Urteilsanerkennung Unter Gegenseitigkeitsvorbehalt: Zur Vereinbarkeit Von Reziprozitatserfordernissen Bei Der Anerkennung Und Vollstreckung Auslandischer Urteile Mit Der Emrk (German Edition) 3161616464, 9783161616464


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German Pages 268 [270] Year 2023

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Table of contents :
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Titel
Vorwort
Inhaltsübersicht
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
Teil I – Gegenseitigkeitserfordernisse
Kapitel 1 – Gegenseitigkeit und Urteilsanerkennung
A. Gegenseitigkeit als Instrument der Verhaltensbeeinflussung
B. Historische Entwicklung: Herausbildung von Gegenseitigkeitserfordernissen
I. Prozeduraler Hintergrund: Vollstreckung auf Rechtshilfewege durch „Bittbriefe“
II. Ideengeschichtlicher Hintergrund: Aufstieg und Überhöhung der Souveränitätsidee
III. Völkerrechtlicher Hintergrund: Gegenseitigkeit als Retorsion gegenüber dem Ausland
IV. Zwischenergebnis
C. Arten von Gegenseitigkeitserfordernissen
I. Staatsvertragsvorbehalte
II. Administrative Gegenseitigkeitsfeststellung
III. Gerichtliche Gegenseitigkeitsfeststellung
D. Ziele und Motive von Gegenseitigkeitserfordernissen
I. Unmittelbares Ziel: Durchsetzbarkeit von inländischen Urteilen im Ausland
II. Dahinterliegende Motive
1. Schutz eigener Bürger
2. Schutz inländischer Wirtschaft
3. Schutz eigener Autorität
III. Zwischenergebnis
E. Kritik an Gegenseitigkeitserfordernissen
I. Ungerechtigkeit: Beeinträchtigung privater Rechte
II. Ungeeignetheit: Ineffektivität der Gegenseitigkeit
III. Rechtsunsicherheit: Schwierigkeiten bei der Gegenseitigkeitsfeststellung
F. Fazit
Kapitel 2 – Die Gegenseitigkeit im deutschen Recht
A. Vor dem Inkrafttreten der ZPO: Einzelstaatliche Reziprozitätserfordernisse
B. Einführung der Gegenseitigkeit in die ZPO: Der „Struckmann’sche Antrag“
C. Konkretisierung der Gegenseitigkeitsvorschrift durch die Rechtsprechung: Zwischen strenger und liberaler Auslegung
I. „Gegenseitigkeit“
II. „Verbürgt“
III. Fazit
D. Gesetzgeberische Entwicklung
I. Ausweitung, dann Einschränkung des Anwendungsbereichs
II. Festhalten an der Gegenseitigkeit (IPR-Reform 1986)
E. Effektivität der deutschen Gegenseitigkeitsvorschrift?
I. Abschluss von bilateralen Anerkennungs- und Vollstreckungsabkommen
II. Änderung der ausländischen Anerkennungspraxis
III. Zwischenergebnis
F. Fazit
Kapitel 3 – Die Gegenseitigkeit im common law-Rechtskreis
A. Englisches Recht
I. Historische Entwicklung des englischen Anerkennungsrechts
1. Vollstreckungspflicht aus dem law of nations
2. Vollstreckungsgebot aufgrund von comitas gentium
3. Vollstreckung aufgrund der doctrine of obligation
II. Bewertung der doctrine of obligation
1. Heutige Grundzüge des englischen Anerkennungsrechts
2. Internationale Zuständigkeit
3. Versagungsgründe
4. Vollstreckungsfähigkeit: Nur Zahlungsurteile
5. Zweigleisigkeit der Vollstreckung
a) Common law: Action on the foreign judgment
b) Statutory law: Registration
III. Zwischenergebnis
B. US-amerikanisches Recht
I. Ausgangspunkt: Comity-Doktrin des englischen Rechts
II. Fortentwicklung zu einem Gegenseitigkeitserfordernis (Hilton v Guyot)
III. Föderalisierung des Anerkennungsrechts (Erie Railroad v Tompkins)
IV. Gegenseitigkeitserfordernisse in den einzelnen US-Staaten
V. Gesetzesentwurf des American Law Institute: Neuer Trend hin zur Gegenseitigkeit?
VI. Zwischenergebnis
C. Kanadisches Recht
I. Ausgangslage
II. Etablierung einer innerkanadischen Anerkennungs- und Vollstreckungspflicht (Morguard Investment Ltd v De Savoye)
III. Übertragung auf Auslandsurteile jeglicher Art (Beals v Saldanha; Pro Swing Inc v Elta Golf Inc)
IV. Zwischenergebnis
D. Fazit
Kapitel 4 – Rechtsvergleichende Tendenzen
A. Überblick: Verbreitung des Gegenseitigkeitskriteriums in Europa
I. Nordische Staaten und Russland: Festhalten am Staatsvertragsvorbehalt
II. Germanischer Rechtskreis: Traditionell durch Gegenseitigkeitserfordernisse geprägt
III. Mittel- und Osteuropa: Weitgehende Überwindung von Reziprozitätsvorbehalten
IV. Romanischer Rechtskreis: Völliges Fehlen von Gegenseitigkeitserwägungen
B. Einzelne Rechtsordnungen mit bedeutenden Entwicklungen im autonomen Anerkennungsrecht
I. Frankreich: Von der révision au fond zu einem liberalen Anerkennungsrecht
II. Spanien: Verzicht selbst auf „weiche“ Reziprozitätsvorschriften
III. Polen: Zuerst Abmilderung, dann Abschaffung der Gegenseitigkeit
IV. Tschechien: Keine Reziprozität zum Nachteil eigener Staatsbürger
V. Russland: Ansätze zur Überwindung des Staatsvertragsvorbehalts
C. Neuere Vorschläge wissenschaftlicher Arbeitsgruppen
I. Groupe européen de droit international privé
II. Institut de Droit international
D. Fazit
Teil II – Vorgaben der EMRK für die Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen
Kapitel 5 – Internationales Zivilverfahrensrecht und Menschenrechte
A. Späte „Entdeckung“ der Menschenrechte im IZVR
I. Traditionelle Wahrnehmung: IZVR zwischen Privat- und Völkerrecht
II. Historische Entwicklung: Vom lückenhaften zum universellen Rechtsschutz
B. Beispiele menschenrechtlichen Einflusses
I. Déni de justice
II. Exorbitante Gerichtsstände
III. Alien Tort Claims Act
IV. Staatenimmunität bei schweren Menschenrechtsverletzungen
V. Anerkennung eines familiären Status
1. Adoption und Leihmutterschaft
2. Verbot von „Kinderehen“
VI. Abschaffung des Exequaturverfahrens
C. Wirkweise des menschenrechtlichen Einflusses
D. Fazit
Kapitel 6 – Die Europäische Menschenrechtskonvention: Charakter, Besonderheiten, Anwendung
A. Regelungsgegenstand der EMRK: Verhältnis zu den eigenen Bürgern
B. Verpflichtungen aus der EMRK: Objektiver Charakter, fehlende Gegenseitigkeit
C. Durchsetzung der EMRK-Garantien: Judizieller Mechanismus mit Individualbeschwerderecht
D. Rolle des EGMR: Quasi-Verfassungsgericht
E. Methodenfragen
I. Spezifische Auslegungsgrundsätze
1. Kein in dubio mitius
2. Autonome Auslegung
3. Effektive Auslegung
4. Dynamische Auslegung
5. Rechtsvergleichende Auslegung (European consensus)
II. Kontrolldichte (margin of appreciation)
III. Rechtfertigung von Eingriffen
1. Gesetzliche Grundlage
2. Legitimes Ziel
3. Verhältnismäßigkeit
IV. Zusammenfassung
F. Fazit
Kapitel 7 – Anerkennungs- und Vollstreckungspflichten aus Art. 6 Abs. 1 EMRK
A. Rechtsprechung des EGMR
I. Ausgangspunkt: Garantien während eines laufenden Erkenntnisverfahrens
II. Ausdehnung des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf alle Phasen eines inländischen Rechtsstreits
1. Recht auf Zugang zu Gericht (Golder ./. Vereinigtes Königreich)
2. Recht auf Vollstreckung (Hornsby ./. Griechenland)
3. Zwischenergebnis
III. Ausdehnung des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile
1. Anerkennungsverbote (Pellegrini ./. Italien)
2. Anerkennungs- und Vollstreckungspflichten
a) McDonald ./. Frankreich
b) Sholokhov ./. Armenien und Moldawien
IV. Zwischenergebnis
B. Analyse der Rechtsprechung: Herleitung von Anerkennungsund Vollstreckungspflichten durch den EGMR
I. Ausgangspunkt: Recht auf Vollstreckung bei Inlandsurteilen
II. Fortentwicklung: Übertragung auf die Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen
III. Kritik: Gleichsetzung von Inlands- und Auslandsurteilen
IV. Zwischenergebnis
C. Pro und Contra von Anerkennungs- und Vollstreckungspflichten aus Art. 6 Abs. 1 EMRK
I. Rechtsschutzeffektivität
1. Beweisschwierigkeiten
2. Finanzielle Erschwerungen
3. Faktische Erschwerungen
4. Zeitliche Verzögerungen
5. Risiko zwischenzeitlicher Verjährung
6. Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen
7. Stellungnahme
II. Sonstige Argumente
1. Pro: Aussagen der Präambel
a) Rechtsstaatlichkeit
b) Kollektiver Menschenrechtsschutz
c) Einheitsstreben
2. Contra: Intention, Auswahlcharakter, Menschenrechtsvertrag
a) Fehlende Intention der Vertragsstaaten
b) Auswahlcharakter der EMRK-Garantien
c) Charakter der EMRK: Menschenrechtsvertrag
3. Stellungnahme
III. Souveränität
IV. Territorialität
V. Stellungnahme
D. Fazit
Kapitel 8 – Anerkennungs- und Vollstreckungspflichten aus materiellen EMRK-Garantien
A. Anerkennungspflichten aus dem Recht auf Achtung des Privatund Familienlebens (Art. 8 EMRK)
I. Rechtsprechung des EGMR
1. Wagner und J.M.W.L ./. Luxemburg
2. Mennesson ./. Frankreich
3. Paradiso und Campanelli ./. Italien
4. Advisory opinion des EGMR zur Umsetzung des Mennesson-Urteils
II. Analyse der Rechtsprechung
III. Zwischenergebnis
B. Anerkennungspflichten aus der Eigentumsgarantie (Art. 1 ZP 1 EMRK)
I. Rechtsprechung des EGMR
1. Ausgangspunkt: Sehr weiter Eigentumsbegriff
a) Terminologie in den authentischen Sprachfassungen
b) Besondere Wichtigkeit der autonomen Auslegung
c) Schutzgut: Eigentum im Sinne von asset
2. Nichtbefolgung / Nichtvollstreckung inländischer Urteile
3. Nichtvollstreckung ausländischer Urteile
a) Saccoccia ./. Österreich
b) Vrbica ./. Kroatien
c) Négrépontis-Giannisis ./. Griechenland
II. Analyse der Rechtsprechung
III. Stellungnahme
C. Fazit
Kapitel 9 – Zusammenfassung: Vorgaben der EMRK für die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile
A. Bestehen eines subjektiven Rechts auf grenzüberschreitende Urteilsdurchsetzung
B. Notwendigkeit grundsätzlicher Anerkennungsbereitschaft
C. Schranken: Rechte der unterlegenen Partei
D. Staatliche Interessen als Schranken?
E. Schranken-Schranke: Verhältnismäßigkeit
F. Fazit
Teil III – Synthese: Konventionsmäßigkeit von Gegenseitigkeitserfordernissen?
Kapitel 10 – Vereinbarkeit von Gegenseitigkeitserfordernissen mit den Vorgaben der EMRK?
A. Ausgangslage: Rechtfertigungsbedürftigkeit von Gegenseitigkeitserfordernissen
B. Analyse: Konventionsmäßigkeit von Gegenseitigkeitserfordernissen
I. Keine Klarheit über das mit Gegenseitigkeitserfordernissen angestrebte Ziel
II. Gegenseitigkeit als Druckmittel zur Herstellung einer gegenseitigen Anerkennungspraxis
1. Legitimität des angestrebten Ziels: Durchsetzbarkeit von Inlandsurteilen in ausländischen Staaten
2. Zweifelhafte Geeignetheit: Mangelnde Effektivität aufgrund konzeptioneller Unzulänglichkeiten
a) Fehlen einer kooperativen Grundeinstellung
b) Informations- und Koordinationsdefizite
c) Unzureichende Anreizsetzung
d) Zwischenergebnis
3. Fehlende Erforderlichkeit: Keine Begrenzung des Eingriffs in subjektive Rechtspositionen auf das notwendige Maß
a) Staatsvertragsvorbehalte und administrative Gegenseitigkeitsfeststellung
b) Gerichtliche Gegenseitigkeitsfeststellung
aa) Retorsion als milderes Mittel
bb) Beschränkung auf ausländische Urteilsgläubiger als milderes Mittel
c) Zwischenergebnis
4. Fehlende Angemessenheit: Uneingeschränkte Dominanz staatlicher Interessen
5. Ergebnis
III. Gegenseitigkeit als Abwehrfilter gegen Entscheidungen aus nicht vertrauenswürdigen Justizsystemen
1. Formelle Gegenseitigkeitserfordernisse: Grundsätzliche Geeignetheit, aber fehlende Erforderlichkeit
2. Gerichtliche Gegenseitigkeitserfordernisse: Konzeptionelle Ungeeignetheit
3. Ergebnis
IV. Gegenseitigkeit als Ziel an sich
C. Gesamtergebnis
Fazit
Literaturverzeichnis
Rechtsprechungsverzeichnis
Sachverzeichnis
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Urteilsanerkennung Unter Gegenseitigkeitsvorbehalt: Zur Vereinbarkeit Von Reziprozitatserfordernissen Bei Der Anerkennung Und Vollstreckung Auslandischer Urteile Mit Der Emrk (German Edition)
 3161616464, 9783161616464

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Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht 516 Herausgegeben vom

Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht Direktoren: Holger Fleischer und Ralf Michaels

Lech Kopczy´nski

Urteilsanerkennung unter Gegenseitigkeitsvorbehalt Zur Vereinbarkeit von Reziprozitätserfordernissen bei der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile mit der EMRK

Mohr Siebeck

Lech Kopczyński, Studium der Rechtswissenschaften in Heidelberg, St. Petersburg (Russische Föderation), Bonn und Münster; M.Jur.-Studium in Oxford (Jesus College); wissenschaftlicher Assistent am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht; Forschungsaufenthalt an der University of Cambridge (Wolfson College); seit 2020 Rechtsanwalt in Düsseldorf.

ISBN 978-3-16-161646-4 / eISBN 978-3-16-163263-1 DOI 10.1628/978-3-16-163263-1 ISSN 0720-1141 / eISSN 2568-7441 (Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2024 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Printed in Germany.

Meinen Eltern Zbigniew und Teresa

Vorwort Vorwort

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2021/2022 von der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg als Dissertation angenommen. Die Disputation fand am 26. Januar 2022 statt. Literatur, Gesetzgebung und Rechtsprechung befinden sich auf diesem Stand. Seitdem ist in kurzer Zeit sehr viel geschehen. Knapp einen Monat später, im Morgengrauen des 24. Februars 2022, überfielen russische Truppen die Ukraine. Es folgte der größte Landkrieg auf dem europäischen Kontinent seit 1945. Der russische Angriffskrieg stellt einen Epochenbruch dar, der auch vor rechtspolitischen Entwicklungen nicht haltmacht. Dies berührt punktuell auch einige Aussagen in der vorliegenden Abhandlung. So ist die Russische Föderation seit dem 16. September 2022 nicht mehr Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Auch die in dieser Untersuchung nachgezeichnete, liberale und weltoffene Rechtsprechungstendenz der russischen Wirtschaftsgerichte hat kaum Aussicht auf Bestand. Denn einerseits wurde sie gerade mit den aus der EMRK folgenden Verpflichtungen begründet. Andererseits verheißen Krieg, Sanktionen und Gegensanktionen für die gegenseitige Urteilsanerkennung generell nichts Gutes. Die Anerkennung ausländischer Urteile ist nämlich, wie die nachfolgende Untersuchung aufzeigen wird, kaum jemals völlig frei von außen- und handelspolitischen Erwägungen und setzt zudem ein gewisses Grundvertrauen in die Redlichkeit ausländischer Justizsysteme voraus. Zum Gelingen der vorliegenden Untersuchung haben viele Menschen beigetragen. Mein Dank gebührt in erster Linie meinem verehrten Doktorvater, Prof. Jürgen Basedow. Er hat diese Dissertation angeregt. Er hat ihre Entstehung mit großem Interesse und hilfreichen Ratschlägen begleitet. Nicht zuletzt hat er mir auch die Möglichkeit eingeräumt, die Arbeit als sein wissenschaftlicher Assistent am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht zu verfassen. Leider ist Jürgen Basedow vor nur wenigen Wochen völlig unerwartet verstorben, sodass ihn diese Dankesworte nicht mehr erreichen werden. Seiner Familie gilt mein aufrichtiges Beileid. Bedanken möchte ich mich ferner bei Prof. Reinhard Bork für die rasche Erstellung des Zweitvotums, bei den Professoren Ralf Michaels und Holger Fleischer für die Aufnahme dieser Arbeit in die Schriftenreihe des Instituts sowie bei Dr. Christian Eckl und Janina Jentz für die redaktionelle Bearbeitung. Für

VIII

Vorwort

fruchtbare Diskussionen und viele hilfreiche Anregungen danke ich Prof. Hannes Rösler, Priv.-Doz. Elke Heinrich-Pendl und Dr. Matthias Pendl. Es ist keine Übertreibung zu behaupten, dass die vorliegende Dissertation ohne den Rückhalt meiner Liebsten nie vollendet worden wäre. Ich danke Irina, die mir bei der Erstellung dieser Arbeit Halt gegeben und so manche Entbehrung auf sich genommen hat. Von ganzem Herzen bedanken möchte ich mich auch bei meinen Eltern, Zbigniew und Teresa, deren liebevoller Zuspruch mich von Kindesbeinen an begleitet. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Düsseldorf, im Sommer 2023

Lech Kopczyński

Inhaltsübersicht Inhaltsübersicht

Inhaltsübersicht

Vorwort ...................................................................................................... VII Inhaltsverzeichnis ........................................................................................ XI Abkürzungsverzeichnis ............................................................................. XXI

Einleitung................................................................................................... 1 Teil I – Gegenseitigkeitserfordernisse ............................................ 5 Kapitel 1 – Kapitel 2 – Kapitel 3 – Kapitel 4 –

Gegenseitigkeit und Urteilsanerkennung..................................... 7 Die Gegenseitigkeit im deutschen Recht ....................................29 Die Gegenseitigkeit im common law-Rechtskreis ......................51 Rechtsvergleichende Tendenzen ................................................ 83

Teil II – Vorgaben der EMRK für die Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen ............................. 103 Kapitel 5 – Internationales Zivilverfahrensrecht und Menschenrechte ....... 105 Kapitel 6 – Die Europäische Menschenrechtskonvention: Charakter, Besonderheiten, Anwendung .................................. 123 Kapitel 7 – Anerkennungs- und Vollstreckungspflichten aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ................................................................ 141 Kapitel 8 – Anerkennungs- und Vollstreckungspflichten aus materiellen EMRK-Garantien .................................................. 169 Kapitel 9 – Zusammenfassung: Vorgaben der EMRK für die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile............ 191

X

Inhaltsübersicht

Teil III – Synthese: Konventionsmäßigkeit von Gegenseitigkeitserfordernissen?..................................... 195 Kapitel 10 – Vereinbarkeit von Gegenseitigkeitserfordernissen mit den Vorgaben der EMRK?...................................................... 197 Fazit ........................................................................................................... 219

Literaturverzeichnis .................................................................................... 221 Rechtsprechungsverzeichnis ....................................................................... 239 Sachverzeichnis .......................................................................................... 243

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ...................................................................................................... VII Inhaltsübersicht ........................................................................................... IX Abkürzungsverzeichnis ............................................................................. XXI

Einleitung................................................................................................... 1 Teil I – Gegenseitigkeitserfordernisse Kapitel 1 – Gegenseitigkeit und Urteilsanerkennung...................... 7 A. B.

Gegenseitigkeit als Instrument der Verhaltensbeeinflussung .................. 7 Historische Entwicklung: Herausbildung von Gegenseitigkeitserfordernissen .............................................................. 9

I.

Prozeduraler Hintergrund: Vollstreckung auf Rechtshilfewege durch „Bittbriefe“ ................................................................................. 10 II. Ideengeschichtlicher Hintergrund: Aufstieg und Überhöhung der Souveränitätsidee .................................................................................. 11 III. Völkerrechtlicher Hintergrund: Gegenseitigkeit als Retorsion gegenüber dem Ausland ........................................................................ 13 IV. Zwischenergebnis ................................................................................. 14 C.

Arten von Gegenseitigkeitserfordernissen ............................................. 14

I. Staatsvertragsvorbehalte ....................................................................... 15 II. Administrative Gegenseitigkeitsfeststellung ......................................... 16 III. Gerichtliche Gegenseitigkeitsfeststellung.............................................. 17 D.

Ziele und Motive von Gegenseitigkeitserfordernissen ...........................19

I.

Unmittelbares Ziel: Durchsetzbarkeit von inländischen Urteilen im Ausland............................................................................................ 20 Dahinterliegende Motive....................................................................... 20

II.

XII

Inhaltsverzeichnis

1. Schutz eigener Bürger ...................................................................... 20 2. Schutz inländischer Wirtschaft ......................................................... 22 3. Schutz eigener Autorität ................................................................... 22 III. Zwischenergebnis ................................................................................. 23 E.

Kritik an Gegenseitigkeitserfordernissen .............................................. 24

I. Ungerechtigkeit: Beeinträchtigung privater Rechte ............................... 24 II. Ungeeignetheit: Ineffektivität der Gegenseitigkeit ................................ 25 III. Rechtsunsicherheit: Schwierigkeiten bei der Gegenseitigkeitsfeststellung .................................................................. 26 F.

Fazit ..................................................................................................... 27

Kapitel 2 – Die Gegenseitigkeit im deutschen Recht ..................... 29 A. B. C.

Vor dem Inkrafttreten der ZPO: Einzelstaatliche Reziprozitätserfordernisse .................................................................... 29 Einführung der Gegenseitigkeit in die ZPO: Der „Struckmann’sche Antrag“ ............................................................ 32 Konkretisierung der Gegenseitigkeitsvorschrift durch die Rechtsprechung: Zwischen strenger und liberaler Auslegung ............... 36

I. „Gegenseitigkeit“ .................................................................................. 36 II. „Verbürgt“ ............................................................................................ 39 III. Fazit ...................................................................................................... 40 D.

Gesetzgeberische Entwicklung .............................................................. 42

I. II.

Ausweitung, dann Einschränkung des Anwendungsbereichs ................. 42 Festhalten an der Gegenseitigkeit (IPR-Reform 1986) .......................... 43

E.

Effektivität der deutschen Gegenseitigkeitsvorschrift? .......................... 46

I.

Abschluss von bilateralen Anerkennungs- und Vollstreckungsabkommen ..................................................................... 46 II. Änderung der ausländischen Anerkennungspraxis ................................ 47 III. Zwischenergebnis ................................................................................. 48 F.

Fazit ..................................................................................................... 49

Inhaltsverzeichnis

XIII

Kapitel 3 – Die Gegenseitigkeit im common law-Rechtskreis .... 51 A.

Englisches Recht ................................................................................... 51

I.

Historische Entwicklung des englischen Anerkennungsrechts...............51 1. Vollstreckungspflicht aus dem law of nations ...................................53 2. Vollstreckungsgebot aufgrund von comitas gentium .........................57 3. Vollstreckung aufgrund der doctrine of obligation ...........................59 II. Bewertung der doctrine of obligation ....................................................61 1. Heutige Grundzüge des englischen Anerkennungsrechts ..................62 2. Internationale Zuständigkeit ............................................................. 63 3. Versagungsgründe ............................................................................ 64 4. Vollstreckungsfähigkeit: Nur Zahlungsurteile ..................................64 5. Zweigleisigkeit der Vollstreckung ....................................................65 a) Common law: Action on the foreign judgment ............................65 b) Statutory law: Registration ........................................................66 III. Zwischenergebnis ................................................................................. 67 B.

US-amerikanisches Recht...................................................................... 68

I. II.

Ausgangspunkt: Comity-Doktrin des englischen Rechts........................69 Fortentwicklung zu einem Gegenseitigkeitserfordernis (Hilton v Guyot) .................................................................................... 69 III. Föderalisierung des Anerkennungsrechts (Erie Railroad v Tompkins) ................................................................... 71 IV. Gegenseitigkeitserfordernisse in den einzelnen US-Staaten ..................72 V. Gesetzesentwurf des American Law Institute: Neuer Trend hin zur Gegenseitigkeit? ............................................................................. 74 VI. Zwischenergebnis ................................................................................. 77 C.

Kanadisches Recht ................................................................................ 78

I. II.

Ausgangslage ........................................................................................ 78 Etablierung einer innerkanadischen Anerkennungs- und Vollstreckungspflicht (Morguard Investment Ltd v De Savoye) ............79 III. Übertragung auf Auslandsurteile jeglicher Art (Beals v Saldanha; Pro Swing Inc v Elta Golf Inc) .............................................80 IV. Zwischenergebnis ................................................................................. 81 D.

Fazit...................................................................................................... 81

XIV

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 4 – Rechtsvergleichende Tendenzen .................................. 83 A.

Überblick: Verbreitung des Gegenseitigkeitskriteriums in Europa........ 83

I.

Nordische Staaten und Russland: Festhalten am Staatsvertragsvorbehalt ......................................................................... 84 II. Germanischer Rechtskreis: Traditionell durch Gegenseitigkeitserfordernisse geprägt ................................................... 85 III. Mittel- und Osteuropa: Weitgehende Überwindung von Reziprozitätsvorbehalten ....................................................................... 86 IV. Romanischer Rechtskreis: Völliges Fehlen von Gegenseitigkeitserwägungen ................................................................. 88 B.

Einzelne Rechtsordnungen mit bedeutenden Entwicklungen im autonomen Anerkennungsrecht ............................................................. 90

I.

Frankreich: Von der révision au fond zu einem liberalen Anerkennungsrecht ............................................................................... 90 II. Spanien: Verzicht selbst auf „weiche“ Reziprozitätsvorschriften .......... 91 III. Polen: Zuerst Abmilderung, dann Abschaffung der Gegenseitigkeit ..................................................................................... 92 IV. Tschechien: Keine Reziprozität zum Nachteil eigener Staatsbürger .......................................................................................... 94 V. Russland: Ansätze zur Überwindung des Staatsvertragsvorbehalts ....................................................................... 96 C.

Neuere Vorschläge wissenschaftlicher Arbeitsgruppen ......................... 99

I. II.

Groupe européen de droit international privé ....................................... 99 Institut de Droit international ............................................................. 100

D.

Fazit ................................................................................................... 101

Teil II – Vorgaben der EMRK für die Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen Kapitel 5 – Internationales Zivilverfahrensrecht und Menschenrechte ............................................................... 105 A.

Späte „Entdeckung“ der Menschenrechte im IZVR ............................. 105

I.

Traditionelle Wahrnehmung: IZVR zwischen Privat- und Völkerrecht ......................................................................................... 106

Inhaltsverzeichnis

XV

II.

Historische Entwicklung: Vom lückenhaften zum universellen Rechtsschutz ....................................................................................... 106

B.

Beispiele menschenrechtlichen Einflusses ........................................... 108

I. II. III. IV. V.

Déni de justice .................................................................................... 108 Exorbitante Gerichtsstände ................................................................. 109 Alien Tort Claims Act.......................................................................... 111 Staatenimmunität bei schweren Menschenrechtsverletzungen ............. 113 Anerkennung eines familiären Status .................................................. 116 1. Adoption und Leihmutterschaft ...................................................... 116 2. Verbot von „Kinderehen“ ............................................................... 117 VI. Abschaffung des Exequaturverfahrens ................................................ 119 C. D.

Wirkweise des menschenrechtlichen Einflusses ................................... 120 Fazit.................................................................................................... 121

Kapitel 6 – Die Europäische Menschenrechtskonvention: Charakter, Besonderheiten, Anwendung ................... 123 A. B. C. D. E.

Regelungsgegenstand der EMRK: Verhältnis zu den eigenen Bürgern ..................................................... 123 Verpflichtungen aus der EMRK: Objektiver Charakter, fehlende Gegenseitigkeit ................................................................................... 125 Durchsetzung der EMRK-Garantien: Judizieller Mechanismus mit Individualbeschwerderecht ........................................................... 127 Rolle des EGMR: Quasi-Verfassungsgericht ....................................... 128 Methodenfragen .................................................................................. 130

I.

Spezifische Auslegungsgrundsätze...................................................... 130 1. Kein in dubio mitius ....................................................................... 131 2. Autonome Auslegung ..................................................................... 132 3. Effektive Auslegung ....................................................................... 133 4. Dynamische Auslegung .................................................................. 134 5. Rechtsvergleichende Auslegung (European consensus) .................. 134 II. Kontrolldichte (margin of appreciation) ............................................. 136 III. Rechtfertigung von Eingriffen ............................................................ 138 1. Gesetzliche Grundlage .................................................................... 138 2. Legitimes Ziel ................................................................................ 139 3. Verhältnismäßigkeit........................................................................ 139 IV. Zusammenfassung............................................................................... 140 F.

Fazit.................................................................................................... 140

XVI

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 7 – Anerkennungs- und Vollstreckungspflichten aus Art. 6 Abs. 1 EMRK................................................ 141 A.

Rechtsprechung des EGMR ................................................................. 141

I.

Ausgangspunkt: Garantien während eines laufenden Erkenntnisverfahrens .......................................................................... 141 II. Ausdehnung des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf alle Phasen eines inländischen Rechtsstreits ................................................................... 142 1. Recht auf Zugang zu Gericht (Golder ./. Vereinigtes Königreich) .................................................................................... 142 2. Recht auf Vollstreckung (Hornsby ./. Griechenland) ...................... 143 3. Zwischenergebnis ........................................................................... 144 III. Ausdehnung des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile.................................................... 144 1. Anerkennungsverbote (Pellegrini ./. Italien) ................................... 145 2. Anerkennungs- und Vollstreckungspflichten .................................. 146 a) McDonald ./. Frankreich .......................................................... 146 b) Sholokhov ./. Armenien und Moldawien ................................... 147 IV. Zwischenergebnis ............................................................................... 148 B.

Analyse der Rechtsprechung: Herleitung von Anerkennungsund Vollstreckungspflichten durch den EGMR .................................... 148

I. II.

Ausgangspunkt: Recht auf Vollstreckung bei Inlandsurteilen ............. 149 Fortentwicklung: Übertragung auf die Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen ................................................... 149 III. Kritik: Gleichsetzung von Inlands- und Auslandsurteilen ................... 150 IV. Zwischenergebnis ............................................................................... 151 C.

Pro und Contra von Anerkennungs- und Vollstreckungspflichten aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ...................................................................... 151

I.

Rechtsschutzeffektivität ...................................................................... 151 1. Beweisschwierigkeiten ................................................................... 153 2. Finanzielle Erschwerungen ............................................................. 154 3. Faktische Erschwerungen ............................................................... 155 4. Zeitliche Verzögerungen ................................................................ 155 5. Risiko zwischenzeitlicher Verjährung............................................. 157 6. Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen ...................................... 158 7. Stellungnahme ................................................................................ 158 Sonstige Argumente ............................................................................ 159 1. Pro: Aussagen der Präambel ........................................................... 159 a) Rechtsstaatlichkeit ................................................................... 159

II.

Inhaltsverzeichnis

XVII

b) Kollektiver Menschenrechtsschutz ........................................... 159 c) Einheitsstreben ......................................................................... 160 2. Contra: Intention, Auswahlcharakter, Menschenrechtsvertrag ........ 160 a) Fehlende Intention der Vertragsstaaten .................................... 160 b) Auswahlcharakter der EMRK-Garantien .................................. 161 c) Charakter der EMRK: Menschenrechtsvertrag ......................... 161 3. Stellungnahme ................................................................................ 162 III. Souveränität ........................................................................................ 163 IV. Territorialität....................................................................................... 165 V. Stellungnahme .................................................................................... 166 D.

Fazit.................................................................................................... 167

Kapitel 8 – Anerkennungs- und Vollstreckungspflichten aus materiellen EMRK-Garantien ............................... 169 A.

Anerkennungspflichten aus dem Recht auf Achtung des Privatund Familienlebens (Art. 8 EMRK) ..................................................... 169

I.

Rechtsprechung des EGMR ................................................................ 170 1. Wagner und J.M.W.L ./. Luxemburg ............................................... 170 2. Mennesson ./. Frankreich ............................................................... 171 3. Paradiso und Campanelli ./. Italien ................................................ 172 4. Advisory opinion des EGMR zur Umsetzung des MennessonUrteils............................................................................................. 173 II. Analyse der Rechtsprechung ............................................................... 174 III. Zwischenergebnis ............................................................................... 175 B.

Anerkennungspflichten aus der Eigentumsgarantie (Art. 1 ZP 1 EMRK) ............................................................................ 176

I.

Rechtsprechung des EGMR ................................................................ 176 1. Ausgangspunkt: Sehr weiter Eigentumsbegriff ............................... 176 a) Terminologie in den authentischen Sprachfassungen................ 177 b) Besondere Wichtigkeit der autonomen Auslegung ................... 177 c) Schutzgut: Eigentum im Sinne von asset .................................. 178 2. Nichtbefolgung / Nichtvollstreckung inländischer Urteile................ 181 3. Nichtvollstreckung ausländischer Urteile........................................ 183 a) Saccoccia ./. Österreich ........................................................... 184 b) Vrbica ./. Kroatien ................................................................... 185 c) Négrépontis-Giannisis ./. Griechenland ................................... 186 Analyse der Rechtsprechung ............................................................... 188

II.

XVIII

Inhaltsverzeichnis

III. Stellungnahme .................................................................................... 188 C.

Fazit ................................................................................................... 190

Kapitel 9 – Zusammenfassung: Vorgaben der EMRK für die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile ...................................................... 191 A. B. C. D. E. F.

Bestehen eines subjektiven Rechts auf grenzüberschreitende Urteilsdurchsetzung ............................................................................ 191 Notwendigkeit grundsätzlicher Anerkennungsbereitschaft .................. 191 Schranken: Rechte der unterlegenen Partei ........................................ 192 Staatliche Interessen als Schranken? .................................................. 192 Schranken-Schranke: Verhältnismäßigkeit .......................................... 193 Fazit ................................................................................................... 193

Teil III – Synthese: Konventionsmäßigkeit von Gegenseitigkeitserfordernissen? Kapitel 10 – Vereinbarkeit von Gegenseitigkeitserfordernissen mit den Vorgaben der EMRK?....... 197 A. B. I. II.

Ausgangslage: Rechtfertigungsbedürftigkeit von Gegenseitigkeitserfordernissen ........................................................... 197 Analyse: Konventionsmäßigkeit von Gegenseitigkeitserfordernissen ........................................................... 198 Keine Klarheit über das mit Gegenseitigkeitserfordernissen angestrebte Ziel................................................................................... 198 Gegenseitigkeit als Druckmittel zur Herstellung einer gegenseitigen Anerkennungspraxis ..................................................... 199 1. Legitimität des angestrebten Ziels: Durchsetzbarkeit von Inlandsurteilen in ausländischen Staaten ......................................... 199 2. Zweifelhafte Geeignetheit: Mangelnde Effektivität aufgrund konzeptioneller Unzulänglichkeiten ................................................ 200 a) Fehlen einer kooperativen Grundeinstellung ............................ 201 b) Informations- und Koordinationsdefizite .................................. 202 c) Unzureichende Anreizsetzung .................................................. 203 d) Zwischenergebnis .................................................................... 204

Inhaltsverzeichnis

XIX

3. Fehlende Erforderlichkeit: Keine Begrenzung des Eingriffs in subjektive Rechtspositionen auf das notwendige Maß .................... 204 a) Staatsvertragsvorbehalte und administrative Gegenseitigkeitsfeststellung ..................................................... 204 b) Gerichtliche Gegenseitigkeitsfeststellung ................................. 205 aa) Retorsion als milderes Mittel.............................................. 205 bb) Beschränkung auf ausländische Urteilsgläubiger als milderes Mittel ................................................................... 207 c) Zwischenergebnis..................................................................... 208 4. Fehlende Angemessenheit: Uneingeschränkte Dominanz staatlicher Interessen ...................................................................... 208 5. Ergebnis ......................................................................................... 210 III. Gegenseitigkeit als Abwehrfilter gegen Entscheidungen aus nicht vertrauenswürdigen Justizsystemen ............................................ 211 1. Formelle Gegenseitigkeitserfordernisse: Grundsätzliche Geeignetheit, aber fehlende Erforderlichkeit................................... 211 2. Gerichtliche Gegenseitigkeitserfordernisse: Konzeptionelle Ungeeignetheit ............................................................................... 214 3. Ergebnis ......................................................................................... 216 IV. Gegenseitigkeit als Ziel an sich ........................................................... 216 C.

Gesamtergebnis .................................................................................. 217

Fazit .......................................................................................................... 219 Literaturverzeichnis .................................................................................... 221 Rechtsprechungsverzeichnis ....................................................................... 239 Sachverzeichnis .......................................................................................... 243

Abkürzungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis AcP Archiv für die civilistische Praxis AG Die Aktiengesellschaft AJA Administration of Justice Act 1920 Am. J. Comp. L. The American Journal of Comparative Law An. Pr. Fak. UZ Anali Pravnog Fakulteta Univerziteta u Zenici ATCA Alien Tort Claims Act B.C. Int’l& Comp L. Rev. Berkeley J. Int’l Law BGH Brüssel I-VO

Boston College International and Comparative Law Review Berkeley Journal of International Law

BVerfG

Bundesgerichtshof Verordnung (EG) Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivilund Handelssachen Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen Bundesverfassungsgericht

Camp. CC CCQ Clunet Cowp. CPC CPO CPR

Campbell’s Nisi Prius Cases Code civil Code civile du Québec Clunet – Journal du Droit international Cowper’s King’s Bench Reports Código do Processo Civil Civilprozeßordnung Civil Procedure Rules (England and Wales)

Doug.K.B.

Douglas’ King’s Bench Reports

EGBGB EGMR EJIL EMRK Eng. Rep. EO EuGVÜ

Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte European Journal of International Law Europäische Menschenrechtskonvention The English Reports Exekutionsordnung Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen

Brüssel Ia-VO

XXII

Abkürzungsverzeichnis

FJREA

Foreign Judgments (Reciprocal Enforcement) Act 1933

GEDIP

Groupe européen de droit international privé

H.L. Rev. HRLJ HRLRev

Harvard Law Review Human Rights Law Journal Human Rights Law Review

I.C.J. ICQL IGH IPR IPRax IZVR

International Court of Justice International and Comparative Law Quarterly Internationaler Gerichtshof Internationales Privatrecht Praxis des internationalen Privat- und Verfahrensrechts Internationales Zivilverfahrensrecht

JN JPIL JuS JZ

Jurisdiktionsnorm Journal of International Private Law Juristische Schulung Juristenzeitung

K.B. Keb. k.p.c. KPP

King’s Bench Keble’s King’s Bench Reports Kodeks postępowania cywilnego Kwartalnik prawa prywatnego

La. L.R. Latch LCJI LEC LG L.R.

Louisana Law Review Latch’s King’s Bench Reports Ley de cooperación jurídica internacional en materia civil Ley de Enjuiciamiento Civil Landgericht Law Reports

McGill LJ Mercer L. Rev. Mich. J. Int’l L. M.&W.

McGill Law Journal Mercer Law Review Michigan Journal of International Law Meeson and Welsby’s Exchequer Reports

N.C. L. Rev. NIPR NJW NiemZ NVwZ

North Carolina Law Review Nederlands Internationaal Privaatrecht Neue Juristische Wochenschrift Niemeyers Zeitschrift für Internationales Recht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

OLG

Oberlandesgericht

PG PO

Proceßgesetz Proceßordnung

Q.B.

Queen’s Bench

Abkürzungsverzeichnis

XXIII

RabelsZ Rev. trim. dr. h. Riv. Dir. Int. RIW Rolle

Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Revue trimestrielle de droits de l’homme Rivista di Diritto Internazionale Recht der Internationalen Wirtschaft Rolle’s King’s Bench Reports

SCR Show.K.B. S. Ct.

Canada Supreme Court Reports Shower’s King’s Bench Reports Supreme Court Reporter

UCLA L. Rev. U. Pitt. L. Rev. U.S. U.S.C.

UCLA Law Review University of Pittsburgh Law Review United States Supreme Court Reports United States Code

Ves.Jr. Ves.Sen.

Vesey Junior’s Chancery Reports Vesey Senior’s Chancery Reports

WBR

Wetboek van Burgerlijke Rechtsvordering

YPIL

Yearbook of Private International Law

ZAdR ZBJV ZEuP ZGR ZP ZPO ZRP ZVglRWiss ZZP ZZPInt

Zeitschrift der Akademie für deutsches Recht Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft Zeitschrift für Zivilprozess Zeitschrift für Zivilprozess International

Einleitung Einleitung

Einleitung

Die grenzüberschreitende Rechtsdurchsetzung birgt viele Tücken – ob eine fremde Sprache, eine ungewohnte Mentalität oder ein anderes Rechtssystem. Hat man all diese Hürden überwunden und hält man schließlich ein günstiges Urteil in seinen Händen, so bedeutet dies allerdings noch nicht, dass man auch zu seinem Recht kommt. Wenn ein Richterspruch nämlich in einem anderen Staat anerkannt oder vollstreckt werden soll, kann dieser das von einer Bedingung abhängig machen, auf die man keinen Einfluss hat: Der Gegenseitigkeit. Entsprechend ordnet § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO die Nichtanerkennung eines ausländischen Urteils an, „wenn die Gegenseitigkeit nicht verbürgt ist.“1 Gegenseitigkeitserfordernisse stellen die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen unter den Vorbehalt, dass der Urteilsstaat im umgekehrten Fall ebenso verfährt. Dadurch sollen ausländische Staaten dazu gebracht werden, inländische Urteile anzuerkennen und zu vollstrecken. Gegenseitigkeitserfordernisse sind also ein Druckmittel, eine „rechtspolitische Daumenschraube“, um das Ausland zur Achtung von Inlandsentscheidungen zu zwingen.2 Auf den ersten Blick scheint das vernünftig zu sein.3 Doch der Schein trügt. Denn Gegenseitigkeitserfordernisse treffen „notwendig immer den Falschen“:4 Nämlich private Kläger oder Beklagte anstelle des unkooperativen Staates. Sie bestrafen Privatpersonen für die Anerkennungsunwilligkeit des Urteilsstaates.5 Gegenseitigkeitserfordernisse machen folglich die Durchsetzung privater Rechte von staatlichem Verhalten abhängig.6 Ist das zulässig? § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO lautet: „Die Anerkennung des Urteils eines ausländischen Gerichts ist ausgeschlossen […] wenn die Gegenseitigkeit nicht verbürgt ist.“ 2 Puttfarken, Zur Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile deutscher Kläger – verfassungswidrige Gegenseitigkeit, RIW 1976, S. 149 (150); Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, Rn. 965. 3 In diese Richtung Schack in Bezug auf § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO: „Auf den ersten Blick erscheint diese Vorschrift, die außerhalb von Staatsverträgen die Gleichheit zwischen den Staaten verwirklichen will, vernünftig.“ Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, Rn. 1026. 4 v. Bar / Mankowski, Internationales Privatrecht, Bd. I, S. 389. 5 Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 1297. 6 Sonnentag, Anerkennungs- und Vollstreckbarkeitshindernisse im autonomen deutschen Recht, ZVglRWiss 113 (2014), S. 83 (93): „Die Bevorzugung der politischen Interessen vor den Parteiinteressen ist strikt abzulehnen. Denn im internationalprivatrechtli1

2

Einleitung

Die Antwort auf diese Frage hängt entscheidend davon ab, ob sich ein Staat dafür rechtfertigen muss, wenn er die grenzüberschreitende Durchsetzung privater Rechte verhindert. Nach der bisher herrschenden Prämisse war das nicht der Fall. Vielmehr war jeder Staat grundsätzlich frei, ausländische Urteile anzuerkennen oder ihnen die Anerkennung zu verweigern.7 Obwohl Gegenseitigkeitserfordernisse als ungerecht,8 willkürlich9 und irrational10 bewertet wurden, waren sie Ausdruck einer unbeschränkten staatlichen Regelungsbefugnis. Doch ob sich diese Prämisse aufrechterhalten lässt, ist fraglich. Den Grund hierfür bildet der zunehmende Einfluss grund- und menschenrechtlicher Wertungen im Internationalen Zivilverfahrensrecht, der sich auch bei der Urteilsanerkennung bemerkbar macht.11 Diese Entwicklung steht im Kontrast zum bisherigen Paradigma, das die Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsentscheidungen in das freie Ermessen eines jeden Staates stellte.12 Aus grund- und menschenrechtlicher Perspektive ist ein solches Paradigma problematisch. Denn darf die Rechtsdurchsetzung wirklich, sobald sie den Bereich einer Rechtsordnung verlässt, im staatlichen Gutdünken stehen? In diesem Zusammenhang suggeriert die neuere Rechtsprechung des EGMR, dass Vertragsstaaten der EMRK die Anerkennung und Vollstreckung auslänchen Rechtsverkehr geht es vielmehr um die Entfaltung der individuellen Rechtsstellung als um die Durchsetzung staatlicher Belange gegenüber dem Ausland.“ 7 Lipstein, Recognition and execution of foreign judgments and arbitral awards, S. 41 (41): „Generally speaking the recognition and enforcement of judgments has been, and remains a matter for the individual laws of States, unfettered in their discretion.“ 8 v. Bar, Theorie und Praxis des Internationalen Privatrechts, Bd. II, § 456; Dutta, Reciprocity, S. 1466 (1467); Hepting, Die Gegenseitigkeit im Internationalen Privatrecht und Internationalen Zivilprozessrecht, S. 249–251. 9 Puttfarken, Zur Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile deutscher Kläger – verfassungswidrige Gegenseitigkeit, RIW 1976, S. 149 (150 f.). 10 Basedow, Gegenseitigkeit im Kollisionsrecht, S. 335 (348); Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Kodifikation des deutschen Internationalen Privatrechts, RabelsZ 47 (1983), S. 595 (677). 11 Kinsch, Human Rights and Private International Law, S. 880 (882–883); Lequette, Les mutations du droit international privé: vers un changement de paradigme?, Recueil des Cours 387 (2016), S. 351–387; Matscher, Le droit international privé face à la Convention européenne des droits de l’homme, S. 211 (212–214). Vgl. auch Kiestra, The Impact of the European Convention on Human Rights on Private International Law. 12 Roth, in: Stein / Jonas, ZPO, § 328, Rn. 1: „Aus dem allgemeinen Völkerrecht läßt sich keine staatliche Anerkennungspflicht herleiten. Vielmehr liegt es in der souveränen Entscheidung des jeweiligen Staates, ob und unter welchen Voraussetzungen er anerkennt.“ Wenn sich die Regelungen des Internationalen Zivilverfahrensrechts an höherrangigen Wertungen messen lassen mussten, so waren das die Prinzipien des allgemeinen Völkerrechts. Ob exorbitante Gerichtsstände, extraterritoriale Beweisanordnungen oder Auslandszustellungen – bei all diesen strittigen Fragen der auslandsberührenden Prozessführung wurde in erster Linie um ihre völkerrechtliche Zulässigkeit gerungen. Vgl. Bertele, Souveränität und Verfahrensrecht, S. 1–4.

Einleitung

3

discher Zivilentscheidungen nicht willkürlich ablehnen dürfen.13 Dem Gläubiger eines ausländischen Urteils stehe vielmehr ein menschenrechtlich bewehrter Anspruch auf Durchsetzung seiner im Ausland errungenen Entscheidung zu. Ist das der Fall, dann stehen Gegenseitigkeitserfordernisse als Beschränkungen von Konventionsgarantien unter Rechtfertigungszwang. Die vorliegende Arbeit nimmt diese Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs zum Anlass und untersucht, ob es mit den Verpflichtungen aus der EMRK vereinbar ist, wenn privatnützige Auslandsentscheidungen aufgrund von fehlender Reziprozität mit dem Urteilsstaat weder anerkannt noch vollstreckt werden. Hierfür widmet sich der erste Teil dieser Abhandlung dem Gegenstand der Untersuchung: Gegenseitigkeitserfordernissen bei der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile. Dabei wird zunächst aufgezeigt, welche historischen Wurzeln gesetzliche Gegenseitigkeitserfordernisse aufweisen und aus welchen Gründen sie entstanden sind. In einem weiteren Schritt wird die Geschichte und Entwicklung der deutschen Reziprozitätsbestimmung in § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO näher beleuchtet. Sodann folgt eine Betrachtung des Gegenseitigkeitsprinzips in den Rechtsordnungen des common law, in denen die Reziprozität zwar traditionell keine große Rolle spielt, wo sie aber in den USA eine gewisse Renaissance zu erleben scheint. Im Anschluss daran erfolgt eine rechtsvergleichende Bestandsaufnahme in verschiedenen europäischen Rechtsordnungen. Sodann bestimmt der zweite Teil der Arbeit die Vorgaben, die aus den Garantien der EMRK für die Urteilsanerkennung folgen. Dadurch wird der Maßstab festgelegt, an dem sich jegliche Anerkennungshindernisse messen lassen müssen. Das Schlusskapitel führt schließlich die beiden Hauptteile der Untersuchung zusammen und analysiert, ob Gegenseitigkeitserfordernisse einer menschenrechtlichen Rationalitätskontrolle im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung standhalten.

EGMR, Entscheidung vom 29.4.2008, Nr. 18648/04 (McDonald ./. Frankreich); EGMR, Urteil vom 31.7.2012, Nr. 40358/05 (Sholokhov ./. Armenien und die Republik Moldawien). Vgl. ferner Kinsch, Enforcement as a fundamental right, NIPR 2014, S. 540 (540); Spielmann, La reconnaissance et l’exécution des décisions judicaires étrangères et les exigences de la Convention européenne des droits de l’homme, Rev. trim. dr. h. 2011, S. 761 (786). 13

Teil I

Gegenseitigkeitserfordernisse

Kapitel 1

Gegenseitigkeit und Urteilsanerkennung Kapitel 1 – Gegenseitigkeit und Urteilsanerkennung

Das folgende Kapitel nähert sich dem Objekt der vorliegenden Untersuchung – Gegenseitigkeitserfordernissen bei der Urteilsanerkennung – aus verschiedenen Perspektiven. Zunächst wird beleuchtet, wie das Gegenseitigkeitsprinzip als Verhaltensstrategie dafür eingesetzt werden kann, um das Verhalten eines anderen Akteurs zu beeinflussen (unter A.). In einem nächsten Schritt wird sodann aufgezeigt, wie die Reziprozität als außerrechtliches Phänomen Eingang in die Anerkennungsrechte vieler Staaten gefunden hat (unter B.). Anschließend werden die verschiedenen Ausprägungen von Gegenseitigkeitserfordernissen bei der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile betrachtet: Staatsvertragsvorbehalte, die administrative Gegenseitigkeitsfeststellung sowie die gerichtliche Gegenseitigkeitsermittlung (unter C.). Daran anknüpfend wird der Frage nachgegangen, welche Ziele Reziprozitätsvorbehalte eigentlich anstreben und welche Beweggründe ihnen zugrunde liegen (unter D.), bevor schlussendlich aufgezeigt wird, welche Kritik sich an Gegenseitigkeitserfordernissen seit jeher entzündet (unter E.).

A. Gegenseitigkeit als Instrument der Verhaltensbeeinflussung

A. Gegenseitigkeit als Instrument der Verhaltensbeeinflussung

Menschliches Verhalten wird zu einem erheblichen Maße von der Gegenseitigkeit geprägt. Es gilt der Grundsatz des „wie Du mir, so ich Dir“. Dieses beherrschen Menschen ganz intuitiv: Auf freundliches Verhalten folgt eine freundliche Reaktion; auf unfreundliches Verhalten folgt eine unfreundliche Reaktion. Die soziale Interaktion wird also auf natürliche Art und Weise durch das Gegenseitigkeitsprinzip geprägt. Für gewöhnlich „spiegeln“ Menschen bis zu einem gewissen Grad das Benehmen des Gegenübers, ohne jedoch eingehend darüber zu reflektieren. Dementsprechend wirft Robert Axelrod, der die Reziprozität wissenschaftlich eingehend untersuchte, die rhetorische Frage auf, wie oft man wohl einen Bekannten zu sich zum Abendessen einladen werde, wenn dieser solche Gesten nie erwidert.1 Das Prinzip der Gegenseitigkeit prägt daher zwar die zwischenmenschlichen Beziehungen,

1

Axelrod, The Evolution of Cooperation, S. 4 f.

8

Kapitel 1 – Gegenseitigkeit und Urteilsanerkennung

jedoch wird es für gewöhnlich nicht mit einem dahinterstehenden strategischen Kalkül eingesetzt. Allerdings kann die Reziprozität auch zielgerichtet als Verhaltensstrategie eingesetzt werden.2 Reziprozität als Mittel zur Verhaltensbeeinflussung spielt vor allem dort eine große Rolle, wo gleichrangige Akteure auf Kooperation angewiesen sind. Es ist zudem regelmäßig das einzige hierfür zur Verfügung stehende Mittel. Denn wenn man keine Autorität über einen anderen Menschen hat, ihm also weder Weisungen noch Befehle erteilen kann, so bleibt – abseits von Drohung oder Gewalt – gar nichts anderes übrig, als zu versuchen, ihn durch das eigene Verhalten zu beeinflussen.3 Um bei Axelrods Beispiel der Abendessenseinladung zu bleiben: Wenn ich unbedingt einmal von einem Bekannten zu ihm nach Hause eingeladen werden möchte, so ist es ein strategisch kluger Schritt, wenn ich diesen Bekannten zunächst einmal zu mir zum Abendessen einlade. In diesem Fall besteht die berechtigte Hoffnung, dass dieser Bekannte mein Verhalten „spiegeln“ und die Einladung letztlich erwidern wird. Auf diese Art und Weise kann das Reziprozitätsprinzip dazu eingesetzt werden, um eine andere Person zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen. Solche reziproken Verhaltensstrategien sind durch die Spieltheorie eingehend wissenschaftlich analysiert worden.4 Dabei haben empirische Untersuchungen gezeigt, dass ein auf Reziprozität aufbauendes Verhaltensmuster eine erfolgversprechende Strategie darstellt, um die Kooperation eines anderen Akteurs zu erreichen. Den Ausgangspunkt solcher Betrachtungen bildet dabei das Modell des wiederholten Gefangenendilemmas (prisoner’s dilemma), das die Entscheidungen zweier gleichrangiger Akteure modelliert. Es bildet dadurch eine Konstellation ab, die im wahren Leben häufig vorkommt: Zwei gleichrangige Akteure würden zwar von einer Kooperation langfristig profitieren – allerdings bestehen für sie starke Anreize, durch unkooperatives Handeln kurzfristige Vorteile einzustreichen.5 Solche Konstellationen finden sich in ganz verschiedenen Lebensbereichen – ob bei der Zollpolitik oder bei Rüs-

2 Dutta, Reciprocity, S. 1466 (1466): „‚Reciprocity‘ – a basic means of influencing the behaviour of other actors – is a fundamental element of human interaction.“ 3 Hepting, Die Gegenseitigkeit im Internationalen Privatrecht und Internationalen Zivilprozessrecht, S. 1–5. 4 Für eine kurze Geschichte der spieltheoretischen Forschung vgl. Berninghaus /  Ehrhart / Güth, Strategische Spiele, S. 1–8. 5 Axelrod, The Evolution of Cooperation, S. 7–10. Ein Beispiel ist die Begrenzung der militärischen Rüstung, die langfristig für alle Staaten vorteilhaft ist. Wenn sich nämlich alle Staaten an eine vereinbarte Rüstungsbegrenzung halten, stehen jedem Staat größere finanzielle Ressourcen für andere Zwecke zur Verfügung. Kurzfristig kann es sich allerdings lohnen, eine solche Vereinbarung zu hintergehen und sich dadurch einen kurzfristigen militärischen Vorteil zu verschaffen.

B. Historische Entwicklung: Herausbildung von Gegenseitigkeitserfordernissen

9

tungsfragen.6 Auch dort würde eine Kooperation für alle Akteure langfristig vorteilhaft sein – doch andererseits ist die Versuchung groß, sich durch unkooperatives Verhalten, wie etwa durch die Einführung von Schutzzöllen oder durch heimliche Aufrüstung, einen kurzfristigen Vorteil zu verschaffen.7 In solchen Konstellationen hat sich die tit for tat-Strategie als langfristig am erfolgversprechendsten erwiesen. Sie geht von einer kooperativen Grundeinstellung aus, sodass der erste Schritt immer kooperativ ist. Ab dem zweiten Schritt wird das Verhalten des anderen Akteurs allerdings streng reziprok gespiegelt: Auf kooperatives Verhalten folgt stets eine kooperative Reaktion – auf unkooperatives Verhalten stets eine unkooperativen Reaktion.8 Diese auf einer kooperativen Grundeinstellung beruhende Reziprozitätsstrategie ist – das zeigen spieltheoretische Erkenntnisse – am besten geeignet, um sich in Situationen des wiederholten Gefangenendilemmas die Kooperation des anderen Akteurs zu sichern.9 Eine an der Gegenseitigkeit ausgerichtete Verhaltensstrategie kann sich daher durchaus dafür eignen, um eine Praxis der gegenseitigen Urteilsanerkennung mit ausländischen Staaten herbeizuführen.10 Denn ein auf Reziprozität basierendes Verhaltensmuster ist unter bestimmten Bedingungen erfolgversprechend, um einen anderen Akteur zur Kooperation zu bewegen.

B. Historische Entwicklung: Herausbildung von Gegenseitigkeitserfordernissen

B. Historische Entwicklung: Herausbildung von Gegenseitigkeitserfordernissen

Ein auf Reziprozität basierendes Verhaltensmuster ist also unter bestimmten Bedingungen erfolgversprechend, um eine andere Person zur Kooperation zu bewegen. Andersherum werden Gegenseitigkeitserwägungen aber auch erst dann angestellt, wenn ein bestimmtes Problem als Frage der Kooperation mit einem anderen Akteur aufgefasst wird. Das gilt auch für die Behandlung von ausländischen Gerichtsentscheidungen. So bildeten sich Gegenseitigkeitserfordernisse erst dann heraus, nachdem die Vollstreckung von AuslandsurteiGibbons, A Primer in Game Theory, S. xi-xii. Axelrod, The Evolution of Cooperation, S. 4–7; Gibbons, A Primer in Game Theory, S. xi; Rasmusen, Games and Information, S. 11 f. 8 Axelrod, The Evolution of Cooperation, S. 13. 9 Axelrod, The Evolution of Cooperation, S. 109–123. 10 Vergleiche hierzu Pfeiffer, Kooperative Reziprozität, RabelsZ 55 (1991), S. 734 (749–755). In diesem Aufsatz legt Pfeiffer dar, dass die Anwendung des deutschen Gegenseitigkeitserfordernisses vor dem Hintergrund spieltheoretischer Erkenntnisse als ineffizient zu charakterisieren ist. Denn die deutsche Rechtsprechung lasse sich gerade nicht von einer kooperativen Reziprozität im Sinne der tit for tat-Strategie leiten – sondern von einer unkooperativen Grundeinstellung, weil sie im Zweifelsfall ausländische Urteile nicht anerkennt. Vgl. Pfeiffer, Kooperative Reziprozität, RabelsZ 55 (1991), S. 734 (749–755). 6 7

10

Kapitel 1 – Gegenseitigkeit und Urteilsanerkennung

len als eine Angelegenheit zwischen Urteils- und Vollstreckungsstaat angesehen worden ist. Voraussetzung hierfür war eine zwischenstaatliche Perspektive auf die grenzüberschreitende Urteilsvollstreckung, die durch drei Aspekte begünstigt wurde: Durch die Art und Weise der Auslandsvollstreckung im Wege der Rechtshilfe (unter I.), durch den Einfluss und die Überhöhung der Souveränitätsidee (unter II.), sowie durch die Einordnung der grenzüberschreitenden Urteilsvollstreckung als völkerrechtliche Frage (unter III.). I. Prozeduraler Hintergrund: Vollstreckung auf Rechtshilfewege durch „Bittbriefe“ Bereits vor der Einführung von gesetzlichen Gegenseitigkeitserfordernissen im 19. Jahrhundert fand die Auslandsvollstreckung auf eine Art und Weise statt, die Reziprozitätserwägungen beförderte. So wurden Erkenntnisse fremder Gerichte im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation auf Grundlage sogenannter „Bittbriefe“ (litterae mutui compassus) vollstreckt. Hierfür schickte der Richter, der das Urteil gesprochen hatte, dem Gericht, in dessen Bezirk die Vollstreckung stattfinden sollte, einen „Bittbrief“, in dem er darum bat, seine Entscheidung zu vollstrecken. Der ersuchte Richter stand vor der Frage, ob er diesem Gesuch entsprechen sollte. Hierfür sprach, dass er in Zukunft vielleicht ebenfalls in eine vergleichbare Situation geraten könnte – und dann auf das Wohlwollen seines Richterkollegen angewiesen sein würde. Dieses wurde ihm durch eine Erklärung verdeutlicht, die solchen „Bittbriefen“ häufig beigefügt war: Einer Versicherung, wonach im entgegengesetzten Fall ein Urteil des ersuchten Gerichts vollstreckt werden würde (assertio reciproci).11 Auf der anderen Seite sprach nicht viel gegen eine Vollstreckung des Richterspruchs – insbesondere gab es bei Urteilen aus anderen Territorien des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation keine Souveränitätsbedenken.12 Da nämlich alle Landesfürsten nominell unter der Oberhoheit des Kaisers standen, wurde der ersuchende Richter nicht als Funktionsträger einer fremden Macht angesehen, sondern als Kollege.13 Daher lag es nahe, ihm aus 11 Foelix, Traité du droit international privé, Rn. 296: „En Allemagne, durant l’existence de l’empire germanique, chacun des États qui le composaient prêtait la main à l’exécution des jugements rendus dans toute l’étendue de l’empire; à cet effet, le juge qui avait prononcé adressait une commission rogatoire à celui du lieu où l’exécution devait se faire.“ v. Bar, Theorie und Praxis des internationalen Privatrechts, Bd. II, Rn. 409; Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 27. 12 Allerdings wurde nach gemeinem Recht kaum zwischen Rechtshilfeersuchen aus anderen Staaten des Heiligen Römischen Reiches und solchen außerhalb der Reichsgrenzen differenziert. Vgl. v. Bar, Theorie und Praxis des internationalen Privatrechts, Bd. II, Rn. 409, Fn. 3. 13 Juenger, The Recognition of Money Judgments in Civil and Commercial Matters, 36 Am. J. Comp. L. (1988), S. 1 (5 f.): „The medieval revival of Roman law and the idea of a Holy Roman Empire favored recognition, because a judgment handed down abroad was

B. Historische Entwicklung: Herausbildung von Gegenseitigkeitserfordernissen

11

kollegialer Gesinnung heraus zu helfen und seinem „Bittbrief“ Folge zu leisten. Diese Interaktion zwischen den Gerichten hatte also eine zwischeninstitutionelle Perspektive zur Folge, welche die Vollstreckung von Auslandentscheidungen als Gefallen gegenüber einem anderen Gericht auffasste. Aufgrund dieser Sichtweise lagen Reziprozitätserwägungen nahe. Die Auslandsvollstreckung auf Rechtshilfewege war also durchaus von der Gegenseitigkeit geprägt – allerdings auf eine informelle Art und Weise.14 II. Ideengeschichtlicher Hintergrund: Aufstieg und Überhöhung der Souveränitätsidee Während des 19. Jahrhunderts entwickelte sich diese informelle Art der Reziprozität dann zu gesetzlichen Gegenseitigkeitserfordernissen fort. Man könnte auch sagen: Die natürliche, intuitive Reziprozität wurde zu einer formalisierten Gegenseitigkeitsvoraussetzung, die zielgerichtet das Verhalten des Auslands zu beeinflussen suchte. Verantwortlich waren hierfür zwei Entwicklungen, die zu dieser Zeit zusammentrafen: Einerseits die Kodifizierung des Zivilprozessrechts; andererseits die Kulmination des Souveränitätsdenkens.15 Der Aufstieg der Souveränitätsidee verdrängte dadurch die Unbekümmertheit im Umgang mit Gerichtsentscheidungen anderer Länder. Ihre Vollstreckung wurde zunehmend rechtfertigungsbedürftig.16 Besonders früh und deutlich zeigte sich dies in Frankreich, wo eine königliche Verordnung aus dem Jahre 1629 bestimmte, dass ausländische Urteile unter keinerlei Umständen vollstreckt werden dürften.17 Dadurch wurde Frankreich zum not perceived as emanating from a ‘foreign’ legal system.“ Vgl. auch Bertele, Souveränität und Verfahrensrecht, S. 11 f. sowie v. Bar, Theorie und Praxis des internationalen Privatrechts, Bd. II, Rn. 409. 14 Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 1185. 15 Selbst dort, wo Gegenseitigkeitserfordernisse nicht auf gesetzlichem Wege eingeführt wurden, sondern durch die Rechtsprechung, erfolgte dies während der Hochzeit des Souveränitätsdogmas. So stellte beispielsweise in den USA der Supreme Court erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Hilton v Guyot (1895) das Erfordernis der Reziprozität mit dem Urteilsstaat auf. Zur Entwicklung des US-amerikanischen Anerkennungsrechts vgl. Kapitel 3 – B (S. 68 ff). 16 Juenger, The Recognition of Money Judgments in Civil and Commercial Matters, 36 Am. J. Comp. L. (1988), S. 1 (5 f.); Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 31. 17 Dieses Vollstreckungsverbot fand sich in Art. 121 der Ordonnance vom 15. Januar 1629 (sogenannter Code Michaut). Wörtlich lautete die Norm: „Les jugements rendus […] ès royaumes et souverainetés étrangères, pour quelque cause que ce soit, n’auront aucune hypothèque ni exécution en notre royaume; […] et nonobstant les jugements, nos sujets contre lesquels ils ont été rendus, pourront de nouveau débattre leurs droits comme entiers devant nos officiers.“ Zitiert nach Foelix, Traité du droit international privé, Rn. 313. Auf Deutsch lässt sich diese Regelung wie folgt übersetzten: „Die in fremden Königreichen und souveränen Territorien aus welchen Gründen auch immer erlassenen Urteile […] stellen in unserem Kö-

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Kapitel 1 – Gegenseitigkeit und Urteilsanerkennung

Vorreiter einer anerkennungsfeindlichen Entwicklung, die im Allgemeinen aber erst rund 200 Jahre später einsetzte. Zur gleichen Zeit, als in Frankreich der Grundsatz der Nichtanerkennung zur Maxime erhoben wurde, bemühte man sich in den Niederlanden um eine Rechtfertigung der bisherigen Vollstreckungspraxis. Die einflussreiche niederländische Naturrechtsschule entwickelte mit der comitas gentium die theoretische Grundlage für die Anwendung fremden Rechts als auch für die Vollstreckung fremdstaatlicher Urteile. Dieser Grundsatz des freundschaftlichen Entgegenkommens zwischen souveränen Staaten lieferte eine Erklärung dafür, warum ein Staat ausländische Richtersprüche vollstrecken sollte, obwohl er als souveräner Staat hierzu nicht verpflichtet war.18 Obwohl die Idee der Staatssouveränität sich bereits im 16. Jahrhundert herausbildete, erreichte sie doch erst im 19./20. Jahrhundert ihren Zenit – just zu jener Zeit also, als viele europäische Staaten ihr Zivilprozessrecht kodifizierten.19 Das auf die Spitze getriebene Souveränitätsdenken strebte danach, das eigene Staatsgebiet von äußeren Einflüssen möglichst freizuhalten – und fremdstaatliche Urteile wurden als ausländische Hoheitsakte angesehen.20 Es bildete sich daher die Auffassung heraus, dass man solchen Befehlen eines ausländischen Staates jedenfalls nicht ohne Gegenleistung folgen sollte, was die Aufnahme von Gegenseitigkeitserfordernissen in die neugeschaffenen zivilprozessualen Kodifikationen beförderte.21 nigreich weder eine Belastung dar noch können sie vollstreckt werden; […] und ungeachtet dieser Urteile können unsere Untertanen, gegen welche sie erlassen worden sind, ihre Rechte vor unseren Amtsträgern aufs Neue verteidigen.“ [Übersetzung des Verfassers] Zur historischen Entwicklung des französischen Anerkennungsrechts vgl. Kapitel 4 – B.I (S. 90 f). 18 Die comitas gestand zwar zu, dass die Vollstreckung eines ausländischen Urteils theoretisch abgelehnt werden könnte, weil der ersuchte Staat souverän ist. Doch betonte sie, dass eine solche Einstellung kurzsichtig sei und langfristig allen Staaten schade. Deswegen sei eine gegenseitige Urteilsvollstreckung geboten. Foelix, Traité du droit international privé, Rn. 283; Lagarde, La réciprocité en droit international privé, Recueil des Cours 154 (1977), S. 114–116; Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 26. Zur comitas gentium vgl. auch Kapitel 3 – A.I.2 (S. 57 f). 19 Jellinek spricht von „einer Art von Souveränitätsrausch“, an dem sich die deutschen Territorialstaaten nach dem Zerfall des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (1806) betörten. Jellinek, Die zweiseitigen Staatsverträge über Anerkennung ausländischer Zivilurteile, S. 7. 20 Ernst, Gegenseitigkeit und Vergeltung im internationalen Privatrecht, S. 241: „Die Gegenseitigkeit kann hier rechtlich nur vom Standpunkt der Souveränität aus begründet werden: Das Urteil ist ein Staatsakt und die Vollstreckung eines fremden Staatsaktes ohne Gewähr für die Gegenseitigkeit bedeutet einen Verzicht auf die staatliche Gleichberechtigung. Letztere ist aber nur ein Ausdruck der Souveränität.“ Vgl. Ho, Policies Underlying the Enforcement of Foreign Commercial Judgments, 46 ICQL (1997), S. 443 (447–450); Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 26–38. 21 Juenger, The Recognition of Money Judgments in Civil and Commercial Matters, 36 Am. J. Comp. L. (1988), S. 1 (31): „Reciprocity, a more finely calibrated device to vindi-

B. Historische Entwicklung: Herausbildung von Gegenseitigkeitserfordernissen

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III. Völkerrechtlicher Hintergrund: Gegenseitigkeit als Retorsion gegenüber dem Ausland Die Herausbildung von Gegenseitigkeitserfordernissen wurde ferner dadurch begünstigt, dass die Vollstreckung von Auslandsurteilen als eine Frage des Völkerrechts aufgefasst worden ist.22 Das Völkerrecht hingegen ist in ganz erheblichem Maße durch das Prinzip der Gegenseitigkeit geprägt, da es von gleichrangigen Akteuren – den Staaten – geschaffen, weiterentwickelt und durchgesetzt wird.23 Mangels einer übergeordneten Instanz, die Recht setzen und notfalls auch durchsetzen kann, müssen letztlich die Staaten selbst das Einhalten von völkerrechtlichen Normen untereinander einfordern und Verstöße gegebenenfalls sanktionieren.24 Aus diesem Grund kommt auch der Selbsthilfe der Staaten eine große Rolle zu. Hierfür stehen ihnen die völkerrechtlichen Instrumente der Retorsion und der Repressalie zur Verfügung, um unfreundliches oder gar rechtswidriges Verhalten eines anderen Staates einseitig zu ahnden.25 Die Einordnung der Vollstreckung von Auslandsurteilen als völkerrechtliche Frage führte dazu, dass man auch hier – so wie auch sonst im Völkerrecht – auf Gegenseitigkeit bestand. Das spiegelt sich etwa in der deutschen Gesetzgebungsgeschichte wider. Dort verwiesen die Befürworter der Reziprozität während der Beratungen der Reichsjustizkommission darauf, dass das Völkerrecht auf dem Gegenseitigkeitsprinzip aufbaue.26 Noch deutlicher wird der Einfluss der zwischenstaatlichen, im Kern völkerrechtlichen Perspektive in der russischen Gesetzgebungsgeschichte. So ist der russische Staatsvertragsvorbehalt auf eine Befürwortung des zaristischen Außenministeriums cate sovereign concerns, is less offensive to one’s sense of justice than an across-the-board disregard of foreign judgments or the discriminatory treatment of aliens.“ 22 Zur traditionellen Wahrnehmung des IZVR als eines Teilgebiets des Völkerrechts vgl. Kapitel 5 – A.I (S. 106 f). 23 Bruno Simma charakterisiert die Gegenseitigkeit als „grundlegendes Leitmotiv“ des Völkerrechts. Simma, Reciprocity, Rn 1. 24 Hepting, Die Gegenseitigkeit im Internationalen Privatrecht und Internationalen Zivilprozessrecht, S. 102–104; Simma, Reciprocity, Rn. 19: „As a horizontal legal system, international law rests upon the logic of reciprocity in its entirety.“ 25 Giegerich, Retorsion, Rn. 5: „Both reprisals and retorsion are instruments of selfhelp in the form of unilateral acts employed by States to enforce their rights or their political or moral interests in the decentralized system of current international law […] They are manifestations of the principle of reciprocity in the negative sense.“ Vgl. auch Hepting, Die Gegenseitigkeit im Internationalen Privatrecht und Internationalen Zivilprozessrecht, S. 89. 26 Hahn, Die gesammelten Materialien zur Civilprozeßordnung und zu dem Einführungsgesetz zu derselben vom 30. Januar 1877, Erste Abtheilung, S. 890 [Geh. Justizrath Kurlbaum]: „Das internationale Recht beruhe aber auf dem Grundsatz der Gegenseitigkeit.“

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Kapitel 1 – Gegenseitigkeit und Urteilsanerkennung

zurückzuführen. Der ursprüngliche Gesetzesentwurf zur russischen ZPO von 1864 sah noch keinen Staatsvertragsvorbehalt vor, sondern begnügte sich mit der Vollstreckung auf Grundlage tatsächlich bestehender Gegenseitigkeit. Im Laufe der Gesetzgebungsarbeiten wurde die Entwurfsfassung sogar dahingehend abgeändert, dass auf Gegenseitigkeit völlig verzichtet wurde. Die Wende brachte ein Gutachten des Außenministeriums, das im weiteren Verlauf eingeholt worden ist. In diesem Gutachten befürworteten die zaristischen Diplomaten, wenig überraschend, dass die Vollstreckung von Auslandsurteilen durch völkerrechtliche Verträge mit ausländischen Staaten geregelt werden solle. Entsprechend plädierten sie für die Aufnahme eines Staatsvertragsvorbehalts in die Kodifikation, was dann auch erfolgte.27 IV. Zwischenergebnis Es ist auf eine Reihe historischer Begebenheiten zurückzuführen, dass für die Vollstreckung von Auslandsurteilen Reziprozität verlangt wurde: Auf ihre Ausgestaltung als Rechtshilfe, auf das durch die Staatssouveränität genährte Misstrauen gegenüber ausländischen Hoheitsakten sowie auf die völkerrechtliche Qualifikation dieser Materie. Bezeichnend für all diese Aspekte ist, dass sie eine Perspektive einnehmen, die einzig und allein die beiden beteiligten Staaten in den Blick nimmt: Den Urteilsstaat und den Vollstreckungsstaat. Blickt man ausschließlich auf diese beiden Akteure – und blendet man die Prozessparteien völlig aus – so liegt das Pochen auf Gegenseitigkeit in der Tat nahe.

C. Arten von Gegenseitigkeitserfordernissen

C. Arten von Gegenseitigkeitserfordernissen

Die staatenzentrierte Perspektive auf die Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen führte dazu, dass sich die früher intuitiv angewandten Reziprozitätserwägungen mit der Zeit formalisierten. Dadurch entstanden gesetzliche Gegenseitigkeitserfordernisse, die sich in ihrer Ausgestaltung jedoch von Staat zu Staat unterschieden. Den auffälligsten Unterschied zwischen den verschiedenen Reziprozitätsvorbehalten bildete dabei die Art und Weise, auf die das Vorliegen von Gegenseitigkeit festgestellt werden konnte. Auch heutzutage unterscheiden sich Gegenseitigkeitserfordernisse vor allem unter diesem Aspekt. Dementsprechend kann man sie in drei Hauptgruppen unterteilen: Staatsvertragsvorbehalte, die administrative Gegenseitigkeitsfeststellung sowie die gerichtliche Gegenseitigkeitsermittlung. Dabei stellen Staatsvertragsvorbehalte die restriktivste Art von Gegenseitigkeitserfordernissen dar (unter I.), während die administrative Gegenseitigkeitsfeststellung 27 Engelmann, Die Zwangsvollstreckung auswärtiger richterlicher Urtheile in Rußland, S. 9–12.

C. Arten von Gegenseitigkeitserfordernissen

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etwas weniger strikt ist (unter II.). Am wenigsten restriktiv ist die gerichtliche Gegenseitigkeitsfeststellung, wobei es hier entscheidend darauf ankommt, wie in den häufigen Zweifelsfällen zu verfahren ist (unter III.). I.

Staatsvertragsvorbehalte

Bei Gegenseitigkeitserfordernissen in Form eines Staatsvertragsvorbehalts ist ein völkerrechtlicher Vertrag mit dem Urteilsstaat unabdingbare Voraussetzung dafür, dass ein ausländisches Urteil anerkannt oder vollstreckt werden kann. Ein bedeutender Vertreter dieser Art von Reziprozität ist das russische Recht, das auch Regelungen anderer Staaten beeinflusste. So wurde die russische Gegenseitigkeitsbestimmung in der Zwischenkriegszeit durch Polen rezipiert und nach dem Zerfall der Sowjetunion von vielen ihrer Nachfolgestaaten übernommen.28 Der russische Staatsvertragsvorbehalt kann dabei auf eine lange Geschichte zurückblicken, denn er fand seinen Weg bereits in die russische ZPO von 1864.29 Andere bedeutende Vertreter des Staatsvertragsvorbehalts sind die nordeuropäischen Staaten Dänemark, Finnland, Schweden, Norwegen und Island. Die Existenz von Staatsvertragsvorbehalten in den nordischen Anerkennungsrechten ist auch der Grund dafür, warum diese Staaten untereinander ein enges Netz völkerrechtlicher Anerkennungs- und Vollstreckungsabkommen geschlossen haben (sog. nordische Konventionen).30 Vergleicht man den Staatsvertragsvorbehalt mit der administrativen und der gerichtlichen Gegenseitigkeitsfeststellung, so stellt er sich als besonders restriktiv dar, denn er gibt sich nicht damit zufrieden, dass ein anderer Staat inländische Urteile tatsächlich anerkennt und vollstreckt.31 Vielmehr besteht er auf einer vertraglichen Absicherung der Gegenseitigkeitsbeziehung, denn er verlangt in jedem Fall, dass die Reziprozität mit dem Urteilsstaat durch die „feierliche Form“32 des völkerrechtlichen Abkommens garantiert wird. Dieses Pochen auf eine völkervertragliche Regelung war von der Vorstellung geprägt, dass eine Liberalisierung der gegenseitigen Urteilsvollstreckung vornehmlich auf Grundlage bilateraler Abkommen zwischen den einzelnen Staaten zu erwarten ist. Diese Vorstellung geht mittlerweile jedoch an der Realität 28 Zum russischen Anerkennungsrecht vgl. Kapitel 4 – B.V (S. 96 ff). Zum polnischen Anerkennungsrecht vgl. Kapitel 4 – B.III (S. 92 ff). Zu Reziprozitätsvorbehalten in den Anerkennungsrechten der Nachfolgestaaten der Sowjetunion vgl. Fn. 9 (S. 85). 29 Zur Aufnahme des Staatsvertragsvorbehalts in die russische ZPO von 1864 vgl. Kapitel 1 – B.III (S. 13 f). 30 Zu den Anerkennungsrechten der nordischen Staaten vgl. Kapitel 4 – A.I (S. 84 f). 31 Schütze, in: Geimer / Schütze, Internationale Urteilsanerkennung, S. 1753 f. 32 So von Amsberg während der Beratungen des Reichsjustizausschusses über die Aufnahme eines Gegenseitigkeitserfordernisses in die ZPO (Hahn, Die gesammelten Materialien zur Civilprozeßordnung und zu dem Einführungsgesetz zu derselben vom 30. Januar 1877, Erste Abtheilung, S. 888 f.). Zu den Beratungen im Reichsjustizausschuss vgl. Kapitel 2 – B (S. 32 ff.).

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Kapitel 1 – Gegenseitigkeit und Urteilsanerkennung

vorbei. Die allermeisten Staaten vollstrecken ausländische Urteile nämlich entweder auf Grundlage tatsächlich bestehender Reziprozität oder aber sie verzichten ganz und gar auf jegliche Reziprozitätsprüfung.33 Neben seiner Strenge zeichnet sich der Staatsvertragsvorbehalt durch eine einfache Rechtsanwendung aus. Anders als bei der gerichtlichen Gegenseitigkeitsfeststellung muss nicht erst die Anerkennungspraxis ausländischer Gerichte mühsam ermittelt werden. Ob mit einem bestimmten Staat ein völkerrechtliches Abkommen über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von Zivilentscheidungen vorliegt, kann vielmehr mit wenig Aufwand aufgeklärt werden. Doch dieser Vorteil ist aus Sicht des effektiven Rechtsschutzes nur ein schwacher Trost, denn ohne völkervertragliche Grundlage bleibt eine Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile ausgeschlossen. Mit dem zwingenden Erfordernis eines völkerrechtlichen Vertrags geht auch ein weiterer Nachteil einher – nämlich, dass die Exekutive, die solche Staatsverträge allein aushandeln und abschließen kann, die Etablierung einer gegenseitigen Anerkennungspraxis gezielt verhindern kann, indem sie mit bestimmten Staaten keine solchen Abkommen schließt. Dadurch kann sie den Staatsvertragsvorbehalt dazu nutzen, um eine anerkennungsfeindliche Agenda zu verwirklichen – und um die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen aus ausgewählten Staaten zielgerichtet zu verhindern.34 II. Administrative Gegenseitigkeitsfeststellung Das Erfordernis der administrativen Gegenseitigkeitsfeststellung verlangt eine förmliche Regierungserklärung oder Verordnung darüber, dass mit einem bestimmten Staat Gegenseitigkeit vorliegt.35 Diese Art von Reziprozität ist nicht sehr verbreitet – sie ist etwa im österreichischen und liechtensteinischen Recht anzutreffen.36 Im Vergleich zu Staatsvertragsvorbehalten ist die administrative Gegenseitigkeitsfeststellung etwas weniger restriktiv, weil sie es zulässt, dass auch abseits eines völkerrechtlichen Abkommens eine Anerkennung und Vollstreckung von ausländischen Urteilen stattfinden kann. Im Übrigen ist sie allerdings dem Staatsvertragsvorbehalt recht ähnlich, was sich bei ihren Vorteilen wie auch bei ihren Nachteilen zeigt. So kann die administrative Gegenseitigkeitsfeststellung ebenfalls eine einfache und klare Handhabung für sich reklamieren. Anders als bei der gerichtlichen Gegenseitigkeitsfeststellung muss die ausländische Anerkennungspraxis nicht erst mühsam 33 Für einen Überblick über die Relevanz des Gegenseitigkeitsprinzips in den einzelnen kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen vgl. Kapitel 4 – A (S. 83). 34 Zu einer solchen Instrumentalisierung des Staatsvertragsvorbehalts vgl. Kapitel 10 – B.III.1 (S. 211 ff.). 35 Schütze, in: Geimer / Schütze, Internationale Urteilsanerkennung, S. 1754 f. 36 Zum österreichischen und liechtensteinischen Gegenseitigkeitserfordernis vgl. Kapitel 4 – A.II (S. 85 f.).

C. Arten von Gegenseitigkeitserfordernissen

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ermittelt werden.37 Es genügt, einen Blick in das Amtsblatt zu werfen, um zu sehen, ob sich eine Regierungserklärung oder eine Verordnung über das Bestehen von Reziprozität mit dem Urteilsstaat findet.38 Dem steht allerdings der Nachteil gegenüber, dass die administrative Gegenseitigkeitsfeststellung restriktiv ist, weil sie die tatsächliche Anerkennung und Vollstreckung von inländischen Entscheidungen durch ausländische Staaten nicht genügen lässt.39 Vielmehr verlangt sie in jedem Fall den förmliche Akt der Gegenseitigkeitsfeststellung durch die Exekutive. Wie auch bei Staatsvertragsvorbehalten wird dadurch die Herstellung einer gegenseitigen Anerkennungspraxis ausschließlich in die Hände der Exekutive gelegt, die sich hierzu aber möglicherweise gar nicht verpflichtet fühlt, sondern stattdessen eine anerkennungsfeindliche Agenda verfolgen kann.40 III. Gerichtliche Gegenseitigkeitsfeststellung Die weitverbreitetste Art einer Reziprozitätsvorschrift ist die gerichtliche Gegenseitigkeitsfeststellung. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass das mit der Anerkennung oder Vollstreckbarerklärung eines ausländischen Urteils befasste Gericht ermitteln muss, ob mit dem Urteilsstaat Gegenseitigkeit besteht oder nicht. Bisweilen wird diese Art von Reziprozität auch als faktisches oder tatsächliches Gegenseitigkeitserfordernis bezeichnet, weil es lediglich darauf ankommt, dass das Ausland inländische Urteile tatsächlich anerkennt und vollstreckt.41 Ein prominenter Vertreter der gerichtlichen Gegenseitigkeitsfeststellung ist das deutsche Recht.42 Die meisten anderen Rechtsordnungen, die dem Reziprozitätsprinzip folgen, stellen diese Art von Gegenseitigkeitserfordernis ebenfalls auf. So war die gerichtliche Gegenseitigkeitsfeststellung beispielsweise unter den mittel- und osteuropäischen Staaten weitverbreitet, auch wenn sich dort mittlerweile ein Trend zu ihrer Abschaffung manifestiert.43 Ferner findet sie sich auch in außereuropäischen Rechtsordnungen wieder, wie etwa in Südkorea, Taiwan und Japan.44 Nicht zuletzt hat auch das American Zu den enormen Schwierigkeiten der gerichtlichen Gegenseitigkeitsfeststellung vgl. Kapitel 2 – C (S. 36 ff.). 38 Schütze, in: Geimer / Schütze, Internationale Urteilsanerkennung, S. 1754. 39 Schütze, in: Geimer / Schütze, Internationale Urteilsanerkennung, S. 1756 f. 40 Zur Möglichkeit eines solchen zweckwidrigen Einsatzes dieser Art von Reziprozitätsvorbehalt vgl. Kapitel 10 – B.III.1 (S. 211 ff.). 41 Bisweilen wird die gerichtliche Gegenseitigkeitsfeststellung auch als materielles Gegenseitigkeitserfordernis bezeichnet (beispielsweise bei Roth, in: Stein / Jonas, ZPO, § 328, Rn. 120). Diese Bezeichnung steht dabei im Gegensatz zu formellen Gegenseitigkeitserfordernissen, die eine staatsvertragliche oder administrative Verbürgung der Gegenseitigkeit voraussetzen. 42 Zum Gegenseitigkeitserfordernis des deutschen Rechts vgl. Kapitel 2 (S. 29 ff.). 43 Zu neueren Entwicklungen in den Anerkennungsrechten der mittel- und osteuropäischen Staaten vgl. Kapitel 4 – A.III (S. 86 ff.). 37

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Kapitel 1 – Gegenseitigkeit und Urteilsanerkennung

Law Institute in einem Vorschlag für einen Gesetzesentwurf aus dem Jahre 2005 die Einführung eines solchen Reziprozitätsvorbehalts befürwortet.45 Die gerichtliche Gegenseitigkeitsfeststellung ist die mildeste Art von Reziprozitätsvorbehalt. Im Vergleich zur staatsvertraglichen und administrativen Gegenseitigkeitsverbürgung ist sie milder, weil sie nicht verlangt, dass die Gegenseitigkeitsbeziehung irgendeinen formellen Niederschlag gefunden haben muss. Vielmehr kommt es allein darauf an, ob das Ausland inländische Urteile tatsächlich anerkennt und vollstreckt. Dies hat zur Konsequenz, dass auch abseits eines Staatsvertrags oder einer Regierungserklärung bzw. Verordnung eine gegenseitige Anerkennungspraxis etabliert werden kann. Mit dem Vorteil einer geringeren Restriktivität geht allerdings auch ein handfester Nachteil in der Anwendungspraxis einher. Der Fokus auf die tatsächliche Anerkennungspraxis von ausländischen Staaten führt nämlich dazu, dass diese aufwendig ermittelt werden muss. Das ist oft kein leichtes Unterfangen, was zur Folge hat, dass die gerichtliche Gegenseitigkeitsfeststellung oftmals schwer handhabbar und kaum voraussehbar ist.46 Diese Schwierigkeiten bei der Ermittlung der ausländischen Anerkennungspraxis führen dazu, dass es oftmals entscheidend darauf ankommt, wie in Zweifelsfällen zu verfahren ist. Die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast gibt hier den Ausschlag. So geht etwa bei § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO ein non liquet zu Lasten des Urteilsgläubigers.47 Neuere Gegenseitigkeitserfordernisse, wie etwa das slowenische, vermuten hingegen das Bestehen von Reziprozität.48 Auch der vom American Law Institute vorgeschlagene Reziprozitätsvorbehalt sieht vor, dass es dem Urteilsschuldner obliegt, den Mangel an Gegenseitigkeit als Einwand zu erheben und zu beweisen.49 In die gleiche Richtung gingen auch Reformvorschläge in Bezug auf die deutsche Gegenseitigkeitsbestimmung. So plädierte das Hamburger Max-Planck-Institut im Vorfeld der großen IPR-Reform 1986 dafür, dass – alternativ zur Streichung 44 Elbalti, Reciprocity and the recognition and enforcement of foreign judgments: a lot of bark but not much bite, JPIL 2017, S. 184 (191). 45 American Law Institute, Recognition and Enforcement of Foreign Judgments: Analysis and Proposed Federal Statute, S. 92–94. Zu diesem rechtspolitischen Vorschlag des American Law Institute vgl. Kapitel 3 – B.V (S. 74 ff.). 46 Zu den Schwierigkeiten der gerichtlichen Anwendung von § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO vgl. Kapitel 2 – C (S. 36 ff.). 47 BGH, Urteil vom 29.4.1999, IX ZR 263/97 – NJW 1999, 3198 (3202): „Insbesondere ist die allein im öffentlichen Interesse eingeführte Voraussetzung der Gegenseitigkeit – welche die Anerkennungsfreundlichkeit ausländischer Staaten fördern soll – von demjenigen zu beweisen, der ein Vollstreckungsurteil erlangen will.“ 48 Kramberger Škerl, Slovenia, S. 2503 (2503 ff.). Zum slowenischen Reziprozitätsvorbehalt vgl. Fn. 27 (S. 87). 49 Zum Entwurf des American Law Institute für eine bundeseinheitliche Regelung der Voraussetzungen für die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Gerichtsentscheidungen in den USA vgl. Kapitel 3 – B.V (S. 74 ff.).

D. Ziele und Motive von Gegenseitigkeitserfordernissen

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des § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO – eine Anerkennungsversagung nur dann erfolgt, wenn das Ausland deutsche Urteile überhaupt nicht anerkennt oder aber einer révision au fond unterzieht.50 Eine solche Änderung hätte weitreichende praktische Konsequenzen, weil sie in den häufigen Zweifelsfällen zu einer positiven Anerkennungsentscheidung führen würde. Eine etwas andere Spielart eines gerichtlichen Gegenseitigkeitserfordernisses findet sich im tschechischen Recht, das Gegenseitigkeit nur dann verlangt, falls sich das anzuerkennende Urteil gegen einen tschechischen Staatsbürger oder gegen eine tschechische juristische Person richtet.51 Diese Art von Reziprozitätsvorbehalt existierte bereits im Recht der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR) – und ist auch im Zuge der Neukodifizierung des tschechischen IPR beibehalten worden.52 Im Vergleich zu anderen Reziprozitätsbestimmungen zeichnet sich die tschechische Regelung dadurch aus, dass sie einen geringeren Anwendungsbereich hat, was aus dem Blickwinkel der Interessen und Rechte von rechtsschutzsuchenden Individuen zu begrüßen ist. Indem das tschechische Gegenseitigkeitserfordernis sich nur gegen Angehörige solcher ausländischer Staaten richtet, die tschechische Urteile nicht anerkennen, folgt es strikt der völkerrechtlichen Retorsionslogik, in der Reziprozitätsvorbehalte ihre historischen Wurzeln haben.53

D. Ziele und Motive von Gegenseitigkeitserfordernissen

D. Ziele und Motive von Gegenseitigkeitserfordernissen

Das unmittelbare Ziel von Gegenseitigkeitserfordernissen liegt darin, die Durchsetzbarkeit eigener Urteile im Ausland zu fördern (unter I.). Das wird einhellig als erstrebenswert angesehen, obwohl kaum jemals darüber reflektiert wird, warum dies eigentlich der Fall ist (unter II.). 50 Zur IPR-Reform von 1986 und der Stellungnahme des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht zu § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO vgl. Kapitel 2 – D.II (S. 43 ff.). 51 Pauknerová, Czech Republic, S. 2008 (2018); Uhlířová, New Private International Law in the Czech Republic, YPIL 16 (2014/2015), S. 469 (485). Das Gegenseitigkeitserfordernis findet sich in § 15 Abs. 1 lit. f) des tschechischen IPR-Gesetzes, das am 1.1.2014 in Kraft trat. 52 Steiner, The Recognition of Money Judgments in Civil and Commercial Matters, S. 99 (125–127); Vondracek, Recognition and Enforcement of Foreign Judgments Outside the Scope of Application of the Brussels and Lugano Conventions: Czechoslowakia – Czech Republic, S. 111 (115). Im Gegensatz zu Tschechien fordert die Slowakei keine Gegenseitigkeit, obgleich dort die alte tschechoslowakische Kodifikation im Kern immer noch in Kraft ist (vgl. Stefankova, Slovakia, S. 2492 (2493–2502). Zum tschechischen Anerkennungsrecht vgl. Kapitel 4 – B.IV (S. 94 f.). 53 Zu den historischen Wurzeln von Gegenseitigkeitsvorbehalten als völkerrechtliche Retorsionsmaßnahmen vgl. Kapitel 1 – B.III (S. 13 f.).

