgl. etwa Brittnacher 1994, 48–49). Bei Lovecraft spielt dies nicht nur hinsichtlich des Rufs dieses extraterrestrischen Wesens, das im von ihm geschaffenen Mythos zu den ‚Großen Alten‘ zählt, eine Rolle, sondern auch in der Erzählung, die den Titel Flüsterer im Dunkeln (The Whisperer in Darkness, 1930) trägt. Hans Leberts Erzählung Der dunkle Ruf, die 1953 in der Literaturzeitschrift Neue Wege abgedruckt wurde, später auch als Der Ruf aus dem Dunkel wiederveröffentlicht, korrespondiert nicht nur vom Titel her mit Lovecrafts Erzählung. Werden bei Letzterem literarische Techniken der Verdunkelung eingesetzt, um den Ich-Erzähler, den Literaturwissenschaftler Albert N. Wilmarth daran zweifeln zu lassen, dass die Manifestation unheimlicher Wesen in den Bergen Vermonts nur ein Gerücht ist, deren Existenz sich auch mittels moderner Technik wie Fotografie nicht dokumentieren lässt, bleibt in Leberts kurzer Erzählung die Existenz eines unheimlichen Wesens in der Schwebe. Die Erzählung bündelt „das Motiv des Anrufs einer dunklen, dämonischen Macht“ (Egyptien 1998, 119), der sich die Hauptfigur, ein Fährmann namens Franz Mrna zu entziehen versucht: „[E]s war
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ihm, als hätte draußen jemand gerufen. Er blieb bewegungslos auf dem Rücken liegen und lauschte. […] Und als er nun weiterhin […] gespannt in die Finsternis lauschte, vernahm er wirklich einen Laut, vielleicht die Stimme eines Menschen, fern und ungenau wie vom drüberen Ufer.“ (Lebert 1993, 121) Der Schrecken bleibt bei Lebert namenlos, und Mrna packt angesichts „seines Doppelgänger[s] ein eisiges und lähmendes Grauen“ (Lebert 1993, 127), und er fühlt, dass „etwas auf ihn zukam, etwas Unsichtbares, ein Hauch, eine Kälte. Es war wie der Atem aus einem Munde, war so kalt, daß man meinte, darin zu erfrieren. Und dann […] schwankte das Boot […]. So schwankt ein kleines Boot, wenn jemand an Bord springt“ (Lebert 1993, 127–128). Ein Name, der unweigerlich ins Spiel kommt, wenn man der Rezeption Lovecrafts im deutschsprachigen Raum folgt, ist jener Jörg Drews (1938–2009). Drews war Literaturkritiker der Süddeutschen Zeitung und literaturwissenschaftlicher Experte für die Grazer Gruppe, er gab u. a. den folgenreichen Sammelband Als die Grazer auszogen, die Literatur zu erobern (1975) heraus. Drews, einer der besten Kenner des Werks H. C. Artmanns, war auch ein Promoter der Werke H. P. Lovecrafts. Er rezensierte die Erzählbände des Letzteren, die in der Reihe „Bibliothek des Hauses Usher“ im Insel-Verlag veröffentlicht wurden (vgl. Drews 1997, 221–230), und unter dem Lemma „H. P. Lovecraft“ findet sich im Kindler ein Artikel aus seiner Feder über The Rats in the Walls (Die Ratten im Gemäuer, 1924) (vgl. Drews 1988, 623– 624). Ein anderer bekennender Lovecraftianer, der einen Traditionszusammenhang zum ‚Pulp‘ des Gentleman aus New England begründete, war H. C. Artmann: „Ich habe mich um Lovecraft 15 Jahre bemüht und ihn mühselig bei uns bekannt gemacht.“ (Artmann 2021, 167) Drews stellt in einer Besprechung, betitelt Monstren aus Vorzeit und Jenseits, fest, dass Lovecraft eine „Handvoll Geschichten hinterlassen“ habe, in denen „die Bezirke des literarischen Grauens erweitert werden und ein Mythos sich abzeichnet, der es fast mit dem Draculismus aufnehmen kann“ (Drews zit. n. Kaar 2010, 158). Cthulhu befindet sich also „im Artmannschen Horrorszenario der 60er Jahre in bester Gesellschaft“ (Kaar 2010, 158), nimmt er doch Stoffe und Figuren von Horrorklassikern wie Dracula und Frankenstein ebenso wie Werwölfe und Kannibalen auf. Artmann übersetzte nicht nur die zentralen Erzählungen des Cthulhu-Mythos, die 1968 im Insel-Verlag unter dem Titel Cthulhu. Geistergeschichten von H.P. Lovecraft (vgl. Lovecraft 1969) erschienen, sondern schrieb bereits einige Jahre zuvor ein Dramolett mit dem Titel Lovecraft, save the world. Artmann, war aber nicht der Erste, der Lovecraft ins Deutsche übersetzte, bereits 1965 war bei Heyne ein Band mit Erzählungen des Übersetzers Wulf H. Bergner erschienen (vgl. Frey und Klaas 2006, 182), und in der Folge stammte ein Großteil der Übersetzungen von Rudolf Hermstein. Artmann fühlte sich aus mehreren Gründen zu Lovecraft und seiner Literatur hingezogen, wie im Tagebuch das suchen nach dem gestrigen tag nachgelesen werden kann: „Ich kenne aber einen vergessenen Amerikaner, sein
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stil ist ja nicht besonders, aber geschichten sind das! J. [sic] P. Lovecraft, wahrscheinlich ein inkurabler narkomane, denn nüchtern scheint es mir, kann man nicht so schreiben. […] Dieser herr Lovecraft muß ein recht märchenhafter mann gewesen sein.“ (Artmann 1971, 30) Vermutet wird, dass Artmann während seiner Berliner Zeit beim ‚Tandler‘ oder an Kiosken solche US-amerikanischen Hefte gefunden hat, die auch Lovecrafts Erzählungen umfassten (vgl. Kaar 2010, 157). Artmann war dann auch mit der Erzählung Schatten wachsen nebenan als Beiträger an einer Anthologie beteiligt, die als ein kleiner Meilenstein der Nachkriegsliteratur gelten kann: die von Peter Handke herausgegebene Anthologie Der gewöhnliche Schrecken (1969). Handke, dessen Idee es war, das Modell von Horrorgeschichten „auf unsere eigenen Zustände“ (Salzinger 1970) anzuwenden, brachte Mitglieder der Wiener Gruppe und die zweite Nachkriegsgeneration mit u. a. Thomas Bernhard, Barbara Frischmuth, Ernst Jandl, Elfriede Jelinek und Gert Jonke zusammen. Dass die Anthologie Horrorgeschichten umfasst, ist wenig überraschend, konstatiert Katherine Arens (vgl. Arens 2017, 154), deutet dies doch zurück auf Artmanns Dracula Dracula (1966) ebenso wie auf seine Übersetzungen der zentralen Texte des Cthulhu-Mythos. Es ist eine Umfunktionierung der literarischen Horror-Tradition, die Handke vornimmt und als direkte Antwort auf die kulturellpolitischen Katastrophen seiner Zeit sieht, ebenso wie er auf das kritische Vermächtnis der Aktionisten und der Wiener Gruppe zurückgreift, um eine tiefergehende Kritik der Nachkriegsgesellschaft zu ermöglichen und deren Wertesystem als bankrott zu entlarven. Arens hat die These aufgestellt, dass die Wiener Gruppe mit ihren Aktionen und z. B. der ‚Uni-Ferkelei‘ im Hörsaal 1 des Neuen Instituts Gebäudes der Universität Wien im Juni 1968 alltäglichen Horror in die Mitte der Gesellschaft bringen wollte, der, ebenso wie Horrorgeschichten, Schock, Ekel, Angst und Entsetzen auslösen sollte (vgl. Arens 2017, 158). Handkes Anthologie wird von Hans Heinz Hahnl, dem Literaturkritiker der Arbeiter-Zeitung, in einer Sammelrezension unter dem Titel Geister – literarische Mode besprochen. Hahnl referenziert mit den Horrorklassikern Das Spukhaus (The Spook House, 1899) von Ambrose Bierce und Das leere Haus (The Empty House, 1906) von Algernon Blackwood auch bislang in der von Kalju Kirde edierten Reihe „Bibliothek des Hauses Usher“ erschienene Bände. In diesem Kontext seien auch Artmanns Übersetzungen zu sehen, die „allgemein als literarisches Kuriosum goutiert worden“ (Hahnl 1969) seien. Handkes Anthologie weist auch auf die nächste Generation von veröffentlichten Horrortexten, wie Jelineks Krankheit oder Moderne Frauen (1987) voraus, ist doch mit ihrer Erzählung Der fremde! störenfried der ruhe eines sommerabends der ruhe eines friedhofs ihr erster „Vampirtext“ enthalten. Ein Kulminationspunkt der österreichischen Literatur als Horrorshow ist Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten (1995). Jelinek, „die im Grunde immer schon Horror-Romane schrieb“, wie Ulrich Weinzierl in seiner Kritik anlässlich des Er-
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scheinens angemerkt hat, sei angesichts ihres Opus Magnum „nunmehr auch in puncto Genre am Ziel angelangt“ (Weinzierl 1995). Diesem verdanken sich „Entstehungsgeschichte, Paratexte und Buchgestaltung, ebenso wie Figuren und Handlungsmuster“ (Innerhofer 2008, 86); von den das Genre bestimmenden Rezeptionsästhetiken wie Angst und Schrecken, die Jelinek subvertiert, bleibe aber nur der Ekel. Der Roman, der die Grenze zwischen Lebenden und Toten transzendiert, verflüssigt die Identitäten der drei Hauptfiguren Karl Schranz, Gudrun Pichler und Karin Frenzel, die als Untote zurückkehren und von Spektren heimgesucht werden (vgl. Kastberger 2019). Die (erzählte) Zeit wird aufgehoben und der Erzählverlauf verlangsamt, der Plot entfaltet sich zwischen einem Busunglück in den Bergen der Obersteiermark nahe der Pension Alpenrose im Dorf Tyrol und dem Abgang einer Mure, die die Pension verschüttet, aber den der Landschaft eingeschriebenen Horror des Holocaust sichtbar macht. Zwischen diesen, den Roman rahmenden Ereignissen könnten wenige Stunden oder ganze Äonen liegen (vgl. Tommek 2015, 404). Ebenso wie bei Lovecraft, so ließe sich mit Michel Houellebecq abschließend konstatieren, der mit dem Essay Gegen die Welt, gegen das Leben eines seiner zentralen literarischen Vorbilder würdigt, ist bei Jelinek die „Ablehnung jedes Realismus eine Vorbedingung für den Eintritt in [ihr] Universum“ (Houellebecq 2002 [1991], 43).
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Mit Lovecraft, Lebert, Jelinek und Artmann in die Steiermark
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Thomas Eder
Digitale Apokalypse zwischen Technikhoffnung und Technikangst Oswald Wieners Notizbücher der 1980er/1990er Jahre Parallel zur Arbeit an seinem frühen literarischen Hauptwerk die verbesserung von mitteleuropa, roman (1962–1967, publiziert 1969) wandte sich der für die deutschsprachige Neo-Avantgarde prägende Schriftsteller Oswald Wiener (1935– 2021) der seit den 1940ern neu entstandenen Kybernetik zu. Teils enttäuscht in seinen künstlerischen und politischen Hoffnungen, schienen ihm die Sprachphilosophie und der ‚linguistic turn‘ keine Verheißungen mehr zu bieten, und die Angst vor dem sich ankündigenden ‚social engineering‘ schlug bei Wiener wie bei vielen anderen, ursprünglich geisteswissenschaftlich Orientierten in eine Lust an der positivistischen, naturwissenschaftlichen, ja sogar behavioristischen Provokation um. In einem Gespräch (Wiener und Eder 2023) führte Wiener sein Pendeln zwischen Technikhoffnung und Technikangst auf eine Art ‚Stockholm-Syndrom‘ zurück. Als einer der Ersten lebte er, als Schriftsteller und Informatiker, „the two cultures“ der Natur- und Geisteswissenschaften (Snow 1959) in einem Leib (vgl. Raab 2022). Die hier behandelten und zum Teil abgebildeten Notizbücher befinden sich im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (Vorlass Oswald Wiener, LIT, ÖLA 232/W 11–W 22), sie stammen zum Großteil aus der Dekade von Anfang/ Mitte der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre, als Wiener nach seiner Tätigkeit als Gastronom und dem Studium der Mathematik an der dortigen Technischen Universität Berlin verlassen und zusammen mit seiner Frau Ingrid in Dawson City, Yukon Territories, Kanada, Quartier bezogen hatte. Die aus den Notizbüchern ausgewählten Seiten zeigen die Entwicklung Wieners anhand seiner drei Lebensarbeitsschwerpunkte: 1) Literatur/Ästhetik/Philosophie, 2) Automatentheorie und 3) Denkpsychologie, denen er in seinen Publikationen dieser Zeit (vgl. Wiener 1996a, b, c und Wiener 1998a, b) besonders übergreifend nachgeht und sie mit begleitender und vorbereitender Reflexionsarbeit im Notizbuch komplementiert. Die Eintragung zu „Turings Test“ kann als eine Vorarbeit zu Wieners in seinem Band Schriften zur Erkenntnistheorie (Wiener 1996a) publizierten Aufsatz dieses Titels gelten: „Prüfe das Argument: ‚Daß eine Maschine das menschl. Denken nicht imitieren kann (= daß eine Maschine nicht denken kann?) kann nicht bewiesen werden‘, denn ein Beweis setzt Einsichten in die Natur des Denkens und der Maschinen voraus, die mechanisiert werden könnten.“ (LIT, ÖLA 232/W 14) In dem genannten Aufsatz untersucht Wiener die von Alan M. Turing in seinem berühmten Paper von 1950 (vgl. Turing 1950; Turing 2021) argumentierte Ersetzung der Frage https://doi.org/10.1515/9783111205809-015
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„Können Maschinen denken?“ (Turing 2021, 10) durch den nach ihm später so benannten Turing-Test: In dem von Turing dazu ersonnenen Imitationsspiel soll ein Fragesteller (C) herausfinden, wer von den beiden von ihm per Fernschreiber Befragten (A) und (B) ein Mann und wer eine Frau ist. (A) soll (C) durch seine Antworten möglichst zur falschen Identifizierung bringen, (B) soll (C) durch seine Antworten unterstützen, richtig Mann und Frau zu identifizieren. Turing setzt fort: „Was passiert, wenn eine Maschine in diesem Spiel die Rolle von A übernimmt?“ Wird sich der Fragesteller in diesem Fall ebenso oft falsch entscheiden wie dann, wenn das Spiel von einem Mann und einer Frau gespielt wird? Diese Fragen treten an die Stelle unserer Ausgangsfrage: „Können Maschinen denken?“ (Turing 2021, 10)
Und Turing liefert auch seine Prognose für eine Antwort auf die Frage: Meiner Meinung nach wird es in etwa 50 Jahren [also um das Jahr 2000 herum] möglich sein, Rechner mit einer Speicherkapazität von etwa 109 zu programmieren, die das Imitationsspiel so gut spielen werden, dass ein durchschnittlicher Fragesteller eine Chance von nicht mehr als 70 Prozent hat, die richtige Identifizierung nach fünf Minuten Befragung vorzunehmen. Die ursprüngliche Frage ‚Können Maschinen denken?‘ halte ich für zu unbedeutend, um einer Diskussion wert zu sein. Dennoch glaube ich, dass sich am Ende des Jahrhunderts der Gebrauch der Worte und die allgemeine gebildete Auffassung derart stark gewandelt haben werden, dass man von denkenden Maschinen reden kann, ohne dass Widerspruch zu erwarten wäre. (Turing 2021, 40–41)
Wiener geht nun in seinem Aufsatz den Argumenten Turings nach, seine Eintragungen im Notizbuch (LIT, ÖLA 232/W 14) geben Zeugnis von wesentlichen argumentativen Zwischenschritten seiner Befassung damit. Der abgebildete Eintrag skizziert sehr wahrscheinlich den Ansatz zu einem in Wieners Aufsatz ebenfalls ausgefalteten Argument. aber das würde nichts weiter bewirken, als die bedeutung des wortes „denken“ auf verhalten zu verschieben (genau was T.[uring] sagt). ich glaube nicht, daß das etwas über den gebrauch von „denken“ bewirken [?] kann – im großen ganzen wohl richtig in Eine Art Einzige (Wiener 1998a [1982], 64–78). (LIT, ÖLA 232/W 14)
Dies ist wohl im Wesentlichen die Grundlage für den im Folgenden formulierten Einwand Wieners gegen Turing: Turing strebt bloß eine Sprachregelung an: „‚Denken‘ ist, was Turings Test besteht“ […] Turings aus gelegentlichen Wendungen zu erratende Bevorzugung eines im engsten Sinn behavioristischen Standpunkts – die Psychologie habe sich auf das öffentlich beobachtbare und instrumental meßbare Verhalten zu beschränken und insbesondere jeden Bezug auf das Bewußtsein zu vermeiden – deutet in der Tat in diese Richtung, da der dogmatische Behaviorismus seine
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Abb. 1: Oswald Wiener: Notizbuch, Manuskript. Vorlass Oswald Wiener, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, LIT, ÖLA 232/W 14. Salvierung vor dem „Mentalen“ in der Zensur des Lexikons gesucht hat. Sprachregelung per fiat entscheidet natürlich garnichts; offenbar mußten wir nicht bis zur Jahrtausendwende warten, um Redensarten wie „intelligentes Terminal“, „denkendes Bremssystem“, „mitfühlender Reißverschluß“ etc. à la „kluges Buch“ ganz selbstverständlich serviert zu bekommen. Andererseits sind hier Sprachregelungen unumgänglich; selbst eine für die meisten Menschen akzeptable formale Beschreibung des Denkens wäre, unter anderem, Sprachregelung. Die Willkür der behavioristischen Ausdrucksweise stammt aus den unwissenschaftlichen Komponenten des Dogmas: wir kennen das menschliche Verhalten nicht nur wie ein physikalisches System durch Vermittlung der Sinnesorgane, wir entnehmen auch der Introspektion, und zwar vielfach intersubjektiv korrelierbar, wesentliche Hinweise auf die Form der angestrebten Theorie. Der Behaviorismus hat wissenschaftliche Untersuchungen der Introspektion verhindert, indem er sie für überflüssig erklärte – obgleich sich die behavioristische Begriffsbildung wie jede andere auf halb- und unbewußte Selbstwahrnehmung, ja auch, meine ich, auf bewußte wenn auch unterschlagene Selbstbeobachtung stützt. Turing scheint Sprachregelung zu betreiben, indem er die funktionale Äquivalenz [Hervorhebung TE] auf dem TerminalSchirm [des Fernschreibers, TE] als die entscheidende herausstreicht. Indessen muß die Sache im Hinblick auf Angemessenheit oder Unangemessenheit jener Interpretationen studiert
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werden, die auch dann noch nötig wären, wenn man nähere Inspektion eines einigermaßen erfolgreichen Programms „hinter“ dem Terminal gestattete. (Wiener 1996a [1984], 78)
Wichtiger als das Argument, Turing strebe eine bloße Sprachregelung an, was unter „denken“ zu verstehen sei, scheint für Wiener jedoch später und bis zuletzt das Folgende gewesen zu sein: Wenn man ein Argument findet, das in der Simulation fehlt, kann man dieses, da es ja nun formuliert ist, in die Simulation einbauen bzw. aufnehmen. Wiener legt damit die Folgerungen, die sich aus dem Turing-Test ableiten lassen, in folgende zwei Pointen auseinander: [E]ntweder meint Turing, daß alle Bemühung vergeblich ist, das, was füglich mit „denken“ bezeichnet werden kann, strukturell scharf zu charakterisieren; oder man muß seinen Vorschlag so auffassen, daß das Programm die jeweils beste systematische Hypothese des Denkens verkörpern soll, um Tests der besten systematischen Gegenargumente zu ermöglichen. Im zweiten Fall wäre Turings Test natürlich nur ein Gleichnis. Immerhin könnte man es zu einer wissenschaftlichen, wenn auch kuriosen Praxis ausgestalten – man darf ja hoffen, daß jede konsistente Entlarvung des Programms zu stärkeren Hypothesen führt: jedes systematische Argument kann in das Programm integriert werden [jedenfalls zufolge der Church-TuringThese]. Mir scheint aber, daß Turing das erstere Verständnis vorzog und seinen Test einfach als ein hinreichendes Kriterium für das Zuschreiben von „Denken“ verstand. Das geht aus seiner Bemerkung hervor, die Bedingungen des Tests benachteiligten das Programm: „Könnten Maschinen nicht etwas tun, das als Denken bezeichnet werden müsste, aber völlig verschieden von dem ist, was ein Mensch tut?“ […] Turings Antwort kennzeichnet seine durchaus behavioristische Einstellung: „Wenn nichtsdestoweniger eine Maschine konstruiert werden kann, die das Imitationsspiel zufriedenstellend absolviert, so brauchen wir uns um diesen Einwand nicht zu bekümmern.“ Einer derartigen Absicht genügt eine nicht näher zu definierende, eben „gefühlte“ funktionale Äquivalenz [Hervorhebung TE] auf der Ebene der Bildschirmzeichen. Analysen des Programms selbst auf etwaige strukturale Ähnlichkeiten mit dem menschlichen Denken können da natürlich nicht gestattet werden. (Wiener 1996c [1990], 246–247)
Den eingangs zitierten Gedanken aus dem Notizbuch: „‚Daß eine Maschine das menschl. Denken nicht imitieren kann (= daß eine Maschine nicht denken kann?) kann nicht bewiesen werden‘ denn ein Beweis setzt Einsichten in die Natur des Denkens und der Maschinen voraus, die mechanisiert werden könnten“, setzt Wiener fort, indem er in einem nächsten Schritt „strukturale Kennzeichnung“ statt „funktionaler Äquivalenz“ einfordert: Ich habe versucht, eine Leistung zu charakterisieren, die eine Maschine bringen müßte, damit ich begänne, ihr Intelligenz zuzusprechen: die Faltung von Zeichenketten unter Nebenbedingungen. Aber in Turings Test wäre auch das kein verläßliches Kriterium. Erstens gelingt […] auch Menschen die Faltung nicht immer, und zweitens ist der Schwierigkeitsgrad derartiger Aufgaben für Menschen – und für Maschinen – nicht effektiv festzustellen. Deswegen bin ich noch einen Schritt weiter gegangen, und habe doch so etwas wie eine strukturale Kennzeichnung meines eigenen Denkens versucht. Weiter weiß ich nicht – wenn man mir eine Maschine
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zeigt, die erkennbar in Vorgängen operiert wie ich sie in meiner Introspektion finde, dann werde ich mich eben zu der Meinung bequemen, sie denke wie ich. (Wiener 1996c [1990], 247– 248)
Auf den Gedanken am Ende dieser Passage, dass es darum ginge, die Bezugsgröße „ich“ zu definieren, verweist die Eintragung vom (LIT 232/W 14) 22.1. Ben / nach SEARLE dürfte eine Maschine nicht unter, aber auch nicht über dem Niveau des nervösen Geschehens im Menschen Bewußtsein haben (‚denken des systems‘) /die frage ist also: WO IST ICH? / d. h. auf welchem Niveau?
Insgesamt denkt Wiener in der Zeit der 1980er und 1990er Jahre intensiv über das Verhältnis von menschlicher und sogenannter künstlicher Intelligenz nach, Passagen wie die folgende weisen in diese Richtung: „Prozess der formalisierung als prozess des eliminierens von ‚inneren modellen‘ (mit ihrer gegenseitigen Beeinflussung auf der Inhaltsebene) – ersetzung von wechselwirkenden Modellen durch Prozeduren.“ Auch hier zeigt sich das Ringen des Automatentheoretikers um eine Erklärung menschlichen Verstehens auf der Basis von Formalisierung, mit dem wiederkehrenden und sich zunehmend verstärkenden Zweifel des Denkpsychologen, dass ein solches Implementieren menschlicher Denktätigkeit mit den bekannten informatischen Mitteln (siehe auch die Bemerkung zu Computern auf der Basis der John-von-Neumann-Architektur) prinzipiell möglich sein könnte. Dieser Zweifel verstärkt sich zunehmend in der so benennbaren Phase Wieners als Denkpsychologe, ohne je an Brisanz und weiterer Befragungsnotwendigkeit für ihn gänzlich zu verlieren. So finden sich in den Notizbüchern immer wieder eingeklebte Notationen von Programmierungen, die Wiener ausgeführt hat (vgl. LIT 232/W 18: [Reflexionen anhand von Turingmaschinen]). Für das Programmieren und Notieren solcher Turingmaschinen gilt, wie auch für andere Aufgaben, die Wiener im Rahmen seiner Selbstbeobachtungen betrachtet: Es geht ihm eher um das Gewahrwerden und Verstehen seiner Denkprozesse als um die Lösungen in einem informatischen oder sonstigen Sinn. Mit ganz wenigen Ausnahmen, etwa einer Untersuchung des von ihm so ‚benannten‘ Phänomens der „Zeichenmagie“ (Wiener 2021) in einer programmierten Turingmaschine in seiner Spätphase, hat das auch Wieners weiteres Werk geprägt. Insgesamt könnten die 1980er und 1990er Jahre metaphorisch wohl als eine „Sattelzeit“ in der intellektuellen Entwicklung Wieners bezeichnet werden: von der kritischen Rekonstruktion der Automatentheorie (und deren Verheißungen) hin zu einer – stets mit Skepsis und im Licht der Automatentheorie beäugten – Denkpsychologie. Zugespitzt formuliert: Automatentheorie und Denkpsychologie sind für Wiener ab den 1990er Jahren zwei Aspekte desselben zu betrachtenden Phänomens – des Begreifens und der Implementation der elementaren Mechanismen des
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menschlichen Denkens. Mit der von Wiener reanimierten Methode der ‚Introspektion‘ (vgl. Eder und Raab 2015) soll den Phänomenen und Spezifika menschlichen Denkens nachgegangen werden, immer aber mit dem Ziel, sie durch Implementieren zu verstehen – auch wenn die Erreichbarkeit dieses Ziels ganz prinzipiell in Frage stehen könnte.
Abb. 2: Oswald Wiener: Notizbuch, Manuskript. Vorlass Oswald Wiener, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, LIT, ÖLA 232/W 16.
Einen Hinweis auf diesen Übergang stellen die vielen Seiten mit Zeichnungen von Knoten dar: Im Verlauf der Selbstbeobachtungen beim Lösen dieser selbstgestellten Aufgaben, komplexe Knoten zu verstehen, hat sich für Wiener entscheidend gezeigt, dass die externe Notation mit Bleistift und Papier nur gedächtnisentlastende Wirkung hat, jedoch nicht in einem entscheidenden Sinn zum Verstehen dieser Knoten beiträgt: – es ist viel schwieriger, einen Knoten o.Ä. als Zeichnung zu reproduzieren, wenn man versucht, sich das Bild einzuprägen; einfach, wenn man den Vorgang des Knüpfens reproduziert. (Vgl. auch: den Knoten in verschiedenen Stellungen sehen, ich q[uasi‐]sehe ihn immer ein wenig anders, aber immer in (zwei oder drei von den möglichen) Grundstellungen. Vielleicht
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vergleichbar: man merkt sich selten den Wortlaut, wenn man einen Satz verstanden hat. (Ich muß beim Zeichnen im Anfangsstadium immer von der Zeichnung wegschauen, mein Q[uasi‐] Bild anschauen, das von der Zeichnung gestört wird; erst wenn genügend viel richtig gezeichnet ist, hilft die Zeichnung den Rest zu vollenden). (LIT, ÖLA 232/W 16, 20.12.88)
Damit ist einerseits implizit eine vernichtende Kritik an der späteren und auch gegenwärtig prosperierenden Theorie der Medialität und Schriftbildlichkeit (vgl. Krämer et al. 2012), die die Rolle von externen Notations-Medien forcieren möchte, mitformuliert. Andererseits markiert es die für die spätere Arbeit Wieners wichtige Einsicht, dass Verstehen von mentalen Prozessen zuallererst der Selbstbeobachtung eines geübten Subjekts bedarf, in deren Folge die unbestreitbaren Fakten intersubjektiv kommuniziert und diskutiert werden können. Dies ist freilich ein schwieriges und häufig kritisch betrachtetes Unterfangen, aufgrund der bekannten Schwierigkeiten und Zweifel, denen die Selbstbeobachtung dabei unterliegt (u. a. Watson 1920; Lashley 1923; Nisbett und Wilson 1977; Russo et al. 1989; Massen und Bredekamp 2005; Hurlburt und Schwitzgebel 2007). Immer wieder hat sich Wiener jedoch auch in dieser Dekade mit Literatur und literarischen Phänomenen befasst, so zum einen in einem Rückblick auf den Abschnitt zum „bio-adapter“ (Wiener 1969, CXXXIV–CLIII) in seiner verbesserung von mitteleuropa, roman mit dem Konzept der Eudämoniemaschinen John Wilsons (vgl. Wiener 1996b [1988], 110). Wiener zitiert den englischen Philosophen, der etwa zeitgleich Eudämonie-Maschinen in Betracht gezogen hat: We must add to this the possibility that human nature itself can be changed. Now we are faced, not only by a machine that produces eudaimonia chosen by men, nor only by a machine that chooses eudaimonia for men, but also by a machine that alters men, perhaps to fit an extended concept of eudaimonia. (Wilson 1964, 230)
In seinem Konzept des bio-adapters (und den theoretischen Notizen dazu) entwirft Wiener das Glücksversprechen eines Glücksanzugs und der virtual reality (avant la lettre) in der Fusion von Mensch und Maschine (Cyborg). Obwohl er sie zugleich untergräbt, sei der bio-adapter unsere Realität und biete – auch ironisch gesprochen – die „erste diskutable skizze einer vollständigen lösung aller welt-probleme“ (Wiener 1969, CLXXV; vgl. zum „bio-adapter“ und zum Folgenden Eder 2020). Innerhalb des Werkes von Oswald Wiener nimmt der bio-adapter die Rolle einer radikalen Utopie ein, die in den auf die Zeit seiner Abfassung folgenden Phasen seiner Arbeit immer wieder neu befragt wird. Dies geschieht in Form von Pendelbewegungen, in einer Art Dialektik von Angezogen- und Abgestoßensein von den und durch die Versprechungen des Behaviorismus, Materialismus und der so genannten Künstlichen Intelligenz, die in ihrer Leistung und im Ergebnis Ähnliches wie menschliche Intelligenz hervorbringt, im Erkenntnisgang und in seinen phä-
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nomenalen Aspekten aber von ihr sehr verschieden ist. Mit den heute scheinbar erfolgreichen Verfahren wird etwas dem bio-adapter Ähnliches geschaffen, diese Formen der KI sind „auf den Erwerb von Struktur nicht mehr angewiesen, sie erreichen das ihnen gesetzte Ziel auf ganz anderen Wegen als die menschliche Intelligenz.“ (Wiener 2015, 144) Stärker in Richtung eines Glaubens an die Möglichkeiten der KI hatte es 1988 noch geheißen: Überlegungen der letzten fünfundzwanzig Jahre haben mich zu der Überzeugung gebracht, daß der Bio-Adapter, um mich richtiger zu machen, selber Bewußtsein und Willen, möglicherweise Lüste und Schmerzen, sicherlich Neigungen und Vorurteile haben muß. Angenommen, das ist einer radikal neuen Wissenschaft möglich – wie wird er mit seiner Persönlichkeit fertig werden? Wird er sich einen Bio-Adapter bauen? Was springt dabei für mich, seinen Thalamus, heraus – Versagen dritter Ordnung? (Wiener 1996b [1988], 111)
Im Jahr 2017 ist der Autor jedoch überzeugt, dass Bemühungen aus dem Bereich des Behaviorismus und der Statistik scheitern werden, sie werden den Menschen ersetzen, aber nur im Sinne von funktionalen Äquivalenzen, nicht als echte Menschen. Maschinen auf dieser Basis werden keine Vorstellungen haben, sie werden das, was ich erlebe, wenn ich arbeite, um zum Beispiel ein geometrisches Problem zu lösen, nicht erleben, sie werden überhaupt nichts erleben, sondern sie werden funktionieren. Mein letzter Stützpunkt ist, dass ich wissen möchte, wie ich denke, was Denken überhaupt ist. Und ich bin jetzt davon überzeugt, dass das mit den bisherigen Mitteln der KI nicht erklärt werden können wird. […] Wir leben schon längst im bio-adapter. So endet ja auch der Abschnitt „bioadapter“ mit dem interpunktionslosen satz: „möglicherweise sind wir alle“ (Wiener und Eder 2023)
Trotz aller Skepsis dem Potential ästhetischer Artefakte gegenüber hat sich Wiener über die Jahre hin dennoch immer wieder mit Phänomenen aus diesem Bereich auseinandergesetzt,¹ auch wenn es ihm dabei erwartbarer Weise nicht so sehr um die Charakterisierung und kunst- bzw. literaturgeschichtliche Einordung der Produkte, sondern eher um den Prozess des Erzeugens bzw. Wahrnehmens von Kunstwerken oder vielmehr von Natur- oder Kunstgegenständen unter dem Aspekt des (ästhetischen) Wahrnehmens geht. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist die Beschreibung der Zufallswahrnehmung einer ‚Skulptur‘ im eigenen Haushalt und deren Taxierung mit dem Etikett „ADOLF HITLER“ (LIT, ÖLA 232/W 22) – was auch intersubjektiv von weiteren Personen, u. a. vom Verfasser dieses Beitrages, bestätigt
Vgl. dazu Klaus Kastberger (2010, 295): „Oswald Wiener, der Autor und der Privatgelehrte, beschreitet den […] kurzen Weg zwischen Literatur und Wissenschaft in seinem Werk immer wieder in beide Richtungen, und die Art und Weise, wie er das tut, wie er da untertaucht, um dort wieder aufzutauchen, macht seine Wissenschaft und seine Literatur aus.“
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wurde. Hier erwägt Wiener, ob visuelle oder sonstige Konfigurationen und deren Kombination als „Zeichenketten höherer Ordnung“ ihrerseits Interpretation erfordern. Darin könnte, so eine mögliche Interpretation dieser Notizen Wieners, ein Grundmodell für ästhetische und Gestaltwahrnehmung begründet sein.
Abb. 3: Oswald Wiener: Notizbuch, Manuskript. Vorlass Oswald Wiener, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, LIT, ÖLA 232/W 22.
Damit zusammenhängend, aber wohl komplementär unterschieden, fragt sich Wiener auch in einer Notiz, wie denn unser Verstehen von Redewendungen zustande kommen könnte. Er unterscheidet dabei zwischen „Volksetymologie“ und „‚direkter‘ Ableitung“, die sich zueinander wie „Geisteswissenschaft“ zu „Materialismus“ verhalten. Anhand der geläufigen und ohne weitere Erklärung (in Berlin) gebräuchlichen und verstehbaren Redewendung „Es zieht wie Hechtsuppe“ einerseits und deren etymologischer Erklärung andererseits (das jiddische „Hech Supha“ bedeute in dieser Sprache „wie ein Sturm, wie ein Orkan“) fragt sich Wiener, ob die volksetymologische Erklärung hier nicht eine „überflüssige ‚bildvorstellung‘, d. h. ein Gleichnis“ heraufbeschwört, „wo bedeutungsloser formalismus genügt.“ Überhaupt scheint in dieser Zeit, anders vielleicht als im späteren Werk Wieners, die Frage nach der Bedeutung von ästhetischen Zeichen und Ausdrücken der natürlichen Sprache noch eine Rolle zu spielen, etwa in dem folgenden Eintrag:
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Thomas Eder
notiz aus T’S T- aufsatz: die ‚Vieldeutigkeit der „natürl. Sprache“ ist Vieldeutigkeit unserer inneren Modelle. Ist ein Modell kategorisch in der Kapazität (‚Mächtigkeit‘) des menschlichen Verstands, so –> Eindeutigkeit (LIT 232/W 14)
In den Überlegungen ab 2000 konzipiert Wiener, anschließend an die Arbeiten von Anthony J. Marcel (1980 und 1983) das Verstehen mehrdeutiger Wörter einer natürlichen Sprache so, dass bei ihrem Hören oder Lesen „unabhängig von der jeweiligen Laufumgebung parallel oder in rascher Folge mehrere (‚alle’?) Bedeutungen, deren Name er in der Modellwelt des hörenden Organismus ist, in Bereitschaft“ gesetzt werden, und dass erst dann die „jeweils aktuelle Orientierung bestimmt, welcher der angeregten Weiser unter die laufenden Operationen aufgenommen wird“ (Wiener 2008, 136). Marcel unterscheidet in den Diskussionen der Ergebnisse seines sehr ausgefeilten Experimentaldesigns zwischen vorbewusstem und bewusstem Verarbeiten von visuell dargebrachten sprachlichen Reizen. Worterkennen sei ein komplexer Prozess, der in seinen Aspekten aus vorbewusster Identifikation und bewusster Wahrnehmung bestehe. Vorbewusste Identifikation von (potenziell polysemischen) Sprachreizen verlaufe so, wie es die Verfechter der so genannten „nonselective view“ (Marcel 1980, 437) beschreiben, bewusstes Wahrnehmen von (potenziell polysemischen) Sprachreizen erfolge nach dem Muster der so genannten „selective theory“ (Marcel 1980, 436). Der letzteren Auffassung zufolge könne jeweils nur eine der möglichen Interpretationen zu einer bestimmten Zeit aktiv sein, während die Verfechter der „non-selective view“ annehmen, dass zuerst mehrere (alle) der lexikalischen und semantischen „Repräsentationen“, die die polysemischen Wörter auslösen, aufgerufen werden und dann erst der Kontext nach bewusster Wahrnehmung entscheide, welche davon weiter zu verfolgen seien (vgl. Marcel 1980, 436–437 und 453). Generell gilt, dass für Wiener das Verstehen des Verstehens von Kunstwerken wichtiger ist, als das kunst- oder literaturhistorische Beschreiben von Artefakten, der Prozess ist wichtiger als das Resultat: „Literatur scheint mir nur mehr beachtenswert, insofern sie sich dem großen, dem einzigen Thema unserer Epoche zuwendet: dem Begreifen der elementaren Mechanismen des Verstehens“ (Wiener 1998b [1984], 95), schreibt er dazu in seinem Essay „Wer spricht?“ aus dem Jahr 1984. Dennoch hat sich Wiener auch weiterhin, wenn auch kritisch, mit den philosophischen Bemühungen auseinandergesetzt, die sich dem Verstehen von Literatur und Kunst zuwenden. So findet sich etwa in einem Notizheft aus dem Jahr 1990 (LIT, ÖLA 232/W 18), das mit dem Gesamtetikett „Literatur“ versehen ist, am 21. Mai 1990 ein prominenter Eintrag zur Frage „Was geht beim Lesen vor:“ (LIT, ÖLA 232/W 18), dem Wiener anfügt: „kontrastieren mit Wittg. Ph. Unters. pp 61 f. (§ 155 f. bis 178)“ (Wittgenstein 1984, 318–332).
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In diesen Paragraphen seiner Philosophischen Untersuchungen behandelt Ludwig Wittgenstein das Phänomen des Lesens, das er zunächst begrenzt sehen möchte auf „die Tätigkeit, Geschriebenes oder Gedrucktes in Laute umzusetzen; auch aber, nach Diktat zu schreiben, Gedrucktes abzuschreiben, nach Noten zu spielen und dergleichen“ (Wittgenstein 1984, 318 [§ 156]), womit er also dezidiert den Vorgang des Verstehens des Sinnes des Gelesenen ausschließt.Wittgenstein entfaltet in seiner Manier des undeutlichen Dialogisierens wohl die Optionen, dass „Lesen“ in seinem Sinn als Bündel von durch Familienähnlichkeit miteinander verknüpften Handlungen zu verstehen sei, als ein Fall des Regelfolgens und Geführtwerdens. Vor allem schließt Wittgenstein aus, dass Verstehen o.Ä. als mentale Vorgänge zu taxieren seien: Denk doch einmal garnicht an das Verstehen als ‚seelischen Vorgang‘ – Denn das ist die Redeweise, die dich verwirrt. […] In dem Sinne, in welchem es für das Verstehen charakteristische Vorgänge (auch seelische Vorgänge) gibt, ist das Verstehen kein seelischer Vorgang. (Wittgenstein 1984, 317 [§ 154])
Wiener hält im Notizbuch dieser Ausblendung von mentalen Vorgängen entgegen, dass es ja geradezu auf das Verstehen der grundlegenden Mechanismen ankäme, wenn man denn Konzepte gebraucht, die solche Mechanismen an der Basis ihres Erklärungsansatzes verwenden – auch wenn Wittgenstein wohl kontern würde, dass es im Lichte der Philosophie der normalen Sprache darum gehe, wie wir die Wörter, die diese Konzepte bezeichnen, in unseren Sprachspielen verwenden: „Gedächtnisbild“ und „Vorstellungsbild“ (Witty p. 67 [= § 166: Vergleiche damit die Idee: das Gedächtnisbild unterscheide sich von andern Vorstellungsbildern durch ein besonderes Merkmal.] – Was ist der Unterschied? – Kann man überhaupt so fragen, ohne „Bild“ geklärt zu haben?
Die Antwort auf die (rhetorische) Frage Wieners im Notizbuch ist wohl pointiert gegeben in dem von ihm so taxierten „Unglücksfall Wittgenstein“ (Wiener und Eder 2023), der ihn eine Dekade andernfalls produktiver Arbeit an die (analytische) Sprachphilosophie gekostet habe. Differenzierter argumentiert ist dieses Verhältnis zu Wittgenstein in dem Aufsatz Wittgensteins Einfluß auf die Wiener Gruppe: Wittgenstein scheint im Tractatus eine untersuchung der postulierten isomorphen abbildung der sprachteile auf die „tatsachen“ und „sachverhalte“ der„welt“ ohne jeden bezug auf mentale oder physiologische vorgänge für möglich zu halten – eine durch die zentrale stellung der Sprache verschleierte weitere radikalisierung der behavioristischen idee. […] heute erwartet man antworten auf die fragen nach dem „verstehen“, nach „bedeutung“, „form“, „inhalt“, etc., auch nach der natur von Sprache, am ehesten von einer einheitlichen wissenschaft vom „mentalen“, die einige mutationen der psychologie enthalten und sich gerade auf jene „ab-
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bildenden Beziehungen“ konzentrieren wird – sie wird nach Wittgensteins „Form der Abbildung“ nicht in sprachmechanismen, sondern im nervensystem und in anderen konkreten apparaten suchen. […] ich bin heute der meinung, daß man „mentale“ und physiologische repräsentationen ohne speziellen bezug auf Sprache untersuchen kann und sollte; ich glaube, daß sprache in den kognitiven mechanismen eine große rolle spielen kann, nicht aber, daß sie, (als das, was linguisten untersuchen) einen entscheidenden teil davon bildet. (Wiener 1987, 52 u. 56)
Die hier anklingende Skepsis Wieners dem Medium Sprache/Schrift und dem Aufgezeichneten gegenüber umgreift wohl auch sein eigenes Notieren. Die wort- und schriftgläubige Praxis einer im Geiste der critique génétique ausgerichteten philologischen Methode, die aus den Notizen und den Werkmaterialien tiefere Aufschlüsse nicht nur über die Werkgenese, sondern auch über das Denken der Urheber erlangen zu können meint (vgl. Menary 2007, Lebrave 2010), teilte Wiener wohl nicht. Ich habe dennoch versucht, anhand der in seinen Notizbüchern aus den 1980er/1990er Jahren niedergeschriebenen Notizen die Gedankenentwicklung des Autors, im Lichte seiner publizierten Schriften, ansatzweise zu rekonstruieren. Vieles bleibt freilich Spekulation.
