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German Pages 711 Year 1999
Revolution und Transfonnation in der DDR 1989/90
SCHRIFTENREIHE DER GESELLSCHAFT FÜR DEUTSCHLANDFORSCHUNG BAND 73
Revolution und Transformation in der DDR 1989/90
Herausgegeben von
Günther Heydemann Gunther Mai und Wemer Müller
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Revolution und Transformation in der DDR 1989/90 I hrsg. von Günther Heydemann. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung ; Bd. 73) ISBN 3-428-10003-4
Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany
© 1999 Duncker &
ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-10003-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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INHALT Wolfgang Tiefensee Geleitwort-----------------------------------------------------------------------------------------
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Günther Heydemann / Gunther Mai / Wemer Müller EinleitunK________________________________________________________________________________________
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1. Entstehung der Opposition und Krisensymptome
Hubertus Knabe Der lange Weg zur Opposition - Zur Entwicklung des politischen Widerspruchs in der DDR bis zum Herbst 1989______________________________________________ 37 Karsten Timmer "Für eine zivile Gemeinschaft zivilisierter Bürger" - die ideellen Grundlagen der DDR-Bürgerbewegung 1989/90 _____________________________________________ 51 Ehrhart Neubert Kirche und Gruppen___________________________________________________________________________ 65 Johannes Raschka "Sozialistischer Rechtsstaat DDR": Realität oder Rhetorik? ____________________ _ 87 Annette Kaminsky "Noch nie bereitete der Einkauf soviel Verdruß und Mühe wie in jüngster Zeit"_ Konsumwünsche und Konsumverhalten der DDR-Bevölkerung in den achtziger Jahren im Spiegel der Studien des Instituts für Marktforschung der DDR ____________________________________________________________________________ 105 Oliver Wemer Die 'Sputnik'-Krise in der SED 1988/89 _______________________________________________ 117
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Inhalt
Claudia Ulrike Baum Von resignativer Duldung zum aktiven Widerspruch: Die Entwicklung der Proteste um das Reinstsiliziumwerk Dresden-Gittersee
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2. Widerständiges Verhalten in den 80er Jahren: Regionalstudien
Uwe Schwabe Die Entwicklung der Leipziger Opposition in den achtziger Jahren am Beispiel der Friedensgebete _________________________________________________________________ 159 Josef Schmid Der' Dresdner Weg' _Beobachtungen zum Verhältnis zwischen Kirchen und Gruppen in den achtziger Jahren ____________________________________________________ 173 Katja Schlichtenbrede Alternative Gruppen in Zwickau in den achtziger Jahren im Spannungsfeld von Kirche und Staat----.------------------.----------------------_.-------------------- 189 Dietmar Remy "Staaten kommen und gehen - Gott bleibt!" Zur Verweigerungshaltung der katholischen Bevölkerungsmehrheit des Eichsfeldes im letzten Jahrzehnt der DDR----------------------------------------- ______ 0__ 0__ -0_. _______ ••• ______ •• __ 211 Torsten Moritz Gruppen der DDR-Opposition in Ost-Berlin_ Ansätze zu einer Rekonstruktion
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3. Regionale Wendeprozesse und neue politische Kräfte
Tobias Hollitzer Der friedliche Verlauf des 9 _Oktober 1989 in Leipzig - Kapitulation oder Reformbereitschaft? Vorgeschichte, Verlauf und NachwirkunK _______________ 247
Inhalt
3
Erich Sobeslavsky Die "Gruppe der 20" in Dresden - eine bemerkenswerte Erscheinung der friedlichen Revolution von 1989/90. Entwicklung, Strukturen und politische BedeutunK _________________________________________________________________________ 289 Christian Dietrich und Martin Jander Die Revolution in Thüringen: Die Sonderrolle des "Südens" im Jahr 1989 307 Georg Wagner-Kyora Eine protestantische Revolution in Halle _______________________________________________ 335 Herrnann-Josef Rupieper Runde Tische in Sachsen-Anhalt 1989/90. Einige Bemerkungen zur Forschungsproblematik_______________________________________________________________________ 365 Kai Langer Auch der Norden brach auf - zur Geschichte des politischen Umbruchs in Mecklenburg-Vorpommem _________________________________________________________________ 379 Fred Mrotzek Die Wende in den Kommunen der Nordbezirke
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Jens Walter Von der Gründung der SDP in der DDR zum SPD-Vereinigungsparteitag356 Tage ostdeutsche Sozialdemokratie im Spannungsfeld der deutschen Einheit 407
4. SED und staatliche Verwaltung im Umbruch Heinz Mestrup Die SED im Bezirk Erfurt vor und während der politischen Wende im Herbst 1989
429
Comelia Liebold Machtwechsel vor Ort. Die SED und ihr Apparat in Leipzig vom Oktober 1989 bis Mai 1990 447
4
Inhalt
Erich Sobeslavsky Der Wirtschafts- und Finanzausschuß der Dresdner Stadtverordnetenversammlung in der Phase der Umgestaltung des Bezirkes Dresden 1989/90 __ 471 Michael Richter Das Ende von Bezirkstag und Rat des Bezirkes Dresden im Jahre 1990 _____ 493 Gerd-Rüdiger Stephan und DetiefNakath Wendezeiten - Zeitenwende_ Die Beziehungen zwischen den Parteifiihrungen von SED/PDS und KPdSU im Kontext der deutschen Frage 1989/90 __ 503
5. Transformationsprozesse
Francesca Weil Wirtschaftliche, politische und soziale Veränderungen in einem Leipziger Betrieb 1989/90
525
Klaus Krakat Systemtransformation und Strukturanpassung - Faktoren des wirtschaftlichen Wandels am Beispiel der Industrieregion Berlin-Oberschöneweide____ 545 Annette Weinke Die DDR-Justiz in der Wende 1989/90
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Robert Grünbaum Revolutionäre oder Zaungäste? Die DDR-Schriftsteller und der Umbruch von 1989/90
595
Friedemann Neuhaus Geschichtsunterricht im Übergang_ Ein Beitrag zur Transformation schulischer Bildungs- und Erziehungsarbeit ___________________________________________________ 613
Auswahlbibliographie __________________________________________________________________________ 639
Inhalt
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Abkürzungsverzeichnis_________________________________________________________________________ 697
Autorenverzeichnis
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Wolfgang Tiefensee GELEITWORT Revolutionen haben, besonders in Deutschland, keinen guten Ruf. Mit ihnen verbindet man Unordnung, Aufruhr, Gewalttätigkeit, Illegalität. Die friedliche Revolution in der DDR hat diese gängigen Vorurteile einer gründlichen Revision unterzogen. Im Herbst 1989 haben die Menschen in Rostock, Jena, Dresden und Magdeburg, an zahllosen Orten der DDR, ihr Schicksal selbst in die Hand genommen. Sie haben sich gewaltfrei eines Regimes entledigt, das bis in die kleinsten Fasern des Alltags das Leben seiner Bürger bestimmen wollte. Das Zentrum der friedlichen Revolution war die Stadt Leipzig. Am 9. Oktober 1989, dem Höhepunkt der Montagsdemonstrationen, zogen Zehntausende um den Leipziger Altstadtring, den Ruf auf den Lippen: "Wir sind das Volk!" An diesem Tag verdichtete sich der Konflikt zwischen einer autoritären Staatsmacht ohne Volk und einer demokratischen Bürgerbewegung auf der Suche nach einem neuen Staat. Das Ergebnis ist bekannt. Es hat Leipzig im Gefolge der Ereignisse den Nimbus "Heldenstadt" eingebracht. Und bei aller Vorsicht vor Etiketten beschreibt dieses Wort treffend den Mut und das Engagement der Leipziger Bürger. Ich freue mich daher außerordentlich, daß zum zehnten Jahrestag der friedlichen Revolution von 1989 nun endlich diese umfassende Beitragssammlung vorliegt. Die Arbeiten umreißen sowohl die soziale Tiefendimension der Bewegung als auch ihre regionale Verbreitung. Sie geben den damaligen Akteuren Name, Adresse und Anschrift. Überall in der DDR gab es Montagsdemonstrationen. Überall fanden sich aufrechte Menschen, die ihre Stimme erhoben und das gar nicht so selbstverständliche Recht der Selbstbestimmung einklagten. "Wir sind das Volk!" war überall. Das historische Urteil von Zeitgenossen ist immer gegenwartsgetränkt, zumal wenn es auch einen Rückblick auf die eigene Vergangenheit beinhaltet. Aber die Behauptung, daß die friedliche Revolution in der DDR eines der herausragenden Ereignisse der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts darstellt, wird von niemandem ernsthaft in Zweifel gezogen. Für die Geschichte der Demokratie in Deutschland bildet sie möglicherweise das Zentralereignis. Zum ersten Mal gelang es einer gewaltlosen Bewegung von Bürgerinnen und Bürgern, ein gewaltbereites Regime dauerhaft zu entmachten, ohne im Gefolge einer neuen autoritären Versuchung zu erliegen.
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Wolfgang Tiefensee
Mit der Distanz zu einem Ereignis wächst die Schwierigkeit der Erinnerung. Es sind nicht nur die Fakten, die verschwimmen, sondern ebenso ihre Bedeutung. Sehr bald treten die Verniedlicher und Relativierer auf den Plan, um scheinbar unverdächtige Fragen zu stellen: War alles vor 1989 gar nicht so schlimm? Sollte man nicht auch die guten Seiten des alten Regimes sehen? Haben sich die Wünsche der damaligen Revolutionäre verwirklicht? Dementiert die spätere Entwicklung den Sinn der Ereignisse von 1989? Die Geschichtswissenschaft kann sich diesen Fragen nicht entziehen. Zugleich hat sie die Tatsache in Rechnung zu stellen, daß sich die damaligen Ereignisse auf unterschiedliche Art und Weise in das individuelle und kollektive Gedächtnis eingraviert haben. Ihre Rekonstruktion der Strukturen und Ereignisse, der Mächte und der Menschen kann nur auf unsere Fähigkeit zur souveränen Urteilsbildung setzen. Wenn der Historiker ein "rückwärtsgewandter Prophet" ist, wie eine berühmte Definition sagt, dann stellt die Wiederbelebung der Vergangenheit immer einen Wechsel auf die Zukunft dar. Ob und wie wir ihn einlösen, bleibt den Menschen überlassen, die das zukünftige Bild der Gesellschaft formen. Von einem bin ich aber fest überzeugt: Nur wenn die totalitäre Erfahrung unseres Jahrhunderts diejenigen erschüttert, die für die humane Gestaltung der Welt von heute und morgen Verantwortung übernehmen müssen, nur dann können wir sagen: Wir haben aus der Geschichte gelernt. Der vorliegende Band liefert dazu breites Argumentationsmaterial.
Günther Heydemann, Gunther Mai und Werner Müller EINLEITUNG "Zur Revolution genügt es nicht, daß sich die ausgebeuteten und unterdrückten Massen der Unmöglichkeit, in der alten Weise weiterzuleben, bewußt werden und eine Änderung fordern; zur Revolution ist es notwendig, daß die Ausbeuter nicht mehr in der alten Weise leben und regieren können. Erst dann, wenn die 'Unterschichten' das Alte nicht mehr wollen und die 'Oberschichten' in der alten Weise nicht mehr können, erst dann kann die Revolution siegen." (W. I. Lenin)1
Es scheint ein Charakteristikum der deutschen Revolutionen zu sein, daß sie ihren Ausgang an der Peripherie, in der "Provinz" nehmen und erst zuletzt die Hauptstadt Berlin erreichen: so 1848 vor allem in Süddeutsch land, so 1918 in den Küstenstädten und - mit Verzögerung - in München. Was im Herbst 1989 geschah, so läßt sich Thomas Nipperdeys Beschreibung der Revolution von 1848 sinngemäß übertragen, "das ist zunächst eine Kette von Revolutionen in den deutschen Einzelstaaten, zumal in den Hauptstädten, aber auch in manchen der größeren Provinzstädte, [... ], teils gleichzeitig, teils nach Art einer Kettenreaktion überspringend; die Abläufe sind gleichartig und so die Forderungen, die vielen Revolutionen sind mittelbar und unmittelbar miteinander verbunden und bilden im Konsens von Wollen, Fühlen und Tun die eine deutsche Revolution, über die nicht nur geographisch sehr unterschiedlichen Schauplätze und Handlungszentren hinweg. ,,2 Der revolutionäre Umbruch des Herbstes 1989 war auch in der DDR die "Stunde der Regionen", die in ihren vielfaltigen Ausprägungen noch weiterer Aufarbeitung harrt. "Das Bild vom Herbst '89 in der DDR", so hat Bemd Lindner schon vor fünf Jahren zu Recht moniert, "wurde im In- und Ausland im
I W. I. Lenin, Der "linke Radikalismus", die Kinderkrankheit im Kommunismus, in: Ders., Werke, Bd. 31, Berlin (Ost) 1959, S. 1-91, hier S. 71. 2 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. BUrgerwelt und starker Staat, München 19842 , S. 595.
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wesentlichen von den Geschehnissen in drei Städten bestimmt: Leipzig, Berlin und Dresden.,,3 Weniger Beachtung hat hingegen bislang gefunden, wie und inwieweit die regionalen und lokalen Machtstrukturen der SED mit dem sukzessiven Funktionsverlust des "demokratischen Zentralismus" als hierarchisches Anleitungs- und Kontrollsystem auf der obersten Ebene fertig wurden. Das gilt in ähnlicher Weise auch fiir die entstehende Opposition und ihre sich allmählich ausbildenden Netzwerke auf lokaler und regionaler Ebene. Diese Lücke zu schließen, ist eines der Ziele des vorliegenden Bandes. Wie kaum ein anderes historisches Ereignis der deutschen Geschichte ist die "deutsche demokratische Revolution" noch während der Ereignisse selbst aufgezeichnet, dokumentiert und protokolliert worden: von den Medien, von den Akteuren selbst wie von staatlichen Stellen und neutralen Beobachtern. Auf diese Weise entstand eine Fülle von Publikationen und Dokumentationen, die kaum mehr zu übersehen ist. 4 Obwohl vielfach die Perspektive "von oben" dominierte 5, Schlüsselaspekte vorwiegend aus "Berliner Sicht" analysiert wurden6 , hat doch die sprunghaft gestiegene Erforschung dieser Revolution - sowohl zentral durch die Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages 7 als auch durch zahlreiche lokale und regionale Einzelstudien - die Vielzahl von Akteuren, Motiven, Handlungsformen, Erwartungen und Verläufen bestätigt. Das mögen die drei nachfolgenden Fallbeispiele illustrieren.
1 Bemd Lindner (Hrsg.), Zum Herbst '89 - demokratische Bewegung in der DDR, Leipzig 1994, S. 53. 4 Jörg Fröhling u.a. (Hrsg.), Wende-Literatur. Bibliographie und Materialien zur Literatur der deutschen Einheit, FrankfurtlM. u.a. 1997'. Die Fülle der regionalen und lokalen Literatur ist zugleich aus den Beiträgen dieses Bandes zu entnehmen. Vgl. dazu auch die Literaturauswahl am Schluß dieses Bandes. S So die differenzierte und facettenreiche Darstellung von Charles S. Maier, Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus, FrankfurtlM. 1999. 6 Vgl. z.B. Hans-Hermann Hertle, Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates, Opladen 1996; Ders., Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Berlin 1996; Michael Richter, Die Staatssicherheit im letzten Jahr der DDR, Weimar u.a. 1996; Walter Süß, Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern, Berlin 1999 (vgl. dort in Anm. 6 die bibliographischen Verweise auf die Untersuchungen zur Auflösung der Staatssicherheit in den Bezirken); Eberhard Kuhrt u.a. (Hrsg.), Am Ende des realen Sozialismus. Beiträge zu einer Bestandsaufuahme der DDRWirklichkeit in den 80er Jahren, 2 Bde., Opladen 1996 (ein dritter Band ist angekündigt). 7 Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Bde. I-IX (in 18 Teilbänden), Baden-Baden 1995. Im Vordergrund stehen hier die Formierung der Opposition, die Ausreisebewegung, die Reaktionen des Staats- und Unterdruckungsapparates, aber auch die Entwicklung in den "Blockparteien" und die Tätigkeit des zentralen "Runden Tisches". Die Einzelstudien konzentrierten sich auf die Zentralebene in Berlin und die Vorgänge in Leipzig, daneben noch auf Dresden und Jena.
