Ursachen und Verlauf der deutschen Revolution 1989 [2 ed.] 9783428476657, 9783428076659

Der Siegeszug des Marxismus begann in Deutschland 1890, als der Parteitag der damaligen »Sozialistischen Arbeiterpartei«

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German Pages 189 Year 1993

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Ursachen und Verlauf der deutschen Revolution 1989 [2 ed.]
 9783428476657, 9783428076659

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Ursachen und Verlauf der deutschen Revolution 1989

SCHRIFTENREIHE DER GESELLSCHAFT FÜR DEUTSCHLANDFORSCHUNG BAND33

Ursachen und Verlauf der deutschen Revolution 1989

Herausgegeben von

Konrad Löw

Zweite, unveränderte Auflage

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Ursachen und Verlauf der deutschen Revolution 1989 I hrsg. von Konrad Löw. - 2., unveränd. Aufl. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993. (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung ; Bd. 33) ISBN 3-428-07665-6 NE: Löw, Konrad [Hrsg.]; Gesellschaft für Deutschlandforschung: Schriftenreihe der Gesellschaft ...

Unveränderter Nachdruck der 1991 erschienenen I. Auflage Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Gennany ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-07665-6

INHALT Vorwort . . . . . .

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Herbert Wagner Die Novemberrevolution 1989 in Dresden. Ein Erlebnisbericht

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Bernward Baule "Wir sind das Volk!" Politische Bedingungsfelder der Freiheitsrevolution in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gerhard Wettig Die Rolle der UdSSR bei der Vereinigung Deutschlands

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Jens Motschmann Evangelische Kirche und Wiedervereinigung

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Hans-Peter Müller Die "Oktoberrevolution" und das Ende der FDGB

85

Manfred Wilke Die bundesdeutschen Parteien und die demokratische Revolutio n in der DDR- oder: Die Bewährung des demokratischen Kernstaats

1OS

Konrad Löw Die bundesdeutsche politikwissenschaftliche DDR-Forschung und die Revolution in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ursula Jaekel 40 Jahre Staatssicherheit - Ziele, Tätigkeit, Auswirkungen . . . . . . . .

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Heidrun Katzorke Das sozialistische Bildungskonzept und seine Durchsetzung im Hochschulwesen der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

159

Fritz Schenk Die Hypotheken des gescheiterten Sozialismus

177

Die Verfasser . . . .. . . ... ... . ..... .. .. .

187

VORWORT Am 1. Juli 1840, also vor 150 Jahren, fand in Belleville bei Paris das erste "Kommunistische Bankett" statt. Bereits in der Enzyklika "Qui pluribus" vom 9. November 1846 nennt Pius IX. den Kommunismus eine "abscheuliche und dem Naturrecht selbst aufs höchste widersprechende Lehre". Ähnlich dachten die Autoren des liberalen "Staatslexikon" von Rotteck und Welcker. Dort ist von einem "drohenden Gespenst" die Rede, ein Bild, das Marx und Engels im ersten Satz des "Kommunistischen Manifests" verwendet haben. Es erschien im Februar 1848. Wer aber glaubt, damals habe eine nennenswerte kommunistische Partei bereits bestanden oder ihre Geburtsstunde erlebt, kennt diesen Abschnitt der Geschichte nicht. Marx selbst war es, der das Manifest kurz nach dem Erscheinen der ersten Auflage in der Schublade verschwinden ließ, als er erkannt hatte, daß die Zeit für die Verbreitung kommunistischer Ideen noch nicht reif sei. Der Siegeszug des Marxismus begann in Deutschland erst 1890, als der Parteitag der SPD, die damals noch Sozialistische Arbeiterpartei hieß, Karl Marx zu "unserem großen Führer" 1 ernannte. Im Herbst 1917 gelang Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, und seinem Anhang die Machtergreifung. Damit war das Eis gebrochen. 1918 gab es eine kommunistische Partei mit 400 000 Mitgliedern , eben die russische, 1928, nur 10 Jahre später, bereits 46 kommunistische Parteien mit 1,7 Millionen , 1980 92 Parteien mit 75 Millionen Mitgliedern. Von diesen Parteien waren 23 an der Macht, beherrschten ein Drittel der Menschheit und ein Viertel der Erdoberfläche. Ein Triumph - ohnegleichen in der Weltgeschichte -, eine scheinbar unaufhaltsame Bewegung unter dem blutroten Banner. Nach dem Selbstverständnis der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der Staatspartei der Deutschen Demokratischen Republik, war dieser sozialistische Staat auf dem Weg in den Kommunismus. Nur wenn wir uns vergegenwärtigen, daß zu Beginn der 80er Jahre niemand laut zu hoffen wagte, was am Ende dieser Dekade schon fast als kalter Kaffee genossen wird, können wir das Ausmaß der Umwälzungen halbwegs richtig einschätzen. Die Existenzkrise des Kommunismus ist unbestreitbar. Ob dem Kommunismus bald die Sterbeglocke geläutet werden kann , hängt nicht zuletzt von 1

Protokoll des Parteitages zu Halle 1890, Berlin 1890, S. 41.

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Vorwort

den Ursachen ab, die zu "Stagnation und Fäulnis" des Kommunismus geflihrt haben, "Stagnation und Fäulnis" eine Diagnose Lenins aus dem Jahre 1916, gestellt natürlich nicht mit Blick auf den Kommunismus, sondern den Kapitalismus.2 Um Ursachen und Verlauf dieser Revolution in Deutschland ging es auf der Tagung der Gesellschaft für Deutschlandforschung, die am 9. und 10. November 1990 in Bayreuth stattfand. Wohl niemand hat ernsthaft erwartet, daß dabei dieses weite Feld voll ausgeleuchtet werden könnte. Jahrzehnte dürften vergehen, bis ein annähernd vollständiges Bild dieses Ursachenknäuels aus Ereignissen, Ideen, Emotionen und Entwicklungen entstanden sein wird. Mosaiksteinehen zu sammeln und zu sichten, war die Absicht der Veranstalter. Der Westen hat -aufs Ganze gesehen - den revolutionären Prozeß, von dem hier die Rede ist, nicht absichtlich begünstigt, Destabilisierung vielmehr ausdrücklich abgelehnt. Auch diese Verhaltensweise kam in mehreren Referaten -aus verschiedenen Warten- eindringlich zur Sprache. Ein Teil der Referenten ist seit Geburt im Bereich der Bundesrepublik wohnhaft. Andere haben die DDR schon vor Jahrzehnten Richtung Westen verlassen. Wieder andere, nämlich Wagner, Katzorke und Jaekel, waren stets "Bestandteile des Staatsvolks der DDR". Beitragssammlungen widersetzen sich zumeist einer streng stringenten GlieDas Arrangement entspricht einer gedanklichen Abfolge, die bei den Ereignissen im Herbst 1989 ihren Ausgang nimmt und sich mehr und mehr den historischen Hinterlassenschaften der SED-Diktatur zuwendet. d~rungssystematik.

2

Wladimir Iljitsch Lenin, "Werke", 40 Bde., Berlin (Ost) 1958 ff., 22, 280.

Herbert Wagner DIE NOVEMBERREVOLUTION 1989 IN DRESDEN

Ein Erlebnisbericht L Vorgeschichte

In der DDR hatten sich die Zustände vor dem Herbst 1989 so zugespitzt, daß die Menschen sagten: Es geht einfach nicht mehr so weiter. Das gesellschaftliche Leben drehte sich nur noch im Kreise. In den Betrieben wurde wenig Niveauvolles produziert - man war oftmals nur anwesend. Die Gespräche der Bürger drehten sich um die alltäglichen Sorgen der Mangelwirtschaft. Vieles lief nur über "Beziehungen", wie beispielsweise der Erwerb eines "Trabant" oder einer Wohnung. In dieser wirtschaftlichen Krisenlage stauten sich Wut und Zorn gegenüber den staatlichen Machthabern in besonderer Weise an. Hoffnungslosigkeit und Zukunftsängste breiteten sich aus. Viele Menschen zogen die flir sie einzig mögliche Konsequenz und stellten einen Antrag auf Ausreise aus der DDR. Allein 1984 reisten 80 000 Bürger aus - wohlgemerkt nur jene mit offizieller Billigung der SED-Führung -,also eine Größenordnung etwa wie die Einwohnerzahl Bayreuths. Für alle, die blieben, hinterließ diese Abwanderung liicken, einen bitteren, rauben Beigeschmack. Die Ausgereisten resümierten unter Freunden und Bekannten : Ich habe nur ein Leben! Aberwas blieb den Dagebliebenen? Etwa eine Nische? Für viele war dies zu wenig; sie suchten nach Auswegen. Für mich bot sich der Bereich der Kirche, insbesondere der konziliare Prozeß; hier ging es ja um Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. In solchen Gruppen in Dresden fühlte ich mich zu Hause. In meiner politischen Arbeit ging es mir darum, beispielsweise die totale Ideologisierung in den allgemeinbildenden Schulen aufzubrechen. Wir druckten verschiedentlich Texte mit dem Inhalt: Befreiung der Blockparteien aus dem Würgegriff der SED! Und waren stolz auf ihr Erscheinen. So bildete sich bei mir Schritt flir Schritt die Meinung heraus, es müsse in der DDR unbedingt Veränderungen geben. Ich hatte im September 1989 etwa folgenden Standpunkt: 1. Der Schlüssel zur Überwindung der Krise in der DDR ist die Wahrheit. Es bedarf wahrhaftiger Menschen. 2. Das Ziel aller Aktionen lautet: mehr Gerechtigkeit.

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Herbert Wagner

3. Die Methode, miteinander umzugehen, muß die liebe sein, auch dem politischen Gegner gegenüber. Mir war bekannt, daß auch andere Gedanken in den Köpfen kursierten, Aktivitäten nach dem Muster der IRA - also Attentate und Anschläge. All das schloß ich gegenüber meinem politischen Gegner aus. In dieser Zeit der Suche nach dem richtigen Weg erschien der bekannte Aufruf des "Neuen Forum". Als Handreichung in einer Mappe versteckt, wurde dieser Aufruf in den Betrieben heimlich weitergereicht. Auch ich erfuhr auf diesem Wege von seinem Inhalt. Es ging letztlich darum, daß alle Menschen guten Willens sich zusammensetzen und über die angestauten Probleme reden sollten. Diesem Aufrufwar eine Unterschriftenliste angehängt, in der sich bis dahin noch niemand unterschriftlich eingetragen hatte. Solche Unterschriften mit Adresse waren eine ftir den Unterzeichner äußerst gefährliche Sache, weil davon auszugehen war, daß die Stasi so oder so davon Kenntnis erhalten wird. Schließlich unterschrieb ich als erster und gab die Handreichung in meinem Betrieb weiter. Binnen kurzer Zeit war die Seite voller Unterzeichner. Ich brachte unsere Willenserklärung für das "Neue Forum" zu einer mir bekannten Kontaktadresse. Alle diese Unterschriftslisten wurden als Zeugnis und Votum ftir das "Neue Forum" nach Berlin gebracht und der Gruppe um Bärbel Bohley übergeben. Nach meiner Kenntnis sollen es damals Hunderttausende Unterschriften gewesen sein.

U. Revolution in Dresden Am 4. Oktober rollte die Flüchtlingswelle von DDR-Bürgern aus der Prager Botschaft auf vollen Touren. Der Deutschlandfunk hatte minuziös genau die Zugabfahrtszeiten und Haltestationen durchgesagt, so daß vorab bekannt war, wann diese Transporte im Dresdner Hauptbahnhof einlaufen würden. Die Ausreisewilligen aus Dresden und der ganzen Republik sahen in diesem Zug aus Prag ihre letzte Chance ftir ein rasches Verlassen der DDR. Die Gefahr einer "chinesischen Lösung" bestand weiter fort. Die auf dem Bahnhof Versammelten riefen: "Wir wollen raus!'' Das gesamte Bahnhofsgelände war hermetisch von Polizei umstellt und abgeriegelt. Viele der Polizisten waren jedoch ansprechbar, diskutierten teilweise mit ihrem Gegenüber. Es handelte sich zum Teil um Wehrpflichtige, die den Eindruck von Unsicherheit hinterließen.

Plötzlich ertönten Rufe wie "Ihr seid ja wie die Nazis!" Die Situation spitzte sich zu, die Spannungen eskalierten. Aus der aufgebrachten Menge flogen Pflastersteine in Richtung der Polizeikette. Die Sicherheitskräfte reagierten mit einem massiven Einsatz von Wasserwerfern und gingen brutal mit Schlagstöcken vor. Ein Polizeiauto geriet in Brand. Ein Teil der Ausreisewilligen, manche einen Kinderwagen vor sich herschiebend, strömten auf den Gleiskörper dem aus

Die Novemberrevolution 1989 in Dresden

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Prag zu erwartenden Zug entgegen, um ihn zum Halten zu bringen. Eine über zwölfstündige Zugverspätung sowie harter Polizeieinsatz ließen - wie bereits gesagt - die Wogen der Gewalt hochschlagen. Das war der 4. Oktober 1989; gewaltsame Auseinandersetzungen auf dem Dresdner Hauptbahnhof; Gewalt von beiden Seiten. Am 5. Oktober 1989 versammelten sich erneut Ausreisewillige und skandierten: "Wir wollen raus!" Andere wiederum riefen: "Wir bleiben hier!" Das war eine völlig neue Situation; das war die Wende. Die Demonstrationen verlagerten sich in das Stadtzentrum. Ausreisewillige besetzten drei Kirchen: die Annenkirche, die Kreuzkirche und die Kathedrale . llire Verlautbarungen liefen darauf hinaus, die Kirchen nicht eher zu verlassen, bis eine Zusage flir ihre Ausreise vorläge. Diese Zusicherung wurde ihnen staatlicherseits gegeben, jedoch nur zum Teil eingehalten. 1m Verlauf der weiteren Tage gab es wieder Demonstrationen in der Stadt - willkürlich, spontan. Das offiZielle politische Leben bereitete sich zur selben Zeit auf den 40. Jahrestag der DDR-Gründung vor. Die Polizei jagte verstärkt nach Demonstranten, löste Menschenansammlungen gewaltsam auf und verhaftete in diesen Tagen 1 103 Bürger.

Das Dresdner Gefängnis war total überftillt. "Stasi" und Polizei wichen auf Garagen aus und nutzten sogar Vollzugsanstalten außerhalb wie zum Beispiel Bautzen. Die Inhaftierten mußten in sogenannter Fliegerstellung mit dem Gesicht zur Wand die ganze Nacht hindurch stehen. Wer sich bewegte, wurde angebrüllt, geschlagen, an die Wand gestoßen. üblich waren auch Spießrutenläufe, um Macht und Härte anzuzeigen, die Verhafteten einzuschüchtern. Am 7. Oktober gab es die ·staatlich verordnete Jubiläumsfeier, am 8. Oktober erneut Protestaktionen in der Stadt. Demonstrationszüge bewegten sich durch die Straßen mit dem Ruf "Schließt Euch an, wir brauchen jeden Mann!". Noch verlief alles unorganisiert, spontan. Auf der Prager Straße wurde unter der Aktionslosung demonstriert: "Keine Gewalt!". Das war quasi die zweite Wende. Die Forderung "Keine Gewalt!" kam also einen Tag früher als in Leipzig auf. Die Polizei kesselte ca. 1 500 Personen ein. Schwer bewaffnete Polizisten, ausgerüstet mit heruntergelassenem Visier, Kampfschild und Schlagstöcken, waren nun mit einer Demonstrationsmenge neuartigen Umfangs konfrontiert. Die Demonstranten setzten sich als Zeichen ihrer Gewaltlosigkeit friedlich auf den Boden. Das war praktisch das Ende der gewaltsamen Auseinandersetzungen in Dresden. Gespräche und Friedenskerzen bestimmten von nun an das Bild.

Von den 1 500 eingekesselten Demonstranten standen zwei Kapläne (Leuschner und Richter) auf, gingen auf die Polizeikette zu und konnten nach mehreren vergeblichen Versuchen schließlich erreichen, daß ein Gespräch mit einem Verantwortlichen fur den Polizeieinsatz in Aussicht gestellt wurde. Nun galt es, Demonstrationsvertreter zu fmden, die an der geplanten Aussprache wortfUhrend teilnehmen sollten. Durch Akklamation wurden 20 Ausgewählte bestätigt. Die Frage war nun: Was sollte in den avisierten Gesprächen inhaltlich erreicht

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Herbert Wagner

werden? Es gab Fragen und Forderungen wie: "Was ist mit den Inhaftierten?", "Was ist mit dem ,Neuen Forum'?", "Wahrheitsgemäße Berichterstattung über die Geschehnisse seit dem 4. Oktober in Dresden!". Kurzum, es wurden neun Forderungen spontan und perZuruf artikuliert. Geboren war in diesem Augenblick die "Gruppe der 20", die sich abends trafund die vorgenannten Forderungen nochmals inhaltlich diskutierte. Tags darauf sollte das erste Beratungsgespräch mit dem damaligen Oberbürgermeister Berghofer stattfmden, zu dem diese neun Forderungen erläu· ternd dargelegt wurden : sachliche Darstellung der Ereignisse, Freilassung der Inhaftierten, objektive Berichterstattung in den Medien, umfassende Diskussion über Anliegen und Ziele des "Neuen Forum", Reisefreiheit, Diskussion der Wahlproblematik, Einsatz eines Zivil-Ersatzdienstes, Gewährung von Demonstrationsfreiheit, Fortsetzung des gewaltfreien Dialogs. Die "Gruppe der 20" bildete von ihrer Zusammensetzung her einen Querschnitt der Demonstranten. Es waren Studenten, Lehrlinge, Arbeiter, Ingenieure; Männer und Frauen unterschiedlichen Alters (zwischen 16 und 60). Als Abgeordnete mußte die Gruppe versuchen, im bevorstehenden Rathausgespräch die Forderungen der Basis zu artikulieren. Über das Ergebnis der Aussprache sollte eine Information veröffentlicht werden. Berghofer konnte diesem Anliegen und Auftrag der "Gruppe der 20" nicht entsprechen. Parallel zu den genannten Ereignissen auf der Straße verhandelten im Rathaus evangelische Kirchenvertreter mit Berghofer darüber, doch auf die gebotene Situation einzugehen, um eine Entspannung der Lage herbeizuflihren. Schließlich gab Berghofer seine Zustimmung mit der Bitte, dieses erreichte Gesprächsergebnis abends in den Kirchen zu verkünden. Tags darauf begann um 9.00 Uhr das erste Rathausgespräch zwischen den Demonstrantenvertretern und ihren Beratern einerseits sowie dem Ob~rbürger­ meister mit Ratsvertretern andererseits. Für keinen Punkt der Forderungen erklärte sich Berghofer zuständig. Er verwies statt dessen auf die Entscheidungs· ebene "Berlin". Dennoch sicherte er zu, sich für die inhaftierten Demonstranten einzusetzen, ihre Freilassung innerhalb von 48 Stunden zu erwirken. Das wichtigste Resultat dieses Tages war der begonnene Dialog. Das war das Ent· scheidende! Am Abend informierte die "Gruppe der 20" in vier Kirchen über Verlauf und Resultate des Rathausgesprächs. 2 Vertreter der Gruppe fuhren nach Leipzig, um dort über Erreichtes zu berichten. An diesem Tag wurde in Leipzig an die bewaffneten Organe scharfe Munition ausgeteilt. Die Gruppenvertreter brachten die Kunde in die Messestadt, daß es möglich sei, zu reden und zu verhandeln. In Dresden strömten Menschen in die Kirchen, auf ihre Vorplätze, um vom neuen Geschehen aus dem Munde der Vertreter der "Gruppe der 20" zu hören. So versammelten sich beispielsweise 5 000 in der Kreuzkirche, über 2 000 davor. Allerorts wurde leidenschaftlich diskutiert: "Wahlen müssen wieder Wahlen werden!" oder "Reisefreiheit für alle!". Die Arbeit in

Die Novemberrevolution 1989 in Dresden

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der "Gruppe der 20" war ftir mich wie auch ftir andere Mitglieder anfangs nicht ungefährlich, obwohl ich erst am 10.10. als Austausch ftir Kaplan Richter bestätigt wurde. Zum einen wurden wir auf Usten der "Stasi" als Rädelsführer erfaßt, zum anderen erlebten wir vor Ort zum Teil ein gewisses Mißtrauen, ob wir denn wirklich die richtigen Leute seien oder nicht doch verkappte "Stasigänger". Bald wurden tatsächlich die ersten inhaftierten Demonstranten freigelassen. Die Öffentlichkeit erfuhr, wie mit ihnen in Polizeigewahrsam umgegangen worden war. Ich hörte Fragen wie "Was werden die erst mit uns machen?". Das zweite Rathausgespräch fand am 13. Oktober statt, das folgende dann am 16. Oktober. Parallel dazu wurde immer wieder die Frage gestellt : "Streikja oder nein?". An der außerordentlichen Stadtverordneten-Versammlung am 26. Oktober konnte die "Gruppe der 20" teilnehmen, eine völlig ungewohnte Situation in diesem von der SED bestimmten Gremium. Insgesamt kann gesagt werden, daß seit dem 16. Oktober themengebundene Gespräche in Arbeitsgruppen zwischen beiden Seiten geftihrt wurden (paritätisch besetzt 6:6). In diesem Zusammenhang erweiterte sich die Themenpalette auf 17 Bereiche. Beispielsweise ging es fortan um die Frage von Recht und Rechtsstaatlichkeit, um Möglichkeiten der Übernahme des Grundgesetzes der Bundesrepublik ftir das Territorium der DDR. In Gesprächen mit bundesdeutschen Vertretern wies man uns jedoch darauf hin, eine Übernahme dieser Rechtsprechung sei kaum möglich. Im Verlauf der verschiedenen Rathausgespräche betonte Berghofer immer wieder, er erkenne die "Gruppe der 20" nicht an, sie sei nicht repräsentativ, spreche nicht ftir die Bevölkerung. Wir unsererseits erreichten unsere Legitimation seitens der Bürger der Stadt durch eine besondere Art der Stirnmabgabe. Jeder, der zur "Gruppe der 20" stand, sollte eine Mark symbolisch auf ein bestimmtes Konto einzahlen. Die Resonanz war überwältigend: 100000,- M gleich 100 000 Mandate. Im sich entwickelnden neuen öffentlichen politischen Leben tauchte eine interessante Losung auf: "Rechtssicherheit ist die beste Staatssicherheit!" Damit wurde erstmals offiziell ein wichtiger Machtträger des DDR-Systems an den Pranger gestellt. Forthin verdeutlichten wir stärker unsere politische Arbeit als eigenständige Bürgerbewegung gegenüber der Dresdner Bevölkerung und ftihrten Aktionen ohne Zusammenwirken mit dem Rat der Stadt durch - im engen Zusammenspiel von "Gruppe der 20", "Neues Forum" und anderen Bürgerbewegungen. Ein Höhepunkt ftir den Reformprozeß in Dresden war der 9. November. Die Öffnung der Berliner Mauer und der Grenzen gab den Demonstranten auf ihren Märschen - ftir Dresden traditionell zum Fucik-Platz - viel Selbstvertrauen ftir die nachfolgenden regelmäßigen Montags-Demos. Leider zeigte sich seit