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Kapitel 1 – Gegenseitigkeit und Urteilsanerkennung

I. Unmittelbares Ziel: Durchsetzbarkeit von inländischen Urteilen im Ausland Gegenseitigkeitserfordernisse stellen ein Druckmittel dar. Sie sind Ausdruck einer reziproken Verhaltensstrategie, die darauf gerichtet ist, das Verhalten ausländischer Staaten zu beeinflussen. Ausländischen Staaten, die inländische Urteile nicht respektieren, soll dadurch unmissverständlich klargemacht werden, dass dieses Verhalten einen Preis hat: Nämlich den, dass in umgekehrten Konstellationen ihre Urteile ebenfalls ignoriert werden.54 Auf diese Weise, so das Kalkül, sollen ausländische Staaten dazu gebracht werden, ihr Verhalten zu ändern und inländische Urteile fortan zu achten. Gegenseitigkeitserfordernisse sind daher eine „rechtspolitische Daumenschraube für unkooperative fremde Staaten“.55 Die verschiedenen Arten von Gegenseitigkeitsvorschriften unterscheiden sich dabei zwar in der Frage, wodurch genau die Durchsetzbarkeit von Inlandsurteilen sichergestellt werden soll – insbesondere, ob dies durch den Abschluss eines Staatsvertrags erfolgen soll oder ob auch eine schlichte Änderung der ausländischen Anerkennungspraxis genügt. Ihr Ziel ist jedoch stets dasselbe: Ausländische Staaten dazu zu bringen, dass sie inländische Urteile anerkennen und vollstrecken.56 II. Dahinterliegende Motive Obwohl Gegenseitigkeitserfordernisse weitverbreitet sind, wird kaum hinterfragt, warum sie eigentlich erstrebenswert sein sollen. Die gängigste Antwort darauf lautet, dass durch die Reziprozität die Interessen der eigenen Staatsbürger gegenüber dem Ausland geschützt werden (unter 1.). Als weiterer Grund wird bisweilen der Schutz der inländischen Wirtschaft angeführt (unter 2.). Vor allem aber spielt wohl nationales Prestigedenken eine nicht zu unterschätzende Rolle (unter 3.). 1. Schutz eigener Bürger Auf den ersten Blick ist man geneigt zu glauben, dass Gegenseitigkeitserfordernisse die Interessen der eigenen Staatsbürger schützen. Die Herstellung eines geordneten Zivilrechtsverkehrs mit ausländischen Staaten ist für GläuHo, Policies Underlying the Enforcement of Foreign Commercial Judgments, 46 ICQL (1997), S. 443 (455): „Another strategy for gaining recognition and enforcement of our judgments abroad is to recognise and enforce a judgment from a foreign State only in exchange for similar concessions from that State.“ 55 Puttfarken, Zur Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile deutscher Kläger – verfassungswidrige Gegenseitigkeit, RIW 1976, S. 149 (150). 56 Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, Rn. 43: „Auf diese Weise versucht ein Staat den anderen dazu zu bewegen, von sich aus oder durch Abschluss von Staatsverträgen den internationalen Rechtsverkehr zu fördern […].“ 54

D. Ziele und Motive von Gegenseitigkeitserfordernissen

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biger von Inlandsurteilen unzweifelhaft von Vorteil – dadurch lassen sich ihre Entscheidungen nämlich auch im Ausland durchsetzen.57 In diesem Geiste wurde auch während der Gesetzgebungsarbeiten zur ZPO für die Gegenseitigkeit geworben. So mahnte der Abgeordnete Reichensperger eindringlich, „man dürfe die Deutschen dem Auslande gegenüber nicht rechtlos machen.“58 Dem liegt die unausgesprochene Annahme zugrunde, dass es Inländer sind, die von inländischen Urteilen profitieren. Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass diese Annahme oftmals nicht zutrifft. Denn die Herkunft eines Urteils sagt noch nichts darüber aus, wer die siegreiche Prozesspartei ist.59 Genauso wie Inländer vor ausländischen Gerichten gewinnen können, genauso können auch Ausländer vor inländischen Gerichten obsiegen.60 Man kann daher weder Inlandsurteile mit Inländerinteressen gleichsetzen noch Auslandsurteile mit Ausländerinteressen.61 Weil aber Gegenseitigkeitserfordernisse genau dies tun, können sie sich im Ergebnis auch gegen Inländer richten. Sie verhindern nämlich, dass Inländer, die in einem ausländischen Prozess siegreich waren, ihre Entscheidung im Inland vollstrecken können.62

57 Lagarde, La réciprocité en droit international privé, Recueil des Cours 154 (1977), S. 141; Gesler, § 328 ZPO – Ein Beitrag zu der Lehre von der zwingenden Natur der Kollisionsnormen, S. 28. 58 Hahn, Die gesammelten Materialien zur Civilprozeßordnung und zu dem Einführungsgesetz zu derselben vom 30. Januar 1877, Erste Abtheilung, S. 889. 59 Puttfarken, Zur Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile deutscher Kläger – verfassungswidrige Gegenseitigkeit, RIW 1976, S. 149 (150): „Der Zweck der Vorschrift setzte eine Tatsachenlage als typisch voraus, die es heute nicht mehr ist. Die Regelung geht davon aus, daß es immer Ausländer seien, die ausländische Titel im Inland vollstreckt haben wollen. Das stand im Einklang mit einer international-zivilprozessualen Grundstimmung, die zumindest das ganze vorige Jahrhundert durchzog und die auch in unserer Zivilprozeßordnung nicht zu übersehen ist: Jeder Kläger suchte nur vor seinen eigenen Gerichten Recht. Sie ist am schärfsten ausgeprägt im französischen Jurisdiktionsprivileg der Artt. 14 und 15 des Code civil von 1804.“ 60 Für eine umfassende Darstellung der möglichen Konstellationen vgl. Süß, Die Anerkennung ausländischer Urteile, S. 237. 61 Puttfarken, Zur Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile deutscher Kläger – verfassungswidrige Gegenseitigkeit, RIW 1976, S. 149 (150): „Zwar ist diese Grundstimmung weiterhin in unseren Gesetzen, und sie mag auch noch in vielen Köpfen leben, aber in der Rechtswirklichkeit, in der wir unsere Gesetze anzuwenden haben, ist sie tot. Hier hat sich die Fallkonstellation geradezu in ihr Gegenteil verkehrt: Man klagt, wenn irgend zweckmäßig, im Land des Gegners, dort hat man im Zweifel die besseren Vollstreckungsaussichten und vermeidet eine Reihe weiterer Fallen des internationalen Zivilprozeßrechts.“ 62 Nur einige wenige Anerkennungsregime, wie etwa das tschechische und das slowenische, beschränken ihren Reziprozitätsvorbehalt auf die Konstellation, dass sich das ausländische Urteil gegen Inländer richtet. Zum tschechischen Gegenseitigkeitserfordernis vgl. Kapitel 4 – B.IV (S. 94 f.); zum slowenischen Gegenseitigkeitserfordernis vgl. Fn. 27

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Kapitel 1 – Gegenseitigkeit und Urteilsanerkennung

Gegenseitigkeitserfordernisse können daher die Interessen von Inländern nicht zielgerichtet schützen. 2. Schutz inländischer Wirtschaft Daneben soll die Gegenseitigkeit auch die inländische Wirtschaft schützen, weil eine Inlandsvollstreckung von Auslandsurteilen naturgemäß in inländische Vermögenswerte erfolgt. Eine Nichtvollstreckung von ausländischen Richtersprüchen bedeutet daher, dass im Inland belegenes Vermögen verschont bleibt.63 Doch ob dadurch der heimischen Wirtschaft wirklich gedient wäre, ist zweifelhaft. Denn zum einen kann der im Ausland siegreiche Urteilsgläubiger ein Inländer sein. Zum anderen ist es aber auch nicht ausgemacht, dass die im Inland belegenen Vermögenswerte, in die vollstreckt werden soll, im Eigentum von Inländern stehen. Das mag in früheren Zeiten regelmäßig so gewesen sein – doch in der heutigen globalisierten Welt, die von einer weitgehenden Durchlässigkeit der Grenzen für Menschen und Kapital geprägt ist, trifft dies häufig nicht mehr zu. Nicht zuletzt ist auch zu bedenken, dass das Streben nach einem weitgehenden Vollstreckungsschutz für inländische Vermögenswerte auch eine Kehrseite hat. Ein „protektionistisch übertriebene[r] Schutz des einheimischen Schuldners“ schlägt sich nämlich darin nieder, dass der Ruf inländischer Unternehmen als zuverlässige Schuldner leidet, was ihre Kreditwürdigkeit verschlechtert und ihre Refinanzierung verteuert.64 3. Schutz eigener Autorität Ein weiterer Beweggrund, warum Reziprozität verlangt wird, ist der Schutz eigener Autorität.65 Die fremde Autorität, die sich in ausländischen Urteilen manifestiert, will man demnach nur dann achten und befolgen, wenn umge(S. 87) und Fn. 33 (S. 207). Zur Kritik an dem Umstand, dass Gegenseitigkeitserfordernisse auch die eigenen Staatsbürger treffen, vgl. Kapitel 1 – E.I (S. 24). 63 Eine prägnante Pointierung dieses Denkens zeigt sich in folgender Bewertung des Schweizer Juristen Stauffer: „Zieht man alle diese Verumständungen in Berücksichtigung, so muss gesagt werden, dass diejenige Rechtsordnung als die zweckmässigste erscheint, die eine möglichst ausgedehnte Anerkennung eigener Urteile im Auslande herbeizuführen vermag, ohne dass sie ihrerseits hinsichtlich der Vollziehbarkeit auswärtiger Urteile im Inlande zu weitgehende Konzessionen machen muss.“ Stauffer, Vom Gegenrecht in der internationalen Urteilsvollstreckung, ZBJV 62 (1926), S. 5 (15). 64 Ernst, Gegenseitigkeit und Vergeltung im internationalen Privatrecht, S. 96. 65 Schon Carl Georg von Wächter postulierte, dass ein Staat bei der Vollstreckung von Auslandsurteilen „das Princip der Reciprocität aufstellen müssen [wird]; denn sonst würde er nicht nur seiner Würde vergeben, sondern auch das eigene Interesse nicht nach Gebühr fördern.“ v. Wächter, Ueber die Collision der Privatrechtsgesetze verschiedener Staaten, AcP 25 (1842), S. 361 (417).

D. Ziele und Motive von Gegenseitigkeitserfordernissen

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kehrt die eigene Autorität im Ausland respektiert wird. Man mag dies auch als Prestigegründe bezeichnen. Die strikte Befolgung des Reziprozitätsprinzips ist jedenfalls ein Mittel, um bei der Urteilsanerkennung gegenüber ausländischen Staaten Augenhöhe herzustellen. Die Gleichheit zwischen Anerkennungs- und Urteilsstaat wird dadurch zum Ziel an sich.66 Die Entstehungsgeschichte des § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO zeigt, dass sich der historische deutsche Gesetzgeber in entscheidender Weise davon leiten ließ, dass das Einfordern von Gegenseitigkeit „allein der Ehre und der Würde des Reiches entspreche“.67 Es scheint daher, dass Prestigegründe als Motiv für das Beharren auf Gegenseitigkeit eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. III. Zwischenergebnis Die Gegenseitigkeit soll sicherstellen, dass bei der Urteilsanerkennung ein geordneter Zivilrechtsverkehr etabliert wird, der in beide Richtungen geht. Ausländische Staaten, die inländische Urteile bisher nicht anerkennen und vollstrecken, sollen so zu einer Änderung ihres Verhaltens bewegt werden. Der unmittelbare Zweck der Reziprozität liegt also in der Liberalisierung der Anerkennungspraxis unkooperativer Staaten in Bezug auf Inlandsurteile. Dieses Streben wird dabei durch die intuitive Überzeugung genährt, dass die Durchsetzbarkeit von Inlandsurteilen im Ausland erstrebenswert ist. Im Umkehrschluss wird die Durchsetzbarkeit von Auslandsurteilen im Inland als unvorteilhaft bewertet. Vor diesem Hintergrund erscheint die Vollstreckung von ausländischen Entscheidungen lediglich als notwendiges Übel, um die Vollstreckung von inländischen Entscheidungen sicherzustellen. Dieses Denken offenbart jedoch eine verkürzte Logik. Denn jedenfalls in der heutigen, 66 Ernst, Gegenseitigkeit und Vergeltung im internationalen Privatrecht, S. 94; Hepting, Die Gegenseitigkeit im Internationalen Privatrecht und Internationalen Zivilprozessrecht, S. 232. In diese Richtung auch Gesler, § 328 ZPO – Ein Beitrag zu der Lehre von der zwingenden Natur der Kollisionsnormen, S. 28 f.: „Soweit man sich daher überhaupt Gedanken über die Berechtigung dieses Ausschließungsgrundes gemacht hat, vermochte man einen stichhaltigen Grund auch nicht anzugeben. Wittmaack will die Gegenseitigkeit beispielsweise als ‚einen Ausfluß der im Verkehr der Staaten herrschenden Courtoisie‘ ausgeben.“ 67 Hahn, Die gesammelten Materialien zur Civilprozeßordnung und zu dem Einführungsgesetz zu derselben vom 30. Januar 1877, Erste Abtheilung, Protokolle der Kommission – Erste Lesung, S. 805. Lenhoff, Reciprocity and the Law of Foreign Judgments, 16 La. L.R. (1956), S. 465 (480): „Honor and dignity of the new German Reich, the majority believed, called for the insertion of a reciprocity feature.“ Vgl. auch Hepting, Die Gegenseitigkeit im Internationalen Privatrecht und Internationalen Zivilprozessrecht, S. 236. Süß erklärt auch das weitere Festhalten an der Gegenseitigkeit mit Prestigegründen: „Daß Trotzdem das Erfordernis jahrzehntelang seit v. Bars überzeugender Kritik hingenommen wurde, kann man psychologisch wohl nur damit erklären, daß man die Regelung für ein unantastbares Prinzip der nationalen Würde hielt.“ Süß, Die Anerkennung ausländischer Urteile, S. 241–242.

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Kapitel 1 – Gegenseitigkeit und Urteilsanerkennung

globalisierten Welt trifft es nicht mehr zu, dass Inlandsurteile Inländer begünstigen – und Auslandsurteile Ausländer.

E. Kritik an Gegenseitigkeitserfordernissen

E. Kritik an Gegenseitigkeitserfordernissen

Gegenseitigkeitserfordernisse stehen seit eh und je in der Kritik. Das lässt sich gut an den Beratungen der Reichsjustizkommission bei der Ausarbeitung der Zivilprozessordnung von 1877 ablesen, welche die Einführung eines Gegenseitigkeitserfordernisses kontrovers diskutierten. Schon damals wurden alle Nachteile einer solchen Reziprozitätsbestimmung angeführt, die auch heute noch Widerspruch hervorrufen.68 Diese Kritik ist nie verstummt – die deutsche Rechtswissenschaft lehnt die Reziprozitätsvorschrift des § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO seit mehreren Generationen entschieden ab.69 Gegenseitigkeitserfordernissen wird nämlich attestiert ungerecht (unter I.), ineffektiv (unter II.) und für die Gerichte nur schwer handhabbar (unter III.) zu sein. I.

Ungerechtigkeit: Beeinträchtigung privater Rechte

Bereits die Grundkonzeption von Gegenseitigkeitserfordernissen ruft prinzipielle Kritik hervor. Diese richtet sich gegen die „Dominanz staatlicher Interessen“70 bei der Anerkennung und Vollstreckung von Zivilurteilen. Die Quintessenz von Gegenseitigkeitsvorbehalten besteht nämlich darin, private Rechte in Geiselhaft zu nehmen, um den Urteilsstaat zu einer Verhaltensänderung zu zwingen. Das ist ungerecht, denn die Folgen treffen Privatpersonen, die für den sanktionierten Zustand nichts können. Der Urteilsgläubiger muss vielmehr allein deshalb den Nachteil der Nichtdurchsetzbarkeit seiner Entscheidung tragen, weil der Urteilsstaat nicht anders zu belangen ist.71 Es 68 Zur Aufnahme des Gegenseitigkeitserfordernisses in die ZPO vgl. Kapitel 2 – B (S. 32 ff.). 69 Vgl. v. Bar, Theorie und Praxis des Internationalen Privatrechts, Bd. II, §§ 455–456; Basedow, Gegenseitigkeit im Kollisionsrecht, S. 335 (344–348); Gesler, § 328 ZPO – ein Beitrag zu der Lehre von der zwingenden Natur der Kollisionsnormen, S. 27–29; Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 1294–1303; MaxPlanck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Kodifikation des deutschen Internationalen Privatrechts, RabelsZ 47 (1983), S. 595 (674–678); Puttfarken, Zur Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile deutscher Kläger – verfassungswidrige Gegenseitigkeit, RIW 1976, S. 149–151; Süß, Die Anerkennung ausländischer Urteile, S. 229–271. Zur Beibehaltung der Gegenseitigkeitsvorschrift entgegen aller wissenschaftlichen Stellungnahmen zur IPR-Reform von 1986 vgl. Kapitel 2 – D.II (S. 43 ff.). 70 Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Kodifikation des deutschen Internationalen Privatrechts, RabelsZ 47 (1983), S. 595 (677). 71 v. Mehren / Trautman, Recognition of Foreign Adjudication, 81 H.L. Rev. (1968), S. 1601 (1661): „Academic writers in general oppose a blunderbuss requirement because it

E. Kritik an Gegenseitigkeitserfordernissen

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fehlt jedoch jegliche innere Berechtigung dafür, warum er für das Handeln des ausländischen Staates geradestehen soll.72 Ganz deutlich wird dies, wenn man sich die Situation vergegenwärtigt, in der ein Inländer im Ausland obsiegt. In diesem Fall trifft die Gegenseitigkeitsbestimmung nicht einmal einen Angehörigen des Urteilsstaates, sondern einen eigenen Staatsbürger.73 Auch der deutsche Reziprozitätsvorbehalt in § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO richtet sich ebenso gegen Ausländer wie auch gegen im Ausland siegreiche Deutsche.74 Lagarde bezeichnet deshalb die Reziprozität als blindes Prinzip, das sich im Ergebnis nur allzu oft gegen Inländer richte.75 II. Ungeeignetheit: Ineffektivität der Gegenseitigkeit Ein weiterer Kritikpunkt an Reziprozitätsvorbehalten ist ihre Ineffektivität. Zwar streben Gegenseitigkeitserfordernisse danach, die Durchsetzbarkeit von inländischen Entscheidungen im Ausland zu fördern. Allerdings wird ihnen vorgeworfen, dass sie genau das kaum erreichen. Stattdessen würden sie nur zu einer Verhärtung der Fronten führen und zu vermehrter Abschottung.76 Deshalb müsse vielmehr „[e]in Land, das sich um die Liberalisierung der internationalen Urteilsanerkennung bemühen will, […] selbst den ersten Schritt tun.“77 Das Pochen auf Gegenseitigkeit löse allzu oft eine Eigendynaarbitrarily penalizes private individuals for positions taken by foreign governments and because such a rule has little if any constructive effect, but tends instead to a general breakdown of recognition practice.“ Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, Rn. 1027: „Man schlägt den Esel und meint den Herrn.“ 72 Basedow, Gegenseitigkeit im Kollisionsrecht, S. 335 (346). 73 Zu den verschiedenen denkbaren prozessualen Konstellationen vgl. Süß, Die Anerkennung ausländischer Urteile, S. 229 (237). 74 Kühne, IPR-Gesetz-Entwurf, S. 176: „Die Leidtragenden sind nämlich überwiegend deutsche Staatsangehörige, die mangels Anerkennung der von ihnen im Ausland erwirkten Entscheidung den Rechtsstreit im Inland noch einmal beginnen müssen.“ Aus diesem Grunde zog Puttfarken gar den Schluss, dass § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO, soweit er sich gegen deutsche Staatsbürger richte, verfassungswidrig sei. Puttfarken, Zur Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile deutscher Kläger – verfassungswidrige Gegenseitigkeit, RIW 1976, S. 149–151. 75 Lagarde, La réciprocité en droit international privé, Recueil des Cours 154 (1977), S. 142: „C’est donc là une réciprocité aveugle, qui se retourne souvent contre les nationaux du pays qui pose la condition de réciprocité […].“ 76 So schon Ludwig v. Bar: „Die Forderung der Reciprocität ist ausserdem, wie schon früher bemerkt wurde, keineswegs geeignet einen Fortschritt im internationalen Rechte zu begründen; in der Regel dient sie praktisch dem Rückschritte. Jeder der auf Reciprocität bestehenden Staaten verlangt, dass der andere vorangehe mit einer liberalen den Rechtsverkehr förderlichen Massregel und so bleiben beide zurück.“ v. Bar, Theorie und Praxis des Internationalen Privatrechts, Bd. II, § 455. 77 Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Kodifikation des deutschen Internationalen Privatrechts, RabelsZ 47 (1983), S. 595 (675).

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Kapitel 1 – Gegenseitigkeit und Urteilsanerkennung

mik aus, die zu einer Eskalation führe.78 Hinzukommt, dass gerade bei gerichtlichen Reziprozitätsvorbehalten die Gerichte kaum dazu in der Lage sind, eine bereits festgefahrene Praxis der gegenseitigen Nichtanerkennung mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu durchbrechen. 79 Ein Beispiel hierfür aus der jüngeren Vergangenheit ist der deutsch-russische Rechtsverkehr, in dem selbst überaus positive Entscheidungen russischer Gerichte nicht zur Herstellung einer gegenseitigen Anerkennungspraxis geführt haben.80 III. Rechtsunsicherheit: Schwierigkeiten bei der Gegenseitigkeitsfeststellung Speziell bei der gerichtlichen Gegenseitigkeitsfeststellung tritt noch ein weiterer Nachteil hinzu – nämlich Rechtsunsicherheit. Denn diese Art von Reziprozitätsvorbehalt stellt auf die tatsächliche Anerkennungspraxis im Ausland ab, deren Ermittlung sie den Gerichten überantwortet. Woher aber soll ein inländischer Richter wissen, ob inländische Urteile in einem bestimmten Flecken der Erde tatsächlich anerkannt und vollstreckt werden?81 Insbesondere die Instanzgerichtsbarkeit ist mit einer solchen Feststellung regelmäßig überfordert.82 Die Ungewissheiten bei der gerichtlichen Gegenseitigkeitsermittlung führen zu mangelnder Voraussehbarkeit und zu Rechtsunsicherheit. Dieser Missstand könnte dadurch abgemildert werden, indem die Anerkennungspraxis ausländischer Staaten in Bezug auf Inlandsurteile systematisch erfasst wird – vorzugsweise durch eine staatliche Instanz, die dafür auch personell und sachlich entsprechend ausgestattet ist, wie etwa das Justizministerium.83 Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 1301. Hepting, Die Gegenseitigkeit im Internationalen Privatrecht und Internationalen Zivilprozessrecht, S. 249 (256). 80 Zur restriktiven Rechtsprechung deutscher Gerichte gegenüber russischen Urteilen vgl. LG Wiesbaden, Urteil vom 2.3.2017 – 14 O 3/16 – IPRax 2018, 527 (527 f.) sowie OLG Hamburg, Urteil vom 13.7.2016 – 6 U 152/11 – IPRax 2017, 406 (408). Vgl. ferner Kapitel 2 – C.II (S. 39 f.). 81 Kisch, Anerkennung ausländischer Urteile als Gesetzgebungsproblem, ZAdR 1937, S. 705 (706–708); Süß, Die Anerkennung ausländischer Urteile, S. 229 (233); Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 1303. 82 Basedow, Das internationale Zivilprozeßrecht im Visier des Gesetzgebers, Das Standesamt 1983, S. 233 (239). Bereits während der Beratungen der Reichsjustizkommission zur Einführung eines Gegenseitigkeitserfordernisses in die ZPO von 1877 wies Marquardsen darauf hin, dass ein Amtsrichter kaum in der Lage sei, das Vorliegen von Reziprozität festzustellen (vgl. Fn. 18 (S. 33)). Es verwundert daher kaum, dass die Ermittlung der ausländischen Anerkennungspraxis regelmäßig auf Sachverständige ausgelagert wird. Schütze spricht in diesem Zusammenhang gar von einer „Verlagerung der Entscheidung auf den Sachverständigen“ (Schütze, Probleme der Verbürgung der Gegenseitigkeit bei der Anerkennung ausländischer Zivilurteile, S. 825 (829)). 83 Basedow, Das internationale Zivilprozeßrecht im Visier des Gesetzgebers, Das Standesamt 1983, S. 233 (240). 78 79

F. Fazit

F. Fazit

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F. Fazit

Zwischenmenschliches Verhalten wird in großem Maße durch das Prinzip der Gegenseitigkeit geprägt. Dies ist, das zeigen spieltheoretische Erkenntnisse, durchaus rational: Reziprokes Verhalten eignet sich gut dafür, um eine andere Person zu kooperativem Handeln zu bewegen. Das Gegenseitigkeitsprinzip prägt dabei nicht nur die soziale Interaktion zwischen Menschen, sondern auch die Beziehungen zwischen Staaten – und weil die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile als eine zwischenstaatliche Frage aufgefasst worden ist, wurde sie ebenfalls durch Gegenseitigkeitserwägungen geprägt. Daraus sind gesetzliche Gegenseitigkeitserfordernisse entstanden, die zum Ziel haben, ausländische Staaten zu einer Anerkennung und Vollstreckung inländischer Urteile zu bewegen. Hierfür bestehen verschiedene Beweggründe: Sie reichen vom Schutz eigener Staatsbürger über den Schutz heimischer Wirtschaft bis hin zur Sorge vor Autoritäts- und Ansehensverlusten. Gegenseitigkeitserfordernisse bei der Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen stehen aber auch regelmäßig in der Kritik. Einerseits werden Schwierigkeiten bei ihrer Anwendung sowie Zweifel an ihrer Effektivität beanstandet. Andererseits wird bemängelt, dass sie die Durchsetzung individueller Rechte aufgrund von staatlichen Interessen in unverhältnismäßiger Weise beschneiden.

Kapitel 2

Die Gegenseitigkeit im deutschen Recht Kapitel 2 – Die Gegenseitigkeit im deutschen Recht

Die Verbürgung der Gegenseitigkeit und das deutsche Recht – das ist wahrlich eine ambivalente Verbindung. Einerseits ist das deutsche Recht nämlich die bedeutendste europäische Rechtsordnung, die weiterhin an der Gegenseitigkeitsverbürgung festhält – andererseits ist kaum eine andere Regelung des geltenden Rechts so unablässig kritisiert worden. Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit der Geschichte, Entwicklung und Wirkweise dieser umstrittenen Regelung. Dazu werden zunächst einzelstaatliche Reziprozitätserfordernisse, die bereits vor der Reichsgründung bestanden, in den Blick genommen (unter A.). Im Anschluss daran wird aufgezeigt, wie und warum das Erfordernis der Gegenseitigkeitsverbürgung in die reichseinheitliche ZPO von 1877 gelangte (unter B.), bevor die wechselhafte Rechtsprechung (unter C.) und die gesetzgeberischen Entwicklungen auf diesem Gebiet dargestellt werden (unter D.). Schließlich wird untersucht, inwiefern das deutsche Gegenseitigkeitserfordernis die von ihm angestrebten Ziele erreicht hat (unter E.).

A. Vor dem Inkrafttreten der ZPO: Einzelstaatliche Reziprozitätserfordernisse

A. Vor dem Inkrafttreten der ZPO: Einzelstaatliche Reziprozitätserfordernisse

Die Geschichte des Gegenseitigkeitsprinzips im deutschen Anerkennungsrecht reicht weiter zurück, als die der deutschen Zivilprozessordnung von 1877. Schon vor Inkrafttreten der reichseinheitlichen ZPO sahen viele einzelstaatliche zivilprozessuale Kodifikationen einen Gegenseitigkeitsvorbehalt vor, dessen konkrete Ausgestaltung aber teils erheblich voneinander abwich.1 Typisch für die älteren Kodifikationen war es, dass sie ein generelles Gegenseitigkeitserfordernis für die Leistung jeglicher Rechtshilfe statuierten. Dieses 1 Besonders zur Mitte des 19. Jahrhunderts war im einzelstaatlichen Zivilprozessrecht eine wahre Kodifikationswelle zu beobachten, die sich exemplarisch an folgenden Kodifikationen zeigt: Allgemeine bürgerliche Proceßordnung für das Königreich Hannover (1850), Gesetz für das Herzogthum Oldenburg den bürgerlichen Prozeß betreffend (1857), Prozeßordnung in bürgerlichen Streitigkeiten für das Großherzogthum Baden (1864), Civilprozeß-Ordnung für das Königreich Württemberg (1868) sowie Prozeßordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten für das Königreich Bayern (1869). Vgl. Brehm, in: Stein /  Jonas, ZPO, vor § 1, Rn. 133–136.

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Kapitel 2 – Die Gegenseitigkeit im deutschen Recht

umfasste nach damaligem Verständnis auch die Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen, denn diese wurde als Rechtshilfe angesehen.2 In diesem Geiste bestimmte beispielsweise die Hannoversche Proceßordnung von 1850: „Nach gleichen Grundsätzen ist den Hülfsgesuchen ausländischer Gerichte Folge zu geben, sofern die betreffenden Staaten eine gleiche Willfährigkeit nicht verweigern.“3

Dadurch wird auch das Beharren auf Gegenseitigkeit verständlich. Denn fasst man die Vollstreckung von Auslandsurteilen als Hilfeleistung für einen ausländischen Richterkollegen auf, so liegt es nahe, von ihm gleiches Entgegenkommen zu erwarten. Die Qualifikation der grenzüberschreitenden Urteilsvollstreckung als Rechtshilfefrage führte daher dazu, dass allein die Beziehung zwischen den beteiligten Gerichten im Fokus stand.4 Der Rechtshilfecharakter zeigte sich auch bei der Frage, wer überhaupt über das Vorliegen von Gegenseitigkeit entscheiden durfte. Denn da die Rechtshilfe keine rechtsprechende Tätigkeit war, lag es nahe, bei Zweifelsfragen die Exekutive entscheiden zu lassen. Entsprechend fanden sich in den partikularrechtlichen Regelungen häufig Entscheidungskompetenzen der Exekutive. So hatte sich etwa in Hannover das ersuchte Gericht bei Zweifeln an das Justizministerium zu wenden.5 Auch in Württemberg wurde der Richter angehalten, im Zweifelsfall die Exekutive zu kontaktieren.6 Eine etwas differenziertere Regelung sah das Herzogtum Oldenburg vor, wo bei Fehlen 2 Zur früher anzutreffenden Praxis der grenzüberscheitenden Urteilsvollstreckung im Wege der Rechtshilfe vgl. Kapitel 1 – B.I (S. 10 f.). 3 Art. 29 Abs. 2 S. 1 hannoversche PO. Auch in Württemberg wurde jegliche Rechtshilfe unter den Vorbehalt der Gegenseitigkeit gestellt – so bestimmte Art. 10 Abs. 1, 2 der württembergischen CPO: „Ueber die ausländischen Gerichten zu leistende Rechtshilfe entscheiden zunächst die Staatsverträge. In Ermangelung solcher ist auswärtigen Gerichten in Rechtsstreitigkeiten, welche vor einem der in gegenwärtigem Gesetze anerkannten Gerichtsstände geführt werden, gegen Zusicherung des Kostenersatzes, Rechtshilfe zu leisten, falls die Gegenseitigkeit verbürgt ist, und soweit als die Gesetze des Landes nicht entgegenstehen.“ Die württembergische Regelung stellte in ihrem Art. 10 Abs. 5 klar, dass auch die Vollstreckung von Auslandsurteilen nur bei Gegenseitigkeit stattfinden durfte: „Auch im Falle der Zuständigkeit des ausländischen Gerichts und der Gegenseitigkeit ist der Vollziehung des ausländischen nach den Gesetzen des Auslandes vollstreckbaren Urtheils nur dann statt zu geben, wenn das Urtheil nicht gegen ein verbietendes in dem betreffenden Falle anwendbares Landesgesetz verstößt.“ 4 Wiedemann, Vollstreckbarkeit, S. 37 f. Vgl. auch Kapitel 1 – B.I (S. 10 f.). 5 Art. 29 Abs. 2 S. 2 hannoversche PO: „Sind die inländischen Gerichte hiernach über den Umfang der zu leistenden Willfährigkeit in Zweifel und ergeben publicirte Staatsverträge nicht das Erforderliche, so haben sie sich durch Vermittelung der Staatsanwaltschaft an das Justiz-Ministerium zu wenden.“ 6 Art. 11 Abs. 2 württembergische CPO: „Waltet bezüglich des Erfordernisses der Gegenseitigkeit ein Anstand ob, so ist zur Entscheidung hierüber ausschließlich das JustizMinisterium zuständig.“

A. Vor dem Inkrafttreten der ZPO: Einzelstaatliche Reziprozitätserfordernisse

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einer staatsvertraglichen Regelung oder einer Regierungsbekanntmachung das Gericht das Vorliegen von Gegenseitigkeit eigenständig feststellen konnte.7 Eine fast identische Regelung fand sich in der badischen Prozeß-Ordnung von 1864, wo das Vorliegen von Gegenseitigkeit mit dem Urteilsstaat ebenfalls durch das ersuchte Gericht festgestellt werden konnte.8 Bereits vor dem Inkrafttreten der reichseinheitlichen ZPO im Jahre 1879 waren Gegenseitigkeitserfordernisse somit in vielen deutschen Staaten bekannt. Die Frage der gegenseitigen Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsentscheidungen war damals aber wohl noch drängender als heute. Denn wegen der politischen Zersplitterung Deutschlands waren die einzelnen Städte, Herzogtümer und Königreiche souveräne Staaten. „Ausland“ – das war vor der Reichsgründung nicht nur Frankreich oder die Niederlande. Vielmehr war für Stuttgart schon Karlsruhe das Ausland – und für Hamburg bereits Altona. Eine solche Situation stellte für Handel und Wirtschaft ein großes Hindernis dar.9 Um Abhilfe zu schaffen wurden im Verlauf des 19. Jahrhunderts zahlreiche Rechtshilfeübereinkommen zwischen den einzelnen deutschen Staaten geschlossen, die auch die gegenseitige Urteilsvollstreckung regelten.10 Doch auch dieses dichte Netz an Staatsverträgen konnte den Missstand nur mildern. Deshalb wurden schon vor der Reichsgründung Versuche unternommen, ein einheitliches, deutschlandweites Regime der Urteilsvollstreckung zu etablieren. Doch alle dahingehenden Versuche blieben auf halbem Wege stehen. Es bedurfte daher der Reichsgründung, um eine einheitliche Regelung der innerdeutschen Urteilsvollstreckung zu erreichen.11

7 Art. 337 oldenburgisches PG: „Ist […] der Kläger ein Ausländer und schützt der Beklagte vor, daß von dem auswärtigen Staate eine gleiche Willfährigkeit bei der Vollstreckung der Urtheile Oldenburgischer Gerichte nicht beobachtet werde, so ist, wenn dem Amtsgerichte das Gegentheil nicht bekannt ist und dasselbe Schwierigkeiten findet, sich darüber sichere Kunde zu verschaffen, dem Kläger vor der Vollstreckung die Nachweisung aufzulegen, daß der ausländische Staat in ähnlichen Fällen die Urtheile der Oldenburgischen Gerichte ebenfalls vollziehe.“ 8 Art. 846–Art. 848 badische CPO (1864). 9 Vgl. Brehm, in: Stein / Jonas, ZPO, vor § 1, Rn. 136. 10 Vgl. hierzu August Otto Krug, Das Internationalrecht der Deutschen (1851). In diesem Werk unterteilt der Verfasser die Rechtshilfeverträge zwischen den einzelnen deutschen Staaten in drei Hauptgruppen, wobei er stellvertretend für diese die Bestimmungen des Abkommens zwischen Bayern und Württemberg (1821), Preußen und Weimar (1824) sowie zwischen Preußen und Sachsen (1839) untersucht. Alle drei Vertragstypen sahen neben einer allgemeinen Verpflichtung zur Leistung von Rechtshilfe auch die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen vor. Krug, Das Internationalrecht der Deutschen, S. 13 f. 11 Brehm, in: Stein / Jonas, ZPO, vor § 1, Rn. 136.

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Kapitel 2 – Die Gegenseitigkeit im deutschen Recht

B. Einführung der Gegenseitigkeit in die ZPO: Der „Struckmann’sche Antrag“

B. Einführung der Gegenseitigkeit in die ZPO: Der „Struckmann’sche Antrag“

Am 01.10.1879 trat die Civilprozeßordnung von 1877 als erste gesamtdeutsche Kodifikation des Zivilprozessrechts in Kraft.12 Obwohl schon zuvor die meisten deutschen Partikularrechte für die Vollstreckung von Auslandsurteilen Reziprozität forderten, fand sich im Entwurf zur ZPO interessanterweise kein Gegenseitigkeitserfordernis.13 Dies war kein Versehen, sondern eine bewusste Entscheidung, wie die Entwurfsbegründung zeigt: „Das Erforderniß der Gegenseitigkeit (Hannover § 29, Oldenburg Art. 337, Württemberg Art. 11, Baden § 848) ist hier nicht zu berühren, ebensowenig die Frage, ob der inländische Richter einen dem diesseitigen Rechte nicht entsprechenden Vollstreckungsmodus ausführen soll. Beide Punkte liegen außerhalb der materiellen Voraussetzungen für die Zwangsvollstreckung aus einem ausländischen Urtheile und sind Gegenstand besonderer gesetzlicher Bestimmung.“14

Der Entwurf ging also davon aus, dass ein Gegenseitigkeitserfordernis nicht in eine zivilprozessuale Kodifikation gehört, sondern gegebenenfalls in ein Spezialgesetz. Offenbar dachte man hier an eine Retorsionsermächtigung an die Regierung – also an Vergeltung im Einzelfall. Einer solchen Lösung trat aber der Abgeordnete Struckmann entgegen, da er sie als unzureichend ansah: „Durch den Antrag […] solle das Prinzip der Gegenseitigkeit der Rechtshülfe allen Staaten gegenüber festgestellt werden. Bestimmungen hierüber seien in sehr vielen Prozeßordnungen enthalten, gehörten auch in der That dahin und nicht, wie die Motive anzunehmen schienen, in ein besonderes Gesetz […] Die Inländer aber würden besser geschützt, wenn die Wiedervergeltung als Rechtsgrundsatz aufgestellt würde, als wenn im einzelnen Falle das Ermessen der politischen Centralbehörde zu entscheiden hätte.“15

Struckmann beantragte deshalb, dem § 611 CPO eine Bestimmung hinzuzufügen, die die Gegenseitigkeit voraussetzte. Andere Kommissionsmitglieder widersprachen. Hauser etwa merkte an, dass die Ausübung von Retorsion 12 Brehm, in: Stein / Jonas, ZPO, vor § 1, Rn. 121 und Rn. 143 f. Der Entwurf des Bundesrates von 1874 wurde nach einigen Modifikationen durch die Reichsjustizkommission Ende 1876 vom Reichstag angenommen, Anfang 1877 vom Kaiser vollzogen und trat schließlich am 01. Oktober 1879 in Kraft. 13 Süß, Die Anerkennung ausländischer Urteile, S. 241: „Ein Blick auf die Entstehung der ZPO zeigt, daß das Erfordernis der Gegenseitigkeit durchaus nicht selbstverständlich war. Es fehlte in den ursprünglichen Entwürfen ganz. Erst auf Antrag Struckmanns, des damaligen Sekretärs der Zivilprozeßkommission zu Hannover, kam es in die ZPO gegen den Widerspruch bedeutender Juristen wie Marquardsen, Gneist und Becker.“ 14 Hahn, Die gesammelten Materialien zur Civilprozeßordnung und zu dem Einführungsgesetz zu derselben vom 30. Januar 1877, Erste Abtheilung, S. 433 15 Hahn, Die gesammelten Materialien zur Civilprozeßordnung und zu dem Einführungsgesetz zu derselben vom 30. Januar 1877, Erste Abtheilung, S. 804.

B. Einführung der Gegenseitigkeit in die ZPO: Der „Struckmann’sche Antrag“

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gegenüber ausländischen Staaten Regierungsprärogative sei.16 Auch Marquardsen zog eventuelle Retorsionsmaßnahmen einem generellen Gegenseitigkeitserfordernis vor: „Wenn ein anderer Staat die Deutschen Urtheile systematisch nicht vollstrecke, lasse sich im Falle der Annahme des Entwurfs wo nöthig durch Retorsion im Wege besonderer Gesetzgebung helfen.“17

Gegen ein Gegenseitigkeitserfordernis wurde ferner angeführt, dass die Gerichte oft nicht in der Lage seien, das Vorliegen von Gegenseitigkeit festzustellen.18 Auf all diese Einwände replizierte Struckmann, dass Retorsion nur im Nachhinein geübt werden könne. Sie könne daher die Vollstreckung von deutschen Urteilen nicht im Voraus sicherstellen.19 Damit brandmarkte er genau das als negativ, was die Spieltheorie als erwiesenermaßen vorzugswürdiges Verhaltensmuster preist: Eine zielgerichtete Reaktion als Antwort auf unkooperatives Verhalten.20 Ferner störte sich Struckmann auch an dem Ermessensspielraum, den die Exekutive bei Fragen der Retorsion hatte. Ob ein generelles Gegenseitigkeitserfordernis eingeführt oder lieber Vergeltung im Einzelfall geübt werden sollte, betraf die Art und Weise wie Reziprozität mit ausländischen Staaten am besten erreicht werden kann. Doch warum sollte man sie überhaupt verlangen? Die Proponenten eines Reziprozitätserfordernisses beriefen sich auf die Bedeutung der Gegenseitigkeit im Völkerrecht. So hob Kurlbaum hervor, dass das „internationale Recht […] auf dem Grundsatz der Gegenseitigkeit [beruhe]“.21 Struckmann selbst verwies zur Begründung seines Antrags darauf, dass Rechtshilfe eben nur nach dem 16 Hahn, Die gesammelten Materialien zur Civilprozeßordnung und zu dem Einführungsgesetz zu derselben vom 30. Januar 1877, Erste Abtheilung, S. 888 [Appellationsgerichtsrath Dr. Hauser]: „Es sei ja ein anerkannter Grundsatz, daß die Ausübung der Retorsion nicht den Gerichten zukomme.“ 17 Hahn, Die gesammelten Materialien zur Civilprozeßordnung und zu dem Einführungsgesetz zu derselben vom 30. Januar 1877, Erste Abtheilung, S. 889. 18 Hahn, Die gesammelten Materialien zur Civilprozeßordnung und zu dem Einführungsgesetz zu derselben vom 30. Januar 1877, Erste Abtheilung, S. 889 [Abg. Marquardsen]: „Alle […] Schwierigkeiten, welche die Feststellung der Bedingung der Gegenseitigkeit mit sich bringe, fallen weg, wenn man in Deutschland alle auswärts ergangenen, nicht in sich anfechtbaren Erkenntnisse vollstrecke, auch wenn die anderen Staaten keine Gegenseitigkeit leisten […] Wie solle der einzelne, z. B. der Amtsrichter, sich Klarheit darüber verschaffen, ob Reciprocität bestehe? […] Wenn ein anderer Staat die Deutschen Urtheile systematisch nicht vollstrecke, lasse sich im Falle der Annahme des Entwurfs wo nöthig durch Retorsion im Wege besonderer Gesetzgebung helfen.“ 19 Hahn, Die gesammelten Materialien zur Civilprozeßordnung und zu dem Einführungsgesetz zu derselben vom 30. Januar 1877, Erste Abtheilung, S. 889 [Abg. Struckmann]: „Die Retorsion könne nur für künftige Fälle helfen, nicht denen, welche einmal geschädigt seien und deren Schaden zur späteren Wiedervergeltung Anlaß gebe.“ 20 Vgl. Kapitel 1 – A (S. 7 ff.) und Pfeiffer, Kooperative Reziprozität, RabelsZ 55 (1991), S. 734 (742 f.).

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Kapitel 2 – Die Gegenseitigkeit im deutschen Recht

Grundsatz der Gegenseitigkeit gewährt werde.22 Hier lässt sich wiederum beobachten, dass Reziprozitätsbestrebungen darauf zurückzuführen sind, dass die Vollstreckung von Auslandsurteilen als Rechtshilfefrage aufgefasst worden ist.23 Das hatte eine staatenzentrierte Perspektive zur Folge, die aus dem Blick verliert, dass von einer Vollziehung ausländischer Richtersprüche in erster Linie Individuen – nämlich die Prozessparteien – betroffen sind.24 Als weiteres Argument für ein Gegenseitigkeitserfordernis wurde der Inländerschutz angeführt. So mahnte Reichensperger, „man dürfe die Deutschen dem Auslande gegenüber nicht rechtlos machen.“25 Es war also die Sorge um Inländer, die ein Vergeltungsrecht der Regierung als ungenügend verwarf.26 Doch diese Sorge blieb diffus. Insbesondere wurde nicht näher dargelegt, in welchen Konstellationen die Interessen von Inländern überhaupt auf dem Spiel stehen. Das ist umso erstaunlicher, als dass zwei Gegenstimmen durchaus konkret wurden. So verwies Becker darauf, dass durch ein Gegenseitigkeitserfordernis auch deutsche Kaufleute getroffen würden.27 Hahn, Die gesammelten Materialien zur Civilprozeßordnung und zu dem Einführungsgesetz zu derselben vom 30. Januar 1877, Erste Abtheilung, S. 890. 22 Hahn, Die gesammelten Materialien zur Civilprozeßordnung und zu dem Einführungsgesetz zu derselben vom 30. Januar 1877, Erste Abtheilung, S. 804. 23 Zur Vollstreckung von Auslandsurteilen auf Rechtshilfewege vgl. Kapitel 1 – B.I (S. 10 f.). Aus diesem Grund wurde die Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen zunächst auch als Frage des öffentlichen Rechts charakterisiert. So führte beispielsweise das Reichsgericht in einer Rechtssache aus dem Jahre 1895 aus: „Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Vorschriften der §§ 660. 661 a.a.O. der öffentlichen Ordnung angehören. Sie regulieren das öffentlich-rechtliche Verhältnis, in welchem die Aussprüche der Gerichte fremder Staaten zu der Judikatur der deutschen Gerichte stehen.“ RG, Urteil vom 22.11.1895, Rep. II 210/95 – RGZ, 36, 381 (384) [Frankreich]. 24 Hepting, Die Gegenseitigkeit im Internationalen Privatrecht und Internationalen Zivilprozessrecht, S. 231: „Anerkennungsrecht war Teilgebiet des öffentlichen Rechts; dieser Umstand lenkte die Aufmerksamkeit von den betroffenen privaten Interessen ab und führte dazu, daß Gesichtspunkte staatlicher Zweckmäßigkeit zum dominierenden gesetzgeberischen Motiv wurden.“ 25 Hahn, Die gesammelten Materialien zur Civilprozeßordnung und zu dem Einführungsgesetz zu derselben vom 30. Januar 1877, Erste Abtheilung, S. 889. 26 Hahn, Die gesammelten Materialien zur Civilprozeßordnung und zu dem Einführungsgesetz zu derselben vom 30. Januar 1877, Erste Abtheilung, S. 804 [Abg. Struckmann]: „Die Inländer aber würden besser geschützt, wenn die Wiedervergeltung als Rechtsgrundsatz aufgestellt würde, als wenn im einzelnen Falle das Ermessen der politischen Centralbehörde zu entscheiden hätte.“ 27 Hahn, Die gesammelten Materialien zur Civilprozeßordnung und zu dem Einführungsgesetz zu derselben vom 30. Januar 1877, Erste Abtheilung, S. 889: „Abg. Becker tritt dem Vorredner bei. Er befürchte, das Interesse des deutschen Handels würde gefährdet werden, wenn in Deutschland Mangels verbürgter Gegenseitigkeit ausländische Erkenntnisse nicht vollsteckt würden, welche sich auf die von einem Deutschen im Auslande geschlossenen Handelsgeschäfte beziehen.“ 21

B. Einführung der Gegenseitigkeit in die ZPO: Der „Struckmann’sche Antrag“

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Hauser machte ebenfalls deutlich, dass der Kläger in einem ausländischen Verfahren Deutscher sein könne.28 Bezeichnenderweise wurden diese Einwände aber nicht näher diskutiert. Das Ziel, Inländer zu schützen, blieb – wenn nicht lediglich vorgeschoben – so doch ziemlich nebulös. Der Grund hierfür mag in einer intuitiven Gleichsetzung der Interessen von Individuen mit denen ihres Staates liegen. Frei nach dem Motto: „Was dem Reiche nützt, das kann dem Deutschen nicht schaden.“ Diese Gleichsetzung mag dem Zeitgeist geschuldet sein – korrekt wird sie dadurch aber nicht. Schließlich wurde das nationale Prestige ins Feld geführt, um für ein Gegenseitigkeitserfordernis zu werben. Es käme nämlich einer Missachtung der nationalen Würde gleich, wenn man Urteile eines fremden Staates ohne gleiches Entgegenkommen vollstrecken würde. Es scheint, dass solche Prestigegesichtspunkte bei den Beratungen der Reichsjustizkommission letztlich den Ausschlag gaben.29 Das vermag zum einen zu erklären warum nicht in Erwägung gezogen wurde die eigenen Staatsbürger zielgerichteter zu schützen, was man ja leicht dadurch hätte erreichen können, indem man die Anwendung des Gegenseitigkeitserfordernisses gegen Deutsche ausgeschlossen hätte.30 Offenbar ging es aber nicht darum, deutsche Staatsbürger zu schützen – es ging darum, deutsche Urteile zu schützen.31 Zu Entgegenkommen gegenüber fremden Staaten war man deshalb nur auf Augenhöhe bereit. Deutlich wurde dies bei der Aussage Struckmanns, dass allein die Gegenseitigkeit „der Ehre und Würde des Deutschen Reiches entspreche.“32 Letztendlich war sein Werben erfolgreich: Die Reichsjustizkommission fügte dem § 611 CPO als weiteren Versagungsgrund die mangelnde Verbürgung der Gegenseitigkeit hinzu.33 28 Hahn, Die gesammelten Materialien zur Civilprozeßordnung und zu dem Einführungsgesetz zu derselben vom 30. Januar 1877, Erste Abtheilung, S. 888 [Appellationsgerichtsrath Dr. Hauser]: „[…] es könne aus verschiedenen Gründen angemessen sein, von dem Retorsionsrechte keinen Gebrauch zu machen, namentlich könne dies der Fall sein, wenn der Kläger ein Deutscher ist oder wenn der Beklagte dem Staate angehört, in welchem das Urtheil erlassen ist.“ 29 Hepting, Die Gegenseitigkeit im Internationalen Privatrecht und Innernationalen Zivilprozessrecht, S. 236 f.; Süß, Die Anerkennung ausländischer Urteile, S. 229 (241 f.). 30 Eine solche Regelung findet sich im tschechischen Recht wieder. Demnach wird die Gegenseitigkeit mit dem Urteilsstaat nur dann gefordert, wenn sich das Urteil gegen einen tschechischen Staatsbürger oder gegen ein tschechisches Unternehmen richtet. Zum tschechischen Anerkennungsrecht vgl. Kapitel 4 – B.IV (S. 94 f.). 31 RG, Urteil vom 29.1.1883, Rep. I 472/82 – RGZ 8, 385 (388 f.) [Schweden]: „Die deutsche Civilprozeßordnung aber geht nicht darauf aus, den Inländer vor dem Ausländer zu begünstigen. Sie ordnet auch die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Parteien sich vor deutschen Gerichten auf Urteile ausländischer Gerichte berufen können, lediglich nach Rechtsgrundsätzen ohne Rücksicht darauf, ob die Parteien Inländer oder Ausländer sind und ob die Berufung auf das ausländische Urteil der inländischen oder der ausländischen Partei zum Vorteile gereicht.“ 32 Hahn, Die gesammelten Materialien zur Civilprozeßordnung und zu dem Einführungsgesetz zu derselben vom 30. Januar 1877, Erste Abtheilung, S. 805.

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Kapitel 2 – Die Gegenseitigkeit im deutschen Recht

C. Konkretisierung der Gegenseitigkeitsvorschrift durch die Rechtsprechung: Zwischen strenger und liberaler Auslegung

C. Konkretisierung der Gegenseitigkeitsvorschrift durch die Rechtsprechung

Durch die Annahme des Struckmann’schen Änderungsantrags fand die Gegenseitigkeit ihren Weg in die Zivilprozessordnung von 1877. Doch damit war noch nicht geklärt, welche konkreten Anforderungen erfüllt sein mussten damit dem Reziprozitätsvorbehalt Genüge getan war. Vielmehr war es der Rechtsprechung überlassen zu konkretisieren in welchen Fällen die Gegenseitigkeit gemäß § 611 Nr. 5 CPO als verbürgt zu gelten hatte und in welchen nicht. Martiny spricht deshalb völlig zurecht davon, dass das deutsche Gegenseitigkeitserfordernis erst durch die Gerichte „Konturen erhielt“.34 Den eingeräumten Auslegungsspielraum haben die deutschen Gerichte dabei – je nach Zeitgeist – höchst unterschiedlich ausgefüllt. Während die ältere Rechtsprechung zur Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik hohe Anforderungen an das Vorliegen einer Gegenseitigkeitsverbürgung stellte, senkte die neuere Rechtsprechung die Hürden seit den 1960er-Jahren deutlich ab.35 Im Folgenden werden diese Entwicklungslinien bei der Auslegung des deutschen Gegenseitigkeitserfordernisses anhand der zwei Tatbestandsmerkmale der „Gegenseitigkeit“ (unter I.) und der „Verbürgung“ (unter II.) nachgezeichnet. I.

„Gegenseitigkeit“

Die ältere Rechtsprechung stellte für das Vorliegen von Gegenseitigkeit nach § 611 Nr. 5 CPO hohe, fast unüberwindbare Hürden auf. Jegliches unvorteilhafte Abweichen des ausländischen Rechts gegenüber den deutschen Regelungen verhinderte die Anerkennung und Vollstreckung eines Auslandsurteils. So wurde etwa im Verhältnis zum Kanton Schaffhausen die GegenseiDer volle Wortlaut des § 611 CPO lautete: „Das Vollstreckungsurtheil ist ohne Prüfung der Gesetzmäßigkeit der Entscheidung zu erlassen. Dasselbe ist nicht zu erlassen: 1. wenn das Urtheil des ausländischen Gerichts nach dem für dieses Gericht geltenden Rechte die Rechtskraft noch nicht erlangt hat; 2. wenn durch die Vollstreckung eine Handlung erzwungen werden würde, welche nach dem Rechte des über die Zulässigkeit der Zwangsvollstreckung urtheilenden deutschen Richters nicht erzwungen werden darf; 3. wenn nach dem Rechte des über die Zulässigkeit der Zwangsvollstreckung urtheilenden deutschen Richters die Gerichte desjenigen Staates nicht zuständig waren, welchem das ausländische Gericht angehört; 4. wenn der verurtheilte Schuldner ein Deutscher ist und sich auf den Prozeß nicht eingelassen hat, sofern die den Prozeß einleitende Ladung oder Verfügung ihm weder in dem Staate des Prozeßgerichts in Person noch durch Gewährung der Rechtshülfe im Deutschen Reiche zugestellt ist; 5. wenn die Gegenseitigkeit nicht verbürgt ist.“ 34 Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 1190. 35 Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 1190 f. 33

C. Konkretisierung der Gegenseitigkeitsvorschrift durch die Rechtsprechung

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tigkeit verneint, weil Schweizer Bürger nur an ihrem Wohnort verklagt werden durften.36 Im Hinblick auf den Kanton Zürich wiederum störte sich das Reichsgericht an der vorherrschenden Rechtskrafttheorie, die von dem deutschen Verständnis abwich.37 Im Verhältnis zu Österreich beanstandete es unterschiedliche Zustellungsregelungen.38 In Bezug auf Kalifornien stellte es zwar fest, dass deutsche Urteile unter den gleichen Bedingungen vollstreckt werden würden wie kalifornische Urteile. Doch auch das reichte dem Reichsgericht nicht, da dies weniger vorteilhaft war als die Regelungen des deutschen Rechts.39 Nur langsam setzte sich die Einsicht durch, dass dieser Maßstab ein viel zu strenger war. Denn wenn das ausländische Anerkennungsrecht in jedem seiner Aspekte mindestens genauso gläubigerfreundlich ausgestaltet sein müsste wie das deutsche Recht, dann wäre Gegenseitigkeit allein aufgrund der Charakteristika, die jeder Rechtsordnung eigen sind, faktisch ausgeschlossen. Eine völlige Übereinstimmung zwischen deutschem und ausländischem Anerkennungsrecht kann daher schlechterdings nicht verlangt werden.40 Deshalb lässt es die Rechtsprechung mittlerweile genügen, dass deutsche Urteile im Ausland nicht auf wesentlich erschwerte Vollstreckungsbedingungen treffen als ausländische Urteile in Deutschland. Diese Einsicht bahnte den Weg zu einer Gesamtbetrachtung des ausländischen Anerkennungsrechts, bei der Erschwerungen an einer Stelle durch Erleichterungen an anderer Stelle ausgeglichen werden können.41 RG, Urteil vom 10.12.1926, Rep. VI 344/25 – RGZ 115, 103 [Schaffhausen]. RG, Urteil vom 8.2.1924, Rep. VI 332/23 – RGZ 107, 308 [Zürich]. Das Reichsgericht bedauerte in diesem Fall, dass das Zürcher Recht „erheblich von dem Standpunkte des deutschen Rechts [abweicht].“ RGZ 107, 308 (312). 38 RG, Urteil vom 15.6.1898, Rep. I 199/98 – RGZ 41, 424 [Österreich]. 39 RG, Urteil vom 26.3.1909, Rep. VII 550/08 – RGZ 20, 434 (437) [Kalifornien]: „Nicht das entscheidet, daß das ausländische Gericht in- und ausländische Richtersprüche nicht wesentlich verschieden behandelt […] Vielmehr fordert die deutsche Prozeßordnung, daß die deutschen Urteile im Auslande in wesentlich demselben Umfange als bindend anerkannt werden, wie dies bezüglich der ausländischen Urteile im Deutschen Reiche der Fall ist.“ 40 Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, Rn. 2880: „Völlige Deckungsgleichheit ist nur theoretisch denkbar und deshalb nicht zu fordern.“ Schon das Reichsgericht sprach im Jahre 1909 davon, dass die Gegenseitigkeit „nicht eine völlige, der Natur der Sache nach ausgeschlossene Gleichheit der beiderseitigen Gesetzgebungen“ sein könne. RG, Urteil vom 26.3.1909, Rep. VII 550/08 – RGZ 20, 434 (438 f.) [Kalifornien]. Vgl. auch Geimer, in: Zöller, ZPO, § 328, Rn. 264, mit weiteren Nachweisen zur Rechtsprechung. Zu einer parallelen Entwicklung im japanischen Anerkennungsrecht vgl. Elbalti, Reciprocity and the recognition and enforcement of foreign judgments: a lot of bark but not much bite, JPIL 2017, S. 184 (192–194). 41 BGH, Urteil vom 30.9.1964, VIII ZR 195/61 – BGHZ 42, 194 (197) [Südafrika]: „Es ist vielmehr darauf abzustellen, ob das beiderseitige Anerkennungsrecht und die Anerken36 37

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Kapitel 2 – Die Gegenseitigkeit im deutschen Recht

Die sich ändernden Anforderungen der Rechtsprechung zeigten sich auch bei der Frage, in welchem räumlichen und sachlichen Umfang die Gegenseitigkeit überhaupt vorliegen muss. In räumlicher Hinsicht wurde diese Frage zunächst bei Mehrrechtsstaaten relevant. Die frühere Rechtsprechung forderte nämlich, dass bei föderalen Rechtssystemen die Gegenseitigkeit in Bezug auf das gesamte Bundesgebiet gegeben sein muss. Dementsprechend lehnte das OLG Colmar die Vollstreckung eines aus dem Kanton Bern stammenden Urteils ab, weil nicht alle Schweizer Kantone deutsche Urteile vollstreckten.42 Heutzutage hingegen ist anerkannt, dass bei Bundesstaaten mit einzelstaatlichen Rechtsordnungen die Gegenseitigkeit für jeden Einzelstaat gesondert zu bestimmen ist.43 Aus diesem Grunde stellte der BGH bei einem Urteil aus British Columbia nur auf die Gegenseitigkeit zu dieser kanadischen Provinz ab.44 Ferner hat die Rechtsprechung die Anforderungen an den sachlichen Umfang des Vorliegens von Reziprozität dahingehend abgemildert, dass die Anerkennung und Vollstreckung bestimmter Urteilsarten ausreicht (sog. partielle Gegenseitigkeitsverbürgung). So besteht etwa Gegenseitigkeit mit Staaten des common law-Rechtskreises, die grundsätzlich nur Zahlungsurteile (money judgments) vollstrecken – allerdings eben nur für Zahlungsurteile.45 Im Falle einer solchen partiellen Gegenseitigkeitsverbürgung liegt also die Reziprozität bezüglich bestimmter Urteilsarten vor – bezüglich anderer Urteilsarten hingegen nicht.46 nungspraxis bei einer Gesamtwürdigung im wesentlichen gleichwertige Bedingungen für die Vollstreckung eines Urteils gleicher Art im Ausland schaffen (vgl. RGZ 7, 406, 413 f; 48, 377, 381; 70, 434, 438 f.).“ BGH, Urteil vom 15.11.1967, VIII ZR 50/65 – BGHZ 49, 50 (53) [Syrien]: „Der Senat hat schon in BGHZ 42, 192 [sic!], 197 nicht auf die formale Gleichheit des ausländischen Anerkennungsrechts mit dem deutschen, sondern darauf abgehoben, ob bei einer Gesamtwürdigung im wesentlichen gleichwertige Bedingungen für die Vollstreckung eines deutschen Urteils gleicher Art im ausländischen Urteilsstaat bestehen.“ 42 OLG Colmar, Urteil vom 4.3.1904 – 14 NiemZ (1904), 491 (492): „[…] so muß das Recht der Eidgenossenschaft oder wenigstens, da es im Resultate auf das gleiche hinauskommt, das Recht der sämtlichen Kantone der Eidgenossenschaft die Gegenseitigkeit verbürgen.“ 43 In den USA liegt die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Zivilentscheidungen in der Kompetenz der einzelnen Bundesstaaten. Zur Entwicklung und zum Stand des Anerkennungsrechts in den USA vgl. Kapitel 3 – B (S. 68 ff.). 44 BGH, Urteil vom 24.10.2000, XI ZR 300/99 – NJW 2001, 524 [British Columbia]. 45 Rechtsordnungen des common law vollstrecken traditionell nur ausländische Zahlungsurteile (money judgments), nicht aber solche, die zu einer bestimmten Handlung verpflichten (specific performance). Das ist immer noch die Regel in England und in den USA, während das kanadische Anerkennungsrecht diesen Grundsatz mittlerweile aufgegeben hat. Vgl. hierzu Kapitel 3 – A.II.4 (S. 64) und Kapitel 3 – C.III (S. 80 f.). 46 BGH, Urteil vom 24.10.2000, XI ZR 300/99 – NJW 2001, 524 (2. Leitsatz) [British Columbia]: „Bei Zahlungsurteilen ist die Gegenseitigkeit mit der kanadischen Provinz British Columbia verbürgt.“ Andererseits reicht es aber nicht aus, dass nur einzelne Urteilswirkungen anerkannt werden. Vgl. Geimer, in: Zöller, ZPO, § 328, Rn. 265.

C. Konkretisierung der Gegenseitigkeitsvorschrift durch die Rechtsprechung

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II. „Verbürgt“ Auch das Tatbestandsmerkmal der „Verbürgung“ war keineswegs selbsterklärend. Eigentlich sollte aber zumindest klar sein, dass die gerichtliche Gegenseitigkeitsfeststellung gemäß § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO nicht das Vorliegen eines Staatsvertrags erfordert. Das wurde nämlich bereits im Gesetzgebungsstadium klargestellt.47 Umso erstaunlicher ist es, dass selbst in der jüngeren Vergangenheit Obergerichte die Gegenseitigkeit verneinten, weil kein völkerrechtlicher Vertrag mit dem Urteilsstaat existierte.48 Dieses widerspricht der Grundkonzeption des deutschen Anerkennungsrechts, welches allein verlangt, dass deutsche Urteile im Ausland tatsächlich anerkannt und vollstreckt werden.49 Regelmäßig problematisch ist ferner der Fall, dass sich die Gesetzeslage im Ausland kürzlich geändert hat – dass aber noch jedwede Anwendungspraxis fehlt. Hier entschied der BGH, dass bei einer Änderung der Gesetzeslage im Ausland davon auszugehen sei, dass die ausländischen Gerichte entsprechend der neuen Gesetzeslage urteilen werden.50 Hahn, Die gesammelten Materialien zur Civilprozeßordnung und zu dem Einführungsgesetz zu derselben vom 30. Januar 1877, Erste Abtheilung, S. 888 f.: „Abg. Struckmann erklärt sich mit dem Vorredner dahin einverstanden, daß auch die thatsächliche Vollstreckung inländischer Erkenntnisse im Auslande als Verbürgung der Gegenseitigkeit anzusehen sei […] Direktor von Amsberg: […] Er verstehe den Begriff der Verbürgung so, daß unter denselben nicht blos die Erklärung in Staatsverträgen und Gesetzen, sondern auch solche in der minder feierlichen Form vereinbarter Deklarationen fallen: auch müsse die thatsächlich feststehende Vollstreckung genügen.“ 48 So hatte das OLG München ein Urteil aus British Columbia nicht anerkannt, weil weder diese kanadische Provinz noch der kanadische Bundesstaat ein Vollstreckungsabkommen mit Deutschland geschlossen hatten. Der BGH hob dieses Urteil auf und führte hierzu aus: „Zwar gibt es mit British Columbia oder der Kanadischen Union kein bilaterales oder multilaterales Vollstreckungsabkommen. Dies ist jedoch, anders als das BerGer. gemeint hat, nicht von entscheidender Bedeutung. Die Gegenseitigkeit der Anerkennung und Vollstreckung von Zahlungstiteln muss nämlich nur materiell bestehen, sie braucht nicht formell durch Vereinbarung mit dem ausländischen Staat gesichert zu sein […] Von entscheidender Bedeutung sind vielmehr das vom BerGer. nicht berücksichtigte Anerkennungsrecht von British Columbia sowie die dortige Anerkennungspraxis […].“ BGH, Urteil vom 24.10.2000, XI ZR 300/99 – NJW 2001, 524 (525). 49 Zu den Unterschieden zwischen dem Staatsvertragsvorbehalt und gerichtlichen Gegenseitigkeitserfordernissen vgl. Kapitel 1 – C (S. 14 ff.). 50 BGH, Urteil vom 15.11.1967, VIII ZR 50/65 – BGHZ 49, 50 (52) [Syrien]: „Denn bis zum Beweise des Gegenteils ist jedenfalls für Kulturstaaten anzunehmen, dass ihre Gerichte entsprechend ihrem Recht verfahren werden (vgl. BGHZ 42, 194, 206).“ Damit führte der BGH freilich das unbestimmte und kontroverse Kriterium des „Kulturstaates“ ein. Zu einer Kritik daran vgl. Schütze, Probleme der Verbürgung der Gegenseitigkeit bei der Anerkennung ausländischer Zivilurteile, S. 825 (833). Eine andere Auffassung vertrat noch das Reichsgericht. Es deutete an, dass die kalifornischen Gerichte eine Gesetzesänderung ignorieren könnten: „Grundsätzlich kann freilich auch gegenüber einem Gesetze, das die Vollstreckung ausländischer Urteile zu sichern bestimmt ist, die Verbürgung der Ge47

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Zu Schwierigkeiten kommt es ferner immer wieder, wenn die tatsächliche Praxis der Gerichte sich nicht mit der Gesetzeslage deckt. Zwar ist anerkannt, dass grundsätzlich die tatsächliche Anerkennungspraxis vorgeht. Doch sowohl in der näheren wie auch der ferneren Vergangenheit fehlt es nicht an Fällen, in denen eine positive Anerkennungspraxis mit Verweis auf die angeblich entgegenstehende Rechtslage ignoriert worden ist. Beispielsweise lehnte es das Reichsgericht gegen Ende des 19. Jahrhunderts ab ein englisches Urteil zu vollstrecken, obwohl englische Gerichte ausländische Zahlungsurteile aufgrund der doctrine of obligation seit einiger Zeit tatsächlich vollstreckten. Dies war dem Reichsgericht allerdings zu wenig – es vermisste eine höchstrichterliche Bestätigung dieser Rechtsprechungslinie.51 Ganz ähnlich argumentierte jüngst das OLG Hamburg in Bezug auf Russland. Zwar erkannte es an, dass russische Wirtschaftsgerichte ausländische Urteile auch ohne das Bestehen eines entsprechenden völkerrechtlichen Abkommens mit dem Urteilsstaat vollstrecken. Doch diese Anerkennungspraxis genügte dem OLG Hamburg nicht, um die Gegenseitigkeit zu bejahen, da sie dem Gesetzeswortlaut zuwiderzulaufen schien.52 III. Fazit Es ist kein Zufall, dass der deutsche Reziprozitätsvorbehalt – je nach Zeitgeist – von der Rechtsprechung äußerst unterschiedlich ausgelegt werden konnte. Der Grund hierfür liegt in der Grundkonzeption von gerichtlichen genseitigkeit geleugnet werden, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, daß es nicht in die Praxis der Gerichte überführt werden wird […].“ RG, Urteil vom 26.3.1909, Rep. VII. 550/08 – RGZ 20, 434 (438) [Kalifornien]. 51 RG, Urteil vom 19.5.1882, Rep. III. 597/81 – RGZ 7, 406 (413) [England]: „[…] diese neuere Rechtsauffassung ist […] bisher noch nicht Gegenstand einer oberstrichterlichen Entscheidung gewesen, und solange es ihr an der oberstrichterlichen Bestätigung fehlt, muß man Anstand nehmen, sie für so sicher befestigt zu halten, daß ihre Allgemeingültigkeit und ihre Fortdauer als verbürgt bezeichnet werden dürfte.“ Zur Herausbildung der doctrine of obligation im englischen Anerkennungsrecht vgl. Kapitel 3 – A.I.3 (S. 59 ff.). 52 OLG Hamburg, Urteil vom 13.7.2016 – 6 U 152/11 – IPRax 2017, 406 (408), Erwägungsgrund Nr. 45: „Bei dieser Situation hält der Senat die Gegenseitigkeit im Sinne von § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO nicht für verbürgt. Es reicht zwar ggf. eine partielle Verbürgung der Gegenseitigkeit aus (vgl. BGHZ 52, 251, zitiert nach juris, Tz. 10). Der Senat ist aber auch für eine Wirtschaftssache der vorliegenden Art […] nicht von der Verbürgung der Gegenseitigkeit überzeugt. Für eine solche partielle Verbürgung spricht zwar die Rechtsprechungspraxis der russischen Arbitragegerichte, die der gerichtliche Sachverständige in seiner Anhörung als ‚seit vielen Jahren doch recht einheitlich‘ bezeichnet […] Dagegen spricht aber, dass diese vom Sachverständigen als ‚liberal‘ bezeichnete Rechtsprechung nicht unbedingt im Wortlaut der russischen Gesetze angelegt ist […] Letztlich sind die Unsicherheiten so groß, das von einer ‚Verbürgung‘ nach Auffassung des Senats nicht ausgegangen werden kann.“

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Gegenseitigkeitserfordernissen, deren weiter Auslegungsspielraum mit einer geringen Vorhersehbarkeit korreliert. In der Tat ist die gerichtliche Feststellung, ob das Ausland inländische Urteile tatsächlich – und wenn ja: unter welchen Bedingungen? – anerkennt und vollstreckt, ein schwieriges Unterfangen.53 Denn zum einen besteht hier nur allzu oft ein Erkenntnisproblem: Wie soll der inländische Richter die Anerkennungspraxis eines anderen, vielleicht fernen und exotischen Staates zuverlässig in Erfahrung bringen?54 Bei diesem Unterfangen sind jedenfalls die deutschen Gerichte auf sich allein gestellt, denn es fehlt eine systematische Erfassung durch offizielle Stellen, wie etwa das Bundesjustizministerium. Neben diesem Erkenntnisproblem steht der Rechtsanwender ferner vor einem Bewertungsproblem – nämlich vor der Frage, ob deutsche Urteile in dem betreffenden ausländischen Staat unter wesentlich erschwerten Bedingungen vollstreckt werden als ausländische Urteile in Deutschland. Der inländische Richter muss daher die von ihm in Erfahrung gebrachte Anerkennungspraxis ausländischer Gerichte zur Rechtslage in Deutschland in Bezug setzen.55 Dieses ist ein diffiziles Unterfangen, in dem es kaum Schwarz und Weiß gibt. Klar ist die Sache nämlich nur in zwei Konstellationen: Wenn das ausländische Anerkennungsrecht entweder exakt dieselben Regelungen aufweist, wie das deutsche – oder aber, wenn es Auslandsurteile gar nicht anerkennt beziehungsweise einer révision au fond unterzieht. In allen anderen Fällen muss der inländische Richter eine schwierige Wertungsfrage auf fragwürdiger Tatsachengrundlage entscheiden. Mit Blick auf die wechselhafte Rechtsprechung der deutschen Gerichte zum Reziprozitätsvorbehalt der ZPO lässt sich konstatierten, dass nur auf den ersten Blick klar scheint, wann eine „Verbürgung der Gegenseitigkeit“ vorliegt. Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass diese Voraussetzung recht konturlos ist und ein breites Spektrum an Auslegungsmöglichkeiten zulässt. Die deutsche Rechtsprechung hat das Gegenseitigkeitserfordernis in der Tat – je nach Zeitgeist – höchst unterschiedlich interpretiert. Während die Rechtsprechungslinie nach dem Inkrafttreten der ZPO noch „vergleichsweise milde“ war, verschärften sich die Anforderungen an das Vorliegen von Rezipro53 Zu den verschiedenen Arten von Gegenseitigkeitserfordernissen vgl. Kapitel 1 – C (S. 14 ff.). 54 Gottwald, in: Münchener Kommentar, ZPO, § 328, Rn. 133: „Eine solche Feststellung (gem. § 293) macht in der Praxis erhebliche Schwierigkeiten, wenn mit dem betr. Land nur ein geringer Rechtsverkehr besteht, noch keine praktische Erfahrung mit der Handhabung neuer Gesetze vorliegt oder in einem Staat Bürgerkrieg herrscht.“ 55 Schütze, Ausgewählte Probleme des internationalen Zivilprozessrechts, S. 10: „Die Gegenseitigkeitsfeststellung setzt einen Vergleich zweier Rechtsordnungen voraus, erfordert also im Rahmen einer Äquivalenzprüfung die Anwendung der rechtsvergleichenden Methode. Denn eine vollständige Deckungsgleichheit von rechtlichen Regelungen im Bereich des internationalen Zivilprozessrechts gibt es nur bei rezipierten Rechten, aber auch hier nur im Zeitpunkt der Rezeption.“

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Kapitel 2 – Die Gegenseitigkeit im deutschen Recht

zität seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zusehends.56 Insbesondere während des wilhelminischen Zeitalters und der Weimarer Republik taten sich die deutschen Gerichte durch besondere Kleinlichkeit hervor. Es gab kaum einen Aspekt des ausländischen Rechts, der – sofern er von der Lösung des deutschen Rechts abwich – das Vorliegen von Gegenseitigkeit verhinderte. Erst viel später setzte ein Umdenken ein, aufgrund dessen seit den 1960er-Jahren die Anforderung für das Vorliegen einer Gegenseitigkeitsverbürgung deutlich abgesenkt worden sind.

D. Gesetzgeberische Entwicklung

D. Gesetzgeberische Entwicklung

Obwohl der Anwendungsbereich des deutschen Gegenseitigkeitserfordernisses mehrfach geändert worden ist, blieb es im Kern unverändert (unter I.). Insbesondere überstand es auch alle Versuche, es im Zuge der großen IPRReform 1986 einzuschränken oder gar abzuschaffen (unter II.). I.

Ausweitung, dann Einschränkung des Anwendungsbereichs

Ursprünglich regelte die ZPO von 1877 nur die Vollstreckung, nicht aber die Anerkennung von Auslandsurteilen. Doch schon bald stellte sich die Frage, ob auch die schlichte Anerkennung ausländischer Urteile von der Gegenseitigkeit abhing. Das Reichsgericht entschied diese Frage im Jahre 1883 dahingehend, dass das Gegenseitigkeitserfordernis des § 611 Nr. 5 CPO analog auch auf die schlichte Anerkennung anzuwenden ist.57 Die ZPO-Novelle von 1898 kodifizierte diese Rechtsprechung, sodass die Vollstreckungsversagungsgründe des § 611 CPO zu Anerkennungsversagungsgründen wurden. Das Erfordernis der Gegenseitigkeit wanderte, über einen kleinen Umweg, von § 611 Nr. 5 CPO zu § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO und galt nunmehr ausdrücklich auch für die bloße Anerkennung.58 Damit wurde der Anwendungsbereich des Reziprozitätserfordernisses erheblich ausgeweitet. Gleichzeitig wurde es aber dahingehend abgemildert, dass § 328 Abs. 2 ZPO nunmehr eine Ausnahme von der Gegenseitigkeitsverbürgung für Urteile über nichtvermögensrechtliche Ansprüche einführte, wenn kein inländischer Gerichtsstand bestanden hatte. Im Jahre 1961 schaffte man den Reziprozitätsvorbehalt für die Anerkennung von Eheurteilen schließlich ganz ab, bevor man ihn 1977 auch Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 1190. RG, Urteil vom 29.1.1883, Rep. I 472/82 – RGZ 8, 385 [Schweden]. Der Fall betraf die Frage, ob sich eine Partei auf die Rechtskraft eines schwedischen Urteils berufen kann, obwohl die Gegenseitigkeit mit Schweden nicht verbürgt war. 58 Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 1188 f. Das Gegenseitigkeitserfordernis gelangte deshalb von den Regelungen über die Zwangsvollstreckung hin zu den allgemeinen Vorschriften über Urteile. 56 57

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für Kindschaftssachen strich.59 Doch trotz dieser Änderungen in seinem Anwendungsbereich hielt das deutsche Recht am Gegenseitigkeitserfordernis weiterhin unbeirrt fest. II. Festhalten an der Gegenseitigkeit (IPR-Reform 1986) Zu Beginn der 1980er-Jahre setzte der deutsche Gesetzgeber zu einer großangelegten Reform des IPR und IZVR an. Auslöser hierfür war der sogenannte „Spanier-Beschluss“ der BVerfG, der die Verfassungswidrigkeit vieler Anknüpfungen in deutschen Kollisionsnormen zur Folge hatte. Diese Rechtsprechungslinie des BVerfG führte dazu, dass kollisionsrechtliche Bestimmungen nicht länger als strikt wertneutrale Anknüpfungsnormen gelten konnten, sondern einer Prüfung anhand grundrechtlicher Wertungen zugänglich waren, was eine umfassende Reform des IPR notwendig machte.60 Im Hinblick auf das Gegenseitigkeitserfordernis des § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO bedeutete dies, dass nunmehr ein konkreter Anlass für seine Überprüfung bestand. Auch das Pochen auf Gegenseitigkeit, so schien es, musste sich einer Neubewertung stellen. Zu der altbekannten Kritik an der Ungerechtigkeit und der Ungeeignetheit des § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO trat nun ein neuer Aspekt hinzu, nämlich die Frage, ob die Gegenseitigkeit nicht überdies auch noch verfassungswidrig ist. Das Verdikt der Verfassungswidrigkeit hatte bereits einige Jahre zuvor Puttfarken gesprochen. Er konstatierte, dass die Anwendung des Reziprozitätsprinzips zulasten deutscher Staatsbürger willkürlich sei, denn ausländische Staaten könnten kaum dadurch zu einer Verhaltensänderung bewegt werden, dass man Deutsche benachteiligt.61 Als die Rechtswissenschaft im Vorfeld der geplanten Reform des deutschen Internationalen Privatrechts zu § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO Stellung nahm, schien das Schicksal des deutschen Gegenseitigkeitserfordernisses besiegelt: Alle vier wissenschaftlichen Vorentwürfe plädierten einmütig für seine ersatzlose Streichung.62 Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 1189. In diesem Fall aus dem Jahre 1971 (BVerfG, Beschluss vom 4.5.1971 – 1 BvR 636/68 = BVerfGE 31, 58) entschied das BVerfG, dass auch Kollisionsnormen an den Grundrechten des Grundgesetzes zu messen seien. Dieses war damals keine Selbstverständlichkeit. Ganz im Gegenteil: Die herrschende Auffassung in der Lehre ging davon aus, dass Kollisionsnormen wertneutral seien, da sie lediglich bestimmen, welches materielle Recht anwendbar ist. Vgl. hierzu Drobnig, Zur Reform des deutschen internationalen Privatrechts, S. 17; Kinsch, Droits de l’homme, droits fondamentaux et droit international privé, Recueil des Cours 318 (2005), Rn. 151–154 und Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Kodifikation des deutschen Internationalen Privatrechts, RabelsZ 47 (1983), S. 595 (596). 61 Puttfarken, Zur Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile deutscher Kläger – verfassungswidrige Gegenseitigkeit, RIW 1976, S. 149 (150 f.). 62 Basedow, Internationales Verfahrensrecht, S. 91 (101). Als Ausgangspunkt für das Reformvorhaben diente ein Entwurf für eine Neuregelung des deutschen IPR von Kühne. Gleichzeitig arbeiteten am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Pri59 60

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Kapitel 2 – Die Gegenseitigkeit im deutschen Recht

Doch es kam anders: Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung hielt an der Gegenseitigkeit unverändert fest. Dieses Beharren der Exekutive veranlasste das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht dazu, in einer Stellungnahme nochmals nachdrücklich für die Abschaffung des § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO zu werben.63 Da zu dieser Zeit das Gesetzgebungsverfahren noch nicht abgeschlossen war, bestand noch die Hoffnung, dass der Gesetzgeber die Gegenseitigkeitsvorschrift doch noch reformieren oder gar abschaffen würde.64 Gleichzeitig präsentierte das Hamburger Max-PlanckInstitut für den Fall, dass der Gesetzgeber am Reziprozitätsprinzip bei der Urteilsanerkennung weiter festhalten will, zwei alternative Vorschläge, die einige der größten Nachteile der bisherigen Regelung beseitigen würden. Beide Eventualvorschläge sahen vor, die Anerkennungsversagung auf klare Fälle zu beschränken – nämlich, wenn der Urteilsstaat Auslandsurteile entweder gar nicht anerkennt oder aber eine révision au fond zulässt. Während jedoch der erste Vorschlag vorsah, dass die Gegenseitigkeitsfeststellung auf die Exekutive übergeht (Verordnungsermächtigung an die Bundesregierung), hielt der zweite Vorschlag an der gerichtlichen Gegenseitigkeitsfeststellung fest.65 Beide Ansätze zielten angesichts der mannigfaltigen Probleme bei der Rechtsanwendung auf eine leichtere Handhabbarkeit des Gegenseitigkeitserfordernisses in der Praxis ab.66 Ferner hätten beide Vorschläge § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO zu einer kooperativen Reziprozitätsstrategie (tit for tat) umgestaltet.67 vatrecht zwei Arbeitsgruppen unter der Leitung von Neuhaus / Kropholler sowie Doppfel /  Siehr, die ebenfalls zwei Gesetzesvorschläge ausarbeiteten. 63 Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Kodifikation des deutschen Internationalen Privatrechts, RabelsZ 47 (1983), S. 595 (674–678). Die Institutsstellungnahme legte dar, dass keines der für die Gegenseitigkeit angeführten Argumente stichhaltig ist. Weder erreiche das Gegenseitigkeitserfordernis eine „Liberalisierung des ausländischen Anerkennungsrechts“, noch eigne es sich zuverlässig für eine „unauffällige Abwehr von Entscheidungen aus Staaten mit dubioser Rechtspflege“. Zudem schütze es auch nicht die Interessen der deutschen Wirtschaft. Gegen die deutsche Reziprozitätsvorschrift streite ferner, dass sie für die Gerichte kaum handhabbar ist. Vor allem aber sei die „Dominanz staatlicher Interessen“ gegenüber den Interessen der direkt betroffenen Personen abzulehnen. 64 Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Kodifikation des deutschen Internationalen Privatrechts, RabelsZ 47 (1983), S. 595 (598). 65 Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Kodifikation des deutschen Internationalen Privatrechts, RabelsZ 47 (1983), S. 595 (678–680). 66 Die Unzulänglichkeiten der gerichtlichen Feststellung der Gegenseitigkeit sind schon früh deutlich geworden. Deshalb plädierte Kisch bereits in den dreißiger Jahren dafür, die Gegenseitigkeitsfeststellung dem Reichsjustizministerium zu übertragen. Vgl. Kisch, Anerkennung ausländischer Urteile als Gesetzgebungsproblem, Zeitschrift der Akademie für deutsches Recht 1937, S. 705 (707–709). 67 Zur effektiven Anwendung des Reziprozitätsprinzips im Rahmen der tit for tatStrategie vgl. Kapitel 1 – A (S. 7 ff.).

D. Gesetzgeberische Entwicklung

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Doch auch die große IPR-Reform des Jahres 1986 änderte kein Jota am § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO. Trotz des „einhelligen Wunsches nach Streichung“ blieb das Gegenseitigkeitserfordernis Bestandteil des deutschen Anerkennungsrechts.68 Auch die beiden Eventualvorschläge des Hamburger MaxPlanck-Instituts griff der Gesetzgeber nicht auf. Die Streichung der Gegenseitigkeit, so die Gesetzesbegründung, käme zu früh.69 Diese Begründung verblüfft, bestand das Gegenseitigkeitserfordernis doch zu diesem Zeitpunkt bereits seit über 100 Jahren. Doch anstatt es restlos abzuschaffen, wollte der Gesetzgeber nach „vermittelnde[n] Lösungen“ suchen, um den Gerichten die in der Praxis überaus schwierige Ermittlung der Gegenseitigkeit zu erleichtern. Geschehen ist das allerdings nicht.70 Es scheint daher, dass für die Beibehaltung der bisherigen Reziprozitätsbestimmung in Wirklichkeit andere Gründe den Ausschlag gaben. Welche Gründe das wohl gewesen sein mögen, zeigt ein Wortbeitrag eines hohen Ministerialbeamten auf einer der großen IPR-Reform gewidmeten wissenschaftlichen Tagung im Juni 1980. Auf diesem Kolloquium warb der damals zuständige Unterabteilungsleiter im Bundesjustizministerium Arnold um Beibehaltung der Gegenseitigkeitsbestimmung und führte hierfür als Argument an, dass diese ein „erprobtes Mittel zur unauffälligen Abwehr von Entscheidungen aus Staaten mit dubioser Rechtspflege“ sei.71 Diese Einlassung erstaunt, legt sie doch offen, dass mit dem Reziprozitätsvorbehalt des § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO (zumindest auch) ein völlig anderer Normzweck angestrebt wird als derjenige, der offiziell ausgegeben wird. Gegenseitigkeitserfordernisse dienen in bestimmten Fällen offenbar nicht als Druckmittel, um eine Praxis der gegenseitigen Anerkennung mit einem ausländischen Staat zu erzwingen, sondern – ganz im Gegenteil – als Filter, um eine solche Praxis zu verhindern. 68 Gottwald, Grundfragen der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen in Zivilsachen, ZZP 103 (1990), S. 257 (279). 69 BR-Drucksache 222/83 vom 20.5.1983, S. 88: „Nach Absatz 1 Nr. 5 wird eine ausländische Entscheidung nicht anerkannt, wenn die Gegenseitigkeit nicht verbürgt ist. Absatz 2 macht von dem Erfordernis der Verbürgung der Gegenseitigkeit eine Ausnahme, wenn das Urteil einen nichtvermögensrechtlichen Anspruch betrifft und nach den deutschen Gesetzen ein Gerichtsstand im Inland nicht begründet war oder wenn es sich um eine Kindschaftssache handelt. Diese Vorschriften will Kühne streichen. Der vorliegende Entwurf hält eine Änderung insoweit für verfrüht. Die Auswirkungen einer Streichung im vermögensrechtlichen Bereich sind bislang nicht ausreichend geprüft. Andere, vermittelnde Lösungen wie Bereitstellung angemessener Mittel zur Feststellung der Voraussetzungen einer Verbürgung der Gegenseitigkeit sind bisher nicht versucht worden. Wegen des geltenden § 328 Abs. 2 sowie im Hinblick auf das GVÜ steht für die Sachgebiete, für die im vorliegenden Entwurf das IPR neu geregelt werden soll, ein Bedürfnis nach Streichung des Absatzes 1 Nr. 5 nicht im Vordergrund.“ 70 Basedow, Gegenseitigkeit im Kollisionsrecht, S. 335 (346). 71 Basedow, Internationales Verfahrensrecht, S. 91 (101 f.). Vgl. auch Basedow, Gegenseitigkeit im Kollisionsrecht, S. 335 (345 f.).

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Kapitel 2 – Die Gegenseitigkeit im deutschen Recht

E. Effektivität der deutschen Gegenseitigkeitsvorschrift?

E. Effektivität der deutschen Gegenseitigkeitsvorschrift?

140 Jahre nach Einführung der Reziprozitätsvorschrift im autonomen deutschen Anerkennungsrecht muss die Frage erlaubt sein, ob sie zu einer besseren Durchsetzbarkeit von deutschen Urteilen im Ausland geführt hat. Hat also das Gegenseitigkeitserfordernis – wie angestrebt – zum Abschluss von völkervertraglichen Regelungen mit dem Ausland geführt (unter I.)? Oder hat es zumindest eine einseitige Änderung der ausländischen Anerkennungspraxis ausgelöst (unter II.)? Kurzum: Als wie effektiv hat sich das Beharren auf Gegenseitigkeit erwiesen? I.

Abschluss von bilateralen Anerkennungs- und Vollstreckungsabkommen

Seit dem Inkrafttreten der ZPO sind insgesamt elf bilaterale Anerkennungsund Vollstreckungsabkommen mit ausländischen Staaten geschlossen worden, nämlich mit der Schweiz (1929), Italien (1936), Belgien (1958), Österreich (1959), dem Vereinigten Königreich (1960), Griechenland (1961), den Niederlanden (1962), Tunesien (1966), Norwegen (1977), Israel (1977) und Spanien (1983).72 Angesichts der Tatsache, dass seit dem Bestehen des deutschen Reziprozitätsvorbehalts mittlerweile bereits mehr als 140 Jahre vergangen sind, ist die Anzahl von nur elf Vertragsschlüssen nicht gerade beeindruckend. Zudem überrascht, dass das erste bilaterale Abkommen erst im Jahre 1929 mit der Schweiz geschlossen worden ist. Das bedeutet nichts anderes, als dass das deutsche Gegenseitigkeitserfordernis in den ersten 50 Jahren seines Bestehens, nämlich von 1879 bis 1929, es nicht vermocht hatte auch nur zu einem einzigen Vertragsschluss zu führen. Ferner erstaunt, wie lange der letztmalige Vertragsschluss mit einem ausländischen Staat auf dem Gebiet der Urteilsanerkennung bereits zurückliegt, nämlich mittlerweile beinahe 40 Jahre. Seit dem Abkommen mit Spanien aus dem Jahre 1983 hat Deutschland kein einziges bilaterales Anerkennungs- und Vollstreckungsabkommen mehr geschlossen. Das ist umso überraschender, als dass der Gesetzgeber im 72 Gottwald, in: Münchener Kommentar, ZPO, § 328, Rn. 47–59. Neun der elf bilateralen Abkommen Deutschlands sind weitgehend bedeutungslos geworden, da sie mit anderen EU-Staaten oder mit Vertragsstaaten des Lugano-Übereinkommens abschlossen worden sind (Laugwitz, Die Anerkennung und Vollstreckung drittstaatlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, S. 338 f.). Eine besondere Stellung kommt nunmehr dem deutsch-britischen Anerkennungs- und Vollstreckungsabkommen aus dem Jahre 1960 zu, das aufgrund des Brexits eine unerwartete Renaissance erleben könnte. Allerdings ist umstritten, ob das alte deutsch-britische Abkommen mit dem Ablauf der Übergangsphase bis zum 31.12.2020 – und damit dem Auslaufen der Anwendbarkeit europarechtlicher Regelungen – tatsächlich wiederauflebte (vgl. hierzu Fn. 71 (S. 66)). Vgl. zu den bilateralen Verträgen Deutschlands ferner Laugwitz, Die Anerkennung und Vollstreckung drittstaatlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, S. 315–353.