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1. Facetten des Umbruchs
1.1 Arnstadt in Thüringen - die mutige Tat eines Einzelnen In der späten Mittagsstunde am 30. September 1989 nähern sich zögernd einzelne Personen dem Holzmarkt in Arnstadt. Sie sehen die Polizisten, wissen, wer die "unauffalligen" Männer in den Hauseingängen und Nischen sind. Die etwa 200 Menschen sind - wie die Polizei und die Staatssicherheit - herbeigelockt worden durch ein Flugblatt, in dem ein Unbekannter "zur friedlichen Demonstration gegen die willkürliche Politik der SED" aufgerufen hat. Das Gedicht des Unbekannten, mit dem dieser seinen Aufruf begründete, hat den Nerv dieser unruhigen Tage getroffen, den Menschen aus dem Herzen gesprochen, gesagt, was viele denken, aber noch nicht auszusprechen wagen:
" WAS FÜR EIN LEBEN? was rur ein leben? wo die wahrheit zur lüge wird, wo der falsche das zepter ruhrt. was rur ein leben? wo die freiheit tot geboren, wo schon scheint alles verloren. was fur ein leben? wo alte männer regieren, wo noch menschen an grenzen krepieren. was rur ein leben? wo die angst den alltag bestimmt, wo das ende kein ende nimmt.
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was fur ein leben? wo man seinem nachbarn nicht mehr traut, wo man nicht mehr aufeinander baut. was für ein leben? wo man nicht sein kann, der man ist, wo man so schnell vergißt. was für ein leben? wo träume sterben, sterben, wo es nichts mehr gibt zum vererben, außer scherben. was fur ein leben? wo es fur wenige alles gibt, wo der kleine keinen ausweg sieht. was für ein leben? wo liebe nicht existiert, wo man langsam erfriert. WAS FÜR EIN LEBEN FÜHREN WIR??? ABER LEBEN MUß MAN DOCH UND ZWAR HIER!!" 8 Die Menschen warten ratlos, was nun geschieht, wer den Mut hat, nicht nur sich hier einzufinden, sondern auch das Wort zu ergreifen. Sie erwarten eigentlich, daß der Unbekannte sich zeigt und eine Rede hält. Doch nichts geschieht; eine beklemmende Situation entsteht. "Na quatscht denn nun endlich mal einer, wir stehen doch nicht umsonst hier!", ruft schließlich jemand, dem wohl etwas Bier die Zunge gelöst hat. Jetzt faßt sich eine ältere Frau ein Herz, spricht über 8 Manfred Leyh, Amstadt im Herbst 1989, in: B. Lindner (Anm. 3), S. 94-103, hier S. 96 (Faksimile); vgl. den Beitrag von Christian Dietrich I Martin lander in dem vorliegenden Band.
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ihre niedrige Rente, andere fallen ein. Lebhafte Gespräche in kleinen Gruppen entwickeln sich, aber keiner hält eine Rede, kein flammender Appell wird laut. Man geht schließlich wieder auseinander, gestärkt, erleichtert, entschlossen, sich wieder zu treffen. Der junge Mann, der die Demonstration mit seinem Flugblatt ausgelöst hat, nimmt selbst nicht teil, sondern beobachtet die Szene von einer Wohnung am Holzmarkt aus, ohne sich zu erkennen zu geben. Der mutige Entschluß, das Flugblatt herzustellen und zu verteilen, wiederholt sich nicht; er weiß, was ihn erwartet, wenn man ihn identifiziert. Er ist allein, allein gelassen von Freundin und Freunden, die Angst haben, sich von ihm und seinem Vorhaben distanzieren, ihn aber nicht verraten. Günther Sattler, 25 Jahre alt, Sohn eines Mitglieds der Bereitschaftspolizei, bei der er selbst den Wehrdienst abgeleistet hat, ist desillusioniert von den Manipulationen der Wahlen im Mai 1989. Noch vor seiner Entlassung erlebt er diese Farce, was ihn beinahe noch seinen Wehrdienst verweigern läßt. Nach langem Zögern hat er sich entschlossen, das Flugblatt zu schreiben. Die ersten Exemplare sind bald entdeckt und werden sogleich entfernt; die Polizei überwacht die überschaubare Kleinstadt mit ihren rund 30 000 Einwohnern, in der viele ähnlich denken; doch keiner weiß, wem er sich wirklich anvertrauen kann. Überall sucht die Stasi mit all ihren Mitteln, doch vergeblich. Sattler schreibt neue Exemplare, Abschriften tauchen auf, die andere angefertigt und ihrerseits verteilt haben; Mund zu Mund-Propaganda macht den Aufruf weiter bekannt. Ein Mann hat durch seine Einzeltat den Stein ins Rollen gebracht, die Menschen aus ihrer eingeschüchterten Isolation gerissen, sie auf dem Holzmarkt zusammengeruhrt. Bis dahin gab es weder Oppositionsgruppen noch einen kirchlichen Veranstaltungsrahmen rur den offenen Meinungsaustausch. Jetzt ist der Bann gebrochen. Einer der Teilnehmer entschließt sich am folgenden Tag, eine Gruppe aufzubauen, die Kontakt zum Neuen Forum sucht. Erste Zusagen mitzumachen werden zwar zurückgezogen, aber es finden sich doch Gleichgesinnte, die jetzt entschlossen sind, nicht länger schweigend wegzusehen. Eine Woche nach der ersten spontanen Zusammenkunft am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der Republik, treffen sich die Menschen wieder auf dem Holzmarkt. Sie haben sich versprochen, daß jeder einen weiteren Bürger mitbringt. Doppelt so groß ist dieses Mal die Zahl der Teilnehmer; sie haben ein Transparent mitgebracht und planen einen stillen Demonstrationszug. Doch die Reaktion der Staatsmacht ist hart, sie geht mit Schlagstöcken und Hunden vor; es gibt Verwundete und Verhaftete. Diese Brutalität fuhrt rur viele, weitere Teilnehmer zum endgültigen Bruch mit der DDR. Seit diesem 7. Oktober ist die Opposition, die sich nun in Gestalt des Neuen Forum zu erkennen gibt, ein nicht mehr zu übersehender und zu übergehender Faktor in Amstadt. Am 13. Oktober wird der Sprecher bereits beim Bürgermei2 Hcydemann u. a.
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ster vorstellig, um für den folgenden Tag einen friedlichen und gewaltfreien Verlauf der Demonstration auszuhandeln - mit Erfolg. Seit dem 7. Oktober finden jeden Dienstag regelmäßig Demonstrationen statt, am Mittwoch der Gesprächskreis in der Bachkirche, am Freitag das Treffen des Neuen Forum, vierzehntägig erscheint als Informationsblatt das' Arnstädter Forum Aktuell'. Die Angst ist überwunden, der Staat und seine Organe weichen immer weiter zurück; das verleiht auch dem Letzten Mut: Am 11. November sind bei der Demonstration "Für freie Wahlen" aus den 200 Teilnehmern am 30. September inzwischen 12 000 Demonstranten geworden. 1.2 Plauen im Vogtland - der Zug zur Freiheit Oberer Bahnhof Plauen, 2.-5. Oktober 1989: Tag und Nacht fahren in langgezogener Kurve immer wieder Züge der Deutschen Reichsbahn durch den Bahnhof. Sie sind vollgepackt mit DDR-Bürgern, die aus der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag kommen, über Dresden den Weg durch Plauen nehmen und nur noch wenige Kilometer bis zur innerdeutschen Grenze nach Hof vor sich haben. In freudiger Erwartung stehen die Menschen in den Abteilen und blicken durch die geschlossenen Fenster, da diese, solange die Züge noch auf DDR-Territorium sind, nicht geöffnet werden dürfen. Fast zum Greifen nahe, schauen sie auf Hunderte von Plauener Bürgern, die sich auf den Bahnsteigen eingefunden haben, um ihnen schweigend ihre Solidarität zu erweisen, argwöhnisch beobachtet und bewacht von Polizeibeamten und Angehörigen des MfS in Zivil. Mehr oder minder verstohlen winken sie den Ausreisenden in den Zügen zu, in dem zwiespältigen Gefühl, daß diese in ein paar Minuten die DDR verlassen haben werden, sie selbst aber hierbleiben müssen. Wieder kehren Tausende diesem Staat den Rücken, der in zwei Tagen seinen 40. Gründungstag feiern wird, und überlassen damit die Zurückbleibenden noch mehr dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Eine unerträgliche Spannung liegt auf den Menschen in den Zügen wie auf den Bahnsteigen; das Verständnis für die einen wie die anderen ist groß, doch die Gefühlslagen sind höchst unterschiedlich. Schließlich schlägt die "Staatsgewalt" zu. Die Bereitschaftspolizei aus Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) sperrt den Oberen Bahnhof ab, geht gegen die schweigenden Demonstranten z.T. gewaltsam vor, so daß es zu Verletzten kommt; "Zuführungen", d.h. Festnahmen, werden vorgenommen, Stasi-Leute in Zivil notieren die Nummern aller um den Bahnhof herum parkenden Autos, während die Züge weiter in Richtung Westen rollen. Doch mit ihrem brutalen Vorgehen überspannt die "Staatsrnacht" den Bogen und legt selbst den glimmenden Funken an die Lunte. Die Stimmung in der Stadt ist nahezu feindselig gegenüber allem, was DDR heißt bzw. sie repräsentiert. Die gewaltsame Auflösung der Schweigedemonstration am Plauener
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Bahnhof wird zum Auslöser der ersten, machtvollen Demonstration am Theaterund Otto-Grotewohl-Platz nur zwei Tage später, am Samstag, den 7. Oktober 1989, um 15.00 Uhr, als der 40. Geburtstag der DDR mit einem Volksfest gefeiert werden soll. Doch es kommt mehr Volk als erwartet, statt geschätzter 4-5000 Menschen finden sich 10 000 ein, schließlich können die Sicherheitskräfte niemandem den Zutritt zum Fest verwehren. Eine bedrohliche Spannung liegt in der Luft. Seit Stunden kreist ein Hubschrauber über der Stadt und erfüllt den Talkessel, in dem Plauen liegt, mit ohrenbetäubendem Gedröhn. Als ein junger Mann eine schwarz-rot-goldene Fahne hochhält, Rufe nach "Freiheit" und die Schreie "Gorbi, Gorbi" erklingen, wird das geplante Fest des Staates zum Fiasko. Die Bereitschaftspolizei greift ein, zunächst weicht die Menge zurück. Plötzlich fährt ohne jede Vorwarnung ein Löschzug der städtischen Feuerwehr in die sich formierenden Demonstranten, die nur mit knapper Not beiseite springen können. Erstmals fliegen Flaschen und Pflastersteine gegen die Fahrzeuge mit ihren Wasserwerfern, die versuchen, die Menschen auseinanderzutreiben. Dennoch bildet sich eine große Ansammlung von Demonstranten, zieht hinauf zum Rathaus und drängt trotz der davor postierten Polizei hinein, so daß es in den vordersten Reihen zu Verletzten kommt. Durch Zurufe kehrt der Zug um und marschiert in Richtung Bahnhof. Damit beginnt, ohne daß es die Beteiligten schon wissen, der erste Demonstrationszug in der Stadt überhaupt. Als sich die Demonstranten auf dem Rückmarsch wieder dem Rathaus nähern, ertönt der Ruf: "Keine Gewalt!" Drohend steht ihnen der Sicherheitskordon von Polizisten gegenüber, die unentwegt mit den Schlagstöcken auf ihre Schutzschilde hämmern, aber nicht eingreifen. Auf Intervention des Plauener Superintendenten Thomas Küttler gelingt es gegen 16.30 Uhr, den Abzug des nach wie vor über der Stadt kreisenden Hubschraubers sowie der Polizeikräfte und Betriebskampfgruppen zu erreichen. Dies kommt einem von den Demonstranten selbst nicht erwarteten Sieg über die "Staatsrnacht" gleich. Sie gehen nach Hause mit dem festen Willen, am nächsten Samstag wiederzukommen. Von nun an folgen insgesamt 21 Demonstrationen, an denen im Januar 1990 sogar 40 000 Menschen teilnehmen. In keiner anderen Stadt neben Leipzig ist so kontinuierlich demonstriert worden, insgesamt zweiundzwanzigmal vom 7. Oktober 1989 bis zum 17. März 1990, letztmalig gen au einen Tag vor der ersten freien Volkskammerwahl. Keine andere Stadt der DDR hat "im Vergleich zu ihrer Größe und sonstigen Bedeutung einen überdurchschnittlich großen Beitrag zur Wende gebracht"9. In keiner anderen Stadt ist der Ruf nach Wiedervereinigung früher erschallt, nämlich schon im Oktober.
• Thomas Küttler, Die Wende in PI auen, in: Alexander Fischer 1 Günther Heydemann (Hrsg.), Die politische "Wende" 1989/90 in Sachsen. Rückblick und Zwischenbilanz, Weimar u.a. 1995, S. 147-155, hier S. 147. Vgl. Ders. 1 Jean Curt Röder, Die Wende in Plauen. Eine Dokumentation, PI auen 1993 sowie Bernd Lindner, Plauen: Widerborstige Stadt mit Bürgerstolz und Freiheitssinn, in: Ders. (Anm. 3), S. 123-138. 2*
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Wie kommt es zu dieser revolutionären Vorreiterrolle? Als eine der wichtigsten Industriestädte Sachsens nahm Plauen bereits vor der Jahrhundertwende als Zentrum hochwertiger Textilindustrie ("Plauener Spitze") einen Spitzenplatz ein; schon zu dieser Zeit entwickelte sich Plauen mit 120 000 Einwohnern zur Großstadt. Doch diesem rasanten Aufstieg folgte ein ebenso abrupter Abstieg. Aufgrund seiner industriellen Bedeutung im Zweiten Weltkrieg zu 75% zerstört, gerät die Stadt nach 1945 in eine politische wie geographische Randlage; die Einwohnerzahl feillt auf 75 000 zurück. 1O Hart an der damaligen deutschdeutschen Demarkationslinie liegend, konnte die traditionelle Verbindung zum bayerischen Vogtland und der Stadt Hof jahrzehntelang kaum wahrgenommen werden. Plauen blieb aber auch vom Zugang zum böhmischen VogtIand abgeschnitten, weil die Grenze zur CSSR durch einen 5 km breiten Sicherheitsstreifen unpassierbar gemacht worden war. Beides hatte jedoch den Stolz auf die einstige Größe nicht auslöschen können. Vielmehr ließ die erzwungene Isolierung der Stadt in der Nachkriegszeit eher ein rebellisches Selbstbewußtsein entstehen, das durch den guten Empfang westdeutscher Fernseh- und Radiosender weiter verstärkt wurde. So war der Regionalsender des Bayerischen Rundfunks, Bayern 3, überall zu hören. Nur 25 Kilometer von Hof und der bayerischen Grenze entfernt, ist deshalb in Plauen ein gesamtdeutsches Bewußtsein immer existent geblieben. Aufgrund der traditionellen Beziehungen zur fränkischen Zwillingsstadt Hof konnte es die SED auch nicht vermeiden, daß ein Jahr vor der Wende noch eine Städtepartnerschaft zwischen Plauen und Hof geschlossen wurde, die den nach wie vor bestehenden Kontakt zwischen beiden Städten nun auch offiziell legitimierte. Darüber hinaus trug das Wissen um die unmittelbare Nähe zur Bundesrepublik dazu bei, daß der Stadt- und Landkreis eine der höchsten Zahlen von Ausreiseanträgen in der DDR aufwies; allein während des letzten Jahrzehnts vor der Wende hatten über 7000 Plauener ihre Heimat verlassen. Selbst bei den ohnehin gefälschten Kommunalwahlen im Mai 1989 wies Plauen das DDR-weit schlechteste Ergebnis auf, wie die SED-Stadt- und Kreisleitung zugeben mußte. Seither hatte sich im Schutze der Kirche eine Gruppe mit dem Motto "Umdenken durch Nachdenken" gebildet, die während der Demonstrationen im Herbst '89 zur Keimzelle des Neuen Forum in Plauen werden sollte. Ohne Zweifel hat dieser historische wie politische Hintergrund die revolutionäre Vorreiterrolle der Stadt im Vogtland maßgeblich bestimmt.
Jf) Gegenwärtig hat die Stadt 68 000 Einwohner; zur wirtschaftlichen und sozialen Situation vgl. Joachim Herr, Plauen glänzt mit der niedrigsten ostdeutschen Arbeitslosenquote, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Januar 1999, S. 13.
