Urbane Klänge: Popmusik und Imagination der Stadt [1. Aufl.] 9783839413852

Wie klingt die Stadt? In »Urbane Klänge« untersucht Malte Friedrich, was die Stadt mit der Popmusik macht und umgekehrt

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German Pages 340 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung: Auf der Suche nach dem Klang der Stadt
1. Migration, Fremdheit, Nachtclubs. Die Stadt als Zentrum der populären Musik
Art-Worlds
Die Fremdheit der Stadt und die Bedeutung von Clubs
Der Einfluss der Stadt auf die Produktion populärer Musik am Beispiel von Jazz, Blues und Rock ’n’ Roll
Fazit: Musikproduktion zwischen Innenstadt und Vorstadt
2. Shopping-Centren, Industrieruinen, iPods. Konsumkultur und Stadtentwicklung
Von der Produktion zum Konsum
Konsum und Stilisierung
Musikkonsum in der Stadt
Fazit: Stadtraum als Konsumraum
3. Tagträume, Helden, Kaufzwang. Imagination und Repräsentation in der Konsumkultur
Konsum und Imagination
Phantasmagorie und Stadtfigur
Repräsentation und Stadt
Fazit: Konsum, fragmentierter Stadtraum und Imagination
4. Konsumgespenster, Großstadtkämpfer, Utopisten. Postindustrielle urbane Musikkulturen
Punk: Negative Stadtverherrlichung
HipHop: Territorien der Stadt
Techno: Deindustrialisierung und Industrieklänge
Verortung durch Pop
Fazit: Inszenierungsräume durch populäre Musik
5. Subkultur, Stämme, Szene. Vergemeinschaftung durch populäre Musik
Repräsentation und Poptexte
Strukturelle Homologie zwischen sozialen Gruppen und Musik
Popkulturszenen
Fazit: Vergemeinschaftung
6. Dienstmädchen, Beethoven, Free-Jazz. Repräsentationstheorien bei Adorno und Attali
Repräsentation bei Adorno
Adornos unversöhnliche Ablehnung der populären Musik
Repetition und Komposition bei Attali
Fazit: Ästhetische Werturteile
7. Lärm, Klanglandschaft, Montage. Populäre Musik und städtische Umgebung
Die Beeinflussung von ästhetischen Prinzipien durch die städtische Umgebung
Der Lärm der Stadt
Geräuschmusik
Auditive Montage
Fazit: Postindustrieller Stadtklang und Popmusik
8. Pop, Traum, Stadt. Imagination durch populäre Musik
Musik als Medium
Idealisierte Stadtatmosphären durch Musik
Populäre Musik als Medium urbaner Imagination
Urbane Imagination und Gesellschaft
Fazit: Träume der idealen Stadt
9. Zusammenfassung: Die Bedeutung von Musik und Stadt
Literatur
Recommend Papers

Urbane Klänge: Popmusik und Imagination der Stadt [1. Aufl.]
 9783839413852

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Malte Friedrich Urbane Klänge

Materialitäten | Hg. von Gabriele Klein, Martina Löw und Michael Meuser | Band 14

2010-03-08 15-03-24 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ff235845490658|(S.

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Für Maggy und Dave Friedrich

Malte Friedrich (Dr. phil.) arbeitet als Meinungsforscher und Journalist in Berlin.

2010-03-08 15-03-24 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ff235845490658|(S.

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Malte Friedrich

Urbane Klänge Popmusik und Imagination der Stadt

2010-03-08 15-03-24 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02ff235845490658|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: »Silent Rave Mosh Pit«, 2008, © Waisum Tam Lektorat: Christian Weller Satz: Viola Binacchi Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1385-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt Einleitung: Auf der Suche nach dem Klang der Stadt 1. Migration, Fremdheit, Nachtclubs. Die Stadt als Zentrum der populären Musik

Art-Worlds Die Fremdheit der Stadt und die Bedeutung von Clubs Der Einfluss der Stadt auf die Produktion populärer Musik am Beispiel von Jazz, Blues und Rock ’n’ Roll Fazit: Musikproduktion zwischen Innenstadt und Vorstadt 2. Shopping-Centren, Industrieruinen, iPods. Konsumkultur und Stadtentwicklung

Von der Produktion zum Konsum Konsum und Stilisierung Musikkonsum in der Stadt Fazit: Stadtraum als Konsumraum 3. Tagträume, Helden, Kaufzwang. Imagination und Repräsentation in der Konsumkultur

Konsum und Imagination Phantasmagorie und Stadtfigur Repräsentation und Stadt Fazit: Konsum, fragmentierter Stadtraum und Imagination 4. Konsumgespenster, Großstadtkämpfer, Utopisten. Postindustrielle urbane Musikkulturen

Punk: Negative Stadtverherrlichung HipHop: Territorien der Stadt Techno: Deindustrialisierung und Industrieklänge Verortung durch Pop Fazit: Inszenierungsräume durch populäre Musik

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5. Subkultur, Stämme, Szene. Vergemeinschaftung durch populäre Musik

Repräsentation und Poptexte Strukturelle Homologie zwischen sozialen Gruppen und Musik Popkulturszenen Fazit: Vergemeinschaftung 6. Dienstmädchen, Beethoven, Free-Jazz. Repräsentationstheorien bei Adorno und Attali

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Repräsentation bei Adorno Adornos unversöhnliche Ablehnung der populären Musik Repetition und Komposition bei Attali Fazit: Ästhetische Werturteile

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Lärm, Klanglandschaft, Montage. Populäre Musik und städtische Umgebung

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Die Beeinflussung von ästhetischen Prinzipien durch die städtische Umgebung Der Lärm der Stadt Geräuschmusik Auditive Montage Fazit: Postindustrieller Stadtklang und Popmusik

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8. Pop, Traum, Stadt. Imagination durch populäre Musik

Musik als Medium Idealisierte Stadtatmosphären durch Musik Populäre Musik als Medium urbaner Imagination Urbane Imagination und Gesellschaft Fazit: Träume der idealen Stadt 9. Zusammenfassung: Die Bedeutung von Musik und Stadt Literatur

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Einleitung: Auf der Suche nach dem Klang der Stadt The city is built to music Therefore never built at all And therefore built for ever Tennyson, Idylls of the King1

An den Anfang seiner fulminanten Geschichte der populären Musik hat der Musikjournalist und Gründer der Avantgarde-Popband Art of Noise Paul Morley den Song »Can’t get you out of my head« von Kylie Minogue gesetzt. Seine Beschreibung verweist direkt auf das Thema dieser Arbeit, den Zusammenhang von populärer Musik und Stadt: »A grid of light and dark, buildings and shadows, city and ghost city, stretches to the horizon in every direction. Everything is connected to and from the highway like a vast circuit-board. […] The tyres of her car speed to a rhythm. But she can’t hear the noise they make, because her car stereo’s on, a booming stereo filling her own private space inside this machine, providing a soundtrack to her own private movie, the movie of her song, the song she’s here to sing […]. It is just her, the car, the open road, the city in distance, her dreams that fill the city.«2 In diesem kurzen Zitat werden bereits einige zentrale Themen angesprochen – die Stadt als Traum, das Übertönen von Stadtgeräuschen, die Stadt als Gebilde ohne Ende. Und Morley wählt nicht ohne Hintergedanken die Stadt als Ausgangspunkt seiner Reise durch die Popgeschichte. Neben der Tatsache, dass die Geschichte der populären Musik eng mit der Stadt verknüpft ist, bietet das Urbane ihm genügend Metaphern und

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Tennyson 1859. Morley 2004: 11-12.

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Orientierungspunkte, seine assoziative, fragmentierte und rekursive Erzählweise zu strukturieren. Bemerkenswert ist, dass Morleys Argumentation sich offensichtlich nicht an der Musik orientiert, sondern am dazugehörigen Musikvideo, in dem Kylie Minogue in den Anfangssequenzen zu sehen ist, wie sie, in einem Auto sitzend, in eine virtuelle, computeranimierte Stadt fährt. Obwohl Morley, im Unterschied zu anderen Chronisten der populären Musik, sehr viel über den Klang der Musik schreibt, wählt er für den Zusammenhang von Musik und Stadt die bewegten Bilder und nicht das Musikstück selbst und dessen Klangeigenschaften.3

Die Abwesenheit von Klang in Soziologie, Stadtforschung und Musikwissenschaft

Klänge sind nur selten Diskursthema in den Sozialwissenschaften. Allgemein wird angenommen, dass in der ›westlich‹ geprägten Moderne der Sehsinn dominiert. Die Durchsetzung eines einheitlichen, kartesianisch bestimmten Betrachtungs-Regimes4 und der Beobachtung als zentraler wissenschaftlicher Methode5, die Bedeutungszunahme visueller Medien6 und nicht zuletzt die auf das Sehen hin orientierte Interaktionen in der Großstadt7 werden als Faktoren benannt, die dem Sehen eine Vorzugsstellung gegenüber allen anderen Sinneswahrnehmungen geben sollen. Der Historiker Peter Bailey fasst zusammen: »As befits a hypervisual modern world we have all been seeing and looking with ever greater intensity and sophistication, while the other senses have been ignored.«8 Die Dominanz des Visuellen bestätigt und tradiert ein wissenschaftlicher Diskurs, der den Klängen und ihrer Wahrnehmung zumeist keine Beachtung schenkt. Selbst das an die Artikulation von Tönen gebundene Sprechen wird in den Sozialwissenschaften selten unter seinen klanglichen Aspekten analysiert – es ist fast ausschließlich als semiotische oder kommunikative Struktur präsent.9 3 4 5 6 7 8 9

Gute Übersichten der Geschichte der populären Musik bieten: Clarke 1995, Gillet 1996, Wicke 2001, Starr/Waterman 2003. Vgl. Jay 1992, Jenks 1995. Vgl. Levin 1993, Crary 1996; zur Bedeutung als Kontrollmechanismus vgl. Foucault 1994. Vgl. Mirzoeff 1998, 1999. Einen Zusammenhang des Stadtlebens mit der Dominanz des Sehsinns erkannte Georg Simmel (1995: 727) schon Anfang des 20. Jahrhunderts. Bailey 1998: 194. Die Soziologie interessiert sich weniger für die Sprachäußerungen, als für die Struktur der Sprache, die sich auf soziale Begebenheiten übertragen lässt, wie dies zum Beispiel der Ethnologe Claude Lévi-Strauss in seinem grundlegenden Werk »Die

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Aber der Zugang des Menschen zur Welt ist nicht nur visuell. Der Engziehung der Wahrnehmung auf das Sehen in der wissenschaftlichen Reflexion steht eine Welt gegenüber, die voller Klänge, Gerüche und taktiler Eindrücke ist. Selbst wenn es zutrifft, dass der Sehsinn in der ›westlichen‹ Moderne dominiert, sollte nicht vorschnell geschlussfolgert werden, Klänge oder Gerüche des Sozialen seien irrelevant. Einer der wenigen, die den Klängen Relevanz zuschreiben, ist der Wirtschaftswissenschaftler und Kulturforscher Jacques Attali, der ihre Bedeutung sogar über das Sehbare stellt: » Our science has always desired to monitor, measure, abstract, and castrate meaning, forgetting that life is full of noise and that death alone is silent: work noise, noise of man, and noise of beast. Noise bought, sold, or prohibited. Nothing essential happens in the absence of noise.«10 Wenn nichts Entscheidendes ohne Geräusche geschieht, dann müssen sie bei der Erklärung sozialer Sachverhalte zumindest mitberücksichtigt werden. Die Fixierung auf die visuelle Beobachtung, die selbst noch in den Musikwissenschaften dazu führt, die Notenschrift höher zu bewerten als das eigentliche Klangerlebnis, bestätigt und tradiert die herrschende Zugangsweise zur Welt. In Folge gilt das olfaktorische, taktile oder auditive Erleben nur als sekundäres Phänomen nach dem Visuellen und wird als irrelevant nicht weiter untersucht. Für ein umfassendes Verständnis sozialer Phänomene gilt es, das ganze Spektrum dieser sinnlichen Welten zu erfassen. Auch in der Stadtforschung interessiert man sich, entsprechend der allgemeinen Tendenz in den Sozialwissenschaften, fast nur für das Sehen und Betrachten.11 Der wissenschaftlich gewählte Zugang zur Stadt bleibt zumeist auf den Sehsinn beschränkt und die Wahrnehmung des städtischen Raums wird gleichgesetzt mit visuellen Sinneseindrücken. Der zentrale Ansatz zur Erforschung der Wahrnehmung des städtischen Raums, das kognitive Kartieren, fokussiert ausschließlich auf das Sehen und die mentale Repräsentation visueller Wahrnehmungen.12 Nicht nur

elementaren Strukturen der Verwandschaft« (1993) von 1949 getan hat. Wenn es um Sprechakte selber geht, dann stehen die performativen Aspekte oder die Legitimation des Sprecher im Vordergrund (vgl. Bourdieu 1990, Wulf/Göhlich/Zirfas 2001). 10 Attali 1996: 3. 11 Beachtung von olfaktorisch oder taktilen sinnlichen Eindrücken des Städtischen fehlen fast vollständig. John Urry (2000) hat zumindest erste Schritte zur Analyse des Riechens in der Stadt unternommen. 12 Vgl. Downs/Stea 1982, Lynch 1989.

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die Stadtforschung selbst, sondern auch der urbane Akteur, den sie beschreibt, erscheinen letztlich taub. Von dieser Regel gibt es vereinzelte Ausnahmen. Die von Murray R. Schafer initiierte, zunächst stark durch die Ökologiebewegung der 1970er Jahre beeinflusste Soundscape-Forschung ist mittlerweile als eigenständige Forschungsrichtung etabliert.13 Sie konzentrierte sich zunächst auf eine Beschreibung der Veränderungen von Klangwelten im Zuge der Industrialisierung, gekennzeichnet durch die Zunahme von Maschinengeräuschen und Klängen aus Abspielgeräten wie Radio oder Schallplattenspieler. Mittlerweile untersucht sie allgemein die Produktion und Wahrnehmung von Klängen in sozialen Zusammenhängen in all ihren möglichen Ausprägungen. Die Palette reicht – neben methodischen Überlegungen zur sozialen Klangforschung – von der Untersuchung der Beschreibung von Klängen in der Literatur über die Darstellung spezieller Klangformationen im öffentlichen Raum bis hin zur Frage, ob Waren spezielle Klangeigenschaften besitzen.14 Bisher haben sich allerdings nur wenige Überschneidungen zwischen dieser Klangforschung und den etablierten sozial-ökologischen oder polit-ökonomischen Ansätzen ergeben. Neben der latenten Klangfeindlichkeit der visuell orientierten Soziologie ist für diese geringe Beeinflussung die Aussparung eben jenes Klangbereichs in der Soundscape-Forschung verantwortlich, der die meisten Berührungspunkte bieten würde: der Musik. Obwohl sie in den Städten zu den dominanten und omnipräsenten Phänomenen zählt, beschäftigt man sich in der Soundscape-Forschung zumeist mit der ›allgemeinen‹ Klangproduktion durch menschliches Handeln ohne explizite Berücksichtigung von Musik.15 Eine gegenseitige Befruchtung wäre auch deshalb nötig, weil selbst in der Musiksoziologie der Klang sowie die Ästhetik von Musik im Allgemeinen und populärer Musik im Speziellen nur selten thematisiert werden. Mit der wichtigen und einflussreichen Ausnahme von Theodor W. Adorno konzentriert man sich ansonsten auf das Musikereignis, die Produktions- und Rezeptionsbedingungen und die Funktion von Musik. Die Analyse der Musik selbst überlässt man weitgehend den Musikwissenschaftlern. Die Kulturwissenschaftlerin Beverly Best schreibt:

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Ablesbar zum Beispiel an der Gründung eines Studiengangs »Sound Studies – Akustische Kommunikation« im Jahre 2006 an der Universität der Künste Berlin. 14 Eine Übersicht des Forschungsstands bieten Bull/Back 2004 und Schulze 2008. 15 Wenn Musik Erwähnung findet, dann nur als Störfaktor und Verunreinigung der Klangumwelt, zum Beispiel bei Truax 1984 oder dem Standardwerk von Schafer 1994.

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»In the case of popular music [...] the politics of production and reception of music have been endlessly theorized with many good results, while investigations of musical texts – uses of sounds and instruments, rhythm, phrasing, time signature, sampling, structure, lyrical content – have often been left to the aesthetic formalism of musicology or the equally ahistorical formalism of some anthropological and semiotic approaches.«16 Für dieses Vorgehen gibt es vor allem zwei Gründe. Erstens ist Musik ein sehr komplexes Artefakt mit hoher, kontextabhängiger Bedeutungsvariabilität, was ihre Analyse zu einem aufwendigen und aus soziologischer Perspektive frustrierenden Projekt macht, das nur selten Ergebnisse liefert, die für eine soziologische Theoriebildung anschlussfähig sind. Zweitens hat sich seit Max Weber in den Sozialwissenschaften in Bezug auf ästhetische Artefakte eine Verpflichtung zur Wertneutralität durchgesetzt. In der Musiksoziologie hat im Besonderen die Problematik der Theorie von Adorno, in der ästhetische Werturteile über Musikwerke auf das Engste mit ihrer (vermeintlichen) sozialen Wirkung verknüpft erscheinen, dazu geführt, auf Werturteile über Musik weitestgehend zu verzichten und sich bei der Ästhetik eher der Frage zuzuwenden, wie Werturteile in der sozialen Welt entstehen. Dies führt aber zu einem Desiderat der Musiksoziologie, in der Musik als eine zentrale Leerstelle, als Black Box gilt, um die herum man sich bemüht, die Produktion und den Konsum von Musik zu erklären. Wenn die Musik als Bedeutungsträger selbst in der Musiksoziologie nur wenig Beachtung findet, ist es nicht verwunderlich, dass sie in der allgemeinen Soziologie und ihren Teilgebieten kaum Erwähnung findet oder gar analysiert wird. Die Stadtforschung bildet dabei keine Ausnahme. Generell ist in der Stadtforschung das Thema Musik nur selten untersucht worden und wenn, dann vor allem unter einer historischen Perspektive.17 Allzu oft wird die Stadt als ein neutraler, aus der Vogelperspektive zu betrachtender und zu beherrschender Gegenstand verstanden, der sich dem Blick des Forschers ohne Weiteres offenbart. Es existiert aber weder eine neutrale, privilegierte Betrachtungsebene auf Stadträume, noch kann darauf verzichtet werden, die Konstruktionen und Repräsentationen von Stadt als konstitutive Elemente sozialer Praktiken in Betracht zu ziehen. Repräsentationen haben Einfluss auf die individuellen und kollektiven Vorstellungen über die Stadt und werden zu Orientierungspunkten 16 Best 1998: 18. 17 Ansätze zu einer Musikgeschichte der Stadt finden sich bei Strohm 1999, Kisby 2001, Carter 2002.

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sozialer Praxis, die wiederum auf die städtischen Repräsentationen zurückwirkt.18 Wie es zum Beispiel in New York ist, wie man sich wo in dieser Stadt bewegt oder verhält und welche Kleidung passend erscheint, wird über Filme, Fernsehserien oder Musikstücke transportiert, so dass viele glauben, die Stadt zu kennen, ohne sie jemals betreten zu haben. In den Ansätzen, die Repräsentationen als zentrale Elemente des Urbanen verstehen, fehlt die Würdigung der Musik fast vollständig. Und wo populäre Musik aus stadtsoziologischer Perspektive untersucht wird, bezieht man sich meist allein auf Texte oder auf die Praktiken, die mit Musik vollzogen werden, nicht auf die Musik selbst.19 Selbst Iain Chambers, der bereits in den 1980er Jahren auf den Zusammenhang zwischen urbaner Imagination und populärer Musikpraxis hingewiesen hat, geht nicht auf die Bedeutung des Klangs ein.20 Ein weiteres Desiderat der Stadtforschung ist die Frage der Rezeption fiktionaler Repräsentationen. Es dominieren literaturwissenschaftliche oder filmwissenschaftliche Analysen, die darauf abzielen, den Sinngehalt einzelner, zumeist visueller Repräsentationen oder Gattungen herauszuarbeiten, eine Rezeptionsforschung ist kaum vorhanden. Insgesamt führt die fehlende Beschäftigung mit der populären Musik zwangsläufig dazu, dass Thesen zu ihrer Wirkungsweise in diesem Zusammenhang nicht diskutiert werden. Die Musiksoziologie bietet zwar gerade bei populärer Musik, besonders im Bereich der Cultural Studies, Forschungen zu ihrem Konsum im Allgemeinen und speziell im städtischen Kontext an. Was fehlt, ist die Herstellung des Zusammenhangs von Musik, Repräsentation und Konsum. Aus diesen Desideraten von Musiksoziologie und Stadtforschung ergibt sich die zentrale Frage des vorliegenden Buches: Wie lässt sich die Wechselwirkung zwischen Stadt und populärer Musik beschreiben? Das heißt zum einen: Wie formt und beeinflusst die Stadt populäre Musik? Und zum anderen: Wie wirkt diese populäre, urbane Musik auf die Praxis und Imagination von Stadtbewohnern? Bei beiden Fragen geht es um die räumlichen, sozialen und auditiven Rahmenbedingungen, in denen populäre Musik produziert und konsumiert wird.

18 Grundlegende Beiträge finden sich bei Lefebvre 1991, Donald 1991, Soja 1996. 19 Ein Beispiel für die Aussparung von Musik und der alleinigen Konzentration auf Text oder Praktiken bei der Untersuchung des repräsentationellen Charakters von Musik bietet Stevenson 2003: 70. 20 Chambers 1986, 1990.

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Punk, HipHop und Techno

Wenn von der populären Musik die Rede ist, sieht man sich einer unüberschaubaren Masse an Tonträgern und Praktiken gegenüber gestellt.21 Pauschale Urteile beinhalten immer die Gefahr, Unterschiede zwischen den einzelnen Artikulationen der populären Kultur zu unterschätzen. Andererseits ist eine Verallgemeinerung unausweichlich, weil sonst nur die spezifische Produktion oder Aneignung einzelner Musikstücke untersucht werden könnte und damit die Chance aufgegeben würde, zu ergründen, was Musikstücke und Praktiken eint – trotz der Differenzen, die sie im Einzelnen aufweisen. Ein ähnliches Problem stellt sich bei der Verwendung des allgemeinen Begriffs »Stadt«. Die Differenzen der Siedlungsformen in der Geschichte und die regionalen Unterschiede zu einem gegebenen Zeitpunkt lassen ernsthafte Zweifel aufkommen, ob sich alle diese räumlichen und sozialen Gebilde unter einen einzigen Begriff subsumieren lassen.22 Deshalb sollte jedoch auch hier die Suche nach Gemeinsamkeiten nicht einfach aufgegeben werden – im Bewusstsein der Besonderheiten jedes einzelnen Stadtgebildes. Notwendig für die Untersuchung ist trotzdem die zeitliche, regionale und gegenstandsbezogene Einschränkung auf ein Forschungsfeld, um die Gefahr zu allgemeiner und deshalb trivialer Aussagen zum Zusammenhang von Stadt und Musik auszuschließen. Deshalb konzentriere ich mich im Folgenden im Wesentlichen auf populäre Musikstile, deren Ursprünge eng mit urbanen Agglomerationsräumen in Verbindung stehen. Mit Ausnahme des ersten Kapitels, in dem die Geschichte der populären Musik in der Stadt untersucht wird, liegt der Fokus auf drei Musikstilen: Punk, HipHop und Techno. Alle drei entstehen in einer Phase, die eine Wende der Stadtentwicklung in den industrialisierten Gesellschaften markiert. Eine Arbeit, die sich auf Punk, Techno und HipHop konzentriert, setzt sich dem Vorwurf aus, große Teile der populären Musik auszuklammern und deshalb keine generellen Aussagen über diese Musik treffen zu können. Tatsächlich ›fehlen‹ im Weiteren viele der kommerziell erfolgreichen Musiker des sogenannten Mainstreams.23 Dagegen lässt sich einwenden,

21 Vgl. Gilroy 1992. Speziell für Rap: Brennan 1994: 677-680. 22 Vgl. die Geschichte der Stadt bei Mumford 1979 und Soja 2003. 23 Es fehlt folglich die Musik von Musikerinnen und Gruppen wie Madonna, Pink, Mariah Carey, Robbie Williams, Justin Timberlake, Coldplay oder U2, um nur einige der international erfolgreichen Acts zu nennen, die bis heute einen großen Teil des kommerziellen Erfolgs der Musikindustrie ausmachen. In den 1990ern wurde die These vertreten, ein Mainstream könne mittlerweile nicht mehr ausgemacht werden, weil es zu einer immer stärkeren Differenzierung in der populären Kultur komme

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dass Techno in Europa in den 1990ern ein Massenphänomen war, Rap bis heute einer der kommerziell erfolgreichsten Musikstile ist und Weiterentwicklungen des Punks die Rockmusik der letzen dreißig Jahre, bis zu Seattle-Grunge und ›neuen‹ Punkbands wie Offspring oder Green Day, stark beeinflusst haben. Punk, Techno und HipHop sind darüber hinaus nicht nur als Musikrichtungen zu verstehen, sondern als soziale Bewegungen, als Bündel aus Musik, Praktiken, Stilen. Und diese Bewegungen stehen in enger Verbindung mit den aktuellen Entwicklungen des städtischen Lebensraums. Da alle drei Stile durch ihren Erfolg weltweit Wirkungen gezeitigt haben, ist eine regionale Eingrenzung notwendig. Die hier angestellten Überlegungen beziehen sich nur auf die Produktion und den Konsum in den Vereinigten Staaten und Europa. Entwicklungen wie HipHop in Afrika oder Techno in Australien und Südamerika werden nicht untersucht. Diese Einschränkung ist auch geboten, weil sich der größte Teil der vorliegenden Forschung alleine auf diese Region konzentriert, nicht zuletzt, weil sich die Musikkulturen hier zunächst entwickelten.24

Ausblick auf die Argumentation des Buches

Ich werde im Folgenden zeigen, welchen Einfluss die Stadtumgebung auf die Produktion von populärer Musik hat und wie diese die Wahrnehmungsweise und das Erleben von Stadt mit beeinflusst. Deshalb untersuche ich nicht nur die Praktiken, die sich um Punk, HipHop und Techno herum gruppieren, sondern auch die Bedeutungen der dabei produzierten musikalischen Artefakte. In diesem Buch werden Argumente für eine enge Wechselwirkung von Stadt, Imagination und populärer Musik erarbeitet. Im ersten Kapitel geht es um die Stadt als Produktionsstandort. Trotz der auf Dauer geringen Bindungskraft von Musikstilen an einzelne Städte ist die Stadt stets der wichtigste Produktionsort populärer Musik gewesen. Als zentrale Orte der Bindung von populärer Musik und Stadt erweisen sich dabei die Musikclubs. Um die Einflussnahme von städtischen Rahmenbedingungen, vor allem von Industrialisierung und Migration, auf die Produktion populärer Musik zu untersuchen, wird, anders als in den weiteren Kapiteln, hier eine historische Perspektive eingenommen und die Wirkung der Metropolen auf Jazz, Blues und Rock ’n’ Roll diskutiert. (vgl. Holert/Terkessidis 1996). Die Verkaufszahlen und Radiopräsenz der oben genannten Musiker und Musikerinnen beweisen das Gegenteil. 24 Vgl. Middleton 1990: vi.

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Um die Wechselwirkung zwischen aktuellen Strömungen der populären Kultur und der Stadtentwicklung darstellen zu können, werden im zweiten Kapitel zunächst die seit den 1970er Jahren im Wandel begriffenen Rahmenbedingungen von Städten untersucht. Städte sind nicht länger als Produktionszentren bestimmt, obwohl sie auch weiterhin wichtige Kontroll- und Kreativfunktionen in einem globalen Produktionsprozess übernehmen. Auswirkungen dieser Entwicklungen werden anhand der regionalen Verteilung der Musikindustrie erläutert. Mit den veränderten Rahmenbedingungen geht eine forcierte Aufwertung des Konsumbereichs in den Städten einher. Sie sind von stilisierten Konsumorten geprägt, die sie für die affluenten Besucher in eine Art Vergnügungspark wandeln. Die Wirkung einer Konsumkultur zeigt sich auch in den tendenziell randlosen Vororten. Beim Konsum von Musik erweisen sich besonders mobile Abspielmedien als relevant für die urbane Kultur. Sie dienen zur Errichtung von privaten, auditiven Territorien. Im dritten Kapitel folgt eine Vertiefung der Analyse der Gründe und Quellen für eine urbane Konsumkultur. Imagination, in Form von Tagträumen, wird zunächst als wesentlicher Motor einer Konsumkultur bestimmt. Die Verknüpfung von Imagination und Konsum bedingt eine hedonistische Disposition, die zu einer kontinuierlichen Nachfrage, letztlich zu einem Zwang zum Konsum führt. Die imaginären Tagträume, denen die Konsumkultur zugrunde liegt, können jede Art von Inhalt haben. Eine wichtige Quelle für Imagination waren seit Beginn einer sich etablierenden Konsumkultur die Konsumorte der Stadt – eine weitere Verbindung der Imagination mit dem Stadtraum. Die Imagination der Stadt wiederum ist auch geprägt durch ihre Repräsentationen, die zum Teil eng mit der Konsumkultur verknüpft sind. Gegen die Thesen, die von einer völligen Übernahme der Realität durch Repräsentationen oder umgekehrt von einer Reduktion auf das Abbild der ökonomischen Veränderungen ausgehen, wird den Repräsentationen eine intermediäre Position zugesprochen. Die Auswirkungen von Repräsentationen und Konsumkultur lassen sich insgesamt als Fragmentierung von Stadträumen charakterisieren. Das vierte Kapitel führt in die Entstehungsgeschichte und die Grundzüge der Musikkulturen Punk, HipHop und Techno ein. Alle drei zeigen sich durch die sozialen Bedingungen postindustrieller Städte beeinflusst und entwickeln spezielle Praktiken als Reaktion auf diese Bedingungen. Mit den idealtypischen Figuren des Konsumgespenstes (Punk), des Großstadtkämpfers (HipHop) und des Utopisten (Techno) wird das jeweilige Verhältnis zum öffentlichen Stadtraum bestimmt.

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Im fünften Kapitel wird die Debatte um die Bindung von Punk, HipHop und Techno an die urbane Kultur weitergeführt und nach den Vergemeinschaftungsformen dieser Musikkulturen gefragt. Da im Popdiskurs diese Frage in enger Verbindung zu der Frage steht, was die Musik der Musikkulturen repräsentiere, werden die Themen Vergemeinschaftung und Repräsentation gemeinsam untersucht. Anhand des Subkulturmodells zeigen sich die Schwierigkeiten, die bei der These von einer sehr engen Verbindung zwischen Praxis, musikalischem Artefakt und bestimmten Personengruppen entstehen. Musikkulturen sind aber nicht so starr und kausal organisiert, sondern entstehen über ein Bündel an Regeln, Praktiken, Inszenierungen und Imaginationen. Diese gleichzeitig relativ stabile und fluide Vergemeinschaftungsform wird als urbane Szene definiert. Das sechste Kapitel unternimmt durch eine Kritik des Modells von Adorno zum repräsentativen Charakter von Musik einen zweiten Versuch, den Zusammenhang von Repräsentation und Imagination im Falle von Musik zu bestimmen. Adorno gibt, besonders in Bezug auf die Form, sinnvolle Hinweise auf die Möglichkeit von Repräsentation durch Musik. Zugleich vermischen sich in Adornos Ästhetik kontinuierlich Werturteile mit theoretischen Aussagen, die populäre Musik wird pauschal abgelehnt. Ein Problem, dass sich auch in dem neueren Ansatz von Attali zur Repräsentation von Musik wiederholt. Demgegenüber stellt das siebte Kapitel einen grundsätzlich anderen Zugang zum Zusammenhang von populärer Musik und Stadt vor, der von dem Musikphilosophen Peter Kivy entwickelt wurde. Diskutiert wird seine These, dass Musik dann repräsentativ sei, wenn sie strukturelle Ähnlichkeiten zu außermusikalischen Phänomenen aufweise. Bezogen auf populäre Musik wird nach Korrespondenzen zwischen den ästhetischen Grundprinzipien von Punk, HipHop und Techno und den klanglichen und kulturellen Eigenschaften städtischer Umgebungen gesucht. Abschließend zeigt das achte Kapitel, wie populäre Musik urbane Imaginationen erzeugt. Mit den Begriffen Medium und Atmosphäre wird die Musik von Punk, HipHop und Techno als eine ideale Quelle für alltägliche Tagträume bestimmt. Populäre Musik erweist sich als ein ambivalentes, gleichzeitig aber auch wirkmächtiges Medium, das maßgeblich daran beteiligt ist, eine urbane Alltagskultur zu erschaffen.

1. Migration, Fremdheit, Nachtclubs. Die Stadt als Zentrum der populären Musik Memphis music is an approach to life, defined by geography, dignified by the bluesmen. This is the big city surrounded by farmland, where snug businessmen gamble on the labor of fieldhands, widening the gap between them, testing the uneasy alliance. Memphis has always been a place where cultures came together to have a wreck: black and white, rural and urban, poor and rich. The music in Memphis is more than a soundtrack to these confrontations. It is the document of it. Robert Gordon1

Der Musikjournalist Paul Du Noyer schreibt der Stadt Liverpool eine besondere Wirkung auf populäre Musik zu: »Liverpool is more than a place where music happens. Liverpool is a reason why music happens.«2 Wie Liverpool mit dem Beat, so werden auch andere Städte in enge Verbindung mit populären Musikstilen gebracht: New Orleans (Jazz), Memphis (Rock ’n’ Roll), New York City (Bebop, HipHop), London (Punk), Detroit (Techno) oder Seattle (Grunge) beispielsweise gelten als Ursprungsorte musikalischer Stile. In diesem Kapitel soll, anhand des Jazz, Blues und Rock ’n’ Roll, einführend untersucht werden, warum die Stadt in der Geschichte der populären Musik ihr zentraler Produktionsort war. Dazu erfolgt als erstes, in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem einflussreichen ArtWorld-Konzept von Howard S. Becker, eine Untersuchung der interaktiven Bedingungen zur Produktion von Kunst oder Musik. Die Art-WorldTheorie verdeutlicht den kollektiven Charakter der Musikproduktion, berücksichtigt aber nicht die sozialen Bedingungen, in denen sie sich entwickelt. Der zweite Abschnitt diskutiert deshalb, am Beispiel der klassischen Arbeiten von Georg Simmel und Louis Wirth, die spezifischen Bedingungen sozialer Interaktionen in Städten und bestimmt den Club 1 2

Gordon 1995: 9. Du Noyer 2004: 1.

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als den zentralen städtischen Ort der populären Musik. Die Wirkung der sozialen Bedingungen des städtischen Umfelds auf die Produktion von Musik wird in einem dritten Schritt vertiefend untersucht: anhand des Beispiels der Migration von Afroamerikanern in die Großstädte der USA, Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts.

Art-Worlds

Die Geschichte der populären Musik wird oft anhand der Biografien einzelner Musiker erzählt.3 Vor allem Popstars spielen zwar ohne Zweifel bis heute eine gewichtige Rolle, bezieht man sich aber bei der Analyse nur auf die Musiker, besteht die Gefahr, lediglich das medial erzeugte Bild von extravaganten und zugleich authentischen Stars zu reproduzieren.4 Die Entstehungsbedingungen von Musik wird man auf diese Weise nicht angemessen darstellen. Das entscheidende Gegenargument ist ihr kollektiver Charakter: Populäre Musik ist fast nie das Produkt eines Einzelnen, sondern entsteht durch ein interaktives Geflecht von Musikern, Produzenten, Vermarktern und Designern, wie der Populärmusikforscher Peter Wicke anhand der Zusammenarbeit in der Rockmusik erläutert: »Musik als individueller Ausdruck einer herausgehobenen Künstlerpersönlichkeit ist in solchen Zusammenhängen de facto unmöglich. Rock ist eine kollektive Ausdrucksform, in die sich der einzelne als Musiker immer nur im kollektiven Zusammenwirken mit anderen – mit Technikern, Produzenten und natürlich auch anderen Musikern – einbringen kann.«5 Einzelne Personen mögen wichtige Stücke komponiert oder sich als Performer hervorgetan und so die Geschichte des Pop mitgeschrieben haben, aber nur die Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes und der Personen, die an der Produktion von Stücken, ihrer Aufführung oder Distribution beteiligt sind, kann die Entstehung und Wirkung populärer Musik erklären.

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Zum Beispiel bei Cohn 1971, Clarke 1995, Gillet 1996, Toop 1999. Vgl. zur Bedeutung von Stars und ihrer Konstruktion Faulstich 1997, Sommer 1997. Wicke 1987: 35.

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Das Art-World-Konzept

Mit seinem Konzept attackiert der Soziologe Howard S. Becker überzeugend die romantisch inspirierte Vorstellung des genialen Künstlers, indem er zeigt, dass es ohne kollektives Ineinanderwirken nicht möglich wäre, Kunstwerke zu schaffen.6 Becker nennt den Personenkreis, in dem die Kunst entsteht, Art-World: »Art worlds consist of all people whose activities are necessary to the production of the characteristic works which that world, and perhaps others as well, define as art. Members of art worlds coordinate the activities by which work is produced by referring to a body of conventional understandings embodied in common practice and in frequently used artefacts. The same people often cooperate repeatedly, even routinely, in similar ways to produce similar works, so that we can think of an art world as an established network of cooperative links among participants.« 7 Nach Becker führt die notwendige Koordination der Aktivitäten mehrerer Akteure dazu, dass sich innerhalb der Art-World Konventionen etablieren, die den Rahmen gängiger Praktiken abstecken. Sie sind für ihn das zentrale Element der Art-Worlds, wichtiger als die produzierten Kunstwerke selbst, weil sie den Rahmen bieten, um Kunstwerke zu produzieren und zu verstehen. Konventionen definieren nicht nur die grundlegenden Produktionsbedingungen, sondern auch, was und was nicht als Kunst zu gelten habe und welche Bedeutungen die Kunst transportiert.8 Im expliziten Anschluss an das Konzept von Becker hat die Kunstsoziologin Ruth Finnegan die Musikkulturen der 1980er Jahre in Milton Keynes, Großbritannien als Art-Worlds untersucht. Als eine Musikkultur lassen sich alle Praktiken und Diskurse definieren, durch die Musik in spezifischer Weise produziert, konsumiert und gedeutet wird. Finnegan diskutiert alleine den Produktionsbereich. Sie versucht zu zeigen, dass die Praxis des Musikmachens die Partizipierenden in einer eigenständigen Welt zueinanderbringt und sie in ihrer räumlichen und zeitlichen Nutzung des urbanen Raums entscheidend prägt.9 Mit dem Begriff des Pathway (der Wegstrecke) versucht sie die Verbindung der Musiker untereinander und ihre Bewegungen innerhalb der Stadt zu beschreiben:

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Vgl. zur romantischen Vorstellung des Künstlers als Genie Campbell 1987: 190-195. Becker 1982: 34-35. Vgl. Becker 1982: 156. Vgl. Finnegan 1989, 1997.

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»The many different forms of musical activity described in this study were not random or created from nothing each time by individual practitioners, but a series of familiar and – by their followers – taken-for-granted routes through what might otherwise have been the impersonal wildernesses of urban life, paths which people shared with others in a predictable yet personal fashion. They were not all-encompassing or always clearly known to outsiders, but settings in which relationships could be forged, interests shared, and a continuity of meaning achieved in the context of urban living.«10 Auffallend ist, dass die Pathways der unterschiedlichen Musikwelten nicht wesentlich voneinander abweichen. Zwar variieren die Größe der Musikgruppen, die Aufführungsorte und die Anlässe, zu denen die einzelnen Musiker zusammenkommen, aber überall findet Finnegan ähnliche räumliche und zeitliche Strukturen. In allen bilden bevorstehende Auftritte den wichtigsten Einflussfaktor für die Intensität der Interaktionen der Musiker untereinander. Die Wege durch die Stadt im Zusammenhang mit der Musikproduktion unterscheiden sich zudem nicht grundsätzlich von anderen Freizeitaktivitäten. Insgesamt zeichnet Finnegan zwar ein äußerst detailliertes Bild der sozial-räumlichen Verweisstruktur von Amateurmusikern, aber alle weiteren kontextuellen Rahmungen oder intervenierenden Einflussgrößen bleiben weitgehend ausgeklammert.11 Mit dieser Betrachtungsweise folgt Finnegan dem Konzept von Becker, der die Aktivitäten einzelner Menschen als einzigen Maßstab ansieht, um die Produktion von Kunst zu beschreiben. Zwar verweist Finnegan zu Ende ihrer Studie auf die Bedeutung von Musik als unentbehrliches Mittel in Ritualen. Diese spiele jedoch nur eine mittelbare Rolle für die Organisation von Musikkulturen, zum Beispiel indem sie Einfluss darauf nimmt, bei welchen Veranstaltungen die Musiker auftreten. Das gesamte Gewicht der jeweiligen Art-World ruht auch bei Finnegan auf ihren konventionell gesteuerten Interaktionen. Relevanz hat nur das soziale Zusammenspiel der Personen, die gemeinsam Kunstwerke erschaffen. Dieser Zugang zur Kunst hat den entscheidenden Nachteil, ihre ästhetische Bedeutung außer Acht zu lassen. Laut Becker erschafft die ArtWorld auch die Maßstäbe und Bewertungsgrundlagen zu den Kunstwerken, die in ihr entstehen. Die Frage, was ein Kunstwerk ausdrückt und wie es sich auf den sozialen Kontext bezieht, in dem es entsteht, wird dadurch nicht nur systematisch ausgeklammert, sie kann innerhalb des Art-World-Konzepts überhaupt nicht beantwortet werden. 10 Finnegan 1989: 306. 11 Vgl. ebd.: 131-190.

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Entsprechend billigt Finnegan sozial-strukturellen Determinanten bei der Ausprägung der Art-Worlds keinen nennenswerten Einfluss zu – mit Ausnahme der Country-Musik.12 Einzig der Faktor der musikalischen Bildung durch das Elternhaus präge die Bereitschaft, selbst Musik zu machen. Unberücksichtigt bleiben sowohl die unterschiedlichen Motivationen und Bedeutungen, die das Musikmachen für unterschiedliche Gruppen haben kann, als auch die sozialen Hierarchien innerhalb der einzelnen Musikgruppen. Insgesamt zeichnet Finnegan ein idyllisches Bild konfliktfreier Musikgemeinschaften, deren Bindung alleine durch die gemeinsame Musikproduktion hergestellt wird.13 Becker und Finnegan leisten zwar einen wichtigen Beitrag zur Demystifizierung der Produktion von Kunstwerken, aber um den Preis, dass nur wenig über den Zusammenhang zwischen der jeweiligen Art-World und ihrer sozialen, kulturellen Umgebung zu erfahren ist. Ihren Erkenntnissen über die Strukturen der Produktion von Kunstwerken steht die unbeantwortete Frage gegenüber, wie Kunst durch soziale Bedingungen außerhalb der Art-World beeinflusst wird und auf diese zurückwirkt. Kunst entsteht nicht nur innerhalb eines sozialen Gefüges, in dem Konventionen ausgehandelt werden, sondern auch in einem erweiterten sozialen Umfeld, in das die Art-World eingebunden ist und das auf Produktionen von Kunst einwirkt, indem es den Rahmen für die Interaktionen innerhalb der ArtWorld absteckt. Diesen Kontext gilt es mit zu berücksichtigen.

Musikgruppen in Liverpool

Ebenfalls an Beckers Theorie orientiert, aber stärker das soziale Umfeld berücksichtigend, hat Sara Cohen den kollektiven Charakter der Produktion von Popmusik im Liverpool der 1980er Jahre untersucht. Statt eines harmonischen Miteinanders fand sie harte Konkurrenz vor. Zwar gab es in Cliquen organisierte Musikgruppen, die sich gegenseitig unterstützten, zum anderen herrschte aber ein Wettkampf der Musikgruppen um Anerkennung und Bekanntheit. Cohen verweist als Begründung dieser Konkurrenzsituation auf die schwierige soziale Situation in der Stadt, die populäre Musik als akzeptable Beschäftigung erscheinen ließ, die bei Erfolg zu sozialem Aufstieg führen konnte.14 Ebenso vorsichtig wie Finnegan ist Cohen bei der Bewertung und Beschreibung der Musik selbst, die sich aus den Aktivitäten der beiden 12 Vgl. Finnegan 1989: 97-99. 13 Vgl. Slobin 2000: 40-41. 14 Vgl. Cohen 1991: 3, 20, 35, 104, 223.

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von ihr beobachteten Bands The Jactars und Crikey it’s the Cromptons! ergeben. Immerhin verweist sie darauf, dass Musik Bedeutungen transportieren kann: »Music communicates messages through its musical structures, verbal texts, symbolic forms, and through the emotions they arouse. Thus music is ideal for making meaning. It is used as a framework to express and convey memories, sentiments, ideals, ideas, values, and arguments. […] These are not just individual, subjective expressions and creations but reflect aspects of the society and culture within which the music is made.«15 Musik ist für sie vor allem ein gemeinsam geteilter Code, der zum Verständnis der Musik notwendig erlernt werden muss und der sich im Falle der untersuchten Gruppen in Liverpool an der Punkideologie orientierte, nach der Musik authentisch, rau, lärmend zu sein hatte und überkommene musikalische Konventionen brechen sollte.16 Die Musiker konnten selbst aber nicht widerspruchsfrei beschreiben, worum es in ihrer Musik ging, wie Cohen an einem plakativen Beispiel verdeutlicht: »The relationship between musical elements such as music and lyrics thus be complex. They act and react upon each other or independently of each other. When I asked Ryan’s vocalist what the band’s lyrics were about he answered that they were all about love, whereupon the guitarist proudly declared that his chords were ›all about hate‹.«17 Auch mit dieser Bestimmung kommt man der ästhetischen Bedeutung von populärer Musik nicht näher. Die alleinige Konzentration auf die Bedeutungsgenerierung innerhalb des Interaktionsgefüges und der ihr zugrunde liegenden Ideologie führt bei Cohen, genauso wie bei Finnegan, zu einer marginalen Beachtung der Musik in der Analyse. Die Interaktionen alleine geben keinen ausreichenden Aufschluss darüber, welche Musik dabei entsteht. Auf diese Weise lässt sich die Wirkung externer Faktoren auf die Musik nicht adäquat darstellen.

15 Ebd.: 191. 16 Vgl. ebd.: 172-175. 17 Ebd.: 174.

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Die Fremdheit der Stadt und die Bedeutung von Clubs

Um über die interne Perspektive des Art-World Konzepts hinauszugelangen, muss beachtet werden, wie Menschen miteinander in Kontakt treten, um Musik zu machen, diese einem Publikum vorzuspielen oder sie, mit Hilfe von weiteren Personen, auf einen Tonträger aufzunehmen. Dabei sind die Möglichkeiten aber auch die Einschränkungen möglicher Interaktionen, zum Beispiel durch bestehende Traditionen oder die Trennung von Personengruppen, zu beachten.18

Fremdheit in der Stadt

Seit ihren Anfängen ist die Stadtforschung interessiert an den Auswirkungen des Lebens in der Stadt auf die Interaktions- und Vergemeinschaftungsformen. Geleitet wird diese Debatte bis heute durch zwei berühmte Texte: den Anfang des 20. Jahrhunderts gehaltenen Vortrag »Die Großstädte und das Geistesleben« des Soziologen Georg Simmel und den Ende der 1930er Jahre erschienenen Aufsatz »Urbanism as a Way of Life« des Humanökonomen Louis Wirth. Georg Simmel versuchte zu zeigen, dass die Erfahrungen in der modernen Stadt eine veränderte psychische Disposition ihrer Bewohner hervorbringt.19 Die in der Stadt dominierende Geldwirtschaft führe zu einem höheren Grad an Freiheit für die Bevölkerung, zu einer Beschleunigung des Lebens und zu einer Versachlichung der sozialen Kontakte, in der Interaktionen nur durch vorgegebene, schematische Rollenmuster organisiert werden, die funktionale Vorgaben für Alltagssituationen geben. Kombiniert mit der rationalen und berechnenden Grundhaltung des Stadtbewohners, sei das Ergebnis ein reserviertes Verhalten des Großstädters gegenüber seinen Mitbürgern. Die Beschleunigung des sozialen Lebens, die neben einem ständigen Wechsel der Sinneseindrücke zum Kontakt mit einer heterogenen Masse von Fremden führe, nötige den Stadtbewohner zu einer blasierten Haltung. Zur Erklärung des veränderten Sozialverhaltens von Stadtbewohnern schlägt Simmel ein wechselseitiges Relationsschema vor, in dem die Geldwirtschaft mehr Freiheit von äußeren Zwängen und kulturelle Differenz hervorbringt, aber zugleich auch Orientierungslosigkeit, Blasiertheit und soziale Distanz, die wiederum die Stadtbewohner nötigt, in besonderer Weise auf sich aufmerksam zu machen: 18 Vgl. Shank 1994: 20. 19 Vgl. Simmel 1957.

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»Das Leben wird […] einerseits unendlich leicht gemacht, indem Anregungen, Interessen, Ausfüllungen von Zeit und Bewußtsein sich […] von allen Seiten anbieten und sie wie in einem Strome tragen, in dem es kaum noch eigener Schwimmbewegungen bedarf. Andererseits aber setzt sich das Leben doch mehr und mehr aus diesen unpersönlichen Inhalten und Darbietungen zusammen, die die eigentlich persönlichen Färbungen und Unvergleichlichkeiten verdrängen wollen; so daß nun gerade, damit dieses Persönlichste sich rette, es ein Äußerstes an Eigenart und Besonderung aufbieten muß; es muß dieses übertreiben, um nur überhaupt noch hörbar, auch für sich selbst, zu werden.«20 Simmels These der eigenartigen Lebensweise von Stadtbewohnern hat Wirth in seinem Aufsatz übernommen. Er transformiert Simmels Ansatz jedoch durch eine sozialökologische Lesart, indem er nicht die Geldwirtschaft, sondern die drei ökologischen Einflussfaktoren Dichte, Heterogenität und Größe von Siedlungen als entscheidend für eine bestimmte Lebensweise in den Städten versteht. Diese führten zu einer »besondere[n] Art des menschlichen Zusammenlebens in Gruppen«21, die er als Urbanität bezeichnet. Stadt ist danach bestimmt als »relativ große, dicht besiedelte und dauerhafte Niederlassung gesellschaftlich heterogener Individuen«.22 In Anlehnung an Simmel sieht Wirth die typischen Kontakte der Stadtbevölkerung als flüchtig und unpersönlich an, bestimmt durch Distanz und Gleichgültigkeit, die dazu dienen, persönliche Ansprüche von anderen abzuwehren. Ebenso übernimmt er Simmels These von der Dominanz intellektueller und verstandesmäßiger Verhaltensweisen unter den Stadtbewohnern, die sich von einem amoralischen, individualistischen Nutzenkalkül leiten ließen. Zwar herrsche in der Stadt eine hohe Toleranz gegenüber individuellen oder kollektiven Unterschieden, andererseits präge ein ständiger Konkurrenzkampf das Zusammenleben. Eindeutiger noch als in Simmels Theorie, dominiert bei Wirth eine deterministische und pessimistische Betrachtung der Stadt. Er setzt die unpersönlichen und einer gemeinschaftlichen Kontrolle entzogenen Kontakte in der durch Migration geprägten Großstadt mit einer Auflösung von Kontrollmechanismen gleich, die zwangsläufig zu einer anomalen Desintegration führen. Wirth erkennt zwar die positive Seite von Urbanität in der Toleranz gegenüber unterschiedlichen sozialen Welten, negativ bewertet er dagegen die Blasiertheit der Stadtbewohner, den routinisierten Alltag, die Fragmentierung der Lebenswege und die leichte Beein20 Ebd.: 241. 21 Wirth 1974: 44. 22 Ebd.: 48.

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flussbarkeit der Individuen durch Kollektive.23 Die Stadt untergräbt dieser Sichtweise zufolge jede Form der Moral und der sozialen Integration. Sowohl gegen Simmel als auch Wirths Thesen spricht, dass sie nur eine bestimmte Art von Lebensweise in der Stadt beschreiben. Zwar sehen sie den Versuch, sich von anderen zu unterscheiden, als konstitutiv für das Stadtleben an, zugleich erscheinen sowohl die sozialen Kontakte als auch die Reaktionsweisen auf die städtischen Lebensbedingungen bei allen Stadtbewohnern gleich. Eben diese theoretische Verallgemeinerung der Wirkungsweise der Geldwirtschaft oder der ökologischen Faktoren ist empirisch unhaltbar. Denn es finden sich in Städten sehr unterschiedliche Lebensweisen, die von ungebundenen und unpersönlichen bis zu sehr engen, verbindlichen und dauerhaften Kontakten reichen können.24 Aus diesem Grund sind auch Anonymität und moralischer Verfall nicht zwangläufig eine Folgeerscheinung großer, dicht besiedelter Gebiete. Darüber hinaus ist es unplausibel, die von Wirth konstatierten Eigenschaften von Stadtbewohnern allein aus den ökologischen Faktoren von Dichte und Größe abzuleiten und die ökonomischen Mechanismen, die Wachstum und Struktur zeitgenössischer Städte beeinflussen, unberücksichtigt zu lassen.25 Trotz der Reduktion der Komplexität von Lebens- und Verhaltensweisen in Städten auf einfache psychologische oder soziale Wirkungsketten, verweisen Simmel und Wirth zu Recht auf die Besonderheit der sozialen Interaktionen in Städten. Der Kulturanthropologe Ulf Hannerz macht darauf aufmerksam, dass Kontakte in der Stadt zwar nicht zwangsläufig unpersönlich sind, andererseits aber die Begegnung mit Fremden fast unausweichlich ist: 26 »There is hardly any way […] in which a city dweller can avoid having any relationships of a segmental, impersonal, and superficial character. With his contacts spread out, some of his other relationships may even in some degree come to resemble traffic relationships, meetings between strangers.«27

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Vgl. Hannerz 1980: 62-63. Vgl. Gans 1995, Siebel 2004: 26. Vgl. Fischer 1972, Hannerz 1980: 59-118, Saunders 1987: 55-85. Vgl. auch Barthes 1976: 41, Clarke 2003: 81. Die Unausweichlichkeit des Kontakts mit Fremden ist auch der wichtigste Grund, Angst vor der Stadt zu haben, da er nicht in allen Fällen kontrolliert werden kann (vgl. Raban 1974: 4-8). 27 Hannerz 1980: 112.

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Städte sind Möglichkeitsorte für die Begegnung von Fremden, das heißt von Personen, die sich nicht kennen.28 Und Stadtbewohner sind gezwungen, mit dieser Fremdheit umzugehen. Daraus folgt auch, dass Reserviertheit oder Blasiertheit, auch wenn sie nicht ein generelles Verhaltensmuster von Großstadtbewohnern darstellt, zumindest temporär nicht unüblich ist, da es neben dem routinisierten Höflichkeits- und gegenseitigen Achtungsverhalten eine Distanz gegenüber der nicht vollständig kontrollierbaren Umwelt bietet.29 Zu beachten ist aber, dass die Art des Kontakts zwischen Fremden sich über die Zeit verändert hat. Wie sich Fremde im öffentlichen Raum verhalten, wie sie sich darstellen, welche Bedeutungen sie diesem Verhalten beimessen und wie sie durch dieses Verhalten geprägt sind, erscheint in historischer und kulturvergleichender Perspektive als durchaus variabel.30 Trotzdem sind Stadtbewohner jeweils vor die Aufgabe gestellt, in sozialen Kontakt zu Fremden zu treten, sobald sie sich im öffentlichen Raum bewegen.

Clubs als Begegnungsorte von Fremden

Fremdheit schließt allerdings soziale Kontakte nicht aus, sondern bedingt auch neue Formen des Zusammenkommens und Begegnens. Neben traditionellen Formen wie Nachbarschaften, Familien oder Arbeitszusammenhängen kommt es in den Städten zur Bildung neuartiger Vergemeinschaftungsformen, die sich in losen oder festen Netzwerken organisieren und oft auch den lokalen Ort überschreiten.31 Nicht zufällig etablierten sich im 18. Jahrhundert mit der Entwicklung des industriellen Kapitalismus, in dessen Folge es zur Unterspülung der traditionellen, sozialen Bindungen der Stadtbewohner und zu einem ersten Individualisierungsschub kam, im öffentlichen Raum neue Treffpunkte.32 Sie dienten dazu, einen Teil der Freizeit – ebenfalls ein neues Phänomen – mit Personen außerhalb des privaten Familienumfelds zu verbringen. Der Soziologe Richard Sennett, der die Geschichte des öffentlichen Raums untersucht hat, weist darauf hin, dass diese Orte zunächst nur für die aufstrebende, neue bürgerliche Oberklasse zugänglich waren. Erst später öffneten sie sich auch für andere Gesellschaftsmitglieder: 28 Ähnliches klingt bei Richard Sennett (2002: 60-61) an, wenn er die Stadt definiert als »Siedlungsform, die die Begegnungen einander fremder Menschen wahrscheinlich macht.« 29 Zu Höflichkeits- und gegenseitigem Achtungsverhalten vgl. Goffman 1982. 30 Wie Sennett 2002 zeigt. 31 Vgl. Amin/Thrift 2002: 30. 32 Vgl. Sennett 2002.

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»Es war die Ära, in der große Parks angelegt wurden und in der man erste Versuche unternahm, die Straßen für die speziellen Bedürfnisse des auf Entspannung und Erholung bedachten Fußgängers herzurichten. Es war die Zeit, in der Kaffeehäuser, später dann Cafés und Postgasthöfe zu gesellschaftlichen Mittelpunkten wurden; in der sich Theater und Opernhäuser einem großen Publikum öffneten […] Die Annehmlichkeiten der Stadt wurden nun über den engen Kreis der Elite hinaus weiteren Gruppen der Gesellschaft zugänglich, so daß sogar die arbeitenden Klassen einige der Geselligkeitsformen übernahmen, etwa das Promenieren in den Parks, wie sie früher den Angehörigen der Elite vorbehalten gewesen waren […].«33 Zur neuen Freizeitkultur gehörten auch Tanzveranstaltungen und Musikclubs. In ihnen war es möglich, mit Fremden gemeinsam etwas zu tun – zu tanzen oder sich zu unterhalten –, ohne dass man sich genauer kennen musste. Ende des 18. Jahrhunderts gab es in Paris über sechshundert Tanzlokale, ein Jahrhundert später in London mehr als fünfhundert Musikhallen, und in Berlin fanden sich vor dem Ersten Weltkrieg dreißig Unterhaltungstheater für die gehobenen Klassen, in denen Musik ein Teil des Unterhaltungsprogramms war sowie eine unübersehbare Vielzahl von Singspielhallen mit Alkoholausschank für die unteren Klassen.34 Zur gleichen Zeit entstand in New York der erste Nachtclub; diese Form verbreitete sich von dort in die ganze Welt.35 Trotz der großen Vielfalt an Musik- und Tanzstilen, die in den Musikclubs der letzen zweihundert Jahre anzutreffen war, ist die zentrale Funktion bis heute die gleiche geblieben: Sie erlauben, über die Musik und den Tanz, relativ zwanglos in Kontakt mit Fremden zu treten und Personen zu treffen, die sich für eine bestimmte Musik oder Lebensweise interessieren. Im 20. Jahrhundert kam hinzu, dass der Musikclub zu einem Experimentierfeld für neue Ästhetiken und Lebensweisen wurde. Die Geschichte der populären Musik ist in besonderer Weise an die Entwicklung distinktiver Stile in Clubs gekoppelt. So galten schon in den 1940ern das Minton’s und Monroe’s Uptown House als zentrale Kristallisationspunkte des Bebop, in den 1960ern haben der Star-Club in Hamburg und The Cavern in Liverpool zur Entstehung des Mersey Beats beigetragen. Für die Discowelle war das Studio 54 in New York City das Epizentrum, in der

33 Ebd.: 33. 34 Vgl. Chambers 1990: 130, Wicke 2001: 73-74, Sennett 2002: 241, Geisthövel 2005. 35 Vgl. Peretti 1992: 50-51.

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gleichen Stadt war das CBGB Ausgangspunkt der Punk-Kultur und der Haçienda-Club in Manchester hat wichtige Impulse für die Rave-Kultur geliefert.36

Zentren populärer Musik

Weil Stadtbewohner ständig mit Fremdheit umgehen müssen, kommt es immer wieder zu Erschaffung von Orten, in denen die Überschneidungen von Personen und Netzwerken auf Dauer ermöglicht wird. Dies erleichtert das Zusammenkommen ganz unterschiedlicher Personen, die nach Gleichgesinnten suchen.37 Clubs sind Beispiele für die Katalysatorfunktion, welche die Stadtforscher J. John Macionis und Vincent N. Parrillo der Stadt als Ganzer zusprechen: »The reason for the city’s increasing dominance in modern affairs […] is that everything human – art, music, business, traditions, what we love and hate – converges there. The city does not create a way of life all its own but rather provides the setting where any way of life, any cultural tradition, can intensify and re-create itself in a manner not possible in other settings.«38 Als Katalysator fungiert der Club auch, weil es hier zu Kontakten zwischen Musikern und Vertretern der Musikindustrie kommen kann. In der Geschichte der populären Musik gibt es unzählige Musiker und Musikgruppen, die zu Beginn ihrer Karriere für ein lokales Publikum gespielt und dadurch die Aufmerksamkeit der Musikindustrie auf sich gezogen haben.39 Es ist für Musiker in Städten im Allgemeinen und in Clubs im Speziellen leichter, ›entdeckt‹ zu werden, weil die Industrie hier häufiger nach neuen Trends und lokal erfolgreichen Gruppen sucht, die sich überregional vermarkten lassen.40 Neben den Clubs bieten die Städte die größte Dichte an Produktionsstätten wie Tonstudios. Zudem konzentrieren sich dort die Fernseh- und 36 Für Bebop vgl. Berendt 1987: 23, 107, Stump 2003: 226, für den Star-Club und The Cavern vgl. Clayson 1997, Du Noyer 2004: 15-49, für Studio 54 vgl. Shapiro 2005: 206-214, für das CBGB vgl. Henry 1989: 49-63 und für den Haçienda-Club vgl. Haslam 2000. 37 Vgl. Amin/Thrift 2002: 2, 40. 38 Macionis/Parrillo 2001: 224. 39 Vgl. Turley 2005: 68. 40 Das Beispiel des Seattle Grunge-Rock zeigt, wie eng die Zusammenarbeit eines Labels mit einer zunächst lokal verankerten Musikszene sein kann, die in einen globalen, kommerziellen Erfolg mündet (vgl. Chiesa/Blush 1993, Bell 2003).

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Radiostationen, die lokale Musikgruppen und -stile unterstützen können, indem sie ihre Musik spielen oder über sie berichten. Dieses Zusammenspiel aus Musikern, Infrastruktur und Industrie hat die Stadt zum Zentrum der populären Musik gemacht.41

Der Einfluss der Stadt auf die Produktion populärer Musik am Beispiel von Jazz, Blues und Rock ’n’ Roll

Will man die sozialen Einflussfaktoren auf populäre Musik untersuchen, stößt man, wie schon erwähnt, auf die Schwierigkeit, einer unüberschaubaren Vielfalt an Akteuren, aufgenommenen Tonträgern und Aufführungen gegenüberzustehen. Andererseits wurde die populäre Musik im 20. Jahrhundert im Besonderen von Musik aus den USA geprägt.42 Diese hat sich bis heute primär aus drei, kontinuierlich aufeinander einwirkenden Musikquellen von Einwanderern aus Süd- und Lateinamerika, Europa und Afrika gebildet.43 Die Geschichte der populären Musik im 20. Jahrhundert ist geprägt durch das gegenseitige ›Borgen‹ und Verarbeiten dieser Quellen. Andererseits hat besonders die afroamerikanische Musik im Laufe des 20. Jahrhunderts kontinuierlich an Bedeutung gewonnen: Ob Jazz, Rhythm and Blues, Soul, House, HipHop oder Techno – sie alle sind primär von Afroamerikanern in Städten entwickelt worden. Trotz der vielfältigen Einflussfaktoren, die auf städtische Siedlungsräume einwirken, lassen sich grundsätzliche Rahmenbedingungen angeben, die die Stadtentwicklung in Nordamerika und Europa entscheidend geprägt haben. Für das Interaktionsgefüge in den Städten hat das Zusammenspiel aus Migration und Ausbreitung des industriellen Kapitalismus den größten Einfluss gehabt.44 Anhand der Entstehung von Jazz, Blues und Rock ’n’ Roll in New Orleans, Chicago und Memphis lässt sich zeigen, wie diese Rahmenbedingungen zugleich als Basis fungierten für die Entfaltung von populärer Musik. 41

Demgegenüber erweist sich das Art-World-Konzept von Becker mit seiner Koppelung von Ort und Musikkultur einmal mehr als zu eingeschränkt. Die Konzentration der Musikentwicklung auf die Stadt und Clubs verlangt, nicht ausschließlich die immanente Entstehung von ästhetischen Konventionen und ihre Folgen zu beachten, sondern auch die Beziehungen zwischen Musikkultur und der räumlichen Umgebung, in der sie entsteht. Sonst kann nicht erklärt werden, wie sich die Konventionen und die Ästhetik durch diese Rahmungen entwickelt. 42 Vgl. Burgin 1996: 6. 43 Vgl. Merwe 1989: 9-90, Starr/Waterman 2003: 10-22. 44 Übersichten der industrialisierten Stadtentwicklung bieten Mumford 1979: 519-561, Goodman/Chant 1999, Soja 2003: 71-94.

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New Orleans und der Jazz

Ursprünglich bildete sich die afroamerikanische Musik außerhalb der Stadt auf den Plantagen im Süden der USA. Dort sangen afroamerikanische Sklaven zunächst Worksongs, später, als viele zum Christentum bekehrt worden waren, in ihren eigenen Kirchen auch Gospels.45 Mit der Beendigung der Sklaverei begann eine intensive Migrationsbewegung, bei der Afroamerikaner auf der Suche nach Arbeit durch den Süden der USA zogen. Mit der Zeit blieben die Wanderer, vor allem wenn sie Arbeit hatten, über längere Zeiträume in den Städten.46 Das für die populäre Musik berühmteste Ziel der Migration von Afroamerikanern war New Orleans. Lange galt die Stadt als alleiniger Ursprungsort des Jazz, aber im gleichen Zeitraum gab es auch in anderen Regionen der USA Musikstile, die dem Jazz aus New Orleans ähnelten.47 Trotzdem ist, dem Musikwissenschaftler Peter van der Merwe zufolge, New Orleans der wichtigste Ort der Entfaltung des Jazz-Stils: »The truth seems to be that while many other Afro-American styles were developing elsewhere, jazz proper really was a product of New Orleans, because of the influences mentioned above: the relatively fresh Afro Caribbean influx, the Spanish tinge, the French musical heritage, particularly with regard to wind playing, the sheer size of the city, and the relatively free mixing of the races, which again was part of the French heritage.«48 Schon bevor die Migration von entlassenen Sklaven um 1870 zunahm, gab es in New Orleans eine rege afroamerikanische Musiktradition. Musikalische Unterhaltung und Vergnügungen waren hier gegenüber anderen Regionen in den USA durch die katholische Tradition der Franzosen geringeren Restriktionen ausgesetzt. Tanzen galt zum Beispiel nicht wie bei den Puritanern als sündig.49 Musik fand nicht nur in Unterhaltungsetablissements statt, sondern war durch Trauerumzüge und Märsche auch fester Bestandteil des Alltagslebens. Sie bot den sogenannten Kreolen, von den Franzosen freigelassenen Sklaven, die Einbindung in die Routinen des städtischen Lebens.50

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Vgl. Baraka 2003: 46-63. Vgl. Lemann 1991. Vgl. Berendt 1987: 20, Taylor 2000: 39-52. Merwe 1989: 51. Vgl. Jost 1991: 28. Vgl. Peretti 1992: 28, 38.

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Nach der Aufhebung der Sklaverei strömten immer mehr Afroamerikaner in das Handelszentrum New Orleans. Anfang des 20. Jahrhunderts stellten sie mehr als die Hälfte der Einwohner. Die Migration führte zu Überbevölkerung, schlechten Lebensbedingungen und Gewalt, da die Afroamerikaner sich in drei segregierten Stadtvierteln konzentrierten und die Arbeitslosenrate, bedingt durch stagnierende Baumwollpreise zwischen 1900 und 1915, enorm stieg. Die Kreolen, bis zur Aufhebung der Sklaverei relativ privilegiert, versuchten sich zunächst von den afroamerikanischen Zuwanderern abzugrenzen. Dazu gehörte auch der Versuch die ›eigene‹ Musikkultur weiterzuspielen, ohne Elemente des Blues zu übernehmen.51 Nach und nach kam es aber zu einem stärkeren Zusammenwirken aller afroamerikanischen Musiker, weil die verschärften Rassengesetze und die daran gekoppelte zunehmende Segregation sie in die gleichen Stadtgebiete drängten. Aus der Fusion der beiden vorherrschenden Stile entstand der New Orleans Jazz. Die Kreolen hatten schon früh begonnen, die französische Musik durch Synkopierung und Tempoveränderungen zu transformieren und mit anderen Einflüssen zu kombinieren.52 Aber erst die Zusammenführung dieser Musik mit dem Blues der Zuwanderer erschuf laut dem Musikjournalisten Joachim E. Berendt den Jazz: »Die Bewohner der Innenstadt (›Downtown‹) erlernten die meisten europäischen Instrumentationstechniken und verachteten den Stil des gesungenen Blues, der in der schwarzen Zone der Vorstädte (›Uptown‹) vorherrschte. Allerdings zwangen die um die Jahrhundertwende verabschiedeten repressiven Segregationsgesetzte die ›hellhäutigen Schwarzen‹ zu einem engen sozialen und ökonomischen Kontakt mit der schwarzen Kultur. Dieser erzwungene Zusammenschluss brachte den primitiven Jazz hervor. Die schwarze rhythmische und vokalische Tradition wurde in eine Instrumentaltechnik übersetzt, die einige formale Techniken der europäischen Tanz- und Marschmusik benutzte.«53 Jazz entwickelte damals drei Grundcharakteristika, die bis heute stilprägend geblieben sind: Erstens swingt Jazz. Die Musik umspielt den vorgegebenen Rhythmus, ohne sich streng an ihn zu halten. Zweitens entwickeln die Musiker individuelle Spielweisen, mit denen sie sich von anderen Musikern unterscheiden. Drittens ist im Jazz die Improvisation wichtig, mit der Musiker vorgegebene Melodien, Akkordfolgen und Rhythmen 51 Vgl. Jost 1991: 22, Peretti 1992: 25-26, Taylor 2000: 47. 52 Vgl. Berendt 1987: 22-25, Peretti 1992: 23, 26, Baraka 2003: 93-94. 53 Baraka 2003: 154.

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verändern und interpretieren.54 Der Musikwissenschaftler Larry Starr und der Kulturwissenschaftler Christopher Waterman benennen die Quellen: »Jazz music emerged from the confluence of New Orleans’s diverse musical traditions, including ragtime, marching bands, the rhythms used in Mardi Gras and funerary processions, French and Italian opera, Caribbean and Mexican music (referred to by early jazz musicians as ›the Latin tinge‹), Tin Pan Alley songs, and African-American song traditions, both sacred (the spirituals) and secular (the blues).«55 Die soziale Situation der Stadt hat bei Entstehung des Jazz eine wesentliche Rolle gespielt, da sie zum einen Konkurrenz unter den Musikern hervorbrachte, andererseits aber über die Musik auch die Zuwanderer in die Stadt aufnahm. Sie ermöglichte es jungen Männern – Frauen wurden aus der Jazzmusik in New Orleans systematisch ausgegrenzt – sich an die Bedingungen der Stadt anzupassen und sich zu integrieren. Der Jazzforscher Burton W. Peretti schreibt: »To a large degree, this male-oriented jazz fraternity was a mechanism for socializing young migrants to new urban ways. They adapted rural values to urban life as they entered street parades and the more organized city professions, but they also brought the blues and its social and spiritual connotations into the city, which altered urbanites’ perception of their surroundings.«56 New Orleans ist ein Exempel, wie das Zusammenspiel von Musikern und die Konkurrenz, die untereinander besteht, zur Bildung einer neuen Musik führen können. Die paternalistisch organisierten Musikgruppen, in der jeweils dem Leiter einer Musikgruppe Respekt zu zollen war, halfen sich trotz des Konkurrenzverhältnisses gegenseitig – ebenso wie die Musiker der Liverpooler Szene über ein halbes Jahrhundert später. Hinzu kam, dass es reichlich Möglichkeiten gab, Musik zu spielen. Peretti hat daher recht, wenn er behauptet, die Entwicklung des Jazz wäre ohne Urbanisierung nicht möglich gewesen, weil nur sie die nötigen ökonomischen Rahmenbedingungen und Techniken sowie das Publikum für die Musik bereitstellte.57 Wenn die räumlichen und sozialen Bedingungen 54 Vgl. Peretti 1992: 100-119. Zu den afrikanischen Elementen vgl. Floyd Jr. 2000: 7-16 und zu den europäischen Elementen: Youngren 2000: 17-28. 55 Starr/Waterman 2003: 50. 56 Peretti 1992: 36. 57 Vgl. ebd.: 2, 33-34.

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der Stadt mit dazu beigetragen haben, Jazz zu erschaffen, heißt das im Umkehrschluss auch, dass der Entstehungsort mit seinen sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen mit beachtet werden muss, um die spezifische Ästhetik der Musik verstehen zu können.

Die große Migration in den Norden und das Beispiel Chicago

Mit der rasanten Ausdehnung der industriellen Massenproduktion Anfang des 20. Jahrhunderts kam es zu nachhaltigen Veränderungen in den Städten. Die hohe Nachfrage nach Arbeitskräften, der Abbau von Arbeitsplätzen in der Baumwollproduktion im Süden der USA und die weiterhin schwierige soziale Lage für die Afroamerikaner führten zu immensen Wanderungsbewegungen in die urbanen Zentren der Industrieproduktion. Zwischen 1916 und 1930 migrierten fast eine Million Afroamerikaner aus dem Süden der USA in die nördlichen Industriestädte, vor allem nach Chicago, Detroit und New York. Bis in die 1950er wanderte der größte Teil der Jazz- und Blues-Musiker aus dem Mississippidelta in den Norden.58 Die Migration machte Memphis und Chicago zu neuen Zentren des Blues und Jazz.59 Besonders Chicago bot mit seiner afroamerikanischen Bevölkerung ein größeres Publikum für Jazz und Blues. Begünstigt durch die Ankunft der Eisenbahn und die Vollendung eines Kanals, der die großen Seen mit dem Ohio-Mississpi-Flussbecken verband, war die Stadt seit Mitte des 19. Jahrhunderts immens gewachsen. Um 1900 lebten bereits mehr als eine Millionen Menschen in der Stadt. Mit der Massenproduktion von Autos erlebte die Stadt einen weiteren Aufschwung.60 Wie schon in New Orleans war es auch in Chicago für die afroamerikanischen Migranten oft schwierig, sich in die bestehenden Verhältnisse einzugliedern. Der Kontakt mit den etablierten Stadtbewohnern war konfliktreich, nicht nur weil die Zugewanderten von den Euroamerikanern räumlich und sozial segregiert wurden, sondern auch weil die schon etablierten Afroamerikaner Vorbehalte gegen die Neuankömmlinge hatten. Nachtclubs boten den Ausgegrenzten eine der wenigen Möglichkeiten, sozialen Anschluss zu finden, sich ihrer Gemeinschaft zu versichern und so dem Problem der Fremdheit und der schwierigen 58 Nach John Chilton (1985) migrierten in der Zeit von 1917 bis 1930 sechs von sieben Jazzmusikern aus dem Süden in den Norden. Vgl. auch Rowe 1975: 34-38, Hall 1999: 576, Starr/Waterman 2003: 61. 59 Vgl. Peretti 1992: 43-45, Hall 1999: 573-574, Baraka 2003: 114, Starr/Waterman 2003: 61. 60 Vgl. Baraka 2003: 117-118, Soja 2003: 85, Starr/Waterman 2003: 86.

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sozialen Situation, in der sich die meisten von ihnen befanden, für eine Zeitspanne zu entkommen.61 Der Nachtclub wurde nach Peretti zu einer Art Gemeindezentrum: »The black clubs in Chicago perpetuated the communal aspects of southern musical culture in modern commercial settings. The core of southern music – vocal and instrumental blues – was shared by audiences and performers.«62 Die Musik war also eng in das Leben der neuen Stadtbewohner eingebunden und unterstützte die Bildung einer eigenständigen Kultur, gleichzeitig förderten die Clubs die Entwicklung des Urban Blues und Jazz. Ein weiterer wichtiger Faktor war die Existenz einer ausgeprägten Kulturlandschaft in Chicago. Schnell bildete sich ein Netzwerk aus Clubs, viele von ihnen an der South Side gelegen. Hier entstand eine rege Livemusik-Szene, die Musikern die Möglichkeit bot, sich mit anderen Musikern zu treffen.63 Außerdem verfügte die Stadt über Studios für Musikaufnahmen.64 Darüber hinaus war Chicago für viele Konzertreisen die letzte Station, was dazu führte, dass sie häufig in der Stadt blieben und die Zahl qualifizierter Musiker erhöhten.65 Insgesamt bot Chicago genau die Elemente, die nötig waren, um eine erfolgreiche, populäre Musikkultur hervorzubringen.

Jazz und Euroamerikaner

Jazz wurde bereits frühzeitig nicht nur von Afroamerikanern gespielt. Schon in den 1920er und 1930er Jahren hatten Orchester, wie das von Paul Whiteman, eine orchestrale, weniger die Offbeats betonende, ›weiche‹ Variante des Jazz entwickelt, die an den Geschmack der Mehrheit der Euroamerikaner angepasst war.66 Daraus entstand, gespielt von großen Blasorchestern, der Swing, der nach Starr und Waterman wiederum eng an die großen Städte gebunden war: 61 Vgl. Jost 1991: 43, 52-54, Peretti 1992: 58-64, Drake/Cayton 1993: 99-128. 62 Peretti 1992: 52. 63 Vgl. Berendt 1987: 29, Hall 1999: 575, 577, Pelote 2000, Carney 2003a: 248, Stump 2003: 224. 64 Zu Plattenstudios vgl. Carney 2003a: 248-249. Schon in der Frühphase des Jazz wurden nicht in New Orleans, sondern in Chicago die ersten Jazz-Aufnahmen gemacht (eingespielt von der euroamerikanischen The Original Dixieland Jazz Band vgl. Starr/ Waterman 2003: 51). 65 Vgl. Jost 1991: 44. 66 Vgl. Harrison 2000: 277-291.

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»The big bands were essentially a big-city phenomenon, a symbol of sophistication and up-to-dateness, and their occasional tour appearances in small towns generated a great deal of excitement.«67 Jazz war, selbst in seinen diversen harmonischeren und weniger synkopierten euroamerikanischen Varianten, eine neue Form der Unterhaltung, die zunehmend von den euroamerikanischen Mittelklassen konsumiert wurde. Einfluss auf die rassistische Grundeinstellung hatte das aber nur in Ausnahmefällen. Die afroamerikanische Musik wirkte nach Peretti jedoch indirekt auf die neuen Hörer: »Nevertheless, although they were rarely mentioned in the mainstream press, the black, working class, and underworld breeding grounds of authentic jazz indirectly fueled the commercial sweet jazz craze. The centrifugal forces of urban nightlife, black culture, and illegal speakeasies did act upon the appetites of middle-class whites. The whites who travelled to Harlem to visit nightclubs may have been »slumming« and avoiding significant contact with blacks, but they were also the first large white group to patronize places of amusement in black communities.«68 Euroamerikanische Musiker begannen in Chicago auch mit afroamerikanischen Musikern zusammenzuarbeiten. Sie stammten oft aus wohlhabenden Familien und waren so begeistert von der Jazz-Musik, dass sie versuchten, ihren afroamerikanischen Vorbildern direkt nachzueifern. Durch das Spielen ›verbotener‹ und ›fremder‹ Musik konnten die sogenannten Chicagoans sich von ihren Eltern und deren konservativem Normen- und Wertesystem abgrenzen. Als entscheidender Faktor erwies sich die räumliche Trennung zwischen der Innenstadt und den Vororten. Für die euroamerikanischen Musiker galten die Clubs und generell die Innenstadt als aufregend und lebendig – im Gegensatz zur Ruhe und Beschaulichkeit der sich damals entfaltenden Wohngebiete am Stadtrand. Peretti führt aus: »For good or for ill, these young men also viewed the jazz scene on the black South Side primarily as an exotic, ethnic, antisuburban attraction.«69 Durch die Musik konnten die Musiker Teil des Innenstadtlebens und der mit ihr verbunden Clubkultur werden. Die Dichotomie zwischen Innen67 Starr/Waterman 2003: 122. 68 Peretti 1992: 95. 69 Ebd.: 87.

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stadt und Vorstadt beruhte zum Teil auf realen Unterschieden. Die ethnische Segregation trennte schon damals die afroamerikanischen Innenstadtviertel streng von den gepflegten Außenstadtvierteln. Zum Teil war sie imaginär: Die Innenstadt wurde als Ort des Außeralltäglichen verklärt. Der Drang von Euroamerikanern in die Innenstadt lässt die Schlussfolgerung zu, dass bei der Musikproduktion nicht nur die sozialen und kulturellen Bedingungen eine wichtige Rolle spielen, sondern auch die räumlichen Konstellationen, in denen die Musik entsteht. Chicago war nicht nur berühmt für Jazz, sondern auch für den Blues. In den 1930er Jahren wurde aus Blues Boogie-Woogie, indem Musiker den Blues mit Jazz Elementen kombinierten. Boogie-Woogie war ein wichtiges Element des New Urban Blues, der sich in den nördlichen Industriestädten entwickelte. Er war lauter und er nutzte elektrische Gitarren und Verstärker.70

Rock ’n’ Roll in Memphis

Noch wichtiger als der Jazz sollte der Blues für die Entwicklung der Popmusik des 20. Jahrhunderts werden.71 Aus dem Blues leiten sich die wichtigsten Spielarten der populären Musik, wie Rhythm and Blues, Rock ’n’ Roll, Rock oder Soul ab.72 In den 1950er Jahren begannen Musiker wie B. B. King, Bobby Bland und Little Junior Parker den alten Delta Blues mit dem neuen Urban Blues zu verbinden, wie er in Chicago und Kansas City gespielte wurde, und entwickelten so den Rhythm and Blues, der wiederum Basis des Rock ’n’ Roll wurde.73 Dieser neue, extrem einflussreiche Stil entstand nicht im Norden der USA, sondern in Memphis, das bereits nach dem Bürgerkrieg ein Zentrum für afroamerikanische Unterhaltung gewesen war. Berühmt wurde die Stadt dann durch den Rock ’n’ Roll. Als zentraler Ort des Mississippideltas war Memphis zunächst ein Zentrum für Bluesmusik, weil viele Bluessänger zunächst dorthin gingen, bevor sie nach Chicago weiterzogen. Ähnlich wie der Jazz wurde der Blues von Ort zu Ort getragen und war nicht nur auf eine Stadt konzentriert.74 Blues ist eine funktionale Musik, die jeweils für den Augenblick erschaffen wird. Die relativ einfache Struktur der Musik lässt sich problemlos verändern und an die jeweilige Situation anpassen. Generell geht es in 70 71 72 73 74

Vgl. Hall 1999: 575. Vgl. Carney 2003a: 242. Vgl. McClary 2000: 32-38, Nelson 2002: 8. Vgl. Hall 1999: 577. Vgl. ebd.: 553-554, 560, 563-573, Keil 1991: 59.

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Blues-Texten meistens um Alltagssorgen und Schwierigkeiten, die aus der persönlichen Perspektive des Sängers oder der Sängerin vorgetragen werden. So thematisieren viele frühe Bluestexte die Probleme der Wanderschaft und die Schwierigkeiten, eine Arbeit zu finden. Mit der Ankunft des Blues in der Stadt veränderten sich die Textinhalte; sie bezogen sich von da an meist auf das Alltagsleben von Stadtbewohnern.75 Die Euroamerikaner im Süden der USA hörten in den 1950er Jahren vor allem Countrymusic, die als Musik der Weißen galt, auch wenn sie seit ihren Anfängen in den 1920ern durch Elemente aus der afroamerikanischen Musiktradition beeinflusst worden war.76 Und obwohl Euroamerikaner schon seit den 1920ern auch afroamerikanische Musik hörten, blieben die beiden Musiktraditionen getrennt. Bis die Musikindustrie in den 1950ern begann, Rhythm-and-Blues-Stücke durch euroamerikanische Gruppen nachspielen zu lassen und an das junge, weiße Publikum zu verkaufen, das zu einem immer größer werdenden Anteil in den Vorstädten aufwuchs. So bestand der später als Rock ’n’ Roll bezeichnete Stil zunächst vor allem aus Coverversionen von afroamerikanischer Musik durch euroamerikanische Musiker.77 Rock ’n’ Roll, so der Stadthistoriker Peter Hall, hätte sich in den 1950ern in jeder Stadt der USA entwickeln können, aber in keiner war es seiner Meinung nach so wahrscheinlich wie in Memphis. Die Stadt war das Zentrum der ergiebigsten Baumwollproduktionsstätten in den USA und ebenso wie New Orleans ein zentrales Ziel von Afroamerikanern auf der Suche nach Arbeit. Die wandernden Musiker brachten ihre Musik mit und spielten sie in dem am Wasser gelegenen Vergnügungsviertel.78 Gleichzeitig war die Stadt auch ein Zentrum für Countrymusic. Sänger wie Hank Williams, Jonny Cash und Tennessee Ernie Ford nutzten für ihre Country-Stücke diverse Elemente des Rhythm and Blues und kreierten so eine eigenständige euroamerikanische Form der afroamerikanischen Musikrichtung. Der Rhythm and Blues bot zum einen mit seiner Beschreibung des Alltags aus der Sicht eines Ich-Erzählers Anknüpfungspunkte an die europäisch geprägte Vorstellung, nach der das Leben jeweils aus der individuellen Perspektive einzelner Menschen zu beschreiben ist. Zum anderen waren in der Musik diverse Elemente enthalten, die aus afrikanischen Musiktraditionen stammten, zum Beispiel das Call-and-Response-Prinzip, die Verwendung der Musikinstrumente ähnlich der Stimme, die Improvisationen und die Komplexität des 75 76 77 78

Vgl. Hall 1999: 558, 563, Keil 1991: 69-76. Vgl. Hall 1999: 580. Vgl. Starr/Waterman 2003: 192-196. Vgl. ebd.: 559-560, 601-602, 605-606.

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Rhythmus sowie eine afrikanisch beeinflusste Verwendung der europäischen Harmonielehre – alles Elemente, die dazu anregten, sich zu dieser Musik zu bewegen.79 Rhythm and Blues war, nicht nur aufgrund der verschlüsselten Texte und musikalischen Anspielungen auf Sex, mit keiner Musik der Euroamerikaner zu vergleichen. Sie war tanzbar, sie war schnell, laut, einfach und kommerziell. Und genau deshalb wurde sie ein Erfolg. Euroamerikaner spielten also zunächst die Musik von Afroamerikanern nach und kombinierten sie dann mit Elementen der Countrymusic. Der Musikjournalist Robert Gordon definiert daher Rock ’n’ Roll ästhetisch abwertend als: »Rock and roll was white rednecks trying to play black music. Their country music background hampered them and they couldn’t do it. That’s why we don’t call what they made rhythm and blues.«80 Aber die Fusion der beiden Musikrichtungen gelang auch deshalb, weil sie sich ursprünglich aus den gleichen Quellen speisten und Spielarten der gleichen Musiktradition waren, wie Peter Hall anmerkt.81 Im Rock ’n’ Roll fusionierte Musik, die schon vorher aufeinander verwies und vor allem durch die ethnische Trennung der Gruppen gesondert geblieben war. In Memphis gelang diese Fusion, trotz der ethnischen Segregation der Stadt, weil sie, laut Peter Hall, das Zentrum unterschiedlicher Kulturen war: »The reasons lay in the special position of the city at the junction point of different traditions, different migration streams: the rural blacks from the cotton fields of the Delta, the rural whites from hill farms. They had interfused to a great degree, greater than many appreciated, greater perhaps than they themselves appreciated, even before coming to the city; in the city the fusion was completed. And the special reputation of the place, free and wide open, helped it all happen.«82 So brachte die Stadt die Musik hervor, ohne dass die Musiker gemeinsam musiziert hätten. Diese Fusion hat die populäre Musik im Zwanzigsten Jahrhundert entscheidend geprägt. Das war genau die Musik, auf die die Babyboomer-Generation gewartet zu haben schien, um ihr eigenes 79 Vgl. ebd.: 561-563, 581, Baraka 2003: 80-81. 80 Gordon 1995: 5. 81 »Thus, by a strange irony, country music returned the compliment to the blues, specifically now rhythm and blues, to produce a new image called rock ’n’ roll.« (Hall 1999: 581). 82 Ebd.: 602.

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Lebensgefühl auszudrücken.83 Die euroamerikanischen Jugendlichen nutzten auch diese Musik ähnlich wie dies die Vorgängergeneration mit der Jazzmusik in den 1920er und 1930er Jahren getan hatte: Der Konsum stand für die Abgrenzung von den Eltern und den von ihnen vertretenen Moralvorstellungen.84 Der Erfolg beider Musikrichtungen war auch bedingt durch die soziale und räumliche Distanz, die die afroamerikanisch geprägte Musik aus der Innenstadt zur Vorstadt oder allgemeiner zur Peripherie hatte.

Fazit: Musikproduktion zwischen Innenstadt und Vorstadt

In der Geschichte der populären Musik haben Städte immer wieder als Basis für die Entstehung neuer Stile gedient. Die Gründe dafür sind genauso trivial wie evident: Die Städte verfügen über die höchste Dichte an Infrastruktur, Produktions- und Konsumorten sowie Musikern. In ihnen konzentrieren sich die Agenturen der Musikindustrie. Städte verfügen über genügend Konsumenten, die es sich zeitlich und monetär leisten können, sich unterhalten zu lassen. Und in Musikclubs bekommen diese eine einfache Lösung angeboten, das urbane Problem der Fremdheit temporär zu überwinden. Beeinflusst zeigt sich die Musikproduktion durch die grundlegenden sozialen Bedingungen, die jeweils in Städten anzutreffen sind. Die Migration von Afroamerikanern, eine starke ethnische Segregation und die beginnende Suburbanisierung, die wiederum ermöglicht wurde durch den Bau von Verkehrswegen und die industrielle Massenproduktion von Autos, bildeten den Rahmen, in dem sich ein wichtiges Teilfeld der populären Musik entfaltete. Die Stadt prägt genauso die Produktion der Musik wie sie ihren Konsum beeinflusst. Der räumlichen Trennung zwischen Innenstadt und Vorstadt liegt die eigentümliche Spannung der populären Musik in den USA zu Grunde. Die Musik von Afroamerikanern, zunächst gespielt von und für Innenstadtbewohner, spricht die euroamerikanischen Konsumenten in den Vorstädten gerade deshalb an, weil sie sich in sozialer und räumlicher Distanz zu deren Erschaffern befinden. 83 Vgl. Chambers 1990: 152-153, Hall 1999: 584-586, Starr/Waterman 2003: 195-196. 84 Genau den gleichen Grund sehen Wicke und Keil für das Aufgreifen von afroamerikanischen Tänzen in den 1920ern durch europäische Jugendliche, die mit den neuen Tänzen einem disziplinierten und eingeengten Habitus zu entkommen versuchten (vgl. Wicke 2001: 132-133, Keil 1991: 49).

2. Shopping-Centren, Industrieruinen, iPods. Konsumkultur und Stadtentwicklung Consume! Buy More! Be Happy! Chris Korda1

Im letzten Kapitel hat sich gezeigt, dass die Bildung und Entfaltung von Musikkulturen wesentlich durch die sozialen und räumlichen Bedingungen von Städten geprägt sein können. Um die Wirkung der Stadt auf die Musikkulturen zu erfassen, sollen zunächst in den beiden folgenden Kapiteln die aktuellen Rahmenbedingungen der Städte und die daraus resultierenden Implikationen diskutiert werden, um dann im vierten Kapitel die Musikkulturen von Punk, HipHop und Techno im Zusammenspiel mit diesen Entwicklungen genauer vorzustellen. In diesem Kapitel stehen die Veränderungen der ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen der letzten dreißig Jahre im Mittelpunkt, die zu einer grundlegenden Neuorientierung der Stadtentwicklung geführt haben. Es sollen die wichtigsten Einflussgrößen skizziert und ihre räumlichen Auswirkungen erläutert werden. Im ersten Abschnitt geht es um die nachhaltigen Veränderungen der städtischen Ökonomien durch die Weltwirtschaftskrise in den 1970er Jahren und den anschließenden Abbau von Arbeitsplätzen im industriellen Produktionsbereich. Städte übernehmen in Folge die Kontrolle globaler, ökonomischer und kultureller Flüsse und werden zu Zentren der symbolischen Ökonomie, die weniger Waren als vielmehr Kultur produziert. Untersucht wird zudem, wie sich das Verhältnis von Musikproduktion, Musikstilen und globalen Flüssen bestimmen lässt. Kommt es unter dem Eindruck zunehmender Globalisierung überhaupt noch zur Entstehung eigenständiger Musikstile in bestimmten Städten, wie dies bis in die 1950er Jahre zu beobachten ist, oder handelt es dabei heute nur noch um lancierte Ortsmythen? 1

»Buy More«, 1999.

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Der zweite Abschnitt beschäftigt sich mit der Bedeutung des Konsums in den Städten. Anhand der Begriffe Konsumkultur und Stilisierung werden aktuelle Entwicklungstendenzen aufgezeigt und daran anschließend die Frage gestellt, ob Städte sich unaufhaltsam in Vergnügungsorte wandeln. Der dritte Abschnitt diskutiert die Bedeutung von technischen Medien für den Musikkonsum in Städten anhand mobiler Abspielgeräte. Mit dem Begriff auditives Territorium werden Formen der Abgrenzung zur städtischen Umwelt durch die Verwendung von Musik aufgezeigt.