E. Effektivität der deutschen Gegenseitigkeitsvorschrift?

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Rahmen der IPR-Reform 1986 gerade auch deshalb an § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO festhalten wollte, um der Verbürgung der Gegenseitigkeit noch eine Chance zu geben.73 Vor diesem Hintergrund ist es schlicht unverständlich, warum Deutschland schon jahrzehntelang keinerlei Verträge über die gegenseitige Urteilsanerkennung mit ausländischen Staaten schließt. Dies überrascht umso mehr, als dass es wirtschaftlich und gesellschaftlich mit dem Ausland stark verflochten ist.74 Für dieses Phänomen kommen nur zwei mögliche Erklärungen in Betracht. Entweder vermag es das Gegenseitigkeitserfordernis nicht, ausländische Staaten zum Abschluss von Vereinbarungen über die gegenseitige Urteilsanerkennung und -vollstreckung zu bewegen. In diesem Fall wäre es ineffektiv. Oder aber Deutschland strebt gar nicht (mehr) an, solche bilateralen Anerkennungs- und Vollstreckungsverträge zu schließen.75 Dann würde das erklärte Ziel der Herstellung einer gegenseitigen Anerkennungspraxis nicht mehr ernsthaft verfolgt werden, was den Reziprozitätsvorbehalt obsolet machen würde. Entweder also ist die deutsche Gegenseitigkeitsbestimmung ineffektiv oder aber sie ist überflüssig. II. Änderung der ausländischen Anerkennungspraxis Andererseits begnügen sich gerichtliche Gegenseitigkeitserfordernisse – anders als der Staatsvertragsvorbehalt – damit, dass ausländische Staaten Inlandsurteile tatsächlich anerkennen und vollstrecken.76 Daher ist ferner auch danach zu fragen, ob die Regelung des § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO vormals anerkennungsunwillige Staaten dazu brachte, deutsche Urteile tatsächlich anzuerkennen und zu vollstrecken. An dieser Stelle besteht allerdings ein gewisses Erkenntnisproblem. Denn wie ermittelt man, ob eine ausländische Rechtsordnung, die ihre Anerkennungspraxis liberalisierte, dies gerade im Hinblick auf das deutsche Gegenseitigkeitserfordernis tat? Nur selten wird man hierzu eine 73 Basedow, Gegenseitigkeit im Kollisionsrecht, S. 335 (346). Zur großen IPR-Reform von 1986 vgl. Kapitel 2 – D.II (S. 43 ff.). 74 Zwar mag wegen der Urteilsfreizügigkeit innerhalb der Europäischen Union kein Bedürfnis dafür bestehen, bilaterale Abkommen mit anderen EU-Staaten zu schließen. Doch das vermag nicht zu erklären, warum Deutschland seit geraumer Zeit keine Abkommen mit Drittstaaten geschlossen hat. Auf diesem Gebiet ist – trotz der Gegenseitigkeitsverbürgung – keinerlei Fortschritt zu verzeichnen. An Anlass dafür mangelt es sicher nicht, denn die deutsche Wirtschaft ist in besonders hohem Maße globalisiert. Ebenso die deutsche Gesellschaft: Millionen von Inländern weisen familiäre Bezüge zu ausländischen Staaten auf. Es gäbe also genug gute Gründe dafür, bilaterale Anerkennungs- und Vollstreckungsverträge mit EU-Drittstaaten zu schließen. 75 Basedow berichtet davon, dass deutsche Botschaften in Lateinamerika sogar angewiesen worden seien, auf Wünsche der Gaststaaten nach Abschluss von gegenseitigen Anerkennungs- und Vollstreckungsabkommen ablehnend zu reagieren. Basedow, Gegenseitigkeit im Kollisionsrecht, S. 335 (346). 76 Zum Staatsvertragsvorbehalt vgl. Kapitel 1 – C.I (S. 15 f.).

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Kapitel 2 – Die Gegenseitigkeit im deutschen Recht

explizite Aussage finden. Und doch ist ein solcher ungewöhnlicher Fall tatsächlich vorgekommen. Vor dem Hintergrund millionenschwerer Klagen von Erdbebenopfern des großen Erdbebens in San Francisco von 1906 änderte Kalifornien sein Anerkennungsrecht. Der kalifornische Gesetzgeber wollte dadurch erklärtermaßen sicherstellen, dass spätere Urteile auch dort vollstreckt werden konnten, wo die beklagte „Rhein und Mosel“-Versicherung ihre Vermögenswerte hatte: Im Deutschen Reich.77 Beim Fehlen von klaren Deklarationen kann man jedoch nur darüber spekulieren, warum das Ausland sein Recht geändert hat. Ein Beispiel hierfür ist die Liberalisierung des französischen Anerkennungsrechts durch die Rechtssache Munzer (1964). Als die Cour de cassation in dieser Entscheidung die bis dahin praktizierte révision au fond aufgab, stand der Gegenseitigkeit mit Deutschland nichts mehr im Wege.78 Einige führten dies als Beleg dafür an, dass das deutsche Gegenseitigkeitserfordernis nun endlich Wirkung entfaltet.79 Doch gegen eine solchen Deutung sprach, dass das Auslandsurteil im Munzer-Fall aus den USA stammte – und gerade nicht aus Deutschland. Zudem sei die französische Rechtsprechungsänderung „eher von dem Wunsch nach einem weltoffenen Anerkennungsrecht bestimmt [gewesen]“ als durch ein konkretes Nützlichkeitskalkül.80 Es scheint daher, dass die kalifornische Gesetzesreform zu Beginn des 20. Jahrhunderts tatsächlich den einzigen Fall darstellt, in dem die deutsche Gegenseitigkeitsvorschrift eine ausländische Rechtsordnung zur einseitigen Änderung ihrer Anerkennungspraxis im Hinblick auf deutsche Urteile veranlasste.81 III. Zwischenergebnis Insgesamt ist das deutsche Gegenseitigkeitserfordernis leider als weitgehend ineffektiv zu bewerten. Seine Ausbeute ist sehr gering: Einige wenige bilaterale Abkommen, von denen die meisten durch die voranschreitende europäische Integration obsolet geworden sind. Noch misslicher ist, dass in den zurückliegenden Jahrzehnten ein kompletter Stillstand zu verzeichnen ist. Wenn 77 Wittmaack, Kann ein Vollstreckungsurteil nach § 722 und § 723 ZPO auf Grund eines nordamerikanischen, insbesondere kalifornischen Urteils erlassen werden?, NiemZ 1912, S. 1 (4). 78 Zur Rechtssache Munzer vgl. Bureau / Muir Watt, Droit international privé, Bd. I, Rn. 263. Allgemein zum französischen Anerkennungsrecht vgl. Kapitel 4 – B.I (S. 90 f.). 79 Von einer solchen Deutung berichtet Basedow, Internationales Verfahrensrecht, S. 91 (101 f.). 80 Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Kodifikation des deutschen Internationalen Privatrechts, RabelsZ 47 (1983), S. 595 (675). 81 So auch Hepting, Die Gegenseitigkeit im Internationalen Privatrecht und Internationalen Zivilprozessrecht, S. 257 und Nagel, Die Berücksichtigung der Interessen der einzelnen Rechtsuchenden bei der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile, eine erneute Kritik an dem Postulat der Gegenseitigkeit, S. 43 (45).

F. Fazit

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Puttfarken bereits Mitte der 1970er-Jahre konstatieren konnte, „[d]ie Erfolge [sind] – wie bekannt – kläglich, die Gegenseitigkeitsregel zu Recht diskreditiert“, dann gilt dies nach weiteren Jahrzehnten des Stillstands umso mehr.82

F. Fazit

F. Fazit

Welche Schlüsse kann man aus den Erfahrungen der deutschen Rechtsordnung mit dem Erfordernis der Gegenseitigkeitsverbürgung ziehen? Die deutschen Erfahrungen zeigen zum einen, wie schwierig ein tatsächliches Gegenseitigkeitserfordernis zu handhaben ist. Die ausländische Anerkennungspraxis muss nämlich eingehend untersucht werden, was oftmals keine leichte Aufgabe ist – insbesondere für die Instanzgerichtsbarkeit. Überdies sind die Kriterien für das Vorliegen von Gegenseitigkeit alles andere als eindeutig und beständig, wie die wechselhafte höchstrichterliche Rechtsprechung bezeugt. Neben diesen Schwierigkeiten bei der praktischen Anwendung gibt es aber ein noch viel grundsätzlicheres Manko: Die Gegenseitigkeit hat sich als ineffektiv erwiesen. Sie hat es nicht vermocht, das durch sie verfolgte Ziel – eine Änderung der ausländischen Anerkennungspraxis gegenüber inländischen Entscheidungen – zu erreichen. Die deutsche Erfahrung lehrt somit, dass das Reziprozitätserfordernis ein weitgehend stumpfes Schwert ist. Es ist nicht geeignet, die Durchsetzbarkeit von Inlandsurteilen im Ausland – und damit eine gegenseitige Liberalisierung der Anerkennungspraxis – zu befördern.

82 Puttfarken, Zur Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile deutscher Kläger – verfassungswidrige Gegenseitigkeit, RIW 1976, S. 149 (150).

Kapitel 3

Die Gegenseitigkeit im common law-Rechtskreis Kapitel 3 – Die Gegenseitigkeit im common law-Rechtskreis

Im Folgenden wird untersucht, welche Rolle die Gegenseitigkeit im Rechtskreis des common law spielt. Dafür wird zunächst die Entwicklung in der englischen Mutterrechtsordnung nachgezeichnet (unter A.). Sodann werden zwei Rechtsordnungen untersucht, die sich aus dem englischen common law ableiten, die aber bei der Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen eine unterschiedliche Entwicklung genommen haben: Das US-amerikanische Recht (unter B.) sowie das Recht Kanadas (unter C.).

A. Englisches Recht

A. Englisches Recht

Charakteristisch für das common law ist der hohe Stellenwert der Rechtsprechung. Weil die Kodifikationsidee sich in England nie durchzusetzen vermochte, fand die Rechtsentwicklung im richterlichen Fallrecht statt. Diese rechtsschöpfende Tätigkeit der englischen Gerichte ist auch der Grund dafür, warum sie in ihren Urteilsbegründungen so argumentationsfreudig sind. Diese Argumentationsfreudigkeit verspricht fruchtbare Aussagen zu der Frage, ob – und wenn ja: warum? – ausländische Gerichtsentscheidungen anerkannt und vollstreckt werden sollten. Zwar änderten die englischen Richter ihre Begründungen hierfür mehrmals, jedoch behielten sie ihre generelle Anerkennungsfreundlichkeit bei. I.

Historische Entwicklung des englischen Anerkennungsrechts

Seit dem frühen 17. Jahrhundert vollstreckten englische Gerichte ausländische Urteile.1 Im europaweiten Vergleich ist dies recht spät.2 Über die Gründe für diesen späten Start kann man nur spekulieren. Sicherlich hat die europäische Randlage des englischen Königreichs eine Rolle gespielt. Auch der anfangs bescheidene grenzüberschreitende Handel mag einer der Gründe hierfür gewesen sein. Kurzum: Im England des ausgehenden Mittelalters bestand kaum ein Bedürfnis nach der Vollstreckung von Auslandsurteilen. Dicey, Morris & Collins, The Conflict of Laws, Rn. 14-007. Cheshire, North & Fawcett, Private International Law, S. 17–19; Sack, Conflicts of Laws in the History of the English Law, S. 342 (342–344). 1 2

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Kapitel 3 – Die Gegenseitigkeit im common law-Rechtskreis

Dies änderte sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts, als England die globale Bühne betrat und rasch zu einer führenden See- und Handelsmacht aufstieg.3 Mit dem zunehmenden wirtschaftlichen Austausch entstand auch ein Bedürfnis nach Rechtsschutz in Fällen mit Auslandsberührung.4 Das common law war hierzu aufgrund seiner strengen prozessualen Regeln zunächst allerdings nicht in der Lage.5 Hinderlich war insbesondere das Recht auf eine jury, da die Geschworenen aus dem Bezirk stammen mussten, in dem die streitentscheidenden Tatsachen stattgefunden haben. Bei Vorgängen im Ausland – etwa Vertragsabschlüssen in fernen Städten – konnte keine lokale jury gebildet werden.6 Zunächst war es daher schlicht unmöglich, solche Fälle vor englische Gerichte zu bringen.7 Doch bald erkannten die englischen Richter, dass ein solcher Zustand unhaltbar war. Sie reagierten darauf, wie es Anwender eines auf bindenden Präzedenzfällen beruhenden Rechts einzig tun konnten: Mit juristischen Fiktionen. Da sie das Recht nicht ändern durften, „änderten“ sie die Tatsachen, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen.8 Dies war durchaus amüsant. So nahm etwa die King’s Bench in Ward’s case (1625) kurzerhand an, dass Hamburg in London liege – und schon konnte sie den Fall verhandeln.9 In Mostyn v Fabrigas (1774) wurde sogar die Mittelmeerinsel Menorca in den Bezirk der Londoner Pfarrgemeinde St. Mary le Bow verschoben.10 Solche Sack, Conflicts of Laws in the History of the English Law, S. 342 (354). Holdsworth, A History of English Law, Bd. XI, S. 270. 5 Gerichte mit besonderen Zuständigkeiten – wie etwa die Admiralität – waren allerdings nicht an die starren Regeln des common law gebunden. Vgl. Juenger, A Page of History, 35 Mercer L. Rev. (1984), S. 419 (436). „Unless commercial or admiralty courts took jurisdiction, however, disputes arising out of these foreign transactions were not triable in England.“ 6 Mills, The Confluence of Public and Private International Law, S. 36 f.; Sack, Conflicts of Laws in the History of the English Law, S. 342 (345 f.); Juenger, A Page of History, 35 Mercer L. Rev. (1984), S. 419 (436): „Such actions could not be brought in the common law courts because the jury had to be drawn from the vicinage, the neighborhood where the operative facts had happened.“ 7 Sack, Conflicts of Laws in the History of the English Law, S. 342 (343 f. und 370 f.). 8 Del Mar, Legal Fictions and Legal Change in the Common Law Tradition, S. 225 (228); Lobban, Legal Fictions in the Age of Reform, S. 199 (199 f. und 209). 9 Ward’s case, Latch 3, 82 Eng. Rep. 245. 10 Um die Zuständigkeit der englischen Gerichte zu begründen, genügte die bloße Behauptung, dass sich etwas in London zugetragen habe. Diese Behauptung war dabei unwiderlegbar, wie die pointierten Ausführungen von Lord Mansfield in Mostyn v Fabrigas (1774) zeigen: „It is necessary in such actions to state in the declaration, that the ship was taken, or seized on the high seas, videlicet, in Cheapside. But it cannot be seriously contended that the Judge and jury who try the cause, fancy the ship is sailing in Cheapside: no, the plain sense of it is, that as an action lies in England for the ship which was taken on the high seas, Cheapside is named as a venue; which is saying no more, than that the party prays the action may be tried in London. But if a party were at liberty to offer reasons of 3 4

A. Englisches Recht

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Ortsfiktionen erreichten, dass inländischer Rechtsschutz gewährt werden konnte. Lag aber bereits eine ausländische Entscheidung vor, dann musste nicht einmal mehr die eigene Zuständigkeit fingiert werden – es genügte, den fremden Richterspruch zu vollstrecken.11 Die traditionelle Liberalität des common law gegenüber ausländischen Urteilen kann daher auch darauf zurückgeführt werden, dass es bei Auslandssachverhalten zunächst an seine Grenzen stieß. 1. Vollstreckungspflicht aus dem law of nations Wier’s case (1607) scheint der erste dokumentierte Fall zu sein, in dem ein englisches Gericht ein Auslandsurteil vollstreckte.12 In diesem Fall ging es um ein friesisches Urteil, das einen Engländer zur Zahlung eines bestimmten Geldbetrages verurteilte. Doch anstatt zu zahlen, floh der Beklagte nach England. Nachdem die friesischen Behörden bei der englischen Admiralität um Vollstreckung nachgesucht hatten, nahm diese den verurteilten Engländer in Schuldnerhaft. Nach heutigen Maßstäben bedeutet dies: Sie vollstreckte das Zahlungsurteil. Die dagegen gerichtete Haftbeschwerde (habeas corpus) wies das für Haftsachen zuständige Gericht ab.13 Die King’s Bench urteilte nämlich, dass die Inhaftierung rechtmäßig sei, da das unter den Völkern geltende Recht (ius gentium) eine Pflicht zur Vollstreckung von Auslandsurteilen enthalte: „[…] for this is by the law of nations that the justice of one nation should be aiding to the justice of another nation, and for one to execute the judgment of the other, and the law of England takes notice of this law […].“14 fact contrary to the truth of the case, there would be no end of the embarrassment.“ Mostyn v Fabrigas (1774), 1 Cowp. 161, 179, 98 Eng. Rep. 1021, 1032. 11 Funktional äquivalent zur Gewährung inländischen Rechtsschutzes ist die Anerkennung und Vollstreckung eines in dieser Sache ergangenen Auslandsurteils. Zur funktionalen Äquivalenz von Rechtsschutz „durch Anerkennung oder Erkenntnis“ vgl. Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, S. 449–453. Beachte in diesem Zusammenhang auch das Verbot eines anerkennungsrechtlichen déni de justice (vgl. Fn. 35 (S. 152)). 12 Wier’s case (1607), 1 Rolle, Abridgment 530, B 12. 13 Sack, Conflicts of Laws in the History of the English Law, S. 342 (382). 14 Wier’s case (1607), 1 Rolle, Abridgment 530, B 12. Übersetzung nach Sack, Conflicts of Laws in the History of the English Law, S. 382. Die oben zitierte Passage lautet im Original wie folgt: „[…] car ceo est per la ley de Nations que le Justice dun Nation serra aidant al Justice d’auter Nation, & lun d’executer le judgment de l’auter; & la ley d’Engleterre prist notice de cest ley […].“ (1 Rolle, Abridgement 530, B 12) Diese Passage ist nur in der Originalauflage von Rolles Werk aus dem Jahre 1668 (Henry Rolle: Un Abridgment des plusieurs cases et resolutions del Common Ley: Alphabeticalment digest desouth severall Titles, London 1668) zu finden. Die weitverbreitete Auflage aus dem Jahre 1676 (Henry Rolle: Les Reports de Henry Rolle Serjeant del’ Ley, De divers cases En le Court del’ Banke

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Kapitel 3 – Die Gegenseitigkeit im common law-Rechtskreis

An der Terminologie des Gerichts manifestiert sich das vorherrschende Naturrechtsdenken jener Zeit. Indem die King’s Bench auf das law of nations (im Original: „la ley de Nations“) verwies, machte sie sich das frühneuzeitliche Konzept des ius gentium zu Eigen.15 Dabei ist das ius gentium ein durchaus missverständlicher Begriff, da er im Altertum einen anderen Bedeutungsgehalt aufwies. Im antiken römischen Recht war das ius gentium nämlich der Gegenbegriff zum ius civile – während das ius civile das Recht der römischen Bürger war, galt das ius gentium unter Fremden oder zwischen Römern und Fremden.16 In der Neuzeit ist jedoch eine deutliche Bedeutungsverschiebung dieses Begriffs zu verzeichnen: Die spanischen Spätscholastiker wie auch die niederländischen Naturrechtler bezeichneten damit naturrechtlich begründete Rechte und Pflichten unter den Völkern.17 Wenn diese Gelehrten vom ius gentium sprachen, dann meinten sie Naturrecht, Vernunftrecht, Völkerrecht – also denjenigen Bereich des Rechts, der der Disposition der nationalen Instanzen entzogen war.18 Dadurch wies das ius gentium eine Ähnlichkeit zu den heutigen Menschenrechten auf – auch sie umfassen denjenigen Bereich des Rechts, über den weder Gesetzgeber noch Exekutive frei verfügen dürfen. le Roy, En le Temps del‘ Reign de Roy Jacques, London 1676) enthält diese Seiten nicht. Leider stützen sich die Nachdrucke der Law Reports auf die jüngere Auflage, sodass die Passage dort nicht zu finden ist. Ferner wird das Auffinden der Originalquelle dadurch erschwert, dass sie oft falsch datiert wird. So wird sie etwa in 2 Keb 511 (unter „Wibred and Wyer’s case“) mit „15 Paſch. Jac.“ angeführt. Dann wäre dieses Urteil aus dem Jahre 1617. Tatsächlich wurde es aber 1607 gesprochen, da Rolles Eintrag das Urteil auf „Paſch 5 Ja. B.R.“ datiert – also auf den 5. Easter Term (= Paſch) während der Regentschaft von König James I. (= Jacobus). James I. bestieg den englischen Thron aber am 24. März 1603, sodass der 5. Easter Term seiner Regentschaft auf das Jahr 1607 fiel. 15 Im Original ist das Urteil auf einer Art Französisch verfasst, die damals in England bei Gericht benutzt wurde (law French). Bryson, Law Reports in England from 1603 to 1660, S. 113 (113): „The numerous manuscripts of law reports […] were in law French, a difficult jargon of the lawyers of long ago.“ Bryson, a.a.O., S. 113 (121): „The law French of the seventeenth century was a totally artificial language; the writers were thinking in English, and the quirks of their French were matters of legal jargon, not of linguistics.“ Zur Gerichtssprache in England vgl. auch Lévy-Ullmann, The English Legal Tradition, S. 121–126. 16 Siehr, History of Private International Law, S. 1390 (1390 f.). 17 Orakhelashvili, Natural Law and Justice, Rn. 8 f.; K.-H. Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, S. 162. 18 Orakhelashvili, Natural Law and Justice, Rn. 3. Für Francisco de Vitoria vgl. Grawert, Francisco de Vitoria: Naturrecht – Herrschaftsordnung – Völkerrecht, Der Staat 39 (2000), S. 110 (121): „Läßt das Völkerrecht sich nicht aus dem Naturrecht ableiten, dann kommen als Quellen die Übereinstimmung eines größeren Teils der gesamten Welt sowie Verträge in Betracht.“ Beachte aber, dass sich auch die neuzeitliche Bedeutung des ius gentium durchaus unterschied. So gebrauchte etwa Hugo Grotius den Begriff ohne naturrechtlichen Absolutheitsanspruch, sondern in deskriptiver Weise, auch wenn es wohl zu weit gehen würde, ihn deshalb als Positivisten zu charakterisieren. Mills, The Confluence of Public and Private International Law, S. 42.

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Wenn englische Gerichte die Vollstreckung von Auslandsjudikaten als Frage des ius gentium qualifizierten, dann folgte daraus, dass der Anerkennungsstaat nicht das Recht hatte, sie völlig nach seinem Belieben zu regeln. Die Qualifikation als naturrechtlich-völkerrechtliche Frage implizierte ferner, dass die Vollstreckung ausländischer Zivilentscheidungen keine wertneutrale Frage rein prozessrechtlicher Natur war – sondern, dass sie Gerechtigkeitsfragen berührte und dadurch eine materielle Dimension aufwies. Ein generelles Vollstreckungsverbot, wie es der Code Michaut für Frankreich aussprach, wäre demnach unzulässig.19 Diese Aspekte finden sich auch in der Rechtsprechung des EGMR wieder. Auch aus ihr folgt, dass die Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsentscheidungen nicht im völligen Belieben des nationalen Rechts steht. Vielmehr macht die EMRK hier gewisse Vorgaben, in deren Rahmen sich der nationale Gesetzgeber bewegen muss. Der EGMR „materialisierte“ somit die transnationale Rechtsdurchsetzung dadurch, dass er sie aus ihrer prozessualen Nische herausholte und die dahinterliegenden, individuellen Rechte und Interessen in den Vordergrund rückte.20 Zwischen den Anerkennungs- und Vollstreckungspflichten, die die Straßburger Richter aus der Konvention ableiten und solchen, die englische Richter früher aus dem ius gentium deduzierten, bestehen folglich verblüffende Parallelen. Diese naturrechtlich-völkerrechtliche Vollstreckungspflicht aus dem ius gentium leitete das englische Anerkennungsrecht knapp 200 Jahre lang.21 Hinzu traten mit der Zeit die Interessen des Urteilsgläubigers. So vollstreckte die King’s Bench in Hughes v Cornelius (1680) ein Urteil eines französischen Admiralitätsgerichts zwar aufgrund des law of nations – aber auch, weil ein Schuldner sich andernfalls seinen Verpflichtungen dadurch entziehen könnte, dass er sein Vermögen über Staatsgrenzen hinweg verschiebt. Damit verwies ein englisches Gericht erstmals auf das hinter der Vollstreckung von Auslandsurteilen stehende Interesse des Gläubigers an der Durchsetzung seiner Rechte.22 Zum Vollstreckungsverbot des Code Michaut im vorrevolutionären Frankreich vgl. Kapitel 4 – B.I (S. 90 f.). 20 Zur Rechtsprechung des EGMR in Bezug auf ein dem Urteilsgläubiger zustehendes Recht auf Anerkennung und Vollstreckung seines im Ausland errungenen Urteils vgl. Teil II der vorliegenden Untersuchung – insbesondere Kapitel 7 (S. 141 ff.) und Kapitel 8 (S. 169 ff.). 21 Beispielsweise vollstreckte die King’s Bench in Jurado v Gregory (1669) ein spanisches Urteil aufgrund des law of nations und folgerte daraus sogar, dass eine inhaltliche Überprüfung des ausländischen Richterspruchs unzulässig sei: „[…] the Admiralties of Europe are assistant to each other by the Law of Nations, and are to execute each others sentences which cannot be enquired of in any other Courts […].“ Jurado v Gregory (1669), 2 Keb. 511. 22 Hughes v Cornelius (1680), 2 Show.K.B. 232: „[…] as we are to take notice of a sentence in the admiralty here […] so ought we of those abroad in other nations, and we must 19

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Auch in der Folgezeit ließen sich die englischen Gerichte bei Anerkennungsfragen von den Interessen der Urteilsparteien leiten. So erklärte der Court of Chancery in Roach v Garvan (1748), dass er einem französischen Urteil zur Wirksamkeit einer Ehe folgen würde – doch nur, falls es ein zuständiges Gericht gefällt habe.23 Dabei schlug der Court of Chancery eine dezidiert individualrechtliche Rhetorik an, indem er explizit auf die von einer Anerkennung berührten rights of mankind verwies.24 In der Rechtssache Wright v Simpson (1802), die die politisch motivierte Enteignung eines britischen Loyalisten aus Georgia betraf, stellte der Lord Chancellor das Streben nach Gerechtigkeit („inclination to do justice“) ausdrücklich in den Mittelpunkt seiner Erwägungen. Er tat dies allerdings nicht als Argument für die Anerkennung des amerikanischen Urteils, sondern dagegen: not set them at large again, for otherwise the merchants would be in a pleasant condition; for suppose a decree here in THE EXCHEQUER, and the goods happen to be carried into another nation, should the courts abroad unravel this? It is but agreeable with the law of nations that we should take notice and approve of the laws of their countries in such particulars.“ Für das Urteil Hughes v Cornelius finden sich in der Literatur unterschiedliche Datierungen. So datiert Sack es auf das Jahr 1683, während Holdsworth es auf das Jahr 1682 datiert. Tatsächlich ist der Fall aber wohl schon 1680 entschieden worden. Die Urteilssammlung von Shower enthält zu dieser Rechtssache nämlich folgende Angaben: „Case 223. Hughes against Cornelius. Trinity Term, 32 Car. 2. Roll 1229.“ Damit fällt die Entscheidung in den Trinity Term des 32. Jahres der Regentschaft Karls II, was nach offizieller Zählung das Jahr 1680 ist. Zwar wurde Karl II. tatsächlich erst am 23. April 1660 zum König von England gekrönt, doch setzt die offizielle Zählung den Beginn seiner Regentschaft bereits auf das Jahr 1649. Das englische Parlament beschloss nämlich im Jahre 1660, dass Karl II. als Thronfolger bereits durch die Hinrichtung seines Vaters Karls I. am 30. Januar 1649 von Gesetzes wegen König geworden war. Vgl. hierzu die Beratungen des Unterhauses von 08. Mai 1660 zur Königsproklamation: , zuletzt abgerufen am 6.4.2023. 23 Der Court of Chancery war ein Gericht der equity-Gerichtsbarkeit. Diese bestand parallel zu den etablierten, „ordentlichen“ Gerichten wie z.B. der King’s Bench. Doch während die ordentlichen Gerichte nach den strengen Regeln des common law verfuhren, konnte der Court of Chancery nach Billigkeitsrecht (equity) entscheiden. Seit dem 16. Jahrhundert existierten daher zwei verschiedenen Rechtsmaterien – common law und equity – nebeneinander. Vgl. Häcker, Das englische Common Law, JuS 2014, S. 872 (875 f.); Sack, Conflicts of Laws in the History of the English Law, S. 35. 24 Roach v Garvan (1748), 1 Ves.Sen. 157 (159): „Then as to the fact of marriage […] the most material consideration is as to the validity thereof: it has been argued, to be valid from being established by the sentence of a court in France, having proper jurisdiction. And it is true, that if so, it is conclusive, whether in a foreign court or not, from the law of nations in such cases: otherwise the rights of mankind would be very precarious and uncertain.“ Im Ergebnis verneinte der Court of Chancery, dass in Frankreich wirksam über die Gültigkeit der Ehe entschieden worden ist, da das Urteil von einem Strafgericht gesprochen worden war. Hierzu führte der Court of Chancery süffisant aus: „This was in a criminal court in the Chastelet in Paris; and it is strange, if they have no other judicature in France for marriage than a criminal court.“

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„I agree to this extent; that natural law requires the Courts of this country to give credit to those of another for the inclination and power to do justice; but not, if […] it appears in evidence, that persons suing under similar circumstances neither had met, nor could meet, with justice […].“25

Erstmals findet sich hier also der Gedanke, dass die Anerkennung unterbleiben müsse, wenn das ausländische Gericht kein gerechtes Verfahren gewährt hatte. Während aus der Rechtssache Roach v Garvan folgte, dass subjektive Rechte eine Anerkennung erfordern, folgte aus dem Fall Wright v Simpson, dass sie eine Versagung der Anerkennung gebieten können. Auch hier drängt sich eine Parallele zu der Rechtsprechung des EGMR förmlich auf: Auch Art. 6 Abs. 1 EMRK kann sowohl für als auch gegen die Anerkennung einer ausländischen Entscheidung streiten – je nachdem, ob das ausländische Verfahren fair war oder nicht.26 2. Vollstreckungsgebot aufgrund von comitas gentium Im Folgenden bemühten die englischen Gerichte verstärkt die comitas gentium, um eine Vollstreckung ausländischer Urteile zu begründen. Zunächst nannten sie die comitas in einem Atemzug mit dem ius gentium – so etwa Lord Mansfield in Robinson v Bland (1760), der feststellte, dass die Anwendung fremden Rechts „ex comitate et jure gentium“ erfolge. Zwischen der comitas einerseits und dem ius gentium andererseits wurde also kein Unterschied gemacht – wohl, weil die niederländische Naturrechtsschule, von der sich die englischen Richter inspirieren ließen, hier kaum einen Unterschied machte.27 Das änderte sich, als das Naturrechtsdenken diskreditiert wurde und die Stunde des Rechtspositivismus schlug. Dadurch waren auch die dem ius gentium zugrundeliegenden Ideen – Vernunftrecht, Naturrecht – überholt.28 NunWright v Simpson (1802), 6 Ves.Jr. 714 (730). Die englischen Gerichte kamen damit den Aussagen des EGMR in den Rechtssachen Pellegrini, McDonald und Sholokhov um rund 200 Jahre zuvor. Zur Doppelfunktion des Art. 6 Abs. 1 EMRK vgl. Kapitel 7 – A.III (S. 144 ff.) und Kapitel 7 – A.IV (S. 148 f.). 27 Robinson v Bland (1760), 96 Eng. Rep. 129 (141) (K.B. 1760): „the general rule established ex comitate et jure gentium is, that the place where the contract is made, and not where the action is brought, is to be considered in expounding and enforcing a contract […] Huberus says, Præl. 1, tit. 3, p. 34, contracts are to be considered according to the place wherein they are to be executed.“ Robinson v Bland (1760), 97 Eng. Rep. 717 (718) (K.B. 1760): „The law of the place can never be the rule, where the transaction is entered into with an express view to the law of another country, as the rule by which it is to be governed. Huberi Prælectiones, lib. 1, tit. 3, pa. 34, is clear and distinct; ‘verum tamen, &c. locus in quo contractus, &c. potius considerand’, &c. se obligavit.’ Voet speaks to the same effect.“ 28 Die positivistische Kritik am Naturrecht richtete sich dagegen, dass allein durch die Anstrengung des Verstandes konkrete Rechtsnormen deduziert werden können. Anstelle dieser naturrechtlichen Grundannahme trat die Überzeugung, dass Normen nur dann existieren, wenn sie jemand – der Souverän, der Gesetzgeber – geschaffen hat. Nach der posi25 26

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mehr stellten die englischen Gerichte nicht mehr auf das ius gentium, sondern allein auf die comitas ab – wie beispielsweise im Fall Alves v Bunbury (1814), der die Vollstreckung eines jamaikanischen Urteils zum Gegenstand hatte: „By the comitas gentium, the courts of different countries will recognize and enforce the judgments of each other […].“29

Die comitas (engl.: comity) vermochte eine Antwort darauf zu geben, warum Staaten ausländische Urteile anerkennen und vollstrecken sollten, obwohl sie dazu nicht verpflichtet waren. Sie gestand zu, dass zwar theoretisch jegliche Anerkennung abgelehnt werden dürfe – doch wäre dadurch langfristig niemandem gedient, weshalb ein Staat nicht auf seinem Recht beharren, sondern mit anderen Staaten im Geiste des freundschaftlichen Entgegenkommens und der internationalen Höflichkeit (comitas gentium) kooperieren solle. Das Prinzip der comitas verlangte daher Entgegenkommen nicht aus einer absolut wirkenden Rechtspflicht heraus, sondern aufgrund weiser Einsicht.30 Im Gegensatz zur naturrechtlichen Vollstreckungspflicht aus dem ius gentium war die comitas flexibel genug, um auch unter positivistischen Grundannahmen zu bestehen.31 Das ist übrigens auch der größte Kritikpunkt an ihr: Dass sie so unbestimmt ist, dass sie je nach Belieben – oder Zeitgeist – ganz unterschiedlich aufgefasst werden könne.32 Anschaulich zeigt dies die Entwicklung im amerikanischen Recht, in dem die comity einen fast völligen Bedeutungswandel durchlebte.33 Doch das englische Anerkennungsrecht beschritt diesen Weg nicht. Statt die comity-Doktrin anzupassen, verzichtete es auf jegliche zwischenstaatliche Höflichkeitserwägungen und stellte die Vollstreckung von Auslandsurteilen stattdessen auf eine neue, subjektivrechtliche Grundlage: Die doctrine of obligation. tivistischen Lehre existieren somit keine aus reinem Vernunftdenken ableitbaren Rechte und Pflichten der Staaten untereinander – kein ius gentium also. Diejenigen Positivisten, die das Recht ausschließlich als Befehl eines Souveräns auffassten, leugneten konsequenterweise sogar den Rechtscharakter des Völkerrechts. Lachenmann, Legal Positivism, Rn. 2–5 und Rn. 29; K.-H. Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, S. 214 und 234. 29 Alves v Bunbury (1814), 4 Camp. 28 (30). Diese Ausführungen ergingen allerdings nur obiter dicta, da die Vollstreckung schon daran scheiterte, dass das Urteil aufgrund eines fehlenden Gerichtssiegels nicht ordnungsgemäß authentifiziert worden war. Obiter dicta haben im englischen Recht zwar keine formelle Präzedenzwirkung, können aber als sogenannte persuasive authority Einfluss ausüben. Vgl. Häcker, Das englische Common Law, JuS 2014, S. 872 (874 f.); Slapper / Kelly, The English Legal System, S. 143 f. 30 Dornis, Comity, S. 382 (383); Kämmerer, Comity, Rn. 3; Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 26. 31 Lachenmann, Legal Positivism, Rn. 28. 32 Juenger, A Page of History, 35 Mercer L. Rev. (1984), S. 419 (435): „nebulous concept“. 33 Lagarde, La réciprocité en droit international privé, Recueil des Cours 154 (1977), S. 121 f.

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3. Vollstreckung aufgrund der doctrine of obligation Bis zum heutigen Tage stellt die doctrine of obligation die Grundlage dar, aufgrund welcher das englische Recht Auslandsurteile vollstreckt. Nach dieser „Schuld“- bzw. „Obligationstheorie“ werden ausländische Zahlungsurteile als privatrechtliche Schulden begriffen. Ausgangspunkt der doctrine of obligation ist, dass ein Urteilsspruch eines ausländischen Gerichts eine Pflicht auslöst, ihn zu befolgen – und dass diese Pflicht in England vollstreckt werden kann.34 Dieses Verständnis wurde zum ersten Mal in der Rechtssache Russel v Smyth (1842) angeführt:35 „Where the Court of a foreign country imposes a duty to pay a sum certain, there arises an obligation to pay, which may be enforced in this country.“36

Die doctrine of obligation wurde in der Folgezeit in William v Jones (1845) bestätigt.37 Endgültig etabliert wurde sie durch Godard v Gray (1870) und Schisby v Westenholz (1870), die in England bis zum heutigen Tage als grundlegende Präzedenzfälle zur Vollstreckung von Auslandsurteilen gelten.38 Da das common law in einem ausländischen Zahlungsurteil lediglich eine schuldrechtliche Verpflichtung zur Zahlung erblickt, vollstreckt es strenggenommen auch nicht den Urteilsspruch an sich, sondern die durch ihn geschaffene Verpflichtung: „English law does not enforce judgments but the debts they create.“39

Als Grund für die Herausbildung dieses Verständnisses wird die starke prozessuale Prägung des common law angeführt. Das common law war nämlich traditionell „aktionenrechtlich“ geformt: Englische Juristen fragten nicht danach, ob jemandem ein materiell-rechtlicher Anspruch zustand – sondern,

Sack, Conflicts of Laws in the History of the English Law, S. 384 f. Cheshire, North & Fawcett, Private International Law, S. 514. 36 Russell v Smyth (1842), 9 M.&W. 810 (819). 37 Williams v Jones (1845), 13 M.&W. 628 (633): „The principle on which this action is founded is, that, where a court of competent jurisdiction has adjudicated a certain sum to be due from one person to another, a legal obligation arises to pay that sum, on which an action of debt to enforce the judgment may be maintained. It is in this way that the judgments of foreign and colonial courts are supported and enforced […].“ 38 Godard v Gray (1870) L.R. 6 QB 139; Schisby v Westenholz (1870) L.R. 6 Q.B. 155 (159): „We think that, for the reasons there given, the true principle on which judgments of foreign tribunals are enforced in England is that stated by Parke, B., in Russel v. Smyth (2), and again repeated by him in Williams v. Jones (3), that the judgment of a court of competent jurisdiction over the defendant imposes a duty or obligation on the defendant to pay the sum for which judgment is given, which the courts of this county are bound to enforce […].“ Vgl. auch Dicey, Morris & Collins, The Conflict of Laws, Rn. 14-007. 39 Fentiman, International Commercial Litigation, Rn. 18.11. 34 35

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ob eine Klageart (form of action) existierte, die zu seinem Begehren passte.40 Diese Dominanz des Prozessrechts führte dazu, dass die prozessuale Einordnung oft auch das materiell-rechtliche Verständnis prägte. Da Auslandsurteile durch die Klageform des indebitatus assumpsit – beziehungsweise früher: debt – eingeklagt werden mussten, die für Geldschulden vorgesehen war, wurden sie mit der Zeit auch als Geldschulden begriffen.41 Durch diese prozessuale Begrenztheit konnten allerdings nur solche Auslandsentscheidungen vollstreckt werden, die auf Zahlung lauteten.42 Gegen die Vollstreckung von ausländischen Entscheidungen, die zu einer bestimmten Handlung verpflichteten, sprach aber ferner auch, dass ein solcher Rechtsbehelf dem common law selbst in reinen Inlandsfällen unbekannt war. Entsprechend kann man heute noch im englischen Recht grundsätzlich nur auf Schadensersatz (damages) klagen, nicht aber auf Erfüllung (specific performance).43 Vermutlich trugen darüber hinaus auch materielle Erwägungen zum Entstehen der doctrine of obligation bei. Die englischen Gerichte waren nämlich jahrhundertelang darin geübt, die hinter der Vollstreckung von Auslandsurteilen liegenden Individualinteressen zu artikulieren und zu berücksichtigen.

So stand dem Kläger nur eine begrenzte Anzahl von eng umrissenen Klagearten (forms of action) zur Verfügung, unter denen er eine zivilrechtliche Verpflichtung einklagen konnte. v. Bernstorff, Einführung in das englische Recht, S. 4 f.; Häcker, Das englische Common Law, JuS 2014, S. 872 (873); Lévy-Ullmann, The English Legal Tradition, S. 59– 72; Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 181–184. 41 Walker v Witter (1778), 1 Doug. K. B. 1 (1). „An action of debt will lie on a foreign judgment, and the plaintiff need not to show the ground of the judgment“ – Regelhafte Zusammenfassung des Urteilsspruchs durch den Gerichtsreporter Sylvester Douglas. Russell v Smyth (1842), 9 M.&W. 810 (817): „It is plain that this is not a decree of an ecclesiastical Court, but of a Court of competent jurisdiction awarding costs, and not having the power by its own process of enforcing the payment of them in this country. An action of assumpsit, or debt, therefore, lies for the recovery of them.“ Williams v Jones (1845), 13 M.&W. 628 (633): „where a party has recovered a sum of money by the judgment of a court of competent jurisdiction, a debt is created, which may be enforced by an action of debt […].“ 42 Holdsworth, A History of English Law, Bd. XI, S. 272: „Probably this was always the law, since the action of debt, which was the appropriate action on a foreign judgment, and the action of indebitatus assumpsit which had taken the place of the action of debt, lay only for an ascertained sum. Though this rule may have originated in the technical requirements of the action of debt it was a rule which was convenient and even essential; […] and it would be obviously impossible to enforce any judgment other than a judgment to pay money.“ 43 In früheren Zeiten waren die common law-Gerichte nicht befugt, jemanden zur Vornahme einer Handlung zu verurteilen; einzig die Billigkeitsgerichtsbarkeit (equity) konnte dies in Ausnahmefällen tun. Dieses traditionell auf Geldersatz beschränkte Rechtsbehelfssystem wirkt bis heute fort: So kann man im englischen Recht bei Vertragsbruch nur in eng begrenzten Ausnahmefällen auf Erfüllung klagen – etwa beim Kauf eines Grundstücks. Vgl. Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 477–482. 40

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II. Bewertung der doctrine of obligation Die doctrine of obligation wird bis zum heutigen Tage in England als Grund dafür angeführt, warum ausländische Urteile vollstreckt werden.44 Doch obwohl sie im englischgeprägten Rechtsraum dominiert, wird sie gemeinhin als unbefriedigend empfunden.45 An ihr ist bereits zu bemängeln, dass sie allein auf die Vollstreckung bestimmter Entscheidungen – nämlich von Zahlungsurteilen – fokussiert ist. Sie vermag daher weder zu erklären, warum andere Leistungsurteile nicht vollstreckt werden – noch, warum solche Urteile trotzdem anerkannt werden können.46 Vor allem aber wird die doctrine of obligation dafür kritisiert, dass sie an einem Begründungsdefizit leidet. Ihr Postulat, dass ein ausländisches Zahlungsurteil vollstreckt werden müsse, weil durch den Richterspruch eine Pflicht zur Zahlung geschaffen worden sei, greift zu kurz. Es übersieht nämlich, dass diese Zahlungspflicht wegen des Territorialitätsprinzips zunächst auf das Gebiet des Urteilsstaates begrenzt ist.47 Erst aufgrund der Anerkennung entfaltet sie auch Wirkung im Anerkennungsstaat. Damit kann sie aber nicht zugleich eben diese Anerkennung auslösen. Indem die doctrine of obligation so tut, als ob die Wirkungen von Urteilen weltweit gelten, stellt sie in- und ausländische Urteile auf eine Stufe. Das ähnelt durchaus der Rechtsprechung des EGMR, die ausländische Urteile reinen Inlandsentscheidungen ebenfalls gleichstellt.48 Doch die Kritik an der doctrine of obligation geht von einer Prämisse aus, die das englische Recht nicht teilt – nämlich, dass ein ausländisches Zivilurteil in erster Linie ein ausländischer Hoheitsakt ist. Bei diesem Verständnis ist es in der Tat unergründlich, warum ein Urteil auf dem Territorium eines

44 Fentiman, International Commercial Litigation, Rn. 18.11; Rogerson, Collier’s Conflict of Laws, S. 219. Die doctrine of obligation gilt auch in vielen ehemaligen britischen Kolonien – so beispielsweise in Ghana. Vgl. Oppong, Recognition and Enforcement of Foreign Judgments in Ghana, 31 Commonwealth Law Bulletin (2005), S. 19 (19 f.). 45 Rogerson, Collier’s Conflict of Laws, S. 219. 46 Ho, Policies Underlying the Enforcement of Foreign Commercial Judgments, 46 ICQL (1997), S. 443 (445); Smit, International Res Judicata and Collateral Estoppel in the United States, 9 UCLA L. Rev. (1962), S. 44 (55). Nichtzahlungsurteile sind der schlichten Anerkennung in England fähig, wodurch sie etwa den Einwand entgegenstehender Rechtskraft (res judicata) begründen können. Vgl. hierzu Kapitel 3 – A.II.4 (S. 64) sowie Cheshire, North & Fawcett, Private International Law, S. 556–559. 47 Ho, Policies Underlying the Enforcement of Foreign Commercial Judgments, 46 ICQL (1997), S. 443 (445): „To the question why we should treat the foreign judgment as creating that obligation and why that obligation should be enforced domestically, no intelligible answer is given […].“ Smit, International Res Judicata and Collateral Estoppel in the United States, 9 UCLA L. Rev. (1962), S. 44 (55). 48 Zur Gleichsetzung von Inlands- und Auslandsurteilen bei Art. 6 Abs. 1 EMRK vgl. Kapitel 7 – B (S. 148 ff.).

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anderen Staates eine Zahlungsverpflichtung schaffen soll.49 Die doctrine of obligation geht allerdings von einem völlig anderen Verständnis aus. Sie fasst ein ausländisches Zahlungsurteil nämlich als eine privatrechtliche Zahlungsverpflichtung auf, die an die unterlegene Partei gerichtet ist. Dadurch rückt sie die eigentliche Funktion von Zivilurteilen in den Mittelpunkt: Die Entscheidung von privaten Streitigkeiten. Aus diesem Grund fehlt ihr jegliche Besorgnis über die hoheitliche Natur von ausländischen Gerichtsentscheidungen – Souveränitätsbedenken bekümmern sie nicht.50 Entsprechend spielen Gegenseitigkeitserwägungen im englischen Recht keine Rolle.51 Obgleich die doctrine of obligation auf einer überkommenen prozessualen Besonderheit des common law beruht, weist sie also paradoxerweise eine überaus moderne, subjektivrechtliche Perspektive auf. 1. Heutige Grundzüge des englischen Anerkennungsrechts Durch die subjektivrechtliche Perspektive der doctrine of obligation ist das englische Recht ziemlich liberal, was den Umgang mit Entscheidungen ausländischer Gerichte betrifft.52 Seine Grundzüge stellen sich dabei wie folgt dar. Vollstreckbar sind grundsätzlich alle ausländischen Zahlungsurteile, wobei hierfür zwei Wege zur Verfügung stehen: Entweder eine Registrierung des Urteils oder eine Klage auf seiner Grundlage. Auslandsentscheidungen, die keine Zahlungsurteile sind, können in England zwar anerkannt, aber nicht

Aus diesem Grund sah Ludwig von Bar in der doctrine of obligation eine „Selbsttäuschung“: „Es ist aber leicht zu sehen, dass die Theorie nur auf […] Selbsttäuschung beruht. Wenn man auch zugestehen will, dass die Staatsgewalt einer Person eine Verpflichtung auferlegen kann, folgt daraus, dass diese Verpflichtung nun auch von anderen Staaten anerkannt oder gar mit Zwang zum Vollzuge gebracht werden muss? Wissen wir nicht vielmehr, dass es solche Verpflichtungen giebt, z. B. Verpflichtungen zum Wehrdienst, Verpflichtungen aus Strafurtheilen, für welche der Regel nach das Gegentheil gilt? Die Verpflichtung ist doch keine unvergängliche physische Eigenschaft, welche wirklich an dem Individuum haftet, dasselbe begleitet.“ v. Bar, Theorie und Praxis des internationalen Privatrechts, Bd. II, Rn. 437. 50 Michaels, Recognition and Enforcement of Foreign Judgments, Rn. 8. 51 Godard v Gray (1870) L.R. 6 QB 139 (148): „It is not an admitted principle of the law of nations that a state is bound to enforce within its territories the judgment of a foreign tribunal. Several of the continental nations (including France) do not enforce judgments of other countries, unless where there are reciprocal treaties to that effect. But in England and in those states which are governed by the common law, such judgments are enforced, not by virtue of any treaty, nor by virtue of any statute, but upon a principle very well stated by Parke, B., in Williams v Jones […].“ Sack, Conflicts of Laws in the History of the English Law, S. 384 f.: „Therefore […] the rule became established in England that a foreign judgment creates a new cause of action, in the nature of a simple contract, suable upon in England, as such debt, and, therefore, without any condition of reciprocity.“ 52 McCaffrey / Main, Transnational Litigation in Comparative Perspective, S. 644. 49

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vollstreckt werden.53 Sowohl für die Anerkennung als auch für die Vollstreckung ist es allerdings Voraussetzung, dass das ausländische Gericht international zuständig war und dass kein Versagungsgrund vorliegt. 2. Internationale Zuständigkeit Die Zuständigkeit des ausländischen Gerichts akzeptiert das englische Recht grundsätzlich in zwei Fällen: Entweder beim Aufenthalt des Beklagten im ausländischen Staat oder bei freiwilliger Unterwerfung unter die Jurisdiktionsgewalt des ausländischen Gerichts. Die freiwillige Unterwerfung wiederum kann dabei zustande kommen durch die Anrufung des Gerichts als Kläger oder Widerkläger, durch freiwilliges Auftreten vor Gericht oder auch durch eine Gerichtsstandsvereinbarung.54 Bei der Anerkennung von sogenannten „in rem-Urteilen“ wird die internationale Zuständigkeit allerdings abweichend beurteilt.55 Bezeichnend ist ferner, dass die englischen Gerichte für sich eine umfangreichere Zuständigkeit in Anspruch nehmen, als sie ausländischen Gerichten zuzugestehen bereit sind.56 Daher akzeptiert das englische Recht das Spiegelbildprinzip nicht.57

53 Cheshire, North & Fawcett, Private International Law, S. 551: „As we have seen, the ground on which a foreign judgment is enforceable in England is that the defendant has implicitly promised to pay the amount due under the judgment. It follows that there can be no question of enforcing a foreign decree for specific performance or for the specific delivery or restitution of chattels.“ 54 Dicey, Morris & Collins, The Conflict of Laws, Rn. 14R-054. 55 Die obige Darstellung der internationalen Zuständigkeit ist auf Urteile in personam beschränkt – also solche, die verpflichtend und inter partes wirken. Im Gegensatz dazu wirken Urteile in rem „dinglich“ in dem Sinne, dass sie die Rechtsstellung einer Sache oder einer Person unmittelbar – auch gegenüber Dritten (erga omnes) – verändern. Beispiele sind etwa dingliche Rechte an Sachen, sowie ferner Insolvenzsachen und Statusentscheidungen. Clarkson & Hill’s Conflict of Laws, Rn. 3.5 und Dicey, Morris & Collins, The Conflict of Laws, Rn. 14-109. Bei Entscheidungen in Bezug auf dingliche Rechte richtet sich die internationale Zuständigkeit nach dem Belegenheitsort der Sache. Vgl. hierzu Dicey, Morris & Collins, The Conflict of Laws, Rn. 14R-108–Rn. 14-117. 56 Martiny, Handbuch des internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 1370; Rogerson, Collier’s Conflict of Laws, S. 248. 57 Dicey, Morris & Collins, The Conflict of Laws, Rn. 14-087: „Secondly, reciprocity is used to describe the view that the English court should recognise the jurisdiction of the foreign court if the situation is such that, mutatis mutandis, the English court might have exercised jurisdiction […] On the present state of authorities, the jurisdiction of the foreign court will not be recognized on such a basis.“ Das Spiegelbildprinzip wird im englischen Recht – etwas missverständlich – häufig als „Gegenseitigkeit“ (reciprocity) bezeichnet. Wenn englische Juristen im Rahmen des Internationalen Zivilverfahrensrechts von „reciprocity“ reden, meinen sie daher meist das Spiegelbildprinzip und nicht die Gegenseitigkeitsverbürgung.

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Kapitel 3 – Die Gegenseitigkeit im common law-Rechtskreis

3. Versagungsgründe Als Versagungsgründe kennt das englische Recht die betrügerische Erlangung des Urteils (fraud), die Vorenthaltung grundlegender Verfahrensrechte (breach of natural justice) sowie einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung (public policy).58 Der Tatbestand des fraud geht dabei über das deutsche Verständnis des Prozessbetrugs hinaus, denn er umfasst auch den „Betrug“ an einem gerechten Prozess vonseiten des Gerichts – beispielsweise durch einen korrumpierten Spruchkörper.59 Die Versagungsgründe „breach of natural justice“ beziehungsweise „ public policy “ hingegen entsprechen größtenteils dem verfahrensrechtlichen beziehungsweise dem materiell-rechtlichen ordre public-Verstoß des deutschen Anerkennungsrechts.60 4. Vollstreckungsfähigkeit: Nur Zahlungsurteile Der Kreis ausländischer Zivilurteile, die überhaupt der Vollstreckung fähig sind, ist eingeschränkt: Nur solche Auslandsurteile können vollstreckt werden, die einen bestimmten Geldbetrag (debt or definite sum of money) zusprechen.61 Insbesondere sind also Leistungsurteile, die zu einer sonstigen Handlung verurteilen, nicht vollstreckbar.62 Solche Urteile können aber anerkannt werden.63 Dadurch kommt ihnen res judicata-Wirkung zu, sodass sie einer erneuten Klage in England entgegengehalten werden können.64 Die schlichte Anerkennung erfolgt dabei ohne gesondertes Verfahren, sondern – wie in Deutschland – inzident.65

58 Briggs, The Conflict of Laws, S. 148; Dicey, Morris & Collins, The Conflict of Laws, Rn. 14R-020 & Rn. 14-138–14-170. 59 Dicey, Morris & Collins, The Conflict of Laws, Rn. 14R-137: „A foreign judgment relied upon as such in proceedings in England, is impeachable for fraud. Such fraud may be either (1) fraud on the part of the party in whose favour the judgment is given; or (2) fraud on the part of the court pronouncing the judgment.“ 60 Zum breach of natural justice vgl. Dicey, Morris & Collins, The Conflict of Laws, Rn. 14-163–14-170; Rogerson, Collier’s Conflict of Laws, S. 256 f.: „A judgment where the defendant was denied a fair trial will not be enforced […] The foreign judgment will not be enforced if the judgment debtor has not had due notice of the proceedings; or has not been given a proper right to be heard; or there is a wider issue with the substantial justice; or a breach of Article 6 of the ECHR.“ Zum Verstoß gegen die public policy vgl. Dicey, Morris & Collins, The Conflict of Laws, Rn. 14-153–14-160; Fentiman, International Commercial Litigation, Rn. 18.54–18.69. 61 Fentiman, International Commercial Litigation, Rn. 18.12. 62 Dicey, Morris & Collins, The Conflict of Laws, Rn. 14-022. 63 Dicey, Morris & Collins, The Conflict of Laws, Rn. 14-030; Fentiman, International Commercial Litigation, Rn. 18.12. 64 Briggs, The Conflict of Laws, S. 148 f.; Dicey, Morris & Collins, The Conflict of Laws, Rn. 14-005 & Rn. 14-030.

A. Englisches Recht

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5. Zweigleisigkeit der Vollstreckung Das autonome englische Recht kennt zwei verschiedene, alternative Regime für die Vollstreckung von Auslandsentscheidungen. Einerseits kann eine ausländische Entscheidung nach dem spezielleren Gesetzesrecht (statutory law) vollstreckt werden, wenn Gegenseitigkeit vorliegt. Andererseits kann sie aber auch dann, wenn keine Gegenseitigkeit vorliegt, nach den Regeln des common law vollstreckt werden. a) Common law: Action on the foreign judgment Nach englischem Verständnis stellen ausländische Zahlungsurteile eine schuldrechtliche Verpflichtung zur Zahlung dar (doctrine of obligation). Sie werden daher prozessual wie Schulden eingeklagt.66 Soll ein ausländisches Urteil vollstreckt werden, so muss grundsätzlich Zahlungsklage erhoben werden, wobei das Auslandsurteil als Beweis für die Schuld dient (action on the foreign judgment).67 Diese Klage führt allerdings nicht zu einem Gerichtsprozess, der mit einem neuen Erkenntnisverfahren vergleichbar wäre.68 Denn zum einen findet ein verkürztes Verfahren Anwendung, das in der Regel zum raschen Erlass eines sogenannten summary judgment führt.69 Zum anderen ist eine révision au fond, also eine vollumfängliche Überprüfung der Richtigkeit der ausländischen Entscheidung, untersagt.70 Daher kommt die action on the foreign judgment zwar äußerlich im Kleid einer neue Klage daher, ist von ihrem Wesen aber durchaus mit einem Exequaturverfahren vergleichbar.

Clarkson & Hill’s Conflict of Laws, Rn. 3.7; Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, Rn. 2797; Rogerson, Collier’s Conflict of Laws, S. 236. 66 Vgl. hierzu Kapitel 3 – A.I.3 (S. 59 ff.). 67 Dicey, Morris & Collins, The Conflict of Laws, Rn. 14-011. 68 Martiny, Handbuch des internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 1261 und Rn. 1589. 69 Dicey, Morris & Collins, The Conflict of Laws, Rn. 14-011; Rogerson, Collier’s Conflict of Laws, S. 237. Das summary judgment wird ohne Hauptverhandlung erlassen – vgl. Schütze, Rechtsverfolgung im Ausland, Rn. 349. Nach Regel 24.2 CPR sind die Voraussetzungen für ein summary judgment: „The court may give summary judgment against a claimant or defendant on the whole of a claim or on a particular issue if— (a) it considers that— (i) that claimant has no real prospect of succeeding on the claim or issue; or (ii) that defendant has no real prospect of successfully defending the claim or issue; and (b) there is no other compelling reason why the case or issue should be disposed of at a trial.“ 70 Martiny, Handbuch des internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 1369; Dicey, Morris & Collins, The Conflict of Laws, Rn. 14R-118: „A foreign judgment which is final and conclusive on the merits and not impeachable […] is conclusive as to any matter thereby adjudicated upon, and cannot be impeached for any error either (1) of fact; or (2) of law.“ 65

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Kapitel 3 – Die Gegenseitigkeit im common law-Rechtskreis

b) Statutory law: Registration Einige Auslandsurteile können in England auf noch einfacherem Wege für vollstreckbar erklärt werden – nämlich allein durch Registrierung. Diese Möglichkeit eröffnen zwei Gesetze: Der Administration of Justice Act 1920 und der Foreign Judgments (Reciprocal Enforcement) Act 1933. Ersterer war für britische Herrschaftsgebiete (dominion) konzipiert und betrifft daher Länder des Commonwealth, während letzterer für Staaten gilt, mit denen das Vereinigte Königreich Anerkennungs- und Vollstreckungsabkommen geschlossen hat.71 Voraussetzung für eine Registrierung ist somit das Vorliegen von Reziprozität mit dem Urteilsstaat. Dabei begnügt sich der Administration of Justice Act 1920 jedoch mit einer administrativen Gegenseitigkeitsfeststellung, während der Foreign Judgments (Reciprocal Enforcement) Act 1933 eine staatsvertragliche Gegenseitigkeitsverbürgung voraussetzt.72 Nach beiden Gesetzen wird ein Auslandsurteil allein dadurch vollstreckbar, dass es beim High Court in London registriert wird, wobei dies innerhalb von 12 Monaten beziehungsweise 6 Jahren ab dem Urteilsspruch beantragt werden 71 Fentiman, International Commercial Litigation, Rn. 18.07. Zu den Staaten, mit denen eine staatsvertragliche Gegenseitigkeitsverbürgung besteht, zählt aufgrund des deutschbritischen Abkommens über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 14.7.1960 (BGBl. 1961 II, S. 302) auch die Bundesrepublik Deutschland. Während der Dauer der Zugehörigkeit des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Union war dieses Abkommen nicht anwendbar, da sich die Anerkennung und Vollstreckung zivilgerichtlicher Entscheidungen im deutschbritischen Verhältnis nach den europarechtlichen Bestimmungen richtete. Diese Sachlage änderte sich schlagartig, nachdem der Brexit vollzogen worden ist und auch die vereinbarte Übergangsphase, während derer die europäischen Regelungen im Verhältnis zum Vereinigten Königreich einstweilen fortgalten, am 31.12.2020 auslief. Allerdings ist umstritten, ob sich die Anerkennung und Vollstreckung von zivilgerichtlichen Entscheidungen im deutschbritischen Rechtsverkehr nunmehr tatsächlich wieder nach dem bilateralen Abkommen von 1960 richtet (vgl. hierzu Wagner, Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen nach dem Brexit, IPRax 2021, 2 (7)). Selbst wenn dieses Abkommen aufgrund des Brexits wiederaufgelebt sein sollte, so ist es jedenfalls kaum im Stande die Urteilsanerkennung im deutschbritischen Verhältnis dauerhaft zufriedenstellend zu regeln. Aufgrund seines Alters enthält dieses Vertragswerk diverse Schwachpunkte, die als Rückschritt empfunden werden müssen, wie beispielsweise die Regelung, dass nur Urteile von „oberen Gerichten“ – d.h. vom Landgericht aufwärts (Art. 5 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 2 lit. A) – anerkennungsfähig sind. 72 Sec. 14 (1) AJA: „Where His Majesty is satisfied that reciprocal provisions have been made by the legislature of any part of His Majesty’s dominions outside the United Kingdom for the enforcement within that part of His dominions of judgments obtained in the High Court in England, the Court of Sessions in Scotland, and the High Court in Northern Ireland, His Majesty may by Order in Council declare that this Part of this Act shall extend to that part of His dominions, and on any such Order being made this Part of this Act shall extend accordingly.“ Vgl. auch Juenger, The Recognition of Money Judgments in Civil and Commercial Matters, 36 Am. J. Comp. L. (1988), S. 1 (8).

A. Englisches Recht

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muss.73 Im Vergleich zur deutschen Vollstreckungsklage ist der Weg zur Vollstreckbarkeit also denkbar einfach: Allein eine Registrierung genügt. Bis auf das vereinfachte Verfahren unterscheidet sich die Vollstreckung nach dem statutory regime jedoch nicht wesentlich von der nach dem common law regime – insbesondere sind die materiellen Voraussetzungen weitgehend gleich.74 Die durch den AJA 1920 sowie den FJREA 1933 eingeführte Reziprozitätsvoraussetzung ist daher nicht mit Gegenseitigkeitserfordernissen vergleichbar, wie sie etwa das deutsche oder das österreichische Recht kennt.75 Denn die fehlende Gegenseitigkeit ist im englischen Recht gerade kein Versagungsgrund. Der Mangel an Gegenseitigkeit führt vielmehr lediglich dazu, dass die prozessual einfachere Registrierung nicht zur Verfügung steht. Der Urteilsgläubiger kann in diesem Fall immer noch nach den common law regime vollstrecken lassen, in dem er eine action on the foreign judgment erhebt. III. Zwischenergebnis Anders als es auf den ersten Blick scheint, spielt die Gegenseitigkeit mit dem Urteilsstaat im englischen Anerkennungsrecht nur eine marginale Rolle. Ihr Vorliegen oder Nichtvorliegen hat lediglich Einfluss darauf, wie eine Auslandsentscheidung vollstreckt wird – nicht aber, ob sie vollstreckt wird. Entsprechend macht das Standardwerk Dicey, Morris & Collins unmissverständlich deutlich, dass das englische Recht die mangelnde Gegenseitigkeit nie als Versagungsgrund kannte: „Reciprocity […] is used to describe the view, once espoused by the United States Supreme Court but which has been largely abandoned in the United States, that a judgment rendered by the court of a foreign country will not be enforced unless that country would enforce a comparable judgment of the requested court. That view of reciprocity forms part of the law of many civil law countries, but has never been the law in England.“76

73 Soll das Urteil in Schottland vollstreckt werden, so muss es gemäß sec. 12 (a) FJA beim Court of Sessions registriert werden. Soll eine Vollstreckung in Nordirland stattfinden, so ist die Entscheidung gemäß sec. 13 (a) FJA beim High Court in Northern Ireland zu registrieren. Die 12-Monats-Frist gilt für Urteile, die unter den Administration of Justice Act 1920 fallen (sec. 9 (1) AJA). Die 6-Jahres-Frist gilt für Urteile, die unter den Foreign Judgments (Reciprocal Enforcement) Act 1933 fallen (sec. 2 (1) FJA). 74 Fentiman, International Commercial Litigation, Rn. 18.07: „The grounds for recognition and enforcement, and the available defences, are in substance the same as those available at common law.“ Clarkson & Hill’s Conflict of Laws, Rn. 3.6: „The Foreign Judgments (Reciprocal Enforcement) Act 1933 […] is a virtual codification of the common law […].“ 75 Juenger, The Recognition of Money Judgments in Civil and Commercial Matters, 36 Am. J. Comp. L. (1988), S. 1 (8); Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 1367–1368. 76 Dicey, Morris & Collins, The Conflict of Laws, Rn. 14-087.

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Kapitel 3 – Die Gegenseitigkeit im common law-Rechtskreis

Wie wir gesehen haben, ließ sich das englische Recht bei der Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen vielmehr von völlig anderen Ideen und Konzepten leiten: Zunächst von einer naturrechtlich-völkerrechtlichen Anerkennungspflicht aus dem ius gentium, sodann vom Grundsatz des internationalen Entgegenkommens (comitas) und schließlich von der privat- und subjektivrechtlichen doctrine of obligation. In der doctrine of obligation manifestiert sich dabei die Liberalität des common law gegenüber ausländischen Urteilen: Diese Theorie legt ihren Fokus nämlich allein auf die Rechtspositionen der Urteilsparteien und schenkt staatlichen Interessen keinerlei Beachtung. Ihre konsequente Ausrichtung auf Individualrechte verleiht der zu Zeiten des kontinentaleuropäischen Souveränitätsrausches als antiquiert geltenden doctrine of obligation paradoxerweise ein modernes Antlitz.

B. US-amerikanisches Recht

B. US-amerikanisches Recht

Das Recht der Vereinigten Staaten von Amerika hat seine Wurzeln im englischen common law, doch entwickelt es sich seit der Erlangung der Unabhängigkeit eigenständig weiter.77 Seine Fortentwicklung wird dabei durch zwei Charakteristika geprägt, die das englische Recht nicht kennt: Durch ein föderales Rechtssystem sowie eine geschriebene Verfassung. Das amerikanische Privat- und Prozessrecht ist daher in aller Regel einzelstaatliches Recht, auf das die US-Bundesverfassung großen Einfluss ausübt.78 Wie wir noch sehen werden, steht auch die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen im Spannungsfeld zwischen common law-Erbe und eigenständiger Fortentwicklung.79

77 Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 233–235. Für die Rezeption des common law auf dem Gebiet der USA vgl. Schwartz, The Law in America, S. 8–15. Doch trotz seiner Eigenständigkeit wurde das amerikanische Recht auch nach Erlangung der Unabhängigkeit von der Rechtsentwicklung in England beeinflusst. Walsh, A History of Anglo-American Law, S. 97: „The cases which attempt to limit the common law to decisions of any particular period get nowhere, and it is perfectly clear that the courts of all states actually look to later English cases and decisions of other states in determining the rule which is to govern in any particular case. In reality the common law of each state rests on the English common law as a foundation from which has been built up a system of common law for each state similar in most respects to the present English law and the law of the other states, but differing in many details, each having a separate existence, though developed in the same way and subject to the same general principles as the present common law in England.“ 78 Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 233 f. 79 Juenger, The Recognition of Money Judgments in Civil and Commercial Matters, 36 Am. J. Comp. L. (1988), S. 1 (10).

B. US-amerikanisches Recht

I.

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Ausgangspunkt: Comity-Doktrin des englischen Rechts

Als sich die Wege des englischen und amerikanischen Rechts schieden, war die comitas gentium der Grund für die Vollstreckung fremder Richtersprüche. Amerikanische Gerichte übernahmen diese englische Doktrin und behielten sie selbst dann bei, als sie in England von der doctrine of obligation abgelöst wurde.80 Inhaltlich verzeichnete die comity jedoch eine deutliche Bedeutungsverschiebung, in der sich der Paradigmenwechsel vom natur- und vernunftrechtlichen Denken hin zum Rechtspositivismus widerspiegelte. Zwar verfielen die amerikanischen Juristen im Zuge dieses Anschauungswandels nicht in gleicher Weise einem „Souveränitätsrausch“ wie ihre kontinentaleuropäischen Kollegen. Doch ganz unbeeinflusst blieben sie von der positivrechtlichen Wende nicht, wie die Entwicklung der comity-Doktrin zeigt.81 Denn während die comity in naturrechtlich geprägten Zeiten als verbindliches Handlungsgebot aufgefasst wurde – man denke nur an Lord Mansfields „ex comitate et jure gentium“ – sank ihre Verbindlichkeit in der Folgezeit. Durch den Einfluss positivistischer Überzeugungen wurde die comity mehr und mehr als „goldene Regel“ begriffen: Man sollte demnach ausländische Urteile vollstrecken, weil man im umgekehrten Fall das Gleiche von ausländischen Stellen erwartete.82 Diese Art von comity war eine aus Eigeninteresse entspringende Empfehlung: Man könne nur dann Gerechtigkeit von anderen Staaten erwarten, so Joseph Story, wenn man ihnen Gerechtigkeit zukommen lasse.83 II. Fortentwicklung zu einem Gegenseitigkeitserfordernis (Hilton v Guyot) Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte der Supreme Court in Hilton v Guyot (1895) die comity dann zu einem veritablen Gegenseitigkeitserforder80 Dornis, Comity, S. 382 (386): „US law has never expatriated comity from conflict of laws.“ Zeynalova, The Law on Recognition and Enforcement of Foreign Judgments, 31 Berkeley J. Int’l Law (2013), S. 150 (154 f.): „However, the principle of Comity of Nations has produced a pro-recognition attitude in U.S. courts that has carried over to foreigncountry judgments even in the absence of any bilateral or multilateral treaties.“ Zur comityDoktrin im englischen Recht vgl. oben Kapitel 3 – A.I.2 (S. 57 f.). 81 Vgl. Fn. 19 (S. 12) und Kapitel 3 – A.I.2 (S. 57 f.). 82 Lagarde spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die comitas-Lehre den Gegenseitigkeitsgedanken positiv gebrauchte, während Gegenseitigkeitserfordernisse ihn negativ benutzen. Die Gegenseitigkeitsidee sei bei der comitas-Lehre eher im Sinne der goldenen Regel zu verstehen, während Gegenseitigkeitserfordernisse eine unmittelbare Gegenseitigkeitsbeziehung fordern und den Gedanken der Vergeltung enthalten. Lagarde, La réciprocité en droit international privé, Recueil des Cours 154 (1977), S. 116–117. 83 Story, Commentaries on the conflict of laws, § 35: „The true foundation, on which the administration of international law must rest, is, that the rules, which are to govern, are those, which arise from mutual interest and utility, from a sense of the inconveniences, which would result from a contrary doctrine, and from a sort of moral necessity to do justice, in order that justice may be done to us in return.“

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Kapitel 3 – Die Gegenseitigkeit im common law-Rechtskreis

nis fort. Diese Rechtssache betraf die Frage, ob ein französisches Urteil vollstreckt werden sollte. Da die französischen Gerichte zu dieser Zeit noch die révision au fond praktizierten, wäre ein amerikanisches Urteil in Frankreich nicht vollstreckt worden.84 Der Supreme Court siedelte die comity zunächst in seiner berühmt gewordenen Definition zwischen strikter Rechtspflicht und bloßer Höflichkeit an. Sodann folgerte er aus ihr, dass das französische Urteil nicht vollstreckt werden dürfe, da aus Frankreich kein Entgegenkommen zu erwarten sei.85 „In holding such a judgment, for want of reciprocity, not to be conclusive evidence of the merits of the claim, we do not proceed upon any theory of retaliation upon one person by reason of injustice done to another; but upon the broad ground that international law is founded upon mutuality and reciprocity, and that by the principles of international law recognized in most civilized nations, and by the comity of our own country, which it is our judicial duty to know and to declare, the judgment is not entitled to be considered conclusive.“86

Hilton v Guyot tat damit den letzten Schritt, um aus der comity ein Gegenseitigkeitserfordernis herzuleiten.87 Dadurch hatte die comity-Doktrin einen fast völligen Bedeutungswandel durchlaufen: Von einem Vollstreckungsgebot über eine gut gemeinte Vollstreckungsempfehlung bis hin zu einem zwingenden Versagungsgrund. Das ursprünglich internationalistische Verständnis der comitas gentium wurde somit ersetzt durch eines, das an den Interessen des eigenen Staates ausgerichtet war.88 Dieses richterrechtlich geschaffene Gegenseitigkeitserfordernis war bereits zur Zeit der Entscheidungsfindung sehr umstritten. Der Supreme Court selbst war in dieser Frage tief gespalten, wie die äußerst knappe Mehrheit von 5:4 Stimmen zeigt.89 Nach Auffassung der Minderheitsmeinung handelte es sich bei der Vollstreckung von AuslandsurHilton v Guyot (1895), 159 U.S. 113 (215–217). Zur Entwicklung des französischen Anerkennungsrechts vgl. Kapitel 4 – B.I (S. 90 f.). 85 Hilton v Guyot (1895), 159 U.S. 113 (163–164): „’Comity’, in the legal sense, is neither a matter of absolute obligation, on the one hand, nor of mere courtesy and good will, upon the other. But it is the recognition which one nation allows within its territory to the legislative, executive, or judicial acts of another nation, having due regard both to international duty and convenience, and to the rights of its own citizens or of other persons who are under the protection of its laws.“ Smit spricht dieser Definition jeglichen Nutzen für die Rechtsanwendung ab: „The description given leaves hidden in obscure abstractions the reasons for which recognition may be given. It says in fact only that recognition will be given when it will be given.“ Smit, International Res Judicata and Collateral Estoppel in the United States, 9 UCLA L. Rev. (1962), S. 44 (54). 86 Hilton v Guyot (1895), 159 U.S. 113 (228). 87 Juenger, The Recognition of Money Judgments in Civil and Commercial Matters, 36 Am. J. Comp. L. (1988), S. 1 (8); Tiburcio, The Current Practice of International Cooperation in Civil Matters, Recueil des Cours 393 (2017), S. 9 (110): „Although in this case comity and reciprocity were equated, the assimilation is not widely accepted.“ 88 Dornis, Comity, S. 382 (387 f.). 89 Hilton v Guyot (1895), 159 U.S. 113 (229–235). 84

B. US-amerikanisches Recht

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teilen nämlich in erster Linie um die Durchsetzung von privaten Rechten, weshalb es die dissenting opinion ablehnte, Gegenseitigkeit mit dem Urteilsstaat zu fordern: „I cannot yield my assent to the proposition that because […] in France that effect is not there given to judgments recovered in this country […], therefore we should pursue the same line of conduct as respects the judgments of French tribunals. The application of the doctrine of res judicata does not rest in discretion; and it is for the government, and not for its courts, to adopt the principle of retorsion, if deemed under any circumstances desirable or necessary.“90

Die Mehrheitsmeinung hingegen sah die Vollstreckung von Auslandsurteilen als eine Frage der zwischenstaatlichen Beziehungen an, so dass sie Gegenseitigkeit verlangte.91 Allerdings stellte sie in einem obiter dictum klar, dass das Gegenseitigkeitserfordernis nicht für alle Urteilsarten galt.92 III. Föderalisierung des Anerkennungsrechts (Erie Railroad v Tompkins) Doch auch dieses begrenzte Gegenseitigkeitserfordernis währte nicht lange. Bereits Mitte der zwanziger Jahre ignorierte der New Yorker Court of Appeals die Vorgaben des Supreme Court aus Hilton v Guyot. Die New Yorker Richter vollstreckten in Johnston v Compagnie Générale Transatlantique (1926) nämlich ein französisches Urteil, obwohl die französischen Gerichte weiterhin die révision au fond praktizierten.93 Das Gegenseitigkeitserfordernis aus Hilton v Guyot wirkte dadurch in dem damals wirtschaftlich wichtigsten Bundesstaat nicht mehr. Endgültig jegliche Bedeutung verlor das HiltonGegenseitigkeitserfordernis dann mit dem Urteil des Supreme Court in Erie Railroad v Tompkins (1938). In diesem Fall entschied das Oberste Gericht der USA unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung, dass es kein unge-

Hilton v Guyot (1895), 159 U.S. 113 (234). Hilton v Guyot (1895), 159 U.S. 113 (228); American Law Institute, Recognition and Enforcement of Foreign Judgments – Analysis and Proposed Federal Statute, S. 99. 92 Das Gegenseitigkeitserfordernis aus Hilton v Guyot fand keine Anwendung auf Entscheidungen über den persönlichen Status, Urteile mit dinglicher Wirkung (in rem) sowie solche zwischen zwei Staatsangehörigen des Urteilsstaates. Hilton v Guyot (1895), 159 U.S. 113 (167–171); Smit, International Res Judicata and Collateral Estoppel in the United States, 9 UCLA L. Rev. (1962), S. 44 (49): „[…] limited rule of reciprocity […].“ Zum Unterschied zwischen in personam-Urteilen und in rem-Urteilen vgl. Fn. 55 (S. 63). 93 Zur Begründung führte der New Yorker Court of Appeals an, dass es bei der Vollstreckung von Auslandsurteilen nicht um die Beziehungen zwischen Urteilsstaat und Anerkennungsstaat gehe, sondern um die Durchsetzung privater Rechte. Daher hielt er die zwischenstaatlichen Gegenseitigkeitserwägungen aus Hilton v Guyot für irrelevant: „But the question is one of private rather than public international law, of private rights rather than public relations, and our courts will recognize private rights acquired under foreign laws […].“ Johnston v Compagnie Générale Transatlantique (1926), 242 N.Y. 381 (387). 90 91

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Kapitel 3 – Die Gegenseitigkeit im common law-Rechtskreis

schriebenes, bundesstaatliches Zivilrecht (federal common law) gebe.94 Die Erie-Entscheidung hatte zur Folge, dass auch die Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen sich nicht mehr nach Bundesrecht richtete.95 Seitdem ist unzweifelhaft klar, dass sie sich mangels Bundesgesetzgebung nach dem Recht der Einzelstaaten (state law) bestimmt.96 Das Recht der Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsentscheidungen muss folglich für jeden Einzelstaat gesondert ermittelt werden.97 IV. Gegenseitigkeitserfordernisse in den einzelnen US-Staaten Die einzelstaatlichen Rechte kann man zunächst danach unterscheiden, ob sie kodifiziert oder unkodifiziert sind. Die Mehrheit der Bundessstaaten hat die Anerkennungs- und Vollstreckungsvoraussetzungen durch Gesetz geregelt, während eine Minderheit von 17 Staaten keine gesetzliche Regelung getroffen hat.98 Die US-Staaten, die diese Rechtsmaterie gesetzlich ausgestaltet haben, haben sich in aller Regel an Modellgesetzen (uniform laws) orientiert. Durch Modellgesetzgebung wird trotz einzelstaatlicher Kompetenz eine möglichst große Harmonisierung der gesetzlichen Vorgaben angestrebt.99 Für die 94 Erie Railroad Co. v Tompkins (1938), 304 U.S. 64 (78): „Except in matters governed by the Federal Constitution or by Acts of Congress, the law to be applied in any case is the law of the State. And whether the law of the State shall be declared by its Legislature in a statute or by its highest court in a decision is not a matter of federal concern. There is no federal general common law.“ 95 Nur wenn es in der Sache einzig und allein um Bundesrecht geht (federal subject matter jurisdiction) kann das Bundesrecht Anerkennungs- und Vollstreckungsvoraussetzungen aufstellen. Im Übrigen müssen auch Bundesgerichte (federal courts) einzelstaatliches Recht anwenden, wenn sie über die Anerkennung und Vollstreckung von Zivilurteilen entscheiden – etwa in sogenannten „diversity cases“. Brand, Federal Judicial Center International Litigation Guide: Recognition and Enforcement of Foreign Judgments, 74 U. Pitt. L. Rev. (2013), S. 491 (497–499); Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 1515. 96 Dies gilt, solange der Bund nicht gesetzgeberisch tätig geworden ist. American Law Institute, Restatement of the Law (Third) – The Foreign Relations Law of the United States, Bd. 1, S. 594: „Since Erie v. Tompkins […] it has been accepted that in the absence of a federal statute or treaty or some other basis for federal jurisdiction, such as admiralty, recognition and enforcement of foreign country judgments is a matter of State law […].“ 97 Zeynalova, The Law on Recognition and Enforcement of Foreign Judgments, 31 Berkeley J. Int’l Law (2013), S. 150 (193): „Indeed, for foreign litigants, the prospect of navigating the laws of fifty different jurisdictions seems a daunting task […].“ 98 Rechtslage aus dem Jahre 2013. Brand, Federal Judicial Center International Litigation Guide: Recognition and Enforcement of Foreign Judgments, 74 U. Pitt. L. Rev. (2013), S. 491 (494–495). 99 Dadurch soll Divergenzen in der Rechtsentwicklung entgegenwirkt werden. Die uniform laws weisen dabei jedoch keine Gesetzeskraft auf – sie sind letztlich nur Empfehlungen für die einzelstaatliche Gesetzgebung. Jedem Bundesstaat bleibt es daher selbstverständlich freigestellt, ob er von den in einem Modellgesetz vorgeschlagenen Regelungen

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Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen bestehen zwei Modellgesetze: Der Uniform Foreign Money Judgments Recognition Act 1962 sowie der Uniform Foreign-Country Money Judgments Recognition Act 2005. Die meisten Staaten, die das Modellgesetz von 1962 übernommen hatten, haben ihre Rechtslage mittlerweile an das Modellgesetz von 2005 angepasst.100 In den Bundesstaaten, in denen die Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen nicht durch Gesetz geregelt ist, richtet sie sich nach dem ungeschriebenen common law. Dabei hat es sich in den USA eingebürgert, diese richterrechtlichen Regeln der besseren Zugänglichkeit und Übersichtlichkeit halber in sogenannten Restatements of the Law zusammenzufassen. Die Restatements für ein bestimmtes Rechtsgebiet ähneln durch ihren regelhaften Aufbau zwar einem Gesetzeswerk, binden die Gerichte aber nicht.101 Die Regeln des common law für die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen sind im Restatement (Third) of Foreign Relations Law aus dem Jahre 1986 dargestellt.102 Weder die beiden Modellgesetze noch das Restatement sehen für die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile ein Gegenseitigkeitserfordernis vor.103 Dies lässt vermuten, dass die Reziprozität mit dem Urteilspunktuell abweicht. Zur Rechtsharmonisierung durch Restatements und uniform laws siehe v. Mehren / Murray, Law in the United States, S. 39 f. 100 Zu diesen Staaten zählen California, Colorado, Delaware, Georgia, Hawaii, Idaho, Illinois, Iowa, Massachusetts, Michigan, Minnesota, Montana, Nevada, New Mexico, North Carolina, North Dakota, Oklahoma, Oregon, Texas, Virginia sowie Washington. Die neun US-Staaten Alaska, Connecticut, Florida, Maine, Maryland, Missouri, New York, Ohio und Pennsylvania halten bisher am Modellgesetz von 1962 fest. Vier Bundesstaaten, deren Anerkennungsrecht bisher unkodifiziert war, übernahmen kürzlich das neue Modellgesetz vom 2005: Alabama (2012), Arizona (2015), Indiana (2011) und Tennessee (2019). Zum aktuellen Stand der Umsetzung in den einzelnen US-Staaten siehe , zuletzt abgerufen am 6.4.2023. 101 v. Mehren / Murray, Law in the United States, S. 20: „There is one route over which the style of thought and presentation embodied in civil law codes has achieved a significant degree of acceptance by American jurists. The American federal system, with its diversity of private law, has given impetus to what can be considered an unofficial form of codification, the Restatements of the Law sponsored by the American Law Institute (ALI). Restatements have only persuasive authority but they importantly influence the administration of justice.“ 102 Brand, Federal Judicial Center International Litigation Guide: Recognition and Enforcement of Foreign Judgments, 74 U. Pitt. L. Rev. (2013), S. 491 (500 f.). 103 American Law Institute, Restatement of the Law (Third) – The Foreign Relations Law of the United States, Bd. 1, S. 596: „A judgment otherwise entitled to recognition will not be denied recognition or enforcement because courts in the rendering state might not enforce a judgment of a court in the United States if the circumstances were reversed. Hilton v. Guyot […] declared a limited reciprocity requirement applicable when the judgment creditor is a national of the state in which the judgment was rendered and the judg-

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staat in den meisten US-Bundesstaaten keine Rolle spielt. Und in der Tat: Lediglich in acht Staaten weist die Gegenseitigkeit mit dem Urteilsstaat überhaupt Relevanz auf. Sechs dieser Staaten – Florida, Idaho, Maine, North Carolina, Ohio und Texas – sehen die fehlende Gegenseitigkeit zwar als möglichen, aber nicht als zwingenden Versagungsgrund vor. Nur zwei Staaten – Georgia und Massachusetts – haben ein zwingendes Gegenseitigkeitserfordernis.104 Man kann daher konstatieren, dass die Gegenseitigkeit in den USA ein Schattendasein fristet.105 V. Gesetzesentwurf des American Law Institute: Neuer Trend hin zur Gegenseitigkeit? Obwohl das Gegenseitigkeitsprinzip in den einzelstaatlichen Rechtsordnungen kaum eine Rolle spielt, lässt sich zumindest in der öffentlich geführten Debatte eine gegenläufige Tendenz beobachten.106 Amerikanische Juristen sehen die liberale Anerkennungs- und Vollstreckungspraxis der US-Staaten zunehmend kritisch, da ihrer Wahrnehmung nach das Ausland amerikanische Gerichtsentscheidungen nicht genauso großzügig behandelt, wie es die USA mit Auslandsurteilen tun. Während aus amerikanischer Sicht das eigene Anerkennungsrecht das liberalste der Welt ist, haben es amerikanische Urteile im Ausland oft schwer.107 Und in der Tat gibt es speziell in Deutschland viele ment debtor is a national of the United States. Though that holding has not been formally overruled, it is no longer followed in the great majority of State and federal courts in the United States.“ Brand, Federal Judicial Center International Litigation Guide: Recognition and Enforcement of Foreign Judgments, 74 U. Pitt. L. Rev. (2013), S. 491 (507). 104 Stand aus dem Jahre 2013. Brand, Federal Judicial Center International Litigation Guide: Recognition and Enforcement of Foreign Judgments, 74 U. Pitt. L. Rev. (2013), S. 491 (507). 105 American Law Institute, Restatement of the Law (Third) – The Foreign Relations Law of the United States, Bd. 1, S. 598: „Notwithstanding that decision [Hilton v Guyot], the great majority of courts in the United States have rejected the requirement of reciprocity, both in construing the Foreign Money Judgments Recognition Act […] and apart from the act.“ Tiburcio, The Current Practice of International Co-operation in Civil Matters, Recueil des Cours 393 (2017), S. 9 (110): „Little by little, the requirement of reciprocity has withered in American case-law.“ 106 Coyle, Rethinking Judgments Reciprocity, 92 N.C. L. Rev. (2014), S. 1109 (1109– 1113). 107 American Law Institute, Restatement of the Law (Third) – The Foreign Relations Law of the United States, Bd. 1, S. 592: „It appears that the country most receptive to recognition of foreign judgments is the United States, in which the principles and practices engendered by the Full Faith and Credit clause in the United States Constitution in respect of sister-State judgments have to a large extent been carried over to recognition and enforcement of judgments of foreign states.“ Zeynalova, The Law on Recognition and Enforcement of Foreign Judgments, 31 Berkeley J. Int’l Law (2013), S. 150 (162 f.): „The literature discussing recognition and enforcement of foreign judgments is replete with

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Vorbehalte gegenüber amerikanischen Entscheidungen – man denke nur an die berüchtigten US-Sammelklagen und an Urteile, die millionenschweren Strafschadensersatz (punitive damages) zusprechen.108 Vor diesem Hintergrund gewann in den USA seit einiger Zeit die Überlegung, dass das Ausland durch ein Gegenseitigkeitserfordernis zu kooperativem Verhalten veranlasst werden könne, wieder stärkere Anziehungskraft. Das fand seinen Niederschlag im Entwurf des American Law Institute aus dem Jahre 2005 für ein Bundesgesetz zur Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Zivilurteile (The Foreign Judgments Recognition and Enforcement Act), der in seinem § 7 ein Gegenseitigkeitserfordernis vorsah. Erklärtes Ziel dieser Reziprozitätsvoraussetzung ist dabei eine Liberalisierung der gegenseitigen Anerkennung und Vollstreckung mit dem Ausland: „Thus, the rationale behind this section is that the interest of the United States extends to having its judgments recognized and enforced in foreign courts, as well as to recognizing and enforcing judgments of foreign courts. The expectation is that the incentives created by a reciprocity provision, coupled with an initiative by the State Department to secure commitments pursuant to subsection (e), would lead generally to more liberal enforcement of judgments internationally, now that the proposed Hague Convention on Jurisdiction and Foreign Judgments in Civil and Commercial Matters has been abandoned for the foreseeable future.“109

Aufgrund dieser Zielsetzung wurde das Gegenseitigkeitserfordernis vorsichtig ausgestaltet, um nicht kontraproduktiv zu wirken. Gegenüber dem deutschen § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO stellt es sich in vielfacher Hinsicht milder dar. observations of the contrast between the U.S. courts’ generally liberal approach to their recognition and enforcement, and the seemingly reverse approach taken by foreign courts reviewing U.S.-made judgments.“ 108 Dabei wird eine ganze Reihe von Eigenheiten des US-amerikanischen Zivilprozessrechts als problematisch angesehen. So werden etwa die von US-Gerichten für sich in Anspruch genommenen Zuständigkeiten häufig als exorbitant empfunden. Ein weiterer Kritikpunkt ist das Beweisrecht. Durch die sogenannte pre-trial discovery kann ein Beklagter nämlich gezwungen werden, abertausende von internen Dokumenten vorzulegen, um dem Kläger die Beweisführung zu erleichtern. Das wird oft als unverhältnismäßig oder gar als schikanös angesehen. Michaels, Two Paradigms of Jurisdiction, 27 Mich. J. Int’l L. (2006), S. 1003 (1006): „Europeans are said to fear U.S. courts like medieval torture chambers; they regularly regard assertions of jurisdiction by U.S. courts as acts of judicial hegemonialism.“ Zu den immer wieder aufflammenden, amerikanisch-europäischen Justizkonflikten vgl. etwa Schack, Ein unnötiger transatlantischer Justizkonflikt – die internationale Zustellung und das Bundesverfassungsgericht, AG 2006, S. 823–832, sowie Böhmer, Spannungen im deutsch-amerikanischen Rechtsverkehr in Zivilsachen, NJW 1990, S. 3049–3054. Zu der pre-trial discovery im internationalen Kontext siehe v. Mehren /  Murray, Law in the United States, S. 246–248. Zu den umstrittenen Schadensersatzklagen nach dem Alien Tort Claims Act vgl. Kapitel 5 – B.III (S. 111 ff.). 109 American Law Institute, Recognition and Enforcement of Foreign Judgments: Analysis and Proposed Federal Statute, S. 98.

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Kapitel 3 – Die Gegenseitigkeit im common law-Rechtskreis

So wird zum einen das Vorliegen von Gegenseitigkeit vermutet. Zum anderen wird die Gegenseitigkeit nicht von Amts wegen geprüft, sondern nur auf Einrede des Urteilsschuldners. Schließlich stellt der Entwurf klar, dass allein die Nichtvollstreckung von amerikanischem Strafschadensersatz nicht dazu führt, dass die Gegenseitigkeit zu verneinen wäre.110

110 Dieser Normentwurf lautet wie folgt: „§7. Reciprocal Recognition and Enforcement of Foreign Judgments (a) A foreign judgment shall not be recognized or enforced in a court of the United States if the court finds that comparable judgments of courts in the United States would not be recognized or enforced in the courts of the state of origin. (b) A judgment debtor or other person resisting recognition or enforcement of a foreign judgment in accordance with this section shall raise the defense of lack of reciprocity with specificity as an affirmative defense. The party resisting recognition or enforcement shall have the burden to show that there is substantial doubt that the courts of the state of origin would grant recognition or enforcement to comparable judgments of courts in the United States. Such showing may be made through expert testimony, or by judicial notice if the law of the state of origin or decisions of its courts are clear. (c) In making the determination required under subsections (a) and (b), the court shall, as appropriate, inquire whether the courts of the state of origin deny enforcement to (i) judgments against nationals of that state in favor of nationals of another state; (ii) judgments originating in the courts of the United States or of a state of the United States; (iii) judgments for compensatory damages rendered in actions for personal injury or death; (iv) judgments for statutory claims; (v) particular types of judgments rendered by courts in the United States similar to the foreign judgment for which recognition is sought; The court may also take into account other aspects of the recognition practice of courts of the state of origin, including practice with regard to judgments of other states. (d) Denial by courts of the state of origin of enforcement of judgments for punitive, exemplary, or multiple damages shall not be regarded as denial of reciprocal enforcement of judgments for the purposes of this section if the courts of the state of origin would enforce the compensatory portion of such judgments. Courts in the United States may enforce a foreign judgment for punitive, exemplary, or multiple damages on the basis of reciprocity. (e) The Secretary of State is authorized to negotiate agreements with foreign states or groups of states setting forth reciprocal practices concerning recognition and enforcement of judgments rendered in the United States. The existence of such an agreement between a foreign state or a group of foreign states and the Unites States establishes that the requirement of reciprocity has been met as to judgments covered by the agreement. The fact that no such agreement between the state of origin and the United States is in effect, or that the agreement is not applicable with respect to the judgment for which recognition or enforcement is sought, does not of itself establish that the state fails to meet the reciprocity requirement of this section.“ Vgl. American Law Institute, Recognition and Enforcement of Foreign Judgments: Analysis and Proposed Federal Statute, S. 92–94.