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1.3 Hansestadt Wismar - der "kontrollierte Dialog" mißlingt Termin: 30. Oktober 1989, Ort: Sporthalle von Wismar. Der Rat der Stadt und die Bürger von Wismar 11 haben sich zur dritten Dialogveranstaltung in der Stadt eingefunden. Über 1500 Menschen sind gekommen, um die Themen "Rechtssicherheit, Demokratie und Bürgermitbestimmung" mit den Funktionären der SED zu diskutieren. Die SED hat sich auf den Dialog in der Hoffnung eingelassen, die Diskussion kanalisieren zu können; die Bürger wollen Rechenschaft und be furchten, die Kreisleitung wolle sich aus der Verantwortung stehlen. Die Veranstaltung wird zu einer einzigen Anklage gegen die Kommunalwahlen vom Mai des Jahres und die Privilegien der Herrschenden; gefordert werden daher Parteienpluralismus und Opposition. Die Debatte ist von Erregung, Zorn und Wut geprägt; es kommt zu tumultartigen Szenen, bitteren Anklagen, hitzigen Wortgefechten und sarkastischen Zwischenrufen, deren Inhalte gelegentlich kaum noch zu verstehen sind. Die von der SED geplante Kanalisierung der Diskussion mißlingt völlig. Der Dialog glättet die Wogen nicht, wie es die Machthaber erwartet und erhofft hatten, sondern die jahrzehntelange faktische Verweigerung eines solchen Dialogs fordert nun ihren Tribut in der Eruption unkontrollierter Emotionen. Die SED-Bezirksleitung, bestens informiert, hatte sich frühzeitig bemüht, die entstehende Bewegung nach Möglichkeit zu unterlaufen oder zumindest zu steuern. "Zuverlässige" Genossen wurden in die erste öffentliche Versammlung des Neuen Forum am 18. Oktober in der Kirche von Proseken entsandt, zu der 1500 Teilnehmer erschienen waren. Bereits am 14. Oktober 1989 war eine Weisung des Ersten Sekretärs Ernst Timm an die SED-Kreisleitungen ergangen, den politischen Dialog mit der Bevölkerung zu fuhren - allerdings in einem engen thematischen Rahmen, den die Partei vorgeben wollte. Eilfertig war der Rat der Stadt Wismar dieser Vorgabe gefolgt. Unmittelbar nach Konstituierung des Neuen Forum am 9. Oktober waren Vorbereitungen fur einen von oben gelenkten Diskurs getroffen worden. Zu einer ersten öffentlichen Debatte am 25. Oktober, zu der der Rat der Stadt aufgerufen hatte, waren rund 450 Bürger erschienen, obwohl der Rathaussaal von Wismar nur 300 Plätze faßte. Schon hier waren die Meinungen hart aufeinandergeprallt; mit Leidenschaft hatte man die vorgegebenen Fragen der Stadtentwicklung kontrovers debattiert. Die Bewegung drohte indes nicht nur der SED zu entgleiten, sondern auch den Führern der Opposition. Am 9. Oktober 1989 hatten rund 150 Bürger an der Gründungsversammlung des Neuen Forum teilgenommen. In der ersten öffentlichen Versammlung in der Kirche von Proseken am 18. Oktober fordert Fritz Kalf fur die Initiatoren einen "offenen Dialog" über alle Probleme in der DDR. Zugleich beschwört er aber die Anwesenden: "Wir dürfen den Herren mit den 11 Vgl. Sven Abrokat, Politischer Umbruch und Neubeginn in Wismar von 1989 bis 1990, Hamburg 1997.
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Knüppeln keinen Anlaß zum Eingreifen geben, bewahrt Ruhe, achtet auf euren Nebenmann, denn nicht jeder gehört unserer Plattform an!" Die Versammlung wagt zudem den Schritt an die Öffentlichkeit und kündigt filr den 27. Oktober eine erste öffentliche Aussprache an. Auch die erste öffentliche Demonstration, schon am 18. Oktober 1989 in Proseken filr den 7. November angekündigt, gerät beinahe zum Fiasko. 50 000 Menschen sind in der Stadt versammelt, die selbst nur 60 000 Einwohner zählt. Mit Transparenten werden das Gebäude der SED-Kreisleitung und die Fassaden des Rathauses "dekoriert". Durch organisatorische Mängel begünstigt, droht diese erste Protestkundgebung indes rasch außer Kontrolle zu geraten, als eine Gruppe von Teilnehmern versucht, das Rathaus zu stürmen. In letzter Not gelingt es den Veranstaltern, den Ansturm im Einklang mit der Polizei zu vereiteln. Die nur mühsam verhinderte Eskalation der Gewalt im Herbst 1989 besitzt jedoch eine konfliktreiche Vorgeschichte. Eine Umwelt- und Ausreisebewegung hatte sich in Wismar schon 1983 aus einer Gruppe von Christen, die sich filr die Bewahrung der Schöpfung engagierte, konstituiert. Bis 1986 erweiterte sie sich um Mitarbeiter und Studenten der Ingenieurhochschule. In den ersten Jahren fand sich kein hauptamtlicher Leiter; erst 1986 übernahm Dr. Michael Möller, Pastor an st. Marien / St. Georgen, nebenberuflich die Betreuung dieser Arbeit. Doch die Beteiligung vieler Ausreisewilliger weckte die Aufmerksamkeit der Kreisdienststelle des MfS. Verunsichert lehnte es darauf der Kirchengemeinderat ab, der Gruppe weiterhin Räume zur Verfilgung zu stellen. Im März 1988 bemühte sich eine Reihe von Aktiven, die Gruppe in ein "Informations- und Kommunikationszentrum" (IKZ) umzubennenen. Über den Bereich der Umweltproblematik hinaus sollte verstärkt dem Problem der Menschenrechte Rechnung getragen werden. Die Bildung eines "Zentrums" sowie die deutliche Berücksichtigung "politischer" Fragen führten zu verstärkter Überwachung. Die Staatsrnacht konnte zwar die Um benennung verhindern, nicht jedoch weitere Aktivitäten der Gruppe. Polizeikontrollen sollten die Beteiligung an sonntäglichen Andachten unterbinden und - vor allem - die anschließenden "Marktspaziergänge". Diese Form der Kleindemonstration hatte sich spontan herausgebildet und wurde schnell zur Gewohnheit. Im Mai 1988 und bereits einen Monat später von den Kirchenfilhrungen bestätigt - hatte sich die Bewegung als "Ökumenisches Zentrum für Umweltfragen" (ÖZU) neu konstituiert. Nach Aussagen der Initiatoren diente dieser Name zur Beruhigung staatlicher und innerkirchlicher Kritiker. Zugleich spitzten sich jedoch die Auseinandersetzungen zu. Der Leitungskreis des ÖZU hatte häufig nach einem schwierigen Mittelweg zwischen radikaler Kritik, Ausreiseforderungen und Gesprächsbereitschaft mit den Behörden (etwa zur Abfallbeseitigung oder zu Kernenergie-Fragen) zu suchen. Aber er organisierte auch eine Gedenkveranstaltung zum Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen in die CSSR, freilich in einer Privatwohnung.
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Im Februar 1989 kam es schließlich zum endgültigen Konflikt mit der Kirehen leitung; der wichtigste Förderer des ÖZU, Pastor Möller, verließ anschließend die DDR, nachdem die Behörden seine Eheschließung mit einer USAmerikanerin über zwei Jahre hinweg verhindert hatten. Die Kreisdienststelle des MfS triumphierte. Sie meinte, ihr Ziel erreicht und den wichtigsten "Unruhestifter" zum Aufgeben bewogen zu haben. Doch weit gefehlt: Aus dem engeren Kreis des ÖZU sollte schließlich das Wismarer Neue Forum hervorgehen. 2. Revolution und Transformation: Der "SonderfaU" DDR
Die hier geschilderten lokalen Revolten sind Bestandteil der erfolgreichsten Revolution in der deutschen Geschichte, der sogenannten "Wende" von 1989/90 in der DDR. Dieses "annus mirabilis" ist seither Gegenstand einer breiten, bis heute nicht beendeten politischen, publizistischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung geworden und geblieben. Sie hat bereits während ihres Verlaufs die unterschiedlichsten Bezeichnungen erfahren. Man mag es als Ironie der Geschichte nehmen, daß der bis heute gebräuchlichste Begriff für die demokratische Revolution in der DDR - die "Wende" - zwar von der Oppositionsbewegung als Forderung erhoben, aber von Egon Krenz, einem der fiihrenden Machthaber, Repräsentanten des SED-Regimes und Nachfolger Erich Honekkers, erfolgreich besetzt worden ist. Tatsächlich wollte dieser damit jene innerparteiliche Wende in der SED Ende Oktober 1989 anmahnen, mit der eine reformierte, aber nach wie vor eigenständige sozialistische DDR dem ausschließlichen Zugriff der Partei erhalten bleiben sollte. Ironisch oder wütend von den Demonstranten aufgegriffen, von den Bürgerbewegungen und den neuen politischen Parteien eher abgelehnt, wurde der Begriff schließlich vor allem durch die Presse popularisiert. 12 Wie sehr die Diskussion nach wie vor im Fluß ist, zeigt, daß der Revolutionsbegriff - neben den weiteren Begriffen Umbruch, Umsturz, Zusammenbruch, Kollaps und Implosion - u.a. mit den adjektivischen bzw. substantivischen Attributen Oktoberrevolution, Novemberrevolution, protestantische Revolution, nachholende Revolution, friedliche Revolution, gewaltlose Revolution, Feierabend-Revolution, nationale Revolution, nationaldemokratische Revo12 Eine der frühesten Verwendungen des Begriffs "Wende" findet sich in der "Böhlener Plattform", die Anfang September 1989 formuliert wurde. Gerhard Rein (Hrsg.), Die Opposition in der DDR. EntwUrfe filr einen anderen Sozialismus, Berlin 1989, S. 105-118, hier S. 106; vgl. besonders auch Hartmut Zwahr, Umbruch durch Ausbruch und Aufbruch: Die DDR auf dem Höhepunkt der Staatskrise 1989. Mit Exkursen zu Ausreise und Flucht sowie einer ostdeutschen GenerationenUbersicht, in: Hartmut Kaelble / JUrgen Kocka / Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 426-465, besonders S. 432 f. Der Begriff der "Wende", die die Parteifilhrung "unter dem Druck des Volkes" eingeleitet habe und deren "Initiator" Krenz sei, wurde als Sprachregelung z.B. auch von dem Ersten Sekretär der SED des Bezirks Erfurt, Gerhard MUller, Anfang November 1989 verwendet. Andreas Domheim, Politischer Umbruch in Erfurt 1989/90, Weimar u.a. 1995, S. 15 f.
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lution, volkseigene Revolution, ostdeutsche Revolution und deutsche demokratische Revolution versehen worden ist. 13 Im folgenden soll diesen Begriffsfassungen keine neue hinzugefügt werden. Analoges gilt für die Ursachenforschung l4 sowie die revolutionstheoretische Debatte um die Einordnung der "Wende" in entsprechende Typologien. Der Umbruch in der DDR war insofern eine Revolution, als durch ihn das institutionelle, rechtliche und personelle Geruge des SED-Herrschaftssystems radikal unterbrochen, zerstört und dauerhaft durch eine neue Ordnung ersetzt worden ist. Zwar verbindet sich begriffsgeschichtlich Revolution mit einem (nicht notwendig, aber doch zumeist) gewaltsamen Aufstand bzw. Umsturz, doch setzte die "Staatsrnacht" durchaus physische und psychische Gewalt ein. Die Demonstranten bekannten sich ausdrücklich mit ihrem Leitmotto "Keine Gewalt" zu dem Ziel einer "friedlichen" Veränderung und setzten alles daran, jedwede Gewalt zu verhindern. Der Revolutionstheoretiker Chalmers Johnson rechnet allerdings auch den zivilen Ungehorsam als die proklamierte Verletzung bestehender Gesetze und Rechtsnormen oder Massenprotestbewegungen zur "Gewalt". Tatsächlich lag dem Handeln der Träger- und Aktionsgruppen zunächst eher der unbewußte und keineswegs zielgerichtete Wille zugrunde, Veränderungen zu erzwingen, was jedoch zu ihrem eigenen Erstaunen rasch zur Überwindung und schließlich zur Zerstörung der bestehenden Ordnung führte. Mit der Gründung des Neuen Forum, der SDP und des Demokratischen Aufbruch wurde jedoch ebenso die Macht- bzw. die System frage gestellt wie mit der beginnenden Distanzierung von Teilen der Blockparteien, der Forderung nach freien Wahlen und der Entmachtung des MfS - unabhängig davon, ob das Ziel eine Reform der DDR oder die Wiedervereinigung darstellte. Die inhaltliche wie zeitliche Fixierung auf die Entstehung und den Ausbruch der Revolution hat bisweilen die Tatsache verdeckt, daß sich ein umfassender Transformationsprozeß unmittelbar anschloß bzw. die Revolution in diesen überging. Große Revolutionen werden in der Regel in der kollektiven Erinnerung auf "Symboldaten" reduziert - der 4. Juli 1776 in den USA, der 14. Juli 1789 in Frankreich, der 24./25. Oktober 1917 in Rußland oder der 9. November 1918 in Deutschland. Den spektakulären, oft blutigen Ereignissen, die den Symboldaten zugrunde liegen, kommt in der Regel geringere Bedeutung zu als den nachfolgenden großen Entscheidungen, die in den neugebildeten Machtzentralen fallen; sie leiten den Macht- und Regimewechsel als längeren Reform- und Transformationsprozeß zwar ein (Frankreich blieb Z.B. bis 1792 eine Monarchie), bedeuten aber keineswegs abschließend dessen Durchsetzung, schon gar nicht in der "Provinz". Gerade radikale Umbruchssituationen sind von einem JJ Siehe die differenzierte Einschätzung der unterschiedlichen Begriffsverwendungen bei Hartmut Zwahr. Die Revolution in der DDR 1989/90 - eine Zwischenbilanz, in. A Fischer / G Heydemann (Anm. 9), S 205-252, insbesondere S 206-214 " Vgl Hans Joas / Martin Kohli (Hrsg.), Der Zusammenbruch der DDR Soziologische Analysen, FrankfurtIM 1993
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(zeitweisen) Zerfall gewachsener Ordnungsmuster und - damit korrespondierend - von einer Dezentralisierung der Entscheidungs- und Handlungsstrukturen gekennzeichnet. Auch die vielen Umbruchsprozesse auf der mittleren und unteren Ebene der DDR sind davon, häufig mit unterschiedlichem Phasenverlauf, nachhaltig geprägt worden. Zudem ist die Ambivalenz von vierzigjähriger Stabilität und raschem Zusammenbruch zu erklären, worauf besonders Detlef Pollack hingewiesen hat. 15 Gleichwohl - und darin besteht die charakteristische Sonderstellung der Revolution in der DDR - war diese zwar Teil jenes "rasanten Zusammenbruchs [... ] des diktatorischen Staatssozialismus" 16 und somit auch "Teil weitreichender globaler Veränderungen" 17, aber im Unterschied zu den Staaten des "realexistierenden" Sozialismus in Ost- und Südosteuropa, einschließlich der Sowjetunion, vollzog sich der Umbruchsprozeß in der DDR in einem Teilstaat einer Nation, blieb das Regime der SED - trotz fortgesetzter Abgrenzungspolitik - nicht anders als die Bevölkerung der DDR durchweg auf den anderen nationalen Konkurrenzstaat, die Bundesrepublik Deutschland, fixiert. Nicht nur griff deren politische Führung im Verlauf der "Wende" entscheidend und richtungsweisend in den revolutionären Prozeß ein, sondern schon in der Verfassungsdiskussion der Runden Tische in Berlin, aber auch in der "Provinz" rückte, trotz mancher Vorbehalte, die westdeutsche Ordnung als Bezugs- und Zielpunkt der Institutionen(neu)ordnung immer stärker in den Vordergrund. Diese Überformung wurde durch die Währungsunion am I. Juli und endgültig durch den "Einigungsvertrag" vom 31. August 1990 verankert und durch den Beitritt der DDR zur (alten) Bundesrepublik nach Art. 23 des Grundgesetzes abgeschlossen, der die Übernahme bzw. die Übertragung des westdeutschen politischen Systems, der ordnungstheoretischen Konzepte und des Institutionengefliges (inkl. eines partiellen Personaltransfers) nach sich zog.18 Insofern wurde der Prozeß 15 Vgl. DetlefPollack, Der Umbruch in der DDR - eine protestantische Revolution? Der Beitrag der evangelischen Kirchen und der politisch alternativen Gruppen zur Wende 1989, in: Trutz Rendtorff (Hrsg.), Protestantische Revolution? Kirche und Theologie in der DDR: Ekklesiologische Voraussetzungen, politischer Kontext, theologische und historische Kriterien, Göttingen 1993, S. 41-72, hier bes. S. 42 fT. I" JUrgen Kocka, Die Wende 1989/90. Fakten, Probleme und Perspektiven, in: Ders., Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart, Göttingen 1995, S. 33-43, hier S. 33. 17 Michael Richter, Die Revolution in Deutschland 1989/90. Anmerkungen zum Charakter der "Wende", Dresden 1995, S. 7. 18 Zu einem Aspekt des qualitativen und quantitativen Prozesses des Elitenwechsels (im Vergleich auch zu 1933 und 1945) vgl. Hans-Ulrich Derlien, Regimewechsel und Personalpolitik. Beobachtungen zur politischen Säuberung und zur Integration der Staatsfunktionäre der DDR in das Berufsbeamtenturn, Bamberg 1991. Für die lokale Ebene: Frank Berg / Martin Nagelschmidt / Hellrnut Wollmann, Kommunaler Institutionenwandel. Regionale Fallstudien zum ostdeutschen Transformationsprozeß,Opladen 1996; Helmuth Berking / Sighard Neckei, Außenseiter als Politiker. Rekrutierung und Identitäten neuer lokaler Eliten in einer ostdeutschen Gemeinde, in: Soziale Welt 42 (1991), S. 283-299 (Eberswalde); Bernd Redlingshöfer / Ursula Hoffmann-Lange, Die Transformation do::r kommunalen politischen Elite in den neuen Bundesländern am Beispiel der Gemeindevertretung der Stadt Jena, in: Hans Bertram / Wolfgang Kreher / Irene Müller-Hartmann
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der "demokratischen Revolution" frühzeitig und entscheidend überformt durch die Forderung nach Wiedervereinigung, mithin durch die "nationale Revolution"; das sollte den Gestaltungsspielraum der letzten DDR-Regierungen vor wie nach dem 18. März 1990 zunehmend einschränken. Diese Konstellation sowie die sich anschließende Transformation im Verlauf der Wiedervereinigung als Strukturangleichungs- und Integrationsprozeß stellt innerhalb der "ostmitteleuropäischen Revolutionen" eine Ausnahme bzw. Sonderform dar: 9 Unabhängig von dem Charakter, der dem politischen Umbruch im Herbst 1989 beigemessen wird, ist der weitere Verlauf des politischen Systemwandels als Prozeß, als "Transformation,,20 in seinen vielfiiltigen, zeitlich oft unterschiedlich ablaufenden Phasen und Formen zu betrachten. Der Übergang (Transition) von einem nichtdemokratischen zu einem demokratischen Regime, von einer "real-sozialistischen" zu einer post-sozialistischen Gesellschaft, von der Plan- zur Marktwirtschaft vollzog sich in Phasen, wie sie idealtypisch für fast alle Transformationsprozesse nachweisbar sind: Die erste Phase einer erzwungenen Liberalisierung (im Sinne von begrenzten Zugeständnissen an die Opposition) war gekennzeichnet durch den Versuch der alten Eliten, durch kontrollierte Reformen zu einer gewissen Öffuung zu gelangen, ohne die prinzipiellen Machtverhältnisse zu verändern. Eine subkutane Liberalisierung war bereits Jahre zuvor in Polen durch Solidarnosc erreicht worden, zeitgleich mit der in Ungarn, dort allerdings von der regierenden Staatspartei eingeleitet. Dies sollte in Ungarn bereits im Januar / Februar und dann in Polen im April 1989 zur Überwindung des alten Systems führen. Überraschenderweise hatte auch in der Sowjetunion ab Mitte der achtziger Jahre unter Gorbatschow ein ähnlicher Reformprozeß (Perestroika und Glasnost) eingesetzt. Die Liberalisierung in Polen und Ungarn umfaßte vor allem die Gewährleistung von Bürgerrechten (Demonstrations- und Redefreiheit, Schutz vor geheimpolizeilicher Verfolgung usw.), die Teilhabe am Prozeß der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung, die Herstellung politischen Wettbewerbs durch Zulassung von Parteien sowie die Einrichtung demokratischer Institutionen. In der DDR dagegen, deren Führung sich von der Entwicklung in den "Bruderstaaten" abzuschotten bemühte, war diese Phase sehr viel kürzer. Sie begann im Grunde erst mit dem 9. Oktober 1989 unter dem Druck der Er(Hrsg.), Systemwechsel zwischen Projekt und Prozeß. Analysen zu den UmbrUchen in Ostdeutschland, Opladen 1998, S. 697-725; Ulfert Herlyn I Lothar Bertels (Hrsg.), Stadt im Umbruch: Gotha. Wende und Wandel in Ostdeutschland, Opladen 1994. 19 Hannelore Horn, Die Revolution in der DDR von 1989: Prototyp oder Sonderfall, in: Außenpolitik 44 (1993), S. 56-65, hier S. 65. Vgl. Geoffrey Roberts, The East German Case: Model or Waming?, in: Egbert Jahn I RudolfWildenmann (Hrsg.), Stability in East Central Europe? Stabilität in Mitteleuropa? Baden-Baden 1995, S. 108-123. 2{) Aus der Fülle der Untersuchungen vgl. (mit reichem Literaturanhang) Max Kaase u.a., Politisches System, (Berichte der Kommission rur die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern, Bericht 3), Opladen 1996, hier bes. S. 5-46.