Von der Produktion zum Konsum Kollektiver Konsum

Um die aktuellen Transformationen der Städte verstehen zu können, muss die ökonomische Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1970er Jahre berücksichtigt werden. Diese war von einem kontinuierlichen Anstieg der Weltwirtschaft geprägt, bedingt durch wachsende Produktionskapazitäten, ermöglicht durch die Effizienzsteigerung in der arbeitsteilig organisierten Produktion, und die Ausweitung des Konsums.2 Dies machte die Städte zu Zentren der Massenproduktion und des Massenkonsums, da in ihnen die wichtigen Produktionsstätten und Konsumorte zu finden waren.3 Diese Phase des Kapitalismus, oft als Fordismus4 bezeichnet, war von einer Gewinnsituation für einen größeren Teil der Bevölkerung geprägt, weil dieser an der wirtschaftlichen Entwicklung partizipieren konnte. Zusätzlich ermöglichte das Wirtschaftswachstum dem Staat, die ökonomische Entwicklung durch den Ausbau der Infrastruktur und die Zahlung von Sozialleistungen an Personen, die aus dem Wirtschaftskreislauf ausgeschlossen wurden, zu unterstützen. Dadurch entstand ein kooperatistisch operierender Staat, in dem wichtige Institutionen (Gesetzgeber, Kirchen, Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften) zusammenarbeiteten 2 3

4

Vgl. Harvey 1994b: 125-140. Obwohl negativ konnotiert, spricht man gewöhnlich von »Massenkonsum«, da die industrielle Produktion auf die Erzeugung hoher Stückzahlen identischer Waren abzielte, die für eine große Abnehmerschaft mit ähnlichem Nachfrageverhalten konzipiert war. In Anlehnung an die Produktionsweise in den Ford-Werken, die auf den Prinzipien zur Arbeitsteilung des Ökonomen Frederick Winslow Taylor und einer Erhöhung der Gehälter der Angestellen beruhte, damit diese auch in der Lage waren, die massenweise produzierten Güter erwerben zu können (vgl. Gottl-Ottlilienfeld 1924: 1-40, Fulcher 2007: 67-71).

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und versuchten, einen Interessenausgleich zwischen Kapital und Arbeit herzustellen, der die negativen Folgen des kapitalistischen Wirtschaftssystems minimieren sollte.5 Die Politikwissenschaftler Josef Esser und Joachim Hirsch fassen zusammen: » On this basis, a centralized corporatism was able to develop, based on social-contractual cooperation between commercial associations, trade unions, parties and state administrations, and a Keynesian state interventionism supported by it. The assurance of full employment and growth, the expansion of the welfare state and global control of the economic process of reproduction, supported by the extended apparatus of financial and fiscal state intervention, corporate negotiation structures and national economic processes, were determinate characteristics of the Fordist hegemonic structure. It guaranteed the stability of profit rates, the raising of the general standard of living and a relative balance in the economic processes of reproduction for a fairly long phase.«6 Obwohl durch diese Entwicklung die Städte von Massenproduktion und -konsum geprägt waren, blieb in der Stadtforschung der Nachkriegszeit bis in die Mitte der 1990er Jahre der Konsum als eigenständiges Thema zumeist ausgeklammert und wurde allein unter dem Aspekt des Zugangs zu Wohnraum thematisiert.7 Die einflussreichste Position, die sich in diesem Zeitraum explizit mit dem Konsum im Zusammenhang mit der Stadt beschäftigte, entwickelte der Stadtforscher Manuel Castells in den 1970ern. Er vertrat die These, dass im Spätkapitalismus die Stadt nicht als Produktionsstandort bestimmt werden könne, weil die Produktion nicht länger an einen bestimmten Ort gebunden sei. Stattdessen sieht Castells den Konsum als zentrales Definitionsmerkmal der Stadt: »Das ›Städtische‹ scheint die einfachen und erweiterten Reproduktionsprozesse der Arbeitskraft mitzubestimmen, weil es den Akzent auf ihre besonderen Realisierungsbedingungen setzt. Konkreter heißt das, in den spätkapitalistischen Gesellschaften kann man eine wachsende Vergesellschaftung der Bedingungen beobachten, die diesen Prozessen unterliegen, weil die Produktion und die hierfür notwendigen Tätigkeiten in technisch-sozialer Hinsicht erklärt werden können und weil eine Konzentration der Produktionsmittel und ihrer Verwaltung eine parallele 5 6 7

Vgl. Crook/Pakulski/Waters 1993: 79-105, Bischoff 1995: 22-25, Hein 1995: 48. Esser/Hirsch 1994: 76. Vgl. zusammenfassend Clarke/Bradford: 1998: 96-125.

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Konzentration der Konsumgüter bewirkt. In einer solchen Situation stellt das Städtische nicht nur eine Raumform dar, sondern drückt die gesellschaftliche Organisation des Reproduktionsprozesses aus.«8 Mit dieser marxistisch geprägten Definition von Stadt gelangt Castells nicht über die produktionszentrierten Erklärungsmodelle der Stadt hinaus, denn Konsum ist für ihn alleine das Nebenprodukt der warenförmigen Produktion, in der der Tauschwert wichtiger geworden ist als der Gebrauchswert einer Ware. Obwohl er zwischen einer einfachen Reproduktion unterscheidet, die durch das Wohnen und die Grundversorgung erzielt wird, und einer erweiterten Reproduktion, ermöglicht durch soziokulturelle Angebote, bestimmt er Konsumption ausschließlich als Reproduktion der Arbeitskraft.9 Die Produktionsverhältnisse determinieren in dieser Sichtweise den Konsumbereich vollständig: Der ansteigende Warenkonsum ist ausschließlich Folge der seit der industriellen Revolution wachsenden Produktionskapazitäten und des Bestrebens der herrschenden Klasse, die Produktionsmittel zur weiteren Kapitalakkumulation zu nutzten.10 Konsum (Reproduktion der Arbeitskraft) wird nach Castells entweder über Marktangebote oder kollektiv durch den Staat befriedigt.11 Der wichtigste Faktor für die städtische Entwicklung ist laut Castells die zweite, kollektive Form der Konsumption. Darunter versteht Castells »die objektiven vergesellschafteten Konsumptionsmittel, die aus bestimmten historischen Gründen im wesentlichen von der Entstehung, Verteilung und Verwaltung der staatlichen Eingriffe abhängen«12. Hervorgerufen durch den kontinuierlichen Fall der Profitrate, könne das krisenanfällige kapitalistische Wirtschaftssystem von sich aus zentrale Bereiche der einfachen Reproduktion der Arbeitskraft, vor allem im Wohnungsbereich, nicht länger gewährleisten. Der Staat müsse deshalb dauerhaft und in großem Maßstab in den Konsumbereich eingreifen, um die Dysfunktion des Kapitalismus aufzufangen. Demnach erhält der Staat, der die kollektive Konsumption organisiert, eine Schlüsselrolle in der Gewährleistung des städtischen Konsums im Speziellen und der möglichst reibungslosen Kapitalakkumulation im Allgemeinen. Laut Castells wird er »zum tatsächlichen Planer des Konsumptionsprozesses in seiner Gesamtheit«13.

8 9 10 11 12 13

Castells 1977: 244. Vgl. ebd.: 113, 264. Vgl. Miles/Paddison 1998: 816-817. Vgl. Castells 1977: 257. Ebd.: 257. Ebd.: 285.

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Zwar gelingt es Castells mit seiner Theorie das Zusammenspiel des politischen und ökonomischen Systems, die sich durch ihre jeweilige relative Autonomie gegenseitig stützen, zu erfassen und dadurch die spezielle Situation von europäischen Städten und den Einfluss des Staates auf den Ablauf des Wirtschaftsgeschehens in der Endphase der Massenproduktionen korrekt zu beschreiben.14 Castells Absicht war es aber nicht, die Stadtentwicklung zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erklären, sondern eine allgemeine Definition von Stadt zu entwickeln. Dieser Versuch scheitert, weil die spezifischen Bedingungen der europäischen und zu einem geringeren Ausmaß auch die Städte in den USA bis Mitte der 1970er weder auf alle Städte noch auf alle Zeiten übertragbar sind. Problematisch an Castells Ansatz ist auch die strikte und festgeschriebene Trennung zwischen kollektiven und privaten Gütern. Die von Castells selbst aufgezeigte relative Autonomie des Staates ist schon ein Hinweis, dass diese Trennung aus der jeweiligen Situation heraus sozial konstruiert wird und nicht einzelnen Gütern oder Dienstleistungen zugeschrieben werden kann, wie die Sozialgeografen und Stadtforscher David B. Clarke und Michael G. Bradford kritisieren: »[T]he notion of a relatively autonomous state, responding to systemic contradictions […], forcefully underpinned the idea that the distinction between privately and collectively provided goods was not the result of any inherent qualities of particular goods or services themselves, but was achieved through historically and geographically specific incidences of social contestation in an increasingly politicized city […].«15 So muss jeweils bestimmt werden, ob und wodurch es zur Trennung von privaten und kollektiven Gütern kommt. Das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Staat kann sich durch den Wandel der ökonomischen Gesamtsituation radikal verändern – und dadurch auch die Aufgaben, die der Staat in der Stadt übernimmt. Die Stadt alleine nur durch den staatlich organisierten, kollektiven Konsum zu bestimmen, greift zu kurz.

Globale und regionale Netzwerke

Seit Mitte der 1970er Jahre haben sich die Rahmenbedingungen der Stadtentwicklung nachhaltig verändert. Was Castells Analyse aufzeigte, waren schon Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, gekennzeichnet durch 14 Vgl. Clarke/Bradford 1998: 868-869. 15 Clarke/Bradford 2003: 100.

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hohe Inflation, hohe Energiepreise und eine Sättigung der Konsummärkte, Auswirkungen, die der Staat zunächst abzuwenden versuchte.16 Als dies nicht mehr möglich war, begegnete man der Krise – begünstigt durch den rasanten Aufstieg der digitalen Informationstechnologien – mit zwei Strategien:17 zum einen mit einer effizienteren, variableren und überregional organisierten Produktionsweise,18 zum anderen durch eine neoliberale Wirtschaftspolitik, die Hindernisse der Kapitalakkumulation abbaute und dadurch die Stellung des Staates im Verhältnis zur Wirtschaft veränderte.19 Die neuen ökonomischen Rahmenbedingungen haben weitreichende Konsequenzen für die Städte. Die Produktion ist in vielen Fällen nicht länger an einen Produktionsort gebunden, sondern erfolgt an diversen Orten in der ganzen Welt. Geringere Produktionskosten haben zudem zu einem Aufbau neuer Produktionsstätten in Asien und Südamerika, in letzter Zeit auch in Osteuropa, geführt.20 Besonders in den alten Industrieballungszentren Europas und Nordamerikas ist es zu einem, teilweise massiven Abbau von Arbeitsplätzen im produzierenden Sektor gekommen. Die Entwicklung hinterließ in den Städten Industrieruinen, die im Laufe der Jahre abgerissen oder zu Museen, Kulturstätten oder Arbeitsstätten für Dienstleister umfunktioniert wurden.21

16 Vgl. Klahn 2006. 17 Vgl. Harvey 1994b: 141-147, Haug 2003: 34-38. 18 Sie ist gekennzeichnet durch »just in time«-Produktion, wodurch die Herstellung von Waren erst nach einer Bestellung erfolgt, »outsourcing«, das heißt Auslagerung der Produktion an Zulieferbetriebe, um Kosten zu sparen und flexibler auf Marktveränderungen reagieren zu können, sowie »global sourcing«, das heißt die Ausnutzung aller möglichen Produktionsstandorte weltweit, in Abhängigkeit von den Produktionskosten (vgl. Hein 1995: 55-57). 19 Das Bündel an Maßnahmen, welches aber nicht in allen Industrienationen gleichermaßen umgesetzt wurde, umfasste den Abbau der Steuerlast für Besserverdienende, Vereinfachung des Einsatzes von Kapital zur Produktion und Spekulation, die Kürzung von Sozialleistungen, Public Privat Partnerships oder die Privatisierung von Staatsunternehmen (vgl. Jessop 1994, Menzel 1995: 39). Die Entwicklung zum Neoliberalismus zeigt am Beispiel von Deutschland Ptak 2005. Zur Kritik am neoliberalen Produktionsmodell siehe Röttger 2003. 20 Vgl. Castells 1998: 106-114, Barysch 2006, Giddens 2007: 40-43, 47-52. 21 Vgl. für Europa Gornig 2004, Bernhard 2007, für Deutschland Klodt/Maurer/Schimmelpfennig 1997, Goch 2002: 89-94. Für das Beispiel New York vgl. Savitch 1988: 35-41. Die Problematik zeigt sich besonders am neuen Phänomen der schrumpfenden Städte, bei der der Arbeitsplatzabbau im Produktionsbereich so weit geht, dass es zu einer Abwanderung der Bevölkerung kommt und Deurbansierungstendenzen zu beobachten sind (vgl. Oswalt 2004, Spiegel 2004).

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Dieser Abbau ist mit dem Ende des industriellen Produktionszeitalters in Nordamerika und Europa gleichgesetzt worden.22 Eine strukturelle und räumliche Umstrukturierung von Produktionsprozessen ist aber nicht gleichzusetzen mit ihrer Überwindung. Teilweise ist die Umstrukturierung von industriellen Produktionsstandorten und sogar die Bildung von neuen städtischen Industriestandorten zu beobachten.23 Trotz solcher Entwicklungen hat die industrielle Produktion besonders in den Innenstädten an Bedeutung verloren. Es kommt zu einer neuen Logik städtischer Ökonomien.

Kontrolle, Konsum und Kultur

Durch die zeitlich straffe aber räumlich zerstreute Produktionsweise, in der Produzenten versuchen, ihr Angebot zu diversifizieren und möglichst zügig an die jeweilige Marktnachfrage anzupassen, wächst der Aufwand, die Produktion zu kontrollieren und zu organisieren. Wirtschaftsaktivitäten mit komplexem Kontrollaufwand, die das zeitliche und örtliche Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure erfordern, sind weiter an Städte gebunden. In der Folge werden Städte zu den wichtigsten Schaltzentralen und Knotenpunkten weltumspannender Flüsse. Sie übernehmen die Funktion von Kontrollzentren der komplexen, räumlich verteilten Rohstoff-, Waren-, Personen- und Informationsströme.24 In ihnen konzentrieren sich die Banken und Börsen, in denen die Finanzgeschäfte und -spekulationen abgewickelt werden, die in den letzten Jahrzehnten enorm an Bedeutung in der globalen Ökonomie gewonnen haben.25 Vor allem große Städte an zentralen Positionen der ökonomischen Netzwerke profitieren der Stadtforscherin Saskia Sassen zufolge von dieser Nachfrage nach Kontrollinstitutionen: »Der Vorteil dieser Städte liegt allerdings darin, daß sich gerade wegen der geballten Wirtschaftstätigkeit Kostenersparnisse ergeben und das allgemeine Umfeld höchst innovativ ist. Manche Dienstleistungen werden von den Unternehmen im eigenen Haus erbracht, aber der Großteil wird bei spezialisierten Firmen erworben. Da die erforderlichen Dienstleistungen immer komplexer, differenzierter und spezieller werden, ist es kostengünstiger, sie bei spezialisierten Firmen in Auftrag zu geben, als dafür 22 23 24 25

Vgl. Bell 1989. Vgl. Storper 1997, Scott 1998, Soja 2003: 157-173, Krätke 2007. Vgl. Sassen 1996, 2001, Castells 1996, Short 2004: 12-15. Vgl. Meyer 1998.

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eigens Fachkräfte einzustellen. Die Entstehung eines eigenständigen Sektors für spezielle unternehmensorientierte Dienstleistungen war dabei an die wachsende Nachfrage nach solchen Dienstleistungen geknüpft.«26 Sassen nennt solche Städte global, aber diese Entwicklung ist ein allgemeines Phänomen von Städten, die alle zusammen in einem Wettbewerb um die Ansiedlung und den Erhalt von ökonomischen Aktivitäten im Bereich der Kontrolle und Informationsverarbeitung stehen. Neben der Bündelung von Kontrollfunktionen und Finanzgeschäften sind die Städte vor allem der Ort, an dem die Konsumprodukte und ihre Vermarktung entwickelt und gestaltet werden.27 Die Stadtforscherin Sharon Zukin kennzeichnet diesen Wirtschaftsbereich als symbolische Ökonomie.28 Obwohl eng mit dem Produktionsprozess in Verbindung stehend, ist er auf den Konsumbereich konzentriert, da hier die Konzepte, Bilder, Töne, Designs und Raumgestaltungen für Produkte und Konsumorte entwickelt werden. Diese kreative Ökonomie siedelt sich bis heute zumeist in den Städten an. Die enge Bindung dieser Ökonomie an die Stadt resultiert unter anderem aus ihrem organisatorischen Aufbau: Generell haben sich Produktionsprozesse von monolithischen Strukturen hin zu einer flexiblen Netzwerkstruktur entwickelt, in der diverse Aufgaben im Produktionsprozess von verschiedenen, oft aus den Unternehmen ausgegliederten, Subunternehmen durchgeführt werden. Das lässt sich gut am Beispiel der Musikindustrie zeigen.29 Bis in die 1980er Jahre wurde der Musikmarkt weitgehend durch ein Oligopol von wenigen Firmen kontrolliert, unterbrochen von Phasen, in denen kleinere, unabhängige Plattenlabels sich mit neuen Musikstilen für einige Zeit größere Marktanteile sichern konnten.30 So existierte lange Zeit eine deutliche Dichotomie zwischen den sogenannten Majors und Independents.

26 27 28 29

Sassen 1996: 90. Vgl. Zukin 1995, Krätke 2002. Vgl. Zukin 1995: 3-11, 1998a: 826. Manche sprechen auch von einer allgemeinen Unterhaltungsindustrie, weil seit den späten 1980er Jahren die Firmen nicht mehr nur Musik verkaufen, sondern die gesamte Palette an Unterhaltungsangeboten wie Filme, Zeitschriften, Bücher, Fernsehprogramme, Internetzugang oder Software und teilweise auch die Hardware zum Speichern und Abspielen ihrer Produkte bereitstellen und vertreiben. Andererseits konzentrieren sich weiterhin bestimmte Firmen speziell auf Musik, sodass es gerechtfertigt scheint, auch weiterhin von einer Musikindustrie zu sprechen (vgl. Negus 1992, Burnett 1996, Lovering 1998, Frith 2001, Théberge 2001). 30 Vgl. Gillet 1996, Coleman 2005.

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Auch heute gibt es im Musikmarkt eine deutliche Trennung von sehr wenigen großen gegenüber diversen kleinen Plattenfirmen.31 Trotzdem ist mittlerweile ein flexibles Arrangement entstanden, in dem viele kleinere Firmen und das marktbeherrschende Oligopol der großen Unterhaltungsfirmen in ständig wechselnden Konstellationen zusammenarbeiten.32 Für die Majors ergibt sich der Vorteil, dass sie sich weniger auf die Suche nach neuen Trends machen müssen. Sie überlassen dies den flexiblen und spezialisierten lokalen Netzwerken und konzentrierten sich auf das Marketing und den Verkauf der Musik.33 Kleinere Firmen, die zum Beispiel Entdeckung und Aufbau neuer Acts übernehmen, können umgekehrt von den sehr guten Vertriebsstrukturen der Majors profitieren. Trotz Flexibilisierung sind die Netzwerke weiterhin durch das Oligopol der großen Unterhaltungskonzerne gesteuert. Ihre marktbeherrschende Stellung ist nicht in Frage gestellt: Sie kontrollierten 2007 80 Prozent des Weltmarktes für Musik.34 31

Zum Beispiel haben sich beim Techno weltweit Plattenlabels gegründet. Die Produktionskosten für 12" Vinylplatten sind relativ niedrig und von vielen 12" werden nur Kleinstauflagen gepresst. So können mit relativ geringem finanziellen Aufwand viele unterschiedliche Tonträger veröffentlich werden (vgl. Straw 2001: 169-170). 32 Vgl. Lash/Urry 1994: 111-144, Hesmondhalgh 2004. Zum Beispiel Berlin vgl. Scharenberg/Bader 2005: 10, Bader 2005: 111-115. 33 Vgl. Krims 2003: 134-136, Bader 2005: 114. 34 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Major-Label. Datum des Abrufs: 12.3.07. Vgl. auch Lovering 1998: 43. Das muss aber nicht so bleiben. Der Musikmarkt verändert sich kontinuierlich und besitzt eher den Charakter eines variablen Feldes: Neue Musikstile haben zum Beispiel in der Vergangenheit schon mehrfach die Oligopole angegriffen und die Struktur der Industrie verändert (vgl. Middleton 1990: 37-38). Bisher ist populäre Musik immer durch eine Industrie produziert, vertrieben und verkauft worden. Sie nutzte parasitär lokale Entwicklungen und macht diese einem breiteren Publikum zugänglich. Durch das Internet ist der Unterhaltungsindustrie durch drei Entwicklungen Konkurrenz erwachsen. Erstens gibt es immer mehr unabhängige Net-Labels. Zweitens werden viele, auch kopiergeschützte Musikstücke bei Tauschbörsen ohne Zustimmung der Rechteinhaber heruntergeladen. Wie stark der kommerzielle Erfolg der Unterhaltungsindustrie vom Monopol der Bereitstellung der Medien von Musik und der Sicherung des Profits aus Urheberrechten abhängt, zeigt sich in den rückläufigen Umsätzen der Industrie von 1996 bis 2006. Drittens sind Internet-Gemeinschaften wie myspace.com zu wichtigen Informations-Plattformen geworden, auf denen sich Musikgruppen, unabhängig von der Industrie, präsentieren können. Diese Entwicklungen haben zwar der Unterhaltungsindustrie eine veritable Absatzkrise ihrer Produkte beschert, bisher aber nur wenig an ihrem Einfluss geändert. Auch über das Internet bekannt werdende neue Musikgruppen, wie zum Beispiel die Artic Monkeys, sind anschließend von Plattenfirmen unter Vertrag genommen worden. Seitdem sich der Verkauf von Musikstücken durch kommerzielle Anbieter auf Plattformen wie iTunes der Firma Apple durchzusetzen beginnt, eröffnen sich zudem neue Absatzmärkte, wie die leicht angestiegenen Umsätze seit 2006 zeigen.

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Ein Netzwerk könnte zu einer eher dezentralen, räumlichen Struktur führen, in der Firmen sich regional zerstreuen. Der Geograf Allen Scott zeigt für die USA, dass es stattdessen weiterhin zentrale Cluster von Plattenfirmen in Los Angeles, New York und Nashville gibt und weitere Zentren sich in Atlanta, Austin, Chicago, Miami, San Francisco und Seattle finden.35 In Deutschland konzentriert sich die Musikindustrie in Köln, Berlin und München.36 Die Vorteile dieser Konzentration liegen laut Scott im »transactionsintensive complex of interrelated activities«37 und in der Sicherheit für die Firmen, benötigte Dienstleistungen oder Produkte schnell und unproblematisch akquirieren zu können. Die Netzwerkstruktur bedingt also gerade die Bindung an die Stadt, denn nur so kann die komplexe und sich kontinuierlich verändernde Organisationsstruktur aufrechterhalten werden. Das Beispiel der örtlichen Bindung der Musikindustrie zeigt einmal mehr, dass die Städte die wichtigsten Knotenpunkte der globalen Flüsse sind. Sie kombinieren auch weiterhin institutionalisierte Formen der Überschneidung und Überlagerung von Netzwerken und bieten die beste Basis für kreative Praktiken.38 Als solche bleiben sie wichtige Standorte für die Produktion, auch wenn weniger Waren als vielmehr Symbole hergestellt werden.

Globale Flüsse und Mythen über Musikstile

Daraus, dass die Bindung der Musikindustrie an die Stadt fortbesteht, folgt nicht automatisch, dass dies auch für die Musik selbst gilt. Gegen die Bindung von Popmusik an die Städte könnte man einwenden, dass viele Musikstile sich zwar in Städten entwickeln, aber nicht unbedingt an einzelne Städte gebunden sind. Sie überschreiten stattdessen fast mühelos räumliche Distanzen. Musikstile, die an einem Ort entstehen, werden an anderen fortgeführt und abgewandelt. Ob sich in Zukunft verstärkt wieder Independents auf dem Markt behaupten werden, ob sich das Angebot kostenloser Musik ausweitet und so das gesamte Geschäftsmodell der Unterhaltungsindustrie in Frage stellt oder ob umgekehrt, durch den Verkauf von digitaler Musik, die Oligopole ihre marktbeherrschende Position behalten können, bleibt abzuwarten. 35 Vgl. Scott 2000: 119. 36 Ende 2009 finden sich die Hauptquartiere der drei marktbeherrschenden Plattenfirmen in Köln (EMI-Music), München (BMG-Sony) und in Berlin (Universal Deutschland). 37 Ebd.: 121. 38 Vgl. Amin/Thrift 2002: 26, 52, 59, 70, Lang 2003: 25.

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Technische Medien haben im Zusammenspiel mit der Musikindustrie die Bindung von Ort und Musik zunehmend gelockert.39 Mittlerweile wird populäre Musik weltweit in unübersehbaren Varianten und Variationen produziert. Die Sozialgeografen John Connell und Chris Gibson behaupten, dass es nur noch in wenigen Fällen möglich sei, von Musik zu sprechen, die aus einer bestimmten örtlichen Situation resultiere. Musik befinde sich in einem konstanten Fluss, der sie automatisch von ihren Entstehungsorten wegtrage und zu Weiterentwicklungen anderswo führe. Dass einzelne Orte mit einer bestimmten Musik in Verbindung gebracht werden, sei in vielen Fällen die Kreation eines Mythos, der zur Herstellung von Authentizität diene: » Scenes are found in a multitude of locations, with kaleidoscopic mutations of global sounds and ways of consuming sub-cultural products. Within this diversity, the collective output of some locations has ›broken through‹ into international music distribution and secured a reputation for a particular ›sound‹. In part this occurs because a few local music cultures are genuinely distinct and innovative, but specific ›sounds‹ are also bound up in wider processes through which places are mythologised: a fetishisation of localities.«40 Als Beispiel eines solchen Mythos kann der Liverpool Sound, oft auch als Mersey Beat bezeichnet, gelten. Obwohl immer wieder behauptet wurde, dass es ihn gibt, sind die Beschreibungen dieses Stils vollkommen widersprüchlich. Letztlich erscheint die Musik der Beatles aus den 1960er Jahren als einzige Konstante der Beschreibungen. Trotzdem beziehen sich Musiker aus Liverpool, nach einer Studie von Sara Cohen, bis heute regelmäßig auf ihn: »The label, ›Liverpool Sound‹ may have been used to market some of that music to an international audience, yet the label is at the same time contested and debated and used by many within Liverpool itself, to construct a sense of difference and distinctiveness, a sense of Liverpool-ness.«41 Mit einem solchen Mythos wird eine enge Verbindung zwischen der Interaktion von Musikern, dem Entstehungsort einer Musik und der Musik selbst gezogen. Aber ähnliche Musik, wie sie die Beatles spielten, gab es in

39 Vgl. Lipsitz 1999, Connell/Gibson 2003. 40 Connell/Gibson 2003: 110. 41 Cohen 1994: 133.

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den 1969ern auch anderswo in England.42 Es handelte sich dabei jedoch ebenfalls um Städte. Und Städte waren an der Etablierung des neuen Stils nicht unbeteiligt: Das große Unterhaltungsangebot Liverpools, kombiniert mit der Möglichkeit, für einige Monate in der ebenfalls unterhaltungssüchtigen Hafenstadt Hamburg auftreten zu können, verbesserte die Chancen für den Erfolg. Für die Entwicklung des Beat-Sounds war also nicht nur das reichlich vorhandene Talent der Beatles und das Geschick ihres Managers Brian Epstein verantwortlich, sondern auch die günstige Ausgangssituation in Liverpool und Hamburg.43 Seit der Einführung des Internets haben sich die Möglichkeiten der Musikproduktion ohne Bindung an spezielle Orte noch deutlich erweitert. Unter der Internetadresse www.soulseekrecords.net fand sich zum Beispiel bis 2006 eine Plattform zum Produzieren und Austauschen von elektronischer Musik. Das Netzlabel wurde im Jahre 2002 als Ableger der Tauschbörse soulseek gegründet, die auf elektronische Musik spezialisiert ist.44 Unter der Internetadresse konnten nicht nur Veröffentlichungen des Netzlabels heruntergeladen werden, sondern jeder war aufgefordert, an neuen Musikstücken, Covern oder Kommentaren mitzuarbeiten. Die Betreiber verstanden die Internetseite als Basis einer Plattform, die unentgeltlich und demokratisch Musik produziert und verteilt.45 Ein Element dieser virtuellen Gemeinde bestand in der gemeinsamen Produktion von Musikstücken der Teilnehmenden. Sie wurden von Musikern erschaffen, die ausschließlich über das Internet kommunizierten. So entstanden Musikstücke, deren Urheber sich genauso wenig direkt ›kannten‹ wie die Konsumenten, die die Musik herunterluden. Wie andere virtuelle Gemeinschaften war auch Soulseekrecords nicht an einen bestimmbaren Ort gebunden, sondern führte Personen zusammen, die sich – vorausgesetzt sie verfügten über einen Zugang zum Internet – von überall auf der Welt beteiligen konnten.46 Soulseekrecords zeigt, dass es mittlerweile qua technischer Medien möglich wird, die Produktion weitestgehend von einem Ort zu entkoppeln. Es ist nur ein Beispiel unter vielen, wie die Universalmaschine Computer die örtlichen Produktionsbedingungen von Musik wandelt. Die Digitaltechnik vollendet, was im Bereich der Musikproduktion durch die Aufnahmetechniken seit Jahrzehnten möglich ist: Musikstücke ohne die notwendige Kopräsenz von Musikern herstellen zu können. Dies heißt 42 43 44 45 46

Vgl. Gillet 1996: 267. Vgl. Clayson 1997, Du Noyer 2004: 65-92. Zu erreichen unter: www.slsknet.org. Die Erklärung war unter www.soulseekrecords.net zu finden, Abruf: 16.3.2006. Zu virtuellen Gemeinschaften vgl. Rheingold 1994, Jones 1995, Hasse/Wehner 1997, Stegbauer 2001.

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auch, dass Musiker tendenziell den Ort, wo sie Musik produzieren, frei wählen können, ohne dass dies ihre Kreativität oder die Realisation von Musik einschränken muss. Folgt man den Apologeten der Digitaltechnologie, sind virtuelle Musikproduktionen wie Soulseekrecords ein Beispiel unter vielen des Übergangs in die unbegrenzten Möglichkeiten des Cyberspace, in der die zeitlichen und räumlichen Einschränkungen der materiellen Welt überwunden werden können.47 Aber die Möglichkeiten der asynchronen ›ortlosen‹ Musikproduktion sollten nicht überbewertet werden. Gerade elektronische Musik, die am leichtesten am Computer und dadurch ortsungebunden programmiert werden kann, ist keineswegs ohne Bindung an Orte, wie sich am Beispiel von Techno in Berlin zeigen lässt. Berlin bildet seit zwanzig Jahren eines der wichtigsten Zentren für elektronische Musik.48 Seit 1989 hat sich in der Stadt ein komplexes Netzwerk der elektronischen Tanzmusik etabliert, das aus einer Vielzahl von Personen und Institutionen (Clubs, Schallplattenfirmen, Vertrieben und Schallplattenläden) besteht. Fast kein Tag vergeht, an dem nicht in irgendeinem der diversen Clubs wie Weekend, Tube, Maria am Ostbahnhof oder Berghain elektronische Musik zu hören ist. Wie bei anderen Musikkulturen spielen auch hier die Clubs die zentrale Rolle als Treffpunkte ganz unterschiedlicher Akteure, stellt der Sozialgeograf Ingo Bader fest: » So haben ökonomisch unbedeutende Akteure, wie temporäre und halblegale Clubs und Bars sowie Plattenläden, eine zentrale Bedeutung als Kommunikationsorte, an denen die lokalen kreativen Netzwerke zusammenfließen. Sie sind Treffpunkte und tragen damit zur Entwicklung und Diffusion von Musikstilen bei. In ihnen kommen die Personen zusammen, die später auch ökonomisch erfolgreich Projekte entwickeln.«49 Schallplattenlabels wie ~scape, Bpitch Control oder Shitkatapult unterstützen die lokale Szene und veröffentlichen Tracks von Musikern, die in der Stadt leben. Zusätzlich gibt es spezielle, in Berlin ansässige Medien, wie die Zeitschrift De:Bug, die über elektronische Musik in allen Spielarten berichten. Und jahrlang zog die Großveranstaltung Love Parade ein großes, überregionales Publikum an.50 Dies alles zusammen genommen bietet den Rahmen für Musiker und DJs, Musik zu produzieren und einem Publikum vorzustellen. Die Stadt 47 48 49 50

Vgl. Rötzer 1995, Mitchel 1996. Vgl. Schwanhäußer 2005. Bader 2005: 111. Mittlerweile findet die Love Parade nicht länger in Berlin, sondern in den großen Städten des Ruhrgebiets statt.

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ist so bekannt für elektronische Musik, dass sie weltweit Personen anzieht, die sich mit elektronischer Musik beschäftigen. Wichtige Vertreter des Technostils leben in Berlin oder legen regelmäßig in Berliner Clubs auf. Und das Ergebnis dieser vielfältigen Zusammenarbeit ist ein konstanter Ausstoß von Veranstaltungen und Tonträgern. Obwohl elektronische Musik überall entstehen kann, bietet die Stadt weitaus bessere Konditionen, um die Musik einem größeren Publikum zugänglich zu machen, wie umgekehrt die bestehende Nachfrage nach Techno-Musik in Berlin und die schon etablierten Institutionen für Techno-Produzenten und DJs Anreize bieten, in die Stadt zu kommen. Elektronische Musik lässt sich zwar mit einem Computer überall produzieren, andererseits bringt Berlin Produzenten und Konsumenten gleichermaßen in eine konstantere und engere Verbindung, als dies über digitale Medien bisher möglich wäre. Das Beispiel elektronischer Musik in Berlin zeigt, dass die Stadt das Zentrum der populären Musik geblieben ist. Und die Besonderheit ihrer Kultur, sozialen Zusammensetzung und räumlichen Struktur hat Einfluss auf die Musik, die daraus resultiert. Gleichzeitig ist Musik immer auf dem Sprung an einen anderen Ort, um genutzt und verändert zu werden. Der Kulturwissenschaftler George Lipsitz weist zu Recht darauf hin, dass die Vermischung von Ortsbindung und globalen Flüssen zu einem ambivalenten Verhältnis von populärer Musik und Orten führt: »Denn Popmusik hat ein höchst eigenartiges Verhältnis zur Poesie wie zur Politik des Ortsspezifischen, der Lokalität. Aufgezeichnete Musik überbrückt physische und zeitliche Barrieren ohne Probleme, sie verändert unseren Begriff des Lokalen und des Unmittelbaren und macht den vertrauten Kontakt zu weit entfernten Kulturen möglich. Aber gerade weil aufgezeichnete Musik so beweglich ist, erhöht sie auch unsere Wertschöpfung des Lokalen. Kommerzielle Popmusik verdeutlicht und dramatisiert die Unterschiede zwischen den Orten, indem sie uns darauf hinweist, wie unterschiedlich die Musik ist, die unterschiedliche Menschen an unterschiedlichen Orten und auf unterschiedliche Art und Weise erschaffen.«51 Musik unterscheidet sich, weil sie jeweils durch den Ort ihrer Entstehung beeinflusst wird. Die Bindung an Orte resultiert zwar auch aus den von Connell und Gibson beschriebenen Ortsmythen, die bestimmte Musik in Verbindung mit Entstehungsorten bringen, selbst wenn diese ihren Entstehungsort schon lange verlassen haben. Entscheidend ist, dass dies gelingt, weil diese Mythen in vielen Fällen nicht vollkommen erfunden sind. Sie rekurrieren, wenn auch in einer vereinfachenden Weise, auf das 51

Lipsitz 1999: 41.

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Zusammenspiel von Institutionen und Personen, die zu bestimmten Zeitpunkten an bestimmten Orten aufeinander getroffen sind, um Musik zu erschaffen.52 Mythen, Ortsbedingungen und Musikproduktion verweisen aufeinander und bilden die Basis zur Entstehung neuer Musikrichtungen.

Konsum und Stilisierung

Insgesamt führt die Konzentration auf Kontrolle, Gestaltung und Vermarktung von Produkten und Produktströmen dazu, dass die Ökonomie in den Städten weniger auf die direkte Produktion von Waren abzielt, als auf die Produktion von Kultur.53 Die Produktion von Kultur wiederum ist an die wachsende Bedeutung des Konsums gebunden. Konsum ist keine exklusive Eigenschaft zeitgenössischer Gesellschaften. Menschen müssen grundsätzlich Güter (zum Beispiel Luft, Wasser, Nahrung, Kleidung) konsumieren, um überleben zu können, und auch alle weiteren Handlungen von Menschen sind an die Nutzung, Verwendung und den Verbrauch von Gütern gekoppelt. Konsum ist aus dieser Perspektive allgemein zu bestimmen als (partieller) Verbrauch von etwas durch Menschen, durch den etwas für diese Menschen erschaffen oder erhalten wird.54 Alle Gesellschaften wären demnach zu allen Zeiten und an allen Orten immer auch Konsumgesellschaften gewesen, da ohne Konsum eine Reproduktion der Gesellschaft nicht möglich wäre.55 Andererseits muss berücksichtigt werden, dass Konsum jeweils in unterschiedlichen kulturellen Kontexten vonstatten geht und die Durchführung, Bedeutung und der Stellenwert des Konsums variieren kann.

Postindustrielle Konsumkultur

Konsum heißt heute in den allermeisten Fällen Erwerb von Produkten oder Dienstleistungen. Der warenförmige Konsum ist mittlerweile allgegenwärtig, weil von der Grundversorgung bis zu Luxusgütern, so der Soziologe Tim Edwards, ein unüberschaubares Angebot an käuflich Erwerbbarem bereit steht: 52 Dem wird auch von Connell/Gibson 2003: 14 nicht widersprochen. 53 Vgl. Clammer 2003: 92, Jayne 2006: 58. 54 Lury 1996: 1 und Clarke/Doel/Housiaux 2003: 1 weisen darauf hin, dass Konsum nicht nur Verbrauchen, sondern auch Erschaffen beinhaltet. 55 Vgl. Douglas/Isherwood 1979.

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»[C]onsumption, in all its forms, is increasingly important and expanding in its capacity to dominate our individual lives, and indeed the entire development and direction of contemporary society, nationally and internationally. Few areas of everyday life are now not affected or linked to the processes of practices of consumption – from image-making and advertising, or the simple organization of activities and leisure time, to the formation of worldwide economic policies – as societies, rich and poor alike, are caught up in processes of buying and selling.«56 Mit dem Soziologen Don Slater kann von der vollständigen Durchsetzung einer Konsumkultur gesprochen werden, die auf das engste mit dem Alltag verknüpft ist und in der Kultur mit Konsum gleichzusetzen ist: »Thus in talking of modern society as a consumer culture, people are not referring simply to a particular pattern of needs and objects – a particular consumption culture – but to a culture of consumption. To talk this way is to regard the dominant values of a society not only to be organized through consumption practices but also in some sense to derive from them. Thus we might describe contemporary society as materialistic, as a pecuniary culture based on money, as concerned with ›having‹ to the exclusion of ›being‹, as commodified, as hedonistic, narcissistic or, more positively, as a society of choice and consumer sovereignty.«57 Mittlerweile zählen neben dem Gebrauchswert einer Ware genauso ihre ästhetische Gestaltung, Verpackung und ihre stilisierte und ästhetisierte Nutzung. Nach der Soziologin Celia Lury kann diese Entwicklung durch den Begriff der Stilisierung (»Stylization«) beschrieben werden.58 Die Sozialpsychologin Ariane Stihler macht darauf aufmerksam, dass nicht nur das Design von Produkten immer wichtiger wird, sondern stilisierte Produkte von Konsumenten auch eingesetzt werden, um sich auszudrücken und darzustellen: »Der moderne Mensch konsumiert im Grunde nicht Güter, die seine Bedürfnisse befriedigen, sondern er konsumiert die von Gütern transportierten Symbole für Befriedigung und Erleben. Des Menschen Beziehungen zu anderen und zu sich selbst werden durch diese Symbole vermittelt.

56 Edwards 2000: 5. 57 Slater 1997: 24-25. 58 Vgl. Lury 1996: 77-78. Vgl. auch Lee 1993.

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Sie sind es, die ihm Ansehen einbringen, ihm Zuwendung verschaffen und zu erregenden Erlebnissen beitragen.«59 Eine Konsumkultur besteht danach nicht nur aus dem einfachen Akt des Erwerbs und des Verbrauchs einer Ware, sondern auch aus ihrer spezifischen Verwendung und der Verbindung mit Bedeutungen und Nutzungsformen. Selbst wenn sich der Wert von Waren verstärkt nach ihrer stilistischen Einbindung in Lebensweisen bestimmt, die gerade nicht mehr ohne weiteres einem industriellen Massenkonsum folgen, bleiben industriell produzierte Waren die Basis der Konsumkultur. Aus diesem Grund ist es gerechtfertigt, von einer postindustriellen Konsumkultur zu sprechen. Mit dieser Begriffsbestimmung wird an die einflussreiche Definition des Soziologen Daniel Bell angeschlossen, der postindustrielle Gesellschaften als Dienstleistungsgesellschaften bestimmt, in denen die Gruppe der Wissen verarbeitenden Berufe an sozialem Einfluss gewinnt.60 Zwar ist die von Bell in den 1970er Jahren prophezeite Technokratie nicht eingetreten, da sich bis heute die soziale Position nicht alleine über die Verfügung von Informationskapital bestimmt, aber zumindest für die Stadt lässt sich eine größer werdende Bedeutung der Information- und Symbolökonomie und des Konsumbereichs nicht leugnen.61

Stilisierte Konsumstadt

Die Folge der Konsumkultur für die Stadtbewohner ist, dass sie immer weniger durch Tradition oder soziale Bindungen in die Stadt integriert sind, sondern über ihre Konsumaktivitäten an den immer größere Relevanz erhaltenden privaten und öffentlichen Konsumorten.62 Die Präsentation und Nutzung von Konsumgütern ist zum wichtigsten konstitutiven Faktor der urbanen Kultur geworden. Mit den Worten der Kulturwissenschaftler Steven Miles und Malcolm Miles: »The city legitimises consumerism as a way of life.«63 Nicht zuletzt erfolgt diese Bindung, weil es in den Städten immer mehr Orte gibt, an denen es immer schwieriger wird, keine Waren zu konsumieren. Genau diesen Bereich, der nicht primär durch Transferleistungen des Staates, sondern durch die Verteilung von monetären Mitteln im Rahmen des kapitalistischen Akkumulationsprozesses entsteht, hat Castells 59 60 61 62 63

Stihler 2000: 183. Vgl. Bell 1989. Vgl. Liebowitz 1985, Webster 1995: 46-49, Zukin 1995. Vgl. Zukin 1998a: 825, Edwards 2000: 183, Bögenhold 2000, Clarke 2003: 9-25. Miles/Miles 2004: 13.

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in seiner Untersuchung zum Konsum in den 1970er Jahren systematisch gegenüber dem staatlich organisierten Konsum für die Stadtentwicklung unterschätzt. Heute zeigt sich, dass der private Konsum von Waren und Dienstleistungen der wichtigere Faktor für die Stadtentwicklung ist.64 Der Bedeutungsanstieg des Konsums schafft in den Städten keine völlig neue Situation, denn die Ausbildung einer Konsumkultur ist seit einem knappen Jahrhundert zu beobachten. Deren Durchsetzung hat sich aber seit dem Zweiten Weltkrieg beschleunigt und ist durch den Abbau der Produktionsstätten seit den 1970er Jahren besonders in den Städten noch wichtiger geworden. Mit der Industrialisierung wurden die Innenstädte zu den wichtigsten Präsentations- und Verkaufsorten der industriell produzierten Waren. Mit dem Anstieg des Warenangebots und der Warenmenge wandelte sich ihre Darbietung. Die Läden wurden von einfachen Einkaufsstätten zu Orten, an denen die Waren durch Verpackungen und die Gestaltung der Geschäfte den zumeist weiblichen Kundinnen möglichst attraktiv dargeboten wurden. Das Betrachten des Angebots und der Dekoration wurde zu einem elementaren Bestandteilen des Einkaufsaktes.65 Mit den Arkaden (ab 1820), dem Kaufhaus (ab 1850) und dem Einkaufszentrum (ab 1920) setzten sich architektonische Lösungen in den Städten durch, die ganze Gebäudekomplexe ausschließlich für den Erwerb von Waren vereinnahmen und diesen Erwerb mit einer speziellen Dekoration und Präsentation der Waren verbinden.66 Der Sozialgeograf Mark Paterson weist darauf hin, dass die Stilisierung in der Konsumkultur folglich nicht nur die Verpackung oder das Design der Produkte betrifft, sondern auch ihre Präsentation in Geschäften: » Characteristic sites of everyday aesthetics often involve consumption in some form, such as theme parks, shopping malls, city streetscapes with their advertising hoardings and neon signs, and tourist attractions, as well as mass media images, especially on television or in videogames. The aesthetics of the everyday are objects, events, places, and experiences that for most of us, whether adults, children, kidults or adolescents, help to shape our everyday life.«67

64 Vgl. Wynne/O’Conner 1998: 843, Miles/Miles 2004. 65 Vgl. Nava 1997: 65 zur Veränderungen des Angebots, Warenpräsentation und Kaufverhalten durch die Einführung des Kaufhauses. 66 Vgl. Paterson 2006: 174-177. 67 Ebd.: 226.

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Die Gestaltung von Konsumflächen hat seit den 1980er Jahren noch zugenommen, um den Akt des Kaufens selbst zu einem möglichst angenehmen und ›aufregenden‹ Erlebnis zu machen.68 Der Soziologe Lauren Langman beschreibt die Gestaltung von Einkaufszentren in den USA: »The design and layout of malls attempt to create a utopia of consumption situated between a mythical past of the pre-automobile Main Street of Smalltown where one walked from store to store, and the future nighttech world of neon, holograms, lasers and space travel as malls come to resemble the space station of 2001, the Starship Enterprise or high-tech future cities. They create nostalgic memories of neighbourhood and lost community, or at least Christmas-card images of a past abundant with goods and social cohesion.«69 Hinzu kommen neue urban entertainment destinations, in denen stilisierte Einzelhandelsgeschäfte, Themenrestaurants, High-Tech-Unterhaltungszentren oder Kino-Großkomplexe miteinander verbunden werden, um Unterhaltung und Einkaufen zu fusionieren und, so der Stadtforscher Frank Roost, eine »neuartig inszenierte Form städtischen Abwechslungsreichtums«70 zu suggerieren.71 In Deutschland sind zu diesen neuen Angeboten auch die diversen Umbauten von Hauptbahnhöfen und die von Volkswagen (Autostadt) und den Bayrischen Motor Werken (BMW Welt) errichteten Gebäude zu rechnen, in denen die Käufer ihr neues Auto abholen können und gleichzeitig Unterhaltung sowie Informationen rund ums Auto angeboten bekommen. Eine weitere Zunahme der Stilisierung resultiert aus der zunehmenden Gestaltung und Stilisierung der Städte selbst, die von vielen Stadtentwicklungsstrategien betrieben wird.72 Zukin fasst die Entwicklung zusammen: » Strategies of urban redevelopment based on consumption focus on visual attractions that make people spend money. They include an array of consumption spaces from restaurants and tourist zones to museums of art and other cultural fields, gambling casinos, sports stadia and specialised stores.«73

68 69 70 71 72 73

Vgl. Jayne 2006: 27, 77. Langman 1992: 49. Roost 2000: 14. Vgl. ebd.: 22. Vgl. Featherstone 1991: 65-82, Dröge/Müller 1999, Wynne/O’Conner 2003: 57. Zukin 1998a: 832.

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Attraktive Orte wie Innenstädte und besonders traditionelle, pittoreske Orte oder Gebäude werden ästhetisiert, gegebenenfalls restauriert und zu visuellen Konsumorten umfunktioniert.74 Eine spielerische und spektakuläre Architektur trifft auf restaurierte, repräsentative Altbauten, flankiert durch Festivals und Events, die die Attraktivität für Touristen und Besucher steigern sollen.75 Erschaffen werden möglichst ›sichere‹ (das heißt überwachte) und konsumkräftigen Käuferschichten zugängliche Orte.76 Diese Ästhetisierung und Eventisierung hat auch vor Musikclubs nicht halt gemacht. Lange Zeit galten populäre Musikclubs als Orte abweichenden Verhaltens, politischen Protests und der Avantgarde. Der Geograf Paul Chatterton und der Soziologe Robert Hollands zeigen für die USA und Großbritannien, dass mittlerweile international operierende Konzerne einen großen Teil des Angebots an Clubs kontrollieren und eine standardisierte, oft an Themen orientierte Unterhaltung in ästhetisierten Erlebniswelten anbieten: »[U]rban nightlife is increasingly characterised by dominant regimes of: mainstream production, through the corporatisation of ownership via processes of branding and theming […]; regulation, through practices which increasingly aid capital accumulation and urban image-building […] yet increase surveillance […]; and consumption, through new forms of segmented nightlife activity driven by processes of gentrification an the adoption of ›upmarket‹ lifestyle identities among groups of young adults. […] In this sense, although many city centres have achieved a ›cool‹ status through branded and upgraded nightlife, they are also increasingly becoming more exclusive, segmented and conflictual arenas […].«77 Solche Angebote setzen sich auch durch, weil viele der Besucher in den Clubs vor allem Unterhaltung und Entspannung suchen und nicht avantgardistische Experimente.78 74 Die Beispiele reichen vom Umbau von Stadtgebieten, die am Wasser liegen (zum Beispiel South Seaport in New York, Londons Tobacco Wharf, Barcelonas Hafengebiet oder die Hafen City in Hamburg), über neue Konsum- und Büroviertel (zum Beispiel Potsdamer Platz in Berlin), und Vergnügungsviertel (Times Square in New York) bis zur Schaffung neuer Einkaufsmeilen, die um alte, traditionelle Gebäude herum errichtet werden (vgl. Zukin 1995: 19, 49-55, Bryman 2004: 35-38, Jayne 2006: 58). 75 Vgl. Häußermann/Siebel 1993, Stratmann 1999: 170-173. Zur Stadt als touristischer Ort vgl. Urry 2002, Selby 2004. 76 Vgl. Wehrheim 2002. 77 Chatterton/Hollands 2003: 7. 78 Vg. Hannigan 1998, Chatterton/Hollands 2003: 61-62, Miles 2003: 149-156, Wynne/ O’Conner 2003: 55-69.

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Die ästhetisierten Angebote der Clubs passen gut in das Konzept einer Stadterneuerung, denn sie schaffen Arbeitsplätze in der lokalen Kulturproduktion und lassen die Stadt als einen Ort des intensiven, gleichzeitig aber kontrollierten und sicheren Nachtlebens erscheinen, was für ein positives Image der Stadt genutzt werden kann.79 So ist die Clubszene in Berlin ein wichtiger Faktor für Tourismus und Marketing, der sie als attraktives Reiseziel am Wochenende erscheinen lässt.80 Ähnlich hat die Clubszene in Manchester, in deren Mittelpunkt für längere Zeit der Hacienda-Club stand, partiell zu einer Revitalisierung des Innenstadtviertels der Stadt beigetragen, welches zu einem Unterhaltungsviertel umgestaltet wurde.81

Konsumkultur und symbolische Ökonomie

Die Umgestaltung der Stadt und ihrer Konsumorte zielt nicht alleine auf Touristen, sondern auch auf die neuen ökonomischen Eliten und Kulturschaffenden der symbolischen Ökonomie, um ein Umfeld anzubieten, in dem man sich treffen und austauschen kann. Die Standortqualität einzelner Städte bemisst sich nicht länger nur durch die ansässigen Firmen und das Verfügen über einen Pool an qualifizierten Arbeitskräften, sondern auch an der Quantität und Qualität von Konsumflächen und Kulturangeboten.82 Die lokale Politik versucht entsprechend durch ein attraktives Konsumangebot Firmen an sich zu binden; eine besonders kreative Stadt mit Künstlern und Kulturschaffenden gilt als Erfolgsrezept zur Entfaltung der lokalen Ökonomie.83 An der Zunahme der Bedeutung des Konsums in den Städten wirken die Mitarbeiter der symbolischen Ökonomie, die selbst an der Gestaltung von Konsumprodukten und Medieninhalten beteiligt sind, kräftig mit. Zukin geht so weit, dieser Gruppe aus Künstlern, Designern, Textern etc. den größten Einfluss seit den 1980ern auf die innenstädtische Konsumkultur zuzusprechen, weil sie es seien, die den typischen, neuen »urbanen Lebensstil« hätten, auf den die stilisierte Konsumwelt der Stadt abzielt.84 Ihre Lebensweise, das Angebot an Konsumprodukten und die Bildung von ästhetisierten Konsumorten verstärken sich gegenseitig, wie Zukin feststellt:

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Vgl. zum Beispiel für Sheffield ab Ende der 1980er: Milestone 1996: 109-111. Vgl. Richard/Krüger 1998, Klein 2001. Vgl. Milestone 1996, Haslam 2000. Vgl. Zukin 1995: 12-13. Vgl. Zukin 1998b: 27-31, Landry 2000. Vgl. Zukin 1995: 8, 23-24, 1998a: 835.

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»The symbolic economy is based on the interrelated production of such cultural symbols as these and the spaces in which they are created and consumed – including offices, housing, restaurants, museums and even the streets. […] Thus urban lifestyles are not only the result, but also the raw materials, of the symbolic economy’s growth.«85

Die Stadt als Vergnügungspark?

Die Umgestaltung des Stadtraums, die höhere Relevanz der symbolischen Ökonomie und der Zugriff auf globale Konsumwaren prägt in nicht unerheblicher Weise die Konsumkultur. In Stadtgebieten wie Soho in London, Marais und Bastille in Paris, Schanzenviertel in Hamburg oder Prenzlauer Berg in Berlin kommt es zur Vermischung eines lokalen Ambientes mit den globalen Flüssen von Waren (zum Beispiel Essen, Kleidung) und Touristen, die diese Orte besuchen. Der Kulturwissenschaftler Frank Mort spricht in diesem Zusammenhang passend von einer Café-Bar-Gesellschaft: »A hybrid version of Franco-Italianate café-bar society – serving the ubiquitous cappuccino and espresso – is now available in almost every metropolitan quarter in the world with claims to fashionability, while internationally promoted clothes and hair-styles cultivate the bodies of those consumers who inhabit such city spaces.«86 Nicht nur der Besuch des Cafés, sondern alle Aktivitäten in der Stadt außerhalb der Arbeit wandeln sich nach Zukin zur Dauerunterhaltung: »[U]rban commercial culture became ›entertainment‹ aimed at attracting a mobile public of cultural consumers«.87 Die Kulturwissenschaftlerin Regina Bittner vergleicht entsprechend die heutige Stadt mit einem Vergnügungspark.88 In Anschluss an Frank Roost und den Sozialwissenschaftler Alan Bryman könnte auch von einer Disneyfizierung (Disneyization) der Stadt gesprochen werden.89 Bryman bestimmt vier Strategien, die in den Vergnügungsparks der Disney Cooperation angewandt werden. Zwei von ihnen sind in besonderer Weise für die Stadtgestaltung relevant.90 85 86 87 88 89 90

Zukin 1998a: 826. Mort 1998: 898. Zukin 1995: 19. Vgl. Bittner 2001: 16. Vgl. Roost 2000, Bryman 2004. Vgl. Bryman 2004: 1-5. Die zwei weiteren Strategien sind das umfassende Merchandising, das viele Städte durchführen, indem sie die Stadt bewerben und Produkte

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Die Parks sind um Themen herum gruppiert, die das Eintauchen in eine eigenständige, idealisierte und möglichst perfekt organisierte Welt erlauben. Genau das gleiche Ziel wendet man mittlerweile zum Beispiel in Restaurants, Einkaufszentren und sogar ganzen Stadtvierteln an.91 Eine solche spielerische Stadtgestaltung wird besonders offensichtlich am Beispiel Las Vegas, findet sich jedoch in abgeschwächter Form in vielen Städten. Dies ist nicht zuletzt eine Folge der bereits erwähnten Stadtentwicklungsstrategien zur Stilisierung der Städte, die darauf abzielen, pittoreske Orte zu erschaffen.92 So müssen Städte oder Stadtviertel nicht unbedingt wie ein Disney-Park aussehen, wichtiger ist, dass bei der Stadtgestaltung eine ähnliche Strategie zur Anwendung kommt, sodass die Besucher sich wie in einem Vergnügungspark fühlen können, der zum Eintauchen und Einkaufen einlädt.93 Entsprechend vermischen sich – zweitens – in den Parks Unterhaltung und Kaufangebote auf eine Weise, die die Unterscheidung zwischen beiden immer schwieriger macht. Genau darauf zielen auch Einkaufszentren und Geschäfte ab, die um Themen herum gestaltet sind.94 Einen möglichst flüssigen Übergang zwischen Konsumorten in der Stadt zu erzielen oder Einkaufsstraßen oder Passagen zu Attraktionen zu machen, ist eine Form des hybriden Konsums, die den Besuch von Städten und den Besuch von Konsumorten fusioniert und eine Unterscheidung zwischen beiden immer weniger möglich macht. Eine Stadt zu besuchen wird so in den meisten Fällen gleichbedeutend mit dem Konsum von Waren und Dienstleistungen. Der Vergleich mit einem Disney-Vergnügungspark gibt bei einer an Einfluss gewinnenden stilisierten und stilisierenden Konsumkultur viele wichtige Hinweise für die Stadtentwicklung. Er sollte jedoch nicht überstrapaziert werden. Nicht alle Bereiche der Städte sind Vergnügungsorte und nicht alle sind in der Logik von Disneys Themenparks aufgebaut.

91 92 93

94

mit Motiven aus der Stadt verkaufen (vgl. Jayne 2006: 166-173), und die Schulung der Mitarbeiter zu Freundlichkeit und Service (vgl. Roost 2000: 91). Eine Strategie, die von Verkaufsketten, Hotels, Restaurants und öffentlichen Institutionen in der ganzen Welt angewandt wird. So auch auf thematisch organisierte Wohnviertel, wie das von Disney entwickelte Stadtviertel Celebration (vgl. Roost 2000: 78-91, Bryman 2004: 48-49). Vgl. Zukin 1995: 49-78, Zukin 1998a: 834. Das bekannteste Beispiel dieser Stadtgestaltung ist die vom Disney-Konzern federführend organisierte Umstrukturierung des Times Square in New York City, bei der ein familienfreundliches und auf Unterhaltung abzielendes Umfeld geschaffen wurde, inklusive eines Architekturkonzepts, das die typische Bebauung des Viertels noch verstärken und an frühere Zeiten als Unterhaltungsviertel anknüpfen soll. Gleichzeitig wurde das Rotlichtmilieu aus dem Viertel entfernt (vgl. Roost 2000: 51-64). Vgl. Bryman 2004: 61-75.

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Besonders die Innenstädte, Einkaufszentren und Unterhaltungsangebote orientieren sich an der Disney-Logik, dagegen folgen ihr zum Beispiel Wohnorte bisher nur in Ausnahmefällen. Die Prägung der Stadt durch Unterhaltungsangebote bleibt trotzdem eine der wichtigsten Entwicklungstendenzen in Städten, in denen die Konsumkultur dominiert. Aber auch Unterhaltungsorte wie Musikclubs sind oft nicht normiert und aufgehübscht oder mit Standardmusikprogramm ausgestattet.95

Konsum und Suburbanisierung

Bisher war nur die Rede von der Bedeutung und Veränderung der Innenstadt für eine Konsumkultur. Diese Darstellung von Stadt ist in einem entscheidenden Punkt unvollständig: Eine der wichtigsten Veränderungen, die ein gängiges Merkmal industrialisierter und durch Verkehrswege erweiterter und vernetzter Agglomerationsräume ist und in enger Verbindung mit der Konsumkultur steht, ist die Suburbanisierung. Suburbanisierung meint die Verlagerung von Wohnraum, Versorgungseinrichtungen und Arbeitsstädten an die Ränder einer Stadt.96 Suburbanisierung ist keineswegs nur auf den Konsumbereich beschränkt, sondern betrifft auch neue Produktionsstätten, sodass zum Teil auch wegen der Arbeitsplätze Wohnorte außerhalb der Innenstädte gesucht werden.97 Trotzdem war und ist es der Wunsch nach ruhigem, ›natürlichem‹, sicherem und wenn möglich großzügigem Wohnraum, das heißt nach Raum für privaten Konsum, die Hauptursache für Suburbanisierung und der immer weitergehenden Expansion des Stadtraums.98 Die Vorstädte gelten bis heute als Ort, an dem die Möglichkeit besteht, 95 Vgl. Chatterton/Hollands 2003: 202-231. 96 Suburbanisierung ist kein neues Phänomen. In den USA und Großbritannien kam es schon ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu ersten Wanderungsbewegungen der wohlhabenden Bevölkerung an den Stadtrand. Zur Geschichte vgl. Bruegmann 2006: 21-95 und speziell in den USA: Fishman 1995, Hayden 2004, Lenger 2006. Für die Entwicklung in Deutschland siehe: Sieverts 1997, Aring 1999. 97 Vgl. Fishman 1995: 396-397, Bruegmann 2006: 70-73. Soja (2003: 242) argumentiert: »Deindustrialization has emptied out many of the largest urban-industrial zones and nucleations of Fordism, while postfordist reindustrialization has concentrated hightechnology industries in new industrial spaces far form the old downtowns.« 98 Vgl. Bruegmann 2006. Zu beachten ist, dass Suburbanisierung auch einen Prozess initiiert, der sich hypostasieren kann, indem die Erweiterung des Raums selbst zu einer Wanderungsbewegung beiträgt, weil die Erweiterung des Konsumraums zwangsläufig zu seiner Verstädterung beiträgt und dadurch das Bedürfnis nach Wohnraum außerhalb dieses Gebiets entsteht, welches wiederum nur durch eine weitere Suburbanisierung befriedigt werden kann.

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nachbarschaftliche Kontakte aufzubauen und in einem sicheren Umfeld zu leben. Dem stehen Anonymität, Fluidität und die unerwünschten Sozialkontakte in der Stadt gegenüber.99 Suburbanisierung wäre nicht möglich gewesen ohne die Massenproduktion von Fahrzeugen und Wohnhäusern, doch die daraus resultierende, räumlich zerstreute Stadtstruktur ist vor allem Manifestation einer sich räumlich ausbreitenden Konsumkultur.100 Schon in den 1970er Jahren, zu einem Zeitpunkt, als in den USA zum ersten Mal mehr Menschen in suburbanisierten Gebieten als in den Innenstädten wohnten, hat der marxistische Soziologe Henri Lefebvre darauf aufmerksam gemacht, dass die Stadt beginne ubiquitär zu werden: »Das Stadtgewebe beginnt zu wuchern, dehnt sich aus und verschlingt die Überbleibsel des ländlichen Daseins: Mit »Stadtgewebe« ist nicht nur, im strengen Sinn, das bebaute Gelände der Stadt gemeint, vielmehr verstehen wir darunter die Gesamtheit der Erscheinungen, welche die Dominanz der Stadt über das Land manifestieren. So verstanden sind ein zweiter Wohnsitz, eine Autobahn, ein Supermarkt auf dem Land Teil des Stadtgewebes.«101 Wird von einigen die These vertreten, dass sich diese Megalopolen von einer monozentrischen zu einer polyzentrischen Raumlogik hin entwickeln, bei der mehrere zentrale Orte die Struktur eines Siedlungsraums bestimmen, sehen andere die vollkommen randlosen und zerstreuten Städte als alleinige Zukunft ehemals zentralistischer Siedlungsräume. In den USA ist die Suburbanisierung spätestens seit den 1990er Jahren so weit fortgeschritten, dass der Stadtforscher Edward W. Soja von der Entstehung einer Postmetropolis spricht.102 Der Stadtforscher Robert E. Lang nennt diese Stadt »grenzenlos«: »Edgeless cities are not mixed-use, pedestrian-friendly areas, nor are they easily accessed by public transit. They are not even easy to locate, because they are scattered in a way that is almost impossible to chart. Edgeless 99 Dies gilt auch dann, wenn der nicht intendierte Effekt größerer Wanderungsbewegungen und die Erhöhung der Bautätigkeit ist, dass die Vorstadt nicht weniger anonym, unübersichtlich oder laut ist als die Innenstadt. 100 Dem widerspricht auch nicht, dass suburbanisierte Viertel in Europa oft nicht aus Einzelhäusern, sondern aus teilweise sehr großen Mehrfamilienhäusern bestehen, denn auch hier war zunächst beabsichtigt, den Bewohnern ein komfortables und in der Nähe der Natur angesiedeltes Leben zu ermöglichen. 101 Lefebvre 1972a: 9-10. 102 Vgl. Soja 2003: 238-242.

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cities spread almost imperceptibly throughout metropolitan areas, filling out central cities, occupying much of the space between more concentrated suburban business districts, and ringing the metropolitan area’s built-up periphery.«103 Wenn sich aber die Stadt überall hin ausbreitet, dann wird es schwieriger zu unterscheiden, ob man sich an einem bestimmten Ort in der Stadt oder außerhalb der Stadt befindet.104 Für den postmodernen Philosophen JeanFrançois Lyotard bedeutet dies, dass man die Stadt nicht länger verlassen könne, weil es kein Außerhalb der Stadt mehr gebe.105 Und der Architekt Martin Pawley sieht die neue räumliche Struktur einer wuchernden Stadt als Ergebnis der neuen Medien und extensiver Landnutzung, durch die sich ein gigantischer Flickenteppich aus unvermittelt nebeneinander stehenden Gebäuden und Verkehrswegen bildet: » Sie sind ein Ausdruck der abstrakten, digitalen Kommunikationskanäle zwischen den EU-Ländern und darüber hinaus, eines nahtlosen Netzes von Absatzmärkten für Konsumgüter, das von Häfen und Flughäfen, automatischen Tiefkühlhäusern, hermetisch abgeriegelten Warenlagern, riesigen Lastwagenparks und provisorischen Wohnwagenschlafstädten gebildet wird. Das ist die Architektur der neuen Medien: die Urbanität des nichturbanen Konsum-Netzwerkes, das die Welt umschlingt.«106 Trotz der generellen Verstädterung und der Zerstreuung von Konsumaktivitäten über den städtischen Raum geht die These einer zentrumslosen Stadt zu weit. Wie schon gezeigt, findet sich in den meisten großen Städten auch weiterhin eine Konzentration der Kultur – durch die Bedeutung der zentral gebündelten symbolischen Ökonomie, den Tourismus und durch die Nachfrage nach innenstadtnahen Wohnflächen. Es kann in Folge der Suburbanisierung zwar zu einer extremen Zersiedlung kommen, bei der viele kleinere Zentren nebeneinander stehen, wie zum Beispiel in Los Angeles. Suburbanisierung kann aber auch zu einer Zweiteilung führen, bei der eine Innenstadt oder mehrere Stadtzentren von einem sich erweiternden, zersiedelten und großflächigen Gebiet umgeben sind, wie dies zum Beispiel in New York und vielen europäischen Städten anzutreffen ist. Von einer vollkommen randlosen Stadt zu sprechen, ist daher übertrieben. Es existieren auch weiterhin Zentren städtischer Entwicklungen, 103 104 105 106

Lang 2003: 1-2. Vgl. Fishman 1994: 92, Meurer 1994: 22, Eckardt 2004: 9-10. Vgl. Lyotard 2000: 121-122. Pawley 1997: 29.

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um die sich das städtische Leben herum konzentriert. Es zeigt sich aber, dass Konsumaktivitäten und die Zerstreuung von sozialen Praktiken den Städten eine neue räumliche Form geben, in der kleine, konzentrierte Zentren einer flächigen, räumlich verteilten Struktur gegenüberstehen. Durch die geringe Baudichte steigt die Abhängigkeit von privaten und öffentlichen Verkehrsmitteln in suburbanisierten Gebieten an. Sind letztere nicht oder nur mangelhaft vorhanden, bedarf es eines Autos, um Aktivitäten außerhalb des Wohnbereichs durchführen zu können. Dies kann den Aktionsradius von Personen mit geringer Mobilität, zum Beispiel von Jugendlichen, einschränken. Geringe Dichte erschwert städtisches Leben, das aus Fußgängern in öffentlichen Räumen resultiert. Die Distanz des Wohnraums zu städtischen Einrichtungen erhöht die Bindung an den privaten Wohnbereich. In Kombination mit der Zurückdrängung von nicht kontrollierten, öffentlichen Räumen verringern sich die Möglichkeiten spontaner, freier und nicht konsumorientierter Begegnungen. Wie sich schon im ersten Kapitel gezeigt hat, führt dieses räumlich zerstreute und von der Innenstadt getrennte Gebilde bei einigen Bewohnern dazu, das Leben in den Innenstädten zu idealisieren, und weckt den Wunsch, dorthin zurückzukehren, wo das »wirkliche« Leben stattfindet, das heißt, wo der Grad an potenziellen Konsumaktivitäten pro Fläche deutlich höher ist. Es sind folglich zwei divergierende Ziele, die die räumliche Struktur in Bezug auf Konsumaktivitäten bestimmen. Zum einen das Ziel, sichere, großflächige und möglichst ›natürliche‹ Orte zu nutzen, zum anderen das Ziel, eine geringen Distanz zu möglichst vielen Aktivitäten in den Städten zu haben. Suburbanisierung, die das Verlassen von Innenstadtvierteln bedeutet, und Gentrification, die Aufwertung von zuvor verlassenen und oft im Anschluss sozial depravierten Stadtgebieten, gehören demnach zusammen und bedingen sich gegenseitig.107 Es kommt zu einer räumlichen Entwicklung von Städten, die zugleich von zentrifugalen und zentripetalen Strömungen geprägt ist. Da die zentrifugale Bewegung nicht alleine auf die Innenstadt bezogen ist, sondern auch auf Subzentren von innerstädtischen und vorstädtischen Stadtgebieten, entsteht ein deutlich heterogeneres und komplexeres räumliches Gebilde als in früheren Zeiten, in denen die Stadtentwicklung maßgeblich vom Zentrum aus geprägt wurde.

107 Vgl. Bruegmann 2006: 52-54.

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Musikkonsum in der Stadt Mediennutzung und Konsumkultur

Ein zentrales Element einer Konsumkultur ist die Nutzung von Medien und Medieninhalten. Technische Medien wie Abspielgeräte für aufgezeichnete Töne sind mittlerweile fest in die urbane Freizeitkultur integriert. Mit den Worten des Soziologen Hans-Werner Prahl ist »Freizeit […] vor allem Medienzeit«.108 Die meiste Musik hören Stadtbewohner heute nicht bei Performances von Musikern auf der Straße, in Clubs oder Konzerthallen, sondern über die Nutzung von technischen Medien wie Stereoanlage, Radio und verstärkt über Computer.109 Dazu kommt, dass bei vielen Konsumaktivitäten, die nicht primär auf den Konsum von Musik abzielen, trotzdem Musik zu hören ist. In den ästhetisierten Geschäften genauso wie in Bars oder Restaurants wird oft Musik eingesetzt, um eine bestimmte Stimmung zu erzeugen oder zu unterstützen.110 Am häufigsten wird im öffentlichen Raum Musik jedoch über mobile Abspielgeräte konsumiert.

Privatisierung des öffentlichen Raums durch mobilen Musikkonsum

Ein Ziel beim individuellen Musikkonsum in der Stadt ist die Erschaffung eines privaten und selbstbestimmten auditiven Territoriums.111 Das Abspielen von Musik dient dazu, dem fremdbestimmten städtischen 108 Prahl 2002: 192. 109 Für den Musikkonsum ist entscheidend, dass durch das Internet das Angebot an legaler und illegaler Musik noch zu keinem Zeitpunkt so umfassend gewesen ist wie heute. Die digitalen Speichermedien ermöglichen es mittlerweile, mehrere tausend Musikstücke auf einem Datenträger zu speichern und bei mobilen Abspielgeräten diese an jeden belieben Ort zu transportieren. Hinzukommt die wachsende Informationsmenge zu Musikern, zum Beispiel in sozialen Netzwerken wie myspace. Die deutschsprachige Musikseite der sozialen Netzwerkplattform myspace.com findet sich unter http://profile.myspace.com/index.cfm?fuseaction=music, Abruf: 15.2.2008. 110 Vgl. DeNora 2000: 131-146. 111 Sabine Vogt (2005: 80) bietet ein anschauliches Beispiel für die Umgestaltung einer Wohnung durch eine Jugendliche in einen positiv gestimmten Klangraum: »Musik auflegen, Musik (ab-)spielen – darunter ist ein Sinnbasteln zu verstehen. Grits Wohnraum ist geradezu ein Klangraum, der Grit Struktur und Schutz verleiht, ihr aber auch den nötigen Handlungsspielraum schafft zum Experimentieren mit Gedanken, Gefühlen und Dingen. Die Schallwellen der Musik füllen nicht allein den Raum, sondern nehmen auch Grit selbst ein, geben ihr das Gefühl von räumlicher Dimension, von außen und innen und erzeugen positive Gefühle in ihr, die sie in einen versenkten Zustand versetzen.«

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Klangumfeld zu entgehen, wie die Kunsthistorikerin und Soziologien Sarah Thornton feststellt: » One of the main ways in which youth carve out virtual, and claim actual, space is by filling it with their music. Walls of sound are used to block out the clatter of family and flatmates, to seclude the private space of the bedroom with records and radio and even to isolate ›head space‹ with personal stereos like the Walkman.«112 Der territoriale Einsatz von Musik dient zum einen dazu, den eigenen privaten Wohnraum durch Musik von der restlichen, öffentlichen Umgebung abzugrenzen, zum anderen dazu, den öffentlichen Raum auditiv zu ›privatisieren‹. Und der verbreitete Einsatz mobiler Abspielgeräte wie Walkman oder iPod führt zu einer auditiven Fragmentierung der Wahrnehmung von Stadtbewohnern, weil jeder Nutzer sich in eine andere, private Klangwelt begibt und gleichzeitig die Klänge der Stadt ausblendet.113 Mitte der 1980er Jahre charakterisierte der Musikwissenschaftler Shuhei Hosokawa den Walkman als Inkarnation eines postmodernen, urbanen Hörens. In Anlehnung an Gilles Deleuze und Félix Guattari erkennt er im Walkman-Nutzer einen neuen urbanen Nomaden.114 Durch die Singularität des einzelnen Hörerlebnisses komme es jeweils zum »autonomen, einmaligen Augenblick, dem Realen«115. Andererseits soll der Walkman zu einer Distanz »zwischen der Wirklichkeit und dem Realen, der Stadt und dem Urbanen und insbesondere zwischen den Anderen und dem Ich«116 führen. Der Hörer entfremde sich von seiner Umgebung, gleichzeitig schaffe er einen neuen, autonomen Raum. Hosokawa schließt daraus, dass Musikhören mit dem Walkman ein Mittel zur Dekonstruktion des Bestehenden sei, weil das Textgefüge der Stadt durchbrochen und gleichzeitig jede Situation durch den Walkman in einen neuen Kontext gestellt werde. Als Ergebnis des verwirrenden, zerstreuten, zentrifugalen Hörens entstehe eine »Mobilität des Selbst«117. Selbst wenn man Hosokawa darin folgen möchte, dass mobile Abspielgeräte neue Hörgewohnheiten und Wahrnehmungsformen hervorbringen können, die auch das Verhältnis von Hörendem und städtischer Umgebung beeinflussen, überzeugt seine These nicht. Die Mobilität des 112 Thornton 1996: 19. 113 Vgl. Tonkiss 2004: 305. 114 Vgl. Hosokawa 1987: 17. Als Nomaden bezeichnet auch Jean-Paul Thibaud (2004: 329) den Walkman-Hörer. 115 Hosokawa 1987: 18. 116 Ebd.: 21. 117 Ebd.: 29.

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Hörens führt keineswegs zwangläufig zu Singularitäten oder der Dekonstruktion der städtischen Umwelt. Vor allem benennt Husokawa keine triftigen Gründe, warum das Hören von Musik eine notwendige Bedingung für die Dekonstruktionsleistung ist und beachtet umgekehrt genauso wenig, dass der Walkman von unterschiedlichen Personen zu unterschiedlichen Zwecken genutzt wird. Genauer bestimmt eine phänomenologische Analyse der WalkmanNutzung des Psychologen Rainer Schönhammer den Weltbezug durch mobiles Hören. Ihm zufolge kommt es nicht zu einer einseitigen distanzierten, singulären Raumerschaffung, sondern zu einer Dialektik aus Distanz und Nähe: »Wir haben es also mit einer doppelten Labilität des Subjekt-Welt-Bezugs zu tun. Das Subjekt schwankt einerseits zwischen orientierter Distanzlosigkeit und gestimmter Distanz und andererseits (im Rahmen der gestimmten Distanz) zwischen ungewöhnlicher Ferne und Nähe zur Welt bzw. dem Bewusstsein einer eigentümlichen Verbindung von Ferne und Nähe (»Phantasma«).«118 Ähnliches hat auch der Kulturwissenschaftler Michael Bull in seiner empirisch fundierten Analyse der Nutzung mobiler Abspielgeräte beobachtet. Seine Ergebnisse bestätigen die These der Erstellung eines privaten, selbstbestimmten Klangraums, mit dem die städtische Klangwelt ausgeblendet und durch ästhetisierte Wahrnehmungen ersetzt wird. Ziel der Walkman- und iPod-Nutzer ist die Erzeugung einer angenehmen oder auch aufregenden, spektakulären, aber auf jeden Fall durch den Nutzer kontrollierten Klangkulisse. Sie erinnert die Nutzer oft an Filme, sodass die anderen anwesenden Personen im öffentlichen Raum zu Filmcharakteren werden. Durch das Hören von Musik entsteht ein ästhetisches Spiel mit der visuellen und haptischen Wahrnehmung des Stadtraums.119 Die Herstellung eines privaten Territoriums im öffentlichen Raum beschreibt Bull als einen dialektischen Prozess. Der Musikhörer reagiere auf seine eigene Unsicherheit und narzisstische Grundorientierung mit einer atomistischen und abgrenzenden Verwendung des mobilen Abspielgeräts, die aber gerade der Erzeugung eines auratischen und intimen Gefühls von Gemeinsamkeit diene: »[This is a] solipsistic preoccupations with a fragile narcissism fed through, amongst other things, forms of ›we-ness‹. Users, through their efforts to 118 Schönhammer 1988: 45. 119 Vgl. Bull 2000: 21-24, 86, 95-96, 119, 156-159, siehe auch Thibaud 2004: 330, 335-339.

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negate the perceived contingency of the everyday that lies in wait for them, create habitual forms of cognitive management based on personal-stereo use that blurs any distinctions that might be made between inner and outer, the public and private areas of everyday life.«120 So werde die Musik zu einem Lückenfüller in einer ansonsten als feindlich und bedeutungslos empfundenen Welt. Auch durch das Abspielen von Rap- und Technomusik über Boomboxes oder Automusikanlagen wird ein Teil des öffentlichen Raums durch die Verursacher in Anspruch genommen. Hier dient die Musik weniger als Lückenfüller, sondern als Mittel zur Erzeugung von Aufmerksamkeit. In den USA waren es vor allem junge Afroamerikaner, die die neue Musik in den öffentlichen Raum trugen.121 Für den Kulturwissenschaftler Nathan D. Abrams eine Form des Protests und Einforderung von mehr Raum: »The amplified noise emanating from speakers on street corners telling us that this is »my space«, constitute a sonic invasion as rappers assert control over their territory. […] Moving cars or jeeps, booming out rap music, are mobile occupation units sonically invading white open spaces. They are a form of »making noise« similar to that on public transportation in Birmingham, Alabama, in the 1950s. This symbolic occupation of open spaces is a call for more space, equitable treatment, respect, and dignity; to be heard and understood; and to exercise power over institutions that control blacks, and upon which blacks are dependent.«122 Zumindest kann man mit einer solchen Intervention kurzfristig ein auditives Territorium für sich beanspruchen. Für den HipHop-Forscher Murray Forman folgt daraus eine Veränderung der urbanen Klangwelt: »Just as important, the music’s ubiquity and tactile qualities have also reciprocally altered the sound of the city. The transformation of the urban soundscape since the early 1980s has been partially accomplished via the rolling bass beats of hip-hop music booming from convertibles, Jeeps, customized low riders and tall SUV’s, luxury cars and sedate family sedans. The convergence of new car-stereo technologies and the fetishization of bass and volume in tandem affect the sonic character of the city.«123 120 121 122 123

Bull 2000: 153. Vgl. Baker Jr. 1993: 42-44, Brennan 1994: 672. Abrams 1995: 13-14. Forman 2002: xvii-xviii.

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Kurzfristige Interventionen mit Rap-Beats sind Mittel zur Aufmerksamkeitserzeugung, aber Forman überschätzt die Wirkung, wenn er darin eine nachhaltige Veränderung des Klangraums der Stadt sieht, dazu ist der Klang aus zu vielen Quellen gespeist, die ineinander wirken. Das Beispiel verdeutlicht jedoch die Möglichkeiten der Raumaneignung durch Klang, die für seine hohe soziale Relevanz im Stadtraum spricht. Deutlich wird auch hier, dass Musik ein wichtiges Element darstellt, um Orte zu besetzen und auditive Territorien zu erschaffen.

Fazit: Stadtraum als Konsumraum

Die städtische Ökonomie ist durch den fundamentalen Wandel seit den 1970ern Jahren nicht länger primär durch industrielle Produktionsstätten bestimmt, sondern durch die Kontrolle von globalen Flüssen, die Produktion von Kultur und den Konsum. Vor allem Konsum ist zum entscheidenden Faktor der Wirtschaft und der urbanen Kultur geworden. Dabei ist es nicht der kollektive Konsum, der dominiert, sondern der private, stilisierte Konsum. Seine Dominanz wandelt die Innenstädte zu Unterhaltungsstätten, einem Vergnügungsort nicht unähnlich. Zugleich trägt die Konsumkultur mit dazu bei, die Stadt räumlich zu verstreuen und ihre Grenzen aufzulösen. Von dieser Entwicklung bleibt auch der Musikkonsum nicht unberührt. Er ist in der Stadt allgegenwärtig geworden, nicht zuletzt um an Konsumorten eine bestimmte Stimmung zu erzeugen. Zugleich wird Musik in der Stadt genutzt, um störende Fremdgeräusche auszublenden und den privaten wie den öffentlichen Raum zu besetzen, ihn für den Hörer in ein selbstbestimmtes auditives Territorium zu wandeln.

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3. Tagträume, Helden, Kaufzwang. Imagination und Repräsentation in der Konsumkultur The city in our actual experience is at the same time an actually existing physical environment, and a city in a novel, a film, a photograph, a city seen on television, a city in a comic strip, a city in a pie chart and so on. Victor Burgin1

Es hat sich gezeigt, dass die Stadt durch eine Konsumkultur bestimmt ist. Nicht nur, weil die Konsumprodukte in der Stadt entwickelt und gestaltet werden, sondern weil die Stadt selbst zum zentralen Konsumort geworden ist. Die Stadt manifestiert die Konsumkultur räumlich und ist gleichzeitig die Basis für Konsumakte. Dieses Kapitel untersucht vertiefend die Gründe für die Entwicklung hin zu einer Konsumkultur sowie die daraus resultierenden gesellschaftlichen Auswirkungen. Der erste Abschnitt diskutiert Theorien zur Entfaltung der Konsumkultur. An die Überlegungen von Colin Campbell anschließend lässt sich die Nutzung von Imagination als zentraler Motor für die Konsumkultur bestimmen. Campbells Position erweist sich jedoch als zu sehr auf die Veränderung der Disposition zum hedonistischen Erleben konzentriert, die Einbindung und Beeinflussung der hedonistischen Grundhaltung in soziale Praktiken berücksichtigt er zu wenig. Deshalb wird seine Position um den von Zygmunt Baumann herausgearbeiteten sozialen Zwang zum Konsum erweitert und Konsum mit sozialer Ungleichheit in Verbindung gebracht. Der zweite Abschnitt zeigt mit Überlegungen von Walter Benjamin, dass die Stadt schon seit dem 19. Jahrhundert die Verknüpfung von Konsum und Imagination anbietet und selbst zur wichtigsten Projektionsfläche für die Imagination geworden ist. Anhand des von Benjamin beschrieben Flaneurs lässt sich zeigen, dass es zu spezifischen Reaktionen 1

Burgin 1996: 28.

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auf den vom Konsum bestimmten Stadtraum kommt, die sich anhand idealypischer Figuren beschreiben lassen. Im dritten Abschnitt wird auf den wachsenden Einfluss von medialen Stadtrepräsentationen eingegangen, die zu den wichtigsten Quellen städtischer Imaginationen gehören. Um Positionen zu entgehen, die entweder Repräsentationen alleine durch ökonomische Prozesse bestimmt sehen oder umgekehrt die alleinige Macht der Repräsentationen über die soziale Welt behaupten, wird das trialektische Raummodell von Henri Lefebvre eingeführt.

Konsum und Imagination Klassische Ansätze zur Erklärung der Bedeutung von Konsum

In kapitalistischen Gesellschaften ist Konsum an die Bereitstellung von Waren und Dienstleistungen durch einen mehr oder weniger staatlich regulierten Markt gekoppelt. Die klassische Wirtschaftswissenschaft hat aber auf die Frage nach den Gründen der Entstehung einer Gesellschaft, in der der Konsum von Waren zu einem der wichtigsten sozialen Faktoren wird, keine befriedigende Antwort gegeben. Zwar konstatiert schon Adam Smith: »Die Konsumtion ist der einzige Zweck aller Produktion, und das Interesse des Produzenten sollte nur insoweit berücksichtigt werden, als er zur Förderung des Konsumtionsinteresses nötig ist.«2 Dennoch hat die klassische ökonomische Theorie den Konsum nur in sehr begrenzter Weise analysiert, da sie sich fast ausschließlich auf das Erklären der Zurverfügungsstellung von Konsumgütern konzentriert. Der Akt des Konsums und die Gründe für den Konsum, die über ein Kosten-NutzenKalkül des Konsumenten hinausgehen, blieben ausgeklammert.3 Ausführlicher hat sich die marxistische Theorie mit dem Konsum auseinandergesetzt. Für Karl Marx sind in der kapitalistischen Gesellschaft Produktion und Konsum zugleich voneinander getrennt und aufeinander verwiesen.4 Getrennt, weil die Produktion der Waren und ihre Distribution von ihrer Nutzung und ihrem Verbrauch abgekoppelt sind; aufeinander verwiesen, weil nur produziert werden kann, was einen Käufer findet, der das Produkt nutzt, also konsumiert. Konsum ist wiederum an die vorherige Produktion von Waren oder Dienstleistungen 2 3 4

Smith o. J.: 660. Vgl. Fine 1993: 44. Neue marxistisch inspirierte Theorien zum Konsum finden sich bei: Miller 1987, Lee 1993, Crompton 1996, Slater 1997.

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gekoppelt. Trotz der Wechselwirkung zwischen beiden dominiert in der marxistischen Theorie, wie sich auch bei Castells Überlegungen zum kollektiven Konsum zeigte, die Produktion den Akt der Konsumption, weil im Konsum die produzierte Ware, die am Beginn des Prozesses steht, nur aufgebraucht wird. Im Zentrum der marxistischen Theorie steht die investierte Arbeit für die Produktion von Waren. Die Grundanomalie der kapitalistischen Gesellschaft ist die Separierung von Arbeit und ihrem Produkt. Das Arbeitsprodukt des Arbeiters wird als Ware durch den Besitzer der Produktionsmittel verkauft und zwingt den Arbeiter, Produkte als Konsumgüter zu erwerben, die ursprünglich materialisierte Arbeit sind. Aus ihr resultiert die Entfremdung des Proletariats von den Produkten, die es selbst erschafft.5 Folgt man der marxistischen Theorie, determinieren die Bedingungen der Produktion den Konsum. Transformationen im Konsumbereich resultieren ausschließlich aus Veränderungen im Produktionsbereich und in der Kapitalakkumulation. Wie sich aber schon zeigte, ist mittlerweile der Konsumbereich nicht länger nur aus Entwicklungen im Produktionsbereich ableitbar, sondern hat sich in seiner Wirkungsweise partiell verselbstständigt. Eine der marxistischen Position diametral entgegengesetzte Sichtweise ist von den Geschichswissenschaftlern Neil McKendrick, John Brewer und John Harold Plump in den 1980er Jahren vertreten worden. Ende des 18. Jahrhunderts habe eine »Konsumrevolution« zu einem sprunghaften Anstieg des Konsums geführt.6 Neil McKendrick sieht darin die Vorbedingung der industriellen Revolution, weil diese auf eine schon etablierte Massennachfrage getroffen sei: »A mass consumer market awaited those products of the industrial revolution which skilful sales promotion could make fashionably desirable, heavy advertisement could make widely known, and whole batteries of salesmen could make easily accessible.«7 Als Haupterklärung für den Konsum-Boom dient die ostentative Darstellung des Reichtums der oberen Klassen, die sich in einer »AusgabenOrgie«8 für Luxusgüter, Häuser und Kleidung niederschlug. Der Nacheiferungsdrang der unteren Klassen habe schließlich zu einer sich kontinuierlich ausweitenden Nachfrage nach Gütern geführt. 5 6 7 8

Vgl. Marx 1979: 85-98. Der Begriff leitet sich vom Titel »The Birth of a Consumer Society« von: McKendrick/ Brewer/Plumb 1982 ab. Vgl. auch Stihler 1998. McKendrick 1982: 22-23. Ebd.: 10, Übersetzung M. F.

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Dieses Erklärungsmodell stellt eine aktualisierte Version der Emulationstheorie von Thorstein Veblen dar. Veblen sah im Konsumenten nicht einen rationalen Utilitaristen, sondern einen um soziales Prestige Ringenden.9 Soziales Prestige zeigt sich für Veblen am besten in der Präsentation von Wohlstand. Dies geschieht entweder durch das Vorführen des möglichst unproduktiven, dafür aber ästhetisch anspruchsvollen Nichtstuns (conspicuous leisure) oder durch die Präsentation des überbordenden, unproduktiven Konsums (conspicuous consume). Letzteres wird umso wichtiger, je seltener enge gemeinschaftliche Kontakte werden und je mehr Fremde vom Wohlstand einer Person überzeugt werden müssen. Weil alle der obersten Klasse nachzueifern versuchen, kommt es für Veblen, genauso wie für McKendrick, zu einem kontinuierlich erweiterten Bedürfnis nach Konsumgütern. Veblen schreibt: »[O]ur standard of decency in expenditure, as in other ends of emulation, is set by the usage of those next above us in reputability; until, in this way, especially in any community where class distinctions are somewhat vague, all canons of reputability and decency, and all standards of consumption, are traced back by insensible gradations to the usages and habits of thought of the highest social and pecuniary class – the wealthy leisure class.«10 McKendricks und Veblens Erklärungsmodelle verdeutlichen, dass Konsum über den reinen Konsumakt hinaus symbolische Bedeutungen annimmt. Er kann als Quelle sozialer Kohäsion von Gemeinschaften dienen, indem Personen sich durch den Konsum von anderen abgrenzen und andere, wenn auch nur symbolisch, gleichzeitig versuchen ihnen nachzueifern.11 Auf die Funktion von Konsum als soziales Bindungsmittel in einer sich individualisierenden Gesellschaft weisen auch die Soziologen Steven Miles und Ronan Paddison hin: » Consumption is interactive in a social sense, insofar as it provides an arena which distinguishes one social group from another, often through inequalities associated with access to resources, and yet is simultaneously integrative in providing an arena within which consumers can feel that they belong to something, whether that be a particular fashion code or to a community of shoppers, for example.«12 9 10 11 12

Vgl. Veblen 1994. Ebd.: 64. Vgl. Edwards 2000: 26. Miles/Paddison 1998: 820.

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Zu Recht macht McKendrick darauf aufmerksam, dass eine Konsumrevolution ein notwendiges Korrelat der Produktionsentwicklung darstellt und sich nicht alleine aus deren Logik erklären lässt. Kaum haltbar erscheint die These, nach der alleine das veränderte Konsumverhalten die industrielle Produktion hervorgerufen habe. Die Wirtschaftswissenschaftler Ben Fine und Ellen Leopold zeigen anhand der Entwicklung der Nachfrage nach Kleidung im 18. Jahrhundert, dass dafür weniger eine emulative Nachfrage durch die unteren Klassen ausschlaggebend war. Die oberen Klassen wiesen ihren Bediensteten die Kleidung zu, eine Auswahl oder Präferenz habe für diese nicht bestanden.13 Statt beim Dienstpersonal sehen Fine und Leopold die Nachfrage nach Kleidung in der Mittelklasse entstehen, in der die protestantische Ethik nach einer einfachen und konformen Kleidung verlangte. Desweiteren habe die Entstehung von Arbeitskleidung der sich etablierenden Mittelklasse zu einem Anstieg der Nachfrage geführt. Das heißt: nicht Emulation, sondern die spezifischen Bedingungen des Kleidungsbedarfs der Mittelklasse führten zur Nachfragesteigerung. Genauso hat der Soziologe Colin Campbell darauf aufmerksam gemacht, dass die Steigerung des Konsums generell durch die Nachfrage der Mittelklasse hervorgerufen wurde. In der Logik von McKendrick hätte diese Nachfrage zunächst in der Oberklasse auftreten und dann erst von den unteren Klassen aufgegriffen werden müssen.14 Eine weitere Schwäche des Ansatzes von McKendrick besteht darin, dass er nicht erklären kann, warum es nicht nur zu einer wachsenden Nachfrage nach Konsumgütern kommt, sondern warum die Konsumgesellschaft eine schier unerschöpfliche Nachfrage nach immer mehr und immer neuen Gütern produziert. McKendrik kann zwar einzelne Faktoren der Konsumentwicklung bestimmen, ist aber nicht in der Lage, sie zu einer kohärenten Erklärung der Entstehung einer wachsenden Konsumnachfrage zu verdichten.15

Hedonismus und Imagination

Es bleibt die Frage, warum Konsum zu einem derart relevanten sozialen Faktor geworden ist. Eine Erklärung, die nicht alleine auf den Produktionssektor oder das Erreichen von sozialem Prestige bezogen ist, stammt vom Soziologen Colin Campbell. Im Zentrum einer durch Konsum geprägten Gesellschaft steht für ihn eine moderne Form des Hedonismus. 13 Vgl. Fine/Leopold 1993: 123. 14 Vgl. Campbell 1987: 24-28. 15 Vgl. ebd.: 23.