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Herbert Wagner

dieser Zeit auch ein zahlenmäßiges Abfallen der Teilnehmer, die ihrerseits nun zu Einkäufen in West-Berlin bzw. Hofunterwegs waren. Ein weiteres wichtiges Datum war der 5. Dezember 1989 - aus meiner Sicht eigentlich der Tag, an dem die Wende auch real vollzogen war. Am 5. Dezember erstatteten Vertreter des "Neuen Forum" und des "Demokratischen Aufbruch" bei der hiesigen Polizei Anzeige gegen die Staatssicherheit wegen des dringenden Verdachts der Sabotage. Es war bekannt geworden, daß die "Stasi" begonnen hatte, Akten zu vernichten. Dies geschah, obgleich der Chef der Bezirksbehörde der Stasi, Böhm, öffentlich versicherte, sämtliches Inventar zu erhalten und vor der Vernichtung zu schützen. Für eine Untersuchung dieses Vorgangs fehlte uns jedoch ein staatsanwaltlieheT Beistand; sie waren ja direkte Glieder dieses SED-Machtapparates. So lehnte die Polizei zunächst das Ersuchen ab, im StasiObjekt Bautzner Straße diesbezügliche Kontrollen durchzuführen. Am selben Tag bekam ich einen Anruf aus dem Polizeipräsidium: Ob ich zu einem Gespräch über Sicherheitspartnerschaft bereit sei? Dort saß bereits Arnold Vaatz vom "Neuen Forum" und fragte mich, ob ich bereit sei, mit ihm sowohl ftir das "Neue Forum" als auch ftir die "Gruppe der 20" die Dresdner Bevölkerung zu einer Demonstration zum Stasigebäude aufzurufen. Bei allen Demonstrationen vorher hatten wir gerade versucht, dieses zu verhindern. Unsere Ordnungsund Sicherheitsvorkehrungen bei bisherigen Demonstrationen waren bewußt davon geprägt, die Demonstrationsmärsche nicht in Richtung Stasigelände bewegen zu lassen, da wir ein Blutbad fürchteten. Nun also das genaue Gegenteil. Die Demonstration wurde sofort bei der Polizei angemeldet.

Wir fuhren zum Sender Dresden, um die Bevölkerung mittags auf diesem Wege zu informieren und sie zur Teilnahme aufzufordern. Lange vor I 7.00 Uhr fand sich eine unübersehbare Menschenmenge vor dem Gebäude der Staatssicherheit, Bautzner Straße, ein. Unsere vorbereiteten Sicherheitsvorkehrungen waren hinfallig geworden. Einige Anwesende hatten bereits die dortigen Mauern mit Texten wie "Verräter", "Wo ist meine Akte?" usw. besprüht. Die Masse war aufgewühlt und erregt. Wir befürchteten einen Sturm auf die Stasianlagen. Um 17.00 Uhr wurde wie durch ein Wunder das Haupteingangstor geöffnet. Die Demonstrationsteilnehmer betraten teils verängstigt, teils skeptisch das flir sie unheimliche Areal. Überall wurden Maschinenpistolen und Gewehre vermutet. Es herrschte eine gespannte Atmosphäre. Wir durchschritten einige Gebäude, sahen Zellen und sogenannte Freistundenkäfige, suchten nach Folterstätten, ohne sie zu finden. Gerüchte ließen uns nach unterirdischen Gängen und verborgenen Räumen suchen. Das anwesende Dienstpersonal (ca. ein Drittel der Belegschaft) wurde verhört. Fast stereotyp lauteten die Fragen: Warum tun Sie das? Wieviel verdienen Sie? Schämen Sie sich nicht? Die Antworten und Reaktionen dieser Stasileute waren recht unterschiedlich: eisige Kälte, gespielte Reue. Stasi-Chef Böhm mußte der protestierenden Menge Gebäude, Einrichtungen und Anlagen zeigen. Dabei wurde er von den Anwesenden bespuckt,

Die Novemberrevolution 1989 in Dresden

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gestoßen, beschimpft. Mehr und mehr entwickelte sich die Gefahr, man könnte ihn lynchen. Als Verantwortlicher für diese Demonstration stellte ich mich schließlich schützend vor diesen Mann. Es ist bekannt, daß er im Februar 1990 Selbstmord beging. Für mich war die Demonstration zum Stasigelände am 5. Dezember der Beweis, daß die Wende unumkehrbar war. Vorher gab es einen intakten Staatsappparat mit Armee, Polizei, Staatssicherheitsdienst. Die Staatssicherheit - Schild und Schwert der SED - lag am Boden. Natürlich waren die Demonstrationen auch mit anderen Themen besetzt. Die Wirtschaftsmisere drückte allen Haushalten ihren Stempel auf, so daß Forderungen nach freier Marktwirtschaft immer lauter artikuliert wurden, ohne recht zu wissen, was sie eigentlich beinhaltet. Initiative und Unternehmertum waren uns mehr oder weniger als Verbalismen bekannt. Insofern wirkten unsere Demonstrationen als theoretische Kurzlehrgänge zu Fragen der Marktwirtschaft natürlich äußerst dürftig, fragmentarisc~, völlig unzureichend. Der Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl am 19.' und 20. Dezember in Dresden schloß die Höhepunkte des Jahres 1989 ab. Beeindruckend war die Großkundgebung mit ihm und der Dresdner Bevölkerung an der Ruine der Frauenkirche. Die dort Anwesenden 100 000 waren bewegt von der Ansprache des Kanzlers und forderten in ihren Losungen die Einheit Deutschlands. Zu hören war auch: "Helmut und Hans - macht Deutschland ganz!" Noch hatte man also den Glauben an die Redlichkeit eines Hans Modrow. Im Kreis von Vertretern der Bürgerbewegungen kam es zu einem Gedankenaustrausch mit dem Kanzler. Ich erinnere mich noch genau, wie wir auch Fragen diskutierten wie: Was wird aus der DDR? Welche Währung soll künftig in der DDR gültig sein? Was wird aus dem Warschauer Pakt? In einem Punkt waren sich alle einig: Gebraucht wird eine einheitliche Währung. Später resümierte der Kanzler, er sei in Dresden zu der Erkenntnis gekommen, daß sich die Einheit Deutschlands rascher verwirklichen werde als diejenige Europas. Meine Erkenntnis zu diesem Zeitpunkt: Es gilt, jeden Zentimeter an Demokratie zu erkämpfen, den der gewaltfreie Raum bietet. Das war das Wesen unserer friedlichen Revolution in Dresden. Das war unser Jahr 1989.

Bernward Baule

"WIR SIND DAS VOLK!" Politische Bedingungsfelder der Freiheitsrevolution in der DDR "Allein, wenn die Stunde da ist und der wahre Stoff, so geht die Ansteckung mit elektrischer Schnelle über Hunderte von Meilen und über Bevölkerungen der verschiedensten Art, die einander sonst kaum kennen. Die Botschaft geht durch die Luft, und in dem Einen, worauf es ankommt, verstehen sie sich plötzlich alle, und wäre es auch nur ein dumpfes: ,Es muß anders werden' ". 1 Mit diesen Worten des Historikers Jacob Burckhardt ließe sich auch mühelos die deutsche Revolution 1989 beschreiben. Deren Ausbruch in den spontanen Demonstrationen, der Sturz der SED-Diktatur, die Etablierung einer parlamentarischen Demokratie und schließlich die Vereinigung der beiden deutschen Staaten vollzogen sich in einem atemberaubenden Tempo. Naturgemäß stehen dabei heute die sich daraus ergebenden politischen, ökonomischen und sozialen Probleme im Vordergrund der öffentlichen Debatten. Das Räsonieren über die Kosten der Einigung, wachsende Arbeitslosigkeit und die Probleme der Existenzsicherung oder der sozialen Besitzstandswahrung mitsamt dazu gehörenden Ängsten und Sorgen ftihren in beiden deutschen Staaten zu einer Stimmungslage in Moll. Von daher erscheint auch die Betonung eines gewissen "Wirtschaftsnationalismus" (Bischof Demke) verständlich. Es droht jedoch darüber der eigentliche Urgrund dieser tiefgreifenden Veränderungen aus dem Blickfeld zu geraten: das unerhörte Ereignis der primären, freiheitlich-demokratischen Revolution in der DDR. Diese reiht sich ja würdig ein in die Geschichte der großen europäischen und auch deutschen Freiheitserhebungen. Solche Revolutionen, zumal, wenn sie noch glücken, sind kostbare, außergewöhnliche Sternstunden in der Geschichte der Deutschen. Sie begründen den Ort politischer Identitätsbildung und erinnern an die gesamte freiheitlich-demokratische Tradition, die es ja auch in der deutschen Geschichte gegeben hat : in den Befreiungskriegen gegen Napoleon, in der Revolution 1848/49, im deutschen Konstitutionalismus, in der Weimarer Republik, in der Etablierung der Bundesrepublik Deutschland als freiheitlichem Staat, im Aufstand des 17. Juni 1953. Diese Tradition gewann einen neuen historischen Höhepunkt in dem unblutigen Sturz der totalitären SED-Diktatur und dem damit verbundenen Freiheits1

Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Stuttgart 1949, S. 169 f.

2 Löw 2. A.

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Bernward Baulc

kampf um die Geltung von Menschenrechten, Demokratie und, später hinzukommend: nationaler Einheit. Angesichts der Bedeutung dieses herausragenden Ereignisses in der Linie der freiheitlich-demokratischen Tradition einerseits, der aktuell dominierenden Diskussion hinsichtlich ökonomischer, sozialer und mentaler Probleme im zusammenwachsenden Deutschland andererseits, tut es gut, wieder an die ursprüngliche Freiheitsrevolution zu erinnern und dabei zu fragen: Wie konnte es trotz Diktatur zu dieser aus dem Geist demokratischer Freiheit geborenen Revolution kommen? Gab es bereits eine vorrevolutionäre Situation? Von welchen Bedingungsfeldern war das Handeln der Menschen im Herbst 1989 bestimmt? Wie war die historische Konstellation, in der die Revolution zum Ausbruch kam? Diesen Fragen soll im folgenden nachgegangen werden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß monokausale Ansätze 2 nicht zu einer hinreichenden Erklärung der revolutionären Ereignisse ftihren können, da wir es hier mit einem komplexen Bedingungsgefüge in einer historisch einmaligen Situation zu tun haben. Denn warum kommt es gerade im Herbst 1989 und nicht zu einem anderen Zeitpunkt zu einer solch mächtigen Revolution, die in wenigen Wochen die alte SED-Führungsgarde hinwegfegte und deren politischen Legitimationsanspruch als auf tönernen Füßen stehend entlarvte? Zu fragen ist also : welche Faktoren spielten insgesamt oder hauptsächlich eine Rolle? Nur ein mehrdimensionaler Ansatz, der die lang-, mittel- und kurzfristigen Bedingungsfelder in ihrer wechselseitigen Durchdringung berücksichtigt, kann der Vielschichtigkeit dieses radikalen Prozesses der Freisetzung demokratischer Selbstbestimmung gerecht werden. Zudem ist gegenüber einem historisch-materialistischen Revolutionskonzept hervorzuheben, daß es keine quasi gesetzesmäßig verlaufende Entwicklung hin zur Revolution in der DDR gab. Denn sieht man zurück auf vergangene Freiheitserhebungen wie zum Beispiel auf die amerikanische oder die französische Revolution und fragt nach deren Ursachen, so stellt man fest, daß "deren einzelne Stadien sich zwar auseinander erklären lassen, ohne aber in ihrer Abfolge gesetzesmäßig zu sein".3 Sie "lassen sich weder ausschließlich als ein logisch ablaufender Prozeß der Materialisierung revolutionärer Ideen noch als historisch unvermeidliche Erscheinung einer Gesellschaftskrise auf( .. ) fassen".4 Vielmehr sind sie historisch kontingente Ereignisse, in denen zwei Mo2 Wie beispielsweise Verschwörungstheorien oder Ansätze monistischer ökonomischer Determination. 3 F. Koolu/W. Krause (Hg.), Dokumente der Weltrevolution Bd. 1: die frühen Sozialisten, Olten u.a. 1967, S.69. 4 a.a.O., S. 69; "Was denjenigen, die bei der Revolution in die Schule gegangen waren, schließlich so grotesk zum Verhängnis wurde, war, daß sie wußten oder zu wissen meinten, sie kennten den ,notwendigen' Gang der Revolution, bevor diese auch nur begonnen hatte . . . Was sie zum Narren hielt, war die Geschichte und die historische Notwendigkeit." Hannah Arendt, Über die Revolution, 3. Autl Neuausg. München 1986, S. 71 ff.; vgl. dies., Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1981, S. 174 ff.

"Wir sind das Volk!"

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mente zusammenwirken: zum einen die politischen und sozioökonomischen Bedingungsfelder, zum anderen das konkrete Handeln der Beteiligten in der revolutionären Situation. So ftihrte erst das Zusammenspiel mehrerer lang- und mittelfristig wirkender Faktoren mit den konkreten aktuellen Ereignissen und politischen Entscheidungen im Jahre 1989 im Bewußtsein der beteiligten DDRBürger zu einer Haltung, die das passive Hinnehmen der Diktatur in eine revolutionäre Handlungsbereitschaft gegenüber dieser umschlagen ließ. Bei der Analyse der Bedingungsfaktoren muß allerdings immer gegenwärtig sein, daß diese im geschichtlichen Ablauf miteinander verwoben sind, genauso, wie sie im konkreten Bewußtsein der DDR-Bürger als Amalgam erscheinen. Auf analytischer Ebene sind diese allerdings zu trennen. So sollen im folgenden - nach einer Reflexion zur legitimatorischen Krise der SED - drei Hau ptdeterminanten unterschieden werden: Faktoren, die zum einen aus dem europäischen, zum zweiten aus dem deutsch-deutschen und zum dritten aus dem aktuellen DDR-innenpolitischen Bereich herrühren.

l Der Niedergang der Ideologie und das neue Bewußtsein Der zentrale Punkt der Revolution in der DDR war zweifellos die Konstituierung eines öffentlichen politischen Raumes 5 durch das neue, republikanische Bürgerbewußtsein. Dieses richtete sich gegen die diktatorische Allmacht der SED und deren ideologisch-avantgardistische Umdefinition des eigentlichen Souveränitätsgrundes politischer Herrschaft. Charakteristischer Ausdruck daflir war die "plötzliche Erkenntnis" eines Leipziger Demonstranten, "daß dies die Revolution ist, die süße, die lang herbeigesehnte, die in Gedanken schon aufgegebene. Wir haben erfahren, daß wir in der Lage sind, eine Regierung zu stürzen, und ich habe beschlossen, das nicht mehr zu vergessen". 6 Wie in einem Brennpunkt fokussierte sich hier das neue Bewußtsein errungener politischer Freiheit, die aufbaute auf der Erfahrung der Macht gemeinschaftlichen Handeins und in der Erkenntnis, als einzelner Bürger wie als gesamtes Volk der eigentliche demokratische Souverän zu sein. Der berühmt gewordene Leipziger Demonstrationsruf "Y.Iir sind das Volk!" war ja die konsequente Inanspruchnahme demokratischer Selbstbestimmung, die den Grund flir die auf elementaren Menschenrechten beruhende Legitimität politischer Herrschaft bildet. Die Forderungen nach Durchsetzung vor allem individueller Menschenrechte, einer menschenwürdigen Gesellschaft, einer pluralistisch strukturierten Öffentlichkeit und einer frei gewählten Regierung wurden zielgerichtet gegenüber der umfassenden Diktatur der Einheitspartei SED erhoben. Diese bean-

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5 Siehe Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, a.a.O., S. 27 ff. • Neucs Forum Leipzig, Jetzt oder nie - Demokratie, Leipzig 1989/München 1990, 26.

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spruchte gemäß ihrem von Lenin übernommenen Avantgardeverständnis bis dahin, als "bewußte(r) und organisierte(r) Vortrupp der Arbeiterklasse" 7 die Führung der werktätigen Massen zu übernehmen. In der marxistisch-leninistischen Zielperspektive war es die "Partei", die historisch erstmalig die "Werktätigen von Ausbeutung und Unterdrückung" 8 befreite, Menschenrechte realisierte und alles "flir das Wohl des Volkes" 9 tat. Gegenüber dieser in der marxistisch-leninistischen Weltanschauung implizierten politischen Glücksverheißung stand jedoch die triste, totalitäre Alltagswirklichkeit des real existierenden Sozialismus. Dort, im konkret erfahrbaren Alltag der Menschen, scheiterte letztlich materiell und bewußtseinsmäßig die Idee des Sozialismus. Diese verwandelte sich von dem großen Postulat der Arbeiterbewegung, gerechte, solidarische und demokratische Verhältnisse zu schaffen, in das Schreckgespenst einer diktatorisch-totalitären Vereinnahmung. 10 Die Idee des Sozialismus hat große "Löcher bekommen"" - so charakterisierte ein Arzt Ende Oktober bei einer der revolutionären Demonstrations- und Diskussionsveranstaltungen vor über hunderttausend Dresdnern diesen Zustand. Und weiter stellte er fest : "Es wurde viel über die Ursachen der jetzigen Situation nachgeforscht. Sie liegen klar auf der Hand. Auch nach 70 Jahren hat die sozialistische Idee nicht zum alles beglückenden Paradies der arbeitenden Menschen geführt. Für diese Idee mußten aber Millionen von Menschen sterben." 12 In der Tat: der materielle und geistige Niedergang des Sozialismus ist einer der wichtigsten Ursachen der bewußtseinsmäßigen Krise der DDR-Gesellschaft. 13 '

Programm d~r SED. in: E. Schneider (Hg.), SED-Programm und Statut von 1976, 1977, S. 80. • a.a.O.. S. 82. 9 a.a.O., S. 82. 10 Mampc l weist aufzwei Essentials des Totalitarismus hin : zum einen " eine auf Dauer angelegt~, ungehemmte und unkontrollierte Machtausübung", zum z\\·eite n, daß die \1achtstcllung über den staatlichen Bereich hinaus auch "den Raum der Gesellschaft ergreift und damit auch die Stellung des einze lnen in der Gese llschaft und zum Staat bestimmt", Siegfried Mampcl, Versuch eines Ansatzes für eine Theorie des Totalitarismus, in: Konrad Lö\\·, Totalitarismuscontra Freiheit. Begriff und Realität, München 1988, S. 13. 11 Dokumentation dieser Rede, die der Arzt Tellkamp im Namen von 40 Ko llegen hielt, in: Göttinger Tageblatt v. 28.10.1989. 12 a.a.O. die "Hypostasierung der Leninschen Parteikonzeption zum \lodell der Gesamtgesellschaft" (Mansilla) wurde übrigens schon Trotzki kritisiert, der Lenin vorwarf, die Partei mit einer Fabrik zu verwechseln. was dazu führe, daß die Partei das Denken für das Proletariat übernehme und damit die Parteiflihrung ihren Willen statt desjenigen des Proletariats ausführe. Siehe L. Trotzki, Schriften zur revolutionären Situation, Reinheck bei Harnburg 1970, S. 93ff.; vgl. H. C. F. Mansilla, Systembedürfnis und Anpassungen. Frankfurt/M. 1973, S. 103ff. 13 Wenn hier von Sozialismus die Rede ist, ist immer die Weltanschauung des \larxismus-Lcninismus in Theorie und praktischer Umsetzung gemeint. Denn der Begriff Sozialismus gehört ähnlich wie Liberalismus und Konservativismus zu den großen politischen Ideenströmungen Europas zumindest der letzten 200 Jahre. Diese enthalten ein breites Spektrum philosophischer, politischer und sozioökonomischer Gedanken in permanenter Oplad~n