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Alexandra Strohmaier
„Verwirklichte Utopien“ Friederike Mayröckers Schreib- und Texträume
1 Einleitung: Räume der Utopie Mayröckers Schreibräume, die Klaus Kastberger (2017) in einer Arbeit zur „Werkstatt der Dichterin“ erkundet hat, sowie die aus ihnen hervorgegangenen Texträume verleihen der Utopie, die gemäß ihrer begriffsgeschichtlichen Herkunft einen NichtOrt darstellt, Raum. In ihrer spezifischen Inszenierung scheinen sie das zu manifestieren, was Michel Foucault (2005a, 11) in einem Radiovortrag zum Thema „Utopie und Literatur“ 1966 als „Heterotopien“ bezeichnet und in der überarbeiteten Version dieses Vortrags mit dem Titel „Von anderen Räumen“ als „verwirklichte Utopien“ (Foucault 2005b, 935) charakterisiert. Während Utopien – ihrer Etymologie entsprechend – „tatsächlich keinen Ort haben“ (Foucault 2005a, 11), erweisen sich Heterotopien als „Gegenräume“ (Foucault 2005a, 10), die „einen realen, auf der Karte zu findenden Ort besitzen“ (Foucault 2005a, 9). Als Beispiele nennt Foucault etwa den Garten, das Schiff, das Theater oder die Bibliothek. Diese Orte sind unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass sie mehrere Räume, die an sich unvereinbar sind, an einer Stelle zusammenführen. So überlagern sich im Garten, der nach Foucault die älteste Heterotopie darstellt und den er als Ursprung des Romans annimmt (vgl. Foucault 2005a, 14–15), der paradiesische bzw. transzendentale und der irdische Raum, im Theater der reale Raum und der Raum der Bühne. Heterotopien sind zudem an die Erfahrung zeitlicher Diskontinuität gebunden und stellen als solche „Heterochronien“ (Foucault 2005a, 16) dar, etwa indem sie, wie die Bibliothek oder das Archiv, Zeit anhäufen bzw. aufheben. Dabei wird zeitlich heterogenes Material in einem Raum zusammengeführt, zeitliche Linearität in räumliche Simultanität überführt und derart suspendiert (vgl. Tafazoli und Gray 2012, 12). Das Schiff, das nach Foucault (2005a, 21–22) „die Heterotopie par excellence“ repräsentiert und als „das größte Reservoir für die Fantasie“ (Foucault 2005a, 21) gelten kann, konkretisiert die paradoxale Konstellation eines in sich abgeschlossenen und fixierten, gleichzeitig aber mobilen Raumes, der in der Durchquerung des Meeres die gleichzeitige Erfahrung des Statischen und Transitorischen, des Geschlossenen und Offenen ermöglicht (vgl. dazu etwa Tetzlaff 2016, 16). Ein weiteres, insbesondere für Mayröckers Texträume kennzeichnendes Moment der Heterotopie tritt zutage, wenn man Foucaults ursprüngliche Verwendung https://doi.org/10.1515/9783111205809-016
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des Begriffs in den Blick nimmt, wie er ihn im Vorwort zur Ordnung der Dinge mit Bezug auf die von Borges (1966, 212) anhand „einer gewissen chinesischen Enzyklopädie“ dargestellte Taxonomie in den theoretischen Diskurs einführt (vgl. Foucault 1974, 17). Diese Taxonomie zeichnet sich nach Foucault nicht nur dadurch aus, dass sie – wie er in Referenz auf Lautréamonts (1988, 223) berühmte Wendung von der „unvermutete[n] Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ ausführt – eine bizarre Konstellation von heterogenen Dingen konstituiert (vgl. Foucault 1974, 18), sondern dass sie Dinge zusammenstellt, die aufgrund ihres unterschiedlichen ontologischen Status, als Objekte des Wirklichen und der Fiktion, nur im Raum der Literatur bzw. auf der „Buchseite“ nebeneinandertreten können (Foucault 1974, 19). Im Kontext dieser ursprünglichen Verwendung des Begriffs zur Bezeichnung einer gleichsam unmöglichen Ordnung lässt sich als ein weiteres Charakteristikum der Heterotopie ihre (paradoxale) Verschränkung von Realem und Fiktivem ausmachen. Das scheint es auch zu sein, was sie überhaupt zu einer „Spielart“ des Utopischen macht (Klass 2009, 144). Heterotopien lassen sich dabei derart bestimmen, dass sie – wie Utopien – mittels der Fiktion gegebene Ordnungen mit ‚anderen Räumen‘ konfrontieren, aber – anders als Utopien – die Fiktion der Wirklichkeit nicht einfach entgegensetzen (vgl. Klass 2009, 155). Die für die klassische Utopie kennzeichnende Dichotomie zwischen realem und fiktivem Raum wird vielmehr aufgehoben, und zwar nicht nur, indem das Fiktionale in das Wirkliche eindringt, wie Klass (2009, 155) argumentiert, sondern auch indem – umgekehrt – sich die Realität in der Fiktion Geltung verschafft. Mayröckers Schreibräume, die spätestens 1956 mit dem Gedicht Im Elendsquartier in die Literatur eingingen und noch im Titel des 2021 publizierten letzten Prosabands da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete durch den im Werknamen aufscheinenden Schwellenraum evoziert werden, bilden nicht nur einen zentralen Topos ihres Werkes, sondern stellen auch, wie Kastberger (1999, 12) hervorhebt, ein „medial inszeniertes […] Faszinosum“ dar. So war nach Thomas Kling (2001, 621) schon 1978, zur Zeit der Entstehung des Bandes Heiligenanstalt, die „Mayröcker-Wohnung in der Zentagasse des 5. Wiener Gemeindebezirks […] legendär: In Wiener Szenelokalen hing Bodo Hells berühmtes, mit Panoramakamera aufgenommenes S/W-Foto-Plakat“. In einer Auseinandersetzung mit der „Mayröckers Werk […] lange begleitenden medialen Ikonographie der Wohnung“ macht Inge Arteel (2020, 293) anhand ausgewählter Fotografien auf Verschiebungen in der räumlichen Inszenierung von Autorschaft aufmerksam. Vor Augen tritt dabei der Kunstcharakter, der auch den – Mayröckers literarische Raumkonfigurationen vervielfältigenden – fotografischen Darstellungen eignet, und die, wie gezeigt werden wird, ihrerseits wieder in der Prosa der Autorin reflektiert werden. Die Attraktivität von Mayröckers Schreibräumen rührt, so lässt sich plausibilisieren, auch daher, dass sie als Heterotopien in Erscheinung treten. Sie präsen-
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tieren sich in ihrer Prosa als paradoxale Überlagerung disparater – metaphorisch als Garten, Archiv oder Schiff kodierter – Räume, die mit ihrer ostentativen Unordnung der gesellschaftlichen Norm ‚andere Räume‘ entgegensetzen und sich, wie im Folgenden dargelegt werden soll, auch einer (für literarische Heterotopien wohl als charakteristisch zu begreifenden) fundamentalen Destabilisierung ontologischer Ordnungen verdanken. Die paradoxal als beglückend wie bedrohlich charakterisierten, metaphorisch etwa als „Schreib-Himmelreich“ oder als „Reliquienschrein“ (Mayröcker 2001a, 94, 343) bezeichneten Produktionsräume der Poesie fungieren dabei nicht einfach nur als Kulissen der Schreibarbeit, die in der literarischen Tradition der Zimmerreise erkundet werden, sondern gleichsam auch als Akteure, die in ihrer spezifischen materiellen Beschaffenheit das Werk bedingen und strukturieren und in ihrer textgenerierenden Bedeutung metapoetisch exponiert werden. Die konkrete Materialität der Schreibräume, ihre „Zettelberge“ und „Papierwucherungen“ (Mayröcker 2001a, 203, 85) sowie das Mobiliar – insbesondere Tisch und Bett – werden in einer Serie von Schreibszenen thematisiert, die den poetischen Akt als Effekt raumgebundener Verfahren des Sammelns, Auffindens und Wiederverwendens, des Anordnens und Verfremdens von heterogenem Zeichenmaterial darstellen und ihrerseits Texträume hervorbringen, die durch das Neben- und Übereinander sowie die Transgression zeitlicher und räumlicher Ordnungen charakterisiert sind.
2 Realisierungen des Utopischen: Mayröckers Schreib- und Texträume Mit dem Titel des 1988 publizierten Bandes mein Herz mein Zimmer mein Name wird Mayröckers Schreibraum gleichsam als Protagonist ihrer Prosa annonciert. Die Verschränkung von Fakt und Fiktion, die Mayröckers Texträume kennzeichnet, wird dabei bereits an jenem Teil des Buches manifest, der, wie Gérard Genette (2001, 10) mit einem Borges-Zitat ausführt, als „‚Vestibül‘“ fungiert, als „eine Zone des Übergangs“ zwischen innen und außen – dem Umschlag: Der im Titel bezeichnete (fiktive) Raum wird durch die auf dem Cover abgebildete Reproduktion eines von Bodo Hell angefertigten Zimmerpanoramas mit dem realen Schreibraum der Autorin korreliert. So wird dieser schon am Eingang des Textes zwischen Literatur und Leben, Kunst und Wirklichkeit aufgespannt. Im Text wird der im Titel bezeichnete Ort als ambivalente räumliche Konfiguration entworfen, in der sich die Sphäre des Materiellen wie des Imaginären bzw. Transzendenten überlagern und der auch eine Heterochronie eigen ist. Die Evokation dieses heterotopischen Raumes ist textgenetisch an die Re-Organisation von
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aufgesammeltem Buchstabenmaterial gebunden. Sie geht mit der Verfremdung einer Stelle aus André Bretons Zweitem Manifest des Surrealismus (1930) einher, wobei der im Prätext vorgefundene Ordnungsraum signifikant umgestaltet wird. Nach Breton (1996, 94) fordert die „Offenbarung“, wie er als Zitat aus dem „Vierten Buch“ der „Magie“ anführt, „daß man sich ‚an einem reinen, hellen Ort ringsum mit weißen Tüchern bespannt‘ aufhalte“. Diesem Raum, der in seiner Reinheit und Luzidität die poetische Inspiration nicht zu kontaminieren droht, wird in Mayröckers Prosa ein Produktionsort der Poesie kontrastiert, der vor Unreinheit strotzt und (gerade) in seinem elenden Zustand als Ort des Segens charakterisiert wird: Kaff, sage ich, elendes Kaff, geliebtes elendes Kaff diese meine Behausung […] gesegnet, geheimer Ort, Kaff, sage ich, eine Zeitbeschleunigung, eine Zeitverhaltung findet hier tatsächlich statt […], ringsum von weißen Tränen benetzt […]. (Mayröcker 2001b, 211)
In Wiederaufnahme einer Sequenz aus dem Prosaband Reise durch die Nacht (1984), in dem das schreibende Ich „den Unrat […] in diesem meinem vollkommen heruntergekommenen Hausunwesen“ (Mayröcker 2001c, 410)¹ herausstellt, reflektiert das Ich die im Modus der Zimmerreise (als Pilgerfahrt) unternommene Bestandsaufnahme seiner Umgebung: „diese vorherrschende räumliche Anarchie, diese unsere stundenlangen ja tagelangen Fußwallfahrten durch unser verlottertes Hauswesen Hausunwesen“ (Mayröcker 2001b, 239). Die Behausung wird dabei als Heterotopie im wörtlichen Sinn ausgewiesen, die in ihrer Alterität als Zentrum zu fungieren vermag: Das Ich wähnt sich „an einem anderen Ort, wahrscheinlich Zentrum, wo alles sich abspielt, wo alles zusammenströmt, wo alles erbebt“ (Mayröcker 2001b, 240). Dem „reinen, hellen Ort“ poetischer Offenbarung setzt das schreibende Ich auch in brütt oder Die seufzenden Gärten (1998) seine spezifische „Empfängnisstätte, Empfängnisstunde eines Schreibprodukts“ entgegen, als einen „Raum zwischen Licht und Schatten“ (Mayröcker 2001a, 305–306), der mit seinem Zettelgestrüpp mit der im Titel bezeichneten Heterotopie assoziiert wird: Das Ich registriert die „verfluchten Wucherungen : Papierwucherungen bis hinaus in die Küche, den Vorraum, den Flur, bis hinauf zu den Kästen, Aufsätzen, Einbauruinen, hängenden Gärten“ (Mayröcker 2001a, 85). Deren materielle Konsistenz garantiert eine gleichsam utopische Zeitlosigkeit: „mein Revier, das mir so lieb und vertraut ist und in welchem der Blust […] unabhängig von der Jahreszeit, sich in seiner Üppigkeit über
Die für Mayröckers Texte charakteristischen typografischen Merkmale, wie Kursiv- und Kapitälchendruck von Wörtern, Wortteilen oder -gruppen oder das Spatium vor und nach dem Doppelpunkt, werden hier und in allen anderen Zitaten des Beitrags in entsprechender Formatierung wiedergegeben.
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mir wölbt“ (Mayröcker 2001a, 117). Gleichzeitig muten die überwölbenden Papierhaufen in ihrer beweglichen Anlage wie Wellenberge an – das Ich situiert sich imaginär in der Arche: „ich kann mir gut vorstellen, wie Noah zumute gewesen sein mußte : um sein verschlossenes Häuschen herum nur weiße Wellen Häupter zu sehen“ (Mayröcker 2001a, 324). Bei aller Bedrohung, die die Fluidität der papiernen Wogen involviert – drohen doch die für die Schreibarbeit notwendigen Notizen darin unterzugehen (vgl. Mayröcker 2001a, 97), dem Ich gar die Luft zum Atmen zu nehmen – „ersticke beinahe in Papierhüllen und Papier Tuchenten“ (Mayröcker 2001a, 343) –, wird der Zustand der Zettelflut und materiellen Überfülle begehrt und als Voraussetzung des Schreibens ausgewiesen: [D]iese Verwüstungstendenzen sind kaum mehr zu ertragen, rufe ich […] aber vielleicht sind es künstlich herbeigeführte Verwüstungstendenzen, daß / damit das Schreiben noch überhaupt möglich ist, je mehr Verwüstung desto hinreißender das Schreiben, nicht wahr […], desto unzerreißbarer meine Komponier Seide […], ach vielleicht trachte ich nach diesen Verwüstungstendenzen, vielleicht komme ich nicht mehr aus ohne diese Verwüstungstendenzen […]. (Mayröcker 2001a, 242)
Die Abhängigkeit des schreibenden Subjekts von den dynamischen Materialanhäufungen, die, wie Kastberger (2017, 18) aufgezeigt hat, ein „Kontingenz-Archiv“ darstellen, ergibt sich aus ihrer produktiven Funktion für Mayröckers aleatorische Poetik, die in metapoetischen Schreibszenen eindrücklich demonstriert wird und den Zustand der Schreibumgebung tatsächlich als „Glücks Verlotterung“ (Mayröcker 2001a, 282) erscheinen lässt. So werden vor allem der „Fetisch (Tisch)“ und das „zerlumpte Lager“ (Mayröcker 2001a, 281, 213), die mit ihrer Ansammlung von Papierfetzen, Speiseresten und Alltagsdingen Attraktion und Ekel provozieren, als Umschlagplätze inszeniert, an denen sich die Transformation realer (Traum‐)Räume in Texträume vollzieht und die in ihrer spezifischen materiellen Gegebenheit auf Schreibarbeit wie Schrift einwirken. Auf dem Schreibtisch akkumulierte „widerspenstige Zimmergegenstände“ legen sich quer, blockieren den Wagen der Maschine und bringen die Produktion zum Stocken (Mayröcker 2001a, 178, vgl. 245), dem Ich erscheint etwa „1 Fetzchen Notizpapierrand auf dem Schreibtisch so alt, lurchverbrämt, zum Kotzen“ (Mayröcker 2001a, 224–225). Mit seiner Materialfülle repräsentiert der Tisch, wie sich in Rekurs auf Christiane Holms (2018, 426) Ausführungen zum paradigmatischen Produktionsmöbel der Poesie formulieren ließe, die Autorkonzeption „des modernen scripteur als tabula plena“. Dass sich für das Ich, das aus Roland Barthes’ Schriften exzerpiert und sich als „Scriptor“ (Mayröcker 2001a, 322) apostrophiert, die Anhäufung von Zeug gleichsam als conditio sine qua non seines Schreibtischs erweist, wird etwa auch durch die von ihm imaginierte Ausstattung seines paradiesischen Schreibortes vor Augen geführt. Der „Schreibplatz“, den es für seine Produktion
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„im Jenseits“, in seiner „künftigen Behausung“, anvisiert, ist „über, neben, zwischen den Konfektschachteln, über, neben, zwischen der Teebäckerei, den Milchkonserven, Kaffeetassen, […] zwischen, neben und über den verschlossenen Honiggläsern, schmutzigen Suppenlöffeln“ eingerichtet. In dieser Nachbarschaft mit den Dingen wird der Schreibtisch zum „Hausaltar“ erhoben (Mayröcker 2001a, 361). Eine dem Schreibtisch analoge Beschaffenheit und Rolle kommt dem Bett als Produktionsort zu, wie das Ich – die funktionale Differenzierung sozialer Räume in der arbeitsteiligen Gesellschaft aufrufend und gleichzeitig unterminierend – (selbstironisch) herausstellt: „[U]nser Bett ist unser Büro, sage ich, hier wird geschlafen geschrieben“ (Mayröcker 2012, 8). Das „Enthüllen : das Wiederverhüllen“, das die schreibende Instanz als eine für den Scripteur kennzeichnende Geste charakterisiert (Mayröcker 2001a, 322), wird als poetische Praktik inszeniert, die im konkreten Umgang mit dem Schlafmöbel seinen Ursprung hat. Dabei wird seine Beteiligung an der Textproduktion nicht nur (konstativ) behauptet, sondern gleichzeitig auch (performativ) vollzogen. In seiner Enthüllung gibt das Bett Gegenstände frei, deren Zeichen notiert werden und deren Notation am Text mitwirkt: [A]ch sage ich, beim Lüften des Bettes allerlei Zeug aufgefunden, Flugkarten nach Bremen, Zettelchen mit möglichen Titeln für das Buch, an welchem ich schreibe, […] „Flaneur in einer zerbrochenen : zerbrechenden von wirbelnden Erscheinungen geprägten Welt“ […]. (Mayröcker 2001a, 86)
Indem vorgeführt wird, wie Fragmente aus dem in Schichten akkumulierten, historisch divergenten Zettelwerk ihren Niederschlag in der Fiktion finden, wird die Intervention der materiellen Wirklichkeit als konstitutives Prinzip in der Herstellung heterotopischer Texträume ausgewiesen. Das, was die Anhäufungen an (papiernen) Dingen im realen Schreibraum zufällig freigeben, wird verzeichnet und derart zu einem Teil des den fiktionalen Raum konstituierenden Textgewebes. Der Text wird als Effekt einer gleichsam ontologischen Transgression inszeniert, in der sich die realen Dinge in der Fiktion behaupten. Der Einverleibung der Dinge als objets trouvés (im wörtlichen Sinn) in die Fiktion kontrastiert die Einschreibung der Fiktion in die Alltagsgegenstände, die immer wieder als Beschreibstoffe exponiert werden: [I]ch schreibe längst über das Blatt hinaus, über das Buch, die Buchseite, die Bannmeile hinaus, über das Blatt hinaus und hinweg auf die Bettlaken, Bettüberzüge, Kissen und Nackenrollen, so werden die Leser meines Buches nicht mehr lesen können, was ich über die Grenzen hinweg geschrieben habe […]. (Mayröcker 2001a, 347–348)
Diese Überschreitung der Grenzen der Fiktion suggeriert deren gleichsam materielles Eindringen in die Wirklichkeit. Der Text führt dabei vor, was sich nach Klass
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(2009, 155) als kennzeichnend für Heterotopien erweist: Diese „fiktionalisieren Wirklichkeiten“, wobei sie dies im Unterschied zu Utopien nicht derart tun, „dass Fiktionen der Wirklichkeit als ihr anderes […] schlicht entgegengesetzt werden, sondern indem in ihnen versucht wird, Fiktionalität in die Wirklichkeit selbst, d.i. das, was als Wirklichkeit gilt, eindringen zu lassen.“ Bei Mayröcker wird die Einlassung der Fiktion in die Wirklichkeit als Inskription der (die Fiktion erzeugenden) Schrift in den realen Raum in Szene gesetzt. Mayröckers Heterotopien ergeben sich mithin nicht nur aus der metaphorischen Evokation übereinander gelagerter (Zeit‐)Räume, sie werden auch als (fiktive) Verschränkung des realen und des fiktionalen Raumes inszeniert, die durch die Überschreitung ihrer Grenzen (in beide Richtungen) erzeugt wird. In der Wirklichkeit aufgefundene Zeichen gehen in den Raum der Fiktion ein, dieser wird durch die über den Papierraum hinausgehenden Schriftzeichen in den realen Raum verlängert. Diese Transgressionen, die man narratologisch als ‚Metalepsen‘ fassen könnte – Strategien der Überschreitung bzw. Überlagerung in der Repräsentation verschiedener möglicher Welten (vgl. Wolf 2005, 89–90) –, erscheinen dabei als Verfahren zur Suggestion dessen, was das schreibende Ich als gleichsam paradoxes Signum seiner Prosa begreift. Erzeugt wird der Eindruck, „als sei das Fiktive und das Reale nicht von Grenzen getrennt sondern in Grenzen verbunden“ (Mayröcker 2001a, 192). Die derart konfigurierten Räume werden denn auch mit den paradoxalen Raumfiguren M. C. Eschers in Verbindung gebracht, die als paradigmatische Manifestationen der Metalepse in der bildenden Kunst gelten können (vgl. Wolf 2005, 98–99): Es „ist das alles eine unhaltbare weil arbiträre Mixtur […] oder die Versuchung einer Escher Vision von in einanderlaufenden Treppenarchitekturen und schwarz-weißen Umspringbildern“ (Mayröcker 2001a, 276). Potenziert wird diese für Mayröckers Prosa kennzeichnende Durchdringung von fiktivem und realem Raum, Kunst und Wirklichkeit, durch die Integration von nachträglich als autobiografisch erscheinenden Szenen, die die fotografische Bestandsaufnahme der (realen) Wohnung reflektieren und diese als Objekt der Kunst wie auch selbst als Kunstwerk herausstellen. So interveniert in brütt ein „Chronist mit der Hasselblad-Kamera“, der den Schreibraum des Ich fotografisch zu erfassen sucht (Mayröcker 2001a, 352). Sein Tun findet in der Wirklichkeit Niederschlag in dem ein Jahr nach brütt erschienenen Foto-Text-Band Die herrschenden Zustände (1999), der zum 75. Geburtstag der Autorin von Bernhard Kraller herausgegeben wurde. Der Band kombiniert Fotografien der Mayröcker-Wohnung – die, wie die beigegebenen fototechnischen Details festhalten, mit einer Hasselblad-Kamera hergestellt und von der Autorin mit Text versehen wurden – mit Essays zu ihrem Werk und einem vom Herausgeber gemeinsam mit Walter Famler geführten Gespräch mit der Autorin über ihre Wohnung. Die Fotos bestechen mit ihrem zur Schau gestellten Kunstcharakter, dessen technische Bedingungen nicht nur anhand
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der akribisch gelisteten fototechnischen Details transparent gemacht werden, sondern der im beigefügten Essay von Burghart Schmidt (1999, 83) eingehend thematisiert wird – er hebt die mit den Fotos erzeugte Suspendierung der „Raumillusion“ hervor und die damit verbundene Irritation der„übliche[n] Raumordnung des Koffer- oder Kastenraums“. Derart erscheinen die Fotos auch als mimetische Annäherung an die der Prosa der Autorin eigentümliche Verschränkung von Kunst und Wirklichkeit. Dieser Kunstcharakter kommt den Fotografien allerdings nicht nur aufgrund ihrer spezifischen Gemachtheit zu, der Art und Weise, wie sie ihr Objekt, die Wohnung, präsentieren, sondern auch aufgrund des Objekts der Darstellung selbst, dessen Ordnung als sowohl gegeben wie auch als gemacht, als Phänomen der Wirklichkeit wie der Kunst, inszeniert wird. Im Band brütt, der, wie aus dem in Die herrschenden Zustände abgedruckten Gespräch mit der Autorin hervorgeht, zur Zeit des Foto-Shootings im Entstehen begriffen ist, macht das schreibende Ich nämlich nicht nur die visuelle Inszenierung der Wohnung seinerseits wieder zu einem Gegenstand der Literatur, das Ich lässt auch Zweifel aufkommen, ob der ‚Wirklichkeit‘ der‚herrschenden Zustände‘. Der Garten, mit dem der Schreibraum am Eingang des Textes assoziiert wird, hat sich, so wird suggeriert, nicht ohne Zutun des schreibenden Subjekts zu einem Dschungel ausgewachsen: 1 bißchen war es Berechnung […], denn ich wußte, K. würde in wenigen Stunden kommen um hier zu fotografieren, also ließ ich alles verstreut, auf dem Fußboden, auf Tischen und Schränken, 1 wenig um anzugeben, mit diesem Phönix Buch Original Buch, diesem Urwald, um anzugeben mit diesem Urwald […]. (Mayröcker 2001a, 371–372)
Das Vexierspiel zwischen Fakt und Fiktion bleibt nicht nur auf Mayröckers Werk im engeren Sinn beschränkt, sondern entfaltet seine Wirkmächtigkeit unter Einbezug der sie rahmenden visuellen Inszenierungen. Unter ihrer Berücksichtigung erscheinen Mayröckers Schreibräume als Effekt der Intervention von Wirklichkeit in die Fiktion wie auch der Extension der Fiktion in die Wirklichkeit. Mayröckers Heterotopien schaffen ein Über- und Ineinander realer und imaginärer Räume, das auch metapoetisch reflektiert wird. Das schreibende Ich charakterisiert seine Prosa mit einem Neologismus, der die beiden von Foucault für die Literatur als besonders wirkmächtig erachteten Heterotopien in einem Kompositum zusammenführt, das in weiterer Folge auf die Schrift appliziert wird: „Schiffoder Schriftgärtchen, sage ich“ (Mayröcker 2001a, 305). Als gleichsam überdeterminierte Heterotopie kann das ‚Schiffgärtchen‘ als selbstreferentieller Verweis auf die durch Mayröckers Prosa evozierte heterotope Räumlichkeit verstanden werden. Die anschließende Transformation dieses Kunstwortes in „Schriftgärtchen“ akzentuiert die materielle Dimension von Mayröckers Texträumen, wie sie mit den
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raumgebundenen Verfahren der poetischen Praxis einhergeht und in der ausgeprägten Schriftbildlichkeit der Texte konkrete Gestalt annimmt. Das selbstreferentiell exponierte „Landscape-artige“ (Mayröcker 2001a, 299) der Prosa erscheint produktionsästhetisch durch das Collagieren heterogener Materialien bedingt, das auf die spätestens seit Lessing für die Raumkunst als konstitutiv verstandene Ordnung der Simultaneität setzt und die der Literatur zugedachte Ordnung der Linearität unterwandert. Es geht bei der Collage von Fragmenten aus dem Wust an Papierschichten darum, wie das Ich hervorhebt, „erstaunliche Plattformen [zu] schaffen“ (Mayröcker 2001a, 147). Die für die papiernen Materialanhäufungen kennzeichnende Simultaneität zeitlich disparater Materialien bildet sich derart auch in der aus ihnen hervorgegangenen Prosa ab. Der Schreib- materialisiert sich im Textraum, was auch Jürgen Serke (1979, 104) anzudeuten scheint, wenn er in seiner Darstellung von Mayröckers Wohnung und Werk feststellt: „Sie lebt, wie sie schreibt: es ist alles ein Nebeneinander. Es gibt kein Nacheinander.“ Dem entspricht auf sprachlicher Ebene die von Julia Weber (2010, 165) an der Prosa Mayröckers aufgezeigte „ungewöhnlich starke Betonung der paradigmatischen Achse der Sprache“, die durch die Häufung assoziativ generierter Textkomponenten erzeugt wird und die Linearität suspendiert. Wie sich auch an der Wortneuschöpfung „Schiff- oder Schriftgärtchen“ zeigt, ist die assoziative Akkumulation austauschbarer Komponenten dabei nicht nur durch semantische, sondern auch durch materielle Analogien bedingt: Sie treten an der Buchstabenkombination zutage, die die beiden Bestimmungsworte der Komposita („Schiff bzw. Schrift“) ausmachen. Wenn das Ich auf seinen Text als „Buchstabengegend“, als „Landschaft : Wortlandschaft“ bzw. „Anhäufung von Landschaft“ verweist (Mayröcker 2001a, 279, 149, 150), dann scheint damit auch die räumliche Dimension bezeichnet, die sich aus der konkreten Ansammlung von Signifikanten ergibt. Die nach Foucault für Heterotopien kennzeichnende Überlagerung zeitlich divergenter (Zeit‐)Räume wird derart materiell verwirklicht. Die räumliche Qualität der Prosa Mayröckers verdichtet sich in der für sie eigentümlichen – aus dem spezifischen Einsatz von Satzzeichen und typografischen Mitteln hervorgegangenen – Schriftbildlichkeit, durch die sich Mayröckers Texte – Lessings Unterscheidung von Dichtung und Malerei unterminierend – bereits auf den ersten Blick dem Leser auch als Raumkunst darbieten. Die, wie etwa Sybille Krämer (2003) aufgezeigt hat, (je)der Schrift eigene Ikonizität, die vom Räumlichen zehrt, wird derart grafisch akzentuiert. In ihrer spezifisch materiellen Gestaltung organisieren sich die Zeichen zu sinnlich wahrnehmbaren Schrifträumen (vgl. dazu Doetsch 2015). Dass Schrift dabei im Unterschied zu gewöhnlichen Bildern mit „Zwischenräumlichkeit als Strukturprinzip“ (Krämer 2003, 162) operiert, wird vom Ich dezidiert herausgestellt, wenn es entgegen dem hermeneutischen Imperativ, zwischen den Zeilen zu lesen, auf der leeren Fläche insistiert: „es ist nichts zwi-
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schen den Zeilen, 1 Spatium, 1 Leere“ (Mayröcker 2001a, 120). Die Figürlichkeit des Schriftraums, die in den letzten Prosabänden durch die Integration von Handzeichnungen der Autorin in die Schrift und das kunstvolle Arrangement von Textkörpern auf der Buchseite besonders ausgeprägt erscheint, wird metapoetisch kommentiert: „deine Frage nach der Figur dieses Schriftbilds, beantworte ich ‚damit es besser flutete : hineinflutete, in die Aufmerksamkeit des Lesenden, dasz es wie ein Gemälde : überflute den Leser.“ (Mayröcker 2018, 95–96) Die heterotopische Ausdehnung der Fiktion in den realen Raum, wie sie durch das Verfahren der Metalepse evoziert wird, soll sich, so legt der metapoetische Kommentar nahe, wirkungsästhetisch in der Bewegung des Textraums materialisieren, der als Schriftraum in die Welt der Wahrnehmenden drängt. Mayröckers Texträume werden dadurch als ‚verwirklichte Utopien‘ im buchstäblichen Sinn inszeniert.
3 ‚Verwirklichte Utopien‘: Resümee und Ausblick Mayröckers Schreib- und Texträume geben der Utopie die ihr ursprünglich zugedachte räumliche Dimension zurück, deren Verflüchtigung mit der Überwindung des Raumes durch die Zeit als Motor der Moderne einherzugehen scheint. So ließe sich der von Wilhelm Voßkamp (1996, 1932) als für die Entwicklung literarischer Utopien in Europa grundlegend erachtete „Übergang von Raum- zu Zeitutopien im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts“ als Symptom dessen verstehen, was Hartmut Rosa (2005, 61) als „Geburtsstunde der Moderne“ fasst und mit der„Emanzipation der Zeit vom Raum“ identifiziert. Demgegenüber erfährt der Raum bei Mayröcker eine Rehabilitierung. Einer utopischen Zukunft hält die Dichterin ‚gute Räume‘ in der Gegenwart entgegen, die sich in ihrer überbordenden Materialität herkömmlichen Ordnungen verweigern. Ihre Texträume dekonstruieren den für klassische Utopien als charakteristisch erachteten „binäre[n] Status“ (Voßkamp 1995, 1932), indem sie mögliche und wirkliche Welten durch wechselseitige Überschreitung zu paradoxalen Raumkonfigurationen verschränken, und nehmen in der Schriftbildlichkeit plastische Form an. Mayröcker (1987, 127), die als ihren „utopischen Wohnsitz“ die Sprache deklariert, verschafft mit der Räumlichkeit ihrer Prosa der Utopie Realität. In ihrer spezifisch räumlichen Dimension zeugen Mayröckers Utopien auch von dem nach Foucault (2005b, 931) mit der Postmoderne einsetzenden „Zeitalter des Raumes“, wie es sich unter anderem in der (post‐)strukturalistischen Privilegierung simultaner (räumlicher) gegenüber linearen (temporalen) Ordnungen und der mit der Priorisierung der Schrift einhergehenden Verräumlichung der Sprache niederzuschlagen scheint, etwa an Barthes’ (2000, 19) Konzeption des Textes als eines „vieldimensionalen Raum[s]“ oder an Derridas (1988, 35) Theorem der différance als
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eines (auch) räumlich gedachten Prozesses der Bedeutungskonstitution. Es handelt sich dabei um poetologische Denkfiguren, die, von der Literatur der Avantgarde inspiriert, durch Mayröcker ihrerseits eine produktive Aneignung und Fortschreibung erfahren haben und in ihrer Bedeutung für die spezifische – über die klassische Raumutopie hinausgehende – Räumlichkeit der Prosa Mayröckers noch zu untersuchen wären.
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Fremdschämen The Ethics of Embarrassment in Ulrich Seidl, Erwin Wurm, and Elfriede Jelinek What do we do with the affective economy of Austria’s feel bad—indeed, its feel worst—culture? The dystopian dimensions play out in the insulted landscapes through which Peter Handke’s protagonists wander; in the non-places and junk spaces of Michael Haneke’s films; via the crypto-catastrophes of Elfriede Jelinek’s undead zones; via places’ devitalization in Nikolaus Geyrhalter’s global no-go areas. But what kinds of affect do such works engender and how do they conceptualize a new ethics via their poetics? The following essay attempts to explain the peculiar stylistic grammar artists Ulrich Seidl, Erwin Wurm, and Elfriede Jelinek utilize to evoke a dystopian dimension—and to perhaps transcend it. When I was in Berlin for a conference a few years ago, I noticed a word crop up in conversations between panels: the verb “fremdschämen.” In my experience, it was used when discussing a presentation that had been felt to be somehow subpar. An example would run something like: “Für den Vortrag habe ich mich fremdgeschämt”—which translates roughly as “That presentation had me feeling ashamed for the presenter.” More often than not, the speaker would let the sentence trail off, suggesting that there were things better left unsaid about the conference presentation and implying that these shortcomings were clear to both interlocutors. As the Duden—recording the word’s inclusion as recently as 2009 —informs us, “fremdschämen” means “sich stellvertretend für andere, für deren als peinlich empfundenes Auftreten schämen” [“to be vicariously ashamed for others, for their behavior, which is felt to be embarrassing”]. The word, like some composite verbs, may be used with a separable or inseparable prefix (“sie schämt sich fremd” or “sie fremdschämt sich”), suggesting the grammatical variability that comes with a word of recent coinage. The verb, as I understood it in this context, was used in lieu of a more formal subjunctive: “Hätte ich diesen Vortrag gehalten, würde ich mich schämen” [“I would have been ashamed to have given such a talk”]. The more I reflected on “fremdschämen,” the more I came to think that its stress falls not on the hypothetical possibility of being in another’s shoes, for whom or with whom one feels a sense of shame, but that it becomes a means of distancing oneself: after a first basal reaction, the speaker takes his or her cognitive distance from the tarnished object under observation. For is it not a sense of https://doi.org/10.1515/9783111205809-017
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superiority that is expressed when we suggest that we would have been ashamed in another’s place, but can’t really imagine being there? That we could have somehow done better, been more intelligent, polished or sophisticated in their stead? An English Wiktionary-entry for “fremdschämen” teases out further implications: “to feel ashamed about something someone else has done; to be embarrassed because someone else has embarrassed himself (and doesn’t notice).” In this definition, the other person is deemed embarrassing precisely because he or she fails to be embarrassed, is not cognizant of his or her shortcomings. By 2013, the word had become so prevalent in Germany that it made it onto the “Welcome to Germany”-info site of the German Missions in the United States. Their webpage suggests translations such as “vicarious embarrassment” or “empathetic embarrassment.” US political discourse since 2016, with its repeated injunctions to be ashamed, made me realize that this word won’t need an English Wiktionary explanation all that much longer. Like “Weltschmerz” or “Schadenfreude,” I am sure we will incorporate “fremdschämen” into our general semantic horizon very soon. The affective dynamic that “fremdschämen” implies, I would like to argue, can become a heuristic to understanding the complex cultural interactions implicit in recent Austrian art. In these works of different media, “fremdschämen” is evoked via very specific choreography of gazes; this “Blickregie” is married to a kind of instructional language to address, implicate, and then distance the audience from what is going on, in that order. The distancing and devaluation of another person’s actions on the basis of the audience members’ own implicit superiority could account for the uneasy relationship between viewer and viewed in the films of Ulrich Seidl; it helps explain the uncomfortable laughter engendered by the interactive sculptures of art world superstar Erwin Wurm; it circumscribes the ethical counter-stance demanded by theater texts of Nobel-Prize-winning author Elfriede Jelinek. In the case of Seidl, the notion of “being ashamed for someone else who does not notice” is particularly complicated due to its media specificity. In his intervention, Seidl increasingly foregrounds visual media’s involvement in these affective dynamics, with their potential for radically overt intimacy. “Fremdschämen” is deployed in the service of making the left-leaning liberal class that participates in these artworks—in the movie theater, gallery, or theater—aware of its implicit bias.
I Shame’s Conceptual Currency The voluminous scholarly literature to date has focused on shame and not on “fremdschämen.” The German noun “Scham” evolves etymologically from Old High German scama and derives from the indogermanic root -kam or -kem, mean-
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ing to “shroud” or “veil” (Lehmann 1991, 824). With the additional prefix of an “s” it took a reflexive turn: skâm or skêm meant to cover or hide oneself (Seidler 1994, 6). Shame is linked to indignity, defeat, transgression, and alienation; it is an “inner torment” for a mix of moral infraction and personal inadequacy. Shame registers on the body, which communicates with the eye of the beholder―in hanging the head or blushing, a person signals their ashamedness and the viewer, witnessing this shame, is bound to them by way of this perception. Shame is a profoundly paradoxical, ambivalent affect: although a physically expressive emotion, shame seeks to reduce facial communication. It thus reveals what it tries to hide, calling attention to a person’s desire to disappear from the earth’s surface with downcast eyes or a hung head.¹ Shame is ashamed for being ashamed. Often, its emotional charge stands in no relation to the actual infraction. It is a private, indeed intimate affect linked to publicity, to making public. It is an innate individuating affect that is societally conditioned, straddling nature and culture (see Benthien 2001; Lehmann 1991; Kosofsky Sedgwick 2003, 37). Shame differentiates, delimiting the self from the outside. It withdraws the self ’s energies from the surrounding world. But, while shame may disclose the self ’s unworthiness in the eyes of others, it also protects the self ’s integrity from further exposure (see Wurmser 1981). With its delicate dance between gestural language and verbal silence, shame can also be the refuge of the morally upstanding person, who marks their distance from the hypocritical crowd that condemns and ostracizes the outlier (see Taylor 1985). The stories told about shame are foundational: via shame, the Book of Genesis links physicality and sexuality to knowledge and cognition (Adam and Eve) and sibling rivalry to jealousy and violence (Cain and Abel). The power ascribed to shame is awesome: Aidos, the Greek goddess of shame, modesty, and humility, restrains men from doing wrong, but walks with the goddess of vengeance, Nemesis.² The ubiquity of shame is assumed: it has served anthropologists for nearly a century to delineate Eastern cultures with externalized restrictions from Western ones with internalized codes of conduct (see Benedict 1946). Changes in its prevalence have allowed prominent sociologists to mark transitions in civilization or philosophers to reconceptualize subjectivity. The proliferation of studies on shame is cyclical, it appears. Interest in shame peaks with the bourgeoisie’s emergence and its later moments of crisis (see Ellrich 2011). Claudia Benthien argues that the German tragedy around 1800 brings shame and guilt together at a historical juncture marked by the autonomous subject’s
Within the economy of the body’s language, signs of shame become a roadblock to communication (see Tomkins 1995, 136). See Aeschylus, Prometheus Bound, Euripides’ Iphigenia at Aulis, and Sophocles’ Oedipus Rex.
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appearance and its concomitant existential dereliction, as the subject strives to distinguish itself from both the upper and lower classes. Around the following fin de siècle one can group together the publication of Nietzsche’s Gay Science / Fröhliche Wissenschaft (1882) and Max Scheler’s Über Scham und Schamgefühl (1913).³ In the interwar and war years, one might put together Walter Benjamin’s essay on Kafka (1934), Norbert Elias’ The Civilizing Process / Über den Prozeß der Zivilisation (1939; Elias 1997), and, in the French context, Jean-Paul Sartre’s Being and Nothingness (L’Être et le néant; 1943), where becoming visible for the other in shame is the necessary pre-condition for self-perception. As Lutz Ellrich has argued, modernity’s increasing individualization, with the separation between private-body and public-soul, comes into increasing conflict with societal pressures undermining these dualisms. Ellrich writes: “Am Schamphänomen wird ablesbar, in welchem Maß die ansteigende Individualisierung des Einzelnen zugleich auch seine intensivere Einbindung in die sozialen Macht- und Kontrollfelder bedeutet” [“The phenomenon of shame makes legible the extent to which increasing individualization simultaneously means a person’s more intensive integration into social fields of domination and control” (2011, 144)]. At those historical moments when bourgeois self-understanding and the private-public dichotomy are under stress, shame becomes the affect that makes visible societal processes of renegotiation. “Fremdschämen” as a concept emerges after yet another apogee in the critical literature on shame since the 1990s. Think of Hans-Thies Lehmann, “Das Welttheater der Scham” (1991); Bernard Williams, Shame and Necessity (1993); Günter Seidler, Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham (1995); Joseph Adamson, Scenes of Shame: Psychoanalysis, Shame, and Writing (1999); Eve Kosofsky Sedgwick, Touching Feeling: Affect, Pedagogy, Performativity (2003); Claudia Benthien, Tribunal der Blicke: Kulturtheorien von Scham und Schuld und die Tragödie um 1800 (2011); Maria-Sibylla Lotter, Scham, Schuld, Verantwortung (2012); Peter N. Stearns, Shame: A Brief History (2017). This is to mention but a few—my recent online search came up with 28,238 book-length results. Shame’s conceptual currency bespeaks a cultural moment when the problem takes on a new aspect: it is threatened with disappearance. An ever more intimate public sphere devoid of shame and the cultural valorization of shamelessness attend the emergence of the concept of “fremdschämen,” which moves the affect onto a different plane.⁴ It is now separated from its physical automatism. The averted eyes and the bowed Scheler’s text was first published in its entirety in 1933. Hans-Thies Lehmann speaks of “ungehemmte Selbstbehauptung und Triebbefriedigung” (Lehmann 1991, 824–825). See also Raub, who correlates the disappearance of shame to the greater multiplicity of “Lebensentwürfe” (1997, 28). However, he argues that the disappearance of shame is deceptive, it is less present only regarding sexuality.