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Die traditionelle Form des Hedonismus versucht Stimuli, die als vergnüglich angesehen werden, möglichst oft und lange zu erleben. Statt dieser Strategie entwickelt sich in der Moderne ein Hedonismus, der in allen Erlebnissen die Möglichkeit des Vergnügens sucht: »In the former, the basic concern is with increasing the number of times one is able to enjoy life’s ›pleasures‹; thus the traditional hedonist tries to spend more and more time eating, drinking, having sex and dancing. The hedonistic index here is the incidence of pleasures per unit of life. In the latter, the primary object is to squeeze as much of the quality of pleasure as one can from all those sensations which one actually experiences during the course of the process of living. All acts are potential ›pleasures‹ from this perspective, if only they can be approached or undertaken in the right manner; the hedonistic index here is the extent to which one is actually able to extract the fundamental pleasure which ›exists‹ in life itself.« 16 Mit dieser Transformation des Hedonismus ist zum einen eine kontrollierte Emotionalität verbunden, die es erlaubt, durch den Konsumakt etwas Bestimmtes zu erleben.17 Zum anderen bedarf es der Fähigkeit, sich die Freuden eines beliebigen Erlebnisses zu imaginieren, ohne dass es aktuell stattfinden muss. Die Fähigkeit des hedonistischen Einsatzes der Imagination ist für Campbell entscheidend für die Konsumnachfrage. Für ihn sind die modernen Konsumenten in erster Linie »dream artists«, die sich durch Imagination Vergnügen bereiteten. In Tagträumen erschaffe sich der moderne Mensch eine idealisierte Vorstellungswelt, bei der mit möglichen, wenn auch unwahrscheinlichen Ereignissen, die in direkter Verbindung mit dem sozialen Erfahrungs- und Erlebnishorizont einer Person stehen, gespielt wird, wobei alle negativen Ereignisse oder Einflüsse ausgeblendet werden. Das Wollen wird durch den Einsatz der Imagination wichtiger als das Haben. Weil das tatsächliche Erleben nie an den Tagtraum heranreichen kann, ist der moderne Hedonist mehr von der Sehnsucht als von der 16 Ebd.: 69. 17 Eine Fähigkeit der Kontrolle, die Campbell (ebd.: 73) mit der Entstehung eines SelbstEmpfindens in Verbindung bringt: »The new internal psychic world in which agency and emotion are relocated is that of the ›self‹, and this world is, in its turn, also increasingly subject to the cool, dispassionate and inquiring gaze which disenchanted the outer, with the result that consciousness of ›the world‹ as an object separate from man the observer, was matched by a growing consciousness of ›the self‹ as an object in its own right.«

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Begierde geprägt. In diesem unüberwindbaren Abstand zwischen Imagination und Erleben sieht Campbell die Quelle für die konstante Nachfrage nach Konsumgütern: Waren oder Dienstleistungen werden nicht erworben, weil sie der Befriedigung eines bestehenden Bedürfnisses dienen, wie dies im utilitaristischen Modell behauptet wird, sondern weil der Konsument mit dem Produkt seine Tagträume verwirklichen will: »[The daydreamer’s] basic motivation is the desire to experience in reality the pleasurable dramas which have already enjoyed in imagination, and each ›new‹ product is seen as offering a possibility of realizing this ambition. However, since reality can never provide the perfected pleasures encountered in day-dreams (or, if at all, only in part, and very occasionally), each purchase leads to literal disillusionment, something which explains how wanting is extinguished so quickly, and why people disacquire goods as rapidly as they acquire them. What is not extinguished, however, is the fundamental longing which day-dreaming itself generates, and hence there is as much determination as ever to find new products to serve as replacement objects of desire.«18 Auf diese Weise entsteht ein Zirkel aus Imagination, Konsumwunsch, Enttäuschung und erneuter Imagination, die in einen nicht enden wollenden Konsumdrang mündet.19 Durch ihre hohe Bedeutung für den Konsumakt wird die Imagination in Campbels Ansatz als ein zentraler Motor gesellschaftlicher Prozesse bestimmt. Campbell ist nicht der erste, der auf die hohe gesellschaftliche Relevanz von Imagination hinweist. Die nun anschließende Analyse der beiden zentralen soziologischen Positionen zur Imagination dient einer genauere Bestimmung des Begriffs, den Campbell nutzt, ohne ihn präzise zu definieren. Er setzt ihn stattdessen weitestgehend mit dem Tagtraum gleich. Der Bezug zum Traum könnte mit einer psychoanalytischen Deutung unterlegt werden, wie sie Jacques Lacan entwickelte. Campbell selber lehnt den Bezug zum Unterbewusstsein und zu psychoanalytischen Theorien zwar ab, weil er den Tagtraum als freie Aktivität bestimmt, die keiner Determination durch eine unterbewusste Ebene unterliegt.20 18 Ebd.: 89-90. 19 Vgl. Lury 1996: 73. 20 Abgelehnt wird von Campbell die Verknüpfung von Träumen mit einem freudianisch definierten Unterbewusstsein, das sich auf enigmatische Weise im Tagtraum zeige. Er sieht die Möglichkeit des Tagtraums als wesentlich freie Aktivität, die keiner Determination durch eine unterbewusste Ebene unterliegt (vgl. Campbell 1987, Kapitel 5, Fußnote 16: 244-245).

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Es lohnt sich aber dennoch, die psychoanalytische Herangehensweise zu beachten, weil sie zur Schärfung des Begriffs Imagination beitragen kann. Und gerade die Begriffsbestimmung von Lacan hat, vor allem durch die Rezeption von Dietmar Kamper, Eingang in die soziologische Theorie gefunden. In Lacans Theorie ist das Imaginäre neben dem Symbolischen und dem Realen Teil einer die Psyche bestimmenden Triade. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht das sogenannte Spiegelstadium, in dem sich das Ich einer Person entfaltet und zugleich dem Imaginären anheimfällt. Das Spiegelstadium siedelt Lacan bei Kindern im Alter zwischen 6 und 18 Monaten an. Der Säugling beginnt zu diesem Zeitpunkt, sich im Spiegel zu erkennen: Entscheidend ist nun, dass es sich bei diesem Vorgang um eine narzisstische Täuschung handelt. Das Kind missdeutet sich im Spiegelbild als etwas, dass es nicht ist. Entgegen der uneinheitlichen, differenziellen und brüchigen Struktur der Psyche, betrachtet der Säugling sich über das Spiegelstadium vermittelt als etwas Einheitliches, Vollständiges und Vollkommenes. Das Kind tut dies, um sich seiner körperlichen Unversehrtheit zu versichern, die ihm durch seine Abhängigkeit, Hilflosigkeit und Bewegungsunfähigkeit gerade verwehrt ist.21 Die Philosophin und Psychoanalytikerin Hanna Gekle schreibt zu Lacans zentraler These: »Aus der biologischen Hilflosigkeit und ihrer kreatürlichen Todesdrohung in die imaginäre Vollkommenheit – das ist die einsam-narzißtische Bewegung, in der das Ich sich konstituieren soll.«22 Die Folge ist, dass der Mensch nie wieder direkt zu sich finden kann, wie der Philosoph François Dosse feststellt: »Aufgrund dieser imaginären Identifizierung findet sich das Kind also bereits in seinem Werden strukturiert, befangen in den Trugbildern dessen, was es für seine Identität hält, wodurch fürderhin jeglicher Versuch, Zugang zu sich selbst zu finden, für das Subjekt unmöglich und illusorisch wird, denn das Bild seines Ich (moi) verweist es auf einen anderen, der nicht es selbst ist.«23 Mit der Ich-Werdung ist dieser Sichtweise zufolge der Zugang zum Realen für immer verbaut. Auf der Ebene des Imaginären reproduziert sich die 21 Vgl. Lacan 1973: 64, Gekle 1996: 56. 22 Gekle 1996: 52. 23 Dosse 1999: 149.

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Täuschung über sich selbst immer wieder neu. Gleichzeitig bedingt die prekäre Entstehung des Ichs die Gefahr, dass die Gewissheit des Ichs wieder in seine Teile auseinander fallen kann. Und das Zurückfallen in den Zustand des Imaginären ist Ursprung von Wahnsinn und Psychose.24 Der illusorische und rein selbstbezogenen Zustand des Imaginären lässt sich nur über die Einführung der symbolischen Ordnung partiell überwinden denn, so Gekle, »die imaginäre Welt des Narzißmus enthält ›nicht den Anderen‹ als selbständiges Wesen […]«25. Die symbolische Ordnung, die Sprache, genauso wie die sozialen Regeln, werden in der Kleinfamilie westlicher Prägung laut Lacan über den Vater vermittelt. Er verbietet dem Kind eine inzestiöse Beziehung zur Mutter und unterbricht damit die reine Ichbezogenheit des Kindes. »Die Anwesenheit des Vaters dagegen wirke wie ein Schutzschild. Sein väterliches Nein verwandle die große narzißtische Versagung, an der das Ich zerbrechen müßte, in das erste symbolische Verbot. Diese Verwandlung des Imaginären ins Symbolische ist bei Lacan von Anfang an die eigentliche kulturstiftende Leistung des Vaters.«26 Das Gesetz des Vaters, übermittelt durch sein Sprechen, unterbricht die imaginiäre Selbstfixiertheit und dadurch auch den Wahn des Kindes. Die Begriffsbestimmung des Imaginären durch Lacan weist eine extreme Spannung auf. Durch sein Mitwirken an der Bildung des Ichs ist es das entscheidende Moment der Subjektkonstituion. Zugleich birgt es die Gefahr des Wahns. Unklar bleibt, warum es in den meisten Fällen gelingt, dem Wahnsinn zu entkommen, und warum wir nicht häufig wieder in diesen Zustand zurückfallen, denn schließlich erscheint der Übergang zur symbolischen Ordnung nur als Teillösung zur Überwindung des Wahns. Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Bestimmung des Anwendungsbereichs des Imaginären. Dieser ist zum einen stark eingeengt, weil er mit der narzisstischen Täuschung gleichgesetzt ist. Zum anderen wird Imagination zu einem universellen Phänomen, dass jeder Mensch bei seiner Wahnbildung, ein Mensch zu sein, durchlaufen muss. Jeder verfügt über sie, aber wenn sie wirkt, dann ausschließlich als Verblendung. Diese einseitige Setzung leitet sich allein aus der Funktion des Begriffs in der Theorie ab. Mit der Konzentration auf die Psychogenese sagt die Lacansche Theorie zunächst nichts über die Stellung, Wirkung oder Funktion der Imagination für die soziale Entwicklung. Diese Leerstelle hat der Philosoph 24 Gekle 1996: 48. 25 Ebd.: 92. 26 Ebd.: 129.

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Dietmar Kamper versucht zu schließen, indem er Lacan einer soziologischen Lesart unterzog. Statt auf die Psychogenese konzentriert er sich auf die soziale Wirkung der Imagination. Im Unterschied zu Lacan versteht Kamper unter Imagination zweierlei: das Imaginäre und die Einbildungskraft. Letzere definiert Kamper zwar nie eindeutig, aber er bestimmt sie als eine Fähigkeit »die den Bildern vorausgeht«27. Sie wird von Kamper positiv gewertet, weil sie den Menschen in die Lage versetzt, eine andere als die existierende Welt vorstellbar zu machen und die reine Orientierung am Verstand durch eine körperliche Imagination zu überwinden. Davon unterscheidet Kamper das Imaginäre in enger Anlehnung an Lacan: Im Zustand des Imaginären herrsche die Illusion, die Täuschung und der Tod. Ähnlich wie das Subjekt beschreibe oder erkenne sich die Gesellschaft in diesem Zustand zu Unrecht als einheitlich und vollkommen. Sobald sich die Menschen in diesen Zustand begäben, befänden sie sich in einem selbstgeschaffenen Gefängnis.28 Die Imagination hätte sich schon früh in der Geschichte der Menschheit differenziert in das Imaginäre und die Einbildungskraft. Das Imaginäre diene seitdem als »Schutzschild gegen das Reale, […] als Panzer der Angst.« 29 Sieht Kamper die Wirkungsgeschichte in unbestimmter Frühzeit beginnen, so erscheint ihm die Aufklärung als Schlüsselzeitalter der Durchsetzung des Imaginären. Entgegen der eigenen Programmatik habe die Aufklärung nicht eine Befreiung vom Mythos erreicht, sondern »Angstbeschwichtigung«. Sie sei selbst Ausdruck für den »Hang eines noch infantilen Menschen, geschlossene Welten zu ordnen« und könne mit dem Spiegelstadium des Säuglings verglichen werden: Die Selbstbeobachtung führt nicht in die erhoffte Befreiung, sondern erhöht sogar die Restriktionen durch das Imaginäre.30 Die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung ist für Kamper von dem fast vollständig dominierenden Imaginären und der Zurückdrängung der Einbildungskraft bestimmt. Deutlich werde die heutige Macht des Imaginären nicht nur durch die »Thanatokratie der Vernunft« sondern auch durch die Allgegenwart der technisch reproduzierten Bilder: »Visualisierung ist Entmaterialisierung, ist Substituierung der Dinge durch Bilder der Dinge, ist schließlich Triumph des Imaginären über die Einbildungskraft.«31 27 28 29 30 31

Kamper 1986: 13. Ebd.: 14, 20, 155. Ebd.: 13. Ebd.: 55. Ebd.: 201.

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Der Zustand, der daraus folgt, sei schizophren: »Derart eingeklemmt zwischen Apparaturen, in denen die Flut der Bilder über Illustrierte, Film, Fernsehen weiter ansteigt, und Traumprojekten, die es nicht mehr wagen, aufs Ganze zu gehen, ist die Phantasie einer rätselhaften Spaltung ausgesetzt, die ähnlich der Schizophrenie des Subjekts vorerst unabsehbare Wirkungen zeitigt.«32 Die vom Menschen geschaffenen Bilder seien übermächtig geworden, der Mensch spiegle und verliere sich in diesen Bildern wie das Subjekt in der Lacanschen Spiegelphase. Die heutige Situation beschreibt Kamper entsprechend als eine der größtmöglichen Täuschung, weil das Imaginäre überall walte und die Einbildungskraft ohne Wirkung bleibe. Abhilfe könne nur eine über sich selbst aufgeklärte Imagination bieten, eine »Phantasie, welche die schwarzen Löcher der Erfahrung freiläßt und die leeren Stellen der Wirklichkeit und der Fiktion ›toleriert‹«33. Dies soll über eine körpernahe Einbildungskraft gelingen, die nicht nach Einheit und Abschließbarkeit strebt, sondern stattdessen etwas darzustellen versucht, was sie selber nicht sehen kann.34 Kampers Radikalkritik an der gesellschaftlichen Situation, die in ihrer Apodiktik an Adorno, Horkheimer oder Baudrillard erinnert, prägt sein Verständnis des Imaginären. Die Kritik an der Omnipräsenz der Bilder und der narzisstischen Tendenzen einer Gesellschaft, die sich über sich selbst vollständig aufgeklärt wähnt und so einer Täuschung anheimfällt, ist wichtig. Aber sie beeinflusst das Begriffsinstrumentarium von Kamper zu stark. Alle von ihm negativ bestimmten Entwicklungen der Gesellschaft werden vorbehaltlos dem Imaginären zugeschrieben. Die Gleichsetzung mit Täuschung und Illusion ergibt sich geradezu zwingend, jede andere Form der Imagination erscheint entweder irrelevant oder als Einbildungskraft machtlos. Selbst wenn man Lacans Vorstellung über die Psychogenese teilt, bleibt unklar, warum sich dieser Wahn auf der sozialen Ebene wiederholt.35 Ein zweites, eng damit in Verbindung stehendes Problem ist die Unterscheidung zwischen dem Imaginären und der Einbildungskraft. 32 33 34 35

Ebd.: 99. Ebd.: 77. Ebd.: 194. Hinzu kommt, dass in dieser Betrachtung der europäischen Kulturgeschichte eine äußerst privilegierte, wenn auch psychotische Position beigemessen wird. Wenn das Spiegelstadium mit der Aufklärung gleichgesetzt wird, sind dann Gesellschaften ohne Aufklärung noch im Stadium vor ihrer Ich-Werdung? Ist das der Preis, als Gesellschaft nicht verrückt zu werden?

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Es wird nicht deutlich, warum es zur Trennung zwischen Imaginärem und Einbildungskraft kommt, und es ist nicht ohne weiteres möglich, genau zu bestimmen, wann genau ein Erlebnis oder eine Produktion dem einen oder anderen zuzuordnen ist. Warum Bilder aus Medien, selbst wenn sie kommerziell produziert werden, nicht auch auf eine körpernahe Einbildungskraft wirken sollen, bleibt unbeantwortet. Setzt Campbell Imagination und Tagtraum in eins, besteht bei Kamper eine unüberwindbare Trennung zwischen Täuschung und positiv konnotierter Einbildungskraft. Damit sagt er allerdings noch nicht, was Imagination ausmacht und ermöglicht, sondern bestimmt sie, ähnlich wie Lacan, alleine aus dem Wunsch, die Selbsttäuschung der Gesellschaft aufzuzeigen. Mit ganz anderen Vorzeichen hat der Philosoph und Psychoanalytiker Cornelius Castoriadis eine Begriffsbestimmung von Imagination geliefert. Castoriadis lehnt produktionsdeterministische Ansätze strikt ab. Die Produktion und Produktionsverhältnisse hätten zwar sehr wohl Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung, könnten sie aber keineswegs ausreichend erklären. Würde man die sozialen Zusammenhänge, wie beim Produktionsansatz, nur über Kausalketten erklären, dann verschwände genau das, worauf es ankäme: der Sinn.36 Unbeachtet bliebe bei der rein kausalen Betrachtungsweise die selbständige und wirksame Generierung von Dingen, Verfahren, Ansichten oder Verhaltensweisen und die mit ihnen verbundenen Bedeutungen, durch die sie zu etwas Sozialem werden. Bedeutungen sind nach Castoriadis nie abgeschlossen und eindeutig, sondern stets eingebunden in ein sich ständig veränderndes und ausuferndes Gebilde. Dieses Gebilde bezeichnet Castoriadis als Magma: »Unter Magma verstehen wir eine Vielheit, die nicht im üblichen Sinne des Wortes eine ist, die wir aber als eine kennzeichnen. Sie ist auch keine Vielheit in dem Sinne, daß wir tatsächlich oder potentiell abzählen könnten, was sie ›enthält‹. Dennoch lassen sich in ihr Terme kennzeichnen, die nicht vollends ineinander verschwimmen. Man hat sich also eine unbegrenzte Masse von Termen vorzustellen, die obendrein noch changieren können und nur durch eine fakultativ transitive Prä-Relation – die Verweisung – zusammengehalten werden; ein Konglomerat nicht streng voneinander geschiedener Bestandteile einer Mannigfaltigkeit; ein unentwirrbares Bündel verfilzter Gewebe aus verschiedenen und dennoch gleichartigen Stoffen, übersät mit virtuellen und flüchtigen Eigenheiten.«37

36 Vgl. Castoriadis 1997: 90-91. 37 Vgl. ebd. 565.

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Weil dieses Magma jeder Organisation oder Ordnung des Gesellschaftlichen vorgeordnet ist und gleichzeitig alle sozialen Prozesse durch das Magma gebildet werden, greift jede Beschreibung des Sozialen, die diese unchaotische, aber höchst variable Vielheit missachtet, für Castoriadis zu kurz.38 Das jeweils wirkende Magma fungiert anonym, es »ist« nicht »vorhanden«, wie eine Sache oder ein Mensch, sondern orientiert und justiert die Gesellschaft, so dass alle Dinge, Menschen und Praktiken eine Färbung erhalten, die ihnen überhaupt erst Bedeutung verleiht. So ist das Magma die Basis aller gesellschaftlichen Prozesse, ohne von ihnen getrennt zu sein oder direkt auf sie einzuwirken. Castoriadis beschreibt seinen Einfluß als »kohärente Deformation«,»eigentümliche Krümmung« und »unsichtbare[n] Zement«.39 Zentraler Gedanke von Castoriadis ist, dass die Gesellschaft kontinuierlichen Veränderungen unterzogen ist. Dabei kommt es laut Castoriadis zur völligen Neuschöpfung von Dingen, Prozessen und Bedeutungen, die vorher nicht existierten. Motor dieser Neuschöpfungen ist die Imagination. Mit dieser Bestimmung steht sie im Zentrum aller sozialen Prozesse, denn durch sie kommt der Wandel der Gesellschaft zustande. Castoriadis unterscheidet zwei Arten von Imagination: »Das radikale Imaginäre existiert als Gesellschaftlich-Geschichtliches und als Psyche-Soma. Als Gesellschaftlich-Geschichtliches ist es offenes Strömen des anonymen Kollektivs; als Psyche-Soma ist es Strom von Vorstellungen/Affekten/Strebungen. Was im Gesellschaftlich-Geschichtlichen Setzung, Schöpfung, Seinlassen ist, nennen wir gesellschaftliches Imaginäres im ursprünglichen Sinne oder instituierende Gesellschaft. Was in der Psyche-Soma-Einheit Setzung, Schöpfung, Seinlassen für die Psyche-Soma-Einheit ist, nennen wir radikale Imagination.«40 Die radikale Imagination der Psyche ist die Fähigkeit, »sich mit Hilfe der Vorstellung ein Ding oder eine Beziehung zu vergegenwärtigen, die 38 Gleichwohl ignoriert er die Existenz von identitätslogischen Ordnungen und Systemen nicht. Seine These ist jedoch, dass diese aus dem Magma heraus resultieren: »Die Gesellschaft ist keine Menge, kein System und keine Hierachie von Mengen oder Strukturen; sie ist Magma und Magma von Magmen. Doch es gibt eine unaufhebbare Dimension des gesellschaftlichen Tuns und Vorstellens, der gesamten gesellschaftlichen Lebens- und Organisationsweise, also der Einrichtung der Gesellschaft, auf die die Identitäts- oder Mengenlogik paßt und passen muss, weil diese Dimension in dieser Logik und durch sie gesetzt ist beziehungsweise ist.« (Ebd.: 382-383) 39 Ebd.: 246. 40 Ebd.: 605.

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nicht gegenwärtig sind (die in der Wahrnehmung nicht gegeben sind oder es niemals waren)«.41 Mit dieser Fähigkeit kommt es in der Vorstellung jedes einzelnen Menschen zur Schaffung von gänzlich Neuem aus dem Nichts, das heißt, ohne dass sich angeben ließe, warum genau diese Vorstellung oder Idee erschaffen wird. »Die Vorstellung ist radikale Imagination. Der Vorstellungsstrom ist Selbstveränderung, vollzieht sich als unaufhörliches Auftauchen von Anderem in der und durch die Setzung/Vor-Stellung [position] von Bildern und Figuren. Diese Verbildlichung entwickelt, schafft und aktualisiert erst, was der reflexiven Analyse nachträglich als Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit erscheint: Verzeitlichung, Verräumlichung, Differenzierung, Anderswerden.«42 Der Philosoph Bernhard Waldenfels ist in einer kritischen Würdigung der Theorie von Castoriadis der Meinung, die radikale Imagination sei primär als »schöpferische Einbildungskraft«43 zu beschreiben; Castoriadis selber weist aber darauf hin, dass die radikale Imagination nicht mit der einfachen Vorstellung von Bildern gleichgesetzt werden darf. Es geht nicht einfach um die Vorstellung von etwas, sondern um Neuschöpfung.44 Diese Fähigkeit der Psyche geht allen anderen voraus, weil sie schon am Werk ist, bevor es überhaupt zu einer Organisation der Triebe kommt und bevor die Psyche zwischen Außen- und Innenwelt trennt, wodurch sie überhaupt erst Kontakt zum Sozialen aufnehmen kann.45 Darüberhinaus ist sie auch der Motor gesellschaftlicher Veränderungen, weil von der Bildungskraft der Psyche die Veränderung der Gesellschaft abhängt. Revolutionärer Wechsel, so interpretiert die Philosophin Agnes Heller Castoriadis »beruht auf der radikalen Imagination der Psyche«46. Gesellschaftlich wirksam wird die radikale Imagination der Psyche immer dann, wenn ihre neuen Vorstellungen in der sozialen Welt institutionalisiert, wenn sie zu relativ festen Formen, Praktiken und vor allem Bedeutungen werden. Gesellschaftlich Institutionalisiertes ist laut Castoriadis eben keine Phantasie, sondern etwas, das wirkliche Handlungs- und Denkweisen erzeugt.47 So kommt es dann zur »Institution einer neuen gesellschaftlichen Regel, Erfindung eines neuen Gegenstands 41 42 43 44 45 46 47

Ebd.: 218. Ebd.: 542 . Waldenfeld 1991: 62. Vgl. Castoriadis 1997: 553, Pechriggl 1991: 82. Castoriadis 1997: 476, 492. Heller 1991: 179. Vgl. Castoriadis 1997: 526-528.

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oder einer neuen Form.«48 Vor allem aber werden über die wirkende gesellschaftliche Imagination neue Bedeutungen geschaffen und über die Institutionen verankert.49 Es bilden sich über die Institutionalisierung relativ feste Formen, die jeweils die Basis für Veränderungen und Neuschöpfungen sind. Psyche, Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen und die institutionalisierten Dinge bilden einen Zusammenhang, ein Magma aus imaginären gesellschaftlichen Bedeutungen, über die alle gesellschaftlichen und psychischen Prozesse inklusive der radikalen Imagination ablaufen. Die Kohärenz einer Gesellschaft entsteht durch den »Zusammenhalt ihrer Bedeutungswelt«50. Die Gesellschaft und die Persönlichkeitsstruktur sind einander homolog, weil die gesellschaftliche Institutionalisierung auch Einfluss auf die Psyche der Gesellschaftsmitglieder hat und umgekehrt ohne die Personen keine gesellschaftliche Praxis inklusive der Neuschöpfungen möglich wäre.51 Die Gesellschaft muss zwar »vom Vorstellungstrom der Subjekte getragen werden«52, gleichzeitig kann das Institutionalisierte die Psyche nie vollständig determinieren, weil die radikale Imagination nicht zu kontrollieren ist.53 Castoriadis Verdienst ist es, wie kein anderer auf die Bedeutung der Imagination hingewiesen zu haben, auf den hohen Grad der Erfindung von sozialen Dingen und Prozessen, die den Menschen im Zusammenspiel mit anderen und anderem prägt. Castoriadis zeigt, dass das Soziale aufgrund der Wirkung der radikalen Imagination weder abschließbar noch determiniert ist. Der Überschuss an Bedeutungen, der sich selbst einer komplexen Kausalanalyse entzieht, macht es unmöglich, aus einfachen Prinzipien wie zum Beispiel der Entwicklung der Produktion und der dazu nötigen Technik, die gesellschaftliche Entwicklung vollständig zu erklären. Indem Castoriadis die Imagination nicht nur in den Mittelpunkt einer Gesellschaftstheorie, sondern auch einer Ontologie stellt, wird sie zu einem alles erklärenden Mechanismus. Diese immense Aufwertung und Verallgemeinerung von Imagination ist aber nicht unproblematisch. Radikale Imagination ist die elementare Schöpfungsfunktion. Wenn sie einfach existiert, ohne genauere Bestimmung ihrer Einschränkungen, dann wird sie dadurch zu einem universellen, gleichzeitig aber auch geschichtslosen Phänomen. Obwohl Castoriadis auf die enge Verbindung 48 49 50 51 52 53

Ebd.: 77. Vgl. ebd.: 603. Ebd.: 588. Vgl. ebd.: 449-450. Ebd.: 559. Ebd.: 179-181, 529.

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zwischen Psyche und Sozialem hinweist, scheint die radikale Imagination in ihrer Funktionsweise vollkommen invariant zu sein. Der Philosoph Johann P. Arnason warnt: »Die These von der creatio ex nihilo läßt die Hintergründe und Kontexte der Kreativität – und damit auch das interpretative Verhältnis der imaginären Bedeutungen zu ihrem externen Horizont – als zweitrangig erscheinen.«54 Konsequenterweise müsste aber auch die Imagination sich durch die Veränderungen des sozialen Magmas in ihren jeweiligen Möglichkeiten, Ausdrucksweisen und Wirksamkeiten wandeln. Die Rahmenbedingungen, in denen Imagination stattfindet, dürfen auf keinen Fall fehlen, wenn sie das zentrale Prinzip gesellschaftlicher Entwicklung sein sollen. Unerklärt bleibt so auch, welche Arten von Imagination es gibt und ob sie zu jedem Zeitpunkt in gleicher Weise wirken. Wie konkret Imagination durch Musik funktionieren und welche Wirkungen dies haben könnte, lässt sich mit einem Verständnis von Imagination als einer ontologischen Grundkategorie, die jede Form von Vorstellungen erschafft, nicht beantworten. Castoriadis beschreibt ein enges Verhältnis zwischen der radikalen Imagination der Psyche und der radikalen Imagination der Gesellschaft. Die Schöpfungen der Imagination, das heißt neue Vorstellungsweisen, sind die Basis für die gesellschaftlichen Veränderungen. Er schreibt: »Der Einzelne kann private Phantasmen, nicht aber Institutionen hervorbringen.«55 Castoriadis erklärt aber nicht, unter welchen Bedingungen sich die individuelle Imagination in eine soziale Imagination wandelt – weil die fluide Form des sozialen Magmas dafür keine Erklärung bieten kann. Genau das müsste aber eine Theorie der radikalen Imagination zu leisten im Stande sein, weil sonst Imagination zwar ein zentrales, aber in ihrer spezifischen Wirksamkeit unerklärtes Prinzip darstellt. Ähnlich wie Kamper versucht Castoriadis weniger zu erklären, was genau unter Imagination zu verstehen ist – der Begriff wird genutzt, um theoretische Überlegungen begrifflich zu fassen. Bei Kamper ist es die Selbsttäuschung, bei Castoriadis die Schöpfung durch die Psyche, mit der er die marxistische Theorie durch eine Theorie radikaler Offenheit zu ersetzen sucht. Die Kritik an Kamper und Castoriadis verdeutlicht die Notwendigkeit, eine Definition von Imagination zu verwenden, die es ermöglicht, ihre jeweilige Wirkungsweise möglichst neutral zu beschreiben, und die 54 Arnason 1991:163. 55 Castoriadis 1997: 248.

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es gleichzeitig erlaubt, ihre Veränderbarkeit mitzudenken. Elementar, auch von Kamper und Castoriadis implizit mitgedacht, ist für die Imagination die Fähigkeit sich etwas vorzustellen, was aktuell abwesend ist. Das heißt, etwas im Geiste zu vergegenwärtigen, das zu einem früheren Zeitpunkt anwesend war und dies nicht länger ist. Diese Fähigkeit lässt sich als Einbildungskraft bestimmen.56 Anders als in der Begriffsverwendung von Kamper ist mit diesem Begriff keine Wertung verbunden, die Definition knüpft stattdessen an Kant an, der sie definiert als das »Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen«57. Eine zweite Dimension der Imagination ist genau das, was von Kamper negativ und Castoriadis positiv gedeutet wird, nämlich die Fähigkeit, sich etwas vorzustellen, dass so nicht da war oder ist. Diese Fähigkeit lässt sich als Vorstellungskraft oder Phantasie bestimmen. Dabei ist es zunächst ohne Bedeutung, ob dies freiwillig oder unfreiwillig geschieht, das heißt ob und inwiefern ein Mensch darauf einwirken kann, sich etwas Bestimmtes einzubilden oder vorzustellen. Imagination lässt sich definieren als die Verbindung und Verschmelzung der beiden Fähigkeiten der Vorstellungs- und Einbildungskraft, das heißt etwas vorzustellen, dass es so nicht gibt, aber durchaus so ähnlich geben könnte. Imagination bildet einen Teilbereich des Einbildbaren, indem sie das subjektiv Bestehende variiert, verändert, ausschmückt, reduziert oder erweitert. Imagination kann sich auf ganz unterschiedliche Weise vollziehen. Sie kann bewusst oder unbewusst, frei oder unfrei vonstatten gehen. Die Imagination unterliegt aber nicht der vollständigen Kontrolle des Bewußtseins. Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser schreibt: »Das Bewußtsein kanalisiert ein von ihm erwecktes Imaginäres genauso, wie es zur Folie dafür wird, ein zur Tätigkeit gebrachtes Imaginäres als eine dem Bewußtsein entgleitende Mehrdeutigkeit anzuzeigen.«58 Imagination kann auf eigenen Erfahrungen aufbauen oder auf Bildern, Geschichten oder Musik basieren. Die Imagination kann mit oder ohne Anwesenheit von anderen Personen vonstatten gehen. Und sie kann mit Empfindungen, Überlegungen und körperlichen Aktivitäten verbunden werden.

56 Im Englischen ist dies oft die einzige Bestimmung von Imagination, die dann von Phantasie unterschieden wird (vgl. Warnock 1976, Iser 1993: 296). 57 Kant 1787: B151. 58 Iser 1993: 345.

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Auf welche Art und Weise die Imagination sich ausprägt und wie sie individuell oder sozial wirkt, ist durch die gesellschaftliche Entwicklung mitbestimmt. Campbells Ansatz, darin liegt eine seiner Stärken, versucht die Ausbildung und Wirkung von Imagination durch die gesellschaftliche Entwicklung zu bestimmen. Wichtigster Ausgangspunkt des modernen Konsums ist laut Campbell vor allem die protestantische Ethik. Diese These mag überraschend sein, wenn man an die berühmte These von Max Weber denkt, der die protestantische Ethik als geistigen Rahmen des Kapitalismus beschreibt, in dem eine rationale und puritane Lebensweise und die Akkumulation von Wohlstand als Beweis der Gottgefälligkeit dienen. In dieser Sichtweise ist kein Platz für Konsum oder Vergnügen oder eine hedonistische Lebenseinstellung. Campbell kritisiert aber Webers Überlegungen als ungenügend, weil er die Entwicklung der protestantischen Ethik nach 1700 nur unzureichend betrachte. Die protestantische Ethik habe nicht nur das Ideal einer rationalen, asketischen Lebensführung postuliert, sondern in späteren Varianten auch Barmherzigkeit und Mitleid für die Schwachen gefordert. Diese emotionale Seite des Protestantismus mündet in der Fähigkeit Emotionen zu kontrollieren, um sie in einem beliebigen Moment, unabhängig von der Situation, abrufen zu können. Diese Umdisposition des psychischen Haushaltes hat weitreichende Folgen, von denen eine die unstillbare Konsumnachfrage ist. In der Romantik wird diese Fähigkeit mit der Suche nach dem »Wirklichen«, »Echten« und »Schönen« in der Imagination verknüpft, was zu einer Aufwertung der Phantasie und des Tagtraums führt. Und darin erkennt Campbell den Ursprung einer neuen, modernen Form des Hedonismus. Zu Recht macht Campbell darauf aufmerksam, dass der Versuch sich zu vergnügen und die Bedeutung der Imagination in einer Konsumgesellschaft von hoher Relevanz für die Konsumkultur ist und dieser Ansatz eine plausiblere Erklärung bietet als die utilitaristische Wirtschaftstheorie. Trotzdem weisen Campbells Überlegungen diverse Kurzziehungen auf, die beachtet werden müssen, damit sein Konzept übernommen werden kann. Wenn die Ideale der Romantik, die immer wieder neu aufgegriffen, modifiziert und weitergetragen werden, den kontinuierlichen Strom des Konsums bedingen, dann wären ökonomische, politische oder technische Entwicklungen zumindest als sekundär zu bestimmen. Veränderungen in diesen Bereichen, so kann aus Campbells Argumentation geschlossen werden, haben keinen Einfluss auf das grundlegende Prinzip romantischer Imagination. Eine zunehmende Konzentration auf Konsum, die Erweiterung des Marktes oder Veränderungen der Kapitalakkumulation

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wären dann Akzidenzien gegenüber den romantischen Idealen.59 Bei Campbell scheint mit der Durchsetzung der Romantik die gesellschaftliche Entwicklung erstaunlicherweise abgeschlossen zu sein. Campbell vertritt, in Anlehnung an Max Weber, eine rein individualistische Position, in der es außer den Idealen und den Wirkungen auf das Individuum nichts Weiteres zu geben scheint. Darüber hinaus ist Konsum bei Campbell alleine an den Versuch des Einzelnen gekoppelt, Tagträume real werden zu lassen. Wie der Produktionsansatz in einen Produktionsdeterminismus zu verfallen droht, besteht bei Campbell die Gefahr eines Imaginationsdeterminismus, in dem allein Tagträume die Konsumkultur erklären. Konsum erscheint auf imaginäre Projektion und Enttäuschung reduziert. Fragen der Macht und Beeinflussung bleiben so bei Campbell außen vor. Dass Werbung, die Stilisierung von Waren und die Einbindung des Konsums in weitere Praktiken ohne jede Wirkung bleiben, ist jedoch äußerst unplausibel. Im Kapitalismus werden Tagträume und Imagination im großen Stil vermarktet und an Produkte gekoppelt.60 Diese Kanalisation und Ausrichtung von Tagträumen verweist auf weitere wichtige Wirkungsfaktoren, die in Campbells Ansatz unterrepräsentiert sind. Für Campbell ist der moderne Hedonismus ein allgemeines, universelles Phänomen, das auf alle Personen in industrialisierten Gesellschaften zuzutreffen scheint – eine Verallgemeinerung, die Unterschiede im Konsum nicht berücksichtigt. Die Möglichkeit und Erklärung sozialer Unterschiede oder die Folgen der divergierenden Konsummuster und der Geschmack, der sich in ihnen äußert, bleiben so ausgeschlossen. Generell sind bei Campbell alle gleichermaßen Hedonisten, sozial strukturelle Variationen sind nicht vorgesehen. Soziale Position und biografische Einflüsse bleiben unberücksichtigt. Der moderne Mensch ist in Campbells Modell nur Hedonist und weitere Faktoren wie Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit oder soziale Stellung erscheinen irrelevant. Das allgemeine Muster des imaginativen Hedonisten und seine Rückführung auf die romantischen Ideale ist nicht unplausibel, es verdeckt aber den sozialen Mechanismus, der den Hedonismus steuert und seine Auswirkungen bedeutungsvoll macht.

59 Vgl. Clarke 2003: 131-132. 60 Vgl. Amin/Thrift 2002: 125.

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Konsumzwang

Ein anderer hilfreicher Zugang zur Problematik, der auch von Max Webers Überlegungen zur protestantischen Ethik ausgeht, stammt vom Soziologen Zygmunt Bauman. Webers protestantische Ethik taucht bei Bauman in leicht veränderter Form als »Arbeitsethik« zu einem deutlichen späteren Zeitpunkt Anfang des 18. Jahrhunderts auf.61 Sie etabliert sich als Versuch, die Fabriken mit Arbeitskräften zu füllen, indem die sinnentleerte, weil stupide Fabrikarbeit mit einer neuen Bedeutung aufgeladen wird. Im Mittelpunkt der Ethik steht die Forderung, diszipliniert zu arbeiten, um ein vorgegebenes Ziel zu erreichen und dadurch Vergnügen und Erfüllung zu empfinden. Arbeit wurde zum höchsten Gut und zwang alle Mitglieder der Gesellschaft zu arbeiten: »The work ethic called people to choose a life devoted to labour; but a life devoted to labour meant no choice, inaccesibility of choice and prohibition of choice.«62 Entsprechend ist die Arbeitsethik lange Zeit in der Industriegesellschaft nicht in Frage gestellt worden, auch weil die politischen Vertreter des Staates die Vollbeschäftigung zum zentralen Ziel erklärten. Mit der Arbeitsethik ist laut Bauman, unabhängig von der politischen Gesinnung, die Vorstellung der Gesellschaft als einer gigantischen Fabrik verbunden, in der jeder Arbeit habe oder haben solle und in der aus funktionalen Gründen zwischen Besitzer und Arbeiter unterschieden werde: »The continuity of that reprocessing depended therefore on the owners of the capital successfully engaging the rest of the population in the role of producers.«63 Die Arbeitsethik war eine wichtige Ideologie zur Einbindung der Arbeiter. Aber sie wirkte laut Bauman nicht bei den ausgebildeten Facharbeitern, die sich der Eingliederung in den disziplinierenden und rationalen Arbeitsprozess widersetzten. Da sie aber notwendig für die vollständige Abwicklung der Arbeitsprozesse waren, mussten sie auf andere Weise ›überzeugt‹ werden: »[T]he conflict over control, triggered by the attempt to extend over the skilled part of factory labour the disciplinary forces developed in dealing with the unskilled part (or the fear of such an extension) was displaced and shifted into the sphere of surplus distribution. Legitimation of the new

61 Vgl. Bauman 1998: 16-17. 62 Ebd.: 19. 63 Ebd.: 18.

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structure of power and control was obtained through the delegitimation of the division of the surplus – the one thing which the ›sovereign power‹ in pre-industrial society sought to keep clear from contest.«64 In der Einbindung der qualizifizierten Arbeiterschaft in den Produktionsprozess sieht Bauman den Ursprung einer Konsumethik, in der Arbeit dazu dient, immer mehr konsumieren zu können. Entscheidend für die aktuelle Entwicklung sei, dass die Konsumethik mittlerweile die Arbeitsethik als zentrale Orientierung abgelöst habe. Mitglieder der Gesellschaft seien heute weniger als Produzenten, sondern als Konsumenten gefragt. Eine Ethik, die Arbeit über den Konsum stellt und Gratifikationen aufschiebt, ist einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder primär als Konsumenten integriert, mittlerweile hinderlich. 65 In der Diagnose der Auswirkungen der Konsumgesellschaft auf das Verhalten der Menschen unterscheidet sich Bauman nicht wesentlich von Campbell. Der Mensch wird zum Attraktionssuchenden, immer in der Hoffnung, das nächste Erlebnis übersteige das vorherige: »They live from attraction to attraction, from temptation to temptation, from swallowing one bait to fishing for another, each new attraction, temptation and bait being somewhat different and perhaps stronger than those that preceded them; just as their ancestors, the producers, lived from one turn of the conveyor belt to an identical next.«66 Im Gegensatz zu Campbell ist für Bauman allerdings nicht die unintendierte psychische Disposition des Einzelnen entscheidend, sondern der gesellschaftliche Zwang zum Konsum. In Anlehnung an Michel Foucaults Körperdisziplinierungstheorie behauptet Bauman, der Körper müsse zum Konsum trainiert werden, was er am Beispiel des Musikkonsums erläutert: » Often there is little to distinguish between developing a capacity to absorb new (or more) sensations, and the more traditional forms of bodily drill. The objective, for instance, is not to train the capacity to enjoy music, but to make the body capable to withstand a permanent exposure to the flow of sometimes deafening, sometimes barely discernible, sounds.«67

64 65 66 67

Bauman 1983: 38. Vgl. Bauman 1998: 24. Ebd.: 26. Bauman 1983.

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Bauman nennt die Konsumgesellschaft eine »Now-Society«, in der die Gratifikation sofort erfolgen soll und das Aufschieben von Belohnung und Vergnügen nicht akzeptiert wird. Ein Mechanismus, der auch den beschleunigten und erweiterten Produktionskapazitäten Rechnung trägt. Warenförmiger Konsum findet nicht nur freiwillig statt – das ist die zentrale Erkenntnis, die Campbells Analysen zur Konsumgesellschaft fehlt, weil er Konsum nur unter der Perspektive individueller imaginativer Gratifikation betrachtet. Die Notwendigkeit von und Aufforderung zum Konsum wird aber kontinuierlich von außen an das Individuum herangetragen. Es kommt zum Zwang zum Konsum, unter dem Deckmantel der freien Wahl oder mit den Worten von Anthony Giddens: »we have no choice but to choose.«68 Die freie Wahl ist eine Aufgabe für den Konsumenten, eine Verpflichtung, die ihm auferlegt ist und der er sich, in Anbetracht der Ausweitung der Warenform, auch nur mit Schwierigkeiten entziehen kann: »In a consumer society, therefore, people are consumers more than anything else. It is their duty to consume; to want; to desire; to demand – all of which carries the most far-reaching consequences imaginable.«69 Zwischen der Freiheit, zu wählen, und der Notwendigkeit, wählen zu müssen, besteht ein dialektisches Verhältnis. Die Freiheit der Wahl avanciert laut Bauman zum zentralen Recht der Bevölkerung. Normative Regelungen oder Einschränkungen dieser Freiheit werden kategorisch abgelehnt.

Konsum und Ungleichheit

Der Konsument ist zum Konsum gezwungen, nicht weil sein Vergnügen durch romantische Ideale transformiert worden ist, sondern weil die Reproduktion der Gesellschaft ihn in die Rolle des Konsumenten drängt. Seine Aufgabe in der Konsumgesellschaft ist nicht länger zu produzieren, sondern zu konsumieren. Und seine Stellung innerhalb der Gesellschaft bestimmt sich nicht länger ausschließlich durch die Arbeit und ihre Position in der sozialen Hierarchie, sondern durch die Fähigkeit adäquat konsumieren zu können – eine Fähigkeit, für die allerdings eine ausreichende Ausstattung mit monetären Mitteln Voraussetzung ist. Alle können in der Konsumgesellschaft als Hedonisten beschrieben werden, aber nicht alle können ihren Hedonismus gleichermaßen umsetzen. Und auch wenn alle 68 Giddens 1991: 81. 69 Clarke/Doel/Housiaux 2003: 20-21.

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von einem hedonistischen Streben bestimmt sind, so differieren die Verwirklichungen der Imaginationen und auch die Wirkungen der Transformation der Imagination in die ›Realität‹ sind nicht einheitlich. Die Apologeten einer marktgesteuerten Konsumgesellschaft sehen die freie Wahl als Errungenschaft an, die die Möglichkeiten des Einzelnen erweitert und zur Befriedigung seiner Bedürfnisse führt. Dagegen spricht nach Bauman, dass der Konsument zwar frei entscheiden kann, welche Produkte er kauft, seine Freiheit gleichzeitig aber durch den Marktmechanismus eingeschränkt ist: »All commodities have a price-tag attached to them. These tags select the pool of potential consumers. They do not directly determine the decisions the consumers will eventually make; those remain free. But they draw the boundary between the realistic and the feasible; the boundary which a given consumer cannot overstep. Behind the ostensible equality of chances the market promotes and advertises hides the practical inequality of consumers – that is, the sharply differentiated degrees of practical freedom of choice.«70 Der feine Selektionsmechanismus greift auch bei den Konsumorten der Stadt, die an einen Vergnügungspark erinnern. Wie in jedem Vergnügungspark gibt es auch hier Zugangsbeschränkungen, obwohl kein Eintritt erhoben wird. Diese Einschränkungen beziehen sich nicht nur auf die notwendigen monetären Mittel, derer es zum Erwerb der angebotenen Waren bedarf, sondern auch auf die Präferenz von Personen, die als unauffällig und kaufbereit gelten. Personen, die diesem Raster nicht entsprechen, können subtil oder auch durch direkten Ausschluss von diesen Orten fern gehalten werden oder bei Eintritt durch Sicherheitskräfte und Kameras überwacht werden.71 Steven und Malcolm Miles halten diese Entwicklung für äußerst undemokratisch: »The imaginary city is only real to the select few able to afford it. The consuming city is imaginary precisely because it is not democratic and can never be democratic. Similarly, Disney World might offer a whole new kind of escapist urbanism. In the imagination of millions this provides a dream-like urbanity, but it is only actually available to the smallest minority of consumers. This, unfortunately is the reality of the consuming city.«72 70 Bauman 1990: 210-211. 71 Vgl. Bryman 2004: 172-173. 72 Miles/Miles 2004: 146.

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Hinzu kommt, dass vielerorts die Aufwertung und Gestaltung von Konsumlandschaften und die generelle Konzentration auf attraktive Standorte, die sich als Konsumort eignen, zugleich mit der Reduktion der Mittel für benachteiligte Sozialgruppen verbunden ist, was zu einem Anstieg der Probleme in jenen Stadtvierteln führt, die sich jenseits des städtischen Vergnügungsparks befinden. So muss bei der Betrachtung einer konsumorientierten Stadtentwicklung immer mitbeachtet werden, dass ihre Vorteile nur einem privilegierten Teil der Stadtbevölkerung voll zugänglich sind.73 In den letzten dreißig Jahren ist es zu einem Anstieg des sozialen Gefälles in den USA und Europa gekommen, weil die informatisierte und konsumorientierte Stadtökonomie die Spaltungstendenzen verstärkt. Dienstleistungstätigkeiten zur Aufrechterhaltung der materiellen Infrastruktur und der Konsumorte sind schlecht bezahlt und bieten wenig soziale Sicherheit: »Der Produktionsprozeß einer solchen Dienstleistung umschließt aber auch eine Vielzahl von Arbeitern und Unternehmen, die man gewöhnlich nicht zur Informationsökonomie rechnet: Sekretärinnen, Hausmeister und Putzkolonnen, um nur einige zu nennen. Auch diese Tätigkeiten sind Schlüsselkomponenten der Dienstleistungswirtschaft. Wie weit oben eine Stadt in der neuen transnationalen Hierarchie auch stehen mag, es wird in ihr immer eine bedeutende Zahl von schlechtbezahlten Jobs geben, die, mögen sie in ihrer Bedeutung auch verkannt werden, doch einen integralen Bestandteil bilden.«74 Die räumliche Struktur der Städte bleibt nicht unberührt von dieser schleichenden Polarisierung. Die auf Konsum ausgerichtete Stadt ist auch eine Stadt der sozialen Teilung, in der die Konsumorte zusehends überwacht und von der restlichen Stadt separiert werden. Andererseits bilden sich in vielen Städten Gebiete, in denen sich soziale Probleme häufen, staatliche Kontrolle zunimmt und die Menschen, die dort leben, verstärkt ausgegrenzt werden.75 Diese Entwicklung zeigt, dass die soziale Position, die jemand innehat, nicht irrelevant ist für den Möglichkeitshorizont der Verwirklichung der hedonistischen Imagination.76 Der moderne Hedonist ist nicht weniger abhängig von seiner sozialen Stellung als sein traditioneller Vorgänger. 73 74 75 76

Vgl. Mort 1998. Sassen 1996: 143. Vgl. Dangschat 1995, Krätke 1995: 182-188, Michel 2005: 44-74, Rolf 2006: 107-138. Vgl. Featherstone 1991: 230.

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Trotz dieser Einwände kann an Campbells Überlegungen festgehalten werden. Die Einbindung von Tagträumen in den Kapitalismus, der Zwang zum Konsum und die ungleiche Verteilung der Chancen einer Umsetzung von Tagträumen in Konsumgüter widersprechen nicht seinen grundsätzlichen Überlegungen zur Existenz einer neuen Form des Hedonismus. Sie sind eher als Hinweise zu verstehen, welche Wirkmächtigkeit die Tagtraum-Imagination in Kombination mit einem kapitalistischen Wirtschaftssystem hat und welchen Einschränkungen und Bedingungen sie unterworfen ist.

Phantasmagorie und Stadtfigur

Campbell hält Konsumprodukte und Konsumorte nicht selbst für Tagträume; sie bieten lediglich das Material für die Phantasien.77 Diese Sichtweise erschwert es, die Einbindung des Konsumenten in die ästhetisierten Konsumwelten zu untersuchen, denn in dieser Sichtweise ist der Konsument von der Welt abgetrennt, in der die Produkte verkauft werden. Es gilt stattdessen die Wechselwirkung zwischen ästhetisierten Stadträumen und Tagträumen zu untersuchen, um mehr über die Einbindung der Konsumenten in den Alltag zu erfahren.

Traumstadt mit Benjamin

Den Zusammenhang zwischen zunehmender Kapitalisierung, Warenpräsentation und Imagination hat schon Walter Benjamin ins Zentrum seiner Untersuchungen gestellt. Für Benjamin ist die kapitalistische Stadt durch neue Konsumorte geprägt. Benjamin war besonders von den im 19. Jahrhundert entstandenen, modernen Pariser Arkaden fasziniert. In ihnen waren einzelne Geschäfte überdacht aneinander gereiht, sodass es möglich war, an ihnen vorbeizuschreiten und sich von den dort ausgestellten Waren berauschen zu lassen. Für Benjamin ergab dies eine kleine, private, bourgeoise Welt, die in den öffentlichen Raum verlegt worden war.78 Darin zeigt sich für Benjamin die Manifestation eines Warenfetischismus, in dem die überbordende Präsentation der Waren in den Städten zur Phantasmagorie einer kapitalistischen Gesellschaft wird.79 77 Vgl. Campbell 1987: 92-93. 78 Vgl. ausführlich Geist 1978, siehe auch Pile 2005: 50. 79 Vgl. Gregory 1994: 232-233, Gilloch 1996: 11, 117.

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Ähnlich wie die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts beliebte Phantasmagorie, die Bilder an die Wand projizierte, ohne dass die Quelle der Projektion einzusehen war, entsteht für Benjamin durch den Kapitalismus eine phantasmagorische Welt, in der die ausgestellten Waren ihre Entstehung und die tatsächlichen Verhältnisse ihrer Produktion verbargen, gleichzeitig aber auch die Wünsche und Vorstellungen der damaligen Zeit materialisierten. Der Sozialgeograf Steve Pile geht noch einen Schritt weiter und sieht die moderne Stadt generell von Phantasmagorien geprägt.80 Der Schriftsteller Jonathan Raban formuliert einen ähnlichen Gedanken, wenn er die imaginierte Stadt als genauso real bezeichnet, wie die Stadt aus Stein: »The city as we imagine it, the soft city of illusion, myth, aspiration, nightmare, is as real, maybe more real, than the hard city one can locate on maps, in statistics, in monographs on urban sociology and demography and architecture.«81 Diese Beschreibung passt auch zu den bereits vorgestellten Überlegungen zur Ästhetisierung von Stadträumen und zur unablässigen Nachfrage nach Konsumgütern. Die ästhetische Gestaltung von Konsumorten offenbart ihre Absicht, Produkte zu verkaufen, im gleichen Maße, wie sie diese Offensichtlichkeit durch die Präsentation von Traumwelten verschleiert. Mit diesen Phantasmagorien lassen sich hedonistische Tagträumer ›einfangen‹, weil sie deren Träumereien nicht nur entgegenkommen, sondern sie mit Inhalt füllen. Auf diese Weise werden die Konsumenten durch die Phantasmagorien der Konsumwelt in das soziale System eingebunden, das ihnen die Grenzen setzt, die sie durch ihre Tagträume imaginär zu überschreiten versuchen.

Figur der Moderne: der Flaneur

Die zentrale Figur, die sich in der phantasmagorischen Stadt bewegt, ist für Benjamin der Flaneur. Auch wenn seine Bestimmungen des Flaneurs vage und widersprüchlich bleiben – übrigens ein Grund für ihren Erfolg, da sich diverse Überlegungen und Theorien an sie anknüpfen lassen – ist eindeutig klar, dass der Flaneur in der modernen Großstadt zu Hause ist.82 80 Vgl. Pile 2005: 18-20. 81 Raban 1974: 2. 82 Eine kritische Analyse des Flaneurs bei Benjamin und anderen bietet Neumeyer (1999). Er behauptet: »Benjamin hat vor jeder Interpretation immer schon eine Kategorie von Flaneur parat; welche das ist, bleibt völlig seiner Willkür vorbehalten, mal

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Der Flaneur stellt für Benjamin die wichtigste Instanz einer neuen Form der visuellen Aneignung des Stadtraums dar: Er wandert durch den Stadtraum und gibt sich seiner Betrachtung hin, ohne ein bestimmtes Ziel zu verfolgen, außer sich treiben zu lassen und die Konsumwelt und ihre Besucher zu beobachten.83 Ohne sich der Beschleunigung hingeben zu müssen, die Simmel als Kennzeichen der modernen Stadt bestimmt, schlendert er gemächlich durch die Straßen und Passagen.84 Die Erfahrung des Stadtraums kann sich dabei zu einem Rausch steigern, in dem der Flaneur sich im städtischen Raum verliert.85 Das Besondere des Flaneurs besteht allerdings nicht darin, dass er sich ziellos oder rauschhaft und dadurch passiv durch die Stadt bewegt, sondern dass er sich, wie der Soziologie David Frisby in seiner Interpretation Benjamins feststellt, aktiv in den Stadtraum begibt, um ihn und seine vielfältigen Zeichenwelten zu erleben. Für Benjamin ist die Großstadt wie ein Labyrinth und der Flaneur versucht, indem er sich darauf einlässt, die Rätsel der Stadt zu ergründen.86 Frisby weist darauf hin, dass es dem Flaneur gelingen kann ›hinter‹ die städtische Phantasmagorie zu schauen. Was die urbane Konsumwelt sonst verbirgt, wird offengelegt, indem Benjamin durch die Figur des Flaneurs auf ihre Mechanismen hinweist und das, was sie verbergen. Der Flaneur erscheint so als moderner Held, der sich mit den bestehenden Verhältnissen nicht abfinden möchte, sich aber gleichzeitig dem Reiz der Phantasmagorie nicht entziehen kann, wie der Soziologe Graeme Gilloch feststellt: »The urban hero defies the modern fates: he or she does not succumb to the temptations of the commonplace commodity and resists the urge to hurry when all around are scurrying to and from their labours; he or she retains a sense of personal identity and integrity even in the midst of the anonymous, bustling crowd, and refuses to bow down before the modern gods of punctuality and rational calculation.«87 Ein Problem in der Beschreibung von Benjamin liegt aber, so Gilloch, in der Konzentration auf eine bourgeoise Aneignungsweise der neuen Stadt, die dazu führe, Klassenunterschiede und unterschiedliche

83 84 85 86 87

ist es Gelassenheit, mal Schaulust, dann die physiognomische Lektüre oder das Privatisieren, das auch der Flaneur nicht missen will; je nachdem ist der Flaneur dann Literat, Detektiv oder Badaud.« (Ebd.: 58). Vgl. ebd.: 12-13, Jayne 2006: 49. Vgl. Benjamin 1996: 525, Simmel 1996: 696-716. Vgl. Clarke 2003: 87. Vgl. Frisby 2001: 38 43. Gilloch 1996: 148-149.

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Aneignungsweisen einzelner Gruppen in der Stadt außer Acht zu lassen.88 Der Vorwurf ist nicht ganz unberechtigt, ändert aber nichts daran, dass es Benjamin mit der Beschreibung des Flaneurs gelingt, mehreres zugleich zu untersuchen: die gesellschaftlichen Veränderungen in der Stadt, die Reaktionen auf diese Veränderungen und die neuen Wahrnehmungsformen, die damit verbunden sind. Genau aus diesem Grund sind Figuren ein wichtiges Instrumentarium, um idealtypisch komplexe Veränderungen der Relationen von Stadt und ihren Bewohnern zu beschreiben. Der Flaneur wird von Benjamin als eine einsame Person im Stadtraum beschrieben, die sich zwar in der Menge der Stadtbewohner bewegt, nicht aber in ihr aufgeht. Er verweigert sich bewusst der Menge, bleibt distanziert und arrogant.89 Benjamin erkennt eine Parallelität zwischen Flaneur und Ware in ihrem Verhältnis zur Menge der Stadtbewohner: »Der Flaneur ist ein Preisgegebener in der Menge. Damit teilt er die Situation der Ware. Diese Besonderheit ist ihm nicht bewusst. Sie wirkt aber darum auf ihn nicht weniger. Sie durchdringt ihn beseeligend wie ein Rauschgift, das ihn für viele Demütigungen entschädigen kann. Der Rausch, dem sich der Flanierende überläßt, ist der der vom Strom der Kunden umbrausten Ware.«90 Der Flaneur ist folglich nicht gleichzusetzen mit einem Konsumenten, der sich zum Kaufen in die Warenwelt stürzt. Für Benjamin ist folgerichtig das Warenhaus das Ende des Flanierens, weil die Warenpräsentation im Kaufhaus die Funktion der Warenpräsentation in den Straßen und Arkaden übernimmt und so der Flaneur nicht länger durch die Stadt schlendern muss: »Das Warenhaus ist der letzte Streich des Flaneurs. War ihm anfangs die Straße zum Interieur geworden, so wurde ihm dieses Interieur nun zur Straße, und er irrte durchs Labyrinth der Ware wie vordem durch das städtische.«91 Für Benjamin endet das Flanieren durch das Kaufhaus, weil nur noch die Ware und ihr Erwerb in den Konsumorten eine Rolle spielt. Der reine Konsument ist kein Flaneur mehr, da dieser sich auch immer in einer Distanz zu dem befindet, was er im Rausch erlebt. Allerdings hat das heutige 88 89 90 91

Vgl. ebd.: 180-181. Vgl. ebd.: 15. Benjamin 1996: 545. Ebd.: 544.

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Verhältnis von Konsumraum und Konsument wieder mehr Ähnlichkeit mit der Beziehung des Flaneurs zu den Arkaden: Die Umgestaltung von Konsumorten zu Erlebniswelten versucht den Konsumenten zunächst in eine ihn anregende Umgebung zu ›entführen‹ und ihn ›nebenher‹ zum Kauf einer Ware zu verleiten. Zumindest die zahlungskräftigen Stadtbewohner können sich wieder dem Flanieren hingeben. Die Bindung an die Waren und das System, das diese produziert, geht dadurch nicht verloren. Der Sozialgeograf David B. Clarke macht darauf aufmerksam, dass die überbordende Warenwelt auch integrative Funktionen besitzt. Statt durch Kontrolle und Überwachung erfolgt die Integration durch Verführung.92

Repräsentation und Stadt

Die Phantasmagorien lassen sich als eine Form von Repräsentation beschreiben. Das gilt im Besonderen, wenn sie, wie im Falle der vergnügungsorientierten Konsumorte, ein bestimmtes Thema oder eine Stimmung zu vermitteln versuchen. Von einer Repräsentation kann immer dann gesprochen werden, wenn eine reduzierte Darstellung von etwas existiert, die im weitesten Sinne auf etwas Abwesendes verweist. Eine Repräsentation dient als Hinweis oder Verweis, als Abbild oder Vorbild für etwas anderes, das sie nicht ist. Der Sprachwissenschaftler W. J. Thomas Mitchell unterstreicht die notwendige soziale Einbindung: »Repräsentation ist stets von etwas oder jemand, durch etwas oder jemand und für jemand.«93 Um den Verweis der Repräsentation auf das Abwesende verstehen oder deuten zu können, bedarf es eines Codes, der erlaubt, von der reduzierten Darstellung auf das Dargestellte zu schließen.94 Repräsentation wird oft mit visueller Darstellung gleichgesetzt, aber es kann sich genauso um auditive, haptische oder olfaktorische Artefakte handeln. Urbane Repräsentationen sind immer dann gegeben, wenn die Repräsentation sich auf die Stadt als Ganzes oder auf städtische Orte bezieht oder sich von städtischen Umgebungen beeinflusst zeigt. Repräsentationen von Städten gibt es seit Langem, ihr Einfluss hat jedoch seit der Industrialisierung extrem zugenommen.95 Ihre Bedeutung wächst, weil sie in Form von Karten, Statistiken, Fotos und bewegten 92 93 94 95

Vgl. Clarke 2003: 90. Mitchell 1994: 18. Vgl. Eco 1994: 57-61. Die Darstellung der Stadt in Zeichnungen ist so alt wie die Stadt selbst. Nach Soja (2003: 36-46) existierte bereits um 6000 v. Chr. von der Stadt Çatal Hüyük, gelegen im heutigen nördlichen Syrien, eine Karte der Stadt.

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Bildern intensiv in die Steuerung und Planung von Städten eingebunden sind.96 Außerdem standen bis zur industrialisierten Moderne das Soziale und Räumliche in engem Zusammenhang, sodass sich die Struktur der Gesellschaft eindeutig räumlich manifestierte. Diese eindeutige Verbindung ist mittlerweile oft nicht mehr gegeben.97 Die gebaute Stadt dient nicht mehr als direkter Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse, weil sich die Geschwindigkeit sozialer Veränderungen nicht mehr im zeitgleichen Umbau der Stadt manifestiert. Und wo der Sozialraum seine Spuren in der Verteilung von Funktionen und Personengruppen hinterlässt, ist dieses nicht ohne Weiteres erkennbar. Für den Stadtforscher Raymond Ledrut mündet diese Entwicklung in eine schweigende Stadt, in der sich Handlungen, Geschichten und Stadt nicht länger aufeinander beziehen: »Planning no longer expresses, no longer translates, no longer symbolizes in specific forms (monuments and global or partial spatial structures) the way of living of this collectivity as its »personality«, its intention, its individual destiny. […] The city no longer speaks to its inhabitants of the things they have done to exist and to assert themselves in their being, nor of the things they could or should do together in order to exist in a true and new existence.«98 Repräsentationen sind ein Mittel, die Lesbarkeit der Stadt wieder herzustellen.

96 Gleichzeitige Zentralisierung, Dezentralisierung, Wachstum und Beschleunigung sozialer Praktiken führte zur einer verstärkten Kontrolle und Überwachung, um einen reibungslosen Ablauf aller Funktionen und Handlungen in der Stadt zu ermöglichen. Dazu begann man, wie M. Christine Boyer gezeigt hat, die Stadt zu beobachten, Daten zu sammeln, sie in Karten zu visualisieren und anhand des gewonnenen Materials Interventionen in der Stadt vorzunehmen. Dies diente auch zur Kontrolle ›problematischer‹ Wohngebiete (vgl. Boyer 1983: 75). Mittlerweile sind die Beobachtung und Kartierung urbaner Räume, die als Basis für die Stadtgestaltung dienen, zu einem gängigen Mechanismus der rationalen Stadtplanung geworden. Die Beobachtung der Stadt durch Statistiken, Kartierung und der in letzter Zeit verstärkt eingesetzten televisuellen Überwachung folgt einer panoptischen Logik, die Michael Foucault (1994) als Charakteristikum der modernen Gesellschaft herausgearbeitet hat. Aus dieser Perspektive sind Repräsentationen ein Instrument der Macht. Sie tragen dazu bei, die Abläufe in einem industrialisierten, komplexen urbanen Siedlungsraum aufeinander abzustimmen und Verhaltensweisen, die nicht dem geforderten Normalitätsmuster entsprechen, zu verhindern. Eine Strategie, die zur Festigung von Macht in der Stadt dient, indem sie Räume separiert und kontrolliert (vgl. auch Certeau 1988: 77-97, 179-208). 97 Vgl. Choay 1976. 98 Ledrut 1986: 132.

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Über technische Medien sind Stadtrepräsentationen im Alltag präsent: In Büchern, Bildern, Fotos, Nachrichten- oder Informationssendungen und in Spielfilmen, Serien oder Musikvideos tauchen ständig Stadtsilhouetten, Wohnviertel, Straßenzüge, städtische und öffentliche Plätze auf. In den visuellen Medien begann die Darstellung der Stadt mit Büchern, Anfang des 20. Jahrhunderts begannen Fotos und Filme zu dominieren, seit Ende des 20. Jahrhunderts kommen digitale Repräsentationen im Internet und in Computerspielen hinzu.99 Basis dieser Repräsentationen sind nicht selten Stile, die aus der Verbindung von lokalen Praktiken mit medial zugänglichen Repräsentationen resultieren.100 Die Stadtfiguren sind auch die Figuren, die in den Medien präsent sind. So entsteht ein Kreislauf aus Repräsentationen des Städtischen, ihrer medialen Distribution und anschließenden Aneignung. Repräsentationen sind zudem indirekt an die Stadt gebunden, weil ihre Produktion zum großen Teil durch die in der Stadt konzentrierte symbolische Ökonomie erfolgt: »What is new about the symbolic economy since the 1970s is its symbiosis of image and product, the scope and scale of selling images on a national and even a global level, and the role of the symbolic economy in speaking for, or representing, the city.« 101 Repräsentationen erschaffen die Stadt mit, wie der Soziologe Rob Shields anmerkt:

99 Es existieren vielfältige Untersuchungen zu solchen Stadtrepräsentationen. In den meisten wird zwar dezidiert die jeweilige ästhetische Umgangsweise mit der Stadt herausgearbeitet, sie sind aber für eine soziologische Analyse nicht ohne Weiteres nutzbar. Was in vielen fehlt, ist zum einen eine Anbindung an die sozialen Bedingungen, die sie hervorgebracht haben, zum anderen eine Analyse der Wirkungen solcher Repräsentationen. Mit anderen Worten, künstlerische Repräsentationen werden zu oft als autonome Kunstwerke behandelt und zu selten als soziale Artefakte, die mit der sozialen Welt in engem Kontakt stehen. Übersichten zum Film bieten: Clarke 1997, Voss 1997 und Shiel/Fitzmaurice 2001. Unterschiedliche Künste und Medien werden in Timms/Kelley 1985, Scherpe 1988, Sharpe/Wallock 1997, Westwood/Williams 1997, Balshaw/Liam 2000a untersucht. Vgl. auch die Monographien von Donald 1999 allgemein zu Repräsentationen der Stadt und von Hurm 1991 und Corbineau-Hoffmann 2003 speziell zur Großstadtliteratur. Zum Unterschied von Stadt und Land in der Dichtung siehe Williams 1973. Zur Stadt in den Nachrichten vgl. Pinck 2000. 100 Zukin 1995: 9. 101 Ebd.: 8.

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»We do not live in abstract categories, but in the lived space of concrete abstractions. But the truth of ›the city‹ is that it is a ›concrete abstraction‹: an abstract form which nonetheless has concrete implications, such as the commodity. Hence the shortsightedness of both a simple empiricism which accepts the city as reality, not representation, and of cynical idealism which dismisses the ›equivalent to real‹ status of representations of the city. The city is a concept with a very concrete affect.«102 Der Einfluss der Medien führt dazu, dass unser Wissen über Städte und unsere Einstellung zu Städten stark von diesen Mediendarstellungen geprägt sind und diese in die Alltagspraktiken diffundieren.103 Es zeigt sich noch einmal, dass Campbells Theorie erweitert werden muss. Die Imagination bewegt sich nicht in einem luftleeren und kontextlosen Raum, sie ist an die sozialen Bedingungen und an vorhandene Repräsentationen gekoppelt.

Auf dem Weg zur Hyperrealität der Stadt?

Die Wirkung von Repräsentationen der Stadt verstärkt sich noch, wenn Städte entsprechend fiktionaler Repräsentationen umgestaltet werden. Las Vegas ist wohl das auffälligste Bespiel einer Stadtentwicklung, in der fiktionale Räume aus Spielfilmen zur Gestaltung von Gebäuden und Innenstadtvierteln dienen.104 Repräsentationen werden so zur Basis der Phantasmagorien der Stadt. Der Geograf Michael J. Dear erkennt in Las Vegas nicht nur eine Überschneidung von Film und gebauter Umwelt, sondern beobachtet auch, dass daraus ein Spielfeld entsteht, auf dem sich die Besucher der Stadt wie in einem Film benehmen. Inszenierte Repräsentation und die faktische Form der Stadt gehen ihm zufolge mehr und mehr ineinander über: »[T]elevisual and cinematic representations of the urban increasingly define the physical form of the city. As cities become representations, so do representations become cities: cities as representations as cities […].105 Mit der Kombination aus Kapitalismus und vollständiger Ästhetisierung der Stadt bietet Las Vegas wohl das eindrücklichste Beispiel eines Gebildes, 102 103 104 105

Shields 1996: 231. Vgl. Hetherington 1997: 189, Balshaw/Kennedy 2000b: 4, Miles/Miles 2004: 130. Vgl. Dear 2000: 199-207. Ebd.: 167.

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das nur noch ein einziges Spektakel ist. Die Umgestaltung zu Vergnügungsorten ist, wie gezeigt, jedoch keineswegs auf Las Vegas beschränkt. Schon in den 1960er Jahren hatte der theoretische Kopf der Situationisten Guy Debord postuliert, die Gesellschaft sei zu einer »ungeheure[n] Sammlung von Spektakeln«106 degradiert worden, in einer allumfassenden glitzernden Oberflächenwelt des Kapitalismus.107 Diese These hat der Soziologe Jean Baudrillard weiterentwickelt, der – passend zu Dears These – zu amerikanischen Städten anmerkt, ihr Geheimnis ließe sich am besten im Kino kennenlernen.108 In seiner radikalen Interpretation der Konsumgesellschaft hat die Zeichenwelt die Realität schon lange hinter sich gelassen. Die Zeichen der Warenproduktion und der Medienwelt triumphieren und beginnen die Welt in eine simulierte Hyperrealität zu verwandeln.109 Eine wiederum implizit an Baudrillards Simulationstheorie anknüpfende These zum Zusammenhang von populärer Kultur und Stadt stammt vom Cultural-Studies-Forscher Iain Chambers.110 Die populäre Kultur ist ihm zufolge die spezifische Lebensweise von unterprivilegierten Stadtbewohnern, sie wird aber vor allem bestimmt durch den wachsenden Einfluss von Medienrepräsentationen, die von den Stadtbewohnern genutzt werden: » Caught up in the communication membrane of the metropolis, with your head in front of a cinema, TV, video or computer screen, between the headphones, by the radio, among the record releases and magazines, the realization of your ›self‹ slips into the construction of an image, a style, a series of theatrical gestures.«111 Für Chambers kommt es in der Folge zu einer Vermischung von realen und imaginären Orten, die durch die populäre Kultur geprägt sind: »The city exists as a series of doubles: it has official and hidden cultures, it is a real place and a site of the imagination. Its elaborate network of streets, housing, public buildings, transport systems, parks and shops is paralleled by a complex of attitudes, habits, customs, expectancies, and hopes that reside in us as urban subjects. We discover that urban ›reality‹ is not singular but multiple, that inside the city there is always another city.«112 106 107 108 109 110 111 112

Debord 1996: 13. Genau das behauptet auch Langman 1992: 47. Vgl. Baudrillard 2004: 79. Vgl. Baudrillard 1978: 7-69. Vgl. Chambers 1986: 210, 1990: 11, 61-62. Chambers 1990: 11. Ebd.: 183.

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Die Wirkung der Medienrepräsentationen betrifft nicht nur die Orte, sondern auch das Alltagsverhalten. Wie der Ethnologe Arjun Appadurai feststellt, ist Imagination nicht nur als passives Erleben, sondern als eine Praxis zu bestimmen, die das Leben von vielen Menschen prägt und gestaltet.113 An dieser Überlegung knüpfen die Soziologen Nicholas Abercrombie und Brian Longhurst an. Sie sehen diese Praktiken der Imagination mittlerweile so weit in den Alltag integriert, dass sie nicht länger als abgegrenzte Ereignisse – wie bei einer kurzen Theatereinlage – erscheinen, sondern fester Bestandteil des Verhaltensrepertoires geworden sind.114 Dies resultiert aus der Diffundierung der Medienangebote in den Alltag, durch die ein allgegenwärtiges Publikum (diffuse audience) entstehe, in dem jeder zum narzisstischen Performer und Betrachter zugleich werde: »People are presenting themselves to others and, in doing so, are imagining how the others will see them. They are, in other words, performing for an imagined audience. Narcissm therefore provides the individual and motivational side of spectacle. In order to make the social world into spectacle, people have to be seen as the objects of spectacle. They have to be incited, motivated, to perform.«115 Tagträume, wie Campbell sie beschreibt, bestehen demnach vor allem aus Performances vor einem imaginären Publikum. Sie sind nach Abercrombie und Longhurst weder reine Fantasie oder Flucht noch werden sie nur passiv erlebt. Stattdessen ergäbe sich ein organisiertes Feld sozialer Aktivitäten aus dem Umgang mit den globalen Möglichkeiten, die die Medien bereitstellen.116 Die Menschen suchten nach Spektakulärem, weil sich als Persönlichkeitstyp der Narzisst durchgesetzt habe, der sich selbst nur noch über die anderen spiegele und nicht länger zwischen sich und der Außenwelt unterscheiden könne.117 Für solche Performances eignet sich die Großstadt in besonderem Maße. Sie bietet genügend Publikum und unterstützt die spielerische Darstellung des eigenen Selbst im öffentlichen Raum.118 Zudem sind es oft Figuren der Stadt, die in den Medien dargestellt werden.119 Problematisch 113 114 115 116 117 118 119

Vgl. Appadurai 1998: 21. Vgl. Abercrombie/Longhurst 1998: 72-73, 104. Ebd.: 95-96. Vgl. ebd.: 103-105. Vgl. ebd.: 113. Vgl. Hannerz 1980: 231-241, Lewis 1991: 241, Frith 1996: 205. Vgl. die Beispiele bei Kennedy 2000, Billingham 2003.

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an Abercrombies und Longhursts Überlegungen ist aber, dass sie keinen Ausweg aus dem Kreislauf von Spektakel und Narzissmus geben. Der narzisstische Persönlichkeitstyp verfängt sich im Spektakel und bleibt darin gefangen. Der Soziologe Don Slater hat aber ganz richtig angemerkt, dass die Performances und Selbstdarstellungen mittlerweile durch die Akteure ironisch gebrochen werden, weil sie wissen, dass sie ›nur‹ ein Spiel spielen: » Consumer culture is a fancy-dress party in which we dress up our everyday lives in ever-changing costumes, drawn from an inexhaustible wardrobe and driven by impulses which are themselves prompted by the life of the party rather than the life outside. On the other hand, the postmodern consumer is reckoned to be ironic and knowing, reflexive and aware of the game being played. In a sense, the mass consumer of modernity was suckered – was truly conformist, really wanted things, was really in the game. The postmodern consumer in contrast is hyper-aware of the game itself (indeed, that is the only way to play it).«120 Keine Berücksichtigung finden bei Abercrombie und Longhurst darüber hinaus Aushandlungsprozesse im lokalen Rahmen, die mit darüber bestimmen, wie und ob Medieninhalte genutzt werden. Ähnlich problematisch ist Chambers These einer alleinigen Dominanz der Zeichen. Markierte bei Baudrillard die Dominanz der Zeichenwelt den Untergang von Sinn- und Verweisstrukturen jeder Art, wird für Chambers im Spiel der Zeichen die Befreiung von vorgegebenen Grenzen und Zwängen möglich.121 In dieser Fokussierung reduziert sich bei Chambers die populäre Kultur zu einem Amalgam aus Zeichen und Aneignungen, die für alle gleichermaßen zugänglich sind und auch auf alle gleichermaßen wirken. Wie im letzten Kapitel gezeigt wurde, ist dies eine unzulässige Annahme.122 Zusätzlich steht dieses Argument von Chambers im Widerspruch zu seiner Beschreibung der Popkultur als Ausdruck der Unterklasse, deren Existenz sich nur schlecht mit der vermeintlich befreienden Fluktuation der Zeichen vereinbaren lässt.123 Aus dem gleichen Grund ist die These einer sehr hohen Relevanz von Stadtrepräsentationen nicht gleichzusetzen mit ihrer alleinigen Herrschaft. Selbst wenn Städte wie Las Vegas oder Vergnügungsparks wie Disneyland als städtische Hyperrealitäten konzipiert sind, Events und 120 121 122 123

Slater 1997: 197. Vgl. Chambers 1990: 193. Vgl. Thornton 1996: 121. Vgl. Harvey 1995: 16.

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Ästhetisierungen überhand nehmen und die populären Medienpräsentationen die Lebensweisen ihrer Bewohner mitprägen, sollte dies nicht zur These verleiten, es entstehe eine Hyperrealität, in der alles zum Zeichen ohne Referenz und Sinnhaftigkeit werde. Die These vom Triumph der Zeichenwelt mündet in einen Determinismus, der die Stadt durch ihre negativ oder positiv bestimmte Repräsentation ersetzt. Wie sich schon bei Benjamins Beschreibung städtischer Phantasmagorien zeigte, ist die Wahrnehmung der Stadt jedoch gleichzeitig durch reale und imaginäre Elemente geprägt und die Grenze zwischen beiden oft fließend.124 Weil als Quelle häufig die populäre Kultur dient, ist sie zu einem ubiquitären Phänomen geworden, wie auch die Stadtforscherin Stacy Warren feststellt: »What were once treated as separate, self-contained places within which one could escape from the rigours of daily life now are seen as not so much segregated sites but modes of representation that permeate virtually all landscapes and hence are inseparable from daily life. The popular culture that surrounds us acquires new significance as the ground upon which our cultural geographies are formulated, articulated, negotiated and lived […].«125 Das bedeutet jedoch nicht, dass die Stadt ausschließlich zu einer medial aufbereiteten Phantasmagorie wird. Denn Allgegenwart ist nicht identisch mit alleiniger Herrschaft.

Postmoderne Repräsentationen als kulturelle Logik des Spätkapitalismus?

Ein zweites Erklärungsmodell versucht der Zeichendetermination und dem Außerachtlassen sozialer Ungleichheit zu entgehen, indem es die Veränderungen der Repräsentationen und ihre Einbindung in gesellschaftliche Prozesse alleine auf Veränderungen in der Ökonomie zurückführt. Der Kulturwissenschaftler Raymond Williams hatte schon in den 1970er Jahren, in einer Arbeit über die Darstellung von Stadt und Land in der englischen Literatur, die These vertreten, dass die Literatur vor allem auf das kapitalistische System reagiere: »If we take only the images, we can swing from one to the other, but without illumination. For we have really to look, in country and city alike, at 124 Vgl. Clarke 1997: 3. 125 Warren 1993: 173.

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the real social processes of alienation, separation, externality, abstraction. And we have to do this not only critically, in the necessary history of rural and urban capitalism, but substantially, by affirming the experience which in many millions of lives are discovered and rediscovered, very often under pressure: experience of directness, connection, mutuality, sharing, which alone can define, in the end, what the real deformation may be.«126 Eine verwandte These zur Quelle der Veränderungen von Repräsentationen vertritt der Sozialgeograf David Harvey. Im Anschluss an den Philosophen Frederic Jameson formuliert er, dass die Postmoderne die kulturelle Logik des Spätkapitalismus sei.127 Zu neuen Repräsentationsformen kommt es danach durch das Auftreten eines neuen Akkumulationsregimes. Dieses Regime ist zum einen durch die bereits erwähnte neoliberale Flexibilität der Kapitalakkumulation geprägt sowie durch eine, wie Harvey es nennt, radikale Zeit-Raum-Verdichtung (time-space compression). Diese Verdichtungstendenz, die die Relevanz von räumlichen Distanzen zurückdrängt und zu einer beschleunigten Kapitalakkumulation führt, mündet in Reaktionen der Kunst.128 Für Harvey ist die postmoderne Kunst eine Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise der 1970er Jahre und die daran anschließende Umstrukturierung. Dass die postmoderne Kunst das Ephemere, die Collage und das Fragmentarische betone, ist für ihn Folge der flexiblen Akkumulation.129 So beschreibt Harvey den Film »Blade Runner«130 als direkte Darstellung dieser Akkumulation: »Blade Runner is a science fiction parable in which postmodernist themes, set in a context of flexible accumulation and time-space compression, are explored with all the imaginary power that the cinema can command. The conflict is between people living on different time scales, and seeing and experiencing the world very differently as a result. The replicants have no real history, but can perhaps manufacture one; history for everyone has become reduced to the evidence of the photograph.«131 Harvey leugnet nicht, dass die Repräsentationen von Zeit und Raum eigenständige Wirkungen haben können: »Representations of places have material consequences in so far as fantasies, desires, fears and longings 126 127 128 129 130 131

Williams 1975: 298. Vgl. Harvey 1990: 39-61, Jameson 2000: 188-232. Vgl. Harvey 1994a. Vgl. Harvey 1994b: 284-307. »Blade Runner«, 1982, Regie: Ridley Scott. Harvey 1994b: 313.

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are expressed in actual behaviour.«132 Aber er bindet die Veränderungen der Repräsentationen alleine an die grundsätzlichen Veränderungen des Kapitalismus: » Since capitalism has been (and continues to be) a revolutionary mode of production in which the material practices and processes of social reproduction are always changing, it follows that the objective qualities as well as the meanings of space and time also change. On the other hand, if advance of knowledge (scientific, technical, administrative, bureaucratic, and rational) is vital to the progress of capitalist production and consumption, then changes in our conceptual apparatus (including representations of space and time) can have material consequences for the ordering of daily life.«133 Indem er die Kultur, selbst wenn er ihr eine gewisse Eigenständigkeit zuschreibt, als Reflex auf die Veränderung des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems auffasst, folgt Harvey der klassischen marxistischen These, dass die Basis den Überbau bestimme. Anstatt der Zeichen übernimmt die Ökonomie die Funktion der totalen Determination gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Vorstellung der Hyperrealität weist zu Recht auf die extrem hohe Bedeutung von Repräsentationen hin, verfängt sich aber in einem Determinismus, nach dem die Zeichen das Soziale einseitig bestimmen. Die These einer Hyperakkumulation, in der die Kunst zum Reflex der Ökonomie wird, weist zu Recht auf die Veränderungen im Produktionsund Konsumbereich hin, kann aber genauso wenig die Wechselwirkung zwischen Repräsentationen und Praktiken aufzeigen und verfängt sich in einem ökonomischen Determinismus. Es bedarf folglich eines Modells, das die Bedeutung von Medialisierung und Kapitalakkumulation beachtet, gleichzeitig aber nicht die eigenständige Logik von Repräsentationen außer Acht lässt.

Henri Lefebvres Raummodell

Für die Beachtung von Wechselwirkungen zwischen Repräsentationen und Praktiken bieten sich die Überlegungen des Soziologen Henri Lefebvre zum Raum an. Die Schwierigkeit bei der Nutzung von Lefebvres Theorie besteht in seiner poetischen und oft fragmentarischen Schreib132 Harvey 1995: 22. 133 Harvey 1994b: 204.

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weise, die ihm den Vorwurf eingebracht hat, nicht über ein kohärentes Theoriemodell zu verfügen. Statt einer linearen Argumentation präsentiere er, so der Sozialgeograf Edward W. Soja und genauso der Soziologe Norbert Kuhn, eine Argumentation, die in ihren Variationen, Wiederholungen aber auch Pirouetten und wilden Kombinationen an Musik oder Tanz erinnere.134 Problematisch an Lefebvres Raumbegriff ist zudem, dass er ihn als eine Universalkategorie verwendet mit ganz unterschiedlichen Bedeutungen, die vom Raum als geografischem Gebilde bis zum Sozialraum reichen.135 Seine Überlegungen können trotzdem sinnvoll genutzt werden, weil sie diverse Anknüpfungspunkte zum Verständnis der Wirkung von Raumund Stadtrepräsentationen bieten und weil Lefebvre versucht, rein mentalistischen oder materialistischen Raumverständnissen entgegenzutreten, wie die Stadtforscher Maria Balshaw und Liam Kennedy feststellen: »He argues that traditional dualities of physical space and mental space are bridged by the processes of the production of space, especially as these are enacted through ›spatial practice‹ which he founds not on political economy (the more obvious Marxist focus), but on the material experience of social relations in ›everyday life‹. While stressing the complexities of interconnections between physical and mental space, he has reservations about what he sees as the, predominance of readable and the visible‹ in interpretations of space.« 136 Für Lefebvre ist Raum weder vor- noch nachgelagerte Instanz des Sozialen, sondern das Soziale entfaltet und erschafft Raum, wie es umgekehrt in und mit diesem Raum stattfindet. Soja hat diesen Zusammenhang in seiner Zusammenfassung des zentralen Gedankends von Lefebvre auf den Punkt gebracht: »The production of space (and the making of history) can thus be described as both the medium and the outcome of social action and relationship. This duality of spatio-temporal structuration connects social and spatial structures in such a way that the former appear in its concretized form in the latter – that is, spatial structures and relations are the material form of social structures and relations.« 137

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Vgl. Kuhn 1994: 61-62, Soja 1996: 8-9. Vgl. Kuhn 1994: 59. Balshaw/Kennedy 2000b: 2-3. Soja 1985: 94.

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Lefebvre konstruiert Raum nicht als ein duales System, in dem sich Materielles und Repräsentationen gegenüberstehen, sondern als eine Triade. Raum wird danach produziert durch: 1. Räumliche Praktiken (spatial practices). Lefebvre versteht darunter: »The spatial practice of a society secretes that society’s space, propounds and presupposes it, in a dialectical interaction; it produces it slowly and surely as it masters and appropriates it.«138 Mit räumlichen Praktiken sind alle Handlungen und Verhaltensweisen angesprochen, die sich auf Räume beziehen, räumlich lokalisiert stattfinden und Räume herstellen, indem sie den Naturraum manipulieren und verändern. Die Raumpraxis ist auch materieller Ausdruck von sozialen Relationen.139 2. Repräsentationen von Räumen (representations of space). Darunter versteht er: »conceptualized space, the space of scientists, planners, urbanists, technocratic subdividers and social engineers, as of a certain type of artist with a scientific bent – all of whom identify what is lived and what is perceived with what is conceived. […] This is the dominant space in any society (or mode of production). Conceptions of space tend, with certain exceptions […] towards a system of verbal (and therefore intellectually worked out) signs.«140 In dieser Dimension befinden sich die grundsätzlichen Vorstellungen und konzeptionellen Abstraktionen von Raum, die auch die weiter oben beschriebenen Kontroll- und Überwachungsinstrumente leiten, die die Stadt als Wissensobjekt bearbeiten und verändern. 3. Raum der Repräsentationen (representational spaces). Unter diesem Aspekt erscheint Raum als: »[…] directly lived through its associated images and symbols, and hence the space of ›inhabitants‹ and ›users‹, but also of some artists and perhaps of those, such as a few writers and philosophers, who describe and aspire to do no more than describe. This is the dominated – and hence passively experienced – space which the imagination

138 Lefebvre 1991: 38. 139 Vgl. Burgin 1996: 27. 140 Lefebvre 1991: 38-39.

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seeks to change and appropriate. It overlays physical space, making symbolic use of its objects. Thus representational spaces may be said, though again with certain exceptions, to tend towards more or less coherent systems of non-verbal symbols and signs.«141 Mit dieser dritten Dimension sind sowohl die Imagination von Raum, die Verwendung und Vermischung von Symbolen im Alltagsleben und künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Raum angesprochen, die nicht alleine abstrakt sind, sondern körperlich erlebt werden können. Da Lefebvre bei der dritten Raumdimension Kunst und Alltag zugleich erwähnt, ist unklar, worin der Raum der Repräsentationen besteht. Der Soziologe Christian Schmid betont in seiner Analyse des Raummodells von Lefebvre, dass die Räume der Repräsentation vor allem als gelebte Räume zu verstehen seien, die ihrem Wesen nach »qualitativ, fließend und dynamisch« seien. Sie stellen seiner Meinung nach keine direkten Repräsentationen des Raumes dar, sondern repräsentierten stattdessen »gesellschaftliche ›Werte‹, Traditionen, Träume«.142 Andererseits spricht Lefebvre aber in diesen Bereich auch von einer künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Raum. Der Geograf Derek Gregory identifiziert in seiner Analyse des Raummodells von Lefebvre den Raum der Repräsentation als kritische, künstlerische Gegenpositionen zu den bestehenden Verhältnissen und Produktionsbedingungen.143 Alltagsimagination und künstlerische Auseinandersetzung müssen keine Gegensätze sein. Gerade die Zunahme von Repräsentationen macht es plausibel, von einem intensiven Zusammenspiel von künstlerischen Arbeiten und gelebtem Raum auszugehen. Die drei Raumebenen, die sich auch als Alltagspraxis, instrumentelles Raumwissen und Raumimagination umschreiben lassen, werden in der Rezeption von Lefebvres Ansatz immer wieder als voneinander getrennt behandelt. Ihre eigentliche Dynamik besteht aber, so der Sozialgeograf Christian Schmid, darin, dass sie in einem dialektischen Prozess aufeinander verweisen.144 Es sind diese Verweisstruktur und die partiell eigenständigen Produktionen in diesen drei Ebenen, die den sozialen Raum herstellen. Diese dreifache Dialektik verhindert, dass die Geschichte wie bei Hegel oder Marx ein eindeutiges Telos besitzt. Stattdessen ist laut Lefebvre in jeder Situation jeweils eine Vielzahl von Möglichkeiten der Entwicklung vorhanden, die sich aus der Überlagerung diverser Widersprüche ergibt. 141 142 143 144

Ebd.: 39. Schmid 2005: 222-223. Vgl. Gregory 1994: 403-404. Vgl. Schmid 2005: 243-245.

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Moderne und abstrakter Raum

Für Lefebvre ist mit der kapitalistischen Gesellschaft die Dominanz eines abstrakten Raummodells verbunden, das auf der Ebene der Repräsentation durch ein euklidisches Modell geprägt ist, in dem der Raum als Container gefasst wird. Dies impliziert die Vorstellung eines homogenen Raums, der gleichzeitig aufteilbar und nutzbar ist. Der Raum sei fragmentiert, weil er separiert und parzelliert werde, und er sei hierarchisch, weil es zu einer unterschiedlichen Werteinschätzung von Orten komme, in Abhängigkeit von ihrer ökonomischen Verwertbarkeit. Über die Nationalstaaten wird dieser Raum in Territorien unterschieden. Gleichzeitig steuern und verteidigen die Nationalstaaten die kapitalistisch-räumliche Produktion: »Im abstrakten Raum entfaltet sich die Welt der Ware. Er ist ein Raum der Akkumulation, der Kalkulation, der Planung, der Programmierung und er ist ein Raum, in dem – durch die weltweite Reichweite der Produktivkräfte und der wissenschaftlichen Erkenntnis – eine Tendenz zur Homogenisierung herrscht.«145 Die Abstraktion und Fragmentierung des Raums dient nach Lefebvre dazu, den Raum zu einer Ware zu machen und so überschüssiges Kapital in Investitionen in den abstrakten Raum auszulagern. Die Produktion des Raums ist für Lefebvre deshalb auch dafür verantwortlich, dass der Kapitalismus seine internen Widersprüche verarbeiten kann, eine These, die von David Harvey aufgenommen und weiter ausgearbeitet wurde.146 Für den Philosophen Norbert Kuhn ist das wichtigste Merkmal des abstrakten Raums in Bezug auf den Raum der Repräsentationen seine Leere, die auch dazu diene, seine eigentlichen Konstruktionsmechanismen zu verdecken.147 Lefebvre schreibt dazu: »For it is both a result and a container, both produced and productive – on the one hand a representation of space (geometric homogeneity) and on the other a representational space (the phallic). The supposed congruence of the formants of this duality serves, however to mask its duplicity. For, while abstract space remains an arena of practical action, it is also an

145 Ebd.: 261. 146 Vgl. Harvey 1994, siehe auch Kuhn 1994: 57. 147 Vgl. Kuhn 1994: 53.

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ensemble of images, signs and symbols. It is unlimited, because it is empty, yet at the same time it is full of juxtapositions, of proximities (›proxemics‹), of emotional distances and limits.«148 Folge des Abstraktionsprozesses und der warenförmigen Verwertung des Raums ist die Zurückdrängung des erlebten, körperlich empfundenen Raums durch die zweite Raumdimension, die Repräsentation von Räumen. Dadurch dominiert der Sehsinn, die Bedeutung des Raums wird, dem euklidischen Modell entsprechend, vor allem visuell und in Distanz zum Betrachter erfasst. »It is thus – not symbolically but in fact – a purely visual space. The rise of the visual realm entails a series of substitutions and displacements by means of which it overwhelms the whole body and usurps its role.«149 Ein typisches symbolisches Zeichen dieses repressiven, entleerten Raums sei das Hochhaus, welches mit seiner phallischen Form, der Betonung des Visuellen und durch seine Größe, mit der die Stadt überragt wird, den Anspruch auf Macht und Kontrolle manifestiere.150 Im Sinne Lefebvres lässt sich auch die thematische Gestaltung von Konsumorten als Formen der Sinnauffüllung ansonsten leerer und nur dem Kommerz dienender Orte verstehen. Im fragmentierten Raum können Orte mit kontingenten imaginären Repräsentationen besetzt werden, ohne dass eine direkte Verbindung zwischen beiden bestehen muss. Fragmentierung meint in diesem Zusammenhang die Entstehung von Orten, die nur schwach mit der sozialen Geschichte einer Stadt in Verbindung stehen und sich stattdessen in ihrer Funktion und Ästhetik an homogenen Vorgaben und Vorstellungen orientieren. Dies können ebenso Orte des Transports (Flughäfen, Bahnhöfe), der Repräsentation (Museen) oder des Konsums (Einkaufszentren, Flagshipstores von großen, global operierenden Filialisten) sein, wie Orte in der Stadt, die kurzzeitig für Events oder Festivals genutzt werden.151 Der Stadthistoriker Dieter Hassenpflug spricht treffend von »placeless places«. Sie würden gebildet durch »images form arbitrary imaginary or real cities«152.

