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German Pages 384 Year 2003
mimesis Untersuchungen zu den romanischen Literaturen der Neuzeit Recherches sur les litteratures romanes depuis la Renaissance
Herausgegeben von / Dirigees par Reinhold R. Grimm, Joseph Jurt, Friedrich Wolfzettel
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Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Beate
Wolfsteiner
Untersuchungen zum französisch-jüdischen Roman nach dem Zweiten Weltkrieg
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2003
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-55042-2
ISSN 0178-7489
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2003 http://www.niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Siegfried Geiger, Ammerbuch
Vorbemerkung
Die vorliegende Studie ist unter Leitung von Herrn Professor Dr. HansGünter Funke entstanden. Ich möchte ihm für die Geduld danken, mit der er trotz hoher Arbeitsbelastung und erheblicher geographischer Entfernung die Arbeit begleitet hat, für sein fachliches und persönliches Interesse, für die aufmerksame und sorgfältige Durchsicht des Manuskripts und seine stete Bereitschaft, fachliche und formale Fragen zu diskutieren und gemeinsam mit mir zu beantworten. Danken möchte ich weiterhin Frau PD Dr. Andrea Pagni für die äußerst ermutigende persönliche Unterstützung und für ihre spontane Bereitschaft, das Zweitgutachten zu erstellen. Mein Dank gilt ferner allen, die zum Entstehen der Arbeit beigetragen haben: Herrn Dr. Andreas Angerstorfer, für seine kompetente Hilfe bei Fragen zur jüdischen Theologie; allen Freunden und Kollegen, die mir sowohl fachlich als auch persönlich - und vor allem durch Korrekturlesen - zur Seite standen; der Universität Regensburg, die durch die Gewährung eines Stipendiums für zwei Jahre die finanziellen Bedingungen für die Abfassung der Arbeit schuf; Herrn Dr. Armin Wolff, der durch seine unbürokratische Bereitschaft, mich stundenweise im Lehrgebiet für Deutsch als Fremdsprache der Universität Regensburg zu beschäftigen, zur weiteren finanziellen Absicherung der Promotion maßgeblich beitrug. Zu Dank verpflichtet bin ich in ganz besonderer Weise meinen Eltern, ohne deren finanzielle Unterstützung, persönliche Motivation sowie die Bereitschaft zu ausgiebigem Korrekturlesen das Projekt nie hätte verwirklicht werden können. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Ebenfalls nicht vergessen möchte ich Herrn Hanns Wagner, der die Arbeit durch seine geduldige und kompetente Lektüre erheblich erleichterte. Schließlich danke ich Stefan Loibl und Stefan Maier für ihre prompte Hilfe in technischen Dingen. Ohne die unermüdliche Lektüre und die moralische Unterstützung durch meinen Mann Hans-Joachim Nagelmüller hätte die Arbeit nie erscheinen können.
V
« W o ist der jüdische Gedanke? Die Gottesherrlichkeit? - Da gibt's ein Volk, das seine Sprachen vertauscht, ein Wandervolk ohne abgesteckte Grenzen, ohne eigene ökonomische Struktur, und das Volk lebt, leidet und geht nicht unter; geschwächt - und es wird von den Mächtigen und Stärksten bekämpft und geht nicht unter - ein solches Volk muß anders fühlen, eine andere Zukunft der Welt, des Lebens und Menschen - spiegelt sich das in unserer Literatur wider? Sieht jemand mit jüdischen Augen, fühlt jemand mit jüdischem Herzen, erklingt irgendwo das jüdische Seelenwort?» (Jitzchak Leib Perez)
VI
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis Zur Transkription hebräischer Namen und Begriffe Einleitung
XI XII 1
Teil I: Theoretische Grundlegung 1.
Der Begriff der jüdischen Literatur
2. 2.1 2.2 2.3 2.4
Forschungsstand Elie Wiesel Andre Schwarz-Bart Albert Cohen Albert Memmi
3
Die Theorie der Intertextualität als methodische Basis der Interpretation Die Notwendigkeit einer speziellen Interpretationsmethode Die Intertextualitätsdebatte Interpretationsmethode
3.1 3.2 3.3
9 25 25 29 31 34 38 38 41 55
Teil II: Interpretationen 4. 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.3.1 4.2.3.2 4.2.4 4.3 4.3.1 4.3.2
Elie Wiesel Der Autor La Nuit (1958) Inhalt und Strukturelemente Die Vater-Sohn-Beziehung: une «Aquedah ä rebours» . . Die Beziehung zu Gott Moche-le-Bedeau und Akiba Drumer Eliezer Zusammenfassung L'Aube (1960) Inhalt und Strukturelemente Der «heros lazareen» Jean Cayrols und L'Aube
63 63 67 67 71 80 81 84 94 98 98 103 VII
4.3.3 4.3.3.1 4.3.3.2 4.3.3.3 4.3.4 4.3.4.1 4.3.4.2
Die Romanpersonen als intertextuelle Figuren Elisha Gad Die übrigen Personen Vom transzendenten zum immanenten Heil Die Motive «regard» und «voix» «Pour un judai'sme lai'que»: Das Programm der Untergrundkämpfer 4.3.5 Zusammenfassung 4.4 Le cwpuscule, au loin (1987) 4.4.1 Inhalt und Strukturelemente 4.4.2 Zur Systemreferenz 4.4.3 Die Gestalt des Pedro 4.4.3.1 Pedro als «double» Raphaels 4.4.3.2 Die Pedro-Geschichte und ihre Grundlage 4.4.4 «Au commencement fut la folie»: Die Neuschöpfung der Welt nach der Shoa 4.4.4.1 Die Gestalt des «fou»: Eine intertextuelle Figur innerhalb von Wiesels Werk 4.4.4.2 Vom göttlichen Logos zum «tohuwabohu» 4.4.4.2.1 Der Untergang der shtetl-Welt 4.4.4.2.2 Die Wahnsinnigen: «Re-ecriture» der Tora und der Schriften 4.4.5 Zusammenfassung 5. 5.1 5.2 5.3
107 107 109 112 112 113 115 118 120 120 126 129 129 131 135 135 138 138 142 154
5.7
Andre Schwarz-Bart, Le dernier des Justes (1959) Der Autor Inhalt und Strukturelemente Die Legende der «Justes»: Die Quellen und ihre Verarbeitung Die Quellen Die Geschichte der «Justes» Die Geschichte Ernies Mardochee Benjamin Ernie Die Thematik des Leidens: Christliche und jüdische Konzeptionen in Le dernier des Justes Andre Schwarz-Bart und Camus: Ernie als «homme revolte» Zusammenfassung
208 212
6. 6.1
Albert Cohen Der Autor
216 216