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Zwar konnte die Boneckersehe Politik materieller Wohlstandssteigerungen in der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" in den siebziger Jahren auf eine gewisse Zustimmungsbereitschaft der DDR-Bürger setzen. Doch spätestens Mitte der achtziger Jahre führte die beständig offensichtlicher werdende Sinnkrise des Marxismus-Leninismus, dessen utopische Potenz sich im aktuellen Vollzug verbraucht hatte, zugleich zu einer immer offener zutage tretenden Aushöhlung der SED-Herrschaft. So manifestierte sich diese Krise politischer Sinnstiftung in einem deutlichen Verlust von Massenloyalität, ablesbar an der drastisch anwachsenden Zahl von Ausreiseanträgen. Anfang 1989 schließlich reagierte die SED darauf mit der Gründung eines Freidenkerverbandes. Dessen Ziel war es, die aktuellen Probleme des Friedens und Umweltschutzes aufzunehmen sowie "Lebenshilfe im umfassenden Sinne des Wortes zu leisten, d.h. den Bürgern in komplizierten individuellen Situationen zur Seite zu stehen und ihnen zu helfen, mit solchen Situationen im Sinne der materialistischen Weltanschauung und ihrer ethisch-humanistischen Prinzipien fertig zu werden. " 14 Diese ideologische Ausrichtung und das erkennbare politische Ziel, für Unzufriedene ein Auffangbecken zu bilden, begrenzten allerdings von vornherein den angestrebten verbandliehen Einfluß in der Bevölkerung. Parallel zu solchen Krisenbewältigungsstrategien sah sich die SED gezwungen, zur eigenen Machterhaltung ihre totalitären Herrschaftstechniken in gesteigertem Maße einzusetzen. Bereits seit 1985 wurde gemäß der MfS-Dienstanweisung Nr. 2 durch Maßnahmen zur "vorbeugenden Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit" eine flächendeckende Überwachungsarbeit angestrebt, die sich vor allem 1989 erheblich intensivierte. 15 Doch angesichts der politischen Reformunfähigkeit der SED-Führung vermochte die staatliche Schnüffel-, Verbots- und Verhaftungspraxis Bürgerproteste nicht mehr umfassend zu kontrollieren oder zu eieminieren - zu massiv war die weltanschauliche Sinnentfremdung zwischen SED und DDR-Volk. So brach in den Revolutionstagen die SED auch deswegen so schnell zusammen, weil keine tragfähigen ideellen Bindungen zum Volk vorhanden waren. Es existierte auch innerhalb der SED kein mehrheitsfähiges Reformkonzept. 16 Zudem war aufgeistiger Bearbeitung, Revision und Neuausbildung. Sie entsprechen einer nichtreligiösen Form geistig-politischer Selbstauslegung des Menschen bzw. menschlicher Gesellschaft. Ihre Grundgedanken bilden einen wichtigen Teil unseres heutigen politischen Fundamentes und politischer Kultur. Vgl. den Überblick bei Schoeps/Knoll/Bärsch, Konservativismus, Liberalismus, Sozialismus, München 1981. 14 So Prof. Klein von der Humboldt-Universität im ND v. 25.1.1989. 15 DA 2/85 - Vertrauliche Verschlußsache MfS 6/85 und das Studienmaterial "Die vorbeugende Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit", Vertrauliche Verschlußsache - oOOl, MfS JHS.Nr. 20/86. 16 Darauf weist auch Schabowski hin (S. 111), der resümiert : " Unsere Zeit war abgelaufen, ohne daß wir das wahrhaben wollten." G. Schabowski, das Politbüro, hg. v. F. Sierren und L. Koehne, Reinbek b. Harnburg 1990, S. 148. Eine innerhalb der SED bestehende Reformgruppe legte intern im Juli 1989 ein Papier mit "Überlegungen zu Problemen und Perspektiven des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels des Sozialismus

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grund ihrer Weltanschauung die SED nicht in der Lage, die eigene ,Pathologie' der Infonnationsaufnahrne und -verarbeitungsstrukturen hinsichtlich der politischen und sozioökonomischen Problemlagen zu erkennen; Existenz und dauerhafte Reformierungen von oppositionellen Gruppen wurden daher nicht als Ausdruck gesellschaftlicher Probleme und Krisen interpretiert, sondern begriffen als der aggressive Subversionsversuch des imperialistischen Feindes, mittels der politisch-ideologischen Diversion (PID) 17 die SED und den DDRSozialismus zu destabilisieren. Demnach ziele die imperialistische Strategie "nunmehr verstärkt auf die ,Erosion des Sozialismus von innen heraus' " 18 durch die Etablierung oppositioneller Kräfte (politische Untergrundtätigkeit/ PUT). Aus dieser weltanschaulich geleiteten Perzeption heraus war die SED wie auch das MfS gar nicht in der Lage, das revolutionäre Geschehen, die Spontaneität der Menschen, die Massenhaftigkeit der Demonstrationen und die Freiheitsforderungen im eigentlichen Urgrund zu verstehen. Die folgliehe Inadäquatheit ihrer politischen Maßnalunen zur Herrschaftssicherung verhalf in der revolutionären Situation nur den Demonstranten zu weiter anwachsender Macht. Mit dem rapiden Verfall ihrer staatlichen Herrschaft zerfiel schließlich auch die SED als Partei. /1 Die Vorgänge in Europa I. Die Folgen der Gorbatschowschen Reformpolitik

Wesentlicher, wenn auch nicht geplanter Bedingungsfaktor für die lnitiierung politisch-struktureller Umbrüche in der DDR und in Osteuropa war die Veränderung innerhalb der Hegemonialmacht UdSSR. 1985 war Gorbatschow neuer Generalsekretär der KPdSU geworden; er trat damit das marode Erbe von Breschnew, Andropow und Tschernenko an. Sein erklärtes Ziel 19 war es, nach der ,Stagnationsperiode' zu einem revitalisierten Sozialismus zu gelangen und zugleich die in den achtziger Jahren durch ökonomische Insuffizienz zunehmend bedrohte Weltmachtstellung der UdSSR zu halten. Zwar verfügte die und der Weiterentwicklung gesellschaftsstrategischer Konzeptionen der DDR und anderer sozialistischer Staaten des RGW'' vor. Dieses Papier hat in einer Erweiterung später in der SED/PDS größeren Eintluß erlangt. A. Brie/M. Brie/Ettl/Segert, das Umbaupapier - Studie zur Gesellschaftsstraiegie, in: R. Land (Hg.), das Umbaupapier (DDR), Berlin-W. 1990. 17 Siehe v. a. Kap. 1 (Das Wesen der politisch-ideologischen Diversion) und Kap. 2 (Die Stellung der politisch-ideologischen Diversion in der imperialistischen Strategie) MfS-Vertrauliche Verschlußsache - o001 JHS-Nr. 10/88. 18 a.a.O., S. 18. Im übrigen gehört in dieser MfS-Sicht auch die Gesellschaft flir Deutschlandforschung zu den Zentren der politisch-ideologischen Diversion, vgl. a.a.O., s. 140. 19 Siehe M. Gorbatschow, Perestroika, München 1987 ; vgl. dazu die Biographie von Schmidt-Häuser, Michail Gorbatschow, üb. Neuausg. München 1987.

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UdSSR über eines der größten Potentiale der Welt an Rohstoffen. Dennoch war sie aufgrund des bürokratischen Zentralplanprinzips nicht in der Lage, in Bezug auf ökonomische Effizienz, neue Technologien und der ausreichenden Bereit· stellungvon Konsumgütern den Anschluß an westliche Standards zu erreichen. 20 Als Reformpolitik mit dem Ziel eines erneuerten Sozialismus betrieb Gorbatschow daher unter Anknüpfung an Lenins NEP eine Modernisierungsstrategie, die sich wesentlich auf die Umgestaltung (Perestroika) ökonomischer Entscheidungsdispositionen, die Umschichtung von Ressourcen von dem unproduktiven Rüstungssektor auf den Industrie- und Konsumgütersektor (Konversion) und gegen Zentralismus und Bürokratismus richtete. 21 Auch die Reduzierung außenpolitischer Konfliktlagen (Afghanistan, China) und die Forderung der Entspannungspolitik zur anderen Großmacht USA wie auch zu Westeuropa durch verstärkte Abrüstungsinitiativen waren wesentlich von der innenpolitischen Situation bestimmt. Die vor allem auf den ökonomischen Sektor bezogene Perestroika-Politik war gekoppelt mit dem politischen Prinzip Glasnost: mehr demokratischer Entscheidungsspielraum und Öffentlichkeit unter Beibehaltung der fUhrenden Rolle der KPdSU. 22 Dieses Prinzip zielte besonders darauf ab, die kulturelle und ökonomisch-technische Intelligenz an das Reformprogramm Gorbatschows zu binden. Die Gewinnung dieser traditionell in Rußland maßgeblichen Schicht diente sowohl der Erschließung eines in gesellschaftlicher und ökonomischer Hinsicht dringend benötigten Kreativitätspools als auch der Gegenmachtbildung zur starren Partei- und Staatsbürokratie. Durch die infolge der Glasnost-Politik bedingte sprunghafte Inanspruchnahme von Meinungs- und Pressefreiheit entstand eine zunehmend demokratisch geprägte Öffentlichkeit. Über diese wurde nun der Weg zur Entstalinisierung der russischen Gesellschaft beschritten: immer mehr früher tabuisierte Verbrechen Stalins, von den Schauprozessen über die Massenmorde, die Verbannungen in den Archipel Gulag, die Zwangsdeportationen ganzer Völker bis hin zum geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Nichtangriffspaktes wurden in das 20 Die katastrophale Situation der UdSSR beschreibt: F. Meyer, Weltmacht im Abstieg, München 1984; vgl. G. Trautmann, die Sowjetunion im Wandel -Wirtschaft, Politik und Kultur seit 1985, Darmstadt 1989, S. 47 ff. und Z. Brzezinski, das gescheiterte Experiment, Wien 1989. 21 Siehe dazu: B. Meissner, Die Sowjetunion im Umbruch, Stuttgart 1988 sowie A. Aganbegjan, Ökonomie und Perestroika, Harnburg 1989. 22 Damit ist aber zugleich die weltanschauliche Grenze Gorbatschowscher Reformstrategie vorgegeben; "Demokratie und Publizität (Glasnost) (sind) nicht nur Mittel der Umgestaltung( .. ). Sie sind die Verwirklichung des Wesens unserer Ordnung .. Sie sind das, was uns von dieser bourgeoisen Demokratie unterscheidet . . Wir sind für Publizität (Glasnost ohne alle Einwände und Beschränkungen. Aber wir sind flir Publizität im Interesse des Sozialismus". So Gorbatschow in einer Rede vor dem ZK der KPdSU, in: Pravda v. 13.1.1988, zit. n. G. Wettig, Gorbatschow auf Lenin-Kurs? Dokumente zu neuen sowjetischen Politik. Köln 1988, S. 21; vgl. auch K. Löw, Gorbatschows ideologischer Spielraum, in: K. Löw (Hg.), Beharrung und Wandel. Die DDR und die Reformen des Michail Gorbatschow, Berlin 1990, S. 97 ff.

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Licht der Öffentlichkeit gebracht. Sie ermöglichten im Bewußtsein der Bevölkerung das Andenken an die mindestens 3,5 Millionen Morde allein in der Stalin-Ära 23 sowie Stück flir Stück eine Revision der stalinistischen Geschichtsverfalschungen. 24 Auch die Historiographie der UdSSR begann nun systematisch die eigenen "weißen Flecken" aufzuarbeiten und die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen. Mit der Entstalinisierung verbunden war die zunehmende Erosion des Wahrheitsmonopols der KPdSU im Sinne einer monistischen Vorgabe der Gestaltung sozialistischer Gesellschaften. Dieses führte schließlich zur Suspendierung der Breschnew-Doktrin von der begrenzten Souveränität der sozialistischen Länder. Die Propagierung eines eigenständigen Weges zum Sozialismus durch Gorbatschow ohne die Gefahr einer gewaltsamen militärischen Invasion durch die Rote Armee oder die Warschauer Pakt-Organisation schufen wiederum den ftir Reformen dringend benötigten Freiraum innerhalb der Ostblockstaaten wie auch in der DDR. Auf diese Weise konnten sich oppositionelle Gruppen in der DDR nicht nur gegenüber der SED auf Gorbatschow und damit auf den eigenständigen Weg eines besseren, reformorientierten Sozialismus berufen. Sondern sie konnten auch- genauso wie die anderen Demonstranten- erstmalig in der Geschichte der DDR in ihrem Handeln während der Revolution den Verzicht auf den Einsatz militärischer Herrschaftsmittel der UdSSR kalkulieren. Beleg flir dieses Kalkül ist, daß bei den entscheidenden Oktoberdemonstrationen in Leipzig von den Teilnehmern nicht mit einem Eingreifen der Roten Armee gerechnet wurde 25 -wohl aber mit dem der NVA, 26 der Volkspolizei, der Betriebskampfgruppen und des Staatssicherheitsdienstes. In der Tat konnte ein mögliches Blutbad nicht im Interesse Gorbatschows sein, da es mit einem Schlag seine westlich-europäische Politik der Annäherung mitsamt der neu gewonnenen Kreditfahigkeit zerstört hätte. 2. Die Auswirkungen von KSZE und EG Die Propagierung eines "gemeinsamen europäischen Hauses" durch Gorbatschow zielte nicht nur auf eine ökonomische Anbindung, sondern auch auf den Prozeß der Errichtung einer bündnisübergreifenden europäischen Sicher· heitsordnung. Dieser war neben Vereinbarungen zur Rüstungsreduktion poliSo die Angaben des KGB Generalmajors Karbainow, in: Die Welt v. 2 7.4.1990. Vgl. D. Claussen, Glasnost ftir die ,weißen Flecken' der Geschichte, in : vorgänge Nr. 104,2/1990 S. 57ff. 25 Nach eigener Beobachtung hatte allerdings die Rote Armee im Oktober in Leipzig Posten installiert und die Demonstrationen genau in Augenschein genommen. 26 Gemäß Befehl Nr. 105/89 des Ministeriums ftir Nationale Verteidigung der DDR wurde tatsächlich flir diese Zeit "verstärkte Grenzsicherung", "erhöhte Gefechtsbereit· schaft'' und die Bereitstellung "zusätzlicher Bettenkapazitäten" im Lazarett angeordnet. 23 24

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tisch wesentlich bestimmt durch den KSZE-Prozeß seit Mitte der siebziger Jahre. Durch hartnäckiges Insistieren gelang es den westeuropäischen Staaten damals, den Bereich der von der UdSSR eingeforderten staatlichen Bestandsgarantien als dem Kernpunkt der Sicherheitsordnung mit der Verpflichtung zunehmender Gewährung von Menschenrechten zu verbinden. Daher standen die kommunistischen Parteien des Ostblocks und speziell die SED seit der "Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" 27 unter einem sich in den Folgekonferenzen von Madrid und Wien 28 steigernden Druck der beharrlichen Anmahnung, vereinbarte Menschenrechte zu verwirklichen. Dieses traf besonders die SED hart, deren Ziel es war, den auf Außenlegitimierung angewiesenen Staat der DDR durch die internationale Anerkennung im europäischen Prozeß zu befestigen und zu sichern. War die KSZE-Akte hinsichtlich der Anerkennung staatlicher Existenz für die SED durchaus ein Stabilitätsgewinn, wurde sie doch im gleichen Zuge in zweifacher Hinsicht ein Einfallstor flir der SED unangenehme Menschenrechtsforderungen: zum ersten prangerte eine (west-)europäische Öffentlichkeit die mörderischen Grenzsperranlagen mitsamt der damaligen Selbstschußanlagen sowie das Fehlen von Meinungs-, Versammlungs-, Presse- und Reisefreiheit in der DDR offen an; diesem konnte sich die SED auch nicht mit dem Hinweis auf das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten entziehen. Zum zweiten beriefen sich zunehmend einzelne Bürger und "Helsinkigruppen" in der DDR auf das KSZE-Schlußdokument, das im Neuen Deutschland abgedruckt war. 29 Auch wenn die Staatssicherheit den ersten Protest brutal unterdrückte, war dieser auf Dauer nicht zum Schweigen zu bringen, zumal der Einsatz repressiver Mittel im Innern die außenpolitische Anerkennung nachhaltig zu beschädigen drohte. 30 Je umfassender nun der KSZE-Prozeß wurde, desto häufiger knüpften Bürgerrechtsgruppen wie zum Beispiel die evangelische Gruppe "Christen in der DDR für Absage an Prinzip und Praxis der Abgrenzung''31 oder die "Initiative für Frieden und Menschenrechte", deren Mitglieder im Revolutionsprozeß eine Rolle spielten, an diesen KSZE-Prozeß an und trugen damit zur Erosion der SED-Diktatur bei. Nicht nur die Folgewirkungen der KSZE, sondern auch der westeuropäische Einigungsprozeß zu einer ökonomischen und politischen Union hatte Auswirkungen auf die Umwälzungen in der DDR und in Osteuropa. Die Abgabe naGesamtdeutsches Institut (Hg.), die KSZE, 1. Aufl., Bonn 1988. Siehe v. a. das Dokument des letzten Folgetreffens in Wien, Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 10 I v. 31.1.1989, S. 77 ff. 29 Es war eines der wenigen Male, wo das ND ausverkauft war. 30 Im Rahmen der PID wird das KSZE-Dokument als Ausdruck der imperialistischen "Freiheits- und Menschenrechtsdemagogie" charakterisiert, MfS, Vertrauliche Verschlußsache - o001 JHS-Nr. 10/88, S. 51 u. 214 ff. 31 Texte dazu in: St. Bickhardt (Hg.), Recht ströme wie Wasser, Berlin-W. 1988. 27

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tionaler Souveränität an supranationale Einrichtungen wie der EG-Kommission, dem Europaparlament und dem Europäischen Gerichtshof verdeutlichten die wachsende machtpolitische Stellung der EG in Europa. Die aktuellen Entscheidungen wie den generellen paß- und visafreien Reiseverkehr (Schengener Abkommen) und der geplante freie Kapitalverkehr zur Verstärkung der ökonomischen Binnenintegration (europäischer Binnenmarkt) übten auf die mittel- und osteuropäischen Staaten einen starken Anschlußsog aus. Die Tatsache der wachsenden politischen, ökonomischen und kulturellen Integration Westeuropas führten zur Revitalisierung mittel- und osteuropäischer, vor allem ungarischer Identitätsfragen 32 als Medium der Herauslösung aus dem sowjetisch-hegemonialen Block und der Hinwendung zu Westeuropa. Waren diese zuerst intellektueller Art, bekamen sie angesichts des neuen Einigungsschubs in der EG eine spezifisch politisch-ökonomische Ausrichtung. Die latente Drohung, vom westeuropäischen Einigungsprozeß gänzlich abgekoppelt und damit - bei zunehmendem Niedergang des RGW -· zum europäischen Armenhaus zu werden, führte vor dem Hintergrund des Gorbatschowschen Reformansatzes entscheidend zu den großen Auseinandersetzungen innerhalb der ungarischen KP. So kam es zur Etablierung eines Reformflügels um Horn, Nemeth und Posgay, welcher sich in den innerparteilichen Kämpfen politisch durchsetzen konnte. Von diesen Reformleuten wurde eine weitreichende politische Entscheidung getroffen: um wieder Anschluß an den europäischen, politischen und ökonomischtechnologischen Prozeß zu gewinnen, wurde ein Zeichen flir die politische Öffnung zu Westeuropa gesetzt: am 2.5.1989 begann Ungarn mit dem Abbau der Grenzsperranlagen zu Österreich, dem südlichen "Eisernen Vorhang". Ohne daß dieses von der ungarischen Regierung intendiert worden wäre, brach damit unvermittelt ein wesentlicher Pfeiler der SED-Herrschaft zusammen, nämlich deren Verfügung und Kontrolle über Freizügigkeit, Auslandsreisemöglichkeiten, Entlassung aus der DDR-Staatsbürgerschaft und freiwilligen Systemwechsel von DDR-Bürgern. In kurzer Zeit wurde vielen DDR-Bürgern diese gegenüber den Unwägbarkeiten eines Ausreiseantrages schnellere Art der Fluchtmöglichkeit bewußt. Immer mehr Menschen begannen nun, mit dem Gedanken an eine Flucht aus dem eigenen diktatorischen System zu spielen oder sie bereits direkt mit einzukalkulieren. Besonders augenfällig wurde diese latente Fluchtbereitschaft vieler DDRBürger bei einem politischen " Frühstück" der paneuropäischen Bewegung. Bei dieser Veranstaltung, mit der Ungarn und Österreich auf der Basis der Erinnerung an alteuropäische Traditionen den Beginn neuer Gemeinsamkeiten symbolisieren wollten, wurde ftir einige Stunden die Grenze vollständig geöffnet. 32 So die Aufsätze im Kursbuch Nr. 81 , Berlin-W. 1985 und inS. Papckc /W: Weiden· feld (Hg.), Traumland Mitteleuropa? Darmstadt 1988 ; kritisch dazu: W. v. BrcdO\\) T. Jäger, Niemandsland Mitteleuropa. Zur Wiederkehr eines diffusen Ordnungskonzcptcs, in : aus politikund zeitgeschichte Nr. B. 40-41, v. 30.9.1988, S. 37 ff.