148 149 150 151 152

Lefebvre 1991: 288. Ebd.: 286. Vgl. Gregory 1994: 370, Schmid 2005: 268-269. Vgl. Augé 1999. Hassenpflug 2003: 52.

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Fragmentierter Raum und Alltag

Lefebvre benennt mit seiner Charakterisierung des abstrakten Raums wichtige Determinanten in industrialisierten, kapitalistischen Gesellschaften. Zwei Entwicklungen sind entscheidend: Erstens ist der Raum durch eine abstrakte, distanzierte Kontrolle geprägt, die den Raum fragmentiert und primär unter der Perspektive seiner ökonomischen Verwertbarkeit betrachtet. Zweitens bedarf ein abstrakter Raum der Besetzung mit Zeichen oder Symbolen, um ihm Bedeutung zu verleihen. Im Zentrum der Überlegungen von Lefebvre steht immer das konkrete, alltägliche Leben, das er durch die räumlichen Verhältnisse gegängelt sieht. Der abstrakte Raum impliziert für ihn Gewalt, Beherrschung, Zerstörung und Dominanz, die durch Lokalisierung, Hierarchisierung und Segregation erreicht werden:153 »The violence involved does not stem from some force intervening aside from rationality, outside or beyond it. Rather, it manifests itself from the moment any action introduces the rational into the real, from the outside, by means of tools which strike, slice and cut – and keep doing so until the purpose of their aggression is achieved.«154 Bleibt man in dieser Argumentation, dann ist das abstrakte Raummodell und der mit ihm verbundene Kapitalismus nur rein negativ zu bestimmen und die einzige Verbesserung gesellschaftlicher Entwicklung ist seine vollständige Überwindung. Anders als Marx verortet Lefebvre aber gerade das Potenzial für diese Veränderung nicht im Produktionsbereich, sondern im Alltag selbst.155 Der abstrakte Raum ist nach Gregory deshalb »enframed, constrained, and colonized by the economy and by the state; but […] it is also the trace and memory of other spatialities and other ways of being-in-the-world«.156 Problematisch an Lefebvres Modell ist die Gefahr, in eine deterministische Argumentation zurückzufallen, in der die Überwindung des abstrakten Raums aus ihm selbst heraus unausweichlich erscheint. In einer solchen Lesart würde letztlich die soziale Praxis doch von den Repräsentationen determiniert. Betont werden muss stattdessen das von Lefebvre selbst erarbeitete trialektische Verhältnis, durch das sich der Raum in

153 154 155 156

Vgl. Lefebvre 1991: 318. Ebd.: 289. Vgl. Lefebvre 1972a: 91, 1972b: 51. Gregory 1994: 402.

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einem kontinuierlich konflikthaften Prozess reproduziert und zugleich Basis sozialer Praktiken ist. Konflikte entstehen im abstrakten Raum, weil die Logik der Raumbeherrschung und die Logik der Erschaffung von Imagination aufeinander bezogen sind. Anhand der Benjaminschen Bestimmung eines phantasmagorischen Stadtraums und medialer Quellen der Imagination ist bereits gezeigt worden, dass der Bereich, dem sich künstlerisches oder alltägliches Erleben von Raumimagination zuordnen lassen, nicht nur über das Bestehende hinausweist und dadurch kritisch wirken kann, sondern auch in die Dimension des instrumentellen Raumwissens eingebunden ist. Auch der Raum der Repräsentationen ist – wenig überraschend, aber in Lefebvres Modell nicht ausreichend berücksichtigt – ein Kampffeld, das genauso dazu dient, die Bedingungen und die Existenz des abstrakten Raums in Frage zu stellen, wie seine Existenz zu kaschieren und zu überdecken. Dazu gehört, dass die Ökonomie Angebote für die Traumwelt von Stadtbewohnern anbietet, die kaschieren, dass die Räume der Gesellschaft einer Profitmaximierungs- und Rationalisierungslogik folgen, die den hedonistischen Tagträumen gerade nicht entsprechen.

Fazit: Konsum, fragmentierter Stadtraum und Imagination

Der Versuch, perfekte Tagträume durch Waren zu verwirklichen, und das zwangsläufige Scheitern dieses Prozesses erweisen sich als zentrale Mechanismen, die die kapitalistische Gesellschaft am Laufen halten. Die Einbindung und Ausnutzung dieser Mechanismen durch Werbung und Stilisierung von Produkten verstärken das Prinzip eines unabschließbaren Prozesses, in dem Warenproduktion und Imagination kontinuierlich aufeinander verweisen und ineinander übergehen. Durch die Aufwertung des Konsumbereichs in postindustriellen Gesellschaften hat sich der darin liegende Zwang zur freien Entscheidung und die Verpflichtung zum Konsum weiter verstärkt. Die Konsumaktivitäten und das vorherrschende abstrakte Raummodell führen zu einem weitgehend privatisierten und fragmentierten Stadtraum. Die Bindung der Imagination an den Konsum ist an dieser Entwicklung mitbeteiligt, weil die zum Verkauf dienenden Konsumorte so gestaltet werden, dass sie die Tagträume ihrer Besucher ansprechen. Aber die Imagination reduziert sich nicht auf den reinen Konsumakt. Sie ermöglicht durch die Aneignung und Weiterentwicklung von Medieninhalten und Konsumangeboten, die Stadt durch Performances und Selbstdarstellungen zu erobern.

4. Konsumgespenster, Großstadtkämpfer, Utopisten. Postindustrielle urbane Musikkulturen Were Walter Benjamin alive and living in New York today, I would advise him to head for Harlem and the outer boroughs. In the ghetto shopping centers where African Americans and immigrants sell and shop, he would find a different set of urban dreams, dreams arising from the intersection of ethnicity and class, posing a challenge to both multiculturalism and economic revitalization. Sharon Zukin1

Bisher wurde ein allgemeiner Zusammenhang zwischen postindustrieller Stadtentwicklung, Konsum und Repräsentation hergestellt. In Anschluss an diese Überlegungen kann jetzt untersucht werden, welche Praktiken, Stile und Repräsentationen Musikkulturen in einer von Konsumkultur geprägten Gesellschaft ausbilden und wie sie umgekehrt durch Praktiken, Diskurse und Repräsentationen an der Konstituierung der urbanen Kultur beteiligt sind. Die Praktiken des Pops sind vielfältig und variabel. Sie werden, wie schon erwähnt, in unterschiedliche lokale Kontexte übertragen und dort von Personen aus unterschiedlichen Milieus, Klassen und Kulturen angeeignet. Gleichzeitig lassen sich Regelmäßigkeiten im Pop feststellen: Einzelne Praktiken, Stile und Begründungszusammenhänge bleiben über längere Zeiträume und in vielen unterschiedlichen lokalen Kontexten erhalten. Deshalb ist es möglich, von unterschiedlichen Kulturen, wie Blues und Rock ’n’ Roll zu reden – oder in postindustriellen Gesellschaften von Punk, HipHop und Techno. Die drei letztgenannten Musikkulturen, die jeweils in enger Verbindung mit postindustriellen Städten stehen, sollen in diesem Kapitel vorgestellt werden. Dabei wird jeweils auf die grundlegenden Eigenschaften der Musik und die mit der Musik assoziierten Praktiken eingegangen, die städtische Entstehungsgeschichte diskutiert und – in Anlehnung an 1

Zukin 1995: 213.

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Walter Benjamin – jeweils die charakteristische, idealtypische Figur herausgearbeitet, um die Beziehung zur jeweiligen städtischen Situation zu beschreiben, in der sich die Mitglieder der einzelnen Popkulturen bewegen und auf die sie reagieren.

Punk: Negative Stadtverherrlichung

Seit seiner Entstehung hat Punk großes Interesse bei Wissenschaftlern hervorgerufen. Das bekannteste und über lange Zeit einflussreichste Buch über populäre Musikkulturen – »Subculture« des Kulturwissenschaftlers Dick Hebdige – basiert vor allem auf einer Analyse des Punks.2 Dem hohen Interesse für Punk steht eine relativ kurze Hochphase des englischen Punks zwischen 1976 und 1978 gegenüber. Der Populärmusikforscher Alan F. Moore spricht deshalb im Zusammenhang mit Punk von einer zeitlich begrenzten und historisch irrelevanten Musik.3 Andererseits hat die Radikalität, mit der Punk sich präsentierte, und die Do-it-yourselfMentalität, die sich mit der Punkbewegung etablierte und die Bildung eigener Produktions- und Vertriebswege nach sich zog, die populäre Musik insgesamt nicht unerheblich verändert: Bis heute gilt Punkrock als wichtiger Versuch, den Mechanismen einer Musikindustrie zu entkommen und eigene Presse- und Distributionswege, Plattenlabels und Veranstaltungsorte zu gründen.4 Auch wenn die Hochphase des Punks nur sehr kurz anhielt, entwickelten sich aus ihr heraus unter anderem in den 1980er Jahren der einflussreiche New Wave, beziehungsweise in Deutschland die Neue Deutsche Welle und in den USA Hardcore, dessen Wirkung sich bis in die Grunge-Szene der 1990er Jahre verfolgen lässt. Und obwohl der weiterhin praktizierte Punkrock schon seit Langem seine Radikalität verloren hat, zeigen die weltweiten Erfolge von Bands wie Green Day oder in Deutschland den Toten Hosen, dass Punk auch weiterhin ein Element der populären Kultur ist.

2 3 4

Hebdige 2001. Vgl. Moore 2001: 129. Die Selbstorganisation der Produktion und Distribution der Musik übernahmen die Punks von der englischen Pub-Rock-Szene. Sie hatte begonnen, Tonträger möglichst preiswert zu produzieren und sie unabhängig von der Unterhaltungsindustrie zu distributieren, zum Beispiel auf Konzerten. So konnte mit relativ geringem Werbeaufwand und bei relativ wenig verkauften Schallplatten schon der Break Even erreicht werden (vgl. Laing 1985: 8-10).

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Ein weiteres Element rechtfertigt im Zusammenhang mit einer Untersuchung von populärer Musik und Stadt eine Auseinandersetzung mit der Punkkultur: Sie war von Anfang an nicht nur ein Musikstil, sondern immer auch die Präsentation einer Lebenseinstellung, die sich besonders in der Kleidung und im Verhalten im öffentlichen, urbanen Raum zeigte.5

Eigenschaften von Punkrock

Als Punkmusik wurden von Mitte der 1960er bis heute sehr unterschiedliche Musikrichtungen bezeichnet. Bis zum Londoner Punk bezog sich der Begriff zunächst vor allem auf nordamerikanische Musikstile, die sich in den 1960ern im Anschluss an die »britische Invasion«, vor allem die Beatles und die Rolling Stones, in den USA bildeten und ähnliche Stilmittel wie verzerrte Gitarren, arrogantes ›Knurren‹ im Gesang und Texte über lästige Eltern oder soziale Restriktionen aufwiesen.6 Der zweite Bezug für den Begriff Punk waren seit den frühen 1970er Jahren Gruppen wie die New York Dolls, Television, Suicide oder die Ramones aus New York City. Diese und andere traten regelmäßig im East End im Club CBGB auf. Die Musik vieler Bands aus dem CBGB war relativ einfach und repetetiv und verweigerte sich ausgefeilten oder komplexen Arrangements.7 Sie stand damit in Opposition zu kommerziell erfolgreichen Gruppen wie Genesis, Yes oder Pink Floyd, die begonnen hatten, formale Elemente der europäischen Kunstmusik in ihre Musik zu integrieren. Aber die Punkkultur im CBGB war inhomogen und brachte keinen einheitlichen Musikstil hervor. Wichtiger war, dass das CBGB eine Atmosphäre bot, die es Musikern erlaubte, Musik jenseits der gerade erfolgreichen Musik zu entwickeln.8 Diese ›neue‹ Musik hätte wohl nicht ausgereicht, Punk über den Kreis des Clubs hinaus bekannt zu machen.9 Unterstützt wurde die Musik aber durch Medienberichte von Lester Bangs oder Dave Marsh. Die hatten, schon bevor sich Musiker im CBGB trafen, eine Musik gefordert, die nicht länger verkopft und kompliziert, sondern aggressiv, einfach und direkt sein sollte.10 Diese Forderung sahen sie in der Musik der Gruppen aus dem CBGB verwirklicht. 5

Bis heute gibt es in den Städten Punks, wie Diana Reiners, Gerlinde Malli und Gilles Reckinger (2006) am Beispiel Graz zeigen. Vgl. auch Clark 2004. 6 Vgl. Hardyl/Laing 1976: 277. 7 Vgl. Laing 1985: 12. 8 Vgl. Henry 1989: 3. 9 So unterschiedliche Musikgruppen wie die Talking Heads, Pattie Smith, Blondie oder die Ramones hatten zum Teil beachtliche Chartserfolge. 10 Vgl. Gendron 2002: 233-239.

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Der dritte und bis heute gängigste Bezug von Punk verweist auf die Punkkultur, die 1976 in London ihren Anfang nahm. Als Schlüsselfigur, die Punk nach London brachte, gilt der ehemalige Kunststudent und Kleidungsladenbesitzer Malcolm McLaren. Er hatte die Punkmusik aus dem CBGB kennengelernt und war für kurze Zeit und mit wenig Erfolg Manager der New York Dolls. Zurück in London beschloss er als Promotion für seinen Laden, eine Band zu gründen, die mit der Intensität der CBGBBands spielen und durch das Tragen seiner Kleidung Werbung für sein Geschäft machen sollte.11 Die von McLaren ins Leben gerufenen Sex Pistols, vier Jungs aus dem Umfeld von McLarens Laden Sex, gelten bis heute als Prototyp des Punk. Ihre Kleidung war ein wildes Sammelsurium unterschiedlicher Stile, die Vivian Westwood kreierte, die Modedesignerin von McLarens Geschäft. Ihre Musik war einfach und aggressiv, die Texte von Jonny Rotten wendeten sich gegen die herrschenden Verhältnisse und postulierten gleichzeitig eine nihilistische Stimmung, in der es nichts gab, das nicht abgelehnt wurde. So heißt es im bekanntesten Stück der Sex Pistols »God Save the Queen«: » God save the queen / The fascist regime / They made you a moron / Potential H-bomb / God save the queen / She ain’t no human being / There is no future / In England’s dreaming.«12 »Keine Zukunft, keine Träume, keine Hoffnung« war die Aussage, die Jonny Rotten in seinem deklamatorischen Gesangsstil vortrug. Die Radikalität der Musik, Texte, Kleidung und Plakate sowie des Verhaltens war ein Grund für den Erfolg der Band. Ein weiterer Grund bestand in der Geschicklichkeit, mit der McLaren medialen Wirbel um die Band herum zu erzeugen verstand. Als die Band zum Beispiel in einem Fernsehinterview Ausdrücke wie »Fucker« oder »Shit« benutzte, sprang die englische Presse auf das Thema an und berichtete teilweise als Aufmacher über die vermeintlich neue, den Anstand und das Empire bedrohende Musik. McLaren gelang es in Folge, weitere ›Skandale‹ um die Band herum zu ›erschaffen‹.13 Dies trug in kurzer Zeit dazu bei, dass sich Punk von einem marginalen Phänomen in Künstlerkreisen zu einer nationalen und dann internationalen Szene mauserte. Bald gab es neben den ersten 11

Aus diesem Grund konzipierte seine damalige Lebensgefährtin und Teilhaberin des Modeladens Sex, Vivian Westwood, auch die Kleidung für die Sex Pistols. 12 »God Save the Queen«, Sex Pistols, 1977, zitiert nach: http://www.lyricsondemand. com/s/sexpistolslyrics/godsavethequeenlyrics.html, Abruf: 23.11.2005. 13 Zur Geschichte der Sex Pistols und den diversen Versuchen, Aufmerksamkeit um die Band herum zu erzeugen, siehe Savage 2001.

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Londoner Bands wie den Sex Pistols, The Clash oder The Damned überall Fans und neue Musikgruppen, die sich relativ schnell in sehr unterschiedliche musikalische Richtungen entwickelten. Der kleinste gemeinsame Nenner, auf den Punkrock sich bringen lässt, ist die Forderung nach der Verweigerung der Konventionen und Klischees der jeweils aktuellen populären Musik.14 Aus dieser Forderung leitet sich ein Do-it-yourself-Ethos ab, nach dem jede und jeder in der Lage ist, sich auszudrücken und Musik zu machen. Das berühmte Cover des Fanzines Sniffing Glue, auf dem drei Gitarrenakkorde symbolisch abgebildet waren, jeweils mit der Bildunterschrift »This is a cord« und am Ende der Seite der Hinweis »Now form a band«, ist die überzeugende ikonografische Umsetzung dieses Ethos.15 Entscheidend ist im Punk nicht was, sondern wie gespielt wird.16 Nicht spielen zu können und trotzdem Musik zu machen, war, zumindest in den Anfängen der Punkmusik, ein Ideal, dem sich viele Bands verpflichtet fühlten. Daraus ergab sich die Problematik, dass längeres Spielen und häufigeres Auftreten den Dilettantismus entweder zu einem langweiligen Stereotyp machten oder die Gruppen im Laufe ihrer Karriere besser spielen konnten, als sie dem Punkselbstverständnis nach eigentlich durften.17 Ähnlich wie die Musik aus dem CBGB war auch der englische Punk nicht wirklich neu und revolutionär: Die Musik orientierte sich an der Musik von Gruppen wie MC5, den Stooges, The Who und sogar den Small Faces. Für den Londoner Punk war zudem die Musik der CBGB-Band Ramones stilprägend.18 Es ist daher sehr passend von Punkrock zu sprechen. Punkrock aus London radikalisierte und perfektionierte die amateurhafte, raue und die gesellschaftlichen Verhältnisse ablehnende Attitüde, die teilweise auch schon Bands aus dem CBGB an den Tag gelegt hatten.19 14 15 16 17

Vgl. Malott/Pena 2004: 50. Vgl. Savage 2001: 280. Vgl. Shank 1994: 92-93. So waren die Sex Pistols relativ schnell deutlich geschickter, als dies ihr anarchistischer Impetus eigentlich erlaubte. Über das erste Sex Pistols Konzert im März 1976 in Nashville, das die Journalistin Caroline Coon (1977: 4) besuchte, schreibt sie in der Rückschau: »What me impressed most, however, was their total disinterest in pleasing anybody except themselves. Instead, they engaged the audience, trying to provoke a reaction which forced people to express what they felt about the music. Quite apart from being very funny, their arrogance was a sure indication that they knew what they were doing and why.« 18 Vgl. Laing 1985: 22-23. 19 Deshalb bleibt bis heute umstritten, wer Punk ›erfunden‹ hat, welchen Einfluss die Garagenbands aus den 1960ern oder die Musiker aus New York City hatten. Das Bühnenoutfit zum Beispiel von Richard Hell hatte schon Elemente, die in der Punkkultur

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Und Punkrock unterschied sich radikal von der Musik und dem Verhalten der Musiker der erfolgreichen Chart-Musik.20 Der Populärmusikforscher Dave Laing hat gezeigt, dass auch die Texte der ersten Punkbands inhaltlich stark von denen der damaligen englischen Hitparade abwichen. Hatten in den Hitparaden 60 Prozent der Texte als Themenschwerpunkt romantische und sexuelle Beziehungen, waren es bei den Punkstücken nur 21 Prozent. Dagegen gab es im Punk viele Texte mit der Beschreibung von Gefühlen in der ersten Person Singular sowie soziale und politische Kommentare (jeweils 25 gegenüber 4 Prozent bei den Top 50). In der Kategorie der Beschreibung der Gefühle in der ersten Person dominieren eindeutig Texte über Frustration, Ärger oder Apathie. Für Laing besteht der Verdienst des Punks daher vor allem – nach einer Dekade der Abwesenheit – in der Wiedereinführung von politischen Themen in die populäre Musik: In den Texten dominieren Themen wie Arbeitslosigkeit, Benachteiligung der Unterklasse und Dominanz des Warenkonsums, die gängige politische Debatten und Einstellungen der damaligen Zeit widerspiegeln.21 Betrachtet man die Texte aus den Anfängen des englischen und nordamerikanischen Punkrocks, stellt man fest, dass die »Stadt« oder Städtenamen nicht besonders häufig Erwähnung finden.22 Wo dies geschieht, weicht das Stück in den meisten Fällen nicht von der allgemeinen Thematik im Punk ab.23 Die Stadt wird als feindlicher, abweisender und negativer

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23

später häufig anzutreffen waren: Er trug auf der Bühne T-Shirts, die er mit Sicherheitsnadeln zusammenhielt. Richard Hell war es auch, der am stärksten die nihilistische Orientierung der Punks in Großbritannien vorwegnahm (vgl. Henry 1989: 55). Vgl. Coon 1977: 3-5. Vgl. Laing 1985: 27-32. Eine Analyse der ersten beiden, beziehungsweise in einem Fall der ersten drei Veröffentlichungen von fünf Punkbands aus Großbritannien und Nordamerika ergab, dass in knapp einem Drittel der 110 untersuchten Texte explizite Hinweise auf Städte zu finden waren. Entweder indem Stadtnamen auftauchten (zum Beispiel »London« oder »Birmingham«), die Stadt erwähnt wurde (zum Beispiel »town«, »suburban«), Namen von Gebäuden oder Institutionen aus Städten auftauchten (zum Beispiel »White House«, »100 Club«) oder Orte beschrieben wurden, die es zumeist nur in der Stadt gibt (zum Beispiel »airport«). Ausgewertet wurden die Texte von folgenden Schallplatten: Sex Pistols: »Never Mind the Bollocks, Here’s the Sex Pistols« (1977), The Great Rock ’n’ Roll Swindle (1979). The Clash: »The Clash« (1977), »Give ‹Em Enough Rope« (1978). The Damned: »Damned Damned Damned« (1977), »Music for Pleasure« (1977). Black Flag: »Nervous Breakdown« (1978), »Jealous Again«. Germs: »Forming/Sexboy (live) 7« (1978), »Lexicon Devil/Circle One/No God« (1978), »Germicide« (1979). Zu den Ausnahmen gehört ein Liebeslied von The Damned, das thematisch dem klassischen Liebeslied im Pop entspricht: »I got a new rose I got her good /Guess I knew that I always would /I can’t stop to mess around /I got an brand new rose in town /I never tought this could happen to me /This is strange why should it be /I don’t deserve

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Ort charakterisiert. Zum Bespiel gilt im Stück »Big City« der Dead Boys die Stadt als Ort der Massen, denen der Einzelnen gegenübersteht: »Big city […] ain’t too pretty / Big city […] nice and loud / Big city […] don’t want no pity / Big city’s one big crowd«24 Einsamkeit wird mit der Zunahme von Konsum und Suburbanisierung in Verbindung gebracht, das Warenangebot dient als einzige Erfahrungsund Identitätsquelle. Bei »Lost in the Supermarket« von The Clash heißt es: »I’m all lost in the supermarket / I can no longer shop happily / I came in here for that special offer / A guaranteed personality / I wasn’t born so much as I fell out / Nobody seemed to notice me / We had a hedge back home in the suburbs / Over witch I never could see.«25 Die Stadt gilt als Falle, die nicht verlassen werden kann. The Clash singen in »Remote Control«: »It’s so grey in London town / With a panda car crawling around / […] Can’t make a noise / Can’t get no gear / Can’t make no money / Can’t get outta here […]«26 Neben Einsamkeit und Langeweile ist ein weiteres zentrales Thema Gewalt, die durch die Staatsmacht ausgeübt wird. The Clash berichten von Polizeiübergriffen in »The Guns of Brixton«.27 In »Police Story« von Black Flag heißt es:

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somebody this great / I’d better go or it’ll be too late.« (»New Rose«, The Damned, 1977, zitiert nach: www.plyrics.com/lyrics/damned/newrose.html, Abruf: 11.8.2006). Ein weiteres Beispiel stammt von The Adverts. In dem Song wird ungewöhnlicherweise die Stadt aus der abgehobenen Vogelperspektive beschrieben: »[…] / I swoop over your city like a bird / I climb the high branches and oberserve / Into the mouth, into the soul / I cast shadow that swallows you whole / I swoob, I climb, I cling, I suck / I swallow you whole / […]« (»Great British Mistake«, The Adverts, 1978, zitiert nach: www.plyrics.com/lyrics/adverts/greatbritishmistake.html, Abruf: 11.8.2006). »Big City«, Dead Boys, 1978, zitiert nach: www.plyrics.com/lyrics/deadboys/bigcity. html, Abruf: 11.8.2006. »Lost in the Supermarket«, The Clash, 1979, zitiert nach: www.plyrics.com/lyrics/ clash/lostinthesupermarket.html, Abruf: 11.8.2006. »Remote Control«, The Clash, 1977, zitiert nach: www.plyrics.com/lyrics/clash/remotecontrol. html, Abruf: 11.8.2006. »The Guns of Brixton«, The Clash, 1979, zitiert nach: www.plyrics.com/lyrics/clash/ thegunsofbrixton.html, Abruf: 11.8.2006.

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»This fucking city is run by pigs / They take the rights away from all the kids understand we’re fighting a war we can’t win / They hate us, we hate them / We can’t win, no way / Walking down the street / I flip them off / They hit me across the head with a billy club / […]«28 Die Stadt wird aber nicht nur als gewalttätig charakterisiert, es wird auch zur Gewaltausübung, vor allem zu Aufständen (Riots) aufgefordert, wie zum Beispiel in »Anarchy in the U.K.« von den Sex Pistols: »Anarchy for the UK / It’s coming sometime and maybe / I give a wrong time stop a traffic line / Your future dream is a shopping scheme / ’Cause I wanna be Anarchy / In the city«29 Die Londoner Punkbewegung erklärt dem Establishment den Krieg und wird als Kampfmittel für ganz Großbritannien beschrieben (The Clash, »London Calling«): »London calling to the faraway towns / Now war is declared, and battle come down / London calling to the underworld / Come out of the cupboard, you boys and girls / London calling, now don’t look to us / Phoney Beatlemania has bitten the dust / London calling, see we ain’t got no swing / Cept for the ring of that truncheon thing«30 Der Sprecher steht der Stadt typischerweise antagonistisch gegenüber. Die Stadt ist kein gemütliches und heimatliches Habitat, sondern etwas, mit dem man sich zwangsweise auseinandersetzen muss, und das, wenn überhaupt, nur durch Gewalteinwirkung verändert werden kann. Zusammengefasst erscheint in den untersuchten Punktexten die Stadt geprägt von Langeweile, Anonymität, Unterdrückung, Einsamkeit und Gewalt. Die Kombination all dieser Themen bietet die Punkhymne »London’s Burning« von The Clash: »All across the town, all across the night / Everybody’s driving with full headlights / Black or white turn it on, face the new religion / Everybody’s sitting round watching television / London’s burning with boredom now /

28 »Police Story«, Black Flag, 1981, zitiert nach: www.plyrics.com/lyrics/blackflag/policestory. html › Abruf: 11.8.2006. 29 »Anarchy in the U.K.«, Sex Pistols, 1977, zitiert nach: www.plyrics.com/lyrics/sexpistols/ anarchyintheuk.html, Abruf: 11.8.2006. 30 »London Calling«, The Clash, 1979, zitiert nach: www.alivelyrics.com/c/clash/londoncalling. html, Abruf: 27.3.2008.

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London’s burning dial 99999 / […] / Now I’m in the subway and I’m looking for the flat / This one leads to this block, this one leads to that / The wind howls through the empty blocks looking for a home / I run through the empty stone because I’m alone«31 Zu beachten ist, dass Punkrock trotz solcher politischen Aussagen ambivalent bleibt. Es wurden im Punk nicht nur politische Themen aufgegriffen, die ein schon existierender linker Diskurs übernommen und in Parolen umgewandelt hat. Punktexte haben, wie die Soziologen Curry Malott und Pena Milagros in einer Inhaltsanalyse nachweisen, bis heute oft sexistische oder rassistische Inhalte. Ausschlaggebend ist im Punk die Grundtendenz, weniger für etwas, sondern vor allem gegen die Mehrheitsgesellschaft zu sein.32 Punkmusik ist vor allem durch die Erzeugung von Dringlichkeit und Heftigkeit geprägt. Mit den Worten des Musikjournalisten Greil Marcus: »Dieses komprimierte Drama – Verlegenheit und Erwartung, Zaudern und Panik, Stille und Lärm – macht den gesamten Punk aus.«33 Dieser Eindruck entsteht durch die Kombination mehrer typischer Stilmittel. Die Musik ist zumeist aus einfachen Akkordfolgen aufgebaut und betont im Besonderen das Schlagzeug und den Bass, was zu einer rhythmisch treibenden, monotonen Grundstimmung in der Musik führt. Der Gitarrenklang wird oft verzerrt, und die Musik wird bei Konzerten mit sehr hoher Lautstärke gespielt. Die Dringlichkeit der Botschaft eines Punkstücks wird zusätzlich durch die Stimme des, zumeist männlichen, Sängers hervorgerufen. Der Text wird oft nicht gesungen, sondern eher geschrien oder in einer Art Sprechgesang vorgetragen und orientiert sich nur rudimentär an der Melodie.34 Das Ergebnis ist ein deklamatorischer Stil, der aber gleichzeitig künstlich und anonym wirkt.35 Nach dem Musikwissenschaftler Dirk Budde kommen zwei illokutionäre Stimm-Modi zum Einsatz. Zum einen ein Beschwerdemodus, der zur »Repräsentation von Langeweile, Genervtsein, Nörgeln, Stoizismus, Lebensunlust« dient, und zum anderen 31 32 33 34

35

»London’s Burning«, The Clash, 1977, zitiert nach: http://www.alivelyrics.com/c/ clash/londonsburning.html, Abruf : 27.3.2008. Vgl. Malott/Pena 2004: 29, 97-98. Marcus 1992: 44. Ausnahmen von dieser Regel bieten aber zum Beispiel der Gesang von Peter Shelley von den Buzzcocks oder der Falsett Gesang von Poly Styrene von X-Ray-Spex (vgl. Laing 1985: 57). Auch spätere Weiterentwicklungen von Punkmusik wie Emocore nutzen wieder stärker variablere Stimmen, die sich an Melodien und Harmonien orientieren. Vgl. Marcus 1992: 86.

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ein Zeigemodus zur »Repräsentation von Aufforderung, affektiver Aggression, Ärger, Wut«.36 Nicht nur die Texte, auch die Bühnenperformances und das Verhalten von Konzertbesuchern tragen aggressive Züge. »The musicians and their audience reflect each other’s street-cheap rippedapart, pinned together style of dress. Their attitude is classic punk: icy-cool with a permanent sneer. The kids are arrogant, aggressive, rebellious.«37 Gewalt auf Konzerten gab es in Großbritannien zwar nicht erst seit Punk, anders als bei der populären Musik zuvor wurden diese Aggressionen aber im Punk Mitte der 1970er Jahre bewusst inszeniert und herausgefordert. Sie vollzogen sich sehr schnell ritualisiert.38 In Kombination mit der Musik blieben aggressive Zwischenfälle nicht aus. Der Impuls durch die Musik traf auf ein Publikum, das die Chance nutzte, die eigene Aggressivität und Frustration in den Konzerten auszuleben. Das Publikum entwickelte als Antwort schnell eine Zuschauerbeteiligung, die nicht nur in einem aggressiven, möglichst unkontrollierten Tanz mündete, bei dem sich die Beteiligten massiv anrempeln, sondern auch im Bewerfen der Bands mit Flaschen oder dem Versuch, die Musiker zu bespucken.39 Diese Form der Beteiligung kann auch als Versuch verstanden werden, die Trennung von Musikern und Publikum aufzuheben, was aber nicht wirklich erreicht wurde. Selbst wenn jeder im Publikum selbst eine Punkband gründen konnte, war bei den Konzerten die allermeiste Zeit eindeutig geklärt, wer im Wortsinn den Ton angab. Professionalisierung von Musikerkarrieren und die Produktion von Musik für Tonträger vergrößerten diese Distanz zwischen Musikern und Zuhörern. Trotz der zur Schau gestellten Anti-Haltung gegenüber bestehenden Normen und Werten blieben Punkkonzerte der Tradition männlich codierter Rock-Performances verhaftet. Es waren nicht nur hauptsächlich Männer, die in den Bands spielten und die Konzerte besuchten, sondern sie verblieben auch in den typisch männlich codierten Rockattitüden, in der die Musiker ihre männliche Stärke oder Dominanz darzustellen versuchten.40

36 Budde 1997: 72. 37 Coon 1977: 11. 38 Die Punkbands bedienten sich dabei der schon Ende des 19. Jahrhunderts im Pariser Varieté Chat Noir oder von den Dadaisten im Cabaret Voltaire ›erfundenen‹ Technik der Zuschauerbeleidigung (vgl. Gendron 2002: 47-48). 39 Vgl. Laing 1985: 83-91. Zum Tanz vgl. Marcus 1992: 94. 40 Vgl. Laing 1985: 88.

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Frauen sind, trotz wichtiger Ausnahmen und eigenständiger Bewegungen, wie den Riot Grrls aus den 1990er Jahren, im Punk unterrepräsentiert.41 Ihre Beteiligung am Punk erklärt sich eher aus der generellen Ablehnung von allem, was sonst in der populären Musik anzutreffen war: Frauen an Instrumenten wie E-Gitarre oder Schlagzeug wurden deshalb akzeptiert, weil es ungewöhnlich war und nicht weil Punk eine gegenüber Frauen besonders aufgeschlossene Bewegung war. Auch die oft androgyne Kleidung, die gängige Rollenklischees aufbrach und so Frauen ein anderes, weniger weiblich codiertes Rollenspiel ermöglichte, änderte nichts daran, dass dieses Spiel weiterhin von Männern dominiert blieb.

Punk zwischen Innenstadtboheme und Vorstadtkids

Die Musiker der frühen New Yorker Punkkultur waren eng an das East Village gebunden. Sie ließen sich hier nieder, weil die Mieten niedrig waren und das CBGB nicht weit entfernt lag, wo man sich treffen konnte. Die räumliche Nähe brachte die Musiker auch eng mit anderen Künstlern zusammen, dadurch war Punk in New York nicht nur eine Musikkultur, sondern bildete den musikalischen Strang einer größeren Gruppe aus Künstlern, Musikern und Filmschaffenden.42 Die Bewegung trägt die Züge einer urbanen Boheme, in der Mittelklasseangehörige versuchten, Kunst und Leben zu einer Einheit zu verschmelzen und sich gegen die etablierte Popmusik und Kunst wandten. Auch für die frühen Punks in London waren zentrale Innenstadtorte wie der Kleidungsladen von McLaren und der Club Roxy wichtig, weil sie als Anlaufpunkte dienten. Um den ›Macher‹ Malcolm McLaren bildete sich zumindest in den Anfängen eine ähnliche Boheme wie in New York City. Gleichzeitig verband McLaren von Beginn an problemlos die künstlerische Attitüde mit ökonomischen Interessen. Punk ist aber trotz dieser Bindung an zentrale Orte keine Innenstadtkultur. Die Konzentration von Orten in der Innenstadt für die Aufführung von Punkmusik und um sich zu treffen, war zwar wichtig für seine Konstituierung, aber bereits die ersten Punkmusiker kamen, wie später auch viele ihrer Anhänger, aus suburbanisierten Gebieten. Besaß die frühe englische Punkkultur noch einen Arbeiterklassehintergrund, so ging dieser in den USA, entsprechend der Bevölkerungsstruktur in den

41 Zu Riot Grrls vgl. Gottlieb/Wald 1994. 42 Vgl. Gendron 2002: 227.

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suburbanisierten Gebieten, weitgehend verloren. Noch stärker als in Europa waren in den USA Punk und Hardcore suburbane Phänomene.43 In Großbritannien waren von der Suburbanisierung, anders als in den USA, gerade Unterklasseangehörige betroffen. Mitte der 1970er Jahre begannen die Auswirkungen der Wirtschaftskrise sich in den suburbanisierten Stadtgebieten bemerkbar zu machen. 1976 betrug die Arbeitslosenquote in Großbritannien ›nur‹ 5,4 Prozent.44 Der Abbau von Arbeitsplätzen in der industriellen Produktion war zwar spürbar, aber er war noch nicht überwältigend.45 Stärker als die jeweils aktuellen Arbeitslosenzahlen wirkten, vor allem auf die Jugendlichen, die schlechten Zukunftsaussichten: Die Arbeitslosigkeit war Mitte der 1970er unter Jugendlichen besonders hoch, um neue Perspektiven oder Berufsaussichten stand es für die Mittel- und Unterklasse schlecht. In London galt diese düstere Zukunftsperspektive im Besonderen für Jugendliche aus den Vorstädten. Sie waren zusätzlich benachteiligt durch die funktionale, wenig attraktive Bauweise und räumliche Struktur der Vorstädte, die zu geringen sozialen Bindungen unter den Bewohnern führte.46 Die Vorstädte besaßen zudem nicht jene Heterogenität in der Bevölkerungsstruktur, die den Kontakt mit Personen aus anderen sozialen Kreisen, Milieus und Klassen wahrscheinlich werden ließ.47 Die Jugendlichen in der Vorstadt, das gilt nicht nur für Großbritannien, hatten noch mit einem weiteren Phänomen zu kämpfen: Langeweile. Die Szeneaktivisten Peter Belisto und Bob Davis schreiben zum Zusammenhang von Vorstädten, Langeweile und Punkrock: »Kids in Los Angeles have no real physical center to hang out in. Everything is spread out in endless suburbs. There’s a constant feeling of dislocation. Like driving a car, action is fast, flashy, and primarily physical. Rodney was fueling the atmosphere up with doses of the Sex Pistols. The kids were charged up for the mad release English Punk promised. As the Damned charged through the sloppy, intense, shambles of a set at the 43 Vgl. Dancis 1978: 63, Blush 2001. 44 Vgl. Jordan 1982: 2. 45 Zwischen 1959 und 1975 waren 13 Prozent weniger Personen in der industriellen Produktion beschäftigt (vgl. King 1987: 228). 1978 waren noch 39,5 Prozent von allen Beschäftigten in der industriellen Produktion tätig, gegenüber 48,2 Prozent im Jahr 1962 und 42,6 Prozent im Jahr 1973 (vgl. Jordan 1982: 51). Selbst 1988 merkt Savitch (1988: 190) an: »A growing majority of the population has moved toward white-collar occupations. But this transformation is neither complete nor overwhelming. Much of Inner London’s population is still blue collor.« 46 Vgl. Cohen 1980. 47 Genau darin sieht Gans (1995) den Grund, warum die Wirthsche Beschreibung urbaner Kultur, wenn überhaupt, nur für Innenstadtviertel gültig sein kann.

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Starwood, the L.A. kids immediately picked up on the energy and the theatricality of the band. It was making them ›feel something‹. By the end of the Damned set, people looked around, some with a shock of recognition on their faces. Bonds were forming. The poseurs were being separated from the possessed.«48 Punkrock war, so die Kulturwissenschaftlerin Vicky Lebeau, eine affirmative Abwehrreaktion gegenüber der leeren und homogenen Vorstadt: »To dream the suburbs is to distort, to defamiliarize and to make strange what has become too ruthlessly familiar – so that punk becomes a way of staving off the intolerable ordinariness which is the constant threat carried through the ›noise‹ of living in the suburbs.«49 Das Ziel war, die Normalität und Depression der Vorstadt zu durchbrechen und sie imaginär durch Musik oder real durch das Aufsuchen von Innenstadtorten zu verlassen. So lässt sich Punk als eine Erfindung von Vorstadtbewohnern beschreiben, die sich an einer idealisierten Vorstellung des Lebens in den Innenstädten orientierten.50 Der unwirtlichen Vorstadt wird in der Interpretation von Lebeau eine Traumwelt aus Aggression und Widerstand entgegengestellt: »[T]he fantasmatic structures supporting subcultural forms, the psychopolitics of the suburbs […] is […] essential to any understanding of the iconography of suburbia which has been so central to the self-imaging, as well as to the commercial packaging and repackaging, of one of the most pervasive and elusive of the postwar subcultures: punk.«51 Die Aggression der Musik ist in diesem Begründungszusammenhang eine Reaktion auf die »latente Gewalt und Perversität der Vorstadt«.52 Für Lebeau wird Punk zum Ausdruck der Aggression, die durch Isolation, staatliches Desinteresse und den Zusammenbruch des gemeinschaftlichen und familiären Zusammenlebens in den Vorstädten entstanden war.53 Entsprechend schreibt der Popmusik-Journalist Jon Savage:

48 49 50 51 52 53

Belsito/Davis 1983: 11. Lebeau 1997: 284. Vgl. ebd.: 281, 287-288, 291. Ebd.: 281. Ebd.: 282 (Übersetzung M. F.). Vgl. ebd.: 286-287, 294.

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»Punk presented itself as the ultimate Sound of the City, but it picked up its first fans in the suburbs.«54

Punk als situationistische Intervention oder Subversionsstrategie

Die zwei bekanntesten Interpretationen zu Punk stammen von Greil Marcus und von Dick Hebdige. Marcus hält ebenfalls Langeweile für den wichtigsten Antrieb für Punk. Er sieht Punk in der Tradition der Situationisten, einer marxistisch beeinflussten Kunstavantgarde, die in den 1960er Jahren versuchte, die verwaltete und vollkommen dem spektakulären Warenkonsum anheim gefallene Gesellschaft durch Aktionen und Interventionen zu attackieren und möglichst zu stürzen. Langeweile ist für die Situationisten die moderne Form der Kontrolle und Selbstentfremdung.55 Ihre Überwindung könne nur durch das Brechen der Alltagsroutinen und ihrer Institutionen gelingen. Ihr Ziel, eine radikale, interventionistische Nicht-Kunst zu erschaffen, mit der die hypnotisierende, kapitalistische Freizeitkultur aufgebrochen werden sollte, ist laut Marcus auch im Punk anzutreffen.56 Mit seiner nihilistischen Grundhaltung passt Punk gut zur Krisensituation, in der sich die Städte zu Beginn der postindustriellen Phase befanden. Dass sie sich gegen die Langeweile wandten, lässt sich zwar auch als Protest gegen die bestehenden Verhältnisse deuten, die Deutung von Punk als situationistischer Bewegung ist jedoch irreführend, denn dem Widerstand gegen das Bestehende steht die narzisstische Selbstpräsentation gegenüber, die eher hedonistische als politische Züge trägt. Hebdige beschreibt Punk, in Anlehnung an den Ethnologen Claude Lévi-Strauss, als intentionale Bricolage der Akteure, die aus bestehenden Kleidungsstilen und Alltagsgegenständen schöpfen und sie in einer Collage zu etwas Neuem zusammenführen. Aus der Sicherheitsnadel oder dem Hundehalsband wird ein Schmuckstück, alte und neue Kleidungstücke aus unterschiedlichsten Stilen werden in wilder Kombination miteinander verbunden.57 54 Jon Savage in den Anmerkungen zur Punk-Compilation »The Sound of the City«, 1991, zitiert nach ebd. 284. 55 Vgl. Marcus 1992: 55-59. 56 Vgl. ebd.: 24-30. Malcolm McLaren und der Gestalter des Art-Works der Sex Pistols Jamie Reid kannten zumindest einige Thesen und Vorschläge der Situationisten von der Kunstschule und haben diese auch für den Stil der Sex Pistols zum Teil übernommen (vgl. Savage 2001: 23-36). 57 Vgl. Hebdige 2001: 102. Ähnlich zu Punk in den USA: Shank 1994: 24.

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Dieses spielerische Verhalten rückt Punk in die Nähe der Postmoderne, in der generell Elemente aus unterschiedlichen Sinnebenen, Epochen oder Stilen nebeneinander gestellt und zu nichtkohärenten Gebilden verbunden werden.58 Wie Jon Savage schreibt: »Punk announced itself as a portent with its polysemy of elements drawn from the history of youth culture, sexual fetish wear, urban decay and extremist politics. Taken together, these elements had no conscious meaning but they spoke of many things: urban primitivism; the breakdown of confidence in a common language; the availability of cheap, second-hand clothes; the fractured nature of perception in an accelerating, media-saturated society; the wish to offer up the body as a jumble of meanings.«59 Für Hebdige ist Punk, im Anschluss an Überlegungen von Umberto Eco und Henri Lefebvre, weniger postmodern, sondern vielmehr eine Art von »semiotische[r] Guerilla«60, durch die gängige Bedeutungen in Frage gestellt werden. Im Punk werde willentlich jede Art von Bedeutung unterwandert. Zum einen würden die Dinge sinnlos zusammengestellt, zum anderen verwendeten die Punks zielgenau Symbole und Stilelemente, die gegen das bestehende Normen- und Wertesystem standen und entsprechende Aufmerksamkeit erzeugten: Hakenkreuze, wild gefärbte Haare, zerrissene Kleidung, Sicherheitsnadeln im Gesicht oder Requisiten aus dem S/M-Bereich. Hebdige erkennt darin keine direkte politische Aussage, sondern die Auflösung bestehender Bedeutungszuschreibungen: »[W]e have seen how the punk style fitted to together homologically precisely through its lack of fit (hole tee-shirt::spitting::applause::binliner::garment::anarchy:order) – by its refusal to cohere around a readily identifiable set of central values. It cohered, instead, elliptically through a chain of conspicuous absences. It was characterized by its unlocatedness – its blankness – and in this it can be contrasted with the skinhead style.«61 Durch die Erzeugung von Bedeutungsleerstellen gelänge es im Punk, die gängigen Konventionen und Routinen des Alltags in Frage zu stellen, sich aus dem Diktat vorproduzierter Güter zu befreien und eine eigenständige Kultur für sich in Anspruch zu nehmen. Ein symbolischer Aufstand, 58 59 60 61

Vgl. Grossberg 2004: 331. Savage 2001: 230. Hebdige übernimmt diesen Begriff von Eco (1994: 441). Hebdige 2001: 120.

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der gegen die hegemoniale Kultur mit einer subversiven Strategie opponiere.62 Hebdige kann zugestimmt werden, dass mit der Zweckentfremdung von Alltagsgegenständen eine Kritik der Konsumgesellschaft impliziert ist. Die funktionalisierte Warenwelt wurde von Punks verfremdet, um ihre Sinnhaftigkeit in Frage zu stellen. Aber auch hier ist zu beachten, dass bei diesem Spiel die Protagonisten durchaus Gefallen an der Verkleidung und der Nutzung von Konsumgegenständen finden. Der Kleidungsstil und das Verhalten im öffentlichen Raum oder auf Konzerten werden jedoch von Hebdige unhinterfragt als politische Äußerungen betrachtet. Dass die Verhaltensweisen den Protagonisten einfach nur Spaß machen könnten, wird von ihm zu wenig berücksichtigt.

Unheimliche Konsumorte

Im Zentrum der Punkkultur, zumindest was das Verhalten im öffentlichen Raum angeht, steht ein lustvolles, offensives Vorzeigen von Nihilismus und Verweigerung. Dies führte, neben der Vorführung der zumindest kurzzeitig schockierenden Kleidung, auch zu einer Umdefinition des öffentlichen Raums, den Punks zum ›Abhängen‹ und Nichtstun nutzen. Damit widersetzten sie sich dessen Definition als reinem Konsum- oder Transitbereich. Gleichzeitig privatisierten sie die öffentlichen und unwirtlichen Orte und nutzen sie für ihre eignen Interessen. Punks stellen, durch ihre ostentative Verweigerungshaltung im öffentlichen Raum, einen Störfaktor dar. Durch die sinnentleerende Verwendung von Kleidung, die möglichst auffallen soll, ihr ›Nichtstun‹ und die Verweigerung von gängigen Anstandsregeln machen Punks den Stadtraum zu einem unheimlichen Ort für all diejenigen, die ihn als attraktiven und aufregenden Konsumort nutzen wollen, um ihre Tagträume Wirklichkeit werden zu lassen. Die Darstellung des Stadtraums als unheimlicher Ort ist eng mit der modernen Kunst verbunden. Sie verwandelt die vermeintlich geordnete und heimelige Umgebung in ein unsicheres, bedrohliches Gebilde.63 Für den Literaturwissenschaftler Philip Fisher folgt dies aus der »doppelten Wahrnehmung« der modernen Kunst, in der nicht nur etwas dargestellt werde, sondern es auch zur Hinterfragung der Konstitutionsbedingungen

62 Zum Begriff der Hegemonie vgl. Gramsci 1999: 190-221. 63 Diese Darstellung findet sich bis heute im Hollywood-Kino. Für aktuelle Beispiele vgl. Kennedy 2000.

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von Wahrnehmung, besonders im Stadtraum, komme. So finden sich immer wieder Darstellungen von Halluzination oder Wahnsinn, von Angst und Verfolgung in der modernen Kunst.64 Punks erzeugen, dem nicht unähnlich, eine unheimliche Situation, indem sie den öffentlichen Raum heimsuchen und transformieren. Nimmt man das Unheimlich-machen des öffentlichen Raums als wesentlichen Zug der Punkbewegung, dann lassen sich Punker als Konsumgespenster beschreiben. Diese Beschreibung mag zunächst überraschen, weil Gespenster in Erzählungen oder im Kino gewöhnlich aus der Vergangenheit in die Gegenwart kommen, wie Steve Pile in seiner Arbeit über die imaginäre Stadt und Figuren wie Geister oder Vampire anmerkt: »It is of the past, wants something of the future, but is only connected to the present as a apparition, simultaneously visible and invisible.«65 Gespenster machen begangenes Unrecht sichtbar und verwirren den linearen Zeitablauf, weil Vergangenes in die Gegenwart gelangt. Sie verdeutlichen dadurch, dass es in der Stadt mehrere Zeitebenen nebeneinander gibt: » Ghosts […] expose the traumas and tragedies of the past in a place. The city is a site where heterogeneous spatialities-and-temporalities co-exist. Ghosts confirmed as much.«66 Dagegen wollen die Punks weder etwas von der Gegenwart noch der Zukunft. Wichtiger ist aber, dass Punker im öffentlichen Raum auf anderen Ebenen durchaus mit Gespenstern verglichen werden können: Wie diese verwirren sie den Ort, den sie ›heimsuchen‹.67 Ihre Kleidung ist gleichermaßen Teil der Konsumwelt, die den öffentlichen Raum prägt, wie die Verweigerung dieser Welt. Die bewusste Hässlichkeit erscheint wie eine Fratze der auf Makellosigkeit und Perfektion abzielenden Konsumkultur. Vom Punker als eine Art Gespenst lässt sich sprechen, weil auch der Punker seinen richtigen Ort in der Konsumkultur nicht finden will, trotzdem aber einen selbstbestimmten Ort für sich reklamiert. Es ist die Ambivalenz aus Ablehnung und Teilhabe an Konsumorten, die die Schockwirkung des Punks ausmacht. In Anlehnung an Benjamin lenkt bei Pile die Figur des Gespenstes davon ab, dass letztlich die Stadtbewohner selbst zu Gespenstern geworden sind: 64 65 66 67

Vgl. Fisher 1988: 117. Pile 2005: 139. Ebd.: 174. Vgl. ebd.: 131.

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»As Benjamin suggests, it is the people who live in – haunt – cities that are the ghosts. It is as if the living are already dead. And the corollary of this might be that the terror of this realisation is displaced on to the figure of the ghost, such that the living can confirm the fact that they are still alive because they know they are not ghosts. They’re not, are they? Perish the thought.«68 Das heißt auch, dass die Konsumgespenster die Frage provozieren, wer lebendig ist und wer schon tot. Mit der Figur des Konsumgespenstes, das den öffentlichen Raum heimsucht, lässt sich auch erklären, warum die Schockwirkung der Punks nur kurze Zeit anhalten konnte. Das Unkonventionelle wurde zu schnell wieder zur Konvention. Für Marcus war die Hässlichkeit von Punks zwar keine Mode: » Sie waren wirklich hässlich. Zwischentöne gab es keine. Eine zwanzig Zentimeter lange Sicherheitsnadel, die sich durch eine Unterlippe in ein auf die Wange tätowiertes Hakenkreuz bohrte, war kein modisches Statement.«69 Aber selbst wenn die Punks keine ästhetischen Absichten mit ihrer zur Schau gestellten Hässlichkeit verfolgten, blieb die Kleidung Mode oder ließ sich dazu umwandeln. Die Punks blieben also weiter Konsumenten, auch wenn sie sich durch ihren Stil von anderen abgrenzten. Darin unterschieden sie sich jedoch nicht von anderen Popkulturen, wie der Kulturwissenschaftler Barry Shanks für die USA beobachtet: »This new object of desire, then, blended with the rising aesthetic of rock ’n’ roll formalism to reinforce and make overt an already widespread American process of selfproduction through proper consumption. The notion that we are what we consume and that such habits of consumption align us with some groups and distinguish us from others did not require extensive theoretical argument in order to be accepted by American rock ’n’ roll fans.«70 Trotzdem gelingt es Punks bis heute, den öffentlichen Raum für sich zu nutzen und sich gegen die idealisierte und glatte Konsumwelt zu stellen. Dies lässt sich daran ablesen, dass es auch weiterhin zu Konflikten um die 68 Ebd.: 139. 69 Marcus 1992: 79. 70 Shank 1994: 95.

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Nutzung des öffentlichen Raums durch Punks kommt, die nicht in das Bild der Stadt als Vergnügungsort passen. Die Konsumkultur wird immer noch von Gespenstern, die sie selbst hervorgebracht hat, heimgesucht.

HipHop: Territorien der Stadt

HipHop auf wenige Praktiken und Figuren zu reduzieren, ist vielleicht noch restriktiver als die gerade vorgestellte Beschreibung der Punkkultur. Als eine weltumspannende, differenzierte Kultur, die sich in den unterschiedlichsten lokalen Kontexten verankert hat, steht jede Festlegung auf einen bestimmten Typ vor dem Problem, dass sich ohne Weiteres Gegenbeispiele anführen lassen. Andererseits lassen sich im HipHop einzelne Elemente bestimmen, die in seiner über dreißigjährigen Geschichte relativ konstant geblieben sind und das Grundgerüst dieser Popkultur darstellen. Wenn von HipHop die Rede ist, dann ist manchmal nur die Musik gemeint und manchmal die ganze Kultur, zu der neben dem Rap und dem DJing auch Graffiti und Breakdance gezählt werden. Um Missverständnisse zu vermeiden, wird im Weiteren immer dann von HipHop gesprochen, wenn es um die ganze Kultur geht, von Rap oder Rapmusik, wenn es nur um den musikalischen Aspekt, das heißt den Sprechgesang, die Musik und das DJing geht.

Eigenschaften von Rapmusik

Rapmusik gehört zu den erfolgreichsten Musikstilen der letzten zwanzig Jahre und ist mittlerweile fester Bestandteil der internationalen populären Musik.71 Der globale Erfolg hat zu einer unüberschaubaren Anzahl von Produktionen geführt, die von Musikern auf der ganzen Welt hergestellt werden. Durch lokal differente Aneignung und die Kombination mit anderen Musikstilen fächert sich Rapmusik auf in diverse Spielarten und Variationen. Trotzdem bestehen, so der Musikwissenschaftler Joseph G. Schloss, die meisten Raptracks aus zwei Elementen: den Beats, darunter fasst Schloss die »musical collages composed of brief segments of recorded sound«72, und den rhythmischen Sprechgesang.

71 Vgl. Blair 1993. 72 Schloss 2004: 2.

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Die Musik des Raps basiert ursprünglich auf Techniken von DJs, die Musik auflegten, um Menschen zum Tanzen zu bringen. Rapmusik ist durch eine starke Rhythmusbetonung geprägt. Die Beats sind die Basis, an der die Rapper ihre Raps rhythmisch orientieren und die Zuhörer zum Bewegen und Tanzen motivieren. In der Frühphase des HipHops hatten die DJs begonnen, Sequenzen von Disco- und Funkplatten, in denen nur die Rhythmusgruppe zu hören war – den sogenannten Breakteil, daher der Name Breakbeats – zu verlängern, indem sie den gleichen Tonträger auf einem zweiten Schallplattenspieler abspielten und über einen Mixer die Signale der beiden Abspielgeräte zusammenführten.73 Der DJ mischte aber nicht nur identische Musik ineinander, sondern nutzte die beiden Schallplattenspieler auch, um zwei unterschiedliche Musikstücke, die zueinander passten, zu mixen. Mit der Zeit wurden die DJs zu Produzenten, die eigene Beats und Klangspuren produzierten. Das Prinzip der Nutzung schon vorhandener Tonaufnahmen wurde durch die Verwendung von Samplern perfektioniert, sodass einzelne Passagen von bestehendem Tonmaterial nicht nur wiederverwendet, sondern auch nach Belieben manipuliert werden konnten. Diese Elemente können zum Beispiel aus kurzen, wieder erkennbaren Sequenzen eines Rhythmus, einer Melodie oder Geräuschen von der Straße bestehen. Sie können aber auch nur den speziellen Sound eines einzelnen Musikinstruments nutzen. So basiert ein Raptrack aus der Verwendung einzelner Musikfragmente, die durch einen repetetiven Rhythmus zusammengehalten werden. Eine weitere zentrale musikalische Technik des HipHop ist das Scratching. Dabei wird eine Schallplatte auf einem Schallplattenspieler schnell hin- und herbewegt und so das bestehende Tonmaterial manipuliert. Durch Beschleunigung und das Rückwärts-abspielen eines kurzen Klangereignisses entsteht ein kratzendes oder jaulendes Geräusch, das der DJ durch geschicktes Hin-und-her-Bewegen variieren und verändern kann. Das Klangergebnis wird in seiner Komplexität noch durch den Einsatz eines zweiten Schallplattenspielers und eines Mixers gesteigert, der die Manipulation von zwei Tonquellen erlaubt, die ineinander verwebt werden. Mit dem Scratching wird der Schallplattenspieler selbst zum Musikinstrument und erlaubt, aus bestehender Musik neue zu erschaffen. Noch komfortabler können dafür Sampler eingesetzt werden, die es ermöglichen, Tonmaterial aufzunehmen und anschließend diese Aufnahme in ihren Klangeigenschaften zu manipulieren und in neue Musikstücke zu integrieren. So werden im HipHop, genauso wie im Techno, einzelne 73 Vgl. Potter 1995: 41.

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kurze Musikpassagen aus bestehender Musik genommen, variiert und zu neuer Musik zusammengesetzt. Durch geschickte Auswahl unterschiedlicher Tonquellen sowie die Kombination aus Mixen und Scratchen kann so ein sehr komplexes, fragmentiertes und trotzdem kohärentes Musikstück entstehen. Das zweite zentrale Element von Rapmusik ist der Rap, der rhythmische Sprechgesang, wie der Kulturwissenschaftler Andy Bennett schreibt: »Rap defines a style of vocal delivery in which rhyming lyrics are spoken, or ›rapped‹, over a continuous backbeat or ›breakbeat‹ provided by a DJ who uses a twin-turntable record deck to ›mix‹ sections of existing vinyl records together to produce a new musical piece.«74 Der Sprechgesang ist nicht nur am Rhythmus orientiert, elaborierte Rapper entwickeln eine fließende Sprechweise – als Flow bezeichnet –, welche die Sprache in Einklang mit der Musik bringt und zum Groove des Musikstückes beiträgt.75 Die Art des Sprechgesangs leitet sich ursprünglich aus Sprechweisen und Sprachspielen von Afroamerikanern aus den Innenstadt-Ghettos der USA ab. Wichtigstes Element dieses Sprechgesangs ist die vom Sprachwissenschaftler Henry Louis Gates als Signifyin(g) bezeichnete Form eines ironischen Sprechens. Zu Signifyin(g) gehören zum Beispiel spielerische Beleidigungen eines Kontrahenten, das übertriebene Selbstlob, die Verwendung einer Vielzahl von obszönen Wörtern oder die Umdeutung diskriminierender Bezeichnungen (wie Nigger) in positiv konnotierte Selbstbeschreibungen. Signifyin(g) nutzt die englische Sprache, lässt aber durch Auslassungen, Übertreibungen oder Wortveränderungen neue Bedeutung entstehen.76 Diese Sprachspiele wurden von vielen Rappern in der ganzen Welt übernommen und an die eigene Sprache angepasst. Sie fördern die Nutzung einer vulgären, oft auch obszönen Sprechweise – ein nicht unwesentlicher Grund für den kommerziellen Erfolg von Rapmusik.

74 Bennett 1999b: 2. 75 Wie Tricia Rose (1994a: 81) feststellt, sprechen die Rapper selbst von Flow, sie beziehen sich dabei auf die Fähigkeit »to move easily and powerfully through complex lyrics, as well as to the flow in the music.« 76 Vgl. Gates Jr. 1988. Zur afroamerikanischen Sprechweise vgl. Abrahams 1974. Zum Signifyin(g) im Rap vgl. Potter 1995, Karrer 1996: 232-233.

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Rap und das Ghetto

Kein Stil der populären Musik wird in derart enge Verbindung mit der Stadt gebracht wie Rapmusik. Der Literaturwissenschaftler Houston A. Baker Jr. nennt Rapmusik: »Postindustrial, hyperurban, black American sound«77. Die HipHop-Forscherin Tricia Rose spricht im Zusammenhang mit Rap von einem »black urban renewal«.78 Ob die Ursprünge, Protagonisten, Praktiken, Raptexte oder die Musik: Sie alle beziehen sich auf Städte im Allgemeinen und das Leben in peripheren und depravierten Stadtgebieten im Speziellen. Die Stadt ist ein immer wieder auftauchender Bezugspunkt aller Praktiken und Inszenierungsweisen im HipHop. Und obwohl das Themenspektrum von Raptexten breit gefächert ist, kommt es auch hier zu einer kontinuierlichen Erwähnung der Stadt, urbaner Nachbarschaften, von Orten der Stadt oder mit der Stadt verbundenen Institutionen und Aktivitäten.79 Darüber hinaus gibt es fast keinen Rapper, der nicht auf seine Verbindung mit seiner Stadt und im Besonderen seiner Nachbarschaft, in der er aufgewachsen ist oder wohnt, aufmerksam macht.80 Entsprechend regelmäßig taucht die Stadt in HipHop-Musikvideos und -Spielfilmen auf, wie der HipHop-Forscher Murray Forman feststellt: »Rap artists and young video directors alike have proven to be extremely adept at communicating their sense of locale, visually representing the places of significance which they inhabit and delineating different social settings and different regions through rap videos. The set of images presented portray the scene and setting in which the rap narratives unfold, graphically conveying information about an artist or group’s home front in order to provide a vehicle for the representation of their city or urban neighborhood.«81 In unzähligen Videos wird durch typische Klischees wie Hochhaussiedlungen, stark befahrene Verkehrswege oder zentrale Plätze auf das städtische Umfeld im Allgemeinen Bezug genommen. Zum anderen werden Wahrzeichen einzelner Städte, spezielle Nachbarschaften oder Stadtviertel oder die Symbole und Kleidung lokaler Sportvereine gezeigt. Thematisch drehen sich die Darstellungen entweder um das ›harte Straßenleben‹ in sozial benachteiligten Stadtgebieten oder um das ostentative Vorführen 77 78 79 80 81

Baker Jr. 1993. Rose 1994a: 61. Vgl. Brennan 1994: 689, Forman 2002: xvii, 26, 35, Keyes 2002: 135. Vgl. Rose 1994a: 10. Formann 2002: 245.

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der Insignien des Erfolgs: teure Autos, exklusive Nachtclubs und großräumige Wohnhäuser der Musiker, zumeist umgeben von leicht bekleideten Frauen.82 HipHop ist in den Innenstadtghettos von New York City Mitte der 1970er Jahre entstanden.83 Diese waren besonders stark von der Wirtschaftskrise und der Umstrukturierung der Ökonomie betroffen.84 In der South Bronx kam erschwerend hinzu, dass die soziale Integration des Viertels durch den Bau einer Schnellstraße, geplant und realisiert durch den Stadtplaner Robert Moses, schwer gestört wurde, weil viele Euroamerikaner das Viertel verließen und an ihrer Stelle Migranten aus Südamerika einzogen, die keine Arbeit hatten.85 In Folge kam es zu einer radikalen Verschlechterung der sozialen Situation in den Innenstadtvierteln, die durch hohe Kriminalitätsraten, erhöhten Drogenkonsum und Bandenwesen gekennzeichnet war, was die Bedingungen in den Vierteln weiter verschlechterte und eine Abwärtsspirale erzeugte, die zur Verfestigung des Ghettos beitrug.86 In dieser schwierigen Situation entstand HipHop als eine alternative ›Freizeitbeschäftigung‹ im öffentlichen Raum. Schon Anfang der 1970er hatten junge Afroamerikaner begonnen, Graffiti zu sprühen und zu malen, indem sie ihren Künstlernamen auf Häuserwänden und Zügen hinterließen, um auf sich aufmerksam zu machen, um untereinander einen Wettbewerb um die meisten oder größten Graffiti auszufechten und um bei den anderen Sprühern bekannt zu werden.87 Nach Graffiti folgten die schon erwähnte Rapmusik und Breakdance, ein zur Musik passender, akrobatischer Tanz, der besonders in den Anfängen oft auf der Straße getanzt wurde.88 82 Vgl. die Beispiele bei ebd.: xxi, 103-114, Klein/Friedrich 2003a: 117-128. 83 Diese Koppelung von Musik mit dem Ghetto ist nicht neu, sondern existiert seit der Migration von Afroamerikanern in die nördlichen Industriestädte. Zum Jazz schreibt Paretti (1992: 73): »By 1930, black jazz played an important but disturbing function in American music and culture: it was the art music of a civilization confined to northern ghettos.« Keil (1991) und George (2002) beschreiben Blues und Rhythm and Blues als Ghetto-Musik und Chambers (1990: 170) erklärt gleich das Ghetto der New Yorker Bronx zum kreativsten Ort der populären Musik überhaupt: »Being black, being poor, being cool, Hollywood, street gangs, Hong Kong Kung Fu movies, James Brown’s Funk, Atari video games, block parties, mammoth, decorated Japanese cassette players (›boxes‹, ›ghetto blasters‹), sports wear, computerized rhythms, dark glasses, disco music, dreadlocks, salsa, mixing boards, cut-up sounds, graffiti, break dancing – it all stewed in the cultural cauldron of the Bronx and in the late ’70s released the black male street style of ›hip hop culture‹ to the rest of the world.« 84 Vgl. Shutt 1982: 71-74, Savitch 1988: 35-41. 85 Vgl. Berman 1988: 312-348, Savitch 1988: 42-43. 86 Vgl. Friedrich 1999. 87 Vgl. Castleman 1982, Macdonald 2001. 88 Vgl. Fernando Jr. 1995: 17-18, Hazzard-Donald 1996: 226-227.

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Was rund um die South Bronx begann, entwickelte sich mit den Jahren zu einer der erfolgreichsten Popkulturen weltweit. Trotz der großen Verbreitung von HipHop ist die Musikkultur in den USA bis heute an große Städte gekoppelt. Von der Ostküste ausgehend rappte man relativ schnell auch in anderen Städten. Der Gangsta-Rap wurde in den 1990ern vor allem durch Gruppen von der Westküste, speziell aus Los Angeles bekannt, die aus Ghettos wie Compton oder South Central stammten oder zumindest vorgaben, in ihnen aufgewachsen zu sein.89 Bis heute kommt der meiste in den USA kommerziell erfolgreiche Rap aus urbanen Gebieten (Zentren sind die East Coast mit New York City, die West Coast mit Los Angeles und San Francisco sowie die Südstaaten mit Houston, New Orleans, Memphis, Atlanta, Miami) und wird zumeist von Afroamerikanern produziert.90 Der Erfolg von Rap in den USA beruht andererseits auf dem Interesse von suburbanisierten, euroamerikanischen Stadtbewohnern, die ähnlich wie schon beim Jazz oder Rock ’n’ Roll die Musik nutzten, um sich von ihrem Elternhaus und ihrer sozialen Situation abzugrenzen.91 Auch in Europa fand Rapmusik eine breite Anhängerschaft bei wohlhabenden, suburbanisierten Jugendlichen. Rap kann unter dieser Bedingung dazu dienen, »auf Getto [zu] machen«92. Ähnlich wie im Punk ist ein wichtiger, kommerzieller Motor in der Entwicklung des Raps eine Vorstadtjugend, die durch den Konsum von Musik die Vorstadt zumindest temporär symbolisch zu verlassen sucht. Andererseits ist es bis heute eine Besonderheit von HipHop geblieben, dass diese populäre Musik von ethnischen Minderheiten aus benachteiligten Stadtgebieten gemacht wird.93 Ein Grund dafür ist, dass die Zugangsschwellen zum HipHop vergleichsweise niedrig sind. Rap bietet die Möglichkeit der Identifikation und des Vergleichs mit der in den Texten geschilderten Lebensweise und erlaubt gleichzeitig, eine Variante zu entwickeln, in der Elemente des HipHop mit der ›eigenen‹ Kultur vermischt werden.94 89 Vgl. Cross 1993. 90 Vgl. Forman 2002: 22, Carney 2003b. 91 Seit Mitte der 1980er wurde Rapmusik bewusst auch an ein euroamerikanisches Publikum vermarktet, zum Beispiel indem afroamerikanische Rapper mit euroamerikanischen Rockbands zusammengebracht wurden (vgl. Forman 2002: 119-125). 92 Vogt 2005: 118. 93 Vgl. allgemein Walser 1995: 210. Für Frankreich vgl. Prévos 1996, 1998, 2001, Stemmler 2007. Für Adaptationen durch türkischstämmige Jugendliche vgl. Elflein 1998: 261, Kaya 2001, 2002, 2003. 94 Auf türkisch gerappte Texte können zum Beispiel die eigene Identität verdeutlichen und gleichzeitig wird es durch das Nebeneinanderstellen unterschiedlicher Stile möglich, die Gebrochenheit und Doppeldeutigkeit der sozialen Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Kulturen und Orten darzustellen (vgl. Kaya 2001, 2002).

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Stile im Rap

Rapmusik entstand aus der Musik von DJs, die ihr Publikum unterhalten wollten. Sie spielten oft nicht in Clubs, sondern bei sogenannten Blockpartys im Freien und nutzten dazu die schon in Jamaika etablierten Soundsysteme, bei denen auf einem Lastwagen eine Musikanlage eingebaut wurde.95 Die Rapper hatten zu Beginn die Aufgabe, die Tänzer zu animieren und die Qualität des DJs zu preisen. Der Musikwissenschaftler Adam Krims nennt dies in seiner Differenzierung der einzelnen Rapstile Party-Rap.96 Mit der Zeit entwickelte sich der Party-Rap weg von einer direkten Unterstützung des DJs hin zu Geschichten über das Feiern, Spaß haben und Sich-gut-Fühlen. Die Texte der Rapper wurden länger und zogen immer mehr Aufmerksamkeit auf sich, bis sich die Rollenverteilung umkehrte und der Rapper zur Hauptattraktion wurde, die von einem DJ begleitet wurde. Im Party-Rap kommt es auch vor, dass einzelne Städte oder Stadtteile Erwähnung finden. Zum Beispiel heißt es im Track »Props Over Here« von Beatnuts aus dem Jahr 1994: »When I’m in New York, you know what I wanna hear / Yeah you get props over here / Com’ on, out in Cali, you know what I wanna hear / Yeah you get props over here / When I’m down in Detroit, you know what I wanna hear / Yeah you get props over here / Now when I’m out in Philly, you know what I wanna hear / Yeah you get props over here«97 Zunächst waren alle Raps Party-Raps. Die Situation änderte sich 1982 grundlegend als Grandmaster Flash and the Furious Five mit »The Message« einen Tonträger veröffentlichten, auf dem der Rapper über die Lebenssituation in einem Innenstadtghetto der USA berichtete. In dem berühmten und vielleicht einflussreichsten Rap Track heißt es: » Standing on the front stoop, hangin’ out the window / Watching all the cars go by, roaring as the breezes blow / Crazy lady livin’ in a bag / Eatin’ out of garbage pails, she used to be a fag-hag / Said she danced the tango, skipped the light fandango / The Zircon Princess seemed to lost her senses / Down at the peepshow, watching all the creeps / So she can tell the stories to the girls back home / She went to the city and got Social Security / 95 Vgl. Toop 1999: 73-76. 96 Vgl. für die Differenzierung der Stile Krims 2000: 46-92. 97 »Props Over Here«, Beatnuts, 1994, zitiert nach: http://www.lyrics007.com/The%20 Beatnuts% 20Lyrics/Props%20Over%20Here%20Lyrics.html, Abruf: 8.3.2008.

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She had to get a pimp, she couldn’t make it on her own / It’s like a jungle sometimes it makes me wonder / How I keep from going under« 98 Krims bezeichnet diese Spielart als Reality-Rap, in dem über das Leben in den Straßen der Städte berichtet wird. Als Reality-Rap fasst Krims auch den besonders in den 1990ern erfolgreichen und umstrittenen Gangsta-Rap, bei welchem sich die Rapper als Kleinkriminelle beschreiben, die versuchen in der harten sozialen Umgebung des Ghettos zu überleben. So stellt sich der Rapper Ice Cube mit den Worten vor: » Straight outta Compton, crazy motherfucker named Ice Cube / From the gang called Niggaz With Attitudes / When I’m called off, I got a sawed off / Squeeze the trigger, and bodies are hauled off / You too, boy, if ya fuck with me / The police are gonna hafta come and get me / Off yo ass, that’s how I’m goin out / For the punk motherfuckers that’s showin out / Niggaz start to mumble, they wanna rumble /Mix em and cook em in a pot like gumbo«99 In den letzten Jahren gibt es auch in Deutschland eine wachsende Anzahl an Gangsta-Rap-Texten. Einer der ersten kommerziell erfolgreichen Raps stammt von Sido: »Hier hab ich Drogen, Freunde und Sex! / Die Bullen können kommen, doch jeder weiß Bescheid! / Aber keiner hat was gesehen, also können sie wieder gehen! / OK ich muss gestehen, hier ist es dreckig wie ne Nutte / doch ich weiß, das wird schon wieder, mit ein bisschen Spucke / Mein schöner weißer Plattenbau wird langsam grau, / drauf geschissen, ich werd auch alt und grau im MV / Meine Stadt, mein Bezirk, mein Viertel, meine Gegend, meine Straße, mein Zuhause, mein Block! Meine Gedanken, mein Herz, mein Leben, meine Welt, reicht vom 1. bis zum 16. Stock!«100 Bezüge zum Stadtleben existieren auch im dritten Stil, dem Pimp-Rap, in dem der Rapper über seinen enormen Erfolg bei Frauen berichtet. Als vierten Stil identifiziert Krims Jazz/Bohemian-Rap, in dem oft Jazzmusik gesampelt wird. In den Raptexten wird häufig Distanz zu Gewalt propagiert, mehr afroamerikanisches Bewusstsein eingefordert und zum 98 »The Message«, Grandmaster Flash and the Furious Five, 1982, zitiert nach: http:// www.metrolyrics.com/the-message-lyrics-grandmaster-flash.html, Abruf: 8.3.2008. 99 »Straight Outta Compton«, N.W.A., 1988, zitiert nach: http://www.lyricsdir.com/ nwa-straight-outta-compton-lyrics.html, Abruf: 8.3.2008. 100 »Mein Block«, Sido, 2004, zitiert nach http://www.free-lyrics.org/Sido/246802-MeinBlock.html, Abruf: 8.3.2008.

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Widerstand gegen die bestehenden Verhältnisse aufgefordert. Dieser Stil wird mittlerweile auch allgemeiner als Conscious-Rap oder KnowledgeRap bezeichnet, wobei die Grenzen zwischen Reality-Rap und ConsciousRap oft fließend sind. Auch hier finden sich häufig Bezüge zum Leben in den Städten. So berichtet der bekannte Conscious-Rapper KRS One vom Leben in New York Anfang der 1980er Jahre: » skinny cat, young cat, with a knapsack strapped to my back / 1981 before the crack attack / I used to let the Olde English 800 suds bubble / In the last car of the Franklin Avenue shuttle / Brooklyn, no doubt, Wingate Park, no doubt / Prospect Park I’m all laid out / Homeless, my gear played out and I know this / But I’m an MC I stay focused / I took the shuttle to the D and wrote my rhymes in a hour / Took the D to the E, last stop the Twin Towers / Sittin in the belly of the beast / In the World Trade organization, bein’ harassed by the police / I wrote my rhymes right there on the spot / New York City, 1984 corruption was hot / Cats sellin uzis out the Jacob Javits Center for a high price / Let me tell you bout my life « 101 Städte und Stadtorte werden in Raps sehr unterschiedlich beschrieben. Aber entsprechend der Stile und Vorstellungswelt des HipHops wird die Stadt in den meisten Fällen unter drei Perspektiven dargestellt: als ein Ort der Identität und des Stolzes, ein Ort des Kampfes gegen widrige Umstände und als Ort, der demjenigen, der sich durchsetzt, Gratifikation und Luxus bietet.

Die Vorstellung von Repräsentation im HipHop

Der Einzelne versucht mit den Stilmitteln der HipHop-Kultur die eigene Person in Szene zu setzen und dabei einen möglichst individuellen Stil zu kreieren. So sind theatrale HipHop-Performances geprägt durch die Gleichzeitigkeit von authentischem Ausdruck und HipHop-Inszenierung. Es ist die daraus resultierende Spannung, die den Motor für die kontinuierliche Weiterentwicklung des HipHop ergibt: Jede Performance oder jedes Artefakt schreibt die Kultur des HipHop fort, indem mit theatralen Mitteln versucht wird, authentisch zu sein. In einer Inhaltsanalyse hat der Kommunikationswissenschaftler Kembrew McLeod den Bedeutungsraum des Begriffs Authentizität für HipHop-Aktivisten untersucht:

101 »My Life«, KRS One, 2006, zitiert nach: http://www.ohhla.com/anonymous/krs_one/ life/my_life.krs.txt. Abruf: 17.3.2007.

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»Being authentic, or keepin’ it real, means staying true to yourself (by identifying oneself as both hard and Black), representing the underground and the street, and remembering hip-hop’s cultural legacy, which is the old school. To be inauthentic, or fake, means being soft, following mass trends by listening to commercial rap music, and identifying oneself with White, mainstream culture that is geographically located in the suburbs.«102 Authentisch sein kann man im HipHop aber nur über gelungene Inszenierungen und nur diese entscheiden darüber, ob jemand berechtigt ist, über andere Performances zu urteilen. So ergibt sich eine kontinuierliche Kette von Performances, in der ausgehandelt wird, wer für HipHop sprechen darf, indem darüber gesprochen wird, wer legitimer Sprecher ist und wer nicht.103 HipHop-Aktivisten bezeichnen die Verbindung ihrer eigenen Praxis mit ihrer sozialen und örtlichen Herkunft, ihren Crews und mit HipHop allgemein als »Repräsentation«. Repräsentation meint das Einstehen und die Verkörperung dieser Gruppen und ihrer Normen und Werte. In der Repräsentation wird HipHop jeweils weitergeführt, gleichzeitig aber auch neu erschaffen, da es für die Repräsentation im Sinne des HipHop nötig ist, seine Stilmittel und normativen Vorgaben zu erfüllen. So wird in der Repräsentation, wie die Ethnologin Stefanie Menrath anmerkt, immer etwas schon zuvor Repräsentiertes erneut repräsentiert, dabei gleichzeitig aber auch dadurch verändert.104 Andererseits, darauf weist der Ethnologe Ian Maxwell hin, steht der Begriff auch für eine Strategie des Festhaltens an einer Essenz von HipHop: »The Hip Hop logic of representation suggested (and engendered) a belief in a form of structural necessity, in which a rap, a break dance, or a graffiti piece is a manifestation that could be read, within the interpretive community, as being determined by the immutable, underlying essence of Hip Hop: a folk homology theory, perhaps.«105 Eine Essenz, an die die HipHopper zwar glauben, deren Inhalt sie aber nie genau bestimmen können.

102 103 104 105

McLeod 1999. Vgl. Klein/Friedrich 2003. Vgl. Menrath 2001: 78, 115. Maxwell 2003: 185.

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Kampfspiel

Für die allermeisten Aktivitäten im HipHop gilt, dass sie Wettbewerbscharakter besitzen, wie Rose anmerkt: »Hip hop remains a never-ending battle for status, prestige, and group adoration, always in formation, always contested, and never fully achieved.«106 Jeder Rap, jede Performance, jedes Graffiti stellt einen Beitrag in diesem »Kampf« dar. Entsprechend werden Rap- oder Breakdance-Events als ritualisierte und formalisierte Kämpfe (Battles) ausgetragen, bei denen einzelne oder in Crews organisierte Rapper, DJs oder Breakdancer gegeneinander antreten und durch eine Jury oder das Publikum nach jeder Performance entschieden wird, wer das jeweilige Battle gewonnen hat. Im Rap werden Auseinandersetzungen (als »Beef« bezeichnet) auch über Tonträger ausgetragen, indem einzelne Rapper auf einzelnen Tracks »gedisst«, das heißt beschimpft und als unfähig bezeichnet werden.107 Soziales Ziel des Kampfspiels ist es, Anerkennung und Respekt von den anderen Teilnehmenden zu erhalten. Der Wunsch nach Respekt und »Fame« kann sich auf lokale Zusammenhänge ebenso beziehen wie auf ein breiteres Publikum. Kommerzieller Erfolg wird aus diesem Grund von den meisten Rappern und DJs nicht abgelehnt. Kampf bestimmt auch die Gruppenbildung im HipHop. Die Musikwissenschaftlerin Sabine Vogt hat es auf den Punkt gebracht: »Mit Hip-Hop werden Freunde gesucht und Feinde gemacht.«108 Einzelkämpfer sind im HipHop äußerst selten anzutreffen. Die HipHop-Szene organisiert sich in kleineren (Crews) und größeren Verbünden (Possen). Forman charakterisiert HipHop als spezielles Kampfspiel um Territorien: » Since its inception in the mid- to late 1970s, the hip-hop culture has always maintained fiercely defended local ties and a built-in element of competition waged through hip-hop’s cultural forms of rap, break-dancing,

106 Rose 1994a: 36. 107 Selbst die coole Attitüde, die im HipHop gerne im öffentlichen Raum oder in Clubs an den Tag gelegt wird, hängt mit der Kampforientierung zusammen, soll sie doch zeigen, dass die »Gefahren« städtischer Umgebungen einen nicht aus der Ruhe bringen können und andererseits soviel Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Unterstützung durch die eigene Posse besteht, dass ein unaufgeregtes Verhalten am angemessensten ist. 108 Vogt 2005: 117.

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and graffiti. This competition has traditionally been staged within geographical boundaries that demarcate turf and territory among various crews, cliques, and posses, extending and altering the spatial alliances that had previously cohered under other organizational structures, including but not exclusive to gangs.«109 Crews und Possen existieren nur nicht auf Events oder Tanzveranstaltungen. Der Wettbewerb und das oft hohe Niveau der Performances macht es notwendig, dauerhaft zusammenzuarbeiten. Deshalb bestehen sie oft über längere Zeiträume hinweg. Das heißt nicht, dass es innerhalb dieser Gruppierungen nicht zu Abgängen und Veränderungen kommt und Crews und Possen nicht von der Fluidität sozialer Kontakte in Städten beeinflusst wären. HipHop zielt aber darauf ab, Gruppen zu bilden, die möglichst stabil sind und als eine Einheit funktionieren. Die meisten Gruppen bilden sich dabei entweder durch eine gemeinsame Nachbarschaft oder durch die gleiche ethnische Zugehörigkeit, auch weil viele Städte durch ethnische Segregation geprägt sind.110 Das Kampfspiel des HipHops ist sehr oft mit dem Stadtraum verbunden. Forman sieht in dieser Praxis den Versuch, einen neuen Raum zu erschaffen: » Space and place figure prominently as organizing concepts delineating a vast range of imaginary or actual social practices that are represented in narrative or lyric form and that display identifiable local, regional, and national aesthetic inflections. Youths who adhere to the styles, images, and values of hip-hop culture (in which a distinct social sector displays relatively coherent and identifiable characteristics) have demonstrated unique capacities to construct different spaces and, simultaneously, to construct spaces differently.«111 Stadtorte werden oft symbolisch ›übernommen‹ und dadurch in das HipHop-Universum eingegliedert. Das Ziel des Kampfspiels besteht in der symbolischen Eroberung und Verteidigung von Territorien. Der Kultursoziologe Phil Cohen hatte schon Anfang der 1980er Jahre darauf hingewiesen, dass die Besetzung von Territorien ein wichtiges Ziel von sehr unterschiedlichen Jugendszenen ist, aber im HipHop geht es weniger um die konkrete Besetzung eines Gebiets mit Personen, sondern mehr um

109 Forman 2002: 178-179. 110 Vgl. Krims 2000: 180. 111 Forman 2002: 3.

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die symbolische Umdefinition von Stadtorten.112 Dies gilt nicht nur augenfällig für Graffiti, bei denen durch das Schreiben des eigenen Namens oder der Crew, zu der man gehört, eine Annektierung von Stadtgebieten erfolgt, sondern auch für die symbolische Aufwertung von Städten und Stadtgebieten, wie sie in unzähligen Raptexten erfolgt.113 Die engen Bezüge zum Leben in den Innenstädten in den Texten und Bildern des HipHops und die Inszenierung von HipHop als kontinuierliches Kampfspiel, welches in oder um die Stadt geführt wird, machen den Großstadtkämpfer zur zentralen Figur.114 Es ist deshalb auch weniger die Vorstellung des sozialen Elends von Innenstadtghettos, die den Reiz des Rap ausmacht, sondern Assoziationen wie Kampf, Intensität, Normübertretungen in Kombination mit der Belohnung von Disziplin und Leistungen. Als »Kämpfer« reagiert der HipHopper auf die Widrigkeiten des Stadtalltags. Indem öffentliche Orte privatisiert werden und gleichzeitig soziale Ungleichheit wieder verstärkt zu einem räumlichen Problem geworden ist, hat sich der Aktionsradius und die Möglichkeit der Nutzung des öffentlichen Raums in den letzten dreißig Jahren für viele Stadtbewohner kontinuierlich vermindert. Der realen Kampfsituation in den Städten, die unter der Ausweitung der Konsumzonen verdeckt weiter existiert, wird ein spielerischer, aber nicht minder leistungsorientierter Kampf entgegengestellt. HipHop bietet zwar kein alternatives Wertesystem, aber durch die Prinzipien der Anerkennung von Leistungen eine Kultur, in der popkulturelles Kapital erworben werden kann.115 Im HipHop wird so nicht direkt gegen die herrschenden Verhältnisse opponiert, obwohl sie nicht selten in Raptexten angeprangert werden, sondern es wird eine eigenständige Welt aufgebaut, die zwar hierarchisch ist, andererseits aber selbstbestimmt und offen.

112 Vgl. Cohen 1980: 85. 113 Vgl. Forman 2002: 31. 114 Die Figur des Großstadtkämpfers ist in diversen Varianten in fast jedem Musikvideo anzutreffen (vgl. Klein/Friedrich 2003a: 117-128, Klein/Friedrich 2003c). 115 In Deutschland wurde er zusätzlich von Jugendhäusern und Sozialarbeitern unterstützt (vgl. Caglar 1998).

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Techno: Deindustrialisierung und Industrieklänge Technobeats

Techno gilt entweder als ein bestimmter Stil der elektronischen Tanzmusik, neben House, Big Beat oder Grime. Hier soll er aber, in Anlehnung an die Soziologen Ronald Hitzler und Michaela Pfadenhauer, als Oberbegriff für die diversen Spielarten elektronisch produzierter Tanzmusik verstanden werden.116 Die allermeisten Technostücke in diesem Sinne weisen die gleichen musikalischen Grundelemente auf.117 Der Musikwissenschaftler Helmut Rösing fasst die Prinzipien zusammen: » Grundlage ist in der Regel ein kontinuierlich durchgehender, impulsstarker 4/4 Beat, hergestellt vom Drumcomputer oder hervorgerufen durch das »Loopen« von kurzen Baß- bzw. Drumset-betonten Abschnitten bereits bestehender Musik. Über den in 8- oder 16-taktigen Perioden gegliederten Beat werden weitere Spuren mit unterschiedlichen Sounds und rhythmischen Kurzmotiven geschichtet. Sie bewirken eine kontinuierliche Verdichtung und Spannungssteigerung über längere Zeiträume hinweg.«118 Daraus entsteht eine repetetive, elektronisch produzierte Tanzmusik. Unterschiede in dieser technoiden Musik entstehen erstens durch die verwendeten Klänge: Sie reichen von ›warmen‹ Klängen bis zu ›harten‹ und ›harschen‹ Geräuschen. Bei House-Musik werden die elektronischen Beats oft mit Samples von akustischen Musikinstrumenten und Soul- oder Gospel-Gesang kombiniert.119 Bei anderen Spielarten wie dem Detroit-Techno hingegen dominieren Klänge, die an Betriebsgeräusche technischer Maschinen oder das Aufeinanderschlagen von Metallen erinnern. Variiert wird zweitens die Ausgestaltung des Rhythmus um den 4/4Beat herum. Sie kann von einer starken Betonung der 4/4-Zählzeiten im Detroit-Techno oder Hardtrance bis zu komplexen Beatpattern im Drum ’n’ Bass reichen. Auf den monotonen Grundbeat werden weitere Percussions, Töne, Tonfolgen oder Geräusche gelegt.120 Die Komplexität der Musik entsteht, weil die einzelnen Klangspuren eines Tracks in unterschiedlichen 116 117 118 119 120

Vgl. Hitzler/Pfadenhauer 2003: 214. Vgl. Volkwein 2003: 3, Kemper 2004: 9, 56. Rösing 2001: 179. Vgl. Rietveld 1998: 106-107, Volkwein 2003: 39. Vgl. Straw 2001: 171.

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Kombinationen erklingen und zudem im Verlauf in ihrer Lautstärke und ihren Klangeigenschaften variiert und verändert werden. Dabei kommt es zu einem Wechselspiel aus Klängen und impulsorientiertem Rhythmus.121 Der Aufbau der Musik resultiert aus ihrer Funktion als Tanzmusik für Clubnächte oder Raves, denn sie wird fast ausschließlich für diesen Zweck produziert. Technotracks sind rein funktionalistisch: Ihr Ziel ist es, Tänzer auf der Tanzfläche zu halten: Techno-Musik ist Clubmusik.122 Der DJ mischt dabei einzelne Tonträger so ineinander, dass keine Pausen und oft auch keine Übergänge mehr zwischen den einzelnen Tracks zu bemerken sind. So entsteht ein zusammenhängendes Klangerlebnis.123 Die Kombination aus monotonem Grundrhythmus und dem Spannungsaufbau und -abbau durch das An- und Ausschalten und der Überlagerung einzelner Schichten eines Technotracks dient dazu, die Tänzer in einen kontinuierlichen Erlebnisfluss einzubinden, wie der Musikwissenschaftler Ansgar Jerrentrup anmerkt: »So steht diese Musik kompositorisch in einem Spannungsfeld zwischen betäubender Eintönigkeit, subtiler Variantenerfahrung und definitiven Wechseln – alles, um die Tanzlust hoch zu halten bzw. immer wieder zu erneuern.«124

Techno zwischen Düsseldorf, New York, Detroit und Berlin

Techno hat sich zuerst in den Tanzclubs von Chicago, New York City und Detroit entwickelt. Als Entstehungsorte des Techno lassen sich aber auch Düsseldorf und München nennen. In Düsseldorf produzierte die Gruppe Kraftwerk schon Anfang der 1970er Jahre elektronische Musik, die nachhaltig Techno beeinflusst hat, und in den frühen 1980er Jahren schuf die aus dem Punkumfeld stammende Gruppe D.A.F. (Deutsch Amerikanische Freundschaft) eine minimalistische, elektronische und stark rhythmusorientierte Tanzmusik. In München produzierte Giorgio Moroder in den 1980er Jahren Diskomusik, die bereits ›technoide‹ Züge trug: Die Stücke besaßen einen kontinuierlichen 4/4-Beat und die Klänge waren fast ausschließlich mit Synthesizern und Rhythmusgeräten produziert, Eigenschaften, die später in den House- und Technotracks übernommen wurden.125 121 122 123 124 125

Vgl. Jerrentrup 2001: 194-195. Vgl. ebd.: 198, Klein 1999: 147, 180. Vgl. Reynolds 1998a: 22. Jerrentrup 2001: 187. Vgl. Reynolds 1998a: 2-3, 16, 20.

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Techno ist eine Weiterentwicklung und Radikalisierung der Diskomusik. Bevor Disko in den 1970er Jahren zu einer weltweiten Tanzbewegung führte, war sie, genauso wie House-Musik später, in Tanzclubs für homosexuelle Afroamerikaner entstanden. Die DJs in diesen Clubs hatten schon in den 1960er Jahren Stücke gespielt, die den 4/4-Beat betonten: »Disco foregrounds the beat, makes it consistent, simple, repetitive. The origins of disco music have been traced by house historian Anthony Thomas to late sixties DJs in mostly gay, black clubs, who spliced together the faster soul songs into a continuous dance »mix« that provided a predictable, unbroken rhythm conducive to a long spate of dancing. […] Dancing becomes a form of submission to this overmastering beat.«126 Seit den 1960ern breiteten sich in den USA Diskotheken aus, in denen ein DJ Platten auflegte. In den 1970ern begannen dann DJs wie Larry Levan und Frankie Knuckels in New Yorker Clubs die einzelnen Musikstücke ohne Unterbrechung ineinander zu mischen.127 Frankie Knuckles radikalisierte diesen Ansatz im Chicagoer Club Warehouse. Der Club war ein umgebautes Fabrikgebäude, abgelegen im Westen der Stadt, in einem Gebiet, in dem sich sonst keine anderen Clubs befanden. Knuckels mixte bei seinen Auftritten unterschiedliche Stile wie Philadelphia Soul, New Yorker Club Musik oder Eurodisco im Stile Moroders zusammen.128 Wichtiger war aber, dass er kurze Klangspuren, die er selbst aufgenommen hatte, in denen ein kurzes Motiv, eine Melodie oder Melodiefragment, kontinuierlich wiederholt wurde, in seinen Mix integrierte. Diese als Tracks bezeichneten Klangspuren radikalisierten den Effekt von Diskomusik und erzeugten die typisch monotone und in ihren Grundelementen sehr einfache House-Musik. Wichtig für die Entwicklungsrichtung der House-Musik war auch das Publikum. Genauso wie bei der frühen Diskomusik bildeten homosexuelle Afroamerikaner die Kerngruppe des Warehouse. Sie nutzten die Musik, oft mit der Unterstützung von aufputschenden Drogen, um ein ihnen sonst nicht zugestandenes Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen.129 Die Reduktion der Diskomusik zu einem kontinuierlichen rhythmischen Tanztrack und die Bindung an eine schwule Szene veränderte laut Simon Reynolds die Musik:

126 127 128 129

Hughes 1994: 149. Vgl. auch Thomas 1989: 24-35. Vgl. Rietveld 1998: 108-209, Straw 2001: 164. Vgl. Rietveld 1998: 108. Vgl. Reynolds 1998a: 17, Rietveld 1998.