5.3.1 5.3.2 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.5 5.6
VIII
158 158 162 168 168 173 180 181 185 186 199
6.2 6.2.1 6.2.2 6.2.2.1 6.2.2.2 6.2.2.3 6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.3.1 6.3.3.2 6.3.3.3 6.3.3.4 6.3.4 6.3.4.1 6.3.4.2 6.3.4.3 6.3.4.4 6.3.5 7. 7.1 7.2 7.3 7.4 7.4.1 7.4.2 7.5 7.6
Le livre de ma mere (1954) Inhalt und Strukturelemente Le livre de ma mere als Liebesgeschichte Charakteristik der «westlichen» Liebeskonzeption . . . . Die «echte», jüdische Liebeskonzeption Eros-Thanatos: Variationen eines Themas von Albert Cohen Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Volkstümliche Bibelexegese versus westliche Literatur Die Frage nach Gott Zusammenfassung Les Valeureux (1969) Inhalt und Strukturelemente Intertextualität im Bereich von Sprache und Stil Ein jüdischer Schelmenroman? Das Erzählerproblem: Die fingierte Autobiographie . . . Der Charakter des pikaresken Helden Leiblichkeit und Hunger Das Motiv der Reise Der utopische Gehalt Utopie und Schelmenroman Zum Utopiebegriff Die Abkehr vom Zionismus Cephalonie als Anti-Europa: Die Rezeption der Α etas aurea und von Elementen der Utopie Zusammenfassung Albert Memmi, La statue de sei (1953) Der Autor Inhalt und Strukturelemente Die Bildungsgeschichte: Von der Marmorstatue zur Salzsäule Der Rhythmus von Paradies und Sündenfall: Biblische-mythische Motive in La statue de sei Die «Impasse»: Der erste Sündenfall Im «lycee»: Der zweite Sündenfall Die Vater-Sohn-Beziehung Zusammenfassung
221 221 225 227 230 231 233 236 237 238 238 242 246 251 253 256 262 266 266 267 269 273 278 282 282 286 291 300 301 306 310 318
IX
Teil III: Zusammenfassung Glossar
349
Bibliographie 1. Jüdische Quellentexte 2. Primärtexte 3. Sekundärliteratur
355 355 357
Index
367
X
Abkürzungsverzeichnis
A BS CL DJ Ε HR L LJ LM MJ MS Ν Ρ PJ
s
SK S V VC EncJud LThK
L'Aube Belle du Seigneur Le cr0puscule, au loin Le demier des Justes L'itranger L'homme revolte Lazare parmi nous La Liberation du Juif Le livre de ma mere Le mendiant de Mrusalem Le mythe de Sisyphe La Nuit La peste Portrait d'un Juif Solal Le serment de Kolvillag La statue de sei Les Valeureux La ville de la chance Encyclopaedia Judaica Lexikon für Theologie und Kirche
χι
Zur Transkription hebräischer Namen und Begriffe
Die Transkription biblischer Namen und Titel folgt größtenteils der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Die Umschrift nichtbiblischer Namen und Begriffe beruht auf der von Gershom Scholem verwendeten Transkription (daher «Tora» statt «Thora»). Im Deutschen eingebürgerte Schreibweisen (z.B. «Hiob» statt «Ijob») wurden beibehalten. Die Grundlage für Bibelzitate bildet die (katholische) deutsche Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Auf eine französische Bibelübersetzung zurückgreifen schien nicht sinnvoller als auf eine deutsche Ausgabe, da sich die intertextuellen Verweise zumeist auf das bibelhebräische «Original» beziehen. Die Lutherbibel bot sich insofern nicht an, als der Protestantismus dem Judentum grundsätzlich ferner steht als der Katholizismus; Bezüge zum Christentum in den untersuchten Werken betreffen stets die katholische Kirche. Die Buber-Rosenzweig-Ausgabe schließlich (als «jüdische» Bibelübersetzung) schien ungeeignet, weil sie aufgrund ihrer sehr spezifischen Kunstsprache einen mit dem hebräischen Text vertrauten Leser voraussetzt.
XII
Einleitung
Et lorsque j'ecris en frangais, tout un passe resurgit auquel je ne peux, ni ne veux, au surplus, me derober, tout un passe qui va des fetes de la Federation au Sacre de Reims, du pari de Pascal au cimetiere marin de Valery.1
Die Versuche, die Beziehungen zwischen französischer und jüdischer Geistesgeschichte zu beschreiben, gehen - wie die Bemerkung von Rabi zeigt - sehr häufig von zwei einander bedingenden Referenzfeldern aus: dem sprachlichen und dem historischen. Während Zemp als wesentlich für die jüdische Literatur in Frankreich vor allem die Epoche der «Eingliederung in die »2 betrachtet (also die Zeit seit Beginn des 19. Jahrhunderts), verweist Rabi auf den «caractere occasionnel de notre litterature», die nur in Krisenzeiten zur vollen Entfaltung gekommen sei,3 und führt die Marginalität der französisch-jüdischen Literatur unter anderem auf diese historischen Entstehungsbedingungen zurück. Ein Grund für den geringen Einfluß, den das Judentum auf die französische Geistesgeschichte (ganz im Gegensatz zum Nachbarn Deutschland) ausübte, mag in der allgemeinen historischen Entwicklung des französischen Judentums seit dem Mittelalter liegen. Zum einen waren die jüdischen Gemeinden im Mittelalter und in der frühen Neuzeit kulturell weitgehend unabhängig von der französischen Kultur (dies unterscheidet sie von den deutschen Juden), zum anderen war das stets von Sephardim und Aschkenasim besiedelte Frankreich auch innerjüdisch ein geteiltes Land. Die sephardischen Gemeinden des Mittelmeerraums entwickelten sich im Früh- und Hochmittelalter zu kulturellen Zentren des Judentums: Im 12. und 13. Jahrhundert entstanden in der Provence zum Beispiel wichtige Teile der Kabbala und gelangten erst von dort nach Spanien, wo Gelehrte wie Abraham Abulafia, Isaak Luria oder Moses Cordovero die Arbeit fortsetzten und dem Werk die heute bekannte Gestalt gaben. Die sephardischen Zentren Südfrankreichs verloren nach den großen Pogromwellen des ausgehenden Mittelalters und dem Abschluß der Rekatholisierung Spaniens durch die Reconquista Granadas im Jahre 1492 an Bedeutung oder wurden ganz ausgelöscht. Dagegen erhielten seit dem 1
2
3
Rabi: «Lettres juives, domaine frangais». In: Revue du Fonds Social Juif Unifii 18 (Dec. 1956), p. 14. Josef Zemp: «Französisch-jüdische Romanautoren der Nachkriegszeit». In: Französisch heute 1 (1984), p. 1. Rabi, Lettres juives, p. 14.