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Prompt brachen über 600 DDR-Bürger, vor allem Jugendliche, über die Grenze nach Österreich durch. Dieses Ereignis sprach sich, wesentlich verstärkt durch die Berichterstattung westlicher Medien, sofort per "Buschfunk" in der DDR herum und löste eine überdimensionale Fluchtwelle aus. Seit diesem Ereignis suchten Menschenmengen in der Größenordnung ganzer Städte den Fluchtweg über Ungarn; zugleich kam es zu dramatisch verlaufenden Besetzungen der deutschen Botschaften in Warschau und Prag. Unter Berufung auf die UNFlüchtlingskonventionen wies die ungarische Regierung den inhumanen Ostberliner Anspruch auf Auslieferung der Flüchtlinge zurück. So war von der SED der Flüchtlingsstrom nicht mehr zu kontrollieren. 33 Die propagandistischen Darstellungen im Neuen Deutschland, wonach die geflohenen DDR-Bürger vom Westen abgeworben oder "entfUhrt" seien, 34 zeugten von der Hilflosigkeit der SED vor der eigenen Bevölkerung, was die Fluchtbewegung weiter anwachsen ließ. In schwierigen diplomatischen Verhandlungen mit der Bundesregierung beharrte die SED-Führung darauf, daß die Ausreise der Botschaftsflüchtlinge über das Gebiet der DDR flihren müsse. Dadurch provozierte sie Massenproteste Tausender DDR-Bürger in Dresden. Viele von ihnen versuchten dort, auf den fahrenden Zug aufzuspringen in Unkenntnis der Tatsache, daß deren Türen verschlossen waren. So kam es hier Anfang Oktober - wie vorher in Leipzig zu harten, eskalierenden Konfrontationen von angesichts des vereitelten Fluchtversuchs wütenden und verzweifelten DDR-Bürgern mit der Volkspolizei und dem Staatssicherheitsdienst. Wie in Leipzig und in anderen Städten erzeugte auch in Dresden das brutale Vorgehen von Volkspolizei und Stasi-Einheiten mitsamt der vielen Verhaftungen bei den Demonstranten massenhafte Solidarisierungen mit den Inhaftierten, aber auch untereinander. Dieses äußerte sich in neuen Protestdemonstrationen: der Bann isolierten politischen Daseins begann zu brechen. 111 Das deutsch-deutsche Beziehungsgeflecht

1. Die Bundesrepublik als nationaler Orientierungspunkt und politisches wie ökonomisches Vorbild Gemessen am Niveau des Lebensstandards der UdSSR oder der anderen osteuropäischen Staaten und erst recht der Länder der Dritten Welt besaß die DDR einen überdurchschnittlichen Massenwohlstand und eine weiterreichende soziale Sicherung. Trotzdem waren nicht diese Staaten der Vergleichsmaßstab zur Beurteilung der eigenen politischen, ökonomischen und sozialen Situation, son33 Sarkastisch reagierte der politische Witz auf diesen Massenexodus: "es gibt jetzt einen neuen Feiertag, den Tag der Hinterbliebenen . . . " 34 Ein Beispiel von vielen : ND v. 19.9.89 : "Menschenhandel. Tatsachen enthüllen den rücksichtslosen Umgang der BRD mit Menschenschicksalen und mit dem Völkerrecht."

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dern die Bundesrepublik Deutschland. Gerade flir die älteren Generationen, die noch mit dem Raumbild und der lebensweltlichen Erfahrung eines gemeinsamen Deutschlands aufgewachsen waren, war der Vergleich mit der Bundesrepublik selbstverständlich. Die Erfahrung nicht gewollter, sondern nach dem Krieg aufgezwungener SED-Herrschaft und das fortdauernde Bewußtsein einer blockübergreifenden gemeinsamen deutschen Nation verfestigten die Orientierung der DDR-Bürger an den anderen deutschen Staat, wobei diese in der Familiensozialisation weitertradiert wurde. Gerade in der nationalen Frage versuchte die SED, einer fortdauernden nationalen Verbundenheit entgegenzusteuern, da mit der nationalen Frage immer zugleich das Problem der staatlichen Reorganisation Deutschlands und damit die Infragestellung der staatlichen Existenz der DDR sowie der SED-Herrschaft verbunden war. 35 Dieser Versuch, die gemeinsame Nation als wichtiges Bindeglied der Deutschen politsch zu eleminieren, stattdessen artifiziell eine eigene DDR-Identität zu begründen und so das SED-Monopol zu stabilisieren, ist letztlich nicht gelungen. Das ideologische Kunstprodukt der SED, das Verständnis der Nation an die Klassenauseinandersetzungen zu binden, 36 ist von der DDR-Bevölkerung nie ernstlich angenommen worden.37 So war dieses Konzept, nicht nur von zwei weltanschaulich heterogen strukturierten deutschen Staaten auszugehen, sondern auch noch eine rückständige kapitalistische und eine progressive sozialistische Nation zu postulieren, letztlich zum Scheitern verurteilt. Die Parolen "DDR - unser Vaterland" oder "Meine Heimat DDR" konnten genausowenig wie der spätere Rekurs auf das gesamte deutsche Erbe Bindungskräfte an den Staat DDR entfalten und blieben wie vieles andere auch ein erzwungenes, hohles Stück verordneter DDR-Identität. Diese brach im Gefolge der revolutionären Ereignisse, vor allem nach der Öffnung der Grenzen, vollständig zusammen; sichtbar wurde dieses in den Rufen "Deutschland einig Vaterland" und "Wir sind ein Volk". Die Orientierung an der gemeinsamen deutschen Nation machte die DDRBürger zugleich dauerhaft auf die Existenz der Bundesrepublik als einen freiheitlichen, demokratischen Staat aufmerksam und hielt auf diese Weise das Bewußtsein eines anderen Demokratieverständnisses gegenüber dem von der SED verordneten aufrecht. Denn die DDR-Bürger konnten dadurch, anders als die Ungarn, Tschechoslowaken oder Polen, in einem ihnen selbstverständlichen 35 Das Beharren auf die gemeinsame deutsche Natio n wurde daher als " Nationali· stische und revanchistische Angriffe im subversiven ideologischen Eimürken gegen die DDR" interpretiert, MfS - Vertrauliche Verschlußsache oOOl JHS-Nr. 10/88, S. 234 ff. 36 Das versuchte A. Kosing, Nation in Geschichte und Gegenwart, Berlin-0. 1976; die Ausweitung dieses Nationenverständnisses auf die Inanspruchnahme des gesamtdeutschen Erbes findet sich bei H. Meier/W. Schmidt (Hg.), Erbe und Tradition, Köln 1988. 37 Darauf verweist auch der Geschäftsflihrer der SPD/Ost, Stefan Hilsberg : " Wenn es eine DDR-Identität gegeben hat, dann war sie künstlich, gebunden an den SED-Staat DDR. Im Grunde ist dieses Volk hier in der DDR auf der Suche nach einerneuen Heimat." Zitat wiedergegeben in: Themen 2/ 1990, S. 4.

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sprachlichen wie historischen Bezugsraum die Diktatur der SED mit dem System einer auf Menschenrechten beruhenden parlamentarischen Demokratie vergleichen. In der Orientierung an diesem politischen Vorbild ließ sich trotzdes ungeheueren propagandistisch-agitatorischen Aufwandes und der totalitären Indienstnahme des Erziehungs- und Bildungssystems der Anspruch der SED, der fortschrittlichere, wahrhafte demokratische Staat zu sein, im Bewußtsein der Bevölkerung nicht verankern. Auch ökonomisch war die Bundesrepublik das eigentliche Vorbild. Der durchgängigen Schwäche der DDR-Wirtschaft, aufgrunddes zentralen Planungsund Bilanzierungssystems ein ausreichendes und vielfaltiges Warensortiment gemäß den Konsumwünschen der Bevölkerung zu produzieren/8 stellte sich im Bewußtsein der DDR-Bürger der Erfolg des sozioökonomischen Systems der Bundesrepublik gegenüber. In diesem trugen die Ordnungs-, Anreiz- und Produktionsstrukturen der Sozialen Marktwirtschaft wesentlich zur Stimulierung des technischen Fortschritts, eines reichen Warenangebotes und der Erwirtschaftung von Mitteln zur Finanzierung einer sozialen Sicherung auf hohem Niveau bei. Die durch dieses Wohlstandsgefalle bedingte starke Orientierung der DDR-Bürger an dem bundesdeutschen Lebensstandard flihrte angesichtsder eigenen ökonomischen Mangelerfahrung in quantitativer und qualitativer Hinsicht zu einer sich ab Mitte der achtziger Jahre steigernden Unzufriedenheit mit den eigenen Verhältnissen. 39 2. Der Einfluß westlicher Medien Die Tatsache, daß für die DDR-Bürger die Bundesrepublik den Charakter eines politischen und wirtschaftlichen Vorbildes annahm, trug wesentlich zur Infragestellung der SED-Herrschaft bei. Dieser Prozeß wurde verstärkt durch die aufgrund der gemeinsamen deutschen Sprache einzigartige Möglichkeit, westliche, bundesdeutsche Rundfunk- und Fernsehsender zu empfangen und mitzuverfolgen. Angesichts der durch die SED systematisch unter ideologischen Gesichtspunkten gesteuerten Print-, Hör- und Bildmedien bekamen die freien Informationen im Ralunen pluralistischer Berichterstattung durch bundesdeutsche Medien einen besonders hohen Stellenwert. 40 Jeden Abend um 20 Uhr vollzog sich so bei dem Sehen der "Tagesschau" eine Art stille Wiedervereinigung im Kleinen. Informationen über die Bundesrepublik, vor allem aber 38 Dazu W. Obst, früher Wirtschaftsexperte für ökonomische Grundsatzfragen im Büro des Ministerrates der DDR: W. Obst, Reiz der Idee - Pleite der Praxis, Osnabrück 1983. 39 Darauf verweisen auch die zuerst illegal gesammelten Beschreibungen von DDRBürgern zum 40. Jahrestag der DDR, veröffentlicht als: B. Bohley u. a. (Hg.), 40 Jahre DDR: .. . und die Bürger melden sich zu Wort, Frankfurt/M. 1989. 40 So die Forschungsergebnisse in K.A. Hesse, Westmedien in der DDR, Köln 1988.

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auch über die DDR selbst wie über die Reformvorgänge in der UdSSR oder in den anderen osteuropäischen Staaten, die über die bundesdeutschen Medien verbreitet wurden, bekamen im Revolutionsjahr 1989 einen besonders hohen politischen Stellenwert. Denn in der Tat wurden die Ereignisse des vergangenen Jahres in ihrer politischen Wirkung wesentlich verstärkt durch die Berichterstattung westlicher Rundfunk- und Fernsehanstalten über die Flüchtlingswelle, die Situation in den besetzten Botschaften, die geglückten Fluchten, beginnende Proteste und Demonstrationen. Die gegenüber dem eigenen Fernsehen angenommene Tatsachentreue dieser Berichterstattung, die im Verlauf der Revolution von DDR-Bürgern zunehmend vor Ort für ihre Zwecke genutzt wurde, ließ sie zu einem wichtigen Bedingungsfaktor der Einstellungs- und Handlungsorientierung von Menschen in der DDR werden. Dieser Einfluß der westdeutschen Berichte und Reportagen konnte auch nicht reduziert werden durch die verschwörungstheoretische Behauptung Karl Eduard von Schnitzlers in einer der letzten Sendungen des Schwarzen Kanals, die ganzen Vorgänge seien eine von der Bonner Regierung mit dem Bundeskanzleramt als Schaltzentrale systematisch gesteuerte Untergrabungskampagne des Sozialismus. 3. Erfolge der Deutschlandpolitik Neben spezifischen Ereignissen innerhalb der DDR wurde die ftir den Ausbruch der Revolution wichtige, angespannte psychische Stimmungslage der DDR-Bürger beeinflußt durch die bundesdeutsche Deutschlandpolitik der achtziger Jahre. Basierend auf dem Grundlagenvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten, der 1973 in Kraft trat, wurde im Zuge der Vertragspolitik sukzessive eine institutionalisierte Form politischen, ökonomischen und kulturellen Austauschs geschaffen, der dazu beitrug, die Einheit der Nation zu wahren. Speziell im Bereich der praktischen "menschlichen Erleichterungen" gewann die Ermöglichung von gegenseitigen Besuchsreisen einen besonders hohen Stellenwert. So schwoll etwa ab Mitte der achtziger Jahre der Besucherstrom von Bundesbürgern in die DDR enorm an. Noch wichtiger aber waren umgekehrt die Reisemöglichkeiten von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik. Dieser Reiseverkehr machte 1988 einen Umfang von über 5 Mill. Reisen aus, wobei etwa 1,2 Mill. DDR-Bürger unterhalb des Rentenalters Verwandte oder Freunde in der Bundesrepublik besuchen konnten. Den beabsichtigten deutschlandpolitischen Zweck konnten diese Reisen dabei tatsächlich erflillen : sie vermittelten "unmittelbare Eindrücke von der Lebenswirklichkeit im jeweils anderen Teil unseres Vaterlandes, schaff(t)en gegenseitiges Verständnis und stärk(t)en das Zusammengehörigkeitsgeflihl der Deutschen". 41 Zusammen mit dem kontinu41 D. Wilms, Freiheit in Europa - Zukunft flir Deutschland, Bonn 1989 ; dazu : BM flir innerdeutsche Beziehungen (Hg.), Deutschlandpolitische Bilanz 1988, Bonn 1989.

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ierlich gewachsenen Brief-, Paket- und Telefonverkehr entstand so, trotz der Kontrollen durch den Staatssicherheitsdienst, ein beachtliches Informationspotential. Vor allem konnten viele DDR-Bürger die realen Verhältnisse der "kapitalistischen" Bundesrepublik vor Ort persönlich erleben und mit den eigenen "sozialistischen" Verhältnissen vergleichen, was oft zu einem psychischen Schock flihrte. Die sich stark verbreitenden Geflihle des "Betrogenwerdens" fanden hier ihre geflihlsmäßige Basis. Bei diesen DDR-Bürgern wurde es ftir die DDR-Agitatoren nahezu unmöglich, den eigenen Sozialismus-Anspruch als einer besseren Gesellschaft gegenüber einem "rückständigen, verfaulenden Kapitalismus" durchzusetzen. Sich deutlich erhöhende Glaubwürdigkeitsverluste der SED und eine außerordentliche Verstärkung der Fluchtmotivation waren zwangsläufig die Folge. 1m Nachhinein erscheint es wie eine Ironie der Geschichte, daß Erich Honecker sich bei seinem Besuch in Bonn 1987 auf dem Gipfel seiner Macht wähnte, als er mit den Insignien des DDR-Staates, Fahne und Hymne, empfangen wurde. Zugleich legte er aber durch eine seiner ,politischen' Gegenleistungen in Form der Erweiterung von Reisemöglichkeiten ftir DDR-Bürger einen wichtigen Grundstein zu seinem eige~en Sturz arn 18. Oktober zwei Jahre darauf. IV. Die innenpolitischen Entwicklungen in der DDR

Die bisher geschilderten Bedingungsfaktoren der Revolution in der DDR korrespondieren mit solchen aus einem dritten Bedingungsfeld: der innenpolitischen Entwicklung der DDR in den letzten Jahren, besonders aber im Jahr 1989. Die Abwehr Gorbatschowscher Reforminitiativen, das Nichtgewinnen der Jugendlichen flir den Sozialismus, die ökonomische, soziale und ökologische Misere sowie spezifische Fehlentscheidungen der SED im letzten Sommer führten zu einer latent revolutionären Situation. 1. Die Abwehr des Gorbatschowschen Reformansatzes Von Anfang an sah die SED in der ökonomischen und geistig-ideologischen Erneuerungspolitik Gorbatschows angesichts der exponierten Lage der DDR zur Bundesrepublik eine Gefahrdung ihrer Macht. Da es ihr aufgrund der Bündniszugehörigkeit nicht opportun erschien, diese Ablehnung politisch allzu deutlich zu zeigen, 42 verfolgte die SED eine Doppelstrategie selektiver Anpassung respektive Ablehnung. Zum einen wurde in den Dimensionen der Außen-, Frie42 Siehe dazu G. Meyer, Perspektiven des Sozialismus oder Sozialismus ohne Perspektive? Entwicklungstendenzen und Widersprüche in der DDR-Gesellschaft, in : G. Meyer/J. Sehröder {Hg.), DDR heute, Tübingen 1988, S. 11 ff.

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dens- und Abrüstungspolitik völlige Übereinstimmung mit dem Reformwerk Gorbatschows betont. Zum anderen wurde aber versucht, die Perestroika zu konterkarieren durch den Appell an den Stolz der DDR-Bürger auf die eigenen Aufbauleistungen und wirtschaftlichen Erfolge. Schließlich sei es die DDR, von der die UdSSR lernen könne. Bei dieser Argumentationslinie fiel faktisch sowohl die Einführung von Marktelementen in der Wirtschaft als auch die Demokratisierung der Betriebe unter den Tisch. Zugleich sollte dadurch von dem ganzen Bereich der Glasnost, der freieren Meinungs- und Presseäußerungen in Politik, Wirtschaft und Kultur, abgelenkt werden. Ziel der SED war es dabei weiter, mit dem Prozeß der Reformierung und historischen Aufarbeitung des stalinistischen Sozialismus verbundene Fragen wie die nach dem Hitler-StalinPakt, der Auslieferung deutscher Kommunisten an Hitler oder nach dem Involviertsein führender SED-Genossen in die Verhaftung deutscher Kommunisten durch Stalins berüchtigte Geheimpolizei zu unterdrücken. 43 Die Gegnerschaft zur Politik Gorbatschows ging sogar so weit, daß 1989 am 1. Mai zum ersten Mal in der Geschichte der DDR die üblichen Losungen des ZK der SED ohne die Beschwörung des Bruderbundes mit der UdSSR verkündet wurden. So kam es nicht von ungefahr, daß der Volksmund die Losung aus den SOiger Jahren "Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen" ironisierte in "Von der Sowjetunion lernen will gelernt sein". Die Abwehrhaltung der SED zur Umgestaltungspolitik Gorbatschows stieß angesichts des angestauten Reformbedarfs bei vielen DDR-Bürgern auf völliges Unverständnis. Beides, der Tatbestand der Auflösung des Stalinismus im ,Mutterland des Sozialismus' und die Ablehnung dieses Prozesses durch die SED, bedingte eine aggressive Enttäuschungshaltung in der DDR. Diese steigerte sich, besonders bei Jugendlichen, durch den Versuch der SED, mittels eines defacto-Verbots der russischen Zeitschrift "sputnik" Kenntnisse über stalinistische Verbrechen zu unterdrücken. 44 Die kollektive Erfahrung der Niederschlagung des 17. Juni 1953 und bisheriger Reformversuche im Ostblock hatte den DDR-Bürgern verdeutlicht, daß von der UdSSR keine demokratische Öffnung zu erwarten war, aber auch, daß die westlichen Staaten angesichts möglicher Eskalation in einen atomaren Konflikt zu militärischer Hilfeleistung nicht bereit waren. Als sich nun die politischen Bedingungen in der UdSSR zu wandeln begannen, wurden nun um so stärker alle Erwartungen, Sehnsüchte und Hoffnungen auf den Reformator Gorbatschow projiziert, der jetzt zum überdimensionalen kollektiven Hoffnungsträger der Deutschen in der DDR wurde. Mit "Gorbi, Gorbi" oder "Gorbi, hilf uns"-Rufen wandten sich -früher undenkbar- die DDR-Bürger auf 43 Aufgearbeitet hat dieses W. Weber, "Weiße Flecken" in der Geschichte, Frankfurt/ M. 1989. 44 Eine Zusammenfassung der wichtigsten Ac1fsätze 1988 und 1989 ist erfolgt im "Sonderheft Sputnik", Moskau o.J.

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Kundgebungen und Demonstrationen gegen die eigene SED-Führung. Daß diese darauf nicht politisch angemessen zu reagieren vermochte und eine mögliche Strategie begrenzter Reformen unterließ, war, worauf inzwischen auch Schabowski verweist, eines der großen Fehler der SED, der zu einer Bedingung ftir die Freiheitsrevolution wurde und schließlich mit zu dem Untergang der SED führte. 2. Das Versagen der marxistisch-leninistischen Jugendpolitik "Wer die Jugend hat, hat die Zukunft" - diese Losung, die die Identität der staatstreuen Jugend mit der SED propagandistisch darstellen sollte, schlug spätestens in den achtziger Jahren in das Gegenteil um. Die Obernahme westlicher jugendlicher Orientierungsmuster, Lebensformen und kultureller Stile bei den in der DDR geborenen Generationen machten das Scheitern einer eigenständigen sozialistischen Jugendkultur deutlich. Gerade die Jugendlichen sahen immer weniger in der sozialistischen Weltanschauung und im konservativen, reformunfähigen DDR-Staat ihre Zukunft. Dagegen war aufgrundseiner Reformen gerade Gorbatschow bei den Jugendlichen zum Hoffnungsträger par exellance avanciert. Illegal aus Polen besorgte Sticker oder I-shirts mit einem Gorbatschow-Konterfei fanden bei ihnen reißenden Absatz. Die Unfähigkeit der alten Führungsgarde um Bonecker, aber auch der FDJ-Führung unter Aurich, von ihrer paternalistischen Bevormundung der Jugendlichen abzugehen, Freiraum zur persönlichen Entfaltung zu schaffen und Reformimpulse der Jugend aufzunehmen, trugen erheblich zur großen Resignation und immer deutlicheren Abwendung der Jugendlichen von "ihrem" Staat DDR bei. 45 Nicht nur die Zahl jugendlicher Antragsteller auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR stieg rapide an - auf dem Leipziger Kirchentag im Sommer 1989 wurde bekannt, daß etwa jeder 5. Jugendliche/Junge Erwachsene in Leipzig einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Vielmehr läßt sich auch anhand von damals geheimen Umfragen ein dramatischer Meinungsbruch der DDR-Jugendlichen in dem Zeitraum ab Mitte der achtziger Jahre feststellen: 46 so sank die starke Identifikation von Lehrlingen mit dem Marxismus-Leninismus von 46% im Jahre 1975 auf 9% im Jahr 1989 (Mai); 45 Das nicht-sozialismuskonforme Verhalten von Jugendlichen wurde nicht auf seine eigentlichen Ursachen hin analysiert, sondern auch hier als bedingt durch die imperialistische Subversion im Bereich der PID angesehen; vgl. z. B. die Lektion für die zentrale politisch-operative Fachschulung von MfS-Angehörigen "Die vorbeugende Verhinderung, Aufklärung und Bekämpfung des feindlichen Mißbrauchs gesellschaftswidriger Verhaltensweisen Jugendlicher in der DDR", MfS Vertrauliche Verschlußsache - o001 JHS-Nr. 71 /82 I u. li. 46 Daten des Leipziger Zentralinstituts ftir Jugendforschung bei: W. Friedrich, Mentalitätswandlungen der Jugend in der DDR, in: aus politik und Zeitgeschichte, Nr. B 16-17, v. 13.4.1990, S. 25ff. ; vgl. auch W. Büscher/P. Wensierski, NullBockauf DDR Aussteigerjugend im anderen Deutschland. Harnburg 1984.

