Untersuchungen zu den Gleichnissen im römischen Lehrgedicht: Lucrez. Vergil. Manilius 9783666252266, 3525252269, 9783525252260


126 23 18MB

German Pages [320] Year 2000

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Untersuchungen zu den Gleichnissen im römischen Lehrgedicht: Lucrez. Vergil. Manilius
 9783666252266, 3525252269, 9783525252260

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

HYPOMNEMATA 129

V&R

HYPOMNEMATA UNTERSUCHUNGEN ZUR ANTIKE UND ZU IHREM NACHLEBEN

Herausgegeben von Albrecht Dihle/Siegmar Döpp/Dorothea Frede/ Hans-Joachim Gehrke/Hugh Lloyd-Jones /Günther Patzig/ Christoph Riedweg /Gisela Striker

HEFT 129

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

CLAUDIA SCHINDLER

Untersuchungen zu den Gleichnissen im römischen Lehrgedicht Lucrez · Vergil · Manilius

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Verantwortlicher Herausgeber: Siegmar Döpp

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

Schindler, Claudia: Untersuchungen zu den Gleichnissen im römischen Lehrgedicht (Lucrez, Vergil, Manilius) / Claudia Schindler. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2000 (Hypomnemata; H. 129) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1998 ISBN 3-525-25226-9 D 29 © 2000, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen

Inhalt

Vorwort I. Einleitung 1. Zum Stand der Forschung 2. Zur eigenen Vorgehensweise

7 9 14 25

Π. Zur Definition des Gleichnisbegriffs 1. Die Gleichnisdefinitionen der Antike 2. Moderne Definitionen des epischen Gleichnisses 3. Kriterien für die Materialauswahl und Terminologie der vorliegenden Arbeit

27 27 40 43

ΙΠ. Die griechische Lehrdichtung 1. Vorgaben und Voraussetzungen in der homerischen Epik 2. Von Hesiod bis Nikander a. Hesiod b. Empedokles c. Arat d. Nikander 3. Ergebnisse

46 46 52 52 56 59 64 71

IV. Lucrez 1. Gleichnisse im didaktischen Kontext a. Einzelgleichnisse b. Gleichnisgruppen 2. Gleichnisse im methodologisch-reflektierenden Kontext 3. Ergebnisse

72 75 78 110 125 145

V. Vergil 1. Gleichnisse im didaktischen Kontext a. Einzelgleichnisse b. Mehrfachgleichnisse und Gleichnisgruppen 2. Gleichnisse im reflektierenden Kontext 3. Ergebnisse

150 152 158 189 197 211

6

Inhalt

VI. Manilius 1. Gleichnisse im didaktischen Kontext 2. Gleichnisse im methodologischen Kontext 3. Ergebnisse

216 218 248 272

VII. Zusammenfassung

276

Literaturverzeichnis

283

Anhang: Ubersicht über die Gleichnisse in den Lehrgedichten des Lucrez, Vergil und Manilius 1. Lucrez, De rerum natura 2. Vergil, Georgica 3. Manilius, Astronomica

305 305 308 309

Index loco rum

311

Vorwort

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 1998 von der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster angenommen wurde. Das Druckmanuskript wurde im Winter 1998 abgeschlossen, so daß seither erschienene Literatur nicht mehr berücksichtigt werden konnte. Danken möchte ich meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. W. Hübner, der diese Arbeit angeregt, in allen Phasen ihrer Entstehung begleitet und mit seinen kritischen Anmerkungen bereichert hat. Er ermöglichte es mir auch, Teilergebnisse in einem Oberseminar zur Bildersprache des Lucrez im Wintersemester 1996/97 zur Diskussion zu stellen. Dank schulde ich ferner Herrn Professor Dr. G. Binder (Bochum), in dessen Hauptseminar über Gleichnisse in der römischen Literatur im Sommersemester 1994 ich mein Dissertationsvorhaben vorstellen durfte. Herr Professor Dr. A. Köhnken erklärte sich zur Übernahme des Korreferats bereit. Seiner Gesprächsbereitschaft und seinen Anregungen verdanken die Ausführungen ebenfalls sehr viel. Studienaufenthalte in der Fondation Hardt und bei Herrn Professor Dr. G. Calboli an der Universita degli Studi di Bologna ermöglichten ein konzentriertes Forschen. Beim Lesen der Korrekturen unterstützten mich Andrea Albers, Mona Balzer, Anja Bettenworth, Maren Gebhard, Ruth Monreal, Iris Schmakeit, Jochen Walter sowie meine Schwester Christina, bei der Erstellung des Index half Meike Rühl. Ihnen sowie all den anderen, die das Entstehen dieser Abhandlung mit ihrem Zuspruch begleitet haben, sei an dieser Stelle nochmals herzlich gedankt. Mein Dank gilt auch den Herausgebern der Hypomnemata, insbesondere Herrn Professor Dr. S. Döpp, für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe. Meinen Eltern und meiner Schwester möchte ich dieses Buch widmen. Tübingen, März 2000