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eignisse in Leipzig und endete mit der Streichung des Führungsanspruchs der SED aus der Verfassung am 1. Dezember, der Inhaftierung von Mitgliedern der alten Regierung sowie der Besetzung von Zentralen des Staatssicherheitsdienstes ab dem 4./5. Dezember 1989. Die zweite Phase war die der Demokratisierung, in der neue Regeln der Machtausübung institutionalisiert wurden. Bereits in seiner ersten Sitzung am 7. Dezember 1989 legte der Zentrale Runde Tisch in Berlin den Termin freier Parlamentswahlen auf den 6. Mai 1990 fest. In der Volkskammer konstituierte sich eine Kommission zur Änderung der bestehenden DDR-Verfassung. Der Demokratische Block der Parteien löste sich auf, ein neues Parteiensystem bildete sich heraus 2I, dessen Vertreter Ende Januar 1990 in die Regierung Modrow eintraten. Am Ende dieser Phase standen die (schließlich vorgezogenen) freien Wahlen zur Volkskammer am 18. März bzw. zu den kommunalen Vertretungskörperschaften am 6. Mai 1990, die in die Etablierung demokratisch legitimierter Regierungsinstanzen in Berlin wie in den Städten und Gemeinden mündete. Es schloß sich die dritte Phase der Konsolidierung an, die mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober bzw. der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 endete. Diese war gekennzeichnet durch die "Verrechtlichung" der Revolution seitens der Regierung Lothar de Maiziere nach den Volkskammerwahlen (April-Juni 1990), die mit der Einsetzung von Auftragsverwaltungen die regionalen und lokalen Körperschaften entmachtete und sich unterwarf. Mit dem Verfassungsgrundsätzegesetz vom 17. Juni 1990 und dem Ländereinfiihrungsgesetz vom 20. Juli 1990 wurde nicht allein das Föderalismusprinzip verankert, sondern zugleich den virulenten Tendenzen zur Wiederherstellung der Länder Rechnung getragen, die in der FrUhphase zusätzlich von dem Motiv bestimmt waren, durch die Schaffung einer neuen Mittel-Instanz die SEDdominierten Bezirksverwaltungen zu entmachten. 22 Vorangegangen war das Kommunalverfassungsgesetz vom 17. Mai 1990, das die Entmachtung der SED in den Städten und Kommunen in einheitliche Bahnen lenkte. 21 Auch hier sind zumeist die Gründungsprozesse auf der zentralen Ebene untersucht worden, die lokalen und regionalen AusditTerenzierungsprozesse dagegen weniger; z.T. ist dies in einzelnen Beitrllgen dieses Bandes erkennbar. Vgl. zuletzt: Petra Schuh / Bianca M. von der Weiden, Die deutsche Sozialdemokratie 1989/90. SDP und SPD im Einigungsprozeß, München 1997; Ute Schmidt, Von der Blockpartei zur Volkspartei? Die Ost-CDU im Umbruch 1989-1994, Opladen 1997; Wolfgang Jäger / Michael Walter, Die Allianz rur Deutschland. CDU, Demokratischer Aufbruch und Deutsche Soziale Union 1989/90, Köln u.a. 1998; StetTen Kammradt, Der "Demokratische Aufbruch". Profil einer jungen Partei am Ende der DDR, Frankfurt/M. 1997; Gero Neugebauer, Von der SED zur PDS 1989 bis 1990, in: Andreas Herbst u.a. (Hrsg.), Die SED. Geschichte Organisation - Politik. Ein Handbuch, Berlin 1997, S. 100-116; Ders. / Richard Stöss, Die PDS. Geschichte, Organisation, Wähler, Konkurrenten, Opladen 1996. 22 Markus Schubert, Der Koordinierungsausschuß zur Bildung des Landes Sachsen, in: Hans Bertram / Wolfgang Kreher / Irene Müller-Hartmann (Hrsg.), Systemwechsel zwischen Projekt und Prozeß. Analysen zu den Umbrüchen in Ostdeutschland, Opladen 1998, S. 563-593, hier S. 571 (Arnold Vaatz).
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Der Transformationsprozeß erfolgte auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Zeitabläufen: Staat und Verwaltung konnten rasch nach dem Vorbild der Bundesrepublik reorganisiert werden. Dadurch sahen sich Parteien und Verbände, aber auch die Kirchen (die "intermediäre" Ebene) unmittelbar vor die Alternative gestellt: Anpassung an die westdeutschen Strukturen und inhaltlichen bzw. politischen Vorgaben einerseits oder Aufgehen in diesen bzw. Marginalisierung bei regionaler Sonderexistenz und Restbedeutung andererseits. Freilich wurde - da das Problem nicht erwartet und insofern unterschätzt wurde - bei dem schematischen, vom "Staat" organisierten Prozeß der raschen Übertragung der politischen und administrativen Ordnung zu wenig berücksichtigt, daß die damit korrespondierende politische Kultur in den neuen Ländern noch nicht ausgebildet war. Die gesamtnationale Identitätsbildung ist insofern in Deutschland - wiederum als Sonderfall aufgrund der vierzigjährigen Spaltung, der kurzen Verlaufszeit des Revolutionsprozesses sowie entgegen der anfänglichen Wiedervereinigungseuphorie - zu einer Frage der nachträglichen "inneren Wiedervereinigung" geworden. 23 Normativ-kulturelle Orientierungen, Wertvorstellungen und Verhaltensweisen unterliegen allgemein einem langfristigeren Wandlungsprozeß, doch kann das freilich in diesem Zusammenhang nur angedeutet werden. 24 3. Fallstudien: Handlungsorte der Revolution
Die Beiträge des vorliegenden Bandes - überwiegend regional, kommunal, lokal oder institutionengeschichtlich ausgerichtet - bestätigen, vertiefen und differenzieren die generalisierenden Thesen der Revolutions- und Transformationsforschung. Zwar lassen sowohl die Studie von Hubertus Knabe als auch die Untersuchungen zur ökonomischen und politischen Entwicklung der achtziger Jahre von Francesca Weil, Annette Kaminsky und Oliver Werner deutlich werden, daß es bis Ende 1988 weder eine vorrevolutionäre Situation, noch eine potentiell revolutionäre Gegenelite gab, mithin keine "Opposition" im klassischen Sinne. Eher hatte sich ein loses Ensemble von dissentierenden Bewegungen etabliert, auch wenn diese inzwischen nach langer, mehrjähriger Formationsphase zumeist vom Stadium der Bürgerrechts-, Friedens- und Ökologiebewegung zu einer teilvemetzten politischen Dissidentenbewegung mit relativ stabiler Gruppenstruktur, aber doch mit sehr begrenztem Personenreservoir mutiert waren. So unterschiedlich die Konstituierungsbedingungen waren - teils reichten sie in die siebziger und achtziger Jahre zurück, teils waren es spontane Gründungen des Jahres 1989 -, so unterschiedlich waren ihre Organisations-, 23 Es scheint, als ob die DDR als eine Art Kulturraum, als Erfahrungs-, Erlebnis- und Erzählgemeinschaft eigentlich erst nachträglich in der "Vereinigungskrise" entstanden sei. Michael Rutschky, Wie erst jetzt die DDR entsteht, in: Merkur 49 (1997) 558/559, S. 851-864. 24 Vgl. Oscar W. Gabriel (Hrsg.), Politische Orientierungen und Verhaltensweisen im vereinigten Deutschland, Opladen 1997.
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Arbeits- und Aktionsformen. Gelegentlich wurden die Ausreisewilligen integriert, an anderen Orten und in anderen Gruppen dagegen klar ausgegrenzt; nur in der Ausnahme reichten die Kontakte bis in die Betriebe hinein, wie etwa in Jena, wo sich bei earl Zeiss Anfang der siebziger Jahre ein Kreis "Schreibender Arbeiter" gebildet hatte. 25 Infolgedessen schied - anders als 1953 - der Betrieb als Feld sozialer und machtpolitischer Auseinandersetzung fast völlig aus. Der eigentliche Ort des Umbruchs war die Demonstration, die Massenversammlung in Kirchen und Tagungssälen, zuletzt der Konferenzraum der Runden Tische. Die zivilgesellschaftliche Orientierung der Oppositionsgruppen - Bürger statt Staat, Dialog statt Parlamentsmehrheiten, Engagement statt Apathie, Kommunikation statt Konfrontation - begründete Formen der politischen Konfliktaustragung, deren Erfolgsaussichten unter den spezifischen Bedingungen der DDR zunächst eher gering schienen; zudem schreckten in den entscheidenden Wochen und Monaten viele der basisdemokratisch orientierten Bürgerrechtler vor dem entschlossenen Griff nach der Macht zurück und verweigerten den Schritt zur Gründung von Parteien nach westlichem Muster. Doch im Gegensatz zu früheren, potentiell ähnlichen Krisensituationen der SED bzw. der DDR kam zu den oppositionellen Aktivitäten eine Kumulation von endogenen und exogenen Faktoren hinzu, die das Entstehen einer vorrevolutionären Situation im Frühjahr und Sommer 1989 begünstigten, wie die Einzelstudien aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln auf der Ebene von Kommunen und Bezirken widerspiegeln: 1.
Die sukzessive Delegitimierung und der rasche Autoritätsverlust der SED war Teil des Zusammenbruchs der herrschenden Staats- und Gesellschaftsordnung im gesamten Ostblock, deren Legitimitätsgeltung in Polen oder Ungarn, aber auch in der Sowjetunion, längst offen in Frage gestellt war. Doch die entscheidende exogene Ursache flir die Schwächung der SEDDiktatur war der Verlust der Rückendeckung seitens der Sowjetunion, die sie zum einen durch ihre eigene Reformpolitik unter Druck setzte, und die zum anderen - im Gegensatz zu 1953 - zum militärischen Eingreifen in ihre "inneren Angelegenheiten" dieses Mal nicht mehr bereit war. Es bewahrheitete sich jetzt Breschnews Äußerung vom August 1970 gegenüber Erich Honecker: "Erich, ich sage dir offen, vergesse das nie: die DDR kann ohne uns, ohne die SU, ihre Macht und Stärke - nicht existieren. Ohne uns gibt es keine DDR.,,26 Anders als noch 1956 in Ungarn oder 1968 in Prag verhinderte sie im Winter/Frühjahr 1989/90 die Reformen in ihrem Machtbereich nicht; vielmehr nahm sie die "Revolutionierung" des Warschauer Paktes und schließlich des gesamten europäischen Staatensystems in Kauf. Neben der ideologischen Destabilisierung und dem Entzug der System ga-
2S Walter Schilling, Die 68er-Insel im "Roten Meer" - Braunsdorf, in: Andreas Domheim 1 Stephan Schnitzier (Hrsg.), Thüringen 1989/90 - Akteure des Umbruchs berichten, Erfurt 1995, S. 193209, hier S. 201. 26 Zitiert nach Peter Przybylski, Tatort Politbüro. Die Akte Honecker, Berlin 1991, S. 281.
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rantie kamen der Grenzöffnung in Ungarn und dem Botschaftsasyl in Prag, Budapest und Warschau entscheidende Bedeutung zu. Der Erfolg dieser Fluchtwelle und die Durchleitung der Züge mit den Prager Botschaftsflüchtlingen durch das Gebiet der DDR erzeugten den kumulativen Sog des sich zunehmend offener artikulierenden Protestes, der - angesichts der "geradezu physisch spürbare[n] Bewegungs- und Orientierungslosigkeit der Staatsrnacht" Anfang Oktober 198927 - harte Repression immer weniger zu fürchten begann und gleichzeitig lawinenartig Massencharakter annahm. Trotz der wiederholten Gewaltandrohung, vor allem durch die gezielten Hinweise auf die "chinesische Lösung", hat der bevorstehende 40. Jahrestag der Gründung der DDR die Partei- und Staatsftihrung angesichts der symbolisch verheerenden internationalen Wirkungen eines ebenso brutalen Vorgehens gegen die eigene Bevölkerung in den entscheidenden Wochen zu einer zögerlichen Haltung bewogen, wie u.a. in Dresden beobachtbar, als am 7. Oktober erstmals eine Demonstration nicht aufgelöst wurde (Erich Sobeslavsky). 2.