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Die Idee der Gegenseitigkeit erlebt damit eine kleine, wenn auch umstrittene Renaissance, die bisher allerdings folgenlos geblieben ist.111 Denn nach wie vor gibt es keine Bundesgesetzgebung zur Anerkennung und Vollstreckung von ausländischen Zivilurteilen. Die begrenzte Überzeugungskraft des Gegenseitigkeitserfordernisses im Gesetzesentwurf des American Law Institute mag auch darauf zurückzuführen sein, dass es während der Entwurfsarbeiten heftig umstritten war. Keine andere Frage spaltete die Mitglieder des American Law Institute so sehr, wie die Forderung nach Gegenseitigkeit.112 Jedenfalls hat dieser Entwurf keine grundlegende Trendwende eingeleitet, denn selbst 15 Jahre nach seiner Veröffentlichung hat er bisher die Gesetzgebung nicht beeinflusst. VI. Zwischenergebnis Der aus dem englischen Anerkennungsrecht übernommene comity-Gedanke wurde durch den Supreme Court in Hilton v Guyot zu einem Gegenseitigkeitserfordernis fortentwickelt. Das entspricht allerdings längst nicht mehr der geltenden Rechtslage, da die Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen sich nunmehr nach einzelstaatlichem Recht richtet. Die große Mehrheit der US-Bundesstaaten verlangt dabei keine Gegenseitigkeit mit dem Urteilsstaat. Aktuell ist der Mangel an Gegenseitigkeit daher nur in sechs Staaten ein fakultatives und lediglich in zwei Staaten ein zwingendes Anerkennungshindernis. Daran vermochte auch der Entwurf des American Law Institute für ein zukünftiges Bundesgesetz, der ein Gegenseitigkeitserfordernis vorsieht, nichts zu ändern.

111 Elbalti, Reciprocity and the recognition and enforcement of foreign judgments: a lot of bark but not much bite, JPIL 2017, S. 184 (190). Ho, Policies Underlying the Enforcement of Foreign Commercial Judgments, 46 ICQL (1997), S. 443 (455): „The United States, which has a very liberal law on the recognition and enforcement of foreign judgments, is showing clear signs of frustration that other States have not reciprocated in equal measure.“ 112 American Law Institute, Recognition and Enforcement of Foreign Judgments: Analysis and Proposed Federal Statute, Foreword, S. xiii-xvi. Zeynalova, The Law on Recognition and Enforcement of Foreign Judgments, 31 Berkeley J. Int’l Law (2013), S. 150 (202 f.): „One especially poignant argument against including reciprocity in the proposed federal statute is that it would be a step backwards from the current trend against reciprocity within the state laws and Restatements.“

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Kapitel 3 – Die Gegenseitigkeit im common law-Rechtskreis

C. Kanadisches Recht

I.

C. Kanadisches Recht

Ausgangslage

Als britische Kolonie und dominion war Kanada der englischen Mutterrechtsordnung lange Zeit eng verbunden.113 Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs emanzipierte es sich dadurch, dass die Berufung zum Privy Council in London abgeschafft wurde. Damit endete im Jahre 1949 die letzte formelle Anbindung an die englische Zivilrechtsordnung.114 Im Zuge der großen Verfassungsreform des Jahres 1982 wurden schließlich die letzten Prärogativen des britischen Parlaments im Hinblick auf Kanada beseitigt.115 Stattdessen wurde eine eigene kanadische Verfassung samt Grundrechtekatalog (Canadian Charter of Rights and Freedoms) verabschiedet. Seitdem ist eine Konstitutionalisierung der kanadischen Rechtsordnung zu beobachten.116 Diese Konstitutionalisierungstendenz zeigte sich auch im kanadischen Anerkennungsrecht, das dadurch auf eine völlig neue Grundlage gestellt worden ist. Ursprünglich vollstreckte Kanada ausländische Entscheidungen nämlich nach den Grundsätzen des englischen common law.117 Auslandsurteile waren demnach vollstreckbar, wenn sie auf Zahlung eines bestimmten Geldbetrages lauteten, wenn das ausländische Gericht nach den common law-Regeln international zuständig gewesen ist und wenn keine Versagungsgründe vorlagen.118 Urteile aus anderen kanadischen Bundesstaaten wurden dabei wie

Eine Ausnahme bildet freilich die Provinz Québec, die in der Tradition des französischen Rechts steht. Gall, The Canadian Legal System, S. 51 f. und S. 209–229. Québec hat auch eigene, kodifizierte Regelungen zur Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen. Diese finden sich in den Artikeln 3155–3168 des Code civil du Québec von 1991 wieder. Die Anerkennung von Auslandsurteilen wird dort nicht von der Gegenseitigkeit mit dem Urteilsstaat abhängig gemacht. Ein Ausnahme bilden Entscheidungen über steuerrechtliche Verpflichtungen (obligations découlant des lois fiscales d’un État étranger), die nach Art. 3155 Abs. 6 CCQ grundsätzlich nicht anerkannt werden. Eine Ausnahme besteht aber nach Art. 3162 CCQ im Falle von Gegenseitigkeit: „L’autorité du Québec reconnaît et sanctionne les obligations découlant des lois fiscales d’un État qui reconnaît et sanctionne les obligations découlant des lois fiscales du Québec.“ 114 Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 219 f. 115 Handschug, Einführung in das kanadische Recht, S. 22 f. 116 Blom, Constitutionalizing Canadian private international law, 13 JPIL (2017), S. 259 (259–265). 117 Kutner, Recognition and Enforcement of Foreign Judgments – The Common Law’s Jurisdiction Requirement, RabelsZ 83 (2019), S. 1 (66). 118 American Law Institute, Restatement of the Law (Third) – The Foreign Relations Law of the United States, Vol. 1, p. 602: „Except in Quebec, the law on recognition and enforcement of judgments generally follows British law.“ Castel, Recognition and Enforcement of Foreign Judgments in Personam and in Rem in the Common Law Provinces of Canada, 17 McGill LJ (1971), S. 11 (21 und 30–46). 113

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Auslandsurteile behandelt.119 Der Fall Morguard Investment Ltd v De Savoye (1990) änderte dies grundlegend.120 II. Etablierung einer innerkanadischen Anerkennungs- und Vollstreckungspflicht (Morguard Investment Ltd v De Savoye) Morguard Investment Ltd v De Savoye (1990) betraf die Frage, ob British Columbia die Vollstreckung eines Versäumnisurteils aus Alberta unter Verweis auf die common law-Grundsätze zur internationalen Zuständigkeit verweigern durfte.121 British Columbia berief sich nämlich darauf, dass der Bundesstaat Alberta mangels Anwesenheit und mangels freiwilliger Unterwerfung des Beklagten unzuständig gewesen sei. Der Supreme Court nahm diesen Fall zum Anlass, um eine grundsätzliche Anerkennungs- und Vollstreckungspflicht zwischen den kanadischen Provinzen und Territorien zu etablieren, die auch nicht mit Verweis auf die internationale Unzuständigkeit nach den alten common law-Regeln untergraben werden dürfe. Diese Anerkennungspflicht leitete der Supreme Court dabei sowohl aus der comity-Doktrin ab als auch aus dem kanadischen Föderalismus.122 In einem ersten Schritt erklärte das Oberste Gericht, dass ein gewandeltes Verständnis der comity für die grundsätzliche Anerkennung und Vollstreckung von fremden Gerichtsentscheidungen streite: „But comity is based not simply on respect for a foreign sovereign, but on convenience and even necessity. Modern times require that the flow of wealth, skills and people across boundaries be facilitated in a fair and orderly manner […] The content of comity therefore must be adjusted in the light of a changing world order.“123

Sodann sah der Supreme Court die alten common law-Regeln, insbesondere für die Kontrolle der internationalen Zuständigkeit, als ungeeignet an, um in innerkanadischen Konstellationen weiter Gültigkeit beanspruchen zu können.124 Er Morguard Investments Ltd v De Savoye (1990), 3 SCR 1077 (1091 f.). Blom, Constitutionalizing Canadian private international law, 13 JPIL (2017), S. 259 (265). 121 Morguard Investments Ltd v De Savoye (1990), 3 SCR 1077. Zur Kontrolle der internationalen Zuständigkeit im englischen Recht vgl. auch Kapitel 3 – A.II.2 (S. 63 f.). 122 Blom, Constitutionalizing Canadian private international law, 13 JPIL (2017), S. 259 (266). 123 Morguard Investments Ltd v De Savoye (1990), 3 SCR 1077 (1078). Richter Major konstatierte hierzu in der Rechtssache Beals v Saldanha (2003): „Morguard […] altered the old common law rules for the recognition and enforcement of interprovincial judgments. These rules, based on territoriality, sovereignty, independence and attornment were held to be outmoded […] Central to the decision to modernize the common law rules was the doctrine of comity.“ Beals v Saldanha (2003), 3 SCR 416 (434). 124 Morguard Investments Ltd v De Savoye (1990), 3 SCR 1077 (1079): „The 19th century English rules fly in the face of the obvious intention of the Constitution to create a single country with a common market and a common citizenship.“ 119 120

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Kapitel 3 – Die Gegenseitigkeit im common law-Rechtskreis

statuierte daher eine verfassungsrechtliche Anerkennungs- und Vollstreckungspflicht zwischen den einzelnen Provinzen und Territorien Kanadas – was im Ergebnis einer ungeschriebenen full faith and credit-clause gleichkommt.125 Allerdings erklärte der Supreme Court auch, dass eine schrankenlose, absolut wirkende Anerkennungs- und Vollstreckungspflicht die Rechte des Beklagten verletzten könne, was eine interessante Parallele zur Rechtsprechung des Art. 6 Abs. 1 EMRK darstellt: „Thus, fairness to the defendant requires that the judgment be issued by a court acting through fair process and with properly restrained jurisdiction.“126

Im Hinblick auf die Verteidigungsrechte des Beklagten forderte der Supreme Court daher, dass es – selbst in innerkanadischen Konstellationen – eine Kontrolle der internationalen Zuständigkeit geben müsse. Deshalb hat die innerkanadische Anerkennungs- und Vollstreckungspflicht zur Voraussetzung, dass eine ausreichende Näheverbindung (real and substantial connection) zum Bundesstaat bestand, dessen Gerichte das Urteil gesprochen haben. III. Übertragung auf Auslandsurteile jeglicher Art (Beals v Saldanha; Pro Swing Inc v Elta Golf Inc) Diese für innerkanadische Konstellationen entwickelte Rechtsprechung wurde in der Folgezeit auch auf außerkanadische Entscheidungen ausgedehnt. Dieses geschah erstmals im Fall Beals v Saldanha (2003), in dem der Supreme Court die Vollstreckungspflicht auf Auslandsentscheidungen übertrug. Aus diesem Grund müsse, so das Oberste Gericht, eine Zivilentscheidung aus Florida vollstreckt werden, da eine real and substantial connection mit Florida vorlag.127 Eine weitere Liberalisierung erfuhr das kanadische Anerkennungsrecht dann in der Rechtssache Pro Swing Inc v Elta Golf Inc (2006), die eine Entscheidung aus Illinois betraf, die zur Rechnungslegung und zur Übergabe von Ware verurteilte. Eigentlich war eine solche Entscheidung nicht vollstreckbar, da sie kein Zahlungsurteil (money judgment) war. Doch auch diese hergebrachte Regel des common law hob der kanadische Supreme Court zugunsten eines noch anerkennungsfreundlicheren Ansatzes auf. SeitBlom, Constitutionalizing Canadian private international law, 13 JPIL (2017), S. 259 (266); Morguard Investments Ltd v De Savoye (1990), 3 SCR 1077 (1102): „As I see it, the courts in one province should give full faith and credit, to use the language of the United States Constitution, to the judgments given by a court in another province or a territory, so long as that court has properly, or appropriately, exercised jurisdiction in the action.“ 126 Morguard Investments Ltd v De Savoye (1990), 3 SCR 1077 (1103). 127 Beals v Saldanha (2003), 3 SCR 416. Allerdings hat der Supreme Court den kanadischen Bundesstaaten zugestanden, eine abweichende Regelung durch Gesetz aufzustellen. Emanuelli, Recognition and Enforcement of Foreign Judgments in Quebec, 9 YPIL (2007), S. 343 (346). 125

D. Fazit

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dem können nicht nur Zahlungsurteile aus dem Ausland, sondern alle Arten von Leistungsurteilen in Kanada vollstreckt werden.128 IV. Zwischenergebnis Gegenüber dem englischen common law liberalisierte der kanadische Supreme Court die Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen in zwei Punkten: Zum einen schuf er den Grundsatz ab, dass nur Zahlungsurteile vollstreckt werden können – zum anderen milderte er die Kontrolle der internationalen Zuständigkeit. Kanada vollstreckt somit grundsätzlich alle Auslandsurteile, sofern eine ausreichende Näheverbindung zum Gerichtsstaat vorlag. Eine Gegenseitigkeitsverbürgung wird nicht gefordert. Selbst im Vergleich zum englischen und amerikanischen Recht sticht das kanadische Anerkennungsregime dadurch als besonders offen hervor. Nicht zu Unrecht wird es als das liberalste unter allen größeren Rechtsordnungen charakterisiert.129

D. Fazit

D. Fazit

Das englische Anerkennungsrecht ist seit jeher ausschließlich auf den Schutz subjektiver Rechte ausgerichtet. Souveränitätsbedenken hatten dort, anders als bei den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen, nie einen Platz. Daher verwundert es nicht, dass im englischen Recht die Reziprozität nie eine Rolle spielte. Auch heutzutage können ausländische Urteile ohne Rücksicht auf die Gegenseitigkeit anerkannt und vollstreckt werden. Die fehlende Gegenseitigkeit führt einzig dazu, dass der einfachere Weg der Registrierung des Urteils versperrt bleibt. Während im kanadischen Anerkennungsrecht die Reziprozität gleichfalls keine Rolle spielt, stellt sich die Lage im US-amerikanischen Recht etwas differenzierter dar. Dort hatte die Reziprozität gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch den Supreme Court eine kurze richterrechtliche Aufwartung erhalten. Allerdings richtet sich die Anerkennung und Vollstreckung von ausländischen Urteilen bereits seit langem nach dem Recht der einzelnen Bundesstaaten, die in ihrer weit überwiegenden Mehrheit keine Gegenseitigkeitsvoraussetzung vorsehen.

128 Pro Swing Inc v Elta Golf Inc (2006), 2 SCR 612; Blom, Constitutionalizing Canadian private international law, 13 JPIL (2017), S. 259 (284). 129 Blom, Constitutionalizing Canadian private international law, 13 JPIL (2017), S. 259 (283).

Kapitel 4

Rechtsvergleichende Tendenzen Kapitel 4 – Rechtsvergleichende Tendenzen

Das folgende Kapitel untersucht rechtsvergleichende Tendenzen im Hinblick auf Gegenseitigkeitsvorbehalte bei der Urteilsanerkennung. Hierzu wird zunächst überblicksweise aufgezeigt, in welchen Teilen Europas Reziprozitätserfordernisse bei der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile traditionell relevant sind (unter A.). Sodann werden neuere Entwicklungen in einigen ausgewählten Staaten näher betrachtet – nämlich in Frankreich, Spanien, Polen, Tschechien und Russland (unter B.) – bevor wissenschaftliche Vorschläge der Groupe européen de droit international privé sowie des Institut de Droit international auf diesem Gebiet untersucht werden (unter C.). Abschließend wird bewertet, ob sich unter den europäischen Staaten in Bezug auf die Reziprozität ein rechtspolitischer Trend feststellen lässt (unter D.).

A. Überblick: Verbreitung des Gegenseitigkeitskriteriums in Europa

A. Überblick: Verbreitung des Gegenseitigkeitskriteriums in Europa

Die kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen unterscheiden sich recht stark darin, ob sie der Gegenseitigkeit mit dem Urteilsstaat Relevanz zumessen.1 Gleichwohl lassen sich gewisse – oftmals regionale – Gemeinsamkeiten feststellen, die zumeist aus einer bestimmten, historisch gewachsenen Einstellung gegenüber ausländischen Richtersprüchen herrühren. So verlangen die nordeuropäischen Staaten Europas wie auch Russland traditionell einen Staatsvertrag, damit ein ausländisches Urteil im Inland anerkannt oder vollstreckt werden kann (unter I.). Etwas weniger restriktiv verfahren diejenigen Staaten, die eine Anerkennung oder Vollstreckung von Auslandsurteilen von der Reziprozität mit dem Urteilsstaat abhängig machen, wie dies traditionell die Länder des germanischen Rechtskreises tun (unter II.). Zu dieser Gruppe zählen auch die Staaten Mittel- und Osteuropas, wobei Gegenseitigkeitserfordernisse dort auf breiter Front zurückgedrängt worden sind (unter III.). Einer eindeutigen Kategorisierung entziehen sich schließlich die romanischen Staaten, von denen die meisten – der französischen Rechtstradition folgend – vormals besonders anerkennungsfeindlich eingestellt waren, ohne aber der 1

Zur Relevanz des Gegenseitigkeitskriteriums im common law vgl. Kapitel 3 (S. 51 ff.).

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Kapitel 4 – Rechtsvergleichende Tendenzen

Reziprozität irgendeine Relevanz beizumessen (unter IV.). Wie wir noch sehen werden, können die vorstehenden Kategorisierungen wegen bedeutender Entwicklungen in vielen autonomen Anerkennungsrechten jedoch nur eine erste Orientierung darstellen. I.

Nordische Staaten und Russland: Festhalten am Staatsvertragsvorbehalt

Die restriktivste Form eines Gegenseitigkeitserfordernisses ist der Staatsvertragsvorbehalt, der eine formell abgesicherte Reziprozität in Form eines völkerrechtlichen Vertrags mit dem Urteilsstaat voraussetzt.2 Diese Art von Gegenseitigkeitsvorschrift ist für die Anerkennungsrechte der nordischen Staaten geradezu typisch. So erkennen Norwegen3, Schweden4 und Finnland5 ohne ein völkerrechtliches Abkommen grundsätzlich keine ausländischen Urteile an. Gleiches gilt für Dänemark6 und für Island.7 Diese grundsätzliche Abschottung der nordischen Staaten gegenüber fremden Richtersprüchen wird freilich dadurch abgemildert, dass sie untereinander seit Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Gebiet der grenzüberschreitenden Rechtsdurchsetzung eng zusammenarbeiten. Sichtbarster Ausdruck dieser regionalen Kooperation ist die Nordische Konvention über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivilsachen von 1932, die im Jahre 1978 durch ein neues Übereinkommen ersetzt worden ist.8 Auch das russische Recht ist ein archetypischer Vertreter des Staatsvertragsvorbehalts, hält es diesem doch trotz aller Umbrüche seit der Zarenzeit die Treue. Der russische Staatsvertragsvorbehalt hatte zudem Modellcharakter, denn fast alle Nachfolgestaaten der UdSSR haben eine entsprechende Regelung Zum Staatsvertragsvorbehalt vgl. Kapitel 1 – C.I (S. 15 f.). Norwegen fordert im Grundsatz ein völkerrechtliches Abkommen. Eine Ausnahme macht das norwegische Recht allerdings für Entscheidungen ausländischer Gerichte, die aufgrund einer Gerichtsstandsvereinbarung international zuständig waren. Vgl. CorderoMoss, Norway, S. 2386 (2396). 4 Schweden erkennt in Ermangelung einer speziellen gesetzlichen Grundlage ausländische Urteile ebenfalls weder an noch vollstreckt es sie. Anders sieht es nur bei familienrechtlichen Statusentscheidungen aus. Eine weitere Ausnahme wird – wie auch im norwegischen Recht – für Auslandsurteile gemacht, die aufgrund einer Gerichtsstandsvereinbarung ergangen sind. Vgl. Berglund, Recognition and enforcement of foreign judgments in Sweden, S. 529 (529–531); Hellner, Sweden, S. 2535 (2546 f.). 5 Liukkunen, Finland, S. 2070 (2078 f.). 6 Der dänische Staatsvertragsvorbehalt gilt ebenfalls nicht für Statusentscheidungen. Vgl. Fogt, Denmark, S. 2019 (2035). 7 Thorláksson, Iceland, S. 2147 (2148). 8 Berglund, Cross-Border Enforcement of Claims in the EU, Rn. 2.4.2 und Rn. 2.5.5; Bull, Recognition and Enforcement in Norway of Foreign Judgments Outside the Scope of Application of the Brussels and Lugano Conventions, S. 425 (425); Fogt, Denmark, S. 2019 (2023). 2 3

A. Überblick: Verbreitung des Gegenseitigkeitskriteriums in Europa

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in ihr Anerkennungsrecht aufgenommen.9 Allerdings zeigen sich in jüngerer Zeit in der russischen Rechtsprechung beachtliche Liberalisierungstendenzen praeter legem, die den Staatsvertragsvorbehalt zu überwinden suchen.10 Zu den besonders anerkennungsfeindlichen europäischen Staaten scheinen auf den ersten Blick auch die Niederlande zu gehören, die ein gesetzlich festgeschriebenes Vollstreckungsverbot für ausländische Richtersprüche kennen.11 Allerdings interpretieren die niederländischen Gerichte diese Bestimmung denkbar eng, sodass etwa für eine schlichte Anerkennung der Urteilswirkungen weder ein Staatsvertrag noch tatsächlich bestehende Gegenseitigkeit mit dem Urteilsstaat notwendig ist.12 II. Germanischer Rechtskreis: Traditionell durch Gegenseitigkeitserfordernisse geprägt Die dem germanischen Rechtskreis zugerechneten Staaten setzen traditionell auf gerichtliche oder administrative Gegenseitigkeitserfordernisse. So fordert Zwar hatten die meisten Nachfolgestaaten der Sowjetunion den strikten Staatsvertragsvorbehalt des sowjetischen Rechts als Ausgangspunkt, jedoch hängt es augenscheinlich vom Grad ihrer politischen und wirtschaftlichen Öffnung ab, ob sie an ihm unverändert festhalten oder ihn mittlerweile abgemildert oder gar abgeschafft haben. So fordert beispielsweise Weißrussland für Zivilurteile, die keine Handelssachen betreffen, weiterhin grundsätzlich die staatsvertragliche Gegenseitigkeitsverbürgung, während Kasachstan und die Ukraine die tatsächliche Gegenseitigkeit genügen lassen. Vgl. Danilevich, Belarus, S. 1894 (1905 f.); Dovgert, Ukraine, S. 2602 (2611); Karagussov, Kazakhstan, S. 2229 (2241 f.). Hingegen ähnelt die Rechtslage in Georgien derjenigen in Russland, weil zwar vordergründig ein Gegenseitigkeitserfordernis existiert, dieses in der gerichtlichen Anerkennungspraxis allerdings deutlich zurückhaltender eingesetzt wird als es der Gesetzestext vermuten lässt. Vgl. Vashakidze, Georgia, S. 2090 (2100). 10 Zum russischen Anerkennungsrecht vgl. Kapitel 4 – B.V (S. 96 ff.). 11 Es handelt sich dabei um Art. 431 der niederländischen Zivilprozessordnung (Wetboek van Burgerlijke Rechtsvordering), der auf die französische Herrschaft während des napoleonischen Zeitalters zurückgeht und Art. 121 des französischen Code Michaut (1629) entspricht. Vgl. Verschuur, Recognition and Enforcement of Foreign Judgments in the Netherlands, S. 403 (404 f.). Die englische Übersetzung von Art. 431 WBR lautet: „Except as provided for in the articles 985–994, neither decisions of foreign courts, nor deeds passed outside the Netherlands can be enforced within the Netherlands. Cases can be heard and determined anew by the Dutch court.“ Übersetzung nach ten Wolde, Netherlands, S. 2357 (2367 f.). 12 Das Vollstreckungsverbot des Art. 431 WBR interpretierte die frühere Rechtsprechung weit, indem sie daraus ableitete, dass auch die schlichte Anerkennung ausgeschlossen sei. Im Laufe der Zeit revidierte sie jedoch diese Auffassung und arbeitete einige Kriterien heraus, die ein Auslandsurteil erfüllen muss, um anerkannt zu werden. Die Gegenseitigkeit findet sich nicht darunter. Damit zeigt sich ein gespaltenes Bild: Bei der Anerkennung ist das niederländische Recht sehr liberal; bei der Vollstreckung hingegen denkbar restriktiv. Vgl. ten Wolde, Netherlands, S. 2357 (2367 f.); Verschuur, Recognition and Enforcement of Foreign Judgments in the Netherlands, S. 403 (405–409); van de Velden, Finality in Litigation, S. 266 f. und S. 294 f. 9

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Kapitel 4 – Rechtsvergleichende Tendenzen

das deutsche Anerkennungsrecht nach wie vor, dass die Gegenseitigkeit mit dem Urteilsstaat verbürgt ist (§ 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO).13 Österreich verlangt – noch strenger – eine administrative Gegenseitigkeitsfeststellung.14 Diese Art von Reziprozitätsbestimmung ist zwar weniger restriktiv als ein Staatsvertragsvorbehalt, wie ihn die nordischen Staaten kennen, jedoch restriktiver als eine gerichtliche Gegenseitigkeitsfeststellung, wie sie das deutsche Recht vorsieht.15 Dem österreichischen Vorbild folgend fordert auch Liechtenstein eine administrative Gegenseitigkeitsfeststellung.16 Während Deutschland, Österreich und das Fürstentum Liechtenstein bis heute an der Gegenseitigkeit festhalten hat sich die Schweiz hingegen mittlerweile von ihr verabschiedet. Bis zum Inkrafttreten des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (1987), das eine bundeseinheitliche Regelung schuf und auf jeglichen Reziprozitätsvorbehalt verzichtete,17 richtete sich die Anerkennung und Vollstreckung von ausländischen Urteilen in der Schweiz nach dem Recht der einzelnen Kantone, von denen die Mehrheit die Gegenseitigkeit – nach Schweizer Diktion: das „Gegenrecht“ – verlangte.18 III. Mittel- und Osteuropa: Weitgehende Überwindung von Reziprozitätsvorbehalten Die mittelosteuropäischen Staaten wie auch die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens verlangten in der Vergangenheit bei der Anerkennung und 13 Zum Gegenseitigkeitserfordernis im deutschen Anerkennungsrecht vgl. Kapitel 2 (S. 29 ff.). 14 Der österreichische Reziprozitätsvorbehalt liegt bezüglich seiner Restriktivität zwischen einem gerichtlichen Gegenseitigkeitserfordernis und einem Staatsvertragsvorbehalt, da einerseits eine positive Anerkennungspraxis allein für die Herstellung von Gegenseitigkeit nicht ausreicht – andererseits ein Staatsvertrag aber nicht unbedingt vonnöten ist. Vgl. Heiss, Austria, S. 1886 (1893); Matscher, Grundfragen der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen in Zivilsachen (aus österreichischer Sicht), ZZP 103 (1990), S. 294 (297). Das früher in § 79 Abs. 2 EO festgeschriebene Gegenseitigkeitserfordernis findet sich seit dem 1.1.2017 wortgleich in § 406 EO wieder und lautet wie folgt: „Akte und Urkunden sind für vollstreckbar zu erklären, wenn die Akte und Urkunden nach den Bestimmungen des Staates, in dem sie errichtet wurden, vollstreckbar sind und die Gegenseitigkeit durch Staatsverträge oder durch Verordnungen verbürgt ist.“ 15 Zur administrativen Gegenseitigkeitsfeststellung vgl. Kapitel 1 – C.II (S. 16). 16 Heiss, Liechtenstein, S. 2277 (2277 und 2284 f.). Der entsprechende Art. 52 der liechtensteinischen Exekutionsordnung lautet: „Aufgrund von Akten und Urkunden, die im Ausland errichtet und nach den dort geltenden gesetzlichen Bestimmungen exekutionsfähig sind, darf die Exekution oder die Vornahme einzelner Exekutionshandlungen im Inland nur dann und in dem Masse stattfinden, als dies in Staatsverträgen vorgesehen oder die Gegenseitigkeit durch Staatsverträge oder durch Gegenrechtserklärung der Regierung verbürgt ist.“ 17 Walder, Grundlagen der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile – unter besonderer Berücksichtigung schweizerischer Sicht, ZZP 103 (1990), S. 322 (322–325). 18 Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 1192.

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Vollstreckung ausländischer Urteile ursprünglich ebenfalls das Vorliegen von Reziprozität mit dem Urteilsstaat. Ihre Anerkennungsrechte wiesen Gegenseitigkeitserfordernisse auf, die dem des deutschen Rechts ähnelten. Allerdings ist in jüngerer Zeit eine umfassende Abschaffung von Reziprozitätsvorbehalten zu verzeichnen, ausgelöst durch die umfassenden Reform- und Modernisierungsprozesse in der Region. So schafften Polen19, die Slowakei20, die baltischen Staaten,21 Bulgarien22 und Albanien23 die Gegenseitigkeit als Anerkennungsvoraussetzung ab, während Tschechien24, Rumänien25 und Ungarn26 weiterhin an ihr festhalten. In den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens bietet sich ein ähnliches Bild. Zwar gibt es mit Serbien, Bosnien-Herzegowina und Slowenien noch eine Reihe von Staaten, die am Gegenseitigkeitserfordernis festhalten. Allerdings beruht dies – mit Ausnahme Sloweniens27 – auf einer Fortgeltung Zum polnischen Anerkennungsrecht vgl. Kapitel 4 – B.III (S. 92 ff.). Im Gegensatz zu Tschechien fordert die Slowakei keine Gegenseitigkeit, obgleich dort die alte tschechoslowakische Kodifikation im Kern immer noch in Kraft ist. Vgl. Stefankova, Slovakia, S. 2492 (2493–2502). 21 Die baltischen Staaten sind bei der Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen recht liberal. So ist die Gegenseitigkeit für das estnische und lettische Anerkennungsrecht vollkommen irrelevant. Auch Litauen fordert sie im Grundsatz nicht, verlangt allerdings Reziprozität für die Vollstreckung von vorläufigen Entscheidungen und Sicherungsmaßnahmen. Vgl. Halling, Estonia, S. 2061 (2066 f.); Mikelenas, Reform of Private International Law in Lithuania, YPIL 7 (2005), S. 161 (180); Ravluševičius, Lithuania, S. 2286 (2295); Rudevska, Latvia, S. 2252 (2262). 22 Das bulgarische IPR-Gesetz aus dem Jahre 2005 schaffte das bis dahin bestehende Gegenseitigkeitserfordernis für ein Exequatur ausländischer Urteile ab. Vgl. Zidarova /  Stančeva-Minčeva, Gesetzbuch über das Internationale Privatrecht der Republik Bulgarien, RabelsZ 71 (2007), S. 398 (412). 23 Bushati / Jessel-Holst, Albania, S. 1855 (1863). 24 Tschechien hält an einer recht besonderen Gegenseitigkeitsvorschrift fest, die sich dadurch auszeichnet, dass sie ausschließlich zulasten von Ausländern oder ausländischen Unternehmen wirkt. Zum tschechischen Reziprozitätsvorbehalt vgl. Kapitel 4 – B.IV (S. 94 f.). 25 Das rumänische Anerkennungsrecht verlangt Gegenseitigkeit, wobei es für Statusurteile aus dem Heimatland der betreffenden Person eine Ausnahme macht. Vgl. CotigaRaccah, Romania, S. 2442 (2451). 26 Vékás, Hungary, S. 2138 (2146). 27 Slowenien war der erste Staat, der sich von der alten jugoslawischen Kodifikation verabschiedete, indem es 1999 ein eigenständiges IPR-Gesetz in Kraft setzte. Zwar sieht dieses ein Gegenseitigkeitserfordernis bei der Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen vor, allerdings wird das Bestehen von Gegenseitigkeit vermutet. Bei Zweifeln sind die Gerichte gehalten, sich an das Justizministerium zu wenden. Bemerkenswert ist ferner, dass sich der slowenische Reziprozitätsvorbehalt – ebenso wie der tschechische – nicht gegen eigene Staatsbürger richten darf. Vgl. Kramberger Škerl, Slovenia, S. 2503 (2503 ff.). Damit wird das slowenische Gegenseitigkeitserfordernis in doppelter Hinsicht 19 20

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Kapitel 4 – Rechtsvergleichende Tendenzen

des „alten“ jugoslawischen Rechts.28 Kodifikationen jüngeren Datums – so wie in Mazedonien (2007)29, Montenegro (2014)30 oder Kroatien (2019)31 – verzichten auf jegliche Art von Reziprozitätsvorbehalt. IV. Romanischer Rechtskreis: Völliges Fehlen von Gegenseitigkeitserwägungen Die romanischen Rechtsordnungen Europas sind, jedenfalls soweit sie unter französischem Einfluss standen, traditionell äußerst skeptisch gegenüber Auslandsurteilen eingestellt. Diese Skepsis äußerte sich in der révision au fond, also einer vollumfänglichen Überprüfung des ausländischen Urteils, die neben Frankreich auch von Belgien32 und Luxemburg33 praktiziert worden ist.

abgemildert – einmal in seinem Anwendungsbereich und ein anderes Mal durch seine anerkennungsfreundliche Beweislastverteilung. 28 Im früheren Jugoslawien war die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile im IPR-Gesetz von 1982 (Zakon o rešavanju sukoba zakona sa propisima drugih zemalja) geregelt, das ein gerichtliches Gegenseitigkeitserfordernis aufwies. Vgl. Šarčević, The New Yugoslav Private International Law Act, 33 Am. J. Comp. L. (1985), S. 283 (295). Zur Jahrtausendwende war dieses alte IPR-Gesetz bis auf Slowenien noch in allen Nachfolgestaaten Jugoslawiens in Kraft. Zurzeit gilt es lediglich im Recht Serbiens und Bosnien-Herzegowinas fort. Vgl. Djordjevic, Serbia, S. 2469 (2482); Jessel-Holst, The Reform of Private International Law Acts in South East Europe, An. Pr. Fak. UZ 18 (2016), S. 133 (133); Meškić, Bosnia and Herzegovina, S. 1919 (1927 f.). 29 Deskoski, Macedonia, FYR, S. 2315 (2324); Jessel-Holst, The Reform of Private International Law Acts in South East Europe, An. Pr. Fak. UZ 18 (2016), S. 133 (144); Jessel-Holst, Zum Gesetzbuch über internationales Privatrecht der Republik Mazedonien, IPRax 2008, S. 154 (157). 30 Montenegro hat sich in seinem neuen IPR-Gesetz, das seit 2014 in Kraft ist, vom Gegenseitigkeitserfordernis verabschiedet. Vgl. Kostić-Mandić, The New Private International Law Act of Montenegro, YPIL 16 (2014/2015), S. 429 (438). 31 Das kroatische Recht setzte bisher ebenfalls die Gegenseitigkeit voraus. Wie auch im slowenischen Recht wurde ihr Vorliegen allerdings vermutet, solange nicht das Gegenteil bewiesen war. Doch im neuen IPR-Gesetz Kroatiens, das ab Beginn des Jahres 2019 in Kraft ist, findet sich dieser Reziprozitätsvorbehalt nicht mehr wieder. Damit reiht sich Kroatien in die Gruppe der jugoslawischen Nachfolgestaaten ein, die bei einer Neukodifikation auf die Gegenseitigkeit verzichteten. Vgl. Bouček, Croatia, S. 1990 (2001); Jessel-Holst, Zur Reform des Internationalen Privatrechts in Kroatien, IPRax 2019, S. 345 (345–347). 32 Das belgische Recht hat sich, ähnlich wie das französische, mittlerweile von einem restriktiven hin zu einem liberalen Anerkennungsregime gewandelt. Dabei hielt Belgien besonders lange an der révision au fond fest, die erst durch die Neukodifikation seines autonomen IPR / IZVR im Jahre 2004 abgeschafft worden ist (vgl. Art. 25 § 2 Code de droit international privé). Auf die Gegenseitigkeit mit dem Urteilsstaat kommt es allerdings nach wie vor nicht an. Vgl. Fevery, La reconnaissance et l’exécution des décisions judiciaires étrangères en Belgique en dehors du champ d’application des Conventions de Bruxelles et de Lugano, S. 75 (95); Francq, Belgium, S. 1906 (1913); Francq, Das bel-

A. Überblick: Verbreitung des Gegenseitigkeitskriteriums in Europa

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Obwohl die französisch geprägten Anerkennungsrechte einen ausgesprochen restriktiven Charakter aufwiesen, waren ihnen Reziprozitätserwägungen völlig fremd. Auch Italien34 und Portugal35 verlangten keine Gegenseitigkeit mit dem Urteilsstaat. Allein Spanien bildete in gewisser Hinsicht einen Ausnahmefall, weil das Vorliegen von Gegenseitigkeit bis zum Jahre 2015 einige Erleichterungen für den Urteilsgläubiger zur Folge hatte. Insgesamt lässt sich daher konstatieren, dass in den Ländern des romanischen Rechtskreises zwar eine weitverbreitete Skepsis gegenüber ausländischen Richtersprüchen bestand, diese sich jedoch nicht in Reziprozitätsvorbehalten niederschlug. In jüngerer Zeit ist allerdings insbesondere in Frankreich36 als auch in Spanien37 eine bedeutende Liberalisierung des autonomen Anerkennungsrechts zu verzeichnen. gische IPR-Gesetzbuch, RabelsZ 70 (2006), S. 235 (272 f.); Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 250. 33 Das luxemburgische Recht folgte ebenfalls dem französischen Richterrecht und praktizierte bis in die 1960er-Jahre die révision au fond. Die Gegenseitigkeit mit dem Urteilsstaat ist für das luxemburgische Recht jedoch ebenfalls seit jeher völlig irrelevant. Vgl. Kinsch, Luxembourg, S. 2296 (2296–2304). 34 Obwohl dem italienischen Anerkennungsrecht die Gegenseitigkeit ebenfalls fremd war, bedeutete das Fehlen eines Reziprozitätsvorbehalts nicht, dass es besonders anerkennungsfreundlich gewesen wäre. Vielmehr eröffnete das italienische IZVR ein breites Repertoire an Möglichkeiten, um die spätere Vollstreckung eines ausländischen Urteils im Inland zu verhindern. Das IPR-Reformgesetz vom 31. Mai 1995 (Riforma del sistema italiano di diritto internazionale privato) änderte diese Sachlage und verlieh dem italienischen Recht ein modernes und offenes Antlitz. Die auffälligste Änderung war dabei die Abschaffung des Delibationsverfahrens (delibazione), sodass eine schlichte Anerkennung der Urteilswirkungen nunmehr inzident erfolgt. Gegenseitigkeit wird allerdings – nach wie vor – nicht gefordert. Vgl. Bonomi / Ballarino, Italy, S. 2207 (2210 f.); Lupoi, Recognition and Enforcement of Foreign Judgments Outside the Scope of Application of the Brussels and Lugano Convention: Italy, S. 347 (347–358); Walter / Baumgartner, General Report: The Recognition and Enforcement of Judgments Outside the Scope of the Brussels and Lugano Conventions, S. 1 (18 f.); Weitz, Założenia i kierunki reformy przepisów kodeksu postępowania cywilnego o uznawaniu i wykonywaniu zagranicznych orzeczeń, KPP 10 (2001), S. 879 (913). 35 Die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile richtet sich im portugiesischen Recht nach der neuen Zivilprozessordnung von 2013 (Código do Processo Civil). Die Gegenseitigkeit mit dem Urteilsstaat wird nicht verlangt. Das entsprach bereits der Rechtslage nach der alten Zivilprozessordnung aus dem Jahre 1961. Gegenseitigkeitserfordernisse sind im portugiesischen Anerkennungsrecht daher ebenfalls traditionell irrelevant. Vgl. Ferrer Correia, Quelques réflexions sur le système portugais concernant la reconnaissance et l’exécution des jugements étrangers en matière civile et commerciale, S. 135 (137); Ferreira da Silva, De la reconnaissance et de l‘exécution des jugements étrangers au Portugal, S. 465 (472–481); Moura Vicente, Portugal, S. 2433 (2440 f.); Rathenau, Die Anwendung des EuGVÜ durch portugiesische Gerichte unter Berücksichtigung des autonomen internationalen Zivilverfahrensrechts, S. 167–176. 36 Zur Entwicklung des französischen Anerkennungsrechts vgl. Kapitel 4 – B.I (S. 90 f.).

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Kapitel 4 – Rechtsvergleichende Tendenzen

B. Einzelne Rechtsordnungen mit bedeutenden Entwicklungen im autonomen Anerkennungsrecht

B. Rechtsordnungen mit bedeutenden Entwicklungen im Anerkennungsrecht

Im Folgenden werden fünf europäische Rechtsordnungen näher betrachtet, die jüngst beachtliche Entwicklungen in ihrem autonomen Anerkennungsrecht durchlaufen haben oder die sich durch interessante Ansätze im Hinblick auf Reziprozitätsvorbehalte auszeichnen. Im Einzelnen sind dies die Rechtsordnungen Frankreichs, Spaniens, Polens, Tschechiens und Russlands. I. Frankreich: Von der révision au fond zu einem liberalen Anerkennungsrecht Wie bereits skizziert, waren den romanischen Ländern Europas Gegenseitigkeitserfordernisse weitgehend fremd.38 Ohne jedwede Einschränkung kann man diese Feststellung für Frankreich als bedeutendster romanischer Rechtsordnung treffen. In der Tat spielte die Gegenseitigkeit mit dem Urteilsstaat dort nie eine Rolle. Das bedeutet freilich nicht, dass das französische Anerkennungsrecht besonders liberal gewesen wäre. Ganz im Gegenteil war es traditionell sehr anerkennungsfeindlich. Diese Skepsis gegenüber fremden Richtersprüchen hatte seine Wurzeln bereits im Recht des Ancien Régime. So stellte eine königliche Verordnung aus dem Jahre 1629 – der sogenannte Code Michaut – die Regel auf, dass ein ausländisches Urteil in Frankreich unter keinen Umständen vollstreckt werden dürfe.39 Dieses Vollstreckungsverbot war Ausdruck des neuzeitlichen Strebens nach absoluter territorialer Souveränität des französischen Staates.40 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde diese radikale Rigorosität erstmals ein wenig abgemildert. Ausländische Richtersprüche konnten seitdem zwar vollstreckt werden, aber erst nachdem sie ein besonderes Verfahren zu ihrer Überprüfung durchlaufen hatten: Das Exequaturverfahren.41 Dort wurden sie auf ihre inhaltliche Richtigkeit hin voll überprüft (révision au fond), was Zur Entwicklung des spanischen Anerkennungsrechts vgl. Kapitel 4 – B.II (S. 91 f.). Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 1195. 39 Das Verbot der Vollstreckung von ausländischen Richtersprüchen fand sich in Art. 121 der Ordonnance vom 15. Januar 1629, die gemeinhin als Code Michaut bezeichnet wird (alternative Schreibweisen: „Code Michaud“ und „Code Michau“). Vgl. López de Tejada, La disparition de l’exequatur dans l’espace judiciaire européen, Rn. 45; Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 30; Regan, The Enforcement of Foreign Judgments in France under the Nouveau Code de Procédure Civile, 4 B.C. Int’l&Comp L. Rev. (1981), S. 149 (158); Wiedemann, Vollstreckbarkeit, S. 35. Für den Wortlaut von Art. 121 des Code Michaut vgl. Fn. 17 (S. 11). 40 López de Tejada, La disparition de l’exequatur dans l’espace judiciaire européen, Rn. 27–35. 41 Laugwitz, Die Anerkennung und Vollstreckung drittstaatlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, S. 47. 37 38

B. Rechtsordnungen mit bedeutenden Entwicklungen im Anerkennungsrecht

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nicht selten bedeutete, dass die Sache neu verhandelt wurde.42 Dieses sehr restriktive Anerkennungsregime herrschte bis zur Abschaffung der révision au fond in der Rechtssache Munzer (1964).43 In dieser bahnbrechenden Entscheidung stellte die Cour de cassation fünf Anerkennungsvoraussetzungen auf, bei deren Vorliegen ein Auslandsurteil ohne erneute Überprüfung in der Sache anerkannt und vollstreckt wird: Internationale Zuständigkeit, Rechtsstaatlichkeit des ausländischen Verfahrens (régularité de la procédure), kollisionsrechtliche Kontrolle (contrôle de la loi appliquée), kein ordre publicVerstoß sowie keine Gesetzesumgehung (fraude à la loi).44 Dieser Rechtszustand hielt über mehr als vier Jahrzehnte an, bevor die Cour de cassation das französische Anerkennungsregime in der Rechtssache Cornelissen (2007) abermals liberalisierte, indem sie die kollisionsrechtliche Kontrolle abschaffte.45 Insgesamt lässt sich daher konstatieren, dass das französische Anerkennungsrecht in nur einem halben Jahrhundert eine bemerkenswerte Liberalisierung erfahren hat, ohne sich jedoch von Gegenseitigkeitserwägungen leiten zu lassen. II. Spanien: Verzicht selbst auf „weiche“ Reziprozitätsvorschriften Spanien ist die einzige Rechtsordnung unter den romanischen Staaten Europas, die eine Gegenseitigkeitsbestimmung kannte – allerdings in einer sehr speziellen Form. Die spanische ZPO von 1881 (Ley de Enjuiciamiento Civil) eröffnete drei verschiedene, hierarchisch geordnete Wege, die zur Anerkennung und Vollstreckung eines Auslandsurteils führen konnten.46 Vorrangig waren nach Art. 951 LEC staatsvertragliche Regelungen, so denn ein Staatsvertrag mit dem Urteilsstaat bestand.47 Existierte hingegen keine staatsvertragliche Regelung, so fanden Art. 952 LEC und Art. 953 LEC Anwendung, die die Gegenseitigkeit mit dem Urteilsstaat voraussetzten.48 Lag jedoch auch keine Gegenseitigkeit vor, so war dies noch nicht das Ende der Möglichkeiten 42 Cuniberti, France, S. 2079 (2088); López de Tejada, La disparition de l’exequatur dans l’espace judiciaire européen, Rn. 57–59. 43 Kinsch, Droits de l’homme, droits fondamentaux et droit international privé, Recueil des Cours 318 (2005), Rn. 73. 44 Bureau / Muir Watt, Droit international privé, Bd. I, Rn. 263; Kessedjian, La reconnaissance et l’exécution des décisions judiciaires étrangères en France, S. 185 (191–205). 45 Bureau / Muir Watt, Droit international privé, Bd. I, Rn. 280; Cuniberti, France, S. 2079 (2088); Laugwitz, Die Anerkennung und Vollstreckung drittstaatlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, S. 52 f.; López de Tejada, La disparition de l’exequatur dans l’espace judiciaire européen, Rn. 78. 46 Karl, Die Anerkennung von Entscheidungen in Spanien, S. 50 f.; Pérez Beviá, Reconnaissance et exécution des décisions étrangères en marge de l’application des conventions de Bruxelles et Lugano, S. 499 (499–505). 47 Pérez Beviá, Reconnaissance et exécution des décisions étrangères en marge de l’application des conventions de Bruxelles et Lugano, S. 499 (500).

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Kapitel 4 – Rechtsvergleichende Tendenzen

des Urteilsgläubigers. Es kam nämlich subsidiär Art. 954 LEC zum Zuge, der vier Anerkennungsvoraussetzungen aufstellte. Erfüllte eine ausländische Entscheidung diese Kriterien, so konnte sie auch abseits von staatsvertraglichen Regelungen und trotz mangelnder Gegenseitigkeit anerkannt und vollstreckt werden.49 In gewisser Weise ähnelte dies der Rechtslage in England, wo das Fehlen von Gegenseitigkeit nicht dazu führt, dass die Vollstreckung eines Auslandsurteils ausgeschlossen ist, sondern nur dazu, dass sie sich aufwändiger gestaltet.50 Das „weiche“ Reziprozitätserfordernis des spanischen Rechts in den Art. 952 LEC und Art. 953 LEC wurde mittlerweile allerdings abgeschafft. Als Spanien sein Anerkennungsrecht im Jahre 2015 durch die Ley de cooperación jurídica internacional en materia civil umfassend reformierte, verzichtete es darauf der Reziprozität mit dem Urteilsstaat irgendeine Bedeutung beizumessen.51 Spanien reiht sich daher in die Gruppe derjenigen Staaten ein, die auf jegliche – und seien es noch so „weiche“ – Gegenseitigkeitserfordernisse verzichten. III. Polen: Zuerst Abmilderung, dann Abschaffung der Gegenseitigkeit Ein Verzicht auf die Gegenseitigkeit ist auch aus Polen zu vermelden. Das polnische Anerkennungsrecht hat in jüngerer Zeit fast im Zeitraffer einen beachtenswerten Wandel durchgemacht: Vom Staatsvertragsvorbehalt über 48 Karl, Die Anerkennung von Entscheidungen in Spanien, S. 55–57. Art. 952 LEC bestimmte: „Bestehen mit dem Staate, in dem die Urteile ergangen sind, keine besonderen Staatsverträge, so haben solche Urteile in Spanien dieselbe Wirkung, welche in Spanien ergangene Urteile in diesen Ländern haben.“ Art. 953 LEC bestimmte hingegen: „Wenn das Urteil in einem Staate gefällt wurde, dessen Gerichte die von spanischen Gerichten erlassenen Urteile nicht vollstrecken, so hat es in Spanien keine rechtliche Wirkung.“ Übersetzung nach Haeger, Die Vollstreckung von Urteilen und Schiedssprüchen im internationalen Rechtsverkehr, S. 226. 49 Karl, Die Anerkennung von Entscheidungen in Spanien, S. 57–65. Art. 954 LEC bestimmte: „Wenn keiner der Fälle vorliegt, von denen die vorhergehenden drei Artikel sprechen, so haben ausländische Urteile in Spanien Rechtskraft, wenn sie folgende Bedingungen erfüllen: 1. daß das Urteil in bezug auf einen persönlichen Anspruch erging; 2. daß es kein Versäumnisurteil ist; 3. daß die Verbindlichkeit, deren Erfüllung gefordert wird, in Spanien erlaubt ist; 4. daß das Urteil sowohl die in dem Lande, wo es verkündet wurde, notwendigen Bedingungen erfüllt, um als authentisch zu gelten, als auch diejenigen, die die spanischen Gesetze fordern, um in Spanien den öffentlichen Glauben zu haben.“ Übersetzung nach Haeger, Die Vollstreckung von Urteilen und Schiedssprüchen im internationalen Rechtsverkehr, S. 226 f. 50 In England kann eine ausländische Entscheidung durch Registrierung nach dem Foreign Judgments (Reciprocal Enforcement) Act 1933 für vollstreckbar erklärt werden, falls ein Anerkennungs- und Vollstreckungsabkommen mit dem Urteilsstaat besteht. Bei Fehlen eines solchen Staatsvertrags kann das Auslandsurteil aber auf Grundlage einer action on the foreign judgment durchgesetzt werden. Vgl. hierzu Kapitel 3 – A.II.5.b) (S. 65). 51 De Miguel Asensio, Spain, S. 2523 (2534).

B. Rechtsordnungen mit bedeutenden Entwicklungen im Anerkennungsrecht

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ein gerichtliches Gegenseitigkeitserfordernis hin zum völligen Verzicht auf jegliche Reziprozitätsvorschriften. Dabei konnte die polnische Rechtsordnung im Laufe des 20. Jahrhunderts eingehende Erfahrungen mit ganz unterschiedlichen Arten von Gegenseitigkeitsbestimmungen machen. In der Tat gibt es wohl kaum eine Art von Reziprozitätsvorbehalt, der in Polen nicht zu irgendeiner Zeit gegolten hat. Nach der Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit im Jahre 1918 existierten zeitgleich gar drei verschiedene Gegenseitigkeitserfordernisse, weil sich die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile zunächst noch nach dem Recht der früheren Teilungsmächte richtete – also nach deutschem, österreichischem oder russischem Recht.52 Je nach Landesteil war daher eine gerichtliche, administrative oder staatsvertragliche Gegenseitigkeitsfeststellung erforderlich.53 Diese Rechtszersplitterung wurde erst in den Jahren 1930/1932 durch die Schaffung eines einheitlichen polnischen Zivilprozessrechts beseitigt, das jedoch interessanterweise für ein Gegenseitigkeitserfordernis à la russe optierte: Den Staatsvertragsvorbehalt.54 Diese Art von Reziprozitätsbestimmung schien am besten geeignet, um dem übergeordneten Zweck der innerpolnischen Rechtsvereinheitlichung zu dienen – nämlich die Souveränität des jungen polnischen Staates zu sichern und zu festigen. Man könnte auch sagen: Der Staatsvertragsvorbehalt passte zum Zeitgeist. Dieses änderte sich auch nicht nachdem sich in der Nachkriegszeit die politischen Vorzeichen völlig umgekehrt hatten und mit der Errichtung einer kommunistischen Gesellschaftsordnung begonnen worden ist. Denn gerade unter den „Ostblockstaaten“ war der Staatsvertragsvorbehalt en vogue, passte er doch gut zu ihrem Bestreben, sich von der kapitalistischen Staatenwelt abzukapseln.55 Die sozialistischen Staaten Europas beharrten deshalb bei der grenzüberschreitenden Urteilsvollstreckung auf einer staatsvertraglichen Regelung und schlossen Babiński, Kodeks postępowania cywilnego a prawo międzynarodowe, S. 1. Weil allerdings mit kaum einem ausländischen Staat Gegenseitigkeit bestand – weder faktisch noch durch Regierungserklärungen oder Staatsverträge abgesichert – machten die unterschiedlichen Reziprozitätserfordernisse im Ergebnis meist keinen Unterschied. Vgl. Babiński, Kodeks postępowania cywilnego a prawo międzynarodowe, S. 19. 54 Art. 528 § 1 Satz 1 k.p.c. (1930/1932) bestimmte, dass Auslandsurteile nur dann vollstreckt werden können, falls dies durch ein völkerrechtliches Abkommen vorgesehen ist. In einem Beschluss aus dem Jahre 1937 erklärte das Oberste Gericht (Sąd Najwyższy), dass dieser Staatsvertragsvorbehalt nicht nur für die Vollstreckung, sondern auch für die schlichte Anerkennung gelte. Ausländische Scheidungsurteile konnten daher bei Fehlen einer staatsvertraglichen Regelung nicht anerkannt werden. Vgl. Babiński, Kodeks postępowania cywilnego a prawo międzynarodowe, S. 19–22; Lipiński, Kodeks postępowania cywilnego, Art. 535, Rn. 1 f.; Weyde, Die Anerkennung und Vollstreckung deutscher Entscheidungen in Polen, S. 5–7. 55 Kurzynsky-Singer, Anerkennung ausländischer Urteile durch russische Gerichte, RabelsZ 74 (2010), S. 493 (501); Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 1201 f. 52 53

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Kapitel 4 – Rechtsvergleichende Tendenzen

solche Anerkennungs- und Vollstreckungsabkommen fast ausschließlich unter sich.56 Es vermag daher nicht zu überraschen, dass auch eine Neukodifikation des polnischen Zivilprozessrechts in den sechziger Jahren am Staatsvertragsvorbehalt festhielt.57 Als sich Polen allerdings im Zuge der politischen Wende von 1989 umfassend öffnete, wurde der Staatsvertragsvorbehalt als unpassend empfunden. Er wurde daher 1996 durch ein gerichtliches Gegenseitigkeitserfordernis ersetzt, wie es etwa auch das deutsche Recht kennt.58 Doch alsbald wirkte auch dieser abgemilderte Reziprozitätsvorbehalt rückständig, vor allem nachdem Polen im Jahre 2004 der Europäischen Union beigetreten war. Die Anerkennung und Vollstreckung von zivilgerichtlichen Entscheidungen aus anderen EUMitgliedstaaten richtete sich seitdem nach den liberaleren Bestimmungen des europäischen Zivilverfahrensrechts. Diese Erfahrung löste im polnischen Anerkennungsrecht einen erneuten Liberalisierungsschub aus. So überarbeitete der polnische Gesetzgeber Ende 2008 das autonome IZVR, um die Divergenz zwischen dem eigenen Anerkennungsregime und den Regelungen des EU-Zivilverfahrensrechts zu verringern. Dabei schaffte er das Gegenseitigkeitserfordernis ersatzlos ab.59 Das polnische Anerkennungsrecht ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass die Abmilderung bestehender Reziprozitätsvorbehalte als nicht ausreichend angesehen wird, sondern dass der Trend dahingeht, sie völlig abzuschaffen. IV. Tschechien: Keine Reziprozität zum Nachteil eigener Staatsbürger Tschechien hat zwar keine neueren Entwicklungen im Hinblick auf die Gegenseitigkeit zu verzeichnen, allerdings wartet es mit einer ganz besonderen Art von Reziprozitätsvorbehalt auf. Ähnlich dem deutschen Anerkennungsrecht setzt das tschechische Recht zwar auf eine gerichtliche Gegenseitigkeitsfeststellung – allerdings mit einer ganz entscheidenden Modifikation: Reziprozität wird nur dann verlangt, wenn eine ausländische Entscheidung zulasten eines tschechischen Staatsbürgers oder zulasten einer inländischen juristischen Person anerkannt oder vollstreckt werden soll.60 Das ist auf den 56 Weyde, Die Anerkennung und Vollstreckung deutscher Entscheidungen in Polen, S. 15–20. 57 Broniewicz, Postępowanie cywilne w zarysie, S. 220; Lipiński, Kodeks postępowania cywilnego, Art. 535, Rn. 3. 58 Ereciński / Ciszewski, Komentarz do kodeksu postępowania cywilnego, Art. 1146, Rn. 3–6; Weyde, Die Anerkennung und Vollstreckung deutscher Entscheidungen in Polen, S. 83–91. 59 Ereciński / Weitz, Das neue autonome Internationale Zivilverfahrensrecht in Polen, ZZPInt 13 (2008), S. 57 (57 f. und 80). 60 Pauknerová, Czech Republic, S. 2008 (2018); Uhlířová, New Private International Law in the Czech Republic, YPIL 16 (2014/2015), S. 469 (485). Das Gegenseitigkeitserfordernis findet sich in § 15 Abs. 1 lit. f) des tschechischen IPR-Gesetzes, das am 1.1.2014

B. Rechtsordnungen mit bedeutenden Entwicklungen im Anerkennungsrecht

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ersten Blick etwas befremdlich, gilt doch die Anknüpfung an die Nationalität im IPR/IZVR mittlerweile als überholt. Insbesondere stellt die Sonderbehandlung von Ausländern bei der Rechtsschutzgewährung einen Rückschritt dar.61 Andererseits hat die tschechische Regelung im Vergleich zu unterschiedslos wirkenden Gegenseitigkeitserfordernissen einen engeren Anwendungsbereich, wodurch sie ein Mehr an grenzüberschreitender Rechtsdurchsetzung ermöglicht. Zudem vermeidet sie den oftmals angeprangerten Missstand, dass Reziprozitätsvorbehalte auch eigene Staatsangehörige treffen.62 Dieser Missstand ist auch ein häufiger Kritikpunkt am deutschen Gegenseitigkeitserfordernis.63 In der Tat ist es mehr als fraglich, ob man einen ausländischen Staat dadurch beeindrucken kann, dass man den eigenen Staatsbürgern die Durchsetzung ihrer dort erstrittenen Rechte versagt.64 Vielmehr scheint die Anerkennungsversagung nur dann ein aussichtsreiches Druckmittel zur Herstellung einer gegenseitigen Anerkennungspraxis zu sein, wenn sie die Interessen rechtsschutzsuchender Angehöriger des Urteilsstaates empfindlich trifft. Die tschechische Gegenseitigkeitsbestimmung ist daher ein durchaus interessanter Ansatz, um einige Härten von üblichen Reziprozitätsvorbehalten abzumildern, wenn sich ein Staat nicht zur vollständigen Abkehr vom Gegenseitigkeitsprinzip durchringen kann. in Kraft getreten ist. Es lautet übersetzt: „Unless other provisions of this Act stipulate otherwise, a final foreign judgment shall not be recognized if [...] reciprocity is not guaranteed; reciprocity shall not be required provided the foreign judgment is not aimed against a national of the Czech Republic or a Czech legal entity.“ Übersetzung von Bříza / Trubač, Czech Republic – Act of 25 January 2012 on Private International Law, S. 3103 (3106). Diese Art von Gegenseitigkeitserfordernis steht in Kontinuität zum Recht der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR), das die Gegenseitigkeit ebenfalls nur dann verlangte, wenn sich die Entscheidung gegen einen Inländer oder eine inländische juristische Person richtete. Vgl. Steiner, The Recognition of Money Judgments in Civil and Commercial Matters, S. 99 (125–127); Vondracek, Recognition and Enforcement of Foreign Judgments Outside the Scope of Application of the Brussels and Lugano Conventions: Czechoslowakia – Czech Republic, S. 111 (115). 61 Zur historischen Entwicklung des Rechtsschutzes für Ausländer vgl. Kapitel 5 – A.II (S. 106 ff.). 62 Diesen Nachteil unterstrich jüngst wieder Basedow als Berichterstatter für einen Resolutionsentwurf des Institut de Droit international zum Einfluss der Menschenrechte im IPR /  IZVR (vgl. Institute de Droit international, Annuaire (Bd. 78), S. 235): „La condition de la réciprocité rend le particulier otage de l’état des relations entre Etats. Elle peut même conduire à ce qu’un Etat refuse d’exécuter une décision rendue en faveur de son national à l’étranger.“ Zum Resolutionsentwurf und seiner Begründung vgl. Kapitel 4 – C.II (S. 100 f.). 63 Basedow, Internationales Verfahrensrecht, S. 91 (101); Kühne, IPR-Gesetz-Entwurf, S. 176; Puttfarken, Zur Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile deutscher Kläger – verfassungswidrige Gegenseitigkeit, RIW 1976, S. 149–151. 64 Zur Kritik an Gegenseitigkeitserfordernissen wegen der Beeinträchtigung privater Rechte, insbesondere auch solcher der eigenen Staatsangehörigen, vgl. Kapitel 1 – E.II (S. 25).

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Kapitel 4 – Rechtsvergleichende Tendenzen

V. Russland: Ansätze zur Überwindung des Staatsvertragsvorbehalts Das russische Anerkennungsrecht sieht für die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile immer noch die restriktivste Form einer Gegenseitigkeitsbestimmung vor: Den Staatsvertragsvorbehalt. Diese Art von Reziprozität ist geradezu ein Charakteristikum des russischen Rechts, an dem es seit dem 19. Jahrhundert trotz aller politischen Umbrüche festhält.65 Der russische Staatsvertragsvorbehalt war zudem ein Exportschlager im östlichen Europa, denn er diente dort zahlreichen nationalen Rechtsordnungen als Vorbild.66 Allerdings würde es zu kurz greifen, wenn man aufgrund des Festhaltens am Staatsvertragsvorbehalt schlussfolgern wollte, dass im russischen Anerkennungsrecht keinerlei Veränderungen zu verzeichnen sind. Ein näherer Blick auf die Anerkennungspraxis russischer Gerichte zeigt nämlich, dass sie weitaus liberaler ist, als es der Gesetzeswortlaut vermuten lässt.67 Vor allem die russischen Wirtschaftsgerichte, die für Rechtsstreitigkeiten zwischen Unternehmen zuständig sind, legen den Staatsvertragsvorbehalt überraschend anerkennungsfreundlich aus.68 65 Der russische Staatsvertragsvorbehalt hatte seinen Ursprung bereits im 19. Jahrhundert, wobei sich allerdings die Anerkennungspraxis der zaristischen Gerichte über den Wortlaut dieser Gegenseitigkeitsbestimmung bisweilen hinwegsetzte. Nach der Errichtung der Sowjetherrschaft fand sodann eine deutliche Abschottung gegenüber fremden Richtersprüchen statt, denn abseits eines völkerrechtlichen Vertrags wurden ausländische Gerichtsentscheidungen in der Sowjetunion tatsächlich weder anerkannt noch vollstreckt. Vgl. Gerasimchuk, Die Urteilsanerkennung im deutsch-russischen Rechtsverkehr, S. 11– 20; Kurzynsky-Singer, Anerkennung ausländischer Urteile durch russische Gerichte, RabelsZ 74 (2010), S. 493 (501); Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 1507. 66 Bereits in der Zwischenkriegszeit nahm sich Polen die russische Gegenseitigkeitsbestimmung zum Vorbild (vgl. Kapitel 4 – B.III (S. 92 ff.)). Während des Kalten Krieges strahlte der sowjetische Staatsvertragsvorbehalt sodann auf viele Anerkennungsrechte der sozialistischen Staaten Europas aus. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion übernahmen schließlich viele ihrer Nachfolgestaaten diese Art von Reziprozitätsvorbehalt (vgl. Fn. 9 (S. 85)). 67 Gerasimchuk, Die Urteilsanerkennung im deutsch-russischen Rechtsverkehr, S. 139 f. 68 Obwohl die russischen Wirtschaftsgerichte bisweilen auch als „Arbitragegerichte“ übersetzt werden sind sie keine Schiedsgerichte, sondern bilden einen eigenen, spezialisierten Gerichtszweig für Wirtschafts- und Handelssachen. Während die Wirtschaftsgerichte im Allgemeinen eine anerkennungsfreundliche Linie vertreten, urteilen die ordentlichen Gerichte restriktiver. Vgl. Asoskov, Russian Federation, S. 2451 (2461); Gerasimchuk, Die Urteilsanerkennung im deutsch-russischen Rechtsverkehr, S. 24. Abyshko weist allerdings darauf hin, dass die Anerkennung und Vollstreckung von ausländischen Gerichtsentscheidungen nur recht selten vor die allgemeinen Gerichte gebracht wird und die meisten Anerkennungsfälle deshalb von den Wirtschaftsgerichten entschieden werden. Vgl. Abyshko, The Recognition and Enforcement of Foreign Judgments in Russia in the Absence of Treaties, YPIL 20 (2018/2019), S. 265 (265).

B. Rechtsordnungen mit bedeutenden Entwicklungen im Anerkennungsrecht

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Zentral für diese Rechtsprechungslinie ist ein Beschluss des Obersten Wirtschaftsgerichts der Russischen Föderation aus dem Jahre 2009, in dem es die Vollstreckbarerklärung einer niederländischen Gerichtsentscheidung bestätigte, obwohl mit den Niederlanden kein Abkommen über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von Gerichtsentscheidungen existierte. Argumentativ stützte sich das Oberste Wirtschaftsgericht in diesem Beschluss auf den Grundsatz des freundschaftlichen Entgegenkommens zwischen den Staaten (comitas gentium / courtoisie internationale), auf das Partnerschaftsabkommen Russlands mit der EU und auf Art. 6 Abs. 1 EMRK.69 Die argumentative Heranziehung des comitas-Gedankens ist dabei insofern bemerkenswert, als dass er benutzt wird, um gesetzlich festgelegte Anerkennungsvoraussetzungen zu umgehen.70 Das Abstellen auf die comitas gentium ist allerdings dadurch zu erklären, dass die russische Verfassung einen weitgehenden Vorrang des Völkerrechts gegenüber dem Gesetzesrecht vorsieht.71 Neben dem Abstellen auf die comitas erzielt die russische Rechtsprechung auch dadurch anerkennungsfreundliche Ergebnisse, indem sie das Tatbe69 Oberstes Wirtschaftsgericht, Beschluss vom 7.12.2009, Nr. VAS-13688/09 zum Az: A41-9613/09, abrufbar unter: , zuletzt abgerufen am 6.4.2023. Die zentrale Passage dieser Entscheidung lautet übersetzt: „This decision can be recognized and enforced on the territory of the Russian Federation on the basis of generally recognized principles of international law [...]: [T]he generally recognized principle of international comity, which stipulates that States should respect foreign legal system[s]; the principle of reciprocity, which provides for the mutual respect by the courts of different States for the judgments of each other; international treaties of the Russian Federation (Russia-European Union Partnership and Cooperation Agreement, Art. 6 of the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms of 1950). In addition, [the] court’s conclusions do not contradict the established practice of arbitration courts and courts of general jurisdiction, which enforce foreign judgments in the absence of a bilateral international treaty.“ Übersetzung nach Abyshko, The Recognition and Enforcement of Foreign Judgments in Russia in the Absence of Treaties, YPIL 20 (2018/2019), S. 265 (274). 70 Zwar spielte die comitas gentium vormals auch in anderen europäischen Anerkennungsrechten eine Rolle – jedoch nur solange, wie die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile gesetzlich noch nicht geregelt war, d.h. bis zu den zivilprozessualen Kodifikationen des 19. Jahrhunderts (vgl. Kapitel 1 – B.II (S. 11 ff.)). Dementsprechend ist die comitas gentium als comity-Doktrin gegenwärtig nur noch in einigen common lawRechtsordnungen relevant, die ein unkodifiziertes Anerkennungsrecht aufweisen. Zum Einfluss der comitas-Idee auf das englische Anerkennungsrecht vgl. Kapitel 3 – A.I.2 (S. 57 f.). 71 Abyshko, The Recognition and Enforcement of Foreign Judgments in Russia in the Absence of Treaties, YPIL 20 (2018/2019), S. 265 (273 f.). Art. 15 Abs. 4 der russischen Verfassung sieht vor, dass allgemeine Grundsätze und Normen des Völkerrechts wie auch völkerrechtliche Verträge der Russischen Föderation sich im Konfliktfall gegenüber den gesetzlichen Regelungen durchsetzen.

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Kapitel 4 – Rechtsvergleichende Tendenzen

standmerkmal „völkerrechtlicher Vertrag“72 sehr weit auslegt. Als völkerrechtlichen Vertrag im Sinne des Staatsvertragsvorbehalts lässt sie nämlich auch Abkommen genügen, die die Anerkennung und Vollstreckung von Gerichtsentscheidungen gar nicht explizit regeln – wie etwa das EU/RusslandPartnerschaftsabkommen oder die EMRK.73 Darüber hinaus wird in jüngster Zeit immer öfter die Rechtsprechung des EGMR zu einem aus Art. 6 Abs. 1 EMRK folgenden Recht auf grenzüberschreitende Urteilsdurchsetzung herangezogen, um eine Vollstreckung von Auslandsentscheidungen in Russland zu begründen.74 Paradoxerweise führt also die Starrheit und Restriktivität des russischen Staatsvertragsvorbehalts dazu, dass sich die russische Rechtsordnung für die EGMR-Rechtsprechung auf diesem Gebiet besonders offen zeigt.75 Insgesamt kann man daher konstatieren, dass die Anerkennungspraxis der russischen Justiz viel anerkennungsfreundlicher ist, als es der restriktive Gesetzestext vermuten lässt. Damit reiht sich Russland – anders als es auf den ersten Blick scheint – durchaus ebenfalls in die Gruppen derjenigen Staaten ein, die von Reziprozitätsvorbehalten Abstand nehmen, auch wenn diese Entwicklung bisher nicht zu einer formellen Abschaffung des Staatsvertragsvorbehalts geführt hat.

Der Staatsvertragsvorbehalt in Art. 241 Abs. 1 der wirtschaftsgerichtlichen Prozessordnung lautet übersetzt: „Entscheidungen von Gerichten ausländischer Staaten, ergangen in Streitigkeiten und anderen Rechtssachen, die aus einer unternehmerischen oder einer anderen wirtschaftlichen Betätigung stammen (ausländische Gerichte), Entscheidungen von Schiedsrichtern oder internationalen Handelsschiedsgerichten, ergangen auf dem Gebiet eines ausländischen Staates in Streitigkeiten und anderen Rechtssachen, die aus einer unternehmerischen oder einer anderen wirtschaftlichen Betätigung stammen (ausländische Schiedssprüche), werden in der Russischen Föderation durch Wirtschaftsgerichte anerkannt und vollstreckt, wenn die Anerkennung und Vollstreckung solcher Entscheidungen durch einen völkerrechtlichen Vertrag der Russischen Föderation und durch föderales Gesetz vorgesehen ist.“ [Übersetzung des Verfassers]. 73 Gerasimchuk, Die Urteilsanerkennung im deutsch-russischen Rechtsverkehr, S. 144– 152; Kurzynsky-Singer, Anerkennung ausländischer Urteile durch russische Gerichte, RabelsZ 74 (2010), S. 493 (509 f.). 74 So erkannte das Wirtschaftsgericht Moskau in zwei Urteilen aus den Jahren 2017/2018 ausländische Gerichtsentscheidungen unter Hinweis auf Art. 6 Abs. 1 EMRK an, obwohl keine Anerkennungs- oder Vollstreckungsabkommen mit dem Urteilsstaat existierten. Entsprechend entschied auch das Wirtschaftsgericht Sewastopol im Jahre 2018. Vgl. Abyshko, The Recognition and Enforcement of Foreign Judgments in Russia in the Absence of Treaties, YPIL 20 (2018/2019), S. 265 (272 f.). 75 Zur Rechtsprechung des EGMR, die aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ein subjektives Recht auf Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile ableitet, vgl. Kapitel 7 (S. 141 ff.). 72

C. Neuere Vorschläge wissenschaftlicher Arbeitsgruppen

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C. Neuere Vorschläge wissenschaftlicher Arbeitsgruppen

C. Neuere Vorschläge wissenschaftlicher Arbeitsgruppen

Im Folgenden wird analysiert, wie sich zwei renommierte wissenschaftliche Zusammenschlüsse, die Groupe européen de droit international privé (GEDIP) sowie das Institut de Droit international, im Hinblick auf Reziprozitätsvorbehalte bei der Urteilsanerkennung positionieren. I.

Groupe européen de droit international privé

Die Groupe européen de droit international privé (GEDIP)76 hat wiederholt darüber beraten, ob die europäischen Regelungen zum IZVR auch auf die Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen aus Drittstaaten erstreckt werden sollten. Ein solches einheitliches Anerkennungsregime gegenüber EU-Drittstaaten war Gegenstand der Tagungen der GEDIP in Padua (2009) und in Kopenhagen (2010). Unmittelbaren Anlass für diese Diskussion bot die grundlegende Überarbeitung der Verordnung (EG) Nr. 44/ 2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen („Brüssel I-VO“).77 In diesem Zusammenhang stellte sich die Frage, ob bei einer Erstreckung des europäischen Anerkennungsregimes auf drittstaatliche Entscheidungen Reziprozität mit dem Urteilsstaat verlangt werden sollte.78 Kurzum: Ob die Europäische Union gegenüber Drittstaaten auf Gegenseitigkeit bestehen sollte. Einem solchen „europäischen“ Reziprozitätsvorbehalt erteilte die GEDIP jedoch eine klare Absage. Dabei verwies sie auf die zahlreichen Schwierigkeiten, die Gegenseitigkeitserfordernisse in der Praxis mit sich bringen – wie Mitgliedstaaten, die eine entsprechende Bestimmung in ihrem autonomen Anerkennungsrecht vorsehen, bezeugen könnten. Dabei betonte die GEDIP, dass die Schwierigkeiten bei der Gegenseitigkeitsfeststellung auf europäischer Ebene ungleich größer wären.79 In der Tat wäre fraglich, wie zu verfahren 76 Die Groupe européen de droit international privé ist ein im Jahre 1991 gegründeter Zusammenschluss namhafter europäischer Hochschullehrer des Internationalen Privatrechts, der zum Ziel hat, die Entwicklung des europäischen IPR zu fördern und zu begleiten. Vgl. Siehr, GEDIP, S. 835 (835–837). 77 Der grundlegend überarbeitete Rechtsakt findet als Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen („Brüssel Ia-Verordnung“) ab dem 10. Januar 2015 Anwendung (vgl. Art. 81 der Verordnung). 78 Zu der Frage, ob ein uniformes europäisches Regelungswerk in Bezug auf die Anerkennung und Vollstreckung drittstaatlicher Entscheidungen wünschenswert ist vgl. Bonomi, European Private International Law and Third Staates, IPRax 2017, S. 184 (190–193). 79 Marc Fallon, Commentaire de la proposition intitulée „Le règlement Bruxelles I et les décisions judiciaires rendues dans des États non membres de l’Union européenne“, , zuletzt abgerufen am 6.4.2023: „Globalement, le régime appliqué aux décisions de

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Kapitel 4 – Rechtsvergleichende Tendenzen

wäre, wenn ein Drittstaat etwa Entscheidungen französischer Gerichte regelmäßig vollstreckt, Entscheidungen deutscher Gerichte aber nicht. Jedenfalls zeigen die Beratungen der GEDIP, dass es in Fachkreisen äußerst skeptisch gesehen wird, ein unionsweites Anerkennungs- und Vollstreckungsregime gegenüber Drittstaaten unter den Vorbehalt der Gegenseitigkeit zu stellen. II. Institut de Droit international Eine ähnliche Skepsis gegenüber Reziprozitätserfordernissen ist auch aus dem Institut de Droit international80 zu vernehmen. Dessen vierte Kommission („Droits de l’homme et droit international privé“), die den Einfluss der Menschenrechte auf das internationale Privat- und Zivilverfahrensrecht untersucht, hat sich jüngst ebenfalls mit Fragen der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile beschäftigt. Hierzu hat Jürgen Basedow als Berichterstatter einen Resolutionsentwurf vorgelegt, den er auf der Tagung in Hyderabad (2017) präsentierte. Als Ausgangspunkt stellte der Resolutionsentwurf in seiner Präambel fest, dass menschenrechtliche Verpflichtungen nicht auf innerstaatliche Sachverhalte beschränkt seien, sondern auch in grenzüberschreitenden Situationen Beachtung finden müssten.81 In Bezug auf die Urteilsanerkennung erkannte der Resolutionsentwurf explizit an, dass das Recht auf ein faires Verfahren auch bei der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen eine Rolle spielt.82 Dies begründete Basedow in seiner mündlichen Erläuterung des Entwurfs mit Verweis auf die EGMR-Rechtsprechung zu Art. 6 EMRK und dabei insbesondere mit der Rechtssache Sholokhov ./. Armenien und Moldawien, die ein menschenrechtlich geprägtes Recht auf grenzüberschreitende Durchsetzung pays tiers ne devrait pas différer fondamentalement de celui appliqué actuellement aux décisions d’États membres. Sa nature serait analogue à celle d’un régime national de reconnaissance de jugements étrangers. En particulier, le régime européen ne dépendrait pas d’une condition de réciprocité. La pratique des États qui connaissent une telle condition a montré les difficultés de sa mise en œuvre. Ces difficultés seraient accrues dans le présent contexte.“ 80 Das Institut de Droit international ist eine seit 1873 bestehende Organisation, die aus renommierten Rechtswissenschaftlern und Richtern internationaler Gerichtshöfe besteht und die sich der wissenschaftlichen Durchdringung und Fortentwicklung des Völkerrechts widmet. Vgl. Macalister-Smith, Institute de Droit international, Rn. 1–6 und 19 f. 81 Institute de Droit international, Annuaire (Bd. 78), S. 217: „Considérant que cette obligation ne saurait pas être limitée aux espaces internes et doit se rapporter aux relations transfrontières“. 82 Art. 21 des Resolutionsentwurfs lautet: „Le droit à un procès équitable est applicable à la reconnaissance et à l’exécution d’un jugement étranger statuant de façon définitive sur des droits de caractère civil ou commercial. Ce droit doit notamment être respecté dans la procédure visant l’exécution du jugement.“ Vgl. Institute de Droit international, Annuaire (Bd. 78), S. 223.

D. Fazit

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einer endgültigen Gerichtsentscheidung anerkannte.83 Dementsprechend bewertete der Resolutionsentwurf folgende weitverbreitete Anerkennungshindernisse als menschenrechtlich unzulässig: Einen Staatsvertragsvorbehalt, gerichtliche Gegenseitigkeitserfordernisse sowie die révision au fond.84 Damit erteilt auch der Resolutionsentwurf des Institut de Droit international Reziprozitätsvorbehalten bei der Urteilsanerkennung eine unmissverständliche Absage.

D. Fazit

D. Fazit

Insgesamt zeigt sich auf dem europäischen Kontinent ein deutlicher, rechtspolitischer Trend: Eine Abkehr von Gegenseitigkeitserfordernissen bei der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile. Diese Abkehr manifestiert sich auf verschiedenen Ebenen und wird von unterschiedlichen Akteuren vorangetrieben. Dort, wo in jüngerer Zeit der Gesetzgeber eingegriffen und das autonome Anerkennungsrecht reformiert hat, ist in der Regel eine Abschaffung von Gegenseitigkeitserfordernissen zu beobachten. Den Auftakt machte dabei die Schweiz, die bereits 1987 auf frühere Reziprozitätsvorbehalte verzichtete. Dem folgte eine ganze Reihe mittel- und osteuropäischer Staaten, wie etwa Polen oder mehrere Nachfolgestaaten des früheren Jugoslawiens. Zuletzt gab auch Spanien seine Gegenseitigkeitsbestimmung auf, obgleich es sich dabei nur um eine „weiche“ Reziprozitätsvorschrift handelte. Noch deutlicher erscheint dieser Trend, wenn man sich vergegenwärtigt, dass nirgendwo eine entgegengesetzte Bewegung zu beobachten ist: Kein einziger Staat, der in jüngerer Zeit ein Gegenseitigkeitserfordernis eingeführt hätte! Die Anziehungskraft der Reziprozitätsidee ist also offenbar längst verflogen. Ganz offensichtlich erkennen die europäischen Staaten nicht, dass die Einführung eines Gegenseitigkeitserfordernisses ihnen irgendeinen Vorteil bringen könnte. Aber auch dort, wo der Gesetzgeber nicht tätig geworden ist, sind bisweilen in der Rechtsprechung nationaler Gerichte deutliche Tendenzen zur Überwindung von Reziprozitätsvorbehalten zu verzeichnen. Eine Institute de Droit international, Annuaire (Bd. 78), S. 235. Zur Rechtssache Sholokhov ./. Armenien und Moldawien vgl. Kapitel 7 – A.III.2.b) (S. 147). 84 Art. 22 des Resolutionsentwurfs lautet: „1. Est incompatible avec le droit des parties au procès équitable en matière civile et commerciale un régime a) qui refuse toute reconnaissance et exécution de jugements étrangers à défaut d’obligations créées par des instruments internationaux; b) qui requiert la preuve de la réciprocité comme condition de la reconnaissance et de l’exécution de jugement étranger; ou c) qui permet une révision complète du fond de la décision étrangère au stade de la reconnaissance ou de l’exécution. 2. La reconnaissance ou l’exécution d’un jugement étranger contre la volonté d’une partie est exclue si la procédure du tribunal étranger a violé le droit à une procédure équitable de cette partie.“ Vgl. Institute de Droit international, Annuaire (Bd. 78), S. 223. 83

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Kapitel 4 – Rechtsvergleichende Tendenzen

solche Entwicklung ist insbesondere in Russland zu beobachten, wo es ein starkes Spannungsverhältnis zwischen einem strikten Staatsvertragsvorbehalt und einer anerkennungsfreundlichen Rechtsprechung gibt. Bemerkenswert ist, dass die russischen Gerichte den Staatsvertragsvorbehalt zu überwinden versuchen, indem sie sich auf die jüngere EGMR-Rechtsprechung berufen und auf die menschenrechtliche Dimension der Anerkennung und Vollstreckung von ausländischen Urteilen abstellen. Damit verleihen sie der Rechtsprechungslinie des EGMR, die das Interesse von privaten Urteilsgläubigern an der grenzüberschreitenden Rechtsdurchsetzung ins Zentrum rückt, praktische Wirksamkeit. Auch die Arbeiten wissenschaftlicher Arbeitsgruppen auf dem Gebiet der grenzüberschreitenden Rechtsdurchsetzung zeigen eine deutliche Abkehr von der Gegenseitigkeitsidee. So rät die Groupe européen de droit international privé davon ab, einen „europäischen“ Reziprozitätsvorbehalt vorzusehen, falls die Anerkennung und Vollstreckung drittstaatlicher Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union einheitlich geregelt werden sollte. Während die GEDIP vor allem die mangelnde Praktikabilität von Gegenseitigkeitserfordernissen betont, unterstreicht ein Resolutionsentwurf des Institut de Droit international ihre menschenrechtliche Unzulässigkeit. Auch hier wird die Rechtsprechungslinie des EGMR aufgegriffen, wonach es nicht im Belieben des Anerkennungsstaates stehen kann, ob er eine grenzüberschreitende Durchsetzung von privaten Rechten ermöglicht. Insgesamt zeigt sich, dass die Gegenseitigkeit bei der Urteilsanerkennung europaweit überall in der Defensive ist. Weder Gesetzgebung noch Rechtsprechung oder Wissenschaft vermögen Reziprozitätsvorbehalten etwas Positives abzugewinnen – ja, es wird gar ihre menschenrechtliche Zulässigkeit offen in Frage gestellt. In der Abkehr vor der Gegenseitigkeit bei der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile manifestiert sich daher ein deutlicher, europaweiter Trend.

Teil II

Vorgaben der EMRK für die Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen

Kapitel 5

Internationales Zivilverfahrensrecht und Menschenrechte Kapitel 5 – Internationales Zivilverfahrensrecht und Menschenrechte

Das Internationale Zivilverfahrensrecht dient der grenzüberschreitenden Durchsetzung von privaten Rechten.1 Rechtsschutzsuchende müssen sich hierfür an staatliche Gerichte wenden, die Hoheitsgewalt ausüben. Fragen des Rechtsschutzes und der Rechtsdurchsetzung betreffen daher immer auch die Art und Weise, wie ein Hoheitsträger gegenüber dem Einzelnen seine hoheitlichen Befugnisse ausübt. Dem Internationalen Zivilverfahrensrecht ist eine grund- und menschenrechtliche Relevanz daher stets immanent.

A. Späte „Entdeckung“ der Menschenrechte im IZVR

A. Späte „Entdeckung“ der Menschenrechte im IZVR

Allerdings sickerten menschenrechtliche Wertungen erst langsam in die grenzüberschreitende Privatrechtsdurchsetzung ein. Erst langsam entwickelte sich nämlich überhaupt ein Bewusstsein dafür, dass Zuständigkeits- und Anerkennungsfragen einen menschenrechtlichen Gehalt aufweisen.2 Diese späte Entdeckung der Menschenrechte wurde vor allem durch zwei Faktoren bedingt: Einerseits durch die Wahrnehmung des IZVR als ein Rechtsgebiet zwischen Privat- und Völkerrecht, andererseits durch den historisch lückenhaften Rechtsschutz in grenzüberschreitenden Konstellationen.3 1 Das IZVR beschäftigt sich vornehmlich mit der internationalen Zuständigkeit sowie mit der Anerkennung und Vollstreckung von ausländischen Entscheidungen. Daneben werden vor allem noch das internationale Zustellungsrecht sowie das internationale Beweisrecht zum IZVR hinzugezählt. Vgl. v. Bar / Mankowski, Internationales Privatrecht, Bd. I, S. 348 f.; Hay / Rösler, Internationales Privat- und Zivilverfahrensrecht, S. 1 f.; Nagel / Gottwald, Internationales Zivilprozessrecht, Rn. 1.10. 2 Andererseits sind dem IZVR schon länger Rechtsinstitute wie z.B. der Notgerichtsstand (forum necessitatis) bekannt, der einen déni de justice verhindern und Rechtsschutz sicherstellen soll. Diese Rechtsinstitute wiesen schon immer einen menschenrechtlichen Gehalt auf – auch wenn dieser nicht explizit thematisiert wurde. Kinsch, Human Rights and Private International Law, S. 880 (881). Zum Verbot eines déni de justice vgl. auch Kapitel 5 – B.I (S. 108 f.) und Kapitel 7 – C.I (S. 151 ff.). 3 Ein weiterer Faktor war, dass sich das IZVR aus dem nationalen Prozessrecht heraus entwickelte, wodurch der Blick vor allem auf die nationalen Grundrechte gerichtet war. Hess, EMRK, Grundrechte-Charta und europäisches Zivilverfahrensrecht, S. 339 (339 f.).

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Kapitel 5 – Internationales Zivilverfahrensrecht und Menschenrechte

Traditionelle Wahrnehmung: IZVR zwischen Privat- und Völkerrecht

Das IZVR ist zwar als Prozessrecht eigentlich Teil des öffentlichen Rechts, womit es in den klassischen Wirkbereich von Grund- und Menschenrechten fällt. Doch seine Wahrnehmung ist eine andere. Durch seine Nähe zum IPR wird es als Privatrecht wahrgenommen.4 Auch personell sind die Verbindungen zwischen IZVR und IPR eng: Häufig sind es dieselben Personen, die sich mit diesen beiden Rechtsgebieten wissenschaftlich befassen.5 Früher hingegen galt das IZVR als Teil des Völkerrechts, da weite Teile des IZVR durch den Rechthilfeverkehr geprägt waren.6 Da in Fällen der Rechtshilfe Behörden zweier Staaten miteinander kooperieren, verlieh dies dem IZVR einen zutiefst zwischenstaatlichen Charakter.7 II. Historische Entwicklung: Vom lückenhaften zum universellen Rechtsschutz Ein weiterer Grund für die erst späte Entdeckung der Menschenrechte im IZVR liegt in seiner historischen Entwicklung. In Fällen mit Auslandsberührung gab es zunächst nämlich keinen umfassenden Rechtsschutz; jedenfalls nicht für jedermann. Es war weder selbstverständlich, dass im Ausland statt4 Viele Rechtsordnungen, wie etwa die englische oder französische, sehen das IZVR traditionell als Teil eines weitverstandenen IPR (conflict of laws / droit international privé) an. Bureau / Muir Watt, Droit international privé, Bd. I, Rn. 1; Dicey, Morris & Collins, The Conflict of Laws, Rn. 1-003; Kinsch, Droits de l’homme, droits fondamentaux et droit international privé, Recueil des Cours 318 (2005), Rn. 11. 5 Mankowski, Über den Standort des Internationalen Zivilprozessrechts, RabelsZ 82 (2018), S. 576 (587–591). 6 Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein hat man nicht zwischen Völkerrecht einerseits und dem IPR oder IZVR andererseits unterschieden. Kollisionsrechtliche und internationalzivilverfahrensrechtliche Fragestellungen wurden folglich als völkerrechtliche Probleme angesehen. Bureau / Muir Watt, Droit international privé, Bd. I, Rn. 8. So ordnete etwa Robert von Mohl noch im Jahre 1855 das „Internationale Recht der Privaten“ klar dem Völkerrecht zu: „Was nun zuerst die allgemeinen wissenschaftlichen Bearbeitungen betrifft, […] so ist wohl kaum in irgend einem Theile des Völkerrechtes ein Abschluss so ferne, als eben hier.“ v. Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, S. 444. Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings, dass das IZVR die Interessen eines anderen Staates berühren kann. Bejaht etwa ein Staat seine internationale Zuständigkeit, so kann er mit einem anderen Staat in Konflikt geraten, der sich ebenfalls berufen fühlt, zu judizieren. Fragen der internationalen Zuständigkeit betreffen letztlich also immer auch Machtansprüche verschiedener Staaten. Bertele, Souveränität und Verfahrensrecht, der untersucht, ob aus dem Völkerrecht Grenzen für die Ausübung von Gerichtsbarkeit folgen. 7 Basedow, Aliens law (Condition des étrangers, Fremdenrecht), S. 51 (56). Während heutzutage die Rechtshilfe vor allem bei der Erhebung von Auslandsbeweisen und bei der Auslandszustellung anzutreffen ist, wurden in der Vergangenheit auch ausländische Gerichtsurteile auf diesem Weg vollstreckt. Vgl. Wiedemann, Vollstreckbarkeit, S. 37 f. sowie ferner Kapitel 1 – B.I (S. 10 f.).