ι
17. Jahrhundert die aschkenasischen Gemeinden in Elsaß-Lothringen durch die Einwanderungswellen aus dem Osten Zuwachs.4 Die Dialektik der unterschiedlichen jüdischen Traditionen zeigt sich bis heute auch in der Literatur. Galten ursprünglich - noch im 19. Jahrhundert - die Sephardim als die stärkere, da alteingesessene Gruppe, so änderte sich das nicht immer unbelastete Verhältnis spätestens mit den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts, als viele deutsche bzw. osteuropäische Juden (Aschkenasim) vor den Verfolgungen durch den Nationalsozialismus Schutz suchten oder nach der Befreiung aus den Konzentrationslagern eher zufällig in Frankreich Aufnahme fanden. Eine zweite Welle jüdischer Einwanderung erlebte Frankreich um 1960 im Zuge der Dekolonisation des Maghreb. Die jüdischen Einwohner Algeriens, Tünesiens und Marokkos fühlten sich zunehmend von der islamisch-arabischen Umgebung bedroht und zogen es vor, sich im Mutterland niederzulassen.5 So zeichnete sich - bedingt durch die historischen Umwälzungen im 20. Jahrhundert und die ostjüdisch-aschkenasische wie auch die sephardische Zuwanderung - ein radikaler Wandel in der jüdischen Bevölkerung Frankreichs ab, der nicht ohne Einfluß auf das intellektuelle Klima und die literarische Produktion bleiben konnte. Seit Anfang der fünfziger Jahre wurden in Frankreich eine Reihe von Werken - zumeist Romanen 6 - publiziert, die, größtenteils von Autoren jüdischer Herkunft verfaßt, die Suche nach einer jüdischen Identität und Kultur in der Zeit nach dem Holocaust zum Thema haben. Trotz großer Unterschiede in Schreibweise und Thematik (wiederum zwischen Aschkenasim und Sephardim) hat diese «erste Generation» verschiedene Literaturwissenschaftler dazu angeregt, nach der Existenz einer «ecole juive du roman frangais»,7 vergleichbar dem amerikanischjüdischen Roman (etwa von Saul Bellow oder Philip Roth), zu fragen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, zur Beantwortung dieser Frage beizutragen. Basis dafür ist die Untersuchung repräsentativer Romane der ersten Generation jüdisch-französischer Schriftsteller nach dem Zweiten Weltkrieg in bezug auf ihr Verhältnis zum Judentum einerseits und zum französisch-abendländischen Kontext andererseits. Es sollen dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Thematik, Argumentationsweise 4 5 6
7
2
Z.B. nach den Verfolgungen von 1648 in der Ukraine. Eines der bekanntesten Beispiele hierfür ist Albert Memmi. Für die Holocaust-Literatur gilt: v.a. Romane, im Gegensatz zum deutschsprachigen Bereich, wo die Verarbeitung der Shoa zunächst nur in der Lyrik geschieht (vgl. etwa Paul Celan, Nelly Sachs). Darunter z.B. Pierre de Boisdeffre: Histoire de la littirature frangaise des annies 1930 a 1980. Roman - Theätre. Nouvelle edition entierement refondue, Paris 1985, p. 310.
und Form im Rückbezug auf den Kontext des Judentums aufgezeigt und bewertet werden. Zunächst sind drei Fragen zu klären: 1. Was ist unter «jüdischer Literatur» zu verstehen, das heißt, welche Autoren und Werke können a priori dieser Gruppe zugeordnet werden, so daß der Vergleich überhaupt sinnvoll ist? Eine erste Sichtung jüdischer Literaturgeschichten zeigt, daß die Aufstellung von Kriterien für die Zuordnung in der Regel sehr vage ist oder ganz vermieden wird. Eine Systematisierung der Äußerungen zu dieser Problematik soll in Kapitel 1 vorgenommen werden. 2. Welches Verfahren ist bei der Textanalyse anzuwenden, um angesichts thematisch recht disparater Werke zu möglichst präzisen Resultaten zu gelangen? Da der Begriff der jüdischen Literatur verschwommen bleibt, ist zu fragen, welche Interpretationsmethode am ehesten den Bezug zum «typisch Jüdischen» herauszuarbeiten in der Lage ist. Die Verfasserin ist der Ansicht, daß die bisher in der Sekundärliteratur häufig verwendeten sozialhistorischen Methoden nach dem Prinzip «Wer Jüdisches inhaltlich verarbeitet, gehört primär zur jüdischen Literatur» für die hier relevante Fragestellung zu unpräzise sind. Sie können allenfalls bei der anfänglichen Auswahl der Werke von Nutzen sein. Wesentlich scheint vielmehr, in welchem Grad von den jüdischen Schriftstellern die literarischen Traditionen ihres Umfeldes kreativ rezipiert werden: der größtenteils religiöse Textkanon, der das Judentum ausmacht, einerseits und die abendländisch-französische Literatur und gegebenenfalls Philosophie andererseits. Es geht dabei nicht um die Feststellung literarischer «Einflüsse», sondern vielmehr um das Resultat intertextueller Verfahrensweisen und um die künstlerische Originalität, die durch die Integration zweier zueinander in einem Spannungsverhältnis stehender Kontexte zustande kommt. Eine dieser Fragestellung entsprechende Methode soll in Kapitel 3 vor dem Hintergrund der Intertextualitätstheorie in der neueren Literaturwissenschaft erarbeitet werden. 3. Schließlich gilt es, auf der Basis der Überlegungen zum Begriff der jüdischen Literatur eine Reihe von repräsentativen Autoren und Werken auszuwählen. Bei der Auswahl sind neben dem Kriterium der Herkunft auch Auflagenstärke bzw. Bekanntheitsgrad entscheidend. Auch auf der Grundlage von Literaturgeschichten bzw. Aussagen von Literaturwissenschaftlern, die die Frage nach der französisch-jüdischen Schule aufgeworfen hatten.8 wurden folgende Autoren und
8
Dazu gehören u.a.: Boisdeffre, Histoire sowie Zemp, Romanautoren der Nachkriegszeit, und Raph Feigelson: Ecrivains juifs de langue frangaise, Paris 1960.
3
Werke als repräsentativ für die erste Generation nach dem Zweiten Weltkrieg in die Untersuchung einbezogen: a) Elie Wiesel, La Nuit (1958); L'Aube (1960); Le crepuscule, au loin (1987), b) Andre Schwarz-Bart, Le dernier des Justes (1959), c) Albert Cohen, Le livre de ma mere (1954); Les Valeureux (1969), d) Albert Memmi, La statue de sei (1953). Die Bedeutung Elie Wiesels für den französisch-jüdischen Roman aschkenasischer Provenienz dürfte außer Frage stehen. Neben seinen frühen Romanen bzw. Erzählungen9 La Nuit und L'Aube wurde Le crepuscule, au loin gleichsam als Gewährstext für die weitere Entwicklung des Schriftstellers herangezogen. Auf den dritten Teil der Trilogie, Le Jour, wurde hingegen verzichtet, da dieser kaum neue Aspekte in bezug auf Wiesels zentrale Thematik, die Gottesfrage nach der Shoa, enthält. Andre Schwarz-Bart, der für Le dernier des Justes den Prix Goncourt erhielt, gehört in der Gruppe der französisch-jüdischen Schriftsteller, obgleich von der Kritik wesentlich weniger beachtet, ebenfalls zum Kanon. Als schwieriger erweist sich der Fall Albert Cohens: Er ist älter als die anderen, ausnahmslos in den zwanziger Jahren geborenen Schriftsteller, und publizierte bereits zwischen den Weltkriegen. Wegen seiner Bekanntheit und seiner Bedeutung für den französisch-jüdischen Roman scheint es aber sinnvoll, sein Werk in die Untersuchung einzubeziehen. Zudem sind die Modifikationen, die die (wenn auch nicht unmittelbaren) Erfahrungen des Dritten Reiches und des Krieges in seinem Werk bewirkt haben, im Vergleich zu den Debütanten der fünfziger Jahre in jedem Falle von Interesse. Als zweiter sephardischer Autor wurde Albert Memmi gewählt, der wohl bedeutendste Theoretiker des Judentums in Frankreich, vornehmlich bezüglich des Verhältnisses der ehemaligen nordafrikanischen Kolonien zum Mutterland. Sein bekanntester und wohl auch wichtigster Roman ist die fiktionalisierte Autobiographie La statue de sei, in der Memmis theoretische Ansätze, die er später zum Beispiel in Portrait du Colonise precede du portrait du colonisateur und La liberation du Juif entwickelte, bereits auszumachen sind. Im Hinblick auf einen sinnvollen Rahmen für die Arbeit wurde den genannten Autoren Vorrang vor einer Reihe von anderen französisch-jüdischen Schriftstellern eingeräumt. Unberücksichtigt bleiben zwangsläufig viele Autoren der Nachkriegsgeneration, deren Werk thematische und inhaltliche Ähnlich9
4
Der Autor selbst bezeichnet die Texte als «recits».