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head are no longer necessary physical accompaniments. “Fremdschämen” serves to de-familiarize the intensely proximate on an intellectual and emotional level. It re-estranges what has become too familiar, too intimate, too close. Interestingly enough, the culmination of the critical literature I just described―marking the disappearance of shame in its traditional sense—can be mapped on to the emergence of a widespread reality television culture and the mobile revolution, i. e., the ubiquity of cellphones with recording and streaming capabilities. I would like to refocus our attention on this shame for the “strange” or “foreign” (“fremd”); this “alien” element was always already a part of shame. In a paragraph of Silvan Tomkins’ Shame and Its Sisters (orig. 1962) notable for its stress on the term “strange,” the eminent psychologist notes that shame is a barrier “because one is suddenly looked at by one who is strange, or because one wishes to look at or commune with another person but suddenly cannot because he is strange, or one expected him to be familiar but he suddenly appears unfamiliar, or one started to smile but found one was smiling at a stranger.”⁵ As with the suddenness of Romantic love and its coup de foudre, shame comes about abruptly, rending the step-by-step chronology of the everyday, estranging one from the object and turning one back on oneself: the “phenomenological distinction between the subject and object of shame is lost,” Tomkins avers.⁶ Shame’s profound ambivalence is expressed trenchantly in his summary statement: “[i]n shame I wish to continue to look and to be looked at, but I also do not wish to do so” (Tomkins 1995, 136). The complexity of the affective dynamics concerning shame might be best summarized with recourse to an example that Tomkins gives in Chapter Six on “Shame-Humiliation; Contempt-Disgust.” He relates the case of the child confronted with a guest who is a stranger. “Characteristically,” he writes, [w]hen confronted with a stranger, the child’s shyness shames his parents. If the child hides behind his parent, or covers his face with his hands, the parent becomes ashamed and counter-shames the child for his shyness, urging him to shake hands with the guest. Once the shame has yielded, the same child will fix his eyes unrelentingly on the face of the guest.
Shame is contrasted with contempt, which is, in Tomkins’ view, less self-conscious—the greater intensity of the object leads to the experience of disgust and nausea and the turn away from the object. See his Shame and Its Sisters, ed. by Eve Kosofsky Sedgwick and Adam Frank (Durham, NC: Duke University Press, 1995), 135. See also Seidler’s Chapter 1, where he discusses the turning back to the shamed self that the experience occasions; for him this “Selbstbeobachtungshaltung” is a “selbst-begrenzende[…] Position, […] die in einer Internalisierung des fremden Außenobjektes mit seinem Blick besteht.” See Günther Seidler, Der Blick des Anderen: Eine Analyse der Scham (Stuttgart: Verlag internationale Psychoanalyse, 1994), 9. “Fremdscham” is the externalization of this dynamic.
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Now the parent is ashamed because the child has no shame, and because he is concerned that the guest will become ashamed because he is being too directly observed. The parent therefore then shames the child into not staring at the guest. (Tomkins 1995, 146–147)
Shame and counter-shaming can have, as this example illustrates, unwanted consequences. Rather than finding the measure of looking that would qualify as socially acceptable, shame elicits both too much and too little looking. For Tomkins, however, this is part of its socializing component. In his view, shame is intrinsically linked to what he calls “civilization”—like Norbert Elias, he equates a shameful society with Western twentieth-century democracy. Shame is both the measure of and condition for democratic, middle class politics. The ability to feel a certain kind of shame is ultimately related to different political forms running the gamut from dictatorship to democracy. In democratic society, we require an empathic shame which does not introduce hierarchies of derision, condescension, or contempt. “Shame enlarges the spectrum of objects outside of himself which can engage man and concern him,” Tomkins writes: “After having experienced shame through sudden empathy, the individual will never again be able to be entirely unconcerned with the other” (1995, 162). All the examples that Tomkins gives clearly situate him within his class; drawing either on the nuclear family or on relations determined by white-collar work, his shamed or shameful individual is solidly bourgeois. In the orchestration of these diverse sight lines, Tomkins reminds us that mutual interest and enjoyment underlie the field they striate. Where the ultimate breakdown of civility and fellow feeling accompany these looks and gestures, we tilt into negatively connoted contempt and disgust, rather than the positively coded shame and humiliation. In shameful situations, Tomkins asserts, the self “remains somewhat committed to the investment of positive affect in the person, or activity, or circumstances, or that part of the self which has created an impediment to communication” (Tomkins 1995, 138).
II Ulrich Seidl’s Free Indirect Discourse In the case of film, things are, of course, a bit different than in everyday life, and thirty years and a second communication revolution separate Ulrich Seidl’s first works from Tomkins’ analysis (Seidl starts making films in the 1990s). While shame may be elicited in daily life by overstepping certain socio-cultural borders, such as the taboo on not looking directly at a stranger, this is not directly the case for the cinematic or televisual experience. Film―with its sanctioned voyeurism―suspends the cultural taboo on not looking directly; viewers are implicitly called on to feel vicariously with a film’s protagonists, whose viewpoint they often share.
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When such point-of-view shots are absent in fiction film or when talking heads or voice-over commentary are lacking in documentaries, things get a bit murkier, as is the case with Ulrich Seidl (see Naqvi 2020). His films conflate documentary techniques with fictional storylines to elicit viewers’ sense of shame on behalf of our culture of extreme shamelessness with its never-ending injunction to “share” (see Illouz 2007). Seidl’s blending of documentary and fiction has been often accused of creating a sense of distance―of a piece with the sense of “fremdschämen” I describe. Most importantly, this has to do with the ordering of space, suggesting the entrapment of less educated or less self-aware people in a storyline beyond their comprehension. In his Catholic conception of spatial relations, the human figure is small (“nichtig”), according with man’s earthly insignificance, and in his films, space is depicted as a kind of Euclidean receptacle beyond human intervention.⁷ The figures are both dwarfed by and contained within the structures they inhabit. This is notable in his more documentary films, such as his debut Good News: Newspaper Salesmen, Dead Dogs, and Other People from Vienna (Good News: Von Kolporteuren, toten Hunden und anderen Wienern, 1990), collaging scenes from the everyday lives of Pakistani, Indian, and Bengali newspaper salesmen and the lower class readers of their wares in Vienna; in Loss is to be Expected / Mit Verlust ist zu rechnen (1992), about a provincial Austrian widower and his search for love across the Czech border; or in Animal Love / Tierische Liebe (1996), about the quirky relationship between Austrians and their pets. It also holds true for his increasingly fictional works, such as his acclaimed Import Export (nominated for the Palme d’or in Cannes 2007) or his Love, Faith, and Hope of the Paradise-trilogy (2012– 2013).⁸ Social space is mapped according to the rules of Renaissance perspective and often coincides with social rank. Most of Seidl’s figures speak and dress in such a way that codes them as lower or lower middle class. If we use Pierre Bourdieu’s diagram, the figures are in the lower quadrangles of his sociological schema, where little economic capital stands in a direct relation to little cultural capital. Habitus, in Bourdieu’s view, generates the social criteria and categories according to which the value of these people’s practices are judged (Bourdieu 1998, 360). Seidl’s cinematic language, with its studied use of a slightly elevated camera
See Seidl’s interview at the beginning of the Hatje Cantz-book accompanying Glaube, Liebe, Hoffnung, which contains reproductions of the large format images Seidl made from 16mm frames from the films. Here, Seidl states that the arrangement around the images’ center correlates to Christian iconography. See Seidl’s foreword in Paradies: Liebe, Glaube, Hoffnung, ed. by Claus Philipp and Astrid Wolfig (Ostfildern: Hatje Cantz, 2013), 2. Paradies, Liebe (2012) was nominated for the Palme d’or and received numerous Austrian Film Awards. Paradies, Hoffnung (2013) was nominated for the Golden Bear at the Berlinale.
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angle, exceedingly long takes, and little camera mobility, focalizes interest on this form of life from the perspective of the educated middle class that would otherwise distance itself from the depicted behavior. Seidl presents these people’s habitus—their way of dressing, the sports they play and how they play them, the way they eat and, more importantly, drink―as part of a larger whole, as a unified way of living that would normally be met with disdain by the upper, educated classes who comprise most of his viewership at film festivals and at home. On this immediate level of mise-en-scène, then, one might say his films engage in a kind of “fremdschämen” for their subjects. Seidl’s magnum opus Import Export from 2007 illustrates what I would describe as the filmic grammar implicit to the director’s style, a grammar that elicits this affect. Import Export charts the emigration of Ukrainian nurse Olga (Ekaterina Rak) to Vienna for better economic opportunities and the counter-movement of the unemployed Viennese Pauli (Paul Hofmann) eastward in search of gainful employment. The film interrogates the gendered conditions for the possibility of upward social movement. The Ukrainian landscape, with its crumbling Soviet-era apartment buildings and nuclear reactors, lends a sense of post-apocalyptic doom to everyday life. However, both the drab exterior and claustrophobic interior spaces in which Pauli moves in Vienna are no more welcoming. Indeed, the film makes a point of creating visual echoes of one place in the other as the characters move along their horizontal trajectories. An omniscient narrator is implied in the rhythmic static long shots focusing on location; these are interrupted by occasional point-of-view shots that we can attribute to specific characters or hand-held camera sequences that allow us to enter a segment as a concerned onlooker. The transitions are rather abrupt in a telling scene revealing the familial dynamics: watching stepfather (Michael Thomas) and son do their aggressive workout in a cramped room, we cut to the stepfather’s preening in front of a hallway mirror, and then on to a long shot, from another, similarly wallpapered hallway, with comparable Americana on the wall (a Native American in headdress in one sequence, the Grand Canyon in the next). Doubly framed by the screen and the doorway in the background, we now see a middle-aged woman (Brigitte Kren) in cowboy boots dancing to retro rock music that dates her. The camera does not track closer to the woman. Instead, it jumps ninety degrees, and presents the two men on the sofa who must be in the room with her. They are “trapped” within the frame as well, surrounded by garish, heavy furniture; they are literally bored stiff. While the woman coaxes her partner, the older of the two men, to dance with her, a static long shot shows the reaction of the son, Pauli: the dance performance does not mitigate his tedium. Time has elapsed, he is now in the center of the frame, as unenthusiastic an audience as can be imagined. The next shot moves us out of the post-war apartment, the prevalent architecture
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in Seidl’s film, to Pauli in his security job. The framing, the ninety-degree shift from the frontal view of Pauli to his profile view with him again in the center of the image, does not alleviate the sense of boredom Pauli conveys—nothing engages his interest. In a similar fashion, Seidl’s camera in this segment mimics the monotony, weaving in and out of Pauli’s consciousness. It copies Pauli’s boredom, who is as uninterested in the CCTV screens in front of him as he was in his parents’ dancing. In this film, the director’s use of a particular cinematic grammar could be described as a visual variation on nineteenth-century free indirect discourse. Within this grammatical structure “fremdschämen” becomes operative, as the narrator’s and characters’ viewpoints blend.⁹ An emotional element ignites a scene, generating interest through the vicarious shame, here via the machismo displayed in front of the mirror when the stepfather checks out his physique. The sequence then enjoins viewers to identify with the heightened camera perspective that might be ascribed to a more knowledgeable, sophisticated narrator distinct from the figures. Finally, the scene defuses the arrogance of this viewpoint through the neutrality it seeks to preserve, by putting distance between the object of interest and the lens. Occasionally, the viewer is allowed to identify with the point-of-view of the character; the character’s viewpoint then bleeds into the film’s tone, mimicking heightened involvement or boredom.¹⁰ The heightened perspective, which we associate with a disembodied, omniscient narrator, replicates ‘good’ society’s aversion to/derision of the lower class shown on screen. In a best-case scenario, the social doxa underlying our judgments of the figures on screen becomes apparent. Viewers become aware of their “Fremdscham” for the characters, feel embarrassed for having felt embarrassed for the figures’ lack of self-consciousness, and are troubled by the fact that there was no recognition of a shared humanity. In such instances, viewers come up against their presumptive middle class judgments, which sought distance from the depicted person on whom the camera rested for too long. Free indirect style in this variant becomes ambiguous, as Franco Moretti argues (albeit in a different context) in Graphs, Maps, Trees, as it tries its hand at social mediation—mediation between the middle- and high-brow recipient of Seidl’s films and
See Gilberto Perez’ chapter “The Point of View of a Stranger” in The Material Ghost (Baltimore, MD: Johns Hopkins UP, 2000), 367–416. Drawing on examples from Antonioni, Perez argues that the undoing of narrative conventions circumscribing subjective shots is evident. Seidl, to my mind, goes further, fusing the partiality of certain shots that can only be described as subjective but are not correlated with an onscreen character with the extreme subjectivity that we cannot help but ascribe to the camera—and us. In the end, having telescoped character and narrator but then pulled back from such a melding, the camera perspective allows a moment of cognitive insight.
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the lower class that is shown on screen.¹¹ While free indirect style grants the protagonists a “certain amount of emotional freedom,” in Moretti’s words, it is “simultaneously ‘normalizing’ them with elements of a supra-personal idiom.”¹² “Fremdschämen” becomes, thus, both the instigator for voyeuristic interest and the structurally elicited response within Seidl’s films.¹³ The free indirect discourse of Seidl’s cinematic language ensures that we bien-pensants realize the privilege of our view, which arises from our socio-economic status and cultural capital. The melding of point-of-view shots and handheld camera work with tableaux-like long takes ensures that the free indirect style creates not only an aesthetic frisson, but also an ethical tremor. Meta-reflexivity is built into Seidl’s films, enjoining us to interrogate the function and fusion of narrative perspectives, mise-en-scène, and class politics. An autoaggressive sequence at the beginning of Import Export turns the tables on our sanctioned voyeurism and relentless stare into the vanishing point of Renaissance perspective; to the shouts of “Center! Center! Center!”, the trainees emerge from the tableau toward the image’s foreground, pointing an imaginary gun at the viewers who spend the next 135 minutes staring at this very center from a slightly elevated angle. The young men take up the bottom half or third of the frame in an extreme long shot. As the camera singles out one of the rag-tag bunch, it depotentiates the aggressor’s stance toward the viewer by never allowing him to get all the way up to the lens and by literally remaining above him (a later parallel scene, replete with circular motion, shows Pauli similarly depotentiated). A training session at one of the Austrian unemployment offices (Arbeitsmarkt Service Center) also works on a self-reflexive level, revealing the cynical undertones of “fremdschämen.” The presenter, played by the cabaret artist Dirk Stermann, instructs the jobless in the gestures and phrases necessary to land a job. “Waiting respectably” (“seriös warten”) is required, his voice from off-screen tells the assembled crowd, with Pauli in the exact center of the frame. We viewers look down on Pauli in this
See Moretti’s discussion of free indirect discourse in the third chapter, entitled “Trees,” Graphs, Maps, Trees: Abstract Models for Literary History (Brooklyn, NY: Verso, 2007), especially 86–89. The character and narrator lose their distinctiveness, as do implied narrator and actual spectator. See Franco Moretti, The Bourgeois: Between History and Literature (Brooklyn, NY: Verso, 2013), 96–100. We are faced with the complete imbrication of subjective and objective in the bourgeois perspective that is concretized in the camera’s raised perspective and hence our reaction to the events. It is even more operative in his acclaimed Paradise trilogy from 2012–2013, which focuses on women, their sexual desires, and recalcitrant bodies. They feel a sense of shame for their sexuality and their wish to feel erotically shameless, since this is presented to them as the path to self-realization and erotic fulfillment in Western society. The trilogy foregrounds the role of the media (cell phones, cameras, etc.) in the mise-en-scène of gazes.
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metaphorical antechamber of life, as the presenter drones on. The camera cuts to the medium close-up of Stermann, identifying this as Pauli’s gaze when the camera then cuts to a close up on him. He shifts his glance back and forth (nervously? bored?) while the instructor offers his motto to the class: “Smile more than others”—“Lächele mehr als andere.” On the surface, the coach suggests that flattery, obsequiousness, and feigned lightheartedness are solutions to these people’s employment problems, but his German is of course more ambivalent: “LMAA” is the slangy abbreviation for people to “kiss his behind.” With the camera’s cut to a more distanced view on the unsmiling crowd, then back to a long shot of the instructor, Seidl’s film emplaces us at the back of the room but—significantly— with a viewpoint again above the heads of the assembled group. The instruction to “practice, practice, practice” takes on added importance in light of this segment. Viewers are being made aware that Seidl’s films lend themselves to negative interpretations, which see them only as epitomizing (rather than problematizing) the instructor’s “screw you”-attitude. It is also as if viewers were being reminded of the necessity to “practice, practice, practice” looking at the complex docufictions that Seidl creates.¹⁴ The director has managed to make us see what is wrong with “fremdschämen,” while he has utilized its melding of distance and doxa. In Seidl’s admittedly claustrophobic universe, where Renaissance perspective feels horribly confining, modernist detachment arises out of post-modern media intimacy, public estrangement out of private strangeness. Ultimately, I think, Seidl would like shame for the being-thus of the world to emerge where “fremdschämen” first is (see Perez 2000, 378).
III Instructional Drawings: Wurm Seidl’s film language shares traits with works in other media from Austria eliciting “fremdschämen.” In the acclaimed sculptures of Erwin Wurm, we find a gestural language and vantage point that marks his viewers as similarly privileged. Taking a cue from the Austrian architectural neo-avantgarde of the 1960s, Wurm has expanded the definition of sculpture. If for architect Hans Hollein “everything is architecture,” as his 1968 manifesto in the journal Bau proclaimed, Wurm posits that “everything is sculpture.” Like the Viennese actionists, Wurm too is interested in using controlled environments to interrogate what irritates bourgeois society
Ironically, the next scene cuts to a shot of cleaning ladies practicing all forms of floor cleaning in small cubicles.
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and undermines the duplicity of its inclusively exclusive tenets. Turning his back on the Materialschlachten of Günter Brus, Hermann Nitsch, or Otto Mühl and their efforts to épater le bourgeois, Wurm seeks to use the very matériel they criticized to entertain. In Wurm’s career-making One Minute Sculptures, people posed for one minute with everyday objects; these poses were accompanied by Instruction Drawings, detailing the specific, silly interaction with the objects. Often, the result is captured on camera; the ‘sculpture’ shows the person in a ridiculous position, with a head balancing a bucket while pressing another bucket against a wall, a coat hanger in mouth, etc. As Stephan Berg writes in a catalogue of Wurm’s works, the artist’s undertaking is very ambivalent. On the one hand, Berg argues, “[b]oth the One Minute Sculptures and the Instruction Drawings are an invitation to interactive participation and thus to social communication.” On the other, he continues, this communicative aspect is “thwarted by carrying out the activities […] as they coerce people into positions in which things (and the omnipotent artist-director) have taken control” (Berg 2009, 52). While these sculptures are often funny in their absurdity and ability to estrange the everyday, to provoke reflection on the interplay of mass and non-mass, between gallery and sculpture, they may also elicit a sense of “fremdschämen” on behalf of the depicted subjects —it feels like the joke is on them. The aggressive humor recasts anti-social behavior and deviance from the bourgeois norm as fun (Berg 2009, 53). Indeed, it comes as little of a surprise when Wurm relies on the term “cynical” to describe his modus operandi, and that art critics often use the word “cruel” in describing his work in catalogues.¹⁵ The tiny, careful sketches in Wurm’s Instructional Drawings depict the participant in an empty time and space. The photographs of the actions are similarly bereft of temporal and spatial emplacement. But this spatiotemporal lack is illusory; indeed, the social doxa of what constitutes acceptable behavior or movement in public areas at a particular historical juncture underpins and makes legible these drawings as social interventions. That is, the one-minute sculptures only work when we have a ‘bougie’ normative horizon. In the interventionist work entitled “44 Suggestions—A Social Sculpture” (“44 Vorschläge—Eine soziale Skulptur”), forty-four offensive propositions were reprinted on the pink paper usually reserved for the European Financial Times and added to an issue of white-paper weekly newspaper, Die Zeit. In the antiSemitic, racist, and sexist statements, we find the sculptor taking on the privileged stance of the left-leaning intelligentsia poking fun at itself and at the lower classes associated with such problematic attitudes, since Wurm often seems to be ventril-
See the interview with Wurm, http://prettycoolpeopleinterviews.submarinechannel.nl/erwinwurm/ (accessed 3 March 2014).
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oquizing for an imagined vox populi. While some suggestions are clearly funny and ironic, such as, for instance, “Award young, beautiful, and successful people complete power of authority over the Pensions Office” [“Den Jungen, Schönen und Erfolgreichen Vollmacht über die Rentenkasse erteilen”], others are purely offensive: “Tell an American how happy you are that they got such a good-looking negro as president” [“Sagen Sie einem Amerikaner, wie froh Sie seien, dass sie so einen feschen Neger zum Präsidenten bekommen haben”], “Cut the supermarket checkout line and yell: ‘Let me through, my family was in Auschwitz’” [“In der Schlange an der Supermarktkasse vordrängen und rufen, ‘Lassen Sie mich durch, meine Familie war in Auschwitz’”] or “Laud the lower classes in particular for the fact that they stay down there” [“Die Unterschichten vor allem dafür loben, dass sie unten bleiben”]. The suggestions are presented in many different fonts of different sizes. They are separated by small black dividing lines and juxtaposed with the regular advertisements. I do not wish to downplay the complexity of this work. It raises questions about the intended addressees, which are presumably the readers of Die Zeit rather than those of the popular and populist boulevard press, such as the Kronenor Bild-Zeitung. It also questions the refunctioning of clichés via satirical distortion, their remediation, the unarticulated subtext of certain left-leaning pieties underpinning high-brow discourse, and the economic imbrications of mass media, advertising, and political sloganeering. Nonetheless: the work offers the kind of grammatical “fremdschämen” that I analyzed in Seidl’s case. Anonymous speakers are merged with the social doxa in a free indirect style, made possible through the reproduction and circulation of mass media. The upper class readership recognizes the critical intent, in my interpretation, and feels vicariously embarrassed for the popular discourse in which these statements are felt to circulate or these mindsets are assumed to exist. The insertion of the “44 Suggestions” into the high-brow weekly also creates a disconnect between the reader’s temporality and the empty time of these free-floating statements. When you read a newspaper, you are generally in the recent past, immediate present, and short-term future. However, the suggestions’ reference to any specific event is severely attenuated. Their alternately imperative formulation (“Sagen Sie”) or the general directives with an infinitive (“Den Jungen, Schönen und Erfolgreichen Vollmacht über die Rentenkasse erteilen”) might fulfill an analogous function to the instructional scene we witnessed in Import Export: the imperious formulations immediately call out the self-referential cynicism of the kiss-my-behind-variety. The callous humor of the “44 Suggestions” brand all ethics produced via shaming as insincere. This precisely, one could argue, is its ethical thrust.
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IV Jelinek’s Supplicants The Nobel laureate Elfriede Jelinek similarly employs the style I have been describing. Her writing is less ambivalently coded, more readily assimilable to the leftleaning views that Seidl and Wurm question. While an early essay entitled “The Borders of Shame” (“Schamgrenzen?”) from 1984 defines women in relation to shame and argues that this coupling needs to be broken,¹⁶ her later work leaves behind de- and reterritorializing strategies of shaming in relations between genders. In short prose texts such as “Schamlos” (2008), she focuses on the implicit politics of “fremdschämen” in relation to the discourse of political correctness, the Shoah, and the rise of the right. Right-leaning politicians, she writes, are shameless, unwilling to observe a necessary distance from themselves and redundantly defining their essence: “[S]ie haben keine Distanz zu sich selbst, weil sie keine brauchen. Sie sind ganz sie” [“they have no distance from themselves because they do not need it. They are totally themselves”]. Self-criticism and distance from the crimes of the past are not possible in the tautological self-definitions and total conformism of the right: “Kein Abstand also und daher auch keine Distanzierung, denn die Zeit geht immer über die volle Distanz, und diejenigen, die mit ihr mitschwimmen und alles nehmen, wie es kommt, die haben am wenigsten Grund, sich zu schämen” [“Thus no gap and hence no distancing, for time always travels the entire distance, and those who go along with it and take everything as it comes have the least reason (grounds) to feel shame”]. Shame and “fremdschämen” in this sense are also thematized in her open-ended theater text Charges (The Supplicants) or Die Schutzbefohlenen from 2013, whose title alludes to Aeschylus’ The Suppliant Maidens (Die Schutzflehenden). Jelinek added codas, appendices, and afterwords to this theater text as the refugee crisis in Europe continued and the European Union’s response became less and less tenable. Her text takes as its immediate subject sixty asylum seekers who sought refuge in the Viennese Votive Church, the drowning of 300 African refugees off the Italian island of Lampedusa, the EU’s universalist language of human rights, the granting of Austrian citizenship to Boris Yeltsin’s daughter and the Russian opera singer Anna Netrebko, as well as the Austrian government’s brochure to
See Elfriede Jelinek, “Schamgrenzen,” Konkursbuch 47 (2008): 42–44 and “Schamlos: die Zeit,” Die Zeit, 2.11. 2008. See also Annette Bühler-Dietrich, Auf dem Weg zum Theater: Else Lasker-Schüler, Marieluise Fleisser, Nelly Sachs, Gerlind Reinshagen, Elfriede Jelinek (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003). Bühler-Dietrich speaks of the “Voyeur als edle[n] Mitleider” in bourgeois theater, who is called into question in Jelinek’s theatrical practice, especially in Raststätte oder Sie machens alle (2003, 200). See also Alexandra Pontzen (2005, 24).
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help train asylum seekers in the ways of their adoptive country, with its incantatory repetition of the “values” to which people have to conform. This polyphonic text was posted on Jelinek’s homepage in 2013 with an engraving of “fugitive slaves fleeing from Maryland” in William Still’s 1872 The Underground Rail Road and a photograph of refugees, with a man flanked by women wearing headscarves, all carrying children and large bundles.¹⁷ The text alternates between the first-person singular pronoun “I” and a plural “we,” both speaking for the refugees and formally addressing a Western European or Austro-German “you,” occasionally with the informal pronoun “du” and sometimes with the formal “Sie.” This voice amalgamates all the stereotypes that are projected onto asylum seekers. The author’s typical puns and use of catachresis complicate the picture, endowing the “Textflächen” or “speech planes” with a distinctive Jelinek-sound. Early in the text, the first-person speaker bemoans the killing of family members, as well as the cool reception of his or her testimony. The passage revolves around the inability to bear witness to violence: You don’t believe it, but you can see it, you see it right there, my family has the video, but they don’t exist anymore, the family, they are all dead now, only the video is left, no one feels any shame about it, only you are ashamed for me, your imagination can’t deal with that, there is no dealing with you, you are the one dealing out, dealing everyone out, that is the deal, get them out of here, people conceived and born, chasing them away, you do that well.¹⁸ [Sie glauben es nicht. Aber sehen können Sie es, Sie sehen es hier, meine Familie hat das Video, die gibt es aber nicht mehr, die Familie, die sind jetzt alle tot, aber das Video ist übrig, keiner schämt sich dafür, nur Sie schämen sich meiner, und Ihre Einbildungskraft reicht nicht aus, nichts reicht Ihnen aus, und nichts reicht bei Ihnen aus, nur fortscheuchen, Menschen, die einst gezeugt und geboren wurden, wegscheuchen, das könnt ihr.]
Shame here finds no home, no anchoring point in the recipient: “no one is ashamed” (“keiner schämt sich”) for the killings and beheadings that are taking place and are visually documented. Instead, there is only a sense of “fremdschämen” on the part of Austrians for the refugees seeking asylum (“You are ashamed for me,” “Sie schämen sich meiner”). While shame leads to a subject’s doubling in a moment of affective self-cognition, when one sees oneself as others see one, “fremdschämen” does not allow the self to reflect on the situation and become cognizant of its own strategies for disqualifying the suffering of others. In a capitalist society of affluence, where there is never enough (“nothing is enough for you,” Jelinek, Elfriede. Die Schutzbefohlenen. https://www.elfriedejelinek.com/fschutzbefohlene.htm (accessed 28 January 2023). See Gitta Honegger’s excellent translation, Charges (The Supplicants) (London, New York and Calcutta: Seagull, 2016), 5–6.
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according to the original, “nichts reicht Ihnen aus”), the only thing felt to be superfluous is the human ‘detritus’ washing up on Europe’s shores. The images of suffering circulate as some images among many in the media landscape that Jelinek’s prose mines and mimes. No one can bear witness, since the refugees are considered below the threshold of visibility in an increasingly non-referential post-production digital world. Jelinek’s furious text makes clear that what is needed is a sense of shame that could be translated into an ethical stance rather than “fremdschämen,” which makes of human beings an aesthetic problem. The asylum seekers do not belong in the picture. When they do, they are to be as artfully arranged as the figures in the color image posted with the text on her website, where repetitions and diagonals skillfully structure the visual field. The possibilities for intervention are limited, and the theater is no longer a moral institution.¹⁹ The word “fremdschämen” was the Austrian “Word of the Year” in 2010, chosen by a jury at the University of Graz led by the Germanist Rudolf Muhr.²⁰ According to the jury’s statement, the word was chosen because it marked citizens’ individual efforts to distance themselves from the general decline and distasteful politicians held responsible for the erosion of public institutions. Their reasoning was as follows: Angesichts des Verlusts an Qualität in vielen Bereichen (Bildung, Verwaltung, Krankenwesen usw.) und der Stagnation in der heimischen Politik verschiebt sich das Verantwortungsgefühl auf die einzelnen Bürger, die sich für die Zustände und die dafür Verantwortlichen immer öfter genieren (fremdschämen), obwohl die Lösung nicht in ihren Händen, sondern in jenen der zuständigen Politiker liegt, die aber vielfach untätig bleiben.²¹ [In light of the loss of quality in many areas (education, administration, health care, etc.) and the stagnation of domestic politics, the sense of responsibility shifts to the individual citizen, who is more and more often embarrassed (fremdschämen) by the conditions and those responsible for them, even though the solution does not lie in their hands but in those of the politicians in charge, who, however, often remain passive.]
See Jelinek’s “Meine gute Textwurst, Dankesrede zur Verleihung des Nestroy Autorenpreises 2013,” held on 4.11. 2013. Jelinek uses the image of refugees as a stand-in for her own theatrical practice. Another text on her webpage, “28.12. 2012,” assumes the perspective of the Austrian population that condoned the closing of the ad hoc refugee camp that had arisen in front of the Votivkirche to protest inhumane conditions at an intake camp in Traiskirchen. This was a cooperation between the Fakultät für Umwelt- und Erziehungswissenschaften, Universität Graz, and the Austrian Press Agency. See “Sich genieren für politische Zustände?” http://stmv1.orf.at/stories/486379 (accessed 30 January 2023).
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The privatization of what should be public discourse, to which this reasoning attests, is as problematic as the mix of distance and defamiliarization in the artworks under discussion. Because these works repeatedly bring to light viewers’ and readers’ innermost prejudices in a complex form of address, they elicit visceral reactions. At their best, the works draw critical attention to the bien-pensants and their problematic distancing efforts in a mediatized culture predicated on over-sharing and under-reacting. While shame may be a measure of our humanity, “fremdschämen” may not be. Although “Fremdschämen” might be engendered by “moral turpitude” or “general inferiority and incompetence,” to return to Tomkins’ definition of “shame,” and seek a salutary distance from this turpitude or inferiority on the basis of a recognized human similarity, I don’t think so. Instead, it indicates an untoward sense of superiority or arrogance that can no longer take an affective leap to the other person based on a postulated common humanity. It is up to the audiences of these works to transmute “fremdschämen” into “schämen,” rediscovering the element of strangeness-in-commonality that was always a part of shame itself.
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Stefan Alker-Windbichler
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Bedrohung, Verweigerung und Vernichtung in Archivbildern österreichischer Texte des 21. Jahrhunderts Unmittelbar vor der wegweisenden Präsidentschaftswahl in den USA 2016 veröffentlicht Norbert Gstrein eine düstere Dystopie, in der alle Theorien über Regierungsverschwörungen wahr scheinen. Unter dem Weißen Haus gibt es, wohl seit Jahrhunderten, eine dubiose Unterwelt mit Häftlings- und Folterzellen, Sklavenfriedhöfen und -lagern, Abhörzentralen und Waffenarsenalen. Den Kristallisationspunkt des Bösen dieser bisher latenten Unterwelt bilden Die amerikanischen Archive schon im Titel der Erzählung. Während lange angeblich nicht einmal die Geheimdienste etwas von der unterirdischen Welt wussten, kam sie nun skandalös an die Öffentlichkeit, mitsamt ihren kilometerlangen unterirdischen Labyrinthgängen,Versuchsanlagen mit einer Fläche größer als Liechtenstein, baumstammdicken Abhörkabeln, Fluchten von Gefangenenzellen, Skelettfunden von vergessenen Sklaven und Archiven, in denen die Bibliothek von Borges Wirklichkeit geworden zu sein schien […]. (Gstrein 2016a, 12)
Aus den Archiven, die in der Klimax der Aufzählung als Gipfel des Wahnsinns erscheinen, erreicht den Erzähler der kurzen Geschichte eine Nachricht: Bei der Aufarbeitung des Skandals sei man auf eine Reihe ungeöffneter Protestbriefe deutscher Schriftsteller:innen zum 11. September 2001 gestoßen, die nun archivarische Probleme machten: „[E]s sei weder möglich, sie weiter aufzubewahren, noch auch nur, sie alle zu digitalisieren, wozu man sie ja erst einmal öffnen und auf Anthrax und andere Giftstoffe untersuchen und, Allah bewahre, vielleicht sogar lesen müsste.“ (Gstrein 2016a, 14) Der hier angeschriebene Leserbriefredakteur einer deutschen Wochenzeitung schlägt zusammen mit seinem Vorgesetzten vor, das Unerledigte an den präsidialen Amtsvorgänger zurückzuschicken, sich unauffällig zu verhalten und, der österreichischen Herkunft der beiden entsprechend, ‚weiterzuwurschteln‘. So bleibt die Sache bis zur anstehenden Wahl offen, und falls bei dieser der nach seiner Haarpracht „die Tolle“ (Gstrein 2016a, 14) genannte Kandidat gewinnt, könnte alles noch schlimmer werden. Verschwiegene und skandalöse Archive nämlich sind das eine, mit der Tolle aber droht die komplette Vernichtung: „[E]ine Abteilung ‚Ungelesene Briefe‘ würde sie [die Tolle] wohl kaum einrichten, sofern sie überhaupt Archive hätte und nicht vielleicht stattdessen ein paar riesige Verbrennungsöfen.“ (Gstrein 2016a, 15) https://doi.org/10.1515/9783111205809-018
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Gstreins kurze Erzählung verdichtet das Abgründige des Archivs in der Engführung der Dystopie geradezu musterhaft. Von den Archiven als dem latent Verschwiegenen, unterirdisch Unzugänglichen und strukturell Hegemonialen über deren stete Gefährdung, geschlossen, verbrannt und vernichtet zu werden, bis zu den Dilemmata der Archivarbeit und dem stets ungenügenden Umgang mit dem dort Vorhandenen.
1 Archivtheorie zwischen Ideal und Dystopie Dieser Beitrag soll den von Gstrein gelegten Spuren folgen, den dystopischen Gehalt von Archivbildern in Theorie und Motivik in den Blick nehmen und anhand von rezenten Texten aus Österreich verschiedene Szenarien von Archivvernichtung und -untergang präsentieren. Dass Schilderungen von Archiven dystopisch sind, dass sie unter anderem von apokalyptischen „Prozessen des Untergangs, der Verbrennung, Vernichtung, Verwüstung“ (Schmitz-Emans 2017, 90) berichten, ist, auch wenn es vertraut klingen mag, ebenso wenig selbstverständlich wie die Bezeichnung abgründiger Archivbilder und spezifischer Negativszenarien als Dystopien. Begreift man Dystopien als schiefgegangene Utopien (vgl. Gordin et al. 2010, 1), wird ihre prinzipielle Dialektik als „mehrdeutige Wunsch- und Schreckbilder“ (Voßkamp 2016, 5), als „eine Art Kippfigur“ (Stauffer und Dziudzia 2022, 13), sichtbar. Für Archivbilder am Abgrund von Vernichtung und Verweigerung stellen sich also zwei Fragen: Was war das Versprechen der Utopie und was geht hier schief? In der Theorie des Archivs scheinen die Versprechen klein, groß hingegen die Hindernisse. Zu offensichtlich ist, dass Ideale von dauernder Überlieferung, einfacher Zugänglichkeit und lückenloser Bestandsbildung, vielleicht auch ewiger Konservierung und digitaler Anschlussfähigkeit, überall und immer wieder an die Grenzen des Faktischen stoßen. So sind abgründige Formulierungen in der Theorie des Archivs verbreiteter als positive: vom dubiosen bis bedrohlichen „Rumoren der Archive“ (Ernst 2002) über ihr Brennen (vgl. Didi-Huberman und Ebeling 2007) bis zum Blick auf die Ränder, der zentrale Spannungen offenlegt und festhält: „[D]er Vorstellung von Dauer und Kontinuität eines ‚Speichers‘ oder ‚Schatzhauses‘ ist diejenige des Verlusts entgegenzuhalten: Das Archiv ‚besteht‘ zu weiten Teilen aus Verlust“ (Schmieder und Weidner 2016, 9). So scheint die Idee des Archivs prinzipiell utopisch, seine Geschichten immer wieder als solche vom Scheitern. Das Archiv hätte „immer schon verloren, was es aufhebt“, erklärt etwa Knut Ebeling (2012, 309) in seinem Beitrag über das „Desaster des Archivs“, es wäre „vor allem auch dadurch gekennzeichnet […], was es nicht speichert, was es verschweigt, wo seine Lücken klaffen“, meint Julia Fertig (2011, 4) und Jörg Paulus schlägt vor, Bestand prinzipiell vom Verlust her zu denken, wären
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doch Sammlungen immer schon „vom Schwinden an Substanz geprägt“ (Paulus 2021, 20). Doch nicht nur das Schwinden ist problematisch, sondern auch das Vorhandene; traumhafte Erwartung schlägt ins Albtraumhafte um: „[T]he archive’s dream of perfect order is disturbed by the nightmare of its random, heterogeneous, and often untruly contents.“ (Voss und Werner 1999, ii) Das Umschlagen von erwartbarer Ordnung in offensichtliche Heterogenität, von Vorhandenem in vielleicht schon Verschwundenes, wurde beim Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln 2009 sichtbar, als sich im entstandenen Loch buchstäblich der Abgrund des Archivs öffnete: „Precisely at the point of the archive’s catastrophic malfunction, the public saw exactly what had been carefully stored behind the walls“ (Osborne 2015, 1). Der Abgrund des Archivs ist nicht nur ein physischer und, wie sich in der Theorie zeigt, prinzipieller, er ist auch ein zeitgenössischer. Die – wenn auch inzwischen in die Jahre gekommene – Bemerkung, die intensive Beschäftigung mit Archiven habe etwas mit ihrem potenziellen Verschwinden zu tun (vgl. Ernst 2002, 13), steht hier in Verbindung mit Utopien und Apokalyptischem, die als „Phänomene für Zeiten des Übergangs, ja der Krise“ (Manojlovic und Putz 2020, 7) Unsicherheit und Aufbruch, Hoffnung und Furcht miteinander verbinden.Wenn in einem Umfeld von Disruption, Digitalisierung und fraglicher Dauerhaftigkeit Gegenbilder mobilisiert werden und scheitern, sieht man sich einem „doppelten Scheitern“ (Voßkamp 2016, 13) moderner Dystopien als konkretem Modell sowie seiner Bedingungen und Möglichkeiten gegenüber, sodass Archive gleich doppelt, als reale wie als mögliche, infrage stehen. In realen (Literatur‐)Archiven schließlich ist das Kippen vom Wunsch- zum Schreckensbild gelebte Realität. Bieten sie einerseits durch Erwerbung von Vor- und natürlich auch Nachlässen mit allen Wünschen und Hoffnungen der Beteiligten eine ersehnte „Option auf die Utopien“ (Wirtz 2013, 82), bringt das damit eingegangene Commitment auch abgründige Aspekte mit sich, wie Josef Haslinger berichtete: „Das Archiv habe mit ihm einen Pakt geschlossen und er habe dem Archiv seine Seele verkauft.“ (zitiert nach Wirtz 2013, 83)
2 Archivmotive zwischen Perversion und Erkenntnis Dafür, dass Archive und ihre Bestände als roter Faden der europäischen Literatur gelten können, wie Louise Craven (2008, 13) etwas vollmundig formuliert, sind Untersuchungen, die sich mit Archivsujets im engeren Sinn, mit Qualitäten des Motivs und der Symbolik, beschäftigen, zumal im deutschsprachigen Raum relativ
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rar. So kennt die erste Auflage des Metzler Lexikons literarischer Symbole das Archiv nicht, bevor es in der aktuellen Auflage aus der Versenkung auftaucht.Was man dort erfährt, scheint weitgehend im Negativen verhaftet: Relevant für die Symbolbildung wären Widrigkeiten von Archivierung und Zugänglichkeit, ein ungeordnetes und fragmentarisches Erscheinungsbild sowie hoher Aufwand für sinnstiftende Erzählungen rund um Archivalien (vgl. Mardaus 2021, 34). Englischsprachige Beiträge beschäftigen sich eingehend mit dem Archiv als Motiv und erlauben einen Überblick über Standardelemente von Archiverzählungen. Den Ausgangspunkt dafür bildet der Befund einer gängigen Verwechslung: Häufig würden Archive und Bibliotheken verwechselt und vermischt, ja zweitere gäben sogar das literarisch meistverbreitete Bild des Archivwesens ab (vgl. Schmuland 1999, 40). Schließlich wären Bibliotheken eher Teil des Alltags und gälten als zugänglicher, während die einsame Archivarbeit oft als vage Bedrohung erscheint (vgl. Buckley 2008, 99–100). In den Hürden, die Benutzer:innen selbst im Archiv noch vom Material trennen und zu denen neben Magazinräumen und Archivboxen auch Benutzungsregeln und Aufsicht durch Archivar:innen gehören, gründet ein eigentümlicher Status von potenzieller, institutioneller Offenheit und gleichzeitiger Verschlossenheit (vgl. Saunders 2011, 169). So verbinden Archiverzählungen oft das ‚Bootcamp-Narrativ‘ der Überwindung größter Nutzungshindernisse mit Geständnissen der Lust am Archiv (vgl. Burton 2020, 8). Angesichts zahlreicher Hindernisse und misanthropischer Archivar:innen wurde die gelehrte Begeisterung für Archive als masochistische Anziehungskraft zu etwas gemeinhin als abstoßend Empfundenem festgemacht: Das Archiv als „site where only those perverse by choice or disposition could find any gratification?“ (Saunders 2011, 169) Zu diesem etwas pathologischen Befund gesellt sich das Morbide, das Darstellungen von Archiven immer wieder begleitet. Bilder von Staub und Tod dominieren, Archivrecherchen erscheinen als Öffnung von Grabstätten, Todesmetaphern werden bis ins Jenseits weitergesponnen (vgl. Schmuland 1999, 42–45) – ein morbider Zug, der der österreichischen Literatur von Peter Handkes im Leichensack ins Literaturarchiv geschickten Vorlassdokumenten (vgl. Schörkhuber 2019, 72) bis zum Bild des Archivs als „Friedhof der Namenlosen“ (Fuchs 2014) nur zu vertraut ist. Die Vorstellung, im Archiv wären Unterlagen und Information weniger begraben als bewahrt, hat etwas immens Utopisches: Könnte man das passende Dokument nur zum Vorschein bringen, wäre das Geheimnis gelüftet, der Fall gelöst oder der Code geknackt, umreißt Max Saunders (2011, 170) die verbreitete Fiktion des hilfreichen und mächtigen Archivs. Anwendungsgebiete wären auch die Bearbeitung individueller und kollektiver Traumata mittels Archiven als Instanzen der Selbstvergewisserung (vgl. Buckley 2008, 111). Die Vorstellung, man könne individuelle und kollektive Erinnerung mit bzw. am Archivmaterial als Erkenntnisinstrument formen – in der österreichischen Literatur in zahlreichen Varianten wie
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Christoph Ransmayrs Versuch einer Befreiung durch Wandel zum „anti-material“ (Osborne 2011, 222) bis zu Thomas Bernhards Fantasien der Abschenkung und Vernichtung (vgl. Kastberger 2021) verbreitet – erscheint Saunders (2011, 170) als naive erkenntnistheoretische oder empiristische Position. Besser kommt in der Forschung die Beschäftigung mit Archiverzählungen als solchen weg. Wer Erzählungen darüber, wie Archive gemacht, verwendet und erlebt werden, untersucht, spricht über ihre Hintergründe und wie sie konstruiert und beeinflusst werden (vgl. Burton 2020, 6–7). Mit dem Blick auf die Hinterbühne löst man sich von Authentizitätsannahmen und folgt der Forderung nach der Reflexion der Gemachtheit von Archiven und Beständen (vgl. Kastberger 2017, 19).