Zu den endogenen Ursachen gehört vor allem, daß die SED - im Zuge ihrer seit den siebziger Jahren praktizierten Taktik - die potentiellen Gegeneliten nicht mehr radikal unterdrückte (vielmehr eher durch Zwangsaussiedlung "exportierte"), sondern im kirchlichen Raum einzuhegen, durch Unterwanderung zu kontrollieren, gar von innen heraus durch Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit zu steuern versuchte. Obwohl sie diese präventive Strategie lange recht erfolgreich zu praktizieren vermochte, ließ die Partei damit gleichwohl die Entstehung einer Gegenöffentlichkeit zu, die in ihren engen Räumen Redefreiheit genoß, Organisationskerne und Handlungsroutine ausbildete und ein informelles, landesweites Netzwerk mit Multiplikatorenfunktion etablieren konnte. In fast allen Beiträgen wird die entscheidende Bedeutung der Kirchen als Schutzraum hervorgehoben, die als einzige gesellschaftliche Institution nicht der direkten Sanktionsgewalt (wohl aber der systematischen Bearbeitung) von Partei und Staat ausgesetzt waren und über ein dichtes Organisations- und Kommunikationsnetz verfügten. Trotz vielfacher Bereitschaft der Kirchenleitungen zum Arrangement mit den Machthabern, so schwierig und ambivalent dieses auch immer war, wie gerade Josef Schmid am Beispiel Dresdens nachzuweisen vermag, deckten sie zumeist die Pfarrer sowie die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter in ihren Bestrebungen, den Gemaßregelten, den in ihren Karrieren aus politischen Gründen Behinderten, den Anpassungsunwilligen und den Ausreisewilligen Schutzräume zur Verfügung zu stellen. So konnten diese zu Protektoren und Organisatoren, Beratern und Anführern, Informationsbeschaffern und Stichwortgebern werden, die geistlich-seelsorgerisch-sozialdiakon ische Arbeit und das ethische Engagement zur politischen Grund-
27 Manfred Otto Ruge, Grußwort, in: A. Dornheim (Anm. 12), S. 11-13, hier S. 12. Ruge war Mitbegrunder des Neuen Forum in Erfurt und ist heute Oberburgermeister.
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satzdiskussion ausweiten und somit die begrenzte, aber geschützte Öffentlichkeit des Kirchenraumes zur Überwindung der Zensur nutzen. Gleichwohl blieb dieser Prozeß lange auf den innerkirchlichen Bereich begrenzt, bis das DDR-weit sich verändernde Meinungs- und Stimmungsklima im September 1989 den Sprung aus diesem "Reservat" ermöglichte. So zufallig und spontan sich dies oft ergab, so geschah es doch jetzt politisch gezielt (Hubertus Knabe, Torsten Moritz für Berlin, Uwe Schwabe für Leipzig, Georg Wagner-Kyora für Halle, Katja Schlichtenbrede für Zwickau). Mit dem Vorstoß in den öffentlichen Raum und dem Gewinnen einer Massenbasis in der Demonstrationsbewegung, was Honecker bereits ahnungsvoll eine Parallele zum 17. Juni 1953 ziehen ließ, verknüpften sich organisierte Bürger(rechts)bewegung einerseits und spontane Bewegung der Bürger andererseits. Damit wurde jene "kritische Masse" erreicht, die von SED und MfS nicht mehr zu kontrollieren war. Beide vereinigten sich kurzzeitig und erfolgreich im Herbst 1989, um sich dann wieder - zugunsten der neugegründeten Parteien und im Zuge der beginnenden Abwanderung in Richtung Westdeutsch land - zu trennen. 3.
Hinzu trat der Legitimationsverlust der SED in der breiten Bevölkerung. Zwar besaß die DDR als Diktatur zu keiner Zeit demokratische Legitimität, aber auch Diktaturen können Zustimmung oder duldende Hinnahme durch die unterschiedlichsten Angebote und Kompensationen erzielen. Auf diesem Feld scheint die DDR zumindest in den frühen siebziger Jahren gewisse Erfolge erreicht zu haben, wie Erhebungen über die Staatszufriedenheit nahelegen 28 ; doch mehrten sich schon seit den achtziger Jahren die Krisenzeichen, bis hin zum drohenden Staatsbankrott infolge der hohen Auslandsverschuldung. Zwar gab es in der DDR 1989 keine dramatische Hungerkrise wie 1789, 1848 oder 1918, wohl aber eine Versorgungskrise, auch wenn diese mehr eine qualitativ-subjektive als eine quantitativ-objektive war. Die Abdeckung der materiellen Grundbedürfnisse war gewährleistet, doch die Erfüllung weitergehender Konsumwünsche war nur örtlich und zeitlich begrenzt möglich, und das in abnehmendem Maße und in abnehmender Qualität, oder gar an den Besitz von Devisen gebunden. Insofern staute sich bei weiten Teilen der Bevölkerung Unmut an: einmal im Hinblick auf den Vergleich zur Bundesrepublik, zum anderen (frühzeitig) im Hinblick auf Selbstbereicherung und Amtsmißbrauch der Funktionäre in der Partei (Heinz Mestrup), schließlich durch das fast täglich erlebte chaotische Mißmanagement in den Betrieben (Francesca Weil). In dem Maße, in dem die
28 Walter Friedrich / Hartmut Griese (Hrsg.), Jugend und Jugendforschung in der DDR. Gesellschaftspolitische Situationen, Sozialisation und Mentalitätsentwicklung in den achtziger Jahren, Opladen 1991, S. 139. So identifizierten sich 1975 57% der Lehrlinge "stark" mit der DDR, im September 1989 waren es nur noch 16%; bei den jungen Arbeitern sank der entsprechende Anteil von 1975 bis zum Oktober 1988 von 53 auf 19%; unter den Studenten lag die Zustimmung deutlich höher, ging aber von 1975 bis zum Februar 1989 ebenfalls von 66 auf34% zurück.
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Günther Heydemann, Gunther Mai und Wemer Müller
DDR ihre "Legitimität" verlor, sank auch die Bereitschaft der Bevölkerung, den Preis für die soziale und materielle "Sicherheit" zu zahlen: die Hinnahme von Diktatur und Unfreiheit. 4.
In der Rückschau lassen sich so in den einzelnen Beiträgen Konfigurationen gerade auf der Ebene der Bezirke und Kommunen erkennen, die erklären helfen, warum in der DDR der recht einmalige Fall einer erfolgreichen Revolution nicht im Zentrum der Macht, sondern an der Peripherie, d.h. in der "Provinz", stattfand. Die Beiträge von Kai Langer und Fred Mrotzek zeigen, daß etwa im Norden die Bewegung nicht nur die Städte erreichte, sondern auch in ländlichen Gebieten, selbst kleinen Dörfern Fuß faßte. Die Entwicklung in den Nordbezirken verlief nahezu zeitgleich, aber aufgrund der kleinräumigen Verhältnisse eigenständiger, vielfältiger, vielgestaltiger. So wurden erst Gesprächsangebote an die Machtträger unterbreitet, ehe man zu Demonstrationen schritt; der Aufruf des Neuen Forum war Anstoß zum Handeln, aber nicht programmatisch verpflichtend. Ähnliches zeigt Dietmar Remy für das katholische Eichsfeld in Thüringen, das zwar verspätet, dann aber energisch in das Geschehen eingriff. Umgekehrt läßt der Beitrag von Christian Dietrich und Martin Jander erkennen, daß in Thüringen vielfach die Entstehung oppositioneller Gruppierungen außerhalb der Städte behindert wurde, weil Pfarrer aufgrund der staatsnahen Tradition der Thüringer Landeskirche (seit der Amtszeit der Bischöfe Moritz Mitzenheim und Ingo Braecklein) keine Gemeinderäume zur Verfügung stellten. Insgesamt erwies sich jedoch die Verankerung der Revolution auch auf dem "flachen Land" als ein bedeutsamer Faktor für deren durchschlagenden Erfolg an der Peripherie und von der Peripherie aus.
Der wachsenden Handlungsbereitschaft der sich formierenden Oppositionsbewegung und schließlich breiter Kreise der Bevölkerung stand die abnehmende Handlungsfahigkeit der Machtapparate im Herbst 1989 gegenüber. Diese war bedingt durch den inneren Zerfall der SED, deren Lähmung rasch auf die Machtapparate durchschlug, besonders das MfS, aber auch die Justiz (Annette Weinke). Der Autoritätsverfall der einstmals "flihrenden Partei" zeigte sich geradezu dramatisch in den letzten Sitzungen des Zentralkomitees der SED. 29 Mit dem Funktionsverlust des hierarchischen Anleitungs- und Kontrollsystems sahen sich - neben den nachgeordneten Teilen des Machtapparates auf der zentralen Ebene in Berlin - die regionalen und lokalen Parteigremien und Staatsorgane vor Herausforderungen gestellt, auf die sie nicht vorbereitet waren; entsprechend wuchsen die Handlungsspielräume der lokalen Gruppen vor Ort. Noch bleibt zu untersuchen, ob die Handlungs- bzw. Entscheidungsunfähigkeit der SED auf Fehlperzeptionen (Gerd-Rüdiger Stephan / Detlef Nakath), etwa den unbeirrten Glauben an eine sowjetische Intervention ("Die Freunde werden 29 Vgl. Hans-Hennann Hertle / Gerd-RUdiger Stephan (Hrsg.), Das Ende der SED. Die letzten Tage des Zentralkomitees, Berlin 1997.
Einleitung
29
uns nicht hängen lassen") oder ideologisch bedingten Realitätsverlust, auf Kommunikationsprobleme zwischen Zentrale und Peripherie oder auf die parteiinterne Bildung von Flügeln mit unterschiedlichen strategischen Optionen (Krenz) zurückzuführen ist. 30 Im Ergebnis freilich läßt sich in den entscheidenden Wochen nicht nur eine wachsende Kluft zwischen den Teilapparaten von Staat und Partei (z.B. MfS, NVA 31 und Justiz) beobachten, sondern auch innerhalb der Apparate selbst: zwischen den Flügeln, zwischen Berlin und der Provinz, zwischen Funktionärskorps und Basis. Zwar erschien die DDR lange Zeit als ein stabiles politisches System, doch zeigte sich in der fmalen Krise einmal mehr, daß diese Stabilität nicht auf der Zustimmung oder Akzeptanz seitens ihrer Bürger, sondern auf rigider Kontrolle beruhte. Man mag von einer (von außen initiierten) Implosion des Systems sprechen, doch wurden diesem die Korsettstangen in letzter Instanz - und entscheidend - von innen, durch das aktive Handeln der Bürger entzogen. Diese Bedeutung der Akteursdimension gilt erst recht für die Zeit nach dem 9. Oktober bzw. 9. November 1989. Tobias Hollitzer ist solchen Fragen anband der Entscheidungssituation in Leipzig im September/Oktober 1989 detailliert nachgegangen. Er charakterisiert diese als grundsätzlich für längere Zeit offen: Die Verantwortlichen vor Ort waren zur "chinesischen Lösung" zumindest bereit. Diese scheiterte indes nicht nur an der Entscheidungsunfähigkeit in Berlin, sondern auch an der eigenen Fehleinschätzung der Lage: Man hatte sich auf einen neuen ,,17. Juni" eingerichtet, die sprunghaft anwachsende, zudem friedliche Massenhaftigkeit des Protestes sowie eine entsprechende Beteiligung an den Demonstrationen aber nicht erwartet. Verstärkt wurde die Handlungsunfähigkeit der Staats- und Parteiorgane durch die in der Krise offenbar werdende Distanz einer wachsenden Anzahl von SED-Mitgliedern gegenüber der Partei- und Staats führung. Wie weit die Delegitimierung der SED bereits an der eigenen Basis vorangeschritten war, die zum Massenexodus ihrer Mitglieder im Herbst 1989 führte, arbeiten Cornelia Liebold rur Leipzig und Heinz Mestrup für den Bezirk Erfurt heraus. 32 Letzterer weist am Beispiel der Parteigespräche, der Parteistrafen und des Umtausches der Parteidokumente eine bereits 1988 einsetzende, zwar quantitativ geringe, aber ex post doch signifikante Tendenz zur Distanzierung und Verweigerung nach. 1 Bürgerkomitee des Landes Thüringen e.V. (Hrsg.), Aufbruch '89 - Kleine Chronik der Herbstereignisse 1989 in der Bezirkshauptstadt Suhl. September bis Dezember, Suhl 1990. Siehe auch: Bemd Winkelmann, Politische Spiritualität in der Wendezeit der DDR - erlebt im Bezirk Suhl, in: A. Domheim / S. Schnitzier (Anm. 9), S. 161-177. Die Suhler Autoren stellen den Umbruch bewußt nur von September bis Dezember 1989 dar, denn hier "machten wir die stärksten Erfahrungen der Befreiung und einer großen neuartigen Demokratiebewegung des ganzen Volkes". Bürgerkomitee des Landes Thüringen, S. 2. Auch auf eine Darstellung der Traditionen oppositioneller Tätigkeit in der Stadt und im Bezirk Suhl verzichteten sie. 101 MfS, Bezirksverwaltung (BV) Suhl, Parteiinformation 99/89, 22.6.1989, S. 3. BStU Suhl, Partei informationen (PI). 102 MfS, BV Suhl, Partei information 99/89, 22.6.1989, Anlage S. 15. BStU Suhl, PI. 103
MfS, BV Suhl, Parteiinformation 130/89,29.8.1989, S. I. BStU Suhl, PI. MfS, BV Suhl, Parteiinformation 35/89,10.3.1989, S. I ff. BStU Suhl, PI. 105 Bürgerkomitee des Landes Thüringen (Anm. 100), S. 4. 106 Ein Thüringer Basisgruppen-Treffen fand am 29./30. September in Weimar statt. Ebd., S. 5 ff. sowie MfS, BV Suhl, Parteiinformation 146/89,2.10.1989, S. 1-6. BStU Suhl, PI. 104
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Christen", wurde - auch aus Rücksichtnahme auf die Nervosität staatlicher Organe - auf den 15. Oktober verschoben. lo7 Dieser Gottesdienst, zu dem rund 2000 Menschen zusammenkamen, und eine drei Tage später stattfindende Zusammenkunft des Neuen Forums mit etwa 1000 Teilnehmern bildeten dann den Ausgangspunkt des Massenprotestes in der Stadt Suhl. lo8 Im Bericht des Bezirkschefs der Staatssicherheit über diesen Gottesdienst an die SEDBezirksleitung heißt es: "Der Gottesdienst fand in der Zeit von 19.30 Uhr bis 21.45 Uhr wie vorgesehen [... ] statt. Er war von ca. 1800 Personen besucht, davon etwa 50% im Alter von 15 bis 25 Jahren und 50% zwischen 25 bis 40 Jahre. Der überwiegende Teil beider Altersgruppen waren Frauen und Mädchen. Hauptinhalte des Gottesdienstes, der unter dem Thema: '40 Jahre DDR Verantwortung von Christen' stand, waren: Die Hervorhebung, daß die Kirche dazu gezwungen worden sei, eine Stellvertreterrolle wegen des Nichtfunktionierens des Staates zu übernehmen. Die Verlesung aller feindlichen Konzeptionen ('Neues Forum', Demokratischer Aufbruch, Gründungsdokument der SDP, Vereinigte Linke, Hirtenbrief des Landesbischofs Leich und des Bischofs Demke) in Auszügen. Die Aufforderung aller Teilnehmer nach diesen Maximen zu handeln und eine Veränderung der Lage in der DDR herbeizuführen. Die Forderung nach Medienfreiheit, freien Wahlen, Reisefreiheit und nach Refonnen in allen gesellschaftlichen Bereichen. Für die gesamte Veranstaltung war kennzeichnend, daß fast alle Zitate aus o.g. Pamphleten mit lautstarkem Beifall quittiert wurden und die Stimmung der Gottesdienstbesucher spürbar aufgeheizt wurde. Der Gottesdienst war in seiner Gesamtheit dazu mißbraucht, die Besucher mit den Grundlagen und Forderungen oppositioneller Sammlungsbewegungen in der DDR vertraut zu machen, die 'politische Funktion der Kirche' zu begründen und zur weiteren Verständigung über das sogenannte 'Neue Forum' u.a. Sammlungsbewegungen am 18.10.1989 in Suhl einzuladen."I09 Bevor es am 4. November in Suhl zu einer angemeldeten Großdemonstration mit 40 000 Teilnehmern aus der Stadt und umliegenden Ortschaften kam, hatten bereits seit dem 24. Oktober vorwiegend in den Kreisstädten I1menau, Meinigen, Sonneberg und Bad Salzungen Demonstrationen und Schweigemärsche mit jeweils bis zu 8000 Teilnehmern stattgefunden: "Die Mehrzahl der Demonstrationen stand im Zusammenhang mit politischen Veranstaltungen in Kirchen sowie mit von gesellschaftlichen Kräften organisierten Dialogveranstaltungen. Sie wurden durch Bekanntgabe in Veranstaltungen, durch Aushänge und Flugblätter in Kirchen sowie durch 'Flüsterpropaganda' bekannt gemacht."llo Seit dem 24. Oktober wirkten sowohl der Rat der Stadt als auch des Kreises und des 107 108
MfS, BV Suhl, Parteiinfonnation 156/89,9.10.1989, S. 2. BStU Suhl, PI. Bürgerkomitee des Landes Thüringen (Anm. 100), S. 9 ff.