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die Meinung: "Der Sozialismus wird sich in der ganzen Welt durchsetzen" vertraten 1975 noch 63%, im Mai 1989 nur noch 10%, im Oktober 1989 ganze 3%; hatten auf die Frage: "Wird nach ihrer Meinung in der DDR die Staatsmacht so ausgeübt, wie Sie es für richtig halten?" 1981 nur 25% mit Ablehnung geantwortet, so betrug die Ablehnungsquote 1988 bereits 49% und im Oktober 1989 gar 85%. So wird verständlich, daß gerade Jugendliche und junge Erwachsene einen immens großen Gruppenanteil sowohl an den 1989 flüchtenden DDR-Bürgern, an den Mitarbeitern in oppositionellen Gruppen als auch an den Demonstranten stellten. Stimuliert wurde die offensichtliche Abkehr und die drastische Fluchtbewegung junger DDR-Bürger wie auch deren Bereitschaft, gegen die SED auf die Straße zu gehen, zusätzlich durch die (damalige) Bildungsministerin Margot Honecker, die in völliger Verkennung der politisch-gesellschaftlichen Situation noch im Sommer 1989 auf dem IX. Pädagogischen Kongreß die Jugend der DDR dazu aufrief, den Sozialismus mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. 3. Der Niedergang der DDR-Wirtschaft Die Ergebnisse der Wirtschaftsproduktion waren bei den DDR-Bürgern schon immer ein hochsensibler Punkt zur Beurteilung der SED-Herrschaft. Doch auch im 40. Jahr der DDR schaffte es die SED über den zentralisierten Produktionsund Lenkungsmechanismus nicht, in wichtigen Herstellungsbereichen wie der Obst- und Gemüseproduktion, der PKW-Produktion oder dem Dienstleistungssektor ein ausreichendes Warenangebot zur Verfügung zu stellen. 4 7 Der politische Witz in der DDR brachte dies prägnant zum Ausdruck: "Man hat jetzt ein für alle Mal, objektiv, festgestellt , daß ein DDR-Bürger entgegen Engels Schrift nicht vom Affen abstammen kann. Oder hat man schon jemals einen Affen 40 Jahre lang ohne Bananen gesehen?" In den letzten Jahren mußten die DDR-Bürger nicht nur eine reale Verschlechterung des Warenangebotes hinnehmen, sie mußten dafür auch noch mehr bezahlen. Angebotsverknappung, inflationäre Tendenzen, ungünstigere Austauschrelationen mit den westlichen Staaten (terms of trade) und eine hohe Betriebs- wie Staatsverschuldung waren Indikatoren des ökonomischen Niedergangs. Die dadurch anwachsende Unzufriedenheit der DDR-Bevölkerung wurde gesteigert durch die Produktion mit einem in vielen Bereichen technologisch völlig veraltetem Maschinenpark, 47 Vgl. dazu G. Schneider, Wirtschaftswunder DDR. Anspruch und Realität, Köln 1988 und H. Maier , Innovation oder Stagnation, Köln 1987.

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durch die chronische und sich steigernde Devisenknappheit und durch die auf dem XI. Parteitag der SED beschlossene Modernisierungsstrategie im Bereich der Mikroelektronik als "Schlüsselindustrie": beides entzog erhebliche Ressourcen im Bereich des Konsumgüterangebotes flir die Bevölkerung; man konnte bereits hören : ,unter Ulbricht ging es uns besser!' durch den rapiden Städteverfall, die zunehmend maroder werdende Altbausubstanz und die dadurch bedingte Wohnraumverknappung trotz des Neuwohnungsbauprogramms durch die mangelnde Versorgung im Gesundheitssystem durch eine horrende Umweltverschmutzung, die gerade im hochindustrialisierten Süden der DDR - vor allem durch eine verfehlte Wasser-, Luft- und Energiepolitik - zu besonders schlimmen ökologischen, physisch wie psychisch immer schwieriger zu verkraftenden Belastungen flihrte. Die katastrophalen Verhältnisse waren flir viele DDR-Bürger gerade aus diesen Ballungsgebieten der Auslöser, den Ausreiseantrag zu stellen, später dann über Ungarn zu fliehen oder nach dem 9. November in die Bundesrepublik überzusiedeln. Einige Landstriche im Süden haben inzwischen nur noch 70-80% ihrer ursprünglichen Bevölkerung. 4. Dramatische Fehlentscheidungen der SED Die bereits angespannte psychische Stimmungslage der DDR-Bürger, die mit zu dem großen Zulauf zu den Massendemonstrationen im Oktober beitrug, wurde zudem in diesem Jahr zusätzlich belastet durch spezifische Fehlentscheidungen der SED, die sich damit ihren eigenen politischen Handlungsspielraum selbst beschnitt. So waren beispielsweise zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober überall große Jubelfeiern von der SED verordnet; allerdings wußte wohl außer dieser kaum ein DDR-Bürger, wo angesichts des desolaten Zustandes des Landes und angesichts der akuten Fluchtwelle ein Grund zum Feiern liegen sollte. So wurden diese Feiern zu einem drastischen Massenerlebnis der großen Inkonsistenz zwischen Anspruch der SED und realem Zustand des Landes. Hinzu kamen große Verärgerungen über die vermuteten großen Kosten dieser Feiern, die sich über das ganze Jahr erstreckten. Allein das Pfingsttreffen der FDJ '89 zum vierzigjährigen Bestehen des Sozialismus in der DDR verschlang, so wurde später bekannt, über 100 Mill. Mark, flir DDR-Verhältnisse eine unvorstellbar große Summe. 48 •• Vgl. dazu B. Baule/G. Czeromin, " Aller guten Dinge sind drei: DDR-SED-FDJ"das Pfingsttreffen der FDJ in Ost-Berlin, in: Deutsche Studien Nr.l 08, 1989/ 1999, S. 35 7 ff. ; als im Dezember 1989 bekannt wurde, daß zur Finanzierung dieser F DJ-Veranstaltung " Soli"-Gelder, die automatisch bei der Gehaltsabrechnung der DDR-Bürger vom Ko nto abgebucht und vom FDGB v. a. für So lidaritätsaktionen in der Dritten Welt verwandt werden

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Gerade im 40. Jahr setzte die SED alles daran, ihre Vormachtstellung in der DDR nicht preisgeben zu müssen. Dieses machte die vermehrte Stützung auf ihre traditionellen Herrschaftsmittel deutlich, mit denen sie den durch die offensichtliche ideologische Sinnentleerung bewirkten Autoritätsverlust zu kompensieren versuchte. Dabei gaben nicht nur die haushaltsmäßigen Mittelerhöhungen ftir das Ministerium ftir Staatssicherheit, sondern mehr noch der neue "Kampfauftrag" der direkt der SED unterstellten Betriebskampfgruppen der Arbeiterklasse Anlaß zu großer Besorgnis in der Bevölkerung. Denn dieser paramilitärische Verband mit einer Stärke von etwa 400 000 Mann, bisher zuständig für Objektschutz und spezielle militärische Einsätze im sog. Ernstfall eines neuen Krieges, wurde im Frühjahr 1989 für die Zerschlagung von Konterrevolutionen, speziell für die Zerschlagung von Demonstrationen und die Festnahme von "Rädelsführern" ausgebildet. Umgehend praktiziert wurde dieses auch bereits im Mai 1989 bei den Kommunalwahlen, wo angesichts befürchtetet Demonstrationen 16 000 Mann der Betriebskampfgruppen aus der ganzen DDR zusammengezogen wurden und in Verbindung mit Angehörigen des Staatssicherheitsdienstes ganz Leipzig in einem doppelten Ring von der Außenwelt abschnitten. 49 Die in dieser Demonstration ihrer Machtmittel liegende Drohung wurde erneuert durch die Chinaerklärung des Politbüros im Juni 1989. In Peking hatten sich damals Hunderttausende von Studenten und Arbeitern auf dem TiananmenPlatz über Wochen hinweg versammelt, um flir Menschenrechte und Demokratie zu demonstrieren. Die chinesische KP, die sich fundamental in ihrer Macht bedroht sah, reagierte darauf mit dem Einsatz der chinesischen Armee, die auf dem Platz des Himmlischen Friedens und in den angrenzenden Straßen Tausende von Menschen erschoß, mit Panzer niederwalzte oder verhaftete. Obwohl das Fernsehen der DDR von diesen Ereignissen keine bewegten Bilder zeigte, war durch die bundesdeutschen Medien jeder DDR-Bürger darüber informiert. Das Entsetzen über das Massaker 50 wurde zur hellen Empörung, als das Politbüro der SED dieses blutige Morden in einer offiziellen Erklärung mit dem Argument zu rechtfertigen suchte, daß es ja Konterrevolutionäre gewesen seien. Diese Politbüroerklärung wurde über den eigentlichen Anlaß hinaus sofort verstanden als Einschüchterungsversuch, als offene Warnung, daß im ähnlich gelagerten Fall solcher Demonstrationen NV A und Betriebskampfgruppen ebenfalls den Parteibefehl erhalten würden, in gleicher Weise gegen die eigene Bevölkerung loszugehen. Damit wuchs nicht nur die moralische Empörung der sollten, in Höhe von etwa 50 Mill. Mark zweckentfremdet worden waren, \\·ar die Empörung bei der DDR-Bevölkerung besonders groß. 49 Dazu gehörte auch das Abfangen westlicher Journalisten und Fernsehrepo rter auf dem Weg nach Leipzig. 50 Vielfältige Dokumente über die ganze damalige Situation finden sich bei: R. Cremerius/D. Fischer/P. Schier, Studentenprotest und Repression in China April bis Juni 1989, Harnburg 1990.

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DDR-Bürger, vor allem junger Menschen, weiter an, sondern auch der Fluchtdruck. Ein weiteres Ereignis hatte zuvor bereits der Empörung der DDR-Bevölkerung ebensoviel Nahrung gegeben, nämlich die Kommunalwahlen im Mai 1989. Denn hier konnte zum ersten Mal durch mutige DDR-Bürger und mit starker Unterstützung der ev. Kirche anhand von eigenen Strichlisten die systematische Fälschung der sowieso nur akklamativen Charakter tragenden Wahlen aufgedeckt werden. Gegenüber den vom Politbüromitglied und Vorsitzendem der Wahlkommission Egon Krenz verkündeten 1,15% Gegenstimmen wurden in verschiedenen Stimmbezirken bis zu 15% nicht ausgewiesener Nein-Stimmen gezählt und (kirchen-)öffentlich publik gemacht. 51 Die einsetzende Flut von Protesten und Eingaben von DDR-Bürgern machte die angestaute Wut deutlich. Trotz eines entsprechenden Befehls vom Chef des Staatssicherheitsministeriums Mielke, dagegen mit allen zur VerfUgung stehenden Mitteln vorzugehen, 52 ließ sich dieser Bürgerprotest nicht mehr unterdrücken. Noch auf den Oktoberdemonstrationen wurde die Forderung nach Wiederholung der Kommunalwahl erhoben. Diese Entscheidungen der SED im Sommer 1989 ließen ihren Glaubwürdigkeitsverlust total werden und trugen zusammen mit den anderen genannten Faktoren der SED-Politik erheblich zu der aufgeladenen Atmosphäre in der Bevölkerung bei. Tiefe Resignation und das Abtauehen in die innere Emigration waren gepaart mit einer steigenden Wut auf die herrschende SED und einer wachsenden Bereitschaft, nicht mehr schweigend alles hinzunehmen, sondern dagegen zu handeln. Angesichts der Fluchtmöglichkeit über Ungarn oder den Botschaften entschieden sich nun, angesichtsder Verhältnisse in der DDR, ganze Familien flir diese Lösung. Dieses brachte nicht nur eklatante Versorgungslücken in der DDR mit sich, sondern ließ auch ein schmerzliches "Beziehungsloch" ftir die zurückgebliebenen Verwandten, Freunde oder Bekannten entstehen. Zudem ging der Riß oft mitten durch die Familien selbst, wenn die eigenen Kinder die Flucht wagten. Als in dieser Situation von der SED weder Reformen verkündet noch ein klärendes öffentliches Wort zu den ganzen Ereignissen kam,S 3 die Fluchtwelle innerhalb weniger Wochen dramatisch an" Siehe dazu die Angabe in : Ost-West-Diskussionsforum Nr. 7, Juni 1989, S. 4. Wie wichtig die SED die Wahl als {allerdings erzwungenes) öffentliches Bekenntnis ihrer "erfolgreichen" Politik genommen hat, zeigt z.B. die Verhaftung und Verurteilung einesjungen Mannes, der auf ein Hochhaus in Jena den Satz gemalt hatte: "Wer die Wahl hat, hat die Qual, wer nicht wählt, wird gequält!!; siehe R. Rosenthal, Bloßes Ritual, in: Kirche im Sozialismus 2/1989, S. 69 ff. 52 "Maßnahmen zur Zurückweisung und Unterbindung von Aktivitäten feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Kräfte zur Diskreditierung der Ergebnisse der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989" Vertrauliche Verschlußsache- o008 MfS Nr. 88/ 89. 53 Auch hier charakterisierte der politische Witz treffend die Ratlosigkeit der SED: " Die SED hat ein neues Parteiabzeichen - rote Füße auf schwarzem Grund. Was soll das heißen? Die Genossen tappen im Dunkeln... ".

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stieg und Bilder geglückter Massenfluchten sowie die Situation in den besetzten Botschaften über die bundesdeutschen Massenmedien in die DDR gelangten, brach sich angestauter Haß, Wut und Frustration in spontaner Erregung und politischer Handlungsbereitschaft Bahn. Immer mehr Menschen schlossen sich nun den beginnenden Demonstrationen an, die bereits von den illegalen und halblegalen Oppositionsgruppen, oft im kirchlichen Raum, initiiert worden waren. 5. Kirche und Oppositionsgruppen als Keimzellen der Gegenmachtsbildung Anders als am 17. Juni 1953, wo Rote Armee und SED gemeinsam in kurzer Zeit den Aufstand aufgrund der Spontaneität der Massen und ihrer Unorganisiertheit niederschlagen konnten, gab es bei dieser Erhebung eine gewisse organisationsstrukturelle Grundierung durch die ev. Kirche und durch oppositionelle Gruppen. Dieses bot die Basis dafür, daß die spontanen Erregungsund Handlungspotentiale der DDR-Bevölkerung kanalisiert und damit in den großen Demonstrationen wirkungsmächtig werden konnten. Bewußtseinsmäßig war allerdings diese Struktur nicht zielgerichtet auf eine geplante Revolution der Basis gegen die SED aufgebaut worden. Sie ergab sich zum einen durch einen kirchenspezifischen Veränderungsprozeß selbst: so hatte sich die ev. Kirche gewandelt von einer früheren obrigkeitsgebundenen Kirche hin zu einer basisnahen Gemeindekirche; erst dadurch konnte sie in dem (atheistischen) SEDStaat zu einem Gegenpol werden und oppositionelle Gruppierungen vor allem in den örtlichen Gemeinden zulassen. Zum anderen wuchs die Bedeutung der ev. Kirchen erst Stück für Stück in den speziellen Auseinandersetzungesprozessen mit der SED und ihrer marxistisch-leninistischen Weltanschauung in den achtziger Jahren. So ergab sich die wichtige Rolle der ev. Kirche wie auch der oppositionellen Gruppen gleichsam ungep1ant als "List der Vernunft" (Hege!) aus der damaligen Situation heraus; sie speiste sich besonders durch die immer Ungeschminkteren Gesellschaftsanalysen, die Einforderungen von Menschenrechten sowie durch jeweilige aktuelle Protesthaltungen. Bereits 1978 hatte sich die ev. Kirche in den Vereinbarungen von Bischof Schönherr mit Erich Honecker als "Kirche im Sozialismus" einen in der DDRGesellschaft einzigartigen Freiraum erstritten. 54 Zwar sollten freiere Informationen nur ftir den sog. "innerkirchlichen Dienstgebrauch" möglich sein, prak54 Die Entwicklung der ev. Kirche und deren Probleme in der sozialistischen DDR werden verfolgt bei R. Henkys, Gottes Volk im Sozialismus, Berlin-W. 1983 sowie bei P. Maser, Glauben im Sozialismus, Berlin-W. 1990 ; zu Rolle der katholischen Kirche am Beispiel des Eichsfeldes vgl. B. Baute, Reflexionen zu den Bedingungen und dem Verlauf der Freiheitsrevolutio n im Eichsfeld, in: Eichsfelder Heirnatstimmen. Monatszeitschrift der Eichsfelder 1/1991, S. 15 ff.

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tisch aber bedeutete das die Durchbrechung des Vervielfältigungsmonopols der SED. So kam es nicht von ungefähr, daß hier viele Informationen zusammengetragen, vervielfältigt oder in der Kirche zugänglich gemacht wurden, die weit über den Rahmen kirchlicher liturgischer oder karitativer Tätigkeit hinausgingen. Neben Bischofsworten und den Ergebnissen der "ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" waren es vor allem persönliche Stellungnahmen, Bittschriften, unveröffentlichte Leserbriefe, Argumentationskataloge für Kriegsdienstverweigerer, mühsam gesammelte Daten und Fakten zur Umweltsituation oder Nachrichten von Verhaftungen und Verurteilungen Oppositioneller. Die ev. Kirchen wurden zur Ersatzöffentlichkeit für unterdrückte Informationen und den freieren Dialog unterschiedlicher Meinungen. In den letzten Jahren entstand sogar eine vielfältige, oft kirchlich gedeckte alternative "Presse"-l..andschaft in Form hektographierter Flugblätter und Zeitschriften. Besonders wichtig wurden die ev. Kirchen als Ort der Bildung sonst illegaler oppositioneller, reformorientierter Gruppen. Aber auch die innerkirchlichen Synodalbeschlüsse verschiedener Landeskirchen forderten zunehmend in den achtziger Jahren, besonders 1989 auf der Eisenacher Synode (Sept.) dringend notwendige Reformen und die Verwirklichung von Menschenrechten ein. So wuchsen der ev. Kirche zwei wichtige Aufgaben zu: zum einen war sie Schutzmacht geworden für Basisgruppen innerhalb der "Kirche von unten" oder der "Solidarischen Kirche", aber auch für andere Oppositionsgruppen, die inhaltlich nur locker an die Kirche angebunden waren, aber ihres Schutzraumes bedurften; zum anderen wurde sie in immer größerem Umfang als Ausgleichsmacht zwischen Anliegen von DDR-Bürgern und damit kollidierenden staatlichen Interessen in Anspruch genommen. Der vielfältige Einsatz von ev. pfarrern für die "Bedrängten" in der DDR-Gesellschaft, der auch innerkirchlich eine Reihe von Konflikten produzierte, wurde 1989 zunehmend prekärer, der Druck staatlicher Stellen auf sie immer größer. Die personelle Unterwanderung in kirchlichen Einrichtungen und die Bespitzelung von der SED mißliebigen pfarrern durch offizielle und inoffizielle Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes - die Verwanzung des Pfarrhauses von Rainer Eppelmann ist nur ein Beispiel unter vielen - nahmen immer mehr zu . Pfarrer und engagierte Christen waren auf den 1989 von der Staatssicherheit erstellten Listen für den Abtransport in isolierte Internierungslager verzeichnet. Gerade der aus dem Glauben erwachsende Mut vieler pfarrer, diesem staatlichem Druck nicht nachzugeben, sondern dagegen zu protestieren und Messen und Andachten "in den Anliegen unserer Zeit" abzuhalten, wies besonders im Revolutionsjahr auf die herausragende Bedeutung der Kirchen als eines eigenständigen Ortes gesellschaftlich-politischer Opposition und damit auf geistige und begrenzt institutionelle Gegenmachtsbildung zur SED hin. So kam es nicht von ungefähr, daß die ev. Kirchen Sammelpunkte für unterschiedliche Protestaktionen und 1989 der Ausgangspunkt für die großen Freiheitsdemonstrationen wurden.

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Oft angebunden an Gemeinden und kirchlichen Einrichtungen, aber auch unabhängig davon bildeten sich etwa seit Anfang der achtziger Jahre - mitunter unter konspirativen Umständen - oppositionelle Gruppen, die sich spezielle Thematiken zum Ziel ihrer Arbeit setzten. 55 So gab es u.a. Friedensgruppen, die sich sowohl der internationalen Friedensproblematik als auch dem innergesellschaftlichen Abbau der Militarisierung widmeten; ökologiegruppen, die sich in den speziellen Bereichen Wasser, Energie {Folgen des Braunkohlentageabbaus, Probleme der Kernkraftnutzung), Luft, Boden, ökologischer Anbau etc. um Datengewinnung und Bewußtseinsbildung bemühten; 1988 gelang hier ein lockerer überregionaler Zusammenschluß mit netzwerkähnlichen Strukturen als " Grün-ökologisches Netzwerk arche"; als Informations- und Begegnungsorte gewannen auch die über 20 Umwelt- und Friedensbibliotheken ein zunehmendes Gewicht. Bürgerrechtsgruppen, die vor allem die Etablierung echter Menschenrechte in der DDR forderten und Fälle von Mißachtung durch die SED oder der sog. Sicherheitsorgane zu dokumentieren suchten ; Frauengruppen, die sich gegenüber der staatlichen Frauenvereinigung DFD um ein alternatives Durchdringen der Frauenrolle in der sozialistischen Gesellschaft bemühten. Diese oppositionellen Gruppen versuchten, meist in Anhindung an die ev. Kirche, angesichts einer kontrollierten und zensierten Öffentlichkeit mittels verschiedener, aber immer gewaltfreier Aktionen wie Friedensgebete, thematische Gottesdienste, Schweigemärsche, kirchliche Infostände oder kleine Protestdemonstrationen Widerstand zu zeigen, Öffentlichkeit herzustellen, Problembewußtsein zu erzeugen und zur Mitarbeit trotz der gefahrliehen Bedingungen anzuregen. Zu diesen nach den herrschenden Gesetzen des politischen Strafrechts der DDR illegal arbeitenden Gruppen kamen verstärkt ab 1987 Ausreisegruppen hinzu, deren Zahl besonders schnell im Spannungsjahr 1989 anwuchs. Vor allem im Anschluß an kirchliche Friedensgebete oder Gottesdienste "in den Anliegen unserer Zeit" machten sie auf ihr Anliegen aufmerksam. Diese "Ausreiser" waren DDR-Bürger, die aufgrundeines gestellten oder abgelehnten Ausreiseantrages schweren Depravierungen wie Arbeits55 Siehe dazu Minnerup, Politische Opposition in der DDR vor dem Hintergrund der Reformdiskussion in Europa, in: Die DDR im vierzigsten Jahr. Geschichte, Situation, Per· spektiven, Köln 1989, S. 66 ff.; P. Wensierski, von oben nach unten wächst gar nichts. Umweltzerstörung und Protest in der DDR, Frankfurt/ M. 1986; F. Kroh (Hg.), " Freiheit ist immer Freiheit ... ", Frankfurt/M. u. a. 1988; W. Büseher u. a. (Hg.), Friedensbewegung in der DDR, Hattingen 1982; aus Sicht des MfS : "Informationen über beachtcns,,·erte Aspekte des aktuellen Wirksamwerdens innerer feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Kräfte in personellen Zusammenschlüssen" , MfS, ZAIG, Nr. 150/ 89, abgedruckt in : A. Mitter/St. Wolle (Hg.), "Ich liebe euch doch alle . .. " . Befehle und Lageberichte des MfS Januar - November 1989, Berlin 1990.