keiten mit den vier Repräsentanten Wiesel, Schwarz-Bart, Cohen und Memmi aufweist. Dazu gehören zum Beispiel Anna Langfus, Romain Gary/Emile Ajar oder Arnold Mandel. Ebensowenig können die Vertreter der zum Teil noch im 19. Jahrhundert geborenen «Gründergeneration» berücksichtigt werden, etwa Edmond Fleg, Andre Spire, Julien Benda (bei denen es sich allerdings auch nicht in erster Linie um Romanciers handelt) sowie die Gruppe der in den achtziger und neunziger Jahren publizierenden Autoren, wie etwa Paule Darmon oder Gil Ben Aych, deren literarische Entwicklung gegenwärtig noch nicht abzusehen ist.
5
Teil I: Theoretische Grundlegung
1. Der Begriff der jüdischen Literatur
Am Beginn jeder Untersuchung der sogenannten «jüdischen Literatur» steht ein bisher nicht befriedigend gelöstes Definitionsproblem. Die Tatsache, daß verbindliche wissenschaftliche Eingrenzungen fehlen, hat in den letzten hundert Jahren immer wieder zu in der Regel antisemitischen Spekulationen Anlaß gegeben. Diese zielten teilweise unter Verwendung irrationaler Kriterien auf die Beschreibung eines jüdischen «Volks- oder Nationalcharakters», der sich in der Literatur manifestiere, und letztlich auf die Bereitstellung von Material für rassistische Propaganda. Da sowohl das Attribut «jüdisch» als auch der Terminus «Literatur» in diesem Zusammenhang Schwierigkeiten bereiten, gilt es zunächst zu klären, was vor allem im Bereich des hebräischsprachigen Schrifttums unter «Literatur» zu verstehen ist. Umfaßt der Begriff neben Belletristik auch Gebrauchstexte, philosophische, theologische oder naturwissenschaftliche Schriften? Für die Geschichte der «jüdischen Literatur» bis ins 19. Jahrhundert ist dies unbedingt zu bejahen, denn die jahrtausendealte Tradition des Judentums ist ohne die Beiträge verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen und insbesondere der Theologie unvorstellbar. Beinahe alle Literaturgeschichten sind sich in diesem Punkt einig. Albert Memmi gelangt im Hinblick auf die vergleichsweise geringe Produktion an fiktionaler Literatur zu folgender Einschätzung: [...] jusqu'ici, tres peu d'ecrivains juifs declares comme tels, auraient merite d'entrer au pantheon de l'humanite. (LJ, 146)
Damit soll den jüdischen Schriftstellern natürlich keinesfalls eine mangelnde Begabung für Belletristik unterstellt werden;1 vielmehr ist dies ein Hinweis darauf, daß das Judentum prinzipiell keine laizistische literarische Tradition kennt.2 keine l'art-pour-l'art-Konzeption, in deren Mittelpunkt ein autonomes Kunstwerk als rein ästhetisches Objekt steht.3 Freilich könnte man gegen diese Anschauung einwenden, daß bereits die Bibel eine Reihe von literarischen Gattungen einschließt, die sonst erfahrungsgemäß der profanen Tradition vorbehalten sind, zum Beispiel Novelle / Roman, Fabel, Sprüche, verschiedene Formen gebundener
1 2
3
Vgl. Memmi, Liberation, p. 147 sq. Robert Alter: Defenses of the Imagination. Jewish Writers and Modern Historical Crisis, Philadelphia 1977. Zitiert nach: Leon Israel Yudkin: Jewish Writing and Identity in the Twentieth Century, New York 1982, p. 12. Yudkin, Jewish Writing, p. 12.
9
Rede; 4 doch gerade die Universalität des Werkes bezeugt, daß sich diese im Laufe von Jahrhunderten zusammengetragenen Texte zu einem sinnhaften Ganzen religiösen Charakters verbinden lassen. Ähnliches gilt für die Literatur des Mittelalters und sowohl im aschkenasischen als auch im sephardischen Bereich5 teilweise bis in die Neuzeit. So sind zum Beispiel Moses Mendelssohns philosophische Schriften ganz vom Geist des Judentums geprägt. Diese Durchdringung der vermeintlich profanen Texte vom Religiösen und folglich Exegetischen ist so stark, daß Yudkin einen solchen Einfluß auch noch in der Moderne sieht: Could it be that the meta-aesthetic character of Jewish conditioning continued to control the concerns of the Jewish writer and his unconscious aspirations in the world of modern, positivist secularism?6
Es liegt auf der Hand, daß eine solche Hypothese wieder ins rein Spekulative abzugleiten droht. Sie vermag lediglich einen subjektiven Leseeindruck wiederzugeben, der keiner wissenschaftlichen Überprüfung standhält. Daher soll sie auch für die in dieser Untersuchung angestrebte Definition außer acht gelassen werden. Es bleibt festzustellen, daß unter dem Begriff der «jüdischen Literatur» im historischen Kontext sämtliche erhaltenen schriftlichen Zeugnisse des Judentums zu verstehen sind. Für die Moderne, das heißt in diesem Falle die Zeit seit der Judenemanzipation in Europa, gilt, der überwiegenden Zahl der Literaturgeschichten folgend.7 ein auf die «schöne Literatur» (fiktionale Texte) verengter Literaturbegriff. Als wesentlich komplizierter erweist sich das Epitheton «jüdisch». Eine Nationalliteratur definiert sich in aller Regel nach sprachlichen bzw. politischen Kriterien; dagegen kann für Texte jüdischer Autoren seit Beginn des Exils allenfalls eine sprachliche Identität geltend gemacht werden (z.B. das Hebräische oder das Jiddische als Literatursprache). Dies ändert sich jedoch mit der Emanzipation der mitteleuropäischen Juden, denn spätestens seit dem 18. Jahrhundert benützen die meisten jüdischen Schriftsteller die Sprache ihres Geburtslandes oder Wohnsitzes. Welche Texte des 19. und 20. Jahrhunderts können also mit plausibler Begründung als spezifisch jüdisch betrachtet werden? Der Versuch, inhaltliche und formale Charakteristika induktiv anhand der betreffenden Texte selbst festzulegen, läuft einerseits Gefahr, sich angesichts der ungeheuren Fülle an Material in Gemeinplätzen zu erschöp4
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6 7
10
Günter Stemberger: Geschichte der jüdischen Literatur. Eine Einführung, München 1977, p. 14 sq. Hai'm Zafrani: «Poesie juive en Occident musulman». In: Michel Abitbol (ed.), Judaisme d'Afrique du Nord aux XIXe-XXe siecles. Histoire, societe, culture, Jerusalem 1980, p. 92. Zafrani weist unter anderem auf die enge Verbindung von jüdischer Poesie und Kabbala hin. Yudkin, Jewish Writing, p. 12. Etwa Stemberger, Literatur.