3 Setzʼ Sitz Ein Archiv unmittelbar vor seinem möglichen Ende, bevölkert von undurchsichtig motivierten Gestalten, morbidem Verfall und archivarischer Fadesse: Clemens J. Setzʼ Erzählung rund um den greisen Autor als Das Herzstück der Sammlung versammelt ein ganzes Bündel typischer Bilder des abgründigen Archivs, das zudem „inmitten zumeist verstörend abgründiger Geschichten“ (Neuhuber 2021, 182) erschienen ist. Das Archiv rund um den Autor Setz steht vor der Schließung, es soll „Teil einer größeren Bibliothek, einer privaten Sammlung“ (Setz 2011, 198) werden und als solcher, so die verdächtig betonte Hoffnung, wieder öffentlich zugänglich sein: „Der private Sammler wird, sagte er sich“, nämlich der scheidende Archivar, „immer wieder. Der private Sammler wird schon.“ (Setz 2011, 206) Der institutionelle Charakter des vorliegenden Archivs bleibt dabei vage, sodass Beschreibungen von einem „fiktiven Literaturarchiv“ (Wimmer 2021), einer „eigenen Sammlung, einer Art Literaturarchiv“ (Dinger 2021, 100) oder „einem zukünftigen Clemens-Setz-Archiv“ (Neuhuber 2021, 182) sprechen. Er ist aber entscheidend, bedroht die bevorstehende Schließung und Privatisierung ja gerade das Versprechen dauerhaften öffentlichen Zugangs und damit einen Kern des Archivideals. Die von Gstrein in den Raum gestellte Steigerungsform bleibt in der elliptischen Negation präsent: „[E]s ist ja Gott sei Dank nicht so, dass alles verbrannt –“ (Setz 2011, 198). In einem Setting voller Archivklischees, die zwar nicht den typischen Staub, wohl aber düster zerfallende Buchreihen und Zeitschriftenstapel, melancholische Dunkelheit und – den Horror vieler Archivar:innen – auch noch eine „dahinvegetierend[e] Kaffeemaschine“ (Setz 2011, 204) aufrufen, sitzt der grunzende greise Autor als „Schwundstufe seiner eigenen Lebendigkeit“ (Kastberger 2016). Im Archiv kommt Lebendiges und Totes zusammen, wird vermittelt und transformiert, entsteht eine ambivalente Gleichzeitigkeit, wie Florian Neuners kritischer Blick auf den Grazer Literaturbetrieb und „den noch lebenden, freilich bereits wie ein Verstor-
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bener von der lokalen Germanistik beforschten Clemens J. Setz“ (Neuner 2022) bemerkte. Mit dem betont bemühten Archivar, der sich die Langeweile auch einmal mit „einsamen Jogaübungen“ (Setz 2011, 204) vertrieben hat, werden Stereotype von Hingabe, fehlendem Sozialleben und zumindest versuchter Verschwiegenheit (vgl. Schmuland 1999, 36–38) aufgerufen, während die Teilnehmerin der letzten Führung durchs Archiv einen anderen schon angesprochenen Aspekt hervorstellt: Die Frau in eleganter Lederjacke und kurzem Rock bleibt bei Setz, als das Archiv geschlossen wird. „Um den Rest kümmere ich mich“ (Setz 2011, 207), meint sie, und was das genau bedeutet, bleibt ebenso unklar wie die Motivation ihrer Intervention. Schließt sich hier die Tür des Archivs als Ort, um wieder mit Saunders (2011, 169) zu fragen, „where only those perverse by choice or disposition could find any gratification?“
4 Jelineks Leberkäse Archivbezüge gibt es bei Clemens J. Setz nicht nur in der Darstellung der Institution, sondern auch im wiederkehrenden vielschichtigen Motiv des Sammelns und Archivierens (vgl. Dinger 2021, 104–107). Zugleich wurde festgehalten, dass Setzʼ Arbeitsweise traditionelle Archivierungspraktiken rund um papierenes Material und materielle Spuren nicht bedient, sondern auf eine „Entzauberung des Dichtungsmaterials“ (Kastberger 2016) hinauslaufe. Genau dieses ‚Dichtungsmaterial‘ nimmt Elfriede Jelinek wörtlich und nutzt es zur über verschiedene Texte hinweg betriebenen Inszenierung als Nicht-Sammlerin. Aus dem Dichtungs- müsse Dämm-Material werden, heißt es in ihrem Roman Neid (mein Abfall von allem), ein Schredder werde ihr Werk verschlucken „und als lustige Papierschlangen oder als melancholische Dämmplatten wieder ausspucken“ (Jelinek 2008a, 565). Dieser Effekt greift über den Roman, der die Vernichtung und Umnutzung „im Modus des Als-Ob“ (Lücke 2009, 188) betreibt, hinaus in den Fußnotenapparat der Fachliteratur, der von tatsächlichen testamentarischen Verfügungen (vgl. Lücke 2009, 188) und einem „medial wie literarisch“ (Boltenstern 2022, IX) inszenierten Motiv der Nachlassvernichtung zu berichten weiß. Unabhängig vom tatsächlichen Vollzug setzt Jelinek einer Dystopie des Bleibenden die Utopie des Verschwindens entgegen. Mit der Publikation von Neid auf ihrer Webseite scheint ihr ein Raum gefunden, in dem Autorin und Werk verschwinden können: „das Kreuzerl dort oben rechts erwischen, und schon bin ich weg, ich bin weg, verschwunden, und mit mir mein Textkörper“ (Jelinek 2008a, 42). Das Bleibende wolle sie nicht geschaffen haben, umreißt Jelinek ihre ganz eigene Archivdystopie, und wünscht sich einen leichteren, das Verschwinden ermöglichenden Modus der Rezeption:
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Wenn ich sterbe, warum soll dann dieses Geschreibe leben dürfen? Es darf aber, irgendwo wird es überleben, in irgendeiner Maschine. Ich hätte vieles, das mir zu intim war, niemals in einem Buch schreiben wollen und können. Es soll so schnell verzehrt sein wie ein Hamburger oder eine Leberkässemmel. (Jelinek 2008b)
Der auf Materialität beruhende Nutzen der wärmenden, vielleicht sogar nährenden Dichtungsmasse bleibt dabei reine Denkfigur, die vom ersehnten Verschwinden, von der ersehnten Auslöschung konterkariert wird. So entsteht das Ideal einer zugleich vorhandenen wie verschwundenen Publikation jenseits der Archivierung, das mit dem Archiv aber eine Vorliebe für die unheimliche, am Abgrund des Morbiden angesiedelte Uneindeutigkeit teilt: Es soll […] eine gespensterhafte Erscheinungsform haben, dieses Geschriebene da vor Ihnen. Die gespenstische Existenz eines Wesens, das da ist und auch wieder nicht, ein Phänomen, das mich schon immer interessiert hat: lebende Tote, die nicht wissen, daß sie tot sind, Geister, Gespenster, Erscheinungen, Grusel, Schauder. (Jelinek 2008b)
Was hier als selbstermächtigender Akt erscheint, der mehr als eine Materialverweigerung eine auch die elektronische Publikation umfassende Archivverweigerung ist, wurde bei anderen Autorinnen eingehender untersucht. Materieller Minimalismus als „eine Form der Selbstdistanzierung“ (Büscher 2021, 46) und Verweigerung als „anti-archivarischer Reflex“ (Büscher 2021, 48) erschienen dort im Kontext prekären weiblichen Schreibens und Archivierens (vgl. Büscher 2021, 49). Abwesenheit und Verschwinden als Ideal kämen dann mit einem immens dystopischen Element, das vom, wie auch immer gebrochenen, Bild eines eigenen um den alten Mann gebauten Autorenarchivs meilenweit entfernt ist.
5 Roths Wahn Wenn Elfriede Jelinek die „imaginäre Vernichtungsaktion ihrer Dichtung […] mit der Vernichtung der Häuser“ (Lücke 2009, 190) engführt und sich über das rückstandslose Entfernen digitaler Publikationen mit den Worten freut, sie fühle sich „wie neugeboren, weil Sie mich ausgelöscht haben“ (Jelinek 2008a, 42), dann klingt Thomas Bernhards Auslöschung mit den Immobilien, die man als belastendes und belastetes Erbe loswerden muss, durch. „Abreißen ist angesagt“, so Jelineks (2008a, 591) Lösung. Kaum ein anderer österreichischer Schriftsteller hat sich mit den Gebäuden, Räumen und Institutionen, die ‚Dichtungsmaterial‘, materielles und immaterielles Erbe bewahren, und zugleich mit dem verdrängten und verschwiegenen Erbe hinter und unter diesen archivierenden Institutionen so intensiv auseinanderge-
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setzt wie Gerhard Roth. Bibliotheken, Archive und Museen als wiederholte Bezugspunkte, Sammelobjekte, Archivalien und Bücher sowie der Umgang mit ihnen, das Sammeln und Archivieren, Annotieren, Abschreiben und Dokumentieren sind in seinem literarischen Werk allgegenwärtig. Untrennbar mit den Objekten und Sammlungen verbunden sind aber immer auch Diebstahl und Verlust, Beschädigung und Vernichtung. Die Vorstellung vom Einsturz der eigenen Bibliothek als geheime Angst des Schriftstellers, wenn der Boden seiner Wiener Wohnung unter der Last des versammelten Materials nachgibt (vgl. Roth 2014, 18), ist nur eine der Vernichtungsfantasien im Roman Grundriss eines Rätsels, der auch den Traum von der zerfressenen und zerfallenden Bibliothek (vgl. Roth 2014, 140) oder den Bericht von der Vernichtung der Klosterbibliothek (Roth 2014, 194–195) kennt, „natürlich“ nicht, ohne Canetti zu erwähnen (Roth 2014, 18). Das radikalste Bild der Vernichtung all dessen, was in einer eigenen Arbeitswohnung gesammelt ist – Recherchematerial aus 30 Jahren, Notizbücher, Karteikarten und Kopien rund um das Thema „Wahn und Sinn“ (Roth 2005, 299), wie in Das Labyrinth berichtet wird – bietet Roth, wenn er die ganze Wohnung, die Archiv und Bibliothek zugleich ist, in die Luft jagt. Plötzlich explodiert „die Wohnung und sein eigener Kopf“ (Roth 2014, 71), heißt es in Grundriss eines Rätsels, zurück bleiben Rauchwolken „mit glosenden, flammenden und halbverkohlten Papierteilchen“ (Roth 2014, 78). Die „Wahnsinns-Archiv-Wohnung“ (Roth 2005, 300; vgl. Bartens 2011, 280), die hier in die Luft fliegt, ist beides: ein unbewohnbares Arbeitszimmer, „am ehesten ein Archiv“ (Roth 2014, 93), und der dem Wahn ergebene Kopf mit allem Drum und Dran. Was bedeutet diese ultimativ-explosive Archivvernichtung bei einem Autor, der über einen ganzen Werkzyklus hinweg bemüht war, die ‚Archive des Schweigens‘ auszuleuchten, familiäre Verstrickungen durch tatsächliche Archivrecherchen und kollektiv Verschwiegenes und Marginalisiertes (vgl. Schütte 2013, 38 und 88) durch eine Reihe erhellender Darstellungen von Institutionen, ihrer heimlichen Mechanismen und Bestände, offenzulegen? Wird hier der Optimismus, durch den Blick in und hinter reale und metaphorische Archive das kollektive Bewusstsein zu korrigieren (vgl. Osborne 2015, 10–11), verabschiedet? Verbindet sich hier die Hoffnung auf den aufklärerischen Gehalt archivarischer Quellen mit kultureller Paranoia (vgl. Buckley 2008, 105) und persönlichem Wahn zu einer explosiven, unwiderstehlichen Mischung?
6 Wir vom Archiv Bei Gerhard Roth erscheint die Paranoia als notwendige Voraussetzung für die Arbeit am und im Archiv, muss man dort doch „eine Art von Paranoia pflegen, das
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heißt, davon ausgehen, dass alles, was man in Schriften liest, voller Hinweise ist“ (Roth 2014, 182). Mit der beruflichen Tätigkeit im Archiv tut sich ein neuer Abgrund auf, schließlich enthält Grundriss eines Rätsels neben der Archivvernichtung ein weiteres Negativszenario: die öffentliche Institution als Arbeitsplatz. Am Heimitovon-Doderer-Institut, dem fiktiven Literaturarchiv des Romans, kommt alles zusammen, was das akademische Leben und die wissenschaftliche Archivarbeit verleiden können: „die heimtückischsten Intrigen“ und „Verstellung, Denunziation, Hinterlist, Gemeinheit“, akademischer Dünkel und Unterwürfigkeit gegenüber „in der Hierarchie höher Stehenden“, Eifersucht, Rückgratlosigkeit und Rituale nur vorgeblichen Respekts (Roth 2014, 135). Bedrohung,Verweigerung und Vernichtung – alles schlimm, schlimm aber eben auch „wir vom Archiv“. Die bekannten Anfangsworte von Günter Grassʼ Ein weites Feld, die das Archiv quasi zum Sprechen bringen und als Beobachtungsinstanz zwischenschalten (vgl. Ernst 2002, 108), sollen hier für ein düsteres Bild des Archivgeschäfts und dessen abgründige Stellung im Literaturbetrieb stehen, das nicht nur Gerhard Roth zeichnet, sondern auch der eingangs angeführte Norbert Gstrein. In seinem Roman In der freien Welt ist es mit Christina der Mitarbeiterin eines Literaturarchivs überlassen, einen vernichtenden Blick auf den Betrieb und das Zusammenspiel von Autor:innen und Archiven zu werfen. Sie leidet, so weiß man (vgl. Maurer 2019, 125), am ins Archiv gelieferten Material von „schon zu Lebzeiten mehr toten als lebendigen“ Schriftstellern, denen sie „weniger Talent als die richtigen Verbindungen“ (Gstrein 2016b, 72) unterstellt. Vor allem aber leidet sie unter den Kontakten mit Schriftstellern, die, wie wiederholt betont wird, ständig jammern und raunzen (vgl. Gstrein 2016b, 72 und 77) und sich im Umgang mit ihr stets als potenzielle Vorlassgeber verstehen: „Sie hatte Angst, mit ihnen bis in den Morgen über das Archiv sprechen zu müssen und wie man es am besten anstelle, dort hineinzukommen“ (Gstrein 2016b, 94). Die hier entworfene Innensicht eines Literaturarchivs mit realem Vorbild zeichnet dieses jenseits jeden Ideals. Alle würden mit ihren schnell angefertigten Handschriften hineindrängen, erfahren wir, „als wäre es das Paradies und nicht ein Massengrab für Leute, die sich gegenseitig mit der größten Inbrunst hassten“ (Gstrein 2016b, 330). Dem Erzähler des Romans rät Christina, mit eigens angefertigten Handschriften ein paar tausend Euro abzustauben. Er solle sich zu den „notwendigen Kratzfüßen vor dem Direktor“ bereitfinden und „möglichst jeden Schmierzettel aufbewahren […] für Eselsohren und Kaffeeflecken der Authentizität würde sie schon sorgen“ (Gstrein 2016b, 473). Ihr desillusioniertes Verdikt trifft also nicht nur soziale und literaturbetriebliche Gepflogenheiten, sondern auch die Vorstellung von authentischen und bedeutsamen Archivalien und letztlich „die todtraurige Hoffnung auf Ewigkeit, die manchmal Manuskripte einlösen sollten, die man am besten am gleichen Tag noch vergaß“ (Gstrein 2016b, 474). Das düstere Bild ist dabei, wie schon bei Grass angelegt, ein komplex vermitteltes: Schriftsteller erscheinen aus der Sicht des Archivs, dieses
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wiederum aus der Sicht des Schriftstellers als Erzählerfigur. Doch egal, wie man es wendet, von allen mit dem Archiv verbundenen Hoffnungen auf Glanz und Ewigkeit, Echtheit und Wahrheit ist hier, wie so oft, nur das Schlimmste geblieben. Wie ist es also um die enttäuschten Hoffnungen und Ideale bestellt, wie steht es um die schiefgegangenen Utopien des Archivs? Die verschiedenen Negativszenarien zeigen, dass man die Sache nicht einfach umkehren kann, bergen die Enttäuschungen doch stets produktive Wunschbilder. Dass der alte Schriftsteller mit seinem Personenarchiv ein Ablaufdatum hat, dass Dichtung, wärmend und nährend, nicht rest- und wirkungslos verschwindet, dass der aufklärerische Blick in die Depots, hinter institutionelle Kulissen, unweigerlich auf individuelle Grenzen stößt und schließlich, dass das Literaturarchiv alltägliche Wohlfühlzonen, vor allem aber kulturelle Bedeutung nicht verbürgen kann, ist mehr als eine Folie, hinter der enttäuschte utopische Potenziale durchschimmern. Dass Negativliste und Positivliste kaum zu unterscheiden sind, zeigt nicht nur den mehrdeutigen Charakter dystopischer Kippfiguren, sondern auch die besondere Faszination des Archivmotivs weit über reale Archive hinaus.
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Zu Péter Nádas’ monumentalem Erinnerungsbuch Aufleuchtende Details Die Bücher von Péter Nádas sind eine Zumutung. Die Lektürezeit und die Aufmerksamkeit, die sie fordern, widersprechen allen Grundsätzen einer ökonomisch rationellen Lebensführung. Es gibt kein vergleichbares künstlerisches Projekt, das so detailversessen die Gewaltgeschichte des europäischen 20. Jahrhunderts in den Mittelpunkt rückt. In 39 Kapiteln und auf 1724 Seiten entfalteten bereits die 2012 auf Deutsch (2005 auf Ungarisch) erschienenen Parallelgeschichten ein Panorama des 20. Jahrhunderts – mit den beiden Koordinaten Berlin und Budapest –, das geprägt ist von unvorstellbaren Grausamkeiten. Sie werden den Einzelnen angetan, und sie geschehen im Zeichen sozialer, politischer und mentaler Umbrüche, die zu groß sind, um im Modus einer Alltags-Wahrnehmung verarbeitet werden zu können. In seinem singulären Projekt autobiographischer Selbstvergewisserung mit dem Titel Aufleuchtende Details. Memoiren eines Erzählers (2017 Deutsch und Ungarisch) konstatiert Nádas: „Wir alle in Europa sind schwer Kriegsversehrte oder Nachkommen von schwer Kriegsversehrten.“ (Nádas 2017, 310) Der Roman Parallelgeschichten wie auch die Memoiren eines Erzählers sind gesättigt mit mitteleuropäischer Geschichte, ihr eigentliches Thema ist jedoch der Körper, der gefolterte, malträtierte, von Nazi-Rassebiologen vermessene, der in sexueller Anspannung verharrende, der sich völlig verausgabende, der alle Einwände der Vernunft hinwegfegende, der sich entblößende und sich verhüllende, vor allem der unendlich leidensfähige Körper; aber auch der Volks- und Gesellschaftskörper, der kollektive Körper der Revolte und des Krieges, der Massenkörper, der alle Einzelkörper zermalmt. Wie wird man den 1278 Seiten von Aufleuchtende Details gerecht, einem Buch, das kein Roman, keine konventionelle und auch keine unkonventionelle Autobiografie ist, kein Traktat, kein Essay, keine Anklageschrift, kein philosophischer Exkurs, keine historische Abhandlung, und das doch von allem etwas enthält; aber auch was es nicht enthält, zählt: Nicht alle Menschen, die während der Belagerung Budapests 1944/45 gefoltert und ermordet wurden, die davor bereits den Vernichtungszügen der deutschen Besatzer zum Opfer gefallen, oder die einfach verschwunden sind, nicht alle Menschen, die der stalinistische Terror in Ungarn nach 1945 zum Verstummen gebracht hat, sind in ihm enthalten, können in ihm enthalten sein. Es sind viele, deren geistige, kulturelle und physische Physiognomie, bis hin zu Kleidungsdetails, etwa im französischen Lager Le Vernet, der Autor-Erhttps://doi.org/10.1515/9783111205809-019
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zähler Nádas rekonstruiert. Gerade deswegen zählen die Leerstellen umso mehr; gerade weil so unendlich viel gesagt wird, wir so unglaublich viel erfahren, wiegt das, was nicht gesagt werden kann, schwer. Dieses Buch beansprucht allergrößte Genauigkeit in den Erinnerungsdetails, in den historischen Rekonstruktionen, und es ist universell, weil es die grundlegenden Fragen, auch die Gottesfrage, abhandelt: Worin besteht die Struktur von Gut und Böse, Schuld und Schande (wenn es um das eigene Überleben geht, in den Revolutionen und im Terror), von Lüge und Wahrheit, Animalität und Humanität, Körper und Bewusstsein? Aufleuchtende Details rekonstruiert die Familiengeschichte des Autors im Spiegel der politischen Geschichte von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis nach dem Ungarnaufstand 1956. In diesem ausufernden und doch fokussierten Werk sind mehrere Ausgangsfragen ineinander verschränkt.
I Wie funktioniert unsere Erinnerung? Wie ist das Verhältnis von visuellen und verbalen Erinnerungen? Bis zu welchem Punkt und mit welchen Graden der Verlässlichkeit können wir der kindlichen Erfahrung nahekommen, einem weit entfernten Bewusstsein, das wir trotzdem immer noch sind, auch noch nach Jahrzehnten? Und auch: Wie können wir den frühen Erfahrungen entkommen, uns von ihnen befreien, vergessen? Das Vergessen funktioniert auf gesellschaftlich-politischer Ebene gut, das trifft auf Österreich ganz besonders zu, auf individueller Ebene scheint es unmöglich, sofern das Vergessen nicht pathologisch ist. Und weiter: Was ist Schein, was Spekulation, was die nachträgliche Arbeit eines Bewusstseins, das Chronologie und Kausalität herstellen möchte im Chaos der Erinnerungssplitter? Was ist verifizierbar durch Zeugnisse, wie etwa Akten oder Briefe, aber auch durch Gespräche mit Zeitzeugen, oder durch Erinnerungsbücher? Die Funktionsweisen der Erinnerung und die Frage, wie sie zu einem Buch der Erinnerung werden kann – so der Titel eines Romans, der 1986 erschien (auf Deutsch 1991), an dem Péter Nádas elf Jahre arbeitete – steht im Zentrum der Poetik dieses Autors. Das Aufschreiben der Erinnerung bedingt eine komplexe Struktur, es folgt sprachlichen und rhetorischen Bahnungen, die sich mit den individuellen Erinnerungsschleifen überkreuzen. Dabei ist die Frage nach der Funktionsweise von Erinnerung an ein absolutes Wahrheitsgebot gebunden, formuliert vom Jugend-Ich des Autors – ein Vorsatz, dem auch der erwachsene Schriftsteller immer treu geblieben ist: „Ich werde alles, aber auch alles schreiben, was die Erwachsenen voreinander verschweigen.“ (Nádas 2017, 560) Um diesem Gebot gerecht zu werden, ist es notwendig, die sprachlichen Formeln aufzubrechen, das an ihnen Angelagerte, das in ihnen Gespeicherte zu überprüfen, das Korrekte von Fehlinformationen zu
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trennen. Es gibt im Buch ein eindrückliches Bild dafür, was passierte, wenn die falsch genährten Begriffe aufplatzten, „hässliche offene Wunden hinterlassend, diese begrifflichen Wänste, Blinddärme, Puppen, Hülsen, und die vielen verrottenden Irrtümer quollen heraus.“ (Nádas 2017, 100–101) Die Visualisierung des Geschehenen ist für den Fotokünstler Nádas, dessen Werkzeug seit Jahrzehnten auch die Kamera ist, ein weiterer zentraler Teil seiner Poetik, sei es in der Adaption fotografischer Verfahrensweisen, der Konzentration auf Vorder- und Hintergrund, auf Licht und Schatten, sei es als sprachliche Detailbeschreibung von klassizistischen oder avantgardistischen architektonischen Räumen, von städtischen Zusammenballungen von Geschichte in Straßenzügen und Gebäuden, vor allem der Geburtsstadt Budapest, von Gegenständen wie Kleidern, Möbelbezügen oder den Lumpen von Deportierten. Die Empörung über die Verbrechen geht ein in die detaillierte Beschreibung. Die Achtsamkeit für die Dinge, die uns umgeben, ist eine Schwester der Aufmerksamkeit. Nádas‘ Erzählern entgehen auch nicht die feinsten Nuancen, in der Anordnung der Dingwelt ebensowenig wie in den intimsten Details zwischenmenschlicher Beziehungen. Für eine Schule der Wahrnehmung plädieren alle Texte von Péter Nádas. Diese Poetik, so könnte man es vielleicht auf den Punkt bringen, ist bestimmt von Architektur, Fotografie und musikalischen Strukturprinzipien, letzteres insofern, als das Fehlende, das, was nicht sichtbar ist, aber die ganze Konstruktion bedingt, immer anwesend ist, wie es die Ermordeten unter den Lebenden sind.
II Was bedeutet Freiheit, betrachtet aus ideengeschichtlicher Perspektive? Und was bedeutet Freiheit in einem geistigen, aber auch körperlich-sensorischen Sinn, gibt es eine Physiologie der Freiheit? Ist die Humanität in die Körper gewandert, zu einem physiologischen Prozess transformiert? Was bedeutet der Begriff schließlich in einem moralischen und auch politischen Sinn, angesichts der Terrorjahre, die das Buch nachzeichnet? Die Jahre von Krieg und Terror sind eingebettet in eine Geschichte utopischer Ideen, des liberalen aufgeklärten Judentums in Ungarn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg und in die Geschichte des ungarischen Kommunismus, von der Räterepublik Béla Kuns 1918 bis zur Niederschlagung des ungarischen Aufstands 1956. Die Geschichte und Aufarbeitung des Kommunismus sind heute fast wie weggewischt, im Osten Europas wie im Westen.Wir erinnern uns daran im Kontext des Kalten Krieges und des Sowjetkommunismus, die auch regelmäßig akademisches Interesse auslösen; aber wir erinnern uns nicht an den
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Kommunismus als eine große utopische Idee, deren Wirkmacht und deren Scheitern so fundamental für das Verständnis des 20. Jahrhunderts sind. Das 20. Jahrhundert ist in manchem noch nicht zu Ende, vieles daraus ist noch nicht abgegolten. Diese Lücke füllen die Aufleuchtenden Details, indem sie die Geschichte der kommunistischen Bewegung in Ungarn und im Exil an konkrete Biografien, vor allem der nächsten Familienangehörigen, knüpfen. Kommunismus bedeutet hier den äußersten Einsatz für eine Idee, die zur Partei wurde, und das größtmögliche Scheitern am Widerspruch zwischen Idee und Partei. Ein Zitat des großen slowenischen Chronisten der verschiedenen Staatsformen „Jugoslawiens“ im 20. Jahrhundert, des Schriftstellers Lojze Kovačič, fasst die Ausbreitung des Partei-Kommunismus im Jugoslawien nach 1945 in ein literarisches Bild. Das Erinnerungsbuch des deutschstämmigen Außenseiters, der in Jugoslawien als unsicherer Kantonist galt, heißt Die Zugereisten und entstand in den 1980er Jahren: Über diese ganze Ebene hatte sich eine Idee gebreitet, eine schweigende, verbissene, hartnäckige Idee, einem Nebel, einer Finsternis, einem stoßenden Wind, schwebenden Wolken gleich … sie hatte sich über die ungarische Puszta, über Preußen, bis hin zum Ural gebreitet … Mich fröstelte … (Kovačič 2004–2006, 420)
Das Fazit des Schriftstellers Kovačič lautet: „Die Wahrheit über diesen Missbrauch menschlichen Lebens ist der Kern meines Interesses an mir selbst.“ (Kovačič 2003) Dieser Satz hat viel mit Péter Nádas zu tun. Aufleuchtende Details erzählt eine Geschichte des Scheiterns, die lange nachwirkte, bis 1989 und auch noch danach, die immer mehr im Untergrund eines schiebenden Stromes versickerte, der ganz woanders hinzusteuern schien. Die jungen Kommunistinnen und Kommunisten, die Widerstandskämpfer:innen und Exilant:innen wurden zerrissen zwischen dem Enthusiasmus, der in ihrer Jugend in den 1920ern und 1930ern mit den lokalen revolutionären Bewegungen verbunden war, und der universellen Parteidoktrin, die jegliche auch vermeintliche Abweichung verfolgte. Nádas‘ Erinnerungsbuch konzentriert sich auf die Jahre zwischen seiner Geburt am 14. Oktober des Jahres 1942 in Budapest und dem ungarischen Volksaufstand von 1956. Die Arbeitsweise wird deutlich, wenn Nádas das Datum seiner Geburt in eine Reihe von Gewaltakten gegen Juden stellt, die in unmittelbarer zeitlicher Nähe stattfanden. In den Oktobertagen 1942 ereignete sich die Liquidation des Ghettos von Misotsch in der Westukraine, es kam zu entsetzlichen Massenerschießungen durch ein Hamburger Polizeibataillon, zeitgleich erfolgte weit entfernt die Deportation jüdischer Inhaftierter aus Bordeaux nach Auschwitz; und die ungarische Regierung verabschiedete ein Gesetz, das jüdische Pächter benachteiligte.
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In diesen nur 14 Jahren zwischen 1942 und 1956 fand die Besetzung Budapests durch deutsche Truppen statt, die Kollaboration der faschistischen ungarischen ‚Pfeilkreuzler‘ mit den Nazis, die Belagerung durch sowjetische Truppen (zwischen Oktober 1944 und Februar 1945) sowie die alliierten Bombenangriffe auf Budapest. Es herrschten Terror gegenüber Juden, Kommunisten, Regimegegnern und Angst vor den Bomben. Das Ende des Buches ist eine lange Reflexion über die Aporien des ungarischen Volksaufstandes. Dessen emanzipatorischer Gehalt wird von der Logik des Kalten Krieges, konkret dem Desinteresse der Westmächte an einer sozialrevolutionären Bewegung in Ungarn, verbunden mit Ängsten vor einem Atomkrieg, und andererseits von den individuellen Haltungen der Hauptakteur:innen, die noch tief in Partei-Abhängigkeiten stecken, aufgezehrt. Der andere ideengeschichtliche Strang des Buches, die jüdisch-liberale Emanzipationsgeschichte, wird repräsentiert vom Urgroßvater Mór Mezei und dem Urgroßonkel Ernő Mezei, beide konservative liberale Politiker, die als Publizisten und Redner im Parlament über Einfluss verfügten. Sie sind überzeugt vom schlussendlichen Sieg der jüdischen Emanzipation in einer liberalen, aufgeklärten Welt. Zugleich ist ihre, vom Ende her betrachtet, große Illusion einer vorurteilsfreien, vernunftbasierten Gesellschaft, die zwangsläufig kommen müsse, Teil einer Geschichte des Antisemitismus. An einer Stelle nimmt Nádas auf seinen Roman Parallelgeschichten Bezug. Was ihn während der Arbeit an diesem Roman beschäftigte, sei die „Inkubationszeit des antisemitischen Gedankenguts“ gewesen: „Wie viel Zeit braucht es, bis wir von der Idee zum Mord gelangen, beziehungsweise in welchen Abständen müssen wir den Massenmord wiederholen, um die Idee am Leben zu erhalten.“ (Nádas 2017, 621)
III Aufleuchtende Details ist auch eine literarische Familienaufstellung: Es sind zwei Frauen, die man als Portalfiguren des Buches bezeichnen kann. (Als „Portalfiguren“ bezeichnete Peter Weiss in seiner berühmten Erzählung Abschied von den Eltern am Beginn seines Textes die Eltern; vgl. Weiss 1961) Bei Nádas sind es die Mutter Klara Nádas und die Schwester des Vaters, Magda Aranyossi, Péter Nádas‘ Tante, die nach dem Tod der Eltern eine wichtige Rolle spielt: als Vormund, als Korrektur- oder auch Beglaubigungsinstanz für die Kindheits-Erinnerungen des heranwachsenden Jugendlichen, als intellektueller Reibebaum für ihn. Diese beiden Frauen retteten während der Belagerungszeit Juden und Kommunisten das Leben, ständig bedroht von Verhaftung und Folter. Aber auch ihre Geschichte ist geprägt vom Verrat an den eigenen Idealen in den Jahren nach 1945. Als – wiederum – weibliche Gegenfigur fungiert die Großmutter mütterlicherseits, die die ostjüdische Orthodoxie verkör-
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pert; sie bleibt allen anderen Familienmitgliedern fremd, auch ihr Enkel muss sich anstrengen, diese Stammeszugehörigkeit anzunehmen (vgl. Nádas 2017, 399). Um die Mutter und die Tante, die im Widerstand Unfassbares leisten und ertragen, gruppieren sich die Männer: der Vater Lászlo, ebenfalls Teil der Widerstandsbewegung während des Krieges, ein Fernmeldetechniker, der seinem kleinen Sohn die physikalische und chemische Welt erklärt und auch sonst auf alles eine Antwort weiß, bis er nach und nach verstummt. Auch er geht am Widerspruch zwischen den eigenen Erfahrungen und Idealen und der Parteidoktrin, die in stalinistischen Terror mündete, zugrunde. In der Tatsache, dass Nádas 1942 als Sohn kommunistischer Widerstandskämpfer mitten im von den faschistischen Pfeilkreuzlern terrorisierten und ab Herbst 1944 von der Sowjetarmee belagerten Budapest geboren wurde, steckt selbst schon ein ganzes Bündel an Widersprüchen. Die Mutter stammte aus kleinbürgerlich-proletarischen Verhältnissen, der Vater aus gutbürgerlichen. Die Ideale der illegalen kommunistischen Bewegung brachten die beiden zusammen. Das jüdische Paar ließ den Sohn in einer reformierten Kirche taufen, erzog ihn jedoch atheistisch. Erst mit acht Jahren wurde Nádas auf sein hartnäckiges Nachfragen hin mit seinem Jüdischsein konfrontiert, auf ziemlich brutale Weise, durch den Blick in den Spiegel und den elterlichen Hinweis, wenn er die Juden hasse und einen sehen möchte, dann hätte er jetzt einen vor sich. Es ist eines der biografischen Schlüsselerlebnisse, die Nádas in den Aufleuchtenden Details erzählt (vgl. Nádas 2017, 497). Nach dem Krieg machten die Eltern im kommunistischen Machtapparat Karriere, die Villa der Familie lag ganz in der Nähe der Villa des berüchtigten stalinistischen Generalsekretärs der Kommunistischen Partei und ungarischen Ministerpräsidenten Rákosi. Enge Freunde und Weggefährten aus dem Widerstand wurden abgeholt, gefoltert und hingerichtet. Die Mutter starb bereits vor dem Volksaufstand von 1956, der Vater wurde Gegenstand von Verdächtigungen. 1958, als seine Rehabilitierung eingeleitet wurde, beging er Selbstmord. Schwerwiegend ist die Unfähigkeit oder auch der Unwillen der Eltern, sich den stalinistischen Terror einzugestehen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Noch in seinem Abschiedsbrief bittet der Vater die Partei um Verzeihung. Der Mann der Tante Magda, Pál Aranyossi, Mitbegründer der KP Ungarns, in Paris Herausgeber der kommunistischen Zeitschrift Regards mit Beiträger:innen von Anna Seghers über John Dos Passos, Egon Erwin Kisch bis zu André Gide oder Isaak Babel, ist ein begabter Übersetzer und Journalist und in diesen Rollen wie als Büchermensch ein Vorbild für seinen Neffen Péter Nádas. Er wurde in Paris verhaftet und nach Le Vernet gebracht, eines der französischen Internierungslager am Fuße der Pyrenäen, das sich nach der Besetzung auch der sogenannten freien Zone durch deutsche Truppen mit Kommunisten und Juden füllte. Die Spurensuche nach diesem Lager und seinen ungarischen Häftlingen ist ein eigenes Buch in diesem
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Buch des Terrors. Nádas beschreibt den Lageralltag, die Einteilung in kriminelle und politische Häftlinge, die Verdrängung dieses Unrechts aus der kollektiven Erinnerung der Franzosen und der westeuropäischen Öffentlichkeit. Die vom Vater als pädagogische Mission betriebene Aufklärung über die physikalischen Zusammenhänge der Welt stehen in Spannung zur Phantasie und zum naiven Forschergeist des Kindes, die sich vor allem im Misstrauen gegen die sprachlichen Kodifizierungen der Erwachsenen zeigen. Der keine Einschränkungen duldende kindliche, phantasiegeleitete Forschergeist ist mit der exakten und jedes Detail wendenden Recherche des Erwachsenen verbunden. Das Nachdenken über Strukturen, die den Bau der gesellschaftlichen und der natürlichen Welt, aber auch den Aufbau der Literatur begleiten, ist vielleicht auch in Nádas‘ abgebrochener Ausbildung in technischer Chemie begründet; das Interesse an visuellen Eindrücken und ihrer Übersetzung in Sprache ist aus seiner Ausbildung zum Fotografen ableitbar. Nádas arbeitete Anfang der 1960er Jahre als Fotoreporter und veröffentlicht bis heute Fotobücher.
IV Aufleuchtende Details besteht aus zwei Kapiteln, die das Buch fast exakt in zwei Hälften teilen und die jeweils einer der beiden Lebenskatastrophen von Péter Nádas gewidmet sind: der Belagerung Budapests und dem Terror im Zuge der Machtergreifung der Kommunisten nach 1945. Das erste Kapitel beginnt mit der dampfenden Mittagssuppe auf dem Tisch der Großeltern mütterlicherseits und einem Porträt des Großvaters, es endet nach ungefähr 650 Seiten mit weiteren Suppenszenen, genauer Suppenschüsseln, die von den männlichen Familienmitgliedern an die Wand geworfen werden: „Das mit der Suppenschüssel war während anderthalb Jahrhunderten so etwas wie das Maß des männlichen Benehmens. Die obligatorische männliche Kraftmeierei vor den Frauen und zum Schaden der Frauen.“ (Nádas 2017, 653) Die Schwestern des Vaters geloben sich gegenseitig, „nur einen kleinen, feinen, klugen und hässlichen Mann zu heiraten“ (Nádas 2017, 653). Eben einen, der keine Schüsseln an die Wand schmeißt. Die Setzung von Motiven erfolgt keineswegs zufällig, sie ist Teil einer größeren Struktur. Das zweite Kapitel beginnt mit einer Reflexion über die unmögliche Fiktionalisierung des Massenmordes: Erzählung bedingt Individualisierung, die vielen Ermordeten lassen sich nicht erzählen, sie haben keinen Namen, kein Gesicht, keine Eigenschaften, kein individuelles Schicksal. Dieses Kapitel endet mit einer weiteren Reflexion über das Wesen des ungarischen Volksaufstandes mit dem bereits erwähnten Fazit, dass die westlichen Demokratien den Status quo des Kalten Krieges einem sozialistischen Experiment mit Selbstverwaltung und Selbstregie-
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rung der Arbeiter vorzogen, aus Angst vor der Revolution und vor dem Atomkrieg. Teil 1 beginnt und endet mit einer Alltagsbeobachtung, Teil 2 beginnt und endet mit grundlegenden historischen und poetologischen Überlegungen; beides gehört zusammen. Der letzte Satz des Buches lautet „Tut mir leid“ (Nádas 2017, 1278), im Sinne von „ich kann nicht anders“; hier bezogen auf die Schwächen auch der liberalen Demokratie, von denen sich der Erzähler nicht einfach abwenden kann und will, Schwächen, die sich in der Haltung zum ungarischen Volksaufstand zeigten. Das lakonische „Tut mir leid“ steht am Ende der Memoiren eines Erzählers, dessen Leben im „Zeichen eines zweimaligen Verblutens“ (Nádas 2017, 1278) stand. Man kann dieses „Tut mir leid“, das so ganz beiläufig am Schluss steht, mit dem letzten Satz von Hermann Brochs Anfang der 1930er Jahre entstandener Trilogie Die Schlafwandler in Zusammenhang bringen, einem der zentralen Romane nicht nur der österreichischen Moderne. Nach einer vielschichtigen Analyse des Nichts, des Wertevakuums, das zur Katastrophe des Ersten Weltkriegs führte, stehen bei Broch als Abschluss die Sätze: „Tu dir kein Leid! Denn wir sind alle noch hier!“ (Broch 1978, 716) Es sind die Worte des Apostels Paulus aus der Apostelgeschichte des Neuen Testaments, die Trost und Hoffnung spenden. Für den nachgeborenen Erzähler Nádas, der zwei Katastrophen er- und überlebt hat, gibt es keine solche Verheißung mehr. Es fehlen zu viele. Eine Leerstelle bildet nicht die Diktatur, an ihrer Beseitigung haben gerade viele Schriftsteller:innen jahrzehntelang mitgearbeitet, leer bleiben nach ihrem Untergang vielmehr weiterhin Begriffe wie Freiheit und Solidarität, oder sie werden in populistischer Weise missbraucht wie im gegenwärtigen Ungarn. Nádas lesen lehrt, nicht nur Phänomene wie Nationalismus, Rechtsextremismus oder die Korrumpierbarkeit von Idealen zu sehen, sondern auch die langfristigen Prägungen, die dahinterstehen. Das Werk konturiert die mentale Biografie Mitteleuropas im 20. und 21. Jahrhundert. Aufleuchtende Details dokumentiert die Entwicklung eines Schriftstellers, der in einem an klösterliche Exerzitien erinnernden Schreibprozess die Summe seiner Lebens-, Körper- und Schreiberfahrung gezogen hat.