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platzvertust und besonderen Existenzrisiken, politischen und sozialen Ächtungen, Entsolidarisierungseffekten, praktizierter Sippenhaft bis hin zur Kriminalisierung ausgesetzt waren. Zwischen diesen Gruppen kam es 1989 zu einigen Spannungen, da die Zielsetzungen unterschiedlich waren. Riefen die einen "Wir wollen raus", antworteten die reformorientierten Gruppen "Wir bleiben hier". Doch gegenüber dem Staatssicherheitsdienst gab es ein solidarisches Einstehen. Von diesen verschiedenen Gruppen initüerte Aktionen fanden praktisch das ganze Jalu 1989 über statt, vor allem in größeren Städten wie Ostberlin, Leipzig, Magdeburg oder Plauen. Hunderte von DDR-Bürgern beteiligten sichtrotz Observation und drohender Festnalune durch den Staatssicherheitsdienst an diesen Aktionen, wobei die Teilnehmerzahlen im Verlauf des Jahres beständig anwuchsen. Diese vielfältigen, oftmals kleinen Oppositionsgruppen, vom MfS als "feindlich-negative Kräfte" bezeichnet, hatten im Laufe der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, ähnlich wie viele Mitarbeiter der ev. Kirchen, ein spezifisches Potential an Widerstands- und Organisationserfahrung angesammelt und bildeten gewissermaßen eine Art kleiner "Gegenelite". Daher konnten diese Oppositionsgruppen zusammen mit Gemeinden der ev. Kirchen und den sich im Herbst neu gründenden Organisationen, zum Beispiel dem Neuen Forum, den Nucleus ftir die kommenden Massenproteste bilden. Denn angesichts enttäuschter Reformerwartungen, des ökonomischen und ökologischen Desasters, des Ausbaus staatlicher Repressionsinstrumente und der großen Fluchtwelle schlug im September und Oktober 1989 bei immer mehr DDR-Bürgern die Stimmung, daß es so nicht mehr weiter gehen könne, in revolutionäre Handlungsbereitschaft um. Den Anziehungspunkt für diese Menschen bildeten nun die Orte und Aktionen der oppositionellen Kerngruppen. Aus zwei Gründen besaßen diese dabei eine besondere Attraktivität: zum einen hatten die ev. Pfarrer sowie die protestierenden Oppositionellen in einer durch starke Anpassungszwänge gekennzeichneten, aber dadurch auch korrumpierten Gesellschaft ihre moralische Glaubwürdigkeit behalten; zum anderen hatten sie bereits frühzeitig die sonst den normalen Alltag beherrschende Angst vor dem mächtigen Staatssicherheitsdienst abgelegt und sich trotz aller persönlichen Risiken, die von beruflichen Nachteilen über Stigmatisierungen bis zu Verhaftungen und Verurteilungen reichten, zu immer neuen Aktionen bereitgefunden. Dieser persönliche Mut, immer wieder neu anzufangen und so den Versuch einer freiheitlichen Existenz zu wagen, und die damit verbundene Bereitschaft zum gewaltfreien zivilen Ungehorsam, lieferte gerade in der äußerst angespannten psycho-sozia· len Atmosphäre im Herbst 1989 das entscheidende, bereits praktisch vorgelebte Verhaltensmodell gegenüber der Staatsmacht SED. So konnten dann andere DDR-Bürger in ihrer akuten Protestbereitschaft an dieses Vorbild anknüpfen und es zu ihrem eigenen machen. Damit verhalfen sie den Demonstra-

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tionen trotz der Stasi-Einsätze zu einer Mächtigkeit, die dann wiederum immer mehr DDR-Bürger zum Mithandeln veranlaßte und das schnelle Anwachsen dieser Demonstrationen zu politisch wirksamen Massenkundgebungen in Gang setzte. Die Zahlen aus dem Revolutionsort Leipzig verdeutlichen dieses: demonstrierten dort an der Nicolaikirche jeweils am Montag nach dem Friedensgebet Anfang September einige Hundert DDR-Bürger, so waren es am 19.9. über Tausend (wobei Hunderte verhaftet wurden); am 25.9. bereits über 5 000 - die bis dahin größten Demonstrationen seit dem Juni-Aufstand 1953; am 2.1 0. rund 20 000, die erste große Massendemonstration; am 7.10., dem 40. Jahrestag, über 7 000 (mit Verhaftung sogar von Kindern); am 9.1 0., dem Tag einer möglichen gewaltsamen "Lösung", rund 70 000 ; am 16.10. ca. 120000; am 23.10. ca. 300000und am 30.10. über 400 000 protestierende DDR-Bürger. Die gemeinsamen Losungen lauteten: "Nieder mit der Diktatur", "kein Machtmonopol für eine Partei" , "Demokratie", "freie Wahlen", "Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Reisefreiheit". Mit ihnen wurde der Sturz der totalitären Einparteiendiktatur eingeleitet. In dieser revolutionären Situation hatte die SED angesichts anhaltender Massenfluchten und der zahlenmäßig immer stärker werdenden Massendemonstrationen, die zunehmend auf andere Städte übergriffen und dort ebenfalls die Monopolherrschaft der SED in Frage stellten, nur noch zwei Handlungsalternativen: entweder abzutreten und dabei aus ihrer Sicht zu retten, was zu retten ist, oder aber den Weg eines brutalen Einsatzes von NVA, Volkspolizei, Betriebskampfgruppen und des Staatssicherheitsdienstes unter lnkaufnahme eines Blutbades zu gehen. Aus verschiedenen, bis heute nicht ganz geklärten Umständen kam es nicht zu der zweiten, allerdings in Leipzig bereits anvisierten "chinesischen Lösung". So brach das Herrschaftsmonopol der SED in wenigen Wochen irreparabel zusammen. Daran konnten auch die letzten brutalen Einsätze der Volkspolizei und des Staatssicherheitsdienstes nichts mehr ändern. Denn diese zeigten den ftir ihre Freiheit demonstrierenden Menschen nur um so deutlicher: " Nackte Gewalt tritt auf, wo Macht verloren ist. " 56 Gewonnene Macht besaßen dagegen nun die Freiheitskämpfer, die Volksmassen auf der Straße, die nun zu einem einzigartigen Ort demokratischer Öffentlichkeit und gewaltfreien Protestes wurde. Das, was ideologisch von der SED usurpiert worden war, wurde nun durch das Volk selbst zurückerobert: Begriffe wie " Demokratie", Arbeiterlieder wie die " Internationale" oder öffentliche Plätze und Gebäude (Rathäuser, Stasigebäude ), 56

Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München 1970, S. 55.

,.Wir sind das Volk!"

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die mit brennenden Kerzen umstellt wurden. Die menschenrechtliehen Forderungen nach freien Wahlen, Reisefreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit, die auf den großen Demonstrationen immer wieder skandiert oder auf Plakaten hochgezeigt wurden, wiesen hin auf die herbeigesehnte neue, demokratische Herrschaftsform. Es war ein aus dem Geist elementarer Freiheitsrechte gespeister Verfassungspatriotismus auf eine noch ungeschriebene Verfassung, der auf den revolutionären Massendemonstrationen geboren wurde.

V. Der errungene Ort des Politischen Indem die Menschen auf der Straße ihre Menschenrechte gegenüber der SEDDiktatur einforderten, nahmen sie uno actu diese zugleich in Anspruch. Damit verwiesen die Demonstrierenden auf das Ursprüngliche und Eigentliche des revolutionären Prozesses überhaupt: auf die Stiftung des Politischen selbst. Durch die totalitäre Diktatur der SED war dieser Raum des Politischen, in dem Menschen in ihrer Pluralität zusammen handeln und frei über die gemeinsamen öffentlichen Belange in diskursiver Auseinandersetzung urteilen, dabei aber zugleich diesen Freiheitsraum sichern,57 vernichtet worden. Jetzt aber wurde in den spontanen, revolutionären Demonstrationen und Kundgebungen dieser Ort wiedergeboren. Dabei machten diese Menschen eine neue, dreifache Erfahrung: sie erlebten in dem Zusammenfinden zum gemeinsamen Handeln ihre eigene Macht und mit dieser zugleich die Ohnmacht der angeblich Mächtigen, die ihre Herrschaft nicht auf Macht, sondern auf Gewalt gestützt hatten; sie erlebten gegenüber der bisherigen paternalistischen Bevormundung ihre Fähigkeit zu einer eigenverantwortlichen politischen Meinung und Urteilskraft in öffentlichen Angelegenheiten; und sie erlebten ihre Fähigkeit des Neu-Anfangen-Könnens, der "Natalität", 58 wie es Hannah Arendt nennt, die nichts anderes ist als eine der Konstitutiva menschlicher Freiheit. Die Aktualisierung dieser menschlichen Freiheitspotenz begründete in diesen Revolutionstagen zusammen mit der Erfahrung gemeinsamer Mächtigkeit und politischer Urteilskraft den eigentlichen Ort des Politischen, in der die Verwirklichung demokratischer Selbstbestimmung erst möglich wurde. Mit 57 Dieser Grundkonsens ist in der Tat immer notwendig: "Das verantwortungsbewufHe, opferbereite Ja der Bürger zu ihrer freiheitlichen Verfassung ist die optimale Bestandsgarantie", K. Löw, die ,Weltanschauung des Grundgesetzes' und der Totalitarismus, in : K. Löw, Totalitarismuscontra Freiheit, a.a.O., S. 198. 58 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, a.a.O., S. 15.

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dieser Gründung war nun ein öffentlicher Raum konstituiert, in dem sich die Menschen in ihren tatsächlichen Meinungen und Forderungen zeigen konnten. Die Wahrnehmung ursprünglicher Freiheit im Neuanfang, der Entschluß zum gemeinsamen Handeln und der Mut, sich öffentlich kenntlich zu machen, gab letztlich den Ausschlag daflir, daß das diktatorische SED-Regime gestürzt und die Basis einer neuen, auf Freiheit, Menschenrechten und Demokratie beruhenden Legitimität politischer Herrschaft geschaffen werden konnte. Allerdings bedurfte es zu dieser Aktualisierung politischer Freiheit im kollektiven Protest einer besonderen, einmaligen historischen Konstellation, die durch die aufgezeigten Bedingungsfelder gekennzeichnet war. Aber ohne das mutige Engagement der Demonstrierenden mit ihrer Bereitschaft, öffentlich und gemeinsam einzutreten flir das Ziel dieser wie jeder echten Revolution, welches ja ,,heute wie seit eh und je nichts anderes sein kann als eben Freiheit", 59 wäre diese einmalige historische Chance verspielt worden. In diesem Sinne waren die revolutionären Ereignisse weder nur das Ergebnis einer Implosion der SED-Herrschaft60 noch haben sie nur einen "die politisch glücklichere und ökonomisch erfolgreichere Entwicklung" 61 der Bundesrepublik Deutschland in puncto Rechtsstaat und kapitalistischer Wirtschaft nachholenden Charakter. Vielmehr bilden sie darüber hinaus in der unerhörten Erfahrung ursprünglicher Freiheit und der Konstituierung des politischen Raumes einen neu entstandenen Ort republikanischen Bewußtseins, an dem sich politische Identität aufbaut, tradiert und jeweils aktuell stabilisiert. In der Geschichte des deutschen Volkes wird daher diese Revolution unübersehbar ein "Geschichtszeichen" 62 werden, das nicht nur an die Fortsetzung der Erfahrung einer freiheitlichen Tradition erinnert, sondern zugleich immer auch daran, daß es heute "nichts mehr (gibt), woflir es sich zu kämpfen lohnte, als das, was das Älteste ist und von allem Anfang an, jedenfalls im Abendland, das eigentliche Wesen von Politik bestimmt hat - nämlich die Sache der Freiheit gegen das Unheil der Zwangsherrschaft jeglicher Art". 63

Hannah Arendt, Über die Revolution, a.a.O., S. 10. Diese These vertritt U. Thaysen, Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk?. Der Weg der DDR in die Demokratie, Opladen 1990. 61 So Habermas, Nachholende Revolution und linker Sozialismusbedarf. Was heißt Sozialismus heute? in: ders., die nachholende Revolution, Frankfurt/M. 1990, S. 181. 62 I. Kant, Der Streit der Fakultäten, in: ders., Schriften zur Anthropologie, Ge· schichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Werkausg. Bd. XI, hg. v. W. Weischädel, s. 357. 63 Hannah Arendt, Über die Revolution, a.a.O., S. 9. 59

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Gerhard Wettig DIE ROLLE DER UDSSR BEI DER VEREINIGUNG DEUTSCHLANDS 1 Die UdSSR und die deutsche Einheit in der Zeit des Ost-West-Gegensatzes

Auf die Entscheidung der USA im Juni 1947, sich in Europa dauerhaft zu engagieren und den demokratischen Aufbau der europäischen Länder zu unterstützen, hatte Stalin mit einer Politik der offenen Konfrontation reagiert. Einer der daraufhin unternommenen Schritte war der Versuch, den Willen des deutschen Volkes zur nationalen Einheit in den Dienst der sowjetischen Sache gegen den Westen zu stellen. Die Volkskongreßbewegung von 1947 bis 1949, die Proklamierung der DDR zum nationalen Staat aller Deutschen und die Einheitskampagnen der frühen flinfziger Jahre gehören in diesen Zusammenhang. Nach dem Volksaufstand des 17. Juni 1953 in der DDR setzte sich im Kreml die Einsicht durch, daß man auf absehbare Zeit hin nicht damit rechnen konnte, die nationalen Geftihle und Wünsche des deutschen Volkes für die eigenen Bestrebungen zu mobilisieren. Die nationalen Einheitsappelle wurden allerdings fortgesetzt, bis in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre eine aktive westdeutsche Deutschland-Politik den Bluff aufdeckte. Die sowjetische Führung war von da an ausdrücklich bestrebt, die Teilung Deutschlands aufrechtzuerhalten und zu befestigen, um die DDR als sozialistischen Staat und als Klammer des Warschasuer Pakts zu konsolidieren. Dieses Bemühen stand so sehr im Vordergrund, daß während der Auseinandersetzungen um die Stationierung der NATO-Raketen von 1979 bis 1983, als die östliche Seite alle propagandistischen Mittel zur Gewinnung der Westdeutschen einsetzte, allein die nationale Frage ausgespart blieb.

IL Zwei grundlegende politische Motivationen der Gorbatschow-Führung

Wie konnte es angesichts der jahrzehntelang konsequent verfolgten sowjetischen Politik der deutschen Zweistaatlichkeit geschehen, daß Gorbatschow schließlich von dieser Linie abwich und zum Verfechter der deutschen Vereini-

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gung wurde? Die Entwicklung, die zu diesem Ergebnis führte, wurde durch zwei endogene Herausforderungen für die UdSSR angestoßen. Nach seinem Amtsantritt sah sich Gorbatschow zum einen mit der Herausforderung konfrontiert, daß sein Land auf der wirtschaftlichen Weltrangliste immer weiter zurückfiel und zunehmend deutliche Züge einer wachsenden Unterentwicklung erkennen ließ, während die entwickelten Industriestaaten des Westens und die sich entwickelnden Länder vor allem Asiens den Übergang zu einer neuen Phase des ökonomisch-technischen Fortschritts erfolgreich bewältigten. Es standen nicht npr die Verheißungen des Sozialismus auf dem Spiel, denen zufolge bereits zu Beginn der achtziger Jahre die Produktivität des Westens überholt worden sein sollte. Noch wichtiger war aus der Perspektive des Kreml, daß längerfristig die einzige Grundlage des sowjetischen Weltmachtstatus, die Militärmacht, gefährdet war. Der neue sowjetische Führer suchte der Herausforderung zuerst mit systemkonformen Maßnahmen (Stadium der "Beschleunigung" oder uskorenie) und dann, als dieses Bemühen scheiterte, mit einem Konzept des Systemwandels (Stadium der "Umgestaltung" oder perestrojka) zu begegnen. Das hatte auch auf internationaler Ebene weitreichende Konsequenzen. Auch wenn Gorbatschow die Parole ausgab, es gehe nicht um "weniger", sondern um ,,mehr Sozialismus", so wurde auch im Laufe des 198 7 eingeleiteten Prozesses immer fraglicher, worin denn nun noch das spezifisch Sozialistische - und damit das zum Westen Gegensätzliche - bestand. Im Verhältnis zu den verbündeten Staaten Osteuropas ergab sich das Novum, daß die Hegemonialmacht Systeminnovationen nicht mehr verhinderte, sondern forderte. 1 Bei der Lösung der Unterentwicklungsprobleme in der UdSSR wurde auch der sowjetischen Außenpolitik eine Aufgabe zugewiesen. Eine als "ökonomisierung" bezeichnete Umorientierung sollte gewährleisten, daß die Beziehungen zu anderen Ländern künftig materielle Mittel nicht mehr verschlingen, sondern vielmehr erlösen würden. Daher sollte sich die Sowjetunion aus politischen Engagements zurückziehen, die ihr Kosten aufbürdeten. Finanzielle Nachteile erwuchsen dem Land, wie eine bereits 1978 angefertigte Studie gezeigt hatte, auch durch die Austauschbedingungen im Rahmen des Rates flir Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Die UdSSR lieferte ihren Partnern überwiegend Energie und Rohstoffe , woflir sie weithin Industrieprodukte erhielt. Die niedrige Qualität der sozialistischen Fabrikation machte dies zu einem schlechten Geschäft. Denn beide Warengruppen wurden zum vollen Wert berechnet, während die Qualitätsmängel die - überwiegend an die UdSSR gelieferten - Fertigerzeugnisse betrafen. 1 Hierzu im einzelnen Gerhard Wettig, Changcs in Soviet Policy Towards the West, London: Pinter 1991, S. 1- 21. Analog dazu die Einschätzung von Bernard Margueritte, The Grand Failure of Mihail Gorbachev, Publication Series of the Institute for the Study of Conflict, Ideology & Policy (Boston University), No. 5, October 1990, S. 4.