1IJ9
MfS, BV Suhl, Parteiinfonnation 163/89, 15.10.1989, S. I f. BStU Suhl, PI.
110
MfS, BV Suhl, Parteiinfonnation 184/89,3.11.1989, S. 14. BStU Suhl, PI.
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Bezirks Suhl auf Kirchenvertreter und Oppositionelle ein, jegliche "Provokationen" zu unterlassen. Die von ihnen aufgestellten Forderungen - Anerkennung des Neuen Forums, Zurücknahme aller Repressalien gegen dessen Vertreter, öffentlicher Dialog über den Führungsanspruch der SED und das "Wie des Sozialismus" u.a. - wurden zurückgewiesen. '" Am 2. November trat jedoch der SED-Bezirkschef und Hardliner Hans Albrecht zurück. Eine Entspannung der Lage deutete sich an. Mit dem Lied "We shall overcome" feierten die Demonstranten am 4. November in Suhl ihren ersten großen Sieg. Nach der Öffnung der Mauer ändert sich die Situation in Suhl wie überall grundlegend. Innerhalb des Neuen Forums kam es zu schwerwiegenden Differenzen über die Frage der Wiedervereinigung. Eine Gruppe, die sich später der DSU anschloß, spaltete sich ab. "2 Ein Demonstrationsaufruf zum 18. November unter der Überschrift "Reisen ist nicht alles" fand nur geringen Zuspruch, denn "die meisten Menschen [waren] auf Reisen""J. In den Augen der Bevölkerung schienen die Bürgerrechtsgruppen ihre Rolle ausgespielt zu haben. Da platzte am 4. Dezember in eine Veranstaltung des Neuen Forums in Suhl die Nachricht, in der Bezirksverwaltung des MfS in Suhl würden Akten vernichtet." 4 Trotz mäßigender Appelle der Veranstaltungsorganisatoren ließen es sich die ca. 4000 Teilnehmer nicht nehmen, sofort zur Bezirksverwaltung aufzubrechen und - trotz massiven Widerstands der Staatssicherheit - eine Besichtigung des Gebäudes sowie seine anschließende Versiegelung durchzusetzen.\I5 Als in den frühen Morgenstunden des 5. Dezember Busfahrer den Abtransport von Akten beobachteten, blockierten sie mit ihren Fahrzeugen die Zugänge und mobilisierten die Bürgerrechtler. Diesen gelang es gegen 23 Uhr, das Gelände vollständig unter die Kontrolle eines "Bürgerkomitees" zu bringen und mit Staatsanwaltschaft und Polizei Vereinbarungen über die vollständige Auflösung des MfS in Suhl zu treffen. Die Mitarbeiter des MfS wurden sofort beurlaubt und nach Kontrolle ihrer Taschen und Autos nach Hause geschickt. I 16
111
Bürgerkomitee des Landes Thüringen (Anm. 100), S. 13.
Ebd., S. 19. Vgl. P. Latussek (Anm. 29). IlJ Bürgerkomitee des Landes Thüringen (Anm. 100), S. 22. 114 M. Richter (Anm. 85), S. 80, Fußnote 144. 115 Bürgerkomitee des Landes Thüringen (Anm. 100), S. 23 f. Vgl. auch Siegfried Geißler, Die unvollendete 9. Sinfonie - ein Komponist beim Neuen Forum und als Besetzer der Suhler MfS-Burg, in: A. Domheim / S. Schnitzier (Anm. 9), S. 29-41; Katharina Strobel, Als Vertreterin der katholischen Kirche am Runden Tisch des Bezirkes Suhl - ein Erlebnisbericht, in: ebd., S. 232234; Martin Montag, Aus der Geschichte und Arbeit des Bürgerkomitees des Landes Thüringen e.V., in: ebd., S. 235-241. 112
116
M. Richter (Anm. 85), S. 92, Fußnote 20 I.
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Der sich anschließende Prozeß der Konstitution Runder Tische in der Stadt und im Bezirk "7 ist noch nicht im einzelnen dokumentiert. Bisher ist ungeklärt, warum - im Unterschied zu Erfurt - die Besetzung der Stasi-Zentrale nicht den Versuch einer weitgehenden Entmachtung der SED hervorbrachte. Zwar demonstrierte das Neue Forum in Suhl am 10. Dezember für die "totale Entmachtung der Stasi und der SED", aber die Volkspolizei "stellte die Lautsprecheranlage und trug z.T. Ordnungsbänder mit der Aufschrift Neues Forum". Die eindringlichen Ermahnungen des Bezirkstaatsanwaltes an die Superintendenten, "das Land vor dem Chaos zu bewahren", schienen Früchte zu tragen. 1I8 Die deutliche Zurückhaltung der Bürgerrechtler kam auch bei der Formel über Rolle und Funktion des Runden Tisches im Bezirk zum Ausdruck: "Der Runde Tisch ist eine außerparlamentarische Gruppe mit beratendem Charakter, der die Entscheidungen des Rates des Bezirkes mit vorbereitet und mit trägt.,,119 Bei den Volkskammerwahlen im März 1990 erreichte das Bündnis 90 in der Stadt Suhl nur 3,8% der Stimmen, die Allianz für Deutschland dagegen 44,2%, die POS 24,9% und die SPD 16,3%.120 Das Ende der Simulation und der Lokalpatriotismus
Bei den Lokaldarstellungen des politischen Umbruch ist festzustellen, daß sich die Rufe "Wir wollen raus!" und "Wir bleiben hier!" sozusagen in die Geschichtsschreibung hinein verlängert haben. Jedenfalls dort, wo sie von den Akteuren selbst betrieben wurde. In der wissenschaftlichen Betrachtung gibt es bislang kaum einen rechten Zugang zu dem Thema. Günther Heydemann und Thomas Schaarschmidt haben in diesem Zusammenhang auf eine nicht unbedeutende Schwachstelle sozialwissenschaftlicher Betrachtung und Analyse des Umbruchs aufmerksam gemacht. '21 Bislang ist die subjektiv erfahrene Befreiung der Menschen in der Beteiligung an den Demonstrationen und bei der Formulierung der Forderungen nur selten angemessen berücksichtigt worden. Als Beispiel zitieren die Autoren den Erlebnisbericht einer Hausfrau. Sie erinnert sich an die Leipziger Demonstrationen folgendermaßen: "Für mich persönlich war der größte Moment der, als ich ganz allein, ganz für mich in die Menge gelaufen bin und erst leise und dann immer lauter gerufen habe: Wir sind das Volk! Wir sind das Volk! Ich weiß noch, das war in der Nähe vom Bahnhof. Ich 117
Bürgerkomitee des Landes Thüringen (Anm. 100), S. 24, 27 und 29.
118
Ebd., S. 28.
119
Ebd., S. 30. Forschungsgruppe Wahlen (Anm. 3), Anlage B 58.
1211
12\ Günther Heydemann / Thomas Schaarschmidt, Innenpolitische Vorraussetzungen und Etappen der "Wende in der DDR, in: Alexander Fischer / Günter Heydemann, Die politische "Wende" in Sachsen, Weimar u.a. 1995, S. 45-70.
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habe Polizei gesehen, aber keine Angst gehabt. Ich habe mich stark gefühlt und die Arme hochgerissen und mir die Seele aus dem Leib geschrien."'22 Es sind jedoch vor allem die Chronisten aus den Bürgerrechtsgruppen, die das Erlebnis individueller und kollektiver Befreiung in den Vordergrund ihrer Darstellungen rücken. Bernd Winkelmann, einer der wesentlichen Inspiratoren des Neuen Forums im Bezirk Suhl, meint, daß eben jener Befreiungsprozeß von Westdeutschen überhaupt nicht verstanden werde: "Wenn im Westen von der 'Wende' gesprochen wird, ist meist nur der 'Fall der Mauer' am 9. November 1989 und der Anschluß der DDR an Westdeutsch land gemeint. Diese Sicht zeigt eine erschreckende Unfähigkeit, Geschichte in ihrer tieferen Dimension wahrzunehmen - konkret hier, das wahrzunehmen was die wirkliche Wende war, nämlich das Aufwachen und Aufstehen der DDR-Bevölkerung aus einer jahrzehntelangen Depression und Deformation - ein Aufwachen zu einer erstaunlichen Reife, Hellsichtigkeit und Tatkraft." 123 Ob es vorwiegend der westdeutsche Betrachter ist, dem das Thema fremd ist, sei dahingestellt. Der Kritik an der fehlenden Beschreibung und Analyse des Umbruchs in der DDR als individuelles und kollektives Befreiungshandeln und -erleben, als Ausbruch aus dem verordneten Universum totalitärer Sprachregelungen und erzwungener Unterwerfungsrituale sowie der individuellen und kollektiven Selbstdefinition als Widerpart zu Partei und Staatsmacht ist jedoch zuzustimmen. Sie sind originäre Themen einer Oppositions- und Widerstandsforschung. Nicht umsonst fehlt Vaclav Havels Diktum "In der Wahrheit leben"'24 in kaum einer Veröffentlichung über Opposition und Widerstand in der DDR. Für die Deutung der Spezifik des Umbruchsprozesses im Süden der DDR sind sie bislang jedoch nur in Ansätzen berücksichtigt worden. Die von ausländischen Betrachtern ganz selbstverständlich formulierte Aussage, daß Kommunikation in einer Gesellschaft, die totalitären Machthabern unterworfen ist, notwendigerweise über den Rückgriff auf Symbole und Zeichen erfolgt, die ihre Bedeutung durch kollektiv erinnerte Geschichte, Persönlichkeiten oder Ereignisse erhalten, scheint in der Bundesrepublik noch nicht angekommen zu sein. '25 Nicht erst für die Forschung, sondern bereits für die Bürgerrechtler und die Bevölkerung der DDR war dies ein schwieriges Thema, das mitten in die Streitfrage des Vergleichs beider deutscher Staaten und ihres jeweiligen nachnatio122 Eva Günther, "Wir haben doch gesagt, lieber Kohl essen als gar kein Gemüse", in: Bemd Lindner / Ralph GrUneberger (Hrsg.), Demonteure. Biographien des Leipziger Herbst, Bielefeld 1992, S. 43-55, hier S. 51. J2J B. Winkelmann (Anm. 100), S. 161.
124
Vaclav Have1, Versuch, in der Wahrheit zu leben, Hamburg 1989. Siehe z.B. Christian Joppke, East German Dissidents and the Revolution of 1989, New York 1995. l2S
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nalsozialistischen Selbstanspruchs führte. So ganz unerheblich war es auch damals nicht, ob das "Deutschlandlied", die "Internationale", "We shall overcome" oder eine Lokalhymne gesungen wurde. Gerade die Umbruchsgeschichten in Thüringen enthalten Hinweise auf die Bedeutung lokaler und regionaler Befreiungs- und Identitätsbildungsprozesse, die ohne verschüttete und doch nicht verschwundene Traditionen nicht erklärbar sind. Im Medium des Lokalpatriotismus wurde die zentralstaatlich verfaßte totalitäre Diktatur zurückgewiesen und zugleich die Demokratie rekonstruiert. Diese Selbstbefreiung wurde zuerst meist als "Wiedererwachen" der Heimatstadt bzw. -region begriffen oder als Heimischwerden erlebt. 126 Bei Politikern in Thüringen war, ebenso wie in Sachsen, die "Prioritätensetzung zugunsten der Region" weit verbreitet, wie Ute Schmidt in ihrer Analyse der Ost-CDU feststellte. Dabei konnte an Entwicklungen in den kommunalen Verwaltungen angeknüpft werden, die schon vor dem Ende der SED-Herrschaft mit "traditionallokalistischen Wir-Gefühlen" die fehlende Legitimation kompensiert hatten. 127 Da die deutsche Teilung mit der kommunistischen Okkupation zusammenfiel, waren DDR-Patriotismus und Sozialismus eng verknüpft. Indem Teile der Bürgerbewegung an regionale Traditionen anknüpften, entledigten sie sich zugleich der Orientierung auf die DDR bzw. den Sozialismus. Dies geschah jedoch in der "Hauptstadt der DDR", d.h. insbesondere am Zentralen Runden Tisch, in den Parteileitungen und in der Ende März 1990 gebildeten DDRRegierung nicht gleichermaßen. Hier wurde immer noch für "die DDR" gedacht und gehandelt. Der Ruf nach "Deutschland" hingegen hatte als Pendant die "Wiederentdeckung" und "Aneignung" der regionalen Heimat. In diesem Sinne wurde die DDR gerade dort abgewählt, wo es starke Regionaltraditionen und lokale Reste bürgerlicher Milieus gab.
126 Siehe Z.B. Bettina Krause, Augenblicke, in: Landkreis Weißenfels (Hrsg.), Die Wende in Weißenfels, Weißenfels 1994, S. 45-47. 127 Vgl. U. Schmidt (Anm. 17), S. 267; Martin Nagelschmidt, Auf halbem Wege: Der Institutionenwandel der ostdeutschen Städte, Kreise und Gemeinden, in: Andreas Eisen / Hellmut Wollmann (Hrsg.), Institutionenbildung in Ostdeutschland, (KSPW: Transformationsprozesse, Bd. 14),Opladen 1996, S. 211-225, hier S. 215.
22 Hcydcmann u. a.
Georg Wagner-Kyora EINE PROTESTANTISCHE REVOLUTION IN HALLE Die Revolutionsereignisse in den Groß-, Mittel- und Kleinstädten abseits der drei größten Städte der DDR Berlin, Leipzig und Dresden sind in der bisherigen Geschichtsschreibung eher vernachlässigt worden. Deshalb nimmt eine Stadt wie Halle bislang den Rang eines nachgeordneten Epizentrums der Revolution ein, von dem wenig bekannt ist. l Diese Unkenntnis erstreckt sich auch auf die zentralen symbolischen Aufstandshandlungen, die vor allem in den wöchentlich wiederkehrenden Massendemonstrationen kulminierten. 2 Ob und mit welcher Beteiligung es in Halle Montagsdemonstrationen gab, ist ein Indikator für das revolutionäre Potential in dieser Stadt; ein anderer ist die Größenordnung, die die Basis der Opposition in den verschiedenen Phasen der Revolution erreichte. Schließlich kann das Profil der Oppositionellen genauer bestimmt werden, indem ihre programmatische Ausrichtung untersucht wird, wobei die sich daraus ergebenden Verbindungslinien zu den Zentren der Revolution und ihren oppositionellen Führungsfiguren freigelegt werden müssen. Erst wenn diese Fragen ausreichend beantwortet sind, wird man beurteilen können, ob in der Bezirkshauptstadt, die zusammen mit ihrer Schwesterstadt Halle-Neustadt 320 000 Einwohner zählte, eine selbständige Protestbewegung entstanden war und welche Dynamik sie entfaltete. Um einen wichtigen Befund vorwegzunehmen: Wie in Leipzig wurde am 9. Oktober auch in Halle, und zwar auf dem dortigen Marktplatz, demonstriert. Etwa 1200 Teilnehmer hatten sich zu einer Schweige-Demonstration eingefunden, die Gewaltfreiheit einforderte und sich mit den Leipziger Montagsdemonstrationen solidarisierte. 3 Angesichts der relativ geringen Teilnehmerzahl mutet I Symptomatisch dafilr ist die neuere Gesamtdarstellung von Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Bonn 1997. Dr. Frank Eigenfeld, Halle, danke ich filr seine umfangreiche Hilfestellung bei diesem Aufsatz, die in einem längeren Interview, mehreren Gesprächen sowie der Nutzung seines umfangreichen Privatarchivs bestand, das sämtliche hier verwendeten Stasi-Unterlagen sowie die zahlreichen, im Archiv noch nicht zugänglichen Dokumente umfaßt.