C. S.

I. Einleitung

Mit einem berühmten und -wirkungsreichen Bild legitimiert Lucrez im ersten Buch seines Lehrgedichts die Präsentation epikureischer Philosophie in poetischer Form. Wie die Arzte den Kindern, so sagt er dort,1 den bitteren Absinth in einem Becher reichen, dessen Rand mit Honig bestrichen ist, damit die Kinder zwar den süßen Geschmack des Honigs an den Lippen spüren, den heilsamen Absinth jedoch trinken und dadurch gesund werden, so bediene er sich der Dichtung, um seiner Leserschaft die Lehre Epikurs zugänglich zu machen. Der bittere Absinth steht für die schwierigen, für unerfahrene Leser oft nicht einleuchtenden Gedankengänge Epikurs, der süße Honig hingegen für die ansprechende dichterische Form, in die Lucrez diese Gedanken kleidet. Die an sich unvereinbaren Gegensätze von Inhalt und Form zusammengeführt und in seinem Sinne nutzbar gemacht zu haben, betrachtet er als seine eigentliche Leistung. Daß Lucrez die Form des epischen Gleichnisses wählt, um die wirkungsvolle Kombination von Dichtung und Lehre in seinem Lehrgedicht darzustellen, ist gewiß kein Zufall. Das spannungsreiche Zusammenspiel von nüchternfachwissenschaftlichem Inhalt und hochpoetischer Form, das nicht nur Lucrez, sondern auch andere römische Lehrdichter als hervorstechende Eigenart ihrer Werke erkennen2 und das in der dichtungstheoretischen Diskussion die Gattung >Lehrgedicht< sogar zu einem »Problem der Poetik« macht,3 ist in den Gleich1 Lucr. 1,935-950, zu dem Gleichnis ausführlich unten S. 132-137. 2 Vgl. Pöhlmann (1973), 834f. Ähnlich deutlich wie Lucrez, allerdings mit noch schärferer Trennung zwischen Dichtung und Lehre, formuliert den Gegensatz von Form und Inhalt Manilius (1,20-23): bina mihi positis lucent altaria flammis, / ad duo templa precor duplici circumdatus aestu / carminis et rerum [...], dazu Pöhlmann (1973), 835; zum dichterischen Selbstverständnis des Manilius ausführlich Lühr (1969), 16-25. Die griechischen Lehrdichter vor Arat empfinden die Spannung von Dichtung und Lehre noch nicht, da Dichtung für sie überhaupt die einzige Form wissenschafdicher Darstellung ist. 3 Vgl. Fabian (1968): »Das Lehrgedicht als Problem der Poetik« (grundlegend); zur Gattungsdiskussion auch Effe (1977), 9-22: »Die Lehrdichtung als Problem der antiken und modernen Poetik«; ähnlich auch Pöhlmann (1973), 815: »Das Lehrgedicht als Musterfall einer unpoetischen Gattimg«. Die »Problemgeschichte des Lehrgedichts« (Fabian 68) kann hier nicht im einzelnen dargestellt werden. Sie beginnt mit Aristoteles, der das Lehrgedicht des Empedokles aufgrund seines amimetischen, weil fachwissenschaftlichen Inhalts aus der Poesie ausgrenzen wollte (ars poetica 1447bl5: ovSiv de κοινόν tan ν ' Ομηρψ και ' Εμτ{δοκλίϊ τ\ην το μίτρον, διό τον μεν νοιητην δίκαιον καλεί»», τον δί φνσιολίτγον μάλλον η τοιητην. Aber auch