A. Späte „Entdeckung“ der Menschenrechte im IZVR

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gefundene Vorgänge von inländischen Richtern beurteilt werden konnten, noch, dass Ausländer klagen durften.8 Vor Gericht zu klagen war einst grundsätzlich den eigenen Bürgern vorbehalten. Wenn das Klagerecht an ausländische Händler verliehen wurde, dann war dies mitunter ein besonderes Privileg.9 Von einem Privileg hin zu einem Menschenrecht war es noch ein langer Weg. Dieser Weg führte über die Gegenseitigkeit: So kam ein Ausländer zunächst nur bei entsprechender Gegenleistung seines Staates in den Genuss gerichtlichen Rechtsschutzes.10 Erst als letzter Schritt wurde der Rechtsschutz für Ausländer schließlich dem für Inländer angeglichen.11 Das Gegenseitig8 Das common law etwa war wegen seines strengen Geschworenensystems daran gehindert, über Tatsachen zu befinden, die sich auf ausländischem Territorium zugetragen haben. Vgl. hierzu Kapitel 3 – A.I (S. 51 ff.). Zur früheren Anerkennung der Rechtsfähigkeit von Ausländern auf Grundlage von Gegenseitigkeit vgl. Hepting, Die Gegenseitigkeit im Internationalen Privatrecht und Internationalen Zivilprozessrecht, S. 17–19. Für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte von Martens aber immerhin konstatieren, dass das Klagerecht von Ausländern allgemein anerkannt sei: „Die Staaten, Glieder der internationalen Gemeinschaft, haben die Pflicht, nicht nur die Anerkennung der wohlerworbenen Rechte zu gewährleisten, sondern auch den gerichtlichen Schutz derselben sicherzustellen. Das Klagerecht muss für Einheimische und Fremde das gleiche sein, ganz abgesehen von besonderen internationalen Vereinbarungen. Diese allgemeine Regel findet nur in Frankreich noch keine volle Anerkennung.“ v. Martens, Völkerrecht, Bd. II, S. 343. Für eine ausführliche und differenzierte Betrachtung vgl. v. Bar, Theorie und Praxis des internationalen Privatrechts, Bd. I, Rn. 95. 9 Im England des Hoch- und Spätmittelalters bestand die Regel, dass Ausländer durch das common law nicht geschützt waren, sodass ausländische Händler und Kaufleute nicht vor ordentlichen Gerichten klagen durften. Doch da sie allgemeiner Auffassung nach unter besonderem Schutz des Königs standen, wurde ihnen anderweitiger Rechtsschutz ermöglicht: Sie konnten klagen, wenn auch meist nicht nach den Regeln des common law, sondern nach dem naturrechtlichen law merchant. Das sollte für ausländische Kaufleute einen Anreiz bilden, ihre Waren im Inland feilzubieten. Sack, Conflicts of Laws in the History of the English Law, S. 342 (349 f.). 10 Gesler, § 328 ZPO – Ein Beitrag zu der Lehre von der zwingenden Natur der Kollisionsnormen, S. 28 f; Hess, EMRK, Grundrechte-Charta und europäisches Zivilverfahrensrecht, S. 339 (341), spricht von der „Dominanz fremdenrechtlicher Regelungen im traditionellen IZVR“. Ein Beispiel für die fremdenrechtliche Gegenseitigkeit findet sich in Art. 11 des französischen Code civil. Diese Norm stellt den Grundsatz auf, dass ein Ausländer in Frankreich die gleichen Rechte genießt wie ein Franzose in dem entsprechenden ausländischen Staat: „L‘étranger jouira en France des mêmes droits civils que ceux qui sont ou seront accordés aux Français par les traités de la nation à laquelle cet étranger appartiendra.“ Über den Wortlaut dieser Norm hinaus hat sich die französische Rechtsprechung allerdings mittlerweile hinweggesetzt (vgl. Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, Rn. 645, Fn. 1). Für die Annahme der internationalen Zuständigkeit unter der Voraussetzung der Gegenseitigkeit vgl. Basedow, Gegenseitigkeit im Kollisionsrecht, S. 335 (341–342) und Lagarde, La réciprocité en droit international privé, Recueil des Cours 154 (1977), S. 147–153. 11 Basedow, Aliens law (Condition des étrangers, Fremdenrecht), S. 51 (51): „The development of aliens law is characterized by a constant evolution towards the grant to for-

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keitsprinzip war also eine Vorstufe zur Verrechtlichung.12 Erst seine Überwindung führte zu einem umfassenden, gleichwertigen Rechtsschutz für Inund Ausländer.13 Die Gegenseitigkeit ist in dieser Hinsicht also die Antithese zu menschenrechtlichen Garantien: Sie macht die Rechte einer Person unmittelbar von staatlichem Verhalten abhängig, während Menschenrechte sich dadurch auszeichnen, dass sie eine individuelle Rechtsposition zusprechen, die unabhängig von staatlichem Wohlwollen oder Verhalten ist.

B. Beispiele menschenrechtlichen Einflusses

B. Beispiele menschenrechtlichen Einflusses

Mittlerweile macht sich der Einfluss der Menschenrechte im gesamten IZVR bemerkbar. Er reicht von Fragen der internationalen Zuständigkeit bis hin zur Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile. Das Eindringen höherrangiger, individualschützender Wertungen ist ein Phänomen, das weder strikt auf die in der EMRK verbürgten Menschenrechte beschränkt ist noch auf die deutsche Rechtsordnung. I.

Déni de justice

Im Paris der dreißiger Jahre ereignete sich ein gleichsam herzzerreißender Fall. Eine russische Exilantin wartete dort jahrelang vergeblich auf ihren Gatten. Dieser war ihr, anders als versprochen, nicht nach Frankreich gefolgt. Stattdessen blieb er in Konstantinopel, wo er mit einer anderen Frau zusammenlebte und schließlich die türkische Staatsangehörigkeit annahm. Nach Jahren des Wartens wollte sich die gekränkte Ehefrau scheiden lassen. Doch weder die französischen noch die türkischen Gerichte waren für eine Scheidung zuständig. Nach den Regeln des einfachen Rechts hätte somit kein Scheidungsprozess eingeleitet werden können. Das Tribunal civil de la Seine jedoch erbarmte sich und nahm die Klage an.14 Das war notwendig, um eine eigners, first, of rights as such, then of better rights, and finally – with regard to private law – of equal rights.“ 12 Vgl. Hepting, Die Gegenseitigkeit im Internationalen Privatrecht und Internationalen Zivilprozessrecht, S. 9. 13 Andererseits kann eine grund- und menschenrechtliche Perspektive Impulse geben, um eine aufgrund der Gegenseitigkeitslogik bestehende Schlechterstellung von Ausländern zu beheben. So wurde etwa im deutschen Recht das Gegenseitigkeitserfordernis für die Gewährung von Prozesskostenhilfe im Jahre 1980 gestrichen. Im Jahre 1996 wurde zudem das Gegenseitigkeitserfordernis für die Leistung einer Prozesskostensicherheit abgeschafft. Basedow, Gegenseitigkeit im Kollisionsrecht, S. 335 (342). 14 Tribunal civil de la Seine, Entscheidung vom 2.4.1931 – Clunet 59 (1932), S. 370– 373. Aufgrund des Beklagtenwohnsitzes sah das französische Recht die türkischen Gerichte als zuständig an. Das türkische Recht hingegen knüpfte an den Klägerwohnsitz an – und

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weltweite Rechtsschutzverweigerung – einen déni de justice – zu verhindern.15 Das Verbot eines déni de justice ist eine seit langem anerkannte Durchbrechung der geschriebenen Zuständigkeitsregeln.16 Früher wurde es aus dem Völkergewohnheitsrecht abgeleitet und war fremdenrechtlicher Natur.17 Doch mit der Zeit trat klarer hervor, dass hinter dem Verbot der Rechtsschutzverweigerung grund- und menschenrechtliche Postulate stehen.18 Die Rechtsfigur des déni de justice ist daher ein gutes Beispiel für den Einfluss und die Wirkweise der Menschenrechte als Korrektiv für unbeabsichtigte Lücken im einfachen Recht. II. Exorbitante Gerichtsstände Auch bei der Bewertung exorbitanter Gerichtsstände zeigt sich ein Eindringen menschenrechtlichen Einflusses. Exorbitante Gerichtsstände bilden in gewisser Weise das Gegenstück zu einem déni de justice. Während letzterer zu einer Rechtsschutzverweigerung führt, ermöglichen exorbitante Gerichtsstände sah seinerseits die französischen Gerichte als zuständig an. Vgl. auch Schütze, Die Notzuständigkeit im deutschen Recht, S. 567 (567 f.). 15 Perroud, Note sous Trib. civ. Seine (4e ch.), 2 avril 1931, Clunet 59 (1932), S. 373: „Le jugement précise seulement par là qu’aucun tribunal turc ne serait compétent; sa propre compétence est donc fondée sur la nécessité d’éviter un déni de justice.“ 16 Ein déni de justice kann sowohl aufgrund eines negativen Kompetenzkonflikts entstehen als auch bei rein faktischem Stillstand der Rechtspflege im international zuständigen Staat, wie etwa während eines Bürgerkriegs. Ein weiteres Beispiel für einen déni de justice ist die Nichtanerkennung eines ausländischen Urteils, wenn nicht gleichzeitig ein inländischer Gerichtsstand für einen erneuten Prozess im Inland zur Verfügung gestellt wird. Zu den Fallgruppen des déni de justice vgl. Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, Rn. 1024–1029 und Schütze, Die Notzuständigkeit im deutschen Recht, S. 567 (571– 575). Zum déni de justice bei der Nichtanerkennung einer ausländischen Entscheidung vgl. auch Kapitel 7 – C.I (S. 151 ff.). 17 Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, Rn. 385: „Nach klassischem Völkerrechtsverständnis handelt es sich um ein Problem des Fremdenrechts, aus neuerer Sicht geht es jedoch (auch) um eine menschenrechtliche Frage, denn auch gegenüber eigenen Staatsangehörigen ist Rechtsschutzverweigerung verboten […] Dieser menschenrechtliche Ansatz ermöglicht eine Überwindung der Mediatisierung des Menschen durch das klassische Völkerrecht […].“ Kinsch, Droits de l’homme, droits fondamentaux et droit international privé, Recueil des Cours 318 (2005), Rn. 19: „L’invocation de la notion de déni de justice est, en substance, l’invocation d’un droit fondamental – le droit à l’accès à la justice […].“ 18 Das Verbot eines déni de justice folgt aus dem Völkergewohnheitsrecht, aus dem grundgesetzlichen Justizgewährungsanspruch sowie aus Art. 6 Abs. 1 EMRK. Ereciński /  Weitz, Internationale Notzuständigkeit im polnischen Internationalen und Europäischen Zivilverfahrensrecht, S. 187 (187 f.); Hau, Grundlagen der internationalen Notzuständigkeit im Europäischen Zivilverfahrensrecht, S. 355 (363); Kinsch, Droits de l’homme, droits fondamentaux et droit international privé, Recueil des Cours 318 (2005), Rn. 20. Zu den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK an die Gewährung eines Notgerichtsstands vgl. EGMR, Urteil vom 15.3.2018 [Große Kammer], Nr. 51357/07 (Naït-Liman ./. Schweiz).

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Prozesse in fremden Staaten, zu denen kein hinreichender Bezug besteht. Ein Beispiel für einen solchen Gerichtsstand ist Art. 14 des französischen Code civil. Er sieht die internationale Zuständigkeit französischer Gerichte für Klagen gegen Ausländer vor, mit denen ein Franzose einen Vertrag geschlossen hat.19 Die einzige notwendige Verbindung einer Streitigkeit zu Frankreich ist somit die Nationalität des französischen Vertragspartners.20 Schließt beispielsweise ein Chinese mit einem französischen Touristen einen Vertrag in Shanghai, so soll ein französisches Gericht darüber befinden dürfen.21 Ein weiteres Beispiel für exorbitante Gerichtsstände sind Vermögensgerichtsstände wie etwa § 23 ZPO.22 Auf internationaler Ebene sind exorbitante Gerichtsstände schon seit langem unerwünscht. So schloss bereits das Brüsseler Übereinkommen von 1968 die Gerichtsstände des Art. 14 CC und des § 23 ZPO aus.23 Auch nach der Brüssel Ia-VO sind diese Gerichtsstände gegenüber Be-

19 Art. 14 CC lautet: „L’étranger même non résidant en France, pourra être cité devant les tribunaux français, pour l’exécution des obligations par lui contractées en France avec un Français. Il pourra être traduit devant les tribunaux de France, pour les obligations par lui contractées en pays étranger envers des Français.“ 20 Bureau / Muir Watt, Droit international privé, Bd. I, Rn. 158. Deshalb dürfte Art. 14 CC wohl gegen die EMRK verstoßen. Kinsch, Droits de l’homme, droits fondamentaux et droit international privé, Recueil des Cours 318 (2005), Rn. 55: „La doctrine française est consciente, depuis une quinzaine d’années, du caractère problématique de la compatibilité de l’article 14 du Code civil avec la Convention européenne des droits de l’homme. La plupart des auteurs reconnaissent que l’article 14, tel qu’il est interprété par la jurisprudence, risque de conduire à des résultats inconciliables avec la Convention, que ce soit en raison de son caractère discriminatoire ou en raison de son caractère exorbitant.“ 21 Dabei belastet allein die Notwendigkeit, sich gegen eine Klage im Ausland verteidigen zu müssen, den Beklagten stark. Zu den faktischen Erschwerungen einer Prozessführung im Ausland vgl. Kapitel 7 – C.I.3 (S. 155). 22 § 23 Satz 1 ZPO lautet: „Für Klagen wegen vermögensrechtlicher Ansprüche gegen eine Person, die im Inland keinen Wohnsitz hat, ist das Gericht zuständig, in dessen Bezirk sich Vermögen derselben […] befindet.“ Die Rechtsprechung legt diese Norm mittlerweile allerding restriktiv aus. So fordert sie, über den Wortlaut hinaus, zusätzlich einen hinreichenden Inlandsbezug. BGH, Urteil vom 2.7.1991 – XI ZR 206/90 – NJW 1991, 3092 (3094): „Es widerspräche dieser gesetzgeberischen Vorstellung, § 23 ZPO im Wege der reinen Wortauslegung so zu verstehen, daß allein das Vorhandensein von Inlandsvermögen des Bekl. ausreiche, die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte für jedwede Streitigkeit zwischen Parteien ohne Wohnsitz in Deutschland zu begründen […] Die darin liegende – durch sachliche Erfordernisse nicht zu rechtfertigende – Zuständigkeitsanmaßung der deutschen Gerichtsbarkeit müsste zu außenwirtschaftlichen und außenpolitischen Belastungen führen.“ Durch die Rechtsprechung wurde also im Ergebnis ein unbestimmtes Tatbestandsmerkmal eingefügt, was eine Anomalie im auf Vorhersehbarkeit getrimmten deutschen Zuständigkeitsrecht darstellt. Schlosser, Einschränkung des Vermögensgerichtsstandes, IPRax 1992, S. 140 (142). 23 Art. 3 Satz 2 EuGVÜ.

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klagten mit Wohnsitz innerhalb der EU verboten.24 Die Unerwünschtheit exorbitanter Gerichtsstände wurde zunächst aus einem zwischenstaatlichen Blickwinkel hergeleitet. Es wurde nämlich diskutiert, ob sie nicht völkerrechtswidrig seien. Doch diese Ansicht hat sich nicht durchgesetzt, sodass exorbitante Gerichtsstände aus völkerrechtlicher Perspektive zwar unerwünscht, aber grundsätzlich erlaubt sind.25 Etwas anderes könnte sich jedoch ergeben, wenn man einen individualrechtlichen Blickwinkel einnimmt und nach menschenrechtlichen Implikationen fragt.26 Aus dieser Perspektive sind exorbitante Gerichtsstände problematisch. Sie bevorzugen einseitig den Kläger und benachteiligen den Beklagten, der sich in fremden Ländern verteidigen muss, zu denen der Rechtsstreit keinen Bezug hat.27 Eine solch ausufernde Gerichtspflichtigkeit des Beklagten lässt sich kaum rechtfertigen, sodass sie gegen das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) verstoßen dürfte.28 Ein menschenrechtlicher Blick führt somit dazu, dass exorbitante Gerichtsstände nicht nur unerwünscht sind – sondern schlicht unzulässig. III. Alien Tort Claims Act US-Menschenrechtsklagen nach dem Alien Tort Claims Act sind ein weiteres Beispiel für die Relevanz von Menschenrechten bei der internationalen Zuständigkeit. Bei solchen Klagen werden Menschenrechtsverletzungen in fernen Ländern vor US-amerikanischen Gerichten verhandelt. Prominent war der Fall Kiobel, in dem nigerianische Stammesangehörige den Mineralölkonzern Shell in New York verklagten. Sie warfen seinen britischen, niederländi24 In der nach Art. 5 Abs. 2 Brüssel Ia-VO vorgesehenen Notifizierung nach Art. 76 Brüssel Ia-VO sind u.a die französischen Gerichtsstände der Art. 14, 15 CC sowie die deutschen und österreichischen Vermögensgerichtsstände (§ 23 ZPO und § 99 JN) genannt. Vgl. Amtsblatt der Europäischen Union 2105/C 4/02 vom 9.1.2015. 25 Die Völkerrechtswidrigkeit offenlassend: BVerfG, Beschluss vom 12.4.1983 – 2 BvR 678/81, BVerfGE 64, 1 (18 f.). Nach Mansel ist § 23 ZPO jedenfalls dann verfassungs- und völkerrechtskonform, wenn die Norm in Übereinstimmung mit der BGHRechtsprechung restriktiv ausgelegt und ein hinreichender Inlandsbezug gefordert wird. Mansel, Vermögensgerichtsstand und Inlandsbezug bei der Entscheidungs- und Anerkennungszuständigkeit am Beispiel der Anerkennung US-amerikanischer Urteile in Deutschland, S. 561 (566). 26 Schlosser, Einschränkung des Vermögensgerichtsstandes, IPRax 1992, S. 140 (140). „Die Frage der internationalen Zuständigkeit der nationalen Gerichte hat in der Tat auch eine Menschenrechtsdimension.“ 27 Aus diesem Grunde die Verfassungswidrigkeit des § 23 ZPO bejahend: Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, S. 620–647. 28 Bureau / Muir Watt, Droit international privé, Bd. I, Rn. 62; Sinopoli, Le droit au procès équitable dans les rapports privés internationaux, Rn. 128–145. Schlosser, Einschränkung des Vermögensgerichtsstandes, IPRax 1992, S. 140 (141): „Daß auf der Beklagtenseite ein effektiver Rechtsschutz auch einen zumutbaren Gerichtsstand einschließt, liegt auf der Hand.“

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schen und nigerianischen Konzerngesellschaften vor, lokalen Widerstand gegen Ölbohrungen mit verbrecherischen Mitteln – unter anderem Mord, Folter und Plünderungen – brutal bekämpft zu haben. Alle diese Handlungen spielten sich jedoch in Nigeria ab; sowohl auf Kläger- wie auch auf Beklagtenseite standen ausschließlich Ausländer bzw. ausländische Gesellschaften.29 Offensichtlich gab es also keinen Bezug zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Warum also sollte dieser Fall in den USA verhandelt werden? Der Grund hierfür lag in dem Alien Tort Claims Act aus dem Jahre 1789. Dieses Gesetz bestimmt, dass die US-Bundesgerichte für Klagen eines Ausländers aufgrund von Völkerrechtsverletzungen zuständig sind.30 Damit wurde wohl ursprünglich bezweckt, das Ausland von der Völkerrechtstreue der jungen amerikanischen Republik zu überzeugen.31 Als potentielle Völkerrechtsdelikte hatte man vor allem Angriffe gegen ausländische Diplomaten, Verletzung sicheren Geleits sowie Piraterie im Sinn.32 Rund 200 Jahre lang fristete diese Bestimmung ein Schattendasein. Fast vollkommen in Vergessenheit geraten, wurde sie in den 1980-er Jahren gleichsam wachgeküsst, indem man Menschenrechtsverletzungen als Völkerrechtsdelikte qualifizierte.33 Dadurch wurde auf einmal die Zuständigkeit für Klagen wegen Verbrechen in fremden Ländern begründet. Diese Auslegung wurde zum einen durch den weiten Wortlaut ermöglicht, der schlicht von Völkerrechtsverletzung („violations of the law of nations“) spricht. Zum anderen aber auch dadurch, dass der Schutz elementarer Menschenrechte zum Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts avancierte.34 Bei dieser Lesart des Alien Tort Claims Act zeigt sich ein ganz und gar unmittelbarer Einfluss der Menschenrechte auf das IZVR: Die VerKiobel v Royal Dutch Petroleum Co. (2013), 133 S. Ct. 1659, 1662–1663 (2013). Der Alien Tort Claims Act wurde als Teil des Judiciary Act 1789 eingeführt und bei der Neufassung in 28 U.S.C. § 1350 nur marginal verändert. Meyer, Der Alien Tort Claims Act, S. 28 f. Der aktuelle Wortlaut lautet: „The district courts shall have original jurisdiction of any civil action by an alien for a tort only, committed in violation of the law of nations or a treaty of the United States.“ 31 Damit bezweckte der historische Gesetzgeber fremden Mächten keinen Vorwand für einen Krieg gegen die USA zu geben. D’Amato, The Alien Tort Statute and the Founding of the Constitution, S. 169 (171 f.). 32 Randall, Federal Jurisdiction over International Law Claims, S. 175 (201 f.); Sosa v Alvarez-Machain et al. (2004), 542 U.S. 692, 724 (2004): „We think it is correct, then, to assume that the First Congress understood that the district courts would recognize private causes of action for certain torts in violation of the law of nations, though we have found no basis to suspect Congress had any examples in mind beyond those torts corresponding to Blackstone’s three primary offenses: violation of safe conducts, infringement of the rights of ambassadors, and piracy.“ 33 Felz, Das Alien Tort Statute, S. 68 f.: „Stattdessen musste Völkerrecht im Sinne des ATS das Völkergewohnheitsrecht bedeuten, und zwar das Völkergewohnheitsrecht in seiner aktuellen Ausprägung. Hierunter fielen auch die seit dem Zweiten Weltkrieg entstandenen völkerrechtlichen Menschenrechtsnormen.“ 29 30

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letzung von Menschenrechten selbst begründet die internationale Zuständigkeit. Als Konsequenz wären US-Gerichte allzuständig für jegliche Menschenrechtsdelikte – wo auch immer sie begangen worden sind. Ein Universalgerichtsstand für Menschenrechtsverletzungen also.35 Einer solch weitgehenden Lesart hat der Supreme Court allerdings eine Absage erteilt. In seinem Kiobel-Urteil aus dem Jahre 2013 wies er die Klage ab, da sich die Tatsachen des Falls außerhalb der USA ereignet hatten und auch sonst kein hinreichender Inlandsbezug bestand.36 Obwohl der Supreme Court einer sehr weiten Auslegung des Alien Tort Claims Act einen Riegel vorgeschoben hat, bleiben die daraus folgenden Auswirkungen unklar. Zum einen gehen die Mehrheitsmeinung und die Sondervoten von unterschiedlichen dogmatischen Prämissen aus.37 Zum anderen scheinen die unteren Instanzen keine einheitliche Linie gefunden zu haben.38 Klagen nach dem Alien Torts Claims Act demonstrieren jedenfalls, welche Folgeprobleme sich daraus ergeben können, wenn Menschenrechte unmittelbar zuständigkeitsbegründend wirken. IV. Staatenimmunität bei schweren Menschenrechtsverletzungen Ein verwandtes Phänomen stellen Zivilklagen gegen Staaten aufgrund von schweren Menschenrechtsverletzungen dar. Das bekannteste Beispiel hierfür ist der Distomo-Fall, in dem es um ein während des Zweiten Weltkriegs verübtes Massaker an der griechischen Zivilbevölkerung ging. Die Angehörigen der Opfer verklagten die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches vor griechischen Gerichten auf Schadensersatz.39 Eigentlich hatten sie nicht den Hauch einer Chance – ihre Klage musste an der Immunität des deutschen Staates scheitern. Denn nach dem Grundsatz der Staatenimmunität muss kein Staat sich vor den Gerichten eines anderen Staates Felz fasst die in Jahren 1980–2001 aufgrund des Alien Tort Claims Act von amerikanischen Gerichten anerkannten Menschenrechtsdelikte in folgende Kategorien: Folter, grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, außergerichtliche Hinrichtung, willkürliche Verhaftung, zwangsweises „Verschwindenlassen“, Genozid, Kriegsverbrechen, Sklavenhandel und Zwangsarbeit sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Felz, Das Alien Tort Statute, S. 116–128. 35 Zum Weltrechtsprinzip in Zivilrechtsfällen (universal civil jurisdiction) vgl. Meyer, Der Alien Tort Claims Act, S. 328–347. 36 Kiobel v Royal Dutch Petroleum Co. (2013), 133 S. Ct. 1659, 1669 (2013): „On these facts, all the relevant conduct took place outside the United States. And even where the claims touch and concern the territory of the United States, they must do so with sufficient force to displace the presumption against extraterritorial application.“ 37 Coester-Waltjen, Allzuständigkeit oder genuine link, S. 27 (29); v. Hein, Punitive Damages für unternehmerische Menschenrechtsverletzungen, ZGR 2016, S. 414 (419). 38 Felz, Das Alien Tort Statute, S. 394–418. 39 IGH, Urteil vom 3.2.2015 – Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy; Greece Intervening), I.C.J. Reports 2012, S. 99 (115). 34

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verantworten („par in parem not habet imperium“).40 Und doch bekamen die Kläger Recht. Sie scheiterten jedoch daran, ihr Urteil vollstrecken zu lassen. In Griechenland muss nämlich der Justizminister zustimmen, wenn in das Vermögen eines ausländischen Staates vollstreckt werden soll. Eine solche Zustimmung wurde aber verweigert.41 Daraufhin richteten die Kläger ihren Blick auf Italien. Dort hatten die Gerichte schon seit einiger Zeit die Linie vertreten, dass sich Deutschland bei Schadensersatzklagen wegen Kriegsverbrechen nicht auf seine Immunität berufen darf.42 Nicht ganz so überraschend war es daher, dass die italienische Justiz das griechische Schadensersatzurteil für vollstreckbar erklärte. Daraufhin betrieben die Kläger die Zwangsvollstreckung in Vermögen des deutschen Staates, das sich in Italien befand – nämlich in die Villa Vigoni, eine deutsche Kultureinrichtung in der Nähe des Comer Sees.43 Hiergegen verteidigte sich die Bundesrepublik Deutschland mit allen juristischen Mitteln und brachte den Fall letztlich sogar nach Den Haag. Vor dem Internationalen Gerichtshof verklagte sie Italien wegen der Verletzung ihrer Staatenimmunität.44 Die Entscheidung des IGH war mit Spannung erwartet worden, da eine Immunitätsausnahme bei schweren Menschenrechtsverletzungen sehr umstritten war.45 Unstrittig war bisher, dass die Staatenimmunität keine rein wirtschaftlichen Handlungen umfasst: Anders als hoheitliches Handeln (acta iure imperii) fällt rein wirtschaftliches Handeln (acta iure gestionis) nicht unter die Staatenimmunität.46 Doch wie sind schwere Menschenrechtsverletzungen, wie die beim Distomo-Massaker, zu beurteilen? Sie stellen keine Übersetzt bedeutet dies: „Ein Gleicher hat über einen Gleichen keine Hoheitsgewalt.“ [Übersetzung des Verfassers] Oder alternativ: „Gleichrangige Herrschaftsträger können einander nicht befehlen.“ Übersetzung von Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, S. 168. Der Grundsatz der Staatenimmunität ist Ausfluss der souveränen Gleichheit aller Staaten im Völkerrecht. Looschelders, in: Staudinger, Einleitung IPR, Rn. 300. Zu der alternativen Erklärung der Staatenimmunität als Ausfluss der Würde eines Staates vgl. Appelbaum, Einschränkungen der Staatenimmunität in Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen, S. 53–58. 41 IGH, Urteil vom 3.2.2015 – Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy; Greece Intervening), I.C.J. Reports 2012, S. 99 (115 f.). 42 Payandeh, Staatenimmunität und Menschenrechte, JZ 2012, S. 949 (950). 43 IGH, Urteil vom 3.2.2015 – Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy; Greece Intervening), I.C.J. Reports 2012, S. 99 (116). 44 IGH, Urteil vom 3.2.2015 – Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy; Greece Intervening), I.C.J. Reports 2012, S. 99 (121–125). 45 Das früher absolute Verständnis der Staatenimmunität hatte sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts gewandelt. Für einen rechtsvergleichenden Überblick über diese Entwicklung vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.4.1963 – 2 BvM 1/62 – BVerfGE 16, 27 (33–61). 46 Betätigt sich ein Staat wirtschaftlich, schließt er beispielsweise privatrechtliche Verträge ab, so kann er sich nicht auf seine Immunität berufen. Denn dann hat er, wie jeder andere Private auch, gleichberechtigt am Wirtschaftsleben teilgenommen. Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, Rn. 558; Stoll, State Immunity, Rn. 25. 40

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wirtschaftliche Betätigung dar – doch kann man daraus wirklich schlussfolgern, dass sie acta iure imperii sind? Das würde bedeuten, dass man Massaker an der Zivilbevölkerung als hoheitliches Handeln, als Ausübung staatlicher Autorität qualifizierte. Das wirkt zynisch.47 Einem solchen Verständnis kann man mit Augustinus entgegenhalten: Was unterscheidet dann einen Staat von einer Räuberbande?48 Deshalb gab und gibt es beachtliche Stimmen, die – wie die griechischen und italienischen Gerichte – eine Immunitätsausnahme bei schweren Menschenrechtsverletzungen annehmen.49 Doch der IGH folgte diesen progressiven Ansätzen nicht. Er bestätigte vielmehr die traditionelle Auffassung, wonach ein Staat auch bei Kriegsverbrechen Immunität genießt.50 Ob dies jedoch wirklich den Schlusspunkt unter die Diskussion setzt, mag bezweifelt werden. Denn der IGH hatte lediglich über den gegenwärtigen Stand des Völkergewohnheitsrechts zu entscheiden. Und hier konnte er sich darauf zurückziehen, dass eine Immunitätsausnahme noch nicht so allgemein anerkannt ist, dass sie bereits Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts geworden sei.51 Allerdings lässt dies die Möglichkeit offen, dass sich das Völkerrecht auf dem Weg zu einer solchen Entwicklung befindet.52 Zivilklagen gegen 47 Orakhelashvili, Restrictive Interpretation of Human Rights Treaties in the Recent Jurisprudence of the ECtHR, EJIL 14 (2003), S. 529 (560): „torture […] as an act jure imperi [sic!] – an assumption difficult to maintain.“ 48 Hl. Augustinus von Hippo, De civitate Dei, IV, 4, 1: „Remota … iustitia quid sunt regna nisi magna latrocina?“ Zitiert nach Kloesel, Augustinus – De civitate Dei, S. 29. Auf Deutsch: „Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande?“ Übersetzung von Papst Benedikt XVI., Rede vor dem Deutschen Bundestag am 22.9.2011. Text abrufbar unter: , zuletzt abgerufen am 6.4.2023. 49 Höfelmeier, Die Vollstreckungsimmunität der Staaten im Wandel des Völkerrechts, S. 232–240. Für Stimmen, die hier eine Immunitätsausnahme annehmen, vgl. Appelbaum, Einschränkungen der Staatenimmunität in Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen, S. 89–92. Appelbaum selbst aber plädiert gegen eine Unterscheidung von völkerrechtmäßigen und völkerrechtswidrigen acta iure imperii. Dies liefe nämlich darauf hinaus, dass ein nationales Gericht die Völkerrechtmäßigkeit einer Handlung eines anderen Staates überprüfen dürfe (Appelbaum, ebenda, S. 92–95). 50 IGH, Urteil vom 3.2.2015 – Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy; Greece Intervening), I.C.J. Reports 2012, S. 99 (145). 51 Payandeh, Staatenimmunität und Menschenrechte, JZ 2012, S. 949 (954 f.). 52 Payandeh, Staatenimmunität und Menschenrechte, JZ 2012, S. 949 (957): „Es wäre allerdings ebenso verfehlt, in der Entscheidung des IGH ein Argument gegen die progressiveren Völkerrechtstheorien zu sehen, wie auch, den IGH dafür zu kritisieren, dass er diese progressiven Entwicklungen nicht hinreichend berücksichtigt und in seiner Entscheidung zur Geltung gebracht hat. Denn aus der Feststellung eines qualitativen Wandels der Völkerrechtsordnung – den man mit dem Begriff der Konstitutionalisierung erfassen mag – folgt nicht, dass sich die vermeintlich progressiveren Gemeinschaftswerte stets und umfassend gegen die staatenzentrierten Normen des ‚traditionellen‘ Völkerrechts durchsetzen müssen.“ Andere Ansicht hingegen Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, Rn. 502:

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Kapitel 5 – Internationales Zivilverfahrensrecht und Menschenrechte

Staaten wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen rütteln jedenfalls an dem hergebrachten Immunitätsverständnis. Sie sind daher gute Beispiele für den Einfluss von Menschenrechten auf eine Materie, wo sich Völkerrecht und IZVR berühren: Die Stellung von ausländischen Staaten als Beklagte im inländischen Zivilprozess. V. Anerkennung eines familiären Status Menschenrechtsklagen gegen multinationale Konzerne oder Zivilklagen gegen Staaten sind zwei spektakuläre Beispiele, an denen sich die Relevanz von Menschenrechten für das IZVR zeigt. Menschenrechtliche Wertungen werden allerdings auch in alltäglicheren Situationen relevant, wenn es etwa darum geht, ob ein familiäres Statusverhältnis, wie die Elternschaft oder die Ehe, das im Ausland begründet wurde, im Inland anerkannt wird. 1. Adoption und Leihmutterschaft Die Anerkennung eines im Ausland begründeten familiären Status ist für die betroffene Person von so fundamentaler Bedeutung, dass sie nicht im Belieben des Anerkennungsstaates stehen darf. Aus dieser Einsicht heraus erklärt sich, dass die Anerkennung einer solchen Rechtsstellung im Grundsatz von Art. 8 EMRK geschützt ist.53 Das zeigt sich etwa bei ausländischen Adoptionsentscheidungen. Ob jemand als Mutter oder Vater eines Kindes gilt, darf folglich nicht im uneingeschränkten Ermessen des Anerkennungsstaates stehen.54 Dies zeigt sich auch in sogenannten Leihmutterschaftsfällen.55 In diesen Konstellationen lassen die Wunscheltern ein Kind im Ausland von einer Leihmutter austragen. Nach der Geburt des Kindes wollen sie sodann im Inland als rechtliche Eltern anerkannt werden – was aber alles andere als „[D]er IGH [hat] […] allen Tendenzen zur Aufweichung der Staatenimmunität im Bereich der acta iure imperii eine deutliche Absage erteilt.“ Höfelmeier weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich das Völkerrecht dezentral entwickelt und „[n]ur äußerst selten […] dabei ein dynamischer, widerspruchsloser Prozess feststellbar [ist].“ Höfelmeier, Die Vollstreckungsimmunität der Staaten im Wandel des Völkerrechts, S. 213. 53 Bucher, La dimension sociale du droit international privé, Rn. 232–235. Zu aus Art. 8 EMRK folgenden Anerkennungspflichten vgl. Kapitel 8 – A (S. 169 ff.). 54 EGMR, Urteil vom 28.6.2007, Nr. 76240/01 (Wagner und J.M.W.L. ./. Luxemburg). Dieser Fall betraf die Adoption eines peruanischen Kindes durch eine alleinstehende Luxemburgerin. Der EGMR entschied, dass die Nichtanerkennung dieser Adoption Art. 8 EMRK verletzte. Zur Rechtssache Wagner und J.M.W.L. vgl. auch Kapitel 8 – A.I.1 (S. 170 f.). 55 Duden, Leihmutterschaft im Internationalen Privat- und Verfahrensrecht, S. 219– 297. Zum Einfluss von Art. 8 EMRK auf die Anerkennung von Auslandsadoptionen sowie auf die Behandlung grenzüberschreitender Leihmutterschaftsfälle vgl. Fawcett / Ní Shúilleabháin / Shah, Human Rights and Private International Law, Rn. 14.01–14.118.

B. Beispiele menschenrechtlichen Einflusses

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selbstverständlich ist.56 Besonders rigoros war hier das französische Recht, das vormals ein umfassendes Verbot der Leihmutterschaft vorsah.57 Ferner erkannte Frankreich die infolge einer ausländischen Leihmutterschaft resultierende Elternschaft der Wunscheltern nicht an, weil dies als ordre publicwidrig beziehungsweise als Gesetzesumgehung (fraude à la loi) gewertet wurde, wobei generalpräventiven Erwägungen großes Gewicht zukam.58 Einer solchen prinzipiellen und umfassenden Nichtanerkennung der Elternschaft hat der EGMR in der Rechtssache Mennesson einen Riegel vorgeschoben. Er entschied, dass generalpräventive Erwägungen es nicht rechtfertigen können, dass das Kind für das Verhalten seiner Eltern bestraft wird. Das Kind habe vielmehr aus Art. 8 EMRK ein Recht darauf, dass sein Verwandtschaftsverhältnis mit den Wunscheltern anerkannt wird – jedenfalls dann, wenn es mit einem Elternteil auch genetisch verwandt ist.59 Im Nachgang des Mennesson-Urteils haben die französischen Gerichte ihre Rechtsprechung dahingehend angepasst, dass die Rechte des aus einer Leihmutterschaft hervorgegangenen Kindes besser berücksichtigt werden müssen.60 Fälle der internationalen Adoption und Leihmutterschaft demonstrieren daher, dass die Anwendung der Regeln des IPR bzw. des IZVR sich in solchen Konstellationen an höherrangigen menschenrechtlichen Vorgaben messen lassen muss.61 2. Verbot von „Kinderehen“ Diese Frage hat durch das Verbot der sogenannten Kinderehe im deutschen IPR eine neue Relevanz erhalten.62 Das „Gesetz zur Bekämpfung von Kinder56 Coester-Waltjen, A case for harmonisation of private international law?, S. 504 (504). Für eine rechtsvergleichende Übersicht vgl. EGMR, Urteil vom 26.6.2014, Nr. 65192/11 (Mennesson ./. Frankreich), Erwägungsgründe Nr. 40–42. Zum Hintergrund vgl. Duden, Leihmutterschaft im Internationalen Privat- und Verfahrensrecht, S. 3–10. 57 EGMR, Urteil vom 26.6.2014, Nr. 65192/11 (Mennesson ./. Frankreich), Erwägungsgründe Nr. 6–31. 58 Trilha, Surrogacy in the context of private international law? Cross-border effects of international reproductive agreements, S. 495 (498 f.). Bureau / Muir Watt, Droit international privé, Bd. II, Rn. 780: „La question demeure cependant délicate: reconnaître la situation reviendrait en effet à autoriser ouvertement le contournement de la loi française […] Adopter la solution contraire revient cependant à priver l’enfant de l’essentiel de ses droits, dans une situation qui ne lui est pourtant aucunement imputable.“ 59 EGMR, Urteil vom 26.6.2014, Nr. 65192/11 (Mennesson ./. Frankreich), Erwägungsgründe Nr. 87–102. 60 Nußberger, Die Europäische Menschenrechtskonvention und das Privatrecht, RabelsZ 80 (2016), S. 818 (847 f.); Trilha, Surrogacy in the context of private international law? Cross-border effects of international reproductive agreements, S. 495 (499 f.). 61 Nußberger, Die Europäische Menschenrechtskonvention und das Privatrecht, RabelsZ 80 (2016), S. 818 (847). 62 Die Anerkennung von Eheschließungen erfolgt als kollisionsrechtliche Anerkennung nach den Regeln des IPR. Diese muss von einer verfahrensrechtlichen Anerkennung unter-

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Kapitel 5 – Internationales Zivilverfahrensrecht und Menschenrechte

ehen“ führte nämlich ein striktes und absolutes Anerkennungshindernis ein: War einer der Eheschließenden jünger als 16 Jahre, so wird die Ehe nicht anerkannt.63 Diese Neuregelung war eine Reaktion darauf, dass aufgrund der Flüchtlingskrise vermehrt minderjährige, aber verheiratete Asylbewerber nach Deutschland kamen. „Kinderehen“ wurden dadurch als drängendes gesellschaftliches Problem wahrgenommen.64 Doch ob ihre ausnahmslose und undifferenzierte Nichtanerkennung grund- und menschenrechtlichen Vorgaben wirklich standhält, ist zweifelhaft. Denn die Nichtigkeit der Ehe, die ja eigentlich minderjährige Bräute schützen soll, hat gerade für sie häufig viele negative Folgen: Gemeinsame Kinder gelten als nichtehelich, es besteht kein Recht auf Ehegattenunterhalt und es fällt die aufenthaltsrechtliche Möglichkeit weg, ein familiäres Bleiberecht aus der Ehe abzuleiten.65 Vor allem aber bleibt völlig unberücksichtigt, ob die Ehegatten miteinander glücklich sind und ob sie – vielleicht sogar nach Erreichen der Volljährigkeit des vormals minderjährigen Partners – zusammenbleiben wollen. Ein undifferenziertes Anerkennungsverbot stellt somit einen schwerwiegenden Eingriff in das bestehende Familienleben dar. Es ist daher fraglich, ob es gerechtfertigt werden kann.66 Der BGH erblickt darin einen Grundrechtsverstoß.67 Sein Normenkontrollantrag zum BVerfG zeigt jedenfalls, dass die Nichtanerkennung von im Ausland geschlossenen Ehen grund- und menschenrechtliche Belange berührt. schieden werden, die nach den Regeln des IZVR erfolgt. Coester, in: Münchener Kommentar, Art. 13 EGBGB, Rn. 174; Funken, Das Anerkennungsprinzip im internationalen Privatrecht, S. 24–32. 63 Durch das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen erhielt Art. 13 Abs. 3 EGBGB folgende Fassung: „Unterliegt die Ehemündigkeit eines Verlobten nach Absatz 1 ausländischem Recht, ist die Ehe nach deutschem Recht unwirksam, wenn der Verlobte im Zeitpunkt der Eheschließung das 16. Lebensjahr nicht vollendet hatte, und aufhebbar, wenn der Verlobte im Zeitpunkt der Eheschließung das 16., aber nicht das 18. Lebensjahr vollendet hatte.“ 64 Antomo, Verbot von Kinderehen?, ZRP 2017, S. 79 (79). Der deutsche Gesetzgeber reagierte dadurch auf eine Entscheidung des OLG Bamberg, die eine in Syrien geschlossene Ehe zwischen einem 14-jährigem Mädchen und ihrem 21-jährigen Cousin für wirksam, wenn auch gegebenenfalls für aufhebbar, erachtete. OLG Bamberg, Beschluss vom 12.6.2016 – 2 UF 58/16 – juris. 65 Das Bestehen oder Nichtbestehen einer Ehe ist für eine Vielzahl von Folgefragen entscheidend – von Unterhaltspflichten über das Ehegattenerbrecht bis hin zu der Frage, ob eine Wiederheirat zulässig ist. Funken, Das Anerkennungsprinzip im internationalen Privatrecht, S. 54 f.; Gutmann, Ausländerrechtliche Zerstörung der Familie?, NVwZ 2019, S. 277 (280 f.); Junker, Internationales Zivilprozessrecht, S. 298. 66 Aus Sicht der Europäischen Menschenrechtskonvention sind vor allem das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) sowie das Recht auf Eheschließung (Art. 12 EMRK) betroffen. 67 Mit Beschluss vom 14.11.2018, XII ZB 292/16, hat der BGH die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt.

B. Beispiele menschenrechtlichen Einflusses

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VI. Abschaffung des Exequaturverfahrens Auch abseits von familienrechtlichen Statusfragen werden Menschenrechte bei der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile relevant. Zunächst traten sie hier, der klassischen Abwehrfunktion von Grund- und Menschenrechten entsprechend, gegen eine Anerkennung in Erscheinung.68 Sie schützten vor ausländischen Urteilen, die unter Verletzung grundlegender Verteidigungsrechte zustandegekommen sind. Solche „irregulären“ Auslandsentscheidungen, das ist mittlerweile Konsens, dürfen weder anerkannt noch vollstreckt werden. Ihre Wirkungen müssen an der Grenze Halt machen; keinesfalls dürfen sie im Inland Rechtsfolgen auslösen.69 Üblicherweise stellt der Anerkennungsstaat dies während eines Exequaturverfahrens sicher. Dort überprüft er das Auslandsurteil darauf, ob keine Anerkennungsversagungsgründe, wie etwa eine Verletzung rechtlichen Gehörs, vorliegen.70 Doch in den neuesten EU-Verordnungen zum IZVR wurde das Exequaturverfahren weitgehend abgeschafft, da eine umfassende Freizügigkeit gerichtlicher Entscheidungen innerhalb der Europäischen Union angestrebt wird.71 Dies stellt die EU-Mitgliedstaaten, die allesamt auch Vertragsstaaten der EMRK sind, vor ein Dilemma: Wie sollen sie ihrer menschenrechtlichen Pflicht zur Kontrolle von Auslandsurteilen nachkommen, wenn sie einige dieser Urteile nicht mehr kontrollieren dürfen?72 Dieses Konfliktpotential zwischen menschenund unionsrechtlichen Verpflichtungen hat der EGMR zu entschärfen versucht, indem er die Vermutung aufstellte, dass ein EU-Staat konventionskonform handelt, wenn er ein Auslandsurteil in Übereinstimmung mit unionsrechtlichen Vorgaben vollstreckt. Denn auf der Ebene der EU bestehe ein Dies ist die entgegengesetzte Fragestellung zum Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit – menschenrechtlichen Pflichten, die für eine Anerkennung und Vollstreckung von ausländischen Entscheidungen streiten. Allgemein zur Abwehrfunktion (status negativus) von Menschenrechten vgl. Krieger, in: Konkordanzkommentar EMRK / GG, Bd. 1, S. 292–298. 69 Vgl. hierzu die in Kapitel 7 – A.III.1 (S. 145 f.) dargestellte Pellegrini-Rechtsprechung des EGMR. 70 Schilling, Das Exequatur und die EMRK, IPRax 2011, S. 31 (33): „Aus menschenrechtlicher Sicht ist das Exequaturverfahren, das regelmäßig vom Gläubiger betrieben wird, ein Ort, an dem der Vollstreckungsstaat seine menschenrechtliche Verantwortung für die im Inland beabsichtigte Vollstreckung eines ausländischen Titels vorbeugend wahrnehmen kann.“ Fawcett / Ní Shúilleabháin / Shah, Human Rights and Private International Law, Rn. 5.221–5.225 und Rn. 5.237–5.246. 71 Funken, Das Anerkennungsprinzip im internationalen Privatrecht, S. 27; GaudemetTallon / Ancel, Compétence et exécution des jugements en Europe, Rn. 838 f.; Hazelhorst, Free Movement of Civil Judgments in the European Union and the Right to a Fair Trial, S. 3–6; Wiedemann, Vollstreckbarkeit, S. 54–65. 72 Schulz, The Abolition of Exequatur and State Liability for Human Rights Violations through the Enforcement of Judgments in European Family Law, S. 515 (523 f.). 68

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Kapitel 5 – Internationales Zivilverfahrensrecht und Menschenrechte

eigener, gleichwertiger Menschenrechtsschutz.73 Es lässt sich daher beobachten, dass die Anerkennung und Vollstreckung jedweder Auslandsentscheidung potentiell menschenrechtliche Implikationen aufweist.

C. Wirkweise des menschenrechtlichen Einflusses

C. Wirkweise des menschenrechtlichen Einflusses

Dass menschenrechtliche Wertungen bei Fragen der grenzüberschreitenden Rechtsdurchsetzung relevant werden können, kann als gesicherte Erkenntnis gelten. Dieses Phänomen hat Kinsch im Hinblick auf die EMRK auf folgende Weise beschrieben: „Yet it is a fact that a treaty with a general, indeed a substantially constitutional, content will potentially influence all areas of the law. Private law and private international law are no exceptions; so long as the European Court understands correctly the operation of the concepts of private (international) law and does not seek to replace them with the mechanisms of the Convention, there is no objection to it deciding to extend its control over the human rights aspects of the operation of private law as well as over the other areas of the domestic law of the Contracting States.“74

Hier schwingt ein wenig die Sorge mit, dass menschenrechtliche Garantien anstelle der hergebrachten IPR- und IZVR-Regeln treten. Gegen eine solche Ersetzung spricht ein Verlust an Rechtssicherheit: Menschenrechtliche Garantien enthalten keine ausdifferenzierten Regelungen, sie sind meist abstrakt und programmhaft, sodass sie für den Rechtsanwender nur schwer handhabbar sind.75 Ferner spricht dagegen, dass Menschenrechte nicht nach System73 EGMR, Urteil 23.5.2016 [Große Kammer], Nr. 17502/07 (Avotiņš ./. Lettland), Erwägungsgründe Nr. 105–127. In dieser Rechtssache urteilte der EGMR, dass Lettland durch die Vollstreckung eines zypriotischen Urteils nach den Regeln der Brüssel I-VO nicht gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßen hatte. Der Avotiņš-Fall stellt eine Übertragung seiner Bosphorus-Rechtsprechung auf das Zivilverfahrensrecht der EU dar. In der Bosphorus-Entscheidung etablierte der EGMR die Vermutung, dass ein EMRK-Staat menschenrechtskonform handelt, wenn er lediglich unionsrechtliche Vorgaben ausführt. Dies begründete er im Stile der Solange-Rechtsprechung des BVerfG damit, dass im EU-Recht ein vergleichbares menschenrechtliches Schutzniveau gelte. EGMR, Urteil vom 30.6.2005 [Große Kammer], Nr. 45036/98 (Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim Şirketi ./. Irland), Erwägungsgrund Nr. 165: „In such circumstances, the Court finds that the protection of fundamental rights by Community law can be considered to be, and to have been at the relevant time, ‘equivalent’ […] to that of the Convention system. Consequently, the presumption arises that Ireland did not depart from the requirements of the Convention when it implemented legal obligations flowing from its membership of the European Community […].“ 74 Kinsch, Enforcement as a fundamental right, S. 540 (541). 75 Kruger, The Quest for Legal Certainty in International Civil Cases, Recueil des Cours 380 (2015), S. 281 (310–314); Nußberger, Die Europäische Menschenrechtskonvention und das Privatrecht, RabelsZ 80 (2016), S. 818 (848 f.): „[…] auf die Durchsetzung

D. Fazit

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konsistenz streben. Ob eine gefundene Lösung sich widerspruchsfrei in die Rechtsordnung einfügen lässt, bekümmert sie nicht – sie streben ganz allein nach Einzelfallgerechtigkeit. Deshalb ist der Widerstand gegen den grundund menschenrechtlichen Einfluss dort stark, wo ausdifferenzierte Rechtsdogmatik eine große Rolle spielt – und das ist vor allem im nationalen Privatund Prozessrecht der Fall.76 Was Menschenrechte dort aber auslösen können, ist eine Korrektur, eine Anpassung einzelner problematischer Regelungen an menschenrechtliche Vorgaben. Dieser Prozess wird bisweilen als „Konstitutionalisierung“ oder Materialisierung beschrieben. Damit ist gemeint, dass das einfache Recht von übergeordneten Prinzipen und Wertungen überformt wird.77 Das ist im autonomen IZVR vielleicht noch wichtiger, als in anderen Bereichen des Privat- und Prozessrechts. Denn das autonome IZVR zeichnet sich dadurch aus, dass es nationales Recht ist, das internationale Sachverhalte regelt. Die Regelungen der verschiedenen Staaten sind folglich nicht aufeinander abgestimmt, was unbeabsichtigte Lücken zur Folge haben kann – man denke nur an den déni de justice. Menschenrechte könnten daher die verschiedenen, unkoordinierten nationalen Regelungen des IZVR ansatzweise koordinieren.78

D. Fazit

D. Fazit

Der Einfluss von Menschenrechten lässt sich überall im Internationalen Zivilverfahrensrecht beobachten. Er reicht von der internationalen Zuständigkeit bis hin zur Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen. Es gibt folglich keinen Bereich des IZVR, in dem übergeordnete menschenrechtliche Wertungen nicht relevant werden können. Allerdings üben Menschenrechte keinen systemischen Einfluss aus, sondern wirken immer nur punktuell. Wo nötig, fordern sie lediglich eine Korrektur des Ergebnisses, während sie nicht die Art und Weise vorgeben, wie dies zu erzielen ist. Bisgrundlegender Werte ausgerichtetes, auf einem völkerrechtlichen Vertrag mit einer sehr geringen Anzahl an Einzelbestimmungen beruhendes System“. 76 Hess, Die Konstitutionalisierung des europäischen Privat- und Prozessrechts, JZ 2005, S. 540 (541). 77 Düsterhaus, Konstitutionalisiert der EuGH das Internationale Privat- und Verfahrensrecht der EU?, ZEuP 2018, S. 10 (12); Hess, Die Konstitutionalisierung des europäischen Privat- und Prozessrechts, JZ 2005, S. 540 (540). 78 D’Avout, Droits fondamentaux et coordination des ordres juridiques en droit privé, S. 165–170; Marchadier, Les objectifs généraux du droit international privé à l’épreuve de la Convention européenne des droits de l’homme, Rn. 13–16. D’Avout weist allerdings darauf hin, dass eine umfassende Koordinierung nicht allein durch die Rechtsprechung des EGMR in seiner jetzigen Form erfolgen kann, da der Gerichtshof immer nur Einzelfälle aus einer ex post-Perspektive entscheidet. Vgl. hierzu D’Avout, ebenda, S. 180 f.

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Kapitel 5 – Internationales Zivilverfahrensrecht und Menschenrechte

weilen kann dieser menschenrechtliche Einfluss jedoch indirekt zu größeren Umwälzungen führen, da das klassische, autonome IZVR zusehends an seine Grenzen stößt. Das überrascht nicht, beruht es doch auf Prinzipien des 19. Jahrhunderts: Auf nationalstaatlicher Souveränität und einer zwischenstaatlichen Perspektive. Dabei berücksichtigt es die subjektiven Rechte und Interessen der Prozessparteien nur unzureichend.79 Eine menschenrechtliche Perspektive kann hier eine neue Sichtweise bieten, indem sie die hinter den einfachgesetzlichen Normen liegende Wertungen offenlegt und hinterfragt.80 Sie vermag dadurch „Verkrustungen nationaler Rechtstraditionen und Interessenlagen [aufzubrechen]“.81

Hess, EMRK, Grundrechte-Charta und europäisches Zivilverfahrensrecht, S. 339 (340): „Aus Sicht des Menschenrechtsschutzes ist das klassische IZVR jedoch angreifbar. Denn seine prägenden Regelungsprinzipien, nämlich die strikte Begrenzung der Gerichtsgewalt auf das Inland (als Ausfluss der Staatsgewalt) und die oft einseitige Öffnung der internationalen Zuständigkeit zugunsten inländischer Kläger bewirken prozessuale Unfairness: In der grenzüberschreitenden Rechtshilfe mediatisiert das Souveränitätsdogma die Prozessparteien und macht die Verfahrensabläufe schwergängig; fremdenrechtliche Vorschriften diskriminieren häufig ausländische Parteien. Mit den Garantien eines effektiven und fairen Verfahrens unter Wahrung prozessualer Waffengleichheit war die überkommene Situation nur schwer vereinbar.“ 80 Nußberger, Die Europäische Menschenrechtskonvention und das Privatrecht, RabelsZ 80 (2016), S. 818 (850). 81 Basedow, Europäische Menschenrechtskonvention und Europäisches Privatrecht, RabelsZ 63 (1999), S. 409 (412). 79

Kapitel 6

Die Europäische Menschenrechtskonvention: Charakter, Besonderheiten, Anwendung Kapitel 6 – Die EMRK: Charakter, Besonderheiten, Anwendung

Die Europäische Menschenrechtskonvention ist kein gewöhnlicher völkerrechtlicher Vertrag – der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist kein gewöhnliches Gericht. EMRK und EGMR sind vielmehr ein echtes Novum: Ein verbindlicher internationaler Menschenrechtsvertrag samt eigenem Gerichtshof. Dies verleiht der EMRK einen besonderen Charakter – dies beeinflusst auch das Selbstverständnis und die Rolle des EGMR. Diese Besonderheiten von Konvention und Gerichtshof werden im Folgenden dargestellt. Sodann wird dargestellt, welche speziellen Auslegungsgrundsätze sich daraus entwickelt haben. Insbesondere wird aufgezeigt, dass bei der Rechtfertigung von Eingriffen in EMRK-Garantien dem Rechtsvergleich eine entscheidende Rolle zukommt.

A. Regelungsgegenstand der EMRK: Verhältnis zu den eigenen Bürgern

A. Regelungsgegenstand der EMRK: Verhältnis zu den eigenen Bürgern

Die EMRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag – doch sie ist weit mehr als das. Sie ist ein ganz und gar ungewöhnlicher Typus eines völkerrechtlichen Vertrags: Ein Menschenrechtsabkommen. Als solches hat die EMRK einen bemerkenswerten Regelungsgegenstand: Die Rechte von Individuen, die nicht Vertragspartei sind. Dadurch ähnelt sie einem Vertrag zugunsten Dritter.1 Das ist ungewöhnlich, denn üblicherweise regeln Staaten in völkerrechtlichen Verträgen ihre gegenseitigen Beziehungen oder tauschen untereinander Vorteile aus.2 Die EMRK sticht hier heraus: Sie befasst sich nicht mit den Beziehungen der Vertragsstaaten untereinander, sondern vielmehr mit der Bezie1 Bertele, Souveränität und Verfahrensrecht, S. 216–218: „Ähnlich einem Vertrag zugunsten Dritter können die Staaten sich auch untereinander zu einem bestimmten Verhalten gegenüber den Bürgern verpflichten oder dem Einzelnen gar eigene Rechte gegen die Staaten einräumen. Dies ist in den internationalen Menschenrechtsübereinkommen zum Teil geschehen. Ein Vertrag zugunsten Dritter ist bisher im Völkerrecht die Ausnahme geblieben.“ 2 Grabenwarter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 4; Sinopoli, Le droit au procès équitable dans les rapports privés internationaux, Rn. 63.

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Kapitel 6 – Die EMRK: Charakter, Besonderheiten, Anwendung

hung der Vertragsstaaten zu ihren eigenen Bürgern.3 Diesen besonderen Charakter von Menschenrechtsverträgen veranschaulichte der spätere EGMRPräsident Rudolf Bernhardt auf folgende Weise: „There is an infinite variety of international agreements, from bilateral to multilateral treaties, from military alliances to trade agreements, from double taxation agreements to the Charter of the United Nations, from the moon treaty to treaties for the prevention of transfrontier pollution. However, compared with most other international agreements, human-rights treaties have a unique character. They are not concerned with the mutual relations and the exchange of benefits between sovereign States […] It is the internal order of these States and their behaviour towards their own citizens […] which are the subject of human-rights treaties. What was in former times considered to be part of unfettered domestic jurisdiction and within the exclusive competence of the sovereign States has become the subject of international protection and supervision.“4

Nach traditionellem Verständnis konnte jeder Staat selbst entscheiden, wie er mit seinen Bürgern verfährt. Die Beziehung zu seinen eigenen Staatsangehörigen gehörte nämlich zu seinen ureigenen, inneren Angelegenheiten (domaine réservé).5 Andere Staaten hatten sich hier nicht einzumischen.6 Nicht so nach der EMRK.7 Sie revidiert diese traditionelle Sichtweise und macht die Behandlung der eigenen Bürger zum Gegenstand eines Vertrags mit fremden Staaten.8 3 Die EMRK geht sogar noch weiter. Sie schützt nicht nur eigene Staatsangehörige oder Einwohner, sondern jeden, der der hoheitlichen Gewalt eines Konventionsstaates unterliegt. Art. 1 EMRK spricht nämlich von „everyone within their jurisdiction“ bzw. „toute personne relevant de leur juridiction“. Dies deutlich herausstellend Sinopoli, Le droit au procès équitable dans les rapports privés internationaux, Rn. 42: „Aucune condition formelle de résidence ou de nationalité n’est requise pour qu’un individu relève du champ d’application de la protection conventionnelle.“ 4 Bernhardt, Thoughts on the interpretation of human-rights treaties, S. 65 (65 f.). 5 Carrillo Salcedo, Souveraineté des Etats et droits de l’homme en droit international contemporain, S. 91 (91): „La protection juridique internationale des droits de l’homme constitue une des grandes innovations du droit international […] on sort de la problématique générale du droit international, qui est celle des relations interétatiques, […] où le progrès du droit se fait sur la base de la réciprocité, pour pénétrer au cœur même du sanctuaire de la souveraineté: les rapports entre l’appareil de l’Etat et la population, donc entre deux des éléments constitutifs de l’Etat tels qu’ils sont traditionnellement conçus.“ 6 K. Ziegler, Domaine Réservé, S. 206 (208); Buergenthal, Human Rights, Rn. 3; Sudre, Droit européen et international des droits de l’homme, Rn. 68 f. 7 Spano, Universality or Diversity of Human Rights?, 14 HRLRev 2014, S. 487 (493). 8 Die EMRK statuiert einen Schutz für alle Rechtsunterworfenen eines Staates – ohne Ausnahme. Dadurch unterscheidet sie sich von früheren völkerrechtlichen Verträgen, die dem Schutz religiöser oder ethnischer Minderheiten – mithin bestimmter Bevölkerungsgruppen – dienten. Als Beispiele solcher früherer Übereinkommen können etwa die Verträge des 19. Jahrhunderts zwischen den europäischen Großmächten und dem Osmanischen Reich angeführt werden. Diese sahen den Schutz einiger christlicher Minderheiten vor. Weitere Beispiele sind die im Nachgang des Ersten Weltkriegs abgeschlossenen Verträge zum Schutz ethnischer Minderheiten in Ost- und Mitteleuropa. Diese wurden mit den neu

B. Rechtsnatur: Objektiver Charakter, keine Gegenseitigkeit

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Dadurch externalisiert sie innere Angelegenheiten. Was früher als unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates galt, ist heute sogar vor einem internationalen Gerichtshof einklagbar.9 Die EMRK ist daher sichtbarer Ausdruck eines veritablen Paradigmenwechsels, dessen Bedeutung kaum zu überschätzen ist. Obwohl sie ein zwischenstaatlicher Vertrag ist, ist ihr Regelungsgegenstand nicht zwischenstaatlich, sondern innerstaatlich.10

B. Verpflichtungen aus der EMRK: Objektiver Charakter, fehlende Gegenseitigkeit

B. Rechtsnatur: Objektiver Charakter, keine Gegenseitigkeit

Der besondere Charakter der Konvention spiegelt sich in der Art und Weise wider, wie ihre Verpflichtungen wirken. Im Gegensatz zu anderen völkerrechtlichen Verträgen weisen die EMRK-Garantien einen „objektiven Charakter“ auf.11 Das bedeutet: Die Verpflichtungen aus der Konvention wurden nicht eingegangen, um den Vertragspartnern einen bestimmten Austausch oder Vorteil zu gewähren. Vielmehr errichten sie eine objektive Ordnung des menschenrechtlichen Schutzes, die Dritten zugutekommt.12 Deshalb ist das Recht der EMRK von dem subjektiven Willen der Vertragsstaaten weitgehend losgelöst.13 Der objektive Charakter der EMRK zeigt sich auch in der erga omnes-Wirkung der Vertragsverpflichtungen: Jeder Staat schuldet die Einhaltung der menschenrechtlichen Garantien gegenüber allen anderen Staaten – unabhängig davon, wessen Staatsbürger von einer Verletzung betroffen wären.14 Deswegen kann stets jeder Vertragsstaat einen anderen Vertragsstaat wegen eines Menschenrechtsverstoßes verklagen.15 Die Verletzung von Menschenrechten durch einen entstandenen Nationalstaaten – wie etwa mit Polen oder der Tschechoslowakei – geschlossen und waren Voraussetzung für die Anerkennung ihrer Unabhängigkeit. Buergenthal, Human Rights, Rn. 4–7 und Tams, League of Nations, Rn. 34–35. 9 Bernhardt, Thoughts on the interpretation of human-rights treaties, S. 65 (66). 10 Sinopoli, Le droit au procès équitable dans les rapports privés internationaux, Rn. 22. 11 Bernhardt, Thoughts on the interpretation of human-rights treaties, S. 65 (68 f.); Orakhelashvili, Restrictive Interpretation of Human Rights Treaties in the Recent Jurisprudence of the ECtHR, EJIL 14 (2003), S. 529 (531). 12 Orakhelashvili, Restrictive Interpretation of Human Rights Treaties in the Recent Jurisprudence of the ECtHR, EJIL 14 (2003), S. 529 (531–533); Sudre, Droit européen et international des droits de l’homme, Rn. 35. 13 Hennebel / Tigroudja, Traité de droit international des droits de l’homme, Rn. 73; Sinopoli, Le droit au procès équitable dans les rapports privés internationaux, Rn. 32. 14 Hennebel / Tigroudja, Traité de droit international des droits de l’homme, Rn. 74 f.; Karpenstein / Johann, in : Karpenstein / Meyer, EMRK, Art. 33, Rn. 1; Schabas, The European Convention on Human Rights, S. 726. 15 Jeder EMRK-Staat ist stets berechtigt, Staatenbeschwerde nach Art. 33 EMRK zu erheben. Denn diese soll auch dazu dienen, die kollektive Durchsetzung der Menschenrechte zu befördern. Schabas, The European Convention on Human Rights, S. 725–727.

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Kapitel 6 – Die EMRK: Charakter, Besonderheiten, Anwendung

EMRK-Staat geht folglich immer auch alle anderen EMRK-Staaten an.16 Aus dem objektiven Charakter der EMRK-Garantien und ihrer erga omnes-Wirkung folgt ferner, dass die Logik der Gegenseitigkeit nicht auf die EMRK passt.17 Denn die EMRK-Verpflichtungen weisen kein Austauschverhältnis zwischen den Vertragsstaaten auf, sondern sind zum Vorteil von Individuen eingegangen. Es fehlt somit jegliche materielle Gegenseitigkeit zwischen der Einhaltung der Konventionsrechte durch einen Staat und ihrer Einhaltung durch einen anderen Staat.18 Deshalb ist auch die Ausübung von Selbsthilfe unzulässig.19 Als Antwort auf vertragswidriges Verhalten eines anderen EMRK-Staates dürfen folglich keine unilateralen Gegenmaßnahmen angewandt werden. Denn eine Vergeltung im Rahmen der Selbsthilfe würde die Falschen treffen – nicht den vertragsbrüchigen fremden Staat, sondern die eigenen Bürger.20 Gegenseitigkeit spielt für die Durchsetzung der EMRK daher keine Rolle.21 Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die EMRK in der unmittelbaren Nachkriegszeit entstand. Unter dem tiefen Schock über die Gräuel des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Verbrechen breitete sich die Einsicht aus, dass erst die massive Verletzung von Menschenrechten den Nährboden für Angriffskrieg und Völkermord bereitet hatte. Die Schlussfolgerung daraus lautete: Eine internationale menschenrechtliche Kontrolle ist ein Mittel der Friedenssicherung. Andersherum ist die dauerhafte und massive Verletzung elementarer Menschenrechte eine Gefahr für das friedliche Zusammenleben der europäischen Staaten. Menschenrechtsverletzungen in Europa gehen daher alle an. Vgl. Letsas, A Theory of Interpretation of the European Convention on Human Rights, S. 18 f.; Sinopoli, Le droit au procès équitable dans les rapports privés internationaux, Rn. 28; Sudre, Droit européen et international des droits de l’homme, Rn. 18. 17 Drzemczewski, The Sui Generis Nature of the European Convention on Human Rights, ICLQ 29 (1980), S. 54 (61): „The Convention […] is a treaty in form rather than a treaty in substance. This instrument is not a simple contract based on the notion of reciprocity […]“; Sinopoli, Le droit au procès équitable dans les rapports privés internationaux, Rn. 34: „Le caractère objectif emporte certainement l’éviction de la condition de réciprocité […].“ Vgl. aber auch Simma, Reciprocity, Rn. 6, der trotz fehlender materieller Gegenseitigkeit bei Menschenrechtsverträgen vor einer vorschnellen Ablehnung traditioneller völkervertraglicher Regeln warnt. Giegerich, Retorsion, Rn. 18, verweist darauf, dass hier Theorie und Praxis auseinanderfallen: „Both inter-State enforcement procedures and extraconventional self-help mechanisms are so rarely used that at least the regional human rights systems have in practice developed into self-contained regimes, even though theoretically, they still permit resort to reprisals and retorsion.“ 18 Cremer, in: Konkordanzkommentar EMRK/GG, Bd. 1, S. 176 f.; Orakhelashvili, Restrictive Interpretation of Human Rights Treaties in the Recent Jurisprudence of the ECtHR, EJIL 14 (2003), S. 529 (531–533). 19 Sudre, Droit européen et international des droits de l’homme, Rn. 36. Sudre verweist auch auf Art. 60 Abs. 5 der Wiener Vertragsrechtskonvention, der ausdrücklich ausschließt, dass Verträge humanitärer Art aufgrund von Vertragsverletzungen anderer Staaten suspendiert oder beendet werden können. Zur völkerrechtlichen Selbsthilfe vgl. Kapitel 1 – B.III (S. 13 f.). 20 Cremer, in: Konkordanzkommentar EMRK / GG, Bd. 1, S. 192; Sudre, Droit européen et international des droits de l’homme, Rn. 36. 16

C. Durchsetzung: Judizieller Mechanismus mit Individualbeschwerderecht

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C. Durchsetzung der EMRK-Garantien: Judizieller Mechanismus mit Individualbeschwerderecht

C. Durchsetzung: Judizieller Mechanismus mit Individualbeschwerderecht

Auch am Durchsetzungsmechanismus der EMRK zeigt sich, dass sie mehr ist, als nur ein gewöhnlicher völkerrechtlicher Vertrag. Allein schon die Errichtung eines internationalen Gerichtshofs ist ungewöhnlich. Normalerweise enthalten völkerrechtliche Verträge keine übergeordnete Instanz, die die Einhaltung der Vertragsverpflichtungen überwacht. Vielmehr sind es die Vertragsstaaten selbst, die dies beurteilen und die bei Vertragsverletzungen unilaterale Gegenmaßnahmen ergreifen.22 An der judiziellen Ausgestaltung der Vertragseinhaltung manifestiert sich, dass die EMRK ein law-making treaty ist – ein Vertrag, der eine langfristige Ordnung erschafft.23 Die Konvention ist daher von ihrer Form her zwar ein Vertrag, von ihrem Inhalt her aber eher eine Verfassung.24 Noch deutlicher zeigen sich die Besonderheiten der EMRK in der Durchsetzung ihrer Verpflichtungen. Hier sticht die Individualbeschwerde heraus, mithilfe derer einzelne Menschen ihren eigenen Staat auf internationaler Ebene verklagen können. Das ist beachtenswert, weil es ein grundlegend gewandeltes Verständnis der Staatssouveränität und der Stellung des Einzelnen im Völkerrecht zeigt. Zum einen demonstriert die Individualbeschwerde eindrucksvoll, dass es nicht mehr in die inneren Angelegenheiten (domaine réservé) eines jeden Staates fällt, wie er seine eigenen Bürger behandelt.25 Zum anderen spiegelt sie die Entwicklung hin zu einer (beschränkten) Rechtsfähigkeit von Individuen im Völkerrecht wider. Früher wurde das Völkerrecht nämlich allein als das Recht der Staaten untereinander aufge21 Orakhelashvili, Restrictive Interpretation of Human Rights Treaties in the Recent Jurisprudence of the ECtHR, EJIL 14 (2003), S. 529 (533); Sudre, Droit européen et international des droits de l’homme, Rn. 36: „Le Droit international des droits de l’homme, à l’inverse du régime de principe du droit international général, est rebelle à toute idée de contrat et ignore le principe de réciprocité. La jouissance des droits de l’homme ne saurait être subordonnée au respect de la réciprocité des obligations contractées par les États les uns envers les autres.“ 22 Simma, Reciprocity, Rn. 14. Vgl. zur völkerrechtlichen Selbsthilfe auch Kapitel 1 – B.III (S. 13 f.). 23 Baade, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, S. 164–166; Cremer, in: Konkordanzkommentar EMRK / GG, Bd. 1, S. 250; Grabenwarter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 5. 24 EGMR, Urteil vom 23.3.1995, Nr. 15318/89 (Loizidou ./. Türkei), Erwägungsgrund Nr. 75: „a constitutional instrument of European public order (ordre public).“ Cremer, in: Konkordanzkommentar EMRK / GG, Bd. 1, S. 171; Drzemczewski, The Sui Generis Nature of the European Convention on Human Rights, ICLQ 29 (1980), S. 54 (61); Sudre, Droit européen et international des droits de l’homme, Rn. 35. 25 Buergenthal, Human Rights, Rn. 3; Carrillo Salcedo, Souveraineté des Etats et droits de l’homme en droit international contemporain, S. 91 (91); Sudre, Droit européen et international des droits de l’homme, Rn. 68 f.; K. Ziegler, Domaine Réservé, S. 206 (208).

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Kapitel 6 – Die EMRK: Charakter, Besonderheiten, Anwendung

fasst. Individuen waren keine Akteure; ihnen standen auf internationaler Ebene unmittelbar keine Rechte zu.26 Schutz konnten sie nur indirekt erlangen, wenn ein Staat sich für sie einsetzte – etwa im Wege des diplomatischen Schutzes.27 Im Vergleich hierzu ist das Individualbeschwerderecht ein wahrer Quantensprung in der Rechtsentwicklung, denn es verleiht dem Einzelnen ein Klagerecht auf internationaler Ebene.28

D. Rolle des EGMR: Quasi-Verfassungsgericht

D. Rolle des EGMR: Quasi-Verfassungsgericht

Überwacht wird die Einhaltung der durch die Konvention garantierten Individualrechte vom EGMR. Gegenstand seiner Rechtsprechung ist folglich die Beziehung zwischen Staat und Bürger, zwischen Gemeinschaft und Individuum, was das klassische Betätigungsfeld einer Verfassungsgerichtsbarkeit darstellt.29 Das Recht der EMRK erfüllt daher in gewisser Hinsicht die Funktion einer Verfassung.30 Für einige Konventionsstaaten ist sie gar Teil ihrer nationalen Verfassung.31 Aus der funktionalen Verfassungsqualität der EMRKGarantien resultiert die herausragende Bedeutung des EGMR. Ähnlich wie Verfassungsbestimmungen zeichnen sich die EMRK-Garantien nämlich durch Unbestimmtheit und Programmhaftigkeit aus.32 Sie sind in besonderer Weise konkretisierungsbedürftig, was der Rechtsprechung ein hohes Gewicht verleiht. Allerdings liegt es dem EGMR fern, dabei eine ausdifferenzierte Dogmatik zu entwickeln. Seine Rechtsprechung ist vielmehr dadurch gekennzeichnet,

26 Gorski, Individuals in International Law, Rn. 1; Sinopoli, Le droit au procès équitable dans les rapports privés internationaux, Rn. 26. 27 Buergenthal, Human Rights, Rn. 3. 28 Duden, Leihmutterschaft im Internationalen Privat- und Verfahrensrecht, S. 267 f.; Sinopoli, Le droit au procès équitable dans les rapports privés internationaux, Rn. 29 und 34; Sudre, Droit européen et international des droits de l’homme, Rn. 52: „La capacité d’agir est le critère déterminant de la personnalité juridique […] Il apparaît donc que les individus peuvent être des sujets du droit international et européen des droits de l’homme, mais qu’ils sont toujours des sujets mineurs.“ 29 Frowein, European Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms (1950), Rn. 17; Giegerich, in: Konkordanzkommentar EMRK / GG, Bd. 1, S. 70– 72. 30 Drzemczewski, The Sui Generis Nature of the European Convention on Human Rights, ICLQ 29 (1980), S. 54 (62): „[…] a novel form of common constitutional order.“ 31 In Österreich hat die EMRK Verfassungsrang. Die Garantien der Konvention können wie innerstaatliche Grundrechte vor dem Verfassungsgerichtshof eingeklagt werden. In den Niederlanden genießt die EMRK sogar Vorrang vor der Verfassung. Grabenwarter /  Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 15 f. 32 Fawcett / Ní Shúilleabháin / Shah, Human Rights and Private International Law, Rn. 2.14, sprechen von der „[…] open-textured language of the ECHR […].“

D. Rolle des EGMR: Quasi-Verfassungsgericht

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dass er von Fall zu Fall entscheidet (case-to-case approach).33 Neuere Entwicklungen in seiner Judikatur erfolgen meist graduell.34 Eine weitere Parallele zu einem nationalen Verfassungsgericht ist die herausragende Bedeutung, die dem Fallrecht des EGMR zukommt. Strenggenommen wirken die Urteile des Gerichtshofs zwar nur zwischen den Parteien. Denn sie stellen lediglich fest, ob der EMRK-Staat gegenüber dem Beschwerdeführer die Konvention verletzt hat.35 Doch neben der Entscheidung eines Einzelfalls mit inter partes-Wirkung kommt jedem Urteil auch eine faktische Präzedenzwirkung zu.36 Das rührt daher, dass der EGMR der einzige autoritative Interpret der Konvention ist.37 Ferner entscheidet der Gerichtshof – ähnlich einem Verfassungsgericht – nicht selten über moralisch kontroverse und politisch aufgeladene Fragen. Man denke nur an die Urteile des EGMR zur Sicherheitsverwahrung besonders gefährlicher Täter,38 zur rechtlichen Anerkennung einer Geschlechtsumwandlung39 oder zur internationalen Leihmutterschaft.40 In Fällen wie diesen muss der Gerichtshof Stellung zu kontroversen und grundsätzlichen Fragen beziehen. Zwar entscheidet er auch hier nur Einzelfälle und führt keine abstrakte Kontrolle einer nationalen Norm durch.41 Sein Wirken ist „subtil“ und „von Fall zu Fall“.42 Allerdings kontrolliert er nicht nur exekutives Handeln, sondern auch legislatives.43 Ein Bespiel ist etwa geschlechterdiskriminierende Gesetzgebung.44 Daher folgen aus den Entscheidungen des Gerichtshofs durchaus Vorgaben an den nationalen Gesetzgeber – wenn auch nur mittelbar.45 Es ver33 Nußberger, Zivilrechtliche Dogmatik und Europäische Menschenrechtskonvention, S. 99 (101–103). 34 Mowbray, The Creativity of the European Court of Human Rights, 5 HRLRev (2005), S. 57 (61). 35 Sudre, Droit européen et international des droits de l’homme, Rn. 244. 36 Wildhaber, The Role of Comparative Law in the Case-Law of the European Court of Human Rights, S. 1101 (1102). Gerards, General Principles of the European Convention on Human Rights, S. 44 f., spricht insoweit von einem Grundsatz der „res interpretata“. 37 Nußberger, Die Europäische Menschenrechtskonvention und das Privatrecht, RabelsZ 80 (2016), S. 817 (827). 38 EGMR, Urteil vom 17.12.2009, Nr. 19359/04 (M ./. Deutschland). 39 EGMR, Urteil vom 11.7.2002, Nr. 28957/95 (Christine Goodwin ./. Vereinigtes Königreich). 40 EGMR, Urteil vom 26.6.2014, Nr. 65192/11 (Mennesson ./. Frankreich). 41 EGMR, Entscheidung vom 9.12.1994, Nr. 13092/87 und Nr. 13984/88 (Les Saints Monastères ./. Griechenland), Erwägungsgrund Nr. 55. 42 Basedow, Europäische Menschenrechtskonvention und Europäisches Privatrecht, RabelsZ 63 (1999), S. 409 (412). 43 Nußberger, Die Europäische Menschenrechtskonvention und das Privatrecht, RabelsZ 80 (2016), S. 817 (822). 44 EGMR, Urteil vom 22.3.2012, Nr. 30078/06 (Konstantin Markin ./. Russland). 45 Hartwig, Der Eigentumsschutz nach Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK, RabelsZ 63 (1999), S. 561 (562); Nußberger, Die Europäische Menschenrechtskonvention

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Kapitel 6 – Die EMRK: Charakter, Besonderheiten, Anwendung

mag daher nicht zu überraschen, dass dem EGMR in gleicher Weise wie etwa dem US-amerikanischen Supreme Court kompetenzanmaßende Rechtssetzung (judicial activism) vorgeworfen wird.46 Sogar unter den Richtern des Gerichtshofs gibt es vermehrt Stimmen, die zu größerer Zurückhaltung aufrufen.47 Insgesamt nimmt der Gerichtshof daher eine Rolle ein, die der Rolle eines Verfassungsgerichts ähnelt.48

E. Methodenfragen

E. Methodenfragen

Im Folgenden soll aufgezeigt werden, von welchen methodischen Gesichtspunkten sich der EGMR bei der Prüfung einer Menschenrechtsverletzung leiten lässt. I.

Spezifische Auslegungsgrundsätze

Die EMRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag. Deshalb wird sie – im Grundsatz – so ausgelegt wie andere völkerrechtliche Verträge auch. Dies hat der und das Privatrecht, RabelsZ 80 (2016), S. 817 (827), die insoweit von „European supervision“ spricht. 46 Letsas, A Theory of Interpretation of the European Convention on Human Rights, S. 39; Nußberger, Zivilrechtliche Dogmatik und Europäische Menschenrechtskonvention, S. 99 (100 f.); Schabas, The European Convention on Human Rights, S. 48; Spano, Universality or Diversity of Human Rights?, 14 HRLRev 2014, S. 487 (488). Beachte aber auch die originelle Arbeit von Marco Duranti: The Conservative Human Rights Revolution (2017). Duranti zieht die üblichen Narrative vom aktivistischen Gerichtshof, der sich von den Intentionen der Verfasser weit entfernt hat, in Zweifel. Vielmehr entspreche die Art und Weise, wie der EGMR wirkt, ziemlich genau dem, was die Verfasser der EMRK intendiert haben. 47 EGMR, Urteil vom 19.2.2013 [Große Kammer], Nr. 19010/07 (X u.a. ./. Österreich), Sondervotum der Richter Casadevall, Ziemele, Kovler, Jočienė, Šikuta, De Gaetano und Sicilianos, Erwägungsgrund Nr. 23: „We know that since its judgment in Tyrer v. the United Kingdom, the Court has frequently reiterated that the Convention is a living instrument which must be interpreted ‘in the light of present-day conditions’ […] In other words, the point of the evolutive interpretation, as conceived by the Court, is to accompany and even channel change […]; it is not to anticipate change, still less to try to impose it. Without in any way ruling out the possibility that the situation in Europe in the future will evolve in the direction apparently wished for by the majority, this does not seem to be the case, as we have seen, at present. We therefore believe that the majority went beyond the usual limits of the evolutive method of interpretation.“ Im Fall X u.a. gegen Österreich ging es um die Adoption in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Er betraf die Frage, ob die EMRK verlangt, dass Kinder eines Partners durch den anderen Partner adoptiert werden können. 48 Schabas, The European Convention on Human Rights, S. 48; Duranti, The Conservative Human Rights Revolution, S. 1–2. Giegerich, in: Konkordanzkommentar EGMR / GG, Bd. 1, S. 71: „Mit ihrer Anerkennung der obligatorischen (Verfassungs-) Gerichtsbarkeit des EGMR haben die Konventionsstaaten ein erhebliches Stück auf dem Weg zur Konstitutionalisierung der Konvention zurückgelegt.“

E. Methodenfragen

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EGMR bestätigt: In dem berühmten Golder-Urteil entschied er, dass die EMRK gemäß den Regeln der Wiener Vertragsrechtskonvention auszulegen ist.49 Doch haben die Besonderheiten der EMRK zur Herausbildung einiger spezifischer Auslegungsgrundsätze geführt.50 Diese unterscheiden sich in gewisser Hinsicht von den üblichen Regeln bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge.51 So gilt zum einen die Zweifelsregel in dubio mitius nicht (unter 1.). Zum anderen entwickelte der EGMR eigene Auslegungsmaximen: Die Grundsätze der autonome, effektive und dynamische Konventionsauslegung (unter 2.-4.). Zusätzlich greift der Gerichtshof oftmals auf die rechtsvergleichende Argumentationsfigur eines europäischen Konsenses zurück (unter 5.). 1. Kein in dubio mitius Der Auslegungsgrundsatz in dubio mitius („im Zweifel das Geringere“) findet auf die EMRK keine Anwendung.52 Nach dieser Zweifelsregel des allgemeiDas Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23.5.1969 wurde zwar erst nach Inkrafttreten der EMRK verabschiedet – jedoch fixierte es lediglich die Grundsätze, die schon früher kraft Völkergewohnheitsrechts galten. Daher konnte der EGMR in der Rechtssache Golder die Bestimmungen des Wiener Vertragsrechts bei der Auslegung heranziehen: „The Court is prepared to consider, as do the Government and the Commission, that it should be guided by Articles 31 to 33 of the Vienna Convention of 23 May 1969 on the Law of Treaties. That Convention has not yet entered into force and it specifies, at Article 4, that it will not be retroactive, but its Articles 31 to 33 enunciate in essence generally accepted principles of international law to which the Court has already referred on occasion.“ EGMR, Urteil vom 21.2.1975, Nr. 4451/70 (Golder ./. Vereinigtes Königreich), Erwägungsgrund Nr. 29. 50 Oetheimer / Cano Palomares, European Court of Human Rights (ECtHR), Rn. 66; Orakhelashvili, Restrictive Interpretation of Human Rights Treaties in the Recent Jurisprudence of the ECtHR, EJIL 14 (2003), S. 529 (533). Vgl. aber auch Baade, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, S. 237, der davor warnt, alle Rechtsfiguren des EGMR einzig und allein auf den „besonderen Charakter sui generis von Menschenrechtsverträgen“ zurückzuführen. 51 Nußberger, Die Europäische Menschenrechtskonvention und das Privatrecht, RabelsZ 80 (2016), S. 817 (830); Sinopoli, Le droit au procès équitable dans les rapports privés internationaux, Rn. 40. 52 Auch der Gerichtshof hat bereits vor langer Zeit entschieden, dass der allgemeine völkervertragsrechtliche Grundsatz in dubio mitius keine Anwendung findet, weil die Konvention ein law-making treaty sei. EGMR, Urteil vom 27.6.1968, Nr. 2122/64 (Wemhoff ./.  Deutschland), Nr. 8 der Urteilsgründe („As to the Law“): „Given that it is a law-making treaty, it is also necessary to seek the interpretation that is most appropriate in order to realise the aim and achieve the object of the treaty, not that which would restrict to the greatest possible degree the obligations undertaken by the Parties.“ Gegen eine restriktive Interpretation spricht auch, dass die EMRK laut Präambel „eine engere Verbindung“ (greater unity /  une union plus étroite) zwischen den Vertragsstaaten erreichen will. Dieser integrative Zweck hat ebenfalls zur Folge, dass bei Zweifeln nicht die Auslegungsvariante vorzuziehen 49

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Kapitel 6 – Die EMRK: Charakter, Besonderheiten, Anwendung

nen Völkervertragsrechts ist unter mehreren möglichen Auslegungen diejenige vorzuziehen, die den Vertragsstaaten weniger Verpflichtungen auferlegt.53 Der Grundsatz in dubio mitius verhindert, dass die Handlungsfreiheit der vertragsschließenden Staaten in größerem Maße einschränkt wird, als diese es ursprünglich beabsichtigt hatten.54 Doch auf die EMRK passt dieser Auslegungsgrundsatz nicht.55 Denn die Maxime in dubio mitius würde bei Menschenrechtsverträgen bedeuten, dass die Auslegung im Zweifel zulasten von Individuen geht. Da die vertragsschließenden Staaten ihre eigenen Bürger begünstigen, würde ein weniger an staatlichen Verpflichtungen auch ein weniger an individuellen Rechten bedeuten.56 Der Zweifelssatz in dubio mitius passt ferner auch nicht, da er souveränitätswahrend wirken soll. Die EMRKStaaten haben aber einer präzedenzlosen Einschränkung ihrer inneren Souveränität zugestimmt, indem sie ihre Beziehungen zu den eigenen Bürgern einer internationalen Kontrolle unterstellt haben. Althergebrachte Souveränitätsbedenken sind daher bei der Auslegung der EMRK unpassend.57 2. Autonome Auslegung Der EGMR legt die Begriffe der Konvention autonom aus. Das bedeutet, dass sie eine vom jeweiligen nationalen Recht losgelöste, eigenständige Bedeu-

ist, die den EMRK-Staaten geringere Verpflichtungen auferlegt. Schabas, The European Convention on Human Rights, S. 65. Dieses Argument gebrauchte auch der Gerichtshof in der Rechtssache Loizidou, in es unter anderem darum ging, ob ein von der Türkei erklärter Vorbehalt in Bezug auf Nordzypern wirksam ist. EGMR, Urteil vom 23.3.1995, Nr. 15318/89 (Loizidou ./. Türkei), Erwägungsgrund Nr. 77: „The inequality between Contracting States which the permissibility of such qualified acceptances might create would, moreover, run counter to the aim, as expressed in the Preamble to the Convention, to achieve greater unity in the maintenance and further realisation of human rights.“ 53 Herdegen, Interpretation in International Law, Rn. 28 f. Die Zweifelsregel in dubio mitius ist aber mittlerweile auch im allgemeinen Völkervertragsrecht umstritten. Bernhardt, Thoughts on the interpretation of human-rights treaties, S. 65 (70): „old (and now outdated) maxim“. 54 Cremer, in: Konkordanzkommentar EMRK / GG, Bd. 1, S. 177. 55 Orakhelashvili, Restrictive Interpretation of Human Rights Treaties in the Recent Jurisprudence of the ECtHR, EJIL 14 (2003), S. 529 (534). 56 Bernhardt, Thoughts on the interpretation of human-rights treaties, S. 65 (70), der aber auch die entgegensetzte Auslegungsregel in dubio pro libertate ablehnt. 57 Cremer, in: Konkordanzkommentar EMRK / GG, Bd. 1, S. 177; Schulte, Zur Übertragbarkeit der Margin-of-appreciation-Doktrin des EGMR auf die Rechtsprechung des EuGH, S. 29 f.; Sinopoli, Le droit au procès équitable dans les rapports privés internationaux, Rn. 45: „[…] les conventions internationales relatives aux droits de l’homme revêtent une spécificité par rapport aux autres conventions. Leur interprétation s’affranchit quelque peu de la préservation de la souveraineté des États.“

E. Methodenfragen

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tung aufweisen (autonomous concepts).58 Wenn der Gerichtshof also darüber entscheidet, ob etwas „Eigentum“ ist oder ob eine „Freiheitsentziehung“ vorliegt, so ist die Einordnung des jeweiligen nationalen Rechts nicht maßgeblich. Ansonsten könnte ein Konventionsstaat die Verpflichtungen aus der EMRK leicht umgehen, indem er nationale Begriffskategorien verengt.59 Er könnte etwa in seinem Recht bestimmen, dass etwas nicht als „Eigentum“ oder nicht als „Freiheitsentziehung“ zu gelten hat. Die autonome Auslegung verhindert daher, dass die Vertragsstaaten die EMRK-Garantien unterlaufen können. Sie stellt ein „Umgehungsverbot“ dar.60 Durch die autonome Auslegung wird ferner eine einheitliche Anwendung der Konvention sichergestellt. Die EMRK muss einheitlich für jede einzelne Rechtsordnung der 47 Vertragsstaaten gelten. Ihre Begriffe müssen deshalb stets dasselbe bedeuten – unabhängig davon, um welchen Staat es in dem jeweiligen Fall konkret geht.61 Würden die nationalen Begriffskategorien maßgeblich sein, so könnten die Garantien der EMRK mal dieses und mal jenes bedeuten. 3. Effektive Auslegung Eine weitere Auslegungsmaxime ist die der Effektivität. Der Gerichtshof legt bei der Anwendung der EMRK nämlich Wert darauf, dass die durch sie verbürgten Rechte nicht nur theoretisch und illusorisch bleiben, sondern praktisch und effektiv sind.62 „The Convention is intended to guarantee not rights that are theoretical or illusory, but rights that are practical and effective […].“63 58 Nußberger, Zivilrechtliche Dogmatik und Europäische Menschenrechtskonvention, S. 99 (107 f.). 59 Bernhardt, Thoughts on the interpretation of human-rights treaties, S. 65 (67). 60 Baade, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, S. 154 f. 61 Nußberger, Die Europäische Menschenrechtskonvention und das Privatrecht, RabelsZ 80 (2016), S. 817 (829). 62 Nußberger, Die Europäische Menschenrechtskonvention und das Privatrecht, RabelsZ 80 (2016), S. 817 (832); Schabas, The European Convention on Human Rights, S. 49. 63 EGMR, Urteil vom 9.10.1979, Nr. 6289/73 (Airey ./. Irland), Erwägungsgrund Nr. 24. In diesem Fall ging es um Prozesskostenhilfe für ein Gerichtsverfahren zur Trennung von Tisch und Bett. Die Beschwerdeführerin wollte sich zwar von ihrem Ehegatten trennen lassen, doch war sie wegen ihrer geringen Einkünfte außerstande, den Prozess einzuleiten. Der EGMR sah wegen der fehlenden Möglichkeit, Prozesskostenhilfe zu erhalten, das Recht auf Zugang zu Gericht (Art. 6 Abs. 1 EMRK) verletzt. Er stellte hier ausdrücklich auf die Notwendigkeit ab, die EMRK-Garantien effektiv zu interpretieren. Aus diesem Grunde verwarf der Gerichtshof auch das Argument der irischen Regierung, dass die Beauftragung eines Rechtanwalts nach irischem Prozessrecht nicht notwendig gewesen sei.