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Vor Gorbatschow war kein sowjetischer Führer bereit gewesen, die bisherigen Austauschbedingungen des RGW in Frage zu stellen, weil das die schwierige politische und wirtschaftliche Lage in den verbündeten Ländern weiter zu komplizieren drohte. Das Risiko, daß die westlich vorgelagerten Staaten ihre Regime und Systeme ändern mußten oder g\U zusammenbrachen, sollte zwecks Aufrechterhaltung der sowjetischen Herrschaft in der Region unbedingt vermieden werden. Gorbatschow kam 1986/87 zu der Ansicht, daß er mit diesem Tabu brechen müsse. Die UdSSR konnte es sich angesichts iluer eigenen wirtschaftlichen Probleme nicht leisten, andere Länder auf lange Sicht hin faktisch zu subventionieren. Es war klar, daß sich damit ein zumindest teilweises Abrükken von der "Breshnew-Doktrin" verband. Indem die UdSSR nicht länger bereit war, zur Abwendung von drohenden Krisen in den verbündeten Ländern materielle Opfer zu bringen, verzichtete sie zugleich auf politische Verantwortung und politische Entscheidung in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan. Folgerichtig gestand der sowjetische Führer den osteuropäischen Bundesgenossen zu, daß sie bei der Bewältigung iluer Probleme auch Lösungsmöglichkeiten außerhalb des sozialistischen Systems wählen durften (seit 1988 zugestandene "freie Wahl" oder svobodnyj vybor). Die Verbündeten konnten sich auch an westliche Länder mit der Bitte um Unterstützung wenden. Die Verantwortung ftir die Stabilität in der Region, welche die sowjetische Seite nicht mehr zu tragen bereit war, ging auf die betroffenen Staaten und auf deren prospektive Partner im Westen über. Eine Intervention sowjetischer Streitkräfte im Warschauer Pakt, wie sie 1956 und 1968 stattgefunden hatte und 1980/81 als Drohung ins Spiel gebracht worden war, kam unter diesen Voraussetzungen nicht mehr in Betracht. 2 Das Abrücken von der "Breshnew-Doktrin" war die eine entscheidende Voraussetzung ftir den späteren Wandel der sowjetischen Deutschland-Politik. Der zweite grundlegende Umstand war, daß Gorbatschow seit Ende 1986 wegen der Perestrojka in einen zunehmenden Konflikt mit den meisten verbündeten kommunistischen Regimen geriet. Der sowjetische Führer und seine Mitarbeiter sahen in der "Umgestaltung" ein dringliches Erfordernis nicht nur für ihr eigenes Land. Sie hielten es auch ftir unerläßlich, daß die anderen sozialistischen Staaten auf analoge Weise ihrer politisch-wirtschaftlichen Ordnung neue Stabilität verliehen. 3 Außer in Ungarn und Polen jedoch zeigten die kommunistischen Machthaber keine Neigung, solchen Aufforderungen zu folgen. Sie sahen sich darüber hinaus durch die Appelle des Kreml, durch das sowjetische Beispiel und die damit verbundene Ermutigung oppositioneller Kräfte beHierzu im einzelnen Gerhard Wettig, a.a.O., 22-41. Vgl. z. B. Gorbatschows entsprechende Ausftihrungen in Ost-Berlin am 7.10.1989 (Pravda, 8.10.1989) und das Interview des Leiters der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU, V. Falin, in : Tagesspiegel, 5.10.1989. 1 3

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droht und reagierten vielfach - wie insbesondere Honecker - mit der Anknüpfung von Kontakten zu Gorbatschows innersowjetischen Gegnern. Das ließ es dem sowjetischen Präsidenten immer dringlicher erscheinen, daß in den verbündeten Ländern neue Kräfte an die Spitze traten. Nach einem zu. verlässig erscheinenden Bericht äußerte Gorbatschow bereits im Jahre 1987 gegenüber dem ihm nahestehenden polnischen Führer General Jaruzelski, daß er neben der Wiedergewinnung der Kontrolle über den KPdSU-Apparat im eigenen Lande einen Führungswechsel in den verbündeten Staaten erreichen müsse. Letzteres werde freilich sehr schwer werden. 4 Die Führung in Moskau machte daher ihren Einfluß - freilich unterhalb der Schwelle einer Einmischung in innere Angelegenheiten - geltend, um mit der beftirworteten Richtungsänderung auch einen Regimewechsel in den verbündeten Staaten herbeizuflihren.

l/1 Stadien des Regime- und Systemwechsels in Ostmitteleuropa Der politische Wandel in den nicht-sowjetischen Warschauer-Pakt-Staaten kam zunächst nur langsam in Gang. Auch wenn sich die Anzeichen flir die sowjetische Bereitschaft mehrten, gegenüber Entwicklungen in den "Brüderländern" tolerant zu sein, so blieben doch die Grenzen der Duldsamkeit noch lange Zeit unklar. Die auf Veränderung dringenden Kräfte sahen sich daher zu Zurückhalten veranlaßt. Die am Bisherigen festhaltenden Regime ihrerseits machten sich darauf gefaßt, der sich ankündigenden Bedrohung ihrer Positionen mit allen zu Gebote stehenden Mitteln entgegenzuwirken. In der DDR bereiteten Honecker und seine Leute seit 1988 einen ebenso umfassenden wie systematischen Einsatz von Gewalt vor, um alle inneren Herausforderungen bis hin zum Bürgerkriegsfall bestehen zu können. Solcher Gegenmaßnahmen ungeachtet, machte die Abkehr von der alten Ordnung in Ostmitteleuropa zuerst langsame, dann rasche Fortschritte. Die Entwicklung verlief in aufeinanderfolgenden Stadien. Das erste Stadium wurde Mitte 1988 erreicht, als in Ungarn Kadar abgelöst und durch Reformer ersetzt wurde. Damit standen erstmals an der Spitze eines sozialistischen Landes Kräfte, die willens waren, Problemlösungen außerhalb des hergebrachten Systems zu suchen. Gorbatschow akzeptierte den Orientierungswechsel und rückte damit von der Vorstellung ab , daß nur ein unverbrüchliches Festhalten der Verbündeten am Sozialismus dem sowjetischen Interesse entspreche. Zugleich jedoch wies der Kreml das ungarische Verlangen zurück, daß die Stationierungstruppen das Land verlassen sollten. Allerdings kam der sowjetische Präsident den ungarischen Wünschen insoweit entgegen, als er am 4 So von Bernard Margueritte, a.a.O., S. 4, berichtet aufgrund der Angaben eines Gewährsmannes, der an dem Gespräch teilgenommen hatte.

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7. Dezember 1988 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen eine einseitige Reduzierung der Streitkräfte seines Landes ankündigte 5 und in diesem Kontext militärische Verringerungen auch in Ungarn vorsah. Grundsätzlich galt jedoch, daß Moskau zwar die "freie Wahl" der Verbündeten bei der Gestaltung ihrer jeweiligen inneren Ordnung anerkannte, aber die Forderung nach einer Beseitigung der sowjetischen Militärpräsenz ablehnte. Das zweite Stadium begann mit der Krise der Parteiherrschaft in Polen. Die Kommunisten hatten nicht mehr die politische Kraft, ihre 1981/82 mit den Mitteln der Militärdiktatur restaurierte "ftihrende Rolle" weiter uneingeschränkt aufrechtzuerhalten. Sie waren daher im Einverständnis mit Moskau zu "Gesprächen am runden Tisch" mit der Solidarnase-Opposition bereit. Es wurden Wahlen vereinbart und abgehalten, die der kommunistischen Partei weiter die entscheidende Macht sichern sollten, dann jedoch zu einem politischen Durchbruch flir die demokratischen Gegenkräfte ftihrten. Im August 1989 stand das Land vor der Frage, ob neben den kommunistischen Staatspräsidenten Jaruzelski, den die bisherige Opposition mitgewählt hatte, eine nicht-kommunistische Regierung treten dürfe. Aus Moskau kamen Presse-"Warnungen". Während folgender polnisch-sowjetischer Konsultationen wurde aber eine Verständigung darüber erzielt, daß die Zusammensetzung des neuen Kabinetts frei bestimmt werden könne, wenn die beiden flir die äußere bzw. innere Sicherheit zuständigen Ministerien, die Ministerien der Verteidigung und des Innern, in kommunistischer Hand blieben. Die Führer der polnischen Kommunisten waren mit der Regelung nicht zufrieden und forderten Nachbesserungen. Die sowjetische Führung ging jedoch auf die Wünsche der Genossen in Warschau nicht ein und sprach dem neuen Ministerpräsidenten Mazowiecki ausdrücklich ihr Vertrauen aus, nachdem ein Vertrauter Gorbatschows, der KGB-Vorsitzende Krjutschkow, mit dem neuen polnischen Regierungschef gesprochen und dabei einen positiven Eindruck erhalten hatte. Der Kreml rückte mit diesem Verhalten von dem bisherigen Standpunkt ab, daß überall in den sozialistischen Ländern die kommunistische Partei die entscheidenden Machtpositionen besetzen müsse, bestand aber weiterhin darauf, daß die ftir das Funktionieren des Warschauer Pakts wichtigen Sicherheitsstrukturen unter kommunistischer Kontrolle zu stehen hatten. Die sowjetische Haltung gegenüber dem seit Spätsommer 1989 zunehmend in Bedrängnis geratenden Honecker-Regime markiert das dritte Stadium. Seit langem war die Ausreisebereitschaft eines großen, ständig wachsenden Teils der DDR-Bevölkerung ein kritisches Problem ftir die Machthaber geworden. Nachdem Ungarn die Westgrenze flir seine Bürger geöffnet hatte, war dieses Land in der Urlaubszeit zum Ziel großer Scharen von DDR-Reisenden geworden, die auf diesem Umweg in die Bundesrepublik gelangen wollten. Am 10. September 5

Text : Pravda, 8.12.1988.

4 Löw 2. A.

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tat die ungarische Führung den entscheidenden Schritt, als sie anordnete, daß vom folgenden Tag an die Grenze auch für Menschen aus der DDR offen sein werde. Nach ungarischen Angaben ist Gorbatschow von dieser Maßnahme nicht vorher unterrichtet worden. Vor die vollendete Tatsache gestellt, erklärte er jedoch anschließend sein Einverständnis. 6 Die autonome ungarische Entscheidung hatte dem sowjetischen Präsidenten die Verlegenheit erspart, zwischen der vertraglich vorgesehenen Solidarität gegenüber der verbündeten DDR-Regierung und dem Wunsch nach Verstärkung des Drucks auf das mißliebige Honecker-Regime wählen zu müssen. Für das vierte Stadium war ein Ineinandergriefen von revolutionärer Situation in der DDR und sowjetischer Förderung der auf Regimewechsel dringenden ostdeutschen Kräfte charakteristisch. Entscheidend für die innere Lage der DDR waren drei Faktoren: ein zwar kleiner, aber zunehmend unerschrockener Oppositionskern, eine sich immer eindeutiger vom Regime abwendende Bevölkerung und eine mit Honecker rivalisierende Gruppe im SED-Politbüro. Es entstanden Wechselwirkungen mit Verstärkereffekten. Diese wurden ihrerseits nochmals durch das sowjetische Verhalten auf doppelte Weise vergrößert. Zum einen sorgte der im August 1989 ergangene und danach mehrfach demonstrativ wiederholte Befehl an die sowjetischen Stationierungstruppen, im Falle des Ausbrechens innerstaatlicher Konflikte nicht einzugreifen, 7 für Verwirrung und Verunsicherung bei den Sicherheitskräften der DDR. Zum anderen machte Gorbatschow während seines Besuchs in Ost-Berlin zum 40. Jahrestag der Staatsgründung sowohl den Führungsfunktionären der SED als auch der Öffentlichkeit des Landes klar, daß seine Sympathien woanders als bei Honecker und seiner Politik lagen. 8 Unter diesen Umständen breitete sich in den Armee-, Polizei- und Sonderverbänden sowie in den sie befehligenden Parteidienststellen das Geftihl fehlenden politischen Rückhalts aus. Jedes repressive Handeln gegen die um sich greifenden Demonstrationen schien daher mit einem wachsenden persönlichen Risiko verbunden. Das Ergebnis war, daß die zunächst brutal vorgehenden Sicherheitskräfte seit dem 8. Oktober begannen, keine Gewalt mehr gegen die protestierenden Menschenmassen anzuwenden. Die offene Krise war da. Honeckers Rivalen rafften sich daraufhin am 11. Oktober im SED-Politbüro zu einer Abrechnung mit dem Generalsekretär auf. Nach einer Woche, während der sich die Demonstrationen verstärkt hatten, beschloß das Gremium schließlich die Ersetzung Honeckers durch Krenz. 6 Ausflihrungen des früheren ungarischen Außenministers Gyula Horn auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft ftir Osteuropakunde in Coburg am 12.10.1990. 7 Hierzu insbesondere: Interview mit dem scheidenden sowjetischen Botschafter in der DDR, V. Kocemasov, in: Tribüne, 8.5.1990; I. Maksimycev/P. Men'sikov, " Edinoe germanskoe gosudarstvo"?, in : Mezdunarodnaja zizn', 6/1990, S. 43 - 45. 8 Vgl. Gorbatschows Ausflihrungen in Ost-Berlin am 6. und 7.10.1989 (Pravda, 7. und 8.10.1989).

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Im fiinften Stadium setzte sich die innenpolitische Unruhe in der DDR fort. Aus sowjetischer Sicht war das keine nachteilige Entwicklung. Der neue Generalsekretär der SED entsprach zwar mit seinen Antrittserklärungen dem Wunsch des Kremls nach Reform, genoß aber trotzdem wenig Vertrauen in Moskau. Der sowjetische Favorit war bereits seit langem Modrow. Noch im Dezember bekundeten maßgebliche Persönlichkeiten im Umkreis Gorbatschows ihre Zuversicht, daß dieser Mann mit der - inzwischen desolat gewordenen - Situation in der DDR fertigwerde. Als Dresdner Bezirkssekretär der SED, jedoch ohne Sitz im Politbüro, hatte Modrow freilich keine sofortige Chance der Machtübernalune. Darum hatte der Protest, der in der zweiten Oktober- und ersten Novemberhälfte im Lande gegen Krenz anschwoll, nach sowjetischer Meinung das Gute, Modrow als dem eigentlichen Honecker-Nachfolger den Weg an die Spitze zu bahnen. Dabei unterschätzte der Kreml freilich die Destabilisierungseffekte, die sich mit dem fortlaufend verstärkenden Massenprotest verbanden.

Die zunehmende innenpolitische Bedrängnis veranlaßte Krenz zu einem entscheidenden Schritt, mit dem das sechste Stadium eingeleitet wurde. Nach vergeblichen Versuchen, die aufgebrachte Bevölkerung durch Teilkonzessionen bezüglich der Genehmigung von Westreisen zufriedenzustellen, entschloß sich der SED-Politiker am 9. November dazu, vom nächsten Tag an jedes Reisebegehren ohne besondere Formalitäten erflillen zu lassen. Weder er noch sein Mitarbeiter Schabowski, der die Regelung am Abend bekanntgab, ahnten, welche Wirkung sie damit auslösten. Augenblicklich setzten sich Zehntausende spontan zu den übergangsstellen nach West-Berlin und nach Westdeutschland hin in Bewegung und verlangten, hinübergelassen zu werden. Das diensttuende Personal sah sich dem Druck von ständig anschwellenden Menschenmassen ausgesetzt und schließlich zur Freigabe der Passage genötigt. Von da an war es ausgeschlossen, wieder Reiserestriktionen einzuflihren. Die "Öffnung der Mauer", wie man das Ereignis nannte, entsprach grundsätzlich der Vorstellung Gorbatschows, daß sich die östlichen Länder nicht länger gegen den Westen abschließen dürften. Gleichwohl stießen die überstürztheit und die Unkontrolliertheit des Vorgangs in Moskau auf Kritik. Diese wurde freilich nur intern gegenüber der DDR-Regierung geäußert. In der Öffentlichkeit ließ sich die sowjetische Seite nur zustimmend vernehmen. Die "Öffnung der Mauer" bestärkte den Kreml in der Ansicht, daß Krenz nicht der richtige Mann sei, um das Land über seine schwierige Situation hinwegzubringen. Die sowjetische Führung machte daher ihren Einfluß in OstBerlin geltend, um die Ablösung des SED-Generalsekretärs und die Bildung einer neuen Regierung unter Modrow (die von da an die hauptsächliche Führungsinstitution in der DDR wurde) zu erreichen.9

9

Vgl. Manfred Schell/Werner Kalinka, Wie Krcnz zum Verlierer wurde, in : Die Welt,

25.5 .1990. 4.

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Der Umsturz in der Tschechoslowakei Mitte November 1989 führte zum siebenten Stadium. Das alte kommunistische Regime wurde durch eine neue Regierung ersetzt, in der Kräfte der nicht-kommunistischen Opposition den entscheidenden Einfluß ausübten. Der Wechsel vollzog sich mit sowjetischer Zustimmung. Dabei wurden die Bedingungen erheblich abgemildert, die der Kreml drei Monate vorher bei der Bildung des Kabinetts Mazowiecki in Warschau gestellt hatte. Nicht nur wurde das - im Falle der Tschechoslowakei mit der entscheidenden Richtlinienkompetenz ausgestattete -Amt des Staatspräsidenten dem Dissidenten Havel übertragen, der noch ein halbes Jahr zuvor inhaftiert gewesen war. Auch das innenpolitisch wichtige Innenministerium kam in nicht-kommunistische Hand. Der kommunistische Verteidigungsminister gehörte - wie alle in der neuen Regierung vertretenen Kommunisten dem Reformflügel an und initiierte in rascher Folge Maßnahmen zur Beseitigung des Parteieinflusses in den Streitkräften. Außerdem wurden - wie zu gleicher Zeit auch in Polen - die paramilitärischen Verbände unter kommunistischer Kontrolle aufgelöst. Das waren entscheidende Schritte zur Beseitigung der kommunistischen Machtstrukturen. Zugleich schwand die Konformität der Sicherheitsapparate im Warschauer Pakt dahin. IV. Gorbatschows Deutschland-Politik bis Sommer 1989 Gorbatschow wird als der sowjetische Führer in die Geschichte eingehen, dessen Politik die staatliche Einheit Deutschlands ermöglicht hat. Gleichwohl hat er lange Zeit eine entgegengesetzte Haltung eingenommen. Als er sich im Juli 1987 erstmals mit der These konfrontiert sah, daß die deutsche Vereinigung bald auf der internationalen Tagesordnung stehen werde und daß die Leiter der sowjetischen Politik darum bald mit einem positiven Konzept aufwarten müßten, reagierte er so wie das übrige außenpolitische Establislunent Moskaus mit heftiger Ablehnung. Die Anregung erschien überdies im Blick auf die verbündete DDR so heikel, daß alle Exemplare der entsprechenden Aufzeichnung vernichtet wurden. 10 Die deutsche Frage war freilich von da an in Moskau Gegenstand einer immer wieder auflebenden internen Diskussion, ohne daß die führenden Politiker ihre Einstellung darum geändert hätten. 1m April 1989 wurde dem Außenminister und dem Präsidenten der UdSSR eine umfangreiche Denkschrift vor10 Der Urheber der These, Vjaceslav Dasicev, hat insbesondere am 10.10.1990 auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde in Coburg von dem Sturm der Entrüstung berichtet, dem er damals auf der entsprechenden Sitzung des Beratungsgremiums des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten ausgesetzt war. Der Vorgang ,,·ird in genereller Form auch von Philip A. Petersen in einem bisher unveröffentlichten Papier erwähnt, das auf zwei im Foreign Broadcasts Information Service genannte Quellen - FBIS-SOV-90-053 vom 19.3.1990, S. 39, und FBIS-SOV-90-066 vom 5.4.1990 - ven,·eist.

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gelegt, die sie erneut dazu aufforderte, sich auf das bald akut werdende Problem der deutschen Vereinigung vorzubereiten. Obwohl das Memorandum die weit vorangeschrittene Destabilisierung der DDR darlegte, hielten es führende Persönlichkeiten im Kreml nicht flir angebracht, praktische Konsequenzen zu ziehen. Die deutsche Frage war in vielfacher Weise unbequem und sollte daher kein internationales Thema werden. 11 Daran änderte sich auch dann kaum etwas, als Gorbatschow im Juni 1989 Bonn besuchte und im Interesse der angestrebten engen Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik eine gemeinsame Erklärung akzeptierte, die ausdrücklich feststellte, daß der deutsche Anspruch auf nationale Selbstbestimmung mit den Prinzipien des Friedens und der Verständigung vereinbar war. 12 Selbst angesichts der Einschätzung der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU vom Sommer, daß im kommenden Frühjahr mit um sich greifenden Unruhen in der DDR zu rechnen sei, 13 blieb der ablehnende Standpunkt des Kreml bestehen. Erst als sich im Spätherbst herausstellte, daß die schon vorher stark beeinträchtigte politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Lage in der DDR nach der "Öffnung der Mauer" vollends unhaltbar wurde, konnte die sowjetische Führung die deutsche Frage nicht länger ignorieren. V. Stadien der deutschen Vereinigung

In dem damit einsetzenden achten Stadium der sowjetischen OstmitteleuropaPolitik wurde die Separatstaatlichkeit der DDR zum einen durch die Abwanderungsbereitschaft großer Bevölkerungsgruppen und zum anderen durch die im Lande immer lauter werdenden Rufe nach der staatlichen Einheit Deutschlands bedroht. Die sowjetische Führung war jedoch auch unter diesen erschwerten Umständen nicht willens, die Teilung aufzugeben. Sie erklärte sich lediglich bereit, der DDR eine "freie Wahl" hinsichtlich ihres Regimes und ihres Systems zuzugestehen. Zugleich bestand sie darauf, daß dieser Staat weiter existieren und seine Verpflichtungen im Warschauer Pakt erftillen müsse. Eine Veränderung der Grenzen in Mitteleuropa gefährde die internationale Ordnung in Europa und könne daher nicht zugelassen werden. Die beiden Militärblöcke seien Realitäten, deren Existenz anerkannt werden müsse, wenn die Stabilität des 11 Das Memorandum von V. Dasicev ist später in einer - von der Redaktion des Wochenmagazins um eine Reihe von Absätzen gekürzten - übersetzten Fassung veröffentlicht worden in: Der Spiegel, 6/1990, S. 142-158. Zum damaligen politischen Kontext in Moskau vgl. auch V. Baranovskij, Evropa: formirovanie novoj meidunarodno-politiceskoj sistemy, in: Mirovaja ekonomika i mezdunarodnye otnosenija, 9/1990, S. 6. 12 Text der Gemeinsamen deutsch-sowjetischen Erklärung vom 13.6.1989: Archiv der Gegenwart, 12.6.1989, S. 33411-33413 (deutsch); Pravda, 14.6.1989 (russisch). 13 Siehe die unter Berufung auflnformationen des BND in dem Presseartikel: Moskau befürchtete Aufstand in der DDR, in : Die Welt, 15.9.1989, gemachten Angaben.