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»House didn’t just resurrect disco, it mutated the form, intensifying the very aspects of the music that most offended white rockers and black funkateers: the machinic repetition, the synthetic and electronic textures, the rootlessness, the ›depraved‹ hypersexuality and ›decadent‹ druggy hedonism. Stylistically, house assembled itself from disregarded and degraded pop-culture detritus that the mainstream considered passé, disposable, un-American; the proto-disco of the Salsoul and Philadelphia International labels, English synth-pop, and Moroder’s Eurodisco.«130 House-Musik hat mit dem repetetiven Rhythmus und ihrer Trackstruktur schon zentrale Elemente zum Techno beigetragen. Die Entwicklung zu dem, was heute im engen Sinne als Techno bezeichnet wird, vollzog sich in Detroit.131 Ähnlich wie HipHop wird die Entstehung des Detroiter Techno eng mit der Deindustrialisierung der Stadt in Verbindung gebracht. Als Musik aus dem Ghetto Detroits gilt Techno als eine kulturelle Antwort, mit der sich Afroamerikaner gegen ihre depravierte Lebenssituation zur Wehr setzen. Als Zentrum der Autoindustrie war Detroit besonders hart vom Abbau von Arbeitsplätzen im industriellen Bereich betroffen. In Folge kam es, nicht unähnlich der Situation in der New Yorker South Bronx, besonders in der Innenstadt zur Verarmung der Bevölkerung und zu einem nachhaltigen Rückgang der Investitionen in Infrastruktur und Gebäude, der zu ihrem Verfall führte.132 Im Unterschied zum HipHop soll sich der Protest im Techno nicht durch explizite Textbezüge zur Lebenssituation im Ghetto ausdrücken, sondern durch eine futuristische Musik, deren musikalische Referenzen nicht auf einen bestimmten Ort verweisen. Diese Lesart entstand auch, weil frühe Technoproduzenten wie Juan Atkins und Rick Davis in ihrem gemeinsamen Projekt Cybertron sich von Alvin Toffler’s Techno-Utopie »The Third Wave« beeinflusst zeigten. Für sie war Technomusik eine Möglichkeit die Technik im Sinne Toflers zu benutzen und durch sie zu einer »supra-human entity« zu werden.133 Gleichzeitig wird die Musik von dem Techno-Pionier Juan Atkins auch in enger Verbindung mit dem Niedergang der industriellen Produktion betrachtet: 130 Reynolds 1998a: 15. 131 Obwohl sich mit Acid auch schon ein Musikstil in Chicago entwickelt hatte, der bereits Züge des Detroiter Technos trug. Reynolds (ebd.: 25) beschreibt den Klang des ersten Acid-Tracks nicht unpassend als: »somewhere between a faecal squelch and a neurotic whinny, between the bulling of volcanic mud and the primordial low-end drone of didgeridoo«. 132 Vgl. Sugrue 1996: 125-152, Klein 2001: 165-172, Kemper 2004: 44. 133 Reynolds 1998a: 9.

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»Detroit ist, wie ihnen vielleicht aufgefallen ist, eine heruntergekommene, postindustrielle Stadt. Und ich glaube die Grundeinstellung der Machthaber, also der Stadtregierung ist die, dass die Industrie sterben muss, um der Technologie Platz zu machen. Detroit hat als erste Stadt in Nordamerika die technologische Revolution zu spüren bekommen, das wirkt sich auf alle Bewohner aus, einschließlich der Künstler, Musiker usw. Dieses Klima hat sich ganz bestimmt auf uns ausgewirkt. Wir hätten diesen Sound in keiner anderen Stadt Amerikas entwickeln können.«134 Bei der These der engen Verbindung von aufgegebener Stadt und Techno muss aber beachtet werden, dass Techno nicht als Reaktion von Innenstadtbewohnern auf den Verfall ihres Viertels beschrieben werden kann. Dagegen spricht, dass nicht nur der gerade zitierte Juan Atkins, sondern auch Derrick May und Kevin Saunderson, allesamt wichtige Pioniere des Techno, aus der Kleinstadt Belleville stammen, die dreißig Meilen entfernt von Detroit liegt. Anders als die Innenstadtbewohner wuchsen Atkins, May und Saunderson in relativem Wohlstand auf. In ihrer Jugend hörten sie auch europäische Musik wie Kraftwerk, Yello, Ultravox oder die von Giorgio Moroder beeinflusste Italo-Disko, auch um sich laut Juan Atkins von anderen Afroamerikanern mit geringerem sozialen Status abzugrenzen.135 Dass sich die Väter des Technos in der Innenstadt und nicht in der Vorstadt von Detroit ansiedelten, versteht der Musikjournalist Dan Sicko als Geste, mit der an die besseren Zeiten als industrielle Metropole erinnert werden sollte: »Techno’s rebels weren’t usually rebellious, but establishing a base of operations in the city center was at least a contrary gesture – they could have easily opted for the convenience of expansive industrial parks and office complexes. It’s true that downtown rents were probably much cheaper for

134 Juan Atkins. Aus dem Film: Modulations, von Lara Lee, 1996, eigenes Transkript. 135 Vgl. Reynolds 1998a: 3-6. So erklärt sich auch, dass die Musik von Cybertron, einem frühen, songorientierten Technoprojekt stärker von europäischer, elektronischer Musik beeinflusst war, als von House-Musik. Der europäische Einfluss bezog sich nicht nur auf Musik. Der Song »Techno City«, der der Musik ihren Namen geben sollte, war laut Reynolds (ebd.: 10) auch angeregt von Fritz Langs Film »Metropolis«, in dem eine strenge Zweiteilung der Bevölkerung dargestellt wurde: »According to Davis, Techno City was equivalent to Detroit’s Woodward Avenue ghetto; the dream of its denizens was to work their way up to the cybodrome, where the artists and intellectuals lived. Again, these utopian/dystopian fantasies were just a thinly veiled allegory of the unofficial apartheid taking shape in urban America, with the emergence of privately policed fortress communities and township-like ethnic ghettos.«

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the young artists, but there was also a sense of wanting to restore some of downtown Detroit’s artistic nucleus.«136 Die aus Europa stammende Musik verbanden sie mit der Technik der Gestaltung von Tracks, wie sie in der Chicagoer House-Musik produziert wurden. Sie betonten dabei noch stärker die elektronischen Elemente und verzichteten auf Soulgesang und ›weiche‹ Pianopassagen. Daraus entstand eine Musik, die in ihren radikalsten Varianten nur noch aus geräuschhaften, maschinellen Klängen und digitalen, künstlich klingenden Percussions bestand. Die Geschichte von Chicago-House und Detroit-Techno beginnt in den USA, aber den ersten kommerziellen Erfolg erreicht die Musik in England.137 Schon 1988 gab es zunächst in Großbritannien und später in Europa eine erste Acid-House-Welle. Ein Jahr später begannen Jugendliche Raves zu veranstalten. Sie fanden oft in Industriegebieten oder auch auf dem Land statt und zogen in der Hochphase oft Zehntausende von Feiernden an.138 Ein Zentrum für Rave war Manchester, die erste industrialisierte Stadt der Welt, die ähnlich wie Detroit massiv von der Deindustrialisierung betroffen war.139 Seit den 1990ern etablierte sich Techno als Tanzmusik weltweit. Berlin entwickelte sich zur wichtigsten Technostadt. Die Deindustrialisierung des Ostteils der Stadt nach dem Zusammenbruch der DDR ermöglichte es, diverse leer stehende Industrieanlagen zu nutzen, die sehr gut zu Technoveranstaltungen passten.140 Und in der Stadt gab es eine große Menge an Jugendlichen, die ihre neue ›Freiheit‹ nutzen wollten und nach einer neuen Identifikationsfläche suchten. Genau diese sollte Techno anbieten und nach der Maueröffnung in der Stadt zu einem Massenphänomen werden lassen. 136 Sicko 1999: 63. 137 Vgl. Straw 2001: 173. Zum Reimport der Rave-Kultur durch Euroamerikaner in den USA siehe Champion 1998: 94-105. 138 Vgl. Reynolds 1998a: 34-68. 139 Zu der sogenannten »Madchester«-Szene vgl. Reynolds 1998a: 70-94, Haslam 2000: 162-190. Der Erfolg der Clubszene in Manchester gilt mittlerweile auch als ein Protoyp für eine gelungene Aufwertung von Innenstädten durch Unterhaltungsangebote (vgl. Haslam 2000: 249-280). 140 Vgl. Schwanhäußer 2005: 164. Die Musik aus Detroit hatte dabei vor allem Dimitri Hegeman nach Berlin geholt, der mit dem letzten Atonal-Festival DJs in die Stadt brachte und mit dem Tresor bis 2005 einen wichtigen Technoclub in der Leipziger Straße, ganz in der Nähe des neuen Stadtzentrums Potsdamer Platz, unterhalten sollte. Durch ihn legten seit 1988 regelmäßig DJs aus Detroit in der Stadt auf. Vgl. die Beschreibung von Hegemann (2005).

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Die kontinuierliche Umgestaltung der Stadt und die Möglichkeit, immer wieder neue Standorte für Partys zu nutzen, erzeugte in Berlin eine Technokultur, die am Anfang ständig zu neuen Orten driftete. Dies führte auch zu kontinuierlichen Neuerungen der Technoperformances.141

Techno-Orte

Auffallend am Techno ist die Nutzung von Orten in der Stadt zum Tanzen.142 Wie schon erwähnt, finden Technopartys oft in aufgegebenen Industrieanlagen statt, durch die diese temporär ›wiederbelebt‹ werden, wie die Kultursoziologin Gabriele Klein feststellt: »Aber auch die kommerziellen Parties und Raves inszenieren – zu einem Moment, da Europa seine Schwerindustrie zu verlieren beginnt – das industrielle Leben als Multi-Media-Spektakel. Industrie wird zur Unterhaltung, zur Entspannung, zu einem Bestandteil des Amüsements in der ›zweiten Welt‹ der Nacht.«143 Zum anderen wurde der öffentliche Raum bei Großveranstaltungen temporär in ein Technogebiet umfunktioniert. Nach den Raves in den 1980ern etablierten sich in den 1990ern in Berlin und anschließend in diversen Städten Europas Technoparaden, bei denen mehrere LKWs mit Soundsystemen, die laute Technomusik abspielten, durch die Stadt fahren. Die Berliner Loveparade avancierte schnell zu einer Massenveranstaltung mit zeitweise bis zu 1,5 Millionen Besuchern.144 Die Medienwissenschaftlerin Birgit Richard hat vorgeschlagen, die Paraden als wenig innovative neue Form des Volksfestes zu charakterisieren, dagegen spricht aber ihre fehlende Einbindung in Volksbräuche.145 Das Besondere der Paraden ist nicht ihre Ähnlichkeit mit Volksfesten, sondern die Inbesitznahme des öffentlichen Raums, inklusive seiner Verkehrswege als Partyräume. Dies lässt sich deuten als eine Bewegung, die sich gegen die Zerstörung des öffentlichen Raums als Begegnungsort wendet, wenn auch nicht in expliziter Absicht, denn der öffentliche Raum wird durch die Parade einfach zu einem Ort des gemeinschaftlichen Feierns gewandelt.146 Die Paraden sind riesige Präsentationsflächen, auf denen, 141 142 143 144 145 146

Vgl. Bader 2005: 106, Schwanhäußer 2005. Vgl. Klein 2001: 161-162, Kemper 2004: 199-200, Schwanhäußer 2005: 164-167. Klein 1999: 151. Vgl. Kemper 2004: 99-100. Vgl. Richard 2001: 293. Vgl. Klein 1999: 157, Klein 2001: 161-162, Scharenberg/Bader 2005: 11.

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so Hitzler, sich die Teilnehmer gegenseitig ihre Zugehörigkeit zur Szene demonstrieren: »Der Wille zur Selbst-Stilisierung ist bei fast allen ParadeGängern kaum übersehbar.«147 Die Größe der Veranstaltung, dies gilt genauso für Techno-Großveranstaltungen wie die Mayday, trägt mit dazu bei, das Gemeinschaftsgefühl verstärkt zu erleben. Paraden waren wichtige Ereignisse, um die Technoszene auch einem größeren Publikum zugänglich zu machen, aber der eigentlich zentrale Ort des Technos ist der Club. Alle Elemente zielen im Technoclub darauf ab, ein besonders intensives Erleben zu ermöglichen. Dazu wird mit einer sehr hohen Lautstärke Technomusik abgespielt. Das ›Eintauchen‹ in die Musik wird darüber hinaus durch die Gestaltung des Veranstaltungsortes gefördert. Verlassene Industriestandorte eignen sich deshalb so gut zur Technomusik, weil das maschinenhafte und technische Element der Musik hier besonders gut unterstützt wird. Genauso wichtig für die Intensivierung des Erlebens ist der Einsatz von blitzendem und blinkendem Licht und Videoelementen, manchmal kombiniert mit künstlichem Nebel, der das Sichtfeld einschränkt und die Lichteffekte diffundiert und in Flächen wandelt. Dadurch wird der Club auch visuell stark von der Außenwelt abgegrenzt.148 Es geht im Technoclub darum, eine umfassende Atmosphäre zu erschaffen, in die sich die Technogänger vollkommen und komplett hineingeben können. Der Populärmusikforscher Simon Frith schreibt: »In dance culture the distinction between music and environment is blurred in other ways, by transforming space itself into a kind of moving sonic image. Lights and mirrors, darkness and deception, are used so that what one sees seems always an effect of what one hears; space becomes movement as dance hall, club, and warehouse are shaped by the dancing bodies that fill them; when silence falls, the setting disappears.«149 Der Kommunikationswissenschaftler Christian Kemper macht darauf aufmerksam, dass der Tänzer sich nicht im Raum auflösen soll, sondern die Atmosphäre aus Klang, Licht und Bewegung soll den Tänzer zu einer »Beschäftigung mit seiner Rhythmik und Ästhetik«150 einladen. Aus diesem Grund wird versucht, eine möglichst scharfe Trennung zur Außenwelt herzustellen und den Technoclub zu einer andersartigen Erlebniswelt zu gestalten.151 147 148 149 150 151

Hitzler 2001: 12. Vgl. Werner 2001: 39-41, Klein/Friedrich 2003: 219-233. Frith 1996: 156. Kemper 2004: 80. Vgl. Hitzler 2001: 15, Vogelgesang 2001: 272-273.

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Im Mittelpunkt der Technoveranstaltung steht der Körper. Die intensiven Sinneseindrücke werden visuell, auditiv und durch die hohe Lautstärke und den tiefen, unter der Hörgrenze liegenden subsonischen Bässen ganzkörperlich gespürt.152 Durch Techno wird, so lässt es sich auch formulieren, ein bestimmter Körper hergestellt, der sich in der rhythmischen, dynamischen Klang- und Lichtumwelt bildet.153 Zentral ist im Techno das Tanzen.154 Nach Klein wird im Tanz nicht nur die dynamische Umgebung in Bewegung umgesetzt und dadurch gleichzeitig die Wahrnehmung dynamisiert, sondern der Tanz erzeugt auch eine Gemeinschaft der Tanzenden: »Ihre Kultur erscheint als Prototyp einer kulturellen Praxis, die ästhetische Erfahrungen in der Gemeinschaft erlaubt, als kommunikative erfahrbar macht und damit Möglichkeiten der Selbsterkenntnis eröffnet – gerade deshalb, weil beim Rave das Gemeinschaftserlebnis und eine Art kollektives Körpererleben eine zentrale Rolle spielen, denn die Club- und Rave-Kultur ist im wesentlichen eine Tanzkultur.«155 Musik, Licht und Tanz verbinden sich in einem Technoabend für die Teilnehmenden oft zu einem rauschhaften Erlebnis. Vogt führt aus: »Die Spannungen der sich ständig wiederholenden Rhythmen und Klangbewegungen mit ihren Crescendi und Decrescendi, Tempobeschleunigungen, Extremlautstärken und häufigen Lautstärkeveränderungen und Frequenzen, welche die Fühlschwelle teilweise unterschreiten, induzieren – je nach individueller Fähigkeit und Bereitschaft eines Menschen – meditative, tranceartige wie ebenso ekstatische Bewusstseinszustände.«156 Dies führt bei den Tanzenden zu einer Auflösung des Zeitempfindens und der eindeutigen Körpergrenzen. Es entsteht dabei ein Erleben von Flow, wie Mihaly Csikszentmihályí ihn beschreibt: Ein verstärktes Gegenwartsempfinden, in dem es zu einer Verschmelzung von Handlung und Bewusstsein kommt. Die Tänzer verschmelzen dadurch mit den anderen Tänzern, gleichzeitig geht die Verbindung zur eigenen physischen Realität nicht verloren.157

152 153 154 155 156 157

Vgl. Klein 1999: 173-183, Klein 2001: 174-175, Werner 2001: 36. Vgl. Klein 1999: 204. Vgl. Werner 2001: 42. Klein 1999: 50. Vogt 2005: 100-101. Vgl. Csikszentmihályí 1991. Zu Flow und Techno: Klein 1999: 186-187, Vogt 2005: 101.

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Den Zustand der Ekstase und Gemeinschaft zu erreichen ist auch eine Form der Arbeit: Arbeit am Körper und Arbeit mit dem Körper. Das ist bemerkenswert, weil in postindustriellen Gesellschaften die körperlich anstrengende Lohnarbeit immer stärker zurückgedrängt wurde. Ähnlich wie Joggen oder der Besuch eines Fitnessstudios wird der in der Lohnarbeit unnütze und zum ständigen Sitzen verurteilte Körper reaktiviert.158 So verbindet Techno laut der Medienwissenschaftlerin Birgit Richard und dem Erziehungswissenschaftler Heinz-Hermann Krüger den arbeitenden Körper mit der Ekstase: »Raves take place largely in post-industrial landscapes, transforming rundown warehouse sites into timeless, de-localised and de-realised spaces, where obsolete industrial infrastructure is juxtaposed to state of the art technology to create a surreal, almost virtual world – a fun factory. In this environment, dancing becomes an exciting new form of work – the sweating body on the dance floor, symbolically replacing the exertions of the factory floor. […] The Techno kids are doing their job on the dance floor, a job which may last from eight hours to three days. It is a provocative form of expression because this kind of work does not produce a living but constitutes pure relentless pleasure and, as such, offers young people an escape from the isolation and problems often experienced by Western youth.«159 Für Richard und Krüger ist diese Form der Arbeit nur eine Flucht vor Problemen. Aber Technopartys zu besuchen muss nicht eine Flucht darstellen, sondern kann genauso nur darauf abzielen, mit anderen Spaß zu haben, ausgelassen zu feiern und »Action« zu erleben.160 Dieses Erzielen von Gemeinschaftlichkeit ist aber, so argumentiert auch Klein, eine Reaktion auf wachsende Vereinsamung: »Ihre Flüchtigkeit und Unbeständigkeit, ihre lokale Mobilität, ihr Wunsch nach einem intensiven Erleben von Intimität und Gemeinschaft und ihre Ausrichtung an unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung wären demnach eine adäquate Antwort auf die weltweite Homogenisierung von Kultur durch die Unterhaltungsindustrien, auf die soziale Vereinsamung und 158 Dazu passt, so Richard (2001: 297) dass Technokleidung sich zum Teil auf die Arbeit bezieht: »Die Mode der Techno und House Szene erzeugt einen sehr disparaten Referenzraum, der durch die Enteignung von Gegenständen und Strukturen auf unterschiedliche Funktionsbereiche der Gesellschaft Bezug nimmt: Der zentrale Referenzbereich, mit dem alle anderen verflochten sind, ist die Arbeit.« 159 Richard/Krüger 1998:163. 160 Vgl. Werner 2001: 33, Hitzler 2001: 13, 18.

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emotionale Isolation in einer indvidualisierten Gesellschaft und auf deren Leistungs- und Zukunftsorientiertheit.«161 Es geht folglich weniger um eine Flucht, als um das Erreichen einer gemeinschaftlichen Transzendenz durch einen arbeitenden Tanzkörper. Das Erlebnis im Technoclub ist mit der Erzeugung von Hyperrealität verglichen worden. Die Soziologin Sabine Thabe sieht im Techno zum Beispiel den »Hyperraum […] sinnlich real«162 erlebbar werden und Reynolds führt aus: »Rave culture has never really been about altering reality, merely exempting yourself from it for a while. In that sense, rave is really a sort of dry run acclimatization phase for virtual reality; it is adapting our nervous systems, bringing our perceptual and sensorial apparatus up to speed, evolving us towards the post-human subjectivity that digital technology requires and engenders.«163 Der Vergleich von Technoclubs mit einem bis heute vor allem durch Texte, Bilder und Grafiken bestimmten Cyberspace verdeckt, dass es in Clubs um einen primär auditiv bestimmten Raum geht. Wenn virtuelle Realität oder Hyperrealität aber darauf verweisen sollen, dass sich in der Cluberfahrung Imagination und Realität miteinander vermischen, ist der Begriff durchaus sinnvoll.164 Der Soziologe Waldemar Vogelgesang schreibt: »Denn die monotonen, stakkatohaften Klangfolgen der schnelleren Techno-Varianten, kombiniert mit effektvoll eingesetzten Licht- und Videoinstallationen, lassen ein fließendes und pulsierendes Raumbild entstehen, eine Art von archaischer Ursprungssphäre oder Hyperrealität, in der Wirklichkeit und Fiktion, Erlebtes und Geträumtes ununterscheidbar werden.«165 Besser geeignet als Hyperrealität ist der Begriff Utopie. Im Technoclub entsteht zum einen ein U-Topos, ein positiv gestimmter urbaner NichtOrt. Dies erzeugt, so die Soziologin Martina Löw, eine Heterotopie aus Alltagswelt und Virtualität, bei der die Tänzer gleichzeitig an den konkreten Ort gebunden sind und diesen durch den Tanz virtuell zu verlassen 161 162 163 164 165

Klein 1999: 161-162. Thabe 1997: 180. Reynolds 1998b: 90. Vgl. Klein 1999: 181. Vogelgesang 2001: 274-275.

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versuchen.166 Darüberhinaus wird im Techno nicht nur ein U-Topos erschaffen, sondern auch eine Utopie im Sinne einer utopischen Gemeinschaft, die nicht länger in der Zukunft, sondern unmittelbar in der Gegenwart stattfinden soll.167 Die Techno-Party zielt darauf ab, eine ideale Gemeinschaft zu erreichen. Das einzige Ziel ist es, im Moment ihrer Existenz eine Gemeinschaft von Tänzern zu bilden.168 Nach Ronald Hitzler konstruiert die expressive Inszenierung der Zusammengehörigkeit Techno als Realität.169 Darauf weist auch der Soziologe Michael Corsten hin: »Das Eventhafte von Technoevents liegt somit in den außerordentlichen Formen des kollektiven Sich-Entäußerns, die den Eindruck einer intensivierten Erlebnisgegenwart der Veranstaltungsgemeinschaft als öffentlichen Ausdruck hinterlassen soll.«170 Für den Ethnologen Marc Augé sind Nicht-Orte das Gegenteil der Utopie, weil sie keinerlei organische Gesellschaft mehr beinhalten.171 Im Techno aber werden Nicht-Orte erschaffen, in denen sich temporäre Gemeinschaften von Gleichen bilden: eine utopische Gemeinschaft durch einen Nicht-Ort. Es ist genau dieser Widerspruch, der den Reiz von Techno ausmacht. Es ist möglich, sich an einem unbestimmten, aber von Sinneseindrücken überbordenden Ort aufzuhalten und gleichzeitig an der Erschaffung einer urbanen Gemeinschaft genau an diesem Ort zu diesem Moment mitzuwirken. Techno zielt mit einer affirmativ technologischen Ästhetik auf das performative Erschaffen einer eigenen Realität und Gemeinschaft. Die Gefahr besteht dabei jederzeit, eine Kultur zu erschaffen, in der es ›nur‹ um das Erleben einer reinen Sensation geht, mit den Worten von Reynolds eine »Celebration of Celebration«172, in der eine künstliche, technoide und dadurch unmenschliche Welt erschaffen wird. Das Grenzen auflösende Erlebnis einer Technoveranstaltung ist oft mit religiösen, kultischen Ritualen verglichen worden.173 Richtig ist, dass Technoabende stark rituelle Züge tragen und, oft über Stunden gestreckt, zu einer kollektiven Ekstase führen können, wie Klein feststellt:

166 167 168 169 170 171 172 173

Vgl. Löw 2001:165. Vgl. Hubschmid 1995: 12, Poschardt 1995. Vgl. Klein 1999: 159-165. Vgl. Hitzler 2001: 19. Corsten 2001: 118. Vgl. Augé 1999: 130-131. Reynolds 1998b: 86. Vgl. Dumke 2001: 76-77, Hitzler 2001: 13, Taylor 2001: 181-200, Richard, 2005: 134-151.

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»Die Realität der leiblichen Erfahrung und die Virtualität von Raum und Zeit, von Location und Party, bilden hier keine Gegensätze mehr. Über den Dialog der sich bewegenden Körper mit den neuen Raum- und Zeitdimensionen erfahren die Raver die Hyperrealität des Techno-Events als leibliche Wirklichkeit. Genau in dieser Grenzauflösung verschiedener Wirklichkeitsebenen, in der Synergie von Mensch und Maschine, Körper und Künstlichkeit, physischer Erschöpfung und Zeitlosigkeit, in der Grenzauflösung von Ich und Anderen liegt ein Moment der häufig berichteten Erfahrungen von Ekstase.«174 Aber der Vergleich mit religiösen Gemeinschaften sollte nicht zu weit getrieben werden. Anders als diese zielt die Technoparty nicht auf eine Transzendenz ab, die sich außerhalb des Ereignisses befindet. Und die Technogemeinschaft existiert, wie schon erwähnt, nur während des Ereignisses. Mit ihr wird also kein kollektiv geteilter Glaubenssatz reproduziert. Die Gemeinschaft existiert für sich im Moment und scheint über sich selbst hinauszuwachsen – das ist die einzige Transzendenz, die die Ekstase der Technoclubs erzeugt. Wichtig ist dabei besonders das Gefühl »zugleich unter Gleichgesinnten und mit und unter diesen Gleichgesinnten etwas ›Besonderes‹ zu sein«175 und sich dabei gleichzeitig in einer abgegrenzten Sonderwelt zu befinden, also einen quasi utopischen Zustand zu erzielen. Die zentrale Figur des Technos lässt sich folglich als tanzender Utopist beschreiben. Politische Ambitionen haben die Technos dabei nicht. Es geht nicht um die Ablehnung der bestehenden Verhältnisse, sondern nur um die Erschaffung einer selbstbestimmten Welt im Moment des kollektiven Musikkonsums. Dies impliziert, so Kemper, keine Kritik an den bestehenden Verhältnissen: » So besteht die neue kulturelle Praxis der Technoiden darin, nicht das Vorgefundene in Frage zu stellen und um dessen Veränderung zu kämpfen, sondern das Bestehende hinzunehmen und darauf basierend etwas Neues, Eigenes zu beginnen, umzusetzen und zu etablieren.«176 Utopische Gemeinschaft heißt keineswegs Gleichberechtigung. Innerhalb der Technokultur existiert eine Trennung zwischen einer, von den Soziologen Ronald Hitzler, Thomas Bucher und Arne Niederbacher als Organisationselite beschriebenen Gruppe, die Technoevents und -musik 174 Klein 1999: 181. 175 Hitzler 2001: 15. 176 Kemper 2004: 224.

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produziert und dem allergrößten Teil an Personen, der die Musik nur konsumiert.177 Genauso ist der Zugang für ethnische Minderheiten in Clubs oft eingeschränkt.178 Sarah Thornton merkt zu Raves an: »Raver, in their turn, were enveloped in discourses of utopian egalitarianism: [raves] were events without door policies where everybody was welcome and people from all walks of life became one under the hypnotic beat. But the discourse could hardly be tested, for only those ›in the know‹ could hear of and locate the party. Moreover black and gay youth tended to see rave culture as a straight, white affair.«179 Der rituelle Charakter, bei dem sich vermeintlich Gleiche treffen, macht es zudem erforderlich, Technoveranstaltungen genau zu planen und zu strukturieren.180 Um posttraditionelle Gemeinschaften, zu denen Hitzler auch die Technobewegung zählt, aufrechtzuerhalten, müssen außerhalb der Organisationseliten wenig stabile Formen der Vergemeinschaftung existieren. Die Erzeugung eines quasi utopischen Zustands sollte auch nicht als Auflösung individualistischer Grundhaltungen missverstanden werden. Trotz Ekstase und Kommunikation durch den Tanz mit anderen bleiben die Tänzer auch auf sich selbst bezogen und leben ihre narzisstische Selbstdarstellung aus.181 Die Sozialpädagogin Barbara Stauber führt zum Prinzip der Selbstinszenierung aus: »Unter der Bedingungen der Individualisierung kann sich dadurch, daß Selbstinszenierungen zeigen und verbergen zugleich, die gesellschaftliche Fiktion des selbstverantwortlichen Individuums noch verstärken – und damit die Zumutung des Alleine-Zurechtkommens.« 182 In diesem Verständnis könnte der Clubabend nicht nur als Kompensation der ansonsten rationalisierten Gesellschaft gelten, sondern auch als eine perfide Form der Legitimation der Atomisierung der Gesellschafts177 178 179 180 181

Vgl. Hitzler/Bucher/Niederbacher 2005: 27-28. Siehe auch Richard 2005: 134-151. Vgl. Boese 2003. Thornton 1996: 56. Zur Steuerung des Clubabends durch den DJ vgl. Vogt 2005: 137-155. Vgl. Kemper 2004: 194-198. Vgl. auch Hitzler 2001: 16. Für diese These spricht auch der häufige Konsum von MDMA, besser bekannt als Ecstasy, auf Technopartys. MDMA wirkt leistungssteigernd und erhöht die sinnliche, körperliche Wahrnehmung, setzt aber auch das sexuelle Verlangen herab und erlaubt es den Tänzern im Kreis der Gruppe ganz bei sich zu sein (vgl. Reynolds 1998a: xxiv-xxvii, 1998b). 182 Stauber 2001: 129.

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mitglieder, die zwar mit anderen zusammenkommen, ohne aber in ›echte‹ oder ›nachhaltige‹ Kontakte miteinander zu treten. Eine ähnliche Argumentation vertritt auch Jacques Attali, wenn er populäre Tanzveranstaltung mit dem Zwang zum Schweigen in Verbindung bringt: »The popular dance, which has in part become a concert, is a release for violence that has lost its meaning. Carnival without the masks and the channeling of the tragic; in which the music is only a pretext for the noncommunication, the solitude, and the silence imposed by the sound volume and the dancing; in which even in its worldly substitute, the night club, the music prevents people from speaking – people who in any event do not want to, or cannot, speak. For them, there is already silence in repetition.«183 Diese Thesen sind genauso eindimensional wie umgekehrt eine rein positive Deutung von Technonächten als eine Form der gleichberechtigten, freiwilligen und zwanglosen Konstitution von Gemeinschaften. Stattdessen bewegen sich populäre Clubveranstaltungen im Zwischenbereich aus Gemeinschaft und Gesellschaft. Sie erlauben die Kontaktaufnahme mit Fremden, wie sie eine zu große Nähe der Partizipierenden verhindern. Das gilt nicht nur für Technoveranstaltungen, sondern auch für Clubabende bei Punk und HipHop.

Verortung durch Pop

Die von so unterschiedlichen Autoren wie Baudelaire, Marx und dem Philosophen Marshall Bermann vertretene These kontinuierlicher Veränderung und Destabilität moderner Gesellschaften hat sich in der vernetzten Stadt weiter verstärkt. Mit Andy Bennet lassen sich die Praktiken von Musikkulturen beschreiben als Kampf um Raum. Populäre Kultur bildet eine Schlüsselressource, um im Raum eigene, lokale Geschichten zu entwickeln, da sie gleichzeitig Wissen und Sensibilität im Umgang mit dem Raum anbietet.184 In Punk, HipHop und Techno existiert eine auffallend eigenständige Aneignung des öffentlichen Raums. Die örtlich gebundenen Praktiken in Kombination mit der Musik bestimmen sich nicht ausschließlich als

183 Attali 1999: 118. 184 Vgl. Bennett 2000: 66.

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Kampf um Territorien, sie sind auch ein Umgang mit dem sich fragmentierenden Stadtraum. Mit ihrer Auswahl medial und lokal zugänglicher Inszenierungsformen und der Transformation in eine individuelle oder mit anderen geteilte Geschichte bieten sie, wenn auch immer nur temporär, eine Möglichkeit der Verortung im Stadtraum. In den Praktiken dieser drei Kulturen steht die Verortung im Stadtraum auffallend im Mittelpunkt. Sie haben aber jeweils unterschiedliche Techniken entwickelt, mit der Fragmentierung von Stadträumen umzugehen. Punk und Hardcore widersetzten sich der Nutzung des öffentlichen Raums als reinem Konsumort. Überwunden werden soll nicht nur die Langeweile der Vorstadt, es kommt auch zu einem symbolischen Protest gegen die hegemoniale Kultur – durch eine Verweigerung gängiger Kleidungsordnungen und Verhaltensweisen im öffentlichen Raum. So entstehen Punk-Orte primär durch Verweigerung der funktionalen und effizienten Logik öffentlicher Konsumorte. Punk steht dadurch in einem antagonistischen Verhältnis zu einer bestimmten Ausprägung von Stadtorten, nicht aber zum Leben in der Stadt insgesamt. Gerade der Stadtraum dient als zentrale negative Projektionsfläche und als Betätigungsraum von Punk. HipHop bezieht sich in nahezu allen Praktiken, Texten und Beschreibungen direkt oder indirekt auf die Stadt. Man wendet sich gegen die Besitzaufteilung privater und öffentlicher Räume durch die auditive oder symbolische Besetzung von Stadtterritorien. Auf die Fragmentierung und soziale Differenzierung von Stadtorten wird mit einer selbstbewussten Reklamation des eigenen Orts und der symbolischen Eroberung der ganzen Stadt geantwortet. Der Erfolg des HipHops erklärt sich auch aus der weltweit zunehmenden Verstädterung, weil seine Raum erobernden Praktiken überall auf der Welt eine Möglichkeit bieten, den anonymen und fragmentierten Stadtraum, der kontinuierlich anwächst, zu personalisieren und zu etwas Eigenem zu machen. Techno setzt der Aufgabe von Industriestandorten, der Unbestimmtheit der weiteren Nutzung obsolet gewordener Flächen in den Städten und der rational bestimmten Raumstruktur die Nutzung des öffentlichen Ortes für rituelle Partys und positiv bestimmte Nicht-Orte entgegen. Auf die Fragmentierung wird mit einer perfekten, technoiden Utopie geantwortet, in der die Teilnehmenden durch Tanz den virtuellen perfekten Ort einer sich selbst feiernden Gemeinschaft erzeugen.

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Fazit: Inszenierungsräume durch populäre Musik

Die Popkulturen Punk, HipHop und Techno haben alle in ihrer Praxis urbane Figuren ausgeprägt, in denen ein spezielles Verhältnis zum urbanen Raum angelegt ist, das auf seine Veränderungen reagiert und gleichzeitig neue Umgangsweisen mit ihm anbietet. Obwohl diese Figuren Idealtypen und in reiner Ausprägung nur selten zu finden sind, verfügen sie über eine hohe Wirkkraft. Dafür verantwortlich sind nicht zuletzt die medialen Repräsentationen, die diese Figuren erschaffen und kontinuierlich reproduzieren. In der Folge kommt es zu einem Wechselspiel zwischen Praktiken, medialen Repräsentationen, die sich auf diese Praktiken beziehen und sie medial inszenieren, sowie deren erneuter mimetischen Aneignung durch weitere Personen. In diesem Prozess werden die urbanen Figuren der Popkultur übernommen und an den jeweiligen lokalen Kontext angepasst. Das Ergebnis mündet häufig in lokalen Praktiken, in Partys, in der Aneignung des öffentlichen Raums, in der Artikulation eigener Vorstellungen, Wünsche oder Probleme. Der Konsum populärer Musik ist auf diese Weise eng mit urbanen Praktiken verbunden. Praktiken, zu denen Musik und Texte im Zusammenspiel mit anderen Medien auditive und visuelle Anleitungen geben. Diese Anleitungen sollten nicht missverstanden werden als eine genaue Handlungsanweisung, stattdessen bieten sie Handlungs- und Inszenierungsspielräume, in denen sich jede und jeder Einzelne relativ frei bewegen kann. Genau deshalb sind Popkulturen hochgradig volatil, während sich gleichzeitig einzelne Strukturelemente über relativ lange Zeiträume erhalten.

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5. Subkultur, Stämme, Szene. Vergemeinschaftung durch populäre Musik I don’t think there is one really. The only thing that could count as a »scene« is the Roxy. And the Roxy is a dormitory. The last time I went I was feeling really uppity. I stood in the middle and looked around and all these people were slumped around dozing! I threw tomato sauce on the mirror and stormed out. And I haven’t been back there. I don’t think I will go back there. The sooner it closes the better. Joe Strummer1

Bisher wurde gezeigt, dass die Praktiken von Punk, HipHop und Techno in enger Verbindung zum städtischen Raum stehen. Unbeantwortet blieb aber zum einen die Frage, inwieweit die Musik dieser Popkulturen durch die Stadt und ihre Bewohner beeinflusst wurde und insofern von einer Repräsentation der Stadt durch die Musik gesprochen werden kann. Zum anderen ist noch nicht geklärt, zu welchen Vergemeinschaftungsformen die Musikkulturen führen. Die beiden Fragen nach der Repräsentation durch populäre Musikkulturen und ihre Musik und nach der Art der Vergemeinschaftung sind im Popdiskurs in einen engen Zusammenhang gebracht worden. Aus diesem Grund sollen sie in diesem Kapitel gemeinsam diskutiert werden. Die ersten beiden Abschnitte widmen sich dem äußerst einflussreichen Konzept der Subkulturtheorie. In ihm wird eine direkte Verbindung von der Lebenssituation einzelner Gruppen zu ihrer Musik gezogen. Der erste Abschnitt fragt nach dem Zusammenhang von Poptexten und Stadt, der zweite diskutiert das theoretische Konzept der strukturellen Homologie, nach der die Musik bestimmter sozialer Gruppen in direkter Verbindung mit deren Lebenssituationen und Einstellungen steht. Es wird sich zeigen, dass das Subkulturkonzept ein zu idealistisches und homogenes Bild von popkulturellen Vergemeinschaftungsformen 1

Aus einem Interview, erschienen 26. März 1977 im New Musical Express, zitiert nach: Coon 1977: 69.

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zeichnet. Mit dem Begriff der Szene wird versucht, ein Modell der Vergemeinschaftung vorzuschlagen, das die Problematik des Subkulturmodells vermeidet, indem es Musikkulturen als wesentlich variabler und offener beschreibt und die theatralen Momente von Popkulturen betont.

Repräsentation und Poptexte

Wenn nach den repräsentativen Elementen populärer Musik gesucht wird, sind meist Poptexte der Untersuchungsgegenstand, weil sich hier am einfachsten direkte Verweise auf Außermusikalisches finden lassen. Und tatsächlich tauchen, wie im letzten Kapitel gezeigt wurde, im Punk und noch mehr im Rap diverse Beschreibungen von Städten und dem Leben in ihnen auf. Die Kulturforscherin Deborah Stevenson ist der Meinung, dass die Nennung von Ortsnamen in Songs die direkte Konstruktion einer Vorstellung bestimmter Städte bewirke: »The popularity of songs about named places (particularly in the United States) is another dimension of this process. Through being invoked in song often (relatively) anonymous places (such as Arizona, Memphis and Albuquerque) are constructed by, and become elements of, the mythologies of popular culture. In this context more songs have probably been written about New York than about any other city in the world.«2 Dass Poptexte so wirken können, ist durchaus möglich, wichtiger und den Popdiskurs prägender erscheint jedoch die Frage, wie das Verhältnis von Großstadtbewohnern, ihren Praktiken, Stilen und Musikrichtungen zu bestimmen ist und inwieweit Poptexte durch dieses Zusammenspiel mit dazu beitragen, ein Bild des Städtischen zu erschaffen. In der Tradition der Cultural Studies wird die Praxis von Produzenten und Konsumenten populärer Musik unter der Perspektive eines darin vermuteten politischen oder symbolischen Protestes von Jugendlichen der Unterklasse untersucht, die sich in sogenannten Subkulturen zusammenschließen. Populäre Kultur gilt in dieser Perspektive als Mittel, durch den eigenständigen Konsum kultureller Artefakte zu einer selbstbestimmten Lebensweise zu kommen.3 Phil Cohen zum Beispiel beschrieb in einer sehr einflussreichen Formulierung Subkulturen als magische Lösungen 2 3

Stevenson 2003: 70. Vgl. zusammenfassend: Gelder/Thornton 1995.

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von Jugendlichen aus der depravierten Unterklasse, mit der neuen Konsumwelt und hedonistischen Grundorientierung umzugehen: »It seems to me that the latent function of subculture is this: to express and resolve, albeit ›magically‹, the contradictions which remain hidden or unresolved in the parent culture. The succession of subcultures which this parent culture generated can thus all be considered so many variations on a central theme – the contradiction, at an ideological level, between traditional working-class puritanism and the new hedonism of consumption; at an economic level, between a future as part of the socially mobile elite or as part of the new lumpen proletariat. Mods, parkas, skinheads, crombies all represent, in their different ways, an attempt to retrieve some of the socially cohesive elements destroyed in their parent culture, and to combine these with elements selected from other class fractions, symbolizing one or other of the options confronting it.«4 Das widersprüchliche Ziel der Jugendlichen besteht laut Cohen darin, sich von der älteren Generation zu distanzieren, zugleich aber die Sicherheit und die Identifikation mit der Kultur der Eltern nicht aufzugeben. Eine Subkultur ist danach eine vor allem im öffentlichen Raum agierende, von Männern dominierte Gruppe von Jugendlichen aus der Unterklasse, die sich durch einen bewusst gewählten Kleidungsstil und Musik gegen ihre benachteiligte Klassenposition und die Kultur ihrer Eltern wehren, gleichzeitig aber ihre soziale Herkunft nicht verleugnen. Kultur ist im Subkulturmodell als eine Lebensweise bestimmt. Gleichzeitig wird aber nicht geleugnet, dass innerhalb dieser Lebensweise auch künstlerische Artefakte wie Musik entstehen können. Diese sind gleichzeitig Ausdruck einer Subkultur, wie sie im Vollzug der mit ihnen verbundenen Konsumpraktiken die spezielle Lebensweise hervorbringen. So kann nicht von einer Repräsentation im Sinne einer distanzierten Darstellung ausgegangen werden, sondern von einer engen Verzahnung von Stil und Praxis. Dies schließt aber nicht aus, dass kulturelle Artefakte als Ausdruck einer Gruppe gelten und als solche untersucht werden können. Die Musik wird aus dieser Perspektive als Ausdrucksmittel einer bestimmten Gruppe verstanden, deren Praxis zu einer spezifischen Lebenseinstellung führt und sich in der Musik niederschlägt. Die Wirkung der Musik ist danach nur aus der mit ihr verzahnten Praxis zu verstehen. Gleichzeitig biete die Musik als materielles Artefakt die Möglichkeit einer Rekonstruktion der Lebensweise, die sie hervorgebracht haben soll.

4

Cohen 1980: 82-83.

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Diese Rekonstruktion konzentriert sich im Rahmen der Cultural Studies in den meisten Fällen weniger auf die Musik, als auf den visuellen Stil, das Selbstverständnis derjenigen, die die Musik produzieren oder hören, die Praktiken, zum Beispiel den Tanzstil, sowie die Textinhalte.5 Punktexte sind in dieser Lesart Ausdruck der Punk-Subkultur, in denen sich ihre Einstellungen widerspiegeln und ausdrücken. Unterstellt wird eine direkte Verbindung zwischen Text und Subkultur. Die Texte beschreiben danach die Sichtweise der Subkultur als Ganzes, wie sie umgekehrt mit dazu beitragen, diese hervorzubringen. Bezieht man diese Charakterisierung auf die Erwähnung der Stadt, dann zeigt deren negative Beschreibung, wie die Subkultur oder die einzelnen Mitglieder sie empfinden. Erstaunlich ist an dieser Analyse, dass sie davon ausgeht, dass die Texte von allen Hörern und Hörerinnen in gleicher Weise verstanden werden. Die Schwierigkeiten, die mit einer solchen Position verbunden sind, lassen sich besonders anhand von Blues und Rap herausarbeiten. Oft ist behauptet worden, dass die Texte dieser beiden Stile der direkte Ausdruck von Innenstadtbewohnern seien und als Repräsentation des Stadtlebens gelten können. Zum Blues schreibt zum Beispiel die Musikwissenschaftlerin Susan McClary: »[…] [blues] registered with keen accuracy the shocks and jolts of early black urban life, including the first direct encounters of the black population with the pressures of capitalist economies.«6 Charles Keil hat schon in den 1960ern den Blues als Reflexion der Bedingungen der Innenstadt-Ghettobewohner der USA bezeichnet:7 »[A] more detailed analysis of blues lyrics might make it possible to describe with greater insight the changes in male roles within the Negro community as defined by Negroes at various levels of socio-economic status and mobility within the lower class. Certainly, the lyric content of city, urban and soul blues also reflects varying sorts of adjustment to urban conditions generally. A thorough analysis of a large body of blues lyrics from the various genres would help to clarify these patterns of adjustment and the attitudinal sets that accompany those patterns.«8 5 6 7 8

So spielt zum Beispiel bei Hebdiges (2001) Analyse populärer Kultur die Musik so gut wie keine Rolle. McClary 2000: 44. Vgl. Keil 1991: 76. Ebd.: 73-74.

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Für Keil dient der Blues in der Stadt der Gruppensolidarität von Afroamerikanern und thematisiert aus diesem Grund die Probleme der Ghettobewohner. Laut Keil resultiert Blues direkt aus der sozio-psychologischen Situation von Afroamerikanern in den Innenstadt-Ghettos der USA in den 1950er und 1960er Jahren. Der Bluesman ist ein Sprecher für die afroamerikanischen Innenstadtbewohner.9 Nicht nur die Musik und Texte, sondern auch die Performance müsse sich auf die soziale Situation seiner Zuhörer beziehen: »Individual catharsis is still sine qua non to successful performance, but in an anomic, bewildering urban situation, characterized by shifting values and interpersonal conflicts, people expect something more than a personal lament from a singer. He must not only state common problems clearly and concisely but must in some sense take steps toward their analysis and solution.«10 Dies kann dem Bluesmusiker nur gelingen, wenn er selbst der gleichen Lebenssituation ausgesetzt ist wie seine Zuhörer. »[H]e is a personality, a spokesman, a culture hero, perhaps. His problems are every man’s problems; and when he sings about those problems and the guitar talks back or echoes his exposition, everyone present feels that he is taking part in conversation.«11 Der Bluessänger wird so zu einem Prototyp des Innenstadtbewohners und berichtet über die Probleme des Lebens in den Städten. So kann im Konzert eine Gemeinschaft entstehen, in der Performer und Zuhörer eine Einheit bilden und die Musik auf die soziale Situation verweist, die diese Gemeinschaft außerhalb der Performance oft verhindert: »The sight and sound of a common problem being acted out, talked out, and worked out on stage promote catharsis, and the fact that all present are participating in the solution creates solidarity. The constant repetition of phrases and driving intensity of the rhythm reflect the redundant patterns of ghetto life and all the persistent anguish that goes with it.«12

9 10 11 12

Vgl. ebd.:15-20, 98. Ebd.: 76. Ebd.: 98. Ebd.: 137.

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Für den Zusammenhang von HipHop und Innenstadtbewohner ist ein nahezu identisches Argument vorgetragen worden. Genauso wie Bluestexte gelten Raptexte als direkter Ausdruck von Afroamerikanern, der in enger Verbindung zu ihrer Lebenssituation steht. Tricia Rose hat als eine der ersten versucht zu zeigen, dass HipHop eng mit der sozialen Situation in der New Yorker South Bronx Mitte der 1970er in Verbindung steht. Für sie ist HipHop eine kreative Antwort der systematisch ausgegrenzten und benachteiligten afroamerikanischen Innenstadtbevölkerung, die der schwierigen sozialen Lage eine eigenständige und selbstbewusste Kultur entgegenstellte und sich dadurch gegen die herrschenden Verhältnisse wehrte: »Hip Hop culture emerged as a source for youth of alternative identity formation and social status in a community whose older local support institutions had been all but demolished along with large sectors of its built environment. […] The postindustrial city, which provided the context for creative development among hip hop’s earliest innovators, shaped their cultural terrain, access to space, materials, and education.«13 Durch die Verbindung zur Stadt und den Sprechgesang werden die Rapper zu Chronisten der Verhältnisse, in denen sie leben und über die sonst niemand spricht.14 Murray Forman führt aus: »Within hip-hop culture, artist and cultural workers have emerged as sophisticated chroniclers of the disparate skirmishes in contemporary American cities, observing and narrating the spatially oriented conditions of existence that influence and shape this decidedly urban music. It is important to stress the word »existence« here, for as hip-hop’s varied artists and aficionados themselves frequently suggest, their narrative descriptions of urban conditions involve active attempts to express how individuals or communities in these locales live, how the microworlds they constitute are experienced, or how specifically located social relationships are negotiated.«15 Weil es im Rap zu einer direkten Auseinandersetzung mit der sozialen Situation der Stadtviertel, in denen die Rapper aufgewachsen sind, komme, sei HipHop – darin sind sich viele der HipHop-Forscher einig – als politischer Ausdruck von ethnischen Minderheiten oder Unterklasse13 Rose 1994a: 34. 14 Vgl. Keyes 2002: 125. 15 Forman 2002: 8.

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mitgliedern zu beschreiben. Der Rapper fordere seine eigenständige und selbstbestimmte Kultur und opponiere dadurch gegen die herrschenden Verhältnisse.16 Houston A. Baker Jr. beispielsweise bezeichnet Rap als Musik der »resonant inner-city inventiveness and strategies of resistance.«17 Und Rose schreibt: »Rap music is a black cultural expression that prioritizes black voices from the margins of urban America. […] From the outset, rap music has articulated the pleasures and problems of black urban life in contemporary America.«18 In der oft selbstbewussten und wütenden Beschreibung des Alltags aus der Sicht von Minderheiten sieht Rose die Möglichkeit, den gängigen, von außen stammenden Beschreibungen und Klischees eine andere Sichtweise entgegenzusetzen und gleichzeitig die Verhältnisse, in denen sie leben, zu kritisieren.19 Die Beschreibung des Ghettolebens ist laut Nathan D. Abrams ein Mechanismus der Abgrenzung von der dominanten Kultur, der eine ›eigene‹ Sichtweise von schwarzem Leben in den Innenstädten entgegengestellt wird. Für ihn sind Rapper, falls sie an die ›Straße‹ und lokale Gemeinschaften gebunden sind, organische Intellektuelle im Sinne Gramscis.20 Für Peter McLaren können die alltagsbezogenen Texte innerhalb der betroffenen Gruppen zur Erzeugung von Solidarität beitragen, also genau das, was auch schon Bluestexte in den 1960ern leisten sollten.21 Als entscheidendes Kriterium für die politische Relevanz gilt grundsätzlich die Koppelung der Musik an die räumlichen Faktoren, aus denen heraus sie entstanden ist und die sie kritisch reflektiert. Die Texte sind aber oft nicht explizit politisch, sondern drastische und vulgäre Beschreibungen des Lebens im Ghetto, bei denen der Rapper sich selbst und seine Fähigkeit lobt, mit seiner sexuellen Potenz und der Hörigkeit weiblicher Sexualpartner angibt, seine »Gegner« beleidigt und beschimpft und die Anwendung von Gewalt als probates Mittel zur Zweckerreichung glorifiziert. Solche Texte haben zu dem Vorwurf geführt, sie seien gewaltverherrlichend, homophob und frauenverachtend. Lange Zeit ist dieser Vorwurf vor allem in den USA erhoben worden, aber der Erfolg diverser Berliner Rapper, die mit ähnlichen Textinhalten zur Zeit 16 Vgl. zum Beispiel Brennan 1994: 663-677, Abrams 1995: 1-19, Karrer 1995: 34, Henderson 1996, Martinez 1997, McLaren 1999: 36. 17 Baker Jr. 1993: 62. 18 Rose 1994a: 2. 19 Vgl. Martinez 1997, McLaren 1999: 36 20 Vgl. Abrams 1995: 3, 6. 21 Vgl. McLaren 1999: 33.

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kommerziell recht erfolgreich sind, hat die Debatte in den letzen Jahren auch nach Deutschland geführt.22 Zutreffend ist, dass in Raptexten oft regressive Positionen vertreten werden (zum Beispiel Forderungen nach männlich dominierter Heterosexualität und Verachtung anderer sexueller Orientierungen oder rassistische Vorurteile).23 Ebenso werden in Raptexten oft kommerzieller Erfolg, das ostentative Zeigen von Reichtum, der Kapitalismus, der individuelle kommerzielle Erfolg, der Materialismus und generelle Leistungsorientierung gefeiert, das heißt Werte, die eine leistungsorientierte, markwirtschaftliche Gesellschaft unterstützen, statt sie in Frage zu stellen.24 Die Verteidiger von Raptexten machen demgegenüber darauf aufmerksam, dass die Texte nur zu verstehen und richtig einzuordnen seien, wenn man die ironischen Sprachspiele verstehe, aus denen sie sich ableiten. Russell A. Potter führt aus: »Despite the deep imbrication of hip-hop music within urban black cultures, the fact that so many hip-hop consumers are at a great geographical and cultural distance from the cities whence this urban knowledge-dropping emanates means that there will always be those who take hip-hop literally with no attention to its ironies and nuances, and the reaction of these people will itself be deployed by the architects and purveyors of moral panic as evidence that what they fear is real.«25 Entscheidend ist, dass sowohl Angreifer wie Verteidiger bestätigen, dass die Texte nicht als reine Phantasiegebilde zu verstehen sind, sondern direkte soziale Bezüge aufweisen. Sie sind damit Teil des Authentizitätsdiskurses des HipHop.26 In diesem Diskurs wird gefordert, dass der Rapper sich nur als das darstellen dürfe, was er im ›wirklichen‹ Leben auch sei.27 22 Zum Beispiel heißt es im Urteil aus dem Jahr 2006 des Verwaltungsgerichts Köln zur »Indizierung eines den Drogenkonsum verherrlichenden Musiktitels« (ZUM 2006: 501), dass ein »Haus der Kinder-Jugendhilfe« die Indizierung einer CD mit deutschen Raptexten beantragt hätte, »da die Texte auf übelste Art Mord, Totschlag, Überfall, Missbrauch, Vergewaltigung verherrlichten und zudem sexualethisch desorientierend seien, indem sie Menschen auf entwürdigende Art zu sexuell willfährigen Objekten degradierten und bisweilen zusätzlich frauenfeindlich und/oder rassistisch seien.« 23 Vgl. Lusane 1993: 39. 24 Vgl. McLaren 1999: 40, Forman 2002: 70. 25 Potter 1995: 102. 26 Zum Beispiel für HipHop Anfang der 1990er in den USA vgl. Boyd 1994: 293. 27 Es kommt ohne Weiteres vor, dass Rapper trotzdem bestimmte Dinge in ihren Raps behaupten und eine Rolle spielen, die sich nicht aus ihren Lebenserfahrungen ableitet. Wichtig ist aber weniger der Sachverhalt, dass die Forderung nach authentischer

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Daraus leitet sich auch die Forderung innerhalb der HipHop-Kultur ab, dass Rapper, auch wenn sie kommerziell erfolgreich sind, die Bezüge zu ihren Heimatorten aufrechterhalten und ›real‹ bleiben sollen.28 Dass diese These allerdings als externer Maßstab zur Bewertung von Popkulturen dient, ist zumindest erstaunlich, denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass ein literarischer Text die Lebenserfahrungen seines Autors direkt wiedergeben muss. Auch wenn sich die HipHop-Texte auf das Leben in der Stadt beziehen und soziale Hintergründe aufgreifen, die in einzelnen Stadtteilen anzutreffen sind, sind sie doch nicht als realistische Beschreibungen der Städte zu bezeichnen. Sie nutzen Codes einer populären Kultur, was zu einer idealisierten und oft übertriebenen Darstellung führt. Sie verweisen weniger auf die Stadtsituation direkt, sondern mehr auf die spielerischen Elemente ein Stadtbewohner zu sein. Und als Spiel ist die gesamte HipHop-Kultur aufgebaut, auch wenn eine elementare Regel heißt, dass es sich gerade nicht um ein Spiel handelt. Selbst jene Forscher, die beim Rap mitberücksichtigen, dass es sich bei den Übertreibungen um ein Sprachspiel handelt, das wiederum auf eine afroamerikanische Straßenkultur zurückgeht, werten dies gleichzeitig als Beleg der Authentizität und fragen nicht weiter, ob dieses Sprachspiel in der Kombination mit Musik andere Wahrnehmungsformen bei den Hörern hervorruft oder ob das ironische Sprachspiel während der Rezeption überhaupt verstanden wird. Denn ob dies alles sich dem Hörer erschließt, lässt sich nicht mit den Mitteln einer reinen Textanalyse herausfinden. Ein ähnliches Problem der Deutung des repräsentationellen Charakters alleine aus den Textinhalten ergibt sich auch im Punk. David Laing zeigt anhand von Stücken der Sex Pistols, dass die Bedeutung von Punktexten durch die Art des Vortrags verändert werden kann. So wird durch die bewusste Intonisierung des Sängers Jonny Rotten die manifeste Bedeutung der Texte in Frage gestellt: »While Johnny Rotten’s voice, the énonciation, still offers the pleasures of identification with a unified position, a different kind of pleasure – that which enjoys the transgression of the codes through which conventional meanings are constructed – is available for listeners to the lyric.«29 Ein Spiel mit Bedeutungen ist im Punk mindestens genauso wichtig wie die Ablehnung des Bestehenden. In dieser ästhetischen Produktion Inszenierung nicht unbedingt eingehalten wird, sondern dass Rapper sich gezwungen sehen, konstant zu beweisen, der zu sein, den sie spielen. 28 Vgl. Forman 2002: 180. 29 Laing 1985: 67.

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erkennen, wie im letzten Kapitel gezeigt, Kritiker wie Marcus oder Hebdige subversive Praktiken. Aber um die Wirkungsweise solcher Bedeutungsumdeutungen auch hören zu können, muss der performative Aspekt beachtet werden, das heißt die Einbindung der Texte in Musik und ihre Bedeutungsgenerierung während des Hörens. Unbestreitbar beziehen sich Rap- und Punktexte auf Städte und das Leben in ihnen. In diesem Sinne tragen sie dazu bei, Vorstellungen des Städtischen zu transportieren und zu erzeugen. Zu beachten ist aber, dass die Texte nicht als Text alleine, sondern eingebunden in Musik vorgetragen und gehört werden. Noch wichtiger ist, dass sie aus diesem Grund nicht unbedingt, eventuell nicht einmal häufig als Medium der Aufklärung und Information gehört werden, weil sie zur Unterhaltung, zum Tanzen oder zur Ablenkung genutzt werden. Empirische Untersuchungen zeigen zumindest, dass die Mehrheit der Hörer die Textinhalte von populärer Musik entweder nur sehr ungenügend oder gar nicht versteht.30 Dies deutet darauf hin, dass der Text eines Popsongs nicht unbedingt von zentraler Wichtigkeit ist und nicht unbedingt entscheidenden Einfluss darauf hat, wie der Song rezipiert wird. Theodore Gracyk argumentiert zum Beispiel: »in rock music most lyrics don’t matter very much.«31 Hinzu kommt, dass Stile wie Techno weitgehend auf Text verzichten und sich so einer Textanalyse entziehen. Bei der Betrachtung von Musikkulturen als Subkulturen werden solche Funktionen und damit verknüpfte Hörweisen von Musik gegenüber der vermuteten politischen Agitation durch den Text fast vollständig zurückgestellt. Zu beachten ist aber, dass mit Musik unterlegte, gesungene oder gerappte Texte andere Bedeutungen annehmen können, als sich aus dem Textinhalt alleine ergibt.32 Reine Inhaltsanalysen, merkt Simon Frith an, können so leicht ein falsches Bild zeichnen: »[T]hey treat lyrics too simply. The words of all songs are given equal value; their meaning is taken to be transparent; no account is given of their actual performance or their musical setting. This enables us to code lyrics statistically, but it involves a questionable theoretical judgment: content codes refer to what the words describe – situations and states of mind – but not to how they describe, to their significance as language.«33

30 31 32 33

Vgl. Robinson/Hirsch 1972. Gracyk 1996: 65. Vgl. Griffiths 2003. Frith 2004: 188.

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Die alleinige Konzentration auf die immanenten Textinhalte reicht nicht aus, um die Wirkung von Popstücken zu erklären. Sie birgt die Gefahr einer einseitigen Deutung der Musik über den Textinhalt, der nicht isoliert zur Erklärung der Bedeutung oder Wirkung eines Musikstücks herangezogen werden kann. Zu beachten ist, dass gesungene Texte nicht identisch sind mit gesprochenen Texten. Frith fordert aus diesem Grund dazu auf, nicht so sehr den Textinhalt zu beachten, als vielmehr die Art und Weise, wie gesungen wird: »The pleasure of pop is that we can ›feel‹ tunes, perform them, in imagination, for ourselves.«34 Daraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass auch die musikalischen Elemente der Musik untersucht werden müssen, unter der Fragestellung, ob und was sie repräsentieren. So lässt sich auch vermeiden, Musik ohne weitere Überlegung mit einem sprachlichen Text gleichzusetzen und ihre spezifische Qualität außer Acht zu lassen, mit der sie sich als auditives Medium von visuellen Medien unterscheidet.

Strukturelle Homologie zwischen sozialen Gruppen und Musik

Die Analyse des Zusammenhangs zwischen sozialen Gruppen und Musik ist nicht in allen Fällen nur durch die Auswertung von Poptexten erfolgt. Eine für die populäre Musik einflussreiche These zur Repräsentation durch Musik hat Cultural-Studies-Forscher Paul Willis entwickelt, der von einer strukturellen Homologie spricht. Willis untersuchte die Parallelität der Hippiekultur mit progressivem Rock sowie einer Gruppe von Motorrad-Jungs und deren Vorliebe für frühen Rock ’n’ Roll. Die Hippies wählten laut Willis bewusst kreative, zum damaligen Zeitpunkt unkonventionelle Musik, die geprägt war durch ungewöhnliche, verfremdete, absurde Texte. Die Musik eignete sich nicht zum Tanzen, statt sie nur zu konsumieren, wurde sie genutzt, um neuartige Erfahrungen zu machen: »Die Originalität und Komplexität der »progressiven« Musik entsprach nicht nur der Kompliziertheit und Erfindungsgabe des Lebensstils der Hippies; die ungewöhnlichen, bizarren und exotischen Klänge, die sie ermöglichte, entsprachen auch dem Wesen der Hippiekultur, deren Drehund Angelpunkt die Vorstellung vom »head«-Sein war, und ihrer generellen Betonung der Bewußtseinserweiterung, und entwickelten das alles weiter.«35 34 Ebd.: 207. 35 Willis 1981: 200-201.

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Bei den Motorrad-Jungs sieht Willis eine ähnliche Homologie zwischen Lebensstil und Rock ’n’ Roll: »Die musikalischen Vorlieben der »Motorrad-Jungs« gründeten sich daher objektiv auf die Identifikation mit Grundelementen dieses Musikstils. Diese Musik besaß eine Besonderheit, eine Einheit des Aufbaus, eine spezielle und durchgängige Verwendung von Techniken, eine Frische und Überzeugungskraft des Vortrags, ein Gefühl für die »goldenen Jahre«, für das »Ein für allemal« – und das entsprach der Sicherheit, Authentizität und Maskulinität der Motoradkultur, faßte diese Eigenschaften und konnte sie weiterentwickeln.«36 Die Motorrad-Jungs hörten laut Willis die Musik nicht nur, weil sie strukturell ihrer Kultur entsprach, sondern auch, weil ihnen die Konnotationen der Musik, zum Beispiel des Rebellentums oder der Gewalttätigkeit, gefielen.37 Die Musik beschreibt Willis als bewegungsorientiert, hart, aggressiv, selbstbewusst, integer und zuversichtlich. Dadurch verweigere sie sich der »bourgeoisen Zeitvorstellungen des Industriekapitalismus«38. Auch für Willis ist Popmusik also ein Mittel, den Widerstand gegen die bestehenden Verhältnisse auszudrücken. Der Widerstand der Subkultur gegen das Bestehende führt zur Wahl einer Musik, die genau diesen Widerstand musikalisch zu artikulieren vermag. Problematisch an dieser Position ist, dass es die unterstellte enge Beziehung zwischen dem Verhalten sozialer Gruppen und ihrer Musik nicht so ohne Weiteres gibt.39 So lassen sich musikalische Elemente, die Willis als typisch für die Musik der beiden Gruppen benennt, auch in ganz anderen Musikstilen finden. Andererseits wählt Willis nur die Elemente der Musik aus, die in sein Erklärungsraster passen. So beschreibt er eher ein idealtypisches Modell von Rock ’n’ Roll oder Hippiemusik. Willis sucht also nach bestimmten Ähnlichkeiten, die er schon vor seiner Suche unterstellt, wie der Musikwissenschaftler Richard Middleton kritisiert: »A style is described as ›typical‹ of a culture but the culture has already been identified and delineated through an awareness of this and other ›typical‹ traits; the homology is pre-formed in the analyst’s mind.« 40

36 37 38 39 40

Ebd.: 90. Vgl. ebd.: 94. Ebd.: 108. Vgl. Middleton 1990: 239. Ebd.: 150.

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Willis muss darüber hinaus voraussetzen, dass es sich um eine kohärente und vor allem homogene Gruppe handelt, um überhaupt eine Beziehung zwischen Musik und Gruppe herstellen zu können. Berücksichtigt man, dass soziale Gruppen nicht so homogen sind, wie Willis dies unterstellt, und dass Musik von sehr unterschiedlichen Personen gehört wird, erscheint es wesentlich schwieriger, eine direkte Verbindung zwischen Musik und sozialer Gruppe aufrechtzuerhalten.

Medien, Weltzugang und Musik

Eine Weiterentwicklung der Theorie von Willis hat der Musikwissenschaftler und Soziologe John Shepherd vorgelegt. Auch für Shepherd stehen Musik und soziale Struktur in einem engen Zusammenhang. Gerade weil die Musik nicht denotativ sei, könne sie besonders gut soziale Strukturen ›abbilden‹: »[B]ecause of its inherently ›non-referential‹, fluid and dynamic nature, music is well suited to convey the intangible, directly imperceptible, highly fluid and dynamic nature of social structures as these structures are mediated and given life in both the external and internal worlds.«41 In starker Anlehnung an Marshall McLuhan sieht Shepherd die Gesellschaft primär über die zentral eingesetzten Medien bestimmt. In Bezug auf die Gesellschaft und die Musikproduktion unterscheidet er einen visuellen und oralen Modus. Die Basis des visuellen Modus ist die sich in der Renaissance entwickelnde funktionale Tonalität und Harmonik, welche die im Mittelalter verwendete Pentatonik ablöst, die laut Shepherd eng mit dem feudalen System zusammenhing.42 Musik, die der visuell geprägten Weltsicht entspricht, besteht für Shepherd aus bewusst manipuliertem Musikmaterial, durchkomponierten Formen, Dur- und Moll- Tonalität, einer Harmonielehre und der Nutzung reiner Klänge und regulärer Rhythmen. Bestimmt wird die Musik durch Tonleitern und ein Tonsystem, bei dem jeweils ein Grundton existiert, der das jeweilige Musikstück dominiert. Sie korrespondiert seiner Meinung nach mit gängigen Mustern der Weltbetrachtung (zum Beispiel 41 Shepherd 1991: 68. 42 Für Shepherd (ebd.: 109) ist die pentatonische Struktur ideal, um feudalistische Strukturen zu artikulieren: »The fundamentals of pentatonicsim are complementary and mutally dependent. They are also centres without margins in the sense that the relationships they form are made directly with other fundamentals, something that is note the case with functional tonality.«

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funktionaler Differenzierung, Rationalität, Telos) in industrialisierten Gesellschaften, weil sie von einem zentralen Blickpunkt (dem Grundton) aus organisiert ist, der zu einer Hierarchie der Töne führt und durch den Aufbau der Stücke von Fortschrittlichkeit gekennzeichnet ist.43 Entscheidend für Shepherds Argumentation ist, dass die Musik des visuellen Modus nicht zufällig der sozialen Struktur entspricht, die gekennzeichnet ist durch die Industrialisierung und die ihr zugrunde liegenden Dominanz visueller Medien: »It is a structure having one central viewpoint (that of the key-note) that is the focus of a single, unified sound sense involving a high degree of distancing. It is a centre-oriented structure with margins. […] The more important structural notes relate to each other only insomuch as their precise function is defined by the less important notes belonging to higher architectonic levels, and these less important notes only relate to each other insomuch as their position is defined by their relationships to the more important structural notes.«44 Shepherd vergleicht die Existenz eines zentralen Grundtons mit der zentralisierten Macht im Nationalstaat und die Abhängigkeit der restlichen Noten vom Grundton mit der Stellung des Arbeiters im ökonomischen System: »As people in capitalist societies have difficulty in relating to one another except through the work-place and the market-place, so the individual notes of the harmonic-rhythmic framework can only relate directly, immediately and internally to one another in so far as their significance is mediated through the central, distanced control of the key-note.«45 Auch im tonalen Funktionssystem enthalten sei die moderne Vorstellung des Fortschritts, weil die Melodie durch den Grundton ein Telos besitze, zu dem sich die einzelnen Töne in einer Kette von Ursache und Wirkung hin entwickeln.46 Zusammengefasst entspräche das tonale System der Weltsicht im industriellen Kapitalismus, welcher geprägt sei durch Kampf, Individualismus und Kontrolle:

43 44 45 46

Vgl. ebd.: 96-127. Ebd.: 122. Ebd.: 133-134. Vgl. ebd.: 124.

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»With its extended harmonic-philosophical argument, its sense of harmonic tension and conflict to be resolved in the future on the final satisfying statement of the tonic chord, functional tonal music articulates the ideologies of industrial capitalist societies. It articulates a sense of personal individuated struggle against the forces of the world, culminating in eventual success. The attainment of the key-note is the final attainment of power and control. […] The key-note in functional tonal music thus articulates a false sense of freedom and ›democracy‹, because the attainment of the final key-note can only be achieved by controlling others and alienating them from their full power to exist in the world.«47 Dem industriellen steht der oral geprägte Weltzugang gegenüber. Die Musik dieses Modus ist laut Shepherd direkt in den Alltag eingebunden. Sie sei oft improvisiert, bestehe aus unreflektierten Kompositionen, verwende traditionelle Muster, sei monophon, nutze unreine, nicht die Tonhöhe haltende, ›schmutzige‹ Klangfarben und irreguläre und komplexe Rhythmuspattern, die kontinuierlich variiert und verändert werden.48 Besonders in afroamerikanischer Musik sieht Shepherd diesen oral geprägten Modus der Musikproduktion am Werk. Sie sei individueller und weniger harmonisch als die tonal strenge Musik, und könne dadurch die Ablehnung herrschender Verhältnisse musikalisch ausdrücken. Sie übernimmt zwar Elemente aus der funktionalen Tonalität, aber verändert diese gleichzeitig: »The dirty timbres and inflected notes articulated within the harmonicrhythmic frameworks of much Afro-American music […] speak of a less alienated, more intimate relationship both to self and others. Notes seem more able to speak on their own behalf, albeit within an imposed and containing framework.«49 Dies gelingt, weil sich Afroamerikaner in einer marginalisierten Position innerhalb der sozialen Struktur befinden, mit der sie auch eine andere Stellung zur industrialisierten Weltsicht einnehmen.50 Sie verfügen nicht über die Mittel der Kontrolle und Manipulation, die sich in der Musik der industrialisierten Weltsicht ausdrückt. Es stellt sich die Frage, ob der Musik in Shepherds Modell überhaupt noch eine eigenständige Entwicklung zugesprochen werden kann oder ob sie letztlich in reine Abhängigkeit von den vorherrschenden technischen 47 48 49 50

Ebd.: 140. Vgl. ebd.: 128-151. Ebd.: 134. Vgl. ebd.: 133-134.

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Medien kommt, wie McLuhan spekulativ behauptet. Shepherd bestimmt Medien zum einen als dominante Zugänge zur Welt. Dies ließe sich so verstehen, dass die genutzten Medien die gesellschaftliche Entwicklung bestimmen. Die These der alleinigen Dominanz von Medien oder Technik für die gesellschaftliche und musikalische Entwicklung hält Richard Middleton aber zu Recht für zu einseitig: »For music, therefore, we must consider not just ›technology‹ (instruments, media, systems of dissemination) but additionally modes of social co-operation and bodies of social knowledge. The former […] have effects on the ways in which oral, written and electronic media are actually used; the latter are manifested in historically determinate forms of technique, codes and repertory […] and also, perhaps, in a certain relatively autonomous development of ›communicative competence‹, which may even exert a primary determinative influence. Within this ensemble of forces, complex interactions take place, internally and in relation to general modes of social organization.«51 Gegen den direkten Kausalzusammenhang zwischen Medium und Musik argumentiert Shepherd zum anderen selbst, wenn er auf die unterschiedlichen Entwicklungen innerhalb des Musikfeldes hinweist, in Abhängigkeit der sozialen Position von Musikern, entsprechend ihrer Ethnie, Stellung im Arbeitsprozess und ihres Geschlechts. Der Zusammenhang zwischen Medium und Gruppe resultiert laut Shepherd aus der primären Verwendung eines bestimmten Mediums in Abhängigkeit von der sozialen Stellung. Dieses Argument lässt aber nur die Schlussfolgerung zu, dass das Medium nicht alleine über die Produktion von Musik bestimmt, sondern weitere soziale Faktoren wirksam sind. Unklar ist dann aber, wie das genaue Verhältnis von Medium und sozialen Gruppen zu bestimmen ist. Shepherd löst dieses Problem, indem er eine strikte Zweiteilung der musikalischen Entwicklung einführt, die parallel läuft zur Nutzung von Medien und zugleich zu der sozialen Stellung der Personen, die diese Medien nutzen. Es ist diese Dichotomisierung, mit der eine strukturelle Homologie zwischen zwei Musiktypen und zwei sozialen Gruppen hergestellt wird, die einer genaueren Überprüfung nicht standhält. Problematisch ist alleine schon die strikte Trennung zweier Musikarten, wie sie Shepherd unterstellen muss: Afroamerikanische und europäische Musik beeinflussen sich in der populären Musik gegenseitig seit Jahrhunderten, sodass es mittlerweile unmöglich ist, diese eindeutig voneinander zu unterscheiden. Hinzu kommt, dass auch in der europäischen Kunstmusik seit Langem 51

Middleton 1990: 92.

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der Versuch unternommen wird, die Grenzen von Literarizität, Weltabbildung und der Trennung von Kunst und Welt zu unterwandern.52 Wenig überzeugend ist auch Shepherds These einer letztlich kausalen Wirkung zwischen der Marginalisierung und der Nutzung von bestimmten (Ton-)Medien. Die soziale Stellung alleine gibt noch keine Auskunft darüber, ob eine Beeinflussung durch ein bestimmtes Medium erfolgt. So sind viele derjenigen, die sich an unteren Positionen innerhalb der sozialen Struktur bewegen, sehr wohl stark beeinflusst von der visuellen, industrialisierten Weltsicht, wie umgekehrt ein »oraler« Weltzugang in der Mittel- oder Oberklasse anzutreffen ist. Literarizität oder Oralität sind nicht an soziale Gruppen gebunden, sondern beschreiben stattdessen mögliche Weltzugänge. Auch die Trennung zwischen einer widerständigen oralen Musik gegenüber einer affirmativen visuellen Musik ist abzulehnen. Dass sich Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse innerhalb des schriftlich fixierten tonalen Systems artikuliert, ist ebenso möglich, wie oral geprägte Musik gegenüber den herrschenden Verhältnissen neutral oder sogar affirmativ sein kann. Wenn zum Beispiel ein Raptrack nicht auf dem funktionalen Tonsystem aufbaut, aber der Text von Arbeit und Erfolg eines Individuums erzählt, welches sich gegen seine Konkurrenten durchgesetzt habe, dann ist zumindest in Zweifel zu ziehen, ob dadurch die industrialisierte Weltsicht automatisch in Frage gestellt wird. In der Theorie von Shepherd zeigen sich ähnliche Probleme wie schon bei Willis. Auch hier muss die Existenz von eindeutig abgrenzbaren Musikarten, sozialen Gruppen und an sie gebundene Medien unterstellt werden, um zeigen zu können, dass diese sich in einer strukturellen Homologie zueinander befinden.

Musikindustrie und Spektakel

Eine weitere Problematik der Subkulturtheorien lässt sich an ihrer Position zur Musikindustrie aufzeigen. Die These lautet, dass sich populäre Musikkulturen an einem lokalen Ort entwickeln und anschließend durch eine parasitäre Musikindustrie verwässert und zerstört werden. Richtig ist, dass die Musikindustrie nur äußerst selten in der Lage ist, eigene neue Stile hervorzubringen. Sie ist deshalb auf die Kreativität und den Einfallsreichtum von Musikkulturen angewiesen. Andererseits gilt aber auch,

52 Vgl. Fellerer 1989.

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dass umgekehrt populäre Musikkulturen bisher immer der Medien und Musikindustrie bedurften, um Musik erfolgreich zu vermarkten.53 Sarah Thornton betont den Beitrag, den die Musikindustrie und Medienberichte zur Konstituierung von Musikkulturen leisten: »Like genres, subcultures are constructed in the process of being ›discovered‹. Journalists and photographers do not invent subcultures, but shape them, mark their core and reify their borders. Media and other culture industries are integral to the processes by which we create groups through their representation.«54 Zwischen Musikkultur und Musikindustrie existiert ein komplexes, oft auch konfliktreiches Wechselspiel: Auf der einen Seite versuchen sich einzelne Musiker und ihre Anhänger – oft mit wenig Erfolg – von der Industrie zu distanzieren, gleichzeitig gelangen immer wieder neue Stile in die Vermarktungsketten der Industrie. Populäre Musikkulturen, deren Protagonisten vorgeben, den Medienspektakeln zu entkommen, sind prädestiniert, selbst zu solchen zu werden. Die Geschichte der Popkultur zeigt, dass gerade die Charakterisierung von Musik als Subkultur ein wichtiges Element darstellt, um Musik erfolgreich zu vermarkten.55 Das bewusst schockierende Auftreten der Punks, die, zumindest zu Beginn, relativ einfache, raue Musik und die nihilistischen Aussagen in Texten und Interviews, waren in ihrer Radikalität dazu prädestiniert, Interesse in den Medien und bei Konsumenten zu erzeugen. Andererseits war Punk aus London, durch das große Interesse der Medien, schon von Beginn an ein Teil genau des Systems, das in den Texten und dem Verhalten der Musiker und Fans angegriffen wurde. Diese Verstrickung mit der Musikindustrie und den Medien machte Punk zum Prototyp einer Popkultur, in der Authentizität gleichgesetzt ist mit der Distanz zu einer Industrie, die genau diese Botschaften nutzt, um Musik und Kleidung als Ware zu verkaufen. Und so wurde die Punkkultur auch nicht, wie unter anderen Dick Hebdige dies behauptet, durch eine Industrie übernommen und verfremdet, sondern ohne die Industrie und die gleichzeitige Distanzierung von dieser hätte es Punk nicht gegeben. Dies bestätigt Barry Shank: »The English punk rock rhetoric of revolution, destruction, and anarchy was articulated by means of specific pleasures of consumption 53 Vgl. Thornton 1996: 92-98, 122-137, 151-160, Gracyk 1996: 154, 179-180. 54 Thornton 1996: 160. 55 Vgl. Clark 2004: 223-224.

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requiring the full industrial operations that ostensibly were the objects of critique.«56 Mit anderen Worten: Protest und Widerstand gegen die Musikindustrie ist selbst ein Vermarktungsargument dieses Systems.57 Techniken der Subversion wie Kitsch, Camp, die Bedeutungsverwirrung von Zeichensystemen, Ironie oder Zitation sind selbst zu wichtigen Stilmitteln von Spektakeln geworden. Die Avantgardetechniken haben dem Spektakel durch ihre Kritik und die darauf folgende Veränderung durch Inkorporation dieser Kritik sogar zu Legitimität verholfen. Hinzu kommt, dass in Musikkulturen wie HipHop oder Techno generell nur ein relativ kleiner Teil der Partizipierenden die industrielle Vermarktung der Musik ablehnt. Rapmusikern geht es primär nicht um Ablehnung, sondern um Anerkennung, wie der HipHop-Forscher Tim Brennan feststellt: »For unlike Punk, rap is less about rejecting the culture industry than demanding a place within it on its own terms. Incorporation in that sense – always a more explosive issue for black people than for the alienated white musicians of punk – is precisely its telos.«58 Auch die Organisationseliten der Technokultur haben wenig Berührungsängste mit der Ökonomie und akzeptieren Sponsoring von großen Firmen bei Mega-Raves oder Events wie der Love Parade. Besonders intensiv ist die Verbindung von populärer Musik und Musikindustrie beim HipHop. Der Kulturwissenschaftler Todd Boyd weist darauf hin, dass HipHop sich in die Reihe der Unterhaltungsspektakel einreiht: »The reliance on this now clichéd narrative and the media’s eager embrace of this ghetto lifestyle as monolithic within African American society encouraged the eventual proliferation of the hood scenario from an initially sublime posture to the utterly ridiculous. Through an intense combination of media manipulation and artistic culpability, the issue of class struggle has been reduced to mere spectacle and has not received sustained critical interrogation of domination and oppression.«59

56 57 58 59

Shank 1994: 94. Vgl. Lovering 1998: 31-56. Brennan 1994: 679. Boyd 1994: 293.

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Ähnlich sieht der HipHop-Forscher Russell A. Potter einen direkten Zusammenhang zwischen Spektakel und Protest im HipHop: »Hip-hop culture is the ultimate incarnation of this spectacularized cultural exchange; never has black rage been more up front; never have consumers been so ready to buy.«60 Die Verknüpfung zwischen Rap, Ghetto und ›realen‹ Erfahrungen auf der Straße ist zu einem lukrativen Mittel geworden, um Tonträger zu verkaufen.61 Die spektakuläre Darstellung kann das einseitige und stereotype Bild eines gefährlichen oder verlorenen Ortes entstehen lassen, in dem das Leben von Afroamerikanern oder auch anderer ethnischer Minderheiten mit dem Leben im Ghetto gleichgesetzt wird.62 Gerade Rap könne unhinterfragt die Konstruktionen reproduzieren, die er kritisiert, glaubt der Literaturwissenschaftler Peter McLaren: »As a performative signification anchored in the context of the urban ghetto, it constitutes part of the regulatory practices of the dominant culture while at the same time resisting and critiquing this culture.«63 Die Wirkung solcher Darstellungen des Lokalen ist ironischerweise die Loslösung von ihrem vermeintlichen oder tatsächlichen Entstehungsort. Mit anderen Worten: HipHop ist ein Paradebeispiel der von John Connell und Chris Gibson erwähnten Mythologisierung von Ort im Zusammenhang mit populärer Musik und ein besonders offensichtliches Beispiel für die Spektakularisierung der populären Kultur.64 Gerade die Medialisierung des Rap zwingt die Rapper dazu, ihre lokale Verbundenheit zu unterstreichen. Mit der Betonung, aus einer bestimmten Nachbarschaft zu kommen, versucht der Rapper die Trennung zwischen Person und Künstler aufzuheben, die durch den Tonträger und die daraus resultierende Distanz zwischen Musiker und Konsumenten entsteht.65 Aber die Darstellung des Ghettolebens stellt nur eine Variante des Raps dar und sollte nicht als einzige Basis der Interpretation dienen. Besonders seit Mitte der 1990er Jahre ›berichten‹ Raptexte und Videos aus den USA nicht länger über das Leben in benachteiligten Innenstadtgebieten, sondern stattdessen von Reichtum, Wohlstand und Freizeit. 60 Potter 1995: 9. 61 Vgl. Blair 1993. Damit soll nicht gesagt werden, dass populäre Musik durch Text und Musik nicht Sinn erzeugen kann für junge Migranten, die in einer urbanen Umgebung leben und sich mit der Musik identifizieren (vgl. Forman 2002: 16). 62 Vgl. Henderson 1996: 335, Koza 1999, Forman 2002: 43-46. 63 McLaren 1999: 53. 64 Vgl. Kapitel 2. 65 Vgl. Krims 2000: 95, Forman 2002: 180.

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Solche Raptexte, gerichtet an ein möglichst großes Publikum, betonen nicht länger die lokale Nachbarschaft, sondern den hedonistischen Konsum, der sich durch den kommerziellen Erfolg einstellt. Adam Krims beschreibt dieses neue Genre: »In the newly configured reality genre, the transgressive wealth that had formerly characterized a third genre, namely pimp rap, is crossed with a foregrounding of fantasy and a near obliteration of the devastated innercity surroundings. Instead of signifying marginal subjects from a devasted inner-city neighbourhood, reality rap artist were now crime bosses decked out in illicit finery, heroes in narratives inspired by comic books or popular film, or survivors in a post-apocalyptic urban future.«66 Die örtlichen Bezugspunkte sind bei diesen Raps und den dazugehörigen Musikvideos große, suburbane Häuser mit Pools, luxuriöse Clubs und kostspielige Autos.67 Krims bringt diese Veränderung mit der Etablierung eines, wie er es nennt, neuen urbanen Ethos in Zusammenhang. Als Ethos definiert er »not a particular representation but rather a distribution of possibilities, always having discernable limits as well as common practices.«68 Das neue Ethos führt Krims auf die verstärkte Konsumorientierung in der Stadt und die Verdrängung der Probleme von depravierten Stadtvierteln zurück.69 Seitdem dominiere in der populären Kultur wieder ein positives Bild der Stadt, das sich auch im HipHop zeige. Krims macht zu Recht darauf aufmerksam, dass die populäre Musik an der Bildung von Vorstellungen über die Stadt beteiligt ist und diese wiederum gekoppelt sind an die Bedingungen der städtischen Entwicklung. Was Krims beschreibt, ist eine verstärkte Hinwendung von Raptexten und -darstellungen zur Konsumkultur und der Vorstellung von der Stadt als Vergnügungsort. Aber das darin enthaltene Ethos bildet sich, wie im zweiten Kapitel gezeigt, nicht erst seit Mitte der 1990er, es entfaltet sich im Zuge der Umstrukturierung der Stadt schon seit Anfang der 1980er Jahre. Das Problem an Krims Verwendung des Ethos-Begriffs ist, dass er ebenfalls eine direkte, bruchlose Homologie herstellt: statt zwischen 66 Krims 2003: 148. 67 Es ist nicht verkehrt, darin eine quasi authentische Darstellung zu erkennen, weil die Rapper, die von ihrem Reichtum berichten, tatsächlich durch Raps zu Wohlstand gekommen sind, aber die Folge solcher Darstellungen ist, das der Hinweis auf die Lebenssituation von ethnischen Minderheiten verloren geht und durch eine »jederkann-es-schaffen«-Metaphorik ersetzt wird. 68 Krims 2007: 7. 69 Vgl. Krims 2007: 121-122.

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Gruppe und Musik nun zwischen Stadt und Musik. Dazu sucht Krims jeweils passende Musikstücke beziehungsweise einzelne Elemente daraus oder die dazu gehörenden Videos, die den Zusammenhang zwischen der Musik und den städtischen Rahmenbedingungen zeigen sollen. Andere Musikstile oder Elemente der Musik, die dieser Argumentation widersprechen könnten, vernachlässigt Krims entweder oder weist darauf hin, dass es bei der Übersetzung von Stadt in Musik zu Veränderungen und Variationen komme, die durch diejenigen beeinflusst werden, die die Repräsentationen erschaffen.70 Ähnlich wie Willis oder Shepherd muss Krims die Verbindung zwischen der sozialen und kulturellen Situation der ganzen Stadt zuerst als gegeben unterstellen, um dann ihre Existenz aufzeigen zu können. Die Musik, die daraus angeblich entsteht, erscheint dann eindeutig bestimmt durch das urbane Ethos, das ihre soziale Basis bildet. Auffallend bei Krims Argumentation ist außerdem das komplette Auslassen einer Analyse von Praktiken, die sich um urbane Musikstile herum bilden, wie sie im letzten Kapitel erfolgte. Obwohl er das Gegenteil behauptet, konzentriert er sich auf die Wirkung der Stadt auf die Musik und untersucht nur beiläufig die Wirkung der Musik auf die Stadt. Krims kann nicht zeigen, dass die Musik von einem urbanen Ethos direkt beeinflusst wird und so die Stadt repräsentiert. Er weist aber zu Recht darauf hin, dass die Musikszenen, in ihrer medialen Darstellung, mit dazu beitragen, Vorstellungswelten über die Stadt zu produzieren, die auch von den sozialen Bedingungen der Stadt geprägt sind. Besonders für die Bilder von Musikszenen, zum Beispiel Musikvideos, gilt, dass sie immer zweierlei sind: einerseits Darstellungen und Charakterisierungen von Rahmenbedingungen, die städtische Orte prägen und formen, andererseits zugleich spektakuläre, medial produzierte Repräsentationen der Stadt. Das gilt sowohl für die Darstellung der Stadt als Vergnügungsort wie für die Darstellung als Kampfort, denn auch der Kampf eignet sich gut für spektakuläre, gut vermarktbare Bilder. Punk, HipHop und Techno sind, wie andere populäre Musikkulturen auch, auf das Engste mit der Produktion und Vermarktung von Spektakeln verbunden. Eine Trennung in nicht kommerzielle, politische Subkulturen und kommerziellen, unpolitischen Mainstream ist aus diesem Grund zurückzuweisen.71 Selbst wenn es auch weiterhin popkulturelle Bewegungen mit explizit politischen Botschaften sind, fungieren sie durch ihre Einbindung in Spektakel nicht länger als subversives Medium.72 70 Vgl. Krims 2007: 10. 71 Dies erkennt auch Krims (2007: 103-104). 72 Vgl. Weinzierl/Muggleton 2003: 4-5.

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Verabschiedung des Subkulturmodells

Das zentrale Problem des subkulturellen Ansatzes ist die unterstellte direkte und fast unausweichliche Verbindung zwischen einer bestimmten Gruppe, den sozialen Bedingungen, in denen sie sich bewegt, und ihrer Musik. Dieser mechanischen und deterministischen Position zufolge gibt die ökonomische Basis und die Klassenlage einzelner Gruppen das Hören einer bestimmten Musik vor.73 Die verschiedenen Ansätze, die einen direkten Zusammenhang von sozialer Position und kulturellen Artefakten sowie Praktiken behaupten, laufen alle auf das Postulat richtiger, authentischer und in enger Verbindung mit ihrer sozialen Herkunft stehender Gruppen hinaus, die als politisch widerständig gelten oder sich zumindest in Distanz zur Mehrheitsgesellschaft befinden und dies durch ihren Stil und ihre Musik ausdrücken.74 Die Musiker gelten als geprägt beziehungsweise determiniert durch die sozialen Umstände, die an einem bestimmten Ort herrschen. Dies mündet in eine, im Falle von Hebdige und Willis bewusste und im Fall von Shepherd und Krims unbewusste, künstlerische Auseinandersetzung mit der sozialen Situation. So soll eine Musik entstehen, die diese soziale Situation zum Ausdruck bringt. Einen solchen Zusammenhang könnte es jedoch nur unter der Bedingung geben, dass eine direkte und unhinterfragte kausale Verknüpfung zwischen Text, Lebenssituation und Erschaffer der Musik besteht.75 Tatsächlich wird innerhalb von Musikkulturen auch darüber diskutiert, unter welchen Bedingungen authentische Musik entstehe und wer

73 Vgl. Born/Hesmondhalgh 2000: 31, Stahl 2004: 29. 74 Dazu gehört auch, die Musik als eindeutig afroamerikanisch zu charakterisieren, obwohl diverse Einflüsse in die Musik eingegangen sind und von Beginn an auch Euroamerikaner, vor allem aber Lateinamerikaner an der HipHop-Kultur beteiligt waren (vgl. Flores 1994). Das soll nicht heißen, dass es keine Fälle gibt, in denen relativ eindeutig die Erfindung eines Stils oder die Entwicklung der populären Musik ethnischen Gruppen zugeschrieben werden kann. So haben vor allem afroamerikanische Musiker mit HipHop und Techno begonnen und Punk ist primär eine euroamerikanische und europäische Erfindung. Aber andererseits haben auch in diesen Stilen Musiker unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft in einem komplexen Feld der Zusammenarbeit die Musik erschaffen. Sie einzelnen ethnischen Gruppen alleine zuzuschreiben, ist deshalb vor allem ein politischer Akt, mit dem eine eigene Kultur markiert und gegen andere Einflüsse abgegrenzt wird. Solche Abgrenzungen sind aber nicht einfach nur als essentialistische Strategie abzulehnen, da sie oft von ethnischen Minderheiten in einem von explizitem und latentem Rassismus geprägten Umfeld vorgenommen werden, das ihnen eine eigenständige Kultur gerade abspricht oder sie diskreditiert. 75 Vgl. Martin 1995: 145-147.