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Kapitel 6 – Die EMRK: Charakter, Besonderheiten, Anwendung

Als Folge dieser effektiven Auslegung der Konventionsgarantien hat die theoretische Einordnung einer Situation wenig Bedeutung.64 Rechtsdogmatik ist daher nur ein schwaches Argument. Wichtig ist, wie sich die Situation auf den Einzelnen auswirkt.65 Entscheidend ist folglich die tatsächliche Betroffenheit. 4. Dynamische Auslegung Der Gerichtshof praktiziert ferner eine dynamische und evolutive Auslegung der Konventionsgarantien.66 Er lässt sich von der Idee leiten, dass die Konvention „lebendig“ sei (living instrument): „The Court must also recall that the Convention is a living instrument which, as the Commission rightly stressed, must be interpreted in the light of present-day conditions. In the case now before it the Court cannot but be influenced by the developments and commonly accepted standards in the penal policy of the member States of the Council of Europe in this field.“67

Den Intentionen und Anschauungen bei der Ausarbeitung der EMRK kommt daher keine entscheidende Bedeutung zu. Ansonsten droht, dass die Konvention auf dem Niveau des Jahres 1950 „erstarrt“ bleibt.68 In diesem Fall wäre sie unfähig, auf neue technische und gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren.69 Die Garantien der EMRK sind somit unter Berücksichtigung heutiger Umstände auszulegen. 5. Rechtsvergleichende Auslegung (European consensus) Ob der EGMR die einzelnen Garantien der EMRK über ihren Wortlaut hinaus dynamisch und evolutiv auslegt, hängt maßgeblich vom Ergebnis einer Vgl. beispielsweise EGMR, Urteil vom 28.6.2001, Nr. 24699/94 (Verein gegen Tierfabriken ./. Schweiz), Erwägungsgrund Nr. 46: „The Court does not consider it desirable, let alone necessary, to elaborate a general theory concerning the extent to which the Convention guarantees should be extended to relations between private individuals inter se.“ 65 EGMR, Urteil vom 28.10.1999, Nr. 28342/95 (Brumărescu ./. Rumänien), Erwägungsgrund Nr. 76. Diese Rechtssache betraf eine de facto-Enteignung. Nußberger, Zivilrechtliche Dogmatik und Europäische Menschenrechtskonvention, S. 99 (101–105). 66 Schabas, The European Convention on Human Rights, S. 48. 67 EGMR, Urteil vom 25.4.1978, Nr. 5856/72 (Tyrer ./. Vereinigtes Königreich), Erwägungsgrund Nr. 31. In diesem Fall ging es um körperliche Strafen als Sanktion. 68 Frowein, European Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms (1950), S. 882 (885): „From early on, it was established that the ECHR must be interpreted ‘objectively’ and not by reference to what may have been the understanding at the time of its ratification.“ Nußberger, Zivilrechtliche Dogmatik und Europäische Menschenrechtskonvention, S. 99 (102 f.). 69 Nußberger, Die Europäische Menschenrechtskonvention und das Privatrecht, RabelsZ 80 (2016), S. 817 (831). 64

E. Methodenfragen

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rechtsvergleichenden Bestandsaufnahme ab. Manchmal lässt sich dadurch ein weitgehender Konsens unter den Konventionsstaaten im Hinblick auf eine bestimmte Rechtsfrage ermitteln (European consensus).70 Liegt ein solcher Konsens vor, so spricht dies dafür, dass die Konvention entsprechend auszulegen ist. Liegt noch kein Konsens vor, geht die Rechtsentwicklung aber klar in diese Richtung (emerging consensus), kommt dem eine Indizwirkung zu. Selbst einem Trend in der Rechtsentwicklung (European trend) kann ein gewisses Gewicht zukommen.71 Sind die Regelungen in den EMRK-Staaten aber völlig unterschiedlich, so streitet dieses für einen weiten Beurteilungsspielraum des beklagten Staates.72 Die Ermittlung eines Konsenses oder eines Trends stellt de facto eine rechtsvergleichende Auslegungsmethode dar – auch wenn man sie nicht als „ausgefeilte, präzise Rechtsvergleichung“ bezeichnen kann.73 Diese Art von Rechtsvergleich spielt in der Rechtsprechung des EGMR eine immer größere Rolle.74 Jüngst führte etwa der Gerichtshof in der Rechtssache Naït-Liman eine rechtsvergleichende Bestandsaufnahme zu Notgerichtsständen durch.75 Zu der Relevanz eines europäischen Konsenses äußerte er sich dort wie folgt: „Par ailleurs, dans des affaires qui touchent à des sujets qui sont en constante évolution dans les États membres du Conseil de l’Europe, la Cour peut se pencher sur la situation qui prévaut dans d’autres pays membres relativement aux questions soulevées en l’espèce pour évaluer s’il existe un ‘consensus européen’ ou au moins une certaine tendance parmi les États membres […].“76

Der Verweis auf einen europäischen Konsens beziehungsweise Trend wirkt legitimitätsstiftend. Dadurch wird dem Vorwurf eines richterlichen Aktivis70 Grabenwarter, Funktionalität und Bedeutung der Rechtsvergleichung in der Judikatur des EGMR, S. 95 (102). 71 Grabenwarter, Funktionalität und Bedeutung der Rechtsvergleichung in der Judikatur des EGMR, S. 95 (108 f.). 72 Bernhardt, Thoughts on the interpretation of human-rights treaties, S. 65 (67); Nußberger, Zivilrechtliche Dogmatik und Europäische Menschenrechtskonvention, S. 99 (110). 73 Grabenwarter, Funktionalität und Bedeutung der Rechtsvergleichung in der Judikatur des EGMR, S. 95 (110). 74 Wildhaber, The Role of Comparative Law in the Case-Law of the European Court of Human Rights, S. 1101 (1101). 75 EGMR, Urteil vom 15.3.2018 [Große Kammer], Nr. 51357/07 (Naït-Liman ./.  Schweiz), Erwägungsgründe Nr. 67–93. 76 EGMR, Urteil vom 15.3.2018 [Große Kammer], Nr. 51357/07 (Naït-Liman ./.  Schweiz), Erwägungsgrund Nr. 175. Auf Deutsch lautet diese Passage wie folgt: „Darüber hinaus kann der Gerichtshof in Fällen, die Angelegenheiten betreffen, die in den Mitgliedstaaten des Europarats einer ständigen Weiterentwicklung unterliegen, die Situation in den anderen Mitgliedstaaten berücksichtigen, um zu bewerten, ob ein ‚europäischer Konsens‘ oder zumindest eine gewisse Tendenz unter den Mitgliedstaaten hierzu besteht.“ [Übersetzung des Verfassers].

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Kapitel 6 – Die EMRK: Charakter, Besonderheiten, Anwendung

mus vorbeugend begegnet. Eine dynamische und evolutive Auslegung lässt sich auf diese Art und Weise besser rechtfertigen.77 Luzius Wildhaber, der ehemalige EGMR-Präsident, hat die besondere Funktion der Rechtsvergleichung in der Spruchpraxis des Gerichtshofs wie folgt betont: „The role of the comparative law method in Strasbourg is rather to be seen against the background of the principles of subsidiarity, of evolutive and autonomous interpretation and of the margin of appreciation which underlie the whole Convention.“78

Fehlt ein europäischer Konsens aber, so bedeutet dies andererseits, dass dem jeweiligen EMRK-Staat ein tendenziell weiter Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) für eine nationale Regelung zusteht.79 II. Kontrolldichte (margin of appreciation) Der nationale Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) ist wohl die berühmteste wie auch umstrittenste Rechtsfigur des EGMR. Die Zuerkennung eines Beurteilungsspielraums mindert die Kontrolldichte des Gerichtshofs.80 Das wirkt souveränitätswahrend und verwirklicht das Subsidiaritätsprinzip der EMRK.81 Ausgangspunkt ist die Einsicht, dass die nationalen Stellen grundsätzlich in der besseren Lage sind, die Situation „vor Ort“ einzuschätzen und eine adäquate Regelung zu treffen.82 Dies wird oft als strategische Zurückhaltung des Gerichtshofs bei politisch oder moralisch kontroversen Fragen gedeu-

Baade, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, S. 218 f. Wildhaber, The Role of Comparative Law in the Case-Law of the European Court of Human Rights, S. 1101 (1101). 79 Hierzu vgl. Letsas, A Theory of Interpretation of the European Convention on Human Rights, S. 80–98 und Bjorge, Domestic Application of the ECHR, S. 178–182. Ein frühes Beispiel für die Gewährung eines nationalen Beurteilungsspielraums ist die Rechtssache Handyside. EGMR, Urteil vom 7.12.1976, Nr. 5493/72 (Handyside ./. Vereinigtes Königreich), Erwägungsgrund Nr. 48: „Consequently, Article 10 para. 2 (art. 10-2) leaves to the Contracting States a margin of appreciation. This margin is given both to the domestic legislator (‘prescribed by law’) and to the bodies, judicial amongst others, that are called upon to interpret and apply the laws in force […].“ 80 Baade, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, S. 177 f. 81 Schabas, The European Convention on Human Rights, S. 78; Schulte, Zur Übertragbarkeit der Margin-of-appreciation-Doktrin des EGMR auf die Rechtsprechung des EuGH, S. 41 f. EGMR, Urteil vom 11.7.2002 [Große Kammer], Nr. 28957/95 (Christine Goodwin ./. Vereinigtes Königreich), Erwägungsgrund Nr. 85: „In accordance with the principle of subsidiarity, it is indeed primarily for the Contracting States to decide on the measures necessary to secure Convention rights within their jurisdiction and, in resolving within their domestic legal systems the practical problems created by the legal recognition of post-operative gender status, the Contracting States must enjoy a wide margin of appreciation.“ 82 Letsas, A Theory of Interpretation of the European Convention on Human Rights, S. 90–92. 77 78

E. Methodenfragen

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tet.83 Der EGMR als supranationales Gericht ohne eigenen Durchsetzungsmechanismus ist in der Tat in einer potentiell fragilen Situation. Ohne die – mehr oder weniger freiwillige – Akzeptanz durch die Vertragsstaaten sind seine Entscheidungen nicht durchsetzbar.84 Die margin of appreciation stellt somit ein Gegengewicht zur dynamischen und evolutiven Auslegung dar.85 Doch obgleich der Gerichtshof die margin of appreciation häufig bemüht, ist die Art und Weise ihrer Anwendung nur schwer vorauszusehen.86 Die Bestimmung der Weite der margin of appreciation ist daher eine der schwierigsten Fragen des EMRK-Rechts.87 Sie hängt wohl stark von den Umständen des Einzelfalls ab – vor allem von der endgültigen Gewichtung der verschiedenen Kriterien.88 Unter allen in Betracht kommenden Kriterien stechen dabei drei Faktoren heraus, die häufig relevant werden. Erstens kommt es auf die Natur der betroffenen Interessen sowie die Intensität ihrer Beeinträchtigung an.89 Zweitens auf die Komplexität einer Frage: Je komplexer, desto weiter der nationale Beurteilungsspielraum.90 Und drittens spielt das Maß an Homogenität unter den Konventionsstaaten zu einer bestimmten Frage eine große Rolle.91 Dies machte der EGMR etwa in der Rechtssache Khamtokhu und Aksenchik deutlich: „An additional factor relevant for determining the extent to which the respondent State should be afforded a margin of appreciation is the existence or non-existence of a European consensus.“92

Baade, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, S. 178 f. In diese Richtung Bernhardt, Thoughts on the interpretation of human-rights treaties, S. 65 (68) und Mayer, in: Karpenstein / Meyer, EMRK, Einleitung, Rn. 67. 85 Vgl. Baade, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, S. 200, für diese sowie konkurrierende Deutungen. 86 Baade, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, S. 202; Mayer, in: Karpenstein / Meyer, EMRK, Einleitung, Rn. 67. Grabenwarter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, S. VI, sprechen davon, das sich „[ü]ber den Einzelfall hinaus […] dann aber doch selten Schlüsse ziehen [lassen]“. 87 Wildhaber, The Role of Comparative Law in the Case-Law of the European Court of Human Rights, S. 1101 (1106): „[…] one of the most difficult questions […] being the scope of the margin.“ 88 EGMR, Urteil vom 24.1.2017 [Große Kammer], Nr. 60367/08 und 961/11 (Khamtokhu und Aksenchik ./. Russland), Erwägungsgrund Nr. 77: „The scope of the margin of appreciation will vary according to the circumstances, the subject matter and its background, but the final decision as to the observance of the Convention’s requirements rests with the Court […].“ 89 Duden, Leihmutterschaft in Internationalen Privat- und Verfahrensrecht, S. 275 f. 90 Baade, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, S. 210. 91 Schokkenbroek, The Prohibition of Discrimination in Article 14 of the Convention and the Margin of Appreciation, 19 HRLJ (1998), S. 20 (21). 92 EGMR, Urteil vom 24.1.2017 [Große Kammer], Nr. 60367/08 und 961/11 (Khamtokhu und Aksenchik ./. Russland), Erwägungsgrund Nr. 79. 83 84

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Kapitel 6 – Die EMRK: Charakter, Besonderheiten, Anwendung

Je größer der Konsens, desto kleiner also der nationale Beurteilungsspielraum.93 Umgekehrt gilt: Je unterschiedlicher die Rechtsordnungen der Konventionsstaaten eine bestimmte Frage beurteilen, desto mehr wird der EGMR sich hüten, einen Mindeststandard festzusetzten.94 Dadurch kommt dem Rechtsvergleich ein hohes Gewicht zu. Denn er hat unmittelbaren Einfluss auf die Weite der margin of appreciation. Von ihrer Weite hängt wiederum häufig entscheidend ab, ob im Ergebnis eine Konventionsverletzung festgestellt wird oder nicht. III. Rechtfertigung von Eingriffen Der EGMR prüft die Zulässigkeit von Eingriffen in drei Schritten:95 Dem Bestehen einer gesetzlichen Grundlage (légalité), der Verfolgung eines legitimen Ziels (légitimité) sowie der Verhältnismäßigkeit (proportionnalité).96 1. Gesetzliche Grundlage Jeder staatliche Eingriff muss auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage erfolgen. Diese Rückkopplung an ein Gesetz soll willkürliches Handeln ausschließen, welches seit jeher die größte Bedrohung für die Rechte des Einzelnen darstellt.97 Allerdings versteht der EGMR das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage nicht so weit, als dass ein formelles Gesetz erforderlich wäre.98 Insbesondere reicht es aus, wenn sich die Beschränkung aus einer Regel des common law ergibt.99 Wichtig ist einzig, dass die Rechtsregel zugänglich und hinreichend bestimmt ist.100

93 Wildhaber, The Role of Comparative Law in the Case-Law of the European Court of Human Rights, S. 1101 (1106). 94 Grabenwarter, Funktionalität und Bedeutung der Rechtsvergleichung in der Judikatur des EGMR, S. 95 (104). 95 Sudre, Droit européen et international des droits de l’homme, vor Rn. 132. Vgl. aber auch Grabenwarter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 140 f., die bei der Prüfungsstruktur zwischen Abwehrrechten und Verfahrensgarantien unterscheiden. 96 Letsas, The scope and balancing of rights, S. 38 (54); Sudre, Droit européen et international des droits de l’homme, Rn. 132. 97 Hennebel / Tigroudja, Traité de droit international des droits de l’homme, Rn. 590. 98 Grabenwarter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 143 f. 99 EGMR, Urteil vom 26.4.1979, Nr. 6538/74 (The Sunday Times . /. Vereinigtes Königreich), Erwägungsgrund Nr. 47: „The Court observes that the word ‘law’ in the expression ’prescribed by law’ covers not only statute but also unwritten law […] It would clearly be contrary to the intention of the drafters of the Convention to hold that a restriction imposed by virtue of the common law is not ‘prescribed by law’ on the sole ground that it is not enunciated in legislation […].“ 100 Grabenwarter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 144 f.

E. Methodenfragen

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2. Legitimes Ziel Des Weiteren muss jeder Eingriff ein legitimes Ziel verfolgen. Das können etwa staatliche oder gesellschaftliche Interessen sein. Auch Rechte und Interessen anderer Personen kommen in Betracht.101 Der EGMR ist im Allgemeinen sehr zurückhaltend, das von einem Konventionsstaat vorgebrachte Ziel als illegitim zu qualifizieren.102 Die Bestimmung des legitimen Ziels wird herangezogen, um im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung „die Abwägungsprozesse transparent durchführen zu können.“103 3. Verhältnismäßigkeit Zuletzt wird die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs geprüft. Trotz aller Parallelen ist die Straßburger Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht in gleichem Maße ausdifferenziert wie die in der grundrechtlichen Rechtsprechung des BVerfG.104 Die Prüfung des EGMR unterscheidet sich hier durch eine größere Zurückhaltung bei der Kontrolldichte wie auch durch eine stärkere Berücksichtigung rechtsvergleichender Aspekte.105 Auf der einen Seite räumt der EGMR den Konventionsstaaten einen großzügigen nationalen Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) zu.106 Auf der anderen Seite bestimmt der Vergleich der Regelungen in den verschiedenen Vertragsstaaten in entscheidendem Maße, wie weit dieser Spielraum ist.107 Folglich ist ein Zusammenspiel zwischen Rechtsvergleich und der Weite des nationalen Beurteilungs-

Sudre, Droit européen et international des droits de l’homme, Rn. 136. Gerards, General Principles of the European Convention on Human Rights, S. 220 f.; Hennebel / Tigroudja, Traité de droit international des droits de l’homme, Rn. 594. 103 Marauhn / Mehrhof, in: Konkordanzkommentar EMRK / GG, Bd. 1, S. 400. 104 Baade, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, S. 111 f.; Sudre, Droit européen et international des droits de l’homme, Rn. 143; Marauhn /  Mehrhof, in: Konkordanzkommentar EMRK / GG, Bd. 1, S. 400–410. 105 Vgl. aber auch Grabenwarter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 148: „Die im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung i.e.S. stattfindende Abwägung weist einige Besonderheiten auf, die zum Teil wesentliche Abweichungen von der Judikatur nationaler Verfassungsgerichte mit sich bringen. Zunächst ist die Verhältnismäßigkeitsprüfung wie die Judikatur insgesamt von einem großen Bemühen um Differenzierung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls geprägt. Häufig nimmt die Begründung auf ältere Entscheidungen Bezug, um Gemeinsamkeiten oder Unterschiede festzuhalten, die dann das Ergebnis beeinflussen.“ 106 Mayer, in: Karpenstein / Mayer, EMRK, Einleitung, Rn. 62. Vgl. auch Kapitel 6 – E.II (S. 136 f.). 107 Marauhn / Mehrhof, in: Konkordanzkommentar EMRK / GG, Bd. 1, S. 409 f.; Sudre, Droit européen et international des droits de l’homme, Rn. 143. 101 102

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Kapitel 6 – Die EMRK: Charakter, Besonderheiten, Anwendung

spielraums zu beobachten, wobei letzterer häufig entscheidend dafür ist, ob eine Konventionsverletzung festgestellt wird oder nicht.108 IV. Zusammenfassung Bei der Prüfung einer Menschenrechtsverletzung kommen einige spezifische Grundsätze zur Anwendung. Der Schutzbereich der Konventionsgarantien wird durch eine autonome, effektive und dynamische Auslegung bestimmt. Die Rechtfertigung von Eingriffen hingegen beurteilt sich in entscheidender Hinsicht durch eine rechtsvergleichende Bestandsaufnahme der in den nationalen Rechtsordnungen der EMRK-Staaten vorzufindenden Regelungen.

F. Fazit

F. Fazit

Die Europäische Menschenrechtskonvention stellt einen völkerrechtlichen Vertrag sui generis dar, der Züge einer eigenen Rechtsordnung in sich trägt.109 Die EMRK ist dabei Ausdruck eines grundlegend gewandelten, individualrechtsdienenden Souveränitätsverständnisses. In der Judikatur des EGMR spiegelt sich dies in Form einer tendenziell weiten Auslegung der Konventionsgarantien wider. Souveränitätsbedenken trägt der EGMR Rechnung, indem er einen tendenziell weiten nationalen Beurteilungsspielraum zuerkennt. Dieser Beurteilungsspielraum fällt jedoch umso enger aus, umso mehr eine beschränkende Maßnahme einem europaweiten rechtspolitischen Trend zuwiderläuft.

Baade, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter, S. 199. Drzemczewski, The Sui Generis Nature of the European Convention on Human Rights, ICLQ 29 (1980), S. 54 (54). Sinopoli, Le droit au procès équitable dans les rapports privés internationaux, Rn. 40, verweist darauf, dass die EMRK einige Aspekte einer eigenen Rechtsordnung aufweist. 108 109

Kapitel 7

Anerkennungs- und Vollstreckungspflichten aus Art. 6 Abs. 1 EMRK Kapitel 7 – Anerkennungspflichten aus Art. 6 Abs. 1 EMRK

Das folgende Kapitel untersucht, welche Vorgaben sich aus Art. 6 Abs. 1 EMRK für die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile ergeben. Hierfür zeichnet es zunächst die Entwicklung der Rechtsprechung zu dieser wichtigen EMRK-Garantie nach (unter A.). Sodann analysiert es, wie der EGMR aus den prozessualen Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK Pflichten zur Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen ableitet (unter B.). Schließlich geht es der Frage nach, ob solche Anerkennungs- und Vollstreckungspflichten im Ergebnis überzeugen (unter C.).

A. Rechtsprechung des EGMR

A. Rechtsprechung des EGMR

Im Folgenden wird dargestellt, wie der EGMR den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf alle Phasen einer zivilgerichtlichen Streitigkeit ausgedehnt hat (unter I.). Hierfür wird zunächst aufgezeigt, wie der Gerichtshof den Zugang zu Gericht sowie die innerstaatliche Urteilsvollstreckung dem Schutz dieser Konventionsgarantie unterstellte (unter II.). Sodann wird dargetan, wie der EGMR in einem weiteren Schritt auch die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile unter Art. 6 Abs. 1 EMRK fasste (unter III.). I. Ausgangspunkt: Garantien während eines laufenden Erkenntnisverfahrens Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährt ein Recht auf ein faires Verfahren. Diese Konventionsgarantie stellt sowohl für Strafprozesse als auch für Zivilverfahren prozessuale Mindeststandards auf. Seinem Wortlaut nach scheint Art. 6 Abs. 1 EMRK allerdings nur Gewährleistungen für den eigentlichen Prozess vor Gericht – also für das Erkenntnisverfahren – zu statuieren.1 Zu anderen 1 Die englische Sprachfassung des Art. 6 Abs. 1 EMRK lautet: „In the determination of his civil rights and obligations or of any criminal charge against him, everyone is entitled to a fair and public hearing within a reasonable time by an independent and impartial tribunal established by law […].“ Die französische Sprachfassung des Art. 6 Abs. 1 EMRK lautet hingegen: „Toute personne a droit à ce que sa cause soit entendue équitablement,

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Kapitel 7 – Anerkennungspflichten aus Art. 6 Abs. 1 EMRK

Phasen einer zivilgerichtlichen Streitigkeit, wie etwa dem Vollstreckungsverfahren, schweigt diese Konventionsgarantie nämlich. Doch obwohl Art. 6 Abs. 1 EMRK explizit nur Mindeststandards während eines gerichtlichen Erkenntnisverfahrens festlegt, stellte sich schon früh die Frage, ob diese Gewährleistungen wirklich ausreichen – oder ob es nicht darüber hinaus nötig ist, die Phasen vor und nach dem Erkenntnisverfahren zu schützen, damit das Recht auf ein faires Verfahren effektiv ist. II. Ausdehnung des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf alle Phasen eines inländischen Rechtsstreits Der EGMR weitete die Garantie des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf alle Phasen eines inländischen Zivilverfahrens aus, indem er zunächst ein Recht auf Zugang zu Gericht anerkannte (unter 1.) und sodann ein Recht auf Vollstreckung (unter 2.). 1. Recht auf Zugang zu Gericht (Golder ./. Vereinigtes Königreich) Die Rechtssache Golder (1975) betraf die Beschwerde eines Mannes, der während seiner Inhaftierung in einem britischen Gefängnis eine Zivilklage erheben wollte. Zu diesem Zweck beantragte er einen Rechtsanwalt kontaktieren zu dürfen, was ihm jedoch versagt wurde. Dadurch war es dem Beschwerdeführer nicht möglich, während seiner Haft zu klagen. Er rügte daher eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, da ihm der Zivilrechtsweg versperrt worden sei.2 Dem entgegnete die britische Regierung, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK die Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens überhaupt nicht schütze.3 Der EGMR urteilte, dass das Vereinigte Königreich Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt hatte, indem es die Einleitung eines Zivilverfahrens verhinderte. Der Gerichtshof sah nämlich auch den Zugang zu Gericht als geschützt an. Für ihn war nicht der – insoweit engere – Wortlaut entscheidend, sondern das Risiko einer faktischen Aushöhlung der prozessualen Garantien.4 Wenn nämpubliquement et dans un délai raisonnable, par un tribunal indépendant et impartial, établi par la loi, qui décidera, soit des contestations sur ses droits et obligations de caractère civil, soit du bien-fondé de toute accusation en matière pénale dirigée contre elle […].“ Gemäß der Schlussklausel der EMRK sind Englisch und Französisch die authentischen Sprachen der Konvention. Diese Sprachfassungen sind folglich der Auslegung der EMRK zugrunde zu legen. Schabas, The European Convention on Human Rights, S. 45 f.; Grabenwarter /  Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 31 f. 2 EGMR, Urteil vom 21.2.1975, Nr. 4451/70 (Golder ./. Vereinigtes Königreich), Erwägungsgründe Nr. 9–20. 3 EGMR, Urteil vom 21.2.1975, Nr. 4451/70 (Golder ./. Vereinigtes Königreich), Erwägungsgrund Nr. 22. 4 Zum Wortlautargument vgl. auch EGMR, Urteil vom 21.2.1975, Nr. 4451/70 (Golder ./. Vereinigtes Königreich), Erwägungsgründe Nr. 28–32.

A. Rechtsprechung des EGMR

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lich die Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens nicht durch Art. 6 Abs. 1 EMRK geschützt wäre, so der EGMR, dann könnte ein Konventionsstaat theoretisch sogar jegliche Gerichte abschaffen, ohne gegen die Konvention zu verstoßen.5 Aus diesen Erwägungen heraus etablierte der Gerichtshof im Golder-Fall ein Recht auf Zugang zu Gericht (right of access to a court/droit à l’accès aux tribunaux).6 2. Recht auf Vollstreckung (Hornsby ./. Griechenland) Die Ausdehnung des Anwendungsbereichs von Art. 6 Abs. 1 EMRK setzte der EGMR in der Rechtssache Hornsby (1997) fort. In dieser Beschwerde rügte ein britisches Ehepaar, dass Griechenland ein rechtskräftiges Urteil ignorierte. Die Beschwerdeführer hatten nämlich vor griechischen Gerichten erfolgreich darauf geklagt, eine Genehmigung zum Betrieb einer Sprachschule zu erhalten. Doch obwohl die griechische Schulbehörde rechtskräftig zur Erteilung einer solchen Genehmigung verurteilt worden war, erteilte sie diese auch in der Folgezeit nicht.7 Es stellte sich daher die Frage, ob Art. 6 Abs. 1 EMRK auch Vorgaben für die Befolgung und Vollstreckung von Gerichtsurteilen macht. Der EGMR bejahte dies und entschied, dass Griechenland durch die Nichtbefolgung des Urteils Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt habe.8 Zwar war die Urteilsvollstreckung mit keinem Wort in Art. 6 Abs. 1 EMRK erwähnt, doch 5 EGMR, Urteil vom 21.2.1975, Nr. 4451/70 (Golder ./. Vereinigtes Königreich), Erwägungsgrund Nr. 35: „Were Article 6 para. 1 (art. 6-1) to be understood as concerning exclusively the conduct of an action which had already been initiated before a court, a Contracting State could, without acting in breach of that text, do away with its courts […] It would be inconceivable, in the opinion of the Court, that Article 6 para. 1 (art. 6-1) should describe in detail the procedural guarantees afforded to parties in a pending lawsuit and should not first protect that which alone makes it in fact possible to benefit from such guarantees, that is, access to a court. The fair, public and expeditious characteristics of judicial proceedings are of no value at all if there are no judicial proceedings.“ Diese ad absurdum-Argumentation stütze er ab, indem er auf den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit (rule of law / prééminence du droit) aus der Präambel verwies. 6 Bereits Ende der 1990er-Jahre bezeichnete der EGMR das Recht auf Zugang zu Gericht als ständige und gefestigte Rechtsprechung: „The Court reiterates that, according to its established case-law, Article 6 para. 1 (art. 6-1) secures to everyone the right to have any claim relating to his civil rights and obligations brought before a court or tribunal; in this way it embodies the ‘right to a court’, of which the right of access, that is the right to institute proceedings before courts in civil matters, constitutes one aspect […].“ EGMR, Urteil vom 19.3.1997, Nr. 18357/91 (Hornsby ./. Griechenland), Erwägungsgrund Nr. 40. Als sogenanntes unenumerated right ist das Recht auf Zugang zu Gericht zwar nicht im Konventionstext enthalten, es gilt aber genauso verbindlich, als ob es dies wäre – vgl. Letsas, A Theory of Interpretation of the European Convention on Human Rights, S. 61–65. 7 EGMR, Urteil vom 19.3.1997, Nr. 18357/91 (Hornsby ./. Griechenland), Erwägungsgründe Nr. 6–22.

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für den Gerichtshof war entscheidend, dass andernfalls die Effektivität des Rechtsschutzes in Frage gestellt wäre. Die Garantie des Art. 6 Abs. 1 EMRK wäre nämlich – so der EGMR – illusorisch, wenn sie erlauben würde, dass bindende Gerichtsentscheidungen wirkungslos blieben.9 Aufgrund dieser Überlegungen weitete der Gerichtshof den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK auch auf die Vollstreckungsphase aus – und etablierte dadurch ein Recht auf Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen.10 3. Zwischenergebnis Infolge der Rechtsprechung des EGMR fallen alle Phasen eines inländischen Rechtsstreits unter die prozessualen Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Diese Konventionsgarantie gilt somit „von der Wiege bis zur Bahre“ eines Zivilverfahrens – von seiner Einleitung über das gerichtliche Erkenntnisverfahren bis hin zur Vollstreckung der verfahrensabschließenden Entscheidung. III. Ausdehnung des Art. 6 Abs. 1 EMRK auf die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile Nachdem der EGMR geurteilt hatte, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK die Vollstreckung inländischer Urteile fordert, stellte sich in den Rechtssachen Pellegrini (unter 1.), McDonald sowie Sholokhov (unter 2.) die Frage, ob aus Art. 6 Abs. 1 EMRK auch Vorgaben für die Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen folgen. 8 EGMR, Urteil vom 19.3.1997, Nr. 18357/91 (Hornsby ./. Griechenland), Erwägungsgründe Nr. 38–39. 9 EGMR, Urteil vom 19.3.1997, Nr. 18357/91 (Hornsby ./. Griechenland), Erwägungsgrund Nr. 40: „However, that right would be illusory if a Contracting State’s domestic legal system allowed a final, binding judicial decision to remain inoperative to the detriment of one party.“ 10 Mittlerweile ist das Recht auf Vollstreckung zu einem unangefochtenen Grundsatz des Art. 6 Abs. 1 EMRK avanciert. Das zeigt sich etwa darin, dass über die Nichtbefolgung von Gerichtsentscheidungen regelmäßig sogenannte „Dreier-Ausschüsse“ (committee/comité) urteilen (jüngst etwa EGMR, Urteil vom 4.12.2018 [Ausschuss], Nr. 43301/07 (Lvin ./. Russland )), die über die Begründetheit solcher Beschwerden befinden, in denen es lediglich um die Anwendung ständiger Rechtsprechung geht (Art. 28 Abs. 1 lit. a) EMRK). Ferner zeigt sich die Verbindlichkeit der Hornsby-Rechtsprechung darin, dass der EGMR sie wie ein Mantra zitiert – wortlautgetreu und in voller Länge. So etwa in EGMR, Urteil vom 7.5.2002, Nr. 59498/00 (Burdov ./. Russland), Erwägungsgrund Nr. 34; EGMR, Urteil vom 31.10.2006, Nr. 41183/02 (Jeličić ./. Bosnien und Herzegowina), Erwägungsgrund Nr. 38; EGMR, Urteil vom 1.4.2010, Nr. 32540/05 (Vrbica ./. Kroatien), Erwägungsgrund Nr. 61; EGMR, Urteil vom 25.7.2017, Nr. 69997/10 und 74793/11 (Panorama Ltd und Miličić ./. Bosnien und Herzegowina), Erwägungsgrund Nr. 62 und jüngst in EGMR, Urteil vom 13.12.2018, Nr. 67944/13 (Casa di Cura Valle Fiorita S.r.l. ./. Italien), Erwägungsgrund Nr. 46.

A. Rechtsprechung des EGMR

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1. Anerkennungsverbote (Pellegrini ./. Italien) Zunächst war fraglich, ob Art. 6 Abs. 1 EMRK bei der Anerkennung und Vollstreckung von ausländischen Entscheidungen überhaupt eine Rolle spielt. Dies war insbesondere dann zweifelhaft, wenn die anzuerkennende Entscheidung aus einer Rechtsordnung stammte, die selbst nicht an die EMRK gebunden war. So eine Konstellation betraf die Rechtssache Pellegrini (2001), in der Italien ein kirchengerichtliches Urteil anerkannt hatte, das eine Ehe annullierte. Aufgrund der Besonderheiten des kanonischen Prozesses hatte das Erkenntnisverfahren freilich nicht den Mindeststandards für ein rechtsstaatliches Verfahren entsprochen. Trotz dieser Mängel im Ausgangsprozess erkannte Italien dieses kirchengerichtliche Urteil jedoch an, was zur Folge hatte, dass es auch im weltlichen Recht Italiens Wirkung entfaltete.11 Es stellte sich die Frage, ob Italien ein solches Urteil anerkennen durfte. Der EGMR führte dazu zunächst aus, dass die italienische Justiz verpflichtet gewesen sei, sich zu vergewissern, ob der dem Urteil zugrundeliegende Prozess fundamentale prozessuale Rechte respektiert hatte. Italien habe gegen diese Kontrollpflicht verstoßen, indem es das kanonische Urteil – trotz konkreter Rügen der Beschwerdeführerin – ohne hinreichende Prüfung anerkannte. Dadurch, so der EGMR, habe Italien das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt.12 Aus der Rechtssache Pellegrini folgt somit, dass ein auf unfaire Art und Weise zustandegekommenes Urteil nicht anerkannt werden darf. Andernfalls macht sich der Anerkennungsstaat der „Komplizenschaft“ mit dem Urteilsstaat schuldig. Denn er verschafft dem ausländischen Richterspruch durch die Anerkennung Wirkung im Inland und vertieft dadurch die im Ausgangsprozess erfolgte Rechtsverletzung.13 11 EGMR, Urteil vom 20.7.2001, Nr. 30882/96 (Pellegrini ./. Italien), Erwägungsgründe Nr. 11–32. Strenggenommen handelte es sich hierbei nicht um ein Urteil eines anderen Staates, sondern um ein Urteil der römisch-katholischen Kirche. Allerdings konnten Kirchenurteile in Italien aufgrund des Konkordats mit dem Heiligen Stuhl anerkannt werden und dadurch in der staatlichen Rechtsordnung Italiens wirken. Aus diesem Grunde sind die Grundsätze des Pellegrini-Falls auf die Anerkennung ausländischer Urteile uneingeschränkt übertragbar. Matscher, Die Anforderungen der EMRK auf das IZVR – Neue Entwicklungen, S. 388. 12 EGMR, Urteil vom 20.7.2001, Nr. 30882/96 (Pellegrini ./. Italien), Erwägungsgründe Nr. 33–48. Dies wird bisweilen auch als „indirekte Wirkung“ des Art. 6 Abs. 1 EMRK bezeichnet (so etwa Matscher, Die indirekte Wirkung des Art. 6 EMRK bei der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen, S. 431–433). 13 So bereits vor dem Pellegrini-Urteil Sinopoli, Le droit au procès équitable dans les rapports privés internationaux, Rn. 13: „En effet, la décision du for requis sur le jugement étranger n’a aucune conséquence sur la procédure suivie à l’étranger; elle ne concerne que les effets de ce jugement dans son propre ordre juridique, lequel a adhéré à la Convention européenne des droits de l’homme […] Dès lors, l’applicabilité de l’article 6 § 1 de la Convention européenne des droits de l’homme ne semble faire aucun doute.“ Interessanterweise

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Kapitel 7 – Anerkennungspflichten aus Art. 6 Abs. 1 EMRK

2. Anerkennungs- und Vollstreckungspflichten Mit dem Fall Pellegrini war etabliert, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK die Anerkennung einer unfairen Auslandsentscheidung verbietet. Wie aber sieht es in der umgekehrten Konstellation aus – wenn das ausländische Urteil in einem fairen Verfahren zustandegekommen ist? Verlangt Art. 6 Abs. 1 EMRK in einem solchen Fall, dass das Auslandsurteil anerkannt und vollstreckt wird? a) McDonald ./. Frankreich Diese Frage stellte sich in der Rechtssache McDonald (2008), in der es um die Anerkennung eines US-amerikanischen Scheidungsurteils ging. Frankreich verweigerte die Anerkennung dieses Urteils, weil eine weitgehend inhaltsgleiche Scheidungsklage vor französischen Gerichten rechtskräftig abgewiesen worden war. Die erneute Einleitung eines Scheidungsprozesses in den USA bewertete die französische Justiz als rechtsmissbräuchlich. Der Beschwerdeführer rügte, dass die Versagung der Anerkennung durch Frankreich Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt habe, womit er im Kern ein Recht auf Anerkennung seiner im Ausland errungenen Entscheidung geltend machte.14 Der EGMR bewertete die Nichtanerkennung des amerikanischen Scheidungsurteils durch Frankreich als einen Eingriff in Art. 6 Abs. 1 EMRK.15 Die Tatsache, dass sich Frankreich für die Nichtanerkennung eines Auslandsstellt sich das gleiche Problem im US-amerikanischen Recht aufgrund der due process clause: „Nevertheless, a due process question might be raised if either a federal or a state tribunal proposed to give cognizance to, and clothe with domestic sanctions, a foreign judgment that was obtained in proceedings in utter disaccord with domestic notions of fairness […] it could then be argued on most respectable grounds that the American court, by granting recognition, would itself deny due process.“ Smit, International Res Judicata and Collateral Estoppel in the United States, 9 UCLA L. Rev. (1962), S. 44 (46 f.). 14 EGMR, Entscheidung vom 29.4.2008, Nr. 18648/04 (McDonald ./. Frankreich), S. 2–5. Der Kläger begehrte die Scheidung wegen schwerer Verfehlungen seiner Gattin (demande de divorce pour faute). Das französische Gericht sah aber die Voraussetzungen für eine solche verschuldensabhängige Scheidung als nicht gegeben an und wies die Klage folglich ab. Doch statt hiergegen Rechtsmittel einzulegen, wechselte der Beschwerdeführer das Forum und erhob eine erneute Klage in Florida. 15 EGMR, Entscheidung vom 29.4.2008, Nr. 18648/04 (McDonald ./. Frankreich), S. 9: „La Cour reconnaît que le refus d’accorder l’exequatur des jugements du tribunal américain a représenté une ingérence dans le droit au procès équitable du requérant.“ Im Ergebnis wies der Gerichtshof die Beschwerde allerdings ab, weil er die Anerkennungsversagung wegen der Besonderheiten des Einzelfalls für gerechtfertigt hielt. Der Gerichtshof verwies darauf, dass der Beschwerdeführer es versäumt hatte, gegen das französische Ersturteil Rechtsmittel einzulegen, weswegen die erneute Klage in den USA rechtsmissbräuchlich sei. EGMR, Entscheidung vom 29.4.2008, Nr. 18648/04 (McDonald ./.  Frankreich), S. 9: „[La Cour] rappelle toutefois qu’en règle générale, nul ne saurait se plaindre d’une situation qu’il a lui-même pu contribuer à créer par sa propre inaction […].“

A. Rechtsprechung des EGMR

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urteils rechtfertigen musste bedeutet, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK auch die Anerkennung ausländischer Entscheidungen schützt. Das verleiht der Rechtssache McDonald grundsätzliche Bedeutung.16 b) Sholokhov ./. Armenien und Moldawien Diese Rechtsprechungslinie führte der EGMR in Sholokhov (2012) fort. In dieser Rechtssache hatte ein moldawisches Gericht eine armenische Fabrik zur Zahlung von Schadensersatz an einen verunfallten Arbeiter verurteilt. Doch eine Vollstreckung des Schadensersatzurteils scheiterte. Die armenische Justiz versagte nämlich diesem Urteil die Anerkennung, wobei die dafür angeführte Begründung äußerst dürftig war.17 Auch hier rügte der Beschwerdeführer, dass die Nichtanerkennung des durch ihn errungenen Urteils eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK darstellen würde.18 Der EGMR wiederholte und bekräftigte zunächst seine im McDonald-Fall getätigte Aussage, wonach auch die Vollstreckung ausländischer Urteile unter Art. 6 Abs. 1 EMRK falle.19 Aus diesem Grund prüfte er in einem nächsten Schritt, ob die Versagung der Anerkennung gerechtfertigt war. Das verneinte der EGMR, denn er bewertete, dass die armenische Anerkennungsversagung nicht hinreichend begründet worden sei. Armenien habe folglich Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt.20

16 Spielmann, La reconnaissance et l’exécution des décisions judicaires étrangères et les exigences de la Convention européenne des droits de l’homme, Rev. trim. dr. h. 2011, S. 761 (775–776): „La décision, qui a occupé la doctrine spécialisée depuis un certain temps, nous semble d’une importance capitale.“ 17 EGMR, Urteil vom 31.7.2012, Nr. 40358/05 (Sholokhov ./. Armenien und die Republik Moldawien), Erwägungsgründe Nr. 5–41. Die Urteilsgründe der armenischen Exequaturentscheidung zitierten allein den Wortlaut der vermeintlich relevanten Norm, sodass jegliche Begründung dafür fehlte, warum der – im Detail ziemlich komplizierte – Sachverhalt unter diese Norm fiel. Zu prozessualen Mindeststandards während des Exequaturverfahrens vgl. auch Kiestra, The Impact of the European Convention on Human Rights on Private International Law, S. 209 f. 18 EGMR, Urteil vom 31.7.2012, Nr. 40358/05 (Sholokhov ./. Armenien und die Republik Moldawien), Erwägungsgrund Nr. 3. Daneben rügte der Beschwerdeführer auch eine Verletzung seiner Eigentumsgarantie aus Art. 1 ZP 1 EMRK. 19 EGMR, Urteil vom 31.7.2012, Nr. 40358/05 (Sholokhov ./. Armenien und die Republik Moldawien), Erwägungsgrund Nr. 66: „The Court reiterates that execution of a judgment given by a court is an integral part of the ‘trial’ for the purposes of Article 6 (see Hornsby v. Greece, 19 March 1997, § 40, Reports of Judgments and Decisions 1997-II). Besides, where civil rights and obligations are at stake, Article 6 is applicable to the execution of both domestic and foreign final judgments (see McDonald v. France (dec.), no. 18648/04, 29 April 2008).“ 20 EGMR, Urteil vom 31.7.2012, Nr. 40358/05 (Sholokhov ./. Armenien und die Republik Moldawien), Erwägungsgründe Nr. 67–72.

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Kapitel 7 – Anerkennungspflichten aus Art. 6 Abs. 1 EMRK

IV. Zwischenergebnis Aus den Fällen Pellegrini, Sholokhov und McDonald folgt, dass die Garantie des Art. 6 Abs. 1 EMRK sich auch auf die Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen erstreckt.21 Art. 6 Abs. 1 EMRK kann dabei sowohl für als auch gegen die Anerkennung streiten – je nachdem, ob der ausländische Prozess rechtsstaatlichen Grundsätzen genügte oder nicht.22 Art. 6 Abs. 1 EMRK kommt also eine Doppelfunktion zu: Genauso wie er die Anerkennung eines fairen Urteils fordert, genauso fordert er auch die Nichtanerkennung eines unfairen Urteils. Art. 6 Abs. 1 EMRK ist bei der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile daher sowohl „Schwert“ als auch „Schild“.23 Aus Sicht des Urteilsgläubigers folgt daher, dass er sich bei der Durchsetzung seiner im Ausland errungenen Entscheidung auf Art. 6 Abs. 1 EMRK berufen kann.

B. Analyse der Rechtsprechung: Herleitung von Anerkennungsund Vollstreckungspflichten durch den EGMR

B. Analyse der EGMR-Rechtsprechung

Der EGMR leitet aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ein subjektives Recht des Urteilsgläubigers auf Anerkennung und Vollstreckung seiner ausländischen Entscheidung ab, indem er seine Rechtsprechungslinie zur Rechtsschutzeffektivität (unter I.) auch auf Auslandsurteile überträgt (unter II.). Das wird kritisiert, weil es den Unterschied zwischen Inlands- und Auslandsurteilen nicht hinreichend berücksichtige (unter III.). 21 EGMR, Urteil vom 1.4.2010, Nr. 32540/05 (Vrbica ./. Kroatien), Sondervotum des Richters Spielmann, Erwägungsgründe Nr. 4–5: „The execution of a decision follows on from the trial, unlike the issue of access to a court, which precedes the trial. The Court recently extended the principle set forth in the Hornsby judgment to the execution of foreign decisions.“ 22 Kinsch, Enforcement as a fundamental right, NIPR 2014, S. 540 (540): „There is, under the case law of the European Court of Human Rights, a right to the enforcement of judgments obtained abroad […] from the fair trial guarantee of Article 6 of the Convention […].“ Auch der ehemalige EGMR-Richter Spielmann bilanziert, dass die Nichtanerkennung oder Nichtvollstreckung ausländischer Entscheidungen rechtfertigungsbedürftig ist: „[…] le refus de reconnaissance et d‘exécution d’une décision judiciaire étrangère peut, le cas échéant se heurter, en cas d’absence de justification, au droit du justiciable à ce que sa cause soit entendue équitablement.“ Spielmann, La reconnaissance et l’exécution des décisions judicaires étrangères et les exigences de la Convention européenne des droits de l’homme, Rev. trim. dr. h. 2011, S. 761 (786). 23 Die Schild-oder-Schwert-Metapher ist aus dem englischen Recht entlehnt. Das dortige Billigkeitsrecht (equity) kennt das Rechtsinstitut der promissory estoppel, das Ansprüche grundsätzlich nur abwehren, ihnen aber nicht zur Durchsetzung verhelfen kann. Es gilt: „Promissory estoppel acts as a shield, but not as a sword.“ Häcker, Das englische Common Law, JuS 2014, S. 872 (876).

B. Analyse der EGMR-Rechtsprechung

I.

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Ausgangspunkt: Recht auf Vollstreckung bei Inlandsurteilen

Ausgangspunkt für die Rechtsprechung des EGMR zur Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile ist das Recht auf Vollstreckung endgültiger Gerichtsentscheidungen. Diese ungeschriebene Teilgarantie des Art. 6 Abs. 1 EMRK entwickelte der Gerichtshof in der Rechtssache Hornsby aus der Prämisse, dass Rechtsschutz effektiv sein müsse. Denn würden rechtskräftige Urteile nicht vollstreckt werden, dann wäre der vorhergehende Prozess – so fair er auch gewesen sein mag – nur l’art pour l’art: Ein Prozessieren um des Prozessierens wegen, mit keinerlei faktischen Konsequenzen in der realen Welt. Aus einem gerichtlichen Verfahren müssen daher Konsequenzen folgen, weil es ansonsten faktisch wertlos wäre.24 II. Fortentwicklung: Übertragung auf die Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen In einem weiteren Schritt übertrug der EGMR das Recht auf Vollstreckung endgültiger Gerichtsentscheidungen auch auf ausländische Entscheidungen.25 In der Rechtssache McDonald stellte er nämlich fest, dass das Recht auf Vollstreckung in gleichem Maße für inländische wie für ausländische Urteile gelte.26 In der Rechtssache Sholokhov bestätigte und wiederholte der Gerichtshof diese Aussage.27 Für den EGMR spielt es also – zumindest im 24 Kinsch, Human rights and private international law, S. 880 (882): „[…] it was held that not only substantive rights such as the right to family life could give rise to an obligation to recognize a foreign judgment, but also, much more simply, the right to effectiveness of a judgment obtained, which is considered as a corollary of the right to a fair trial as guaranteed by art 6 of the Convention (McDonald v France App no 18648/04 (ECtHR, 29 April 2008).“ 25 EGMR, Urteil vom 1.4.2010, Nr. 32540/05 (Vrbica ./. Kroatien), Sondervotum des Richters Spielmann, Erwägungsgrund Nr. 5. 26 EGMR, Entscheidung vom 29.4.2008, Nr. 18648/04 (McDonald ./. Frankreich), S. 8: „De plus, la Cour rappelle qu’elle a déjà jugé qu’en matière de contestation dont l’issue est déterminante pour des droits de caractère civil, l’article 6 de la Convention s’applique aussi bien à l’exécution des jugements nationaux (Hornsby c. Grèce, arrêt du 19 mars 1997, Recueil des arrêts et décisions 1997-II) qu’à l’exécution des jugements étrangers (Pellegrini c. Italie, no 30882/96, CEDH 2001-VIII).“ Dabei ist auch die bloße Anerkennung einer Auslandsentscheidung durch Art. 6 Abs. 1 EMRK geschützt. Das folgt bereits aus der Rechtssache McDonald, in der es gar nicht um die Vollstreckung einer Auslandsentscheidung ging, sondern um die Anerkennung ihrer Gestaltungswirkung. Zur Rechtssache McDonald vgl. Kapitel 7 – A.III.2.a) (S. 147). Vgl. ferner auch Marchadier, Note sous CEDH, Mac Donald c/France, Clunet 136 (2009), S. 193 (196 f.). 27 EGMR, Urteil vom 31.7.2012, Nr. 40358/05 (Sholokhov ./. Armenien und die Republik Moldawien), Erwägungsgrund Nr. 66: „The Court reiterates that execution of a judgment given by a court is an integral part of the ‘trial’ for the purposes of Article 6 (see Hornsby v. Greece, 19 March 1997, § 40, Reports of Judgments and Decisions 1997-II). Besides, where civil rights and obligations are at stake, Article 6 is applicable to the execu-

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Kapitel 7 – Anerkennungspflichten aus Art. 6 Abs. 1 EMRK

Grundsatz – keine Rolle, ob ein Inlands- oder ein Auslandsurteil vorliegt. Sowohl Inlandsurteile als auch Auslandsurteile werden folglich in gleichem Maße von Art. 6 Abs. 1 EMRK geschützt.28 Der EGMR stellt also Auslandsurteile mit Inlandsurteilen gleich, weil er seine Rechtsprechung zur Vollstreckung ausländischer Urteile aus seiner Spruchpraxis zur Vollstreckung inländischer Urteile ableitet. III. Kritik: Gleichsetzung von Inlands- und Auslandsurteilen Daran wird kritisiert, dass der EGMR in keiner Weise begründe, warum inländische und ausländische Urteile gleichbehandelt werden können.29 Auch in der Sache wird diese Gleichsetzung kritisiert. Sie übersehe nämlich zum einen, dass Auslandsurteile oft keine Gewähr dafür böten, dass sie in einem fairen Gerichtsverfahren zustandegekommen sind.30 Zum anderen stelle aber nur die Nichtvollstreckung von Inlandsurteilen die Funktionstüchtigkeit des inländischen Justizsystems in Frage.31 Eine Nichtvollstreckung ausländischer Urteile berühre die Effektivität des inländischen Justizsystems hingegen nicht.32 tion of both domestic and foreign final judgments (see McDonald v. France (dec.), no. 18648/04, 29 April 2008).“ 28 Marchadier, Note sous CEDH, Mac Donald c/France, Clunet 136 (2009), S. 193 (196): „Et, à cet égard, aucune distinction ne doit être opérée selon l’origine du jugement.“ 29 Kinsch bemängelt insoweit, dass eine kosmopolitische Einstellung kein Ersatz für eine argumentative Untermauerung sei (Kinsch, Enforcement as a fundamental right, NIPR 2014, S. 540 (542)). Andererseits kann die fehlende argumentative Untermauerung nicht wirklich überraschen. Zum einen neigt der EGMR nämlich dazu, selbstreferenziell zu sein, indem er das aktuelle Urteil in eine Linie mit seiner bisherigen Spruchpraxis stellt. Zum anderen vermeidet er, soweit wie möglich, generelle Aussagen und theoretische Diskussionen. Er entscheidet vielmehr von Einzelfall zu Einzelfall, ohne sich mit dogmatischen Erwägungen allzu sehr aufzuhalten. Lemmens, The right to a fair trial and its multiple manifestations, S. 294 (313 f.); Nußberger, Zivilrechtliche Dogmatik und Europäische Menschenrechtskonvention, S. 99 (101–105) und Schabas, The European Convention on Human Rights, S. 46 f. Zur effektiven Auslegung der EMRK-Garantien vgl. Kapitel 6 – E.I.3 (S. 133). 30 In diese Richtung Marchadier für Urteile aus Drittstaaten: „[…] seules les justices soumises à l’influence de la CEDH sont susceptibles d’inspirer une confiance sereine. Les États tiers au Conseil de l’Europe ne se sont nullement engagés à garantir aux personnes relevant de leur juridiction les droits et libertés inscrits dans la Convention […].“ Marchadier, Les objectifs généraux du droit international privé à l’épreuve de la Convention européenne des droits de l’homme, Rn. 275. 31 Kinsch sieht dieses als aus dem Recht auf Zugang zu Gericht folgend an: „[…] a State cannot be said truly to offer ‘access’ to its courts if it subsequently refuses or neglects to enforce the judgments rendered by those courts; in such a case access to the courts for the purpose of effectively adjudicating disputes does not exist.“ Kinsch, Enforcement as a fundamental right, NIPR 2014, S. 540 (542). 32 Kinsch, Enforcement as a fundamental right, NIPR 2014, S. 540 (542): „Such a refusal may frustrate the effectiveness of the civil justice system of a foreign State, but it does not deny the effectiveness of the civil justice system of the forum State itself […].“

C. Pro und Contra von Anerkennungspflichten aus Art. 6 Abs. 1 EMRK

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IV. Zwischenergebnis Der EGMR entwickelte seine Rechtsprechungslinie zu Art. 6 Abs. 1 EMRK konsequent fort, indem er die Effektivität des Rechtsschutzes in den Mittelpunkt stellte. Andererseits ist es berechtigt, ihm ein Begründungsdefizit vorzuwerfen, weil es durchaus nicht selbsterklärend ist, dass Auslandsurteile mit Inlandsurteilen gleichgesetzt werden.

C. Pro und Contra von Anerkennungs- und Vollstreckungspflichten aus Art. 6 Abs. 1 EMRK

C. Pro und Contra von Anerkennungspflichten aus Art. 6 Abs. 1 EMRK

Im Folgenden soll dieses Begründungsdefizit kompensiert werden, indem betrachtet wird, ob die Ableitung von Anerkennungs- und Vollstreckungspflichten aus Art. 6 Abs. 1 EMRK in Bezug auf ausländische Urteile überzeugt. Ausgehend von der Effektivitätsprämisse des EGMR wird zunächst untersucht, ob andernfalls die Effektivität des Rechtsschutzes in grenzüberschreitenden Konstellationen unzumutbar beschränkt wäre (unter I.). Als weitere Gesichtspunkte werden sodann die Aussagen der Präambel, der Charakter der EMRK sowie die Intention der Vertragsstaaten beleuchtet (unter II.). Zuletzt wird betrachtet, ob zwei fundamentale Prinzipien des Völkerrechts gegen eine Pflicht der EMRK-Staaten zur Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile sprechen – nämlich der Grundsatz der Staatssouveränität (unter III.) sowie das Territorialitätsprinzip (unter IV.). I.

Rechtsschutzeffektivität

Die Effektivität des Rechtsschutzes ist für den EGMR ausschlaggebend, um aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ein Recht auf Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile abzuleiten. Diese Ableitung beruht dabei auf zwei Annahmen. Erstens: Art. 6 Abs. 1 EMRK erfordert nicht nur irgendeine Form von Rechtsschutz, sondern effektiven Rechtsschutz. Zweitens: Effektiver Rechtsschutz kann in grenzüberschreitenden Fällen nicht ohne die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile gewährt werden. Während jedoch die erste Annahme kaum ernsthaft in Frage gestellt werden kann, da die Rechtsschutzeffektivität das der gesamten Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK zugrunde liegende Prinzip ist, sieht das bei der zweiten Annahme anders aus. Denn welche konkreten Pflichten aus dem Effektivitätsgebot folgen, ist durchaus diskutabel.33 Entscheidend ist daher, ob ohne eine Anerkennung und 33 Man kann unterschiedlicher Auffassung darüber sein, was Art. 6 Abs. 1 EMRK konkret fordert, damit die Rechtsschutzgarantie hinreichend effektiv ist. Umfasst Art. 6 Abs. 1 EMRK etwa einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe (vgl. EGMR, Urteil vom 9.10.1979, Nr. 6289/73 (Airey ./. Irland), Erwägungsgründe Nr. 20–28)? Gewährt Art. 6 Abs. 1

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Kapitel 7 – Anerkennungspflichten aus Art. 6 Abs. 1 EMRK

Vollstreckung von Auslandsentscheidungen der Rechtsschutz in grenzüberschreitenden Fällen unzumutbar beschränkt wäre. Anders als man auf den ersten Blick meinen könnte, führt die Nichtanerkennung einer ausländischen Entscheidung jedoch nicht zwingend dazu, dass der Urteilsgläubiger endgültig nicht zu seinem Recht kommt. Unmittelbar hat eine Anerkennungsversagung nämlich nur zur Folge, dass das Auslandsurteil im Inland keine Wirkung entfaltet. Dem Urteilsgläubiger steht es aber frei, erneut zu klagen und dadurch einen inländischen Titel zu erlangen. Andernfalls droht ein anerkennungsrechtlicher déni de justice.34 Wenn ein Auslandsurteil nicht anerkannt wird, so ist das folglich nicht das Ende der Möglichkeiten des Urteilsgläubigers. Vielmehr kann er weiterhin versuchen sein Recht durchzusetzen, indem er einen erneuten Zivilprozess im Inland einleitet.35 Doch ob das wirklich ausreichend ist, um effektiven Rechtsschutz sicherzustellen, ist zweifelhaft. Das hängt entscheidend davon ab, welche Beeinträchtigungen und Erschwerungen durch die Führung eines inländischen Zweitprozesses verursacht werden.36 Können sie ein solches Ausmaß erreichen, dass sie effektiven Rechtsschutz verhindern? Hierfür sprechen Beweisschwierigkeiten (unter 1.), finanzielle Aspekte (unter 2.), faktische Erschwerungen (unter 3.), zeitliche Verzögerungen (unter 4.) und – damit zusammenhängend – das Risiko zwischenzeitlicher Verjährung (unter 5.) sowie die Gefahr widersprüchlicher Judikate (unter 6.). EMRK auch ein Recht auf vorläufigen Rechtsschutz (vgl. Kofmel Ehrenzeller, Der vorläufige Rechtsschutz im internationalen Verhältnis, S. 348–379)? 34 Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, Rn. 1029 f. und Schütze, Die Notzuständigkeit im deutschen Recht, S. 567 (573 f.). Zum Verbot des déni de justice als einer menschenrechtlichen Durchbrechung der geschriebenen Zuständigkeitsregeln vgl. Kapitel 5 – B.I (S. 108 f.). 35 Notfalls muss ein Notgerichtsstand (forum necessitatis) zur Verfügung gestellt werden, damit ein Inlandsprozess ermöglicht wird. Pfeiffer bezeichnet dies aus deutscher Perspektive als „Letztverantwortlichkeit der deutschen Justiz“. Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, S. 449–452. Hau, Grundlagen der internationalen Notzuständigkeit im Europäischen Zivilverfahrensrecht, S. 355 (356): „Mit Anerkennungslücke wird […] der Fall umschrieben, dass im Ausland bereits eine Entscheidung ergangen ist, die im Notforum bzw. forum necessitatis aber nicht anerkannt werden kann, obwohl sie in dort vorhandenes Vermögen vollstreckt werden oder dort – beispielsweise als Ehescheidung – Gestaltungswirkung entfalten soll. Dann würde eine Notzuständigkeit ein neues Erkenntnisverfahren in derselben Sache ermöglichen und dadurch verhindern, dass aus der Anerkennungslücke eine Vollstreckungs- oder Gestaltungslücke erwächst.“ 36 Die Anerkennungsversagung führt daher strenggenommen „nur“ zu einer Verzögerung und Erschwerung des Rechtsschutzes. Doch nach der Rechtsprechung des EGMR können auch vorübergehende Hindernisse einer Rechtsschutzverweigerung gleichkommen – so wie etwa in der Rechtssache Golder die haftbedingte Unmöglichkeit, eine Zivilklage zu erheben. Marchadier, Les objectifs généraux du droit international privé à l’épreuve de la Convention européenne des droits de l’homme, Rn. 272, Fn. 1314. Zur Rechtssache Golder vgl. Kapitel 7 – A.II.1 (S. 142 f.).

C. Pro und Contra von Anerkennungspflichten aus Art. 6 Abs. 1 EMRK

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1. Beweisschwierigkeiten Für die Effektivität des Rechtsschutzes sind Beweisfragen zentral. Das Recht auf ein faires Verfahren wäre nämlich nur theoretisch und illusorisch – nicht aber praktisch und effektiv – wenn die beweisbelastete Partei nicht die Möglichkeit hätte, den nötigen Beweis zu führen. Deshalb enthält Art. 6 Abs. 1 EMRK ein Recht auf Beweis.37 Für einen inländischen Zweitprozess folgt daraus, dass dieser auch unter Beweisgesichtspunkten zur Rechtsdurchsetzung geeignet sein muss. Doch in einem inländischen Zweitprozess wird der Kläger oftmals mit Beweisschwierigkeiten konfrontiert sein. Denn aufgrund des Auslandsbezugs der Streitigkeit werden sich wichtige Beweismittel häufig im Ausland befinden. In einer solchen Situation ist man auf die Kooperationsbereitschaft des ausländischen Staates angewiesen – nämlich darauf, dass dieser die nötigen Beweise im Rechtshilfewege erhebt. Leider besteht aber auf die Leistung von Rechtshilfe im Grundsatz kein Anspruch.38 Doch selbst wenn der ausländische Staat Rechtshilfe leistet, ist das häufig ungenügend, um eine ausreichende Beweisführung sicherzustellen. Deutlich wird dies vor allem bei Auslandszeugen. Die Vernehmung von Auslandszeugen im Wege der Rechtshilfe hat nämlich den großen Nachteil, dass der erkennende Richter sich keinen unmittelbaren Eindruck vom Zeugen verschaffen kann. Er ist daher nicht in der Lage, dessen Glaubwürdigkeit zu beurteilen. Ein weiterer Nachteil ist, dass die Anwesenheit der Parteien bei einer solchen Rechtshilfevernehmung oft problematisch, fast immer aber impraktikabel ist.39 Müller, Grenzüberschreitende Beweisaufnahme im Europäischen Justizraum, S. 12: „Das Recht auf Beweis ist […] ein auf Art. 6 Abs. 1 EMRK gestützter gemeineuropäischer Verfahrensgrundsatz.“ Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, Rn. 2374: „Nicht zu bestreiten ist aber, dass ein effizientes Beweisaufnahmeverfahren zur wirksamen Rechtsdurchsetzung bzw. Rechtsverteidigung gehört […] und daher das Menschenrecht auf ein faires und effizientes Verfahren (Art. 6 I EMRK) involviert ist.“ Allgemein zu menschenrechtlichen Aspekten von Auslandsbeweisen vgl. Geimer, Menschenrechte im internationalen Zivilverfahrensrecht, S. 213 (242–245). 38 Das Völkergewohnheitsrecht kennt keinen Anspruch auf Rechtshilfe, sodass ein solcher abseits völkervertraglicher Regelungen nicht besteht. Vgl. Daoudi, Exterritoriale Beweisbeschaffung im deutschen Zivilprozeß, S. 25 f. und E. Geimer, Internationale Beweisaufnahme, S. 53 f. Allerdings wird diskutiert, ob ein Anspruch auf Rechtshilfe aus Art. 6 Abs. 1 EMRK folgt. Das befürwortet Bajons, die die Verweigerung von Rechtshilfe mit einem déni de justice gleichsetzt (Bajons, Zivilverfahren, Rn. 31). So auch Müller, Grenzüberschreitende Beweisaufnahme im Europäischen Justizraum, S. 14: „Wird aber die Rechtshilfe für ein Verfahren verweigert, so kann es im Ergebnis zur Rechtsverweigerung für den Beweispflichtigen kommen. Auch der Beweisstaat und dessen Gerichte sind aber zur Justizgewährung verpflichtet, Art. 6 EMRK.“ Skeptisch hingegen Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, Rn. 2374. 39 Geimer, Menschenrechte im internationalen Zivilverfahrensrecht, S. 213 (243). Bertele sieht es als problematisch an, dass die Beweisaufnahme im Rechtshilfewege oftmals elementaren prozessualen Standards nicht entspricht: „Das Rechtshilfeverfahren selbst müßte 37

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Kapitel 7 – Anerkennungspflichten aus Art. 6 Abs. 1 EMRK

All das demonstriert die Unzulänglichkeit von Auslandsbeweisen.40 Reinhold Geimer sieht wegen der mit Auslandsbeweisen verbundenen Schwierigkeiten bisweilen gar „das elementare Recht auf Beweis als Ausfluss des Rechts auf rechtliches Gehör verkürzt.“41 Solange aber das Recht auf Beweis bei Auslandsbeweisen derart eingeschränkt ist, ist ein inländischer Zweitprozess keine hinreichende Alternative zur Anerkennung eines Auslandsurteils.42 2. Finanzielle Erschwerungen Auch finanzielle Belastungen einer Prozessführung haben unmittelbare Relevanz für die Garantien des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Sie berühren nämlich die Frage, ob effektiver Rechtsschutz tatsächlich möglich ist – oder ob er wegen prohibitiver Kosten nur eine theoretische Option bleibt. Der EGMR hatte bereits früh entschieden, dass finanzielle Hürden der Prozessführung den Zugang zu Gericht verhindern und gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßen können.43 Betrachtet man die Nichtanerkennung eines ausländischen Urteils durch dieses Prisma, so muss man darauf abstellen, was die Führung eines inländischen Zweitprozess aus finanzieller Sicht bedeutet – nämlich eine Dopplung von Gerichts-, Anwalts- und Gutachterkosten. Oft fallen zudem auch Anreise- und Übersetzungskosten an. Die finanziellen Mehrbelastungen dann den Anforderungen des Art. 6 EMRK, insbesondere an die Öffentlichkeit und an die Fragerechte der Parteien, entsprechen.“ Bertele, Souveränität und Verfahrensrecht, S. 207. 40 Wegen der Schwierigkeiten der Beweisführung in transnationalen Fällen wurde das Haager Beweisaufnahmeübereinkommen vom 18.3.1970 geschlossen. Doch die völkervertragliche Rechtshilfepraxis hat sich als schwerfällig und kaum effektiv erwiesen. Adolphsen konstatiert dementsprechend: „Die Praxis der Rechtshilfe bei der internationalen Beweisaufnahme ist dornenreich, die Verfahren langwierig. Staatlich zentralisierte Zuständigkeiten und mangelnde personelle Ausstattung haben dazu beigetragen, dass der Zugang zum Recht in vielen Fällen nicht möglich war […].“ Adolphsen, Die EG-Verordnung über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen, S. 1 (8). Um die grenzüberschreitende Beweisaufnahme im europäischen Justizraum zu verbessern wurde die Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28.5.2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen (EU-Beweisaufnahmeverordnung) erlassen. 41 Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, Rn. 2351. 42 Bertele, Souveränität und Verfahrensrecht, S. 211: „Es besteht also grundsätzlich weder eine Pflicht zur Anerkennung ausländischer Entscheidungen noch zur Unterstützung bei der Entscheidungsfindung. Problematisch ist dieser Lösungsweg, wenn auch das eigene Forum keinen effektiven Rechtsschutz gewährleisten kann, weil es nun seinerseits nicht an Auslandspersonen oder Auslandsbeweise herankommt.“ 43 In der Rechtssache Airey erkannte der EGMR an, dass es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den finanziellen Lasten der Prozessführung und dem Zugang zu Gericht gibt. Aus diesem Grunde urteilte er, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK die Gewährung von Prozesskostenhilfe erfordern kann. EGMR, Urteil vom 9.10.1979, Nr. 6289/73 (Airey ./.  Irland), Erwägungsgründe Nr. 26–28. Zur Rechtssache Airey vgl. auch Fn. 63 (S. 133).

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sind oftmals bedeutend. Die durch die Führung eines inländischen Zweitprozesses entstehenden finanziellen Belastungen mindern daher die Effektivität des Rechtsschutzes aus Art. 6 Abs. 1 EMRK in erheblichem Maße. 3. Faktische Erschwerungen Nicht zuletzt kostet jede Prozessführung Kraft, Nerven und Lebenszeit. Eine erneute Prozessführung ist daher beschwerlich, selbst wenn man keine Beweisnachteile erleidet – sie ist selbst dann mühsam, wenn man imstande ist, den erneuten Rechtsstreit zu finanzieren. Das Ausmaß dieser Beschwerlichkeiten kann jeder bezeugen, der schon einmal in eigener Sache prozessieren musste. Andererseits könnte man geneigt sein, diesen rein faktischen Erschwernissen keine rechtliche Relevanz zuzusprechen. Doch das wäre nicht zutreffend. Denn zum einen ist in der neueren rechtspolitischen Entwicklung eine verstärkte Berücksichtigung der in der Durchsetzung eigener Rechte liegenden Mühen zu beobachten. So ordnet etwa die EU-Zahlungsverzugsrichtlinie ausdrücklich die Ersatzfähigkeit der „internen Beitreibungskosten“ an.44 Zum anderen folgt dies aber auch aus einer effektiven Auslegung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, die gerade anstrebt, dass die Konventionsgarantien nicht nur theoretisch und illusorisch bleiben, sondern im wahren Leben tatsächlich wirken.45 Auch faktische Erschwerungen, die durch die Führung eines inländischen Zweitprozesses verursacht werden, können somit effektiven Rechtsschutz verhindern.46 4. Zeitliche Verzögerungen Ferner ist auch der Faktor Zeit für die Rechtsschutzeffektivität von großer Bedeutung. Wird ein Auslandsurteil nicht anerkannt und muss der Urteilsgläubiger im Inland erneut klagen, so tritt eine ganz erhebliche zeitliche Ver44 Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.2.2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr (EUZahlungsverzugsrichtlinie) setzt einen Pauschalbetrag von 40 EUR an, der dabei auch die eigene Mühewaltung des Gläubigers umfassen soll (Erwägungsgrund Nr. 19). Im deutschen Schadensersatzrecht herrschte hingegen lange Zeit die Auffassung vor, dass der durch die „eigene Mühewaltung“ entstandene Aufwand grundsätzlich nicht ersatzfähig ist (BGH, Urteil vom 9.3.1976 – VI ZR 98/76 = BGHZ 66, 112 = NJW 1976, 1256 (1257), Rn. II. 1. b)). Vgl. hierzu Feldmann, in: Staudinger, BGB, § 286, Rn. 229; Ernst, in: Münchener Kommentar, BGB, § 286, Rn. 171; Lipp, Eigene Mühewaltung bei außergerichtlicher Rechtsverfolgung, NJW 1992, S. 1913 (1913–1915). 45 Zum Grundsatz der effektiven Auslegung der EMRK vgl. Kapitel 6 – E.I.3 (S. 133). 46 Hinzukommt ferner, dass bei grenzüberschreitenden Fällen der Prozess für eine der Parteien häufig vor einem ausländischen Gericht stattfindet. Vor einem ausländischen Gericht aufzutreten ist aber nochmals mühsamer, als vor inländischen Richtern. Vgl. hierzu Nuyts, Due Process and Fair Trial, S. 157 (180) und Schlosser, Jurisdiction in International Litigation, Riv. Dir. Int. 74 (1991), S. 5 (11 f.).

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zögerung ein. Denn zu dem bereits im Ausland geführten Prozess kommt ein neues Erkenntnisverfahren im Inland hinzu. Es ist also in etwa mit einer Verdopplung des normalen Zeitrahmens zu rechnen. Allein diese massive Rechtsschutzverzögerung lässt fraglich erscheinen, ob noch von effektivem Rechtsschutz gesprochen werden kann. Darüber hinaus könnte diese zeitliche Verzögerung aber auch gegen eine spezielle Teilgarantie des Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßen – nämlich gegen das Recht auf angemessene Verfahrensdauer.47 Allerdings macht der EGMR die Angemessenheit der Verfahrensdauer nicht allein vom Zeitablauf abhängig, sondern auch davon, wem die Verzögerung zuzurechnen ist.48 Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass der Urteilsgläubiger für die eingetretene Verzögerung selbst verantwortlich ist, da er von Anfang an vor inländischen Gerichten hätte klagen können. Doch eine solche Bewertung übersieht, dass sich die Notwendigkeit einer Inlandsvollstreckung bisweilen erst im Nachhinein ergeben kann: Zum einen aufgrund nachträglicher Vermögensverschiebungen des Schuldners – zum anderen, weil während des Ausgangsverfahrens oft nicht absehbar ist, dass das verfahrensabschließende Urteil später nicht anerkannt werden wird. Ein Beispiel für Anerkennungsvoraussetzungen, deren Anwendung nur schwer vorauszusehen ist, sind insbesondere gerichtliche Gegenseitigkeitserfordernisse. Die Rechtsprechung zum deutschen Reziprozitätsvorbehalt in § 328 Abs. 1 Nr. 5 BGB zeigt eindrucksvoll, wie viele Unwägbarkeiten in seiner Anwendung liegen.49 Überraschend kann auch die Nichtanerkennung eines Auslandsurteils wegen eines Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung sein. Beim materiell-rechtlichen ordre public sind nämlich schwierige Wertungsfragen zu entscheiden, sodass nicht immer voraussehbar ist, ob eine Verletzung letztlich angenommen werden wird.50 Beim verfahrensrechtlichen ordre public hingegen ist eine Anerkennungsprognose ex ante naturgemäß Noch nicht abschließend geklärt ist allerdings, ob bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer die Dauer der in den unterschiedlichen Rechtsordnungen geführten Verfahren – d.h. des ausländischen Erst- und der inländischen Zweitprozesses – zusammengerechnet oder ob sie getrennt betrachtet werden müssen. Soweit erkennbar, wurde diese Frage noch nicht vom EGMR behandelt. 48 Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer hat der EGMR keine zeitliche Obergrenze festgelegt, allerdings hat er einige Kriterien herausgearbeitet, die zu berücksichtigen sind. Die vier maßgeblichen Kriterien hierbei sind: Bedeutung der Sache, Umfang und Komplexität des Falls, Verhalten des Beschwerdeführers sowie Verhalten der Behörden. Meyer, in Karpenstein / Meyer, EMRK, Art. 6, Rn. 76–82 und Schabas, The European Convention on Human Rights, S. 292 f. 49 Für eine Darstellung der wechselhaften Rechtsprechung vgl. Kapitel 2 – C (S. 36 ff.). Vgl. auch LG Wiesbaden, IPRax 2018, S. 527 f. (Gegenseitigkeitsverbürgung mit Russland) sowie die Besprechung durch den Verfasser (Kopczyński, Zu hohe Anforderungen an die Gegenseitigkeit, IPRax 2018, S. 495 f.) als Beispiel für die kaum vorhersehbare Anwendung des § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO durch die Instanzgerichte. 50 Esslinger, Gegenseitiges Vertrauen, S. 20–21. 47

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überhaupt nicht möglich, da er darauf abstellt, wie das ausländische Verfahren konkret verlaufen ist.51 Ein Rechtsschutzsuchender kann daher oft nicht voraussehen, ob sein Auslandsurteil später im Inland anerkannt werden wird oder nicht, sodass die durch die Nichtanerkennung ausgelöste Rechtsschutzverzögerung ihm häufig nicht angelastet werden kann. Die durch die Führung eines inländischen Zweitprozesses verursachte zeitliche Verzögerung kann daher sowohl die Effektivität des Rechtsschutzes in Frage stellen als auch gegen das speziellere Recht auf angemessene Verfahrensdauer verstoßen. 5. Risiko zwischenzeitlicher Verjährung Bisweilen scheitert die Führung eines inländischen Zweitprozesses daran, dass die Einleitung des ausländischen Erstprozesses die zwischenzeitliche Verjährung des Anspruchs nicht verhindern konnte. So bestimmt etwa das deutsche Recht, dass die Erhebung einer Klage zwar verjährungshemmend wirkt – doch soweit diese vor einem ausländischen Gericht eingereicht wird, soll eine Verjährungshemmung nur bei positiver Anerkennungsprognose eintreten.52 Ist das ausländische Urteil hingegen nicht anerkennungsfähig, wird auch der Lauf der Verjährung nicht unterbrochen. Der Gläubiger kann daher seine Forderung unter Umständen nicht mehr durchsetzen, obwohl er ja durch die Klageerhebung im Ausland durchaus aktiv geworden ist. Ihm kann gerade nicht vorgeworfen werden, dass er mit der Geltendmachung seiner Forderung zu lange zugewartet hätte. Aus Sicht der Rechtsschutzeffektivität ist dieser Befund höchst problematisch. Er bedeutet, dass ein inländischer Zweitprozess in diesen Konstellationen gerade keine geeignete Alternative zur Anerkennung eines ausländischen Urteils darstellt. Vielmehr führt in diesen Fällen die Nichtanerkennung des ausländischen Urteils zu einer völligen Rechtsschutzverweigerung: Einem durch die Verjährung der Klageforderung ausgelösten, anerkennungsrechtlichen déni de justice.

Die meisten Fälle der Verletzung des verfahrensrechtlichen ordre public betreffen einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör während des ausländischen Verfahrens. Roth, in: Stein / Jonas, ZPO, § 328, Rn. 114. 52 Die Vorschrift des § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB bestimmt, dass die Verjährung durch Klageerhebung gehemmt wird. Doch weil das BGB von dem Regelfall eines inländischen Gerichtsverfahrens ausgeht, ist fraglich, ob die Verjährungshemmung auch dann eintritt, wenn ein Prozess im Ausland eingeleitet wird. Die herrschende Auffassung verlangt hierfür eine positive Anerkennungsprognose. Eine andere Auffassung fordert hingegen, dass das angerufene ausländische Gericht aus Sicht des deutschen Rechts international zuständig ist. Scheitert die Anerkennung beispielsweise nur an der mangelnden Verbürgung der Gegenseitigkeit, so soll der Lauf der Verjährung demnach trotzdem gehemmt worden sein. Eine weitere Mindermeinung will hingegen die Einleitung eines ausländischen Verfahrens einer Klageerhebung im Inland vollkommen gleichstellen. Roth, in: Stein / Jonas, ZPO, § 328, Rn. 25–28; Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, Rn. 2827–2832. 51

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6. Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen Die Führung eines erneuten Prozesses in einer anderen Rechtsordnung kann zu einem sehr unbefriedigenden Ergebnis führen: Zu einer Entscheidung, die der Erstentscheidung widerspricht. Eine erneute Prozessführung im Inland bedeutet nämlich nicht nur erschwerte Rechtsdurchsetzung und Verzögerungen. Sie bedeutet auch ein Risiko widersprüchlicher Entscheidungen. Dass ein solcher Zustand nicht wünschenswert ist, versteht sich von selbst.53 Trotzdem könnte er wegen der Souveränität der beteiligten Staaten und dem Territorialitätsprinzip hinzunehmen sein.54 Doch das wird die betroffenen Parteien kaum trösten, denn sie werden es als ungerecht und nicht nachvollziehbar empfinden, wenn dieselbe Sache unterschiedlich entschieden wird. Soll durch einen Zivilprozess eine verbindliche und akzeptable Lösung geschaffen werden, so dienen widersprüchliche Judikate diesem Ziel sicher nicht. In der Tat stellt ein solcher Zustand die Rechtssicherheit und den Rechtsfrieden ernsthaft in Frage.55 7. Stellungnahme Die Nichtanerkennung eines Auslandsurteils bedeutet eine erhebliche Hürde für die Rechtsdurchsetzung: Ein neuerlicher Prozess im Inland kostet Zeit, Geld und Nerven. Gut möglich, dass die Beweisführung wegen Auslandsbezugs und Zeitablaufs schwierig wird. Hinzukommt das Risiko, dass sich die in- und ausländische Entscheidung widerspricht. All diese Aspekte zeigen, dass die Effektivität des Rechtsschutzes bei der Nichtanerkennung eines ausländischen Urteils in unzumutbarem Maße leidet. Die Anerkennungsversagung führt daher allzu oft genau dazu, was Art. 6 Abs. 1 EMRK eigentlich verhindern möchte: Zu kafkaesken Situationen, in denen die gleiche Frage immer wieder aufs Neue verhandelt und in denen dem Rechtsschutzsuchenden immer neue Steine in den Weg gelegt werden.56 Die Effektivität des Rechtsschutzes verlangt daher, dass ausländische Urteile grundsätzlich anerkannt und vollstreckt werden. 53 Althammer, Unvereinbare Entscheidungen, drohende Rechtsverwirrung und Zweifel an der Kernpunkttheorie, S. 23 (28): „Das Entstehen unvereinbarer Entscheidungen stellt für jeden Rechtsraum einen Übelstand dar, der zur Rechtsverwirrung beiträgt.“ Vgl. auch Süß, Die Anerkennung ausländischer Urteile, S. 229 (246). 54 Zum Grundsatz der Staatssouveränität vgl. Kapitel 7 – C.III (S. 163 f.). Zum Territorialitätsprinzip vgl. Kapitel 7 – C.IV (S. 165 f.). 55 Vgl. Rechberger / Simotta, Grundriss des österreichischen Zivilprozessrechts, Rn. 20 und Brehm, in: Stein / Jonas, ZPO, vor § 1, Rn. 7 und 14 f. 56 Geimer, Menschenrechte im internationalen Zivilverfahrensrecht, S. 213 (220): „Dafür spricht aber doch sehr gewichtig, daß andernfalls die Garantie des Justizgewährungsanspruchs in Art. 6 I EMRK dahingehend territorial verkürzt wäre, dass der Kläger sich sein Recht in jedem Vertragsstaat aufs Neue erkämpfen müßte.“

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II. Sonstige Argumente Für eine Pflicht zur Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen sprechen ferner Aussagen der Präambel (unter 1.), während die Intention der vertragsschließenden Staaten sowie der Charakter der EMRK dagegenzusprechen scheinen (unter 2.). 1. Pro: Aussagen der Präambel Die Präambel trifft drei Aussagen, die als Anknüpfungspunkte für eine Pflicht zur Anerkennung ausländischer Urteile dienen können: Das Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit, der Grundsatz der kollektiven Durchsetzung von Menschenrechten sowie das Streben nach größerer Einheit unter den Konventionsstaaten.57 a) Rechtsstaatlichkeit Seit der Rechtssache Golder begründet der EGMR die umfassende Reichweite des Art. 6 Abs. 1 EMRK mit dem Rechtsstaatlichkeitsziel in der Präambel (rule of law/prééminence du droit).58 Die Rechtsstaatlichkeit streitet aber auch dafür, dass es den Konventionsstaaten nicht völlig freigestellt sein kann, ob sie ausländische Urteile anerkennen oder nicht. Völlige Freiheit bei der Anerkennung würde nämlich dazu führen, dass sich ein Anerkennungsstaat willkürlich verhalten dürfte. Das passt aber nicht zur Rechtsstaatlichkeit, die gerade vor Willkür schützen soll. b) Kollektiver Menschenrechtsschutz Andererseits streitet auch die Garantie des kollektiven Menschenrechtsschutzes (collective enforcement/la garantie collective) dafür, dass die Durchsetzung privater Rechte nicht an der Staatsgrenze haltmachen darf. Denn wenn Die relevanten Passagen der Präambel lauten auf Englisch wie folgt: „Considering that the aim of the Council of Europe is the achievement of greater unity between its Members […] Being resolved, as the governments of European countries which are likeminded and have a common heritage of political traditions, ideals, freedom and the rule of law to take the first steps for the collective enforcement of certain of the rights stated in the Universal Declaration […].“ Die französische Sprachfassung lautet entsprechend: „Considérant que le but du Conseil de l’Europe est de réaliser une union plus étroite entre ses membres […] Résolus, en tant que gouvernements d’États européens animés d’un même esprit et possédant un patrimoine commun d’idéal et de traditions politiques, de respect de la liberté et de prééminence du droit, à prendre les premières mesures propres à assurer la garantie collective de certains des droits énoncés dans la Déclaration universelle […].“ [Hervorhebungen durch den Verfasser]. 58 EGMR, Urteil vom 21.2.1975, Nr. 4451/70 (Golder ./. Vereinigtes Königreich), Erwägungsgrund Nr. 34. Zur Rechtssache Golder vgl. Kapitel 7 – A.II.1 (S. 142 f.). 57

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Rechtsschutzsuchende in grenzüberscheitenden Fällen auf eine rechtliche Zusammenarbeit zwischen EMRK-Staaten angewiesen sind, so spricht das Bekenntnis zu kollektivem Rechtsschutz für eine Kooperationspflicht.59 c) Einheitsstreben Auch das Streben nach einer engeren Verbindung unter den EMRK-Staaten (achievement of greater unity/réaliser une union plus étroite) streitet für eine grundsätzliche Kooperationspflicht bei Auslandsjudikaten.60 Allerdings vermag das Einheitsstreben nicht zu begründen, warum auch Urteile aus Drittstaaten anzuerkennen und zu vollstrecken sind. 2. Contra: Intention, Auswahlcharakter, Menschenrechtsvertrag Der historisch-subjektive Wille der Konventionsstaaten sowie der Charakter der EMRK als Menschenrechtsvertrag könnten andererseits dagegensprechen, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK Vorgaben für die Urteilsanerkennung macht. a) Fehlende Intention der Vertragsstaaten Gegen eine Pflicht zur Anerkennung ausländischer Urteile lässt sich einwenden, dass die vertragsschließenden Staaten so etwas nicht intendiert hatten.61 Das ist faktisch sicherlich zutreffend, denn in der unmittelbaren Nachkriegszeit waren andere Sorgen drängender als die Anerkennung und Vollstreckung von Zivilentscheidungen. Und doch ist die historisch-subjektive Auslegung 59 Matscher, Die indirekte Wirkung des Art. 6 EMRK bei der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen, S. 427 (444 f.): „Die Bejahung einer von der EMRK, insbesondere von dessen Art. 6 ableitbaren Anerkennungspflicht stützt sich theoretisch auf den in der Präambel und in Art. 1 EMRK statuierten Grundsatz des kollektiven Rechtsschutzes und damit wohl auch der rechtlichen Zusammenarbeit zwischen den Konventionsstaaten.“ In diese Richtung auch Marchadier: „L’obligation de reconnaître de plein droit les jugements étrangers pourrait soit se rattacher à l’exigence d’une coopération juridique entre les États Parties dans les matières couvertes par la Convention.“ Marchadier, Les objectifs généraux du droit international privé à l’épreuve de la Convention européenne des droits de l’homme, Nr. 269 a.E. 60 Auch diese Aussage der Präambel hat der EGMR bereits herangezogen, um den Umfang der Verpflichtungen nach der EMRK zu bestimmen. EGMR, Urteil vom 23.3.1995, Nr. 15318/89 (Loizidou ./. Türkei), Erwägungsgrund Nr. 77: „The inequality between Contracting States which the permissibility of such qualified acceptances might create would, moreover, run counter to the aim, as expressed in the Preamble to the Convention, to achieve greater unity in the maintenance and further realisation of human rights.“ 61 So etwa Bertele, der auf den „Willen der Vertragsstaaten bei der Vertragsunterzeichnung“ verweist. Bertele, Souveränität und Verfahrensrecht, S. 210 f. Adolphsen hingegen weist darauf hin, dass die historische Auslegung zwar gegen Anerkennungspflichten spricht – dass eine evolutive Auslegung aber trotzdem vorzugswürdig ist. Adolphsen, Aktuelle Fragen des Verhältnisses von EMRK und Europäischem Zivilprozessrecht, S. 39 (73).

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nur ein schwaches Argument. Denn bei der Auslegung der EMRK spielen weder das Wortlautargument noch der Wille der Vertragsstaaten eine große Rolle.62 Stellt man nämlich darauf ab, was die Verfasser der Konvention bezweckt hatten oder sich auch nur vorstellen konnten, dann bleibt die gesamte Entwicklung des EMRK-Rechts unbegreiflich. b) Auswahlcharakter der EMRK-Garantien Andere verweisen darauf, dass die EMRK explizit nur einige ausgewählte Menschenrechte schütze.63 Denn laut der Präambel soll sie nicht mehr sein, als die ersten Schritte auf dem Weg zu einem umfassenden Menschenrechtsschutz: „[…] to take the first steps for the collective enforcement of certain of the rights stated in the Universal Declaration […].“64

Diese auf den Auswahlcharakter abstellende Argumentation wurde schon in der Rechtssache Golder von der britischen Regierung bemüht.65 Ihr ist insoweit zustimmen, als dass nicht alles, was menschenrechtlich wünschenswert ist, auch durch die Konvention geschützt ist.66 Gerade die zahlreichen Zusatzprotokolle zur EMRK demonstrieren, dass der ursprüngliche Vertragstext große Lücken im Menschenrechtsschutz aufwies.67 Und doch vermag der Auswahlcharakter der Konvention keinen Anhaltspunkt für die Reichweite des Art. 6 Abs. 1 EMRK zu geben. Denn allein aus dem Umstand, dass nur einige Menschenrechte von der EMRK geschützt sind, kann man nicht entnehmen, wie weit diese Rechte reichen. c) Charakter der EMRK: Menschenrechtsvertrag Gegen eine Anerkennungspflicht wird bisweilen auch angeführt, dass eine solche nicht zum Charakter der EMRK als Menschenrechtsvertrag passe. Die EMRK sei nämlich kein gegenseitiges Anerkennungs- und Vollstreckungsabkommen. Auch enthalte sie weder eine full faith and credit-clause noch weise Zur Auslegung der EMRK vgl. Kapitel 6 – E (S. 130 ff.). Bertele, Souveränität und Verfahrensrecht, S. 208 f. und Engel, Ausstrahlungen der Europäischen Menschenrechtskonvention auf das Kollisionsrecht, S. 3 (5 f.). 64 Auf Französisch: „[…] à prendre les premières mesures propres à assurer la garantie collective de certains des droits énoncés dans la Déclaration universelle […].“ [Hervorhebungen durch den Verfasser]. 65 EGMR, Urteil vom 21.2.1975, Nr. 4451/70 (Golder ./. Vereinigtes Königreich), Erwägungsgrund Nr. 34. 66 Schabas, The European Convention on Human Rights, S. 11 f. 67 Bezeichnenderweise findet sich etwa die Eigentumsgarantie nicht in der eigentlichen Konvention wieder, da sie erst später durch ein Zusatzprotokoll hinzugefügt wurde. Zur Eigentumsgarantie und ihrem Schutzbereich vgl. Kapitel 8 – B.I.1 (S. 176 ff.). 62 63

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sie den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens unter den Konventionsstaaten auf.68 Diese Vergleiche sind allerdings wenig hilfreich. Denn sie verkennen, dass menschenrechtliche Anerkennungspflichten eine völlig andere Berechtigung haben und einer grundverschiedenen Logik folgen. Anders als völkervertragliche Anerkennungspflichten bestehen sie nämlich nicht gegenüber dem Urteilsstaat, sondern gegenüber dem Urteilsgläubiger. Anders als Anerkennungspflichten in föderalen Rechtssystemen sind sie kein Vehikel für die Schaffung eines einheitlichen Rechts- und Wirtschaftsraums, sondern stellen ganz auf den Schutz individueller Rechte ab.69 3. Stellungnahme Aus dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit folgt, dass ein EMRK-Staat nicht völlig frei sein kann, ausländische Urteile anzuerkennen oder die Anerkennung zu verweigern. Eine völlige Freiheit bei der Anerkennungsentscheidung würde nämlich die Gefahr von Willkür in sich bergen, was dem Rechtsstaatlichkeitsgedanken widerspricht.70 Soweit es um Urteile aus anderen EMRKStaaten geht, streitet ferner sowohl der Grundsatz kollektiven Menschenrechtsschutzes als auch das Einheitsstreben unter den EMRK-Staaten für Anerkennungspflichten. Fraglich bliebt einzig, ob nicht die Prinzipien der D’Avout, Note sous CEDH, Wagner c/ Luxembourg, Clunet 135 (2008), S. 187 (197 f.) und Matscher, Die indirekte Wirkung des Art. 6 EMRK bei der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen, S. 427 (445). Nach der full faith and creditclause der US-Verfassung (Art. 4 Abs. 1) müssen alle Bundesstaaten Urteile anderer Bundesstaaten in vollem Umfang anerkennen: „Full Faith and Credit shall be given in each State to the public Acts, Records, and judicial Proceedings of every other State. And the Congress may by general Laws prescribe the Manner in which such Acts, Records and Proceedings shall be proved, and the Effect thereof.“ Zu Anerkennungspflichten zwischen den US-Bundesstaaten vgl. Geier, Internationales Privat- und Verfahrensrecht in föderalen Systemen, S. 217–290. Im EU-Zivilverfahrensrecht hingegen herrscht der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten der EU vor. Dieser wird beispielsweise erwähnt im Erwägungsgrund Nr. 26 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 vom 12.12.2012 („Brüssel Ia-Verordnung“): „Das gegenseitige Vertrauen in die Rechtspflege innerhalb der Union rechtfertigt den Grundsatz, dass eine in einem Mitgliedstaat ergangene Entscheidung in allen Mitgliedstaaten anerkannt wird, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf […] Eine von den Gerichten eines Mitgliedstaats erlassene Entscheidung sollte daher so behandelt werden, als sei sie im ersuchten Mitgliedstaat ergangen.“ 69 Vgl. Smit, International Res Judicata and Collateral Estoppel in the United States, 9 UCLA L. Rev. (1962), S. 44 (45 f.): „The aim of the full faith and credit clause is to contribute towards the effective functioning of the federal system and to act as a nationally unifying force […].“ 70 Das sieht auch der EGMR so, der bei der Auslegung von Art. 6 Abs. 1 EMRK seit dem Golder-Fall auf die Rechtsstaatlichkeit in der Präambel abstellt. Zur Rechtssache Golder vgl. Kapitel 7 – A.II.1 (S. 142 f.). 68

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Souveränität und Territorialität dagegensprechen.71 Dem wollen wir uns nun zuwenden. III. Souveränität Souveränität und Anerkennung sind eng miteinander verbunden. Einerseits macht die Existenz souveräner Staaten die Anerkennung von Auslandsurteilen überhaupt erst erforderlich – ohne das Bestehen verschiedener, unabhängiger Rechtsordnungen bräuchte man sie nicht.72 Andererseits muss die Staatssouveränität immer wieder als Begründung dafür herhalten, warum nicht anerkannt wird.73 Ausdruck dessen ist das Fehlen von Anerkennungspflichten im Völkergewohnheitsrecht. Kein Staat ist nämlich verpflichtet, Hoheitsakte eines anderen Staates durchzusetzen. Da auch Urteile staatlicher Gerichte als Hoheitsakte gelten bedeutet dies, dass kein Staat verpflichtet ist, Auslandsurteile anzuerkennen.74 Doch spricht dieser Grundsatz des allgemeinen Völkerrechts dagegen, dass EMRK-Staaten bei der Behandlung ausländischer Zivilentscheidungen bestimmte Vorgaben beachten müssen? Das ist mehr als fraglich. Denn die Fokussierung auf den hoheitlichen Charakter gerichtlicher Entscheidungen wird den dahinterstehenden Privatinteressen nicht gerecht. Sie lässt nämlich völlig außer Acht, dass Zivilurteile private Rechtsstreitigkeiten entscheiden. Zivilurteile sind eben ein ganz besonderer Typ von Hoheitsakten, weil sie über die Rechte und Pflichten von Privatpersonen befinden. Dies sieht etwa das englische Recht ganz klar und zieht daraus den Schluss, dass ein Zivilurteil eine neue schuldrechtliche Verpflichtung zwischen den Parteien schafft (doctrine of obligation).75 Andererseits ist mittlerweile eine Ausnahme von dem Grundsatz etabliert, dass kein Staat verpflichtet ist, ausländische Urteile anerkennen. Diese Ausnahme betrifft einige besonders wichtige Statusentscheidungen wie etwa Ehescheidun71 Schilling, Das Exequatur und die EMRK, IPRax 2011, S. 31 (32): „Diese Rechtsprechung, die nicht mehr auf den Eingriff in ein materielles Konventionsrecht abstellt, sondern generell auf alle rechtskräftigen ausländischen Urteile anwendbar zu sein scheint, lässt sich nicht mit den genannten allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätzen erklären […].“ 72 In diese Richtung Bertele, Souveränität und Verfahrensrecht, S. 16. 73 Aus der Staatssouveränität folgt nämlich, dass jeder Staat über seine inneren Angelegenheiten selbst entscheiden darf. Bertele, Souveränität und Verfahrensrecht, S. 5; Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 150–155. 74 Dieses ist wohl immer noch – trotz vereinzelter gegenteiliger Auffassungen im Schrifttum – Stand des Völkergewohnheitsrechts. Geimer in: Geimer / Schütze, Internationale Urteilsanerkennung, S. 1359; Lipstein, Recognition and execution of foreign judgments and arbitral awards, S. 41 (41); Roth, in: Stein / Jonas, ZPO, § 328, Rn. 1. Eine Ausnahme wird allerdings für besonders wichtige Statusurteile gemacht – vgl. Fn. 76 (S. 164). 75 Zur doctrine of obligation des englischen Anerkennungsrechts vgl. Kapitel 3 – A.I.3 (S. 59 ff.) und Kapitel 3 – A.II (S. 61 ff.).