fen; andererseits entsteht durch die mangelnde Beweisbarkeit solcher zwangsläufig spekulativer Kriterien ein gefährlicher Spielraum für antisemitische Tendenzen, deren Bestreben es ist, «typisch Jüdisches» negativ zu definieren. Bei der Konsultation «jüdischer» Literaturgeschichten fällt auf, daß dieses Problem entweder gar nicht angeschnitten oder relativ lapidar abgehandelt wird; vielleicht deshalb, weil eine exakte wissenschaftliche Definition nicht möglich ist. Bereits ältere Arbeiten (z.B. von Gustav Karpeles, Meyer Waxman, Israel Zinberg8) stimmen darin überein, daß der Literaturbegriff in der oben diskutierten Weise erweitert werden muß. Nur die Berücksichtigung sämtlicher vorhandener Textzeugnisse erlaubt, Karpeles zufolge, eine wissenschaftlich anspruchsvolle Beschäftigung mit der jüdischen Literatur.9 Es herrscht ferner Übereinstimmung darüber, daß der jüdischen Literatur eine besondere kulturgeschichtliche Bedeutung zukommt, die stärker ausgeprägt ist als in den Nationalliteraturen. Meyer Waxman sieht die Literatur des jüdischen Volkes als «a mirror of its soul».10 Karpeles betrachtet sie als «im wesentlichen auch eine Geschichte [der Juden]».11 Die vielfachen Vertreibungen und die Einflüsse von anderen Literaturen und Geistesströmungen (hellenisch, arabisch, europäisch etc.) spiegelten den Verlauf der «Exilwanderung» des jüdischen Volkes wider.12 Während jedoch die meisten älteren Literaturgeschichten unter «jüdischer Literatur» in stillschweigendem Einvernehmen nur in einer «jüdischen» Sprache13 verfaßte Texte verstehen (der jungen jiddischen Literatur wird Ende des 19. Jahrhunderts noch wenig Beachtung zuteil), definiert Karpeles umfassend und eindeutig: Die Geschichte der jüdischen Literatur umfaßt das gesamte Schrifttum der Juden von den ältesten Zeiten ihrer Geschichte bis auf die Gegenwart, ohne Rücksicht auf Form und Sprache, sowie auch auf den Inhalt dieses Schrifttums, letzteres wenigstens im Mittelalter.14
8
Gustav Karpeles: Geschichte der jüdischen Literatur. Eine Einführung, Graz 1963 (= Berlin 1920), Meyer Waxman: A History of Jewish Literature, New York/London 1960 (= 2 1938), Israel Zinberg: A History of Jewish Literature, Translated and edited by Bernard Martin, London 1972 (urspr. jiddisch in 12 Bänden, Wilna 1929-1937). Karpeles, Geschichte, p. 2. Waxman, History, I, p. XV. Karpeles, Geschichte, p. 3. Ibid., p. 3, Karpeles verbindet die Entstehung von Literatur mit der Idee des Exils (Galut). Dieser Gedanke wird im 20. Jahrhundert vor allem von Edmond Jabes literarisch verarbeitet. Stemberger nennt als «jüdische Sprachen» z.B. Hebräisch, Aramäisch, Jiddisch, Spaniolisch. Stemberger, Literatur, p. 9. Karpeles, Geschichte, p. 1. 4
9 10 11 12
13
14
II
Dieser Auffassung schließen sich in der Regel die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Literaturgeschichten an. Dies geschieht vornehmlich im Hinblick auf die reichhaltige Literatur von Juden, die im deutschen, anglo-amerikanischen und auch im französischen Sprachraum seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entstanden ist. Stemberger faßt unter dem Begriff «jüdisch» zunächst alles zusammen, was in einer «jüdischen» Sprache abgefaßt ist.15 Für die modernen Autoren, die sich meist der Sprache des Landes bedienen. 16 in dem sie leben, gilt bei Stemberger als Bedingung die jüdische Thematik sowie die jüdische Tradition, aus der das Werk verständlich wird.17 Damit bleiben Autoren jüdischer Herkunft, die diese Zugehörigkeit nicht empfinden oder nicht thematisieren, von Anfang an ausgeschlossen.18 Demgegenüber erlaubt der Artikel über jüdische Literatur in der Encyclopedia Judaica die Einbeziehung einer wesentlich größeren Gruppe von Schriftstellern. Es werden lapidar und ohne weitere Diskussion die folgenden drei Kriterien aufgezählt:19 a) jüdische Herkunft des Autors b) jüdische Thematik c) jüdische Sprache. Ein Werk wird zum Kanon der «Jewish Literature» gerechnet, sobald eine der drei Bedingungen erfüllt ist. Diese Definition entspricht der Universalität eines Nachschlagewerks wie der Encyclopaedia Judaica. Im Hinblick auf eine Arbeitsdefinition empfiehlt es sich jedoch, die Kriterien differenzierter und enger zu fassen. Eine Reihe von Literaturwissenschaftlern haben den Versuch unternommen, ein zentrales Merkmal hervorzuheben oder einen Merkmalskatalog aufzustellen. Die Resultate sind ohne Zweifel interessant, allerdings wiederum sehr allgemein und damit auch immer anfechtbar. Gleichwohl sollen an dieser Stelle einige Ansätze dieser Art beschrieben und auf ihre Tauglichkeit für eine weiterführende literaturwissenschaftliche Arbeit geprüft werden. Helene Golencer-Schroeter geht zum Beispiel in ihrer Dissertation von der Prämisse einer «common experience shared by all Jews in the
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17 18
19
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Stemberger, Literatur, p. 9. Vgl. dazu Yudkin, Jewish Writing, p. llsq. Yudkin diskutiert die Probleme, vor die allein die Wahl der Sprache einen jüdischen Autor stellte: Durch die Benutzung des Hebräischen könnte zwar die Zugehörigkeit zum Judentum zum Ausdruck gebracht werden, doch die Anzahl der Leser war vor der Gründung des Staates Israel sehr begrenzt. Stemberger, Literatur, p. 10. So würden Autoren wie J. D. Salinger oder Andre Maurois (Emile Herzog) nicht zur jüdischen Literatur gerechnet. Encyclopedia Judaica, Jerusalem 1972, s.v. «Literature, Jewish».