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sich legitimerweise als Mitglied bezeichnen darf.76 Die Thesen der Subkulturtheorie müssen deshalb als Organisationsprinzip innerhalb von Musikkulturen verstanden werden. Sie bieten Unterscheidungskriterien an, nach denen einzelne Performer oder Mitglieder beurteilt werden können, und dienen als ein Mechanismus, um zu klären, was zur jeweiligen Kultur dazugehört und was nicht. Zu beachten ist, dass diese diskursiven Unterscheidungen variabel sind und keineswegs von einer homogenen Gruppe verwendet werden, in der alle gleichen Lebensbedingungen ausgesetzt sind. Wenn diese interne Unterscheidung von außen, in der wissenschaftlichen Beschreibung auf eine Musikkultur angewendet wird, besteht die Gefahr, die vielfältigen Adaptionen und Weiterentwicklungen innerhalb der Musikkultur als inauthentische Imitationen misszuverstehen, da sie von der ›falschen‹ Personengruppe erfolgen.77 So wird mit einem Mal von außen innerhalb einer Musikkultur rigide zwischen zwei Gruppen unterschieden, bei der die eine über eine Fähigkeit verfügen soll, die die andere angeblich nicht besitzt.78 Genau diese Gefahr besteht bei der Subkulturtheorie: Die Existenz einer strukturellen Homologie zwischen Gruppe, Praxis und Musik muss die Existenz einer relativ gut abgrenzbaren, homogenen Gruppe unterstellen, die die Musik hervorbringt und konsumiert und sich dadurch von der Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen versucht. Dieser Erklärungsansatz bleibt zu einseitig und zu kausal, zumal wenn man beachtet, dass Musik in sehr unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kontexten angeeignet wird.79 Die verschiedenen Konstellationen, Gruppierungen und Fraktionen und Umgangsweisen mit populärer Musik, selbst innerhalb einer Musikkultur, werden im Subkulturmodell nicht nur missachtet, sondern sogar geleugnet. Solche Beschreibungen reduzieren komplexe und heterogene Entstehungs- und Entwicklungsgeschichten auf einen einfachen Nenner

76 Vgl. Klein/Friedrich 2003: 77-79. 77 Zum Beispiel Potter (1995: 146) oder, weniger explizit, Baker Jr. (1993: 62) der über Rap schreibt: »Unlike rock and roll, rap can not be hastily and prolifically appropriated or ›covered‹ by white artists. For the black urbanity of the form seems to demand not only a style most readily accessible to black urban youngsters, but also a representational black urban authenticity of performance. There are successful white rappers, to be sure, but they are but tiny hatches on the great totemic structures of the form.« 78 Vgl. Bennett 1999a: 3. 79 Bennett (ebd.: 9) berichtet zum Beispiel über eine Gruppe von Rapfans in Newcastle Upon Tyne, die Rapmusik nutzen, um sich der afroamerikanischen Kultur anzunähern: »As such, the point raised above positing the issue of black ›association‹ as something which is actively constructed, and to some extent idealised, by white youth in their appropriation of black music and style, rather than as a structurally determined ›given‹ of such appropriation, is clearly illustrated.«

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und romantisieren Popkulturen – die sich tatsächlich häufig an Kreuzungspunkten diverser Widersprüche konstituieren. Angesichts der Pluralität in der Aneignungsweise popkultureller Musik und der mit ihr verbundenen Praktiken, die in der Regel nicht ausschließlich von einer bestimmten sozialen Gruppe erfolgt, ist es fragwürdig, ob ein distanzierter, wissenschaftlicher Blick es sich erlauben kann, den Essentialisierungsstrategien innerhalb von Popkulturen noch Vorschub zu leisten. Denn indem man eine Popkultur mit einer sozialen Gruppe ›kurzschließt‹, impliziert man, dass nur diese die ›richtige‹ Herangehensweise hat und andere Adaptionen die Essenz der Kultur verfehlten. Demgegenüber gilt es die Dynamik von Musikkulturen zu berücksichtigen. Durch diese werden eindeutige Grenzziehungen zwischen einzelnen Gruppen zusehends schwierig, es lassen sich stattdessen vielfältige Überlagerungen beobachten und einzelne Personen können nicht mehr ohne Weiteres einer einzelnen Musikkultur zugeordnet werden. Was am Subkulturansatz trotz aller Kritik wichtig bleibt, ist die Erkenntnis, dass die Lebensbedingungen bei der Analyse von Musik mitbeachtet werden müssen. Um der simplifizierenden Kausalität zu entgehen, muss allerdings das grundlegende Argument dieses Ansatzes abgeschwächt werden. Statt von einer direkten Verbindung kann eher davon ausgegangen werden, dass die sozialen Bedingungen bestimmte musikalische Entwicklungen wahrscheinlicher machen als andere, ohne dass sie diese jedoch determinieren. Das Entscheidende ist nicht, wo sich eindeutige Homologien ausbilden, sondern welche Einschränkungen eine Musikkultur ihrer möglichen Bedeutungszuschreibung setzt.80 Genau darauf weist zu Recht Middleton hin: »Whatever the position, it seems likely that in practice there are, inscribed in the musical form and in its cultural history, limits to the transmutation of meaning and hence to the re-construction of homologies; ›culturalist‹ social actors are not free to express themselves by inventing or interpreting ab ovo, and ›structuralist‹ texts are not free to wander infinitely away from the cultural contexts within which their meanings have been defined. It seems likely, too, that in the relationship of form and what can provisionally be called ›experience‹ (however that relationship is conceived theoretically), the two must ›dock‹ – rather than the one completely producing the other or the conjunction being purely one of juxtaposition.«81

80 Vgl. Middleton 1990: 32. 81 Ebd.: 154.

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Es gilt nach solchen Grenzen und Rahmungen zu suchen, die bestimmte Produktions- und Konsumweisen wahrscheinlicher machen als andere, und nicht nach starren Homologien.

Popkulturszenen Tribes

Um der Problematik des Subkulturmodells zu entgehen, ist vorgeschlagen worden, die sozialen Formationen in Popkulturen, in Anlehnung an die Überlegungen des Soziologen Michel Maffesoli, als Urban Tribes zu beschreiben.82 Hierbei wird zu Recht auf den im Subkulturmodell vernachlässigten Aspekt des hedonistischen Musikkonsums fokussiert. Tribes sind definiert als Gruppen von Menschen, die keine feste Struktur oder Organisationsform aufweisen, sondern sich jeweils zu bestimmten Ereignissen temporär zusammenfinden, um gemeinsam etwas zu erleben. Solche Gruppen bilden sich nicht aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Klasse, Familie oder Ethnie, sondern primär durch eine gemeinsam ausgeführte ästhetische Praxis. Diese modernen Stämme sind konsumorientiert, emphatisch, besitzen geringe Bindungskräfte und strukturieren sich um emotionale intensive Erfahrungen herum. Das Tribe-Konzept stellt die Bestätigung von Musikkulturen durch ritualisierte Musikereignisse in den Vordergrund. In Clubnächten oder Konzerten wird das Gemeinschaftsgefühl und die Zusammengehörigkeit bekräftigt und erneuert. Anders als bei traditionellen Gemeinschaftsritualen müssen sich bei diesen urbanen Ritualen die Teilnehmenden nicht kennen und können einander fremd bleiben, obwohl die gemeinsam geteilten ästhetischen Präferenzen und die Verhaltensweisen, die an sie geknüpft sind, gemeinsam zelebriert werden. Mit der starken Bindung an Events passt das Tribe-Konzept von Maffesoli im Besonderen zur Technokultur, bei der, wie schon im letzten Kapitel gezeigt, die Gemeinschaft eng an die Technoveranstaltung gebunden ist.83 Zu Recht macht das Tribe-Konzept auf die oft ephemeren und nur zu einem bestimmten Zeitpunkt sich herstellenden Vergemeinschaftungsformen aufmerksam, in der die Zugehörigkeit zu einer Musikkultur alleine während des kollektiv erlebten Ereignisses existiert: ein kollektives Erlebnis, das individualisierte Fremde miteinander erleben können, ohne dass 82 Vgl. Maffesoli 1996, Bennett 1999b. 83 Dafür spricht auch, dass Technoveranstaltungen zumindest in den 1990ern nicht von einer bestimmten Klasse besucht wurden (vgl. Klein 1999: 155, Bennett 2000).

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sie ihre Individualität aufgeben müssen.84 Das Tribe-Konzept besitzt aber eine zentrale Schwachstelle. Es beachtet nicht die Vergemeinschaftungsformen, die über konkrete Musikveranstaltungen hinausgehen. So bilden sich im HipHop Crews und Possen aus, deren sozialer Zusammenhalt weit über einzelne Events hinausgeht und zu relativ stabilen und langfristigen Gemeinschaften führen kann.85 Und auch im Punk kommt es zu Vergemeinschaftungsformen, die nicht auf Veranstaltungen begrenzt bleiben, sondern sich auch bei regelmäßigen Treffen im öffentlichen Raum oder in alternativen Wohnformen zeigen, zum Beispiel in besetzten Häusern oder Bauwagen.86 Es können sich also durchaus stabile Gruppenkonstellation ausprägen, die zu dauerhaften sozialen Kontakten und Beziehungen zwischen den Mitgliedern führen. Solche Praktiken passen nicht in das Event orientierte Tribe-Konzept.

Szenen

Ein dritter, häufig verwendeter Begriff im Zusammenhang von Vergemeinschaftungen und populärer Musik ist der der Szene. Anfang der 1990er Jahre hat der Kulturwissenschaftler Will Straw vorgeschlagen, zwischen Szene und Gemeinschaften zu unterscheiden. Für Straw existiert ein Unterschied zwischen einer Szene, die sich um eine Musik herumstrukturiert, und Gemeinschaften, die stabiler sind und mit einer speziellen Geografie und einer lokalisierten musikalischen Ausdrucksweise ausgestattet sind. Beispiele für Musikgemeinschaften sind Folkloregruppen, die eine lokal tradierte Musik spielen, die sich über längere Zeiträume nur langsam verändert. Szenen sind die hier diskutierten Musikkulturen des Punk, HipHop und Techno. Als Szene definiert Straw: »[that] cultural space in which a range of musical practices coexist, interacting with each other within a variety of processes of differentiation, and according to widely varying trajectories of change and crossfertilization.«87 Straw macht auf die Dynamik von Musikkulturen aufmerksam, die sich heute global auf der Welt verbreiten und in ganz unterschiedlichen lokalen Kontexten stattfinden und entwickeln. Musikkulturen sind nicht 84 85 86 87

Vgl. Clarke 2003: 164-165. Vgl. Forman 2002: 176-183, Klein/Friedrich 2003. Vgl. Reiners/Malli/Reckinger 2006. Straw 2004: 84.

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lokal gebunden, sondern besitzen in den meisten Fällen eine multizentrale, globale Struktur. Sie entstehen auch über die Nutzung und Aneignung von Medieninhalten, ohne dass die Konsumenten in direkten Kontakt miteinander gelangen müssen.88 So ist es möglich, Teil dieser ortsüberschreitenden Gemeinschaft zu werden, indem man die medialen Inszenierungen in das eigene Leben überträgt. Genau darauf hat Arjun Appadurai hingewiesen, der die Entstehung von fluiden Medienräumen (Mediascapes) mit Gemeinschaften gleichsetzt, die sich auf der ganzen Welt bilden können.89 Die mediale Distribution der Inszenierungen und Praktiken erhöht die Variabilität von Musikszenen erheblich, besonders wenn man beachtet, dass es jeweils zu lokalen Adaptionen von globalen Szenen kommt.90 Der Kulturwissenschaftler Lawrence Grossberg, der nicht von Szenen sondern von Apparaten spricht, weist darauf hin, dass diese nicht nur aus Musik und Praktiken bestehen, sondern auch aus: »[…] economic determinations, technological possibilities, images (of performers and fans), social relations; aesthetic conventions, styles of language, movement, appearance and dance, media practices, ideological commitments and media representations of the apparatus itself. The apparatus describes ›cartographies of taste‹ that are both synchronic and diachronic and which encompass both musical and non musical registers of everyday life.«91 Dieses Konglomerat hält gleichzeitig die Strategien bereit, die Konsumenten nutzen können, um die Szene am Leben zu erhalten.92 In der Beschreibung von Straw und Grossberg ist berücksichtigt, dass die Bestimmung dessen, was zur Szene gehört und was nicht, selbst Element ihrer Konstitution ist. Szenen befinden sich in einem ständigen Definitionsprozess. Genau dies unterscheidet sie von traditionelleren Musikgemeinschaften. Ähnlich wie Tribes sind Szenen variabel und offen, wie der Soziologe Winfried Gebhardt feststellt: »Die Zugehörigkeit zu einer Szene ist weitgehend unverbindlich. Anders als die bürgerliche Assoziation ist die Szene grundsätzlich offen und verfügt nicht über formalisierte und rechtlich fixierte Mitgliedschaftskriterien.«93 88 89 90 91 92 93

Vgl. Dayan/Katz 1987, Abercrombie/Longhurst 1998: 114-117, Stahl 2004: 39. Vgl. Appadurai 1998: 22. Vgl. Elteren 1996, Breidenbach/Zukrigl 1998, Lipsitz 1999. Grossberg 2004: 321. Vgl. ebd.: 322. Gebhardt 2002: 294-295.

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Aber eine Szene existiert nicht ohne Regeln und Konventionen, sie setzt sich aus Normen, Praktiken und Inszenierungen zusammen. Straw sieht sie geprägt durch ein »System der Artikulation« und eine »Logik des Wandels«, welche ihre spezifische musikalische Praxis und ihre Verbreitung über Gemeinschaften und Institutionen beschreiben.94 So entsteht in Szenen ein relativ stabiles Repertoire an Regeln, Stilen, Verhaltensweisen und Figuren, die sich gleichzeitig kontinuierlich verändern können und nicht über feste Grenzen verfügen.95 Straws Definition birgt aber die Gefahr einer Trennung zwischen Szene und Praktiken, weil nicht eindeutig klar ist, wie die Praktiken die Szene erschaffen. Die Praktiken einer Szene müssen stattdessen als ihr konstitutives Element betrachtet werden.96 Mit stärkerem Bezug auf lokale Aktivitäten definieren Ronald Hitzler, Thomas Bucher und Arne Niederbacher Szene als: »[t]hematisch fokussierte kulturelle Netzwerke von Personen, die bestimmte materiale und/oder mentale Formen der kollektiven Selbststilisierung teilen und Gemeinsamkeiten an typischen Orten und zu typischen Zeiten interaktiv stabilisieren und weiterentwickeln.«97 Der Begriff Szene verdeutlicht, dass sich die Vergemeinschaftungsformen in bestimmten Szenarien abspielen, in denen die Szene sich trifft und die dem Einzelnen ein Sich-in-Szene-Setzen erlauben. Er macht darauf aufmerksam, dass Vergemeinschaftungen in der Stadt eng mit Theatralität in Verbindung stehen. Durch den erzwungenen Umgang mit Fremden sind öffentliche und halböffentliche Räume in Städten immer auch Bühnen, auf denen sich Stadtbewohner inszenieren müssen.98 Theatralität in sozialen Beziehungen ist nicht an Städte oder öffentliche Räume allein gebunden, doch Städte bieten mehr Bühnen, die jeweils unterschiedliche theatrale Praktiken erfordern, als andere Orte. Jonathan Raban merkt an: »It is surely in recognition of this intrinsic theatricality of city life that public places in the city so often resemble lit stages awaiting a scenario.«99 Ulf Hannerz vergleicht entsprechend Stadtbewohner zu Recht mit Mannequins:

94 Vgl. Straw 2004: 85. 95 Genauso beschreibt Hitzler (2001: 19-20) posttraditionelle Gemeinschaften, ein Begriff der von ihm synonym mit Szene verwendet wird. 96 Vgl. Olson 1998: 270-275. 97 Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001: 20. 98 Vgl. Hannerz 1980: 232, Blum 2003: 186. 99 Raban 1974: 27.

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»It is possible […] to think of people in the city as mannequins, putting a variety of meanings on show in such a way that anyone can inspect them, accept them, or reject them, without becoming heavily committed to interaction or identification with the personnel concerned. Traffic relationships may entail such a parade of impressions, in particular because they are often only a side involvement of people at the same engaged in other activities.«100 Urbane Musikszenen sind wichtige Lieferanten an Requisiten und Inszenierungsstrategien, um sich in diesem Sinne in Szene zu setzen und damit am öffentlichen Drama der Großstädte teilnehmen zu können.101 Es geht also genau um das, was Nicholas Abercrombie und Brian Longhurst als inszenierte Praxis bestimmten, die immer mehr von Medien präfiguriert wird. Die Szene liefert ein Repertoire von Stilen, Verhaltensweisen und Einstellungen, aus dem man sich in unterschiedlicher Intensität und Dauer bedienen und das man für die eigene Identitätskonstruktion verwenden kann.102 Zu diesem Repertoire gehören im Besonderen die im letzten Kapitel beschrieben idealtypischen Figuren der Szenen, in denen sich Überzeugungen, Verhaltensweisen und Wahrnehmung der Welt bündeln. Ihre Umsetzung in Praktiken und Weltdeutungen führt zu einer Fortführung der Szene und liefert wiederum die Basis für Medieninszenierungen. Szenen werden, zum Beispiel vom Soziologen Michael Corsten, den Urban Tribes vergleichbar, eng mit Veranstaltungen in Verbindung gebracht, die den Besuchern ein intensives Erleben ermöglichen sollen: »Events kreieren Szeneöffentlichkeiten. Szeneöffentlichkeiten benötigen Bühnen der Selbstinszenierung und Netzwerke als soziale Relais’ ihrer Trägergruppen. Sicherlich gab und gibt es Events ohne Szene, aber einer Szene ohne Events droht der Abstieg in die Marginalisierung zur Sekte oder zum Anachronismus.«103 Wie sich schon an den Clubnächten in der Technoszene eindrücklich erwiesen hat, sind kollektive Veranstaltungen ein wichtiges Element, um den Gemeinschaftscharakter von Szenen aufrechtzuerhalten.104 Für den Kunstwissenschaftler Alan Blum ist dabei das Sehen der entscheidende Faktor: 100 101 102 103 104

Hannerz 1980: 113. Vgl. Chambers 1986: 206-212, Friedrich 2005: 138-140. Vgl. Paterson 2006: 36-57. Corsten 2001: 98. Vgl. Blum 2003: 179.

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»If public life invites us to enjoy being with others in an undemanding way, the public would be best conceived not as an incipient dialogue but as the erotic intensification of what is most intimate and exclusive that is produced by the activity of viewing and being viewed by the other. Comingto-view in this way heightens the enjoyment of solitude because our selfconcentration is animated by the challenge of the view of the other.«105 Dem ist entgegenzuhalten, dass das Hören bei Musikszenen einen höheren Stellenwert hat, weil es mehr als das Sehen alle Beteiligten zusammenführt. Clubs sind vor allem akustisch gestimmte Räume, auch wenn Sichtbarkeit und Lichtgestaltung nicht irrelevant sind.106 Es ist wesentlich schwieriger, seine Ohren gegenüber Klängen, als seine Augen vor Bildern zu verschließen. Musik, vor allem wenn sie mit hoher Lautstärke abgespielt wird, erreicht an einem solchen Ort alle gleichermaßen und wirkt dadurch verbindend. Hinzu kommt, dass im Besonderen die Musik ein expressives Verhalten der Teilnehmenden fördert und die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem auflöst. Dadurch kann bei Musikveranstaltungen ein Exhibitionismus ausgelebt werden. Es sind das gemeinsame Zuhören und Tanzen, welches alle Teilnehmenden zu Akteuren macht und auch das ausgiebige Zu- und Anschauen erlaubt.107 Was Barry Shank über die Punkszene schreibt, gilt allgemein für die hier besprochenen Musikszenen: »These are the necessary conditions for the development of a scene: a situated swirling mass of transformative signs and sweating bodies, continually reconstructing the meaning of a communion of individuals in a primary group.«108 Events sind eine Form, in der sich Szenen reproduzieren. Aber gegenüber dem Tribe-Konzept soll der Begriff der Szene darauf aufmerksam machen, dass sich ihre Aktivitäten keineswegs auf Events reduzieren. Szeneaktivitäten können sich genauso um das »Abhängen« im öffentlichen Raum, das gemeinsame Musikhören, das Malen von Graffiti oder anderes bilden. Was genau, wann, wo und mit welchen Mitteln und welcher Intention passiert, macht die jeweilige Qualität und Besonderheit der einzelnen Szenen aus.

105 106 107 108

Blum 2003: 180. Vgl. Geisthövel 2005: 148. Vgl. Blum 2003: 174-179. Shank 1994: 128.

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Generell dienen Szenen Stadtbewohnern zu inszenierten Aufführungen und sind als speziell städtische Formen des Zusammenfindens zu beschreiben. Eine Szene, die sich im Stadtraum zusammenfindet, ist weder eine Gemeinschaft im traditionellen Sinne, bei der sich alle Personen kennen und eng beieinander wohnen, noch eine Gesellschaft in der sich nur Unbekannte begegnen.109 Berücksichtigt man die Ausschlusspraktiken und die Distinktion, die Szenen bringen können, dann lässt sich die Musikszene definieren als lokal und global organisiertes, hierarchisch gegliedertes Netzwerk von Personen, die populäre Musik eines bestimmten Stils produzieren oder konsumieren. Zur Produktion und zum Konsum dieses Stils gehören Inszenierungsmittel, Praktiken und Orte, an denen die Szenepraktiken gewöhnlich stattfinden, genauso wie Diskurse über die Authentizität und Zugehörigkeit aller einzelnen Elemente der Szene. Dies lässt sich nicht nur als eine Aneignung von Kultur bestimmen, sondern auch als ihre Produktion.110 Szenen finden nicht in einem luftleeren Raum statt, in dem beliebig und willkürlich Inszenierungen erfunden werden. Stattdessen ist der Erfolg von Szenen auch daran gebunden, auf die Lebenswelten ihrer Nutzer zu reagieren. Szenen sind dadurch eng mit der urbanen Umgebung ihrer Entstehung oder Durchführung verknüpft. Gleichzeitig sind sie in ihrer Umsetzung auch, wie Alan Blum anmerkt, selbst Teil der Traumwelt des Städtischen: »The scene opens up the conversation on the dream work of the city, how it arouses dreaming, the desire to be seduced by the present – the dream of the eternal present – in a way that can make it enduring.« 111 Mit dieser Verknüpfung von Praxis, Inszenierung und Traum sind Szenen elementarer Bestandteil der urbanen Konsumkultur.

Szene und soziale Ungleichheit

Die soziale Position resultiert in der Konsumkultur nicht länger nur aus der Stellung im Arbeitsbereich, sondern auch aus den Freiheitsgraden bei der Auswahl von Konsumgütern, dem »ästhetischen Wissen« und dem Geschmack, welche wiederum dazu befähigen, in adäquater Art

109 Vgl. Blum 2003: 176. 110 So argumentiert Maxwell (1997: 53) auch in Bezug auf HipHop. 111 Blum 2003: 176.

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und Weise mit Konsumgütern umzugehen.112 So ist die Auswahl und Nutzung bestimmter Konsumgüter nicht auf einen rein hedonistischen Akt zu reduzieren, sondern bedingt auch die soziale Positionierung des Konsumenten. Die Nutzung des vielfältigen Angebots von Konsumgütern und ihre Bindung an die Imagination erzeugt, so der Soziologe Frank Eckard, hohe Anforderungen an die Stadtbewohner: »Everyday life in the consumptive city requires a high performance by the blasé urbanite. The mental routines are questioned as the former functional division of the city gives way to multifunctional, complex and even antagonistic expectations about the »right« individual behaviour. In a world crowded with signs and offers of meaning, the organisation of imagination becomes crucial.«113 Der Begriff Szene, mit seiner Betonung der Inszenierung, birgt die Gefahr einer zu geringen Beachtung solcher sozialen Positionierungen. Wie schon die Existenz von Organisationseliten zeigt, sind Szenen nicht nur durch Empathie, affektive Allianzen und inszenierte Praktiken bestimmt, sondern auch durch Abgrenzung, Hierarchien und Distinktion.114 Szenen lassen sich auch als Konsumgruppen charakterisieren, bei denen es bis zu einem gewissen Grad Übereinstimmungen bei der Wahl von Konsumgütern und Konsumorten gibt. Mit der Nutzung bestimmter Konsumgüter findet auch eine Positionierung gegenüber anderen Konsumentengruppen statt.115 Die soziale Hierarchie, die der Soziologe Pierre Bourdieu in der ganzen Kultur beobachtet, findet sich deshalb auch in Szenen. Diese bilden ein kontinuierliches Kampffeld, bei dem der Konsum von bestimmter Musik sozial positionierend wirkt. Diese soziale Positionierung lässt sich deutlich bei Clubs beobachten. Es bedarf des Wissens über Veranstaltungsorte, Stile und Verhaltensweisen, um sich zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort aufzuhalten und dort adäquat verhalten zu können. Solches Wissen wertet Thornton, in Anschluss an Bourdieu, als subkulturelles Kapital, das Anerkennung und Teilhabe an Szenen erlaubt.116 Paul Chatterton und Robert Hollands zeigen am Beispiel von England, dass es eine grobe Dreiteilung zwischen Ober-, Mittel- und Unterklasse-Clubs gibt, auf die jeweils Angebote zugeschnitten sind, nach denen 112 113 114 115 116

Vgl. Appadurai 1986, Bourdieu 1992. Siehe auch Kapitel 3. Eckardt 2003: 27. Vgl. Chatterton/Hollands 2003: 77, Grossberg 2004: 326. Lury (1996: 46) spricht in diesem Zusammenhang von »positional consumption«. Vgl. Thornton 1996: 11, 105.

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die Besucher selegiert werden. Die Trennung einzelner Gruppen in den Clubs ist ambivalent. Zum einen bietet sie die Möglichkeit Gleichgesinnte zu treffen, zum anderen bestätigt und tradiert die Trennung bestehende soziale Differenzen. Vor allem für benachteiligte Gruppen wie ethnische Minderheiten ist darüber hinaus der Zugang zu vielen Clubs eingeschränkt.117 Sich im richtigen Club aufzuhalten oder allgemein die Regeln und Inszenierungscodes einer Szene richtig anzuwenden und dabei seine Einzigartigkeit zu präsentieren, hat soziale Wirkungen und dient, so Renate Müller, genauso der Präsentation und Konstruktion der eigenen Identität wie der Distinktion.118 Beachtet man, dass eine Konsumkultur die Mitglieder einer Gesellschaft generell zum Konsum zwingt und dass die dabei stattfindende Wahl und Präsentation von Waren und Verhaltensweisen Teil eines Verfahrens zur Bildung sozialer Hierarchien ist, dann wird noch einmal deutlich, dass eine Gesellschaft, in der der Konsumbereich dominiert, nicht weniger rigide ist als ihre Vorgänger. Daran ändern auch Musikszenen nichts, die zwar für viele die Möglichkeit der Selbstdarstellung und Verortung bieten, aber gleichzeitig bestehende soziale Hierarchien tradieren und neue schaffen.

Fazit: Vergemeinschaftung

Das Subkulturmodell ist nicht in der Lage, die Spannung aufzulösen zwischen der Definition der Kultur als Lebensweise und dem Rückgriff auf die dabei entstehenden Artefakte, die als Basis der Erklärung der Praktiken dienen, gleichzeitig aber als nicht wesentlich betrachtet werden. Die Engziehung von sozialen Gruppen und Musik, die diese direkt repräsentieren soll, hat sich als nicht tragfähig erwiesen. Texte von Punk und noch eindeutiger von Rap verweisen tatsächlich auf das Leben in Städten und tragen zur Vorstellung des Lebens in Städten bei. Sie aber ausschließlich als Ausdruck einer bestimmten Gruppe zu lesen, lässt außer Acht, dass es sich um eine spielerische Darstellung handelt, an der sehr unterschiedliche Gruppen und Akteure teilhaben. Darüber hinaus sind Musikstücke nicht auf ihre Texte zu reduzieren, zumal der Textinhalt beim Konsum der Musik eine geringe Rolle spielt. Auch bei der Betrachtung der Musik zeigte sich, dass die Verbindung zwischen

117 Vgl. Chatterton/Hollands 2003: 84-89, 187-192. 118 Müller u. a. 2002: 12-13.

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Musik und sozialen Gruppen wesentlich schwächer ausgeprägt ist, als die These einer strukturellen Homologie zulässt. Mit dem Begriff der Szene kann die Problematik des Subkulturmodells überwunden werden, weil er offener und variabler für Veränderungen ist. Statt einer strukturellen Homologie zwischen Gruppen, Praktiken und Artefakten gibt es in Szenen basale Regeln und Inszenierungsformen, um die herum sich die Praktiken organisieren. Auch wenn sich das Modell der strukturellen Homologie als untauglich erwiesen hat – die Frage stellt sich weiterhin, welche Beziehung zwischen der Stadt, ihren Bewohnern und der Musik, die sie in urbanen Musikszenen erschaffen, besteht. Der Begriff der Szene alleine kann darauf keine Antwort geben, da er nicht auf die Artefakte einer Gruppe fokussiert, sondern auf deren theatrale Praktiken. Deshalb müssen andere Ansätze zur Repräsentation von Musik herangezogen werden.

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6. Dienstmädchen, Beethoven, Free-Jazz. Repräsentationstheorien bei Adorno und Attali Was ich Poesie nenne, wird oft Inhalt genannt. Ich selbst habe es Form genannt. John Cage1

Der Repräsentationsansatz der Subkulturtheorie hat sich als zu eindimensional erwiesen. Der Begriff der Szene lässt aber zunächst offen, inwieweit die Musik selbst repräsentative Funktionen übernimmt. Um sich der Frage eines möglichen repräsentationellen Charakters von (populärer) Musik anzunähern, soll in diesem Kapitel auf die einflussreichste und gleichzeitig umstrittenste Theorie zur Repräsentation durch Musik eingegangen werden. Der erste Abschnitt führt in die generellen Überlegungen von Theodor W. Adorno zur Musikrepräsentation ein. Im zweiten Abschnitt wird die extreme Ablehnung jeder Art von populärer Musik durch Adorno aufgezeigt, Adornos Vermischung von ästhetischen Urteilen und theoretischen Aussagen wird einer Kritik unterzogen. Der dritte Abschnitt zeigt anhand der Überlegungen von Jacques Attali, dass die These einer engen Verbindung zwischen Ware, populärer Musik und Verblendung auch heute noch einflussreiche Befürworter hat. Gezeigt wird, dass sich auch in Attalis Theorie ähnliche Probleme ergeben wie bei Adorno. Trotz der Kritik sowohl an Adorno als auch Attali, wird untersucht, welchen Beitrag ihre Ansätze leisten können für eine Theorie zur Repräsentation von Musik, die den in den vorangegangenen Kapiteln erarbeiteten Anforderungen genügt.

1

Cage 1995: 9.

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Repräsentation bei Adorno

Theodor W. Adorno hat einen der wichtigsten und einflussreichsten Beiträge zum repräsentativen Charakter von Musik geliefert, und eine sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Musikrepräsentationen kann sich einer kritischen Würdigung Adornos nicht enthalten. Gleichzeitig ist es im Zusammenhang mit populärer Musik nicht einfach, sich auf Adorno zu beziehen, da er vor allem dafür bekannt geworden ist, jede Art von Musik rigoros abzulehnen, die er nur in Ansätzen als populär oder unterhaltsam einschätzte. In seinem ganzen ästhetischen Werk, von sehr frühen Texten wie »Zur gesellschaftlichen Lage der Musik«2 aus dem Jahre 1932 bis zur unvollendeten »Ästhetischen Theorie«3, die posthum 1970 erschien, fällt die Bewertung von populärer oder wie er sie nennt »leichter«, Musik konsequent kritisch aus. Dazu gehörten für ihn genauso die deutsche Schlagermusik Anfang des 20. Jahrhunderts, wie die TinPan-Alley-Musikproduktionen aus den USA oder Jazz-Musik. Diese Ablehnung führt oft dazu, dass eine detailliertere Auseinandersetzung mit Adorno im Popdiskurs nicht stattfindet. Statt einer einfachen Zurückweisung seiner Argumente zur »leichten Musik« bieten sich Adornos Ausführungen an, die Problematik von Repräsentationstheorien zur Musik vertiefend zu fokussieren.4 Die Unzulänglichkeiten seiner Theorie seien, so Middleton, die eines »Giganten«, und wer sich mit populärer Musik auseinandersetze, habe zunächst Adorno zu absorbieren, um über ihn hinausgehen zu können.5 Hinzu kommt, dass Adorno eine der substantiellsten Positionen zur Wechselwirkung von Musik und Gesellschaft entwickelt hat. Seine Theorie gilt es zu berücksichtigen, weil sie mit größter Vehemenz einen Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Musik postuliert. Ein bekanntes Zitat aus der »Einleitung in die Musiksoziologie« fasst Adornos Verständnis von Musiksoziologie treffend zusammen: »Wer Beethoven hört und darin nichts vom revolutionären Bürgertum, nicht das Echo seiner Parolen, die Not ihrer Verwirklichung, den Anspruch auf jene Totalität spürt, in der Vernunft und Freiheit verbürgt sein sollen, der versteht ihn genausowenig wie einer, der dem rein

2 3 4 5

Adorno 2003a. Adorno 2003b. Zu Anwendung des Potenzials der Musiksoziologie von Adorno siehe Dennis 1998, Witkin 1998, 2003, DeNora 2003. Vgl. Middleton 1990: 35.

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musikalischen Inhalt seiner Stücke, der inneren Geschichte, die den Themen darin widerfährt, nicht zu folgen vermag.«6 Im Kern enthält dieser Satz die wichtigsten Thesen Adornos zum repräsentativen Charakter von Musik. Erstens sind für ihn in den »großen« Musikstücken soziale Beziehungen und Konflikte eingearbeitet; sie beziehen sich auf die sozialen Bedingungen ihrer Entstehung. Zweitens ist im Werk eine Kritik der bestehenden Verhältnisse impliziert und drittens kann diese nur von einem Hörer mit genügend Aufmerksamkeit und musikalischem Verständnis ›entziffert‹ und dadurch verstanden werden. Musiksoziologie sei deshalb die »soziale Kritik durch die künstlerische hindurch«7, weil durch die Analyse der Musik auch die sozialen Bedingungen kritisch hinterfragt werden können, die diese offenbart.

Repräsentation in der Form

Die Repräsentation von sozialen Bedingungen ist aber nicht ohne weiteres im Werk zu erkennen. Gesellschaftliche Verhältnisse, und das sind für Adorno grundsätzlich widersprüchliche Verhältnisse, tauchen in den Kunstwerken nämlich besonders in ihrer Form auf: »Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form. Das, nicht der Einschluß gegenständlicher Momente, definiert das Verhältnis der Kunst zur Gesellschaft.«8 Unter Form fasst Adorno zum einen die generelle Struktur und die grundlegenden Bedingungen eines Musikstückes, zum Beispiel Tonarten oder die Sonatenform oder das 12-Akkord-Schema im Blues,9 zum anderen beinhaltet die Form auch die Art und Weise, in der sich die einzelnen Elemente in einem Stück entwickeln, wann sie auftauchen und in welcher Verbindung sie zu anderen Elementen des Stückes stehen, das heißt wie sich der Inhalt eines Stücks in der »musikalischen Zeit«10 entwickelt. Die Form gestaltet das Kunstwerk, sie steht aber immer in Beziehung zum

6 7 8 9 10

Adorno 1975: 80. Ebd.: 81. Adorno 2003b: 16. Vgl. Middleton 1990: 45-56. Vgl. Kaehler 1998: 38.

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Inhalt. Die Form, »die dem Inhalt widerfährt, [ist] selber sedimentierter Inhalt«.11 Andererseits ist die Form ohne Inhalt leer und bedeutungslos. Dem Philosophen Klaus E. Kaehler zufolge wird sie für Adorno Form »erst als Form des Inhalts, und Inhalt sind die bestimmten musikalischen Gestalten nur, indem sie übergehen, das heißt sich in der Form aufheben«.12 Weil sich in der Form der eigentliche Inhalt sedimentiert, hält Adorno die »gegenständlichen Momente« eines Kunstwerks für unwichtig. Nicht was die Kunstwerke direkt aussagen oder zeigen ist danach der wichtigste Untersuchungsgegenstand, sondern ihre Form, weil in ihr der repräsentationelle Charakter von Kunst liegt.13 Dieser Vorschlag von Adorno ist sinnvoll, weil er erlaubt, auf die grundsätzlichen Prinzipien der Gestaltung von Musik zu achten und diese gegebenenfalls in Zusammenhang zu bringen mit außermusikalischen, gesellschaftlichen Sachverhalten.

Kunstwerk als Monade und Materialproblem

Wenn sich die Form eines Kunstwerkes auf die soziale Realität bezieht, dann könnte die Schlussfolgerung nahe liegen, dass die Kunstwerke durch die soziale Realität determiniert werden und so ihre Eigenständigkeit verlieren. Einer solchen Abhängigkeitsbeziehung widerspricht Adorno, indem er das Kunstwerk als eigenständig und abgeschlossen charakterisiert. Er sieht Kunstwerke, in Anlehnung an die Monadenlehre von Leibniz, ohne direkten Zugang zur Welt. Deshalb determinieren gesellschaftliche Verhältnisse die Musik nicht. Trotzdem entstehen Kunstwerke, als Teil der Gesellschaft, in engem Zusammenspiel mit den gesellschaftlichen Verhältnissen. Im Zentrum der Verbindung zwischen Kunst und Gesellschaft steht das Material, vom Philosophen Reinhard Kager treffend als »gewissermaßen objektivierter »Geist« und »materialisiertes Substrat der Kompositionsgeschichte«14 bezeichnet. Dieses Material befindet sich für Adorno in Verbindung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen: »Material kann nicht anders gefaßt werden denn als das, womit ein Komponist operiert, arbeitet. Das ist jedoch nicht weniger als der vergegenständlichte und kritisch reflektierte Stand der technischen Produktivkräfte einer Epoche, dem die Komponisten jeweils sich gegenüber finden.«15 11 12 13 14 15

Adorno 2003b: 217. Kaehler 1998: 40. Vgl. Paddison 1998: 81-85. Kager 1998: 96. Adorno 2003c: 503.

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Die Auseinandersetzung des Künstlers (Subjekt) mit dem Material (Objekt), welches wiederum durch andere Künstler erschaffen wurde und dadurch bereits durch die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse beeinflusst war, erzeugt eine Dialektik, die zwar eigenständig ist, aber isomorph zur Dialektik der Geschichte steht: Für die Künstler tauchen die gleichen Schwierigkeiten und Probleme auf wie in der Gesellschaft insgesamt, die sie mit ihrem eigenen Material, im Falle der Musik den technischen Bedingungen und dem Stand der musikalischen Entwicklung, zu bearbeiten haben.16 Trotz dieser postulierten Verbindung von Gesellschaft und Musik über das Material ist bei Adorno nicht ohne Weiteres zu verstehen, wie die Gesellschaft in die Musik gelangt. Die Problematik besteht darin, dass die Werke zum einen abgeschlossen und komplett eigenständig sind, zum anderen aber auf das Engste mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in Verbindung stehen sollen. Diese Verbindung fußt auf der hegelianischen Annahme einer allgemeinen Gesellschaftsentwicklung, in die alle Elemente gleichermaßen einbegriffen sind. Wie diese aber empirisch zu fassen ist, bleibt bei Adorno unklar und führt zu einer metaphysischen und deterministischen Ausrichtung seiner Theorie, die eine empirische Überprüfung unmöglich macht.17 Eine Lösung dieser Problematik besteht in der Ablehnung der Konzepte vom Kunstwerk als fensterloser Monade und vom Künstler als Vollzugsgehilfen einer tendenziell deterministisch ausgelegten Geschichtsentwicklung. Die Umsetzung und Verarbeitung gesellschaftlicher Verhältnisse in Musik ist nur dann plausibel zu machen, wenn Künstler sich nicht nur vom musikalischen Material beeinflusst zeigen, sondern auch von der sozialen Umgebung, in der sie Musik produzieren. Dies heißt auch, dass sich eine Musiksoziologie nicht nur alleine auf eine musikimmanente Analyse stützen kann, wie dies Adorno gefordert hat.

Repräsentationen bei Adorno: Beethoven und die Schönberg-Schule

Adorno trennt scharf zwischen zwei Arten von Musik: Die eine bezeichnet er als affirmativ, die andere als kritisch. Nur letztere ist für Adorno künstlerisch wertvoll, weil sie sich gegen die bestehenden Verhältnisse wendet:

16 Vgl. Kager 1998: 94-103. 17 Vgl. Martin 1995: 114-115, 124, DeNora 2003: 13-14, Ludwig 2004: 29.

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»Das Organisierte der Werke ist gesellschaftlicher Organisation entliehen; worin sie diese transzendieren, ist ihr Einspruch gegen das Organisationsprinzip selbst, gegen Herrschaft über innere und auswendige Natur.«18 Nur wenige Kunstwerke erreichen laut Adorno diese Stufe und nur sie verdienen den Namen Kunst. In der Musik gibt es für Adorno vor allem zwei Beispiele, in denen dieses gelingt. Für die bürgerliche Gesellschaft ist es, wie schon erwähnt, Beethoven und nach ihrer kompletten Auflösung in den Monopolkapitalismus kommt nur noch die Schönberg-Schule mit Arnold Schönberg, Anton Webern und Alban Berg diesem Ziel nahe. Adorno sieht Kunstwerke in einem dialektischen Verhältnis zu den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Produktion und Rezeption. Die Kunst stößt sich von der empirischen Realität ab, ist aber gleichzeitig durch die allgemeinen gesellschaftlichen Bedingungen, in denen sie entsteht, gefangen. Durch diesen Prozess verweist Kunst negativ auf gesellschaftliche Verhältnisse: »Keine Kunst, die nicht negiert als Moment in sich enthält, wovon sie sich abstößt.«19 Je mehr Musik die widersprüchlichen, gesellschaftlichen Verhältnisse in sich artikuliert, desto höheren ästhetischen Wert besitzt sie. Schon für Beethovens Zeit konstatiert Adorno, dass Musik nur dann noch als adäquat gelten könne, wenn es zu einer vollständigen Durchkomposition des musikalischen Materials komme, in der sich jedes einzelne Element der Komposition in Beziehung zu allen anderen Elementen und zur Gesamtkomposition befindet.20 Genau diese Verweisstruktur, die Adorno bei Beethoven erkennt, entspricht dem Ideal einer versöhnten Welt, in der die Teile, das heißt die Individuen, im Ganzen aufgehen, ohne von der Totalität beherrscht zu werden.21 Was Hegel in der Philosophie konstatiert, setzt Beethoven mit seinen Mitteln in der Musik um: »Das Gelingen bei Beethoven besteht darin, daß bei ihm, und ihm allein, das Ganze niemals dem Einzelnen äußerlich ist sondern allein aus dessen Bewegung hervorgeht oder vielmehr diese Bewegung ist. Es wird bei Beethoven nicht vermittelt zwischen Themen, sondern wie bei Hegel ist das Ganze, als reines Werden, selber die konkrete Vermittlung.«22

18 19 20 21 22

Adorno 1975: 254. Adorno 2003b: 24. Vgl. Witkin 1998: 15. Vgl. Witkin 2003: 10. Adorno 1993: 49.

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Für Adorno ist Beethoven der wichtigste Komponist der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, weil im formalen Aufbau seiner Symphonien die Widersprüchlichkeit der Gesellschaft dargestellt wird und gleichzeitig ihre Überwindung im Stück gelingt.23 Für Adorno spitzte sich die Gesellschaftssituation weiter zu, indem die falsche Totalität einer kapitalistischen Gesellschaft absolut wird und keinen Ausweg mehr zu bieten scheint. Das erhöht gleichzeitig den Wert von Kunst, denn nur sie ist für Adorno in der Lage, »über die bestehende Gesellschaft kritisch hinauszugehen und ihr, durch Abweichung und Sinn, das Bild der Möglichkeit konkret [entgegenzuhalten]. Je mehr die Realität gegen die Möglichkeit sich verhärtet, um so dringlicher, realer wird jene Idee der Kunst.«24 Weil der Zustand der aktuellen Welt für Adorno alternativlos durch die industrielle und kulturindustrielle Warenwelt geprägt ist, kann die Musik – wie jede andere Kunst – sich nur noch in der Negation bestehender Verhältnisse bewähren: »[H]eute und hier vermag Musik nichts anderes als in ihrer eigenen Struktur die gesellschaftlichen Antinomien darzustellen, die auch an ihrer Isolation Schuld tragen. Sie wird um so besser sein, je tiefer sie in ihrer Gestalt die Macht jener Widersprüche und die Notwendigkeit ihrer gesellschaftlichen Überwindung auszuformen vermag; je reiner sie, in den Antinomien ihrer eigenen Formensprache, die Not des gesellschaftlichen Zustands ausspricht und in der Chiffrenschrift des Leidens zur Veränderung aufruft.«25 Einzig in der Dissonanz, dem Unheimlichen und Abweisenden kann sie sich gegen die herrschenden Verhältnisse stellen, die Harmonie, Einheit und Identität erzwingen, gleichzeitig aber die wahre Welt des Tausches und des Kapitals verschleiern. Sie muss sich dem Bestehenden verweigern, um die Erinnerung an eine nicht vollständig beherrschte Gesellschaft aufrechtzuerhalten: »Kunstwerke sind die Statthalter der nicht länger vom Tausch verunstalteten Dinge, des nicht durch den Profit und das falsche Bedürfnis der entwürdigten Menschheit Zugerichteten.«26 Mit dieser Negation kritisieren sie auch ihre eigene Rationalität und Technizität, das heißt die Rationalität der bürgerlichen Gesellschaft, und werden so zur Kritik an den Verhältnissen im Allgemeinen.27 23 24 25 26 27

Vgl. Middleton 1990: 36, 40, DeNora 2003: 11-12. Adorno 2003d: 167. Adorno 2003a: 731. Adorno 2003b: 337. Vgl. Martin 1995: 87, Figal 1998: 24.

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So wird für Adorno die Musik zu einer Bewahrerin der Idee einer nicht vollständig gegängelten Gesellschaft, die aber nur noch negativ vermittelt zugänglich ist: »In der voll autonomen Musik wird der Gesellschaft in ihrer bestehenden Gestalt opponiert durch die Wendungen gegen die Zumutung der Herrschaft, die in Produktionsverhältnissen sich vermummt. Was die Gesellschaft bedeutender Musik als ihr Negatives ankreiden könnte, ihre Unverwertbarkeit, ist zugleich Negation der Gesellschaft und als solche konkret nach dem Stand des Negierten. Darum ist es der Musiksoziologie verwehrt, Musik so zu interpretieren, als wäre sie nichts als die Fortsetzung der Gesellschaft mit anderen Mitteln.«28 Wer die Neue Musik richtig hört, der hört die Kritik an der Gesellschaft und erhält gleichzeitig einen Hinweis auf die (theoretische) Möglichkeit einer besseren Welt. Die Kompliziertheit und Abstraktheit der Musik schafft zudem eine Distanz zum Hörer, die seine Autonomie nicht in Frage stellt. Anstatt einer effekthaften und unterhaltenden Musik, die dem Hörer keinen Freiraum und keine Auseinandersetzung erlaubt, muss die wahre Musik in Distanz und mit dem Verstand wahrgenommen werden. Da die Musik nur noch negativ und subjektlos auf die bestehenden Verhältnisse verweisen kann, ist für Adorno ihre Aufgabe aber gleichzeitig auch ihr Problem, wie der Kunstwissenschaftler Henk Borgdorff feststellt: »Die verhängnisvolle Entwicklung des musikalischen Materials – das als objektiver Geist seine vormalige Subjektivität vergessen hat – spiegelt die gesellschaftliche Wirklichkeit wider: beide steuern auf einen Zustand zu, in dem die Subjektivität schließlich liquidiert wird. Die musikalische Liquidierung klagt die gesellschaftliche an; ihr negatives Zeugnis ist das des realen Leidens, und das ist ihr Wahrheitsgehalt.«29 So ließe sich die »hohe« Musik nur noch als Klagelied über die bestehenden Verhältnisse beschreiben. Die Theorie der hyperrationalisierten falschen Welt endet in einer dogmatischen Forderung nach einer Kunst, die nur ihre Ablehnung mit allem kundtut.

28 Adorno 1975: 242. 29 Borgdorff 1998: 298-299.

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Adornos unversöhnliche Ablehnung der populären Musik

Wie eng Adorno den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen und ästhetischer Produktion sieht, zeigt sich auch in seinen Beschreibungen der für ihn profanen, kulturindustriell produzierten, populären Musik. Anstatt die »Möglichkeit des Möglichen«30 zu bezeugen, reproduziere sie lediglich die Existenz dessen, was laut Adorno überwunden werden muss. Populäre Musik erscheint Adorno angesichts der von ihm formulierten Anforderungen an zeitgenössische Kompositionen primitiv und rückständig. In der populären Musik erkennt Adorno nur standardisierte und kontinuierlich sich wiederholende Muster, die den Hörer in Einklang mit der falschen Welt bringen sollen. Beim Jazz hört Adorno nur ein statisches Gebilde, das wie ein »physikalische[s] Modell«31 aufgebaut sei, sich nur in einem vorgegebenen Rahmen bewege und diesen durch improvisierte Ausschmückungen nur marginal variiere. Der Ur-Jazz gemahne an das »Vor-sich-hin-Singen […] der Dienstmädchen«32, eine geradezu primitive und wenig entfaltete Musik, die sich das Bürgertum als lebendige Musik aneigne, ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern zu wollen. »Die improvisierte Unmittelbarkeit, die seinen halben Erfolg ausmacht, rechnet streng zu jenem Ausbruchsversuchen aus der fetischisierten Warenwelt, die ihr sich entziehen wollen, ohne sie zu verändern, und darum tiefer nur in ihre Verstrickung hineinziehen.«33 Für Adorno ist populäre Musik vor allem eines: standardisiert.34 Selbst in anspruchsvolleren Jazz-Stücken kann Adorno immer nur die einfache Umsetzung von musikalischen Problemen erkennen, die die formale, europäische Musik schon seit Langem auf höherem Niveau gelöst habe. Die populäre Musik bleibe gefangen in ihrem vorgegebenen Aufbau, die dem Hörer erlaube, den extravaganten Klang als »Substitut für einen ›normalen’« zu erkennen: »[…] und während er sich an der Mißhandlung freut, welche die Dissonanz der Konsonanz angedeihen läßt, für die sie eintritt, garantiert die virtuelle Konstanz zugleich, daß man im Kreise verbleibt.«35 30 31 32 33 34 35

Adorno 2003b: 200. Adorno 2003e: 76. Ebd.: 83. Ebd. Vgl. Adorno 1990. Adorno 2003f: 38.

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Wichtigstes Element der Degradierung von künstlerischen Werken zu Vollzugsgehilfen eines Status Quo des kapitalistischen Wirtschaftssystems und zur kompletten Manipulation ihres Publikums ist für Adorno ihre Transformation zu Waren. Der Markt reduziere die Kultur auf Gegenstände, bei denen nur noch zähle, ob und wie sie sich verkaufen lassen, ohne dass es um die Qualität oder den Gebrauchswert des Werkes ginge. Jede Form der populären Musik ist für Adorno von vornherein diskreditiert, weil sie als Ware gehandelt wird und so keine autonome Entwicklung durchmachen könne, sondern sich nur dem Marktgesetz konform erweise. Jede Variation oder Improvisation diene in der populären Musik allein dazu, zu verschleiern, dass es sich letztlich doch um genormte Warenartikel handle.36 Eine stereotype Produktion erschaffe das Immergleiche durch minimale Variationen nach einem Baukastenprinzip, das praktisch keine Tiefe, Qualität oder Idee besitze. Gerade die leichten Abweichungen vom Standard, die populäre Musik kennzeichnen sollen, verhinderten, dass die standardisierte Musik als solche erscheine. Es entstehe eine prästabilisierte Harmonie zwischen Produzenten und Konsumenten, die keine neuen Erfahrungen oder tatsächliche Veränderungen mehr zulasse.37 Aus der Bindung an die Warenproduktion folgt für Adorno, dass die populäre Musik nicht von einem »autonomen Formgesetz« bestimmt wird. Es zählt einzig die Funktion, die die Musik erfüllen soll.38 In der »hohen«, für Adorno einzig als Kunst geltenden Musik sind die einzelnen Teile und jedes Element eines Werkes verbunden mit der Gesamtheit des Stückes, wie umgekehrt das ganze Stück vorgibt, wie die einzelnen Teile aufgebaut sein müssen. Die einzelnen Melodien, Ideen oder Harmonien in populären Musikstücken seien hingegen austauschbar und verwiesen nicht auf die Grundstruktur, in der sie verwendet werden. Gerade indem sie vorgibt, immer wieder neu zu sein, reproduziere die populäre Musik das Immergleiche. Statt wahrer Individualisierung bedinge sie eine Pseudo-Individualisierung, die den einzelnen in die Masse eingliedere, wo er glaube, ein unverwechselbar Einzelner zu sein. Populäre Musik beruhe, wie andere Produkte der Kulturindustrie auch, auf einem simplen Reiz-Reaktionsschema, sie fungiere als »somatische Stimulans«39, der sich die Konsumenten nicht entziehen können, weil ihre psychologischen Dispositionen, bereits entfremdet durch den Arbeitsprozess, dies nicht zulassen.40 So erziele diese Musik Effekte, 36 37 38 39 40

Vgl. Adorno 2003e: 78. Vgl. Adorno 1990: 310. Vgl. Adorno 2003e: 76. Adorno 2003b: 177. Daraus lässt sich auch ableiten, warum aus der Sicht Adornos er selber in der Lage ist, die vollständige Manipulation durch die Kulturware aufzudecken. Seine Stellung im

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denen sich der Einzelne im Hören nur unterordnen könne.41 Adorno geht so weit, bei der populären Musik vom »masochistic adjustment to authoritarian collectivsm«42 zu sprechen. Das Perfide der populären Musik sei die Verheißung einer Befriedigung und der Vorgaukelung einer idealisierten Welt, die ihr Konsum gerade verhindere: »Der verwaltete und veranstaltete Rausch hört auf, einer zu sein. Was immerzu als exzeptionell sich anpreist, stumpft ab: die Feste, zu welchen die leichte Musik ihre Anhänger unter dem Namen des Ohrenschmaus permanent einlädt, sind der triste Alltag.«43 Die populäre Musik richtet sich an die atomisiert Vereinzelten in der Gesellschaft, die der Konsum nicht mündiger macht. Populäre Musik ist für Adorno Teil eines Verblendungszusammenhangs, der den Menschen sich selbst entfremde, ihm das Nachdenken austreibe und ihm vortäusche, dass es um die Welt richtig bestellt sei, »da sie eine solche Abundanz von Erfreulichem gewährt«.44 Die Folge ist eine Affirmation der bestehenden Verhältnisse, die gerade durch das Versprechen des Bruchs mit ihnen hergestellt wird: »Nicht nur appellieren die Schlager an eine lonely crowd, an Atomisierte. Sie rechnen mit Unmündigen; solchen, die des Ausdrucks ihrer Emotionen und Erfahrungen nicht mächtig sind […]. Sozial werden von den Schlagern entweder Gefühle kanalisiert, und dadurch anerkannt, oder sie erfüllen stellvertretend die Sehnsucht nach solchen. Das Element des ästhetischen Scheins, die Abhebung der Kunst von der empirischen Realität, wird in ihnen dieser zurückerstattet, indem der Schein im tatsächlichen psychischen Haushalt für das eintritt, was den Hörenden real versagt ist.«45

41 42 43 44 45

Wissenschaftsbereich, durch die er nicht vollkommen unter die Kapitalinteressen gestellt ist, in Kombination mit der adäquaten Theorie ermöglicht ihm eine nicht komplett entfremdete Betrachtung der Welt. Die Implikation dieses Arguments ist fatal: Weil nur noch einer bestimmten Wissenschaftselite der unverstellte Blick auf die Welt möglich ist, sind alle, die eine andere Meinung vertreten, schon durch die Welt infiziert, die sie angeblich neutral beschreiben. So macht er sich unangreifbar und fällt in die Falle des hegelianischen Systems, das nur zutrifft, wenn man es als zutreffend voraussetzt. Seine Theorie wird dadurch genau zu dem, was sie vorgibt zu bekämpfen: zur Ideologie. Vgl. Witkin 2003: 85. Adorno 1990: 312. Adorno 1975: 39. Ebd.: 58. Ebd.: 41.

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Gerade die ungegenständliche und unrepräsentative Musik sei prädestiniert, für die Ideologie des Bestehenden missbraucht zu werden und sich in eine »Teufelsfratze der Transzendenz«46 zu verwandeln. Die Unterhaltungsmusik verspreche einen Reiz und Genuss, »bloß um ihn zugleich zu verweigern«.47 Deshalb ist für Adorno die von einer Kulturindustrie bereitgestellte Kultur nichts anderes als ein Beherrschungsinstrument. Die populäre Musik wird als ein Mechanismus bestimmt, der ihren Hörern zum einen kurzzeitige Befreiung von der Arbeitswelt und ihren inhärenten Zwängen gewährt, sie zum anderen aber auf hinterhältige Weise betrügt, indem sie ihnen Individualität suggeriert, sie aber tatsächlich auch in ihrer Freizeit unter das Diktat der Kapitalinteressen stellt und zugleich verhindert, dass sie sich ihrer tatsächlichen Situation bewusst werden.

Kritik an Adornos Konzept

Ein zentrales Problem bei Adorno ist seine esoterische Vorstellung der ›richtigen‹ Musikproduktion.48 Er behandelt Musikwerke wie Theorien, die wahr oder falsch sein können, wobei sie nicht mittels Thesen und Argumenten denotativ, sondern durch ihre Form mimetisch auf die Welt verweisen. Der Soziologe Robert W. Witkin hat behauptet, Adorno gäbe keine Geschmacksurteile über Musik ab, da sein Maßstab die politischen und moralischen Implikationen einzelner Musikwerke seien. Ebenso wenig verurteile er den Geschmack der Konsumenten popkultureller Erzeugnisse, da die moderne Gesellschaft das Individuum so weit entfremdet habe, dass es zu genuin eigenen Geschmacksurteilen nicht länger in der Lage sei.49 Dabei verbindet Adorno jedoch, diesen Punkt unterschlägt Witkin, soziologische Analysen und ästhetische Urteile. Beides geht ständig und direkt ineinander über, weil Adorno Musik gleichzeitig als Manifestation gesellschaftlicher Verhältnisse und als eigenständiges Werk versteht. Eben diese Spannung ist es, die dem Kunstwerk seine dialektische Bedeutung zukommen lassen soll. Für Adorno ist die ästhetische Kritik auch ihre soziale Beschreibung, denn er setzt gleichzeitig die Maßstäbe für die richtige Gesellschaft und die richtige Musik. Die richtige Theorie und die richtigen Werke verweisen aufeinander, sie illustrieren das Gleiche auf

46 47 48 49

Ebd.: 61. Adorno 2003f: 15. Vgl. Witkin 1998: 11. Vgl. Witkin 2003: 1, 55, 89.

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unterschiedliche Weise. Adorno weiß laut Witkin deshalb immer schon vorher, welche Wirkung die jeweilige Musik haben wird: »Because Adorno had developed a general theory of the different relations that art works could have to modern society – from those he approved to those he disapproved – he could claim to know in advance what were the consequences for the social formation of the structural relations of a given type of music.«50 Wenn aber die Theorie von Adorno die Legitimation einer bestimmten Ästhetik liefert, aus der folgt, dass nur die Werke von Beethoven und der Schönberg-Schule als Kunst gelten, andererseits diese Stücke als Vorbild der Theorie dienen, die es zu entwickeln gilt, dann ergibt sich ein geschlossenes System, zu dem es keinen externen Zugang gibt. Auch wenn man der Zuschreibung einer herausragenden Qualität einzelner Werke nicht widersprechen möchte, ist damit noch nicht gesagt, dass sie den einzigen oder richtigen Maßstab ›guter‹ Musik darstellen. Adorno kann seine Setzung einer bestimmten Musik als einzig richtige nicht unabhängig von der Kultur begründen, in der er sich selbst bewegt, weil sie von dieser selbst hervorgebracht wird. Richard Middleton schreibt: »Thus the idea of this privileged type of music is a product of the very culture of which the music is part. Indeed, this ›autonomous music‹ is affixed in its own way to bourgeois culture just as its ›functional‹, ›commercial‹ contemporaries are, in theirs. The very concept of autonomous music, defined this way, is a construct of the culture.«51 Es gibt keinen Grund, warum Musik aus anderen Zusammenhängen nicht ein vergleichbares Niveau erreichen oder warum man die Qualität von Musik nicht auch nach anderen Kriterien bewerten kann, als denen, die Adorno vorgeschlagen hat. Seine Kriterien für »gute« und »große« Musik, wie das der rationalen Durchgestaltung oder der negativen Überhöhung gesellschaftlicher Verhältnisse, können nicht ohne weiteres Allgemeingültigkeit beanspruchen.52 Hinzu kommt, dass die »richtige Ästhetik« nicht aus dem Stand der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, der Entwicklung des Weltgeistes oder des rationalen Fortschritts abgeleitet werden kann. Nicht, weil es keinen Zusammenhang zwischen den polit-ökonomischen 50 Witkin 1998: 194. 51 Middleton 1990: 41. 52 Vgl. Middleton 1990: 55, Witkin 1998: 192, DeNora 2003: 25-28.

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Entwicklungen und der Ästhetik gibt, sondern weil dieser Zusammenhang nicht die eine richtige oder einzig mögliche wissenschaftliche oder ästhetische Beschreibung bedingt. Die Pluralität der Weltbeschreibungen und ihrer Aneignungen ist nicht vollständig determiniert durch die Verhältnisse, die sie hervorbringen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Adorno seine Taubheit gegen jeden ästhetischen Ausdruck, der seinem philosophischen System und seinen ästhetischen Präferenzen widerspricht, in einer Verabsolutierung dieser letztlich kontingenten und aus seiner musikalischen Sozialisation kommenden Setzungen zu kaschieren versucht. Adorno erweist sich mit dieser Argumentation weniger als Wissenschaftler denn als Kritiker, der von seinen ästhetischen Präferenzen für bestimmte Musik auf deren soziale Qualität als Manifestation des kritischen Geistes schließt.53 Diese Kurzschließung aus ästhetischem Urteil und normativer Bewertung gilt es unter allen Umständen zu vermeiden, um nicht eurozentristische und letztlich willkürliche Qualitätsurteile in wissenschaftliche Erkenntnisse zu verkleiden. Bei der Analyse der populären Musik fällt auf, dass Adorno Mühe hat, einzelne Musikstile korrekt voneinander zu unterscheiden.54 Schlagermusik, Jazz oder Kompositionen von Johann Strauss scheinen für Adorno ihrer Form nach nahezu identisch zu sein.55 Bei Jazzmusik glaubt er nicht viel mehr als eine Verbindung von Salon- und Marschmusik zu hören. Und in seinen »Ideen zu Musiksoziologie« bekennt er, dass es ihm nicht möglich sei, die leichte Musik zu analysieren, weil jedes Stück dem anderen gleiche.56 Adorno lässt sich in seiner Einschätzung der populären Musik von einem Idealtyp leiten, dem er unterstellt, dass sich alle Popsongs an ihm bewerten lassen, da die Unterschiede marginal seien.57 Eine derart indifferente und einseitig gefärbte Charakterisierung von populärer Musik muss oberflächlich bleiben. Sie ist nicht nur blind für ihre innere Differenzierung, sondern auch für ihre Entstehungsgeschichte, die Einbindung in soziale Verhältnisse und die Bedeutungen, die sie transportiert. Adornos Hauptkritik an populärer Musik ist, wie gezeigt, ihre unterstellte Simplizität und Gleichheit. Diese These formulierte er schon Anfang der 1930er Jahre. Zu dieser Zeit bezog er sich vor allem auf die Produktion populärer Musik aus den USA. Nicht ganz zu Unrecht kritisierte er, dass sie jeweils auf ähnlichen Strukturen und Textinhalten aufbaute und nur durch minimale Veränderungen gekennzeichnet war. Bis heute 53 54 55 56 57

Vgl. Martin 1995: 119. Vgl. Adorno 2003a: 768. Vgl. Martin 1995: 118. Adorno 2003g: 22. Vgl. Middleton 1990: 54.

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lässt sich beobachten, dass die Industrie beim Erfolg einer bestimmten Musikrichtung oder einer bestimmten Art von Performance sehr schnell weitere Künstler mit ähnlichem Stil, Aussehen oder ähnlicher Darbietung anbietet, sodass es schwerfallen kann, Unterschiede zwischen diesen festzustellen. Adornos Kritik, dass viele Popmusikstücke ähnlich klängen, basiert jedoch zum einen auf der Unkenntnis der grundlegenden Struktur vieler populärer Musikstücke, die sie von der europäischen Kunstmusik unterscheidet, zum anderen unterschätzt er die Vielfalt der Angebote, die die Musikindustrie produziert. Die Anerkennung eines variablen und vielfältigen populären Musikangebots muss nicht unbedingt einen Bruch mit Adornos Überlegungen bedeuten.58 So kommt es vor, dass Adornos Einschätzung der populären Musik als einseitig zurückgewiesen wird, gleichzeitig die Unterscheidung in schlechte, das heißt affirmative, und gute, das heißt widerständige Musik aufrechterhalten wird.59 Eine solche Übertragung auf den Bereich der populären Musik birgt jedoch ebenso die Gefahr, die eigenen, letztlich kontingenten, ästhetische Präferenzen mit einer politischen Interpretation zu untermauern. Hinzu kommt ein weiterer Faktor: Wer die Tradition der ästhetischen Bewertung im Sinne Adornos auf die populäre Musik überträgt, muss seine Werturteile in Beziehung zu einem hochvolatilen Musikmarkt setzen. Wenn Kunst bei Adorno, wie der Philosoph Günter Figal es formuliert, in eine »Überbietungsdynamik der aufgeklärten Rationalität«60 verfällt, dann muss die Analyse populärer Musik in ein Wettrennen mit der Musikindustrie eintreten. Eine grundsätzliche, kritische Reflexion wird so unmöglich, weil die neue Musik und die jeweilige situative Gesellschaftsanalyse zur ständigen Revidierung vorheriger Positionen nötig. Hier zeigt sich, dass die Hauptgefahr auch der Fortschreibung der Gedanken Adornos in einer undifferenzierten Überlagerung und Verschmelzung von Werturteilen und Analyse liegt. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft Adornos Vorstellung des Konsums von Musik. Adorno hat den Konsum von Musik zwar nicht außer acht gelassen, aber er macht an mehreren Stellen deutlich, dass der Hauptfokus der soziologischen Analyse von Musik sich auf die Produktion von Musikwerken richtet. Im Hören der Musik gilt es, die Bedeutung aus dem Werk zu extrahieren, oder mit den Worten Middletons: »For Adorno, then, the meaning of musical works is immanent; our role is to decipher it.«61 58 59 60 61

Vgl. Krims 2003: 139. So zum Beispiel Behrens 1996 und Diederichsen 2000: III-VII. Figal 1998: 29. Middleton 1990: 59.

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Aber Adorno weiß nicht nur, dass Musik ein ästhetischer Modus der Erkenntnis ist, sondern weiß auch schon vor dem Hören, welche Erkenntnis die Musik liefern soll. Und die Umsetzung dieser Erkenntnisse wird mit ästhetischer Qualität identifiziert. Die dialektische Argumentation von Adorno kann nur dann aufgehen, wenn die Verbindung von richtiger Erkenntnis und richtiger Umsetzung in der Ästhetik gesetzt wird. Für eine soziologische Analyse von Musik ist die Fixierung auf den Erkenntnisgewinn durch Musik unbefriedigend, weil dies nur einen von vielen Zugängen zu Musik markiert, der in keiner Weise in Anspruch nehmen kann, der einzig richtige zu sein. Darüber hinaus zementiert Adorno seine hermetische Welt- und Musikdeutung durch die These, dass die wahre Erkenntnis der Werke von Beethoven oder Schönberg nur demjenigen gelingt, der über die Fähigkeit des richtigen Hörens verfügt, was darauf hinausläuft, nicht nur über den richtigen theoretischen Zugang, sondern auch über die höchsten musikalische Fähigkeiten zu verfügen. Zugespitzt heißt das: Es gibt letztlich nur einen Hörer auf der Welt, der dazu in der Lage ist: Adorno selbst. Jede Art von Musik und jeder Konsumakt von Musik, die nicht in Adornos Schema passen, werden der falschen Totalität einer verwalteten und durchkapitalisierten Welt zugerechnet. Aber diese Bestimmung ist, wenn überhaupt, nur innerhalb seines theoretischen Systems zutreffend. Degradiert man den Konsumenten von Kultur zum passiven Opfer, wird die Möglichkeit eines wie auch immer gearteten individuellen oder selbständigen Umgangs mit Kulturgütern ausgeschlossen. Die Möglichkeit divergenter ästhetischer Zugänge zu Musik, die Problematik adäquater ästhetischer Urteile und die soziologisch relevante Frage nach der variablen Aneignung und Verwendung von Musik bleiben durch das ästhetische Urteil Adornos präfiguriert und theoretisch unterentwickelt. Dies läuft auf eine deterministische Theorie hinaus, in der die polit-ökonomischen Verhältnisse einseitig die Kultur bestimmen und der Konsum keinen eigenständigen Faktor gesellschaftlicher Entwicklung mehr darstellt.

Repetition und Komposition bei Attali

Eine wichtige Erkenntnis von Adorno ist das unauflösbare Zusammenspiel von populärer Musik und ihrem Verkauf als Ware. Der Warencharakter hat direkten Einfluss auf die Produktion und Distribution dieser Musik und bindet sie ein in marktwirtschaftlich organisierte Gesellschaften. Der Warencharakter aktueller Musikproduktionen steht auch im Vordergrund der Musiktheorie von Jacques Attali. Sie hat in den letzten Jahren maßgeb-

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lich dazu beigetragen, die Debatte um den Repräsentationscharakter von Musik über den engen Kreis der Musikwissenschaft hinaus zu tragen. Ähnlich wie bei Adorno und Shepherd entwickelt sich die Rahmung von Musik bei Attali parallel zu den politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen, in denen sie entsteht. Attali überbietet sogar Adornos These der Repräsentation von Gesellschaft durch Musik: Er betrachtet sie als Herold zukünftiger Bedingungen, da sich das musikalische Material leichter und schneller variieren lasse als die schwerfälligen Institutionen der Gesellschaft: »It heralds, for it is prophetic. It has always been in its essence a herald of times to come. […] if it is true that the political organization of the twentieth century is rooted in the political thought of the nineteenth, the latter is almost entirely present in embryonic form in the music of the eighteenth century.«62 So entspricht die Ordnung von Geräuschen zu Musik der (zukünftigen) Ordnung der Gesellschaft.63 Musik bildet für Attali nicht nur ein Repräsentationsmedium gesellschaftlicher Verhältnisse, sie ist auch ein Machtinstrument, das Gemeinschaften kanalisiert und steuert. Seine Kontrolle, wie die Kontrolle von Klängen und Geräuschen allgemein, bedeutet auch die Möglichkeit, Abweichendes oder der bestehenden Ordnung Widersprechendes zu marginalisieren oder zu verhindern. »All music, any organization of sounds is then a tool for the creation or consolidation of a community, of a totality. It is what links a power center to its subjects, and thus, more generally, it is an attribute of power in all of its forms. Therefore, any theory of power today must include a theory of the localization of noise and its endowment with form.«64 In einer kapitalistischen Gesellschaft erfolge die Kontrolle weniger über Zensur, denn über die Gesetze der politischen Ökonomie.65 Durch das Prinzip der Wiederholung und Reproduktion entstehe, auch hier folgt Attali offensichtlich Adorno, nur noch bedeutungslose Musik: Ihr Gebrauchswert ginge vollständig verloren und werde durch die Dominanz des Tauschwerts ersetzt. 62 63 64 65

Attali 1996: 4. Vgl. ebd.: 5. Ebd.: 6. Vgl. ebd.: 8.

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»In the most modern sectors of our societies, exchange has destroyed usage, and surplus-value is spent to remunerate the producers of molds and to create a semblance of use-value for the objects that are mass-produced.«66 Musik diene nicht länger der Repräsentation oder dem Spektakel. Sie werde nur noch massenhaft produziert, ohne etwas zu bedeuten und ohne etwas zu verändern. Ähnlich wie Jean Baudrillard sieht Attali in den Reproduktionstechniken einen Mechanismus, der dazu führt, dass immer mehr produziert wird – eine kontinuierliche Wiederholung des Immergleichen. Als Ware werden Tonträger angehäuft, es ginge aber schon lange nicht mehr darum, sie zu hören, sondern nur noch darum, sie zu besitzen. »The major contradiction of repetition is in evidence here: people must devote their time to producing the means to buy recordings of other people’s time, losing in the process not only the use of own their time, but also the time required to use other people’s time. Stockpiling then becomes a substitute, not a preliminary condition, for use. People buy more records than they can listen to. They stockpile what they want to find the time to hear. Use-time and exchange-time destroy one another.«67 Die Verwendung von iPods und Downloads aus dem Internet bestätigen Attalis Einschätzung. Die Möglichkeit jederzeit und an jedem Ort auf Zehntausende von Musikstücken zugreifen zu können, macht es aussichtslos, die Musik in ihrer Gesamtheit zu hören. Dazu kommt die kontinuierlich wachsende Menge an neuen Musikproduktionen. Die Digitaltechnik ist das perfekte Medium, um repetetive Musik zu produzieren und zu distributieren. Das führt auch dazu, dass Musik allgegenwärtig ist und komplett in den Alltag integriert wird. Für Attali ist die Wirkung dieser Ausbreitung eindeutig: Die Musik wird leer und bedeutungslos und zielt nur noch auf Kontrolle ab. »Mass music is thus a powerful factor in consumer integration, interclass leveling, cultural homogenization. It becomes a factor in centralization, cultural normalization, and the disappearance of distinctive cultures. […] It slips into the growing spaces of activity void of meaning and relations, into the organization of our everyday life: […] [m]usical repetition confirms the presence of repetitive consumption, of the flow of noises as ersatz sociality.«68 66 Ebd.: 42. 67 Ebd.: 101. 68 Ebd.: 111.

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Attalis Beschreibung der Phase der Wiederholung entspricht in vielem der Charakterisierung des aktuellen Zustands der Gesellschaft von Lefebvre. Die Musik der Wiederholung passt gut in das Muster eines abstrakten Raums, der mit Inhalten gefüllt wird, um seine eigentliche Struktur unkenntlich zu machen. Das Alltagsleben wird genauso wie für Lefebvre durch die Warenwelt zerstört und kontrolliert. Seine Beschreibung der aktuellen Musik könnte auch dem abstrakten Raum gelten: »Fetishized as a commodity, music is illustrative of the evolution of our entire society: deritualize a social form, repress an activity of the body, specialize its practice, sell it as a spectacle, generalize its consumption, then see to it that it is stockpiled until it loses its meaning.«69 Attali sieht erste Anzeichen einer neuen Phase der Musikproduktion, die er als »Komposition« bezeichnet. So sieht er im Free Jazz und im Anstieg an kleinen Orchestern und Amateurgruppen neue Musikformen in der Entstehung, die kollektiv und ohne kommerzielle Interessen Musik machen, die zur Kommunikation und Teilhabe einladen.70 Bei der »Komposition« werde Musik wieder zum Machen, zu etwas Lustvollem, in dem der Körper nicht länger ein Objekt darstellt. Sie erhalte ihren Gebrauchswert zurück und es entstehe ein Spiel, in dem es zu einem echten körperlichen Austausch komme.71 Attalis Konzept ist eindimensional, weil es jeweils einen zentralen gesellschaftlichen Wirkfaktor mit einer Art der Ordnung von Musik gleichsetzt und alle weiteren Entwicklungen, sowohl in der Gesellschaft wie in der Musik, unberücksichtigt lässt. So wird die Musik in der Phase der »Wiederholung« als ein homogener Block beschrieben, dessen Inhalt irrelevant ist, weil der Massencharakter und seine Lösung von Ritual und Repräsentation für die fragmentierte Gruppe der Käufer der Tonträger nur noch einer Simulation von Gemeinschaft dient. Auf diese Weise determiniert die technisierte Ökonomie die Musik.72 Genau das widerspricht nicht nur der These von Attali selbst, dass die Musik Vorläufer zukünftiger Gesellschaftsentwicklungen ist, es homogenisiert jede Art von Musik, da sie alle nach dem gleichen Produktionsprinzip funktionieren. Attalis Ansatz steht erneut für eine enge Verbindung von Musik und Gesellschaft. Aber ähnlich wie bei Adorno erscheint die Musik letztlich bestimmt durch die ökonomischen Rahmenbedingungen ihrer Produktion. 69 70 71 72

Ebd.: 5. Vgl. ebd.: 138. Vgl. ebd.: 143. Vgl. Taylor 2001: 5.

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Erkennt Adorno in der widerspenstigen, modernen Musik der SchönbergSchule einen Einspruch gegen die industrialisierte Massengesellschaft, sieht Attali in Musik, die durch Improvisation, das Ungeordnete und das Kollektive gekennzeichnet ist, sogar ein neues Zeitalter in der Entstehung. Freie, kollektive Kompositionen und das Prinzip der Repetition stehen jedoch nicht zwangsläufig im Widerspruch zueinander, wie das in Kapitel 2 diskutierte Beispiel der Erschaffung äußerst repetetiver Tanzmusik auf kollektiver Basis im Internet zeigte. Andererseits lassen sich Formen von improvisierter, kollektiver und ›unordentlicher‹ Musik nicht erst im Free Jazz entdecken. Und Free Jazz eignet sich wiederum sehr wohl dazu, als Ware verkauft zu werden. Repräsentationstheorien der Musik, das zeigt sich erneut bei Attali, haben das grundsätzliche Problem, eine bestimmte Sichtweise der gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Musik zu einem gegebenen Zeitpunkt zu projizieren. Zu Unrecht wird dann eine Pluralität von Musikformen unter ein allgemeines Prinzip subsumiert. Attalis Ansatz ist, ebenso wie der von Adorno und Shepherd, zu grob, um der jeweiligen Nutzung und den vielfältigen Ausprägungen von Musik gerecht zu werden. Musikproduktion und -konsum werden eher an ein Erklärungsraster angepasst, als dass aus der Musik abgeleitet wird, welche soziale Rolle sie spielt. Auch hier gilt, dass die jeweilige Entstehung und Nutzung der Musik mit zu berücksichtigen ist, wenn ihre Bedeutung und Wirkung erfasst werden soll. Dazu bedarf es aber einer Betrachtungsweise von populärer Musik, in der ihre Qualität nicht einfach nur negiert oder postuliert wird, weil sie vermeintlich in einem bestimmten Verhältnis zum kapitalistischen System steht. In einer solchen Untersuchung ist die Bewertung von gut und schlecht zu ersetzen durch die Analyse der Wirkungen und Folgen, die Musik hat. Dazu müssen, stärker als Adorno, Attali und Shepherd dies tun, die Kontexte, in denen Musik produziert und konsumiert wird, Berücksichtigung finden. So hat sich bei der Analyse der Entstehung urbaner populärer Musikstücke ja bereits gezeigt, wie das städtische Umfeld Einfluss auf die Musikproduktion nimmt. So wichtig der Hinweis von Adorno und Attali auf die ordnende und Wünsche kanalisierende Funktion massenhaft produzierter Musik ist, es muss auch hier genauer untersucht werden, wie die Produkte dieser Industrie tatsächlich wirken. Dabei stellt sich auch die Frage, was die Musik als ein Medium letztlich transportiert. Es gilt also eine Theorie zu entwickeln, die sowohl die musikinhärenten Bedeutungsrahmungen, als auch die Wirkung im Konsum berücksichtigt. Mit einer solchen Orientierung verlässt man allerdings die enge Welt der musikimmanenten

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Analyse von Adorno oder der simplen Gleichsetzung von massenhaft produzierter Musik mit der kompletten Entleerung von Bedeutung.

Fazit: Ästhetische Werturteile

Repräsentationstheorien wie die von Adorno und Attali, ebenso wie die im vorangegangenen Kapitel diskutierte Theorie von Shepherd, haben das grundsätzliche Problem, ihre Sichtweise der gesellschaftlichen Verhältnisse der Musik einer bestimmten Zeit aufzuoktroyieren. Zu schnell wird dann die Musik unter ein allgemeines Prinzip subsumiert. Das ist besonders bei Adorno verwunderlich, der ansonsten in fast allem eine polare Dynamik zu erkennen vermag. Bei seiner Gegenüberstellung von populärer und moderner klassischer Musik kommt die Dialektik jedoch abrupt an ihr Ende. Aus der Analyse von Theorien zum repräsentationellen Charakter der Musik lässt sich zunächst nur ein negatives Fazit ziehen, weil die Theorien nicht zeigen können, dass die unterstellte Beziehung zwischen Gesellschaft und Musik in der Weise besteht, wie sie es postulieren. Sie erwiesen sich stattdessen als äußerst anfällig für ästhetische Werturteile, die nicht aus der Analyse der Musik selbst resultieren, sondern aus den theoretischen Prämissen, die diese anleitet. Um eine Verbindung zwischen Stadt und Musik nicht vollständig aufzugeben beziehungsweise die Bedeutung der Musik nicht ausschließlich auf der Ebene von Konnotationen, das heißt, außerhalb ihrer Nutzung, zu verorten, lässt sich jedoch fragen, ob Adornos These einer gesellschaftlichen Wirkung auf die Form der Musik nicht einen sinnvollen Ansatzpunkt darstellt. Es gilt dann jedoch, die Bewertung von gut und schlecht zu ersetzen durch eine Analyse der Wirkung, die eine in den Alltag integrierte Musik besitzt.

7. Lärm, Klanglandschaft, Montage. Populäre Musik und städtische Umgebung We like noise, it’s our choice Sex Pistols1

In den vorangegangenen Kapiteln ist deutlich geworden, dass die bestehenden Repräsentationstheorien zur Musik zwar Hinweise auf den Zusammenhang von Gesellschaft und Musik geben, aber insgesamt kein tragfähiges Konzept zur Repräsentation von Musik anbieten. Ein bisher noch nicht gewählter Zugang zur Verbindung von Stadt und Musik, der in diesem Kapitel ausgearbeitet werden soll, besteht in der Suche nach Ähnlichkeiten zwischen grundsätzlichen Prinzipien der Musik und der städtischen Umgebung, in der sie entsteht. Im ersten Abschnitt wird die These eines möglichen Zusammenhangs von ästhetischen Prinzipien und städtischer Umgebung herausgearbeitet. Um einen Zusammenhang zwischen Musik und urbanem Umfeld herstellen zu können, wird im zweiten Abschnitt das Soundscape-Konzept von Murray Schafer vorgestellt und seine These diskutiert, dass städtische Klangräume durch Lärm geprägt sind. Im dritten Abschnitt folgt der Vorschlag, das Augenmerk auf eine Korrespondenz zwischen den Klangeigenschaften von Städten und populärer Musik zu richten. Dazu wird auch auf die Entstehung der Lärmmusik der Futuristen eingegangen. Der vierte Abschnitt stellt zwei Prinzipien vor, durch die es zu formalen Korrespondenzen mit dem Stadtraum kommt: die Verwendung von Geräuschen und die Überlagerung von Tonspuren.

1

»Seventeen«, 1977.

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Die Beeinflussung von ästhetischen Prinzipien durch die städtische Umgebung

Seit die populäre Musik in der Stadt angekommen ist, wird der städtischen Umgebung Einfluss auf die Musik zugesprochen. Schon Blues und Jazz gelten für Amiri Baraka als Reflex auf das Stadtleben: »Der Blues und der am Blues orientierte Jazz der neuen Stadtbewohner war härter, unbarmherziger und vielleicht sogar stoischer und hoffungsloser als die früheren Formen. Er trug die Spuren der Rauheit und der Armut des »Großstadtlebens« und war eine geschicktere, raffiniertere Musik, wie auch die Menschen dieser Städte geschickter und raffinierter waren. Mietskasernen, organisierte Slums, Schnapsbuden und die Knochenschinderei in den Eisenhütten, Fabriken und Docks prägten diese Musik.«2 Entsprechend hört die Soziologin Katie Milestone im Punk und PostPunk die Destruktion des städtischen Raums heraus: »The hard-edged grimness of a declining industrial landscape was in many ways inspirational in generating the angry post-punk sounds. The destructive aspects of punk and post punk echoed the destruction of the landscape, the disused warehouses and factories provided ideal sites for bands to rehearse in and as backdrops for promo videos and other visual images.«3 Obwohl in solchen Thesen eine eindeutige Verbindung zwischen Musik und Stadtraum hergestellt wird, ist nicht geklärt, wie und warum die Stadt Eingang in die Musik findet. Ein einfacher wie plausibler Vorschlag zum Wirkungszusammenhang von städtischen Umgebungen und Ästhetik ist für die bildende Kunst gemacht worden, die genauso wie alle anderen Künste im 20. Jahrhundert unter dem Erfahrungshorizont der umfassenden Industrialisierung und Urbanisierung steht.4 Danach manifestiert sich die Wirkung des städtischen Umfelds am wenigsten in der einfachen Darstellung seiner Veränderungen in Bildern. Wichtiger als der Inhalt der Darstellung ist die Art und Weise, in der dies geschieht, mit anderen Worten, und entsprechend der Erkenntnis von Adorno, die Form, die die Darstellung annimmt. 2 3 4

Baraka 2003: 121. Milestone 1996: 101. Vgl. Neumeyer 1999: 241.

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Die neue Stadt, so der Soziologe Graeme Gilloch, bedurfte auch einer neuen Art der Repräsentation sowie einer neuen Sensibilität und Praxis der Künstler, die nur auf diese Weise die Veränderungen des städtischen Raums einholen konnten.5 Arnold Hauser weist auf die Veränderungen hin, die die neuen Erfahrungen der Stadträume Anfang des 20. Jahrhunderts erzeugen und die im Impressionismus zu einer neuen Form der Malerei führten: »Der Impressionismus ist eine par excellence städtische Kunst, und zwar nicht nur weil er die Stadt als Landschaft entdeckt und die Malerei vom Lande in die Stadt zurückbringt, sondern auch weil er die Stadt mit den Augen des Städters sieht und auf die Eindrücke von außen mit den überspannten Nerven des modernen technischen Menschen reagiert. Er ist ein städtischer Stil, weil er die Wandelbarkeit, den nervösen Rhythmus, die plötzlichen, scharfen, sich aber zugleich wieder verwischenden Eindrücke des städtischen Lebens schildert.«6 Genauso hatte schon Baudelaire Mitte des 19. Jahrhunderts den Maler Constantion Guy aufgrund seiner schnell gezogen Pinselstriche als Maler der Moderne gelobt, der durch seine Malweise den dynamischen Charakter der Stadt einfinge.7 Einschränkend ist anzumerken, dass es überzogen wäre, die gesamte bildende Kunst alleine aus ihrer Bindung an städtische Umgebungen heraus zu erklären. Ein großes Bündel weiterer Einflussgrößen würde verloren gehen und schlimmstenfalls eine einfache Kausalerklärung zwischen Stadtraum und Formen der bildenden Kunst übrig bleiben. Zu erinnern ist an das im zweiten Kapitel vorgestellte dreidimensionale Raummodell von Lefebvre. Wie gezeigt wurde, sind Kunstwerke in der dritten Raumdimension, den Räumen der Repräsentation, zu verorten. Lefebvre erkennt zum Beispiel in Picassos kubistischem Werk einen Vorboten der Durchsetzung des modernen, abstrakten Raums, der gleichzeitig homogen und zerbrochen ist.8 In Picassos Werken zeige sich 5 6 7 8

Vgl. Gilloch 1996: 133. Hauser 1967: 929. In Baudelaires »Salon de 1846« nach Gilloch 1996: 133. Dazu kommt für Lefebvre (1991: 125) die Konstruktion in der zweiten Raumdimension der Repräsentationen von Räumen. Besonders das Bauhaus habe ein abstraktes Raummodell miterschaffen, weil es eine komplett rationale, homogene und rein funktionale Art des Bauens und eine ganzheitliche Betrachtung des zu bebauenden Raums initiiert hätte, mit der die Möglichkeiten der Produktivkräfte komplett ausgeschöpft werden konnten: »The Bauhaus group, as artists associated in order to advance the total project of a total art, discovered, along with Klee, that an observer could move around any object in social space – including such objects as houses, public buildings and palaces – and in doing go beyond scrutinizing or studying it

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dieser neue Raum, der vom Visuellen beherrscht sei.9 Ähnlich knüpft der Stadtforscher Robert Fishman an die schon 1941 vom Architekturhistoriker Sigfried Giedion vertretene These an, dass durch den Kubismus ein »neues Raum-Zeit-Kontinuum« ins Bewusstsein rückte, »das sich vom klassischen Raumverständnis drastisch unterscheidet«.10 Aus Lefebvres dreidimensionalem Raummodell folgt, dass sowohl die soziale Praxis und das Raumwissen auf die Kunst einwirken, wie umgekehrt die künstlerische Raumimagination zu gesellschaftlichen Veränderungen beiträgt. Auch wenn Lefebrvre den Raum der Repräsentation allein visuell bestimmt hat, kann seine Argumentation auch auf auditive Komponenten erweitert werden. Das Besondere der populären Musik liegt in den meisten Fällen, besonders aber im Punk, HipHop oder Techno, nicht in der Konstruktion von Melodien, sondern zum einen in der speziellen Verwendung von Klängen und in der Betonung von Rhythmen. Was Peter Wicke über Rock schreibt, trifft auch für Punk, HipHop oder Techno zu: » So steht hinter dem Rock eine sinnliche Wahrheit, die nicht an der Logik des strukturellen Details, sondern vielmehr an der klangsinnlichen Oberflächenbeschaffenheit der musikalischen Form festgemacht ist. Zusammengesetzt aus einem stilabhängigen Repertoire von mehr oder weniger feststehenden, ›standardisierten‹ Spielformen, Rhythmusmodellen und Klangstereotypen, die wie die Bestandteile eines Kaleidoskops stets wechselnde Muster ergeben, entspricht sie einem Modus der Wahrnehmung und des Gebrauchs, worin Musik als körperbezogenes sinnliches Erlebnis und nicht als sprachähnliche Ausdrucksform mit vorgegebenen Bedeutungsstrukturen aufgefaßt ist.«11 Das gilt umso mehr für die neue Produktionstechnik bei HipHop und Techno, in der die Musik eher programmiert als komponiert wird. Nach einer Verbindung zwischen städtischen Umgebungen und populärer Musik kann dementsprechend in der spezifischen Verwendung von Klang und den allgemeinen Prinzipien, die den populären Musikstücken zugrunde liegen, gesucht werden, das heißt in ihrer Form.12 under a single or special aspect. Space open up to perception, to conceptualization, just as it did to practical action. […] Avant-garde painters of the same period reached very similar conclusions: all aspects of an object could be considered simultaneously, and this simultaneity preserved and summarized a temporal sequence.« 9 Vgl. ebd.: 302. 10 Fishman 1994: 95. Vgl. auch Giedion 1996: 280-281. 11 Wicke 1987: 106. 12 Vgl. Friedrich 2007.

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Der Lärm der Stadt

Musik basiert auf einer Organisation von Klängen, daher ist es nahe liegend, den Einfluss von urbanen Umwelten auf die Musik auf der klanglichen Ebene zu suchen. Dazu müssen zunächst die speziellen Klangeigenschaften von Städten untersucht werden. Der prominenteste Ansatz zur Beschreibung der auditiven Umwelt von Städten findet sich in der von Murray Schafer begründeten Soundscape-Forschung.

Soundscape

Unter Soundscape, übersetzt Klanglandschaft, versteht Schafer »any acoustic field of study. We may speak of a musical composition as a soundscape, or a radio program as a soundscape or an acoustic environment as a soundscape.«13 Klanglandschaften bestehen laut Schafer aus drei Elementen. Erstens besitzt jede Klanglandschaft einen Grundton (Keynote), durch den ihr zentrales Geräuschcharakteristikum definiert ist. Orientiert an der Gestaltpsychologie entspricht die Keynote dem Grund, von dem sich die andere Klänge abheben. Als klangliche Basis ist sie für Personen, die sich konstant in einer bestimmten Klanglandschaft aufhalten, nicht mehr oder nur in Ausnahmesituationen wahrnehmbar. Das zweite Element bilden Signallaute (Signals). Sie markieren im sozialen Zusammenleben einzelne Zeitabschnitte oder besondere Ereignisse und sind mit sozialen Bedeutungen versehen. Zum Beispiel kann das Hupen eines Autos, das Pfeifen einer Fabriksirene oder ein Glockenschlag als Signal in einer Klanglandschaft dienen. Das dritte Element wird durch Orientierungslaute (Soundmarks) gebildet, das sind Klänge, die charakteristisch für eine Umgebung sind. Dazu können natürliche Klänge gehören, zum Beispiel das Windrauschen oder die Geräusche des Meeres, oder es sind Klänge, die von Menschen erzeugt werden und typisch für eine Region oder einen Ort geworden sind, zum Beispiel Kirchenglocken oder regionale Eigenheiten im Klang der Rufe von Straßenhändlern. Signallaute und stärker noch Orientierungslaute sind nicht nur typisch für einen Ort, sondern sie können laut Schafer auch soziale Gemeinschaften definieren, die durch die spezifischen Klänge, die alle gleichermaßen hören können, geprägt werden.14 Das spezifische Zusammenspiel aus Grundton, Signallauten und Orientierungslauten definiert die jeweilige Klanglandschaft. Der große 13 Schafer 1994: 7. 14 Vgl. ebd.: 214-225.

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Vorteil des Modells ist seine Einfachheit. Sie ermöglicht es Schafer, unterschiedliche Klanglandschaften aus unterschiedlichen Zeiten mit divergierenden kulturellen und sozialen Bedingungen relativ problemlos beschreiben und vergleichen zu können.15 Die Simplizität des Konzeptes ist aber nicht nur seine Stärke, sondern auch seine Schwäche.16 Die relativ einfache Begriffskonstruktion erschwert eine differenzierte Betrachtung komplexer Klangumfelder und der Wahrnehmung der Personen, die sich in ihnen aufhalten. Die komplexen Wechselwirkungen zwischen Klängen, den sozialen Praktiken, die sie verursachen, und den Bedeutungen, die ihnen beigemessen werden, kann Schafer nicht einholen. Ein zweites Problem ist die uneinheitliche Verwendung des Begriffs Klanglandschaft bei Schafer. Zum einen ist er als Sachverhalt bestimmt, der unabhängig von Personen und den Filtern, die sie gegebenenfalls entwickelt haben, zu existieren scheint. Besonders deutlich wird die Autonomie der klanglichen Umwelt, wenn Schafer bestimmte Klänge als natürlich und gut bestimmt. Dies sind für ihn die Geräusche einer nicht kulturell überformten Natur, wie zum Beispiel das Meeresrauschen oder die Geräusche des Windes. Andererseits verweist er auf die soziale Konstruktion von Klängen. Zum Beispiel charakterisiert er den Zusammenhang zwischen Orientierungslaut und sozialer Gemeinschaft als Wechselverhältnis: »[Soundmark] refers to a community sound which is unique or possesses qualities which make it specially regarded or noticed by the people in that community. Once a soundmark has been identified, it deserves to be protected, for soundmarks make the acoustic life of the community unique.«17 Der Hörer ist eingebunden in das Erkennen und Wiedererkennen von Klängen, und nur seine Fähigkeit, Klänge einzelnen Orten und Bedeutungen zuzuordnen, macht einen Klang zu einem Soundmark. In diesem zweiten Fall scheinen Klanglandschaften in einem kontinuierlichen Prozess zwischen Hörer und akustischer Umwelt zu entstehen.18 Schafer schwankt aber in seiner Argumentation kontinuierlich zwischen einem absoluten, natürlichen und dadurch von allen sozialen Faktoren unabhängigen, perfekten Klang und der Erkenntnis, dass sich Klanglandschaften immer nur relativ zu ihren Hörern entwickeln. 15

Da er für die Zeit vor der Erfindung technischer Speichermedien über kein Tonmaterial verfügt, bedient er sich bei seiner Untersuchung literarischer Quellen, mit denen er auf die jeweilige Klanglandschaft einer Zeit zu schließen versucht. 16 Vgl. Rodaway 1994: 84. 17 Schafer 1994: 10. 18 Vgl. Rodaway 1994: 86-87.