2 Eine erste Gesamtdarstellung der Chronologie in Hans-Peter Löhn, "Unsere Nerven lagen allmählich blank". MfS und SED im Bezirk Halle, Berlin 1996, bes. S. 10-18. J Die verläßlichste zeitgenössische Darstellung ist ein innerkirchlicher Bericht: Zu den Ereignissen am 9.10.1989 in Halle, abgedruckt in: Mitglieder der Redaktion Das andere Blatt (Hrsg.), "Keine Überraschung zulassen". Berichte und Praktiken der Staatssicherheit in Halle bis Ende
22*
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das Ende dieser Demonstration grotesk an: Unmittelbar vor Schluß des politischen Gebetes in der Marktkirche, um 18.40 Uhr, griffen Einsatzkräfte von Polizei, Staatssicherheitsdienst und Kampfgruppen in brutaler Weise die auf dem Marktplatz verbliebenen 800 Demonstranten an. Sie trieben sie auseinander und verhafteten willkürlich mehr als 40 von ihnen. Diese wurden in einen Massengewahrsam verbracht und dort noch während der Nacht unter entwürdigenden Umständen verhört, dann aber freigelassen. Der bedrückende Verlauf dieser ersten Montagsdemonstration eröffnet eine interessante Vergleichsperspektive auf die Ereignisse in den größten sächsischen Städten. Sie legt den Schluß nahe, in Halle seien die verschiedenen Revolutionsphasen immer etwas später realisiert worden als in Leipzig oder Dresden: Während dort bereits friedlich verhandelt wurde, prügelte hier die Staatsmacht auf die Bürger ein, so wie es in den sächsischen Metropolen noch im September an der Tagesordnung gewesen war. Im Umkehrschluß könnten daraus weitergehende Erklärungen abgeleitet werden, welche die funktionalen Ähnlichkeiten hervorheben, etwa diejenige, die Hallesehe Entwicklung habe überhaupt nur Einflüsse von außen verarbeitet und eigentlich keine selbständige Revolutionsdynamik entfaltet. Und das könnte für den Fortgang der Ereignisse bedeutet haben, daß Halle nach der Verlagerung des Schwerpunktes der Ereignisse im Verlauf des Oktobers und Novembers 1989 von Leipzig und Dresden nach Berlin von dort Erfahrungen übernommen habe. Wie es scheint, ist diese Sichtweise richtig und falsch zugleich: Zwar hat Halle, wie im folgenden zu zeigen sein wird, seine Revolutionsdynamik tatsächlich im Schnittfeld beider Hauptstädte der Revolution, Berlin und Leipzig, entwickelt, aber, das ist meine These, hierbei handelte es sich um eine genuine Ausprägung oppositioneller Politik. Und dies gilt auch, obwohl man sich in Halle überwiegend Protestformen bediente, die in Berlin und Leipzig bereits erprobt waren, und obwohl dieser Protest zunächst nur von einer extrem schmalen personellen Basis aus umgesetzt werden konnte. Hieraus ergeben sich einige Rückfragen zu den Ereignissen der Revolution in Halle: Wer waren die filhrenden Revolutionäre und in welchem Umfeld agierten sie? Welche programmatischen Vorstellungen entwickelten sie? Wie ist die revolutionäre Dynamik während der Oktoberereignisse in Halle zu erklären? Welchen Stellenwert besaßen die Vorgänge in Halle gegenüber denen in Berlin und Leipzig bzw. wie ist das Wechselverhältnis von Zentrum und Peripherie zu bestimmen, November 1989, Halle 1990, S. 21. Kontrastierend dazu die geschönte Darstellung des Staatssicherheitsdienstes, die die Teilnehmerzahl auf 400 Personen herunterschraubte. Vgl. Tagesbericht zur Entwicklung der politisch-operativen Lage im Bezirk Halle am 9.10.1989, in: Ebd., S. 18 f. Als Erlebnisbericht einer Verhafteten: C1audia Stolz, Da kam in mir der Haß auf dieses ganze System hoch. Am 9. Oktober 1989: Bürger auf dem halleschen Markt willkürlich festgenommen, in: Freiheit (Halle) vom 9. März 1990, S. 9.
Eine protestantische Revolution in Halle
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ohne das - hier stimme ich Walter Süß4 zu - die eigentümliche Dynamik der Revolution in der DDR nicht zu erklären ist. 1. Oppositionelle und Revolutionäre in Halle
Allein die evangelische Kirche hatte bis 1989 das Auffangbecken für eine im Jahrzehnt zuvor entstandene Oppositionsbewegung in der DDR gebildet. Auch in Halle war das nicht anders gewesen: Aus der Offenen Jugendarbeit in Halle-Neustadt hatte sich zu Beginn der achtziger Jahre ein kleiner Kern von anfangs nicht mehr als 30 Aktiven um den Jugenddiakon Lothar Rochau zusammengefunden. 5 Diese lieferten sich eine erste Kraftprobe mit der Staatspartei, als sie 1980 das alljährliche Pfingsttreffen der FDJ auf Bezirksebene störten, indem sie sich als Gruppe in Alltagskleidung unter die Blauhemden mischten. Hierbei nutzten sie geschickt das Überraschungsmoment aus und postierten sich, unbehelligt von Ordnungskräften, direkt neben der Rednertribüne. 6 In den folgenden drei Jahren wurden ähnliche Aktionen allerdings durch Gegenmaßnahmen der Staatssicherheit verhindert, indem die meisten Gruppenmitglieder kurzfristig verhaftet wurden. Vor dem Hintergrund der gesamtdeutsch geführten Nachrüstungsdebatte beteiligte sich die Gruppe um Lothar Rochau im November 1981 und im September 1982 an unabhängigen Friedensdemonstrationen, die als Friedensmärsche zwischen Hallenser Kirchen deklariert wurden und bereits mehr als 600 Teilnehmer zählten.? Schließlich nahm die Oppositionsgruppe den Weltum~ Walter Süß, Vorbemerkung zu H.-P. Löhn (Anm. 2), S. 3, bemerkt, "daß eine auf Ost-Berlin beschränkte Analyse der Entmachtung der Staatssicherheit einen Grundzug der Revolution in der DDR verfehlen würde: ihren regionalen Charakter. Die Initiative zum Umbruch kam aus den Bezirken der DDR. Die Radikalisierung der Bewegung bis hin zum völligen Bruch mit dem alten Regime wurde ebenfalls auf regionaler Ebene schärfer forciert als in der DDR-Hauptstadt. Der Umwälzungs- und Auflösungsprozeß in Berlin kann deshalb nur verstanden werden, wenn er in der Dialektik von Zentrum und Peripherie gesehen wird." Diese Gewichtung verlagert den Schwerpunkt der revolutionären Dynamik auf die DDR-Bezirke und macht keinen Unterschied zwischen den wichtigeren Bezirkshauptstädten Leipzig und Dresden und den übrigen Städten. M. E. sollte man diese methodische Unterscheidung in der Analyse der Revolutionsereignisse jedoch beibehalten. S Zu Rochau vgl. ausfiIhrIich E. Neubert (wie Anm. 1), S. 436-438. Rochau unterhielt in HalleNeustadt einen von der evangelischen Kirche angemieteten Bauwagen, der sich zum TrefljlUnkt der nicht-angepaßten Jugend-Szene entwickelte.
r, Interview des Autors mit Dr. Frank Eigenfeld am 27.1.1999 in Halle (Interview Eigenfeld I), Typoskript nach Tonbandmitschrilt, S. I. Diese Protestform zeigt habituell die enge Verwandtschaft zu ähnlichen gewaltlosen Demonstrationen der bundesdeutschen Friedensbewegung und der alternativen Umweltbewegung zu dieser Zeit auf. 7 Der erste begann in der Laurentiuskirche im nördlichen Innenstadtbereich und filhrte in nördlicher Richtung über die Bartholomäuskirche in Giebichenstein zur Petruskirche in Kröllwitz. Als Organisator trat neben Rochau Pastor Siegrried Neher von der Christusgemeinde in Halle-Ost
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welttag am 5. Juni 1983 zum Anlaß fur eine Fahrraddemonstration zu den nahegelegenen Buna-Werken. Doch von den immerhin 150 Teilnehmern erreichten nur zwei den Zielort, weil ein massives Polizeiaufgebot den gesamten Demonstrationszug an einer unbelebten Kreuzung in Halle-Süd verhaftete. 8 Diese Maßnahme bestimmte die Richtung fur das anschließende harte Vorgehen gegen die Hallesche Oppositionsgruppe, das im Zusammenhang zu sehen ist mit einer ersten großangelegten Verhaftungswelle von DDROppositionellen im Herbst 1983, welche das Ziel verfolgte, die unabhängige Friedensbewegung zu zerschlagen. Lothar Rochau war als Jugenddiakon bereits im September 1982 vom Kirchenkreis Halle gekündigt worden, weil man dort sein exponiertes politisches Verhalten nicht mehr mitzutragen bereit war. Da Rochau in Halle bleiben wollte, die Kirchenleitung ihm eine Weiterbeschäftigung aber nur in weit entfernten Regionen anbot, blieb er stellungslos. Aufgrund seiner oppositionellen Aktionen wurde Rochau verhaftet9 und in einem Geheimprozeß zu einer dreieinhalbjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. 10 Wenig später wurde Katrin Eigenfeld als Mitglied der Hallesche Gruppe "Frauen rur den Frieden"" und Exponentin der unabhängigen Friedensbewegung in Halle verhaftet. Auch ihr drohte ein Prozeß nach obigem Muster. Eigenfeid war in der rur DDR-Oppositionelle typischen Rechtsfalle gefangen, indem der rur sie zuständige Rechtsanwalt Wolfgang Schnur als informeller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes verdeckt gegen sie arbeitete. Doch der Versuch, mit Eigenfeld ein weiteres Kraftzentrum der Opposition in Halle auszuschalten, sollte nicht gelingen. Ihre Verhaftung wurde nämlich ganz im Gegenteil zum Ausgangspunkt einer Neuformierung der Halleschen Oppositiauf. Vgl. E. Neubert (Anm. I), S. 437. 8 Zweite Fahraddemo, in: Das andere Blatt Nr. 4 vom 12. Januar 1990, S. 2. Die Darstellung bei E. Neubert (Anm. I), S. 490, alle Fahrradfahrer seien bis zu den Buna-Werken durchgekommen, entspricht nicht den Tatsachen. 9 Interview Eigenfeld I (Anm. 6), S. 3. Rochau wurde ca. zwei Wochen nach der Fahrraddemonstration, um den 20. Juni 1983, verhaftet. Mitverantwortlich filr den Stellenpoker auf Seiten der evangelischen Kirche war der bis 1986 in Halle amtierende Superintendent Hartrnann. 10 Sein Fall erlangte überregionale Bedeutung, weil er schlaglichtartig die unmittelbaren Konsequenzen kirchlicher Entsolidarisierung gegenüber den Exponenten oppositioneller Basisarbeit unter dem Dach der evangelischen Kirche enthüllte. Vgl. E. Neubert (Anm. I), S. 437 f. Zusammen mit Rochau wurde der Jurist Dietrnar Funke zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Interview Eigenfeld I (Anm. 6), S. 5. Am Prozeßtag, dem I. September 1983, fand in Halle eine solidarisierende Friedensdemonstration von Jugendlichen und Diakonen statt, die von der Polizei aufgelöst wurde. Vgl. E. Neubert (Anm. I), S. 493. 11 Die Bewegung "Frauen fUr den Frieden" war DDR-weit organisiert und hatte im Oktober 1982 eine in der DDR und der Bundesrepublik vielbeachtete Eingabe an Honecker gerichtet und darin die per Gesetz verankerte Registrierung von Frauen fUr den Wehrdienst im Kriegsfall abgelehnt. Vgl. E. Neubert (Anm. I), S. 460.
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onsgruppen. Ihr damaliger Ehemann, Frank Eigenfeld, bislang in der Basisgruppe Rochaus aktiv, setzte sich über den Ratschlag Schnurs hinweg, den Fall nicht zu publizieren, und fuhr nach Berlin, um Bärbel Bohley anzusprechen. 12 Bohley verfügte schon damals über Kontakte zu bundesdeutschen Journalisten und Politikern der Grünen und informierte sofort vier prominente Grüne, die am 31. Oktober 1983 Erich Honecker besuchten: Petra Kelly, Gerd Bastian, Ludger Beckmann und Antje Vollmer. Die vier erreichten die sofortige Freilassung Katrin Eigenfelds in Halle, während Rochau, da er bereits verurteilt worden war, in die Bundesrepublik ausgewiesen wurde und damit als Führungsfigur für die Hallenser Opposition ausschied. Diese Rolle sollte dann bis Ende 1989 Frank Eigenfeld ausfüllen. Dieser nahm noch am Abend des 1. November an einem informellen Treffen von etwa 30 Bürgerrechtlern mit den prominenten Grünen in Bärbel Bohleys Wohnung teil. Die Zusammenkunft ist in mehrfacher Hinsicht von historischer Bedeutung. Zunächst handelte es sich um das erste und einzige Spitzentreffen von Oppositionellen aus der Bundesrepublik und der DDR, die einen gemeinsamen Nenner in der Friedensbewegung gefunden hatten. Darauf aufbauend wollten sie unmittelbar zusammen politisch aktiv werden: Gesprächsthema Nummer Eins war eine am Vortag mit Pastor Rainer Eppelmann in der Berliner Samaritergemeinde spontan ersonnene Protestaktion, die für Freitag, den 4. November, geplant war. Sie sollte darin bestehen, aus einer größeren Gruppe von Friedensdemonstranten offene Briefe an die Botschaften der USA und der Sowjetunion zu übergeben und darin definitive Abrüstungsschritte anzumahnen. Mutmaßlich auf Intervention des Staatssicherheitsdienstes wurde diese Parallelaktion allerdings dadurch verhindert, daß die Grünen rur den Freitag keine Einreisegenehmigung in die DDR mehr erhielten und die aus den Bezirken seit dem 3. November anreisenden 94 Oppositionellen schon im Vorfeld verhaftet wurden. Auch Frank Eigenfeld wurde, aus Halle kommend, an einer Straßensperre auf der Landstraße bei Wittenberg verhaftet und anschließend verhört. 13 Ähnlich erging es mehreren prominenten Berliner Oppositionellen, darunter Bärbel Bohley, Rainer Eppelmann und Ulrike Poppe.
12 Eigenfeld hatte sich dazu vor dem Hintergrund der vom damaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, Richard von Weizsäcker, bei Honecker elWirkten Freilassung von Sebastian Pflugbeil entschieden. Interview Eigenfeld I (Anm. 6), S. 4. Bärbel Bohley war Eigenfeld über deren Hallenser Schwägerin Heidelinde Bohley bekannt, die als Mitinitiatorin der "Frauen filr den Frieden" zum engen Freundeskreis gehörte. JJ Interview Eigenfeld I (Anm. 6), S. 5; vgl. E. Neubert (Anm. I), S. 455. Das Verhörprotokoll enthält eine ausfilhrliche Darlegung seiner politischen Ziele, in diesem Fall eine genaue Beschreibung der geplanten Protestaktion. Vgl. MfS-Befragungsprotokoll vom 3.11.1983. BStU Halle, Abt. XX (XX), ZMA 9124, BI. 4-13.