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gen. Der Grund hierfür liegt in den Menschenrechten der Personen, die auf die Anerkennung ihres persönlichen Status angewiesen sind.76 Wenn aber in diesen Fällen individuelle Rechte eine Anerkennung erfordern – was spricht dann prinzipiell dagegen, dass das auch in anderen Konstellationen der Fall sein kann? Nicht zuletzt ist die Souveränität ein facettenreicher und schillernder Begriff. Was genau sie umfasst und wie weit sie reicht war schon immer umstritten.77 Es ist deshalb schwierig, aus dem Souveränitätsprinzip klare Schlussfolgerungen abzuleiten. Dies gilt umso mehr, als dass der Grundsatz der Staatssouveränität selbst nicht statisch ist, sondern einem Wandel unterliegt.78 So wird die Souveränität nicht mehr im gleichen Maße verabsolutiert, wie dies früher der Fall war, was seinen Ausdruck insbesondere in der EMRK gefunden hat. Die EMRK macht nämlich die Behandlung eigener Staatsbürger zum Thema auf internationaler Bühne, wodurch sie innere Angelegenheiten externalisiert.79 Die traditionelle Auffassung von Staatssouveränität kann deshalb für ihre Auslegung nicht entscheidend sein. Auch der völkerrechtliche Grundsatz, wonach kein Staat verpflichtet ist, ausländische Urteile anzuerkennen oder zu vollstrecken, kann nicht maßgeblich sein, da die EMRK ihren Vertragsstaaten höhere Verpflichtungen auferlegt als das allgemeine Völkerrecht. Wie weit Art. 6 Abs. 1 EMRK reicht, ist daher allein durch Auslegung dieser Konventionsgarantie zu ermitteln.80 Die Souveränität des Anerkennungsstaa76 Entscheidungen über den Status einer Person – also etwa Eheschließung, Scheidung, Adoption – greifen sehr tief in das Familienleben ein. Deshalb wird angenommen, dass hier Anerkennungspflichten aus den allgemeinen Menschenrechten folgen. Ob jemand verheiratet oder Elternteil eines Kindes ist, dürfe nicht im freien Ermessen des Anerkennungsstaates stehen. Geimer, in: Zöller, ZPO, § 328, Rn. 2 und Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 158. Zum Einfluss der Menschenrechte auf die Anerkennung familienrechtlicher Statusentscheidungen vgl. Kapitel 5 – B.V (S. 116 ff.) und Kapitel 8 – A (S. 169 ff.). 77 Basedow, Die Anerkennung von Auslandsscheidungen, S. 44; Steinberger, Sovereignty, S. 500 (500 f.). 78 Vgl. hierzu sehr instruktiv Höfelmeier, Die Vollstreckungsimmunität der Staaten im Wandel des Völkerrechts, S. 211–230. Die Verfasserin konstatiert, dass „die Völkerrechtsgemeinschaft sich von einer Gleichordnungsstruktur der Staaten hin zu einer Werteordnung bewegt, die der Souveränität der Staaten bestimmte Werte voranstellt und in zunehmendem Maße nicht mehr den Staat, sondern das Individuum als Schutzobjekt der sie konstituierenden Regeln ansieht.“ Höfelmeier, ebenda, S. 211. 79 Besson, Sovereignty, Rn. 137. Bei schweren Menschenrechtsverletzungen wird beispielsweise vertreten, dass andere Staaten sogar in der Pflicht sind zu intervenieren (responsibility to protect). Zur EMRK als Ausdruck eines grundlegend gewandelten Souveränitätsverständnisses vgl. Kapitel 6 – B (S. 125 f.). 80 Die EMRK unterliegt als Menschenrechtsabkommen dabei anderen Auslegungsgrundsätzen als sonstige völkerrechtliche Verträge. Herdegen, Interpretation in International Law, Rn. 30. Vgl. auch Letsas, A Theory of Interpretation of the European Convention on Human Rights, S. 58–72. Es ist sogar zweifelhaft, ob der Grundsatz der Staatssou-

C. Pro und Contra von Anerkennungspflichten aus Art. 6 Abs. 1 EMRK

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tes spricht folglich nicht gegen eine grundsätzliche Pflicht der EMRK-Staaten zur Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen. IV. Territorialität Mit der Souveränität hängt der Grundsatz der Territorialität eng zusammen. Vielleicht unterscheiden sich beide Prinzipien gar nur in begrifflicher Hinsicht voneinander.81 Jedenfalls ist die Territorialität des Rechts eine direkte Konsequenz aus dem Grundsatz der Staatssouveränität, denn aus ihr folgt, dass ein Staat über sein Gebiet uneingeschränkt herrschen darf.82 Das gilt auch in rechtlicher Hinsicht. Was Recht ist, bestimmt also jeder Staat für sein Gebiet selbst.83 Recht ist daher grundsätzlich territorial, denn es gilt in einem bestimmten Herrschaftsgebiet. Auch Gerichtsurteile wirken grundsätzlich nur innerhalb der eigenen Rechtsordnung.84 Um ihre Wirkung auch in einer anderen Rechtsordnung zu entfalten, müssen sie daher von dieser anerkannt werden.85 Würde nun eine Pflicht zur Anerkennung ausländischer Entscheidungen den Grundsatz der Territorialität unterlaufen? Dagegen spricht zunächst bereits, dass das Territorialitätsprinzip kein unüberwindbares, striktes Dogma ist. Die Territorialität von Gesetzen, Rechtslagen und Urteilen ist nicht naturgegeben, sondern vielmehr ein Charakteristikum des modernen Rechts.86 Schon die niederländischen Naturrechtler des veränität überhaupt als Auslegungshilfe bei der Interpretation der EMRK dienen kann. Anders als für andere völkerrechtliche Verträge gilt der souveränitätswahrende Zweifelssatz „in dubio mitius“ für die EMRK nämlich nicht. Zu den Auslegungsgrundsätzen der EMRK vgl. Kapitel 6 – E (S. 130 ff.). 81 Laut F.A. Mann besteht zwischen den Grundsätzen der Souveränität, Territorialität und der Nicht-Einmischung nur ein terminologischer Unterschied. Mann, The Doctrine of International Jurisdiction Revisited after Twenty Years, Recueil des Cours 186 (1984), S. 20. 82 Kono, Territoriality, S. 1702 (1702). 83 Bertele, Souveränität und Verfahrensrecht, S. 64; Lenhoff, Reciprocity and the Law of Foreign Judgments, 16 La. L.R. (1956), S. 465 (465): „An independent state has exclusive jurisdiction in and over its territory, that is, it has territorial sovereignty.“ 84 Wurmnest, Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen, S. 55 (55): „Als staatliche Hoheitsakte entfalten Urteile nach dem Territorialitätsprinzip nur im Gebiet des Ursprungsstaats (Urteilsstaat, Erlassstaat, Erststaat) unmittelbare Rechtswirkungen. In einem anderen Staat (Anerkennungsstaat, Zweitstaat) ist dies nur der Fall, wenn dieser sie anerkennt.“ Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 152. 85 Gleichwohl kann Recht auch auf fremdem Territorium gelten. Nur geschieht dies nicht aus eigener „Machtvollkommenheit“, sondern aufgrund des Anwendungsbefehls des jeweiligen ausländischen Staates. Gesler, § 328 ZPO – Ein Beitrag zu der Lehre von der zwingenden Natur der Kollisionsnormen, S. 13. 86 Früher herrschte das Personalitätsprinzip vor, das sich etwa im Privatrecht des Frühmittelalters zeigte. Personen unterlagen damals in vielfacher Hinsicht dem Recht ihrer

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Kapitel 7 – Anerkennungspflichten aus Art. 6 Abs. 1 EMRK

17. Jahrhunderts erkannten, dass die strikte Territorialität der Rechtsordnungen zu unbefriedigenden Ergebnissen führt. Um Abhilfe zu schaffen, erhoben sie die comitas gentium – also das Gebot des internationalen Entgegenkommens – zum leitenden Prinzip.87 Für die Anerkennung ausländischer Gerichtsurteile bedeutete der comitas-Gedanke: Obwohl jeder Staat frei war, die Urteile anderer Staaten zu ignorieren, sollte er ihnen entgegenkommen und sie anerkennen – auch wenn hierfür keine Rechtspflicht bestand.88 Eine Anerkennungspflicht aus Art. 6 Abs. 1 EMRK würde diesem comitas-Gedanken funktionell gleichkommen. Gleichzeitig würde sie aber auf einem völlig anderen Fundament stehen: Nämlich nicht auf Entgegenkommen gegenüber Staaten, sondern auf Entgegenkommen gegenüber Individuen. Sie wäre ein modernes Mittel, um die Härten abmildern, die sich aus einer strikten Territorialität ergeben ohne dass sie das Territorialitätsprinzip selbst in Frage stellen würde.89 V. Stellungnahme Die Effektivität des Rechtsschutzes streitet dafür, dass EMRK-Staaten ausländische Zivilentscheidungen grundsätzlich anerkennen und vollstrecken müssen. Insbesondere überzeugt es nicht, einen territorial beschränkten Rechtsschutz genügen zu lassen. In einer sich globalisierenden Welt ist „national effektiver“ Rechtsschutz nämlich nicht ausreichend – ja, er ist ein Widerspruch in sich. Die Effektivität des Rechtsschutzes setzt daher in grenzüberschreitenden Konstellationen voraus, dass er nicht an der Landesgrenze stehen bleibt. Nur grenzüberschreitend effektiver Rechtsschutz verdient das Etikett „effektiv“ – der allein auf das nationale Justizsystem beschränkte hingegen nicht. Daher überzeugt es, dass der EGMR aus dem Recht auf effektiven

Herkunft – unabhängig davon, wo sie sich aufhielten. Später wurde dieses auf Stammeszugehörigkeit zurückgehende Personalitätsprinzip überwunden. Kropholler, Internationales Privatrecht, S. 11; Siehr, History of private international law, S. 1390 (1391). 87 Kämmerer, Comity, Rn. 3; Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 26. 88 Zur Lehre von der comitas gentium vgl. Kapitel 1 – B.II (S. 11 ff.). Zum Einfluss der comitas gentium im englischen Anerkennungsrecht vgl. Kapitel 3 – A.I.2 (S. 57 f.). 89 Eine solche Anerkennungspflicht würde das Territorialitätsprinzip weder abschaffen noch aushebeln. Dadurch würde ja keine „automatische“ Wirkungserstreckung fremder Gerichtsurteile eintreten. Vielmehr müsste jeder ausländische Titel ein inländisches Verfahren durchlaufen, um für vollstreckbar erklärt zu werden. Das Territorialitätsprinzip würde in prozeduraler Hinsicht also erhalten blieben. Aber auch in materieller Hinsicht würde eine Anerkennungspflicht nicht absolut sein. Denn genauso wie Art. 6 Abs. 1 EMRK die Anerkennung einer ausländischen Entscheidung fordern kann, genauso kann er in anderen Situationen (Pellegrini-Konstellation) ihre Nichtanerkennung fordern. Zur Rechtssache Pellegrini und dem aus Art. 6 Abs. 1 EMRK folgenden Anerkennungsverbot vgl. Kapitel 7 – A.III.1 (S. 145 f.).

D. Fazit

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Rechtsschutz zugleich auch ein grundsätzlich bestehendes Recht auf Anerkennung und Vollstreckung eines im Ausland errungenen Urteils ableitet.

D. Fazit

D. Fazit

Aus Art. 6 Abs. 1 EMRK folgt ein grundsätzlich bestehendes Recht auf Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile. Ausländische Gerichtsentscheidungen, die in einem fairen Verfahren getroffen worden sind, müssen folglich auch im Inland anerkannt und vollstreckt werden.

Kapitel 8

Anerkennungs- und Vollstreckungspflichten aus materiellen EMRK-Garantien Kapitel 8 – Anerkennungspflichten aus materiellen EMRK-Garantien

Im folgenden Kapitel werden die Vorgaben dargestellt, die sich aus den materiellen Garantien der EMRK für die Anerkennung und Vollstreckung von ausländischen Urteilen ergeben. Hierfür wird zunächst das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK untersucht (unter A.). Im Anschluss daran erfolgt eine Betrachtung der Eigentumsgarantie aus Art. 1 ZP 1 EMRK (unter B.). Dabei spielen die Vorgaben des Art. 8 EMRK vor allem bei der Anerkennung ausländischer Statusentscheidungen eine Rolle, während Art. 1 ZP 1 EMRK vornehmlich bei der Vollstreckung vermögensrechtlicher Auslandsentscheidungen relevant wird.

A. Anerkennungspflichten aus dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK)

A. Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK)

Art. 8 EMRK statuiert das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Seinem Wortlaut nach schützt dieses Konventionsrecht vor Eingriffen seitens des Staates (interference by a public authority/ingérence d’une autorité publique).1 Doch anders als es der Wortlaut suggeriert, erschöpft sich der Schutzgehalt von Art. 8 EMRK nicht allein darin, staatliche Eingriffe abzuwehren. Die englische Sprachfassung des Art. 8 EMRK lautet: „1. Everyone has the right to respect for his private and family life, his home and his correspondence. 2. There shall be no interference by a public authority with the exercise of this right except such as is in accordance with the law and is necessary in the interests of national security, public safety or the economic well-being of the country, for the prevention of disorder or crime, for the protection of health or morals, or for the protection of the rights and freedoms of others.“ Die französische Sprachfassung des Art. 8 EMRK lautet hingegen wie folgt: „1. Toute personne a droit au respect de sa vie privée et familiale, de son domicile et de sa correspondance. 2. Il ne peut y avoir ingérence d’une autorité publique dans l’exercice de ce droit que pour autant que cette ingérence est prévue par la loi et qu’elle constitue une mesure que, dans une société démocratique, est nécessaire à la sécurité nationale, à la sûreté publique, au bien-être économique du pays, à la défense de l’ordre et à la prévention des infractions pénales, à la protection de la santé ou de la morale, ou à la protection des droits et libertés d’autrui.“ 1

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Kapitel 8 – Anerkennungspflichten aus materiellen EMRK-Garantien

Es ist nämlich seit langer Zeit anerkannt, dass dieses Konventionsrecht neben seiner abwehrrechtlichen Dimension dem Staat Handlungsverpflichtungen (positive obligations/obligations positives) auferlegen kann.2 Diese positive Dimension des Art. 8 EMRK hat die Herausbildung von Anerkennungspflichten in Bezug auf ausländische familienrechtliche Entscheidungen befördert. Solche Anerkennungspflichten bestehen dabei vor allem bei ausländischen Statusentscheidungen – also beispielsweise Scheidungs-, Adoptions- oder Sorgerechtsentscheidungen. Denn wenn eine solche Entscheidung nicht anerkannt wird, so wird im Ergebnis auch der durch sie vermittelte familiäre Status nicht anerkannt. Beispielsweise gelten dann im Ausland adoptierte Kinder mangels Anerkennung der Adoption nicht als Kinder der Adoptiveltern. I.

Rechtsprechung des EGMR

Mit der menschenrechtlichen Dimension solcher Anerkennungsfälle hat sich der EGMR wiederholt auseinandergesetzt. Dabei hat er mehrfach entschieden, dass ein Konventionsstaat aufgrund von Art. 8 EMRK verpflichtet sein kann, den im Ausland erlangten Status einer Person anzuerkennen. Da die Garantie des Art. 8 EMRK auch erfordern kann, dass für das familiäre Zusammenleben ein verlässlicher rechtlicher Rahmen zur Verfügung gestellt wird, kann die Nichtanerkennung einer ausländischen Statusentscheidung konventionswidrig sein.3 Leitentscheidungen hierfür sind zum einen die Rechtssache Wagner und J.M.W.L., in der es um die Anerkennung einer Auslandsadoption ging (unter 1.), sowie zum anderen die Rechtssachen Mennesson (unter 2.) und Paradiso und Campanelli (unter 3.), in denen es um die Frage ging, ob die Wunscheltern eines im Ausland von einer Leihmutter geborenen Kindes als rechtliche Eltern anerkannt werden müssen. Die konventionsrechtlichen Vorgaben in Fällen der grenzüberschreitenden Leihmutterschaft präzisierte der EGMR sodann in seiner ersten advisory opinion nach dem 16. Zusatzprotokoll zur EMRK (unter 4.). 1. Wagner und J.M.W.L ./. Luxemburg Die Rechtssache Wagner und J.M.W.L. (2007) hatte die Nichtanerkennung einer Auslandsadoption zum Gegenstand. Ursprünglich adoptierte die Beschwerdeführerin als alleinstehende Frau ein Kind in Peru. Ihr Heimatstaat 2 Marauhn / Thorn, in: Konkordanzkommentar EMRK / GG, Bd. 1, S. 889; Schabas, The European Convention on Human Rights, S. 366: „The Court’s judgments have stated again and again that ‘[t]he essential object of Article 8 is to protect the individual against arbitrary interference by public authorities.’ The wording suggests a profoundly negative ‘right to be left alone’, and yet most of the case law has focused on the positive dimension of the right.“ 3 Zum Einfluss der Menschenrechte bei Auslandsadoptionen und ausländischen Leihmutterschaften vgl. auch Kapitel 5 – B.V.1 (S. 116 f.).

A. Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK)

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Luxemburg erkannte diese Adoption allerdings nicht an. Aufgrund der kollisionsrechtlichen Kontrolle des luxemburgischen Anerkennungsrechts war nämlich entscheidend, dass das aus seiner Sicht berufene luxemburgische Sachrecht eine Adoption durch alleinstehende Personen nicht vorsah.4 Die Adoptivmutter erhob daraufhin Menschenrechtsbeschwerde und rügte, dass die luxemburgische Justiz durch die Nichtanerkennung der peruanischen Adoptionsentscheidung Art. 8 EMRK verletzt habe.5 Der EGMR stellte zunächst fest, dass die Nichtanerkennung der peruanischen Adoptionsentscheidung einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens aus Art. 8 EMRK darstellt.6 In einem nächsten Schritt bewertete der Gerichtshof diesen Eingriff als nicht gerechtfertigt. Denn die Gründe für ein solches Verbot von Adoptionen durch alleinstehende Personen schätzte der EGMR als nicht gewichtig genug ein, als dass sie eine Anerkennungsversagung zu rechtfertigen vermochten.7 Eine große Rolle hierfür spielte eine rechtsvergleichende Bestandsaufnahme der Rechtslage in den EMRKStaaten, die zutage förderte, dass eine Mehrheit unter ihnen keine Adoptionsbeschränkungen für alleinstehende Personen vorsah.8 Der EGMR entschied folglich, dass die Nichtanerkennung der Elternstellung der Beschwerdeführerin die Garantien des Art. 8 EMRK verletzte.9 Die ausländische Adoptionsentscheidung musste daher anerkannt werden, sodass die Beschwerdeführerin auch in Luxemburg als rechtliche Mutter des Kindes zu gelten hatte. 2. Mennesson ./. Frankreich Weitergeführt und fortentwickelt wurde diese Rechtsprechung in der Rechtssache Mennesson (2014), in der es um die Anerkennung der Elternstellung 4 EGMR, Urteil vom 28.6.2007, Nr. 76240/01 (Wagner und J.M.W.L. ./. Luxemburg), Erwägungsgründe Nr. 5–40. 5 EGMR, Urteil vom 28.6.2007, Nr. 76240/01 (Wagner und J.M.W.L. ./. Luxemburg), Erwägungsgründe Nr. 99–112. Daneben wurde auch eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK gerügt, weil die luxemburgischen Gerichte das von den Beschwerdeführern vorgetragene Argument einer Verletzung von Art. 8 EMRK nicht berücksichtigt hätten. Der EGMR sah dies ebenso. Er erblickte in der Nichtberücksichtigung der angeführten Konventionswidrigkeit einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 EMRK. Vgl. EGMR, Urteil vom 28.6.2007, Nr. 76240/01 (Wagner und J.M.W.L. ./.  Luxemburg), Erwägungsgründe Nr. 80–98. 6 EGMR, Urteil vom 28.6.2007, Nr. 76240/01 (Wagner und J.M.W.L. ./. Luxemburg), Erwägungsgründe Nr. 118–123. 7 EGMR, Urteil vom 28.6.2007, Nr. 76240/01 (Wagner und J.M.W.L. ./. Luxemburg), Erwägungsgründe Nr. 124–136. 8 EGMR, Urteil vom 28.6.2007, Nr. 76240/01 (Wagner und J.M.W.L. ./. Luxemburg), Erwägungsgründe Nr. 66–77 und 129. 9 EGMR, Urteil vom 28.6.2007, Nr. 76240/01 (Wagner und J.M.W.L. ./. Luxemburg), Erwägungsgrund Nr. 136.

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Kapitel 8 – Anerkennungspflichten aus materiellen EMRK-Garantien

der Wunscheltern bei einer ausländischen Leihmutterschaft ging. Im Mennesson-Fall hatte ein kalifornisches Gericht ein französisches Ehepaar zu Eltern zweier Zwillinge bestimmt, die von einer Leihmutter in Kalifornien ausgetragen wurden. Nach der Geburt der Zwillinge nahmen die französischen Wunscheltern die ihnen in den USA zugesprochenen Kinder mit nach Frankreich. Dort beantragten sie, ihre Elternstellung anzuerkennen. Dies scheiterte jedoch, weil die französische Justiz eine solche Anerkennung der Elternschaft aufgrund eines umfassenden Verbots der Leihmutterschaft im französischen Recht als ordre public-widrig ansah.10 Als die Wunscheltern daraufhin vor den EGMR zogen, urteilte dieser, dass Frankreich durch die Anerkennungsversagung die Rechte der Kinder missachtet hatte und erkannte auf eine Verletzung von Art. 8 EMRK. Dabei ließ sich der Gerichtshof maßgeblich von der Tatsache leiten, dass der Wunschvater zugleich auch der genetische Vater der Kinder war. Unter diesen Umständen sei es nicht zu rechtfertigen, dass Frankreich die rechtliche Anerkennung seiner Vaterschaft verweigert habe.11 Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die Rechtssache Mennesson eine bahnbrechende Entscheidung war, da sie zum ersten Mal aufzeigte, dass EMRK-Staaten in Leihmutterschaftsfällen zur Anerkennung der im Ausland erlangten Elternstellung verpflichtet sein können. 3. Paradiso und Campanelli ./. Italien Eine weitere wichtige Entscheidung zu Anerkennungspflichten aus Art. 8 EMRK war die Rechtssache Paradiso und Campanelli (2017), in der ein italienisches Ehepaar in Russland ein Kind austragen ließ. Nach der Geburt durch die Leihmutter wollten sich die Eheleute auch in Italien als rechtliche Eltern anerkennen lassen, was allerdings scheiterte. Vom Mennesson-Fall unterschied sich Paradiso und Campanelli jedoch in zwei entscheidenden Aspekten. Erstens wurde das Kind nicht mit den Spermien des Ehemannes gezeugt, sodass keinerlei genetische Verwandtschaft zum Wunschvater bestand und zweitens schritt der italienische Staat hier früh und konsequent ein und nahm den Wunscheltern das Kind bereits im Säuglingsalter weg.12 Paradiso und Campanelli war somit ein schwieriger Grenzfall, weil zwar einer10 EGMR, Urteil vom 26.6.2014, Nr. 65192/11 (Mennesson ./. Frankreich), Erwägungsgründe Nr. 6–28. 11 EGMR, Urteil vom 26.6.2014, Nr. 65192/11 (Mennesson ./. Frankreich), Erwägungsgründe Nr. 96–102. Die Rechte der Wunscheltern sah der EGMR aufgrund der bewussten Umgehung des im französischen Recht bestehenden Leihmutterschaftsverbots hingegen nicht als verletzt an. 12 Der Säugling wurde im Alter von knapp acht Monaten in ein Kinderheim gebracht, wo er die nächsten 15 Monate seines Lebens verbrachte, bevor er in die Obhut einer anderen Familie gegeben wurde. Vgl. EGMR, Urteil vom 24.1.2017 [Große Kammer], Nr. 25358/12 (Paradiso und Campanelli. ./. Italien), Erwägungsgründe Nr. 8–56.

A. Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK)

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seits genetische Bezüge der Wunscheltern zum Kind fehlten, sie aber andererseits den Säugling in den ersten acht Monaten seines Lebens aufgezogen hatten.13 Der EGMR urteilte hier, dass Italien seinen Beurteilungsspielraum nicht überschritten hatte. Der Eingriff in Art. 8 EMRK war somit gerechtfertigt.14 Die Rechtssache Paradiso und Campanelli zeigte daher, dass es in Leihmutterschaftsfällen für die aus Art. 8 EMRK folgenden Anerkennungspflichten durchaus Grenzen gibt. 4. Advisory opinion des EGMR zur Umsetzung des Mennesson-Urteils Im Nachgang des Mennesson-Urteils wurde über die konventionskonforme Umsetzung seiner Vorgaben gestritten. Der EGMR hatte zwar geurteilt, dass eine kategorische Nichtanerkennung der Elternstellung der Wunscheltern nicht mit Art. 8 EMRK vereinbar ist – doch blieb fraglich, welche konkreten Schritte notwendig waren, um dieser konventionswidrigen Situation abzuhelfen. Frankreich reagierte auf das Mennesson-Urteil, indem es den Wunschvater in dieser Rechtssache als rechtlichen Vater anerkannte. Gleichzeitig verweigerte es jedoch der Wunschmutter eine entsprechende Anerkennung. Diese wurde auf die Möglichkeit verwiesen, die Kinder im Wege der Ehegattenadoption zu adoptieren. Zur Begründung führten die französischen Behörden aus, dass die Wunschmutter – im Gegensatz zum Wunschvater – keinerlei genetische Verwandtschaft mit den Kindern aufwies. Gegen diese abermalige Nichtanerkennung beschritt die Wunschmutter erneut den Rechtsweg, der hinauf bis zur Cour de cassation führte, die beim EGMR ein Gutachten (advisory opinion) zu den streitigen Rechtsfragen anfragte.15 Der EGMR erstattete daraufhin erstmals ein solches Gutachten nach dem 16. Zusatzprotokoll zur EMRK. Dieses neuartige verfahrensrechtliche Instrument soll es den nationalen Gerichten erleichtern, die Vorgaben der EMRK umzusetzen, indem sie in konkreten Zweifelsfällen den Straßburger Gerichtshof um eine Richtschnur für ihre Entscheidung bitten können.16 EGMR, Urteil vom 24.1.2017 [Große Kammer], Nr. 25358/12 (Paradiso und Campanelli. ./. Italien), Erwägungsgründe Nr. 149–158. Entscheidend war hier, dass der EGMR mangels genetischer Verwandtschaft bereits das Vorliegen eines Familienlebens im Sinne von Art. 8 EMRK verneinte. Zwar hätte er die Existenz eines Familienlebens auch aufgrund der sozialen Realität des Zusammenlebens annehmen können – doch hierfür erschienen ihm die acht Monate, die der Säugling in der Familie der Wunscheltern verbracht hatte, als zu kurz. 14 Vgl. insbesondere EGMR, Urteil vom 24.1.2017 [Große Kammer], Nr. 25358/12 (Paradiso und Campanelli. ./. Italien), Erwägungsgründe Nr. 200–216. 15 EGMR, Advisory Opinion vom 10.4.2019 [Große Kammer], Nr. P-16-2018-001, Erwägungsgründe Nr. 10–18. 16 Das Instrument der advisory opinion wurde durch das 16. Zusatzprotokoll zur EMRK eingeführt, das am 1.8.2018 inkraftgetreten ist. Vgl. hierzu Gerards, Advisory Opinion: European Court of Human Rights (ECtHR), Rn. 1. 13

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Kapitel 8 – Anerkennungspflichten aus materiellen EMRK-Garantien

In seinem Gutachten zum Mennesson-Fall diskutierte der EGMR zwei Fragestellungen: Erstens, ob Art. 8 EMRK verlangt, dass in einem Fall wie dem vorliegenden eine rechtlich anerkannte Eltern-Kind-Beziehung zur Wunschmutter ermöglicht wird. Zweitens, ob es dafür ausreicht, dass die Möglichkeit einer Adoption eingeräumt wird oder ob eine Anerkennung der im Ausland erworbenen Elternstellung notwendig ist. 17 Die erste Fragestellung beantwortete der EGMR dahingehend, dass Art. 8 EMRK verlange, dass die de facto vorliegende Eltern-Kind-Beziehung zwischen der Wunschmutter und den Kindern eine rechtliche Bestätigung erfährt – jedenfalls dann, wenn das aus der Leihmutterschaft hervorgegangene Kind mit dem Wunschvater genetisch verwandt ist.18 Die zweite Fragestellung beantwortete der EGMR hingegen dahingehend, dass eine Anerkennung des im Ausland erworbenen Status nicht notwendig sei. Vielmehr stehe es Frankreich frei, alternativ die Ehegattenadoption zu ermöglichen.19 II. Analyse der Rechtsprechung Die Rechtssachen Wagner und J.M.W.L., Mennesson sowie Paradiso und Campanelli zeigen, dass aus Art. 8 EMRK eine Pflicht der EMRK-Staaten folgen kann, ausländische Entscheidungen in Familiensachen anzuerkennen. Allerdings besteht eine solche Pflicht nicht in jedem Fall, sondern hängt stark von den Umständen des Einzelfalls ab. Erst nach einer Gesamtschau aller Aspekte, der Berücksichtigung eventueller Besonderheiten und der Abwägung verschiedener Faktoren kann man beurteilen, ob eine Anerkennung menschenrechtlich zwingend ist. Zudem zeigt die advisory opinion des EGMR zum Mennesson-Fall, dass die Anerkennung einer ausländischen Statusentscheidung nicht der einzige Weg ist, um eine rechtliche Verfasstheit der Eltern-Kind-Beziehung im Inland zu ermöglichen. Bisweilen können innerstaatliche Rechtsinstitute, wie etwa die Ehegattenadoption, eine legitime Alternative darstellen. Aus den oben genannten Fällen lassen sich jedoch einige Gesichtspunkte ableiten, die für diese Beurteilung relevant sind. Eine erste Weichenstellung besteht in der Frage, ob überhaupt ein unter den Schutz des Art. 8 EMRK fallendes Familienleben existiert. Hierfür können genetisch-biologische Bezüge eine Grundlage bilden, doch auch mangels dieser kann ein auf einer sozialen Realität gründendes Familienleben existieren, wie Wagner und

EGMR, Advisory Opinion vom 10.4.2019 [Große Kammer], Nr. P-16-2018-001, Erwägungsgründe Nr. 31–33. 18 EGMR, Advisory Opinion vom 10.4.2019 [Große Kammer], Nr. P-16-2018-001, Erwägungsgründe Nr. 35–47. 19 EGMR, Advisory Opinion vom 10.4.2019 [Große Kammer], Nr. P-16-2018-001, Erwägungsgründe Nr. 48–59. 17

A. Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK)

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J.M.W.L. zeigt.20 Hierfür ist allerdings Voraussetzung, dass dieses de factoFamilienleben eine gewisse Dauer und Intensität aufweist, wie Paradiso und Campanelli verdeutlicht. Doch allein die Existenz eines Familienlebens im Sinne von Art. 8 EMRK bedeutet noch nicht, dass der im Ausland erworbene Status in jedem Fall anerkannt werden muss. Laut Kinsch müssen hierfür vielmehr zwei weitere Voraussetzungen vorliegen: Zum einen die gutgläubige Erlangung des Status und zum anderen die berechtigte Erwartung seines Fortbestehens.21 Häufig ist für die Existenz einer Anerkennungspflicht ferner maßgebend, wie groß der Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) ist, der dem Anerkennungsstaat zukommt.22 Gerade bei Art. 8 EMRK unterscheidet sich seine Weite, je nach Konstellation, beträchtlich. Denn einerseits sind häufig Fragen von großer Bedeutung für die Existenz und Identität des Einzelnen betroffen, was für einen geringen staatlichen Beurteilungsspielraum spricht – andererseits handelt es sich oft um moralisch oder ethisch umstrittene Fragen, was für einen weiten Beurteilungsspielraum streitet.23 III. Zwischenergebnis Ohne Zweifel kann aus Art. 8 EMRK eine Pflicht zur Anerkennung ausländischer familienrechtlicher Entscheidungen folgen. Ob eine solche bezüglich 20 Ständige Rechtsprechung seit EGMR, Urteil vom 13.6.1979, Nr. 6833/74 (Marckx ./.  Belgien), Erwägungsgrund Nr. 31. Bestätigt in EGMR, Urteil vom 12.7.2001, Nr. 25702/ 94 (K. und T. ./. Finnland), Erwägungsgrund Nr. 150 und zuletzt wieder bekräftigt in EGMR, Urteil vom 24.1.2017, Nr. 25458/12 (Paradiso und Campanelli ./. Italien), Erwägungsgrund Nr. 140. 21 Kinsch, Enforcement as a fundamental right, NIPR 2014, S. 540 (541): „There are two preconditions: (1) the parties must have acquired the family status in good faith under the foreign system, and (2) the parties’ expectation of stability regarding their status must have been a legitimate expectation.“ 22 Nicht selten hängt es entscheidend von der „Justierung“ des Beurteilungsspielraums ab, ob eine Anerkennungspflicht aus Art. 8 EMRK im Ergebnis besteht oder nicht. Vgl. etwa EGMR, Urteil vom 24.1.2017, Nr. 25358/12 (Paradiso und Campanelli. ./. Italien), Erwägungsgründe Nr. 179–184 (Erläuterung der Voraussetzungen) und Nr. 185–216 (Anwendung im konkreten Fall). Zur margin of appreciation vgl. Kapitel 6 – E.II (S. 136 f.). 23 Zur Bestimmung der Weite der margin of appreciation bei moralisch und ethisch sensiblen Fragen vgl. etwa EGMR, Urteil vom 10.4.2007, Nr. 6339/05 (Evans ./.  Vereinigtes Königreich), Erwägungsgrund Nr. 77 und EGMR, Urteil vom 26.6.2014, Nr. 65192/11 (Mennesson ./. Frankreich), Erwägungsgrund Nr. 77. Ferner spielt für die Weite des nationalen Beurteilungsspielraums (margin of appreciation) eine Rolle, ob zu einer bestimmten Fragestellung ein weitgehender Konsens oder Trend unter den EMRKStaaten besteht – vgl. beispielsweise EGMR, Urteil vom 26.6.2014, Nr. 65192/11 (Mennesson ./. Frankreich), Erwägungsgründe Nr. 40–42. Zur rechtsvergleichenden Interpretation der EMRK, die auf die Existenz oder Nichtexistenz eines Konsenses oder Trends unter den Konventionsstaaten abstellt, vgl. Kapitel 6 – E.I.5 (S. 134 f.).

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Kapitel 8 – Anerkennungspflichten aus materiellen EMRK-Garantien

einer konkreten Entscheidung tatsächlich besteht, ist allerdings eine Frage des Einzelfalls. Jedenfalls steht ein EMRK-Staat, der eine solche Auslandsentscheidung nicht anerkennt, unter Rechtfertigungszwang.

B. Anerkennungspflichten aus der Eigentumsgarantie (Art. 1 ZP 1 EMRK)

B. Eigentumsgarantie (Art. 1 ZP 1 EMRK)

Nicht nur das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK kann die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen erfordern. Auch die Eigentumsgarantie des Art. 1 ZP 1 EMRK kann Anerkennungs- und Vollstreckungspflichten im Hinblick auf Auslandsentscheidungen auslösen. Aus der Rechtsprechung des EGMR folgt nämlich, dass vermögenswerte Auslandsurteile nicht ignoriert werden dürfen. Diese aus Art. 1 ZP 1 EMRK folgende Anerkennungspflicht setzt allerdings voraus, dass das Ausgangsverfahren vor den ausländischen Gerichten grundlegenden Verfahrensgarantien entsprochen hatte. I.

Rechtsprechung des EGMR

Den dogmatischen Ausgangspunkt für diese Rechtsprechungslinie des EGMR bildet ein sehr weites Verständnis der Eigentumsgarantie. So werden gerichtlich zugesprochene Vermögenspositionen als „Eigentum“ i.S.v. Art. 1 ZP 1 EMRK qualifiziert (unter 1.). Als Folge dessen unterstellte der EGMR die innerstaatliche Durchsetzung und Vollstreckung vermögenswerter Urteile der Eigentumsgarantie des Art. 1 ZP 1 EMRK (unter 2.). Diese Rechtsprechungslinie übertrug der Straßburger Gerichtshof sodann auch auf die Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen (unter 3.). 1. Ausgangspunkt: Sehr weiter Eigentumsbegriff Die gesamte Rechtsprechung des EGMR zu Art. 1 ZP 1 EMRK ist dadurch gekennzeichnet, dass sie den Eigentumsbegriff sehr weit auslegt. Dieses weite Verständnis wird maßgeblich befördert durch die von der deutschen Übersetzung abweichende Terminologie in den authentischen Sprachfassungen (unter a)) sowie durch eine autonome Auslegung des Eigentumsbegriffs (unter b)). Infolgedessen gelten alle privatnützigen Vermögenswerte, die hinreichend gefestigt sind, als „Eigentum“ im Sinne der EMRK (unter c)).

B. Eigentumsgarantie (Art. 1 ZP 1 EMRK)

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a) Terminologie in den authentischen Sprachfassungen Maßgeblich für jegliche Auslegung ist der Wortlaut – was im Falle der EMRK bedeutet: Der Wortlaut der authentischen Sprachfassungen.24 Dieser spricht in Art. 1 ZP 1 EMRK von possessions (englisch) beziehungsweise biens (französisch).25 Die deutsche Übersetzung mit „Eigentum“ ist nicht ganz treffend, da dies enger und verrechtlichter ist. Dem Eigentumsbegriff entsprechen in den Originalsprachen die Begriffe property (englisch) bzw. propriété (französisch), die die EMRK aber gerade nicht benutzt. Possessions bzw. biens sind hingegen stärker auf das rein faktische Besitzen ausgerichtet und stehen damit den deutschen Begriffen „Güter“ oder „Besitzungen“ näher. Die weite Terminologie in der englischen und französischen Sprachfassung streitet somit für einen weiteren Schutzbereich, als man allein beim Blick auf die deutsche Übersetzung vermuten würde. b) Besondere Wichtigkeit der autonomen Auslegung Ein weites Verständnis des Schutzbereichs von Art. 1 ZP 1 EMRK wird ferner dadurch begünstigt, dass der Eigentumsbegriff autonom bestimmt wird.26 Die autonome Auslegung spielt bei Art. 1 ZP 1 EMRK aber eine noch bedeutendere Rolle als bei anderen Konventionsgarantien, weil Eigentum „selbst ein rechtliches Phänomen [ist]“.27 Dadurch ist es in besonderem Maße von der Ausgestaltung in der nationalen Rechtsordnung abhängig. Würde die Gemäß der Schlussklausel der EMRK sind Englisch und Französisch die authentischen Sprachen der Konvention (vgl. Fn. 1 (S. 141)). Die deutschen Übersetzungen sind nur Hilfsmittel – einzig verbindlich sind die beiden authentischen Fassungen auf Englisch und Französisch. Mayer, in: Karpenstein / Meyer, EMRK, Einl., Rn. 56. 25 Die englische Sprachfassung des Art. 1 ZP 1 EMRK lautet: „Every natural or legal person is entitled to the peaceful enjoyment of his possessions. No one shall be deprived of his possessions except in the public interest and subject to the conditions provided for by law and by the general principles of international law. The preceding provisions shall not, however, in any way impair the right of a State to enforce such laws as it deems necessary to control the use of property in accordance with the general interest or to secure the payment of taxes or other contributions or penalties.“ Die französische Sprachfassung des Art. 1 ZP 1 EMRK hingegen lautet wie folgt: „Toute personne physique ou morale a droit au respect de ses biens. Nul ne peut être privé de sa propriété que pour cause d’utilité publique et dans les conditions prévues par la loi et les principes généraux du droit international. Les dispositions précédentes ne portent pas atteinte au droit que possèdent les États de mettre en vigueur les lois qu’ils jugent nécessaires pour règlementer l’usage des biens conformément à l’intérêt général ou pour assurer le paiement des impôts ou d’autres contributions ou des amendes.“ 26 Zum Grundsatz der autonomen Auslegung vgl. Kapitel 6 – E.I.2 (S. 133 f.). 27 Cremer, in: Konkordanzkommentar EMRK / GG, Bd. 2, S. 1478 f. Das ist bei den Schutzgütern anderer Menschenrechte durchaus anders. Beispielsweise sind „Familie“, „Privatleben“ oder „Ehe“ nicht abhängig vom Bestehen einer Rechtsordnung. 24

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Kapitel 8 – Anerkennungspflichten aus materiellen EMRK-Garantien

Eigentumsgarantie sich darin erschöpfen, das zu gewährleisten, was die nationale Rechtsordnung als Eigentum anerkennt, so könnte letztlich der einzelne Konventionsstaat den Schutzbereich des Art. 1 ZP 1 EMRK selbst bestimmen. Damit würde ein breites Umgehungspotenzial geschaffen werden – und die Eigentumsgarantie würde letztlich leerzulaufen drohen. Daher ist es ganz besonders wichtig, den Eigentumsbegriff des Art. 1 ZP 1 EMRK autonom auszulegen.28 c) Schutzgut: Eigentum im Sinne von asset „Eigentum“ im Sinne von Art. 1 ZP 1 EMRK ist mehr, als nur das eng verstandene, zivilrechtliche Eigentum. Es geht über das zivilrechtliche Eigentum hinaus, da es nicht nur körperliche Sachen als mögliche Eigentumsobjekte umfasst.29 Vielmehr können auch Forderungen von der Eigentumsgarantie geschützt sein – nämlich dann, wenn eine hinreichend gefestigte Aussicht auf ihre Verwirklichung besteht.30 Ist etwa aufgrund gefestigter Rechtsprechung klar, dass eine Forderung gerichtlich anerkannt werden wird, so fällt sie unter Art. 1 ZP 1 EMRK.31 Umso mehr reicht es aus, wenn eine Forderung bereits gerichtlich anerkannt worden ist. Gerichtsurteile, die eine Forderung titulieren, sind daher Eigentumsobjekte im Sinne von Art. 1 ZP 1 EMRK.32 Cremer, in: Konkordanzkommentar EMRK / GG, Bd. 2, S. 1479; Kaiser, in: Karpenstein / Meyer, EMRK, Art. 1 ZP 1, Rn. 2. 29 Hartwig, Der Eigentumsschutz nach Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK, RabelsZ 63 (1999), S. 565; Peukert, in: Frowein / Peukert, Art. 1 des 1. ZP (Schutz des Eigentums), Rn. 2; Schabas, The European Convention on Human Rights, S. 970; EGMR, Urteil vom 16.10.2018, Nr. 21623/13 (Könyv-Tár Kft u.a. ./. Ungarn), Erwägungsgrund Nr. 31: „The Court reiterates that the concept of ‘possessions’ in Article 1 of Protocol No. 1 has an autonomous meaning which is certainly not limited to the ownership of physical goods: certain other rights and interests constituting assets can also be regarded as ‘property rights’, and thus ‘possessions’ for the purposes of this provision […].“ 30 EGMR, Urteil vom 1.4.2010, Nr. 32540/05 (Vrbica ./. Kroatien), Erwägungsgrund Nr. 40: „‘Possessions’ can be ‘existing possessions’ or claims that are sufficiently established to be regarded as ‘assets’. A claim may be regarded as an asset only when it is sufficiently established to be enforceable […].“ 31 Eine schuldrechtliche Forderung, deren Anerkennung in einem Gerichtsverfahren unsicher ist, reicht hingegen nicht aus. Grabenwarter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 598 f. 32 Ständige Rechtsprechung seit EGMR, Urteil vom 9.12.1994, Nr. 13427/87 (Stran Greek Refineries und Stratis Andreadis ./. Griechenland), Erwägungsgründe Nr. 58–62 und EGMR, Urteil vom 7.5.2002, Nr. 59498/00 (Burdov ./. Russland), Erwägungsgründe Nr. 40–42. Bekräftigt in EGMR, Urteil vom 15.1.2008, Nr. 2269/06, 3041/06, 3042/06, 3043/06 und 3046/06 (R. Kačapor u.a. ./. Serbien), Erwägungsgrund Nr. 119. Zuletzt wieder bekräftigt in EGMR, Urteil vom 25.7.2017, Nr. 69997/10 und Nr. 74793/11 (Panorama Ltd und Miličić ./. Bosnien und Herzegowina), Erwägungsgrund Nr. 69. Sigron, Legitimate Expectations Under Article 1 of Protocol No. 1 to the European Convention on 28

B. Eigentumsgarantie (Art. 1 ZP 1 EMRK)

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Ferner sind auch berechtigte vermögenswerte Erwartungen (legitimate expectations) von der Eigentumsgarantie geschützt. Charakteristisch für solche Erwartungen ist es, dass ein Akt öffentlicher Gewalt vermögenswertes Vertrauen begründet hat.33 Solche Fälle kommen häufig vor bei behördlichen Genehmigungen oder Zusicherungen, auf deren Bestand ein Begünstigter vertraute. Beispielsweise fiel in der Rechtssache Stretch die Option eines Pächters, den Pachtvertrag mit einer Gemeinde zu verlängern, unter den Schutz von Art. 1 ZP 1 EMRK, während in der Rechtssache Pine Valley die Aufhebung einer vorläufigen Baugenehmigung einen Eingriff in Art. 1 ZP 1 EMRK darstellte.34 Eine weitere Fallgruppe der legitimate expectations stellen sogenannte Restitutionsfälle dar, bei denen es um Wiedergutmachung für entschädigungslose Verstaatlichungen zu Zeiten der kommunistischen Herrschaft in Mittel- und Osteuropa geht. Einige der betroffenen Staaten haben Restitutionsgesetze erlassen, die unter bestimmten Voraussetzungen die Rückübereignung verstaatlichter Vermögensgüter an die ursprünglichen Eigentümer oder ihre Nachfahren vorsehen. Solche Restitutionsgesetze können die berechtigte Erwartung begründen, die vor langer Zeit konfiszierten Güter wiederzuerlangen.35 Human Rights, S. 227: „Final and enforceable decisions, which give the applicant a property right, are the strongest basis for a legitimate expectation.“ 33 Sigron, Legitimate Expectations Under Article 1 of Protocol No. 1 to the European Convention on Human Rights, S. 62. 34 EGMR, Urteil vom 29.11.1991, Nr. 12742/87 (Pine Valley Developments Ltd u.a. ./.  Irland), Erwägungsgrund Nr. 51 und EGMR, Urteil vom 24.6.2003, Nr. 44277/98 (Stretch ./. Vereinigtes Königreich), Erwägungsgründe Nr. 32–35. 35 Schabas, The European Convention on Human Rights, S. 970: „Although most States in Central and Eastern Europe have enacted some form of restitution legislation concerning property confiscated by former regimes, some have opted to do nothing in this respect, while others have made provision within certain limits […] If, however, they enact a scheme by which formerly confiscated property is to be restored, this generates a new property right protected by article 1 for beneficiaries of the legislation.“ Allerdings hängt das Bestehen einer von Art. 1 ZP 1 EMRK geschützten Erwartung davon ab, ob die Antragssteller die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Restitution erfüllen. Vgl. hierzu EGMR, Entscheidung vom 10.7.2002 [Große Kammer], Nr. 39794/98 (Gratzinger und Gratzingerova ./. Tschechische Republik), Erwägungsgründe Nr. 68–75 und EGMR, Urteil vom 28.9.2004 [Große Kammer], Nr. 44912/98 (Kopecký ./. Slowakei), Erwägungsgründe Nr. 54–61. Die Verstaatlichungen an sich können nicht gerügt werden, da sie vor dem Beitritt der betroffenen Staaten zur EMRK erfolgt sind. EGMR, Entscheidung vom 13.12.2000 [Große Kammer], Nr. 33071/96 (Malhous ./. Tschechische Republik), Seite 16: „In this respect, the Court first recalls that it can examine applications only to the extent that they relate to events which occurred after the Convention entered into force with respect to the relevant Contracting Party. In the present case, the property of the applicant’s father was expropriated in June 1949 and assigned to other natural persons in 1957, that is long before 18 March 1992, the date of the entry into force of the Convention with regard to the Czech Republic […] Therefore, the Court is not competent ratione temporis

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Kapitel 8 – Anerkennungspflichten aus materiellen EMRK-Garantien

Neben legitimate expectations sind auch der goodwill und der Kundenstamm eines Unternehmens (clientele / clientèle) von Art. 1 ZP 1 EMRK geschützt.36 Diese Ausweitung der Eigentumsgarantie wird oft kritisiert: Manche sehen hierin ein verkapptes Grundrecht auf wirtschaftliche Betätigung, das in der EMRK nicht vorgesehen ist.37 Trotz aller Kritik bestätigte der EGMR diese Rechtsprechungslinie jüngst in der Rechtssache Könyv-Tár, in dem es um die Schaffung eines staatlichen de facto-Monopols in Ungarn ging. Der Gerichtshof erkannte in diesem Fall den Kundenstamm von privaten Unternehmen, die im Vertrieb von Schulbüchern an Schulen tätig waren, als von Art. 1 ZP 1 EMRK geschützt an.38 Das ist nicht unumstritten – und zeigt, dass es bisweilen nicht ganz einfach ist, eine Trennlinie zwischen reinen Aussichten und hinreichend gefestigten Vermögenspositionen zu ziehen.39 Jedenfalls demonstriert der Fall Könyv-Tár, wie außerordentlich weit der EGMR den Schutzbereich der Eigentumsgarantie zieht.40 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Eigentumsgarantie grundsätzlich alle privatnützigen Vermögenspositionen umfasst, die hinreichend gefestigt sind.41 Das Hauptkriterium für Art. 1 ZP 1 EMRK ist folglich, ob eine hinreichend feste Grundlage im nationalen Recht besteht, wodurch eigentumsähnliche Besitzungen von bloßen Hoffnungen und vagen Aussichten to examine the circumstances of the expropriation or the continuing effects produced by it up to the present date.“ 36 EGMR, Urteil vom 24.5.2005, Nr. 61302/00 (Buzescu ./. Rumänien), Erwägungsgrund Nr. 81: „The applicability of Article 1 of Protocol No. 1 however extends to law practices and their goodwill, as these are entities of a certain worth that have in many respects the nature of private rights, and thus constitute assets, being possessions within the meaning of the first sentence of this provision […].“ 37 Vgl. beispielsweise EGMR, Urteil vom 16.10.2018, Nr. 21623/13 (Könyv-Tár Kft u.a. ./. Ungarn), Sondervotum von Wojtyczek, Erwägungsgründe Nr. 4–5. 38 EGMR, Urteil vom 16.10.2018, Nr. 21623/13 (Könyv-Tár Kft u.a. ./. Ungarn), Erwägungsgründe Nr. 4–17. 39 So warf etwa der polnische Richter Krzysztof Wojtyczek der Mehrheitsentscheidung in seiner dissenting opinion vor, dass sich das Urteil nicht in die bisherige Dogmatik einfügen lässt: „Secondly, the Court has often stressed that a claim may qualify as a possession only if it is sufficiently established to be enforceable […] I note in this context that clientele is a matter of fact […] In many European States it is neither a subjective right nor a possession. In those systems there is no enforceable claim to have one’s clientele protected. The mere assertion in the Court’s case-law that clientele ‘has in many respects the nature of private rights’, not based upon any reasoning, is devoid of any persuasive force.“ EGMR, Urteil vom 16.10.2018, Nr. 21623/13 (Könyv-Tár Kft u.a. ./. Ungarn), Sondervotum von Wojtyczek, Erwägungsgrund Nr. 5. 40 Schon im Jahre 1999 konstatierte Matthias Hartwig, dass Art. 1 ZP 1 EMRK Rechtspositionen umfasst, die in der deutschen Grundrechtsdogmatik anderen Verbürgungen zugeschrieben werden, wie etwa der Berufsausübungsfreiheit. Hartwig, Der Eigentumsschutz nach Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK, RabelsZ 63 (1999), S. 561 (566). 41 Grabenwarter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 598 f.

B. Eigentumsgarantie (Art. 1 ZP 1 EMRK)

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abgegrenzt werden.42 Nicht ohne Grund gebraucht der EGMR in seinen Entscheidungen bevorzugt den englischen Begriff asset, um das Schutzgut von Art. 1 ZP 1 EMRK zu beschreiben. Dieser Begriff eignet sich in der Tat besser, um die Rechtsprechung des EGMR zum Schutzbereich des Art. 1 ZP 1 EMRK widerzuspiegeln als der Begriff des Eigentums.43 2. Nichtbefolgung / Nichtvollstreckung inländischer Urteile Die Rechtsprechung des EGMR zu Befolgungs- bzw. Vollstreckungspflichten bei vermögenswerten Urteilen nahm ihren Anfang in der Rechtssache Stran Greek Refineries (1994). In diesem Fall ging es um einen gegen Griechenland ergangenen Schiedsspruch, der einem privaten Unternehmen Schadensersatz wegen Nichterfüllung eines Vertrags zusprach. Griechenland wollte diesen Schiedsspruch aber keinesfalls befolgen, da der infrage stehende Vertrag zwischen dem vorigen Militärregime und einem seiner Nutznießer geschlossen worden war. An solchen Verträgen wollte sich Griechenland nach seiner Rückkehr zur Demokratie aber nicht festhalten lassen. Deshalb erklärte der griechische Gesetzgeber solche Verträge für anfechtbar und hierzu ergangene Schiedssprüche für nichtig.44 Diese gesetzlichen Bestimmungen qualifizierte der EGMR als Eingriff in einen von Art. 1 ZP 1 EMRK geschützten Vermögenswert.45 Er sah diesen Eingriff ferner als nicht gerechtfertigt an, denn er 42 Jüngst wieder bestätigt in EGMR, Urteil vom 20.3.2018 [Große Kammer], Nr. 37685/ 10 und 22768/12 (Radomilja u. a. ./. Kroatien), Erwägungsgrund Nr. 142: „Where a proprietary interest is in the nature of a claim, it may be regarded as an ‘asset’ only if there is a sufficient basis for that interest in national law (for example, where there is settled case-law of the domestic courts confirming it), that is, when the claim is sufficiently established as to be enforceable (see Kopecký, cited above, §§ 49 and 52, and Stran Greek Refineries and Stratis Andreadis v. Greece, 9 December 1994, § 59, Series A no. 301-B).“ 43 Peukert, in: Frowein / Peukert, Art. 1 des 1. ZP (Schutz des Eigentums), Rn. 2. Die Rechtsprechung spricht vornehmlich von assets / actifs – statt der im Art. 1 ZP 1 EMRK benutzten Begriffe possessions / biens. So etwa EGMR, Urteil vom 25.7.2017, Nr. 69997/ 10 und Nr. 74793/11 (Panorama Ltd und Miličić ./. Bosnien und Herzegowina), Erwägungsgrund Nr. 69: „[…] ‘asset’ within the meaning of Article 1 of Protocol No. 1 […].“ Für eine Kritik an der unpräzisen Formulierung des Art. 1 ZP 1 EMRK vgl. EGMR, Urteil vom 13.6.1979, Nr. 6833/74 (Marckx ./. Belgien), Sondervotum von Sir Gerald Fitzmaurice, Erwägungsgrund Nr. 18, Fn. 8. 44 EGMR, Urteil vom 9.12.1994, Nr. 13427/87 (Stran Greek Refineries und Stratis Andreadis ./. Griechenland), Erwägungsgründe Nr. 6–23. 45 EGMR, Urteil vom 9.12.1994, Nr. 13427/87 (Stran Greek Refineries und Stratis Andreadis ./. Griechenland), Erwägungsgründe Nr. 57–62. In der Rechtssache Kin-Stib und Majkić bestätigte der EGMR, dass Schiedssprüche unter den Schutz des Art. 1 ZP 1 EMRK fallen: „Turning to the present case, it is firstly noted that the claim established in the arbitration award undisputedly amounts to a possession within the meaning of Article 1 of Protocol No. 1.“ EGMR, Urteil vom 20.4.2010, Nr. 12312/05 (Kin-Stib und Majkić ./.  Serbien), Erwägungsgrund Nr. 84.

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Kapitel 8 – Anerkennungspflichten aus materiellen EMRK-Garantien

setzte die Anforderungen für eine Rechtfertigung recht hoch. Selbst eine solche historische Ausnahmekonstellation wie der Übergang von einer Militärdiktatur zur Demokratie vermochte es nämlich nicht zu rechtfertigen, dass Griechenland den Schiedsspruch kurzerhand für nichtig erklärte.46 Diese in Stran Greek Refineries entwickelten Grundsätze wandte der EGMR in der Folgezeit auch auf Urteile staatlicher Gerichte an. Dies erfolgte zunächst im Fall Brumărescu (1999), der ein Urteil gegen den rumänischen Staat betraf, das ihn zur Rückgabe eines ehemals verstaatlichten Hauses verurteilte. Doch statt das rechtskräftige Urteil zu befolgen, ließ Rumänien es aufheben: Aufgrund einer außergewöhnlichen Beschwerde (recurs în anulare) der Generalstaatsanwaltschaft wurde das Urteil vom Obersten Gerichtshof annulliert.47 Auch diese Maßnahme bewertete der EGMR als nicht gerechtfertigten Eingriff in Art. 1 ZP 1 EMRK.48 Der Brumărescu-Fall setzte eine ganze Reihe von Folgeentscheidungen des EGMR in Gang, in denen es ebenfalls um das Rechtsinstitut der rechtskraftdurchbrechenden Beschwerde ging, das in vielen ehemals sozialistischen Staaten weitverbreitet war. Dies war nach Auffassung des EGMR nicht konventionskonform, denn staatliche Organe dürften es nicht in der Hand haben, eine zeitlich unbegrenzte Annullierung von rechtskräftigen Urteilen einzuleiten.49 Einen weiteren Präzedenzfall für die Vollstreckung von Inlandsurteilen bildete die Rechtssache Burdov (2002). Hier weigerte sich der russische Staat ein Urteil zu befolgen, das ihn zur Zahlung einer Entschädigung an einen erkrankten Helfer bei der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl verurteilt hatte.50 Auch diese Urteilsnichtbefolgung stellte einen Eingriff in Art. 1 ZP 1 EMRK dar.51 Dieser Eingriff konnte insbesondere auch nicht durch Verweis auf finanzielle Probleme des Staates gerechtfertigt werden.52 Eine ähnliche 46 EGMR, Urteil vom 9.12.1994, Nr. 13427/87 (Stran Greek Refineries und Stratis Andreadis ./. Griechenland), Erwägungsgründe Nr. 68–75. 47 EGMR, Urteil vom 28.10.1999, Nr. 28342/95 (Brumărescu ./. Rumänien), Erwägungsgründe Nr. 11–30. 48 EGMR, Urteil vom 28.10.1999, Nr. 28342/95 (Brumărescu ./. Rumänien), Erwägungsgründe Nr. 75–80. 49 Laptew, Das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) und sein Einfluss auf das russische Zivilprozess- und Zwangsvollstreckungsrecht, S. 237–249. 50 EGMR, Urteil vom 7.5.2002, Nr. 59498/00 (Burdov ./. Russland), Erwägungsgründe Nr. 7–23. 51 EGMR, Urteil vom 7.5.2002, Nr. 59498/00 (Burdov ./. Russland), Erwägungsgrund Nr. 40: “The Court reiterates that a ‘claim’ can constitute a ‘possession’ within the meaning of Article 1 of Protocol No. 1 if it is sufficiently established to be enforceable (see Stran Greek Refineries and Stratis Andreadis v. Greece, judgment of 9 December 1994, Series A no. 301-B, p. 84, § 59).“ 52 EGMR, Urteil vom 7.5.2002, Nr. 59498/00 (Burdov ./. Russland), Erwägungsgrund Nr. 35: „It is not open to a State authority to cite lack of funds as an excuse for not honouring a judgment debt.“

B. Eigentumsgarantie (Art. 1 ZP 1 EMRK)

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Konstellation fand sich auch in der Rechtssache Jeličić (2006), in der im Ausgangsverfahren Bosnien-Herzegowina zur Zahlung verurteilt worden ist. Doch anstatt zu leisten, gewährte sich der bosnische Staat einen Zahlungsaufschub: Er verabschiedete nämlich ein Gesetz, das solche rechtskräftigen Urteile für temporär nichtvollstreckbar erklärte.53 Auch hier konnten die finanziellen Probleme Bosnien-Herzegowinas es nicht rechtfertigen, dass rechtskräftige Urteile, die Privaten einen Vermögenswert zusprachen, nicht beachtet wurden.54 Insgesamt kann man festhalten, dass vermögenswerte Urteile nach ständiger Rechtsprechung unter den Schutz des Art. 1 ZP 1 EMRK fallen. Missachtet ein Staat ein solches Urteil oder vereitelt er seine Vollstreckung, so stellt dies mithin einen Eingriff in die Eigentumsgarantie dar, wobei es irrelevant ist, ob diese Beeinträchtigung durch die Legislative, Judikative oder Exekutive erfolgt. Allein durch staatliche Interessen kann ein solcher Eingriff jedenfalls kaum je gerechtfertigt sein.55 Jede staatlich zurechenbare Verhinderung der Urteilsvollstreckung, die nicht den Interessen von privaten Schuldnern dient, ist folglich eine Verletzung der Eigentumsgarantie. 3. Nichtvollstreckung ausländischer Urteile Nachdem etabliert war, dass die Eigentumsgarantie des Art. 1 ZP 1 EMRK die Befolgung und Vollstreckung vermögenswerter Inlandsurteile erfordert, stellte sich die Frage, ob sie auch Vorgaben für die Behandlung entsprechender Auslandsurteile enthält. Dabei beleuchtete die Rechtssache Saccoccia (2008) diese Frage aus der Sicht des Urteilsschuldners – nämlich, ob er die Eigentumsgarantie anführen kann, um die Vollstreckung einer ihn belastenden Auslandsentscheidung zu verhindern. Die Rechtssachen Vrbica (2010) sowie Négrépontis-Giannisis (2011) hingegen behandelten diese Frage aus der Sicht des Urteilsgläubigers – nämlich, ob er sich auf die Eigentumsgarantie berufen kann, um die Anerkennung und Vollstreckung einer ihn begünstigenden Auslandsentscheidung zu erreichen.

53 EGMR, Urteil vom 31.10.2006, Nr. 41183/02 (Jeličić ./. Bosnien und Herzegowina), Erwägungsgründe Nr. 7–30. In der Sache ging es um die Auszahlung von Sparvermögen, das zu Zeiten des sozialistischen Jugoslawiens auf den Devisenkonten einer Staatsbank angelegt worden war. 54 EGMR, Urteil vom 31.10.2006, Nr. 41183/02 (Jeličić ./. Bosnien und Herzegowina), Erwägungsgrund Nr. 42. 55 Eine Rechtfertigung scheint kaum jemals möglich zu sein, da der EGMR selbst bei ziemlich außergewöhnlichen Konstellationen wie etwa der Aufarbeitung der Militärdiktatur in Griechenland (Stran Greek Refineries) oder den finanziellen Folgen der Jugoslawienkriege (Jeličić) eine Nichtvollstreckung als nicht gerechtfertigt bewertete.

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Kapitel 8 – Anerkennungspflichten aus materiellen EMRK-Garantien

a) Saccoccia ./. Österreich In der Rechtssache Saccoccia (2008) wurde zum ersten Mal die Vollstreckung von Auslandsentscheidungen aus dem Blickwinkel der Eigentumsgarantie thematisiert.56 Dort wehrte sich der Schuldner einer amerikanischen Verfallentscheidung gegen ihre Vollstreckung in Österreich.57 Insbesondere rügte er, dass er durch die Vollstreckung der US-Entscheidung in seinen Rechten aus Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 1 ZP 1 EMRK verletzt worden sei. Was eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK anbelangte, so prüfte der EGMR, ob das ausländische Gerichtsverfahren grundlegenden Verfahrensstandards entsprochen hatte. Ähnlich wie im Pellegrini–Fall war also entscheidend, ob das Ausgangsverfahren „fair“ war – insbesondere also, ob es die Verteidigungsrechte des Urteilsschuldners in ausreichendem Maße berücksichtigte. Da in diesem Fall das Verfahren vor den US-Gerichten nicht zu beanstanden war, konnte der EGMR auch keinen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK feststellen. 56 Bei einer Durchsicht des Fallrechts fällt auf, dass Beschwerden, in denen Art. 1 ZP 1 EMRK in Bezug auf die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile geprüft wurde, erst in der jüngeren Rechtsprechung vorkommen. Lange Zeit bestand scheinbar einfach kein Bewusstsein dafür, dass die Eigentumsgarantie in solchen Konstellationen relevant sein könnte. So rügten auch die Beschwerdeführer häufig nur eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, nicht aber gleichzeitig auch eine von Art. 1 ZP 1 EMRK – so etwa in EGMR, Urteil vom 19.3.1997, Nr. 18357/91 (Hornsby ./. Griechenland), Erwägungsgrund Nr. 1, EGMR, Urteil vom 20.7.2001, Nr. 30882/96 (Pellegrini ./. Italien), Erwägungsgrund Nr. 3, EGMR, Entscheidung vom 29.4.2008, Nr. 18648/04 (McDonald ./. Frankreich), Seite 6 und EGMR, Urteil vom 4.11.2008, Nr. 6152/02 (Dinu ./. Rumänien und Frankreich), Erwägungsgrund Nr. 3. Zwar ist der EGMR aufgrund des Grundsatzes iura novit curia in rechtlicher Hinsicht nicht an die durch den Beschwerdeführer gerügten Konventionsverletzungen gebunden (Meyer-Ladewig / Nettesheim, in: Meyer-Ladewig / Nettesheim /  v. Raumer, EMRK, Einl., Rn. 32–35), jedoch ist zu beobachten, dass er seine Prüfung trotzdem häufig auf die vorgebrachten Rügen beschränkt. Nur selten prüft der Gerichtshof nicht gerügte Konventionsverletzungen von sich aus, wie etwa in der Rechtssache Pini u.a. ./. Rumänien, in der er trotz einer auf Art. 8 EMRK beschränkten Rüge auch eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK untersuchte – vgl. EGMR, Urteil vom 22.6.2004, Nr. 78028/01 und 78030/01 (Pini u.a. ./. Rumänien), Erwägungsgrund Nr. 9. Viel häufiger ist hingegen zu beobachten, dass der EGMR eine ebenfalls gerügte Konventionsverletzung nicht prüft, wenn bereits feststeht, dass eine andere EMRK-Garantie verletzt ist. Das zeigte sich etwa in der Rechtssache Sholokhov (2012), in der der EGMR nach einer festgestellten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK erklärte: „The Court […] holds unanimously that there is no need to examine separately under Article 1 of Protocol No. 1 the complaint concerning the non-enforcement of the 2003 judgment.“ EGMR, Urteil vom 31.7.2012, Nr. 40358/05 (Sholokhov ./. Armenien und die Republik Moldawien), Erwägungsgrund Nr. 81, Ziffer 3. Zum Sholokhov-Fall vgl. auch Kapitel 7 – A.III.2.b) (S. 147). 57 EGMR, Urteil vom 18.12.2008, Nr. 69917/01 (Saccoccia ./. Österreich), Erwägungsgründe Nr. 7–49. In dieser Rechtssache ging es darum, dass Vermögenswerte in Österreich, die aus illegalen Drogengeschäften stammten, auf Grundlage einer US-amerikanischen Gerichtsentscheidung (forfeiture order) eingezogen worden sind.

B. Eigentumsgarantie (Art. 1 ZP 1 EMRK)

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In Bezug auf Art. 1 ZP 1 EMRK stellte der EGMR zwar fest, dass die Vollstreckung der amerikanischen Verfallentscheidung einen Eingriff in die Eigentumsgarantie darstellte. Doch diesen Eingriff sah der Gerichtshof als gerechtfertigt an, denn es sei dem Beschwerdeführer möglich gewesen, gegen die Vollstreckung der US-Entscheidung ausreichenden Rechtsschutz vor österreichischen Gerichten zu erlangen.58 Im Fall Saccoccia zeigte sich daher, dass der EGMR die Vollstreckung von Auslandsentscheidungen unter einer doppelten Bedingung zulässt: Erstens, dass das Ausgangsverfahren im Ausland grundlegenden Verfahrensstandards entsprochen hatte und zweitens, dass dem Urteilsschuldner gegen die Vollstreckung im Inland ausreichender Rechtsschutz zur Verfügung stand. Bemerkenswert daran ist, dass die Vorgaben des Art. 1 ZP 1 EMRK für die Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsentscheidungen identisch sind mit denen aus Art. 6 Abs. 1 EMRK. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass in der Rechtssache Saccoccia aufzeigt worden ist, dass die materielle Konventionsgarantie des Art. 1 ZP 1 EMRK bei der Vollstreckung von Auslandsentscheidungen durchaus eine Rolle spielt.59 b) Vrbica ./. Kroatien In der Rechtssache Vrbica (2010) stellte sich zum ersten Mal die Frage, ob durch die Nichtvollstreckung eines Auslandsurteils die Eigentumsgarantie aus Art. 1 ZP 1 EMRK verletzt werden kann. In diesem Fall rügte ein Urteilsgläubiger, dass seine aus Montenegro stammende Entscheidung in Kroatien nicht vollstreckt worden ist.60 Der EGMR erblickte darin einen Eingriff in die Garantie des Art. 1 ZP 1 EMRK. Zur Begründung verwies er auf seine Aussagen in den Fällen Burdov und Jeličić, wonach die Nichtvollstreckung rechtskräftiger vermögenswerter Urteile einen Eingriff in die Eigentumsgarantie EGMR, Urteil vom 18.12.2008, Nr. 69917/01 (Saccoccia ./. Österreich), Erwägungsgrund Nr. 89: „Article 1 of Protocol No. 1 contains no explicit procedural requirements. It follows that they are not necessarily the same as under Article 6. However, the Court has held that the proceedings at issue must afford the individual a reasonable opportunity of putting his or her case to the relevant authorities for the purpose of effectively challenging the measures interfering with the rights guaranteed by this provision [...].“ 59 Kiestra, The Impact of the European Convention on Human Rights on Private International Law, S. 279: „Saccoccia thus concerns the invocation of one of the substantive rights guaranteed in the ECHR against the enforcement of a foreign judgment emanating from a third country.“ Im Ergebnis sah der EGMR im Fall Saccoccia die Eigentumsgarantie als nicht verletzt an, da der Schuldner sowohl im ausländischen Ausgangsverfahren als auch im inländischen Exequaturverfahren ausreichende Verteidigungsmöglichkeiten erhalten hatte. EGMR, Urteil vom 18.12.2008, Nr. 69917/01 (Saccoccia ./. Österreich), Erwägungsgründe Nr. 85–92. Zur Rechtssache Pellegrini ./. Italien vgl. Kapitel 7 – A.III.1 (S. 145 f.). 60 EGMR, Urteil vom 1.4.2010, Nr. 32540/05 (Vrbica ./. Kroatien), Erwägungsgründe Nr. 5–29. 58

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Kapitel 8 – Anerkennungspflichten aus materiellen EMRK-Garantien

darstellt.61 Der Gerichtshof übertrug also seine zur innerstaatlichen Urteilsvollstreckung entwickelten Aussagen auf die grenzüberschreitende Urteilsvollstreckung.62 Die Rechtssache Vrbica etablierte daher, dass vermögenswerte Auslandsentscheidungen im Grundsatz ebenfalls unter Art. 1 ZP 1 EMRK fallen – und dass sie folglich Schutzobjekte der Eigentumsgarantie sind. c) Négrépontis-Giannisis ./. Griechenland Diese Rechtsprechungslinie bestätigte der EGMR kurze Zeit später in der Rechtssache Négrépontis-Giannisis (2011). Dieser Fall hatte mit der Eigentumsgarantie auf den ersten Blick freilich nicht viel zu tun, da es um die Anerkennung einer Adoptionsentscheidung ging. Doch weil von der Wirksamkeit der Adoption abhing, ob der Beschwerdeführer Erbe seines Adoptivvaters geworden ist, war auch die Eigentumsgarantie betroffen.63 In Négrépontis-Giannisis hatte also die Nichtanerkennung einer familienrechtlichen Statusentscheidung handfeste vermögenswerte Konsequenzen, was eindrucksvoll demonstrierte, dass auch nichtvermögensrechtliche Entscheidungen sich auf das Vermögen auswirken können. Bei der Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsentscheidungen können sich die Anwendungsbereiche von Art. 8 EMRK und Art. 1 ZP 1 EMRK, anders als es auf den ersten Blick scheinen mag, bisweilen also durchaus überschneiden.64 61 EGMR, Urteil vom 1.4.2010, Nr. 32540/05 (Vrbica ./. Kroatien), Erwägungsgründe Nr. 40–41: „As the applicant’s claim in the present case had been acknowledged by the final judgment of the Titograd Court of First Instance of 15 October 1991 that was subsequently recognised in Croatia by a decision of the Koprivnica Municipal Court of 20 November 2001, the Court considers that the applicant’s claim was sufficiently established to qualify as an ‘asset’ protected by Article 1 of Protocol No. 1 […] In this connection, the Court reiterates that the impossibility of obtaining the execution of a final judgment in an applicant’s favour constitutes an interference with the right to the peaceful enjoyment of possessions, as set out in the first sentence of the first paragraph of Article 1 of Protocol No. 1 (see, among other authorities, Burdov v. Russia, no. 59498/00, § 40, ECHR 2002-III, and Jeličić v. Bosnia and Herzegovina, no. 41183/02, § 48, ECHR 2006-XII).“ 62 Dieses stellt insoweit eine Parallele zu der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 6 Abs. 1 EMRK dar. Auch dort übertrug der EGMR das Recht auf Vollstreckung von Inlandsurteilen auf Auslandsurteile. Vgl. hierzu Kapitel 7 – A.III (S. 144 ff.). 63 EGMR, Urteil vom 3.5.2011, Nr. 56759/08 (Négrépontis-Giannisis ./. Griechenland), Erwägungsgründe Nr. 5–31 und Nr. 104. In dieser Rechtssache adoptierte ein griechischorthodoxer Mönch, den sein Mönchsgelübde dazu verpflichtete, ein Leben lang unverheiratet und kinderlos zu bleiben, in den USA seinen Neffen. Das nach kanonischem Recht geltende, strikte Adoptionsverbot sah Griechenland aber als Teil seines ordre public an, weswegen es der amerikanischen Adoptionsentscheidung die Anerkennung verweigerte. 64 Dass eine klare Abgrenzung zwischen Fallkonstellationen, in denen eine Anerkennungspflicht aus Art. 8 EMRK folgt und solchen, wo sie sich aus Art. 1 ZP 1 EMRK ergibt, nicht immer möglich ist, zeigte auch die Rechtssache Hussin, in der es um die Nichtvollstreckung einer deutschen Unterhaltsentscheidung in Belgien ging. Neben einem

B. Eigentumsgarantie (Art. 1 ZP 1 EMRK)

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In Négrépontis-Giannisis urteilte der EGMR, dass die Nichtanerkennung der Adoptionsentscheidung sowohl Art. 8 EMRK, Art. 6 Abs. 1 EMRK als auch Art. 1 ZP 1 EMRK verletzte.65 Bei der Prüfung einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK verwies der Gerichtshof darauf, dass sich aus den Rechtssachen Hornsby und Pellegrini ergebe, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK sowohl auf innerstaatliche wie auch auf ausländische Gerichtsentscheidungen Anwendung findet.66 Bei der Prüfung von Art. 1 ZP 1 EMRK verwies der EGMR auf seine Feststellungen zu Art. 8 EMRK, die entsprechend zu einer Verletzung der Eigentumsgarantie führten.67 Bemerkenswert an der Rechtssache Négrépontis-Giannisis ist zum einen, dass Anerkennungspflichten in ein und demselben Fall sowohl aus der prozessualen Garantie des Art. 6 Abs. 1 EMRK folgen können als auch aus materiellen Konventionsrechten (Art. 8 EMRK und Art. 1 ZP 1 EMRK). Bemerkenswert ist zum anderen, dass der EGMR von einem einheitlichen Maßstab für eine Pflicht zur Anerkennung Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens stellte der EGMR hier auch einen Eingriff in die Eigentumsgarantie fest: „La Cour reconnaît que le refus d’accorder l’exequatur des jugements du tribunal de district de Siegburg a représenté une ingérence dans le droit au respect de la vie privée et familiale des requérantes, ainsi qu’une atteinte à leur droit au respect de leurs biens.“ EGMR, Entscheidung vom 6.5.2004, Nr. 70807/01 (Hussin ./. Belgien), S. 17. 65 EGMR, Urteil vom 3.5.2011, Nr. 56759/08 (Négrépontis-Giannisis ./. Griechenland), Erwägungsgründe Nr. 47–76 und Nr. 93–105. Der EGMR gestand zwar Griechenland einen gewissen Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) bei der Anerkennung zu, doch sah er ihn hier als überschritten an, weil Griechenland nicht habe darlegen können, warum die staatliche Durchsetzung des kirchenrechtlichen Adoptionsverbots notwendig sei. 66 EGMR, Urteil vom 3.5.2011, Nr. 56759/08 (Négrépontis-Giannisis ./. Griechenland), Erwägungsgründe Nr. 89–92: „La Cour rappelle qu’elle a déjà jugé qu’en matière de contestation dont l’issue est déterminante pour des droits de caractère civil, l’article 6 de la Convention s‘applique aussi bien à l’exécution des jugements nationaux (Hornsby c. Grèce, arrêt du 19 mars 1997, Recueil des arrêts et décisions, 1997-II) qu‘à l’exécution des jugements étrangèrs (Pellegrini c. Italie, no 30882/96, CEDH 2001-VIII) […] Compte tenu des textes sur lesquels s’est fondée la Cour de cassation pour refuser de donner effet à la décision d’adoption, et des conclusions de la Cour à cet égard sous l’angle de l’article 8 de la Convention, la Cour considère que le principe de proportionnalité n’a pas été non plus respecté sur le terrain de l’article 6 § 1 de la Convention. Dès lors, il y a eu violation de cet article.“ 67 EGMR, Urteil vom 3.5.2011, Nr. 56759/08 (Négrépontis-Giannisis ./. Griechenland), Erwägungsgründe Nr. 104–105: „La Cour estime ainsi que le refus des juridictions internes de reconnaître la validité de l’adoption en Grèce et donc la qualité d’héritier qui en découlait, constitue une ingérence dans son droit au respect des biens qui, compte tenu de la conclusion à laquelle elle est arrivée sur le terrain de l’article 8 (paragraphe 76 ci-dessus), est aussi incompatible avec ce droit. Une telle conclusion la dispense de rechercher si un juste équilibre a été maintenu entre les exigences de l’intérêt général de la communauté et les impératifs de la sauvegarde des droits individuels. Partant, il y a eu violation de l’article 1 du Protocole no 1.“

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Kapitel 8 – Anerkennungspflichten aus materiellen EMRK-Garantien

und Vollstreckung von Auslandsentscheidungen ausgeht, sodass es letztlich nicht darauf ankommt, aus welcher EMRK-Garantie solche Anerkennungsoder Vollstreckungspflichten hergeleitet werden. II. Analyse der Rechtsprechung In den drei Rechtssachen Saccoccia, Vrbica und Négrépontis-Giannisis war der Anwendungsbereich der Eigentumsgarantie jeweils eröffnet. Die Behandlung von Entscheidungen ausländischer Gerichte mit vermögensrechtlichen Implikationen ist daher stets am Maßstab des Art. 1 ZP 1 EMRK zu messen. Ferner lässt sich aus Saccoccia, Vrbica und Négrépontis-Giannisis ableiten, dass die Garantien des Art. 1 ZP 1 EMRK sowohl für als auch gegen die Anerkennung und Vollstreckung einer Auslandsentscheidung streiten können. So thematisierte der EGMR im Saccoccia-Fall die Eigentumsgarantie aus der Perspektive des Urteilsschuldners – in den Fällen Vrbica und NégrépontisGiannisis tat er dies hingegen aus der Sicht des Urteilsgläubigers. Hierin zeigt sich eine bemerkenswerte Parallele zu seiner Rechtsprechungslinie in Bezug auf Art. 6 Abs. 1 EMRK, nach der das Recht auf ein faires Verfahren ebenfalls – je nach Konstellation – entweder für als auch gegen die Anerkennung und Vollstreckung einer Auslandsentscheidung streiten kann. Wie auch bei Art. 6 Abs. 1 EMRK hängt dies letztlich allein davon ab, ob das ausländische Gerichtsverfahren grundlegende Verfahrensrechte respektierte oder nicht. Im Ergebnis lässt sich daher festhalten, dass die Eigentumsgarantie des Art. 1 ZP 1 EMRK es erfordert, dass ausländische Entscheidungen mit vermögensrechtlichen Implikationen im Inland anerkannt und vollstreckt werden, wenn sie Ausfluss eines „fairen“ Gerichtsverfahrens vor ausländischen Gerichten sind. III. Stellungnahme So wie bei Anerkennungs- und Vollstreckungspflichten, die aus Art. 6 Abs. 1 EMRK folgen, weist auch die entsprechende Rechtsprechungslinie des EGMR zu Art. 1 ZP 1 EMRK ein Begründungsdefizit auf. Denn auch hier fehlt es an einer Begründung dafür, warum die für Inlandsurteile entwickelten Grundsätze auf Auslandsurteile übertragen werden können.68 Wenn nämlich die Eigentumsgarantie die Vollstreckung einer Gerichtsentscheidung erfordern soll, so setzt dies zunächst voraus, dass gerichtliche Entscheidungen Eigentumspositionen im Sinne von Art. 1 ZP 1 EMRK darstellen. Sofern es sich um eine inländische Entscheidung handelt, überzeugt die Einordnung als Eigentumsobjekt des Art. 1 ZP 1 EMRK ohne Weiteres. Denn durch ihre gerichtliche Bestätigung ist die im Prozess geltend gemachte Forderung eine 68 Zur Gleichsetzung von inländischen und ausländischen Urteilen bei Art. 6 Abs. 1 EMRK vgl. Kapitel 7 – B (S. 148 ff.).

B. Eigentumsgarantie (Art. 1 ZP 1 EMRK)

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in der inländischen Rechtsordnung hinreichend gefestigte, von staatlichen Organen bestätigte Vermögensposition. Vor diesem Hintergrund erscheint es allerdings zweifelhaft, ob auch bei ausländischen Gerichtsentscheidungen von einer hinreichend gefestigten Vermögensposition gesprochen werden kann. Ausländische Richtersprüche unterscheiden sich von inländischen Urteilen nämlich ganz grundlegend dadurch, dass sie im Inland nicht voraussetzungslos wirken. Ihre Stellung in der inländischen Rechtsordnung ist bis zu ihrer Anerkennung oder Vollstreckbarerklärung unsicher und prekär – vor allem auch deshalb, weil nach allgemeinem Völkerrecht kein Staat dazu verpflichtet ist, ausländische Urteile zu respektieren oder gar durchzusetzen. Es kann daher kaum berechtigtes Vertrauen dahingehend bestehen, dass ein ausländisches Urteil auch im Inland durchgesetzt werden kann. Angesichts dieser Prämisse erscheint es fragwürdig, Auslandsurteile als von Art. 1 ZP 1 EMRK geschützte Vermögenswerte der inländischen Rechtsordnung anzusehen. Fragwürdig ist andererseits aber auch der Verweis auf eine fehlende Anerkennungspflicht im allgemeinen Völkerrecht. Diese kann nämlich nicht maßgebend sein, da die EMRK ihren Vertragsstaaten höhere Verpflichtungen auferlegen kann, als die, die das allgemeine Völkerrecht für alle Staaten aufstellt. Es kommt daher nicht darauf an, ob jeder Staat der Welt ausländische vermögensrechtliche Urteile respektieren oder gar durchsetzen muss, sondern vielmehr, ob man dies von einem Vertragsstaat der EMRK erwarten kann. Richtigerweise ist daher zu fragen: Ist es überzeugender, dass ein EMRKStaat völlig frei darin ist, privatnützige vermögenswerte Auslandsurteile ohne jeglichen Grund zu ignorieren? Oder überzeugt es eher, dass er dafür valide Gründe anführen muss? Aus diesem Blickwinkel betrachtet überzeugt es mehr, dass aus Art. 1 ZP 1 EMRK ein grundsätzlich bestehendes Recht auf Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile folgt. Denn dies bedeutet ja nicht, dass ein EMRK-Staat sämtliche Auslandsentscheidungen stets anzuerkennen und zu vollstrecken hat. Es bedeutet nur, dass sich der Anerkennungsstaat andernfalls dafür rechtfertigen muss. In der Praxis heißt das folglich: Ein EMRKStaat darf bei der Anerkennungsversagung nicht willkürlich verfahren, sondern muss dafür legitime Gründe haben. Unter dem Gesichtspunkt des effektiven Menschenrechtsschutzes überzeugt dies in der Tat mehr, als den Schutzbereich des Art. 1 ZP 1 EMRK für Auslandsurteile von vorneherein zu verschließen.

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C. Fazit

Kapitel 8 – Anerkennungspflichten aus materiellen EMRK-Garantien

C. Fazit

Auch aus materiellen Garantien der EMRK können Pflichten zur Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen folgen. Einerseits können sie sich aus Art. 8 EMRK ergeben, soweit durch die ausländische Entscheidung das Privat- und Familienleben einer der Urteilsparteien betroffen ist. Dieses trifft in der Regel auf familienrechtliche Statusentscheidungen zu, kann aber auch bei anderen familien- und erbrechtlichen Auslandsentscheidungen der Fall sein. Andererseits können sich Anerkennungs- und Vollstreckungspflichten auch aus der Eigentumsgarantie des Art. 1 ZP 1 EMRK ergeben, soweit die infrage stehende ausländische Entscheidung vermögensrechtliche Implikationen aufweist. Dabei setzen die Anerkennungspflichten aus Art. 8 EMRK und Art. 1 ZP 1 EMRK allerdings voraus, dass das ausländische Erkenntnisverfahren verfahrensrechtlichen Mindeststandards entsprochen hatte. Die anzuerkennende Entscheidung muss folglich Ausfluss eines „fairen“ Verfahrens vor dem ausländischen Spruchkörper sein.

Kapitel 9

Zusammenfassung: Vorgaben der EMRK für die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile Kapitel 9 – Zusammenfassung

Im Folgenden wird zusammengefasst, welche Vorgaben für die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile aus den Verpflichtungen der EMRK folgen.

A. Bestehen eines subjektiven Rechts auf grenzüberschreitende Urteilsdurchsetzung

A. Bestehen eines subjektiven Rechts auf grenzüberschreitende Urteilsdurchsetzung

Nach der Rechtsprechung des EGMR kann die vor ausländischen Gerichten siegreiche Prozesspartei grundsätzlich verlangen, dass ihre Entscheidung im Inland anerkannt und vollstreckt wird. Dieses Recht leitet der Straßburger Gerichtshof sowohl aus prozessualen wie auch aus materiellen Rechten der EMRK her – zum einen aus Art. 6 Abs. 1 EMRK und zum anderen aus Art. 8 EMRK und/oder aus Art. 1 ZP 1 EMRK. Endgültige ausländische Gerichtsentscheidungen in Zivilsachen müssen daher im Grundsatz anerkannt und vollstreckt werden.

B. Notwendigkeit grundsätzlicher Anerkennungsbereitschaft

B. Notwendigkeit grundsätzlicher Anerkennungsbereitschaft

Daraus folgt, dass ein Staat die Anerkennung und Vollstreckung von Auslandsurteilen überhaupt zulassen muss. Unzulässig wäre es also, wenn ein Staat jegliche Entscheidungen ausländischer Gerichte aus Prinzip ignorieren würde. Eine Regel wie Art. 121 Code Michaut, wonach ausländische Urteile unter keinen Umständen vollstreckt werden dürfen, wäre klar konventionswidrig.1 Dadurch würde nämlich das menschenrechtlich bewehrte Interesse des Urteilsgläubigers an der grenzüberschreitenden Durchsetzung seiner Auslandsentscheidung vollkommen entwertet werden. Reinhold Geimer konstatierte daher schon früh, dass die EMRK eine „grundsätzliche Anerkennungs-

1 Zum im vorrevolutionären Frankreich herrschenden, kategorischen Vollstreckungsverbot des Code Michaut vgl. Kapitel 4 – B.I (S. 90 f.) sowie Fn. 17 (S. 11).

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Kapitel 9 – Zusammenfassung

bereitschaft“ verlange.2 Diese Einschätzung teilt nach einer eingehenden Untersuchung des Straßburger Fallrechts auch Kiestra.3 Eine Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Zivilurteile muss folglich überhaupt möglich sein. Eine völlige Isolierung des eigenen Rechtsraums ist daher mit den Verpflichtungen aus der EMRK nicht vereinbar.

C. Schranken: Rechte der unterlegenen Partei

C. Schranken: Rechte der unterlegenen Partei

Doch auch das andere Extrem – eine vorbehaltlose Akzeptanz sämtlicher Auslandsurteile – ist konventionswidrig. Denn auch die unterlegene Prozesspartei kann sich auf prozessuale und materielle Rechte aus der EMRK berufen. Es kann daher Konstellationen geben, in denen eine Auslandsentscheidung nicht nur nicht anerkannt werden muss, sondern nicht anerkannt werden darf. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn diese Entscheidung aufgrund eines unfairen Verfahrens im Ausland ergangen ist, das die Verteidigungsrechte des Beklagten in eklatanter Weise missachtete (PellegriniKonstellation).4 Eine Verpflichtung zur Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile besteht folglich nicht, wenn die Rechte der unterlegenen Partei eine Nichtanerkennung erfordern.

D. Staatliche Interessen als Schranken?

D. Staatliche Interessen als Schranken?

Fraglich ist aber, ob – über die Rechte der unterlegenen Partei hinaus – auch staatliche Interessen eine Nichtanerkennung oder Nichtvollstreckung ausländischer Urteile rechtfertigen können. Diese Frage ist bisher, soweit erkennbar, noch nicht ausdrücklich vom EGMR behandelt worden. Für eine Zulässigkeit von staatlichen Interessen könnte sprechen, dass dem Anerkennungsstaat ein gewisser nationaler Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) bei der Ausgestaltung seines Anerkennungsrechts zusteht.5 Dagegen spricht 2 Geimer, Aktuelle Probleme des Menschenrechtsschutzes (Diskussion), S. 306: „Die Konvention fordert die grundsätzliche Anerkennungsbereitschaft der Vertragsstaaten. Es wäre konventionswidrig, wenn ein Staat erklären würde: Wir erkennen keine Urteile ohne Staatsvertrag an (wie dies die Niederlande tun). Andererseits entspräche aber auch ein strenges Anerkennungsregime der Konvention. Die grundsätzliche Anerkennungsbereitschaft wird mithin durch die Konvention gefordert, aber bei der Ausgestaltung im Einzelnen haben die Staaten einen großen Ermessensspielraum.“ 3 Kiestra, The Impact of the European Convention on Human Rights on Private International Law, S. 211: „[…] it follows from the Court’s case law that it deems it important that Contracting Parties have a system in place ensuring that (foreign) judgments will, in principle, be recognized and enforced.“ 4 Zur Rechtssache Pellegrini vgl. Kapitel 7 – A.III.1 (S. 145 f.).

F. Fazit

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allerdings, dass staatliche Interessen systemwidrige Fremdkörper in einem zwischen den Rechten des Urteilsgläubigers und Urteilsschuldners austarierten, subjektivrechtlich geprägten Anerkennungsrecht sind.