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Der Begriff der Klanglandschaft ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn er nicht auf das Erklingende beschränkt bleibt, sondern auf das Wechselverhältnis zwischen Klangproduktion, sozialer Bewertung dieser Klänge und ihrer sozial geformten Wahrnehmung abzielt.19 Darauf weist die Historikerin Emily Thompson hin: »Like a landscape, a soundscape is simultaneously a physical environment and a way of perceiving that environment; it is both a world and a culture constructed to make sense of that world.«20 Anstatt von einer Klanglandschaft sollte besser von einer Klangwelt gesprochen werden, um auf den kontinuierlichen Wandel, das Er- und Verklingen von Tönen hinzuweisen. Hans-Peter Meier-Dallach und Hanna Meier werten die Klänge, von ihnen als Geräusche bezeichnet, die durch soziale Praktiken entstehen, als hervorragende Quelle für eine sozialwissenschaftlichen Betrachtung, um auf die Kultur einer Gesellschaft zu schließen: »In den Geräuschen schwingen Bilder des sozialen Raums und seiner Rhythmen mit, nach denen sich die Gesellschaft bewegt. Bilder, Erwartungen und Handeln gegenüber und in dieser Gesellschaft werden durch diese Bedeutungen akustisch mitgeprägt. Die Beschreibung der Kultur und der Werte einer Gesellschaft ist von der Ebene der Geräusche aus möglich.«21 Geräusche sind in ihrem Konzept auf drei Ebenen mit dem Sozialen verknüpft: Auf einer basalen Ebene entstehen so genannte auditive Zeichen, gebildet aus Tonlandschaften und Tonlandschaftsfolgen, also das, was Schafer Signal- und Orientierungslaut nennt. Da Geräusche zeitliche Abläufe signalisieren, fungieren auditive Signale als Zeitgeber in sozialen Prozessen. Auf einer zweiten Ebene sind auditive Zeichen mit Werten verknüpft. Eine dritte Ebene bilden kulturelle Muster, mit denen auditive Zeichen und ihre Bewertungen mit anderen sozialen Sachverhalten in Verbindung gebracht werden: »Die cultura sonoris einer Gesellschaft bestimmt sich so aus jenen kulturellen Mustern und Werten, die in der Landschaft und Bewegung der Töne eines Ortes mitschwingen und welche die entsprechende Gesellschaft 19 Vgl. Truax 1984: 9-10. 20 Thompson 2002: 1. 21 Meier-Dallach/Meier 1992: 416.

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als spezifischen sozialen Raum mit je eigenen Rhythmen sozialer Zeit charakterisieren.«22 Ein Beispiel für ein kulturelles Muster, das bestimmte Räume und ihre Klänge verknüpft, ist der Bahnhof, dessen Geräusche nicht nur für Geschwindigkeit, sondern auch für Fortschritt, Dynamik oder die ferne Welt stehen, die mit dem Zug zu erreichen ist.23 Auf diese Weise verspricht die Analyse der Klänge ein Einhören (statt eines Einblicks) in das Soziale, in dem Klänge, Bedeutungen und Praktiken ineinander verwoben sind. Anders als in Schafers Modell ist eine Außenperspektive, die zwischen guten und schlechten Geräuschen unterscheidet, ausgeschlossen, und die kulturelle Komponente, die bei der Entschlüsselung und Bewertung von Geräuschen beteiligt ist, wird aufgewertet. Meier-Dallach und Meier machen darauf aufmerksam, dass Städte auch in Bezug auf ihre Klänge ein umkämpftes Feld darstellen. So komme es an einzelnen Orten zu Überschneidungen von unterschiedlichen Klängen, die von ihren Bewohnern auch unterschiedlich bewertet werden: »Die Schizophonie zwischen Eigen- und Fremdtönen ist der wesentliche Kontrapunkt in der großstädtischen Tonlandschaft. […] Die erste und wichtigste Konfliktachse in einer Stadt ist die Polarität zwischen Eigenzonen und Zonen des Fremden.«24 Besonders für die Bedeutung von Musik weisen die Überlegungen von Meier-Dallach und Meier über die von Schafer hinaus. Da Schafer sich auf die Untersuchung der Klangumwelt konzentriert, die durch Praktiken und Maschinen erzeugt wird, beachtet er die Wirkung von Musik nur rudimentär. Dies ist auch eine Folge der Engziehung des Soundscapes auf Keynote, Signal und Soundmark. Sie lässt nicht genügend Raum für die Integration komplexerer Klangereignisse, wie sie Musik darstellt. Denn auch wenn Musik als Signal, Hintergrund oder Soundmark fungieren kann, wäre ihre Reduktion auf diese drei Funktionen nicht zu rechtfertigen. Meier-Dallach und Meiers Begriffe eröffnen die Möglichkeit, nicht nur die Alltagsgeräusche, die durch Bewegungen, Arbeit oder Maschinen entstehen, zu analysieren, sondern auch Musik als Element von Klangwelten zu begreifen, die über Werte und kulturelle Muster nicht nur in Wahrnehmungsmuster integriert sind, sondern diese auch beeinflussen können. 22 Ebd.: 419. 23 Zur Konstituierung der kulturellen Werte des Bahnhofs vgl. Herzog/Leis 2009. 24 Meier/Meier-Dallach 1994: 120-121.

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Moderne – Lärm – Stadt

Mit dem Konzept einer Klangwelt, die über auditive Zeichen geprägt ist, lassen sich auch urbane Klangumgebungen beschreiben. Betrachtet man die wissenschaftlichen Überlegungen zu Klang und Stadt, fällt auf, dass diese von der Klage über den Lärm in der Stadt geprägt sind. Betrauert wird der Verlust eines ganzen Klanguniversums, in dem alles klar, abgegrenzt und deutlich zu hören gewesen sei. Stattdessen komme es zu einem kakophonen Einerlei durch die Überlagerung der maschinellen und synthetischen Klänge in den Metropolen. Der Philosoph Hans Blumenberg stellt exemplarisch die fast einhellig vertretene Überzeugung dar: »[Die Stadt] hat die größte Verdichtung der Abschirmung gegen alles, was sie nicht selbst hervorbringt und als ihre Realität anerkennt: den Lärm, den sie erzeugt. Die Großstadt ist eine akustische Höhle. Sie benachteiligt alles, was als Erfahrung und Beziehung nicht in der Ausschließlichkeit des Sehens gewonnen oder hergestellt werden kann. Darin erzeugt sie das Mißtrauen, das mit Ertaubung einhergeht. Die Überflutung des Gehörs in der Großstadt ist nicht informativ, sondern illusionär; der Lärm schließt jeden in seine Höhle.«25 Ihre Bewohner seien überflutet von Geräuschen, die keine Informationen böten, den Einzelnen in seine akustische Privathöhle einschlössen und so nur Erfahrungen durch das Sehen erlaubten.26 Die Dominanz des Sehens in der urbanen Kultur wäre demnach dem Lärm der Straße geschuldet, der eine auditive Kommunikation ausschließt. Ähnlich wie Blumenberg stellt der Philosoph Michel Serres einen Zusammenhang her zwischen Stadt, Lärm und Sozialem, der sich nur dem offenbart, der sich vom Lärm zu distanzieren weiß: »Unser Megalopolis ist ohrenbetäubend: Wer könnte diese Hölle überhaupt ertragen, wenn er nicht gerade darauf gefaßt wäre, daß Gruppe und Getöse eins sind? Der Gruppe angehören heißt den Lärm nicht hören. Je mehr Sie sich integrieren, desto weniger hören Sie; je mehr Sie darunter leiden, desto weniger gehören Sie dazu.«27 Serres versteht den Lärm zwar als etwas Allgemeines, das nicht an ein bestimmtes Zeitalter gekoppelt ist (»Der Lärm definiert das Soziale«), 25 Blumenberg 1989: 80. 26 Vgl. ebd. 27 Serres 1999: 140.

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aber es fällt schwer, in seiner These nicht den direkten Einfluss der heutigen städtischen Klangwelt zu erkennen. Am eindrücklichsten wird die industrialisierte und urbanisierte Klangwelt von Schafer und seinen Nachfolgern als fürchterliche, menschenverachtende Fehlentwicklung beschrieben.28 Es komme zu einer Verschmutzung mit Klängen, zu einem »low-fi soundscape«29, in dem nichts Bedeutungsvolles mehr zu hören sei, sondern nur das konstante Brummen und Dröhnen von Maschinen, ein Lärm, der die Stadtbewohner krank mache und jedes natürliche Geräusch unterdrücke. »Today the world suffers from an overpopulation of sounds; there is so much acoustic information that little of it can emerge with clarity. In the ultimate lo-fi soundscape the signal-to-noise ratio is one-to-one and it is longer possible to know what, if anything, is to be listened to.«30 Um die Klage einer lärmigen Stadtumwelt genauer bewerten zu können, ist es sinnvoll, den Begriff Lärm genauer zu definieren, denn er kann sehr Verschiedenes bedeuten. Zunächst gilt es, zwischen Klang, Ton, und Geräusch zu unterscheiden. Unter Klang lässt sich allgemein alles auditiv Wahrnehmbare verstehen.31 Töne sind Klänge mit relativ konstanter Tonhöhe, die von einer periodisch schwankenden Frequenz hervorgerufen wird. Ein Ton besteht aus einem Grundton, der die empfundene Tonhöhe für den Hörer bestimmt, und Obertönen, die beim Erklingen des Grundtons in höheren Frequenzbereichen mitschwingen. Töne sind grundsätzlich kulturell überformt. In Europa und den USA werden Töne zum Beispiel sehr oft über die Harmonik der europäischen Kunstmusik bestimmt, die bestimmten Tonhöhen Töne zuordnet. Von einem Geräusch kann gesprochen werden, wenn die Frequenzhöhe eines Klanges nicht periodisch schwankt oder wenn mehrere Frequenzen sich so überlagern, dass sie nicht mehr nur einer Tonhöhe zugeordnet werden können.32 Der Musiksoziologe Frank Rotter charakterisiert die unterschiedliche Wahrnehmung von Geräuschen und Tönen:

28 Arbeiten von Truax 1984, Liedtke 1988, Porteous 1990, Werner 1990, Miller 1993 oder Marks 1999 bestätigen kontinuierlich nur das eine: Es ist zu laut in der Welt und es bedarf der Rückkehr zu einer natürlichen, möglichst stillen und angenehmen Klangwelt. 29 Schafer 1994: 71. 30 Ebd. 31 Vgl. Schmicking 2003: 21. 32 Vgl. Bailey 1998: 195.

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» Geräusche erscheinen als eher bewegt, flatternd, rauh, hart oder scharf, ja zerklüftet oder stoßhaft; zumal knall- oder lärmartige Geräusche zeichnen sich idealtypisch durch aperiodische Schwingungen aus, sind abrupt, ruckhaft, diskontinuierlich, werden als vom Hörenden mehr abgerückt, als mehr extern-gegenständlich erlebt. Demgegenüber sind Töne und Klänge mehr glatt, ruhig, stehend, einheitlich geschlossen und werden zugleich als relativ weich oder schmiegsam empfunden; dem entspricht eine größere Regelmäßigkeit der Schwingungen, die auch derart, nämlich als vergleichsweise kontinuierlich, glatt, stationär wahrgenommen wird, das Erleben ist mehr zuständlich bis intim.«33 Eine Möglichkeit, Lärm zu definieren, ist die Dominanz von Geräuschen über die Töne in einem Klangereignis. Das Klangereignis weist dann in der Wahrnehmung Eigenschaften auf, wie sie von Rotter beschrieben werden. In diesem Fall von Lärm kann von der Geräuschdominanz im Klangereignis gesprochen werden. Da sich Klänge überlagern können und so im subjektiven Hören als Geräusch gehört werden, ist es durchaus möglich, dass mehrere Töne oder Tonfolgen in der subjektiven Wahrnehmung als Geräusch erscheinen. In einem zweiten Verständnis ist von Lärm die Rede, wenn die Verwendung von Tönen oder Geräuschen sich nicht an die jeweils zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebenen Konventionen zur Erzeugung harmonischer Klänge hält. Diese Art von Lärm setzt also ein Tonsystem voraus, das die richtigen Verhältnisse einzelner Klänge zueinander definiert, und eine Klangerzeugung, die dieses Tonsystem zumindest partiell außer Kraft setzt. Dieser Fall kann als Dissonanz bezeichnet werden. Da Dissonanz sich nur in Bezug auf ein jeweils gegebenes Tonsystem erklärt, ist es historisch und kulturell variabel. Der Musikwissenschaftler Charles Rosen schreibt: »Which sounds are to be consonances is determined at a given historical moment by the prevailing historical style, and consonances have varied radically according to the musical system developed in each culture. […] It is not, therefore, the human ear or nervous system that decides what is a dissonance […] A dissonance is defined by its role in the musical ›language‹ as it makes possible the movement from tension to resolution which is at the heart of what may be generally called expressivity.« 34

33 Rotter 1985: 59-60. 34 Rosen 1976: 33, nach Martin 1995: 59.

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Was zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einer Kultur als dissonant gilt, kann im Rahmen eines anderen Tonsystems oder einer sich verändernden Vorstellung von Konsonanz und Dissonanz der einzelnen Töne sehr wohl als harmonisch oder allgemein wohlklingend gelten.35 Dazu trägt auch bei, dass bei der Erzeugung von Dissonanzen nicht selten wiederum Konventionen zum Einsatz kommen, die über ihre ›richtige‹ Verwendung mitentscheiden, wie McClary am Beispiel der atonalen Musik erläutert: »No less coded than tonality, the dissonances and discontinuities of atonal music themselves constitute a conventional vocabulary, one derived ultimately from a condensation of traditional signs of madness, rage, suffering.«36 Drittens kann von Lärm die Rede sein, wenn ein Klangereignis von einzelnen Personen oder Personengruppen unerwünscht ist oder als unangenehm empfunden wird. In diesem Fall liegt eine subjektiv empfundene Lärmbelästigung vor. Es ist möglich, dass eine Lärmbelästigung durch geräuschdominante oder dissonante Klangereignisse hervorgerufen wird, aber dies ist nicht unbedingt notwendig, da jedes Klangereignis als unerwünscht oder unangenehm empfunden werden kann. Ein wichtiger Faktor bei Lärmbelästigungen ist die Lautstärke eines Klangereignisses. Aber auch hier gibt es Variationen und Unterschiede in Abhängigkeit der Erwünschtheit eines Klangereignisses. So können auch relativ leise Klangereignisse als störend empfunden werden (zum Beispiel beim Versuch zu schlafen) oder sehr laute Klangereignisse (zum Beispiel bei einem Popkonzert) nicht als Lärmbelästigung erlebt werden. Eine Lärmbelästigung entsteht nur dann, wenn sie als unangenehm erlebt wird. Laute Städte sind kein neues Phänomen und auch nicht auf den europäisch beeinflussten Kulturraum beschränkt. Stattdessen ist der Lärm untrennbar mit der Stadt verknüpft. Nicht erst die hochmotorisierten und technisierten Megalopolen machen die Stadt zu einem kontinuierlichen Geräusch-Emitter, wie buddhistische Schriftrollen von 500 v. Chr. beweisen, in denen zehn störende Geräusche in Städten aufgelistet sind, unter anderem Elefanten, Pferde, Wagen, Trommeln, Lauten, Lieder, Becken, Gongs und Menschen die »Esse und Trinke« brüllen. Auch an den Wänden des verschütteten Pompeji waren Graffiti angebracht, die zur Stille aufriefen.37 In der europäischen Literatur finden sich vom 14. Jahr-

35 Vgl. Durant 1984: 58-85. 36 McClary 2000: 136. 37 Vgl. Thompson 2002: 115-116.

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hundert bis zur heutigen Zeit Klagen über die Lärmbelästigung, derer sich die sensiblen und feingeistigen Autoren nicht erwehren konnten.38 Dass die These der lärmenden Klangwelt heutiger Städte nicht unbegründet ist, liegt an ihrer spezifischen Klangcharakteristik. Sie ist durch zwei Faktoren beeinflusst, durch die sie sich von bisherigen Klangwelten unterscheiden. Durch die Industrialisierung und die Durchsetzung von technischen Medien hat sich die Erzeugung von Klängen und ihre Rezeption in der industrialisierten genauso wie in der postindustriellen Stadt nachhaltig verändert. Mit der Industrialisierung hat der laute und geräuschhafte Klang der technischen Maschinen Einzug in der Stadt erhalten. Die Klänge der Motoren und die weiteren Prozessklänge sich bewegender und aufeinander reibender Gegenstände eint ihre Monotonie und tonale Unschärfe. Im öffentlichen Raum fast aller großen Städte stammt der alles beherrschende Klang vom Auto, zusammengesetzt aus dem Abrollgeräusch der Reifen und den Motorengeräuschen, komplementiert durch Hupen und Musik aus den Lautsprecherboxen.39 Autogeräusche bilden, hier kann Schafer zugestimmt werden, in der industrialisierten Stadt den wichtigsten Grundton, den klanglichen Hintergrund, auf dem sich die urbane Klangwelt entfaltet.40 Ein kontinuierliches Rauschen und Brausen, das zwar in der Nacht leiser und in der Rushhour lauter erklingt, aber im öffentlichen Raum fast nie verstummt. Die Historiker Richard Birkefeld und Martina Jung schreiben: »Die Geschichte des öffentlichen Verkehrs ist auch die Geschichte des öffentlichen Lärmes. Der Verkehrslärm ist das Erkennungszeichen der modernen Stadt. Er ist unverwechselbare Geräusch einer neuen Epoche – die sinnlich wahrnehmbare Signifikanz der Moderne.«41 Und die Autos sind nur eine Komponente eines expansiven, industriellen Klangkomplexes, der sich über Klimaanlagen, Haushaltsgeräte, Baumaschinen, Flugzeuge und diverse weitere Maschinen, die lärmen und tönen, erstreckt.

38 Überliefert sind unter anderem Klagen von William Hogarth, Goethe, Schopenhauer, Thomas Carlyle, Dickens, Tennyson oder Charles Babbage (vgl. Thompson 2002: 116, Schafer 1994: 65-66). 39 Zur Bedeutung des Autos in der Stadt Amin/Thrift 2002: 100-101. Zum Konsum von Musik im Auto vgl. Bull 2004. 40 Vgl. Schafer 1994: 2. 41 Birkefeld/Jung 1994: 31.

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Die zweite, nicht minder relevante Größe für das kakophone, urbane Klangumfeld ist der Einsatz von technischen Medien zur Klangerzeugung.42 Im urbanen Raum hat die Medialisierung dazu geführt, dass Musik an immer mehr Orten zu immer mehr Zeiten zu hören ist. Für die Lärm-Kritiker sind technische Medien genauso abzulehnen wie die industriellen Maschinen. Sie sehen in ihnen nur eine weitere Geräuschquelle, die zur allgemeinen Geräuscherzeugung beiträgt. Abgesehen wird dabei von jedem Inhalt der technischen Medien. Das »Medium der Botschaft« läge dann weniger, wie Marshall McLuhan spekulierte, im Abbau der räumlichen Distanzen und dem Entstehen eines neuen taktilen Zeitalters, sondern nur in der Geräuschvermehrung.43 Eine wenig überzeugende These, weil sie davon absieht, was gesendet oder abgespielt wird und wie diese Klänge wirken. Gerade der Lärm von städtischen Klangwelten führt dazu, dass Musik in der Stadt auch zur Überlagerung anderer Klänge genutzt wird.44 Andererseits ist nicht zu leugnen, dass jede abgespielte Musik ein weiteres Element des städtischen Geräuschteppichs darstellt. Schafer versucht zu zeigen, dass im Unterschied zur lärmenden Stadt von heute in der Natur und in vergangen Epochen der europäischen und nordamerikanischen Kulturgeschichte jeweils eine kohärente, eindeutige, klare und identifizierbare Klanglandschaft existiert hat.45 Die Klanglandschaften dörflicher oder frühurbaner Siedlungsräume, die sich noch nicht vollständig von der Natur – die er als ausgewogenen, hoch differenziert und harmonisch charakterisiert – abgelöst hätten und in der Klang, Mensch und Natur positiv aufeinander bezogen gewesen seien, werden von Schafer als vollkommene auditive Umgebungen idealisiert. Der krank und taub machenden städtischen Klanglandschaft wird auf diese Weise die gesunde, natürliche Klangwelt der Vergangenheit gegenüber gestellt. Eine Dichotomie, nach der alles Gute der Natur, alles Schlechte der Kultur, in diesem Fall der Stadt zugewiesen wird. Was auf der räumlichen Achse die Differenz zwischen Stadt und Land, ist auf der zeitlichen Ebene der Übergang vom vorindustriellen zum industriellem Zeitalter. Aufgabe eines »sound engineerings« soll folgerichtig die Wiederherstellung der verloren gegangenen natürlichen oder dörflichen Klanglandschaft sein.46 Mit der Dichotomisierung zwischen schlechter Stadt und guter Natur reproduzieren die Lärmgegner die klassische Unterscheidung früherer 42 Zur Bestimmung von technischen Medien als Medien, die eines Werkzeugs (dem technischen Gerät) bedürfen vgl. Krämer 1998. 43 Vgl. McLuhan 1992, 1995. 44 Vgl. Kapitel 2. 45 Vgl. Schafer 1994: 15-67. 46 Vgl. ebd.: 237-244.

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Großstadtkritiker. Sieht Schafer die Lärmubiquität und die Uniformität der Klänge als Grundübel der industrialisierten Stadt an, so glaubte der Journalist und Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl schon 1894 von den »ins Ungeheuerliche und Formlose ausgereckten Großstädten«, dass sie den »besondere[n] Charakter«47 verlören und in ihnen alle sozialen Unterschiede verschwänden.48 Anlehnungen sind auch an die in Kapitel 1 diskutierten sozialökologischen geprägten Überlegungen von Wirth zu erkennen, nach der in der Großstadt durch Größe und zunehmende Anonymität soziale Kontakte erschwert würden, was zu sozialer Indifferenz führe.49 Entsprechend glauben die Lärmgegner, dass der Mensch in der Stadt nicht mehr zu echten Erfahrungen in der Lage ist und nur durch Abschottung dem Großstadtlärm entkommen kann. Die einfache Stadt-gleich-Lärm-Formel verdeckt, dass es innerhalb von Städten unterschiedliche Geräuschkulissen gibt, dass die Klangintensität über den Tag nicht konstant das gleiche Niveau hält und dass die Geräusche einzelner Städte sehr unterschiedlich sind. Städte sind an vielen Orten laut und dissonant, sie sind es aber nicht ausschließlich. In ihrer Untersuchung der Klangwelt in Zürich kommen Meier-Dallach und Meier zu dem Schluss: »Die Stadt als kakophones Muster ist ein verbreitetes Negativbild moderner Urbanität. Dies ist nur die eine Seite; denn die Stadt ist zugleich Produzentin positiver Töne. Es ist dabei nicht nur an die urbane Konzentration von Musikinstituten und Sendern zu denken, in denen traditionale wie avantgardistische Leistungen geschaffen werden, die zum städtischen Kulturimage beizutragen haben. Auch die alltägliche Tonlandschaft überlagert die negativen Geräusche mit Zonen von Tönen und Geräuschen, die positiv bewertet werden und das Lebensgefühl oder die Stimmung einer Stadt, ihrer Bewohner- und Besucherschaft wesentlich beeinflussen, mitgestalten und strukturieren.«50

47 Riehl 1854: 77, zitiert nach Bahrdt 1998: 60. 48 Ähnlich argumentiert Oswald Spengler (1995: 685), der den Untergang von Zivilisationen im Verfall ihrer zentralen Städte erkennt. Die Weltstädte aller Kulturepochen begännen ihre Kultur weltweit zu verbreiten, ohne regionale oder traditionelle Bindung: »Deshalb nehmen in allen Zivilisationen die modernen Städte ein immer gleichförmigeres Gepräge an. Man kann gehen, wohn man will, man trifft Berlin, London und New York überall wieder […]. Was aber hier verbreitet wird, ist nicht mehr ein Stil, sondern ein Geschmack, keine echte Sitte, sondern Manieren, und nicht die Tracht eines Volkes, sondern die Mode.« 49 Vgl. Wirth 1974: 52. 50 Meier-Dallach/Meier 1992: 421.

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Solche positiv aufgewerteten Geräusche verweisen auf die Unhaltbarkeit der deterministischen Argumentation, dass die Städte zwangsläufig negative Folgen für ihre Bewohner haben. Die Romantisierung eines vorherigen ›natürlichen‹ Zustandes führt zur Negation aller positiven, distinktiven und spezifischen Klänge, die einzelne Städte aufweisen. Dazu können zum Beispiel typische Klänge einzelner Städte (die Arbeitsgeräusche im Hamburger Hafen, die Stimmen in einem großen Biergarten in München, die Straßenmusiker in Essen), Orte (der zentrale Bahnhof, die Einkaufsstraße, der städtische Park) oder Zeiten (frühmorgens, bevor die Stadt erneut erwacht, in der Hauptverkehrszeit, an Sommerabenden) dienen. Es ist nämlich nicht nur die Erschwerung der Wahrnehmbarkeit des urbanen Klangumfeldes in Folge von industriellem und medialem Lärm zu verzeichnen, sondern auch eine Differenzierungen zwischen angenehmen und unangenehmen Klangfeldern in der Stadt, bei der die Abwesenheit von subjektiv empfundenem Lärm ein wichtiges Kriterium darstellt. Setzt man Stadt einseitig mit Lärm gleich, geht der tatsächlich vorzufindende Reichtum an unterschiedlichen Klangwelten verloren. Unbeachtet bleibt so zwangsläufig auch, was Musik, die selbst Teil des urbanen Geräuschumfeldes ist, zur Vorstellungswelt ihrer Bewohner beiträgt.51 Gegen die alleinige Lärmthese spricht auch, dass in den Städten längst der Versuch unternommen wird, die lärmenden Klänge einzuschränken.52 Dazu zählen Lärmverordnungen, bauliche Maßnahmen, die den Lärm fernhalten sollen, und die Produktion von Klängen, mit der die klanglichen Eigenschaften der Stadt übertönt werden. Die Struktur städtischer Klangwelten resultiert nicht nur aus der Geräuschproduktion, sondern auch aus dem Versuch Geräusche einzudämmen. Wie erwähnt, ist die Forderung nach Ruhe so alt wie der Lärm, der sie stört.53 Alle Versuche, die Lärmvermehrung einzuschränken, sind aber in industriellen Gesellschaften weitestgehend gescheitert, wie Thompson anhand der Städte in den USA nachweist.54 Durchgesetzt hat sich stattdessen die Strategie, Orte durch Schallisolierungen, beispielsweise in Wänden und Fenstern, vor den Geräuschen von außen zu schützen.55

51 Vgl. Middleton 1990: 93. 52 Vgl. Thompson 2002. 53 Zum Versuch, den Lärm in industrialisierten Städten einzudämmen, siehe beispielsweise die vergeblichen Bemühungen der Noise Abatement Commission in New York in den 1930ern, vgl. Allen o. J. 54 Vgl. Thompson 2002. 55 Eine ähnliche Strategie besteht in der Errichtung von Lärmschutzbarrieren an Verkehrswegen, die möglichst ungehinderten Verkehr mit einer akzeptablen Geräuschemission erreichen sollen.

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Dem Lärm der Stadt steht die moderne Strategie zur Kontrolle des Klangs in Gebäuden gegenüber. Dazu gehört nicht nur die Schallisolierung, sondern auch die Technik der Erzeugung von hall- und echofreien Räumen. Ziel ist ein funktionaler Klang, der ohne Ablenkung sein soll: »The modern sound that resulted from the use of new acoustical materials was thus stripped not only of reverberation but also of these inefficiencies. It both constituted and signified the efficiency of the spaces in which it was heard. […] The private character of many of these spaces – apartments and offices, for example – highlights the commodified nature of the new sound and this, too, made it modern.«56 Modern bedeutete aber nicht unbedingt für das menschliche Gehör angenehm. Die Reinheit des Klanges und der Ausschluss möglichst aller Außengeräusche erscheint zwar nahezu perfekt, aber ebenso steril. Dies ist ein Grund, warum Innenräume erneut mit Klängen, zum Beispiel mit Hintergrundmusik, beschallt werden.57 Ein konstantes Geräuschumfeld ist Teil der Produktion des städtischen Raums. Lärm und der Versuch, den Lärm einzuschränken, haben insgesamt in den Städten eher zu mittleren Lärmpegeln geführt. So entsteht ein komplexes künstliches Klangumfeld in Städten, in denen Stille zu einer seltenen Ressource wird.58 Durch die Klänge der Stadt sind ihre Bewohner in ein soziales Gewebe eingebunden, dem sie nie vollständig entfliehen können.59 Neben den »künstlichen« maschinellen und medialen Klängen, die die Stadt dominieren, stehen »natürliche« Töne und Geräusche wie Wind, Regen, menschliche Stimmen oder Tierlaute. Alle diese Klänge werden durch die kulturell bedingten Veränderungen wie bauliche Eingriffe oder Schließung von Flächen verändert. Mit anderen Worten: Die Klangwelt der Städte ist geprägt durch eine von Geräuschen geformte und vollständig kulturell transformierte Klangkulisse.60

56 57 58 59

Thompson 2002: 171. Vgl. Meier/Meier-Dallach 1994: 112-124. Vgl. Amphoux 1994: 86-87. Dem widerspricht auch nicht die Ausbildung von psychischen Filtern, die den tonalen Wahrnehmungsprozess selektiv verändern, indem sie bestimmte Töne/Geräusche nicht mehr in den aktiven Wahrnehmungsbereich vordringen lassen. 60 Vgl. Connor 1997.

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Geräuschmusik Futuristen

Die Veränderungen der städtischen Klangwelt durch Industrialisierung und Medialisierung führten schon Anfang des 20. Jahrhunderts zu Versuchen, diese in einer neuen Musik einzuholen. Diese neue Musik wird eng mit den italienischen Futuristen in Verbindung gebracht, die uneingeschränkte Apologeten der technischen Entwicklung, der Geschwindigkeit und des Lärms waren.61 Von 1908 bis in die 1930er kämpften die Futuristen für eine neue Kunst und Kultur, die sich den neuen sozialen und technischen Verhältnissen anpassen und diese gleichzeitig verherrlichen sollte. »Vor allem was ist mit Futurismus gemeint? Ganz einfach ausgedrückt bedeutet Futurismus: Haß auf die Vergangenheit«62, so hatte Filippo Tommaso Marinetti in einer Rede von 1909 den zentralen Gedanken des Futurismus formuliert. Nicht nur die Hinwendung zur Zukunft war Ziel der Futuristen, sondern die Zerstörung der Vergangenheit. Obwohl sie glühende Nationalisten waren, wollten sie die Städte der Vergangenheit Italiens (Rom, Venedig, Florenz) schleifen und die Museen stürmen. Der Verachtung der Vergangenheit stand bei den Futuristen die Bewunderung der technischen Naturbeherrschung gegenüber. Mit den Erfolgen der Naturwissenschaften sahen sie eine Entwicklung angebrochen, die der Menschheit ein neues Zeitalter eröffne. Besonders deutlich zeigt sich die Technikapologetik der Futuristen in der sakral anmutenden Anbetung des Automobils und des Flugzeugs. Sie stehen für Geschwindigkeit, Bändigung von Zeit und Raum und für Männlichkeit, die sich in der Steuerung der neuen Maschinen offenbart.63 Von Beginn an sahen die

61 Vgl. Baumgarten 1966: 38. 62 Zitiert nach ebd.: 37. 63 Der Technikliebe übergeordnet war für die Futuristen nur noch die Liebe zum Vaterland. Italien sollte nicht nur Anschluss finden an die europäische Avantgarde, sondern die erneuerte italienische Kultur sollte sich an die Spitze der Kultur weltweit stellen. Das patriotische Moment der Futuristen unterschied sie von anderen Avantgarde-Bewegungen zur gleichen Zeit in Frankreich oder Deutschland, deren nationalistische Ambitionen nur schwach oder überhaupt nicht ausgeprägt waren. Dass die Futuristen Nationalisten waren, ließ sich auch nur schwerlich mit der Ablehnung alles Vergangenen vereinbaren. Die Futuristen lösten den Widerspruch, indem sie ihren Nationalismus weniger auf eine italienische Tradition stützten, sondern auf die Ablehnung der Traditionen und Kultur der benachbarten Nation Österreich. Der Patriotismus nahm so zwangsläufig eine martialische Richtung an: Die Technik sollte in den Dienst der Expansion des italienischen Territoriums gestellt werden (ebd.: 113-121, Schmidt-Bergmann 1993: 19).

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Futuristen ihre Aufgabe in der künstlerischen Arbeit und in der politischen Agitation.64 Im ersten futuristischen Manifest von 1908 hatte Marinetti das Schönheitsideal der Futuristen plakativ am Geräusch eines Verbrennungsmotors erläutert: »Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen […] ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.«65 Die Schönheit der Geschwindigkeit konnte danach am besten durch das unnatürliche und übermächtig laute Geräusch eines Motors erlebt werden: tonaler Beweis einer neuen Zeit, Sieg der Wissenschaft und Manifestation der Beschleunigung in einem. Nicht die Qualität der Geräusche als solche zählte für die Futuristen, sondern ihre Referenz auf die Modernität und die Geschwindigkeit. Den wichtigsten argumentativen Beitrag zur futuristischen Musik lieferte 1913 der Maler Luigi Russolo mit dem Manifest »L’art des bruits« (deutsch: »Die Kunst der Geräusche«66). Darin fordert er eine neue Musik, die sich nicht länger den dynamischen Geräuschen des neuen Zeitalters verschließt und das Repertoire der verwendeten Geräusche maximal steigern soll. Er feiert, getreu der futuristischen Ideologie, die Alltagsgeräusche der industrialisierten Stadt, um zu schlussfolgern, dass eine neue, 64 Als moderne Avantgarde-Bewegung erwiesen sie sich durch ihre Reklame-Methoden (Flugblätter, Plakate, Pressearbeit), mit denen es gelang, Aufmerksamkeit für die Manifeste und die futuristischen Veranstaltungen zu erreichen. Waren die ersten Lesungen von Manifesten und Dichtungen für das Publikum weniger ernsthafte Kunst, als vielmehr eine Art der Volksbelustigung, gelang es den Futuristen vor allem in ihrer Hochphase zwischen 1910 und 1920, erfolgreiche Ausstellungen zu organisieren und Kontakt zu anderen Avantgarde Bewegungen in Frankreich oder Deutschland herzustellen. Die Annährung an den italienischen Faschismus führte aber nicht zur ersehnten futuristischen Revolution in Italien, sondern spielte Mussolini die Vorstellung einer nationalistischen Kultur zu, die er sich zunutze machte, ohne sie ernsthaft in die Tat umsetzen zu wollen. Die Verbrüderung der Futuristen mit den Faschisten, die vor allem von dem geistigen Führer und Erfinder der Futuristen F. T. Marinetti getragen wurde, hat ihre künstlerischen Ambitionen diskreditiert (vgl. Baumgarth 1966: 36-112). 65 Erstes Futuristisches Manifest von 1909, zitiert nach ebd.: 26. 66 Russolo 2000. Vor ihm hatte schon der futuristische Komponist Francesco Balilla Pratella eine »enharmonische« und polyrhythmische Musik eingefordert, die sich nicht länger an der europäischen Harmonik orientieren sollte (vgl. Allende-Blin 2001: 320-321).

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zeitgemäße Musik nur durch die Integration dieser Geräusche avantgardistische, zukunftsweisende und revolutionäre Musik werden könne. »Durchqueren wir eine moderne Großstadt, halten wir unsere Ohren offener als unsere Augen, und unterscheiden wir genussvoll die Wasser-, Luft- und Gaswirbel in den Metallrohren, das Brummen der unbestreitbar animalisch atmenden und pulsierenden Motoren, das Pochen der Ventile, das Hin- und Her der Kolben, das Kreischen der Motorsägen, das Rattern der Straßenbahnen auf den Schienen, das Knallen der Peitschen, das Flattern der Vorhänge und Fahnen. Wir finden Gefallen an der idealen Orchestrierung des Getöses von Rollläden, der auf- und zuschlagenden Türen, des Stimmengewirrs und Trampelns der Menge, der verschiedenen Geräusche von Bahnhöfen, Eisenhütten, Webereien, Druckereien, Elektrizitätswerken und Untergrundbahnen.« 67 Russolo beschränkt seine Begeisterung für die Geräusche nicht auf maschinell erzeugte. Natürliche Geräusche galt es seiner Meinung nach genauso in die Musik aufzunehmen, wie die der Maschinen. Aber Russolo ließ in seinem Manifest auch keinen Zweifel, dass er bestimmte mechanische Geräusche – vor allem die des Krieges – am meisten bewunderte, weil sie ihm als Indikatoren eines neuen, mächtigen Zeitalters galten. Seinem Manifest zufolge wollte Russolo die Geräusche des städtischen Klangraums integrieren. In einer futuristischen Musik sollten onomatopoetische Klänge Verwendung finden, um das hektische und sich vielschichtig überlagernde Maschinenleben der Städte in der Musik einzuholen und darzustellen. Dem Komponisten stelle sich die Aufgabe, die Geräusche nicht sinnentleert nebeneinander zu stellen, sondern sie zu einer neuen tonalen Einheit zu verknüpfen. Francesco Balilla Pratella hatte die Aufgabe des Komponisten in die griffige Formel der Schaffung einer »neuen Ordnung aus der Unordnung« gefasst. Russolo sieht den Komponisten als genialen Schöpfer, der die Wandlung des Geräusches zum Kunstwerk vollbringt und die Ordnung, die im Chaos der Geräuschüberlagerung verloren gegangen sei, wiederherstellt: »Denn da das Gehör sich inmitten der verworrenen und bruchstückhaften Geräusche des Lebens nicht zurecht findet, müssen sie im Kunstwerk als völlig geordnet, gebändigt, unterworfen und bezwungen erscheinen – als unbedingte, aus dem ständigen Ringen des Künstlers mit der Materie erwachsende Einheit.«68 67 Russolo 2000: 9. 68 Ebd.: 78.

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Russolo versucht die europäische Musiktradition, die um eine Harmonik von reinen Tönen herum strukturiert war, zu erweitern und sie gegenüber den ungeordneten und nicht aufeinander verweisenden Geräuschen zu öffnen – eben jenen Geräusche, die das industrialisierte urbane Klangumfeld nachhaltig von allen Vorgängern unterscheiden. Pratella und Russolo waren nicht in der Lage, die hohen Forderungen ihrer Manifeste auch in adäquate Kompositionen umzuwandeln. Pratellas Musik konnte zwar teilweise durch Tempowechsel, unterschiedliche Rhythmen und die Integration futuristischer Lyrik an seine theoretischen Überlegungen anschließen. Er blieb aber selbst mit seinen gewagtesten Kompositionen weit hinter den Klangexperimenten anderer zeitgenössischer Komponisten wie Schönberg, Berg oder Bartók zurück.69 Auch Russolo hatte auf die Musikgeschichte mehr mit seiner Idee einer Geräuschmusik Einfluss, als dass seine Kompositionen überzeugten. Schwierigkeiten bereiteten ihm allein schon die eingeschränkten technischen Möglichkeiten seiner Zeit. Er entwickelte bis zu seinem Tode sogenannte Geräuschintonatoren, die heulten, klackerten oder grollten, aber erst seit den 1940er Jahren können elektronische Musikinstrumente das von ihm angestrebte Geräusch- und Klangspektrum problemlos zur Verfügung stellen. Dass die musikalische Umsetzung der avantgardistischen Ideen scheiterte, liegt nicht nur an technischen Schwierigkeiten. Problematisch war von Beginn an die Stellung der Musik zwischen der Mimesis vorgefundener Geräuschkomplexe und der angestrebten Eigenständigkeit. Schon 1913 hatte Alfred Döblin in einem offenen Brief Marinetti vorgeworfen: » Sie meinen doch nicht etwa, es gäbe nur eine einzige Wirklichkeit, und identifizieren die Welt Ihrer Automobile, Aeroplane und Maschinengewehre mit der Welt? Wir sollen einzig das Meckern, Paffen, Rattern, Heulen, Näseln der irdischen Dinge imitieren, das Tempo der Realität zu erreichen suchen, und dies sollte nicht Phonographie, sondern Kunst, und nicht nur Kunst, sondern Futurismus heißen?« 70 Zwar konnte Russolo mit seinen ersten Aufführungen den erwünschten Skandal erzeugen, aber die strukturelle Frage, warum Musik zu komponieren sei, die genau das reproduziert, was im Alltag bereits zu hören ist, ließ sich weder aus der Musik noch aus den Geräuschen der Stadt ableiten.

69 Vgl. Nicolodi 1999. 70 Döblin 1913: 280-281, zitiert nach Baumgarth 1966: 90.

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Dazu bedurfte es des futuristischen Mythos, der die technisierte Stadt zur neuen Über-Natur verklärte.71 Rusollos Geräuschmusik war trotz der mangelhaften ästhetischen Umsetzung ein wichtiger Vorreiter der Entwicklung westlicher Kunstmusik des 20. Jahrhunderts, die sich generell von einer als alt und ausgereizt verstanden Harmonielehre zu distanzieren versuchte und die in der Disharmonie und im Geräusch probate Mittel erkannte, um ihr Ziel zu erreichen. Der Musikwissenschaftler Karl Gustav Fellerer hat vorgeschlagen, die gesamte Kunstmusik des 20. Jahrhunderts als futuristisch zu charakterisieren: »In der Evolution ist geworden, was in der Revolution gefordert wurde, in der neuen technischen Entwicklung der Elektronik das, was der Futurismus mit primitiven mechanischen Mitteln zu erreichen suchte, in künstlerischer Gestalt das, warum sich der Futurismus in politischen Manifesten bemühte, aber mangels künstlerischer Kräfte nicht gültig verwirklichen konnte.«72 Als »erste industriell-urbanistische Kunstbewegung«73 in Europa sind die Futuristen in vielen Bereichen der musikalischen Entwicklung die Pioniere des ganzen Jahrhunderts. Der Germanist und Philosoph Hansgeorg Schmidt-Bergman geht so weit zu behaupten, die Futuristen hätten » die Anfänge der umfassenden Informationsmöglichkeiten und einer universellen Mobilität durch die Revolutionierung der Nachrichten- und Transportmittel nicht nur reflektiert, sondern darüber hinaus eine neue futuristische Sensibilität, die eine Konsequenz der diagnostizierten Veränderung der Wahrnehmungsapparats ist, zur Grundlage für die Entwicklung der Künste werden lassen – und dadurch den traditionellen Kunstbegriff endgültig außer Kraft gesetzt.«74 Zu beachten ist aber, dass die Futuristen weniger an einer neuen Sensibilität arbeiteten, als an einem Mythos, mit dem sie ihr Staunen über die neue Welt verarbeiten und ihren Machtanspruch zu legitimieren versuchten. Der Musikhistoriker Enrico Fubine erklärt:

71 72 73 74

Vgl. Barthelmes 1998. Fellerer 1989: 250. Skyllstad 1976: 94. Schmidt-Bergmann 1993: 198.

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»[D]er vom Futurismus anvisierte Mensch ist in Wahrheit nicht der neue Mensch des industriellen Zeitalters, sondern der alte italienische Bauer oder Mann aus dem Volke, der mit naivem Erstaunen und großer Verwunderung eine Welt betrachtet, von der er nur den unwesentlichen Aspekt erfaßt: den glänzenden Stahl, das Dröhnen der Motoren, das Flugzeug, das zum erstenmal den Himmel durchfurcht.«75 Unbestritten ist, dass die Futuristen begonnen hatten, den als zu eng empfundenen tonalen Rahmen der westlichen Kunstmusik bewusst zu überschreiten und Alltagsgeräusche, oder genauer deren Imitation, in die Musik zu integrieren. Mit diesem Konzept wirkten die Futuristen nicht nur auf Komponisten wie Varese, der mit Russolo freundschaftlich verbunden war und einer Aufführung der Geräuschtöner beiwohnte, sondern auch auf die gesamte Avantgardemusik des 20. Jahrhunderts.76 Pierre Schaeffer gelang es in den 1940er Jahren mit der musique concrète, die ästhetische Forderung der Futuristen einer Integration der neuen städtischen Klangwelt, adäquat zu verwirklichen.77 Schaeffer verwendete als Ausgangspunkt seiner Arbeit Alltagsklänge, die er aufnahm und anschließend verfremdete, mit anderen kombinierte oder sie in kurzen Schleifen ablaufen ließ.78 Ähnlich wie die Futuristen wollte auch Schaeffer die Kunst nicht länger als einen separaten, autonomen Apparat verstanden wissen, sondern versuchte, die Grenzen zwischen Kunst und Alltag aufzubrechen.79 Diese Grenze versuchen praktisch alle Avantgarde-Bewegungen des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts zu überwinden.80 Zum einen, indem das verwendete Tonmaterial kontinuierlich erweitert wird. Die Möglichkeiten der elektronischen Klanggenerierung und die technischen Medien erwiesen sich dabei als wichtiges Hilfsmittel, weil mit ihnen fast jede Art von Klang erzeugt werden kann.81 Zum anderen, indem alltägliche Orte selbst in Klanginstallationen eingebunden und beschallt werden.82

75 Fubini 1976: 34. 76 Vgl. Fellerer 1989, Allende-Blin 2001: 325-330. 77 Vgl. Rösing 1999: 113. Obwohl sich Schaeffer explizit vom Futurismus distanzierte (vgl. Fubini 1976). 78 Aus diesem Grund wurde auch vorgeschlagen, musique concrète als eine Frühform der DJ-Musik zu bezeichnen (vgl. Taylor 2001: 46, 60-64). 79 Vgl. Judd 1961: 63-74. 80 Vgl. Delehanty 1990. 81 Vgl. zur Bedeutung des Radios für Klangkunst: Schöning 1994. 82 Vgl. Delehanty 1990: 21-38. Für Beispiele siehe: LaBelle/Roden 1999.

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In diesen Fällen hinterfragt die Kunstmusik die gegebene Klangwelt, zeigt ihre Grenzen und Bedingungen auf oder macht Klänge hörbar, die sonst im allgemeinen Rauschen der städtischen Klangproduktion untergehen. Aber dieser Modus des Hinterfragens bedingt eine distanzierte Position, durch die die Trennung zwischen Kunst und Alltag, trotz gegenteiliger Intention der Komponisten, perpetuiert wird. Mit den radikalen Klangexperimenten bewegt sich die ›neue‹ Kunstmusik unüberhörbar außerhalb der alltäglichen tradierten Klangwelten. Hinzu kommt, dass die städtische Welt neue Hörgewohnheiten und Wahrnehmungsmuster provoziert, an die die Kunstmusik nicht anschließt. Schon Russolos Musik – trotz seines erklärten Versuchs, sie überwinden zu wollen –, war mehr an die europäische Musiktradition gebunden als an die sozialen Transformationen, die die Industrialisierung hervorbrachte. Was auf diese Weise nicht gelingt, ist, an die Träume und Vorstellungswelten der Stadtbewohner anzuschließen, die die urbane Kultur bestimmen. So merkt der Kulturphilosoph Gernot Böhme an: »Es ist der Avantgarde nicht gelungen, die Aura abzuwerfen und dadurch aus den heiligen Hallen der Kunst ins Leben hinauszutreten. Aber gelungen ist ihr zweifellos, die Aura von Kunstwerken, ihren Heiligenschein, ihre Atmosphäre, ihren Nimbus zu thematisieren.«83 Diese Problemstellung, wie sie exemplarisch in der Arbeit von John Cage verhandelt wurde, bezieht sich nicht auf die Alltagswelt als solche, sondern gerade auf ihre Nichtbeachtung in der europäischen Kunstmusik – ein Problem, welches die Avantgarde-Bewegung für sich alleine nicht lösen kann, solange sie im künstlerischen Kontext befangen bleibt. Die musikalische Entwicklung hat auf die veränderte Klangwelt von Städten reagiert. Aber die Musik der Avantgarde bleibt eine rein künstlerische Übung, solange sie sich nicht für die Lebensbedingungen und Imaginationen der Stadtbewohner interessiert oder an sie anzuschließen versucht. Diese Aufgabe sollte eine andere Musik übernehmen, die nie einer theoretischen Begründung bedurft hat und sich immer schon an der Lebenswelt ihrer Hörer orientierte: die populäre Musik.

83 Böhme 1995: 26.

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Geräusche im Punk, HipHop, Techno

Populäre Musik ist, wie schon die Diskussion der Position von Shepherd zeigte, weniger durch ihre Melodien und Harmonien geprägt, als durch Rhythmus und Klang.84 Wicke zeigt zum Beispiel anhand der Musik der Beatles, dass der Erfolg der Musik nicht auf den Melodien beruhte: »Bereits der bloße Zusammenklang von drei Gitarren ließ ein komplexes, klingendes Schwingungsgebilde entstehen, das die Einzelheiten der Stimmführung, Melodieverlauf und harmonische Wendungen, vor allem bei entsprechender Lautstärke, weitgehend absorbierte. Der Satzgesang unterstützte dieses Zusammenlaufen der Einzelstimmen noch, das Inden-Vordergrund-Treten des klanglichen Resultats auf Kosten der Binnenorganisation des musikalischen Geschehens, so daß die klangsinnliche Seite voll zu Entfaltung kam.«85 Der spezifische Klang von populärer Musik resultiert bei Konzerten wesentlich aus der hohen Lautstärke, mit der die Musik abgespielt wird und die das Klangbild verändert. Die Lautstärke ist es auch, die die populäre Musik oft in die Nähe des Lärms bringt.86 Aber populäre Musik ist auch lärmend, weil immer wieder Geräusche in die Musik integriert werden. Im Jazz nähert sich die flexible Nutzung von Musikinstrumenten, bei der Tonhöhen nicht gehalten oder verfremdet werden, der Geräuschbildung an; Rockmusik hat durch den betonten Einsatz von Percussionselementen und elektronisch verstärkten und verzerrten Gitarren andere Geräusche in die Musik integriert. Die Verwendung von Geräuschen ist also nicht auf Punk, HipHop oder Techno beschränkt und stellt keine Neuerung dar. Auffallend an diesen Musikstilen ist aber, wie stark die Musik durch Geräusche geprägt ist und wie dies gleichzeitig den Diskurs über sie geprägt hat. Zu Punk fällt Musikjournalisten und Poptheoretikern fast reflexartig die Geräuschdominanz der Musik ein. Savage schreibt zum Beispiel über die New Yorker Band Ramones: »There was no melody, only distortion and sheer, brutal speed.«87 Und Wicke hört in der Musik der Sex Pistols vor allem Lärm: »Ein aberwitziger Lärm aus dem monoton kreischenden Sound parallel geführter Gitarren und dem erbarmungslos gedroschenen Schlagzeug 84 Zur Relevanz des Rhythmus in der populären Musik vgl. Pfleiderer 2006, zur Bedeutung des Klangs vgl. Wicke 1992, Gracyk 1996. 85 Wicke 2001: 247. 86 Vgl. Gracyk 1996: 105. 87 Savage 2001: 91.

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begleitete das Ganze. Unverhohlene Wut hämmerte die kurzgliedrigen Spielfloskeln einer minimalistischen Zwei-Akkorde-Ästhetik in die Köpfe der Hörer. Hier sprach die sinnliche Gewalt des Rock, kompromißlos wie nie zuvor und ohne Rücksicht auf die musikalischen Wertbegriffe der von den Medien gefeierten Rockelite.«88 Ähnlich spricht Chambers vom »bösem Lärm«89 des Punks und Marcus hört gleich den Zusammenbruch der ganzen Stadt aus der Musik heraus: »Es war der Sound der einstürzenden Stadt. Aus dem wohlüberlegten, beabsichtigten Lärm, in dem die Worte sich so überschlugen, daß man sie kaum auseinanderhalten konnte, hörte man, wie gesellschaftliche Fakten zerfielen.«90 Solche Beschreibungen wirken deutlich übertrieben, da, wie Dirk Budde in seinen musikwissenschaftlichen Analysen zeigt, die Musik nicht ausschließlich auf Geräuschen aufbaut, sondern auch auf Ton- und Akkordfolgen.91 Aber sie weisen auf den hohen Stellenwert hin, den die verwaschenen und verwischten Klänge haben, vor allem erzeugt durch Feedback und Verzerrungen der elektrischen Gitarren. Bei Studioaufnahmen von Punk-Platten wurde zusätzlich oft versucht, möglichst keinen perfekten Studiosound zu erzeugen, um den rauen und schroffen Charakter der Musik nicht verloren gehen zu lassen. Die hohe Relevanz von Geräuschen und Rhythmik resultiert auch aus der relativ geringen Bedeutung von Melodien im Punk. Im Zentrum der meisten Stücke steht, auch wenn sie die europäische Harmonik nur selten verlassen, eine repetetive, kurze Akkordfolge, vor allem getragen durch die Rhythmussektion. Massiver Schlagzeugeinsatz, die Verzerrung des Gitarrenklangs und ein Sänger oder Sängerinnen, die ihren Text mehr schreien als singen, lassen im Punk oft die Geräusche dominieren, wie auch Laing feststellt: »The implicit logic would seem to involve the conviction that by excluding the musicality of singing, the possible, contamination of the lyric message by the aesthetic pleasures offered by melody, harmony, pitch and so on, is avoided. Also avoided is any association with the prettiness of the

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Wicke 1987: 196-197. Chambers 1990: 172. Marcus 1992: 14. Vgl. Budde 1997.

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mainstream song, in its forms as well as its contents: as has already been shown, punk has few love songs.«92 Marcus beschreibt plastisch den daraus resultierenden Klang: »Der Gitarrist sorgte für ein Sperrfeuer, um dem Sänger Deckung zu geben, die Rhythmusgruppe setzte beide unter Druck, und als Reaktion auf die plötzlich empfundene totalitäre Kälte der modernen Welt wirkte die Musik wie eine Version dieser Kälte. Außerdem war sie etwa Neues unter der Sonne: ein neuer Sound.«93 Aus heutiger Sicht war zwar der Sound nicht so neu, wie ihn Marcus im Zitat beschreibt. Er war eher eine Wiederentdeckung des rauen und einfachen Sounds der 1960er Garagen-Bands, kombiniert mit einer bewussten Missachtung von Tonhöhen durch den Sänger und einer hohen Fehlertoleranz beim Spielen selbst einfacher Akkordfolgen oder Melodien. Dies genügte aber vollkommen, um eine geräuschdominante Musik zu erzeugen. Auch in der Rapmusik finden sich viele geräuschhafte Klänge. Ähnlich wie bei Punk, wird nach Rose im Aufnahmeprozess bewusst ein nach Studiokriterien unsauberer, verzerrter und ineinander laufender Klang erzeugt: »In traditional recording techniques, leakage is a problem to be avoided, it means the sounds on the tracks are not clearly separated, therefore making them less fixed in their articulation. […] Like the use of distortion, if rap’s desired sounds require leakage, then leakage is a managed part of a process of achieving desired sounds, rather than a problem of losing control of fixed pitches.«94 Nicht nur auf Tonträgern, sondern auch auf Konzerten soll die Basstrommel möglichst in den Vordergrund rücken.95

92 93 94 95

Laing 1985: 54. Marcus 1992: 62-63. Rose 1994a: 76. Rose (ebd.: 78) deutet dies als einen Versuch, den Rhythmus und damit die afroamerikanischen Elemente der Musik zu betonen: »The equipment has to altered to accommodate rap’s use of low-frequency sounds, mixing techniques revised to create the arrangements of and relationships between drum sounds. And second, they make clear that rap producers actively and aggressively deploy strategies that revise and manipulates musical technologies so that they will articulate black cultural priorities.«

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Noch wichtiger für die Nutzung von Geräuschen als musikalischem Material sind in der Rapmusik das Scratching und das Sampling. In der Rapmusik wird Sampling nicht nur genutzt, um Tonfragmente von älteren Musikstücken zu verwenden, sondern auch, um Geräusch und Töne aus städtischen Umgebungen in die Musik zu integrieren. So finden sich zum Beispiel Autohupen oder Polizeisirenen, aber auch Gespräche von der Straße in Raptracks.96 Diese Klänge werden häufig isoliert, im Tempo oder Tonhöhe verändert und durch das Scratchen von Tonträgern weiter verformt. Sampling ist auch im Techno das zentrale Prinzip der Produktion von Tracks. Durch Sampling und die Möglichkeit der Generierung und Gestaltung beliebiger Klänge am Computer, inklusive der immer perfekter werdenden Imitation von analogen Musikinstrumenten, wird fast jede Art von Geräusch oder Ton in Musik integrierbar. Besonders im DetroitTechno werden oft Geräusche verwendet, die an das Aufeinanderschlagen oder Aneinanderreiben von Metallen und die Produktionsklänge von Maschinen erinnern. Der Musikwisenschaftler Heltmut Rösing schreibt: »Techno steht als Kürzel für Technology und meint im umfassenden Sinn Musik, die wie Maschinen klingt.«97 Dieser Klang unterscheidet auch Detroit-Techno von den meisten Housetracks, die mehr an ›warme‹ Soulmusik anschließen. 98 Es dominiert ein künstlicher, elektronisch und maschinell wirkender Klang, wie Jerrentrup schreibt: »Bei der Techno-Musik geht es auch darum, im Gegensatz zu bisheriger Pop- und Rockmusik das Klangbild total elektronisch und regelrecht künstlich wirken zu lassen: es soll nach Maschinen und Generatoren, nach Spannungen und Energie, nach einer Welt von Science Fiction und Mikroelektronik klingen.«99 Ähnlich wie im HipHop und im Punk dominieren zusätzlich im Techno die Schlaginstrumente, allen voran der kontinuierliche 4/4-Beat der elektronisch erzeugten Basstrommel, deren Schläge selbst geräuschhaft und impulsorientiert sind.100 Zusammengefasst zeigt sich, dass in allen

96 Vgl. Keyes 2002: 147-148. Mittlerweile ist diese Praxis stark eingeschränkt worden, da die Nutzung von schon bestehendem Tonmaterial durch das Urheberrecht reglementiert wird und identifizierbare Musikpassagen nur nach der Zustimmung des Urhebers in neuen Musikstücken verwendet werden dürfen (vgl. Schumacher 1995). 97 Rösing 1999: 123. 98 Vgl. Reynolds 1998a: 22, Richard 2001: 295. 99 Jerrentrup 2001: 202. 100 Vgl. ebd.: 195.

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drei Stilen die Verwendung von Geräuschen eine konstitutive Rolle in der Erschaffung ihres speziellen Sounds spielt.

Die Funktion der Geräusche in der Popmusik

Die Ausschöpfung und Bearbeitung von Klängen, vor allem in der elektronischen Musik, wird nicht selten als eine Auseinandersetzung mit Raum, Zeit und vor allem mit den Möglichkeiten der Auslotung des gesamten Klanguniversums begriffen. In einer solchen Sichtweise gilt Musik als ein reines Wissensobjekt.101 Gegen eine solche Betrachtung spricht, dass populäre Musik, unabhängig davon wie experimentell sie ist, von ihren Hörern nur selten gehört wird, um die Bedeutung von Raum, Zeit oder Klangwelt zu hinterfragen. Die Musik wird nur in Ausnahmefällen als ein autonom zu betrachtendes Kunstobjekt rezipiert, sondern zumeist als funktional zu nutzender Gebrauchsgegenstand. Selbst wenn sie sich zweifellos als autonom beschreiben lässt, bietet es sich deshalb eher an, die besonderen Eigenschaften der Musik mit den gesellschaftlichen Entwicklungen in Verbindung zu bringen, in denen sie entsteht und konsumiert wird. In einer zweiten Lesart wird die Geräuschdominanz und Dissonanz der Musik mit dem Versuch in Verbindung gebracht, Aggressionen auszudrücken. So gilt Punkmusik als wütender Protest gegen die herrschende Ordnung, der durch eine ungeordnete Musik ausgedrückt wird. Ähnlich wird Rapmusik, zum Beispiel die von Public Enemy, als zornige Auseinandersetzung mit den bestehenden Verhältnissen beschrieben. Für den Musikwissenschaftler Robert Walser ist dabei die Intentionalität der Musik von entscheidender Bedeutung, um Lärm zu einer positiven Kategorie werden zu lassen: »Noisiness is always relative to whatever articulates order in a discourse or a culture, and the noisiness of hip hop contributes to its ability to express dissent and critique, and to articulate the identity of a community that is defined as, or that defines itself as, noise. […] Thus the intentionality of hip hop’s noise is crucial.«102 Und der Kulturwissenschaftler Tim Brennan führt aus:

101 Zu diesem Ansatz vgl. die Aufsätze in Kleiner/Szepanski 2003. 102 Walser 1995: 197.

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»Tonal clash is the noize itself, the brittle overload, the dissonant rampage of sound, the starting and stopping of the scratch and the punch phrase that tumbles and trips forward (or backward) keeping the listener jerky, unrelaxed, on edge. There is no aural stream to lounge in, or patterning to sleepwalk through. […] The techno-screech and the thud-thudding assault of the bass line unsettle the ears in the name of simulating pain; they please by being unpleasant.«103 Solche Deutungen basieren vor allem auf den Textinhalten, wie die Musikethnologin Cheryl L. Keyes explizit in Bezug auf Rapmusik anmerkt: »The abrasive aeshetic of dissonance underscores the disharmony expressed in rap’s urban centered lyrics.«104 Aber auch wenn diese Deutung nicht unbedingt falsch ist, weil die teilweise aggressiven Texte des Raps und Punks sehr gut mit einer geräuschdominanten Musik kombiniert werden können, sollte sie nicht verallgemeinert werden. Dagegen spricht schon die Betonung des Rhythmus in der Musik, die nicht ohne weiteres mit Aggressionen in Verbindung gebracht werden kann. Sie verhindert zudem, dass die Musik sich alleine auf Lärm oder Geräuschhaftigkeit reduzieren ließe. Es kommt, wie schon gezeigt, hinzu, dass Musik nicht ohne Weiteres etwas Bestimmtes ausdrückt oder denotiert, also auch nicht ohne Weiteres als aggressiv oder anderes zu bezeichnen ist. Solche Deutungen basieren auch auf den Diskursen und Praktiken, die um und über Musik stattfinden. Diese wiederum verweisen auf den Entstehungsort und das Hauptaktionsfeld der mit ihr verbundenen Szenen, das heißt auf die Stadt. Es ist aus diesem Grund am plausibelsten, die Verwendung von Geräuschen in einen Zusammenhang zu bringen mit der städtischen Klangwelt, in der ihre Produzenten und Konsumenten leben. Für die Wirkung des Klangumfelds von Städten auf Musik spricht, dass einzelne Stile der populären Musik seit ihrer Ankunft in den Städten lauter wurden und mehr Geräusche in ihre Musik aufnahmen. Schon im Urban Blues war die wichtigste musikalische Neuerung die Verwendung von elektrischen Musikinstrumenten, mit denen die Musik lauter gespielt werden konnte, sodass sie in den lauten Bars zu hören war.105 Dem Musikjournalisten Robert Gordon zufolge reagierte sie generell auf das laute Stadtumfeld: 103 Brennan 1994: 680. 104 Keyes 2002: 147. 105 Vgl. Rowe 1975: 13, Gracyk 1996: 109, Carney 2003a: 248. Ähnlich wurden auch schon im New Orleans Jazz laute Musikinstrumente eingesetzt, um den Krach in den Clubs zu übertönen (vgl. Starr/Waterman 2003: 50).

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»The city had something that was less common in the country: electricity. And that made the city a louder place. In the rural juke joints, a lone acoustic guitarist or a band of all acoustic instruments could propel a crowd to madness, but in the city, the musicians adapted their style to eardrums attacked by the clanging of streetcars and the pounding of factories and warehouses. They plugged it.«106 Der Schriftsteller Mike Rowe sieht umgekehrt den wichtigsten Grund, warum sich die Bluesmusik aus dem Mississippi Delta in der Stadt durchsetzte, in ihrer klanglichen Nähe zur Stadtumgebung. »It seems certain that the Delta blues, harsh, rhythmic and aggressive, were more in tune with the feelings and aspirations of the new generation of urban dwellers, who, though mindful of their past, had set their sights firmly on the future.«107 Wichtig ist Rowes These nicht nur, weil er auf die Verbindung zwischen dem Klang der Musik und dem der Stadt hinweist, sondern auch, weil er die wichtigsten Adressaten der Musik anspricht, für die diese Musik zunächst gemacht wird. Auch Prinzipien der Jazzmusik werden mit klanglichen Eigenschaften der Stadt in Verbindung gebracht. Joachim E. Berendt erkennt in der zunehmenden Nervosität und Hektik des Jazz eine Folge der Wanderung von Jazzmusikern in die großen Städte, und Thompson verweist darauf, dass eine Verbindung zwischen Jazz und Stadt zur damaligen Zeit für jeden evident war, der sich die Musik anhörte.108 Sie sieht eine enge Verbindung zwischen der neuen klanglichen Umgebung und der Musik: »The city itself was an engine of changes both social and technological, and the agents of change that operated within it, from jazz musicians to internal combustion engines, were what made the decade roar. The Machine Age was simultaneously the Jazz Age; the machinery and the music together defined the new era and filled it with new kinds of sounds.«109 Wie bei den Futuristen, im Blues oder im Jazz lässt sich auch ein Einfluss der technologisierten, maschinellen Umwelt von Städten auf Punk, HipHop und Techno erkennen.110 Das soll nicht heißen, dass die städtische 106 107 108 109 110

Gordon 1995: 42. Rowe 1975: 213. Vgl. Berendt 1982: 29, Thompson 2002: 130. Ebd.: 132. Vgl. Volkwein 2003: 40. Speziell zu Kraftwerk vgl. Kemper 2004: 41.

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Umgebung kausal zur Produktion einer bestimmten Musik führt, sondern nur, dass sich Klangeigenschaften von Städten in der Musik nicht nur offensichtlich wiederfinden, sondern ihre Verwendung eines der zentralen, ästhetischen Prinzipien darstellt.

Auditive Montage Hybridität

Wie im ersten Kapitel gezeigt wurde, ist populäre Musik immer schon das Ergebnis der Vermischung unterschiedlicher Musiktraditionen gewesen. Mittlerweile haben sich das Ausmaß und die Geschwindigkeit, mit der unterschiedliche Musikquellen miteinander verknüpft werden, deutlich erhöht. Was Houston A. Baker Jr. über Rap schrieb: »fiercely intertextual, open-ended, hybrid«111, definiert heute das gesamte Feld der populären Musik. Die Ethnologin Georgina Born und der Soziologe David Hesmondhalgh charakterisieren diese Entwicklung als einen Willen zur Hybridität.112 Mittlerweile werden die unterschiedlichsten Quellen in immer neuen Kombinationen miteinander verbunden. Um nur einige Beispiele zu nennen: im Banghra trifft indische Musik auf Drum ’n’ Bass, im Dub-Techno jamaikanischer Dub auf Techno und im Bastard Pop werden zwei Stücke aus möglichst unterschiedlichen Popstilen miteinander verschmolzen. Die Geschwindigkeit, in der neue Musik durch die Überblendung unterschiedlicher älterer Musikstile erschaffen, beziehungsweise bestehende differenziert wird, lässt es deshalb gerechtfertig erscheinen, von einer neuen Form beschleunigter Hybridität zu sprechen. Eine Erklärung für die zunehmende Hybridität von populärer Musik liegt in der kulturellen Globalisierung. Für Born und Hesmondhalgh entsteht Hybridität vor allem in transglobalen Bewegungen der sogenannten Weltmusik. In der Begrifflichkeit von Arjun Appadurai resultiert Hybridität aus der Überschneidung von Media- und Ethnoscapes, die Musik global zerstreuen und zu neuartigen Überlagerungen und Vermischungen führen.113 Betrachtet man die Entstehung von globalen Flüssen als einzigen Mechanismus der aktuellen Kulturproduktion, dann spielt es nicht länger eine Rolle, wo die Musik produziert wird, Hybridität wäre dann der Ausdruck einer zunehmend ortsübergreifenden Kultur. Aber Ethnoscapes, 111 Baker Jr. 1993: 94. 112 Vgl. Born/Hesmondhalgh 2000: 19. 113 Vgl. Appadurai 1998: 11-40.

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die sich über temporäre oder dauerhafte transnationale Migration bilden, sind örtlich an große Städte gekoppelt, in denen viele Migranten leben und die die Infrastruktur für schnelle Ortswechsel bieten. Sie sind mit anderen Worten der Unterbau, auf dem die Fluidität von Ethnoscapes organisiert wird. Die Stadt bleibt nicht trotz sondern aufgrund transnationaler Flüsse der wichtigste Ort, an dem kulturelle Überschneidungen am wahrscheinlichsten stattfinden und sich zu neuen Stilen entwickeln können, die anschließend über mediale Flüsse an andere Orte gelangen. Beschleunigte Hybridität resultiert also nicht aus der Zunahme von Flüssen, sondern auch aus deren räumlicher Manifestation in großen Städten, in denen die hybriden Kulturen bis heute vor allem entstehen und ein Publikum finden.

Auditive Montage, Layering und Zitation

Besonders im HipHop und Techno wird Hybridität durch ein elementares Konstruktionsprinzip explizit gemacht, das sich als auditive Montage bezeichnen lässt. Das Prinzip der Montage, bei der disparate Elemente hinter- oder übereinander gelegt werden, ist in der Produktion von populärer Musik gängige Praxis, seit es nicht mehr nötig ist, die Musikinstrumente und den Gesang zur gleichen Zeit aufzunehmen. Aber in den meisten Fällen ist der Endzweck dieser Produktionsweise, den Eindruck zu erwecken, die Musik wäre zu einem einzigen Zeitpunkt performt worden. Die Montage soll gerade als solche nicht gehört werden.114 Die gängigste Form der Montage in der populären Musik war lange Zeit das Potpourri, in dem nacheinander unterschiedliche Stücke angespielt und miteinander verbunden werden.115 Die meisten Potpourris bestehen aus einer möglichst gefälligen Aneinanderreihung von bekannten Musikstücken.116 Der Philosoph Roger Behrens schließt daraus, dass sich die Montage in der populären Musik primär als »produktionstechnisches Prinzip« zeigt und nur sekundär als »ästhetisch-technisches Prinzip«.117 Auch bei DJ-Sets, vor allem im Techno, werden auditive Montagen erstellt, indem einzelne Tracks so aneinander gefügt werden, dass sie einen 114 Vgl. Middleton 1990: 65-66. 115 Vgl. Wicke/Ziegenrücker 1997: 400. 116 Eine der wenigen Ausnahmen bildet der Free-Jazz, in dem ganz unterschiedliche Stile aufeinandertreffen können, die sich nicht ohne Weiteres in ein vorgegebenes System auflösen (vgl. Behrens 1996: 135-136). 117 Ebd.: 134.

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nicht abbrechenden Mix ergeben.118 Der Musikpädagoge Ansgar Jerrentrup spricht von einem »musikalischen Patchwork«.119 Auch in diesem Fall ist die Ähnlichkeit der einzelnen Stücke wichtiger als ihre Differenz, weil ja gerade ein nicht unterbrochenes Klangerlebnis erzeugt werden soll. Trotzdem stellt diese Form der Montage ein ästhetisches Prinzip dar, das zu einem neuen Klangerlebnis führt, weil Elemente des ursprünglichen Materials zu einem neuen Klang übereinander gelegt werden, wie Sabine Vogt ausführt: »House-DJs arbeiten während der Party mit diesen Schallplatten. Allerdings entfernen sie sich von der Vorgabe des Klangresultats auf dem Tonträger. Sie spielen die Songs nicht nacheinander ab, sondern zerlegen die Strophenstruktur des Songs auf der Schallplatte in einzelne Tracks und justieren diese Tracks in die Horizontale des gleichförmigen Vierviertelschlags, des so genannten Four-to-Floor-Beats. Die Tracks gehen unmerklich ineinander über, sodass sich eine schier endlose Klangkulisse ergibt. […] [Es kommt zum] Aneinanderschichten von vorproduzierten Tracks zu neuen Kombinationen, die das impulsartige Wechselspiel von Klangfarben, Rhythmen und Lautstärken möglich machen.«120 Disparatere Montagen entstehen bei den HipHop-DJ-Sets, in denen das Scratching und Mixing im Vordergrund steht. Hier werden oft sehr unterschiedliche Musikfragmente so geschickt ineinander gemischt, dass die eigentlich disparate Musik doch zusammenpasst.121 Der DJ Africa Bambaataa beschreibt sein Vorgehen beim DJing: »Ich habe alles gespielt, das verrückteste Zeug, und dann auf einer Party. […] Wenn alle ausflippten, spielte ich kurz eine Werbemelodie, um sie etwas zu beruhigen. Oder den »Pink Panther«, denn sie hielten sich alle für so cool wie den Pink Panther. Oder ich spielte »Honky Tonk Woman« von den Rolling Stones und ließ einfach den Beat weiterlaufen. Oder ich spielte Metal-Sachen wie Grand Funk Railroad, »Inside Looking Out«, das ist nur Baß und Schlagzeug ... rrrrrrmmmmmmmmmmmm ... und alle knallen durch. […] Ich spielte den Anfang von »Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band«, nur den Schlagzeug-Teil: Eins, zwei, drei, BAM. 118 119 120 121

Vgl. Rösing 2001: 180. Jerrentrup 2001: 188. Vogt 2005: 90-91. Dieses Prinzip wird im Bastard Pop oder Mash-up seit Ende der 1990er auch dazu genutzt, zwei Musikstücke aus dem populären Bereich, die stilistisch möglichst unterschiedlich sind, so ineinander zu mischen, dass ein neues Stück entsteht, gleichzeitig aber die beiden ursprünglichen Stücke noch ›herauszuhören‹ sind.

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Sie schrien und tanzen. Ich spielte die Monkees, »Mary, Mary«, nur den Teil wo sie singen »Mary, where are you going?«122 Auditive Montage ist nicht nur das Prinzip, mit dem Tracks aneinandergereiht werden, sondern auch die grundlegende Struktur jedes HipHopund Technotracks selbst, die als eine Montage aus unterschiedlichen Schichten beschrieben werden können. Die Tracks folgen nicht der in der populären Musik häufig anzutreffenden Grundstruktur aus Melodie plus Begleitung und einer Trennung zwischen Refrain und Chorus. Stattdessen sind die Stücke aus einzelnen Klangspuren (Loops) und ihren Variationen zusammengebaut, die entweder aus einem percussiven Rhythmuspattern oder einer Ton- oder Geräuschfolge bestehen. Dabei kommt es zu einer Überlagerung der einzelnen Loops. Im Techno werden einzelnen Klangfolgen in immer neuen Variationen zu einer Klangcollage übereinander gelegt.123 Dieses Prinzip der Überlagerung (Layering) wird im HipHop durch zwei weitere Prinzipien ergänzt: zum einen durch den Flow, das heißt die strömende Bewegung, die vor allem durch ein möglichst fließendes Reimen des Rappers erzeugt wird, zum anderen durch kurze Unterbrechungen (Rupture) des Flows.124 Die expliziteste Form der Montage ist die Einbindung von Musik oder Umweltgeräuschen, durch die Bezug genommen werden kann auf das Universum schon existierender Musik, auf Medieninhalte oder, wie im letzten Abschnitt schon erwähnt, auf die Klänge des Alltags. Keyes beschreibt das Ergebnis von Sampling bei Rapmusik so: »Through digital sampling, DJs fuse various timbres and textures: voluminous bass sounds (bass guitar and drum), strident piercing sounds (e.g. high glissandi sounds), static »noise,« harmonic dissonance, and a battery of vocal ornamentations from James Brown’s yells, grunts, moans, and shouts to speech excerpts.«125 Es kommt sowohl im Techno wie im HipHop zu einer radikalen Anwendung des Prinzips der Bricolage, bei der unterschiedliche Artefakte aus der Alltagswelt neu kombiniert werden.126 Durch die Überlagerung einzelner Klangelemente, die zum einen zueinander passen müssen, sich andererseits aber durchaus auch rhythmisch, klanglich oder stilistisch voneinander unterscheiden können, nimmt das Prinzip der Montage in 122 123 124 125 126

Zitiert nach Toop 1999: 79. Vgl. Vogelgesang 2001: 268, Kemper 2004: 56. Vgl. Rose 1994a: 36-41. Keyes 2002: 145. Zu Techno vgl. Vogelgesang 2001: 267.

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der Grundstruktur von HipHop und Techno-Tracks eine zentrale Stellung ein. Jeder Rap- und Techno-Track ist immer eine Montage einzelner, klanglich oft disparater Fragmente.

Montage und Stadt

Auditive Montagen gelten als Ausdruck der Postmoderne. Houston A. Baker Jr. sieht Rap als postmoderne Kunst, weil er die Versatzstücke aus unterschiedlichen Musikkulturen in einer nicht-autoritären Collage zusammenführe. Daraus entstehe eine dekonstruktive Hybridität, in der Linearität und Fortschritt zugunsten einer verwirrenden Synchronizität aufgegeben werden.127 Rap wird von Baker Jr., ähnlich wie von Shepherd, als Mittel einer Kritik an der westlich dominierten Moderne beschrieben, da er den Linearitäts- und Fortschrittsglauben angreife. Richard Schusterman hingegen beschreibt Rap als postmodern, weil er wichtige Prinzipien der modernen Ästhetik in Frage gestellt sieht. Unter postmoderner Ästhetik versteht er: »[R]ecycling appropriation rather than unique originative creation, the eclectic mixing of styles, the enthusiastic embracing of the new technology and mass culture, the challenging of modernist notions of aesthetic autonomy and artistic purity, and an emphasis on the localized and temporal rather than the putatively universal and eternal.«128 Genau diese Prinzipien sieht Shusterman im Rap verwirklicht. Auch für ihn ist Rap eine Form der Dekonstruktion: »An instrumental track recorded in Memphis, combined with a back-up vocal from New York, and a lead voice from L.A. Rap simply continues this process of layered artistic composition by deconstructing and differently reassembling prepackaged musical products and then superimposing the MC’s added layer of lyrics so as to produce a new work.«129 Die Nutzung vorgefertigter Tonträger beim DJing oder in der Produktion stelle die Vorstellung von Autorschaft und Originalität in Frage. Für Techno lässt sich ein ähnliches Argument anführen: Auch hier wird durch White Labels, bei denen sich auf der Vinylplatte keine Informatio127 Vgl. Baker Jr. 1993: 89. 128 Shusterman 1992: 202. 129 Ebd.: 206.

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nen mehr über den Autor des Tracks finden lassen, und durch Sampling die Autorenschaft in Frage gestellt.130 Gegen die These einer bewussten Überlagerung unterschiedlicher Musik in dekonstruktiver oder ironischer Absicht hat der Musikwissenschaftler Joseph G. Schlosser zu Recht eingewandt, dass sich eine solche Intention bei den Produzenten in der Regel nicht nachweisen lasse. Das Ziel sei nicht, einen postmodernen Kommentar zu den bestehenden Verhältnisse abzuliefern, sondern den Track gut klingen zu lassen.131 Dazu passt auch, dass die Kombination unterschiedlicher Musik durchaus auch aus kommerziellen Interessen erfolgen kann, indem zum Beispiel Fragmente erfolgreicher Popstücke integriert werden.132 Wie generell in der populären Musik verbinden sich auch im HipHop und Techno ästhetische Überlegungen zwangsweise mit kommerziellen Interessen. Wenn darin ein Element der Postmoderne zu sehen sein soll, dann lässt sich dieses schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts beobachten und kann nicht alleine für Rap oder Techno Geltung beanspruchen. Kritisiert wird die Subsummierung unter die Postmoderne auch von denen, die Techno- oder Rapmusik als afroamerikanische Musik betrachten. Für Tim Brennan ist im Rap nicht eine willkürliche oder karnevaleske Zusammenführung disparater Stücke anzutreffen, sondern die bewusste Wiederverwendung der afroamerikanischen Musik. HipHop sei als Hommage an die afroamerikanische Kultur zu verstehen, als Kommentar zur gesamten afroamerikanischen Musikgeschichte.133 Auch dieses Argument überzeugt nicht. Wie schon gezeigt wurde, sind weder HipHop noch Techno ausschließlich als afroamerikanische Musik zu beschreiben. Stattdessen wird jede Art von Musik oder Geräuschen gesampelt.134 Das dritte Argument gegen die Kennzeichnung der Montagetechniken in Rap und Techno als postmodern ist ihre enge Bindung an die moderne Kunst. Die Montage war prädestiniert, die Veränderungen des Erfahrungsraums der Städte, die Überlagerung unterschiedlicher Praktiken und Lebenswelten ebenso darzustellen, wie die allgemeine Beschleunigung des sozialen Lebens. Sie machte es möglich, die Stadt als ein facettenreiches, gebrochenes, heterogenes und sich stetig wandelndes Gebilde zu zeigen.135 Dazu passt Steve Piles Beschreibung der Stadt als Überlagerung unterschiedlicher Erinnerungen und Erfahrungen: 130 131 132 133 134

Vgl. Vogelgesang 2001: 269. Vgl. Schloss 2004. Zum Crossover von Rap und Rock vgl. Forman 2002: 149-157. Vgl. Brennan 1994: 680. Vgl. auch Henderson 1996: 311-312. Vgl. Taylor 2001: 153, 156. Dies bemerkt sogar Potter (1995: 22), obwohl er Rap als genuin afroamerikanische Musik beschreibt. 135 Vgl. Donald 1999: 74.

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»Taken together, the city becomes a composite image – a collage, perhaps – of personal and collective experiences and memories: where figures in the phantasmagoria constantly evoke associations with other places and other times.«136 Diese Überlagerungen prägen bis heute die Städte und ihre Wahrnehmung. Wie schon erwähnt, ist die postindustrielle Stadt sogar noch verstärkt von Flüssen und Heterogenität bestimmt, die durch die Begegnung unterschiedlicher Personengruppen, Praktiken und Inszenierungen entstehen. Stadtkultur, so Ash Amin und Nigel Thrift, ist heute ein Amalgam aus disjunkten Prozessen und sozialer Heterogenität: »[M]odern cities become spaces of flow and mixture, promiscuous ›meshworks‹ […] and hierarchies of different relations, rather than patchworks of different communities; hybrids involving almost continuous improvisation in which the ›in-between‹ of interaction is crucial.«137 Wie die Verwendung von Geräuschen in der Musik steht auch die auditive Montage in Verbindung mit den klanglichen Eigenschaften der Stadt. Die Überlagerung von Klängen, die durch die Alltagspraktiken entsteht, zu denen auch das Abspielen von Musik über technische Medien gehört, findet sich im HipHop und Techno wieder. Die aus Fragmenten gebildete Musik passt gut zur Erfahrung einer Welt, die aus Fragmenten und Überlagerungen besteht. Mit den Worten von Simon Frith: »[B]ecause all our experiences of time are now fragmented and multilinear, fragmented music is also realistic music […]; it represents experience grasped in moments.«138 Frith macht auch auf die Verbindung von Musik und Klängen der Stadt aufmerksam, der entsteht, wenn alle möglichen Klänge in die Musik integriert werden können: »All sounds, that is, carry an equal value as signs; there is a flattening out of even the difference between human and non-human sounds; natural and unnatural noise; intended and found sounds; music and noise. No sound, in short, can any longer guarantee truth (no folk sound, no proletarian sound, no black sound). However, one can also interpret this both 136 Pile 2005: 174. 137 Amin/Thrift 2002: 81. 138 Frith 1996: 243.

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as a new form of imitative realism (an accurately reflecting the noise of the contemporary street) and as a new opportunity for compositional freedom […] as all physical constraints on sound making are removed.«139 Das Prinzip der Montage in Rap und Techno, das erst durch die digitale Techniken der Speicherung und Veränderung von Tonmaterial ohne großen Aufwand genutzt werden kann, erklärt sich daher immer noch am einfachsten als eine auditive Reaktion auf den Stadtraum, in dem sie entsteht. So erweist sich das formale, ästhetische Prinzip der Montage – neben der Verwendung von Geräuschen – als zweiter Baustein, mit dem die Musik mit der städtischen Umgebung korrespondiert.

Fazit: Postindustrieller Stadtklang und Popmusik

Punk, HipHop und Techno lassen sich als städtisch bezeichnen, da eine formale Ähnlichkeit zwischen der Klangwelt der Musik und der Stadt existiert. Diese formale Ähnlichkeit lässt sich als Korrespondenz zwischen den ästhetischen Prinzipien der populären Musik des Punk, HipHop und Techno und des Stadtraums charakterisieren. Auffallend ist am Prinzip der Geräuschdominanz in der Musik und am Prinzip der Montage, dass sie schon seit hundert Jahren Eingang in die bildende Kunst gefunden haben. Es wäre aber unzutreffend, von einer nachholenden Entwicklung zu sprechen. Obwohl die Städte seit den 1970er Jahren einem erneuten Wandlungsprozess ausgesetzt sind, sind sie auch weiterhin durch den Einsatz von Maschinen geprägt. Von einer postindustriellen Stadt im Zusammenhang mit der Klangwelt zu sprechen, macht gerade deswegen Sinn, weil zwar die Arbeitsplätze im Produktionssektor abgebaut wurden, gleichzeitig aber industrielle Produkte wie Autos oder Abspielgeräte auch weiterhin die Klangwelt der Stadt prägen, die durch die digitalen Klänge lediglich ›bereichert‹ wird. Ebenso wenig hat das Prinzip der Montage an Aktualität verloren. Die zunehmenden Flüsse erweitern die kulturellen und sozialen Überlagerungen der Stadt und machen noch mehr Unterschiedliches zur gleichen Zeit zugänglich. So bleibt die Montage das zentrale Prinzip, mit dem man sich ästhetisch dem kulturellen und auditiven Raum der Stadt annähern kann.

139 Ebd.: 244.

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8. Pop, Traum, Stadt. Imagination durch populäre Musik Real life just around the corner Prefab Sprout1

Populäre Musik korrespondiert auf formaler Ebene mit klanglichen und kulturellen Eigenschaften des Stadtraums. Aber genügt das, um von einer Repräsentation zu sprechen? In diesem abschließenden Kapitel wird noch einmal die Frage der Repräsentation der Stadt durch Musik aufgeworfen und dazu die Wirkung von populärer Musik im Zusammenhang mit Tagträumen untersucht. Im ersten Abschnitt wird anhand der Konzepte des Mediums und der strukturellen Isomorphie diskutiert, ob es überhaupt möglich ist, dass Punk-, HipHop- oder Technomusik als etwas Städtisches gehört werden können. Der zweite Abschnitt führt die einzelnen Argumentationsstränge der Arbeit zusammen und zeigt zum einen, dass die populäre Musik eine idealisierte, städtische Atmosphäre erzeugt, zum anderen, dass genau dies in die imaginäre Welt des modernen Hedonisten passt. Populärer Musikkonsum steht in enger Verbindung mit alltäglichen Tagträumen. Abschließend wird der Frage nachgegangen, ob daraus doch letztlich folgt, dass der Musikkonsument manipuliert wird, oder ob die Musik und ihr Konsum nicht umgekehrt zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Alltag beitragen und sogar zur Überwindung des abstrakten Raums führen könnten.

1

»When Loves Break Down«, 1985.

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Musik als Medium Repräsentiert die Musik von Punk, HipHop und Techno die Stadt?

Aus den im letzten Kapitel diskutierten urbanen ästhetischen Prinzipien im Punk, HipHop und Techno ließe sich ableiten, dass populäre Musik letztlich doch die Stadt repräsentiere. Besonders in Bezug auf HipHop wird auch relativ oft behauptet, dass die Musik ein direktes Abbild der Stadt sei. So ist Cheryl L. Keyes der Ansicht, Rap erzeuge durch die Sprache lyrische Filme, die es dem Hörer gestatten, urbane Szenen zu visualisieren.2 Peter McLaren sieht im Rap die Möglichkeit des imaginären Besuchs von Innenstadtghettos: »Through its cultural fusions, intercultural encounters, and expressive articulations, we are invited by gangsta rap to visit spaces we have never lived physically, nor would ever wish to – spaces that function significantly in the manufacturing of identity.«3 Diese Charakterisierungen beziehen sich aber in erster Linie auf den Inhalt der Raptexte und weniger auf die Musik. Zumindest Murray Forman gibt einen Hinweis auf den Einfluss der Musik, die den Klang der Stadt zitiere: »Rap music takes the city and its multiple spaces as the foundations of its cultural production. In the rhythm and lyrics, the city is an audible presence, explicitly cited and sonically sampled in the reproduction of the aural textures of the urban environment.«4 Ähnlich formuliert Tricia Rose die Qualität von HipHop: »Hip Hop replicates and reimagines the experiences of urban life and symbolically appropriates urban space through sampling, attitude, dance, style, and sound effects. Talk of subways, crews and posses, urban noise, economic stagnation, static and crossed signals leap out of hip hop lyrics, sounds, and themes.«5 Ein Beispiel, wie durch die Montage einzelner Elemente der Bezug auf die Stadt hergestellt werden kann, gibt Adam Krims anhand der Analyse des Reality-Rap-Tracks »Can It Be All So Simple« von Raekwon, in einem 2 3 4 5

Vgl. Keyes 2002: 134. McLaren 1999: 47. Forman 2002: xvii. Rose 1994a: 22.

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Remix von RZA. Die Überlagerung einzelner nicht zueinander passender Lagen führe zu einer extremen Spannung im Stück. Für Krims ist dies eine Form der musikalischen Repräsentation der Stadt.6 So entstehe durch die bewusste Erzeugung eines disharmonischen Klangbildes eine bedrohliche und aggressive Stimmung, die Krims das »HipHop-Sublime« nennt: »[I]t has constituted, since roughly the early 1990s, musical ›hardness‹ in reality rap music, and indexically, for artist and consumers, it encodes musically the urban conditions of community devastation and danger that the lyrics in the genre describe. […] The hip-hop sublime frames for the listener fears and pleasures of the black, inner-city ghetto that both fascinates and horrifies rap fans and our popular culture generally. In other words, this particular musical strategy has served, in rap music culture, as a figure for the view of inner-city menace and despair from the point of view of a trapped underclass.«7 Der Schilderung von Krims nicht unähnlich beschreibt Robert Walser die Musik von Public Enemy in Bezug auf die Stadt: »In the high-tech environment of their production studio, the producers of the Bomb Squad often turn their equipment against itself, in search of the rawness that is essential to Public Enemy’s conflicted urban soundscape, where sirens and drills punctuate the polytextured layers of modernity.«8 Diese Interpretationen setzten aber voraus, dass die Texte zur Deutung des Musikstücks genutzt werden und dass der Hörer die Musik entsprechend der Interpretation von Krims hört. Ein disharmonisches Klanggebilde muss aber nicht zwangsläufig als Ausdruck einer »gefangenen Unterklasse« gehört werden. Wichtiger ist, dass die Musik durch dieses ästhetische Mittel durchaus auf die klanglichen Eigenschaften des Stadtraums verweist. Auch Techno wird als direkte Repräsentation der industriellen Produktion von Detroit angesehen, zum Beispiel von Sabine Vogt: »Harte und schnelle Rhythmen, synthetisch kalte Klänge und atonal verzerrte Melodiefragmente reproduzierten vor allem das Automatisierungsprinzip der Detroiter Autoproduktion. […] Sie transportierte 6 7 8

Vgl. Krims 2003: 146. Vgl. ebd.: 146. Walser 1995: 197.

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gleichermaßen die Lebenserfahrung afroamerikanischer Jugendlicher, die von Arbeitslosigkeit und geringen Zukunftschancen geprägt war. Ganz ohne Texte, nicht wie beim Rap, folgten schrille Soundcollagen wie soziale Brüche am laufenden Band.«9 Gegen diese Engziehung von Techno mit Detroit spricht, dass sich postindustrielle Entwicklungen auch in anderen Städten beobachten lassen und dass deren Geräusche, wie schon erläutert wurde, vor allem durch Konsumgüter wie das Auto, allgemein zur Klangwelt von Städten gehören. Selbst wenn also die ästhetischen Prinzipien der Verwendung von Geräuschen und der Montage mit der Stadt korrespondieren, ist dies nicht als ein Abbild oder eine Darstellung der Stadt zu verstehen.

Das Problem der Bedeutung von Musik

Die größte Schwierigkeit, auf die man im Zusammenhang von Musik und Repräsentation trifft, ist die fehlende Denotation von Musik: Pierre Bourdieu zum Beispiel meint: »Die Musik ist die ›reine‹ Kunst schlechthin – sie sagt nichts aus, und sie hat nichts zu sagen.«10 Ähnlich weist Richard Middleton darauf hin, dass Denotationen wie sie in der Linguistik zu finden sind, in der Musik eher selten vorkommen.11 Und laut Helmut Rösing existieren nur wenige Beispiele für Repräsentationen der Stadt durch Musik: »Die offenkundigste Beziehung zwischen Stadt und Musik besteht fraglos in der hörbaren Nachahmung oder Kopie bestimmter städtischer Soundscapes. Diese Art von illustrativer Tonmalerei nimmt in der Musik jedoch quantitativ wie qualitativ einen eher geringen Platz ein. […] Eine musikalische Stadtikonographie oder gar eine urbanen Soundscapes zuzuordnende Gattung gibt es aber nicht.«12 Auch bei den Futuristen, der Musique Concrète, Techno oder Drum ’n’ Bass komme es nicht zu einer Repräsentation, da die städtischen Klänge in die Musik integriert seien.13 Rösing zieht den Schluss, dass Musik für ein städtisches Tongemälde nicht sonderlich geignet sei: 9 10 11 12 13

Vogt 2005: 178. Bourdieu 1992: 42. Vgl. Middleton 1990: 220. Rösing 1999: 115. Vgl. ebd.: 117.