Literaturverzeichnis Broch, Hermann. Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie. Hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978. Kovačič, Lojze. „Das Zusammenfügen der Splitter“. Übersetzt von Janko Ferk. Der Standard [Album], 8. 11. 2003. Kovačič, Lojze. Die Zugereisten. Eine Chronik. Drei Bände. Aus dem Slowenischen übersetzt von Klaus Detlef Olof. Klagenfurt: Drava, 2004–2006.
Anatomie des Terrors
Nádas, Péter. Aufleuchtende Details. Memoiren eines Erzählers. Aus dem Ungarischen übersetzt von Christina Viragh. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2017. Weiss, Peter. Abschied von den Eltern. Erzählung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1961.
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„Und dann haums es g’schnittn. […] Die Eier. G’schnittn. / Dass koane Saubärn werdn.“ Utopisches und dystopisches Potenzial in Ewald Palmetshofers sauschneidn In einem 2014 geführten Gespräch mit dem Intendanten Andreas Beck, der ihn zu Beginn seiner Karriere als Hausautor am Schauspielhaus Wien engagiert hatte und 2019/20 als Dramaturg ans Residenztheater München holen sollte, erläutert der Erfolgsdramatiker Ewald Palmetshofer seinen künstlerischen Zugang als work in progress, bei dem die eigentliche Textarbeit nur als Vorstufe eines über das rein Literarische hinausgehenden kollektiven kreativen Prozesses verstanden wird: Das „dramatische“ Schreiben würde ich als ein Schreiben definieren, das eine klare Zielrichtung hat, nämlich die Bühne. Es ist Schreiben, das seine Zukunft noch vor sich hat. Im Gegensatz zum Begriff „Gegenwärtigkeit“ würde ich sagen: es ist Schreiben, das seine Gegenwart in seiner zukünftigen Rezeption, als Arbeit auf der Bühne, findet. Das ist für mich der eigentliche Kern. (Palmetshofer und Beck 2015, 158)
Diese Zielrichtung hin zum Performativen implementiert schon in den Akt des Schreibens ein starkes Moment des Utopischen (bzw. Dystopischen), das über das rein Inhaltliche hinausgeht. Die „Antizipation des Zukünftigen“, das nach Wilhelm Voßkamp „den Wunsch nach einer langfristigen und zumindest annäherungsweisen Realisierung des utopisch Vorweggenommenen entstehen“ (2020, 42) lässt, wird hier als Ermöglichungsstruktur für potenzielle theatrale Umsetzungen gedacht, in denen das Zukünftige jeweils neu interpretiert werden kann. Pointiert führt Palmetshofer in diesem unter dem Titel Das Performative (nicht)schreiben veröffentlichten Dialog weiter aus: „Die Texte sind durchdrungen von dem Wissen, dass sie als Texte am Papier überhaupt nicht funktionieren und, wenn sie nicht gespielt werden, auch das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrieben stehen.“ (Palmetshofer und Beck 2015, 158) Dass diesem Verdikt des Theaterpraktikers Palmetshofer – das er in der Folge mit dem Hinweis auf die Dualität von Material und performativer Umsetzung ohnehin abschwächt – aus literaturwissenschaftlicher Sicht nur bedingt zugestimmt werden kann, möchte der vorliegende Beitrag zeigen. Am Debütstück des Theaterautors Palmetshofer soll herausgearbeitet werden, wie das utopische und dystopische Potenzial bereits im Dramentext angelegt ist, um später durch den Zugriff von Regie und Schauspieler:innen in etwas Neues, Gehttps://doi.org/10.1515/9783111205809-020
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genwärtiges transformiert werden zu können. Lohnenswert scheint dabei vor allem der Blick auf die Sprach- und Figurengestaltung des Stückes. 1978 in Linz geboren, wuchs Ewald Palmetshofer im beschaulichen Mönchdorf im oberösterreichischen Mühlviertel auf. In der Provinz von wichtigen Zugängen zum Kulturbetrieb abgeschnitten, entdeckte er erst im Zuge seiner Studien der Theaterwissenschaft und Germanistik in Wien seine Leidenschaft für die Bühne, die ihn auch nach seinem Wechsel zum Lehramtstudium Philosophie/Psychologie und Theologie nicht mehr losließ. 2005 debütierte er mit sauschneidn. ein mütterspiel, für das er den Retzhofer Dramapreis zugesprochen bekam. Recht bald erregte er auch Aufmerksamkeit jenseits der österreichischen Grenzen; so wurde 2007 sein zweites Stück helden in einem Off-Theater am New Yorker Broadway gegeben. Nicht zuletzt die intensive Beschäftigung mit den Ethikkonzeptionen Jacques Lacans, Slavoj Žižeks und Alain Badious (vgl. Palmetshofer 2008) führte zu einer formalästhetischen Weiterentwicklung seiner Figurensprache hin zum Monologischen, ohne dass die Spiellogik dabei aufgehoben werden würde, wie sich etwa in hamlet ist tot. keine schwerkraft zeigt, mit dem er erstmals zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen wurde und das 2008 mit dem Nestroy-Theaterpreis prämiert wurde. Seither folgten viele Preise und Erfolge, so wurde er u. a. in einer Kritiker:innenumfrage von Theater heute als Nachwuchsautor des Jahres 2008 ausgezeichnet, 2015 erhielt er für die unverheiratete den Mülheimer Dramatikerpreis, 2018 folgte der Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis und 2019 der Gert-Jonke-Preis.¹ Sein prämiertes Debütwerk sauschneidn überarbeitete der Autor gemeinsam mit Dieter Boyer als „Autoren-Regie-Team“ (Palmetshofer 2009, 2) für die Uraufführung am Theater am Lend in Graz 2009. Diese Fassung dient auch der hier versuchten Analyse als Textgrundlage. Zu diesem Text konstatiert Manfred Jahnke, dass er „schon alles [hat], was einen Palmetshofer ausmacht: eine hochartifizielle Sprache, eine äußerst knappe Handlung, die scheinhaft naturalistisch, aber von hohem symbolischen [sic] Gehalt ist“ (Jahnke 2015). Gerne wird in der Forschung auf die archaischen Konfliktkonstellation seiner Stücke hingewiesen, die „oft Variationen pathologischer Beziehungen [zeigen], mit Vorliebe innerhalb der Familie. Generationenkonflikt, Inzest,Vergewaltigung und Mord sind die Motive, die seit der Antike das Theaterpublikum faszinieren“ (Virant 2015, 237). Bereits für sauschneidn gilt, was Špela Virant als Konstante in Palmetshofers Dramen benennt, nämlich dass
Vgl. zur Biografie z. B. Peter Schneeberger. „Kopfgeburten. Porträt“. Profil 47 (2007): 150; Helmut Schödel. „Eine Epoche bitte! Ewald Palmetshofer ist der Antibluffer unter den jungen Stückeschreibern – ein Porträt“. Süddeutsche Zeitung 109 (10., 11., 12. 5. 2008): 15. Wolfgang Kralicek. „Erst denken, dann schreiben“. Falter 6 (2008): 61. Ewald Palmetshofer. „S. Fischer TheaterMedien“. https:// www.fischer-theater.de/theater/autor/ewald-palmetshofer/t4156670 (11. November 2022).
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es bei den Figuren „nur Verlierer [gibt], die gleichzeitig Opfer und Täter sind“ (Virant 2015, 232). Daniela Riepe beobachtet in Bezug auf die Figuren weiters einen existenzielle[n] Grundkonflikt: Was sie antreibt, ist die Suche nach einem Handlungsansatz, nach Möglichkeiten des Eingreifens, um den Stillstand zu überwinden und eine Veränderung zu erzwingen. Somit lässt sich der Wunsch nach Unterbrechung, nach etwas Neuem als wiederkehrendes Motiv in Palmetshofers Texten ausmachen. Doch gelingt diese Veränderung häufig nicht bzw. nimmt die Suche nach einem Handlungsansatz oft einen katastrophischen Ausgang für die Figuren. (Riepe 2014, 200)
Dieses ständige Scheitern der Selbstermächtigung konterkariert das Modell der seit der Aufklärung beliebten literarischen Zeit-Utopien, die Entwürfe anbieten, „in denen sich das einzelne Subjekt im Blick auf Zukunft entwickeln und selbst vervollkommnen kann“ (Voßkamp 2020, 42). Palmetshofer kreiert vielmehr Figuren des „Post-Utopischen“, die „keine höhepunktartige, abschließende Zukunft, die etwas Neues hervorbringen würde, mehr denken [können]“ (Palmetshofer und Beck 2015, 160). sauschneidn ist ein sehr kompakter, komprimierter Text, der insgesamt 15 Szenen umfasst. Der Nebentext ist kurz gehalten und vermittelt Informationen zu einzelnen Handlungen, Auf- und Abtritten von Figuren. Die gespielte Zeit erstreckt sich auf etwas mehr als 24 Stunden, das Stück beginnt am Abend und endet in der Nacht des darauffolgenden Tages. Auch die räumliche Gestaltung orientiert sich am klassischen Drama, Schauplätze sind vor allem die Küche sowie das Schlafzimmer im bäuerlichen Milieu. Ob es sich bei „Hansis Zimmer“ (Palmetshofer 2009, 32) um ein separates Zimmer oder das Schlafzimmer, das sich die beiden Protagonistinnen teilen, handelt, geht aus dem Text nicht hervor. Drei Figuren tragen die Handlung: Hansi, „die älteste der drei Frauen, gut 50“, Rosi, „jünger als Hansi, knapp 40“, und ‚Sie‘, eine „Frau unbestimmten Alters“ (Palmetshofer 2009, 2), die immerhin in sechs Szenen auftritt und sich als tragend für Handlung und Informationsverteilung erweist. Doch zunächst zu den leichter fassbaren Figuren: Hansi ist Rosis Schwiegermutter, mit deren Sohn Karl sie verheiratet ist. Die beiden haben ein sehr nahes Verhältnis, teilen sich meist gar das Bett, doch liebevoll ist die Beziehung zwischen den beiden keineswegs. Schon das Frisieren gestaltet sich als qualvolle Angelegenheit: „Mei Kopfhaut. Die brennt schau. […] Muatta. Då kriag i Kopfweh. / Des reißt. […] Au! Muatta! / Pass auf a weng! / Des sticht“ (Palmetshofer 2009, 3 u. 4). Rosi hilft in der Nebenerwerbslandwirtschaft mit („Jetzt geht beud die Stoaglauberei wieda au“, „Der huans Åcka. Da keman Stoana außa, so groß wia Kindskepf.“ – Palmetshofer 2009, 4 u. 18) und ist Hausfrau, die für ihren Mann kocht und Ordnung hält. Der Mann bzw. Sohn, Karl, von den beiden Frauen als „Sau“ oder „Saubär“ bezeichnet, ist unzuverlässig und vor allem gewalttätig. Enttäuscht von der unglücklichen Ehe und der tyrannisch
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agierenden, aber Fürsorge vorgaukelnden Schwiegermutter sucht Rosi Trost und Zuflucht im Alkohol: „I tring net, Muatta. I sauf. / Saufen tua i. Wia a Loch sauf i.“ (Palmetshofer 2009, 6). Zunächst lässt sie allerdings die Nähe zu Hansi noch zu, von der sie „Prinzessin“ genannt wird. Hansi ist durch und durch zwiespältig, ihr ist nebensächlich, wenn sie Rosi Schmerzen zufügt, sie unterdrückt und hintergeht, gleichzeitig täuscht sie vor, sich für Rosi einzusetzen. Exemplarisch verdeutlicht dies eine Szene, in der Rosi verzweifelt auf die Heimkehr des Mannes wartet, während Hansi über ihre und eigene Versäumnisse im Umgang mit Karl räsoniert: Woaßt, mei Dirndl. Wannst du nur mei Tochta wast. Daunn. I hätt’s net so weit kumma låssn. Woaßt, i woit oiwei. A Prinzessin hätt i g’måcht aus ihr. Und aus dir mocht mei Bua a Hua. […] Rosi, gnuag is! […] Aus mein kloan Fackerl is a Saubär woan. […] I kaunn nix dafür. Übersehn hob i’s. […] G’schnittn g’hört a! […] Woaßt, wia brav der daunn wurdt?! Dann war a Ruah mit seiner Huararei! Mit seine Schläg! Mit die Schläg! (Palmetshofer 2009, 7 u. 9)
Karl scheint demnach nicht nur Rosi, sondern auch seine Mutter zu schlagen oder zumindest vor Gewaltanwendung gegen beide Frauen nicht zurückzuschrecken. Rosi verstören die Pläne der Schwiegermutter – „Vasündigen tatst di. Gegen dei eigen Fleisch und.“ (Palmetshofer 2009, 10) – sie will sich zunehmend von Hansi und ihrem strengen Regime im Haus abwenden. So verweigert sie zunächst den alltäglich servierten Sterz und widersetzt sich den Anweisungen, worauf Hansi Rosi mit Liebesentzug droht, was in ihrer Welt bedeutet, dass sich Rosi nicht mehr zu ihr ins Bett legen darf. Stattdessen kümmert Hansi sich um Karl und wäscht ihrem Sohn beispielsweise den Rücken. Als Rosi nach einer durchzechten Nacht beschwipst heimkehrt, wird sie von Hansi gemaßregelt, weil sie vergessen hat, die Kühe im Stall zu versorgen. Rosi wiederum wirft ihr ihre Loyalität zum Sohn vor und berichtet von Hermann, mit dem sie sich trifft. Als Hansi sie daraufhin zum Sterzessen zwingen will, weigert sich Rosi, bis es zu Handgreiflichkeiten kommt. In der Nacht allerdings ist Rosi wieder ihre Prinzessin mit den schönen Haaren, ihr Schneewittchen und Dornröschen („Dornröschen war ein schönes Kind […]. Da kam der
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junge Königssohn –“ – Palmetshofer 2009, 29). Rosi gesteht ihr, gewusst zu haben, worauf sie sich bei der Eheschließung mit Karl eingelassen habe, dass dieser nämlich kein Prinz sei, und stellt klar: „I bin ka Prinzessin“ (Palmetshofer 2009, 30), assoziiert dann aber im schiefen Standarddeutsch weiter: „Es war einmal eine Prinzessin. / Eine Prinzessin, die was eine Sau geheiratet hat.“ (Palmetshofer 2009, 31) Das Prinzessinnen- bzw. Märchenmotiv wird über den gesamt Textverlauf immer wieder bemüht. Am nächsten Tag erzählt Hansi ihrem Sohn von Hermann, wie gutaussehend und gebildet dieser ist („Der is schau a Fescha. Und g’scheit is a.“), wie gut Rosi ihn kennt („B’sundas guat sogoa.“) und dass die beiden sich treffen. Gleichzeitig führt sie ihm seine eigenen Unzulänglichkeiten vor Augen: „Karl, du. DU kennst di net so aus. / Kennst di net so aus mit die Weiba.“ Sie betont, dass Rosi kein Hund sei, den er schlagen könne, sondern: „Die Rosi håt an Stoiz. Wia a Ros’. […] So a Ros’, Karl. Da nutzn kane Schläg. […] So a Ros’ wie die Rosi, so a Ros’, des muaß ma zuareidn“ (Palmetshofer 2009, 33 u. 34). Im Anschluss wird über die ‚Sie‘-Figur vermittelt, dass Rosi von Karl nicht nur geschlagen, sondern auch vergewaltigt wird. Angewiesen auf ihre Fürsorge („Schau da des au. Gaunz voi bist. […] Du gehst di bådn und i wisch des zaum. / Und daunn koch i da wås. / Und daunn kummst zu mia“), scheint Hansi Rosi nun in der Hand zu haben: verletzlich, bedürftig und hilfesuchend. Diese jedoch wendet sich endgültig von der Schwiegermutter ab („Her auf. / Lås mi! / Muatta, mir graust’s vor dir“), die sie verzweifelt mit einem „Åba die Sau g’hert [g’]schnittn!“) zum Bleiben zu bewegen versucht. Das scheint wohl ihr Sohn gehört zu haben, denn in Hansis letzter Replik wimmert sie: „Karl, wås tuast denn du då? / I hau ma. / Karl!“ (Palmetshofer 2009, 37 u. 39) Die 15. und letzte Szene zeigt Rosi mit einem Säugling an der Brust: „Tua sche tringa. / Sonja. / Tua sche tringa / Mei Prinzessin“ (Palmetshofer 2009, 41). Findet das Drama hier doch noch ein utopisches Happyend? Rosi könnte sich von der tyrannischen Familie losgelöst haben und behandelt ihr Kind (von Karl oder Hermann?) nun mit jener Zärtlichkeit, die sie selbst gerne erfahren hätte. Doch ruft die Bezeichnung ‚Prinzessin‘ auch dystopische Assoziationen hervor: Rosi war Hansis Prinzessin, nun ist Sonja Rosis Prinzessin und die Spirale der (Selbst‐)Zerstörung, Gewalt und Aggressivität dreht sich wahrscheinlich unaufhörlich weiter. Spannend ist die dritte Rolle des Stückes, ‚Sie‘, „deren dramaturgische Funktion im geheimnisvollen Vagen bleibt. Mal tritt sie als erzählende Kommentatorin der Handlungen auf, mal als Sprecherin aller Unterdrückten dieser Welt, mal sitzt sie inmitten des Geschehens“, wie Jahnke (2015) es zusammenfasst. ‚Sie‘ ist eine symbolische Funktionsfigur, die im Handlungskonnex nicht einzuordnen ist. Das beginnt schon bei der Sprache: Gemeinsam ist allen Sprechenden das mitunter derbe Vokabular; im Gegensatz zu Rosi und Hansi, die ausgeprägt oberösterreichischen Dialekt sprechen, spricht ‚Sie‘ jedoch zumeist monologisches Standard-
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deutsch. Syntax und Grammatik werden dabei kaum eingehalten, eine (abschließende) Interpunktion fehlt, die blockartigen Passagen werden mittels Kommata oder Kola gegliedert, der Gesang über Strophen und Verszeilen. Ein Charakteristikum des palmetshoferischen Schreibens ist nach Jitka Pavlišová die „perfekt entwickelt[e] Form der dramatischen Rede, in der die fragmentarischen, wenig aussagekräftigen Dialoge in Opposition zu den umfangreicheren philosophierenden Monologen stehen“ (Pavlišová 2014, 121). Im Zwiegespräch von Hansi und Rosi manifestiert sich das Scheitern der Kommunikation, der Verlust des Dialogischen im eigentlichen Wortsinn als eines durch Worte geschaffenen Miteinanders. Die einzelnen Äußerungen mit ihren auffälligen Redundanzen, Aposiopesen, Ellipsen und anderen rhetorischen Mündlichkeitssignalen lassen – und da steht Palmetshofer durchaus in der Tradition des kritischen Volksstücks Horváths, Fleißers oder Brechts – Sprachmächtigkeit vermissen. Die knappen Dialoge bestehen „nur aus banalen, nichtssagenden Worten, ständig sich wiederholenden Floskeln und Klischees, welche die totale Leere der Kommunikation widerspiegeln und symbolisch auf die Degeneration des menschlichen Subjekts verweisen“ (Pavlišová 2014, 128). Lediglich den episierenden Monologen mit ihrer rhythmisierten Prosa wohnt reflexives Potenzial inne. Sie sind die innovative Zutat des Stücks, nicht nur als kommentierende Einblendungen einer der Handlungswelt enthobenen Erzählstimme, die sich von den sozialvoyeuristischen Szenerien à la Kroetz, Sperr oder Fassbinder abhebt. Auch die Sprache selbst, der metrische Fluss mit seinen „syntaktischen Stolpersteinen“ (Neuhuber 2020, 106), bringt einen neuen, dennoch traditionsgebundenen Ton auf die Bühne, den – wie Andreas Beck meint – für Palmetshofer „typische[n] Sound“ (Palmetshofer und Beck 2015, 160) von hoher Suggestivität. Wohl zu Recht identifiziert Christian Neuhuber (2020, 106) auch in Ferdinand Schmalz’ am beispiel der butter, das acht Jahre nach sauschneidn mit dem Retzhofer Dramapreis prämiert wurde, das ‚Palmetshoferische‘ so mancher Figurenrede als eine in sauschneidn eingeführte Modifizierung des Blankverses. Das Gros der monologischen Repliken der enigmatischen dritten Figur, die im Personenverzeichnis als ‚Sie‘ eingeführt wird, hat kommentierende Erzählfunktion, die expositorisch Vergangenes nachreicht, Ungesagtes konkretisiert oder Gesagtes ausdeutet. Auch Pavlišová sieht in den Monologen das zentrale Element der Dramen Palmetshofers, „die wesentlichen philosophischen ‚Disputationen‘ […], in denen sich mittels einzelner Figuren meistens der Autor selbst und seine Meinungen zur Problematik widerspiegeln“ (2014, 127). Als nicht näher umrissene ‚dritte Frau‘ des Dreipersonenstücks könnte die Sprechrolle genauso gut als 3. Person Plural des Personalpronomens verstanden werden, ein ‚Sie‘, das für ‚alle‘ steht, für ein (weibliches) ‚Wir‘, nicht allein für ein Individuum. In ihren Monologen übt/üben ‚Sie‘ scharfe Gesellschaftskritik, spricht/sprechen ‚Sie‘ beispielsweise vom harten Leben der „Verlierer-Unterklassen-Schicht“, deren einziges Handlungspotential
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„leere Drohungen“ seien. Auch diese Replik nimmt das Märchen-Motiv wieder auf, wenn mit „und wenn ich nicht gestorben bin, dann leb ich immer noch“ (Palmetshofer 2009, 28) ein Happyend anzitiert und letztlich dekonstruiert wird: Denn die Mühen, das Leid und der nicht vorhandene Handlungsspielraum scheinen sich ins Unendliche zu perpetuieren. So bleibt auch offen, ob ihre letzte Replik ein utopisch-revolutionäres oder doch dystopisches Moment birgt, wenn die bekannteste Märchenformel gleichsam umgekehrt ins Zukünftige ein Befreiungsszenario entwirft: „es wird einmal, könnt durchaus sein, dass nicht nur ich und ich und ich, dass viele andre kommen, ihren Körpern dann erlauben ganz ich selbst zu sein, / da muss wer Haare lassen […].“ (Palmetshofer 2009, 40) Als personifizierter Neben- bzw. Paratext bietet die ‚Sie‘-Figur großen Spiel- und Freiraum für die inszenatorische Auslegung, da sie sich vorrangig an das Publikum wendet, von den anderen beiden Figuren aber nicht wahrgenommen wird und auch nicht mit ihnen interagiert – mit einer Ausnahme: ‚Sie‘ ist nämlich trotz weiblichen Pronomens so offen, unbestimmt und genderfluid, dass sie in Szene 5 zunächst Hansis Handeln und Sprechen kommentiert, um dann Redeanteile von Karl im autonomen Zitat zu übernehmen. SIE:
da zuckt sie mit den Schultern kurz, den Löffel in der Hand, geht langsam wieder in die Pfanne, rührt, damit nix anbrennt, rührt und kratzt, am Pfannenboden, Bodensatz, und hätt’ auch Wurst gegeben, sagt sie, Wurst und Erdäpfel, ein Saufraß, scheiß drauf, weil der Mensch, das Schwein, ein Allesfresser ist der Mensch, das Schwein, frisst alles, Mensch und Schwein wahrscheinlich hat die Eva ihrem Adam, als sie ihm den Apfel, war wahrscheinlich nur ein Erdapfel, den sie dem Schwein, denkt sie, da hört sie was, die Sau, liegt drüben in der Wanne, schreit und plärrt, liegt in der Wanne, nackig, schreit, he, Rosi, Rosi HANSI: (schreit) Die is nu amoi außi gaunga, Kårl. SIE: Wås? HANSI: (schreit) Kårl, außi is’! SIE: Wieso? Kimmt’s nimma bådn, oder wås? (Palmetshofer 2009, 20)
Nach dieser Szene, in der Hansi ihrem Sohn den Rücken wäscht, tritt ‚Sie‘ das erste Mal singend auf. Der Gesang im Duktus eines Kinderlieds verbalisiert Hansis Kastrationsphantasie: „schwimmt das Schwänzlein / von dem Schweindi / schwimmt im Wasser / Schwanz und Schweindi // […] Dreck und Schweindi / in der Wanne / ist ein Sautrog / drinn’ das Schweindi / bald das Schwänzlein / schwimmt alleine“ (Palmetshofer 2009, 22 u. 23). Dem infantilisierten Entmannungsmotiv wohnt das utopische Moment einer Lysis des gewalttätigen Alltags inne, das Hoffnung auf Freiheit, Emanzipation und Frieden verspricht, die Gräuel der Handlung aber auch banalisiert. Selbst von der Vergewaltigung und Misshandlung Rosis erfahren wir lediglich aus diesem Singsang:
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fährt das Schwänzlein von dem Schweindi fährt ins Röschen Schwanz und Schweindi […] und die Faust in die Visage in das Augi auf die Fresse […] sieht das Schlagen hört das Treten hoch die Fäuste breit die Beine kocht die Wut und wird ein Rasen Bauch und Schläfen platzt die Ader […] (Palmetshofer 2009, 35)
Karl ist die große Leerstelle im Text und dennoch allgegenwärtig – obwohl er als eigenständige Figur nie auftritt, weiß das Publikum viel über ihn. Er wird vor allem von Hansi als dumm beschrieben (vgl. insb. Szene 11), sein Umgangston ist rau („In Bugl soist ma wåschn. […] Tua weida. / Und a Untahosn brauch i a!“ – Palmetshofer 2009, 20 u. 21), er ist in einem sehr traditionalistischen und altmodischen Sinne der ‚Herr im Haus‘, der sowohl Mutter als auch Ehefrau nicht nur sekkiert, sondern auch schlägt und hart arbeiten lässt (bei der Arbeit am Feld muss Rosi beispielsweise die Steine aus dem Acker klauben, während er am Traktor sitzt), weil er neben der Landwirtschaft noch im Schichtdienst arbeitet. Karl steht als dominanter ‚Saubär‘ im Gegensatz zu den verschnittenen Ebern, die schon in den ersten Lebenstagen kastriert werden und für die Mast bestimmt sind. Unkastrierte Eber sind für die Zucht und bewahren sich ihr aggressives Verhalten. Hansi erklärt sich Karls rohes und brutales Verhalten mit der unterlassenen Kastration, die sie nun nachholen möchte. Die Charakterisierung der Figuren gestaltet sich zusammenfassend als komplex. Sie haben zwar Namen, Alter, eine eigene Geschichte und bestimmte Wesenszüge, sind jedoch nicht als Charaktere im klassischen Sinne zu bewerten, da sie eher typenhaft bleiben und als pars pro toto Stellvertreter:innenfunktion übernehmen (vgl. Pavlišová 2014, 124). ‚Sie‘ näher zu bestimmen, ist schwierig. Manfred Pfisters bekanntes Analyseinstrumentarium etwa ist hier nicht anwendbar; zu diffus, ambig und offen ist die Figur, als dass sie über das strukturalistische Binaritätsmodell fassbar wäre. Gemeinsam ist den Figuren das Gefühl der Ausweglosigkeit, es scheint ihnen – wie in so vielen späteren Texten Palmetshofers – „von vornherein jede Chance genommen worden zu sein, denn ihr Scheitern ist strukturell vorprogrammiert“ (Riepe 2014, 209).
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Dieses prädisponierte Scheitern der Figuren fügt sich in den gesellschaftskritischen Kontext des Stücks. Patriarchat, Landwirtschaft im Nebenerwerb und die daraus resultierende Doppelbelastung, Erwerbslosigkeit und damit Abhängigkeit der Frauen – all das sind Strukturen, in denen Menschen auf der Strecke bleiben. Das vielthematisierte Verschwinden des Mittelstandes, das durch ein neoliberales, kapitalistisches System befördert wird, soziale Unruhen oder Kriege haben spätestens in den 1990er Jahren den Aufschwung und auch den Fortschrittsoptimismus eingedämmt, wenn nicht gestoppt. So ist nicht zufällig seit diesem Zeitraum ein Anstieg der Dystopien zu verzeichnen: Das Überwiegen der Utopien oder Dystopien in einer geschichtlichen Periode spiegelt sehr gut die allgemeine Stimmung dieser Zeit wider. […] Am Anfang des 21. Jahrhunderts ist die politische und gesellschaftliche Lage alles andere als befriedigend und stabil, was in der dystopischen Phantasie seinen Ausdruck findet. (Zeißler 2008, 19)
Für Stauffer und Dziudzia ist die Dystopie im aktuellen Jahrhundert sogar zum „Mainstream“ (Stauffer und Dziudzia 2022, 7) geworden. Palmetshofers Text ist im Jahr 2023, also 18 Jahre nach seiner Entstehung aktuell wie eh und je. Gewalt gegen Frauen steht nach wie vor auf der Tagesordnung, das alltägliche Überleben gestaltet sich in Zeiten von Wirtschaftskrisen, Krieg und Inflation als immer schwieriger, gerade der sogenannte Mittelstand driftet zusehends ins Prekariat ab. Die Lebenssituation der Figuren, ein Mehrgenerationenhaushalt im ländlichen Milieu, spiegelt auch heute noch den Alltag vieler Frauen wider. Ihre Sprachohnmacht und Kommunikationsunfähigkeit verdeutlichen gleichsam allgemeingültig die Ausweglosigkeit ihrer Situation. Mag sein, dass Palmetshofer hier Erfahrungswerte aus dem peripheren Mühlviertel in seinen Text einfließen hat lassen, doch gestaltet sich das Leben am Land überall in Österreich ähnlich. Mit dem Wissen, dass sich auch fast zwei Jahrzehnte nach Entstehung des Textes nichts gebessert, wenn nicht sogar einiges verschlechtert hat, bleibt wenig Hoffnung auf eine positive Zukunft. Doch mit Thomas Macho lassen sich Utopien und Apokalypsen als „leuchtend helle und düstere Visionen der Zukunft“ verstehen, die eng miteinander verwandt sind. Mehr noch: „Der Weltuntergang bildet die Voraussetzung für die Imagination einer neuen, besseren Welt.“ (Macho 2022, 15) Vielleicht braucht es also nichts weniger als den Untergang der alten Weltordnung, um endlich Selbstbestimmung, Autonomie und Frieden für alle zu ermöglichen.
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Dystopie statt Psychoanalyse Kathrin Rögglas Nachtsendung (2016) Kathrin Rögglas Nachtsendung (2016, im Folgenden N) verführt dazu, einem prominenten Deutungsansatz zu folgen: dem der Psychoanalyse. Die zeitliche Verortung liegt in der Nacht, der Untertitel lautet Unheimliche Geschichten und auch die Umschlaggestaltung inklusive Klappentext mit dem Hinweis auf Albträume lenken das Leseinteresse in diese Richtung. Das Buch scheint dazu einzuladen, die traumartigen Verkehrungen und die unbewusste Tätigkeit des Seelenlebens zu sezieren, um Verdrängtes ans Licht zu bringen. Es bräuchte einiges an Resistenz, diese Fährte nicht aufzunehmen, auch weil die Psychoanalyse „eines der wirkmächtigsten Elemente unserer kulturellen ‚doxa‘“ ist (Eribon 2018, 24). Selbst bei unbefriedigenden Leseerlebnissen wird der beliebte Interpretationsrahmen nicht ausgetauscht, sondern Kritik formuliert. So wird bemängelt, dass die Figuren beim Lesen nicht vertraut werden (vgl. Schröder 2016) oder „das ständig herbeizitierte Unheimliche […] nur selten wirklich abgründig wird“ (Cerny 2016, 12). Um den Job des Analytikers gut zu erledigen, bedarf es selbstverständlich auch einer Geschichte, eines Traums als Korpus, der analysiert werden kann. Auch da verweigert sich Rögglas Buch: „Wenn ein Problem nur unzureichend und von den Endergebnissen her formuliert wird, kann es auch nur unzureichend von den Ausgangsproblematiken her durchdacht werden.“ (Teutsch 2017) Selbst die „psychologische Verstrickung“ geht ab (Teutsch 2017) und mit dem Suspense „vielleicht auch die Psychologie“ (Cerny 2016, 12) – so wird die Erwartung von Spannung und Gruseln gründlich enttäuscht (vgl. Teutsch 2017 und Cerny 2016, 12). Meine These ist, dass Kathrin Rögglas Nachtsendung mit dem psychoanalytischen Masternarrativ spielt, um dessen Diskursmacht und Expansionskraft zu kritisieren, denn: [d]ie Psychoanalyse funktioniert im hohen Maße wie eine „Ideologie des Selbst“, die dazu dient, dem Narzissmus der Intellektuellen zu schmeicheln – und gerade daraus zieht sie einen großen Teil ihrer gesellschaftlichen Macht. In jedem Fall herrscht sie in unserer Kultur wie eine Gebieterin des Diskurses und der Signifikanten: Sie ist die Gebieterin der Gebieter-Signifikanten, denen die politische Kritik kompromisslos entgegentreten sollte. (Eribon 2018, 25)
Die Nachtsendung kommt, so meine Deutung, dieser Forderung nach. Wie auch in anderen Texten sprengt Röggla Wahrnehmungsschemata und Ordnungsrahmen, die dem Material nicht gerecht werden können (vgl. Kormann 2017, 137). Hier ruft sie
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die „Gebieterin der Gebieter-Signifikanten“ auf, um sie als Hemmnisfaktor dringlicher Handlungsnotwendigkeit zu entlarven.
1 Subversion der analytischen Autorität Wahrnehmungsstörungen und Ängste, meist traumartig arrangiert und bevölkert mit Doppelgängerfiguren (vgl. Krauthausen 2019 und Szczepaniak 2021), evozieren Fragen nach Klärung: Ist der Donnerstag nur für Manuela Briese oder für alle verschwunden, handelt es sich um eine individuelle Störung oder eine Massenpsychose? (vgl. N, 47–52) Woher kommt die Gewissheit des Pärchens, dass ein durch das Kaffeehausfenster beobachtetes Kind, „[e]in letztes Kind seiner Art war“? (N, 188) Und welche Instanz bewertet Gert Joske-Schwerenbüchlers Sorgen, der sich vor einem Tribunal von Tieren oder Bakterien fürchtet, derweil die Ängste gar nicht an die Realität herankommen? Denn „[i]n Wirklichkeit waren es nämlich die Dinge, die sich auf den Weg machten. […] [U]nd ihre Art der Abrechnung würde umso vieles brutaler sein.“ (N, 280) Mit derartigen Unklarheiten wird eine zentrale Frage des dystopischen Genres, jene nach dem Grad des Realen und Wahrscheinlichen, gestellt, nämlich „ob die kreierte Welt wirklich so unheimlich ist, oder nur als solche wahrgenommen wird, möglicherweise als Projektion der Katastrophennarrative“ (Szczepaniak 2021, 214). Diese Frage wird in jeder Geschichte des Bandes von Neuem aufgeworfen und schließlich von einem auktorialen Erzähler, der die fokalisierten Figuren „regelrecht belauert“ (Krauthausen 2019, 177), beantwortet. Als überhebliche Erzählinstanz weiß sie um die Katastrophe, die später passieren oder passiert sein würde – eine konjunktivische Variante von Rögglas apokalyptischem Futur II – sie kann oder will aber nicht eingreifen. Völlig desavouiert wird ihre Autorität schließlich, wenn sich die gesamte Serie der unheilvollen Ereignisse als Chimäre entpuppt, wie die erzählerische Klammer nahelegt. Die Wartezeit im stillgestellten Flieger im ersten Text animiert zum Erzählen von Geschichten, die, im epischen Präteritum verfasst, allesamt eine apokalyptische Zukunft andeuten. Unerwartet endet das Buch in der Gegenwart, ohne dass eine Katastrophe passiert ist. Der Schlusssatz lautet: „Sie fahren los, starten, und es ist eigentlich so wie immer.“ (N, 283) Die Plausibilität einer solchen Lesart wird durch eine intertextuelle Bezugnahme zu Giovanni Boccaccios Decamerone stark gemacht (vgl. Pontzen 2019, 148 und 153–154) und damit für Deutungen fernab der „Gebieterin des Diskurses“ (Eribon 2018, 25) geöffnet. Statt nämlich die Unheimlichkeit auf die formale Struktur der Repetition und den von Freud untersuchten Wiederholungszwang zurückzuführen (vgl. Krauthausen 2019, 182) und damit auch der verschwörungstheoretischen Lesart der Schlusspointen als „freie Radikale“ (Krauthausen 2019, 181) zu
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folgen – durch die Unterordnung der losen, wenig verknüpften Erzählungen unter ein entsprechendes Katastrophennarrativ (vgl. Pontzen 2019, 153) – wird der Blick für eine gesellschaftskritische Dystopie frei. Wie bei Boccaccio liefern zahlreiche Quellen das Material der Geschichten, sie sind vermittelt, multipliziert und in Diskurse eingegangen. Nichts findet sich, was nicht zur Welt des Denk- und Sagbaren gehört, alles ist schon besprochen, gehört, über den Äther gegangen. Wie aber wird die „Spannung zwischen spätmittelalterlicher Daseinsfreude und frühneuzeitlicher Autonomie, die Boccaccios Novellenzyklus illustriert,“ (Pontzen 2019, 154) zum Ausdruck gebracht? Welche Welt erzählt die Nachtsendung und was animiert zum Lauschen und Lesen der Geschichten?
2 Der Witz tangiert nicht das Unbewusste Die Anlage vieler Erzählungen, die das Grauen aufruft, aber nicht passieren lässt, kommt in Rögglas Geschichten nicht als Horror zur Entfaltung, weil durch Strategien des Komischen Distanz hergestellt wird. So werden etwa durch konkrete Details Ängste im Kinderzimmer zerstreut. Die Aufzählung der Gegenstände, die schon für den Angriff vorbereitet sind, „Food-Supply“ (N, 280), Buchrücken aus der Kinderzeit oder ein Sessel, der nur auf das Loslegen wartet, bewahren beim Lesen vor ängstlichem Mitfiebern (vgl. N, 280). Immer wieder ist es die Steigerung surrealen Potenzials, das ernste Szenarien ins Komische kippt, so etwa, wenn sich plötzlich die Welt in Zweimensionalität verflacht (vgl. N, 182–183). Auch das Alkoholverbot wird situationskomisch als geheimnisvoller Schwund aus Regalen, Gazetten, den Händen und der Sprache veranschaulicht. Die Auswirkungen der erfolgreichen Biopolitik deuten sich mit dem Neologismus einer gespenstischen „Alkoholstille“ (N, 91) und einer Schlusspointe an, in der eine undefinierte Gruppe an einen unbestimmten Ort fährt: „Wohin sie fuhren, war ihnen nicht bekannt, aber alles würde besser werden, so viel war klar, für alle. Und die Krankenkasse.“ (N, 92) Oft ist die Komik bereits in den Plot eingelassen, wenn etwa ein arbeitsloser Stammgast in einem Café für Absolution zuständig ist und Vermieter-, Arbeitgeberpärchen oder ganze Gruppen von Zweitwohnungskäufern von ihren ökonomischen Dreistigkeiten freisprechen soll (vgl. N, 184–189). Komik wird aber auch rhetorisch hergestellt, etwa durch paradoxe Anspielungen auf Mythen, wenn der Moderator in Bürgerbeteiligung Redezeiten verkürzt, „damit sie vorwärtskamen, es oblag ihm, gleich dem Fährmann Charon, sie in die Zukunft zu hieven“ (N, 45), oder durch kreative Kollektivierungen, die sich über (Selbst)Inszenierung lustig machen, wie die „Menschenmenschen“, die keine „Entmenschlichungsmenschen“ seien (N, 188). Vor allem aber wird die Komik der Geschichten durch Personifizierung gespeist. Dinge werden tätig, auch gewalttätig, oder können streiken. So ist unsicher, „ob die Straßen da draußen wirklich
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weitermachten“ (N, 13), aber „immerhin machte ja der Autoschlüssel weiter“ (N, 14); auch „[d]as Überlebensbuch wanderte ins Regal und wieder zurück in die Hände und wieder zurück ins Regal“ (N, 267), scheinbar ganz selbstgesteuert. Auf dieselbe Weise werden Abstrakta verlebendigt, schlagen Basislager auf, wie die Multiplikation (vgl. N, 32), beginnen sich auszuweiten, wie die „Donnerstagslücke“ (N, 47), werden ängstlich, so das Vokabular (vgl. N, 33), und entwickeln Eigenkräfte: Die kleinen Siege hatten sich aber schon lange rhetorisch gegen die großen Siege stemmen müssen und wirkten etwas erschöpft. Die großen seien außerdem schon längst beschlossene Sache, schoss der Delegierte aus M. in der dritten Reihe. Insofern legten sich die kleinen Siege für heute schlafen und ließen den unterschiedlichen Interessenslagen den Vortritt. (N, 42–43)
Nur in der Phantasie der Protagonisten kann das Machtverhältnis wieder umgekehrt und eine Profitmaximierung des Trauerminutenpotenzials imaginiert werden, „dieses ganze Schweigen zusammenzukehren zu einem einzigen Großschweigen“ (N, 19). Mit diesen rhetorischen Mitteln werden Protagonist:innen Nebenakteure der von ihnen geschaffenen Welt in optimierten Zeiträumen und an Unorten. Handlungs- und Komikpotenzial entfalten sich gleichermaßen über aus den Gesetzen gekippte Physik, verselbständigte Digitalisate oder durch anthropomorphisierte Dinge und Begriffe, während die Menschen am Status Quo nichts zu stören scheint. Die erzählte Welt mit ihren Figuren kennt auch keinen Humor, obwohl es genügend Gelegenheit gäbe, über die schrägen Situationen und Wahrnehmungen zu lachen. Es gibt eben auch kein „Über-Ich […], das im Humor so liebevoll tröstlich zum eingeschüchterten Ich spricht“ (Freud 2004 [1905], 258). Das liegt daran, dass die Figuren in ihrer Welt aufgehen und keine Begehren haben, weder im sinnlich-sexuellen Bereich noch beim Konsum. Ebenso wenig existiert ein Über-Ich – „wir kennen [es] sonst als einen gestrengen Herrn“ (Freud 2004 [1905], 257) –, das Stress bewirken oder Respekt einflößen würde. Rezeptionsästhetisch lässt sich über die Sprachkritik in österreichischer Tradition (Pontzen 2019, 145) die Komik des Textes hingegen sehr gut festmachen, wenn sie auch in der Kritik bislang eher wenig beleuchtet wurde. Vielleicht liegt dies an der Erwartungshaltung (vgl. Freud 2004, 231), die mit Unheimlichem statt mit Komischem rechnet (vgl. Freud 2004 [1905], 231) und entsprechend auf die „Vorstellungs- oder Denkarbeit [wirkt], welche ernste Ziele verfolgt“ (Freud 2004 [1905], 232)? Oder liegt die gedämpfte Komikkraft doch an zu intensiver „Gefühls- und Interessenbeteiligung“ (Freud 2004 [1905], 233), die aus den zahlreichen Wirklichkeitseffekten gespeist wird? Pontzen (vgl. 2019, 145 u. 150) schreibt den Lustgewinn für Lesende, insbesondere am Beispiel der wiederkehrenden Figur des neoliberalen Kapitalisten Felsch, dem Ressentiment zu, das in reiner Negation mit verleugnetem
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Begehren als Ermächtigungsdiskurs reüssiere. Andererseits gälte es zu prüfen, ob Rögglas Unheimliche Geschichten überhaupt Wünsche aufrufen oder nicht vielmehr durch die materielle und digitale Hyperproduktivität jeglichen Wunschraum verschließen und Begehren vereiteln?