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Die Bedeutung des Berliner Oppositionstreffens am 31. Oktober geht jedoch über die punktuelle Herausforderung des Staatsapparates in der Friedensthematik hinaus. Bärbel Bohley hatte damit ihre Stellung als wichtigste Oppositionspolitikerin in Berlin gefestigt, da sie eindeutig über die besten Kontakte innerhalb und außerhalb der DDR verfiigte. Ihre Wohnung gegenüber der Zionskirche avancierte jetzt zu einem Zentrum der DDR-Opposition insgesamt, indem sie sich zum Treffpunkt von Bürgerrechtlern aus Berlin und der Provinz entwickelte. Aus Halle reisten in regelmäßigen Abständen Katrin und Frank Eigenfeld an. Beide verlagerten den Schwerpunkt ihres oppositionellen Engagements damit auf die "Hauptstadt der DDR".'4 Aus den regelmäßigen Treffen der Berliner Oppositionsgruppe um Bärbel Bohley ging im Januar 1986 die Initiative flir Frieden und Menschenrechte (lFM) hervor. Anläßlich des XI. Parteitages der SED im April 1986 verfaßte diese Gruppe eine detaillierte Eingabe an das Zentralkomitee. Sie war besonders brisant, weil sie eine genau durchdachte Generalabrechnung mit der SED auf allen wichtigen innen- und außenpolitischen Feldern enthielt und damit als programmatischer Gegenentwurf zur Einparteienherrschaft gelesen werden konnte. Außerdem erzielte sie eine gewisse Publizität in den bundesdeutschen Medien. Die IFM vertrat darin faktisch den Anspruch, die Opposition in der gesamten DDR zu repräsentieren. 15 Gleichzeitig hatten sich Katrin und Frank Eigenfeld als wichtigste Sprecher der Opposition in Halle profiliert. Zusammen mit Werner Fischer und Bärbel Bohley sowie mit Heidi Bohley aus Halle unterhielten sie eine kontinuierlich in Berlin tagende Gesprächsgruppe innerhalb der IFM, die konkrete Einzelfalle von Menschenrechtsverletzungen aufgriff, um diesen eine größere Öffentlichkeit sowie juristischen und persönlichen Beistand zu verschaffen. 16
"Es "wird deutlich, daß die Aktivitäten, an denen Eigenfeld beteiligt ist, ihren Ausgangspunkt in Berlin haben und von dort die entscheidenden Impulse zur Organisierung einer Arbeitsgruppe 'Menschenrechte' in der DDR ausgehen. Die festgestellten Aktivitäten des Eigenfeld auf lokaler Ebene sind von untergeordneter Bedeutung. Dabei erweist sich die Erarbeitung operativ relevanter Informationen zu Eigenfeld als schwierig, da er sich in Halle in keiner der bekannten Gruppen fest etabl iert bzw. engagiert." Sachstandsbericht zum operativen Vorgang "Passion" vom 12.9.1986. BStU Halle, XX, 1823, BI. 12-21, hier BI. 19. I' Neben den prominenten Berliner Oppositionellen um Bärbel Bohley, Wemer Fischer, Gerd und Ulrike Poppe unterzeichneten die Eingabe Michael Bohley sowie Katrin und Frank Eigenfeld aus Halle sowie Walter Schilling, der prominente lenenser Oppositionelle. Vgl. E. Neubert (Anm. I), S. 600. Als Dokument im Archiv von Frank Eigenfeld (AE). Die Parteitagseingabe wurde nicht beantwortet, weshalb sich die IFM im Mai 1986 mit einer formellen Beschwerde erneut an das ZK wandte. Vgl. Sachstandsbericht vom 12.9.1986 (Anm. 14), BI. 19. Der Text der Parteitagseingabe wurde auf informellen Wegen innerhalb der Oppositionsgruppen verbreitet.
16 Interview Eigenfeld I (Anm. 6), S. 12. Eine sechste Teilnehmerin der Arbeitsgruppe, Monika Häger, agierte verdeckt als informelle Mitarbeiterin "Gabriele" rur den Staatssicherheitsdienst, ebd. Publizität konnte auch durch die Zeitschrift der IFM 'grenzfall' erreicht werden.
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Aber in die Bezirkshauptstadt strahlte diese Eingabentätigkeit nicht aus, auch wenn sie im kleinen Kreis auf lokaler Ebene fortgesetzt wurde. Denn in Halle gab es dafUr keine Öffentlichkeit und auch keinen bundesdeutschen Journalisten, der sich dafUr hätte interessieren können. Überhaupt lebten Katrin und Frank Eigenfeld als oppositionelle Randexistenzen in Halle. Katrin Eigenfeid war nach ihrer Freilassung wieder als Bibliothekarin an der Martin-LutherUniversität eingestellt worden, wurde jedoch degradiert und mußte in der Folge zahlreiche Repressionen an ihrem Arbeitsplatz hinnehmen. 17 Schon 1982 war der promovierte Geologe Frank Eigenfeld nach seiner Weigerung, Studierende in der paramilitärischen Zivilverteidigung anzuleiten, aus seiner AssistentensteIle an der Universität entlassen worden und anschließend als Hausmeister in der evangelischen Gesundbrunnengemeinde untergekommen. 18 Dies eröffnete ihm jedoch die Möglichkeit, sein oppositionelles Engagement jetzt gleichsam hauptberuflich auszudehnen 19, zumal er selbst über die entsprechenden Räumlichkeiten fUr Veranstaltungen verfUgte. Außerdem, und das zählte mehr, genoß erden faktischen Schutz der Kirche vor direkten Übergriffen des Staatssicherheitsdienstes gegen seine Person. 20 In Halle beteiligte sich Frank Eigenfeld an politischen Treffen mit Gleichgesinnten im privaten Rahmen, die in periodischen Abständen in Wohnungen stattfanden und als "Hauskreise" firmierten, worunter man sich eine Art von politischem Salon vorzustellen hat. Hierzu zählten vor allem die Treffen des IFM-Arbeitskreises mit Heidi Bohley und Katrin Eigenfeld. Hinzu kamen gelegentliche Veranstaltungen in der Christusgemeinde in Halle-Ost, die im weiteren Rahmen politische Themen aufgriffen, darunter auch die Ausreisethematik.
17 Sie war vom Posten der Zweigstellenleiterin der Bibliothek des Instituts rur Pathologie als Mitarbeiterin an die Zweigbibliothek des Instituts rur Botanik versetzt worden und stand unter ständiger Aufsicht der dortigen Leiterin, der Ehefrau des Kaderchefs der Universitäts- und Landesbibliothek, die eine laufende Berichtstätigkeit Uber Eigenfelds Arbeit verlangte, sowie des Bibliotheksdirektors, der Eigenfelds Anwesenheit am Arbeitsplatz bis Dienstschluß regelmäßig per Telefonanruf kontrollierte. Hinzu kamen fallweise Urlaubssperren, die insbesondere die gemeinsamen Fahrten mit Frank Eigenfeld nach Berlin torpedierten. Interview Eigenfeld I (Anm. 6), S.8. 18 Pastor Gabriel von der Gesundbrunnengemeinde war Eigenfelds ehemaliger Schwiegervater, der Vater Katrin Eigenfelds. Interview des Autors mit Dr. Frank Eigenfeld am 4.2.1999 (Interview Eigenfeld 11), Gedächtnisprotokoll.
19 Als Hausmeister verdiente Eigenfeld lediglich 300 Mark und bewohnte eine kleine Zweizimmerwohnung in den Gemeinderäumen an der Diesterwegstraße (Halle-SUd). Um sein bescheidenes Gehalt aufZubessern, kellnerte er aushilfsweise. Ebd. 2U Seit 1986 amtierte Superintendent Buchenau in Halle, der gegenüber der unter dem Dach der Kirche agierenden Opposition weit aufgeschlossener war als sein Vorgänger Hartrnann. Interview Eigenfeld I (Anm. 6), S. 16.
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In der Bezirkshauptstadt gab es noch in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre nur eine Handvoll Oppositioneller, die außerhalb der Hauskreise vor allem in zwei Basisgruppen organisiert waren: Die bereits erwähnte Gruppe "Frauen rur den Frieden" und der "Aktionskreis Halle", auch Ärztekreis genannt, der sich ebenfalls der Friedensthematik widmete. 21 Daneben entstanden Umweltgruppen in verschiedenen Gemeinden sowie 1988 der "Vorbereitungskreis Nachtgebete" unter Eigenfelds Ägide. Nach internen Angaben des Staatssicherheitsdienstes gab es noch im Frühjahr 1989 lediglich 20 Bürgerrechtsgruppen im gesamten Bezirk Halle, die insgesamt 350 ständige Mitglieder zählten, von denen aber nur 100 aktiv waren. 22 Die wenigen Oppositionellen kommunizierten in Halle hauptsächlich mit der kleinen Gruppe Ausreisewilliger, die ihren Weggang durch eine oppositionelle Betätigung beschleunigen wollten. Im Frühjahr 1989 hatten 6273 Personen im Bezirk Halle einen Ausreiseantrag gestellt, aber von diesen besuchten nur schätzungsweise 5% politische Veranstaltungen im Umfeld der Kirche. 23 Zur selben Zeit gab es im Bezirk Halle 3130 hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter, davon allein 2000 in der Zentrale am Gimritzer Damm in Halle. Hinzu kamen 6500 inoffizielle Mitarbeiter, das waren mehr als Ausreisewillige. Schon dieses krasse quantitative Mißverhältnis belegt, wie gering die Ausstrahlungskraft der politischen Opposition in Halle geblieben war. 2. Die Nachtgebete
Das Engagement in der politischen Provinz veränderte sich erst, als im Januar 1988 einige der ruhrenden Berliner Oppositionellen, unter ihnen Bärbel Bohley, verhaftet und in eine befristete Verbannung in den Westen gezwungen wurden. Vorausgegangen war eine Polizeiaktion gegen die Druckerei der Umweltbibliothek an der Zionskirche in der Nacht vom 24. auf den 25. November 1987, bei welcher der illegale Andruck der IFM-Zeitschrift 'grenzfall' beschlagnahmt werden sollte. 24 Obwohl es wegen sofortiger Solidaritätserklärungen aus dem In- und Ausland noch nicht zu den beabsichtigten Strafverfahren gegen einzelne Angehörige der Umweltbibliothek gekommen war und diese negative Publizität der DDR insgesamt schadete, wiederholte die Staatsrnacht ihr hartes Vorgehen, als sie im Vorfeld der Liebknecht-LuxemburgDemonstration am 15. Januar 1988 160 Oppositionelle festnehmen ließ, darunter auch einige Prominente. Zehn Tage später erreichte eine zweite VerhafVgl. E. NeubeIt (Anm. I), S. 468 f. W. Süß (Anm. 4), S. 4. Angaben des Staatssicherheitsdienstes über das oppositionelle Potential sind erfahrungsgemäß niedrig gerechnet. 23 Die absoluten Zahlen in H.-P. lOhn (Anm. 2), S. 7 f. 24 Vgl. E. Neubert (Anm. I), S. 694-696. 21
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tungswelle auch die Berliner Köpfe der Initiative für Frieden und Menschenrechte. Unter der Androhung von Höchststrafen in Stasi-Einzelhaft wurden Bärbel Bohley und Werner Fischer zeitweilig ausgebürgert und fur sechs Monate nach Großbritannien abgeschoben. Die Hallenser IFM-Mitstreiter blieben von diesem Schlag verschont, weil der Staatsapparat davon ausging, mit dem Berliner Zentrum gleichzeitig die gesamte überregionale Infrastruktur der Opposition in der DDR zerschlagen zu haben. Dieser Effekt trat zunächst auch ein. 25 Als Ausweg blieb nur, die Oppositionsstrukturen auf lokaler Ebene zu reorganisieren: "Und das war aber der Punkt, wo wir sagten, jetzt müssen wir uns aber doch hier wieder engagieren. Und da haben wir in Halle angefangen, die Nachtgebete zu organisieren."26 Ausgangspunkt war der Umstand, daß die Rückkehr von Bärbel Bohley und Werner Fischer für Anfang August 1988 mündlich zugesichert, aber nicht schriftlich bestätigt worden war, was allerdings auch kaum zu erwarten gewesen wäre, da sich die Staatsmacht mit ihrem Vorgehen ohnehin im rechtsfreien Raum bewegte. Das erste Nachtgebet war von Frank Eigenfeld und Heidi Bohley als Solidaritätsbekundung spontan noch am Abend der Verhaftung, dem 22. Januar 1988, in der Christuskirche organisiert worden. 27 Während des zweiten Nachtgebetes am 5./6. Februar 1988 in der Evangelischen Studentengemeinde stellten Eigenfeld und Heidi Bohley die Vorgänge in Berlin ausführlich dar, um einer Entsolidarisierung mit den Verbannten entgegenzuwirken. Hierzu wurde ein Konsens unter den Teilnehmern angestrebt, in den ausdrücklich auch die Ausreisewilligen einbezogen wurden. Das war insofern ungewöhnlich, als diese oft aus den politischen Oppositionsgruppen ausgegrenzt wurden 28 , und ein solches Vorgehen hätte hier um so mehr nahegelegen, als Bohley und Fischer gerade vor dem Verdacht geschützt werden sollten, daß sie ebenfalls ins Ausreiselager übergewechselt seien. Aus der Zielsetzung einer Konsenssolidarisierung von Dableibern und Ausreisewilligen mit den promi25
Interview Eigenfeld I (Anm. 6), S. 14.
Ebd. Diese Umorientierung wurde vom Staatssicherheitsdienst widerstrebend zur Kenntnis genommen: "Insbesondere im Ergebnis der Provokationen in Berlin [... ] war feststellbar, daß Eigenfeld seine feindlich negativen Aktivitäten in zunehmendem Maße auf das Stadtgebiet von Halle verlegt hat." MfS-Major Zimmermann, Sachstandsbericht zum Stand der operativen Bearbeitung des Operativvorgangs "Passion" von 12.8.1988. BStU Halle, XX, BI. 32-36, hier BI. 34. 26
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Interview Eigenfeld I (Anm. 6), S. 15.
"Bei diesem Gespräch brachte ich deutlich meine ablehnende Meinung zu den Antragstellern zum Ausdruck. Eigenfeld bestärkte mich darin und sagte, daß man sie nur filr die Nachtgebete gebrauchen kann, da sonst ja die Meinung zwischen Leuten, die weggehen und solchen, die hier Veränderungen herbeifilhren wollen, weit auseinandergehen." Bericht IM "Horst Winter" vom 2.5.1988. BStU Halle, XX, Sachakte 146, BI. 74-76, hier BI. 75. Das Doppelspiel dieses StasiInformanten war Eigenfeld bereits frühzeitig aufgefallen, so daß er ihm gegenüber stets einen kalkulierten Sprachgebrauch an den Tag legte. Interview Eigenfeld II (Anm. 18). 28
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nenten Einzelschicksalen und der eigentümlichen Fortsetzungsfolge der Nachtgebete 29 , die sich aus der zeitlichen Vorgabe für die Rückkehr der Verbannten ergab, entstand die politische Programmatik der Nachtgebete: "Man will diese Geschehnisse transparent machen, durchsichtiger, um sie genauer analysieren zu können, um in dieser Form dann das nächste Nachtgebet einzubringen. [... ] Und letzten Endes soll es zu einer offenen Diskussion kommen und über ein einheitliches Handling in der Abwicklung verschiedener Sachen der Ereignisse von Berlin, man will eine gewisse Einigkeit in den Gruppen erzielen, d.h. nicht ein Gegeneinander, sondern ein Miteinander, eine Zusammenarbeit, ein echt solidarisches Verhalten erzeugt werden. Eigenfeld ist der Meinung, wie er wortwörtlich sagte, daß es für ihn noch eine offene Rechnung ist, die für ihn nicht abgeschlossen ist, daß wir das so wie es in Berlin geschehen ist, nicht akzeptieren können. In diesem Zusammenhang kam zum Ausdruck, daß Halle selbst die Stadt, jetzt die einzige Resonanz auf Berlin noch erzeugt werden. [sic] Des weiteren sagte man, daß wenn wir dieses Stillschweigen hinnehmen würden, der Staat bzw. die Staatssicherheit dies ausnutzen würde und gerade in so einer Ruhephase dann Verhaftungen und ähnliches wieder zustande kommen würden, praktisch keine Ruhe eintreten soll, daß man dies nicht als gegeben ansehen sollte."30 Zusammengefaßt handelte es sich also um eine ständige politische Kommunikation als Bindemittel für die zielgerichtete Binnenhomogenisierung von Oppositionellen, um eine dynamische Gegenbewegung gegenüber der repressiven Staatsrnacht aufrechtzuerhalten, wobei der Stellenwert der Stadt Halle qua Selbstdefinition in einer Ersatzfunktion für das ausgefallene Oppositionszentrum Berlin lag. 31 Dementsprechend bestand die wichtigste nach außen gerichtete Aktion der Nachtgebete bis August 1988 in einem Brief an Honekker, in welchem dieser aufgefordert wurde, seinen "Einfluß geltend zu machen, um die zugesagte Einreise am 6. August 1988 oder früher ohne Komplikationen zu ermöglichen." Selbstbewußt hieß es bereits im Einleitungsabsatz: "Wir sind aber auch überzeugt, daß nur der Beginn eines offenen Dialoges zwischen allen Gruppen in unserer Gesellschaft die bestehenden Konflikte und Spannun29 Sie gehörte von Anfang an zur Konzeption hinzu: "Im Verlaufe der Diskussion wurde durch X der Vorschlag unterbreitet, die Form des 'politischen Nachtgebetes' weiterzufilhren, auch Uber eine Situation hinaus, in der keine Personen mehr inhaftiert sind." MfS-Oberst Gröger, Bericht zum sogenannten 2. politischen Nachtgebet am 5.16.2.1988 in der Evangelischen Studentengemeinde Halle. BStU Halle, XX, Sachakte 146, BI. 29-32, hier BI. 31. 30 IM "Günther Schreiber", Bericht über das Vorbereitungstreffen zum 6. Nachtgebet [6.5.1988], ebd., BI. 98 f. 31 Diese antizipierte Zentrums funktion von Halle geht auch aus einem weiteren Observationsbericht Uber Eigenfeld hervor: "Weiterhin sollen die Nachtgebete zukUnftig nicht nur in Berlin und Halle, sondern im gesamten Gebiet der DDR stattfinden." Bericht "Horst Winter" (Anm. 28), BI. 75.
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