F. Fazit

E. Schranken-Schranke: Verhältnismäßigkeit

Jede Einschränkung der grenzüberschreitenden Urteilsdurchsetzung muss allerdings dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen, der für jegliche Eingriffe in EMRK-Rechte gilt.6 Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung wiederum gesteht der EGMR den Konventionsstaaten regelmäßig einen nationalen Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) zu. Gerade bei Fragen, die den grenzüberschreitenden Rechtsschutz betreffen, rekurriert der Gerichtshof hier häufig auf eine rechtsvergleichende Bestandsaufnahme. Vom Ergebnis des Rechtsvergleichs hängt daher bisweilen ab, wie groß der Spielraum ist, der einem EMRK-Staat bei der Ausgestaltung seines Anerkennungsregimes zusteht.7

F. Fazit

F. Fazit

Das Interesse des Urteilsgläubigers an der Durchsetzung der ihn begünstigenden Auslandsentscheidung ist menschenrechtlich bewehrt. Jegliche Einschränkung der grenzüberschreitenden Anerkennung und Vollstreckung von Zivilurteilen muss sich daher rechtfertigen lassen. Hierfür ist entscheidend, dass die Einschränkung auf verhältnismäßige Art und Weise erfolgt, wobei diese Frage häufig vom Ergebnis einer rechtsvergleichenden Betrachtung abhängt. Zur margin of appreciation vgl. Kapitel 6 – E.II (S. 136 f.). Das gilt selbst bei prozessualen Garantien, die ihrer Natur nach eine Ausgestaltung durch den Staat erfordern. So stellte der EGMR jüngst in der Rechtssache Naït-Liman, in der es um die Pflicht zur Stellung eines Notgerichtsstands ging, klar, dass eine Einschränkung des Rechts auf Zugang zu Gericht möglich ist – dass diese aber ein legitimes Ziel verfolgen sowie verhältnismäßig sein muss. EGMR, Urteil vom 15.3.2018 [Große Kammer], Nr. 51357/07 (Naït-Liman ./. Schweiz), Erwägungsgründe Nr. 115–116: „Toutefois, le droit d’accès à un tribunal n’est pas absolu et se prête à des limitations implicitement admises, car il appelle de par sa nature même une réglementation par l’État, lequel jouit à cet égard d’une certaine marge d’appréciation […] Cela étant, ces limitations ne sauraient restreindre l’accès ouvert à un justiciable de manière ou à un point tels que son droit à un tribunal s’en trouve atteint dans sa substance même […] En outre, les limitations appliquées ne se concilient avec l’article 6 § 1 de la Convention que si elles poursuivent un but légitime et s’il existe un rapport raisonnable de proportionnalité entre les moyens employés et le but visé […].“ Zur Verhältnismäßigkeitskontrolle vgl. Kapitel 6 – E.III.3 (S. 139 f.). 7 Zur rechtsvergleichenden Interpretation des EGMR und ihrer Auswirkung auf die Weite der margin of appreciation vgl. Kapitel 6 – E.I.5 (S. 134 f.) und Kapitel 6 – E.II (S. 136 f.). 5 6

Teil III

Synthese: Konventionsmäßigkeit von Gegenseitigkeitserfordernissen?

Kapitel 10

Vereinbarkeit von Gegenseitigkeitserfordernissen mit den Vorgaben der EMRK? Kapitel 10 – Vereinbarkeit mit den Vorgaben der EMRK?

Das nachfolgende Kapitel beurteilt Gegenseitigkeitserfordernisse bei der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile aus der Warte grundund menschenrechtlicher Wertungen. Dabei untersucht es insbesondere, ob sie mit den menschenrechtlichen Verpflichtungen eines Anerkennungsstaates aus der EMRK vereinbar sind.

A. Ausgangslage: Rechtfertigungsbedürftigkeit von Gegenseitigkeitserfordernissen

A. Ausgangslage: Rechtfertigungsbedürftigkeit von Gegenseitigkeitserfordernissen

Wie die bisherige Untersuchung gezeigt hat, ist die Herausbildung von Gegenseitigkeitserfordernissen darauf zurückzuführen, dass die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile ursprünglich als eine Angelegenheit zwischen Urteilsstaat und Anerkennungsstaat aufgefasst worden ist. Aus dieser rein zwischenstaatlichen Perspektive betrachtet haben Reziprozitätsvorbehalte eine gewisse Berechtigung, denn in der Tat erschließt es sich nicht, warum ein Staat einem anderen etwas zugestehen sollte, was dieser ihm dauernd vorenthält. Gegenseitigkeitserfordernisse sind daher mit dem völkerrechtlichen Instrument der Retorsion, das eine Reaktion auf unfreundliche Akte eines anderen Staates darstellt, eng verwandt. 1 Ausgehend von dieser im Kern völkerrechtlichen Logik konnte man die Zulässigkeit von Gegenseitigkeitserfordernissen kaum in Zweifel ziehen. Zwar konnte man mit guten Gründen fragen, ob sie tatsächlich ein probates Mittel waren, um eine Praxis der gegenseitigen Urteilsanerkennung herbeizuführen. Allerdings stand außer Frage, dass Gegenseitigkeitserfordernisse eine legitime Option darstellten, um das eigene Anerkennungsrecht auszugestalten. Die grund- und menschenrechtliche Aufwertung von Individualinteressen hat jedoch mittlerweile zu einem grundlegend veränderten Verständnis der grenzüberschreitenden Rechtsdurchsetzung geführt.2 Während die Interessen Zu den völkerrechtlichen Wurzeln von Reziprozitätsvorbehalten vgl. Kapitel 1 – B.III (S. 13 f.). 2 Zum Einfluss der Grund- und Menschenrechte im IZVR vgl. Kapitel 5 (S. 105 ff.). 1

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Kapitel 10 – Vereinbarkeit mit den Vorgaben der EMRK?

rechtsschutzsuchender Individuen früher wie selbstverständlich gegenüber staatlichen Interessen zurückzutreten hatten, verbietet ihre neugewonnene menschenrechtliche Gravitas, dass sie unbesehen zur Seite geschoben werden. Einfachrechtliche Regelungen des IZVR, die die Rechte von rechtsschutzsuchenden Individuen einschränken, wie etwa Reziprozitätsvorbehalte, müssen sich daher an den Vorgaben des Verfassungs- und Konventionsrechts messen lassen. Wie wir gesehen haben, spiegelt sich diese Entwicklung insbesondere in der Rechtsprechung des EGMR wider. Der EGMR unterstellt die Anerkennung und Vollstreckung privatnütziger Auslandsentscheidungen dem konventionsrechtlichen Schutz von Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie Art. 8 EMRK und/oder Art. 1 ZP 1 EMRK und leitet aus den Garantien der EMRK Vorgaben für die grenzüberschreitende Durchsetzung privater Rechte ab. Infolgedessen steht dem Gläubiger eines Auslandsurteils ein menschenrechtlich bewehrter Anspruch auf Durchsetzung seiner im Ausland errungenen Entscheidung zu.3 Reziprozitätsvorbehalte schränken dieses Recht ein, da sie bei fehlender Gegenseitigkeit sowohl eine Anerkennung als auch eine Vollstreckung verhindern. Das macht sie rechtfertigungsbedürftig.

B. Analyse: Konventionsmäßigkeit von Gegenseitigkeitserfordernissen

B. Analyse: Konventionsmäßigkeit von Gegenseitigkeitserfordernissen

Im Folgenden wird analysiert, ob eine solche Rechtfertigung gelingt. Sind also Gegenseitigkeitserfordernisse mit den Vorgaben der EMRK vereinbar? Oder sind sie vielmehr als unzulässige Eingriffe in menschenrechtlich geschützte Rechtspositionen des Urteilsgläubigers zu qualifizieren? Um dies zu bewerten, werden Reziprozitätsvorbehalte anhand der Methodik und der Kriterien untersucht, die der EGMR für die Beurteilung von Eingriffen in konventionsgeschützte Rechte entwickelt hat. Das ist insbesondere eine Verhältnismäßigkeitskontrolle, in der eine rechtsvergleichende Untersuchung der strittigen Regelung eine große, oft entscheidende Rolle spielt.4 I. Keine Klarheit über das mit Gegenseitigkeitserfordernissen angestrebte Ziel Eine erste Herausforderung besteht bereits darin, sich Klarheit über das mit Gegenseitigkeitserfordernissen tatsächlich angestrebte Ziel zu verschaffen. In Betracht kommen nämlich drei verschiedene Ziele, die allesamt von verschiedenen Akteuren angeführt werden: Erstens das zumeist offiziell ausgeZu den aus der Rechtsprechung des EGMR folgenden Vorgaben vgl. Kapitel 9 (S. 191 ff.). 4 Zur Rechtfertigung von Eingriffen in EMRK-Rechte vgl. Kapitel 6 – E.III (S. 138 ff.). 3

B. Analyse: Konventionsmäßigkeit von Gegenseitigkeitserfordernissen

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gebene Ziel nicht anerkennungswillige ausländische Staaten zu einer Anerkennung und Vollstreckung von Inlandsurteilen zu bewegen (unter II.), zweitens das bisweilen alternativ angeführte Ziel Auslandsurteile aus nicht vertrauenswürdigen Staaten abzuwehren (unter III.) und drittens das Herstellen von „Augenhöhe“ mit dem Urteilsstaat, d.h. letztlich die Gegenseitigkeit als Ziel an sich (unter IV.). II. Gegenseitigkeit als Druckmittel zur Herstellung einer gegenseitigen Anerkennungspraxis Im Folgenden wird zunächst in den Blick genommen, ob Gegenseitigkeitserfordernisse gerechtfertigt sind, um anerkennungsunwillige Staaten zur Anerkennung und Vollstreckung von Inlandsentscheidungen zu bewegen.5 Eine solche Verhaltensänderung ausländischer Staaten ist die klassische Zielsetzung von Gegenseitigkeitserfordernissen. 1. Legitimität des angestrebten Ziels: Durchsetzbarkeit von Inlandsurteilen in ausländischen Staaten Aus Sicht der EMRK stellt es ein legitimes Ziel dar ausländische Staaten, die bislang keine inländischen Urteile anerkennen oder vollstrecken, zu einer Verhaltensänderung zu drängen. Zwar hat diese Zielsetzung keinerlei Bezug zu den Interessen der von Reziprozitätsvorbehalten unmittelbar betroffenen Urteilsparteien – insbesondere mangelt es ihr an jeglicher Verbindung zu den Interessen des Gläubigers, dessen im Ausland errungene Entscheidung nicht anerkannt wird.6 Allerdings liegt es im Interesse künftiger Gläubiger von Inlandsurteilen, dass inländische Erkenntnisse auch im Ausland durchsetzbar sind. Die Anerkennung und Vollstreckung inländischer Entscheidungen durch ausländische Staaten ist daher ein Fernziel, das im Allgemeininteresse liegt und das legitimerweise angestrebt werden darf.7 Zu diesem Ziel sowie den zugrundliegenden Motiven vgl. Kapitel 1 – D (S. 19 ff.). Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Kodifikation des deutschen Internationalen Privatrechts, RabelsZ 47 (1983), S. 595 (677). In einem allein auf Berücksichtigung subjektiver Parteiinteressen ausgerichteten Anerkennungsrecht ist ein solches, der Förderung von Allgemeininteressen dienendes Ziel systemfremd. Deutlich wird dies im englischen Recht, das aufgrund der herrschenden Anerkennungstheorie – der doctrine of obligation – allein nach den Rechten und Pflichten der Urteilsparteien fragt und daher traditionell keinerlei Gegenseitigkeitserfordernisse kennt. Zum englischen Anerkennungsrecht vgl. Kapitel 3 – A.I. (S. 51 ff.). 7 Da die EMRK den einzelnen Konventionsstaaten einen weiten Beurteilungsspielraum bei der Bestimmung der angestrebten Ziele gewährt, sind Ziele, die nicht offensichtlich unvernünftig oder verwerflich sind, als legitim einzustufen. Zu den Anforderungen an die Legitimität des Ziels bei Eingriffen in Garantien der EMRK vgl. Kapitel 6 – E.III.2. (S. 139). 5 6

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Kapitel 10 – Vereinbarkeit mit den Vorgaben der EMRK?

2. Zweifelhafte Geeignetheit: Mangelnde Effektivität aufgrund konzeptioneller Unzulänglichkeiten Auch wenn die Durchsetzbarkeit von Inlandsentscheidungen im Ausland einen legitimen Eingriffszweck darstellt, müssten Gegenseitigkeitserfordernisse eine solche Entwicklung auch tatsächlich befördern können. Sie müssten folglich geeignet sein, um eine Liberalisierung des ausländischen Anerkennungsrechts herbeizuführen. Hieran bestehen jedoch erhebliche Zweifel. Blickt man beispielsweise auf den knapp 140-jährigen Erfahrungsschatz des deutschen Rechts, so zeigt sich, dass das Festhalten am Reziprozitätsprinzip nicht die gewünschten Resultate gebracht hat. Dies gilt insbesondere für die jüngere Vergangenheit. So hat die deutsche Gegenseitigkeitsbestimmung seit über 35 Jahren zu keinem einzigen Abschluss eines bilateralen Anerkennungs- und Vollstreckungsabkommens geführt.8 Auch ist nicht erkennbar, dass sie eine einseitige Liberalisierung der Anerkennungspraxis ausländischer Staaten bewirkt hätte.9 Man muss der Regelung des § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO daher eine enttäuschende Bilanz attestieren. Die weitgehende Ineffektivität von Gegenseitigkeitsbestimmungen ist dabei keine Besonderheit des deutschen Anerkennungsrechts. Vielmehr zeigt der Blick in andere europäische Rechtsordnungen, dass bisher bestehende Reziprozitätsvorbehalte quer durch die Bank abgeschafft werden, was als Ausdruck einer profunden Ernüchterung über die durch sie tatsächlich erzielbaren Vorteile gewertet werden kann.10 Dabei ist es kein Zufall, dass Gegenseitigkeitserfordernisse wie § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO, die verlangen, dass ausländische Staaten in Vorleistung gehen, weitestgehend ineffektiv bleiben. Vielmehr sind sie bereits konzeptionell nicht so ausgestaltet, wie eine effektive Reziprozitätsstrategie es sein sollte. Zum einen fehlt ihnen nämlich eine kooperative Grundeinstellung (unter a)). Zum anderen führt die gerichtliche Gegenseitigkeitsfeststellung zu Informations- und Koordinationsdefiziten, die eine effektive Verfolgung der von ihnen angestrebten Reziprozitätsstrategie erschweren (unter b)). Schließlich weisen Gegenseitigkeitserfordernisse auch eine mangelhafte Anreizsetzung auf, weil die Nachteile einer Nichtanerkennung von ausländischen Urteilen nicht diejenigen Akteure treffen, die die Herstellung einer gegenseitigen Anerkennungspraxis herbeiführen könnten (unter c)). 8 Zu den Anerkennungs- und Vollstreckungsabkommen Deutschlands vgl. Kapitel 2 – E.I. (S. 46 f.). 9 Zur Reform des kalifornischen Anerkennungsrechts im Nachgang des großen Erdbebens in San Francisco von 1906 als einzigem Fall, in dem eine ausländische Rechtsordnung ihre Anerkennungspraxis mit Blick auf das deutsche Gegenseitigkeitserfordernis nachgewiesenermaßen geändert hat vgl. Kapitel 2 – E.II. (S. 48). 10 Für Tendenzen und Entwicklungen im Anerkennungsrecht anderer europäischer Staaten vgl. Kapitel 4 (S. 83 ff.).

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a) Fehlen einer kooperativen Grundeinstellung Gegenseitigkeitserfordernisse wie § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO weichen von einer effektiven Reziprozitätsstrategie bereits dadurch ab, dass sie nicht die Kooperation als Ausgangspunkt wählen.11 Sie schreiben nämlich solange die Nichtanerkennung ausländischer Urteile vor, bis die Anerkennung inländischer Entscheidungen in dem jeweiligen Urteilsstaat gesichert ist.12 Dadurch verlangen sie im Kern, dass das Ausland in Vorleistung geht. Das widerspricht allen spieltheoretischen Erkenntnissen dazu, wie eine effektive Reziprozitätsstrategie ausgestaltet sein sollte. Diese sollte nämlich einen kooperativen Ausgangspunkt aufweisen, so wie etwa die als besonders effektiv geltende Reziprozitätsstrategie des tit for tat: Ihr erster Schritt ist immer kooperativ, während ihre weiteren Schritte das Verhalten des Kontrahenten exakt spiegeln. Es gilt daher, solange zu kooperieren, bis der Gegenpart die Kooperation verweigert.13 Bis auf ganz wenige Ausnahmen haben Gegenseitigkeitserfordernisse bei der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile allerdings einen unkooperativen Ansatz.14 Ihr Ausgangspunkt ist nicht etwa die Anerkennung von Auslandsurteilen bis zu dem Zeitpunkt, zu dem zuverlässige Kenntnis darüber besteht, dass inländische Erkenntnisse in dem betreffenden Staat nicht anerkannt werden. Eine solche – kooperative – Lösung wählen nur einige neuere Regelungen, wie etwa der slowenische Reziprozitätsvorbehalt, der im Zweifelsfall die Anerkennung vorsieht.15 In die gleiche Richtung geht Die unkooperative Grundausrichtung des § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO (bzw. des § 661 Nr. 5 CPO) wird von der deutschen Rechtswissenschaft bereits seit geraumer Zeit als große Unzulänglichkeit angesehen. Entsprechend schlug das Hamburger Max-Planck-Institut in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf eines IPR-Reformgesetzes (1983) vor, zumindest eine Vermutung für das Bestehen von Gegenseitigkeit einzuführen. MaxPlanck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Kodifikation des deutschen Internationalen Privatrechts, RabelsZ 47 (1983), S. 595 (678–770). Allgemein zur rechtspolitischen Diskussion im Zuge der IPR-Reform 1986 vgl. Kapitel 2 – D.II. (S. 43 ff.). Später legte Pfeiffer unter Zugrundelegung spieltheoretischer Modelle dar, dass die Art und Weise, wie die deutsche Gegenseitigkeitsvorschrift durch die Rechtsprechung angewandt wird, einer unkooperativen Reziprozitätsstrategie gleichkommt. Pfeiffer, Kooperative Reziprozität, RabelsZ 55 (1991), S. 734 (749–751). 12 BGH, Urteil vom 29.4.1999, IX ZR 263/97 – NJW 1999, 3198 (3202): „Die gegenteilige Erwägung, § 328 I Nr. 5 ZPO solle nur erwiesene Verstöße gegen die zwischenstaatliche Kooperation vergelten […], wird dem vorbeugenden Gesetzeszweck nicht gerecht.“ 13 Pfeiffer, Kooperative Reziprozität, RabelsZ 55 (1991), S. 734 (742): „Bei ‚Tit für Tat‘ handelt es sich also um eine Gegenseitigkeitsstrategie; es ist die Strategie kooperativer Reziprozität.“ Zur Gegenseitigkeit als Mittel der Verhaltensbeeinflussung vgl. Kapitel 1 – A (S. 7 ff.). 14 Vgl. hierzu die rechtsvergleichende Darstellung in Kapitel 4 (S. 83 ff.). 15 Zum slowenischen Gegenseitigkeitserfordernis vgl. Fn. 27 (S. 87). 11

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auch der Vorschlag des American Law Institute für ein bundesgesetzliches Gegenseitigkeitserfordernis, das dem Urteilsschuldner die Beweislast für das Nichtvorliegen von Reziprozität mit dem Urteilsstaat aufbürdet.16 Die Tatsache, dass neuere Gegenseitigkeitsbestimmungen einen kooperativen Ansatz wählen, ist ein weiteres Indiz dafür, dass die bislang üblichen, unkooperativen Gegenseitigkeitserfordernisse ungeeignet sind, um eine gegenseitige Anerkennungspraxis mit ausländischen Staaten tatsächlich herbeizuführen. b) Informations- und Koordinationsdefizite Auch in einem weiteren Punkt weichen Reziprozitätsvorbehalte, soweit sie auf die gerichtliche Gegenseitigkeitsfeststellung setzen, von den spieltheoretischen Modellen einer effektiven Reziprozitätsstrategie stark ab: Durch die Verteilung von Verantwortlichkeiten auf eine Fülle von nicht miteinander in direktem Kontakt stehenden Akteuren – den Gerichten. Dieses institutionelle Setting ist für eine gegenüber ausländischen Staaten angewandte Reziprozitätsstrategie recht ungewöhnlich. Zwar finden die spieltheoretischen Modelle von effektiven Reziprozitätsstrategien auch auf das Handeln von Institutionen Anwendung, für die bei genauerer Betrachtung eine stattliche Anzahl natürlicher Personen handelt. So wurde die tit for tat-Strategie ausdrücklich dazu herangezogen, um Empfehlungen für das Verhalten von Regierungen in Konfrontationsszenarien des Kalten Krieges zu entwickeln.17 Allerdings weicht die gerichtliche Gegenseitigkeitsfeststellung hiervon insofern ab, als dass sich Verhaltensentscheidungen nicht auf eine zentrale Instanz zurückführen lassen. Indem gerichtliche Gegenseitigkeitserfordernisse die Anwendung der Reziprozitätsstrategie in die Hände der Justiz legen, überantworten sie die – indirekte – Kommunikation mit ausländischen Stellen einer Vielzahl von nicht miteinander in direktem Kontakt stehenden Akteuren: Den Gerichten. Zwar handeln all diese Spruchkörper letztlich im Namen des Anerkennungsstaates. Doch rein faktisch handelt eine kaum zu überschauende Anzahl von Richtern unterschiedlicher Gerichtssprengel und verschiedener Instanzen, was zwangsläufig zu Informations- und Koordinationsdefiziten führt. So wird ein Richter, der über die Anerkennung eines ausländischen Urteils zu befinden hat, oftmals nicht einmal Kenntnis darüber haben, dass ein anderes Gericht kürzlich einen vergleichbaren Fall zu entscheiden hatte. Fast nie wird ein solcher Richter sich mit einem anderen Kollegen, der in naher Zukunft über einen ähnlichen Fall zu befinden hat, absprechen. All das birgt die Gefahr in sich, dass an ausländische Staaten einander widersprechende Signale gesendet werden, was die effektive Umsetzung der durch Gegenseitigkeitserfordernisse verfolgten Reziprozitätsstrategie in Frage stellt. Hinzukommt, 16 17

Zum Gesetzesvorschlag des American Law Institute vgl. Kapitel 3 – B.V (S. 74 ff.). Zur tit for tat-Strategie vgl. Kapitel 1 – A (S. 7 ff.).

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dass Gerichte zwar gut aufgestellt sind, um Streitigkeiten zwischen zwei Parteien zu entscheiden. Sie sind allerdings nicht darin geübt, die mittelbaren Folgen ihrer Entscheidungen auf das Verhalten ausländischer Akteure zu berücksichtigen. Gerichte sind vielmehr von allen staatlichen Organen die denkbar ungeeignetsten Stellen, um die Beziehungen zu ausländischen Stellen zu gestalten.18 c) Unzureichende Anreizsetzung Nicht zuletzt sind Gegenseitigkeitserfordernisse auch aufgrund einer falschen Anreizsetzung weitgehend ineffektiv. Eine effektiv ausgerichtete Reziprozitätsstrategie ist nämlich nur dann erfolgreich, wenn beide Seiten im Falle einer Nichtkooperation spürbare Nachteile erleiden. Denn letztlich ist die unmittelbare Betroffenheit der handelnden Akteure die entscheidende Triebfeder dafür, dass sie eine Kooperation anstreben.19 Die Situation bei Gegenseitigkeitserfordernissen stellt sich jedoch anders dar. Dort trägt nicht der handelnde Akteur – also die Gerichte oder die Exekutive – die Nachteile, die durch eine fortwährende Nichtkooperation mit ausländischen Staaten verursacht werden. Vielmehr werden diese Nachteile privaten Urteilsgläubigern aufgebürdet, während diese aber gleichzeitig keinen unmittelbaren Einfluss auf die Herstellung von Gegenseitigkeit mit dem Urteilsstaat haben.20 Das Auseinanderfallen von Nachteilen und Handlungsmöglichkeiten führt in der Folge dazu, dass die Anreize für eine Überwindung des status quo gering ausfallen.21 Es steht zu vermuten, dass dieses auch den Umstand erklärt, warum die Bundesrepublik Deutschland seit fast vier Jahrzehnten kein bilateraIn diese Richtung argumentierte bereits Ludwig von Bar: „Die Gerichte sind als solche und bei Gelegenheit der Entscheidung einzelner Streitsachen nicht in der Lage, die allgemeinen Wirkungen internationaler Beziehungen vollkommen zu würdigen.“ v. Bar, Theorie und Praxis des internationalen Privatrechts, Bd. II, Rn. 456. Vgl. auch Süß, Die Anerkennung ausländischer Urteile, S. 229 (244). 19 Zur tit for tat-Strategie vgl. Kapitel 1 – A (S. 7 ff.). 20 Basedow, Das internationale Zivilprozeßrecht im Visier des Gesetzgebers, Das Standesamt 1983, S. 233 (239). Selbstverständlich können Gläubiger von Auslandsurteilen versuchen durch Lobbying Einfluss bei den nationalen Entscheidungsträgern zu nehmen (vgl. Coyle, Rethinking Judgments Reciprocity, 92 N.C. L. Rev. (2014), S. 1109 (1143– 1150)). Doch unabhängig von der Frage, wie erfolgversprechend diese Möglichkeit der Einflussnahme tatsächlich ist, ändert sie nichts daran, dass es keine unmittelbare Betroffenheit derjenigen staatlichen Stellen gibt, die die durch Gegenseitigkeitserfordernisse verfolgte Reziprozitätsstrategie anwenden. 21 Ähnlich Basedow im Hinblick auf eine Streichung von § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO: „Freilich wird man von der Bundesregierung kaum entsprechende Vorschläge erwarten können. Die Lasten der Gegenseitigkeitsprüfung haben nicht die Bundesgerichte zu tragen, sondern die Gerichte der Länder und die praktizierenden Rechtsanwälte.“ Basedow, Gegenseitigkeit im Kollisionsrecht, S. 335 (347). 18

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les Anerkennungs- und Vollstreckungsabkommen abgeschlossen hat – und warum sie an solchen Abschlüssen oftmals überhaupt nicht interessiert zu sein scheint.22 Diese unzureichende Anreizsetzung stellt daher einen weiteren Grund dar, warum Gegenseitigkeitserfordernisse nicht so effektiv sind, wie sie es auf den ersten Blick zu sein versprechen. d) Zwischenergebnis Gegenseitigkeitserfordernisse haben sich als weitgehend ineffektiv erwiesen, um eine gegenseitige Anerkennungspraxis mit ausländischen Staaten herbeizuführen. Dabei beruht ihre Ineffektivität auf einer Reihe von Charakteristika, die sie von einer effektiv angewandten Reziprozitätsstrategie unterscheiden. Gegenseitigkeitserfordernisse sind somit bereits ihrer Konzeption nach kaum dafür geeignet, um eine Verhaltensänderung ausländischer Staaten zu erreichen. 3. Fehlende Erforderlichkeit: Keine Begrenzung des Eingriffs in subjektive Rechtspositionen auf das notwendige Maß Gegenseitigkeitserfordernisse werfen nicht nur Fragen nach ihrer Geeignetheit auf, sondern auch solche nach ihrer Erforderlichkeit. Es ist nämlich durchaus zweifelhaft, ob die verschiedenen Arten und Varianten von Reziprozitätsvorbehalten tatsächlich jeweils das mildeste, gleich geeignete Mittel sind, um ausländische Staaten zur Herstellung einer gegenseitigen Anerkennungspraxis zu bewegen. Zweifel wecken vor allem die besonders strikten formellen Reziprozitätsvorbehalte (unter a)) als auch die restriktiven Varianten gerichtlicher Gegenseitigkeitserfordernisse, die im Zweifelsfall die Anerkennungsversagung vorsehen und die sich ferner auch gegen Inländer richten (unter b)). a) Staatsvertragsvorbehalte und administrative Gegenseitigkeitsfeststellung Besonders problematisch aus Sicht der grenzüberschreitenden Rechtsdurchsetzung sind Staatsvertragsvorbehalte und Erfordernisse der administrativen Gegenseitigkeitsfeststellung. Diese Reziprozitätsbestimmungen sind besonders strikt, weil sie es nicht genügen lassen, dass ein ausländischer Staat inländische Urteile tatsächlich anerkennt und vollstreckt. Vielmehr sehen sie solange eine Anerkennungsversagung vor, bis nicht ein formeller Akt in Form eines völkerrechtlichen Vertrags, einer Verordnung oder einer Regierungserklärung das Vorliegen von Reziprozität feststellt.23 Es fragt sich daFür ein solches Desinteresse gegenüber dem Abschluss von gegenseitigen Anerkennungs- und Vollstreckungsabkommen mit lateinamerikanischen Staaten vgl. Basedow, Gegenseitigkeit im Kollisionsrecht, S. 335 (346). Für die bilateralen Verträge Deutschlands vgl. Kapitel 2 – E.I (S. 46 f.). 23 Zum Staatsvertragsvorbehalt vgl. Kapitel 1 – C.I (S. 15 f.). Zur administrativen Gegenseitigkeitsfeststellung vgl. Kapitel 1 – C.II (S. 16 f.). 22

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her, ob diese erhöhten Anforderungen gegenüber der gerichtlichen Gegenseitigkeitsfeststellung nicht eine übermäßige Strenge darstellen. Andersherum gewendet: Haben diese erhöhten Anforderungen im Vergleich zur gerichtlichen Feststellung, ob Reziprozität tatsächlich vorliegt, eine Berechtigung? Diese Frage muss man verneinen. Formelle Gegenseitigkeitserfordernisse schreiben eine Anerkennungsversagung auch in Konstellationen vor, in denen das eigentlich angestrebte Ziel – die Durchsetzbarkeit von Inlandsentscheidungen im Ausland – bereits erreicht ist. Das Pochen auf formelle Absicherung bzw. Bestätigung der tatsächlich praktizierten Anerkennung lässt sich daher nicht rational begründen, sondern ist vielmehr auf historische Gründe zurückzuführen – nämlich darauf, dass die Anerkennung und Vollstreckung von ausländischen Richtersprüchen als eine Frage angesehen worden ist, die in die Domäne der auswärtigen Beziehungen eines Staates fiel. Dieser Umstand führte zu der Überzeugung, dass diese Fragestellung auch mit dem entsprechenden außenpolitischen Instrumentarium zu regeln sei – also durch völkerrechtlichen Vertrag oder durch Regierungserklärungen.24 Staatsvertragsvorbehalte wie auch die administrative Gegenseitigkeitsfeststellung sind somit unverhältnismäßig, weil mit der gerichtlichen Gegenseitigkeitsfeststellung eine mildere Alternative bereitsteht. b) Gerichtliche Gegenseitigkeitsfeststellung Darüber hinaus bestehen aber auch bei gerichtlichen Gegenseitigkeitserfordernissen Zweifel, ob die durch sie verursachten Einschränkungen der grenzüberschreitenden Rechtsdurchsetzung wirklich erforderlich sind, um ausländische Staaten zur Herstellung einer gegenseitigen Anerkennungspraxis zu bewegen. Das gilt insbesondere für solche Reziprozitätsbestimmungen, die im Zweifel die Anerkennungsversagung vorsehen (unter aa)) sowie solche, die sich auch gegen Inländer richten (unter bb)). aa) Retorsion als milderes Mittel Reziprozitätsvorbehalte wie § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO sind allein schon deshalb unverhältnismäßig, weil eine mildere Alternative zur Verfügung steht: Die Retorsion. Von Gegenseitigkeitserfordernissen unterscheiden sich Retorsionsmaßnahmen dadurch, dass sie erst dann eingesetzt werden, nachdem sich der ausländische Staat unkooperativ verhalten hat.25 Bereits Ludwig von Bar So zeigt etwa die Entstehungsgeschichte des russischen Staatsvertragsvorbehalts, dass das ursprünglich vorgesehene gerichtliche Gegenseitigkeitserfordernis auf Betreiben des Außenministeriums zu einem Staatsvertragsvorbehalt verschärft worden ist, weil der völkerrechtliche Vertrag als natürliches Regelungsinstrument angesehen worden ist. Vgl. hierzu Kapitel 1 – B.III (S. 13 f.). 25 Giegerich, Retorsion, Rn. 5. 24

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wies auf die Vorzugswürdigkeit der Retorsion hin, weil diese nicht darauf warte, dass das Ausland den ersten Schritt mache, sondern nur punktuell dort sanktioniere, wo es wirklich geboten ist.26 Auch während der Reformdiskussionen im Zuge der großen IPR-Reform 1986 wurde vorgeschlagen, die geltende Gegenseitigkeitsbestimmung durch eine Retorsionsvorschrift zu ersetzen.27 Dabei war das Für und Wider einer Retorsionsregelung keine neuartige Debatte, sondern wurde bereits bei der Einführung des deutschen Gegenseitigkeitsvorbehalts in § 611 Nr. 5 CPO eingehend erörtert. Allerdings verwarf die Reichsjustizkommission die als Alternative erwogene Retorsionsermächtigung an die Reichsregierung als vermeintlich ineffektivere Lösung.28 Diese Bewertung war jedoch eine klare Fehleinschätzung. Die Retorsion vermeidet nämlich eines der Hauptdefizite, das Reziprozitätsvorbehalten wie § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO innewohnt: Ihre unkooperative Grundeinstellung. Dadurch sind Retorsionsmaßnahmen im Hinblick auf die Herstellung einer gegenseitigen Anerkennungspraxis mit ausländischen Staaten sogar effektiver. Sie kommen nämlich dem Modell der als besonders effektiv geltenden Reziprozitätsstrategie des tit for tat am nächsten, da sie einen kooperativen Ausgangspunkt aufweisen und die Nichtkooperation nur als Reaktion auf eine vorangegangene Nichtkooperation des Auslands einsetzen.29 Es gibt folglich keinen Grund an der nur vermeintlich präventivwirkenden Gegenseitigkeitsvorschrift des § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO festzuhalten, die tatsächlich aber ineffektiver ist.30 Die Retorsion stellt eine effektivere und mildere Alternative dar.

26 v. Bar, Theorie und Praxis des internationalen Privatrechts, Bd. II, Rn. 456: „Weit richtiger als das Reciprocitätssystem ist, wie ebenfalls schon früher bemerkt wurde, das Princip der Retorsion […] Man geht bei solchem Vorbehalte mit dem richtigen Principe voran, wartet nicht bis Andere Anfang machen, und will nur den Anderen äussersten Falls die Nachtheile des unrichtigen Princips fühlen lassen.“ Nagel streicht den Unterschied zwischen Retorsionsmaßnahmen und Gegenseitigkeitserfordernissen dadurch treffend heraus, dass er letztere als „vorweggenommene Vergeltung“ charakterisiert (Nagel, Die Berücksichtigung der Interessen der einzelnen Rechtsuchenden bei der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile, S. 43 (53)). 27 Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Kodifikation des deutschen Internationalen Privatrechts, RabelsZ 47 (1983), S. 595 (678 f.). Zu den rechtspolitischen Diskussionen im Vorfeld der IPR-Reform von 1986 vgl. Kapitel 2 – D.II (S. 43 ff.). 28 Paradoxerweise ist das deutsche Gegenseitigkeitserfordernis also darauf zurückzuführen, dass eine effektivere, kooperativ ausgerichtete Alternativstrategie bewusst als ungenügend verworfen worden ist. Zur Gesetzgebungsgeschichte des deutschen Gegenseitigkeitserfordernisses vgl. Kapitel 2 – B (S. 32 ff.). 29 Zur tit for tat-Strategie vgl. Kapitel 1 – A (S. 7 ff.). 30 Eine solche Präventivwirkung gesteht der BGH dem § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO allerdings zu und spricht gar von dessen „vorbeugende[m] Gesetzeszweck“ (vgl. BGH, Urteil vom 29.4.1999, IX ZR 263/97 – NJW 1999, 3198 (3202)).

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bb) Beschränkung auf ausländische Urteilsgläubiger als milderes Mittel Eine weitere Abmilderung von Reziprozitätsvorbehalten wäre möglich, wenn man sie allein auf ausländische Urteilsgläubiger beschränken würde. Dadurch würde der vielfach kritisierte Zustand beseitigt, dass Gegenseitigkeitserfordernisse häufig die eigenen Staatsangehörigen treffen.31 Einige neuere Reziprozitätsvorbehalte folgen tatsächlich diesem Ansatz. So sieht etwa die tschechische Gegenseitigkeitsbestimmung vor, dass die Reziprozität mit dem Urteilsstaat nur dann erforderlich ist, wenn das ausländische Urteil sich gegen einen Inländer oder gegen eine inländische juristische Person richtet.32 Ebenso verfährt das slowenische Anerkennungsrecht, indem es statuiert, dass die Anerkennung und Vollstreckung eines ausländischen Urteils auch bei fehlender Gegenseitigkeit möglich ist – wenn sie denn von einem slowenischen Staatsbürger beantragt wird.33 Eine solche Reziprozitätsbestimmung, die zwischen Inländern und Ausländern differenziert, wirkt auf den ersten Blick anachronistisch, ist doch das moderne IZVR durch eine weitgehende Abkehr vom Staatsangehörigkeitsprinzip geprägt. Allerdings wird hier die Staatsangehörigkeit dazu in Ansatz gebracht, um ein anderes, ebenfalls anachronistisches Element einzuschränken – das Gegenseitigkeitserfordernis.34 Im Kern sind Gegenseitigkeitserfordernisse nämlich in einem auf Schutz und Durchsetzung individueller Rechtspositionen ausgerichteten IZVR systemfremd.35 Sie sind einer zwischenstaatlichen Perspektive auf die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile geschuldet, die die grenzüberschreitende Rechtsdurchsetzung als eine Angelegenheit zwischen Urteilsstaat und Vollstreckungsstaat auffasst.36 Betrachtet man die grenzüberschreitende Urteilsvollstreckung aus der 31 Vgl. statt aller Puttfarken, Zur Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile deutscher Kläger – verfassungswidrige Gegenseitigkeit, RIW 1976, S. 149 (149 ff.). 32 Zur tschechischen Gegenseitigkeitsbestimmung vgl. Kapitel 4 – B.IV (S. 94 f.). 33 Diese Regelung findet sich in Art. 101 Abs. 2 des slowenischen IPR-Gesetzes und lautet übersetzt: „The lack of reciprocity will not be an obstacle to recognizing a foreign judgment [...] when the recognition or enforcement of a foreign judgment has been requested by a Slovenian citizen.“ Übersetzung von Kramberger Škerl, Slovenia – Private International Law and Procedure Act, S. 3784 (3801). Zum slowenischen Reziprozitätsvorbehalt vgl. Fn. 27 (S. 87). 34 Zum Spannungsverhältnis von Gegenseitigkeitserfordernissen, die auf ausländische Urteilsgläubiger beschränkt sind, und der Abkehr von fremdenrechtlichen Regelungen im IZVR vgl. Kapitel 1 – C.III (S. 17 ff.). 35 Basedow, Gegenseitigkeit im Kollisionsrecht, S. 335 (335 f.). Vgl. auch Gottwald, Grundfragen der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen in Zivilsachen, ZZP 103 (1990), S. 257 (282); Sonnentag, Anerkennungs- und Vollstreckbarkeitshindernisse im autonomen deutschen Recht, ZVglRWiss 113 (2014), S. 83 (93). 36 Zu den historischen Gründen, die die Herausbildung von Gegenseitigkeitserfordernissen begünstigt haben vgl. Kapitel 1 – B (S. 9 ff.).

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Warte grund- und menschenrechtlicher Wertungen, so stellt jede Nichtanerkennung einen schweren Eingriff in die Rechte des Urteilsgläubigers dar.37 Wenn die Anzahl von Anerkennungsversagungen erheblich verringert würde, so ist dies aus der individualrechtlichen Perspektive uneingeschränkt zu begrüßen. Es ist daher geboten, den Anwendungsbereich von Reziprozitätsvorbehalten auf ausländische Urteilsgläubiger zu beschränken. c) Zwischenergebnis Die weit überwiegende Mehrheit von Reziprozitätsvorbehalten ist nicht erforderlich, da mildere Mittel mit einer gleichen oder gar größeren Effektivität zur Verfügung stehen. So sind Staatsvertragsvorbehalte wie auch die administrative Gegenseitigkeitsfeststellung unverhältnismäßig, weil sie besonders einschneidende Maßnahmen darstellen, ohne dass sie sich gegenüber der gerichtlichen Gegenseitigkeitsfeststellung durch eine erhöhte Effektivität auszeichnen würden. Aber auch die meisten gerichtlichen Gegenseitigkeitserfordernisse wie etwa § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO könnten ohne weiteres abgemildert werden, ohne dass ihre Effektivität darunter leiden würde. Zum einen könnten sie im Sinne des Retorsionsprinzips erst dann zum Tragen kommen, wenn ein ausländischer Staat sich fortwährend weigert, Inlandsentscheidungen anzuerkennen und zu vollstrecken. Zum anderen bestünde eine mildere, gleich effektive Alternative darin, den Anwendungsbereich von Gegenseitigkeitserfordernissen dahingehend einzuschränken, dass sie nicht zulasten von Inländern wirken. 4. Fehlende Angemessenheit: Uneingeschränkte Dominanz staatlicher Interessen Problematisch an Reziprozitätsvorbehalten ist auch die uneingeschränkte Dominanz staatlicher Interessen gegenüber privaten Rechten.38 Indem Gegenseitigkeitserfordernisse dazu führen, dass bei fehlender Gegenseitigkeit ein ausländisches Urteil als nonexistent behandelt wird, sprechen sie der siegreichen Prozesspartei ihr im Ausland errungenes Recht ab. Diese harsche Folge wirft die Frage auf, ob es vertretbar ist, Privatpersonen ein solches Sonderopfer aufzubürden. Anders gewendet: Ist es legitim, individuelle Rechtspositionen völlig unbeachtet zu lassen, um den Druck gegenüber nicht kooperationswilligen ausländischen Staaten aufrechtzuerhalten? Hierfür kommt es entscheidend darauf an, ob Gegenseitigkeitserfordernisse einen angemesse37 Zu dem aus der EMRK folgenden subjektiven Recht des Urteilsgläubigers auf Anerkennung und Vollstreckung seiner im Ausland errungenen Entscheidung vgl. Kapitel 9 (S. 191 ff.). 38 Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Kodifikation des deutschen Internationalen Privatrechts, RabelsZ 47 (1983), S. 595 (677).

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nen Ausgleich zwischen Staatsinteressen und individuellen Rechten darstellen. Ein solcher Ausgleich – der EGMR spricht hier von fair balance bzw. juste équilibre – ist für eine verhältnismäßige Beschränkung von Konventionsrechten unabdingbar.39 Solchen Wertungsfragen nähert sich der EGMR durch eine rechtsvergleichende Bestandaufnahme der Regelungen in den einzelnen Konventionsstaaten. Dabei gilt: Je mehr sich ein EMRK-Staat von einem europäischen Trend oder Konsens entfernt, desto mehr spricht dafür, dass diese Einschränkung nicht gerechtfertigt ist.40 Wie die vorangegangene Untersuchung gezeigt hat, besteht in Bezug auf die Gegenseitigkeit bei der Urteilsanerkennung ein klarer rechtspolitischer Trend unter den EMRK-Staaten: Die Abschaffung jeglicher Reziprozitätsvorbehalte.41 Das indiziert einen strengen Prüfungsmaßstab bei der Wertungsfrage, ob Gegenseitigkeitserfordernisse verhältnismäßig sind. Gemessen an diesem Maßstab stellen Reziprozitätsvorbehalte wie § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO keinen angemessenen Ausgleich zwischen dem staatlichen Interesse an der Herstellung einer gegenseitigen Anerkennungspraxis und individuellen Rechten dar. Denn das Recht des Urteilsgläubigers an der Durchsetzung seiner im Ausland errungenen Entscheidung wird nicht nur dann völlig entwertet, wenn der Urteilsstaat keine Inlandsentscheidungen anerkennt und vollstreckt, sondern vielmehr auch dann, wenn dieser Umstand einfach nicht aufklärbar ist. So obliegt es etwa bei § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO dem Urteilsgläubiger darzulegen und zu beweisen, dass Gegenseitigkeit besteht. Ein non liquet geht zu seinen Lasten.42 Das bedeutet freilich nichts anderes, als dass sein Recht auf grenzüberschreitende Urteilsdurchsetzung nicht erst bei mangelnder Gegenseitigkeit zurücktreten muss, sondern schon bei ihrer fehlenden Aufklärbarkeit. Das ist umso unangemessener, als dass viele Staaten, die gerichtliche Gegenseitigkeitserfordernisse aufstellen, sich nicht einmal aktiv darum be39 Marauhn / Mehrhof, in: Konkordanzkommentar EMRK / GG, Bd. 1, S. 405–407. Zur Verhältnismäßigkeitsprüfung in der Judikatur des EGMR sowie zur Relevanz von rechtsvergleichenden Aspekten bei der margin of appreciation vgl. Kapitel 6 – E.II (S. 136 f.) und Kapitel 6 – E.III (S. 138 ff.). 40 Dadurch versucht der EGMR einerseits zu vermeiden, dass er sein eigenes Werturteil anstelle einer vertretbaren nationalen Abwägungsentscheidung setzt. Andererseits stellt er so sicher, dass letztlich doch eine Rationalitätskontrolle solcher nationaler Abwägungsentscheidungen stattfindet – wenn auch auf indirekte Art und Weise. Zu dieser rechtsvergleichenden Auslegungsmethode des EGMR vgl. Kapitel 6 – E.I.5 (S. 134 f.) sowie Kapitel 6 – E.III.3 (S. 139 f.). 41 Zu rechtsvergleichenden Tendenzen unter den EMRK-Staaten in Bezug auf Gegenseitigkeitserfordernisse vgl. Kapitel 4 (S. 83 ff.). 42 BGH, Urteil vom 29.4.1999, IX ZR 263/97 – NJW 1999, 3198 (3202): „Insbesondere ist die allein im öffentlichen Interesse eingeführte Voraussetzung der Gegenseitigkeit – welche die Anerkennungsfreundlichkeit ausländischer Staaten fördern soll – von demjenigen zu beweisen, der ein Vollstreckungsurteil erlangen will.“

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mühen, die ausländische Anerkennungspraxis systematisch zu erfassen. So gibt es beispielsweise auch in der Bundesrepublik Deutschland keine staatliche Stelle, die die Anerkennungspraxis ausländischer Staaten in Bezug auf Inlandsurteile kompilieren und im Bedarfsfall zugänglich machen würde.43 Der Gläubiger eines Auslandsurteils wird folglich bei der Frage, ob der Urteilsstaat deutsche Urteile tatsächlich anerkennt und vollstreckt, auf weiter Flur alleingelassen.44 Das vom ihm verlangte Sonderopfer der Nichtdurchsetzbarkeit seiner im Ausland errungenen Entscheidung ist jedenfalls nicht zumutbar, wenn der den Reziprozitätsvorbehalt aufstellende Staat es unterlässt, die ausländische Anerkennungspraxis systematisch zu erfassen. 5. Ergebnis Reziprozität als Druckmittel hält einer Rationalitätskontrolle im Sinne einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht stand. So deuten zahlreiche Indizien darauf hin, dass Gegenseitigkeitserfordernisse, soweit sie eine unkooperative Grundausrichtung aufweisen, bereits kaum dafür geeignet sind, um eine Liberalisierung der ausländischen Anerkennungspraxis zu bewirken. Gegenseitigkeitserfordernisse könnten ferner schonender ausgestaltet werden, ohne dass sie an Effektivität verlieren würden. So weisen Staatsvertragsvorbehalte wie auch die administrative Gegenseitigkeitsfeststellung eine übermäßige Strenge auf, ohne dass sie sich durch eine erhöhte Effektivität auszeichnen würden. Auch gerichtliche Gegenseitigkeitserfordernisse sind in der Regel strikter ausgestaltet als notwendig. Dieses gilt jedenfalls dann, wenn sie im Zweifelsfall die Anerkennungsversagung vorsehen und sich auch gegen eigene Staatsbürger richten. Nicht zuletzt stellen Gegenseitigkeitserfordernisse aber auch keinen angemessenen Ausgleich zwischen staatlichen Interessen und subjektiven Rechten dar. Die uneingeschränkte Dominanz staatlicher Interessen zeigt sich auf besonders plakative Weise dort, wo ein Staat, der bei fehlender Aufklärbarkeit der ausländischen Anerkennungspraxis die AnerkennungsverBasedow, Das internationale Zivilprozeßrecht im Visier des Gesetzgebers, Das Standesamt 1983, S. 233 (240). Zu den Schwierigkeiten der gerichtlichen Gegenseitigkeitsermittlung vgl. Kapitel 1 – E.III (S. 26 f.). 44 Sehr instruktiv ist in diesem Zusammenhang ein neueres Urteil des LG Saarbrücken, das das Vorliegen von Gegenseitigkeit mit der Volksrepublik China verneinte. Dabei führte der Kläger sogar ein chinesisches Urteil aus dem Jahre 2013 an, welches ein deutsches Urteil anerkannt hatte. Auch waren dem erkennenden Gericht keine Fälle bekannt, in denen chinesische Gerichte in der jüngeren Vergangenheit deutschen Urteilen die Anerkennung verweigert hätten. Trotzdem reichte dies dem LG Saarbrücken nicht, um die Gegenseitigkeit als verbürgt anzusehen. Es zog sich vielmehr auf die Behauptung zurück, dass der Kläger nicht dargelegt und bewiesen habe, dass in Bezug auf deutsche Urteile eine „durch die Anerkennungspraxis statuierte generelle Verbürgung im Sinne einer quasiinstitutionellen Garantie anzunehmen [sei]“ (LG Saarbrücken, Urteil vom 16.4.2021 – 5 O 249/19, Rn. 31 f. – juris). 43

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sagung anordnet, sich nicht einmal darum bemüht, die Anerkennungspraxis ausländischer Staaten systematisch zu erfassen. III. Gegenseitigkeit als Abwehrfilter gegen Entscheidungen aus nicht vertrauenswürdigen Justizsystemen Obwohl Gegenseitigkeitserfordernisse in erster Linie bezwecken sollen eine gegenseitige Anerkennungspraxis mit ausländischen Staaten herzustellen, wird mit ihnen bisweilen noch ein weiteres Ziel verfolgt: Die Sicherung einer gewissen Mindestqualität ausländischer Entscheidungen, indem Urteile aus nicht vertrauenswürdigen Staaten abgewehrt werden. Es handelt sich dabei um Situationen, in denen ein generelles Misstrauen gegenüber der Justiz eines bestimmten Staates besteht – beispielsweise, weil dessen Gerichte als politisch gesteuert gelten oder als durch und durch korrupt. Die Gegenseitigkeitsvorschrift soll verhindern, dass Entscheidungen aus solchen Staaten im Inland wirken. Die Kommentarliteratur schreibt dem deutschen Reziprozitätsvorbehalt einen solchen Zweck zu.45 Diese Vorstellung scheint auch bei der Beibehaltung des deutschen Gegenseitigkeitserfordernisses während der großen IPR-Reform 1986 eine entscheidende Rolle gespielt haben.46 So warb ein hoher Ministerialbeamter des Bundesjustizministeriums für die Regelung des § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO, indem er unterstrich, dass Reziprozitätsvorbehalte ein „erprobtes Mittel zur unauffälligen Abwehr von Entscheidungen aus Staaten mit dubioser Rechtspflege“ seien.47 Allerdings ist zweifelhaft, ob sich Gegenseitigkeitserfordernisse tatsächlich dafür eignen. Dieses wird im Folgenden zunächst für formelle Gegenseitigkeitserfordernisse untersucht (unter 1.), bevor in einem nächsten Schritt auch gerichtliche Gegenseitigkeitserfordernisse wie § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO auf diese alternative Zielsetzung hin untersucht werden (unter 2.). 1. Formelle Gegenseitigkeitserfordernisse: Grundsätzliche Geeignetheit, aber fehlende Erforderlichkeit Keine Zweifel an einer solchen Geeignetheit zur zielgerichteten Abwehr von Richtersprüchen aus dubiosen Justizsystemen bestehen beim Staatsvertrags45 Nagel / Gottwald, Internationales Zivilprozessrecht, Rn. 12.212: „Darüber hinaus lässt sich die Voraussetzung der Gegenseitigkeit gegenüber solchen Staaten verteidigen, deren Urteile nicht dem deutschen Standard entsprechen. Insoweit wirkt die Gegenseitigkeit als Schutzvorschrift für Deutsche, die im Ausland verklagt werden.“ Roth, in: Stein /  Jonas, ZPO, § 328, Rn. 116: „Daneben soll es [das Gegenseitigkeitserfordernis] nach den Vorstellungen des Gesetzgebers auch als Garantie für eine Mindestqualität ausländischer Entscheidungen wirken.“ 46 Zur IPR-Reform von 1986 vgl. Kapitel 2 – D.II (S. 43 ff.). 47 Vgl. Basedow, Internationales Verfahrensrecht, S. 91 (101 f.); Basedow, Gegenseitigkeit im Kollisionsrecht, S. 335 (345 f.).

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vorbehalt. Diese Art von Reziprozitätsbestimmung lässt sich ohne Weiteres dazu instrumentalisieren, um Entscheidungen aus Staaten, zu denen man kein Vertrauen hat, abzuwehren.48 Hierfür genügt es, kein völkerrechtliches Anerkennungs- und Vollstreckungsabkommen mit solchen Staaten zu schließen – beziehungsweise bestehende Abkommen zu kündigen.49 Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass der Staatsvertragsvorbehalt durchaus auch auf diese Art und Weise instrumentalisiert worden ist. So schlossen die Staaten des sozialistischen Ostblocks auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges Anerkennungs- und Vollstreckungsabkommen bewusst fast ausschließlich mit anderen sozialistischen Staaten, was Ausdruck einer Abschottungspolitik gegenüber dem kapitalistischen Ausland war.50 Auch die administrative Gegenseitigkeitsfeststellung eignet sich dafür, um Urteile aus bestimmten Staaten zielgerichtet fernzuhalten. Hierfür genügt es, dass die Exekutive die förmliche Gegenseitigkeitsfeststellung gegenüber einem ausländischen Staat unterlässt.51 Ein plakatives Beispiel hierfür ist Liechtenstein, das ausländische Anleger in der Vergangenheit mit dem Versprechen lockte, dass das einmal in dem Fürstentum angelegte Vermögen vor dem Zugriff aus dem Ausland sicher sei. Aus diesem Grund instrumentalisierte die liechtensteinische Regierung das Erfordernis der administrativen Gegenseitigkeitsfeststellung, um gezielt die Vollstreckung von Auslandsurteilen in Liechtenstein zu blockieren.52 Obwohl formelle Gegenseitigkeitserfordernisse sich also durchaus dazu eignen, um Richtersprüche aus Staaten mit einem fragwürdigen Justizsystem abzuwehren, stellt sich die Frage nach ihrer Erforderlichkeit. Staatsvertragsvorbehalte wie auch die administrative Gegenseitigkeitsfeststellung führen wegen ihrer hohen Restriktivität zu großen Kollateralschäden. Sie ordnen In diese Richtung v. Bar: „Consequenter ist es immerhin, wenn man […] Misstrauen gegen die Justiz fremder Staaten hegt, […] einen Vertrag mit dem auswärtigen Staate zu fordern.“ v. Bar, Theorie und Praxis des internationalen Privatrechts, Bd. II, Rn. 455. 49 Der Staatsvertragsvorbehalt belässt der eigenen Staatsführung das Letztentscheidungsrecht darüber, ob mit einem bestimmten ausländischen Staat eine gegenseitige Anerkennungspraxis etabliert wird. Vgl. hierzu Kapitel 1 – C.I (S. 15 f.). 50 Gerasimchuk, Die Urteilsanerkennung im deutsch-russischen Rechtsverkehr, S. 16– 18; Kurzynsky-Singer, Anerkennung ausländischer Urteile durch russische Gerichte, RabelsZ 74 (2010), S. 493 (501); Martiny, Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1, Rn. 1201 f. 51 So wie der Staatsvertragsvorbehalt setzt auch die administrative Gegenseitigkeitsfeststellung eine Mitwirkungshandlung der Exekutive voraus und belässt dadurch der eigenen Staatsführung das Letztentscheidungsrecht darüber, ob mit einem bestimmten Staat die Gegenseitigkeit hergestellt wird oder nicht. Vgl. hierzu Kapitel 1 – C.II (S. 16). 52 Baur spricht insoweit von einer Furcht des liechtensteinischen Finanzsektors vor einer „Anerkennung von ausländischen Haftungsurteilen gegen inländische Sachverhalte in unverträglichem Masse“. Die tiefere Ursache dafür liege in der liechtensteinischen Politik der „asset protection“, die auf „Schaffung eines rechtlichen Sanktuariums“ gerichtet sei. Baur, Liechtenstein: eine Lücke von 160 km2 im Europäischen Rechtsraum, S. 25 (38 f.). 48

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nämlich auch die Nichtanerkennung von Urteilen aus vertrauenswürdigen Staaten an, mit denen schlicht kein völkerrechtlicher Vertrag bzw. keine durch die Exekutive festgestellte Reziprozität besteht. Das ist aus Sicht der Rechtsschutzeffektivität nicht hinnehmbar, wenn mildere Alternativen zur Verfügung stehen. Eine solche Alternative könnte der Anerkennungsversagungsgrund des systemic lack of due process sein, wie ihn das US-Recht kennt.53 Ein solcher Anerkennungsversagungsgrund stellt ausdrücklich auf generelle Defizite des ausländischen Justizsystems ab und wirkt dadurch zielgerichteter – und somit aus Sicht der grenzüberschreitenden Rechtsdurchsetzung schonender.54 Auch legt eine solche Regelung die wahren Motive für eine Anerkennungsversagung offen – nämlich ein generelles Misstrauen gegenüber der Justiz des Urteilsstaates. Doch andererseits ist nicht zu übersehen, dass der Anerkennungsversagungsgrund des systemic lack of due process neue Probleme und Risiken mit sich bringt. Zum einen leidet er, wie gerichtliche Gegenseitigkeitserfordernisse auch, an einem Erkenntnisproblem. Woher nämlich soll ein inländischer Richter zuverlässige Kenntnis darüber haben, ob die Justiz in einem ausländischen Staat so schwere Defizite aufweist, dass rechtsstaatliche Verfahren dort generell nicht möglich sind? Zum anderen besteht das Risiko, dass eine solche Bewertung aufgrund von objektiv nicht überprüfbaren Annahmen erfolgt, sodass Vorurteile den Ausschlag geben. Letztlich ist es aber weder nötig, Urteile aus besonders fragwürdigen Justizsystemen durch formelle Gegenseitigkeitserfordernisse abzuwehren, noch ist es erforderlich, einen speziellen Anerkennungsversagungsgrund wie den des systemic lack of due process einzuführen. Es steht nämlich bereits ein passendes Instrumentarium zur Verfügung, mit dem solche Konstellationen zufriedenstellend gelöst werden können: Der ordre public-Vorbehalt. Jeder Staat, der die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile im Grundsatz zulässt, sieht den Verstoß gegen die eigene öffentliche Ordnung

Zum US-amerikanischen Anerkennungsrecht vgl. Kapitel 3 – B (S. 68 ff.). Ein solcher Anerkennungsversagungsgrund findet sich in § 482 des Restatement of the Law (Third): „A court in the United States may not recognize a judgment of the court of a foreign state if: (a) the judgment was rendered under a judicial system that does not provide impartial tribunals or procedures compatible with due process of law […].“ American Law Institute, Restatement of the Law (Third) – The Foreign Relations Law of the United States, Bd. 1, S. 604. Auch der vieldiskutierte Vorschlag des American Law Institute für eine bundeseinheitliche Regelung sieht in seinem § 5 (a) (i) einen solchen Versagungsgrund vor: „A foreign judgment shall not be recognized or enforced in a court in the United States if the party resisting recognition or enforcement establishes that: [...] the judgment was rendered under a system (whether national or local) that does not provide impartial tribunals or procedures compatible with fundamental principles of fairness […].“ American Law Institute, Recognition and Enforcement of Foreign Judgments: Analysis and Proposed Federal Statute, S. 55. 53 54

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als letztes Sicherheitsventil vor.55 Dieses Sicherheitsventil kann auch für den Fall nutzbar gemacht werden, in dem ein ausländisches Urteil aus einem Staat mit politisch abhängiger oder durch und durch korrupter Justiz stammt.56 Im Unterschied zum Anerkennungsversagungsgrund des systemic lack of due process genügt es allerdings nicht, sich ohne Rückgriff auf den Einzelfall ein generalisierendes Werturteil über die Rechtspflege eines bestimmten Staates zu bilden. Vielmehr ist man gezwungen, die Wahrung der prozessualen Gerechtigkeit am konkreten Fall zu erörtern und zu bewerten.57 2. Gerichtliche Gegenseitigkeitserfordernisse: Konzeptionelle Ungeeignetheit Während sich formelle Gegenseitigkeitserfordernisse dazu eignen, um Urteile aus bestimmten Ländern abzuwehren, ist eine solche Eignung bei der gerichtlichen Gegenseitigkeitsfeststellung mehr als zweifelhaft. Reziprozitätsvorbehalte wie § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO setzen nämlich nur voraus, dass ausländische Gerichte inländische Entscheidungen tatsächlich anerkennen und vollstrecken. 58 Ein ausländischer Staat – so politisch abhängig oder korrupt seine Justiz auch sein mag – hat es dadurch immer in der Hand, die Gegenseitigkeit herzustellen, indem er inländische Gerichtsentscheidungen anerkennt und vollstreckt.59 Wenn gerichtliche Gegenseitigkeitserfordernisse Urteile aus Michaels, Recognition and Enforcement of Foreign Judgments, Rn. 29. Süß, Die Anerkennung ausländischer Urteile, S. 229 (246 f.): „Der ordre public bietet genug Möglichkeiten, um untragbaren ausländischen Urteilen die Anerkennung zu versagen. Er bietet sogar mehr Handhaben als die starre Gegenseitigkeit. Es können mittels des ordre public vor allem drei Hauptfälle reguliert werden: wenn das Recht eines ausländischen Staates von völlig andersartigen ideologischen Grundlagen ausgeht, wenn es sich um eine korrupte ausländische Rechtsprechung handelt oder wenn die ausländische Justiz zu politischen Zwecken mißbraucht wird, die Richter politisch abhängig sind.“ Vgl. ferner Nagel, Die Berücksichtigung der Interessen der einzelnen Rechtsuchenden bei der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile, S. 43 (53). 57 Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Kodifikation des deutschen Internationalen Privatrechts, RabelsZ 47 (1983), S. 595 (675 f.): „Urteile einer parteiischen Justiz können nicht abgewehrt werden, ohne daß im konkreten Fall die Qualität des Verfahrens erörtert und am Maßstab des ordre public gemessen wird. Dies geschieht seit 40 Jahren bei der Anerkennung ausländischer Ehescheidungen, für die § 328 I Nr. 5 ZPO nicht gilt (Art. 7 § 1 I 2 FamRÄndG). Auch auf diesem Gebiet fehlt es nicht an Beispielen für parteiisches Verhalten der ausländischen Justiz. Die Erfahrungen aus 40 Jahren zeigen aber, daß die Anerkennungsinstanzen, ohne Aufsehen zu erregen, mit den Schwierigkeiten fertig werden. Das Institut plädiert deshalb dafür, gegen die Urteile einer parteiischen Justiz mit dem Mittel des ordre public einzuschreiten […].“ 58 Zu gerichtlichen Gegenseitigkeitserfordernissen vgl. Kapitel 1 – C.III (S. 17 ff.). 59 v. Bar, Theorie und Praxis des internationalen Privatrechts, Bd. II, Rn. 455: „Dagegen ist es inconsequent zu sagen: wir trauen dem auswärtigen Urtheile nicht und versagen ihm deshalb die Vollstreckbarkeit, und dann doch dies Vertrauen jedem Beliebigen zu 55 56

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solchen Rechtsordnungen treffen, so geschieht dies nur deshalb, weil der entsprechende Staat keine Inlandsurteile anerkennt – nicht aber, weil mit seiner Justiz etwas nicht stimmt.60 Entscheidungen aus nicht vertrauenswürdigen Staaten werden daher nur rein zufällig abgewehrt.61 Ihrer Konzeption nach lassen sich gerichtliche Gegenseitigkeitserfordernisse aber nicht dafür einsetzen, um solche Richtersprüche gezielt zurückzuhalten. In Anbetracht dieses klaren Befundes überrascht es, dass die Abwehr von Auslandsentscheidungen aus nicht vertrauenswürdigen Staaten einer der Normzwecke von § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO sein soll. Wenn diese Regelung als ein „erprobtes Instrument zur unauffälligen Abwehr von Entscheidungen aus Staaten mit dubioser Rechtspflege“62 charakterisiert wird, so suggeriert dies, dass mit dieser Vorschrift eine geheime Agenda verfolgt wird. Offiziell stellt man also auf mangelnde Gegenseitigkeit ab, insgeheim geben jedoch Bedenken hinsichtlich der Qualität der ausländischen Justiz den Ausschlag. Eine solche Vorgehensweise hat aus Sicht staatlicher Entscheidungsträger sicherlich einen gewissen Charme. Statt beispielsweise feststellen zu müssen, dass die ausländischen Gerichte von ihrer Regierung an der Leine geführt werden, kann man einfach darauf verwiesen, dass Zweifel an der Gegenseitigkeit bestünden. Das mag diplomatisch geschickt und politisch klug sein – es hat jedoch seinen Preis: Den der Intransparenz. Aus Sicht der EMRK ist ein solcher „verdeckter“ Einsatz von Gegenseitigkeitserfordernissen jedenfalls nicht zulässig. Wenn nämlich die Vertrauenswürdigkeit des ausländischen Justizsystems bei gerichtlichen Gegenseitigkeitserfordernissen in die Anerkennungsentscheidung einfließt, so geschieht dies praeter legem. Eingriffe in Konventionsrechte müssen jedoch auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen.63 Es besteht allerdings überhaupt keine Veranlassung dazu, Auslandsurteilen aus nicht vertrauenswürdigen Justizsystemen unter dem Vorwand mangelnder Gegenseitigkeit die Anerkennung zu gewähren, der unseren Einrichtungen Vertrauen schenken will.“ So auch Basedow, Gegenseitigkeit im Kollisionsrecht, S. 336 (346) und Süß, Die Anerkennung ausländischer Urteile, S. 229 (239). 60 Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Kodifikation des deutschen Internationalen Privatrechts, RabelsZ 47 (1983), S. 595 (675): „Qualität der Justiz und Verbürgung der Gegenseitigkeit liegen also auf ganz verschiedenen Ebenen.“ 61 Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Kodifikation des deutschen Internationalen Privatrechts, RabelsZ 47 (1983), S. 595 (675): „Wenn § 328 I Nr. 5 ZPO durch Zufall gelegentlich Urteile aus Ländern mit zweifelhafter Justiz trifft, so ist die Vorschrift deshalb doch nicht etwa ein rational eingesetztes Instrument zur Abwehr solcher Urteile.“ 62 So der damalige Unterabteilungsleiter im Bundesministerium der Justiz Arnold. Vgl. Basedow, Internationales Verfahrensrecht, S. 91 (101 f.); Basedow, Gegenseitigkeit im Kollisionsrecht, S. 335 (345 f.). 63 Zum Erfordernis einer gesetzlich vorgesehenen Grundlage (légalité) für Eingriffe in EMRK-Rechte vgl. Kapitel 6 – E.III.1 (S. 138).

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verweigern. Wie bereits aufgezeigt, existiert mit dem ordre public-Vorbehalt ein zielgenauer Abwehrfilter, der – anders als Gegenseitigkeitserfordernisse – die prozessuale Gerechtigkeit zum Kriterium hat.64 Es ist daher überhaupt nicht erforderlich, gerichtliche Gegenseitigkeitserfordernisse praeter legem anzuwenden. 3. Ergebnis Gerichtliche Gegenseitigkeitserfordernisse wie § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO eigenen sich ihrer Konzeption nach nicht dafür, um Urteile aus nicht vertrauenswürdigen Staaten abzuwehren. Werden sie aber dennoch hierfür eingesetzt, so erfolgt dies praeter legem. Es ist aber auch gar nicht nötig, ausgerechnet Reziprozitätserfordernisse zu bemühen, um solche Auslandsentscheidungen abzuwehren. Hierfür steht nämlich eine transparente, zielgerichtete und zudem individualrechtsschonendere Alternative zur Verfügung: Die ordre public-Kontrolle. IV. Gegenseitigkeit als Ziel an sich Nach der bisherigen Untersuchung lässt sich festhalten, dass Gegenseitigkeitserfordernisse wie § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO sich weder für die Liberalisierung der gegenseitigen Urteilsanerkennung eignen noch für die gezielte Abwehr nicht vertrauenswürdiger Entscheidungen. Die Gegenseitigkeit erfüllt somit keine der ihr zugedachten Rollen – weder die des Druckmittels noch die des Abwehrfilters. Alle Indizien weisen daher darauf hin, dass das Pochen auf Gegenseitigkeit andere Beweggründe hat, als offiziell genannt: Nämlich, dass es einem ausgeprägten Status- und Prestigedenken gegenüber ausländischen Staaten geschuldet ist.65 Dieses Prestigedenken gebietet, dass die Anerkennung fremder Hoheitsakte nur auf Augenhöhe infrage kommt. Fremde Urteile ohne entsprechendes Entgegenkommen zu vollstrecken ist demnach ehrenrührig. Dass sich der historische deutsche Gesetzgeber von solchen Motiven leiten ließ, zeigen Wortbeiträge in der Reichsjustizkommission, die sich um die „Ehre und Würde des Reiches“ sorgten.66 Im Hinblick auf die Liberalisierung der gegenseitigen Anerkennungspraxis ist ein solches Prestigedenken indifferent. Es begnügt sich allein mit der Herstellung von Augenhöhe gegenüber ausländischen Staaten. Ob sich diese 64 Zum ordre public-Vorbehalt als Abwehrfilter gegenüber Urteilen aus Justizsystemen mit schweren systemischen Mängeln vgl. Kapitel 10 – B.III.1 (S. 211 ff.). 65 Hepting, Die Gegenseitigkeit im Internationalen Privatrecht und Internationalen Zivilprozessrecht, S. 252: „Andere Schutzgüter als das staatliche Prestige lassen sich nicht feststellen.“ 66 Zur Entstehungsgeschichte des deutschen Gegenseitigkeitserfordernisses vgl. Kapitel 2 – B (S. 32 ff.).

C. Gesamtergebnis

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Augenhöhe in einer positiven oder negativen Anerkennungspraxis niederschlägt, ist ihm letztlich gleichgültig. Die Gleichheit mit dem Urteilsstaat wird dadurch zum Ziel an sich.67 Aus der Indifferenz eines solchen Prestigedenkens folgt, dass es als illegitim zu bewerten ist. Bloßes staatliches Prestige reicht nämlich für die Einschränkung individueller Rechtspositionen nicht aus.68 Kein Staat sollte „die gerechten Belange des Einzelnen auf dem Altar der Würde des Staates opfern.“69 Aus Sicht der EMRK gilt zudem: Nicht das Streben nach unreflektierter nationaler Grandeur verleiht einem Staat Prestige, sondern die Sorge um das Wohlergehen seiner Bürger.70

C. Gesamtergebnis

C. Gesamtergebnis

Gegenseitigkeitserfordernisse stellen einen unzulässigen Eingriff in konventionsgeschützte Rechte privater Urteilsgläubiger dar. Das Sonderopfer, das sie ihnen auferlegen, lässt sich nicht rechtfertigen. Gegenseitigkeitserfordernisse halten nämlich einer rationalen Überprüfung nicht stand. Sie haben sich als weitgehend ungeeignet erwiesen, um die Herstellung einer gegenseitigen Anerkennungspraxis zu erreichen. Weil sie zudem konzeptionell dafür ungeeignet sind, besteht keine Hoffnung auf Besserung. Möchte man auf ein Druckmittel gegenüber anerkennungsunwilligen Staaten partout nicht verzichten, so steht hierfür mit der Retorsion eine mildere Alternative zur Verfügung. Ferner eignen sich gerichtliche Gegenseitigkeitserfordernisse, die ja allein auf das Vorliegen einer positiven Anerkennungspraxis im Urteilsstaat abstellen, auch nicht zur Abwehr von Urteilen aus nicht vertrauenswürdigen Justizsystemen. Reziprozitätsvorbehalte sind daher allein dem instinktiven Streben nach Augenhöhe mit dem Ausland geschuldet. Dieses Streben begreift die Gegenseitigkeit als Wert an sich, die Gleichbehandlung mit anderen 67 Süß, Die Anerkennung ausländischer Urteile, S. 229 (234 f.): „Bei der Gegenseitigkeit liegt dagegen der Nachdruck lediglich auf der Herstellung eines gleichen Zustandes (Gleichheitsidee im Recht), wobei nicht unbedingt ein Interesse zu bestehen braucht, den Zustand zu ändern.“ 68 Hepting, Die Gegenseitigkeit im Internationalen Privatrecht und Internationalen Zivilprozessrecht, S. 252: „Doch ist das einzige Schutzgut des § 328 I Nr. 5 nicht einmal schutzwürdig. Es ist nur das nationale Prestige, also ein staatliches Interesse, das das Eingreifen einer speziellen Vorbehaltsklausel nicht rechtfertigt. Seit der Überwindung der Comitas-Lehre durch ein universalistisches, privatorientiertes Kollisionsrecht ist anerkannt, daß ja gerade Gesichtspunkte der Souveränität und des Prestiges keine Rolle mehr spielen.“ 69 Nagel, Die Berücksichtigung der Interessen der einzelnen Rechtsuchenden bei der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile, S. 43 (53). 70 Zum besonderen Charakter der EMRK als Menschenrechtsvertrag vgl. Kapitel 6 – A (S. 123 f.).

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Kapitel 10 – Vereinbarkeit mit den Vorgaben der EMRK?

Staaten erreicht und dadurch nationales Prestige vermittelt. Ein solches Streben nach Gleichbehandlung verfolgt aber keinen legitimen Zweck. Es lässt sich folglich kein einziges legitimes Ziel benennen, das Gegenseitigkeitserfordernisse auf geeignete und verhältnismäßige Art verfolgen würden. Das Erfordernis der Gegenseitigkeit ist daher konventionswidrig.

Fazit Fazit

Fazit

Das Internationale Zivilverfahrensrecht steht unter dem zunehmenden Einfluss grund- und menschenrechtlicher Wertungen. Katalysator dieser Entwicklung ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, durch welche die Interessen von Rechtsschutzsuchenden eine menschenrechtliche Aufwertung erfahren haben. Mit dieser Aufwertung geht eine Erosion bisher als feststehend geglaubter Grundsätze einher. Das gilt vor allem für den Grundsatz, dass jeder Staat frei sei, die Anerkennung und Vollstreckung eines ausländischen Urteils zu verweigern. Für die Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention hat sich dieser Grundsatz in sein Gegenteil verkehrt: Sie müssen ausländische Urteile grundsätzlich achten und durchsetzen. Diese Anerkennungspflicht bedeutet nichts weniger als einen kolossalen Wandel der Prämissen, die dem autonomen Anerkennungsrecht zugrunde liegen. Gegenseitigkeitserfordernisse müssen vor diesem Hintergrund neubewertet werden. Waren sie nämlich in einem durch die Staatssouveränität determinierten Anerkennungsrecht hinzunehmen, bedürfen sie nunmehr einer Rechtfertigung. Insbesondere müssten sie einer Rationalitätskontrolle im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung standhalten. An dieser Hürde scheitern Gegenseitigkeitserfordernisse. Sie sind nämlich konzeptionell ungeeignet, die Ziele zu erreichen, denen sie dienen sollen: Weder können sie eine gegenseitige Anerkennungspraxis herstellen noch können sie nicht vertrauenswürdige Urteile abwehren. Gegenseitigkeitserfordernisse wie § 328 Abs. 1 Nr. 5 ZPO sind daher konventionswidrig.

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240

Rechtsprechungsverzeichnis

EGMR, Urteil vom 11.7.2002, Nr. 28957/95 (Christine Goodwin ./. Vereinigtes Königreich) .....................................................................................129, 136 EGMR, Urteil vom 24.6.2003, Nr. 44277/98 (Stretch ./. Vereinigtes Königreich) .............................................................................................................. 179 EGMR, Entscheidung vom 6.5.2004, Nr. 70807/01 (Hussin ./. Belgien)......................... 187 EGMR, Urteil vom 22.6.2004, Nr. 78028/01 und 78030/01 (Pini u.a. ./. Rumänien) ..................................................................................................... 184 EGMR, Urteil vom 28.9.2004 [Große Kammer], Nr. 44912/98 (Kopecký ./. Slowakei) .............................................................................................. 179 EGMR, Urteil vom 24.5.2005, Nr. 61302/00 (Buzescu ./. Rumänien) ......................179–180 EGMR, Urteil vom 30.6.2005 [Große Kammer], Nr. 45036/98 (Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim Şirketi ./. Irland) ...................................................................................................................... 120 EGMR, Urteil vom 31.10.2006, Nr. 41183/02 (Jeličić ./. Bosnien und Herzegowina) ............................................................................................ 144, 183, 185 EGMR, Urteil vom 10.4.2007, Nr. 6339/05 (Evans ./. Vereinigtes Königreich) .............................................................................................................. 175 EGMR, Urteil vom 28.6.2007, Nr. 76240/01 (Wagner und J.M.W.L. ./. Luxemburg) ................................................................................116, 170–171, 174–176 EGMR, Urteil vom 15.1.2008, Nr. 2269/06, 3041/06, 3042/06, 3043/06 und 3046/06 (R. Kačapor u.a. ./. Serbien) ................................................... 178 EGMR, Entscheidung vom 29.4.2008, Nr. 18648/04 (McDonald ./. Frankreich) ................................................................................... 3, 146, 148–151, 184 EGMR, Urteil vom 4.11.2008, Nr. 6152/02 (Dinu ./. Rumänien und Frankreich) .............................................................................................................. 184 EGMR, Urteil vom 18.12.2008, Nr. 69917/01 (Saccoccia ./. Österreich) ........................................................................................................184–185 EGMR, Urteil vom 17.12.2009, Nr. 19359/04 (M ./. Deutschland) ................................ 129 EGMR, Urteil vom 1.4.2010, Nr. 32540/05 (Vrbica ./. Kroatien) ........................................................... 144, 148, 178, 183, 184–186 EGMR, Urteil vom 20.4.2010, Nr. 12312/05 (Kin-Stib und Majkić ./. Serbien) .................................................................................................................... 181 EGMR, Urteil vom 3.5.2011, Nr. 56759/08 (Négrépontis-Giannisis ./. Griechenland) ........................................................................................... 183, 186–188 EGMR, Urteil vom 22.3.2012, Nr. 30078/06 (Konstantin Markin ./. Russland) ................................................................................................................. 129 EGMR, Urteil vom 31.7.2012, Nr. 40358/05 (Sholokhov ./. Armenien und die Republik Moldawien) ................................................. 3, 100, 147, 148–151, 184 EGMR, Urteil vom 19.2.2013 [Große Kammer], Nr. 19010/07 (X u.a. ./. Österreich) ........................................................................................................... 130 EGMR, Urteil vom 26.6.2014, Nr. 65192/11 (Mennesson ./. Frankreich) ........................................................................ 117, 129, 171–172, 174–176 EGMR, Urteil 23.5.2016 [Große Kammer], Nr. 17502/07 (Avotiņš ./. Lettland)................................................................................................................... 120 EGMR, Urteil vom 24.1.2017 [Große Kammer], Nr. 60367/08 und 961/11 (Khamtokhu und Aksenchik ./. Russland) ....................................................... 137 EGMR, Urteil vom 24.1.2017 [Große Kammer], Nr. 25358/12 (Paradiso und Campanelli. ./. Italien)................................................................172–176

Rechtsprechungsverzeichnis

241

EGMR, Urteil vom 25.7.2017, Nr. 69997/10 und 74793/11 (Panorama Ltd und Miličić ./. Bosnien und Herzegowina)............................................ 144, 178, 181 EGMR, Urteil vom 15.3.2018 [Große Kammer], Nr. 51357/07 (NaïtLiman ./. Schweiz)......................................................................................109, 135, 193 EGMR, Urteil vom 20.3.2018 [Große Kammer], Nr. 37685/10 und 22768/12 (Radomilja u.a. ./. Kroatien) ...................................................................... 180 EGMR, Urteil vom 16.10.2018, Nr. 21623/13 (Könyv-Tár Kft u.a. ./. Ungarn) ............................................................................................................ 178, 180 EGMR, Urteil vom 4.12.2018 [Ausschuss], Nr. 43301/07 (Lvin ./. Russland).................................................................................................................. 144 EGMR, Urteil vom 13.12.2018, Nr. 67944/13 (Casa di Cura Valle Fiorita S.r.l. ./. Italien) ............................................................................................. 144 EGMR, Advisory Opinion vom 10.4.2019 [Große Kammer], Nr. P-16– 2018-001 .......................................................................................................... 173–174

Deutschland RG, Urteil vom 29.1.1883, Rep. I 472/82 – RGZ 8, 385 [Schweden] ......................... 35, 42 RG, Urteil vom 19.5.1882, Rep. III. 597/81 – RGZ 7, 406 (413) [England].................................................................................................................... 40 RG, Urteil vom 26.3.1909, Rep. VII 550/08 – RGZ 20, 434 (437) [Kalifornien]......................................................................................................... 37, 40 RG, Urteil vom 22.11.1895, Rep. II 210/95 – RGZ 36,381 [Frankreich] .......................... 34 RG, Urteil vom 15.6.1898, Rep. I 199/98 – RGZ 41, 424 [Österreich] ............................. 37 RG, Urteil vom 8.2.1924, VI 332/23 – RGZ 107, 308 [Zürich] ........................................ 37 RG, Urteil vom 10.12.1926, VI 344/25 – RGZ 115, 103 [Schaffhausen] ............................................................................................................ 37 BVerfG, Beschluss vom 30.4.1963 – 2 BvM 1/62 .......................................................... 114 BVerfG, Beschluss vom 4.5.1971 – 1 BvR 636/68 ........................................................... 43 BVerfG, Beschluss vom 12.4.1983 – 2 BvR 678/81 ....................................................... 111 BGH, Urteil vom 30.9.1964 – VIII ZR 195/61 ................................................................. 37 BGH, Urteil vom 15.11.1967 – VIII ZR 50/65 ........................................................... 38, 39 BGH, Urteil vom 9.3.1976 – VI ZR 98/75 ..................................................................... 155 BGH, Urteil vom 2.7.1991 – XI ZR 206/90.................................................................... 110 BGH, Urteil vom 29.4.1999 – IX ZR 263/97............................................. 18, 201, 206, 209 BGH, Urteil vom 24.10.2000 – XI ZR 300/99 ............................................................ 38, 39 BGH, Beschluss vom 14.11.2018 – XII ZB 292/16 ........................................................ 118 OLG Bamberg, Beschluss vom 12.5.2016 – 2 UF 58/16 ................................................ 118 OLG Colmar, Urteil vom 4.3.1904................................................................................... 38 OLG Hamburg, Urteil vom 13.7.2016 – 6 U 152/11 ................................................... 26, 40 LG Saarbrücken, Urteil vom 16.4.2021 – 5 O 249/19 ..................................................... 210 LG Wiesbaden, Urteil vom 2.3.2017 – 14 O 3/16 ..................................................... 26, 156

England Alves v Bunbury (1814), 4 Camp. 28 ................................................................................ 58 Godard v Gray (1870), L.R. 6 QB 139 ....................................................................... 59, 62 Hughes v Cornelius (1680), 2 Show.K.B. 232 .................................................................. 55 Jurado v Gregory (1669), 2 Keb. 511 .............................................................................. 55

242

Rechtsprechungsverzeichnis

Mostyn v Fabrigas (1774), 1 Cowp. 161 (98 Eng. Rep. 1021) .................................... 52–53 Roach v Garvan (1748), 1 Ves.Sen. 157 .................................................................... 56–57 Robinson v Bland (1760), 96 Eng. Rep. 129 (K.B. 1760) ................................................. 57 Russell v Smyth (1842), 9 M.&W. 810 ....................................................................... 59, 60 Schisby v Westenholz (1870), L.R. 6 Q.B. 155 ................................................................. 59 Walker v Witter (1778), 1 Doug. K. B. 1 .......................................................................... 60 Ward’s case (1625), Latch 3, 82 Eng. Rep. 245 ............................................................... 52 Wier’s case (1607), 1 Rolle, Abridgment 530, B 12 ................................................... 53–55 Williams v Jones (1845), 13 M.&W. 628 ................................................................... 59–60 Wright v Simpson (1802), 6 Ves.Jr. 714 ........................................................................... 57

USA Erie Railroad Co. v Tompkins (1938), 304 U.S. 64 .................................................... 71–72 Hilton v Guyot (1895), 159 U.S. 113 .............................................................. 11, 69–71, 77 Johnston v Compagnie Générale Transatlantique (1926), 242 N.Y. 381. ............................................................................................................. 71 Kiobel v Royal Dutch Petroleum Co. (2013), 133 S. Ct. 1659 .................................111–112 Sosa v Alvarez-Machain et al. (2004), 542 U.S. 692 ...................................................... 112

Kanada Beals v Saldanha (2003), 3 SCR 416 ............................................................................... 80 Morguard Investments Ltd v De Savoye (1990), 3 SCR 1077 ..................................... 79–80 Pro Swing Inc v Elta Golf Inc (2006), 2 SCR 612 ...................................................... 80–81

Frankreich Cour de Cassation (1e ch. civ.), Entscheidung vom 7.1.1964 (Munzer) ............................. 48 Tribunal civil de la Seine (4e ch.), Entscheidung vom 2.4.1931 ...............................108–109

Russland Oberstes Wirtschaftsgericht, Beschluss vom 7.12.2009, Nr. VAS13688/09 zum Az: A41-9613/09 ................................................................................. 97

Sachverzeichnis

Sachverzeichnis Sachverzeichnis action on the foreign judgment 65, 67 Administration of Justice Act 1920 66–67 advisory opinion 173–174 Albanien 87 Alien Tort Claims Act 111–113 American Law Institute 17–18, 75–77, 201–202 Anerkennung − Adoption 116–117, 170–171, 173–174, 186–188 − Bereitschaft 191–192 − Leihmutterschaft 116–117, 171–174 − Pflicht 53–57, 146–148, 191–193 − Praxis 16–17, 18, 20, 26, 39–41, 47–49 − Verbot 145, 192 Anerkennungs- und Vollstreckungsabkommen 15, 31, 46–47, 66, 84, 93–94, 200, 203–204, 212 assertio reciproci 10–11 Ausland − Adoption 116–117, 170–171, 173–174, 186–188 − Beweis 153–154 Auslegung − autonome 132–133, 177–178 − dynamische 134, 137 − effektive 133–134, 155, 189 − rechtsvergleichende 134–136, 139, 171, 193, 198, 209 Belgien 88–89 Beschwerde − Individual 127–128 − Staaten 125 Beweislast 18–19, 202, 209–210 Bittbriefe 10–11 Bosnien und Herzegowina 87–88 Brexit 46, 66 Brüssel Ia-Verordnung 99, 110–111, 162

Bulgarien 87 Code Michaut 11–12, 55, 85, 90, 191 comitas gentium 12, 57–58, 68, 69–70, 97, 166 comity-Doktrin 57–58, 69–70, 77, 79, 97 Dänemark 15, 84 déni de justice 53, 105, 108–109, 121, 152, 153, 157 Deutschland 17, 23, 29–49, 85–86, 200, 201, 203–204, 205–206, 209–210, 211, 214–216 doctrine of obligation 40, 59–62, 68, 163, 199 Eigentumsgarantie 176–188 England siehe Vereinigtes Königreich erga omnes-Wirkung 63, 125–126 Estland 87 Exequaturverfahren 65, 90–91, 119–120, 147, 185 exorbitante Gerichtsstände 109–111 European consensus 134–136, 137–138 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 128–130 Europäische Menschenrechtskonvention − Auslegungsgrundsätze 130–136 − Auswahlcharakter 161 − Regelungsgegenstand 123–125 − Präambel 159–162 EU-Beweisaufnahmeverordnung 154 EU-Zahlungsverzugsrichtlinie 155 federal common law 71–72 Finnland 15, 84 Foreign Judgments (Reciprocal Enforcement) Act 1933 66–67 forum necessitatis 105, 152

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Sachverzeichnis

Frankreich 11–12, 88–89, 90–91 Fremdenrecht 106–108, 109 full faith and credit 79–80, 161–162

Kontrolldichte siehe margin of appreciation Kroatien 87–88

Gegenseitigkeit − partielle 38 − Tatbestandsmerkmal 36–38 − Verbürgung 39–42 Gegenseitigkeitserfordernisse − administrative 16–17, 85–86, 204–205, 212–213 − gerichtliche 17–19, 47–48, 85–86, 201– 204, 205–206, 214–216 − Kritik 24–26, 43 − Motive 19–24, 45 − staatsvertragliche 13–14, 15–16, 84–85, 96–98, 204–205, 211–213 − Verfassungswidrigkeit 43 Gefangenendilemma siehe prisoner’s dilemma gesetzliche Grundlage 138, 215–216 Golder 131, 142–143 Groupe européen de droit international privé 99–100, 102

Liechtenstein 16–17, 86, 212 litterae mutui compassus siehe Bittbriefe legitimites Ziel 138–139, 198–199 Leihmutterschaft 116–117, 171–174 Lettland 87 Litauen 87 Luxemburg 88–89

Haager Beweisaufnahmeübereinkommen 154 Hilton v Guyot 11, 69–71 Hornsby 143–144, 149, 187 in dubio mitius 131–132 Internationales Privatrecht 43, 106, 120– 121 Internationales Zivilverfahrensrecht 105– 108, 120–121, 207–208 internationale Zuständigkeit 63, 80, 106, 108–113 Institut de Droit International 100–101, 102 IPR-Reform 1986 18–19, 43–45, 206, 211 Italien 89 Island 15, 84 ius gentium 53–55, 57–58, 68 Kanada 78–81 Kinderehe 117–118 Kollisionsrecht siehe Internationales Privatrecht

margin of appreciation 136–138, 139, 175, 192–193 Max-Planck-Institut für ausländisches und interntionales Privatrecht 18–19, 44–45 Mazedonien 87–88 McDonald 146–147, 148, 149–150 Mennesson 117, 171–172, 173–174 Menschenrechte − Einfluss 100, 108–120 − Wirkweise 120–121 money judgments 38, 60, 64, 78, 80–81 Montenegro 87–88 Munzer 48, 91 Mühewaltung, eigene 155 Naturrecht 12, 54–55, 57–58, 68, 69, 165–166 non liquet 18, 209–210 Nordische Konventionen 15, 84 Norwegen 15, 84 ordre public 64, 91, 117, 156–157, 172, 186, 213–214, 216 öffentliche Ordnung siehe ordre public Österreich 16–17, 86 Partikularrecht 29–31 Pellegrini 145, 148, 187, 192 Polen 87, 92–94, 101 Portugal 89 Prestigegründe 22–23, 35, 216–217 Prisoner’s dilemma 8–9 public policy siehe ordre public punitive damages 75–76

Sachverzeichnis Recht − auf Achtung des Privat- und Familienlebens 169–176 − auf angemessene Verfahrensdauer 156– 157 − auf Beweis 153–154 − auf grenzüberschreitende Durchsetzung endgültiger Gerichtsentscheidungen 100–101, 148–151, 191–193 − auf Vollstreckung 143–144, 149 − auf Zugang zu Gericht 142–143 Rechtfertigung (von Eingriffen) − gesetzliche Grundlage 138 − legitimes Ziel 138–139 − Verhältnismäßigkeit 139–140, 193 Rechtschutzeffektivität 151–158, 213– 214 Rechtshilfe 10–11, 29–30, 31, 32–34, 106, 153–154 Rechtspositivismus 57–58, 69 Rechtsunsicherheit 26 Rechtsverweigerung siehe déni de justice Repressalie 13 Restatement of the Law 73–74 Retorsion 13, 19, 32–33, 71, 197, 205– 208 révision au fond 18–19, 41, 44, 48, 65, 88, 90–91, 101 reziproke Verhaltensstrategie 7–9, 20 Reziprozitätsvorbehalt siehe Gegenseitigkeitserfordernis Rumänien 87 Russland 13–14, 15, 40, 84–85, 96–98, 101–102 Schutz

− eigener Autorität 22–23 − inländischer Wirtschaft 22 − von Inländern 20–21, 34–35

Schweden 15, 84 Schweiz 86, 101 Sholokhov 100–101, 147–148, 149

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Slowakei 87 Slowenien 18, 87–88, 201, 207 Souveränität 11–12, 62, 68, 69, 127, 132, 140, 158, 163–165 Spanien 89, 91–92, 101 Spieltheorie 7–9, 33, 201 Staatenimmunität 113–116 Staatsvertragsvorbehalt 13–14, 15–16, 66, 84–85, 91, 93–94, 96, 98, 101–102, 204–205, 211–213 Statusentscheidung 42–43, 71, 84, 116– 118, 163–164, 170–176 Struck’mannscher Antrag 32–35 systemic lack of due process 213–214 Territorialität 61, 165–166 tit for tat 9, 44, 201, 202, 206 Tschechien 19, 35, 87, 94–95, 207 Ungarn 87 uniform laws 72–73 Urteile − auf Zahlung siehe money judgments − aus Drittstaaten 99–100, 150, 160 − in personam 63 − in rem 63, 71 − statusrechtliche 42–43, 71, 84, 116–118, 163–164, 170–176 USA siehe Vereinigte Staaten von Amerika Vereinigte Staaten von Amerika 68–77 Vereinigtes Königreich 51–68 Verhältnismäßigkeit 139, 193 Verjährung 157 Völkerrecht 13–14, 33–34, 111–116, 127–128 völkerrechtlicher Vertrag 14, 15–16, 39, 97–98, 127 Zweck siehe legitimes Ziel