3 Therapieresistenz. Die Kritik der Realität Wenn das Unheimliche durch Komik immer wieder aufgelöst wird, so bleibt dennoch die Frage nach dem Heimlichen, die unter Rückgriff auf Sigmund Freud verschiedentlich beantwortet wird. „Nicht-Orte, die als vertraute, quasi heimische Zonen konzipiert wurden“ (Szczepaniak 2021, 201), und Referenten aus digitaler Technik und Fachsprache, die als Codes oder rhetorische Topoi Wirklichkeitseffekte erzeugen (vgl. Pontzen 2019, 143), werden freigelegt. Globale Zusammenkünfte mit marktwirtschaftlich Interessierten spielen in realistischen neoliberalen Lebenswelten, wie sie Kathrin Röggla auch in anderen ihrer Texte verfremdet ausstellt. Neben Arbeitsorten inklusive entsprechenden Flügen und Autofahrten bieten auch private Zeiträume und Alltagsaktivitäten mit entsprechenden Diskursen einen dem Mittelstand vertrauten Hintergrund, wenn es etwa um Hubschraubereltern auf Spielplätzen (vgl. N, 103–105), Gruppentherapie (vgl. N, 190–196), Gespräche über genetische Familienähnlichkeiten (vgl. N, 105–107), „Pluspunkte für das dritte Kind“ in der Familienplanung (N, 197), um Urlaubsreisen (vgl. N, 84) oder ganz einfach um Einkäufe im Drogeriemarkt (N, 160) geht. Orte und Handlungen muten real an, jedoch ist mit den Wahrnehmungsstörungen und apokalyptischen Andeutungen eine Intensivierung dieses Realen verbunden, weil das Unheimliche das Vertraute stärker hervortreten lässt (vgl. Pontzen 2019, 150). So erscheinen die bekannten Räume grell ausgeleuchtet, vertraute Praktiken wirken grotesk. Besondere Effekte zeigen sich bei den mittelständischen Diskursen und Werten, bei verbauter Natur und Dingen, die ein Eigenleben entwickeln und zu Akteuren werden. Im Gegenzug verblassen die Figuren mit ihren Eigenheiten und in ihrer Individualität, egal, ob es sich um den toten Vater handelt, der als heruntergefahrener Computer imaginiert wird (vgl. N, 157), oder um „Silke, an die er sich ebenfalls nicht erinnern konnte – aber hatte man nicht immer eine Mitschülerin namens Silke?“ (N, 68) In den hyperrealen Scharfstellungen fallen das Fehlen und Schwinden von Leidenschaften und Beziehungen, Erinnerung und Identität besonders auf. Die gänzlich auf mittelständische Figuren zugeschnittenen Diskurse und Praktiken, intensiviert durch das Unheimliche, wirken sinnentleert. Der standesgemäße Konsum der Romantik (Illouz 2020) ist abgeschafft, nur deren Gegenstände geistern durch die Gegend, etwa als Überbleibsel einer Flugzeugkatastrophe, die als Devotionalien gehandelt werden (vgl. N, 269). Jegliches
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Potenzial der romantischen Utopie, das auf die Mittelschicht abgestimmt und von ihr aufgrund ihres ökonomischen und kulturellen Kapitals auch ausgeschöpft werden kann (vgl. Illouz 2020, 320), ist abhandengekommen. Im Buch ist kein Ort und keine Szene zu finden, in denen Anleihen an dieser Utopie genommen werden. Die Kindheitsidylle gerinnt zu Gegenständen (vgl. N, 280), der Spielplatz wird zum Erzeuger des Terrors (vgl. N, 105) und der Naturraum verkommt zur „Wiese des Geldes“ (N, 154) oder zu einem Fleck auf einem Plan, über dem die Köpfe der Trockenwiesenspezialisten wohl aneinandergeraten (vgl. N, 41). Auch politische oder gesellschaftliche Utopien skelettieren, im Kontext der Fluchtkatastrophen verschwindet die Aufnahmefamilie eines Flüchtlingsmädchens inklusive „der ganzen Arbeit, die sie in sie hineingesteckt hatte“ (N, 205). Beim Aktivismus am Balkan wird „Humanismus hinter Zugfenstern“ (N, 209) konstatiert. Statt durch menschliche Bewegtheit oder gesellschaftskritische Reflexion wird die mittelstandszentrierte Wahrnehmung von den Rändern konturiert, wenn sich Effekte der klassenspezifischen und imperialen Lebensweise (vgl. Brand und Wissen 2017) ins Bild drängen: „[D]iese Frauen […], die aus dem Nichts auftauchten und die Aufräumarbeiten machten, diese Putzkolonne“ (N, 8) irritieren, weil sie zu früh dran sind; „aufgemotzte“ Flüchtlingslager in Libyen sind Teil zynischer Anekdoten wie die, „die man in ihrer Branche schon aus purer Höflichkeit bereithielt und die man von Veranstaltung zu Veranstaltung von neuem aufhäufte“ (N, 35). Und das Elend des Globalen Südens wird als Verkehrshindernis erfahren, wenn sich armselige Hütten unerwartet auf den gigantischen Raum verschlingenden Straßen zum Flughafen in den Weg stellen (vgl. N, 34). Das pädagogische und ökologische Ethos, das in Diskursen des Mittelstandes hervorgebracht und immer wieder von Neuem gefestigt wird, erscheint in Rögglas Geschichten als Leerstelle oder durch Privatinteressen entstellt. Ebenso korrodiert das „therapeutische Ethos“, das zum Selbstverständnis, ja „zum Eigentum der Mittelschichten“ (Illouz 2021, 111) gehört. Was therapieren, wenn es keine Beziehungen und Gefühle gibt? Was fürchten, wenn am Ende nicht, wie gewöhnlich in Katastrophennarrativen (vgl. Horn 2014, 194–195), ein lohnendes Leben mit Kleinfamilie in Aussicht steht? Wie bei den ökologischen und pädagogischen Bemühungen finden sich Diskursanleihen, nur um sich über die Branche lustig zu machen, „denn seinen eigenen kleinen Burn-out hatte er sich wie auf Vorrat zugezogen in diesem Stadtentwicklungsprojekt, als könnte er den großen Burn-out verhindern, der alle rund um ihn treffen würde“ (N, 210). Auch die Selbsthilfegruppen für Alkoholiker, Essgestörte, Privatschuldner in der Christopheruskirche und im aufgelassenen Lokal der Buchhandelskette werden zu „Meetings“ und lassen verstummen, wenn nicht der Helferkomplex, sondern die Wirklichkeit eingeblendet wird:
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Er sei dann mit der S-Bahn raus aus der Stadt gefahren, oder das, was er für raus aus der Stadt gehalten habe. Es sei ein Gewerbegebiet gewesen, in dem er dann spazieren gegangen sei, einfach so, zumindest habe er das für ein aufgelassenes Gewerbegebiet gehalten, und in diesem Gewerbegebiet seien plötzlich hunderte von Obdachlosen gewesen. (N, 196)
Nicht zufällig leitet dieser Realitätseinbruch den Beginn der Zukunft ein: „Sie konnte jetzt nur noch in Flammen aufgehen.“ (N, 196)
4 Der Ungeist des Kapitalismus. Dystopie einer Klasse Wird die Nachtsendung nicht psychologisch/psychoanalytisch gelesen, treten „kümmernisse des realismus“ (Röggla 2011, 3) zutage. Statt der „Sinnstiftung des Todes für das Leben“ (Krauthausen 2019, 183) oder des Unheimlichen als „Katalysator des Verdrängten“ (Szczepaniak 2021, 212) wird eine „Ästhetik des Politischen“ (Szczepaniak 2021, 212) sichtbar. Meiner Lesart nach ist es der Kitt einer Klasse, der in den Unheimlichen Geschichten als Diskurse und Personal inszeniert wird. Anders als beim Decamerone, wo es um sinnliche Traditionen am Epochenumbruch geht, ist die Lebensweise in den 42 Erzählungen an der Schwelle zur Apokalypse steril und keiner Rettung wert. Vielleicht könnte diese Lesart von einem intertextuellen Bezug zu Douglas Adams Romanreihe Per Anhalter durch die Galaxis (2021) gestützt werden. Dort reicht statt der Anzahl der Geschichten die Zahl selbst aus, um den Lebenssinn auf den Punkt zu bringen, wie der Supercomputer mit seinem Ergebnis „42“ auf die „Große Frage […] nach dem Leben, dem Universum und allem“ (Adams 2021, 198) zeigt.Wie diese Antwort sind auch Rögglas Erklärungen absolut und zeugen vom Ende des Status Quo, von dem, laut Autorin, der Mittelstand längst Bescheid weiß: „Die Gewalt, auf der unsere Eigentümer-Gesellschaft fußt, schlägt durch. Die Befriedungsversuche sind ausgelaufen, heißt es, wir steuern wieder auf jeder gegen jeden zu.“ (Röggla 2015, 42) Diese anarchische Gewalt ist in Nachtsendung kurz vor dem Ausbruch, indem deutlich wird, dass „sich die rettenden Orte aufgelöst haben“ (Röggla 2015, 42). Dies passiert jedoch nicht durch Bewegungen gegen den Markt, die imperiale Lebensweise oder Klassenprivilegien, sondern durch den Aufstand von Waren, Tieren und Kindern, physikalischen Gesetzen und Begriffen. Ist die gewählte narrative Strategie demnach Ergebnis des „Wirklichkeitsstopps“, den sich die Autorin auferlegte, als sie „zu viel wirkliche Wirklichkeit in den letzten drei Jahren und zu wenig Zeit für ästhetische Gedanken“ konstatiert? (Röggla 2015, 18) Ist die Komposition direkte Konsequenz aus Rögglas Verständnis von Ästhetik? Diese „muss etwas Vermischtes an sich haben, der reine Diskurs, die reine Theorie macht noch keinen Theaterabend. Sie bewegt sich an den begrifflichen
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Sollbruchstellen entlang. Das Fernrohr muss manchmal umgedreht werden.“ (Röggla 2015, 83) Das Fernrohr ist tatsächlich umgedreht, indem die angesprochene Klasse und Hörerschaft ihre eigenen Räume aufsuchen muss – die genauso sind, wie die Kritik sie in einer ersten und schnellen Lektüre der Ästhetik anlastet: nicht tiefgründig, nachgerade fad. Es gibt keinen versteckten Sinn und keine verborgene Kultur – der „Geist des Kapitalismus“ (Boltanski und Chiapello 2003), der durch Autonomisierung und Kreativitätssphären die bürgerliche und künstlerische Kapitalismuskritik immunisierte, hat an Kraft verloren. „Die Suche nach einem Blick auf die Welt, wie sie ist, ist die Suche nach einer besseren Welt“, stellt Röggla (2015, 75) in ihren Überlegungen zu Ästhetik und Politik fest, und in diesem Sinn kann Nachtsendung als Utopie gelesen werden. Vielleicht könnte sie auch als Variante der kritischen Dystopie im Sinn von Susanna Layh (vgl. Layh 2014) verstanden werden. Wie dort konzipiert, wird fiktionsintern auf problematische Tendenzen der Gegenwart Bezug genommen (vgl. Layh 2014, 181), allerdings wird von Röggla die daraus resultierende dystopische Zukunft nicht ausgemalt, sondern nur im konjunktivischen Modus konstatiert, der eine „Erweiterung der Sprach-Pragmatik“ (Krauthausen 2019, 158) darstellt. Die Unabänderlichkeit und Unausweichlichkeit ist also textintern fixiert, die narrativ ausgesparten Chancen und Handlungsoptionen begründen aber als utopisches Potenzial die „mahnende Appellfunktion“ (Layh 2014, 182) als Leerstelle, die in kritischen Dystopien bei der Rezeption auszufüllen sind (vgl. Layh 2014, 192). Eine Abweichung vom skizzierten Genretypus findet sich auch, weil keine marginalisierte Perspektive eingenommen wird (vgl. Layh 2014, 204), sondern genau umgekehrt die hegemoniale Sichtweise in Personal und Räumen, in Diskurs und Weltdeutung verdichtet zum Ausdruck gebracht wird. Der utopische Raum wird erst im Bruch mit dem Privileg oder dem verdrängten Effekt der mittelständischen und imperialen Lebensweise erzeugt, der als Stille oder Riss wahrnehmbar wird: wenn von Folgen des Jobs die Rede ist, die von ‚denen da unten‘ zu spüren sind (vgl. N 73), wenn Männer vor der Haustür stehen, die nicht zum Wir der abendlichen Talkshows gehören (vgl. N 108), wenn Heidrun Paetz bei der Grenze einmal nicht gleich durchgewunken wird (vgl. N 158–159). Kathrin Röggla vermeidet in ihrem Buch „konfliktkitsch“ (Röggla 2011, 8), deshalb ist die Dystopie in den dramatischsten Momenten voller Auslassungen. Sie vermeidet aber auch „unreflektiert[e] sehnsuchtsprojektion“ (Röggla 2011, 8), deshalb entstehen keine klassisch utopischen Räume. Nachdem „nur beschreibungsversuche etwas taugen, die ihre prekäre produktion mit hineinnehmen“ (Röggla 2011, 31), nicht Träume und Begehren, sehr wohl aber Diskurse und Praktiken inklusive digitaler Vermittlungsweisen, wird die Realität auch nirgends glattgestrichen. Die für kritische Dystopien typische gattungshybride Anlage (vgl. Layh 2014, 204), die in diesem Buch Genres der Satire, des Horrors, der Schauergeschichte, v. a. aber der Traum-
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erzählung kombiniert, macht es allerdings nicht leicht, das psychologisch/psychoanalytische Masternarrativ auszublenden, das angesichts der „schleichende[n] Apokalypse“ (Manojlovic und Putz 2020, 8) den Blick auf den dringlichen Änderungsbedarf verstellt. Dabei böte die Nachtsendung als Dystopie für die Mittelklasse genug Anschauungsmaterial, um die immer gleiche „Binsenweisheit“ zu belegen, „dass ein soziales System bedroht ist, wenn es ihm nicht länger gelingt, die Klassen, denen es eigentlich dienen sollte (d. h. im Fall des Kapitalismus die Bourgeoisie), zufrieden zu stellen“ (Boltanski und Chiapello 2003, 30–31). So vermag selbst noch in unbefriedigten Leseerlebnissen der mittelständischen Rezeption das utopisch politische Potenzial von Nachtsendung realisiert zu werden.
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Sabine Zelger
Werk Kathrin Rögglas. Hg. von Friedhelm Marx und Julia Schöll. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2019: 141–156. Röggla, Kathrin. Das stottern des realismus: fiktion und fingiertes, ironie und kritik. Paderborn: Universität Paderborn, 2011. Röggla, Kathrin. Die falsche Frage. Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik. Berlin: Theater der Zeit, 2015. Röggla, Kathrin. Nachtsendung. Unheimliche Geschichten. Frankfurt am Main: Fischer, 2016. Schröder, Christoph. „Panikherde der Jetztzeit. Spukgestalten. Es bröckelt an allen Fronten: ‚Nachtsendung‘ von Kathrin Röggla beschreibt die Wohlfühlblase kurz vor dem Platzen“. https:// taz.de/!5361545/ 10. 12. 2016 (5. Dezember 2022). Szczepaniak, Monika. „Rögglas unheimliche Nicht-Orte“. Gespenstischer Realismus. Texte von und zu Kathrin Röggla. Wien: Sonderzahl, 2021: 197–215. Teutsch, Katharina. „Was nun, Herr Hundt?“ Frankfurter Allgemeine Zeitung. Besprechung vom 17. 1. 2017. https://www.buecher.de/shop/geschichten/nachtsendung/roeggla-kathrin/products_ products/detail/prod_id/44702927/ (5. Dezember 2022).
David J. Wimmer
„Pure Poetry. Pure Meaning.“ Utopien des Verstehens bei Clemens J. Setz
1 Setz und Utopia Indigo, der dritte Roman des Büchner-Preisträgers Clemens J. Setz, beginnt mit einem Gespräch: Die Hauptfigur Clemens Setz trifft sich im Jahr 2006 mit der „Kinderpsychologin und Pädagogin Monika Häusler-Zinnbrett“ (Setz 2012, 19), einer Expertin für das titelgebende Indigo-Syndrom, um von ihr mehr über die Krankheit und die von ihr betroffenen Kinder zu erfahren. Die Figur Setz, so erfährt man, hat kurz davor ein Lehrpraktikum am Helianau-Institut abgebrochen, in dem die sogenannten Indigo-Kinder unterrichtet, betreut und möglicherweise auch behandelt werden. Die Gründe dafür erfährt man nicht. Nach und nach zeichnet sich allerdings im Gespräch ein vages Bild des Instituts und der dort herrschenden sozialen Strukturen. Bevor die beiden allzu sehr ins Detail gehen, bricht das Gespräch ab, und auch weitere Gespräche, die das literarische Alter Ego des Autors im Zuge seiner Nachforschungen führt, enden ähnlich. Das Gespräch ist auch die grundlegende Form eines Textes, der bei näherer Betrachtung einige Parallelen zu Setz’ Indigo aufweist: die Rede ist von Thomas Morus’ paradigmatischem Roman Utopia, in dem der weitgereiste Entdecker Raphael Hytholdaeus in einer Art Lehrdialog von einem entfernten Inselstaat namens Utopia berichtet.¹ Auch bei Morus versucht eine schreibende Hauptfigur, die ihren Namen mit dem Autor teilt, in Gesprächen wissbegierig mehr über einen unbekannten Sachverhalt herauszufinden. Beide Texte arbeiten mit Montagen (pseudo) authentischer Paratexte und in ihrem Zentrum stehen Berichte über Alteritätserfahrungen, die eng gekoppelt sind an Aufenthalte an abgelegenen Orten – wenn auch unter gänzlich anderen Vorzeichen. Darüber hinaus enden beide Romane für die nachforschenden Hauptfiguren gewissermaßen unbefriedigend, geradezu mysteriös: Morus bleibt im Gespräch mit Hytholdaeus die genaue Lage der Insel Utopia vorenthalten,² während es Setz in Indigo bis zuletzt nicht gelingt, sich Damit bezieht sich Morus nicht nur konkret im Inhaltlichen (vgl. Morus 2018, 10, 52–53, 66), sondern auch formal auf Plato und dessen bekanntermaßen in Form eines Lehrdialogs verfasstes Staatsideal Politeia, dessen Grundkonzept Morus gewissermaßen ironisierend aufnimmt. In den sogenannten Humanisten-Briefen, die als Vorworte in Briefform verschiedenen Ausgaben von Utopia angehängt oder vorausgestellt wurden, reflektiert Morus diesen bedauernswerten https://doi.org/10.1515/9783111205809-022
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Klarheit über die Vorgänge am Helianau-Institut zu verschaffen. Dabei werden zudem zwei alternative Welten und Formen des menschlichen Miteinanders entworfen, wie es konstitutiv für die Gattung der Utopie ist: Morus ersinnt das ferne Utopia, das in einer vermeintlich idealen Staatsform organisiert ist, und Setz eine besondere Schule in einer nicht allzu fernen, doch fortschreitend technisierten Zukunft. Gemäß einer Typologie der literarischen Utopie ließen sich hier also zwei grundlegende Ausformungen des utopischen Schreibens erkennen – der Typus der Raumutopie und dessen temporales Gegenstück die Zeitutopie (vgl. Voßkamp 2021, 363), doch wäre es nicht gänzlich richtig, Setz’ Roman in der langen Gattungstradition der Utopie zu verorten. Und das nicht nur, weil Setz keineswegs ein Ideal beschreibt, sondern eine Krankheit, den grausamen Umstand, dass manche Kinder innerhalb seiner Erzählwelt ihr unmittelbares Umfeld körperlich krank machen und deswegen zu einem Leben in Isolation gezwungen sind, zur Prämisse seiner Erzählung macht. Ja, wenn man im Kontext von utopischer und dystopischer Literatur an das Schaffen von Clemens J. Setz denkt, dann kommt einem wohl zuerst Letzteres in den Sinn – die Dystopie. Denn wenn uns der Autor in seinen Texten mit zukünftigen oder alternativen Weltentwürfen konfrontiert, dann erscheinen diese vornehmlich als Schreck- und weniger als Wunschbilder³ (vgl.Voßkamp 2013, 17): ein Riss im subatomaren Gefüge unserer Welt, der vom CERN-Gelände in der Schweiz ausgehend nach und nach ganz Europa zu verschlucken droht (vgl. Setz 2019b), eine allzu nahe Zukunft, in der ein blühender Markt für Internetvideos existiert, in denen Eltern ihre Kinder zurechtweisen, disziplinieren und misshandeln (vgl. Setz 2017), oder eben Kinder, die aufgrund eines angeborenen Syndroms sozial verkümmern – Setz’ Erzähltexte und Dramen produzieren immer wieder beunruhigende bis schockierende Gegenwirklichkeiten. Doch auch eine Kategorisierung als Dystopie wäre hier nicht unbedingt treffend.⁴ Denn wenn man die Utopie grund-
Umstand noch einmal dezidiert: „Ich würde wahrhaftig eine nicht geringe Summe Geldes bezahlen, hätten wir das nicht versäumt!“ (Morus 2018, 229) Die Briefe zwischen Morus, seinem Verleger Petrus Aegidius und u. a. auch Erasmus von Rotterdam unterstreichen auch in der Betonung der vermeintlichen Authentizität des Berichtes von Hytholdaeus noch einmal den satirischen Gehalt des Textes. Eine solche Synonymisierung von Schreck- und Wunschbild für Dystopie und Utopie findet sich in der Literatur häufiger. Wenn eine solche Definition auch zu kurz greift, so scheint sie doch so etwas wie einen kleinsten gemeinsamen Nenner verschiedenster Ausformungen zweier nicht „fest umrissene[r], semantisch ‚sichere[r] Begriffe“ (Voßkamp 2013, 17) darzustellen. Auch die Apokalypse, die immer wieder synonym mit der Dystopie gebraucht oder zumindest als besondere Spielart des Dystopischen ins Treffen geführt wird, spielt bei Setz kaum eine Rolle. Untergangsszenarien sind punktuell vielleicht plausible Erklärungen für die Beschaffenheit der Erzählwelten Setz’ – beispielweise in der Erzählung Character IV, in der die Hauptfigur allein auf
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legend als eine „narrative Entfaltung eines idealen funktionierenden Gesellschaftsmodells“ (Friedrich 2003, 739) begreift und die Dystopie als das dazugehörige, ins Negative verkehrte Gegenmodell,⁵ dann ergeben sich allein daraus schon Kriterien, gegen die sich Setz’ Texte sperren. Denn wo klassische Utopien (und auch Dystopien)⁶ der systematischen, narrativen Entfaltung dieser Modelle genügend Platz geben und ihre alternativen Welten und Gesellschaften häufig bis ins kleinste Detail auserklären,⁷ bleiben die Regeln, nach denen die Erzählwelten von Setz funktionieren, entschieden unscharf. Wo bei Morus das Gespräch nach klaren Strukturen verläuft und Raphael Hytholdaeus in der Logik von Frage und Antwort nach und nach alle Teilaspekte der utopischen Gesellschaft beschreibt, verlieren sich die Gespräche bei Setz in umständlichen Digressionen, Gegenfragen und elliptischem Gestammel. Und wo es in Utopia von grundlegender Bedeutung ist, die genauen Unterschiede zwischen der bekannten, real gegebenen Welt und dem weit entfernten Ideal erkennen zu können,⁸ lässt uns Setz in Indigo bewusst darüber im Unklaren, inwieweit sich seine Erzählwelt mit der unseren deckt.⁹
einem Miniaturplaneten innerhalb einer Glaskuppel lebt bzw. leben muss –, doch werden sie in den Texten nie explizit gemacht, sondern höchstens leicht angedeutet. Zugegebenermaßen hat sich der Begriff der Dystopie auch in seiner popkulturellen Verbreitung und in seiner allgemeinen Popularisierung in verschiedensten medialen Ausformungen zunehmend ausgeweitet. Wenn beispielsweise in einem Online-Lexikon für Filmbegriffe die Dystopie recht allgemein als „eine auf beunruhigende Weise unangenehme und abschreckende fiktive Welt“ (Kaczmarek 2022) definiert wird, dann ist das nur ein Beispiel eines weiteren Dystopiebegriffs, der bei konsequenter Anwendung nahezu jegliche Entfaltung der Fantastik, des Horrors und der ScienceFiction miteinschließt. In einem engeren, auch historischen Sinne ist die literarische Dystopie als eine im ausgehenden 19. Jahrhundert herausgebildete Entwicklung der literarischen Utopie zu fassen – eben als narrative Entfaltung eines negativen Gesellschaftsmodells. Die heute noch paradigmatischen Werke der dystopischen Literatur, Aldous Huxleys Brave New World und George Orwells 1984, gestalten die fiktionalen Welten, in denen Sie angesiedelt sind, sehr detailliert aus. Die jeweiligen Gesellschafts- und Staatssysteme werden im Text teilweise fast exkursorisch dargelegt und umfänglich beschrieben. Ilja Trojanow sieht eine Problematik des Genres eben darin: „[D]as, was die Leserinnen und Leser nicht kennen, muss ausbuchstabiert werden. Und das macht die rein utopische Literatur oft sehr dröge.“ (2020, 104) Ludwig Stockinger spricht mit Blick auf die Bipolarität utopischer Texte, also deren doppelte Verweisstruktur auf eine bestehende und eine erdachte Welt, von der Notwendigkeit einer „Trennung der beiden Räume und gleichzeitig [der] Herstellung eines Bezugs zwischen ihnen, um den Prozess des kritischen Vergleichs in Gang zu bringen.“ (Stockinger 1981, 98) Das besagte Verhältnis in Morus’ Utopia wird dabei als musterhaftes Beispiel genannt. Gerade das – die Unbestimmtheit ist bei Setz häufig Ausgangspunkt der Beunruhigung, nicht das konkrete Schreckbild, einer möglichen Zukunft, die es abzuwenden gilt.
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Eine Verortung von Setz’ Schreiben in der langen Gattungstradition, die von Morus ausgeht, erscheint also wenig zielführend,¹⁰ und es bleibt ebenso fragwürdig, inwiefern die besagten Parallelen zwischen den zwei Texten intendierte intertextuelle Bezüge darstellen. Dennoch sollen die hier gemachten Beobachtungen Ausgangspunkt für einige Überlegungen sein, die sich mit dem Stellenwert des Utopischen im literarischen Werk von Clemens Setz auseinandersetzen. Denn im Schreiben eines Autors, dessen jüngerem Werk Preisjurys unlängst „literarischen Extremis[mus]“ (Strigl 2020) und einen „zutiefst humanistischen Impuls“ (Akademie 2021) attestiert haben, manifestiert sich, so die These, ein deutlich utopischer Zugang zu Sprache und Literatur, der sich nicht allein an gattungstheoretischen Kategorisierungen bemessen lässt und den es am Beispiel einiger ausgewählter Texte darzulegen gilt.
2 Setz und die Utopien der Plansprachen Den ganz konkreten Lebensgeschichten einiger historischer Utopisten widmet sich Setz in seinem 2020 erschienenen Band Die Bienen und das Unsichtbare. Darin erzählt er unter anderem die „schwerverfilmbare Geschichte des Mr Bliss“ (Setz 2020a, 27), die Lebensgeschichte des österreichisch-australischen Chemikers und Semiotikers Karl Kasiel Blitz, Erfinder der rein auf Piktogrammen beruhenden Sprache ‚Blissymbolics‘. Das zweite Kapitel des Buches schildert Blitz’ Lebensweg im Detail und spekuliert, wie es dazu gekommen sein mag, dass dieser nach seiner Flucht vor dem NS-Regime und nunmehr unter dem Namen Charles K. Bliss das auf Eindeutigkeit bedachte Zeichensystem schuf. Setz erkennt dahinter den eindeutig utopischen Impuls eines Mannes, der sich für Größeres berufen fühlt, „für die Überwindung des Unmöglichen, der allerletzten menschlichen Grenzen“ (Setz 2020a, 29). Dabei erscheint das Sprachsystem als Reaktion auf eine grundlegende Erkenntnis, die sich aus etlichen Erlebnissen auf der Flucht und im Exil speist: Irgendwas stimmte nicht mit der Sprache. Nicht mit einer bestimmten Sprache, Deutsch oder Englisch, sondern mit allen. Allen, die Wörter verwendeten. Denn Wörter konnten, egal wie sie lauteten, missbraucht und pervertiert werden. Man konnte ihre Bedeutung in ihr Gegenteil verkehren. Man konnte lügen. Man konnte sogar, wie den Häftlingen in Buchenwald jeden
Generell erweisen sich Gattungszuweisungen in Bezug auf Setz’ Literatur oftmals als eher problematisch. Schon der Gedichtband Die Vogelstraußtrompete unterläuft gängige Ideen von Lyrik, Bot. Gespräch ohne Autor dekonstruiert die Form des Gesprächbandes unter Zuhilfenahme eines großspurig ‚Algorithmus‘ genannten technischen Hilfsmittels, und Die Bienen und das Unsichtbare ist zu gleichen Teilen Sachbuch und Erzählung. Wo auch immer Setz selbst eine klare Gattungszuweisung setzt, wird das Spiel mit Merkmalen derselben Teil des poetischen Programms.
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Morgen neu aus den blechern schallenden Lautsprechern vorgeführt worden war, mit Wörtern riesige Mengen an Menschen töten. (Setz 2020a, 32–33)
Diese Sprachkrise angesichts einer von Kriegsrhetorik und Propaganda korrumpierten Sprache mündet hier in ein utopistisches Sprachmodell, das ohne gesprochene Sprache auskommt und dabei dezidiert auf die Etablierung einer ‚Neuen Welt‘¹¹ abzielt. Setz bleibt in der Entfaltung dieses Modells nicht nur im Vagen, er beschreibt die Sprache, ihre Struktur und Wirkweise recht genau als ein am chinesischen Hànzì orientiertes logografisches Schriftsystem, das eine größtmögliche Eindeutigkeit der Aussagen verfolgt und den idiomatischen Gebrauch eines Wortes verunmöglichen will: „Pure Meaning […] ‚Bliss gibt dir die Bedeutung selbst, ohne das Drumherum‘“ (Setz 2020a, 83). Das utopische Modell nimmt dabei in etlichen Anschauungsbeispielen konkrete Form an, allerdings nur bedingt durch narrative Mittel. Setz schreibt keine Utopie, er reflektiert schreibend das Wesen des Utopischen am Beispiel mehrerer Plansprachen und in einer Verschränkung aus Sachbuch, autobiografischen Notizen und biografischem Roman. Dabei rekonstruiert Setz gewissermaßen die prototypische Bestehensgeschichte derartiger Sprachprojekte, anhand derer sich auch die Ideengeschichte der Utopie an sich veranschaulichen lässt. Denn wie sich die Utopie von einer zumeist theologisch grundierten Erlösungsvision zur konkreten politisch motivierten Beschreibung mehr oder weniger plausibler Wirklichkeitspotentiale entwickelt und schließlich im Zuge ihrer versuchten Realisierung ins Dystopische kippt (vgl. Stauffer und Dziudzia 2022, 9– 11), so schildert Setz die Geschichte der Blissymbolics entlang ähnlicher Entwicklungsstufen: Nachdem seine weltweite Etablierung ausbleibt, findet das Sprachsystem zunächst Anfang der 1970er Jahre einen sehr konkreten Anwendungsbereich: Eine kanadische Sonderschullehrerin stößt mehr oder weniger zufällig auf Bliss’ Grundlagenwerk Semantography und beginnt einige ihrer Schüler:innen mit Zerebralparese danach zu unterrichten – mit Erfolg. Die Sprache ermöglicht vielen Kindern, ein erstes Mal direkt mit ihrem Umfeld zu kommunizieren, und auch Bliss ist zunächst von der Anwendung begeistert. Doch als er feststellt, dass die Sprache für den Unterricht angepasst wird und dabei vorwiegend dem Erwerb weiterer Sprachen, nämlich korrumpierbarer Lautsprachen dient, fühlt er sich persönlich hintergangen und geht gerichtlich gegen die Schule und das Unterrichtsprogramm vor: „Nach fast zehn Jahren der Kriegsführung wurde schließlich ein außergerichtlicher Vergleich erwirkt, eine große Geldsumme floss direkt aus der Tasche der Eltern behinderter Kinder.“ (Setz 2020a, 75) Setz beschreibt dabei den Eifer und die
Laut Setz nennt Bliss sein Sprachsystem zuerst „New World Writing“ (Setz 2020a, 35) – erst in weiterer Folge wird es als ‚Semantography‘ oder eben ‚Blissymbolics‘ bekannt.
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Ernüchterung eines Mannes, der sich einer absoluten Idee verschrieben hat. Er schildert am Beispiel von Charles Bliss, was Theodor W. Adorno im Gespräch mit Ernst Bloch in Hinblick auf utopische Träume und ihre vermeintliche Erfüllung beschreibt: [Ich möchte] zunächst einmal daran erinnern, daß unzählige sogenannte utopische Träume, […] indem sie sich erfüllt haben, alle so wirken, wie wenn dabei das Beste vergessen worden wäre – […] daß diese Träume selber in ihrer Verwirklichung einen eigentümlichen Charakter der Ernüchterung, des Geistes des Positivismus, darüber hinaus der Langeweile angenommen haben […], daß man sich dann fast immer durch die Erfüllung der Wünsche um den Inhalt der Wünsche betrogen sieht […]. (Bloch 1975, 58)
In weiterer Folge werden noch andere Sprachutopien und deren Erfinder:innen vorgestellt: beispielsweise das von Johann Martin Schleyer erdachte Volapük, das als völkerverbindende Weltsprache konzipiert war, oder auch Suzette Haden Elgins Láadan, der Versuch einer Sprache, „die die spezifisch weibliche Sicht auf Welt und Leben verdeutlicht“ (Setz 2020a, 151). Der Band skizziert die Entwicklung dieser Sprachen ähnlich wie die Entwicklung von Blissymbolics, denn meist resultieren Versuche der Verwirklichung in der beschriebenen Ernüchterung, in dem, was Bloch „Melancholie der Erfüllung“ (Bloch 1975, 59) nennt, einer Erfüllung, die eben nie restlos erfolgen kann. Anknüpfend daran entwickelt Setz eine eigene Theorie der Plansprachen, an der sich auch ein eigener, mitunter an Bloch geschulter Utopiebegriff ablesen lässt. So lassen sich alle konstruierten Sprachen nach dem Wesen ihrer Erfinder in zwei Gruppen gliedern: „Sprachenerfinder teilen sich in zwei Kategorien: Päpste und Programmierer.“ (Setz 2020a, 290) ‚Päpste‘ hängen demnach an einer fixen Idee ihrer Sprache, von der sie kaum Abweichung dulden und deren genaue Einhaltung sie fordern, während ‚Programmierer‘¹² ihre Sprache von Beginn an offen konzipieren, adaptier- und wandelbar, in der Logik der Informatik gesprochen mit öffentlichem „source code“ (Setz 2020a, 290). Bliss sei demnach, indem er unverrückbar auf die dogmatische Umsetzung seines Konzepts pocht, „100 Prozent Papst“ (Setz 2020a, 290). Mit Ludwig Zamenhof, dem Erfinder von Esperanto wird auch auf einen prototypischen Programmierer verwiesen. Fasst man ausgehend von Bliss auch weitere Plansprachen als im Kern utopische Konzepte, dann findet sich in der Offenheit der Programmierer-Sprachen, in ihrer grundsätzlichen Wandelbarkeit, jene Form des „Möglichkeitsdenkens“ (Voßkamp 2013), die neuere Utopiebegriffe geltend machen: also das fortlaufende Mitdenken der vielfältigen Potentialität einer
Setz verwendet beide Begriffe nur in ihrer männlichen Form, nennt allerdings in weiterer Folge auch weibliche Erfinderinnen – es handelt sich hier also um generische Maskulina.
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Sache, ihres „Noch-Nicht-Seins“ (Bloch 1961), um erneut mit Bloch zu sprechen. Setz sieht in dieser Offenheit, dem Prinzip des „open source“ (Setz 2020a, 290), auch den Erfolg und die Beständigkeit einiger weniger Plansprachen begründet. Es geht nicht darum, die Sprache als fertiges utopisches Modell zu begreifen, sondern darum, damit die grundsätzliche Prozesshaftigkeit des utopischen Gedankens dahinter anzuerkennen und darauf zu reagieren. Denn wie die Entwicklung des Utopiebegriffs muss in diesem Sinne auch das utopische Denken selbst als „unabschließbare[r] Prozess“ (Voßkamp 2013, 17) gedacht werden: keinem statischen Ideal verhaftet und als ein fortwährendes Ausverhandeln der Ideale, die es verfolgt.¹³ Als weitere Konsequenz dieses Denkens lässt sich auch die beschriebene Unschärfe der Setz’schen Erzählwelten begreifen und die darin begründete, grundlegende Potentialität seiner Texte, die sich stets gegen ihre (eindeutige) Verwirklichung sträuben (vgl.Wimmer 2022). So stellt Indigo keinen dys- oder utopischen Roman im engeren gattungstheoretischen Sinne dar, der Text reflektiert jedoch den „spezifischen Kommunikationsmodus literarischer Utopien“ auf den Wilhelm Voßkamp (2013, 23) mit Ludwig Stockinger verweist: „den Prozess des kritischen Vergleichs“ (Stockinger 1981, 98) zwischen einer imaginären und einer bestehenden Welt – ein Prozess, der bei Setz durch die Verwebung von Faktischem und Fiktionalem (vgl. Inukai 2018) zwar im besonderen Maße angeregt wird, der sich im unscharfen Verhältnis zwischen den besagten Welten letztlich aber als unabschließbar entpuppt.
3 Setz und die Utopien des Verstehens Im ersten Kapitel von Die Bienen und das Unsichtbare (2020) verweist Setz auf Kafkas Erzählung Eine Kreuzung, in der ein Ich-Erzähler ein sonderbares Mischtier, halb Katze halb Lamm, als Haustier hält. Als hybrides Wesen gehört es nirgends ganz dazu: „Vor Katzen flieht es, Lämmer will es anfallen“ (Kafka 1973, 347), doch sucht es engen Kontakt mit seinem Besitzer und scheint sich ihm auch mitteilen zu wollen:
Das Prinzip der Dystopie ist in dieser Hinsicht ungleich offener als das der Utopie, verweist die Dystopie doch in der Regel als Schreckbild implizit auf eine unzählbare Fülle weniger schrecklicher Zukunftsbilder bzw. Alternativmodelle, während die Utopie ein Modell möglichst klar zu umreißen versucht. Ein immer wieder beschriebener Überhang an dystopischer Literatur gegenüber der utopischen lässt sich möglicherweise auch damit begründen – mit einer Offenheit, die Aktualisierungen und Adaptierung ebenso besser zulässt wie Projektionen.
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Es ist, als sagte es mir etwas, und tatsächlich beugt es sich dann vor und blickt mir ins Gesicht, um den Eindruck zu beobachten, den die Mitteilung auf mich gemacht hat. Und um gefällig zu sein, tue ich, als hätte ich etwas verstanden, und nicke. – Dann springt es hinunter auf den Boden und tänzelt umher. (Kafka 1973, 348)
Im Kern, so Setz, handle sein Buch von eben jenem Tänzeln: „Das Chaos beginnt immer da, wo dieses Tänzeln des Verstandenwerdens nicht mehr existiert.“ (Setz 2020a, 16) Für jenes Chaos des Nicht-Verstanden-Werdens, stets Situationen extremer Isolation, findet Setz etliche Bilder und (historische) Beispiele: Er erzählt die Geschichte des Dichters Y, der im falschen Glauben, Persisch gelernt zu haben, unwissentlich in einer Sprache dichtet, die nur er versteht (vgl. Setz 2020a, 13–14), oder von Kindern mit Zerebralparese, die lange Zeit als „‚vegetativ‘“ (Setz 2020a, 59) eingestuft wurden, obwohl sie ihr ganzes Leben bei vollem Bewusstsein waren, nur unfähig, sich ihrem Umfeld auf verständliche Weise mitzuteilen. Und auch die eigenen Tagebucheinträge des Autors – ob authentisch oder nicht – erzählen das eigene Erleben von Depression und Paranoia als eine Geschichte voller Missverständnisse, Einsamkeit und fehlender Kommunikation.¹⁴ Das Motiv des Nicht-Verstehens bzw. Nicht-Verstanden-Werdens findet sich bei Setz nicht erst in Die Bienen und das Unsichtbare, es zieht sich vielmehr durch sein gesamtes literarisches Schaffen. So handelt etwa die Erzählung Geteiltes Leid im Erzählband Der Trost runder Dinge (2019) von einem von schweren Angststörungen geplagten Vater zweier Söhne, der insgeheim den Wunsch hegt, dass auch seine Kinder dieselbe Störung entwickeln: „Er hatte sich nichts mehr gewünscht, als endlich mit einem seiner Söhne darüber sprechen zu können, über die unerträglichen Zustände. Aber er war vollkommen allein. Niemand verstand ihn.“ (Setz 2019b, 60) Richard Kämmerlings hat in seiner Analyse des Romans Die Stunde zwischen Frau und Gitarre (2017) auf das Qualia-Problem der Geistesphilosophie hingewiesen, das Setz darin implizit diskutiere (vgl. Kämmerlings 2022, 71) – also die (Un)Möglichkeit, zu wissen, wie es ist, jemand anderes als man selbst zu sein: Es gibt keine Außenperspektive, keinen Zugang zu Fremdbewusstsein. […] Wir wissen nie, ob wir den anderen wirklich verstehen. Selbst wenn wir die gleichen Begriffe verwenden, gibt es keine Möglichkeit zu überprüfen, ob auch tatsächlich das Gleiche gemeint ist. (Kämmerlings 2022, 71)
Besagte Tagebucheinträge verteilen fragmentarisch über den ganzen Band, das vierte Kapitel Mein Sommer im Volapük behandelt allerdings am ausführlichsten jene biografische Episode, auf die hier verwiesen wird (vgl. Setz 2020a, 129–204).