West»20 aus und untersucht unter diesem Blickwinkel das Werk Elie Wiesels, Albert Cohens und Albert Memmis. Leon I. Yudkin weist auf «elements of marginality» hin, die den jüdischen Schriftsteller, der aus Gründen der kommunikativen Reichweite seiner Literatur in einer «nichtjüdischen» Sprache schreibt, in besonderem Maße kennzeichneten. 21 Die Problematik von Marginalität und Assimilation stellt Kurt Dittmar in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen zur amerikanisch-jüdischen Erzählliteratur.22 Er gelangt so zu drei wesentlichen «Aspekten der Beeinflussung eines Werkes oder Autors durch die jüdische Kulturtradition»23: a) «stilistisch (z.B. Verwendung jiddischer Sprachrhythmen und Idiome)» b) «motivgeschichtlich (Übernahme folkloristischer Details, insbesondere aus dem Kulturbereich des osteuropäischen Judentums)» 24 c) «geistesgeschichtlich (Nachklänge traditioneller jüdischer Werthaltungen wie Weltfrömmigkeit, Leidensbereitschaft, moralische Verantwortlichkeit etc.)». Gegen die beiden ersten Kriterien ist nichts einzuwenden. Die geistesgeschichtlichen Komponenten der «Beeinflussung» scheinen jedoch schwer nachweisbar und erneut Raum für die oben diskutierten Spekulationen über die Eigenschaften «des Jüdischen» zu öffnen. 25 Das Risiko, das in diesem Ansatz liegt, mag Dittmar erkannt haben, denn letztlich schränkt er seine Definition wieder etwas ein; er gerät aber an die Grenze der Tautologie, wenn er voraussetzt, «daß es keinen einzelnen thematischen oder weltanschaulichen Kern gibt, auf den das Phänomen der jüdisch-amerikanischen Literatur zurückzuführen wäre, sondern daß die charakteristische Eigenschaft dieser Literatur gerade durch ihre Komplexität gegeben ist» 26 Dennoch dürfte die Entscheidung zwischen Anpassung oder Abgrenzung für Schriftsteller jüdischer Herkunft nicht ohne Bedeutung sein (und 20
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Helene Golencer-Schroeter: Albert Cohen, Albert Memmi and Elie Wiesel and the Dilemma of Jewish Identity and Tradition in French Literature and Culture, Diss. University of Utah 1989, p. 4. Yudkin, Jewish Writing, p. 11. Kurt Dittmar: Assimilation und Dissimilation. Erscheinungsformen der Marginalitätsthematik bei jüdisch-amerikanischen Erzählern (1900-1970), Frankfurt am Main/Bern/Las Vegas 1978. Ibid., p. 12. Diese spezielle Definition gilt natürlich nur für die amerikanisch-jüdische Literatur; daher auch die besondere Beeinflussung durch das Ostjudentum, das in New York die zahlenmäßig größte Gruppe jüdischer Einwanderer stellt. Vgl. dazu auch Ludwig Lewinsohn: «On Jewish Literature». In : The Jewish Layman 13 (Feb. 1939), p. 11. Zitiert nach: Dittmar, Assimilation und Dissimilation, p. 15. Ibid., p. 30. 13
dies gilt nicht nur für die USA). Entsprechend den Zeitumständen und den sozial- und geistesgeschichtlichen Entwicklungen ist die Tendenz unterschiedlich: Während in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (die Pogrome des Mittelalters und der frühen Neuzeit sind beinahe vergessen und die politische Gleichberechtigung macht Fortschritte) ganz eindeutig die Assimilationsbestrebungen überwiegen, scheinen jüdische Schriftsteller seit dem Zweiten Weltkrieg um eine eigene Identität zu ringen und sich mit neuem Selbstbewußtsein zu ihrer «difference» (PJ, 81sqq). zu bekennen. Auf ein Stereotyp aus der jiddischen Literatur, das auch für die jüdische Literatur der Gegenwart prägend geworden ist, macht Greenspan in seiner Untersuchung The Schlemiel Comes to America aufmerksam.27 Die Gestalt des Schlemiel («everyman», im Sinne von «every East European Jew suffering from injustice, poverty, humiliation, and persecution and responding with endurance, bitter-sweet humour and irony»28) sei gleichsam mit den großen Einwanderungswellen 1881 bis 1924 in die USA gekommen, habe zunächst nur durch die jiddischsprachige Literatur Verbreitung gefun- den und sei schließlich durch Autoren wie Saul Bellow und Bernard Malamud auch in englischer Sprache literaturfähig geworden. Auch Ruth Wisse sieht in der Universalisierung des Schlemiel in Amerika einen Beitrag jüdischer Tradition zur modernen Weltliteratur.29 Charaktere wie Scholem Aleichems Tevye oder Menahem Mendel 30 finden bei Leslie Epstein, E. L. Doctorow, Cynthia Ozick und vor allem Bellow ihre zeitgemäße Fortsetzung. Der Schlemiel entwickelt sich zum Repräsentanten des modernen Intellektuellen oder des modernen Menschen schlechthin.31 Die umfassendste Annäherung an den unscharfen Begriff der jüdischen Literatur bietet wohl Lewis Frieds Handbook of Jewish Literature?2 Von besonderem Interesse für die vorliegende Fragestellung ist der Beitrag von Bonnie Κ. Lyons, die eine Situierung der «American Jewish Literature» anhand von inhaltlichen Kriterien unternimmt, die meines Erachtens problemlos auf eine «europäisch-jüdische Literatur» übertragbar sind.33
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Ezra Greenspan: The Schlemiel Comes to America, New York/London 1983. Ibid. p. 58. Ruth Wisse: The Schlemiel as α Modern Hero, Chicago 1971. Helmut Dinse/Sol Liptzin: Einführung in die jiddische Literatur, Stuttgart 1978, p. 95 sqq. Greenspan, Schlemiel, p. 222 sqq. Lewis Fried (ed.): Handbook of American Jewish Literature. An Analytical Guide to Topics, Themes and Sources, Westpoint (Connecticut) 1988. Bonnie K. Lyons: American-Jewish Fiction Since 1945. In: Fried, Handbook, p. 61-89.
Ausgehend von der Annahme, daß eine spezifisch jüdische Sichtweise von Menschen, Geschichte und Intellektualität existiere. 34 werden folgende Themen als Gemeinsamkeiten jüdischer Autoren identifiziert: 35 a) «Dos kleine menshele» b) «Menshlichkayt vs. Manliness» c) «Man's mixed moral nature» d) «T'shuva, turning [to God]» e) «Jewish sources» f) «Cosmopolitism and universalism» g) «Hie middle road: anti-romanticism, anti-nihilism» h) «Time, history and memory» i) «Centralitiy of familiy» j) «Intellect and spirit» k) «Celebration of talk» 1) «Art as a humanistic enterprise» Aus diesem Merkmalskatalog werden bestimmte Schwerpunkte ersichtlich, durch die die jüdische Literatur möglicherweise zutreffender charakterisiert wird als durch die Frage nach Herkunft und Sprache des Autors. Diese zentralen Themen verdeutlichen außerdem die nicht zu unterschätzende Bedeutung der jüdischen Schriftsteller für die Literatur des 20. Jahrhunderts. So scheint das Menschenbild, das in dem Stereotyp «dos kleine menshele» aufscheint, ganz dem des modernen literarischen Helden («Antihelden») zu entsprechen. Die Darstellung «kleiner», durchschnittlicher Charaktere, die unter anderem auf Traditionen der jiddischen Literatur zurückgeht, fügt sich auch in das Spannungsfeld von Menschlichkeit und Männlichkeit, in dem sich die Protagonisten befinden und das sie, ebenso wie die Notwendigkeit der T'shuva?6 überfordert. Im Zentrum steht also nicht der alle Ausnahmesituationen meisternde Held, sondern der Mensch im Alltag, der Rückhalt in einer starken familiären Bindung findet (das Bild der jüdischen Mutter ist bereits Klischee). Interessanterweise wird in der jüdischen Literatur der USA die Präsenz jüdischer Quellen konstatiert und zum distinktiven Merkmal erhoben. Dies bedeutet, daß Autoren, die zwar jüdischer Herkunft sind, dies jedoch literarisch nicht verarbeiten, der jüdisch-amerikanischen Literatur nicht zugerechnet werden. Dadurch wird natürlich die Suche nach Gemeinsamkeiten bei den noch in Frage kommenden Schriftstellern erheb34 35 36