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Kontinents nicht aufs Spiel gesetzt werden solle. 14 Wenn Gorbatschow sich äußerte, fligte er als Nuance hinzu, daß man sich gegenwärtig nach der bestehenden Wirklichkeit zu richten habe und die weitere Entwicklung dem Spruch der Geschichte überlassen müsse. 15 Es war allerdings von vornherein zweifelhaft, ob der Kreml diese Linie lange durchhalten konnte. Denn die sowjetische Seite sah sich außerstande, die Wiedergewinnung der Stabilität in der DDR mit materiellen Leistungen zu unterstützen. Die notwendigen Zahlungen flir den Aufbau der heruntergewirtschafteten DDR sollten von der Bundesrepublik geleistet werden. In Moskau war daher von einer "Vertragsgemeinschaft" zwischen beiden deutschen Staaten die Rede, die den Rahmen für die als "Kooperation" bezeichnete westdeutsche Hilfe abgeben sollte. Die Moskauer Überlegungen beruhten auf der Prämisse, daß Bonn zu einer massiven Subventionierung der DDR bereit sein werde, ohne auf Vereinigung zu bestehen. Diese Rechnung ging nicht auf. Bundeskanzler Kolli trat am 28. November 1989 mit "Zehn Punkten" vor den Bundestag, in denen er eine "Vertragsgemeinschaft" im Sinne eines fortschreitenden Prozesses der allmählichen Annäherung und Vereinigung zwischen beiden deutschen Staaten konzipierte. 16 Die sowjetische Führung wandte sich scharf gegen diesen Plan. 17 Mit dem politischen Offenbarungseid Modrows vor der Volkskammer Mitte Januar 1990 begann das neunte Stadium. Die kommunistische Regierung der DDR wußte nicht mehr, wie sie mit dem massenhaften Exodus der Bevölkerung und dem Zusammenbruch der staatlichen Autorität im Lande fertigwerden sollte. Ihr Versuch, den von Bonecker aufgebauten Staatssicherheitsdienst in veränderter Form wiederherzustellen, scheiterte an einerneuen Welle des Protests. Diese Situation überzeugte Gorbatschow endlich davon, daß an der deutschen Einheit kein Weg mehr vorbeiftihrte. Er kam mit dem entmutigten DDR-Ministerpräsidenten Modrow am 30. Januar während dessen Moskau-Besuch überein, daß die deutsche Einigung gemäß dem Zehn-Punkte-Plan Bundeskanzler Kohls als allmählicher Prozeß akzeptiert werden müsse. 18 Der General14 Vgl. u. a. die Ausführungen Schewardnadses vor dem Obersten SO\\"jet am 17 .11. 1989, in: Pravda, 18.11.1989; Interview des stellv. sowjetischen Außenministers V. Petrovskij in : Le Figaro, 2.12.1989 ; Rede Schewardnadses vor dem Politischen Ausschuß des Europa-Parlaments in Brüssel am 9.12. 1989, in: Pravda, 20.12.1989. 15 So Gorbatschow etwa auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Präsident ~itter­ rand in Kicv am 7.12.1989, in: Pravda, 8.12.1989.

Text : Archiv der Gegenwart, 28.11.1989, S. 3395 - 3398. Außenminister Genscher bekam das SO\vjetische Mißfallen während seines MoskauBcsuchs Anfang Dezember 1989 deutlich zu spüren (vgl. Sowjetische ,.Standpauke" zu Kohls Zehn-Punkte-Plan, in: F AZ, 7.12.1989). Öffentliche Bezugnahme auf die Zehn Punkte von sowjetischer Seite: Vostocnaja Evropa na puti k obnovleniju, in: Meidunarodnaja zizn', 1/1990, S. 117 f. 18 Druzeskaja vstreca, in: Pravda, 31.1.1990; Po povodu pozicii pravitel'stva GDR, in: 16

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3.2.1990.

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sekretär der KPdSU ließ damit zugleich die Protektion des Monopolanspruchs der - in ,,Partei des Demokratischen Sozialismus.. (PDS) um benannten - SED endgültig fallen. Schon vorher hatte sich die Führung der UdSSR zur Aufgabe der Militärpräsenz in Ostmitteleuropa entschlossen. Wenn sich die DDR allmählich mit der Bundesrepublik zu einem einheitlichen deutschen Staat zusammenschloß, entfiel die politische Grundlage für die dortige Stationierung der sowjetischen Streitkräfte. Dann aber, so dürfte die Moskauer überlegung gelautet haben, ließ sich die militärische Anwesenheit auch in den anderen drei ostmitteleuropäischen Ländern nicht mehr aufrechterhalten. Dementsprechend zeigte sich der Kreml bereit, mit Prag, Budapest und Warschau über einen Abzug der sowjetischen Truppen zu verhandeln. Die DDR wurde freilich von dem Zurückziehungsangebot vorerst ausgenommen. Wie es hieß, konnte darüber nur im Zusammenhang mit einer gleichzeitigen Evakuierung der Bundesrepublik durch die westlichen Streitkräfte gesprochen werden. Für eine Regelung der deutschen Frage gemäß den Zehn Punkten war es jedoch bereits zu spät. Es kam daher zu einem zehnten Stadium, in dem die sowjetische Führung weitergehende Konzessionen erwägen mußte. Bundeskanzler Kohl hatte von seinem Besuch in Dresden am 19. Dezember 1989 den Eindruck mitgenommen, daß die Bevölkerung der DDR nicht mehr lange auf die Einheit warten wolle. 19 Auch der anschwellende Strom der Übersiedler, der das Desaster in der DDR erheblich verstärkte und die Bundesrepublik vor immer schwerer lösbare Probleme stellte, ließ eine Beschleunigung des Einigungsprozesses notwendig erscheinen. Die entscheidenden Gespräche wurden von dem deutschen Bundeskanzler und dem KPdSU-Generalsekretär am 9. Februar 1990 in Moskau geführt. Kohl bot der UdSSR ein Verhältnis der umfassenden Kooperation an. Gorbatschow erklärte, die "Öffnung der Mauer" habe die deutsche Vereinigung eingeleitet, und fügte hinzu, daß die Gestaltung dieses Prozesses eine Angelegenheit der Deutschen sei. Das hieß im Klartext, daß die sowjetische Seite darauf verzichtete, auf das Tempo und die Ausrichtung des Zusammenschlusses der beiden deutschen Staaten Einfluß zu nehmen. 20 Dementsprechend zeigte sich Außenminister Schewardnadse auf der Ost-West-Konferenz in Ottawa Mitte des Monats bereit, ebenso wie seine Kollegen aus dem Westen eine Beschrän19 Bundeskanzler Kohl hat die Erfahrung von Dresden rückblickend als das entscheidende Moment bezeichnet, das ihm einen rascheren Weg zur Einheit nahelegte als bis dahin erwogen : Heinz Murmann, Das schicksalhafte Jahrfünft (Bericht über ein Gespräch mit Bundeskanzler Kohl), in: Kölner Stadt-Anzeiger, 17./18.11.1990. 20 Vstreca M.S. Gorbaceva i G. Kolja, in : Izvestija, 11.2.1990; Bundeskanzler Kohl vor dem Deutschen Bundestag am 15.2.1990, wiedergegeben in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 26/1990, 16.2.1990, S. 201-208.

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kung der internationalen Verhandlungen über die deutsche Einheit auf die auswärtigen Aspekte zu befürworten und dabei den Vertretern der beiden deutschen Staaten die erste Rolle zuzubilligen (Konzept der "Zwei-plus-VierVerhandlungen"). Während der Moskauer Gespräche war die Frage offen geblieben, welchen sicherheitspolitischen Status das vereinigte Deutschland haben würde. Die Auseinandersetzungen darüber markieren das elfte Stadium. Nach sowjetischer Ansicht ließ sich ein "Gleichgewicht der Interessen" nur dadurch herstellen, daß dem vorherzusehenden Ausscheiden der DDR aus dem Warschauer Pakt ein analoger Austritt der Bundesrepublik aus der NATO entsprechen werde. Das aber war nach der einhelligen Ansicht der Bundesregierung und ihrer Verbündeten nicht akzeptabel, denn das atlantische Bündnis hatte ohne westdeutsche Beteiligung wenig Aussicht, auf dem europäischen Festland überlebensfähig zu sein. Da sich zwar die östliche, nicht aber die westliche Allianz in einem kritischen Zustand befand, war die sowjetische Führung von Anfang an in einer schwierigen Verhandlungslage. In Kenntnis dieser Voraussetzung zögerte Gorbatschow zunächst, die deutsche NATO-Mitgliedschaft unzweideutig abzulehnen. Erst unter wachsendem Druck konservativ-nationalistischer Opponenten im eigenen Land und auf das Zureden von DDR-Ministerpräsident Modrow hin verstand er sich am 6. März 1990 zu einem kategorischen Nein. 21 Die Aufrechterhaltung der damit eingenommenen Position wurde durch den Umstand erschwert, daß Moskau keine Alternative zu der westlicherseits geforderten Lösung hatte. Die anfanglieh verlautbarte Vorstellung einer deutschen Neutalität ließ sich ebenso wenig als Ausgangsbasis flir ein sicheres Europa darstellen wie die Teilnalune Deutschlands an einem zukünftig zu schaffenden kollektiven Sicherheitssystem. Beide Regelungen hätten praktisch eine politische und militärische Renationalisierung des deutschen Staates und der europäischen Ordnung bedeutet. Demgegenüber bot die in der NATO verwirklichte politisch-militärische Integration den Ländern und Völkern Europas die Gewißheit, daß die darin eingebundenen Mitglieder keine nationalen Alleingänge unternehmen konnten. Das war nicht zuletzt auch im Blick auf die Sorgen, die vor der Kraft eines größeren Deutschlands weithin bestanden, von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit. Das atlantische Argument wirkte so überzeugend, daß Außenminister Schewardnadse auf der Warschauer-Pakt-Tagung vom April 1990 mit seinem Plädoyer gegen die deutsche NATO-Mitgliedschaft allein dastand. Seine polnischen, ungarischen und tschechoslowakischen Kollegen gingen sogar so weit, genau das ausdrücklich zu verlangen, was er als unakzeptabel bezeichnete. Eine Zeitlang versuchte die sowjetische Führung, die Stationierungstruppen in der 21

Vstreca M.S. Gorbaceva s pravitel'stvennoj delegaciej GDR, in: Pravda, 7.3.1990.

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DDR gegenüber der westlichen Seite, vor allem gegenüber der Bundesrepublik, als Handelsobjekt auszuspielen. Dieser Versuch war wenig erfolgreich. Der Kreml hatte keine Kontrolle über den deutschen Vereinigungsprozeß und mußte daher mit der Gefahr rechnen, daß seine Truppen auf deutschem Boden je länger, desto mehr in eine unhaltbare Lage geraten würden. Spätestens im Juni 1990 setzte sich in Moskau die Erkenntnis durch, daß man ein überragendes Eigeninteresse daran habe, die Militärverbände so rasch wie möglich auf sowjetisches Territorium zurückzubringen. Zuvor hatte sich Schewardnadse auf der Zwei-plus-Vier-Konferenz in Bonn von Anfang Mai noch vergeblich darum bemüht, die Synchronizität der äußeren und inneren Aspekte des Vereinigungsprozesses aufzulösen, um so der UdSSR Zeit für die Ausarbeitung der internationalen Regelung zu verschaffen. Auch der bei der gleichen Gelegenheit unternommene Versuch, für Deutschland eine gleichzeitige Mitgliedschaft in beiden Bündnissen vorzusehen, war erfolglos geblieben. Der westlichen Seite lag verständlicherweise nichts daran, der sowjetischen Führung ihre schwierige Verhandlungslage zu erleichtern und es ihr auf diese Weise zu ermöglichen, den Widerstand gegen eine NATO-Lösung für Deutschland fortzusetzen bzw. den Warschauer Pakt gegen den Willen seiner Mitglieder zu rekonsolidieren. Schließlich konnte sich Moskau nicht länger der Einsicht entziehen, daß die Zustimmung zur deutschen NATO-Mitgliedschaft unausweichlich war. Gorbatschow sah, daß er diesen Schritt noch eine Zeitlang hinauszögern konnte. Dann lief er freilich Gefahr, daß er nicht nur die Beziehungen zu den westlichen Staaten belastete, sondern auch so lange zuwartete, bis jedes Widerstreben aussichtslos geworden war, so daß er dann keinen Preis mehr erzielen konnte. Darum entschloß er sich zu handeln, solange die sowjetische Konzession noch etwas wert war. Als Ziel stand ihm vor allem anderen vor Augen, die am 9. Februar 1990 in Aussicht genommene deutsch-sowjetische Zusammenarbeit dauerhaft und zuverlässig zu gewährleisten.22 Auf dieser Basis kamen der KPdSU-Generalsekretär und Bundeskanzler Kohl am 15./16. Juli 1990 überein, ein neues vertrauensvolles Verhältnis zwischen beiden Ländern zu etablieren. 23 Die NATO hatte zuvor den notwendigen Rahmen für die sowjetische Akzeptanz der deutschen NATO-Mitgliedschaft geschaffen, indem sie zehn Tage vorher auf ihrer Londoner Tagung gegenüber der UdSSR eine neue ünie der Kooperation statt der bisherigen Konfrontation festgelegt hatte. 24 " Die entscheidende Wichtigkeit dieses Motivs wurde unter anderem von E. Abarcumov hervorgehoben (Christoph Bertram, Der Staat zerfällt, die Pläne sprießen), in: Die Zeit, 28. 9.1990. 23 Vgl. den Text der gemeinsamen Pressekonferenz in Shelesnowodsk am 16.7.1990, in : Pravda, 18.7 .1990. 24 Text: London Declaration on a Transformed Atlantic Alliance, issued by the Heads of State and Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in London on 5th-6th July 1990, NATO Information Service, Brussels, July 1990.

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Im zwölften Stadium ging es um die Frage, wann das vereinigte Deutschland seine volle Souveränität erhalten sollte. Die ungeklärte Lage, die mit der deutschen Zweistaatlichkeit verbunden gewesen war, hatte den Fortbestand der Vier-Mächte-Kompetenzen bezüglich Berlins und Deutschlands als Ganzem zur Folge gehabt. Diese würden nunmehr wegfallen. Strittig war jedoch der Zeit· punkt. Nach deutscher Ansicht war es notwendig, daß der gesamte deutsche Staat sofort in Vqllbesitz seiner Rechte kam. Da der Vollzug der Einheit und der Abschluß des Zwei-plus-Vier-Vertrages gleichzeitig erfolgen sollten, forderte Bonn eine Regelung, welche die Bestimmungen des Vertrages bereits bei der Unterschriftsleistung - und nicht etwa erst nach dem Abschluß der Ratifizierungsverfahren in den beteiligten Ländern - in Kraft setzte. Dagegen wandte sich die sowjetische Führung. Es gelang jedoch, die Bedenken Moskaus gegen eine vorzeitige Souveränitätsübertragung zu überwinden. Da der Zwei-plus-VierVertrag bereits mehrere Wochen vor der Vereinigung der beiden deutschen Staaten unterzeichnet wurde, reichte eine einige Wochen später am 2. Oktober 1990 abgegebene Souveränitätserklärung der Vier Mächte aus, um Deutschland noch rechtzeitig vor dem Vollzug der Einheit am nächsten Tag zu einem Staat ohne Selbständigkeitsbeschränkungen zu machen.

VL Rückblickende Bewertung des von Gorbatschow vollzogenen Außenpolitikwandels Der politische Wandel in Ostmitteleuropa, der in der Vereinigung Deutschlands kulminierte, zeitigte weitreichende sicherheitspolitische Auswirkungen. Der Warschauer Pakt wurde so weitgehend erschüttert, daßseine Auflösung unausweichlich wurde. Die UdSSR verlor damit sowohl ihr ostmitteleuropäisches Glacis als auch die Kontrolle über das Militär der Länder westlich ihrer Grenzen. Damit wurde das Konzept der "nicht-offensiven Verteidigung", das im Mai 1987 zwar verkündet worden war, aber in der folgenden Zeit keine Umsetzung in die Praxis erfahren hatte, von den veränderten politischen Voraussetzungen her militärische Wirklichkeit. Der sowjetische Verzicht auf offensive militärische Fähigkeiten wiederum war eine entscheidende Voraussetzurtg dafür, daß eine Option allgemeiner Sicherheit in Europa entstand. Auch in anderer Hinsicht hat der politische Wandel in Ostmitteleuropa die Sicherheitslage auf dem europäischen Kontinent grundlegend verändert. Wie in Moskau heute offiziell erklärt wird, wäre die inzwischen eingeleitete Überwindung der Ost-West-Konfrontation ohne eine Entlassung der kleineren Warschauer-Pakt-Staaten aus dem bisherigen Satellitenverhältnis zur UdSSR nicht möglich gewesen. Das hat weitreichende Konsequenzen flir das System der europäischen Sicherheit. Die bisher auf dem Gegenüberstehen zweier Bündnisse und deren wechselseitiger Verweigerung einer Kriegsflihrungsfähigkeit beruhende Gewähr, daß ein großer europäischer Krieg verhütet wird, büßt die alte

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Grundlage zunehmend ein. Der Frieden muß auf eine neue Basis gestellt werden. Die festgelegte NATO-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschland präjudiziert eine europäische Ordnung, deren wichtigstes Element die politischmilitärische Integration der atlantischen Allianz sein wird. Die atlantischen Staaten bilden eine Zone des Friedens und der Stabilität, die den Sorgen bezüglich eines übermächtigen deutschen Staates den Boden entzieht und zugleich ein Gegengewicht zu der sich im Osten Europas abzeichnenden Oestabilisierung bildet. Die sowjetische Haltung hat während des politischen Veränderungsprozesses in Ostmitteleuropa einen Wandel von gewaltigen Ausmaßen durchgemacht. Gorbatschow und seine Mitarbeiter haben zum Schluß Ergebnisse akzeptiert, die zu ihren ursprünglichen Vorstellungen und Absichten in einem starken Kontrast stehen. Dabei handelt es sich nicht einfach um die Anpassung an Entwicklungen, die unvermeidlich geworden waren. Vielmehr haben sie in weiten Bereichen den Nutzen und den Schaden für ihr Land neu bewertet. Beispielswei~e entsprang die sowjetische Zustimmung zur deutschen NATO-Mitgliedschaft nicht nur der Einsicht, daß man um einen solchen Schritt nicht herumkommen werde und daher noch rechtzeitig eine Gegenleistung dafür erlangen müsse. Ebenso wichtig war, daß Gorbatschow und seine Mitarbeiter erkannten, worauf außen- und sicherheitspolitische Experten ihres Landes bereits seit langem hingewiesen hatten: Ein der sicherheitspolitischen Bindungen lediges Deutschland wie nach den Friedensverträgen von 1919 hätte nicht dem Interesse der UdSSR entsprochen. Nach dem Ersten Weltkrieg war Deutschland zwar rigorosen militärischen Beschränkungen unterworfen worden, sicherheitspolitisch jedoch autonom geblieben. Das kollektive Sicherheitssystem des Völkerbundes hatte den Frieden nur zum Schein gewährleistet, was deutlich geworden war, als 1935 die Aggression des kleinen Italien gegen Ä thiopien ohne ernstliche Gegenwirkung blieb. Am Ende der Entwicklung stand der Zweite Weltkrieg. Diese Erfahrung durfte sich aus sowjetischer Sicht nicht nochmals wiederholen. Da war es besser, der befriedenden Funktion der NATO-Integration zu vertrauen. Wenn man auf den Gang der Geschehnisse seit 1987 zurückblickt, dann liegt das entscheidende historische Verdienst Gorbatschows darin, daß er als erster sowjetischer Führer den Mut hatte, sich den seit langem abzusehenden Herausforderungen zu stellen und die mit jeder Suche nach Abhilfe verbundenen Gefahren nicht zu scheuen. Dem lag die Einsicht zugrunde, daß sich die alte Politik der UdSSR nicht mehr unbegrenzt fortsetzen ließ und daß die Schwierigkeiten und Risiken um so größer wurden, je länger man mit einer Verhaltensrevision wartete. Daher wäre es verfehlt, dem KPdSU-Generalsekretär einen Vorwurf daraus zu machen, daß sich seine Absichten wiederholt nicht realisiert haben. Hätte er mit dem politischen Wandel noch länger gezögert, bis er dieser sich kraft schie-

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rer Unausweichlichkeit aufgedrängt und durchgesetzt hätte, dann wäre die Entwicklung noch sehr viel schwieriger und bedrohlicher für die UdSSR geworden.25 Insbesondere hätte dann die sowjetische Führung nicht mehr über jenes Maß an Steuerungskapazität verfugt, von dem Gorbatschow, der Unerwartetheit vieler eintretender Vorgänge ungeachtet, immer wieder meisterhaften Gebrauch zu machen verstand. Darauf - und auf die bisher gezeigte Abstinenz bezüglich Gewalt und Destruktion - ist es zurückzuftihren, daß die Geschehnisse bisher nicht von tragischen Folgen begleitet worden sind. Gorbatschow und seine Mitarbeiter hatten zweifellos zu Beginn des anlaufenden Prozesses nur eine geringe Vorstellung davon, was am Ende dabei herauskommen würde. Gleichwohl folgten sie mit ihrem Handeln einer Orientierung, die es ihnen ermöglichte, mit den sich überstürzenden Herausforderungen fertigzuwerden. Sie wußten, daß es nicht so weitergehen konnte wie bisher, auch wenn sie den neu einzuschlagenden Weg oft nicht kannten. Weil der entscheidende Antrieb der innersowjetischen Lage entsprang, wurde den inneren Bedürfnissen der Vorrang vor der Verfolgung äußerer Machtziele eingeräumt. Daraus folgten, mit zunehmender Deutlichkeit erkannt, weitreichende praktische Konsequenzen: die Absage an die Verwendung militärischer Zwangsmittel, der Verzeicht auf eine weitere Satellisierung der verbündeten Staaten und der Abbau der Konfrontation zum Westen sowie deren Ersetzung durch ein kooperatives Verhältnis. Bei alldem entwickelte die Gorbatschow-Führung eine erstaunliche Fähigkeit, sich an wechselnde auswärtige Bedingungen anzupassen, um daraus jeweils das Beste zu machen. VII Rückwirkungen der Gorbatschowschen Außenpolitik auf die sowjetische Innenpolitik Die von Gorbatschow proklamierte "Entmilitarisierung" der Beziehungen zu den verbündeten und zu den westlichen Staaten zeitigte weitreichende Rückwirkungen auf die innersowjetische Situation. Das Vertrauen, das der Präsident der UdSSR im Ausland aufbauen konnte, beruhte in wesentlichem Ausmaße auf die Erwartung, daß er nicht nur nach außen, sondern auch nach innen von der früheren Gewaltpolitik Abschied genommen habe. Wenn Gorbatschow sein politisch-moralisches Kapital in den Hauptstädten Europas und Nordamerikas nicht gefährden wollte, mußte er daher auch in den inneren Angelegenheiten den Eindruck des Rückgriffs auf militärische Kofliktlösungen vermeiden. Als innenpolitisches Korrelat der neuen Außen- und Sicherheitspolitik ist auch Gorbatschows Kunst anzusehen, die - Anfang 1990 zu großer Stärke an25 Diesen Gesichtspunkt ho b auch Außenmini