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Setz begegnet diesem Problem allerdings nicht als geistesphilosophischer Fragestellung, sondern als einem fundamentalen zwischenmenschlichen Dilemma: „[I]n jedem Menschen [gibt es] diesen kleinen, unbetretbaren Raum, der bis alle Ewigkeit verschlossen bleibt“ (Setz 2009, 323) – so schildert Lydia, die (Ex‐)Freundin der Hauptfigur Alexander Zehrfuchs im Roman Die Frequenzen (2009), das grundlegende Problem ihrer Beziehung – in einem Streitgespräch, das schließlich zur Trennung der beiden führt. Was hier beschrieben wird, ist die Vorstufe jenes Grauens, „das uns aus der Vorstellung völliger Sprachenlosigkeit jedes Mal entgegenweht“ (Setz 2020a, 24). Denn auch der unbetretbare Raum stellt sich als unüberbrückbare Differenz dar,¹⁵ er ist Ausdruck einer Verständnis-Krise und damit auch, wie Kämmerlings schreibt, einer Krise der Sprache und der Ausdrucksfähigkeit, die das menschliche Miteinander immer wieder ins Wanken bringt und scheitern lässt.¹⁶ Wenn dann in Die Bienen und das Unsichtbare an einer Stelle von der „Verbindung zwischen spontaner Wörter- und Spracherfindung und tiefer existenzieller Krise“ (Setz 2020a, 162–163) die Rede ist, so lässt sich im ‚Chaos des Nicht-Verstandenwerdens‘ unschwer eben jene existenzielle Krise erkennen, die in ein kausales Verhältnis mit der Konstruktion neuer Sprachen gestellt wird. Und auch wenn die Krisen, die Setz in diesem Zusammenhang beschreibt, mannigfaltig erscheinen – sie reichen vom persönlichen Umgang mit der eigenen chronischen Krankheit (vgl. Setz 2020a, 192) über den Verlust geliebter Personen (vgl. Setz 2020a, 174) bis zur politischen Verfolgung durch autoritäre Regime (vgl. Setz 2020a, 366) –, so lassen sie sich mit dem Katzenlamm „als emblematische[m] Begleittier durch die Geschichte“ (Setz 2020a, 41) alle auf den gemeinsamen Nenner des Nicht-Verstanden-Werdens bringen. Das Verhältnis von Krisen und utopischem Denken liegt auch im besonderen Interessensgebiet der Utopieforschung. Dass Utopien allgemein Indikatoren für kollektive Krisen sein können (vgl. Voßkamp 2013, 29), Krisen utopisches Denken befeuern (vgl. Gülker 2022, 36–37) oder Utopien zumindest von einem gesteigerten Krisenbewusstsein zeugen (vgl. Wachter 2013), sind wiederkehrende Thesen, die offensichtlich in Setz’ besagter Assertion Resonanz finden. Das utopische Moment, das Setz der grundlegenden Krise des Nicht-Verstanden-Werdens entgegenstellt,
Es ergeben sich Assoziationen zu Wittgensteins berühmtem Käfer-Beispiel (Wittgenstein 2001, 888), das eine ähnliche Problematik beschreibt. Setz rezipiert Wittgensteins Sprachphilosophie an mehreren Stellen in seinem Werk direkt, so auch in Die Bienen und das Unsichtbare und Indigo (vgl. Inukai 2017, 2018). Es fällt auf, dass jene Texte, die Setz am deutlichsten in zukünftigen, dystopischen Szenarien situiert, meist gleichzeitig vom Scheitern zwischenmenschlicher Beziehungen erzählen. So bilden das Reaktorunglück in Zwei Brüder 1988 (2020b) und der‚Breach‘ in Die letzten Dinge (2019a) nur die atmosphärische Folie, vor der sich zwei Beziehungskrisen abspielen.
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liegt dabei nicht nur in der Konstruktion neuer Sprachen, die nach einer neuen Form der Kommunikation streben, sondern auch in einer weiteren Praxis, die eine Erweiterung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit verfolgt. „Pure meaning, pure poetry“ (Setz 2020a, 91) – lässt sich die doppelte inhaltliche Ausrichtung von Die Bienen und das Unsichtbare, das ja, man erinnere sich, vom Tänzeln des VerstandenWerdens handelt, auf den Punkt bringen. Denn der Band widmet sich neben der Geschichte und Funktionsweise erfundener Sprachen vor allem darin verfasster Literatur und Poesie. Gerade im Schreiben von Plansprachenliterat:innen – deren Literatur ob ihrer geringen Sprecher:innenanzahl für ein prekäres Dasein bestimmt ist, wird der (tragische) Versuch deutlich, damit „die innersten Geschehnisse“ der eigenen „Seele“ (Setz 2020a, 174) festzuhalten und mitzuteilen. Am Beispiel des Amerikaners James Keilty und seiner selbst konstruierten Sprache ‚Prashad‘ erzählt Setz von der absurden Tragik eines Menschen, der in einer Privatsprache dichtet, die lange Zeit nur er verstehen kann (vgl. Setz 2020a, 168–170). Ähnlich wird die Begegnung mit Texten von H. C. Artmann beschrieben, die in einem unverständlichen Pseudo-Piktisch verfasst sind: „Niemand kann es lesen. Aber möglicherweise hat ein Dichter seine ganze Seele, seine vorübergehend einzigartige Natur, in die Zeilen gesteckt.“ (Setz 2020a, 120) In seinem Privatsprachenargument, das Setz auch selbst zitiert, beteuert Ludwig Wittgenstein die Sinnlosigkeit und Unmöglichkeit einer solchen privaten Individualsprache, deren Wörter „sich auf das beziehen, wovon nur der Sprechende wissen kann; auf seine unmittelbaren, privaten, Empfindungen. Ein Anderer kann diese Sprache also nicht verstehen“ (Setz 2020a, 211–212 bzw.Wittgenstein 2001, 872). Setz verweigert sich diesem Schluss, verweist er doch auf mehrere Beispiele ‚geglückter‘ Privatsprachen in der Poesie. So sollen Theaterstücke in Keiltys Prashad trotz mangelnder Sprachkundigkeit beim Publikum für Begeisterung gesorgt haben. Die bedeutungsvoll platzierten Privatwörter der Art-brut-Dichter Edmund Mach, August Walla und Ernst Herbeck führen sogar zu einer unmittelbareren, tieferen Form des Verstehens: [Man meint] auf einer eigensinnig-subkutanen Ebene sofort zu verstehen, was das Wort bedeuten soll. Es macht etwas, es erzählt vom Aufplatzen der Wahrnehmung […] – ein Relais im Kopf leuchtet auf, ein heiliger Rausch. Oder ein Funke springt über. Ich weiß nicht, wie man sagen soll. (Setz 2020a, 235)
Oder noch deutlicher in einem Gespräch zu Die Bienen und das Unsichtbare über einen Text von Mach: „Im Herbst, da welken die Blätter, im Umzacka [!] allen Getriebes.“ Das ist find ich ein großartiges Bild und ich sehe ihn auch, wie er [Edmund Mach] das denkt, ich bin kurz er, wahr-
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scheinlich in Gugging irgendwo, im Herbst, und es geht direkt in mich, in mein Gehirn. (Setz 2022, 37)
Der unbetretbare Raum steht im literarischen Rezeptionserlebnis einen Spalt offen. Das, was Setz im selben Gespräch nach Schopenhauer „‚principiuum individuationis‘“ (Setz 2022, 35) nennt, der Umstand, man selbst und nur man selbst sein zu können, wird punktuell ausgesetzt: Setz beschreibt ein Erlebnis des Verstehens – ein Tänzeln ist möglich. Doch vollzieht sich damit die Idee eines tieferen Verstehens nicht vollständig, sondern lediglich ein Gefühl davon. Kafkas Katzenlamm wird von seinem Besitzer nicht wirklich verstanden – er gibt nur vor, zu verstehen. Es kommt zu keiner Verabsolutierung der beschriebenen Erfahrung. Eben auch darin verfolgt Setz einen utopischen Gedanken, insofern, als ein solches Verstehen, das Betreten des unbetretbaren Raumes, als ein „in Raum und Zeit unerreichbare[r] Zustan[d]“ gefasst wird, dessen „Erreichbarkeit dennoch gedacht werden kann und gedacht werden soll“ (Seel 2001, 747). Auch hier erweist sich die Utopie als unabschließbarer Prozess, als eine literarische Programmatik, die sich in jedem Text fortschreibt: Ich kann aber noch kurz etwas zu diesem Unverbundensein mit anderen Menschen, das Diskontinuum zwischen uns, sagen: […] Ich strample mich daran ab, das zu bekämpfen, […] [ich] strample und fechte und fuchtle dagegen an, jedes meiner Bücher mehr und mehr, und das letzte [Die Bienen und das Unsichtbare; Anm.] ganz besonders. Es ist ein – um ein ganz falsches Bild zu verwenden – Schneepflug durch diese Winterlandschaft der einsam verinselten Individuen. (Setz 2022, 33)
In der „konsequent personale[n] Erzählstruktur“ (Kämmerlings 2022, 70), in der die Erzählungen immer „ganz nah am erlebenden und wahrnehmenden Subjekt“ (Wimmer 2022, 67) bleiben, in einer „Phänomenologie der Wahrnehmung“¹⁷, die auch vor vermeintlich krankhaften Formen der Perzeption nicht Halt macht, und mit einem Einfühlungsvermögen, das der Ambivalenz einer jeden Biografie Rechnung trägt, ‚strampeln‘ die Texte genau dagegen an. Sie sind gerade in der Darstellung des Seltsamen und Grotesken, in der Fokalisierung von Außenseitern und ‚weirdos‘ Utopien des Verstehens, die eine Überwindung der existenziellen Einsamkeit verfolgen, die sie gleichzeitig beschreiben – im vollen Bewusstsein, dies nie zur Gänze erreichen zu können. So schreibt Setz keine literarischen Utopien in gattungstheoretischer Hinsicht, doch sind seine Texte von einer Form utopischen Denkens geprägt, das utopische Modelle als dynamisch begreift und das sich mit der Ein internationales Kolloquium zu Setz’ Werk fand 2016 unter dem Titel Intermedialität und Phänomenologie der Wahrnehmung in Bamberg statt. Ein entsprechender Sammelband, der ursprünglich unter demselben Namen angekündigt war, erschien später unter dem Titel „Es gibt Dinge, die es nicht gibt“. Vom Erzählen des Unwirklichen im Werk von Clemens J. Setz (Hermann 2020).
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David J. Wimmer
partiellen Überwindung von Subjektgrenzen, dem Verstehen eines anderen Bewusstseins und fremder Wahrnehmung stets nach einem nur partiell erreichbaren Ideal streckt.
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„Pure Poetry. Pure Meaning.“
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Daniela Bartens
Bienen und Bücher Gerhard Roths babylonische Utopie
1 Die Bibliothek von Babel Das Universum (das andere die Bibliothek nennen) setzt sich aus einer unbegrenzten und vielleicht unendlichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen, mit weiten Entlüftungsschächten in der Mitte, die mit sehr niedrigen Geländern eingefaßt sind.Von jedem Sechseck aus kann man die unteren und oberen Stockwerke sehen: ohne ein Ende. Die Anordnung der Galerien ist unwandelbar dieselbe. Zwanzig Bücherregale, fünf breite Regale auf jeder Seite, verdecken alle Seiten außer zweien […]. Eine der freien Wände öffnet sich auf einen schmalen Gang, der in eine andere Galerie, genau wie die erste, genau wie alle, einmündet […]. Hier führt die spiralförmige Treppe vorbei, die sich abgrundtief senkt und sich weit emporhebt. In dem Gang ist ein Spiegel, der den Schein getreulich verdoppelt. (Borges 1990, 54–55)
Jorge Luis Borges imaginiert in seiner berühmten Erzählung Die Bibliothek von Babel (1941) das Universum als eine präexistente und somit vor-geschriebene ‚totale‘ Bibliothek aller möglichen Bücher mit jeweils 410 Seiten à 40 Zeilen à 80 Buchstaben (vgl. Borges 1990, 56), die aus der umfassenden Kombination einer begrenzten Anzahl an Elementen – den 22 Zeichen des hebräischen Alphabets (plus Punkt, Beistrich und dem Leerraum zwischen ihnen) – generiert werden können. Die Bewohner dieses Universums – Bibliothekare und „wandernde Entzifferer“ (Borges 1990, 58) – mühen sich, die Anordnung und Inhalte der Bibliothek nachzuvollziehen und damit den Sinn des Universums und der eigenen Rolle zu dechiffrieren. Schließlich erkennen sie nach Jahrhunderten intensiver Recherche in der „kombinatorischen Analysis“ das „Fundamentalgesetz“ (Borges 1990, 58) ihres Universums, das sich nun als eine schier endlose Fülle an permutativ variierten Zeichenketten präsentiert, die notwendigerweise alle denkbaren und undenkbaren Sinnzusammenhänge in allen möglichen Sprachen formulieren. Doch das anfängliche Glücksgefühl, im Besitz aller möglichen Bücher, also aller möglichen Antworten auf alle möglichen Fragestellungen, zu sein, weicht nach und nach der Erkenntnis, dass die schiere Fülle des Geschriebenen ein Auffinden der für den Einzelnen relevanten Bücher, ja, auch nur einer einzigen für ihn sinntragenden Zeile in irgendeinem der uferlos aneinandergereihten Sechsecke, äußerst unwahrscheinlich macht: „[A]uf eine einzige verständliche Bemerkung entfallen Meilen sinnloser Kakophonien, sprachlichen Plunders, zusammenhanglosen Zeugs.“ (Borges 1990, 57) Die Utopie einer vollständigen Lesbarkeit der Welt und einer möglichen Ordnung des Wissens https://doi.org/10.1515/9783111205809-023
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schlägt solcherart um in die dystopische Erkenntnis eines grundsätzlichen NichtWissen-Könnens,¹ das zugleich dem erkennenden Subjekt selbst bei einer Preisgabe aller hermeneutischen Ambitionen keine Chance auf Selbstbestimmung, auf eine wie immer geartete Selbstsetzung durch authentische, eigene Formulierungen lässt. „Der Mensch, der unvollkommene Bibliothekar“ (Borges 1990, 56), findet vielmehr alles, was auch immer er zu formulieren und damit zu erkennen vermag, in einem solchen Bibliotheksuniversum bereits vorformuliert. „Sprechen heißt [dort folglich]: in Tautologien verfallen“, und „[d]ie Gewissheit, daß alles geschrieben ist, macht uns zunichte oder zu Phantasmen“ (Borges 1990, 62–63), zu Gespenstern also und Wesen zweiter Hand. Kein Wunder, dass sich in diesem Universum Selbstmorde häufen und der Ich-Erzähler zu dem Schluss kommt: Vielleicht trügen mich Alter und Ängstlichkeit, aber ich vermute, daß die Gattung Mensch – die einzige, die es gibt – im Aussterben begriffen ist, und daß die Bibliothek fortdauern wird: erleuchtet, einsam, unendlich, vollkommen unbeweglich, gewappnet mit kostbaren Bänden, überflüssig, unverweslich, geheim. (Borges 1990, 63)
In einem Text über den sogenannten „Sarg“, einen unterirdischen Gang in der österreichischen Nationalbibliothek, in dem „ganze Bibliotheken jüdischer Flüchtlinge […] und Deportierter“ jahrzehntelang „unaufgearbeitet“ (Roth 2009, 251) gebunkert und noch 1989 nur teilweise restituiert worden waren,² weist Gerhard Roth auf die immense Bedeutung des Lesens vor allem in der jüdischen Tradition hin: Als frühestes noch erhaltenes hebräisches Dokument „systemischen Denkens“ erwähnt Gershom Scholem in Zur Kabbala und ihrer Symbolik das Schriftstück Sefer Yezirah. Darin ist festgehalten, dass Gott die Welt mit Hilfe der zehn Ziffern und 22 Buchstaben schuf. Der Schlüssel zum Verständnis des Universums liegt nach jüdischer und später auch christlicher Tradition in der Fähigkeit, durch das richtige Lesen der Zahlen und Buchstaben gleichsam in Nachahmung des Schöpfers einen Teil des gewaltigen Textes zum Leben zu erwecken. (Roth 2009, 247)
Zur Ambivalenz der Bibliothek als „Hort des Wissens und der Unwissenheit zugleich“ wie auch zum Verhältnis von Wissen und Fiktion bei Borges und Foucault vgl. Geisenhanslüke 2011, 260–263. Gerhard Roth hat als einer der Ersten bereits 1990 in einem Essay für die Wochenzeitung Die Zeit, der später in die Essaysammlung Eine Reise in das Innere von Wien (1991) aufgenommen wurde, auf diesen Umstand hingewiesen und den sogenannten „Sarg“ später auch in seinem Roman Der Plan erwähnt (Roth 1998, 123). Eine umfangreiche Aufarbeitung der Rolle der Österreichischen Nationalbibliothek in der Zeit des Nationalsozialismus und eine Erfassung des noch dort lagernden NSRaubguts zum Zweck der Restitution setzte allerdings erst nach der Jahrtausendwende unter der Generaldirektion von Johanna Rachinger ein, vgl. dazu Innerhofer (2018) sowie die zahlreichen Publikationen von Margot Werner zum Thema, darunter den bei Roth (2009, 254) zitierten Artikel (vgl. Werner 2004, 115–142).
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Wo dies scheitert, weil historische Bibliotheken als unvollständige Abbilder jenes göttlichen Texts geraubt, geschändet, niedergebrannt und vernichtet wurden oder weil – wie in Borges’ Bibliothek von Babel – angesichts der quasi schöpferlos, mechanisch produzierten und selbstreproduzierenden Zeichenketten trotz totaler Information kein vor-geschriebener Sinn mehr auszumachen ist, wo also die utopische Hoffnung, durch genaues Textstudium „Wissen vom Schöpfungsgeheimnis“ zurückgewinnen zu können (Sosnowski 1992, 27), durch ein Zuwenig oder ein Zuviel³ Schiffbruch erleidet, stellt sich mit Foucaults vielzitierter These vom „Ende des Menschen“ (Foucault 1974, 460) die Frage, ob nicht die mit dem Aufkommen der modernen Humanwissenschaften Ende des 18. Jahrhunderts auftauchende Wissensformation eines Homo sapiens als zugleich „Objekt und Subjekt des Wissens“ (Pethes 2016, 364) und die damit einhergehende göttergleiche „Zentralstellung“ (Pethes 2016, 363) des Menschen letztlich für dieses Scheitern verantwortlich sind, und ob nicht auch eine Welt denkbar und wünschenswert wäre, in der der Mensch der ihn umgebenden Wirklichkeit nicht mehr in der Rolle eines selbst-bewussten Schöpfers gegenübertritt. Neue Wissensformationen könnten – wie es Foucault in Die Ordnung der Dinge bereits 1966 andeutet – ein posthumanes Zeitalter einläuten, in dem „sich die Strukturen der Wissensgenerierung und -kommunikation [wieder] vom Menschen ablösen“ (Pethes 2016, 364): Der Mensch wird verschwinden. Mehr als den Tod Gottes […] kündigt das Denken Nietzsches das Ende seines Mörders, das Aufbrechen des Gesichtes des Menschen im Lachen und die Wiederkehr der Masken, die Verbreitung des tiefen Flusses der Zeit, von dem er sich getragen fühlte und dessen Druck er im Sein der Dinge selbst vermutete, die Identität der Wiederkehr des Gleichen und die absolute Zerstreuung des Menschen an […]. Der Mensch hat sich gebildet, als die Sprache zur Verstreuung bestimmt war, und wird sich deshalb wohl auflösen, wenn die Sprache sich wieder sammelt. (Foucault 1974, 460)
Sowohl Borges’ Bibliothek von Babel als auch der Borges-Leser Foucault imaginieren Wirklichkeiten, in denen das als Text aufgefasste Universum – sei es in Form der unendlichen Bibliothek oder als Diskursformation – den Menschen, das erkennende Subjekt, dystopisch (Borges) oder eher utopisch-hoffnungsfroh (Foucault) im Raunen der Diskurse zum Verschwinden bringt.
Günther Stocker weist darauf hin, dass die Bibliothek von Babel „das absolute Speichergedächtnis ohne Funktion, und damit als Gedächtnis nutzlos“ sei (Stocker 1997, 174), bleibt doch das Gedächtnis immer auch auf das Vergessene als dessen Kehrseite, auf die Lücken, bezogen, ohne die es bekanntlich nichts zu erinnern gibt.
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Gerhard Roth hat sich in seinen (autofiktionalen) Texten immer wieder als Bewunderer und Leser von Borges zu erkennen gegeben,⁴ in dem Bibliotheksroman Der Plan (1998) baut er Die Bibliothek von Babel direkt in die fiktive Handlung ein und lässt den manischen Vielleser und Bibliotheksbeamten auf Abwegen, Konrad Feldt, auf seiner als Vortragsreise getarnten Höllenfahrt in einen japanischen Verbrechensabgrund bei einem Vortrag über die Österreichischen Nationalbibliothek aus Robert Musils berühmtem ‚Bibliothekskapitel‘ aus dem Mann ohne Eigenschaften (1930/1933), aus Borges’ Die Bibliothek von Babel und aus einem der zahlreichen Bibliothekstexte von Umberto Eco zitieren, so als hätte Feldt gerade die kurz zuvor erschienene Publikation von Günther Stocker über Das Motiv der Bibliothek als Spiegel des Medienwandels im 20. Jahrhundert gelesen, in der alle drei Autoren wie auch Roth selbst in eigenen Kapiteln behandelt werden (vgl. Stocker 1997). So entsteht ein unendlicher Rekurs intertextueller Verweise und metafiktionaler Spiegelungen, bei dem tatsächlich die unzähligen Literaturverweise das einzig Reale zu sein scheinen, während der Protagonist sich zunehmend in die Fiktion auflöst, bis er am Ende stirbt, und, metaphorisch gesprochen, nur die erwähnten Bücher, die ganze imaginäre Bibliothek im Kopf – „erleuchtet, einsam, unendlich, vollkommen unbeweglich, gewappnet mit kostbaren Bänden, überflüssig, unverweslich, geheim“ – „fortdauer[t]“ (Borges 1990, 63).
2 Bienen-Universen Jenseits der motivischen Bezugnahmen muss aber auch die topografische Struktur von Borges’ universeller Bibliothek Gerhard Roth inspiriert haben. Imaginiert Borges diese doch als hexagonale Anordnung, die Günther Stocker zufolge durch „Wiederholung, Abgeschlossenheit und Regelmäßigkeit“ (Stocker 1997, 172) charakterisiert sei. Das Bibliotheksuniversum präsentiert sich als eine Art überdimensionaler, horizontal wie vertikal unbegrenzter und also „zyklischer“ Wabenbau aus Büchern (Borges 1990, 63), ein allumfassender labyrinthischer Bienenstock, in dem es von Welterklärungsmodellen wimmelt. Die für Gerhard Roth so typische Kombination von Bienen und Büchern ist hier also bereits vorgeprägt – wenn auch in Form eines abstrakten Gedankenspiels über geometrische Gestaltungsmöglichkeiten unbegrenzter Erweiterbarkeit und eine Dezentralisierung zentralistisch anmutender Strukturen.
Vgl. u. a. die Verweise auf Borges in Orkus (Roth 2011, 297, 450–451, 548, 590–591 u. 653) bzw. in Die Imker (Roth 2022, 106 u. 110), aber auch Roths Kolumne Was ich lese (Die Presse (Wien), 23. 3.1996).
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Gerhard Roths Bienen-Begriff verdankt sich hingegen – wie so oft – zunächst seiner unmittelbaren Anschauung, dem eigenen Erleben, genauer gesagt den Bienenstöcken eines Imkers in der Nähe seines Wohnhauses im südsteirischen Obergreith. Gegen die Angst gestochen zu werden kaufte Roth Bücher, häufte eine ganze Bienen-Bibliothek an (vgl. Bartens 2017, o.S.), bis die Insekten – trotz ihrer potenziellen Reizbarkeit – für ihn ihren Schrecken verloren hatten. Roth war fasziniert von diesen so andersartigen Lebewesen (vgl. u. a. Pfoser-Schewig 1992, 85), die vom Facettensehen, über die (Körper‐)Sprache mittels Tänzen, die Schwarmbildung und den arbeitsteiligen, durch eine Königin regierten Bienenstaat, von der Fortpflanzung und der sogenannten Drohnenschlacht bis zum Wabenbau und der Produktion von Honig und Wachs zahllose Anschlussstellen für Analogien aller Art, mythologische und künstlerische Auslegungen boten und daher eine wichtige Rolle in der Kunst- und Kulturgeschichte unterschiedlicher Epochen und Kulturkreise – vom alten Ägypten bis in den zentraleuropäischen Raum unserer Zeit – spielen. Nach und nach hat sich Gerhard Roth seit den frühen 1980er Jahren diesen Kosmos erarbeitet, zunächst mit Notizbuch und Kamera, später aktiv als eine Art Hilfsimker im Schutzanzug, zweimal hat er auch selbst jenes „Zauberkunststück“ (Roth undat. [1987/1988], 20) vollbracht, bei dem sich in der Schwarmzeit ein ganzer Bienenschwarm auf einer Person niederlässt, um seiner Königin, die in einem Schächtelchen dort befestigt wird, zu folgen (vgl. Roth 2014, 25). In den Bienen habe er „[s]einen weißen Wal gefunden“ (Pfoser-Schewig 1992, 85) erzählt er in Anspielung auf sein Lebensbuch Moby Dick (1851) und weist damit auf eine Verkehrung der Größenverhältnisse, der implizit wohl eine veränderte Natur-Auffassung zugrunde liegt. Nicht mehr der heroische Kampf gegen eine gewalttätige (äußere und innere) Natur, sondern das Klein- und Randständig-Werden, wie dies Deleuze und Guattari gefordert hatten, das Schrumpfen bis auf Bienen- und Teilchengröße und ein kooperatives Modell, wie in der oben beschriebenen „Umarmung des Bien“ (Roth 1989, 21) angedeutet, erscheinen als Gebot der Stunde. Aus der Bienenperspektive betrachtet zeigt sich nämlich der Mensch selbst als jener weiße Wal, den Kapitän Ahab so besessen bekämpft hatte: „Der Mensch ist schon vom Körperbau her den Bienen ein übermächtiger Partner. Er übertrifft sie 150fach an Größe und 750mal an Umfang. In Relation zur Biene würde der Mensch einem Wesen gegenüberstehen, das ca. 300 m groß ist – etwa wie die Begegnung von Gulliver mit den Liliputanern“ (Roth 1993, 207), formuliert es Roth in Die stille Arbeit der Imker. ⁵ Gerhard Roths Beschäftigung mit den Bienen setzt, wie gesagt, in den frühen 1980er Jahren ein und endet erst mit dem Tod des Autors 2022 (vgl. Bartens 2017, o.
Die Textstelle kommt übrigens wortgleich bereits in dem ca. sechs Jahre früher verfassten Drehbuch zum Film Der Bien vor (vgl. Roth undat. [1987/1988], 27).
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S.). Im Nachlass am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung in Graz lassen sich diesbezügliche Foto- und Textmaterialien für die Phase ab 2014 finden, als Gerhard Roth für ein universitäres Projekt zu den Schauplätzen mittelalterlicher Literatur einen kurzen kulturhistorischen Abriss Über die Apis Mellifera Carnica (2014) beisteuerte und wieder enger mit der Thematik in Berührung kam, v. a. aber solche aus den 1980er und frühen 1990er Jahren, beispielsweise ein umfangreiches Konvolut mit Kopien aus Bienentexten u. a. von Vergil über Maurice Maeterlinck bis Rudolf Steiner und Karl von Frisch, das ursprünglich einen Anhang zum Landläufigen Tod (1984) hätte bilden sollen, wohl, um das Lesen und die bibliografische Recherche als einen Teil des schöpferischen Prozesses sichtbar zu machen.⁶ Es finden sich dort aber auch mehrere Fassungen eines Essays für das Zeitmagazin (1987), aus dem dann wortgleich das (Foto‐)Buch Über Bienen (1989), aber auch mehrere, mit zusätzlichem Text angereicherte Drehbuchfassungen für den ORF-Film Der Bien (1990, Regie: Ingrid Melzer) hervorgegangen sind, die wiederum Vorlage für zwei weitere Publikationen waren und bereits eine Verlagerung des Interesses – weg von wahrnehmungs- und alteritätstheoretischen Fragestellungen, wie sie für sein opus magnum Landläufiger Tod (1984) zentral sind, hin zu einem ‚Lesen im Buch der Natur‘ – andeuten: Roths Dankesrede anlässlich der Verleihung des – gleichfalls im Nachlass befindlichen – „Ehrendiploms des österreichischen Verbandes der Erwerbsimker für besondere Verdienste um die Förderung der Erwerbsbienenzucht“, die unter dem Titel Über die stille Arbeit der Imker (1991) publiziert wurde, sowie ein kurzer Text für einen im Brandstätter Verlag erschienenen Band über Bienen, der ebenfalls Die stille Arbeit der Imker (1993) hieß. Essayistische Texte für seine beiden großen Zyklen Die Archive des Schweigens und Orkus dienten üblicherweise der Recherche des Autors, wurden in großen deutschen Medien vorpubliziert und schließlich als sogenannte „Fundament[e] der Wirklichkeit“ (Roth 1992, 32) in eigenen Sammelbänden in die Zyklen aufgenommen. Wobei zum Zeitpunkt der Recherche nicht immer feststand, welches fiktive Gebäude später auf diesen Fundamenten errichtet werden sollte. Im Falle jenes Knäuels an auseinander hervorgegangenen Bienen-Texten war diese Chronologie jedoch vertauscht: In Gerhard Roths erstem Bienen- bzw. Bienenschwarm-Roman Landläufiger Tod (1984) war die Fiktion zuerst erschienen und traf den Leser quasi unvorbereitet, was möglicherweise die ungeheure Wirkung des Textes noch verstärkt hat. Die durchaus literarisierten Bienen-Essays und das Drehbuch folgten erst Jahre später und können daher als poetisch-poetologischer Selbstkommentar ge-
Was wiederum Maren Lickhardts Eindruck bezüglich des Literaturverzeichnisses am Ende von Über Bienen bestätigt, dass nämlich die Quellenangaben wirken, „als bildeten sie eine Einheit mit dem künstlerischen Projekt“. (Lickhardt 2017, 296)
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lesen werden, ein Kommentar, der aber in Teilen schon auf den zweiten großen Bienen-Roman, Die Imker (2022), hindeutet und für diesen – gemeinsam mit dem Bienen-Essay von 2014 – zum ‚Fundament der Wirklichkeit‘ wurde. Dort fügt Roth übrigens gegen Ende eine umfangreiche (Kultur‐)Geschichte der Bienen an, die er im Untertitel „Meine geheime Dissertation“ (Roth 2022, 523) nennt. In eine Neuauflage seines Landläufigen Tods (2017) anlässlich des 75. Geburtstags nahm der Autor neben anderen in der Erstauflage ausgegliederten Teilen auch die beiden Essays Über Bienen (1989) und Über die Apis Mellifera Carnica (2014) auf und integrierte sie so nachträglich in seinen ersten Zyklus. Will man nun die spezifische Bedeutung der Bienen für Roths Landläufigen Tod fassen, so führt der Autor selbst jenes inzwischen vielzitierte Modell des sogenannten „Bien“ an: Roth hatte seine Materialrecherchen über das südsteirische Grenzland abgeschlossen und verfügte in seinen Aufzeichnungen und Fotografien über „ein wüstes Sammelsurium von Lebensläufen, Zeitläuften, Jahreszeitlichem, dem Lauf der Natur und dem Einbruch der Geschichte, eine vielstimmige Oral History in Fragmenten über eine Grenzregion zwischen Archaik und Moderne, Fantasmagorie und Wirklichkeit“ (Bartens 2017, o.S.), für dessen multiperspektivisch-kaleidoskopische Darstellung er ein geeignetes Strukturmodell suchte. Er fand es schließlich in jener Ende des 19. Jahrhunderts aufgekommenen Idee, nicht die einzelne Biene, sondern das gesamte Bienenvolk als einen einzigen Organismus, ein „Tier aus bis zu 40000 fliegenden Zellen“, das in der Forschung der „Bien“ genannt wurde, aufzufassen – „wobei die Arbeitsbienen die Gliedmaßen und inneren Organe darstellten, die Königin und die Drohnen das Geschlecht, die wächsernen Waben das Skelett und die Summe des Ganzen das Gehirn“ (Roth 2014, 24). Maren Lickhardt hat in ihrer umfassenden Studie Gerhard Roths „Landläufiger Tod“ und „Über Bienen“: Zur Poetologie sozialer Insekten den damaligen Forschungsstand zum Thema resümiert und unter Bezugnahme auf den damals noch nicht leicht zugänglichen Text Über Bienen ausgeweitet. Es soll hier aber ergänzt werden, was damals noch nicht sichtbar war, beziehungsweise was dem Thema neue Bedeutungskomponenten, insbesondere in Zusammenhang mit dem utopisch/ dystopischen ‚Verschwinden des Menschen‘ durch Minoritär-Werden, Tier-Werden, Molekular-Werden (vgl. das Kapitel „Intensiv-Werden, Tier-Werden, Unwahrnehmbar-Werden“, Deleuze und Guattari 1992, Kap. 10) hinzufügt. In Bezug auf den Bien hat Lickhardt auf Roths „mystisch anmutende“ „Vorstellung einer All-Einheit, einer Vielheit in der Einheit bzw. einer Einheit in der Vielheit“ (2017, 291) hingewiesen, eine Vorstellung, die sich bestätigt, wenn man den Beginn von Über Bienen mit seiner Analogie von Mikro- und Makrokosmos, Elementarteilchen (Bienen) und Sternenwelt, zentrifugalen und -petalen Bewegungen, wie sie den Schwarm auf der Futtersuche charakterisieren, genauer betrachtet, ein „in sich tanzendes und pulsierendes Tier aus frei beweglichen Körperzellen, das eher dem flüssigen oder
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gasförmigen Aggregatzustand zuzurechnen ist als dem festen“ (Roth 1989, 6), ein Tier, das nur durch seinen Sexualtrieb, den Magnetismus der Pheromone, die den „Bien“ ausmachen, zusammengehalten wird. Eros und Thanatos scheinen auch die Bienenwelt zu prägen, wie überhaupt gleich eingangs eine Echokammer von Prätexten aufmacht wird: Bienen hatten für mich immer etwas mit dem Gehirn, dem Denken zu tun: Die Bienenstöcke erinnern an den Kopf, die Waben an die grauen Zellen, die Bienen an Wahrnehmungen und Gedanken, und pausenlos und unsichtbar wirkt die Sexualität. Sie beherrscht übrigens das gesamte Bienenvolk, das aus 70.000 Bienen zur Schwarmzeit im Mai und ungefähr 15.000 im Winter besteht. Schon bald erkannte ich im Universum, in der Sternenwelt des „stockdunklen“ Kosmos, den Meteoriten, den Sternenhaufen, Spiralnebeln, Sonnen und Monden Analogien wieder, die ihrerseits nur eine wendeltreppenartige Fortsetzung aus der mikroskopischen Welt zu sein schienen. In der Biene zeigt sich am spielerischsten und – wie man trügerischer Weise annimmt – auf die friedlichste Weise das „kosmische Prinzip“. (Roth 1989, 5)
Von den Waben über die Wendeltreppe bis zum Universum lässt sich hier eine räumliche Analogie zu Borges’ Bibliothek von Babel ausmachen, nur dass bei Roth dieses Universum im Kopf liegt, sodass man sich seine Version nicht statisch-geordnet, sondern immer im Werden, als einen übergroßen Bienenstock = Kopf vorstellen muss, in dem die Gedanken = Bienen wie ein „Summ-Geist“ (Roth 1989, 6) herumfliegen, zu Mustern zusammentreten, die sich wieder auflösen, bevor sich neue Ornamente⁷ herausbilden: Wenn der Schriftsteller ein Zauberer ist, dann liegt das daran, daß Schreiben ein Werden ist; das Schreiben ist von einem seltsamen Werden durchdrungen, das kein Schriftsteller-Werden ist, sondern ein Ratte-Werden, ein Insekt-Werden, ein Wolf-Werden etc. (Deleuze und Guattari 1992, 327)
Wobei das Ornament für Roth zur eigentlichen poetologischen Utopie der Metamorphose und des Werdens wird: „Das Gegenständliche wird zum abstrakten Muster, das abstrakte Muster steht für den Sternenhimmel, für ein Blumenbeet, ein physikalisches Gesetz, für die Schöpfung, Musik, das Dasein und die Abwesenheit. Das Ornament durchdringt das Denken, macht offen für neue Vorstellungen, ist eine neue Sprache, die wir im Sehen und Reflektieren lernen […]. Selbst Gras und Steine verwandeln sich – nicht zu reden von den Bäumen und Vögeln. Ein Ornament verzaubert alles, Pfoten, Zähne, Augen, Pilzkappen, Farnkraut, Käfer und Frösche. Die Ornamente fügen die äußere und die innere Wirklichkeit zusammen.“ (Roth 2022, 478)
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Im Falle von Roths schizophrenem Alter Ego Lindner⁸, dem unzuverlässigen Erzähler der beiden Romane Landläufiger Tod und Die Imker, ist es zunächst ein BieneWerden⁹, dem sich in Die Imker ein Elster-Werden¹⁰ hinzugesellt, das sich in der Jenseitsreise, Roths unvollendetem allerletztem Roman, der im Manuskript bereits im Archiv liegt und noch publiziert werden soll, gemäß dem dort vorherrschenden diebisch-intertextuellen Verfahren zu Lindners hauptsächlicher Seinsweise entwickelt. Biene-Werden heißt, an die eigenen Subjektgrenzen gehen, heißt, fliegen können, Facetten sehen, wortlose Botschaften in die Luft schreiben, heißt Nektar saugen und Honig machen, heißt aber auch von Imkern ausgebeutet, von Elstern gefressen, von den eigenen Trieben gebeutelt und von den anderen Bienen abhängig zu sein. Die Biene sieht eine andere Welt. Es ist vor allem der mikroskopische Dschungel der Blüten, eine Landschaft im WINZIGEN aus Farben und Strukturen, in der sie verschwindet wie ein Mensch in einer Baumkrone oder einem großen Strauch. Für das menschliche Auge ist es fast eine abstrakte Welt – für die Biene eine sinnliche. (Roth undat. [1987/1988], 21)
Es ist, als kreiste ein ganzer Schwarm von Bienen in diesem schweigenden, aber schreibenden ver-rückten Dichterkopf – „Aus einem Bienenschwarm blicken 150.000 Augen auf die Landschaft“, heißt es bei Roth (undat. [1987/1988], 21) – und produzierte mit seinen aufgesplitterten Blicken auf jenen ländlich-archaischen Kosmos, der, scheinbar geschichtslos-ewig, immer wieder von seiner Geschichte eingeholt wird, Partikel, die ebenfalls wie ein Bienenschwarm funktionieren. In dem Schlussbild von Landläufiger Tod mit dem Titel „Nein“ ist Lindner aus der jenseitigen Welt des Biene-Werdens wieder im „Diesseits“ – so das erste Wort des Kapitels –, nämlich auf der Bühne eines Wanderzirkus mit faschistoidem Zirkusdirektor, angekommen, wo er sich, marktschreierisch angekündigt als „der einzige Bienendompteur der Welt“ (Roth 1984, 783) und in Manier der sogenannten ‚Abnormitäten-Schauen‘, wie sie etwa in Horváths Oktoberfest-Stück Kasimir und Ka-
Durch Kapitel, die eindeutig der (realen) Schriftstellerfigur zugeordnet werden können, wie jenem über Fotografie und Erinnerung (Roth 2022, 154–159) und vor allem den beiden Kapiteln Warum ich schreibe (Roth 2022, 98–104) und Warum ich lese (Roth 2022, 104–111), wird Lindner spätestens mit dem Roman Die Imker als deren fiktive, schizophrene Abspaltung, eines der vielen, wenn nicht das wichtigste Alter Ego der Autorfigur, erkennbar. Folgende Textstelle macht dies explizit: „Ich aber blickte als Biene in das Mikroskop. Meine 5000 Sehstäbchen zerlegten die dingliche Welt in Facetten, sie stanzten förmlich Punktbilder aus meinem Gesichtsfeld heraus, die sich erst wieder in meinem Gehirn zusammenfügten.“ (Roth 1984, 206) Vgl. das Kapitel Ich bin ein Vogel (Roth 2022, 145–154), in dem Lindner, der phasenweise die Sprache der Tiere versteht, zu hören bekommt: „Wenn du Vögel verstehen willst, flieg!“ (Roth 2022, 145) und daraufhin – als Elster – zu einem Elsternflug aufbricht.