Ibid., p. 62. Ibid., p. 64 sqq. Unter «t'shuva» versteht Lyons: «The idea of turning to God or to the right path [which] is connected with the Jewish conception of human redemption and underlies both the intrinsic hopefulnesse about humankind and the longing for messianic salvation which universal t'shuva will help bring about.» (Hervorhebung von Lyons.) Lyons, American-Jewish Fiction, p. 69. 15
lieh erleichtert. Geschichte und Erinnerung ist für jüdische Autoren, die sich selbst als solche bezeichnen, von elementarer Bedeutung. Das Judentum selbst definiert sich unter anderem aus Tradition und Erinnerung. Das Traditionelle spielt sogar eine derart große Rolle, daß auch Juden, die sich als Atheisten betrachten, an religiösem Brauchtum festhalten, um ihre Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft zu demonstrieren. Auch in der Holocaust-Literatur, deren ausdrückliches Ziel es ist, Auschwitz vor dem Vergessen zu bewahren. 37 spielen ja Geschichte und Erinnerung die zentrale Rolle. Ein weiteres Kriterium stellt nach Lyons die intellektuelle und geistige Befindlichkeit der Charaktere dar. Lyons sieht in der Betonung des Intellektuellen und des Redens («talk») eine Gegenbewegung zu Hemingways Philosophie der Tat und zu seinem Mißtrauen gegenüber der Sprache.38 Diese zentrale Stellung des Intellekts und des Wortes ist ein Charakteristikum der jüdischen Geistesgeschichte. Die exegetische Methodik von Talmud und Midrasch besteht zum Beispiel in einem unentwegten Reflektieren, Erörtern und Besprechen der Tora, und es liegt nahe, mit Susan Handelman zu vermuten, daß in erster Linie die unendliche Interpretation des göttlichen Gesetzes den «divine act»39 und damit den Weg zum Heil ausmacht. Die hervorragende Bedeutung der Intellektualität und des Textstudiums im Judentum ist auch sozialhistorisch erklärbar: In einer stets vom Verlust des materiellen Besitzes bedrohten Gemeinschaft genießen geistige Fähigkeiten zwangsläufig ein höheres Prestige und werden in besonderer Weise gefördert. Der Überblick hat gezeigt, daß es immer wieder Versuche gegeben hat, den problematischen Begriff der «jüdischen Literatur» wissenschaftlich festzulegen und gültig zu definieren. Zu brauchbaren Ergebnissen führten allerdings nur Ansätze wie bei Lyons, die die in Frage kommende Literatur nicht zu stark eingrenzen (also nicht versuchen, Ausschlußkriterien aufzustellen) und keinen Anspruch auf eine eindeutige Entscheidung über die Zugehörigkeit erheben. Bei der angestrebten Arbeitsdefinition soll in ähnlicher Weise verfahren werden. Auf ihren provisorischen Charakter sei in aller Deutlichkeit hingewiesen. Auch jüdische Schriftsteller haben sich gelegentlich zur Frage nach einer jüdischen Literatur geäußert, jedoch zumeist in einer Weise, die für eine wissenschaftliche Definition unzureichend ist. 37
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Vgl. dazu z.B. Brigitte-Fanny Cohen: Elie Wiesel Qui etes-vous? Lyon 1987, p. 41. Lyons, American-Jewish Fiction, p. 81. Susan Handelman: The Slayers of Moses. The Emergence of Rabbinic Interpretation in Modern Literature, New York 1982, p. XIV.
Elie Wiesels Interesse gilt eher der Problematik der Holocaust-Literatur. 40 Albert Memmi, der einer solchen Feststellung grundsätzlich skeptisch gegenübersteht, läßt für «jüdische» Literatur allenfalls Charakteristika gelten, die sich zwangsläufig aus der sozialen Situation ergeben: [...] je suis convaincu aujourd'hui qu'il existait egalement, dans la condition de l'ecrivain juif, un dilemme, qui n'etait d'ailleurs qu'une Variante de l'impasse et du malaise communs. (LJ, 145)
So hätten sich jüdische Schriftsteller von Rang (z.B. Kafka) stets bemüht, ihre Herkunft zu verschleiern, denn «un ecrivain juif affirme, qui aurait decide de se devoiler comme tel, n'aurait pu eviter de nous raconter sa condition particuliere, c'est-e-dire son oppression» (LJ, 147). Insgesamt besteht Memmis Anliegen eher darin, vor einer allzu leichtfertigen und unwiderruflichen Klassifizierung nach dem Kriterium der Herkunft zu warnen: Un domaine litteraire proprement juif ne pouvait etre defini par ce pot-pourri oü nous jetions pele-mele, et complaisamment, n'importe qui portait un nom juif, meme s'il etait parfaitement indifferent ä sa judeite, meme s'il la refusait ou en avait honte; n'importe quel fabricant de mots d'esprit, d'ceuvrettes de divertissement ou de soupes apologetiques, c'est-ä-dire tous les fuyards de la futilite ou du bavardage idealiste. Un domaine litteraire juif aurait dü etre constitue par l'ensemble des reponses adequates aux questions posees par le destin juif. (LJ, 147sq)
Eine sehr poetische Beschreibung jüdischer Literatur oder «jüdischen Schreibens»41 liefert der französische Schriftsteller Edmond Jabes, der von einer mystischen Verbindung zwischen Judentum und Text ausgeht. Das Buch ist nicht nur Medium der jüdischen Grunderfahrung des Exils (Galut), sondern auch einzig wahre Heimat des jüdischen Volkes. «In declaring myself a writer I felt Jewish» schreibt Jabes und definiert «Jewish writing» folgendermaßen: There is such a thing as Jewish writing disturbing in how it has always managed to survive. Writing within the writing it inhabits. You recognize it by its stubborn resolve to find expedients, to question itself to go over and over the unsayable. Words of a dizzy discourse straining toward the future whose brittleness they know from the start. Words of anxiety, alarming but brotherly, beyond trials, beyond their own communication.42
Ansatzweise sind in diesen Beschreibungen jüdischer Literatur die von Lyons aufgeführten Kriterien enthalten (Memmis «malaise» oder Jabes' Exilerfahrung), doch bei Jabes aus einer Perspektive, die keinen wissenschaftlichen Zugriff mehr erlaubt, und in beiden Fällen in hohem Maße 40 41 42
Auch Wiesel ist mit Definitionen vorsichtig. Für ihn existiert eine HolocaustLiteratur «au sens large». Vgl. das Interview in: Cohen, B.-F., Wiesel, p. 145. Eric Gould (ed.): The Sin of the Book. Edmond Jabes, Lincoln/London 1985, p. 26 sq. Ibid., p. 28. 17