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»Die dinglich-begriffliche Klarheit von Sprache – und ebenso natürlich auch von Bildern – erfährt weit mehr durch Musik eine emotionale Überhöhung als umgekehrt. Oder sie wird, in stadtgewidmeten Pop-, Rock- und Jazztiteln (wie Kairo, New York, Tokyo), zum musikalischen Exotismus. Ein Film wie »Night on Earth« von Jim Jarmusch dagegen kann auf der visuellen Ebene urbane Räume weit präziser wiedergeben als jede noch so illustrative Soundcollage, von ihrer Transformation und Verdichtung im Medium Musik einmal ganz zu schweigen.«14 Der Musiksoziologe Peter J. Martin geht noch einen Schritt weiter. Für ihn sind die Klänge in der Umwelt genauso bedeutungslos wie Musik selbst.15 Selbst in der Sprache sei die Nutzung von Klängen arbiträr, weil die gleichen Klänge unterschiedliche Bedeutungen annehmen und unterschiedliche Bedeutungen an die gleichen Klänge gekoppelt werden könnten. Deshalb ist es seiner Meinung nach nicht die Aufgabe der Musiksoziologie herauszufinden, welche ›wahre‹ Bedeutung Musikstücke haben, sondern nur, mit welchen sie von ihren Nutzern belegt werden.16 Bedeutung erhält Musik durch ihrer Nutzung und nur diese möchte Martin untersuchen: »In short, the meaning of popular music is to be found in, and only in, the uses to which it is put.«17 Es ist gerade die Unbestimmtheit von Musikstücken, die es für Martin notwendig macht, mit ihnen zu ›arbeiten‹. In diesem Prozess werde gelernt, der Musik Bedeutungen zuzuordnen. Musikhören wird zu einem kontinuierlichen Lernprozess und einer Zuweisungspraxis, mit der der leeren Hülle Musik Bedeutungen aufoktroyiert werden: » Our understanding of music does not involve the direct appreciation of inherent meaning but the process through which, both informally and via direct instruction, we learn the culturally appropriate ways to hear it.«18 Martin ist zwar insoweit zuzustimmen, dass die Codes der Musik zunächst gelernt werden müssen, um Musik verstehen zu können. Aber das ist kein überzeugendes Argument für eine generelle Bedeutungslosigkeit von Musik. Codes müssen für alle kulturellen Artefakte gelernt werden, um sie verstehen zu können. Das schließt jedoch keineswegs aus, dass die spezifische Struktur oder die klanglichen Eigenschaften von Musik Bedeutungen transportieren können, die nicht arbiträr sind, also nicht wie 14 15 16 17 18

Ebd.: 120. Vgl. Martin 1995: 56. Vgl. ebd.: 30, 72. Ähnlich auch Kennett 2003. Martin 1995: 272. Ebd.: 42.

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ein sprachliches Zeichen wahrgenommen werden. Dass Musik ein kulturelles Artefakt ist, das über die Organisation von Klang funktioniert und in der die Wahl der Klänge wie in ihrem Zusammenspiel gerade nicht ausschließlich konventionell ist, markiert einen zentralen Unterschied zur Sprache.

Taggs Konnotationsmodell

Ein Problem bei der Suche nach Bedeutung von Musik ist, dass in der Musik sehr unterschiedliche Ebenen zusammenkommen, die Bedeutungsträger sein könnten.19 Mit Middleton lässt sich bei Musikstücken zwischen primärer und sekundärer Signifikation unterscheiden. Ersteres meint die strukturelle Semantik, das heißt die innere Verweisstruktur eines Musikstücks. Es geht dabei um die Beziehungen, die die einzelnen Elemente eines Stückes im zeitlichen Verlauf zueinander aufnehmen und darum, wie diese Beziehungen aufgebaut sind.20 Mit sekundärer Signifikation sind alle außermusikalischen Bedeutungsgenerierungen angesprochen, durch die dem Musikstück eine Bedeutung zugewiesen wird. Die Komplexität der Analyse von Musikbedeutungen zeigt sich in einer der wenigen Arbeiten zur Bedeutungsgenerierung von populärer Musik, die der Musikwissenschaftler Philip Tagg vorgelegt hat. Hauptinstrument der Analyse ist die Bestimmung von »miminal units of expression in any given musical style«21, von Tagg als Museme bezeichnet. Sie werden durch den Vergleich mit ähnlichen Musikstücken herausgearbeitet und gleichzeitig in ihrer kulturellen, das heißt konnotativen Bedeutung beschrieben, also auf Middletons sekundärer Signifikationsebene. Um die bedeutungstragenden Elemente der Museme zu bestimmen, werden sie in einem zweiten Schritt variiert, um festzustellen, welche ihrer Elemente bei einer Veränderung auch zu einer Bedeutungsverschiebung führen. In einem dritten Schritt untersucht Tagg die Museme in ihrem Zusammenspiel während des zeitlichen Verlaufs des Stücks.

19 Schon alleine das ›reine‹ Material von Musik umfasse, folgt man Krystyna Tarnawska-Kaczorowska (1995:123-127), sieben Bedeutungsebenen. Sie listet neun Materialebenen auf: »1. sound, 2. artikulation, 3. dynamics, 4. rhythm, 5. metre, 6. agogics, 7. melody, 8, harmony, 9. texture« (123), darauf können sich folgende Bedeutungseben beziehen »I. Material, II. Coloristic, III. Constructional, IV, Expressive, V. Aesthetic, VI. Semantic, VII Semiotic«. 20 Vgl. Middleton 1990: 221-222. 21 Tagg 2000: 83.

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Ein Beispiel für die Analyse von Tagg ist die Bewertung der Blasinstrumente in der Titelmelodie der US-amerikanischen Krimiserie »Kojak«.22 Hörner würden in Musikstücken typischerweise mit männlich dominierten Aktivitäten in Verbindung stehen, wie Krieg oder Paraden, und seien mit Vorstellungen von Mut, Gefahr, Energie oder Spannung verbunden. Ähnliche Intervallverwendung des Horns wie bei »Kojak« entdeckt Tagg in der Titelmelodie zu »How the West was Won« oder, auf einer Orgel, bei der Erkennungsmelodie für die Comicfigur Mark Trail in einer Werbung für Kelloggs Pep Breakfast. Selbst bei Richard Wagner findet sich für den »Fliegenden Holländer« und »Siegfried« eine ähnliche Verwendung des Horns. Mit der gleichen Technik arbeitet Tagg bei der Bassbegleitung heraus, dass sie »energy, excitment, desultory, unrest, male aggressivity, threat of subcultural environment in large North American city […]«23 bedeute. Zusammenfassend ergibt die Analyse des Stückes: »[T]he music was found to reinforce a basically monocentric view of the world and to emphasize affectively the fallacy that the negative experience of a hostile urban environment can be overcome solely by means of an individualist attitude of strength and go-it-alone heroism.«24 Auffallend an diesem Ergebnis ist, dass es sich stark an dem Inhalt der Fernsehserie orientiert, die einen oft eigenwillig und alleine operierenden Kommissar zeigt. Ob diese Analyse gleichermaßen ohne Bilder oder Texteinhalte entstanden wäre und damit eine Analyse der Musik allein darstellt, bleibt offen. Fragwürdiger ist, ob Personen, die das Stück hören, die gleiche hermeneutische Herangehensweise an das Stück haben. Tagg benötigt für das Fünfzig-Sekunden-Stück dreihundert Seiten Analyse, um seine Bedeutung zu extrahieren und zieht diverse andere Musikstücke heran. Es ist unwahrscheinlich, dass andere Hörer über das gleiche musikalische Wissen verfügen, um die Musik entsprechend der Vorgehensweise von Tagg hören oder bewerten zu können. Darüberhinaus ist nicht sichergestellt, dass Hörer die Musik intuitiv im Sinne der von Tagg herausgearbeiteten Klangverweise hören. Tagg verdeutlicht zwar, dass auf der Ebene der sekundären Signifikation sehr wohl Verbindungen zur Stadt hergestellt werden können und diese eng mit der primären Signifikation in Verbindung stehen können, an die sie sich heften. Aber die Bedeutungsgenerierung entsteht auch für 22 Vgl. Tagg 1979. Vgl. auch Monelle 1992: 285-290. 23 Tagg 2000: 89. 24 Ebd.: 97.

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Tagg nur auf der Ebene von Konnotationen. Die Frage, ob nicht auch auf der Ebene der primären Signifikation, das heißt, den Klängen in ihrer strukturellen Ordnung innerhalb eines Musikstücks, direkte Bezüge zur Stadt erzeugt werden, bleibt unbeantwortet. So wird Musik ›nur‹ mit der Stadt in Verbindung gebracht, weil außermusikalische Praktiken oder visuelle Repräsentationen mit einzelnen Musikelementen verknüpft werden. Eine mögliche Korrespondenz zwischen ästhetischen Prinzipien von Musik und der außermusikalischen Welt wie dem Stadtraum wird nicht in Betracht gezogen.

Musik als Medium

Um sich der Wirkung von Musik, die aus der Korrespondenz ihrer ästhetischen Prinzipien mit außermusikalischen Phänomenen folgen könnte, anzunähern, bietet sich eine kritische Analyse des Vorschlags von Peter Wicke an, Musik als Medium zu beschreiben. Wicke versteht unter Medium nicht ein technisches Instrument, sondern ein Agens, in dem »sich ein physikalischer bzw. chemischer Vorgang vollzieht.«25 Strukturiert sei die Welt der populären Musik, weil sie über kulturelle Gestalten organisiert ist. Sie bilde sich aus einer »Matrix von Aktivitäten. Es ist eine Art Verhaltenscode, der das kulturelle Verhalten strukturiert und in der Rezeption der Songs, gebunden an ihre jeweilige Gestalt, gebildet wird.«26 Damit verbunden sind einzelne Rezeptionsverfahren oder Bewertungsmuster, die auf die Musik jeweils angewandt werden. Elemente der Musik sind Teil dieser Gestalt und verfestigen die ansonsten losen Verbindungen der Musik mit sozialen Gruppen und Deutungsweisen, sodass sich bestimmte Deutungsmuster, Praktiken und Strukturmerkmale der Musik miteinander verbinden.27 Durch ihre affektive Besetzung und gestaltbildende Organisation fungiert die Musik als Medium, um soziale Erfahrungen in persönlichen Sinn umzuwandeln. Dadurch entsteht ein kultureller Text, der fragmentierte Alltagserfahrungen zusammenführt und sich zu einer Weltanschauung kristallisiert. Die Songs der populären Musik spiegeln aber diese Weltanschauung nicht, sondern sie sind laut Wicke als quasi neutrales Medium an ihrer Produktion beteiligt. Wenn Musik keine Bedeutung an sich hat und nur durch ihre kontextuelle Bindung Wirkung zeigt, dann wird die gesamte Bedeutungsebe25 Wicke 1992: 17. 26 Ebd.: 19. 27 Vgl. ebd.: 19-21.

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ne auf die Konnotation verschoben. Musikbedeutung entsteht dann nur während ihrer Aufführung (oder beim Abspielen durch ein technisches Medium) durch die dabei entstehenden Verbindungen mit Handlungen, emotionalen Zuständen oder anderen Medienprodukten, wie Filmen oder Musikvideos. Wicke folgt also der rein kontextabhängigen Bedeutungsgenerierung von Musik. Problematisch an Wickes Konzeption ist, dass sie die Funktion der Musik, in Umdrehung der Erkenntnisfixierung von Adorno, alleine in der Affektvermittlung und -manifestation verortet, und sie auf diese Weise von anderen kulturellen Formen unterscheidet. Ansonsten stellt aber auch Wicke die Vorstellung von Musik als Behälter beliebiger Bedeutungen nicht in Frage. Mit der Zurückweisung jeglichen repräsentationellen Charakters begeht er den gleichen Fehler wie Martin: Er negiert die spezifische Qualität von Musik im Allgemeinen genauso wie die Differenzen zwischen unterschiedlichen Musikstücken. Die soziologische Analyse blendet wieder einmal genau das aus, was sie vorgibt zu untersuchen: die Musik. Die richtige Erkenntnis von Wicke, dass Musik in kulturelle Praktiken eingebunden ist, führt nicht zwingend zu der These, dass sie letztlich nur als neutrales Medium jeder vorstellbaren Aktivität dient. So kann HeavyMetal-Musik – von Wicke als Beispiel gewählt – zwar in den unterschiedlichsten Kontexten Verwendung finden und bei Hörern aus verschiedenen sozialen Gruppen unterschiedliche Reaktionen, Einschätzungen und Verhaltensweisen hervorrufen, das muss aber nicht heißen, dass ihre Bedeutung vollkommen offen sei. Selbst Martin schränkt die These der Willkürlichkeit von musikalischen Klängen dahingehend ein, dass er auf die funktionalen Notwendigkeiten hinweist, die ein Musikstück haben muss, um in eine bestimmte soziale Situation zu passen. Die Musik müsse über »elective affinities«28 verfügen, damit sie zu anderen kulturellen Elementen kompatibel sei. Ähnlich argumentiert die Musiksoziologin Tia DeNora, die darauf hinweist, dass Musik als »kulturelles Vehikel«, »Ressource« oder »Verbündeter« für soziale Praxis und Welterschaffung dienen kann. Sie könne dann als Rahmung für soziale Handlungen eingesetzt werden.29 Eine zentrale Wirkung des Musikkonsums besteht nach DeNora darin, dass Musik ihre Hörer handlungsfähig macht: »Music is not merely a ›meaningful‹ or ›communicative‹ medium. It does much more than convey signification through non-verbal means. At the level of daily life, music has power. It is implicated in every dimension of 28 Martin 1995: 145. 29 Vgl. DeNora 2000.

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social agency […]. Music may influence how people compose their bodies, how they conduct themselves, how they experience the passage of time, how they feel – in terms of energy and emotion – about themselves, about others, and about situations. […] To be in control, then, of the soundtrack of social action is to provide a framework for the organization of social agency, a framework for how people perceive (consciously or subconsciously) potential avenues of conduct.«30 Für DeNora ist die Musik nicht vollkommen neutral, denn als Ressource kann sie nur dienen, wenn einzelne Elemente wie zum Beispiel die Geschwindigkeit, Dynamik oder Stimmung eines Musikstückes genutzt werden können, um einen bestimmten Bewusstseinszustand zu erreichen, der die Handlungsfähigkeit herstellt. So erklärt DeNora auch, warum bestimmte Musik zu bestimmten Anlässen oder Situationen gespielt wird: Sie muss zu der angestrebten Stimmung passen. »Music may be understood as providing a container for feeling and, in this sense, its specific properties contribute to the shape and quality of feeling to the extent that feeling – to be sustained, and made known to oneself and others – must be established on a public or intersubjective plane. Music is a material that actors use to elaborate, to fill out and fill in, to themselves and to others, modes of aesthetic agency and, with it, subjective stances and identities.«31 DeNora macht darauf aufmerksam, dass Musik sehr wohl auch bestimmte Gefühle transportieren könne, die für ihre Hörer eine virtuelle Realität erzeugen: »Music thus provides a virtual reality within which respondents are able to express themselves in a (symbolically) violent manner, for example by choosing ›aggressive‹ or ›anti-establishment‹ music, or by playing music at full volume.«32 Damit die Musik aber eine bestimmte »virtuelle Realität« erzeugen kann, müsste sie Eigenschaften besitzen, die sie in ein Verhältnis zur Realität setzen, um zum Beispiel Aggression auszudrücken. Genau dies ist ein weiterer Hinweis, dass die Musik selbst nicht so komplett arbiträr sein kann, wie Martin oder Wicke unterstellen. Bestätigt wird diese Einschät30 Ebd.: 16-17. 31 Ebd.: 74. 32 Ebd.: 56.

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zung vom Linguisten Manfred Bierwisch, der darauf hinweist, dass Musik nicht einfach jede Art von Bedeutung annehmen kann: »Ein musikalisch codierter Gestus steht in konstitutiver Weise zu einem variablen, aber nicht beliebigen Erfahrungsinhalt kognitiver Natur in Bezug. […] Diese Tatsache spielt eine fundamentale Rolle für die Beziehung zwischen der Bedeutung musikalischer Zeichen und außermusikalischen Faktoren. Diese Beziehung ist durch zwei scheinbar gegensätzliche Feststellungen umschreibbar: Mit welchen Gedanken oder Vorstellungen Musik sich verbindet, ist praktisch nicht festlegbar, und: die Verbindung musikalischer Gestalten mit außermusikalischen Vorstellungen und Gedanken ist keineswegs beliebig.«33 Wenn die Bedeutung von Musik nicht beliebig ist, dann muss auch die Bestimmung des Mediums als grundsätzlich neutrales Agens zurückgewiesen werden. Dies kann an einem Vergleich verdeutlicht werden, den Wicke selbst bemüht. Musik als Medium setzt er parallel mit Roland Barthes’ Beschreibung der Autoscheibe eines legendären Citroën-Modells als »große Fläche […] der Luft und der Leere«34: » So wie Form und Beschaffenheit der Scheibe den Wirklichkeitsausschnitt festlegen, der durch sie hindurch sichtbar ist, trotzdem nicht die Scheibe, sondern die hinter ihr liegende Landschaft das Auge des Betrachters fesselt, so verhält es sich auch mit den Rocksongs. Text und Musik verankern sie in den kulturellen Kontexten von Freizeit, Alltag und Lebensweise, in denen sie funktionieren, legen damit ebenfalls einen bestimmten, nur eben sozialen Wirklichkeitsausschnitt fest. […] Und so wie sich das Auto in der Landschaft bewegt und dabei immer andere Wirklichkeitsausschnitte sichtbar werden, ohne daß sich die Form und Beschaffenheit der Scheibe verändern – sie begrenzen das Gesichtsfeld des Betrachters immer auf die gleiche Weise – so können auch die Rocksongs in der kulturellen Landschaft bewegt werden, wobei sie stets andere Bedeutungen umschließen, ohne daß sich Text und Musik verändern.«35 Um im Bild dieser »Scheibe« zu bleiben: Es gilt zu prüfen, ob das Medium der populären Musik nicht nur den Rahmen für die Betrachtung des Alltags bietet, sondern auch unter bestimmten Bedingungen dabei eine urbane klangliche ›Färbung‹ annehmen kann. Die im letzten Kapitel 33 Bierwisch 1979: 57. 34 Barthes 1964: 77. 35 Wicke 1987: 103-104.

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diskutierten ästhetischen Prinzipien haben ja schon gezeigt, dass durchaus bestimmte Elemente der Musik in Korrespondenz mit dem Stadtraum stehen.

Repräsentation durch strukturelle Isomorphie

Die Musikwissenschaftlerin Susan McClary hat darauf aufmerksam gemacht, dass trotz der Schwierigkeiten, die Bedeutung von Musikstücken zu bestimmen, diese Aufgabe nicht aufgegeben werden sollte: »I will claim that music (like other kinds of human artifacts) is assembled of heterogeneous elements that lead away from the autonomy of the work to intersect with endless chains of other pieces, multiple – even contradictory – cultural codes, various moments of reception, and so on. If music can be said to be meaningful, it cannot be reduced to a single, totalized, stable meaning. At the same time, its polysemousness does not justify our long-standing avoidance of interpretation.«36 Dieser Argumentation folgt auch der Musikphilosoph Peter Kivy. Er versucht nicht zu zeigen, dass Musik grundsätzlich oder gewöhnlich etwas repräsentiere, er ist aber der Meinung, dass es auch nicht ungewöhnlich sei, wenn sie etwas darstelle. Kivy unterscheidet mehrere Arten von musikalischen Repräsentationen. In seltenen Fällen komme es vor, dass Musik eine einfach zu identifizierende, auditive Darstellung von etwas sei, zum Beispiel indem ein Kuckuck oder eine Dampfmaschine nachgeahmt werde. Wesentlich häufiger seien aber in der Musik Repräsentationen, die nicht so eindeutig repräsentativ seien. In diesen Fällen müsse explizit durch den Titel oder den Text des Stückes ein Hinweis enthalten sein auf das, was der Komponist intentional mit der Musik repräsentieren wolle.37 Die Bedeutungsfluidität von Musik könne so in bestimmte Bahnen gelenkt werden. Kivy weist darauf hin, dass komplexere Zusammenhänge in Musik fast immer durch die Struktur eines Musikstücks repräsentiert werden müssen: »What is needed, then, for representation in any kind of detail, of a structure or system of elements, is another structure or system of elements that can more or less be isomorphic with it. For this reason it is musical 36 McClary 2000: 7. 37 Vgl. Kivy 1991: 33.

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structure that most often plays the leading part in musical presentation, for it is usually an object or phenomenon with a complex structure of its own that is the subject of the musical representation. For this reason, too, it can now be seen why the simple perceptual properties of sound must play a secondary representational role. Of themselves they do not possess the structure – the differentiation of parts necessary for the representation of complex objects or phenomena.«38 Das entscheidende Kriterium für eine Repräsentation in der Musik bestimmt Kivy also nicht in einer einfachen Imitation von etwas, sondern durch die Ähnlichkeit der Struktur der Musik, das heißt der internen Verweisstruktur der disparaten Elemente eines Musikstücks, mit dem, was sie repräsentiert.39 So kann laut Kivy eine harmonische Musik die Harmonie in der Ehe repräsentieren, auch wenn Harmonie in der Musik eine bestimmte angepasste Relation von Tönen meint und in der Ehe das aufeinander bezogene gelungene Zusammenspiel von Ehepartnern.40 Ein wichtiger Bereich von Repräsentation sind für Kivy Gefühle. Musik besitzt nicht selbst Gefühle, aber sie kann Gefühlen Ausdruck verleihen (expressive of emotions).41 Auf diese Weise könne Musik Dinge repräsentieren, nämlich indem sie ähnliche Gefühle hervorruft, wie wir sie in deren Gegenwart erleben würden: »We need not, that is to say, understand the musical representation of mountain as involving the impossible task of making me feel the way I would feel if I saw the mountain: music can only do that by sheerest accident. What music can do, perhaps, is be expressive of the emotions one might feel in contemplating a mountain, or (more important) be expressive of the same emotions that the mountain might be expressive of […]. The theory of musical representation as musical expression, […] is the theory of musical representation as musical expressiveness: that music represents things by being expressive either of the emotions that those things might arouse in us if we were experiencing them face to face, or by being expressive of the emotions those things are expressive of, or both.«42

38 Ebd.: 73. 39 Kivy (ebd.) definiert die Struktur der Musik etwas vage als »differentiation of parts«. In seiner Argumentation wird deutlich, dass er damit die von Middleton angesprochene primäre Signifikation von Musik meint, vor allem aber harmonische Zusammenhänge und Melodien. 40 Vgl. ebd.: 77. 41 Vgl. Kivy 1980: 31-49. 42 Kivy 1991: 133, Hervorhebung M. F.

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Kivys Argumente sind außerordentlich hilfreich, um Repräsentationen auf der Ebene der primären Signifikation zu untersuchen, ohne in einen Determinismus zu verfallen, nach dem eindeutig festgelegt sei, was ein bestimmtes Musikstück bedeute. Die Voraussetzung, dass Musik nur dann repräsentativ sein kann, wenn es außerhalb der Musik Hinweise auf den Repräsentationscharakter der Musik gibt, bedeutet nämlich auch, dass die Musik ganz andere Bedeutungen annehmen kann, wenn die Hinweise missachtet werden oder der Kontext, in dem die Musik konsumiert wird, andere Deutungen nahe legt. Problematisch an Kivys Ansatz ist allerdings, dass er sich auf die europäische Kunstmusik beschränkt.43 So lassen sich seine Beispiele, die sich fast immer auf Melodien oder Harmonien beziehen, nicht einfach auf die populäre Musik übertragen. Es erscheint nahezu unmöglich, nach Repräsentationen von Stadt in der populären Musik zu suchen, wenn nur die Melodien des Stückes untersucht werden. Eine Melodie oder Tonfolge, das war schon Rösings Argument, repräsentiert schlichtweg nicht die Stadt, es sei denn auf der Ebene der Konnotationen, wie sie von Tagg untersucht wurde. Problematisch in Bezug auf populäre Musik sind auch die von Kivy als notwendig erachteten Bedingungen, damit Musik als Repräsentation von etwas gelten könne – falls nicht einer der seltenen Fälle vorliegt, in denen der Verweis offensichtlich und ohne Weiteres zu hören ist. Zum einen bedarf es externer Hinweise auf den repräsentationellen Charakter eines Musikstücks. Kivy weist zum Beispiel auf Titel, Programmhefte oder den Text eines Stücks hin. Besonders Rapstücke beziehen sich zwar oft auf die Stadt und tragen ohne Zweifel dazu bei, Rapmusik mit der Stadt zu verbinden, gleichzeitig findet sich aber in vielen Punkstücken kein expliziter Hinweis zur Stadt. Gemessen an dieser Forderung könnte nur in Ausnahmefällen eine Verbindung zwischen Technotracks und der Stadt hergestellt werden, weil hier Texte weitgehend fehlen und Titel sich nur äußerst selten auf Städte beziehen. Aber auch da, wo sie besteht, erscheint die Bindung von Repräsentation an Tracktitel problematisch. Sebastian Klotz erkennt zum Beispiel im Stück »Inner City Pressure« des Drum-’n’-Bass-Musikers Goldie eine Repräsentation von Stadt: »Die extrem tiefen und abgebremsten Bässe assoziieren das Röhren der Stadt, die Eingeweide ihrer Leitungen, Schächte, Tunnel, unterirdischen 43 Generell beziehen sich Überlegungen zur Bedeutung von Musik fast ausschließlich auf die europäische Kunstmusik (vgl. zum Beispiel Monelle 1992, Tarasti 1995, Zannos 1999, Kramer 2001).

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Infrastruktur, ihrer Versorgungsleitungen. Ebenso könnte man an das Raunen einer personifizierten Stadt, des schlafenden Riesen denken, der sich von der Anstrengung erholt, die er sich selbst und seinen Bewohnern täglich bereitet. Goldie hält den Finger auf die Seismik des Untergrunds.«44 Abgesehen von der Schwierigkeit, dass die Analogien von Klotz unmöglich zu überprüfen sind (Wie klingt eine unterirdische Versorgungsleitung? Wie ein schlafender Riese?) und Klotz auch nicht nachweisen kann, dass das musikalische Material diese Repräsentationen enthält, stellt sich das Problem, dass sich auf der CD andere Tracks mit Titeln wie »Sensual« oder »You & Me« finden, in denen genau die gleichen Bässe zu hören sind und die sich auch sonst nicht grundlegend von »Inner City Pressure« unterscheiden. Warum also sollte die Stadt durch diese Tracks weniger repräsentiert sein, wenn sie sich musikalisch nicht grundlegend voneinander unterscheiden? Klotz’ Analyse verweist noch einmal auf die generelle Problematik der Deutung von populären Musikstücken: Sie verfällt schnell in Spekulationen, statt gesichertes Wissen über die Bedeutung von Musik zu liefern. Problematisch ist auch Kivys zweite Forderung, nach der Intention des Komponisten zu fragen. Zum einen ist die Intention von Musikern in Bezug auf ihre Stücke oft unbekannt. Wichtiger aber ist, dass in der populären Musik selten das Ziel verfolgt wird, repräsentative Musik zu schreiben. Das primäre Ziel ist zumeist, wie Joseph G. Schloss in Bezug auf Rapmusik festgestellt hat, ein funktionierendes Stück zu schaffen. 45 Würde man Kivy in seiner Argumentation folgen, wäre es so gut wie unmöglich, in der populären Musik so etwas wie strukturelle Isomorphien, die Gefühle ausdrücken, zu finden. Andererseits bleibt Kivys Beschreibung der strukturellen Isomorphien zwischen Musik und Gesellschaft ein sinnvolles Instrument, um die Bedeutungsgenerierung von Musik zu verstehen. Verbindet man die Überlegungen von Wicke und Kivy, wird deutlich, dass Musik dann zu einem nicht neutralen Medium wird, wenn sich strukturelle Isomorphien zwischen der Musik und der Gesellschaft ergeben. Die Frage ist folglich, unter welchen Umständen das Medium seine Neutralität aufgibt.

44 Klotz 2002: 180. 45 Vgl. Schloss 2004: 64.

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Idealisierte Stadtatmosphären durch Musik Die Bedeutung des Rhythmus

Gegen die These eines musikalischen Zusammenhangs zwischen Punk, Techno und HipHop und Stadträumen scheint noch ein weiteres, ihnen konstitutives Element zu sprechen: der Rhythmus. Seit den 1920er Jahren ist in der afroamerikanischen Musik zu beobachten, dass sich die percussiven, polyrhythmischen Elemente der Musik verstärken, während die europäischen Harmonien und Melodieführungen zurückgedrängt werden.46 HipHop und Techno können als ein weiterer radikalisierender Schritt in diese Richtung betrachtet werden. Im HipHop ist nicht nur die Musik stark rhythmusbetont, auch der Rap selbst hat rhythmische Qualitäten, durch die der »Fluss« des gesprochenen Textes entsteht, der sich sowohl auf die rhythmischen Elemente der Musik bezieht, als auch eigenständig von ihnen abhebt.47 Im Techno dominiert ein einheitlicher Rhythmus die ganze Musik. Die kontinuierlich durchlaufende Basstrommel bestimmt den gesamten Aufbau des Stücks, während weitere percussive und tonale Elemente komplexe rhythmische Wechselverhältnisse zueinander eingehen. Andere musikalische Elemente, wie tonale Zentren oder Akkordfolgen, sind demgegenüber weniger relevant.48 Mark J. Butler führt aus: »Rhythm is evident everywhere: in the motions of the dancers, in the constantly shifting array of patterns coming from the speakers, and in the ways [the DJ] […] changes and combines records. The most obvious rhythmic force is the bass-drum beat: loud and insistent, it sounds out the same basic quarter-note pattern throughout most of the performance […]. In many ways, the beat is the music.«49 Aber auch Punk ist eine zumeist stark rhythmisierte, temporeiche Musik, in der es, anders als in der afroamerikanisch geprägten Musik, fast keine Synkopierung gibt und die vor allem durch einen kontinuierlich angeschlagenen Bass geprägt ist. Aus diesem Grund groovt Punkrock nicht, sondern erzeugt eine intensive, monotone Musik, die, so Dave Laing, zu ihrem allgemeinen deklamatorischen Charakter passt:

46 Zur Bedeutung des Rhythmus in der populären Musik vgl. Pfleiderer 2006, zum Rhythmus in der afroamerikanischen Musik siehe auch Wicke 1987: 39, Keil 1991: 45, Berendt 1982: 203. 47 Vgl. Keyes 2002: 126-131. 48 Vgl. Jerrentrup 2001: 192. 49 Butler 2006: 4.

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»The fast tempo combined with the anti-syncopation tendency of many punk songs supported the connotation of urgency of utterance which declamatory vocals and their lyrics evoked. For if the pace of a song no longer functions as an impetus to dance it then becomes a sign that the singer needs to get across the message as quickly as possible.«50 Der Rhythmus und die repetetive und zugängliche Struktur von Punk, Rap und Techno erschaffen musikalisch etwas, was der Stadt größtenteils fehlt: eine geordnete, vorhersehbare Struktur. Dies gilt zum einen für die Klangwelt der Stadt: Punk, HipHop und Techno sind trotz Polyrhythmik immer geordneter als die kakophone und zufällige Klangwelt der Stadt. Auch die Stadt besitzt Variationen in ihren Klangeigenschafen, von Henri Lefebvre als »Musik der Stadt« bezeichnet:51 »To this inexorable rhythm which at night hardly abates, are superimposed other, less intense, slower rhythms: children going off to school, a few very noisy piercing calls, cries of morning recognition. The around 9.30, according to a schedule which hardly ever varies […] the arrival of shoppers, closely followed by tourists. Flows and conglomerates succeed each other, they increase or decrease but always accumulate at the corner then make their way, entangled and disentangled.«52 Aber trotz bestehender Variationen und Veränderungen des städtischen Klangraums bleibt die Klangwelt der Stadt, vor allem der Innenstadt, unruhig und tendenziell kakophon. Der strukturierte Rhythmus der Musik entspricht gerade nicht den einander überlagernden, unvorhersehbaren und sich verändernden Rhythmen, die die diversen Praktiken in der Stadt erzeugen. Was Robert Walser für die Musik von Public Enemy beschreibt, gilt deshalb für populäre Musik allgemein: »But at the same time that such grooves offer a dialogic, polyphonic environment, they also present these possibilities in noisy, technological, urban terms, making this social ideal seem relevant to the specific historical situation of many fans.«53 Diese hergestellte Ordnung der Klänge wird durch gezielt produzierte, ›perfekte‹ Klänge verstärkt. Hinzu kommt, dass trotz der Geräuschhaftigkeit 50 51 52 53

Laing 1985: 63. Vgl. auch Allen 1999: 56, Amin/Thrift 2002: 16-21. Lefebvre 1996: 221. Walser 1995: 212.

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der Musik viele Stücke und Tracks weiterhin dem europäischen, tonalen System verpflichtet bleiben, sodass die Töne und Geräusche letztlich harmonisch zueinander angeordnet werden.54 Für Wicke ist dies schon immer der Grund gewesen, warum Menschen sich in der Stadt populäre Musik anhören: »Wo Menschen außerhalb ihrer Wohn- und Arbeitswelt zusammentrafen, in den Volks- und Stadtparks, in Restaurants und Vergnügungsetablissements, in den Kleingärten und Festhallen, ließen sie sich von Musik begleiten, die sie wie ein imaginärer Raum mit Intimität, einer Ordnung aus Klang und einem kontrollier- und beeinflussbaren Rhythmus des Lebensgefühls umgab und damit von der Unübersichtlichkeit, Hektik und wachsenden Kälte des urbanen Umraums abschloß.«55 Die Betonung des Rhythmus dient außerdem dazu, die Hörer an Musik möglichst einfach teilzuhaben zu lassen und sie zum Tanzen zu bewegen.56 Denn als Tanzmusik bietet populäre Musik die Möglichkeit, sich zu treffen und zu feiern.57 Die Betonung des Rhythmus im Punk, Rap und Techno dient also dazu, die Menschen zu gemeinschaftlicher Bewegung zu animieren, wie genauso umgekehrt gilt, dass diese Musik vergemeinschaftende Wirkung hat, weil in ihr der Rhythmus so stark betont wird. 58 Es war schon immer eine der wichtigsten Funktionen von Musik, die Bildung von Kollektiven zu unterstützen. Punk, HipHop und Techno sind darin in keiner Weise etwas Besonderes. Genauso wie andere populäre Tanzstile dienen sie dazu, die zunehmende Individualisierung in den Städten zumindest temporär zu überbrücken und ein gemeinsames Erleben zu erzeugen. Dennoch fällt auf, wie wichtig die rhythmischen Komponenten in der Musik geworden sind. Eine Musik wie Techno, deren einziges Ziel ein kollektives, intensives Tanzerlebnis ist, kann auch als Antwort auf die zunehmende Fragmentierung medial bestimmter Gesellschaften verstanden werden. Aber auch Punk und HipHop sind durch intensive Betonung des Rhythmus 54 55 56 57 58

Vgl. Gracyk 1996: 124. Wicke 2001: 22. Vgl. Middleton 1990: 139, Frith 1996: 141-144. Vgl. Nelson 1999: 52-53. Im HipHop wird bei Konzerten durch den Einsatz des Call-and-Response-Prinzips zusätzlich die Gemeinschaft betont: Der Rapper spricht sein Publikum direkt an, tritt in einen Dialog, indem er die Zuhörer zum Wiederholen einzelner Textzeilen zu animieren versucht. Das Publikum soll dabei mitrappen und sich mitbewegen, sodass es zu einer einheitlichen und gemeinschaftlichen Erfahrung aller Beteiligten kommt (vgl. Keyes 2002: 26).

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darauf abgestimmt, die Bildung von Gemeinschaften zu unterstützen.59 Die Musik ermöglicht und unterstützt, was in der Stadt nicht länger ohne Weiteres herzustellen ist. Sie erweist sich dadurch erneut, diesmal mit umgekehrten Vorzeichen, in Korrespondenz mit den sozialen Praktiken des Stadtraums.

Punk, HipHop und Technomusik als urbane Atmosphäre

Die populäre Musik spricht den Wunsch nach Kontrolle der Klänge und Gemeinschaftlichkeit an, denn keine Stadt klingt so perfekt, geordnet, differenziert und eindeutig wie Punkstücke, Rap- oder Technotracks. Diese Idealisierung wird durch die Texte im Rap und Punk weiter unterstützt, weil diese in der gleichen idealisierten Weise von einem intensiven, direkten und heftigen Stadterleben berichten.60 Noch einmal passend dazu Walser: »The music of Public Enemy enacts survival in a complex, dangerous world; however oppressive and dissonant that world, it is made to seem negotiable through dialogue and rhythmic virtuosity. The dancing or gesturing body seems able to seize and rearticulate the power of the music, in contexts of reception that are communal even when they depend upon mass mediation.«61 Das Besondere in Punk, HipHop und Techno ist die Kombination aus Harmonie und Ordnung mit Geräuschen und Montagen. Ordnung und Unordnung, Harmonie und Lärm gehen dabei eine Melange ein. Dies unterscheidet sie auch von rein atonaler oder ausschließlich Geräusche verwendender Musik. Sie sind stattdessen in einem intermediären Bereich aus Korrespondenzen mit dem Stadtraum und seiner Idealisierung angesiedelt. Was dabei musikalisch entsteht, lässt sich als eine urbane Atmosphäre bezeichnen. Der Kulturphilosoph Gernot Böhme versteht unter Atmosphäre die jeweilige Relation zwischen Subjekt und Objekt: »Eine Atmosphäre ist dagegen etwas, demgegenüber eine vollständige Distanzierung nicht möglich ist, ohne daß es, wie wir schon sagten, zusammenbricht oder sich auf ein Ding zusammenzieht. Atmosphären

59 Vgl. Klein/Friedrich 2003b. 60 Zum Zusammenspiel von Klang und Text im Rap siehe Keyes 2002: 147-148. 61 Walser 1995: 211.

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haben immer auch einen subjektiven Anteil, d. h. sie sind in dem, was sie sind, immer auch durch den Ich-Pol mitbestimmt.«62 So sind Atmosphären »weder Zustände des Subjekts noch Eigenschaften des Objektes«63. Böhme versucht mit diesem Begriff eine neue Ästhetik zu etablieren, die weniger über gut und schlecht urteilt, als vielmehr das sinnliche, leibliche Erleben in den Mittelpunkt stellt. Bei der künstlerischen Erschaffung von Atmosphären geht es darum, das Verhältnis zwischen dem Subjekt und seiner Umgebung zu verändern. Umgekehrt heißt dies auch, dass eine Ästhetik nicht länger nur Kunstwerke analysiert, sondern die Bedingung und Wirkung von ästhetischen oder ästhetisierenden Atmosphären allgemein untersucht.64 Genauso kann auch die Wechselwirkung zwischen natürlichen oder künstlichen Atmosphären und ihrer Übertragung in ästhetische Artefakte Mittelpunkt der Analyse sein. Für Böhme ist im Besonderen die Musik in der Lage, Atmosphären zu erschaffen, vor allem wenn sie nicht wie üblich die Zeitdimension betone, sondern sich als ein räumliches Phänomen artikuliere.65 Dies zeige sich besonders in der Entwicklung der europäischen Kunstmusik, in der nicht länger Melodien oder Akkorde bestimmend seien, sondern » das vielgestaltige, quasi im Raum schwebende Klanggebilde und schließlich die Stimme im weitesten Sinne: die Stimmen der Instrumente in ihrer vielfältigen Verwendbarkeit, die Stimme der Natur, der Jahreszeiten, der Tiere, der Stadt und natürlich auch die Stimme des Menschen.«66 Entscheidend ist, dass nicht nur in der europäischen Kunstmusik, sondern auch im Punk, HipHop und Techno solche »im Raum schwebende[n] Klanggebilde« erzeugt werden, weil die klanglichen und rhythmischen Eigenschaften der Musik noch stärker im Vordergrund stehen, als dies selbst in populärer Musik üblich ist. Dadurch erschafft die Musik besonders leicht Atmosphären. Das im Besonderen Orte eine Atmosphäre haben, darauf hat die Soziologin Martina Löw hingewiesen: Räume haben ein bestimmtes Potenzial, eine »spezifische Fluida«67, die sie als solche wahrnehmbar macht. Ähnlich argumentiert der Soziologe Jean-Paul Thibaud, nach dem Atmos62 63 64 65 66 67

Böhme 2001: 46. Ebd.: 54. Vgl. Böhme 1995: 39-47. Vgl. Böhme 2001: 65. Böhme 1995: 9. Löw 2001: 205.

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phären uns in direkten, körperlichen Kontakt mit einer Situation oder einem Ort bringen, das zu Erlebende zu einer Einheit bündeln und so zu einer Tönung der Situation führten, welche die Grundlage für unsere Wahrnehmung darstellt.68 Dazu passt die Beobachtung von Böhme, nach der Atmosphären sich nicht ohne Weiteres mit einer von der Sprache ausgehenden Semiotik deuten lassen, weil sie ein Spüren des Leiblichen im Raum beschreiben. Und Löw schreibt: »Atmosphären sind demnach die in der Wahrnehmung realisierte Außenwirkung sozialer Güter und Menschen in ihrer räumlichen (An)Ordnung.«69 Die im letzten Kapitel beschriebenen Klangeigenschaften der Stadt sind zugleich die Basis für das Erleben von urbaner Atmosphäre. Genau aus diesem Grund können die im letzten Kapitel beschriebenen ästhetischen Prinzipien, welche mit dem Stadtraum korrespondieren, auch als strukturelle, oder genauer, formale Isomorphien fungieren, wie sie Kivy beschrieben hat. Dabei kommt es aber gerade nicht zu einer klanglichen Darstellung oder Abbildung der Stadt, sehr wohl aber durch Geräusche und Montagetechnik zur Erzeugung einer Atmosphäre, die mit dem Stadtraum korrespondiert und ihn durch den Rhythmus idealisiert.

Populäre Musik als Medium urbaner Imagination Das Problem der extremen Konsumvariabilität

Mit der begrifflichen Einholung der ästhetischen Prinzipien der Geräuschverwendung und Montage als formale Isomorphien zum Stadtraum, die eine urbane Atmosphäre erzeugen, ist immer noch nicht geklärt, unter welchen Bedingungen sie wirksam werden. Eines der größten Probleme in der Musiksoziologie bis heute ist die Untersuchung der Wirkung von Musikstücken. Was der Musikethnologe Charles Keil in den 1960er Jahren schrieb, gilt bis heute: »The problem in consummating musical symbolism lies of course in the fact that a phrase, or total work may hold different emotional connotations for the musician and for each individual listener. Yet it is safe to assume that Americans will perceive and interpret a Beethoven symphony in patterned ways that are distinctly different from those of the Japanese or any other culture. It can be further hypothesized that within a socio-economic status, or ethnic tradition may share certain meaning 68 Vgl. Thibaud 2003: 280-297. 69 Löw 2001: 205.

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with reference to a particular piece of music. There is no difficulty either in multiplying propositions of this sort or in making them more specific, but the testing of such propositions presents us with innumerable though not insoluble problems.«70 Die von Martin, Wicke oder DeNora vertretene These der Bindung der Bedeutung von Musik an ihre Nutzung resultiert auch daraus, dass Musik sehr flexibel verwendbar ist: sie kann in den unterschiedlichsten Kontexten von sehr unterschiedlichen Menschen zur Steigerung ihres individuellen emotionellen Haushalts genutzt werden.71 Ebenso argumentiert auch Lawrence Grossberg: » On the contrary, it is the assumption that musical texts, even with lyrics, function by representing something – meanings, ideas or cultural experience – that is problematic. When applied to rock and roll, the assumption does not seem false, merely incomplete: particular instances of rock and roll may represent different things for different audiences and in different contexts.«72 In einer Zeit, in der sich soziale Biografien und Geschmack ausdifferenzieren, ohne dass dadurch die hierarchische Struktur verloren geht, ist es noch schwieriger geworden, von der sozialen Position eines einzelnen auf seine Musikvorlieben und Bewertungschemata zu schließen.73 Hinzu kommt, dass Musik auch für denselben Hörer in unterschiedlichen Situationen zu ganz unterschiedlichen Interpretationen und Reaktionen führen kann. Zudem gibt es nicht nur verschiedene Formen des Musikkonsums, an den Konsum von Musik können sich ganz unterschiedliche weitere Aktivitäten anschließen.74 Sie kann, um nur einige Beispiele zu nennen, als einfache Unterhaltung ebenso dienen wie als Bewältigungsstrategie von Problemen oder als Identitäts- und Entwicklungsmedium.75 Die Assoziationen und imaginären Welten, die beim Musikhören entstehen, sind dem Musikethnologen Mark Slobin zufolge nahezu unendlich.76 Born und Hesmondhalgh machen dafür wiederum die fehlende Denotation von Musik mitverantwortlich: 70 Keil 1991: 211. 71 Interviews von Nordamerikanern aller Alterstufen zu ihrer Verwendung von Musik finden sich in Crafts/Cavicchi/Keil 1993. 72 Grossberg 2004: 312. 73 Zum individuellen Zugang zu Musik vgl. Slobin 2000: 19. 74 Vgl. Willis u. a. 1990: 72. 75 Die Liste stammt von Vogt 2005: 24. 76 Vgl. Slobin 2000: 78.

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»It is precisely music’s extraordinary powers of imaginary evocation of identity and of cross-cultural and intersubjective empathy that render it a primary means of both marking and transforming individual and collective identities. […] [I]t is because music lacks denotative meaning, in contrast with the visual and literary arts, that it has particular powers of connotation. Music’s hyperconnotative character, its intense cognitive, cultural, and emotional associations, and its abstraction, are perhaps what give it a unique role in the imaginary constitution of cross-cultural and inter-subjective desire, of exotic/erotic charge for the other culture or music in social fantasy. But these qualities are also means for self-idealization and, through repetition of the existing tropes and genres of identity-inmusic (national anthems, patriotic songs), for the reinforcement of extant collective identities.«77 Wenn aber mit Musik alles imaginiert werden könnte, dann blieben die Verbindungen zur Stadt auf der Ebene der Vorstellung vollkommen kontingent. Die bisherige Argumentation hat jedoch gezeigt, dass die Praktiken und die Musik von Punk, HipHop und Techno auf ästhetischen Prinzipien beruhen, die eng mit der Stadt in Verbindung stehen. Daraus folgt zwar nicht zwangsläufig, dass diese Verbindung beim Hören auch gezogen wird, aber sie ist doch wahrscheinlicher als andere. Andere Vorstellungen, wie zum Beispiel ein leerer Strand an der Nordsee, eine Kuhweide, die Zugspitze oder eine Waldlichtung passen weder zur Musik, noch zu den Texten, noch zu den Praktiken und Bildern ihrer jeweiligen Szene. Deutlich wird, dass die Praxis des Hörens und aller weiteren mit ihr verknüpften Inszenierungen und Praktiken berücksichtigt werden muss, die bei der Musik mit daran beteiligt sind, ihre Bedeutungen zu erschaffen. Es gilt folglich, sich weder auf die Musik alleine zu konzentrieren, noch auf die Praxis, die mit dem Hören von Musik verknüpft ist, sondern die Wechselwirkung zwischen beiden herauszuarbeiten. Die Frage ist nicht ob, sondern unter welchen Bedingungen die Musik mit der Stadt in Verbindung gebracht wird, das heißt, auf welche Weise die urbane, idealisierte Atmosphäre, die sie auditiv über ihre formale Ästhetik anbietet, wirksam wird.

Tagtraum durch Pop

Es existiert in der Debatte um die Wirkung von Musik ein breiter Konsens, dass Musik in besonderer Weise geeignet ist, Emotionen zu steigern oder zu steuern und dadurch eine bestimmte Stimmung zu unterstützen 77 Born/Hesmondhalgh 2000: 32.

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oder zu erreichen.78 Zur Steigerung des emotionalen Empfindens kann Musik vor allem deshalb beitragen, weil sie auf den ganzen Körper einwirkt.79 Für Frith ist Musikhören eine Performance, in der sich reale und imaginäre Elemente zu einem einheitlichen, gesteigerten Erleben der eigenen Person verbinden.80 Das Hören populärer Musik sei deshalb nicht einfach nur als Tagtraum zu beschreiben, weil dabei nicht nur eine imaginäre Vorstellung entstehe, sondern auch ein tatsächliches Empfinden: »Music making and music listening, that is to say, are bodily matters; they involve what one might call social movements. In this respect, musical pleasure is not derived from fantasy – it is not mediated by daydreams – but is experienced directly: music gives us real experience of what the ideal could be.«81 Aber was Frith schildert – die Verbindung aus realem, körperlichen Erleben und Imagination – ist die perfekte Realisierung eines Tagtraums, wie ihn Campbell beschreibt. Das Hören von Musik bietet eine einfache und vor allem effektive Methode, um eine kontrollierte emotionale Empfindung zuzulassen. Gleichzeitig erlaubt ihre fehlende Denotation, sie an individuelle Situationen und Biografien anzupassen und in solchen Tagträumen eigene Interessen auszugestalten. Genau aus diesem Grund ist Musik ein derart wichtiges Element der urbanen Kultur und auf das Engste mit dem Alltagsleben verbunden. 82 Eben deshalb sind die Städte voller Musik: »music is now the everyday (and silence becomes the mark of the special moment: a minute’s silence to observe death, the silence in a film which accompanies the most intense tension or ecstasy).«83 Für Frith, der nach einer Erklärung für die einzigartige Wirkung von Musik sucht, steht bei der Hörperformance die Orientierung an der Stimme der Sängerin oder des Sängers im Mittelpunkt. Aber auch wenn die mimetische Angleichung an einen Star sicher eine der zentralen Funktionen des Musikkonsums ist, bleibt die populäre Musik nicht auf diesen Effekt beschränkt. Frith selbst beschreibt Musikstücke als kleine Narrationen, auf die sich die Hörer beziehen können: 78 79 80 81 82

Vgl. Frith 1996: 273, Kivy 2002: 31-48, DeNora 2003: 83. Vgl. Chambers 1986: 209, Klein 1999: 297-300. Vgl. Frith 1996: 203. Ebd.: 274. Wie differenziert das Angebot ist, zeigt beispielhaft die von Vladimír Karbusický (1983) herausgegebene Übersicht des Musiklebens in Hamburg Anfang der 1980er. 83 Frith 1996: 237.

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»[I]f all songs are narratives, if they work as mini-musicals, then their plots are a matter of interpretation both by performers attaching them to their own star stories and by listeners, putting ourselves in the picture, or, rather, placing their emotions – or expressions of emotion – in our own stories, whether directly (in this situation, in this relationship, now) or, more commonly, indirectly, laying the performance over our memories of situations and relationships: nostalgia, as a human condition, is defined by our use of popular songs.«84 Laut Frith stellt diese Narration keine Repräsentation dar und legt auch nicht fest, was mit der Musik assoziiert wird. Aber wenn die Musik als Tagtraum fungieren soll, dann kann dies, wie in Anschluss an Campbell im dritten Kapitel gezeigt wurde, am besten geschehen, wenn sie sich auf den Alltag ihrer Hörer bezieht und diese die Musik mit ihrem eigenen Leben in Verbindung bringen können. So betrachtet ist es auch wenig verwunderlich, dass in der populären Musik so viele Anknüpfungspunkte zum Alltag zu finden sind, dieser Alltag aber gleichzeitig idealisiert wird. Besonders auffällig ist diese Bindung an den Alltag in den Themenschwerpunkten der Texte populärer Musik. Darin ist auffallend oft von erfüllter Liebe, Urlaub, Spaß, aufregendem Sex und Erfolgserlebnissen die Rede.85 Oder es wird umgekehrt, wie in Blues-Texten, über die Schwierigkeiten und Enttäuschungen im alltäglichen Leben berichtet. Solche Texte ermöglichen es, eine Verbindung zwischen Textinhalt und dem Leben des Hörers herzustellen.86 Und genauso erlauben die vielfältigen Bezüge zum städtischen Alltagsleben in Punk- und Raptexten, diese mit dem eigenen Leben oder der idealisierten Vorstellung, die der Hörer davon hat, zu verknüpfen. Wie im Laufe der Argumentation deutlich geworden sein sollte, existiert eine enge Verbindung der Musik mit der Stadt nicht durch die Texte alleine. Eine zweite direkte Verbindung besteht zwischen der Musik und den urbanen Praktiken und Figuren der Musikszenen und ihren visuellen Repräsentationen in Musikvideos, Filmen oder Bildern. Sie besteht, weil die Praktiken der medialen Musikszenen in den Alltag übernommen werden. Diese Verbindung resultiert nicht nur aus der Musik selbst, sondern auch aus der Konnotation mit Praktiken und Stilen. Daher ist es beim Musikhören leicht möglich, die Imagination auf die Praktiken der entsprechenden Szene zu lenken. 84 Ebd.: 211. 85 Vgl. die Übersicht zur anglo-amerikanischen Musik bei Urban 1979: 104-245. 86 Vgl. Middleton 1990: 98.

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Die dritte Verbindung ergibt sich aus dem Erleben der kulturellen und auditiven Eigenschaften von Stadträumen. Weil die Geräuschhaftigkeit, Überlagerung von unterschiedlichen Kulturen und das Nebeneinander unterschiedlicher Praktiken in den Innenstädten großer Städte erlebt werden kann, ist es auch möglich, zwischen Klang und Ort Verbindungen herzustellen. Diese Möglichkeit wird auch von DeNora für plausibel gehalten: »These sounds, the sheer texture and colour of particular instruments, may connote and perhaps evoke a sense of what it is like to be within specific material and corporal aspects of situations and settings – the sound of the horn, for example, may connote the out-of-doors and the hunt.«87 Es handelt sich aber im Falle von Punk, HipHop und Techno, wie schon gezeigt, nicht nur um Konnotationen, sondern in Bezug auf die Musik um formale Korrespondenzen mit dem Stadtraum. Für sich alleine genommen sind die drei Dimensionen (Texte, Praktiken und ihre visuellen Repräsentationen, Erfahrungen realer Stadträume) noch nicht hinreichend für eine enge Verbindung von städtischem Alltag und Musik. Genauso stellen die ästhetischen Prinzipien der Geräuschhaftigkeit und Montage jeweils für sich alleine keine eindeutige Verbindung zur Stadt her. Entscheidend ist aber, dass diese Referenzen alle aufeinander einwirken und sich dabei gegenseitig verstärken. So entsteht eine überdeterminierte Verweisstruktur, die die Praktiken und die Musik von Punk, HipHop und Techno sehr eng mit der Stadt in Verbindung bringen und dadurch die Musik zu einem idealen Medium machen, um einen urbanen Tagtraum erleben zu können. Unterstützt wird dies durch die Möglichkeit, sich qua Musikhören Orte besonders gut vergegenwärtigen zu können, wie Martin Stokes anmerkt: »The musical event, from collective dances to the act of putting a cassette or CD into a machine, evokes and organises collective memories and present experience of place with an intensity, power and simplicity unmatched by any other social activity.«88 Die Korrespondenz zwischen den Grundprinzipien der Musik und dem städtischen Umfeld, die durch Textverweise und Praktiken der Musikszenen im öffentlichen Raum flankiert wird, ermöglicht es, alleine durch den Konsum der Musik in einem Tagtraum imaginär die Emotionen zu 87 DeNora 2003: 100. 88 Stokes 1994: 3.

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erleben, die der Hörer mit Stadträumen assoziiert oder in ihnen schon erlebt hat. Die Musik als urbane Atmosphäre verhilft im Tagtraum zu einem idealisierten Erleben von Stadträumen. Wie dies geschieht, ist durch die Musik nicht festgelegt und kann sehr unterschiedliche Formen annehmen. Der Tagtraum kann sich vage oder konkret am urbanen Alltagsleben des Hörenden orientieren. Es ist aber auch möglich, dass beim Musikhören konkrete Vorstellungen entstehen, sich in bestimmten Stadträumen aufzuhalten. Dies kann auch die Vorstellung von Praktiken oder Figuren der entsprechenden Musikszenen beinhalten, das heißt, sich als Konsumgespenst, Großstadtkämpfer oder Utopist zu imaginieren und sich dabei das Verhältnis zur Stadt nach eigenen Vorstellungen auszumalen. Gerade die Möglichkeit der eigenen Gestaltung des Tagtraums, zu dem die Musik den entscheidenden urbanen Hintergrund liefert, ist die einzigartige Qualität, die Musik bietet. Um es noch einmal zu wiederholen: Dies heißt nicht, dass die Musik die Stadt darstellt oder eindeutig repräsentiert. In der Musik ist nicht die Stadt zu hören! Sie bietet stattdessen Anknüpfungspunkte, um eine Imagination zu ermöglichen, die sich affirmativ auf den postindustriellen Stadtraum und seine Klangeigenschaften bezieht. Musik ist generell ein ideales Medium, sich vom Alltagsleben zu entfernen, ohne es vollständig zu verlassen. Die Bezüge zum urbanen Alltag in der populären Musik erleichtern den Übergang in eine imaginäre Welt, weil sie in der Musik, den Texten und Stilen diverse Anknüpfungspunkte zum Erleben von Stadtbewohnern bieten. Gerade weil die Musik von Punk, HipHop und Techno eine Kombination aus Geräuschen und Ordnung anbietet, kann sie als Basis von Tagträumen dienen.89

Die Stadt hören

Wie im dritten Kapitel gezeigt wurde, ist die Vermischung aus Imagination und Realem ein zentrales Moment der modernen Stadt. Lefebvres Überlegungen zu den Repräsentationen des Raums verweisen auf eine Wechselwirkung zwischen dem Stadtraum, seinen Repräsentationen und dem alltäglichen Leben. Schon auf der Ebene der alltäglichen Praxis 89 So erklärt sich auch, warum Techno erfolgreich sein konnte, obwohl er Maschinenklänge verwendet, wie Ralf Hinz (2002: 149) verwundert feststellt: »Angesichts des Misslingens einer Verwirklichung dieser futuristischen Absicht ist es um so bemerkenswerter, dass es Techno gelungen ist, Klänge, die konventionell als maschinenförmig, metallisch, monoton, kalt, kurz: als unmenschlich betrachtet werden, einem recht breiten Publikum nahe zu bringen.«

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von Stadtbewohnern verdichten sich visuelle, akustische und olfaktorische Eindrücke zu Bildern und Vorstellungswelten. In einer von Medien geprägten Gesellschaft kommt es zusätzlich zu einer Amalgamisierung von Medienzeichen und materiellem Stadtraum.90 Auch der Filmwissenschaftler James Donald hat darauf aufmerksam gemacht, dass visuelle Repräsentationen nicht einfach eine gegebene Realität widerspiegeln, sondern aktiv an der Erschaffung von Stadt mitbeteiligt sind. So haben seiner Meinung nach auch Bücher Einfluss auf das Leben in der Stadt: »The relation between novel and city is not merely one of representation. The text is actively constitutive of the city. Writing does not only record or reflect the fact of the city. It plays a role in producing the city for a reading public. The period of the rise of the novel saw the emergence of other genres for recording, for instituting, the truth of the city. As we have seen, population surveys, police records, sanitary reports, statistics, muck-raking journalism, and photography all rendered the city an object of knowledge, and so an object of government.«91 Donald bestimmt deshalb die Stadt als eine vorgestellte Umwelt (imagined environment), in der es jeweils zu einem kreativen Akt des Austauschs zwischen dem wahrnehmenden Subjekt und dem Sozialen kommt. Die Stadt ist für ihn kein spezieller Ort, sondern ein historischer Modus des Sehens.92 Dieser Modus determiniert nicht die Wahrnehmung des Stadtraums, sondern fungiert als Medium, um wahrnehmen und handeln zu können, was wiederum die Stadt verändert und zu neuen Arten des Sehens führt.93 Die Stadt ist aber nicht alleine visuell bestimmt. Sie ist auch ein Modus des Hörens, der durch ihre Klangeigenschaften, ihre spezifischen Wahrnehmung und ihre Musik erzeugt wird. Wie sich erwies, sind Punk, HipHop und Techno seit mehreren Jahrzehnten an dieser auditiven Erzeugung beteiligt. Wie sich die Stadt anhört und was Stadt ausmacht, wird auch durch die Musik des Punks, HipHops und Technos geprägt, da sie aus dem Leben in Städten resultiert, eine ideale urbane Atmosphäre erzeugt, an das Alltagsleben von Stadtbewohnern anschließt und mit daran beteiligt ist, Stadt als imaginären Lebensraum zu erschaffen.

90 91 92 93

Dies zeigte schon die in Kapitel 3 diskutierte Position von Chambers. Donald 1999: 127. Vgl. ebd.: 92. Vgl. ebd.: 27.

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Urbane Imagination und Gesellschaft Alltagsbindung und Alltagserschaffung

Unabhängig von der Art der Musik und der Frage, ob ihre Texte oder die mit ihr verbundenen Praktiken gesellschaftlich Stellung beziehen, ist der Konsum von Musik primär hedonistisch motiviert. Adorno charakterisiert die populäre Musik als Manipulationsmedium, das seinen Konsumenten die Existenz einer perfekten Welt vorgaukelt und in der reflexionslosen Übernahme durch die Konsumenten zur kompletten Unterwerfung unter die kapitalistische Warenwelt führt, die in erster Linie für die vollständige Ungerechtigkeit und Falschheit der Welt verantwortlich ist.94 Aus der Perspektive von Musik als perfektem Medium für urbane Tagträume lassen sich die apodiktischen Thesen von Adorno, Baudrillard oder Kamper differenzierter betrachten. Da die Konsumkultur auch den Zwang zum Erwerb von Produkten impliziert, sind die Tagträume über Medienprodukte, mit denen Konsumenten ihren Alltag gestalten oder virtuell verlassen, ein wichtiges Prinzip, das System zu reproduzieren, dessen Grenzen und Einschränkungen man in der Imagination zu entkommen versucht.95 So ist sehr wohl möglich, dass die Vermischung von Angeboten der Unterhaltungsindustrie mit der Alltagspraxis zur Manipulation der Konsumenten führt, zumindest zur kurzzeitigen Flucht aus dem Alltag, ohne diesem wirklich entkommen zu können. Die Imagination der Konsumenten reduziert sich in diesem Fall auf das Nachahmen vorgefertigter Muster, vorgegeben von der Flut an Bildern und Musik, und auf die widerstandslose Übernahme einer idealisierten Alltagswelt. Der Fehler in der Argumentation von Adorno und seinen Nachfolgern besteht darin, jede Variation in der Aneignung zu negieren. In Bezug auf die Bindung an den Alltag lassen sich aber sehr unterschiedliche Umgangsweisen mit populärer Musik konstatieren. Das zeigt sich in der differenzierten Argumentation von Lefebvre. Obwohl er den abstrakten Raum primär durch Kontrolle und Profitorientierung geprägt sieht, verbindet er mit der vollständigen Verstädterung der Welt auch die utopische Hoffnung auf eine Überwindung des abstrakten, gleichzeitig vereinheitlichenden und fragmentierten Raums. Er bezeichnet diesen neuen Raum als differenziell: » Sobald das verstädterte Raum-Zeit-Gebilde nicht mehr durch die industrielle Rationalität definiert wird – durch deren Streben nach Homogenität –, erscheint es differentiell, jeder Ort und jeder Augenblick existieren 94 Vgl. Kapitel 6. 95 Vgl. Slater 1997: 126 und Kapitel 3.

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nur als Teil eines Ganzen, durch Kontraste und Gegensätze, die den Ort mit anderen Orten, den Augenblick mit anderen Augenblicken verbinden und somit herausheben.«96 Wie genau sich dieser differenzielle Raum ausprägen und wann er sich realisieren würde, war Lefebvre nicht eindeutig klar. Seine trialektische Raumüberlegung impliziert zum einen eine offene, nie abgeschlossene Entwicklung, zum anderen hoffte Lefebvre auf eine Revolution, die aus dem Alltagsleben der Stadt resultieren sollte: »Auch der banalste Alltag trägt in sich eine Spur von Größe und spontaner Poesie, es sei denn, er werde zur bloßen Werbung, zur Inkarnation der Welt der Ware, wo der Austausch den Gebrauch beseitigt oder überdeterminiert hat.«97 Die populäre Musik richtet sich aber gerade an diejenigen, die weder an eine Revolution glauben noch den Konsum von Waren ablehnen, auch wenn sie möglicherweise gegen bestehende Verhältnisse opponieren. Grossbergs dahingehende Einschätzung des Rock ’n’ Rolls lässt sich auf Punk, HipHop und Techno übertragen: »Rock and roll practice is a form of resistance for generations with no faith in revolution. Rock and roll’s resistance – its politics – is neither a direct rejection of the dominant culture nor a utopian negation (fantasy) of the structures of power. It plays with the very practice that the dominant culture uses to resist its resistance: incorporation and excorporation in a continuous dialectic that reproduces the very boundary of existence.«98 Revolutionen sind durch populäre Musikszenen nicht zu erwarten, dazu sind sie viel zu sehr in die Reproduktionsmechanismen von Gesellschaften eingebunden. Aber Lefebvre weist selbst auf eine andere Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderungen hin, die jenseits einer Revolution liegt. Weil der Unterhaltungs- und Freizeitbereich, in dem sich die populäre Kultur bewegt, gleichzeitig an den Alltag und die Warenwelt gekoppelt ist, beschreibt ihn Lefebvre als extrem widersprüchlich. Zum einen ist er für ihn genauso entfremdet wie der Arbeitsbereich:

96 Lefebvre 1972a: 43-44. 97 Ebd.: 91. 98 Grossberg 2004: 318.

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» Certain deviant or diverted spaces, though initially subordinate, show distinct evidence of a true productive capacity. Among these are spaces devoted to leisure activity. Such spaces appear on first inspection to have escaped the control of the established order, and thus, inasumuch as they are spaces of play, to constitute a vast ›counter-space‹. This is a complete illusion. The case against leisure is quite simply closed – and the verdict is irreversible: leisure is as alienated and alienating as labour; as much an agent of co-optation as it is itself co-opted, and both an assimilative and assimilated part of the ›system‹ (mode of production).«99 Zum anderen erkennt Lefebvre durchaus Möglichkeiten, zum Beispiel durch Musik zu einer Überwindung der Trennung von Sozialem und Mentalem, Sensualität und Intellekt und von Alltag und außeralltäglichem Fest zu gelangen: » Space is liable to be eroticized and restored to ambiguity, to the common birthplace of needs and desires, by means of music, by means of differential systems and valorizations which overwhelm the strict localization of needs and desires in spaces specialized either physiologically (sexuality) or socially (places set aside, supposedly, for pleasure).«100 Ähnlich argumentiert auch Witkin, der das ekstatische und körperorientierte Ausleben von Emotionen durch populäre Musik nicht als dumpfes und fremdgesteuertes Verhalten wertet, sondern darin eine Befreiung von der totalitären Rationalisierung des Alltags erkennt. Was Witkin zu Jazz und Blues ausführt, lässt sich auch auf Punk, HipHop und Techno beziehen: »The emotions that surface in the blues and in jazz celebrate a life that is suppressed and mutilated by modernity, and jazz has as much claim to being considered a medium of resistance as does the art of the high priests of modernism. The principal difference is that this suppressed life, the life of the body rather than the life of the mind, has a space in which it can be lived, namely the space of the interpersonal, the domestic and the leisured world. Its dynamic is not that of a negative dialectics aimed at the totalitarian collective, but of a sensuous and charged affectivity, lived and celebrated on the margins of rational-technical modernity, configured in relation to it and always rubbing up against its grain.«101 99 Lefebvre 1991: 383. 100 Ebd.: 391. 101 Witkin 2003: 179-180.

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So legen, wenn auch nur in embryonaler Form, zumindest die Praktiken und imaginären Räume, die durch Musikszenen erschaffen werden, die Spur zu einem anderen Raum, in dem gegenseitige Anerkennung, die generelle Zurückdrängung der Dominanz des Blicks und die freie Entfaltung des sinnlichen Körpers existieren.102 Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Alltag kann zudem durch Medienprodukte entstehen, wenn sie eigenständig und kreativ genutzt werden. Sie bieten dann die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen tatsächlichem und idealisiertem Alltag durch den Konsum der populären Musik und einen spielerischen Umgang mit der darin enthaltenen Differenz. Dies kann handlungsaktivierend wirken, weil die Musik verdeutlicht und hörbar macht, was der städtischen Umgebung in vielen Situationen fehlt: So ideal wie die Musik ist die Stadt gerade nicht. Das Erleben eines intensiven HipHop-Tracks, in dem der Rapper von seiner grenzenlosen Macht in der Stadt berichtet, oder eines Punksongs, der von unwiderstehlicher, aggressiver, urbaner Energie geprägt ist, kann durch den Kontrast zu einem manchmal tristen, monotonen oder erlebnislosen Alltag dem Hörer verdeutlichen, wie es eigentlich sein sollte und was der städtischen Praxis fehlt. Populäre Musik kann auch als Kritik des Alltags genutzt werden, indem sie in ihrer idealen Präsentation des alltäglichen Stadtraums seine reale Beschränktheit aufweist und gleichzeitig die Möglichkeit aufzeigt, diesen Alltag anders zu gestalten und zu verändern. Dadurch kann es nach Ansicht der Kulturwissenschaftlerin Stacey Warren zu Wahrnehmungsveränderungen des Alltags kommen: » [A]s people take pleasure in recognition of and identification with ele-

ments that have resonance in their own lives, they not only partake in wishful and imaginary renditions of social conditions, they also actively construct new relationships and new constellations of meaning. ›Real life‹ is refracted through, not replaced by, popular culture’s prism of fantasy.«103 Die Möglichkeit zu einer solchen Unterscheidung existiert auch, weil die Konsumenten mittlerweile gelernt haben, mit Produkten und den mit ihnen verknüpften Traumwelten reflexiv umzugehen.104 Es besteht also nicht, wie Adorno annimmt, eine generelle Entfremdung der Nutzer von populärer Musik, sondern sie ist, wie DeNora zeigt, eines der Instrumente, 102 Vgl. Lefebvre 1991: 363. 103 Warren 1993: 180-181. 104 Vgl. Kapitel 3.

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die Menschen überhaupt erst handlungsfähig machen. Szenen sind entsprechend weniger als widerständige oder subversive, sondern als Alltag erschaffende Kulturen zu beschreiben.105

Imagination und Praxis in der Stadt

Die Musik von Punk, HipHop und Techno vermittelt eine idealisierte Stadtatmosphäre. Dies gilt trotz der kritischen, nihilistischen oder antihegemonialen Texte des Punk und HipHop. Diese idealisierte Stadtatmosphäre wird mit den Mitteln der modernen Ästhetik erzeugt. Sie ist deshalb schwerlich als postmodern zu bezeichnen. Stattdessen affimiert sie genau den Stadtraum, der durch die Digitalisierung und den Postfordismus gerade begonnen hat, zu verschwinden oder sich zumindest radikal zu verändern. So ist, trotz neuer Distributionsformen, die Ästhetik dieser Musikrichtungen eine Überhöhung der Grundbedingungen moderner Städte. Diese Musik bestätigt und feiert die moderne Stadt, die durch industrielle Geräusche sowie kulturelle und soziale Überlagerungen geprägt ist und bietet gleichzeitig ein musikalisches Gerüst, in dem die Fragmente, Zitate und Klänge gerade nicht unvermittelt nebeneinander gestellt werden, sondern eine Einheit bilden. Die Mittel, die sie dazu einsetzt, sind nicht neu, sondern variieren Prinzipien, die in der Musik seit den Futuristen, das heißt seit fast hundert Jahren, angewandt werden. Aber diese Prinzipien werden durch die Konzentration auf Geräusche, Überlagerungen und Repetition in Kombination mit der europäischen Harmonik, die in der Moderne des 20. Jahrhunderts weiterhin eine tragende Rolle spielte, neu interpretiert. Zusammengenommen lässt sich die Musik von Punk, HipHop und Techno deshalb nicht als postmodern, sondern als hypermodern bezeichnen. Die Imagination im Rahmen der hypermodernen Popmusik erfolgt in den meisten Fällen über individuelle, private Konsumakte. Ob im öffentlichen Raum zur Bildung privater Territorien oder zu Hause:106 Musikhören findet meist alleine beziehungsweise in der Anwesenheit von Familie oder wenigen Freunden statt. Dies ließe die Schlussfolgerung zu, dass die hiermit verknüpfte Imagination alleine zur Individualisierung und Privatisierung beiträgt. Dagegen spricht aber zweierlei. Zunächst ist die Imagination durch Musik zentrales Moment der Teilhabe an Szenen, die nicht nur lokal sondern auch medial organisiert sind. Diese Teilhabe über 105 Vgl. Grossberg 1994: 52. 106 Vgl. Kapitel 2.

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die Imagination kann privat, ohne die Anwesenheit anderer Teilnehmer, stattfinden.107 Zweitens wird das Hören der Musik und die darin anknüpfende Imagination nicht ausschließlich individuell vollzogen, sondern auch im öffentlichen Raum, bei Konzerten oder Clubabenden.108 In der öffentlichen Aufführung macht die Musik den Ort, an dem sie zu hören ist, über die urbane Atmosphäre, die sie erzeugt, und durch die ritualisierte Bestätigung der Szene, die der Musik zuhört, zu einem ästhetisierten Stadtort. Sie bietet dem Einzelnen dabei im Zusammenspiel mit den anderen Teilnehmenden ein intensives leibliches Erleben. Anders formuliert: Die ansonsten individuell vollzogene idealisierte Stadtimagination realisiert sich so performativ an dem Ort ihrer Aufführung. Hinzu kommt, dass die Praktiken der Szene, bei denen die Imagination in Wirklichkeit umgesetzt wird, nicht nur auf Konzerten oder in Clubs, sondern auch im öffentlichen Raum stattfinden. In den drei untersuchten Musikszenen kommt es so nicht nur zu speziellen Kontakten mit Gleichgesinnten, sondern auch zu interaktiven Praktiken im und mit dem öffentlichen Raum, die ohne die Imagination nicht stattgefunden hätten. Das Besondere an der imaginierten, urbanen Umwelt durch populäre Musik ist, dass sie nicht auf einen bestimmten Ort fixiert bleibt. Weil sie mit technischen Medien gespeichert, reproduziert und transportiert werden kann, ist sie nicht an Zeit und Ort gekoppelt. So zeigt sich anhand populärer Musik, dass Urbanität und Stadt nicht länger in einem einfachen Wechselverhältnis zueinander stehen, sondern sich tendenziell voneinander trennen, ohne aber ihre Bindung vollständig aufzugeben. Das heißt, dass urbane Kultur mittlerweile überall erlebbar ist – das Abspielen eines urbanen Tracks, der einen Tagtraum erzeugt, ist dazu schon ausreichend. Andererseits bleibt die Stadt auch weiterhin wichtigster Generator neuer populärer Stile und ist das wichtigste Referenzfeld von urbanen, populären Musikszenen. Anders als die visuell orientierten Raumrepräsentationen dient die Musik nicht der Vereinheitlichung und Schaffung einer strikten Ordnung, sondern der Erzeugung von selbst erzeugten, offenen und durch das Imaginäre bestimmten urbanen Orten. Dadurch bietet sie Spielräume an, um über die Grenzen des fragmentierten und vom Tauschwert bestimmten Raums zumindest imaginär hinauszugelangen. Obwohl Musikszenen bisher immer an eine kommerzielle Vermarktung gebunden waren, ohne die sie ihre Entstehungsorte nie verlassen hätten, bilden sie gleichzeitig Formen anderer Verhaltens- und Verwendungsweisen nicht nur des öffentlichen Raums aus. Dadurch wirkt die Musik, mit den Be107 Vgl. Kapitel 5. 108 Vgl. Kapitel 1.

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griffen von Lefebvre, sowohl im Raum der Repräsentationen, als auch auf die räumlichen Praktiken. Der Umgang und die Aneignung des öffentlichen Raums und die Erlebnisse auf Konzerten fungieren wiederum als Basis für weitere individuelle Imaginationen. Dies nicht zuletzt, weil in der konkreten Umsetzung im öffentlichen Raum, genau wie bei jedem anderen Konsumakt, nicht die Perfektion des Tagtraums erreicht werden kann. So ergibt sich der gleiche Kreislauf, den Campbell zwischen Konsum, Imagination und Hedonismus beschreibt: Die urbane Imagination, deren Realisierung über Praktiken und Konsumakte sowie die Diskrepanz zwischen beiden führt zu einer gegenseitigen Verstärkung und Fortführung. Andererseits gilt, dass genau dieser Mechanismus Menschen zusammenführt und in Praktiken involviert, die in vielen Fällen über den reinen, individuellen Musikkonsum hinausgehen. Weil die Imagination über die Musik auf einen Stadtraum verweist, wie er idealerweise sein sollte, beinhaltet die Imagination auch den Impuls, den Stadtraum tatsächlich zu erleben. Genau aus diesem Grund sind die Musikszenen so intensiv mit der Aneignung und Umdefinition von Stadträumen beschäftigt. Sie leisten damit einen Beitrag zur urbanen Kultur, in der sich Imagination und Praxis in der Erschaffung von Orten kontinuierlich überlagern und vermischen.

Fazit: Träume der idealen Stadt

Die Wirkung von Musik durch Imagination und Praktiken im urbanen Raum liegt in der traumähnlichen Vermischung von Realem und Fiktivem. Durch die Erschaffung idealisierter urbaner Atmosphären webt sie mit an der Wahrnehmung städtischer Räume. Anders als visuelle Medien, die ihren Betrachter immer in Distanz zu dem belassen, was er sieht, kann durch urbane, populäre Musik die idealisierte Stadtwelt nicht nur von außen betrachtet, sondern imaginär erlebt werden. Durch die Möglichkeit, sie flexibel mit der persönliche Erlebniswelt in Verbindung zu setzen, macht sie die Hörer selbst zu aktiven Teilen der geträumten und gleichzeitig realen Stadt. Sobald dies geschieht, ist die Musik nicht länger ein neutrales Medium, sondern eine Vermittlungsinstanz zwischen realem und idealisiertem städtischen Alltag. Der Konsum der Musik dient dazu, den städtischen Raum durch seine Idealisierung imaginär zumindest partiell zu verlassen, andererseits ist diese Herstellung von Außeralltäglichkeit konstitutives Prinzip des Alltags selbst geworden. Dadurch ist die Musik selbst Ordnungsmoment des

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Alltags und bestätigt selbst in ihren explizitesten, kritischsten Varianten die Gesellschaft. Dies gilt auch, weil die kontinuierliche imaginäre Überschreitung des Alltags durch Tagträume nichts an seinen Grundbedingungen ändert oder ändern kann. Gerade weil die populäre urbane Musik die grundlegende Ambivalenz des Stadtraums zugleich reproduziert und in Frage stellt, ist sie eines der zentralen Medien, mit dem verhandelt wird, was der alltägliche Stadtraum ist und wie er sein sollte.

9. Zusammenfassung: Die Bedeutung von Musik und Stadt

Stadt und Konsum

Mit der Industrialisierung wurden die Städte zentrale Orte der Produktion und des Konsums. Mit der schwindenden Bedeutung der Stadt als Produktionsstandort seit den 1970er Jahren kommt es zu einer Aufwertung der Rolle des Konsums und zu einem Wandel der Städte zu Kontroll- und Konsumzentren. Die Konsumaufwertung zeigt sich nicht zuletzt in der wachsenden symbolischen Ökonomie in den Städten, die sich neben dem Finanzsektor auf die Entwicklung und Gestaltung von Konsumgütern und Konsumorten konzentriert. Die Relevanz des Konsums zeigt sich nicht nur in designten Verkaufsorten und in der Gestaltung von Innenstadträumen, sondern auch in der Zersiedelung des Stadtraums, bei dem zuerst die Wohn- und mittlerweile auch die Arbeitsorte an die immer weiter ausufernden Stadtränder verlagert werden. Als Folge der Zersiedelung einerseits und der Bildung von Konsumorten andererseits trennen sich die einzelnen Orte der Stadt immer stärker voneinander. Diese Fragmentierung der Stadt verstärkt sich durch die individuelle Nutzung technischer Medien, deren Konsum durch mobile Empfangs- und Abspielgeräte nicht länger an bestimmte Orte gebunden ist. Aber Konsumorientierung, Fragmentierung und Privatisierung von öffentlichem Raum beschreiben die aktuelle Entwicklung der urbanen Kultur nur ungenügend. Punk, HipHop und Techno zeigen, dass der Stadtraum nicht aufgegeben wird und sich nicht nur in einen Unort steriler Konsumakte wandelt. Die drei Szenen sind eng mit dem wachsenden Einfluss der Konsumkultur verbunden. Und für die Produktion ihrer Musik ist die räumliche Struktur vieler Städte, die sich entlang der sozialen Struktur in Innenstädte und suburbanisierte Vorstädte ausdifferenziert haben, ein wichtiger Faktor. Aus der Spannung zwischen einer

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Vorstadt, die als langweilig, und einer Innenstadt, die als aufregend und vielfältig gilt, hat sich ein intensives Wechselspiel entwickelt, in dem die Vorstadtbewohner real und imaginär dem Leben der Innenstadtbewohner nacheifern.

Punk, HipHop und Techno

In den drei Szenen von Punk, HipHop und Techno haben sich jeweils Techniken und Figuren ausgeprägt, die auf die soziale und kulturelle Situation postindustrieller Städte reagieren. Der Fragmentierung stellen sie Prinzipien der Verortung entgegen. Im Punk geschieht dies durch die Bildung von unheimlichen Orten, im HipHop durch die Bildung und symbolische Verteidigung von Territorien und im Techno durch selbstbestimmte U-Topoi. Im Punk existiert eine Anti-Konsum-Haltung, obwohl die daraus resultierende Musik und Mode von vornherein in die kritisierte Konsumwelt integriert gewesen ist. Als Konsumgespenster, die Konsumgegenstände verfremden und gängige Konventionen im öffentlichen Raum bewusst nicht beachten, stören sie die möglichst perfekt gestalteten Konsumorte und machen diese unheimlich. HipHop setzt sich zum einen explizit mit sozialer Ungleichheit und mit der Verdrängung sozial benachteiligter Gruppen in der Stadt auseinander, die Folgen der neuen konsumorientierten Stadtentwicklung sind, zum anderen propagiert HipHop auch Konsum im Überfluss als Gratifikation für erfolgreiche Mitglieder der Szene. Zentrale Figur im HipHop ist der Großstadtkämpfer, der den Stadtraum in einem spielerischen Wettbewerb für sich und seine Gefolgschaft reklamiert. Techno folgt zum einen der Ästhetisierung von Orten, wie sie in den Innenstädten zu beobachten ist, um ein möglichst intensives, kollektives Erleben im Tanz zu ermöglichen, zum anderen erinnert Techno durch seinen Klang und die Wahl von verlassenen Industriestandorten als Party-Ort an die industrialisierte Stadt, die langsam zu verschwinden beginnt. So sind die Technos Utopisten, die den perfekten Ort und die perfekte Gemeinschaft im Tanz zu erzeugen versuchen, ohne dass diese performative Erschaffung jedoch über den jeweiligen Augenblick ihrer Entstehung hinausgeht. Anhand von HipHop, Punk und Techno konnte auch gezeigt werden, dass sich Musikkulturen nicht als Subkultur oder als Tribe vergemeinschaften, sondern als Szenen. In ausgewählten örtlichen Szenarien können sich Personen treffen und dabei mit anderen in Szene setzen. Die Szene transportiert und reproduziert Praktiken, Inszenierungsfor-

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men und Verhaltensweisen, mit denen sich die mehr oder weniger involvierten Mitglieder ausdrücken, orientieren und identifizieren. Über idealtypische Figuren werden die Überzeugungen, Verhaltensweisen und Wahrnehmungen gebündelt und den Szenemitgliedern zugänglich gemacht.

Musikkonsum und Stadtimagination

Die Basis für Musikkonsum, genauso wie für jede andere Konsumpraktik, ist Imagination. Imagination ist die Fähigkeit, sich etwas Abwesendes vorzustellen und dieses Abwesende gleichzeitig zu verändern, es auszuschmücken, zu reduzieren und mit anderem in Verbindung zu bringen. Sie wird eingesetzt als Medium hedonistischer Akte, indem sich eine Person ihr eigenes Leben so vorstellt oder erträumt, wie sie es gerne hätte. Die Verbindung von Imagination und Hedonismus macht Imagination nicht nur zu einem äußerst wichtigen Element jeglicher sozialer Praktiken, sie ist zugleich auch der Motor des Konsums, weil Konsumgüter als Mittel zum hedonistischen Erleben dienen. Weil aber der Erwerb und Verbrauch eines Konsumguts nie das verwirklichen kann, was sich ihre Käufer in ihrer Vorstellung als idealen Zustand ihres Alltags erträumen, kommt es zu einem nie enden wollenden Zirkel aus Imagination und dem Erwerb neuer Konsumgüter. Das Zusammenspiel aus Imagination und Konsumkultur verdeutlicht, dass zur Analyse städtischer Entwicklungen und Ausprägungen, verstärkter als dies bisher der Fall war, eine kultursoziologische Perspektive einzuschlagen ist. Die Stadt besteht nicht nur als materielles Substrat, sondern ist auch ein imaginäres Gebilde. Was unter Stadt vorgestellt wird und wie das Städtische erlebt wird, ist nicht länger nur an die Erfahrung des lokalen Ortes gekoppelt, sondern auch durch fiktionale, popkulturelle Artefakte mitbestimmt. Sie sind mit daran beteiligt, die Stadt erlebbar und erfahrbar zu machen. Bisher galten nur visuelle Vorstellungen und Artefakte wie Bilder, Filme oder Texte involviert in die imaginäre Erschaffung der Stadt. Es konnte hier gezeigt werden, dass auch Musik in diesem Prozess eine Rolle spielt. Punk-, HipHop- oder Technomusik sind keine völlig neutralen Medien, die jede Art von Imagination gleich wahrscheinlich machen. Weil die ästhetischen Prinzipien der Musik isomorph sind mit den klanglichen und kulturellen Eigenschaften von Stadträumen, sind sie besonders gut geeignet, eine urbane Imagination zu erzeugen. Die Überlagerung von Imagination und Realität führt jedoch nicht dazu, dass die Zeichenwelt übermächtig wird und sich hypostasiert.

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Stattdessen bietet die populäre Kultur eine von vielen Zugangsweisen in den städtischen Raum an. Nicht die Allgegenwart von medialer Kultur macht die Stadt zu einem hybriden Gebilde, in dem zwischen Imagination und Realität nicht länger zu unterscheiden wäre, vielmehr ist die Stadt, entsprechend des Raummodells von Lefebvre, grundsätzlich ein Gebilde, welches sich jeweils in dem Zwischenfeld aus instrumentellen und künstlerischen Repräsentationen, Imaginationen und Praktiken entfaltet. Die Imagination durch populäre Musik bezieht sich auf das Alltagsleben in städtischen Räumen. Dieser Bezug erweist sich als äußerst ambivalent: die Imagination ermöglicht es einerseits dem Alltäglichen zu entkommen, andererseits ist dieses Verhalten selbst Alltag erschaffend und wirkt dadurch stabilisierend und affirmativ. Die Imagination erlaubt einen unkritischen, hedonistischen Tagtraum, aber genauso auch einen kritischen Vergleich zwischen dem Alltag und seiner Idealisierung. Die Deutung der populären Musik entweder als Subversions- oder umgekehrt als Manipulationsmedium greift jeweils zu kurz und muss zurückgewiesen werden.

Das Städtische ist überall

Die Entfaltung urbaner Kulturen ist nicht länger nur an zentrale Stadtorte gebunden. Urbane Kultur lässt sich vielmehr durch die Aneignungen der medial zugänglichen Popkultur überall erleben. Dies sollte nicht zu der Annahme verleiten, dass die Großstadt nicht länger Zentrum für die populäre Musik ist. Auch wenn Elemente des Städtischen mittlerweile überall zu finden sind und sich der Stadtraum immer weiter ausdehnt, so bleiben die Innenstädte weiterhin die Orte, an denen Innovationen am wahrscheinlichsten sind, weil es in ihnen zur Überlagerung der unterschiedlichsten Flüsse und zur höchsten Dichte an Überschneidungen kommt. Die Stadt ist bis heute, als Konzentration von Möglichkeiten zur Produktion und Distribution von Musik, als Lebensraum und als Projektionsfläche, das uneingeschränkte Zentrum populärer Musik. An jedem Ort der Welt finden sich in der Regel die Einflüsse ganz unterschiedlicher Orte vereint. Die Stadt lässt sich aber bis auf Weiteres als ein räumliches Gebilde bestimmen, in dem viele solcher Orte sich in relativer Nähe zueinander befinden und sich gegenseitig beeinflussen.

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Die Bedeutung der auditiven Welt und der Musik

Es konnte gezeigt werden, dass die auditive Welt eng mit allen sozialen Prozessen verbunden ist. Sie ist nicht lediglich das zufällige Abfallprodukt menschlichen Handelns, sondern selbst an der Erschaffung des Sozialen beteiligt. Eine Soziologie, die dem gerecht werden will, muss die Konstruktionsleistung und Fähigkeit zur Welterschaffung, die ungeordnete oder geordnete Klänge besitzen, mitbeachten. Dies lässt nur eine Schlussfolgerung zu: Die einseitige Bindung an das Visuelle, welche die Soziologie seit ihrer Gründung pflegt, muss aufgeben werden, um die vielfältigen sinnlichen Dimensionen der Kultur erfassen, erriechen und erhören zu können. Besonders die Musiksoziologie ist aufgefordert, sich verstärkt wieder dem zuzuwenden, was ihren Namen begründet: der Musik. Die Schwierigkeiten der Aneignung und Übertragung der Erkenntnisse der Musikwissenschaften sollten kein Hinderungsgrund sein, auch die Struktur von Musik in die soziologische Analyse zu integrieren. Als Vermittlungsinstanz zwischen Produzenten und Konsumenten und als wichtigstes Medium zur Generierung von Imagination während ihrer Rezeption, kann sie in der soziologischen Analyse nicht ausgespart werden. Auch die Befürchtung, in die ästhetische Falle von Adorno zu fallen, ist kein Argument für die Aussparung der Musik aus der Musiksoziologie. Die Problematik von Adornos Theorie zeigt stattdessen, dass eine Soziologie sehr vorsichtig mit der Politisierung populärer Musik umgehen muss, weil die Gefahr besteht, eigene politische und ästhetische Präferenzen in die Musik und ihre Verwendung hineinzuinterpretieren. Trotzdem gilt es, auch ihre Wirkung als Musik zu untersuchen, und nicht alleine die Praktiken, die um sie herum strukturiert sind. Für eine allgemeine Soziologie ist besonders die Wirkung von Imagination hervorzuheben. Sie ist durch ihre enge Verzahnung mit der Konsumkultur zu einem der wirkmächtigsten Phänomene der gesellschaftlichen Entwicklung geworden. Sie prägt nicht nur den Alltag durch imaginäre Praktiken der Gesellschaftsmitglieder, sondern wirkt auf die Gestaltung von Räumen genauso wie auf deren Wahrnehmung. Eine Soziologie muss deshalb die Imagination noch deutlich mehr in ihren Modellen berücksichtigen und darf sie nicht länger als Akzidenz der sozialen Systeme betrachten.

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Ausblick

Es erwies sich, dass es einen allgemeinen Zusammenhang zwischen Musik, Stadtraum und Imagination gibt. Die angestellten Analysen sollten nicht so missverstanden werden, dass es ausschließlich eine Beziehung zwischen städtischen Räumen und populärer Musik gebe. Das Gegenteil ist zutreffend. Populäre Musik ist ein äußerst komplexes Feld. Dies ausschließlich mit ihrer Bindung an den städtischen Raum oder urbane Kulturen zu erklären, würde letztlich dazu führen, einen einfachen Kausalzusammenhang zu postulieren und alles aus der Stadt heraus zu erklären. Die Ergebnisse laden deshalb zu weiteren Untersuchungen und Spezifizierungen ein. Eine weiterführende Analyse bietet sich auf drei Ebenen an: Erstens geht die Bedeutungsgenerierung durch populäre Musik über eine formale klangliche Korrespondenz zwischen Musik und Stadt hinaus. Deshalb stellt sich die Frage, welche weiteren Bedeutungen in welchen Kontexten populäre Musik produziert und wie diese mit der Imagination von Stadt zusammenspielen. Eine zweite Ebene bezeichnet die vertiefende Differenzierung der Ergebnisse für unterschiedliche Personenkreise und Situationen. So ließe sich genauer bestimmen, wie urbane Imagination in Abhängigkeit von sozialstrukturellen Merkmalen vonstattengeht, wie also das Geschlecht, die ethnische Zugehörigkeit, das Alter und die Biografie Einfluss auf die Imagination nehmen. Genauso wäre zu untersuchen, in welchen Alltagssituationen Tagträume durch populäre Musik angeregt werden. Die dritte Ebene könnte in der Erforschung weiterer urbaner Aktivitäten bestehen, die zwar Verbindungen zu der Produktion oder dem Konsum von Musik besitzen, sich aber nicht auf diese reduzieren lassen. Hier könnte vor allem die Bindung und Nutzung von Musik im politischen Willensbildungsprozess oder bei der Artikulation politischer Haltungen von Interesse sein. Musik gilt, wie sich zeigte, im Popdiskurs bis heute oft als entweder subversives oder affirmatives Medium. Die grundsätzliche Bindung an den Alltag und ihre mediale Distribution verbieten solche Pauschalurteile und ästhetischen Fehldeutungen. Musik besitzt aber beachtliches Potenzial zur Beeinflussung von Imagination und Praxis, die sie für politische Verwendungen prädestiniert. Es gilt vertiefend zu untersuchen, unter welchen Bedingungen Musik politisch wirkt, wann also die auditive Ästhetik zu politischen Handlungen führt oder diese unterstützt. Zumindest sollte klar geworden sein, dass die Verbindung von Musik und Imagination ein nicht zu unterschätzendes Wirkungspaar ist, dass es unbedingt nötig macht, in der Soziologie die Musik deutlich ernster zu nehmen, als dies bisher der Fall war. Die Analyse der Wirkung von Musik hat gerade erst begonnen.

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Danksagung Eine wissenschaftliche Arbeit, besonders wenn sie zur Qualifikation dient, muss zum größten Teil alleine bewältigt werden. Gleichzeitig kann sie nur durch die Unterstützung vieler Personen gelingen. Ich möchte allen herzlichst danken, die durch Rat, Aufmunterung, Diskussion, Verständnis, Geduld, Verbesserungsvorschläge, Korrekturen oder Bereitstellung monetärer Mittel dieses langjährige Projekt unterstützt haben. Im Besonderen: Helmut Berking, Viola Binacchi, Knut Dietrich, Dietrich Helms, Carina Herring, Alexandra Färber, Maggy Friedrich, Ole Friedrich, Thomas Götz, Melanie Haller, Jana Ilge, Sven Ismer, Fredericke Lampert, Oliver Ludwigs, Martina Löw, Gabriele Klein, Hermann Korte, Sabine Magerl, Dirk Meyercordt, Tobias Nickl, Thomas Phleps, Michael Renken, Renate Ruhne, Imke Schminke, Petra Urban, Ursula von Unger und Christian Weller.

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Imke Schmincke Gefährliche Körper an gefährlichen Orten Eine Studie zum Verhältnis von Körper, Raum und Marginalisierung 2009, 270 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1115-1

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Materialitäten Lars Frers Einhüllende Materialitäten Eine Phänomenologie des Wahrnehmens und Handelns an Bahnhöfen und Fährterminals 2007, 302 Seiten, kart., zahlr. Abb., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-806-3

Andrea Glauser Verordnete Entgrenzung Kulturpolitik, Artist-in-ResidenceProgramme und die Praxis der Kunst 2009, 304 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1244-8

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Cedric Janowicz Zur Sozialen Ökologie urbaner Räume Afrikanische Städte im Spannungsfeld von demographischer Entwicklung und Nahrungsversorgung 2008, 438 Seiten, kart., zahlr. Abb., 42,80 €, ISBN 978-3-89942-974-9

Bastian Lange Die Räume der Kreativszenen Culturepreneurs und ihre Orte in Berlin 2007, 332 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-679-3

Evelyn Lu Yen Roloff Die SARS-Krise in Hongkong Zur Regierung von Sicherheit in der Global City 2007, 166 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-89942-612-0

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