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roline (1932) thematisiert werden, mit dem schon beschriebenen ‚Kunststück‘ als „Bienenmensch“ (Roth 1984, 783) präsentiert und dabei jeweils von mehreren Bienen gestochen wird, bis sein Gesicht anschwillt wie jenes von John Merrick in David Lynchs Film The Elephant Man (USA 1980). Es ist die höllische Kehrseite jenes utopischen „Tier-“ und schließlich „Unwahrnehmbar-Werdens“ (Deleuze und Guattari 1992, 380) im Sinne von „[i]n der Welt [A]ufgehen“¹¹ (Deleuze und Guattari 1992, 381), die das Tier-Werden als posthumane Verkleinerungsstrategie in der absoluten Entfremdung des öffentlich zur Schau gestellten Mensch-Biene-Hybrids in ein ZumTier-Gemacht-Werden verkehrt. Doch es wäre nicht der im Landläufigen Tod beschriebene schizophrene Gesellschaftszustand, wenn es zu jenem dystopischen ‚Diesseits‘ nicht ein zweites, ein utopisches Diesseits einer anderen Zeitrechnung, in der ver-rückten Schreibperspektive Lindners als „Diesseits, 1904“ (vgl. Roth 1984, 782) bezeichnet, gäbe, welches freilich durch die dem Vater entwendeten Frauenkleider ödipale Züge trägt: Zuletzt fragt sie mich, weshalb ich mich als Frau verkleide. Ich sage, ich sei eine Frau. Daraufhin lacht sie, wir verabreden uns für morgen. Vor Glück trunken laufe ich zu den Höfen und lasse die Tiere frei. Ich springe in einen Karpfenteich, in dem sich die Sterne spiegeln, und schwimme in den Sternen und trinke sie. Die Vögel waren verstummt, nur die Eulen riefen: „Du bist verzerrt, du bist verzerrt.“ Ich spürte, wie ich mich dehnte, und schritt rascher aus, um nicht zu einem Nebel zu werden, der sich auflöste. (Roth 1984, 782)
Und auch der 2017 in den Roman aufgenommene Essay Über Bienen endet wiederum mit jenem Bienenkunststück, das dort allerdings als „Umarmung des Bien“ (vgl. Roth 1989, 21 und Roth 2017, 966) bezeichnet wird und einen – Ingeborg Bachmann anzitierenden – utopischen Ausblick gibt. Roth setzt darin seinem Bienenlehrmeister, dem Imker Zmugg, der gemeinsam mit seinem Sohn Walter Vorbild für Vater und Sohn Lindner wurde, ein Denkmal. Die Natur ist nur ein anderes Wort für Zusammenhang, dachte ich, sie ist nicht das tote Präparat unter dem Mikroskop […]. Unsere Vorstellung von Natur beruht auf einer toten Natur. Die Natur ist ein unendliches Geflecht, ein Zusammenhangsknäuel, ein lebendiger Gordischer Knoten, dessen Fäden sich nur mit Gewalt voneinander trennen lassen. Herr Zmugg saß da wie ein Wanderer aus den Gefilden des Gartens Eden. Keine Biene stach ihn. Für kurze Zeit existierte die Utopie der Wesensgleichheit von Mensch und Tier – und, als gäbe es eine neue Sprache, ein neues Denken – es herrschte Friede. (Roth 1989, 21–22)
„Dann ist man wie Gras: man hat aus der Welt, aus aller Welt ein Werden gemacht, weil man eine zwangsläufig kommunizierende Welt gemacht hat, weil man alles an sich selbst unterdrückt hat, was uns daran gehindert hat, zwischen die Dinge zu gleiten, inmitten der Dinge zu wachsen.“ (Deleuze und Guattari 1992, 382)
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In Roths letztem Roman Die Imker, der in Bezug auf die Zweiteilung der Gesellschaft in normal und verrückt, gut und böse, schonenden und räuberischen Umgang mit Ressourcen Assoziationen mit Bruegels rätselhaftem gleichnamigem Bild, das auf dem Cover der Neuausgabe von Landläufiger Tod abgebildet ist, hervorruft und in einem postapokalyptischen neuen Arkadien spielt, scheinen nach der Katastrophe alle Unterschiede ausgelöscht, auch jene zwischen Tier und Mensch, und diesmal gibt es gleich zu Beginn eine „Umarmung des Bien“ (Roth 2022, 36), bei der Lindner in symbiotischer Verschmelzung so sehr „zu einem Teil des Schwarms“ wird, dass er „immer kleiner und kleiner“ und schließlich selbst „zur Biene“ wird (Roth 2022, 36). Doch das Tier-Werdungs-Experiment scheitert auf fatale Weise, als sich ein Vogelschnabel der Biene nähert, die ausweicht und – nun wieder Mensch geworden – von hunderten Bienen gestochen wird. Zugeschwollen, schwarz von Stacheln und fiebernd in einem Eisblock gefangen, reagiert Lindner mit dem Schreiben von „Sprachbildern“, poetischen, vordergründig sinn-losen Sätzen, die er „Gedichte“ (Roth 2022, 40) nennt. Der Bienenschwarm kann umarmen oder stechen, „[e]r steht“ aber auch „für eine andere Art der Schöpfung, in der durch eine Ästhetik der empathischen Vergegenwärtigung, durch Hineinversetzen in jedes einzelne Geschöpf […] letztlich ‚alle zusammen [zu] Teile[n] eines gigantischen fliegenden Ornaments‘ (Roth 2022, 476) werden“ (Bartens 2022, 121): Ich könnte schreiben und zur gleichen Zeit kommunizieren, ein Frühstück bereiten, die Landschaft betrachten, ein Buch lesen, eine Frau umarmen, in ein unbekanntes Haus eindringen und nicht wieder hinausfinden, sterben und geboren werden. Ich könnte essen und zugleich trinken, das Haus bewachen, hoch in der Luft sein und in meinem Zimmer sitzen, fliehen und verfolgen. Das Entscheidende daran wäre, dass es für mich normal sein würde – permanent meine Zellen zu erneuern, mich […] gleichzeitig an bis zu 40000 Orten aufzuhalten und sowohl männlichen als auch weiblichen Geschlechts zu sein. Das übersteigt die Vorstellungskraft und dennoch habe ich mich viele Male in diese zweite Welt begeben. (Roth 2022, 124)
Wenn die Bienenstöcke tatsächlich jener „Kopf“ (vgl. Roth 1989, 5) sind, in dem sich all dies mehr oder weniger gleichzeitig ereignet, die Gedankenbienen ausschwärmen und abstrakte Muster bilden, so stehen sie auch und vor allem für das Lesen und das Schreiben, denen in Die Imker zwei ausführliche Komplementärkapitel gewidmet sind. Von daher wundert es nicht, dass am Ende des Romans, als die Schwerkraft aussetzt und die gesamte Textwelt in den Himmel stürzt, nur der Autor und „unbegreiflicherweise“ (Roth 2022, 548) – wie er betont – die Bienenstöcke übrigbleiben. In der noch unpublizierten, unabgeschlossenen Jenseitsreise, die mit Lindners Sprung in einen Abgrund einsetzt, findet sich bereits auf der ersten Typoskriptseite eine solche Lesart bestätigt:
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[M]ein letzter Gedanke war, dass der Schöpfer ein Bienenschwarm sei, ein ‚Bien‘ aus tausenden selbstständigen Teilchen, die sich zu einem einzigen Wesen zusammenfügten und dass auch ich, ohne es zu wissen, eine Zelle seines Körpers gewesen war, der seine Gestalt von außen nie zu Gesicht bekommen hatte… (FNI_Roth_W_39 2021, 1)
Seine Jenseitsreise, die sich als eine endlose Lesereise gestaltet, ein Wüstes Land, in dem Lindner/Roth den Heldinnen und Helden seiner lebenslangen Lektüren begegnet, führt ihn auch in eine „riesige unterirdische Bibliothek“ mit Namen „Babylon“ (FNI_Roth_W_39 2021, 227), in der er sich „wie eine Biene in den endlosen Waben ihres Baus“ (FNI_Roth_W_39 2021, 230) fühlt.
Literaturverzeichnis Bartens, Daniela. „Gerhard Roth und die Bienen. Objekt des Monats: Juni 2017“. https://franz-nablinstitut.uni-graz.at/de/neuigkeiten/detail/article/objekt-des-monats-juni-2017/ (14. 2. 2023). Bartens, Daniela. „Über Leben. Zeit(en) und (Erzähl‐)Räume in Gerhard Roths monumentalem Alterswerk Die Imker“. Gegenwärts. Anlässe des Schreibens in der österreichischen Literatur seit 2020. Hg. von Lisa Erlenbusch und Christian Neuhuber. Graz: Dossier online, 2022: 105–122. https:// unipub.uni-graz.at/download/pdf/8167561.pdf (14. 2. 2023). Borges, Jorge Luis. Die Bibliothek von Babel. Die zwei Labyrinthe. Lesebuch. Hg. von Andrea Wörle. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1990: 54–63. Deleuze, Gilles, und Félix Guattari. Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie. Aus dem Franz. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Berlin: Merve, 1992. Foucault, Michel. Die Ordnung der Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1974. Geisenhanslüke, Achim. Dummheit und Witz: Poetologie des Nichtwissens. München: Fink, 2011. Innerhofer, Judith E. „Im Labyrinth des Wissens“. Die Zeit (Hamburg), 27. 1. 2018. Lickhardt, Maren. „Gerhard Roths Landläufiger Tod und Über Bienen: Zur Poetologie sozialer Insekten“. Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 16 (2017): 283–302. Pethes, Nicolas. Posthumanismus. Futurologie: Ordnungen des Zukunftswissens. Hg. von Benjamin Bühler und Stefan Willer. Paderborn: Fink, 2016: 363–373. Pfoser-Schewig, Kristina. „Reise durch das Bewußtsein: Ein Monolog von Gerhard Roth über Die Archive des Schweigens“. Gerhard Roth: Materialien zu „Die Archive des Schweigens“. Hg. von Uwe Wittstock. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 1992: 82–94. Roth, Gerhard. Landläufiger Tod. Roman. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1984. Roth, Gerhard. „Der Bien“. Die Zeit (Hamburg), 9. 10. 1987. Roth, Gerhard. Der Bien. Unpubl. Filmdrehbuch, undat. [1987/1988], FNI_Roth_W1.1.4.3.2 Roth, Gerhard. Über Bienen. Mit Fotos von Franz Killmeyer. Wien: Jugend und Volk, 1989. Roth, Gerhard. „Über die stille Arbeit der Imker“. Bienenwelt 33.4 (1991): 10. Roth, Gerhard. „Eine Expedition ins tiefe Österreich. Über meine Fotografie“. Gerhard Roth: Materialien zu „Die Archive des Schweigens“. Hg. von Uwe Wittstock. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 1992: 23–32.
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Gabi Rudnicki
Jedoch immerhin Utopisches und Dystopisches bei den Murnauer Horváth-Tagen 1998–2022 „Die Veranstalter wagen natürlich nicht zu hoffen, dass sie mit den Murnauer Horváth-Tagen ein gesetzmäßiges Weltgeschehen beeinflussen könnten, jedoch immerhin.“ So schlossen die beiden Vorsitzenden der Ödön-von-Horváth-Gesellschaft ihre Einladung ans Publikum im Programmheft der Murnauer Horváth-Tage 2013 in Abwandlung von Horváths Satz aus seinem Vorwort zu Der ewige Spießer (1930; vgl. Horváth 2010, 777). In diesem „Jedoch immerhin“ stecken Hoffnung auf Wirkung und der Versuch, die Arbeit auch gegen Widerstände kontinuierlich fortzusetzen. Ist der Wunsch, ein gesetzmäßiges Weltgeschehen beeinflussen zu können, Utopie oder Dystopie? Zunächst eine grobe Begriffsklärung: gängige Nachschlagewerke übersetzen das griechische ‚topos‘ mit ‚Ort, Stelle, Platz; Bücherstelle, Schriftstelle; Gegend, Land, Raum, Örtlichkeit‘, aber auch ‚Gelegenheit, Möglichkeit‘, ‚Eu‘ bedeutet ‚gut, wohl, schön, verständig, günstig, glücklich‘, ‚ou‘ ‚nicht‘. Utopia von Thomas Morus sei das „Land, das nirgends ist“ bzw. allgemein ein „Traumland, erdachtes Land, wo ein gesellschaftlicher Idealzustand herrscht“ (Duden). Die Utopie sei ein „als unausführbar geltender Plan ohne reale Grundlage“ und utopisch sei „schwärmerisch, wirklichkeitsfremd“ (Duden). Unter Dystopie verstehe man medizinisch „das Vorkommen von Organen an ungewöhnlichen Stellen“ im Gegensatz zur Eutopie, der „normalen Lagerung von Organen“ (Duden). In der Literaturwissenschaft wird die Dystopie als „fiktionale, in der Zukunft spielende Erzählung o. Ä. mit negativem Ausgang“ (Duden) definiert. Vor diesem Hintergrund zurück zu den Murnauer Horváth-Tagen. Als 1996 eine Gruppe theaterbegeisterter, engagierter Horváth-Interessierter aus dem Raum Murnau am Staffelsee und Garmisch-Partenkirchen in Oberbayern sich daran machte, anlässlich des 60. Todestages Ödön von Horváths am 1. Juni 1998 in Murnau Veranstaltungen zu planen, mag die Möglichkeit der Verwirklichung noch zwischen Utopie und Dystopie changiert haben. Man fand ideelle und finanzielle Unterstützer, das Interesse in Murnau war groß, mitunter zeigten sich aber auch Skepsis und Zurückhaltung. Jedoch immerhin! Im Mai 1998 konnten die Murnauer Horváth-Tage aus der Taufe gehoben werden. Ein Illustrationswettbewerb für Schulen zu den Sportmärchen bezog Kinder und Jugendliche mit ein, und bei einer Wanderung in Aidling bei Murnau besuchte das Publikum Schauplätze des Hochlandlagers 1934 mit Bezug zu Jugend ohne Gott (1937), dessen Verfilmung in der Adaption von Roland Gall (1969) im Kino gezeigt wurde. Im Zentrum aber stand die https://doi.org/10.1515/9783111205809-024
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Inszenierung von Horváths Der jüngste Tag (Regie: Georg Büttel) und daraus abgeleitet die Frage nach Schuld. Eine Podiumsdiskussion zwischen einem Moraltheologen, einem Psychologen und einem Juristen zum Thema ‚Schuld und Verantwortung‘ wurde ergänzt durch eine Ausstellung von Murnauer Künstlerinnen und Künstlern zum gleichen Thema sowie einen Vortrag von Herbert Gamper zur Mythe des Sündenfalls im Werk Horváths. Konnte nach der Letztgültigkeit des jüngsten Tages noch etwas folgen? Welcher Schauplatz konnte es mit dem Ort aufnehmen, den Pokorny in Der jüngste Tag (1937) als eine Art Utopia beschreibt: Friedlich, sehr friedlich! Weißt, wie in einem stillen ländlichen Wirtshaus, wenns anfängt zu dämmern – Draußen liegt Schnee, und du hörst nur die Uhr – ewig, ewig – liest deine Zeitung und trinkst dein Bier und mußt nie zahlen – […] Wir spielen auch oft Tarock, und ein jeder gewinnt – oder verliert, je nachdem, was einer lieber tut. Man ist direkt froh, daß man nimmer lebt! (Horváth 2011, 216)
Es folgten noch schönere Aussichten: Anlässlich des anstehenden 100. Geburtstags am 9. Dezember 2001 beschlossen die Verantwortlichen, den Autor mit einem ganzen Horváth-Jahr zu feiern. Marcel Reich-Ranicki sagte als Schirmherr zu. Im Zentrum des vielfältigen Jahresprogramms zeigten die Murnauer Horváth-Tage Zur schönen Aussicht (1927) sowie die im Murnauer Auftrag erstellte Ausstellung Geborgte Leben, die sich erstmals vertieft mit dem Thema ‚Horváth und der Film‘ beschäftigte. Pseudonyme, der Wunsch, eigentlich anders zu sein, aber nur so selten dazu zu kommen, die Utopie, ein Hotel retten zu können, die in einer Dystopie endet. „Man spaziert in einem Leben ohne Geländer“, jenes Zitat von Franz Theodor Csokor aus einem Brief an Horváth vom 25. März 1938 (Horváth 2022, 175), gab dem dreitägigen internationalen Symposium den Titel. Die Themen der drei von mir und Matthias Kratz konzipierten Tage waren aus Horváths Werk abgeleitet: „Eigentlich. Anders sein?“, „Heimat Europa“ sowie „Wirklichkeit. Inszenierung“. Zu den Referierenden gehörte erstmals Klaus Kastberger, der den Horváth-Tagen seither treu geblieben ist und seit 2019 ebenso wie Nicole Streitler-Kastberger und Martin Vejvar Ehrenmitglied der Ödön-von-Horváth-Gesellschaft ist. Im Sitzungssaal des Murnauer Rathauses, vom damaligen Murnauer Bürgermeister Harald Kühn als Schauplatz des ersten Symposiumstages zur Verfügung gestellt, kam es zu einem Disput zwischen Herbert Gamper und Kastberger, den Eva Menasse in ihrer Besprechung des Symposiums in der FAZ vom 11.10. 2001 so wiedergab: Ein Alter attackierte einen Jungen, weil der, sinngemäß, eine eindeutige moralische Aussage in Horváths Werk zurückwies. Alles sei maskenhaft, schillernd, doppeldeutig, offen. ‚Sie machen Horváth zu einem Zyniker‘, fauchte der Alte […]. Das Publikum war auf seiner Seite […], denn ihnen ist Horváth unverbrüchlich ein melancholischer Aufklärer, es gibt nur einen Gott. Die Jugend hatte den Schwarzen Peter. (zitiert nach Kastberger 2003, 22)
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Abb. 1: Klaus Kastberger bei den Murnauer Horváth-Gesprächen 2010, © Ödön-von-Horváth-Gesellschaft Murnau, Foto: Christian Kolb, Murnau.
Die zum Horváth-Jahr entstandene Horváth-Medaille trägt neben Horváths Lebensschauplätzen sein Zitat „das Herz der Völker schlägt im gleichen Takt“ (Horváth 1988, 185) sowie auf der Vorderseite den Hut Horváths aus einem seiner letzten Fotos von 1938 mit den darunter in Collage platzierten wachen Augen des jungen Horváth. Ein Motiv, das als Logo blieb. Die gleiche Motivik ziert den Bierfilz, der seither quasi als Visitenkarte der Ödön-von-Horváth-Gesellschaft fungiert. Anlässlich des Horváth-Jahres entstand ein roter Hut als Installation, der bis zum heutigen Tag weithin im Murnauer Kulturpark als Denk-Mal leuchtet. Prominenter Abschluss-Gast des Jahres war zum Geburtstag am 9. Dezember Josef Hader mit seinem Programm Privat, das den Tod des Schriftstellers in einem Dialog mit dem Pariser Ast thematisierte. „Wenn ich nur wieder in Murnau sein könnte“ (Horváth 2022, 45), gestand Ödön von Horváth 1929 sehnsuchtsvoll einer Freundin. Das Horváth-Jahr gab der posthumen Rezeption des Autors im Ort großen Auftrieb. Der Rhythmus, alle drei Jahre Horváth-Tage zu veranstalten, ist seither erhalten geblieben. Seit 1998 fungieren und konzipieren Georg Büttel als Künstlerischer Leiter und ich als Gesamtleiterin. Das Publikum ist immer wieder eingeladen, mit Gästen aus Bühnenkunst, Literatur, Film und Wissenschaft das Werk des WahlMurnauers neu zu erleben. Detaillierte Informationen zu allen Programmen, Pro-
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grammhefte und Presseberichte sind unter www.horvath-gesellschaft.de nachzulesen. 2003 gründeten die Verantwortlichen die Ödön-von-Horváth-Gesellschaft, mit inzwischen über 60 internationalen Mitgliedern unter dem Vorsitz der beiden oben Genannten. Ziel war es von Anfang an, den meistgespielten deutschsprachigen Dramatiker in Murnau selbst präsenter zu machen und zum anderen die enge Beziehung des Autors zu seiner selbst gewählten Heimat stärker oder überhaupt ins Bewusstsein zu rufen. Vorstand und Aktive arbeiten ehrenamtlich. Für die Murnauer Horváth-Tage stellen sie trotz überschaubaren finanziellen Budgets Programme auf hohem Niveau mit eigens dafür konzipierten Veranstaltungen auf die Beine. Finanziell möglich wird dies nur durch Förderungen aus öffentlicher Hand und private Spenden. Das Folgende soll nicht chronologisch, sondern strukturell einen Einblick in die Konzeption der bisherigen neun Festivals geben. Inwiefern sich darin utopisches oder dystopisches Potenzial findet, sei den Lesenden überlassen. Motto des weltweit einzigen Festivals, das sich so umfänglich mit dem Schriftsteller beschäftigt, ist stets ein aus Horváths Leben und Werk abgeleitetes Thema: Das Verhältnis von Mann und Frau sowie Horváths Fräulein-Figuren (2004), Heimsehnen – Fortsehnen. Sehnsuchtsvolle Lieder und Texte inspiriert von Ödön von Horváth (2007), Künstlerfreunde und Zeitgenossen wie Walter Serner, Alfred Döblin, Klaus Mann, Erich Kästner und Carl Zuckmayer (2010), der 75. Todestag (2013), Lebenslinien Horváths anlässlich des Erwerbs von biografisch relevanten Dokumenten durch die Horváth-Gesellschaft mit deren Erstpräsentation im Murnauer Schlossmuseum (2016), die Themen Dummheit und Lüge,Vernunft und Aufrichtigkeit (Tanz auf dem Vulkan, 2019) sowie Vertrauen (Trau! Schau! Wem?, 2022). Ein Festival, das sich einem der bedeutendsten Dramatiker des 20. Jahrhunderts widmet, muss theatrale Schwerpunkte haben. Neben Inszenierungen von HorváthStücken (Der jüngste Tag, 1998; Zur schönen Aussicht, 2001; Uraufführung von Ein Fräulein wird verkauft, 2004) finden sich eigens für die Horváth-Tage konzipierte Abende wie Lesungen (zu den 1920er Jahren, 2010; „Tanz auf dem Vulkan“, 2019), zu Briefen und Stücken Horváths (2022), musikalische Bilderbogen („Die Männer sind alle Verbrecher“, 2004; „…dann ist das Leben ein Scherz“, 2013), eine kabarettistische Revue zu Horváths Leben („Jetzt geh ich da so hin und her“, 2016) oder ein von der Deutschen Bühne Ungarn zusammengestellter literarisch-musikalischer Abend („Und die Liebe höret nimmer auf…“, 2022), der Horváth in eine fiktive Begegnung mit ungarischen künstlerischen Zeitgenoss:innen brachte. Viel beachtete Dramatisierungen von Werken Horváths oder seiner Zeitgenossen durch Mitglieder der Ödön-von-Horváth-Gesellschaft gehören als Inszenierungen ebenfalls dazu: Georg Büttel verantwortete Textfassung und Regie für Ein Kind unserer Zeit (1938; als Solostück mit Sebastian Bezzel, 2001; Neufassung auf
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Abb. 2: Murnauer Horváth-Tage 2004: Szene aus der Uraufführung von Ein Fräulein wird verkauft mit Veronika von Quast, Katja Lechthaler und Henry Arnold, © Ödön-von-Horváth-Gesellschaft Murnau, Foto: Christian Kolb, Murnau.
Basis der Wiener Ausgabe mit Max Pfnür, 2016), Sechsunddreißig Stunden (1929; als Solostück, 2001; als Zwei-Personen-Stück, 2019) sowie Der ewige Spießer (2013). Ergänzt wird diese Reihe durch die Dramatisierung von Erich Kästners Fabian oder Der Gang vor die Hunde (2019) sowie eine theatrale Umsetzung von Walter Serners Letzte Lockerung (2010). Gründungsmitglied Angela Hundsdorfer dramatisierte und inszenierte 2007 mit über 50 Jugendlichen Jugend ohne Gott. Zu den hochkarätigen Mitwirkenden zählten bisher unter anderen Gerhard Polt, Saša Stanišić, C. Bernd Sucher, der Wiener Musiker Oskar Aichinger, die Schauspieler:innen Johanna Wokalek, Sebastian Bezzel, Johanna Christine Gehlen, Jörg Hube, Conny Glogger, Henry Arnold, Michael Grimm, Birgit Minichmayr sowie Christoph Süß, bekannt u. a. durch die Moderationen der Bayerischen Film- und Fernsehpreise. Fester Bestandteil der Horváth-Tage war von Anfang an auch der wissenschaftliche Austausch: zunächst noch als „Horváth-Symposium“, später im Sinne des Autors volksnäher als „Horváth-Gespräche“ bezeichnete interdisziplinäre Begegnungen. Hier setzen Wissenschaftler:innen Impulse zu aktuellen Fragen der Hor-
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Abb. 3: Murnauer Horváth-Tage 2010: Lesung „Künstlerfreunde“ mit Christoph Süß, Sebastian Bezzel und Johanna Christine Gehlen, © Ödön-von-Horváth-Gesellschaft Murnau, Foto: Christian Kolb, Murnau.
váth-Forschung (z. B. männliche und weibliche Rollenprojektionen von Horváth bis heute, 2004; Horváth und die Musik, 2016), zu Neuerscheinungen (z. B. Band „Briefe, Dokumente, Akten“ der Wiener Ausgabe, 2022), zu zum jeweiligen Motto passenden Fragestellungen (z. B. „Ein Volkstheater ohne Volk – Zur Situation des Volkstheaters heute“, 1998), zu aktuellen Veranstaltungen (z. B. Verfilmung von Jugend ohne Gott als Dystopie, 2016) oder zu Unverhofftem (z. B. Niemand – ein Theaterereignis, 2016). Nach den Kurzvorträgen bleibt jeweils Zeit zum Publikumsgespräch. Zu den internationalen Gästen zählten unter anderen Monika Meister, Cornelia Krauß, Evelyne Polt-Heinzl, Herbert Gamper, Hajo Kurzenberger, Edit Király aus Budapest, Maria Teuchmann und Ulrich N. Schulenburg vom Thomas Sessler Verlag Wien, die Film-Regisseure Dominik Graf und Ben von Grafenstein, Film-Produzent Uli Aselmann, Dramaturg Roland Koberg, der Intendant des Volkstheaters München Christian Stückl, Regisseurin Jacqueline Kornmüller, Autor Fitzgerald Kusz oder Kästner-Herausgeber Sven Hanuschek und die Philosoph:innen Johanna Haberer und Julian Nida-Rümelin sowie der Herausgeber der Karl-Kraus-Biografie Der Widersprecher, Jens Malte Fischer. Stammreferierende sind seit 2001 in wechselnder Besetzung die Herausgeber:innen der Wiener Ausgabe Klaus Kastberger, Nicole Streitler-Kastberger und Martin Vejvar.
Jedoch immerhin
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Die Horváth-Gesellschaft kooperiert regional organisatorisch und inhaltlich mit ortsansässigen Gruppen, z. B. bei Veranstaltungen der evangelischen Kirchengemeinde oder inklusiven Theateraufführungen der Gruppe Kunterbunt e.V. Murnau. Durch die Zusammenarbeit mit überregionalen Institutionen (z. B. Deutsches Theatermuseum München, 2019; Teamtheater München, 2022) konnten landesweite Synergien genutzt werden. International basierten Planung und Durchführung auf der fruchtbaren Kooperation u. a. mit dem Thomas Sessler Verlag Wien, dem Literaturhaus Graz, dem Off Theater Salzburg, dem Wiener Volksliedwerk e.V. sowie der Deutschen Bühne Ungarn. Ein friedliches und grenzüberschreitendes Utopia unterm Horváth-Hut! Seit 1998 sind Projekte mit Jugendlichen in unterschiedlicher Weise immer wieder Teil des Programms, sei es durch eigene Inszenierungen von Schulklassen oder Beiträge zu Veranstaltungen. Seit 2013 bieten die Veranstaltenden im Rahmen von Schulvorstellungen, Klassen aus Murnau und den angrenzenden Landkreisen die Möglichkeit, die jeweilige Theateraufführung kostengünstig in Murnau anzusehen und sich im Anschluss an die Aufführungen mit den Schauspielenden und dem Regisseur zu unterhalten. So sahen 2022 rund 470 Schülerinnen und Schüler zusammen mit ihren Lehrkräften die von Georg Büttel inszenierte und bearbeitete, konzise zweistündige Fassung mit vier Schauspielern von Karl Kraus‘ Die letzten Tage der Menschheit (1915–1922) und waren tief beeindruckt. Die Ödön-von-Horváth-Gesellschaft weiß natürlich nicht, ob sie durch den Versuch, Jugendliche als Mitwirkende zu gewinnen und so deren Interesse für Literatur und Theater zu wecken, einen langfristig anhaltenden Beitrag zu deren kultureller Bildung bewirken kann – jedoch immerhin! Die Idee der Ödön-von-Horváth-Gesellschaft, die Landschaft der Literaturpreise um einen zu Horváth zu erweitern, erschien zunächst als Utopie. Realität ist der Preis seit 2013. Die ebenfalls in Murnau ansässige, 2003 gegründete Ödon-vonHorváth-Stiftung verleiht den Ödön-von-Horváth-Preis als Ehrenpreis und als mit 5000 € dotierten Förderpreis. Die Auszeichnungen gehen im Rahmen der Murnauer Horváth-Tage an Personen, die mit ihrem künstlerischen Schaffen im Sinne des Schriftstellers tätig sind. Felix Mitterer, Edgar Reitz, Josef Hader sowie Sir Christopher Hampton waren bisherige Preisträger. Den individuellen Preis gestaltet jeweils ein:e im Künstlerort Murnau ansässige:r Kunstschaffende:r. Den Förderpreis erhielten der Berliner Regisseur Ben von Grafenstein, die Münchner Künstlerin Gesche Piening, die Berliner Filmemacherin Eva Trobisch und die österreichische Regisseurin Christina Gegenbauer. Schon von Beginn an zeichnete die Murnauer Horváth-Tage die Multi-Topie aus: Eine besondere Mischung aus Regionalität und Internationalität, aus namhaften Künstler:innen, Wissenschaftler:innen und Laien, aus Jugend und Erfahrung, aus Bekanntem und Unbekanntem, aus Bildender Kunst, Theater, Lesung und Gesprä-
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Gabi Rudnicki
Abb. 4: Im Murnauer Wirtshaus: die Horváth-Preisträger Sir Christopher Hampton, Christina Gegenbauer und Josef Hader im Gespräch mit Georg Büttel und Gabi Rudnicki, Murnauer HorváthTage 2022, © Ödön-von-Horváth-Gesellschaft Murnau, Foto: Christian Kolb, Murnau.
chen. Eine Mischung aus verschiedenen Schauplätzen wie Straßen und Geschäfte im Ort, Ödön-von-Horváth-Aula, Kultur- und Tagungszentrum, evangelische Kirche, Schlossmuseum und Gaststätten. Eine Mischung aus Veranstaltungen und anschließendem gemütlichen Beisammensein mit Künstler:innen, Veranstaltenden und Zuschauer:innen in einem der Murnauer Wirtshäuser, die schon für Horváth Schauplatz für seine Anregungen waren. Horváth ist an den Topoi in Murnau und der Ort Murnau im öffentlichen Bewusstsein als Topos auf der Horváth-Landkarte angekommen. Am Beginn jeder Planung hofft man darauf, die kühnen Vorhaben mögen sich über gelegentlich dystopisch anmutende Zwischenstadien in ein Utopia verwandeln, wo ein veranstalterischer Idealzustand mit vollen Räumen, zufriedenen Mitwirkenden und angeregtem Publikum herrscht. In dieser Zuversicht wurden wir tatsächlich bis dato nicht enttäuscht. Und so können die Horváth-Tage kontinuierlich als Katalysator für die Vertiefung von alten Kontakten und neuen Kooperationen wirken. Für die kreative Entwicklung innovativer Ideen und Veranstaltungen setzen wir dabei auf die vielen guten, im Laufe der Jahre gewachsenen freundschaftlichen Verbindungen. Und wir vertrauen ganz real auf Horváths Werk, das
Jedoch immerhin
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weiterhin eine Fülle interessanter Themen nahelegt – seien sie utopischer oder dystopischer Natur.
Literaturverzeichnis Horváth, Ödön von. Sportmärchen, andere Prosa und Verse. Hg. von Traugott Krischke. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988. Horváth, Ödön von. Der ewige Spießer. Hg. von Klaus Kastberger und Kerstin Reimann. Berlin und New York: De Gruyter, 2010. Horváth, Ödön von. Der jüngste Tag. Ein Dorf ohne Männer. Hg. von Nicole Streitler-Kastberger und Martin Vejvar. Berlin und Boston: De Gruyter, 2011. Horváth, Ödön von. Briefe, Dokumente, Akten. Hg. von Martin Vejvar. Berlin und Boston: De Gruyter, 2022. Kastberger, Klaus. „Horváth. Ein Maskenspiel“. Leben ohne Geländer. Internationales Horváth-Symposium Murnau 2001. Hg. vom Markt Murnau am Staffelsee. Murnau 2003: 22–34.
Personenregister Abraham a Sancta Clara 136 Adams, Douglas 249 Adorno, Theodor W. 72, 77, 87, 99, 258 Aichinger, Ilse 75 Aichinger, Oskar 285 Aischylos 135, 195, 206 Andrian, Leopold von 51 Angely, Louis 16 f. Aranyossi, Magda 227 Aranyossi, Pál 228 Arnold, Henry 285 Artmann, H.C. 126, 157 f., 161 f., 262 Aselmann, Uli 286 Babel, Isaak 228 Bachmann, Ingeborg 13, 75, 276 Bahr, Hermann 29, 51 Balázs, Béla 107, 111 Balzac, Honoré de 30 Barthes, Roland 64–66, 185, 190 Bataille, George 16, 66 f. Bauernfeld, Eduard 2 Bayer, Konrad 126 Benjamin, Walter 103–106, 111 f., 116, 196 Berger, John 116 Bernhard, Thomas 53, 75, 131–139, 162, 215, 217, 223 Bettauer, Hugo 74 Bezzel, Sebastian 284–286 Bierce, Ambrose 162 Blackwood, Algernon 162 Blaze de Bury, Marie 18 f. Bliss, Charles K. 256–258 Blitz, Karl Kasiel Siehe Bliss, Charles K. Bloch, Ernst 75, 96, 99, 258 f. Boccaccio, Giovanni 244 f. Böll, Heinrich 75, 120 Borges, Jorge Luis 182 f., 211, 267–270, 274 Bourdieu, Pierre 199 Brassier, Ray 157 Brecht, Bertolt 238 Brentano, Clemens 16 Breton, André 184 https://doi.org/10.1515/9783111205809-025
Brik, Ossip 104, 111 Broch, Hermann 74 f., 125, 230 Brus, Günter 204 Büttel, Georg 282–284, 287 f. Caillois, Roger 61 f., 64, 68, 73 Canetti, Elias 39–42, 44–48, 75, 218 Clemenceau, Georges 134 Cohn, Alfred 104 Coudenhove-Kalergi, Richard 95 Cronauer, Willy 98 Csokor, Franz Theodor 282 Czernin, Franz Josef 66 f. Defoe, Daniel 81 Deleuze, Gilles 271, 273 f., 276 Diderot, Denis 12 Döblin, Alfred 74, 284 Dor, Milo 119, 126 f., 129 Dos Passos, John 228 Drach, Albert 75 Drews, Jörg 157, 161 Ebner-Eschenbach, Marie von 25–28, 30 f., 33– 36 Eckermann, Johann Peter 15 Eisenreich, Herbert 120 Elgin, Suzette Haden 258 Elias, Norbert 196, 198 Escher, M. C. 187 Fallada, Hans 74 Famler, Walter 187 Faschinger, Lilian 76 Fassbinder, Rainer Werner 238 Federmann, Reinhard 119–129 Felder, Franz Michael 114 Fischer, Jens Malte 286 Fleißer, Marieluise 238 Foucault, Michel 65 f., 80, 181 f., 188–190, 268 f. Freud, Sigmund 25, 54, 142, 152, 244, 246 f. Freumbichler, Johannes 137 Friedrich II. 8, 10, 12
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Personenregister
Frisch, Karl von 272 Frisch, Max 75 Frischmuth, Barbara 162 Fritsch, Gerhard 120, 131, 137 Gamper, Herbert 282, 286 Gegenbauer, Christina 287 Gehlen, Johanna Christine 285 f. Geyrhalter, Nikolaus 193 Gide, André 228 Gleich, Johann Alois 16 Glogger, Conny 285 Goebbels, Joseph 72 Goethe, Johann Wolfgang 15–17, 19, 22 Goldhann, Franz 55 Gorki, Maxim 114 f. Graf, Dominik 286 Grafenstein, Ben von 286 f. Grass, Günter 75, 120, 219 Greene, Sonia 160 Grimm, Michael 285 Grotius, Hugo 58 Gstrein, Norbert 76, 211 f., 215, 219 Guattari, Félix 271, 273 f., 276 Haberer, Johanna 286 Hader, Josef 283, 287 f. Hahnl, Hans Heinz 162 Hampton, Christopher 287 Handel-Mazzetti, Enrica 53 Handke, Peter 75, 158, 162, 193, 214 Hanuschek, Sven 286 Haslinger, Josef 213 Haushofer, Marlen 141–145, 152–154 Hell, Bodo 182 f. Henisch, Peter 128 Herbeck, Ernst 262 Herzenkron, Hermann 20 Hesse, Hermann 74 Hitler, Adolf 174 Hofmann, Paul 200 Hofmannsthal, Hugo von 51 Hollein, Hans 203 Horváth, Ödön von 75, 77–87, 89, 91–101, 238, 275, 281–288 Houellebecq, Michel 163 Hube, Jörg 285
Huizinga, Johan 71 f. Hundsdorfer, Angela 285 Illész, Béla
111
Jandl, Ernst 119, 128 f., 162 Jelinek, Elfriede 75 f., 119, 129, 157 f., 162 f., 193 f., 206–208, 216 f. Jelzin, Boris 206 Johnson, Uwe 75 Jonke, Gert 162, 234 Joseph, Rudolph S. 77 Joseph II. 1, 7–12 Jünger, Ernst 74 Kafka, Franz 65–67, 74, 196, 259 f., 263 Kant, Immanuel 8–10, 12, 87 Kastberger, Klaus 61, 64 f., 73, 84, 87, 92 f., 100, 119, 128, 163, 174, 181 f., 185, 215 f., 282 f., 286 Kästner, Erich 74, 284 f. Kesten, Hermann 97 King, Stephen 157 f. Király, Edit 286 Kisch, Egon Erwin 103, 228 Koberg, Roland 286 Köhlmeier, Michael 76 Körber, Clara 52 Kornmüller, Jacqueline 286 Kovačič, Lojze 226 Krauß, Cornelia 286 Kraus, Karl 27, 51 f., 286 f. Kraus, Wolfgang 124, 131 Kren, Brigitte 200 Kristeva, Julia 152 Kroetz, Franz Xaver 238 Kubin, Alfred 39–48, 74 Kühn, Harald 282 Kürnberger, Ferdinand 114 Kurzenberger, Hajo 286 Kusz, Fitzgerald 286 Lacan, Jacques 152, 234 Lacis, Asja 104, 106 Lasker-Schüler, Else 206, 234 Le Bon, Gustave 44 Lebert, Hans 157–161
Personenregister
Lembert, Johann Wilhelm 20 Lenz, Siegfried 75 Lovecraft, H.P. 157–163 Lovecraft, Susan Phillips 159 Lovecraft, Winfield Scott 159 Lukács, Georg 111–113 Lynch, David 157, 276 Mach, Edmund 262 Maeterlinck, Maurice 272 Magris, Claudio 131 f., 137 Mann, Heinrich 74 Mann, Klaus 284 Mann, Thomas 74 f. Mannheim, Karl 96 Marcel, Anthony J. 176 Maria Theresia 132, 136 Mayröcker, Friederike 128 f., 181–191 Meillassoux, Quentin 157 Meister, Monika 286 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 98 Mezei, Ernő 227 Mezei, Mór 227 Minichmayr, Birgit 285 Mitterer, Felix 287 Molotov, Wjatscheslaw Michailowitsch 105 Morus, Thomas 80, 253–256, 281 Mozart, Wolfgang Amadeus 132, 136 Mühl, Otto 204 Musil, Robert 61, 63 f., 67–74, 77, 125, 270 Nádas, Klara 227 Nádas, Lászlo 228 Nádas, Péter 223–230 Nena 71 f. Nestroy, Johann Nepomuk 15–22, 86, 208, 234 Netrebko, Anna 206 Nida-Rümelin, Julian 286 Nietzsche, Friedrich 196 Nitsch, Hermann 204 Oates, Joyce Carol 157 Ottwalt, Ernst 113 Palmetshofer, Ewald 233–241 Panferov, Fedor Ivanovič 103–116 Pascal, Blaise 135
Pezzl, Johann 1–13 Pezzl , Johann 13 Pfnür, Max 285 Piening, Gesche 287 Plaz, Hieronymus Graf 33 Poe, Edgar Allan 160 Poincaré, Raymond 57 Poivre, Pierre 6 Polt, Gerhard 154, 285 Polt-Heinzl, Evelyne 286 Popper-Lynkeus, Josef 57 Preisinger, Joseph 17 Priessnitz, Reinhard 129 Raimund, Ferdinand 99 Rak, Ekaterina 200 Rákosi, Mátyás 228 Ransmayr, Christoph 76 Reich-Ranicki, Marcel 282 Reichart, Elisabeth 128 Reik, Theodor 54 Reitz, Edgar 287 Remarque, Erich Maria 74 Röggla, Kathrin 243–245, 247–250 Rolland, Romain 57 Rosegger, Peter 25–29, 31, 34–36 Roth, Gerhard 74, 217–219, 267 f., 270–278 Roth, Joseph 74, 103 Rousseau, Jean-Jacques 3 Rühm, Gerhard 126, 129 Saphir, Moritz Gottlieb 18 Sartre, Jean-Paul 196 Schiller, Friedrich 15 f., 19 f. Schindel, Robert 122 f. Schleyer, Johann Martin 258 Schmalz, Ferdinand 238 Schmidt, Arno 157 Schnitzler, Arthur 51–59, 74 Schnitzler, Heinrich 51 f., 55 Scholz, Wenzel 17 Schopenhauer, Arthur 25, 34, 132, 263 Schulenburg, Ulrich N. 286 Schumpeter, Joseph 47 Seghers, Anna 75, 228 Seidl, Ulrich 193 f., 198–203, 205 f. Serner, Walter 284 f.
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Personenregister
Setz, Clemens J. 215 f., 253–263 Sonnerat, Pierre 6 Soyfer, Jura 122 Spengler, Oswald 96 Sperr, Martin 238 Stalin 105 f., 110, 113 f. Stanišić, Saša 285 Stavianicek, Hedwig 131, 133 Steiner, Rudolf 272 Stemmle, Robert A. 100 Stermann, Dirk 202 f. Stifter, Adalbert 141, 143 f. Still, William 207 Strobl, Karl Hans 53 Stückl, Christian 286 Sucher, C. Bernd 285 Süß, Christoph 285 f. Tauschinski, Oskar Jan 141 Teuchmann, Maria 286 Thomas, Michael 200 Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm Toller, Ernst 103 Tolstoi, Lew Nikolajewitsch 27, 33 Torberg, Friedrich 75 Trier, Lars von 157 Trobisch, Eva 287
Tschornaja, A. 107 Turing, Alan M. 167–170 Verlaine, Paul 135 Vischer, Friedrich Theodor Voltaire 1 f., 6
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Walla, August 262 Walser, Robert 74 Weber, Max 46 Weigel, Hans 121 Weill, Kurt 78 Weiss, Peter 52, 227 Werfel, Franz 51, 75, 132 Wiener, Oswald 167–178 Wilhelm II. 57 Williams, Tennessee 157 Wilson, John 173 Wilson, Woodrow 57 Wittgenstein, Ludwig 176 f., 261 f. Wokalek, Johanna 285 Wurm, Erwin 193 f., 203 f., 206 Zamenhof, Ludwig 258 Zeh, Juli 107 Žižek, Slavoj 234 Zöllner, Johann Friedrich 8 Zuckmayer, Carl 284