erweiterungsfähig. Für Memmi ist die «condition juive» im großen und ganzen identisch mit der «condition de l'opprime». Bei Jabes, der «Judentum», «Exil» und «Text» beinahe synonym gebraucht, wäre Literatur schlechthin ein jüdisches Phänomen. Der stark von Kabbala und Talmud43 beeinflußte Jabes vermittelt außerdem in dunkler, poetischer Sprache ein beeindruckendes Bild des jüdischen Denkens. Dementsprechend stellt er auch «Jewish writing» als endloses Befragen und Neuinterpretieren eines Textes dar, der Projektionsraum von Vergangenem und Zukünftigem sein soll. Neben den Definitionsschwierigkeiten, die der Begriff der jüdischen Literatur bereitet, sehen eine Reihe von Literaturwissenschaftlern auch eine spezielle Problematik in der Fixierung einer französisch-jüdischen Literatur. Geht man davon aus, daß eine jüdische Literatur in nicht-jüdischer Sprache existiert (wie diese im einzelnen definiert wird, ist dabei ohne Belang), so kristallisiert sich relativ schnell eine amerikanisch-jüdische oder deutsch-jüdische Literatur heraus, da es sich jeweils um eine historisch eng umgrenzte und kulturell ähnlich geprägte Gruppe von Autoren handelt: in diesem Fall um Aschkenasim mit gemeinsamer Herkunft aus dem deutsch-jiddischen Sprachbereich. Demgegenüber bietet sich in Frankreich, insbesondere in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, ein sehr uneinheitliches Bild. Das deutsche Judentum war seit Jahrhunderten homogen aschkenasisch und übernahm in den jüdischen Gemeinden in New York (Lower East Side), bei denen es sich fast ausnahmslos um aus Deutschland oder Osteuropa zugewanderte Aschkenasim handelte, die kulturelle Führung. Dagegen gab es in Frankreich seit dem Mittelalter sowohl aschkenasische als auch sephardische Gemeinden, deren Unterschiedlichkeit bis ins 19. Jahrhundert hinein besonders von den besser in die französische Gesellschaft integrierten Sephardim hervorgehoben wurde. Daß das Verhältnis bis heute noch nicht immer konfliktfrei ist und sich durch Holocaust und Dekolonisation demographische Umwälzungen zugunsten der Aschkenasim ergeben haben, beweisen Bemerkungen wie in Paule Darmons Roman Baisse les yeux, Sarah: Die jugendliche Protagonistin beklagt sich über die «nobles Ashkenazes», die aufgrund der nationalsozialistischen Verfolgungen ein ganz anderes Sozialprestige genössen als ihre armen Verwandten aus Nordafrika.44 Außerdem haben die in der islamisch geprägten Gesellschaft und zum Teil noch im Ghetto aufgewachsenen Sephardim aus Tunesien, Algerien oder Marokko in der Regel grö43
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Susan Handelman: «Torments of the Ancient World. Edmond Jabes and the Rabbinic Tradition». In: Gould, Sin, p. 71. Paule Darmon: Baisse les yeux, Sarah, Paris, Gallimard, 1980, p. 173.
ßere Schwierigkeiten, sich im modernen Frankreich zurechtzufinden.45 und fühlen sich auch dadurch benachteiligt. Diese Unterschiede haben sich offensichtlich auch in der Literatur niedergeschlagen und Schriftsteller und Literaturwissenschaftler zu den verschiedensten Stellungnahmen veranlaßt. Während Andre Gide im Jahre 1914 eine relativ homogene Gruppe von Autoren auszumachen vermeinte: II importe de reconnaitre que, de nos jours, il y a en France une litterature juive qui a ses qualites, ses significations, ses directions particulieres.46
streitet Feigelson dies 1960 im Hinblick auf die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Literatur ab: [...] on peut se demander si l'acte d'ecrire en frantjais suscitera egalement des formes specifiquement juives ä la pensee dont la langue est le support. Expression fran^aise d'un terroir juif, les oeuvres qu'on peut appeler juives dans la langue fransaise sont extremement diverses et leurs auteurs ne forment pas une ecole, ni merae une tradition; ils sont des moments occasionnels des lettres fran^aises, mais aussi rameau nourri ä la fois du sang que les Juifs ont donne ä la France et de la seve qui irrigue les differents courants de la culture juive.47
Diese Auffassung hat sich trotz der sehr unterschiedlichen Äußerungen jüdischer Schriftsteller in französischer Sprache in der Folgezeit nicht durchgesetzt. Sogar Robert de Boisdeffre, der in einem 1979 in UArche erschienenen Interview dem Begriff eines «roman juif» in der französischen Literatur noch eher ablehnend gegenüberstand.48 widmet 1985 angesichts einer Flut von Publikationen jüdischer Autoren in seiner Literaturgeschichte ein Kapitel der « fransais».49 Er beantwortet die Frage nun positiv: En ces annees 1970, commence ä se deployer en France - comme quelques annees auparavant ä New York - une . [...] Desormais le fait juif n'est plus gomme, il est au contraire assume et revendique.50
Noch einen Schritt weiter geht Guy Dugas in einem Aufsatz über die jüdisch-französische Literatur des Maghreb, die er als eigenständige literarische Strömung verstanden wissen will. Er stützt sich dabei auf die beachtliche Zahl der seit Ende des 19. Jahrhunderts erschienenen Titel sowie auf eine thematische Nähe aller relevanten Autoren (zum Beispiel die «peinture des mceurs et traditions des judai'cites maghrebines»51). 45 46
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Vgl. z.B. Gil Ben Aych: Le livre d'Etoile, Paris, Gallimard, 1986. Gide, Andre: Journal 1914. In: A. Gide, Journal 1889-1939, Paris, Gallimard, 1951, p. 397. Feigelson, op. cit., p. 33 (Hervorhebungen von B. W.). Pierre de Boisdeffre: «Y a-t-il un roman juif?» In: L'Arche (Dec. 1979), p. 4446. Boisdeffre, Histoire, p. 311-316. Ibid., p. 311 (Hervorhebungen von Boisdeffre). Guy Dugas: «Prolegomenes ä une etude critique de la litterature judeo-maghrebine d'expression fran^aise». In: Revue de l'Occident Musulman et de la Mediterranee 37 (1984). p. 206. 19
Betrachtet man die im Laufe des 20. Jahrhunderts abgegebenen Stellungnahmen zur jüdischen bzw. speziell zur französisch-jüdischen Literatur, so fällt auf, daß sich auch die Haltung der Literaturwissenschaft offenbar unabhängig von ihrem Forschungsobjekt gewandelt hat. Blieb das Phänomen zunächst unbeachtet (auch unter den jüdischen Schriftstellern war das Ziel die größtmögliche Assimilation) oder gab es allenfalls Anlaß zu diskriminierenden Beurteilungen (Gide ergänzt seine 1914 geäußerte Bemerkung 17 Jahre später: «C'est de la litterature avilissante»52), so mehren sich bis in die fünfziger Jahre positive Stimmen, die das «jüdische Element» 53 in der Literatur definieren - dies allerdings mit irrationalen, heute kaum mehr nachvollziehbaren Kriterien, wie der Beschaffenheit der «äme juive».54 So glaubt Emmanuel Rais 1949 einen «caractere inalienablement particulier du Juif» feststellen zu können, denn «la substance veritable d'un Juif ne peut etre et n'a jamais ete latine, slave ou germanique».55 Aus der Distanz von fast einem halben Jahrhundert mag man hier freilich etwas von einem «Mythos des Judentums» erkennen, der jedoch aufgrund seiner spekulativen und wenig rationalen Züge auch antisemitisch mißbraucht werden kann. Ähnliches gilt für Charles Lehrmans Aussagen über Proust: Ainsi, nous l'avons vu, les critiques constatent meme dans Marcel Proust, - en verite