10

Einleitung

nissen besonders gut zu fassen. Gleichnisse gehören während der gesamten Antike als feste Bestandteile zum Stil der heroischen Epen. Sie sind Glanz-, Höhe-, oftmals auch Ruhepunkte der Erzählung, auf die sich die Aufmerksamkeit des Lesers in besonderem Maße konzentriert. Der Rezipient eines Lehrgedichts dürfte sie daher in erster Linie als epische und somit als immens poetische Formelemente empfunden haben. Zugleich bestätigt die Verwendung von Gleichnissen innerhalb eines Lehrgedichtes die in der Antike geläufige Zuordnung dieser Gattung zur epischen Dichtung.4 Andererseits bestehen aber wesentliche Unterschiede zwischen heroischer und didaktischer Epik. Zumindest Inhalt und Struktur schließen ein Lehrgedicht aus der erzählenden Epik aus.5 Zwar gibt es im Lehrgedicht erzählende und mythologische Einlagen,6 mit denen der Lehrdichter an heroische Epen anknüpft. Typisch für das didaktische Epos ist jedoch gerade das Fehlen einer Erzählhandlung: An die Stelle der agierenden und reagierenden Personen tritt ein oftmals abstrakter und somit dichterisch nur schwer darstellbarer Sachgegenstand, an die Stelle der fortlaufenden Erzählung die Beschreibung und Deutung von Phänomenen der belebten und unbelebten Natur, bisweilen auch poetologische oder methodologische Reflexionen. Das erklärte Ziel von Lehrdichtung ist es, dem Rezipienten des Gedichts, der - anders als im heroischen Epos - direkt angesprochen, zum Teil sogar in die Ausführungen einbezogen und über die Lehrmethoden informiert wird/ Kenntnisse über diese Sachverhalte zu vermitteln. Bei der Verwendung von Gleichnissen kann sich der Lehrdichter zwar die Tatsache zunutze machen, daß diese auch im heroischen Epos dazu dienen, dem Leser bestimmte Einzelheiten der Erzählung deutlich zu machen, also in Goethe (1827) bezeichnet Lehrdichtung als »Mittelgeschöpf zwischen Poesie und Rhetorik« (225), als »Ab- und Nebenart, die in einer wahren Ästhetik zwischen Dicht- und Redekunst vorgetragen werden sollte« (ebenda), dazu Fabian (1968), 67: »Goethes Bemerkungen sind weithin repräsentativ für die Kritik am Lehrgedicht.« 4 Vgl. W. Kroll, R E ΧΠ,2 (1925), Sp. 1842 s.v. Lehrgedicht; Pöhlmann (1973), 820-825. Antike Zeugnisse: Tac. dial. 23; Quint, inst. 1,4,4; 12,11,27, dazu Murley (1947), 337f.; Quint, inst. 10,1,51, dazu Steinmetz (1964), 460. Nach Koster bilden zwar homerische und hesiodeische Dichtung »eine bleibende literarische Antithese« (Koster [1970], 10), er berücksichtigt aber generell das Lehrgedicht bei der Erörterung antiker Epostheorien mit. Speziell zu den Gleichnissen im Lehrgedicht als Merkmal des epischen Stils Lausberg (1990), 180; v. Albrecht I fl994), 223. Daß man in der Antike Lehrdichtung unter epischer Dichtung subsumierte, bedeutet allerdings nicht, daß man sich gewisser Unterschiede zum heroischen Epos nicht bewußt war, vgl. Lausberg (1990), 175f. - Mit >epischer Dichtung« ist in dieser Arbeit generell das heroische Epos gemeint, während speziell die Lehrdichtung als »didaktische Epik< bezeichnet wird. 5 Vgl. Kirsch (1982), 274 (auch zum folgenden). 6 Vgl. Pöhlmann (1973), 833; Lausberg (1990), 180. 7 Vgl. Kirsch (1982), 274.

Einleitung

11

gewisser Hinsicht schon dort >didaktische< Funktion haben.8 Doch sind die Gleichnisse in den typischen Lehrgedichtabschnitten in der Regel auf Gegenstände bezogen, die der Verfasser eines heroischen Epos überhaupt nicht oder allenfalls am Rande zu behandeln hat. Sie treten zumindest vordergründig in den Dienst der Vermittlung von Fachwissen oder werden für reflektierende Betrachtungen genutzt. Dadurch, daß der Lehrdichter ein hochpoetisches Mittel in einen eposfremden Kontext integriert und mit eposfremdem Inhalt füllt, ergibt sich daher auf engstem Raum genau jene spannungsreiche Kombination von Dichtung und Lehre, die allgemein typisch für Lehrdichtung ist und die Lucrez in dem Bild von Absinth und Honig so treffend beschreibt. Indem er nun diesen Gedanken in Form eines Gleichnisses präsentiert, führt er das, was er in dem Bild theoretisch darstellt, zugleich praktisch vor: Der >Absinth< sachlicher Darstellung wird mit den >Honig< des poetischen Mittels Gleichnis versüßt und so dem Leser nahegebracht. Mit dem Gleichnis des Honigbechers dokumentiert Lucrez also sowohl explizit als auch implizit auf eindrucksvolle Weise die psychagogische Wirkung seines Dichtens. In dieser Arbeit sollen die Gleichnisse im römischen Lehrgedicht im Spannungsfeld von Dichtung und Lehre betrachtet werden. Von besonderem Interesse ist dabei, wie sich die spezifischen Vorgaben der Gattung Lehrgedicht auf den Umgang der Dichter mit Gleichnissen auswirken, zu welchen Veränderungen in der Gleichnistechnik gegenüber den heroisch-epischen Gleichnissen sie den Lehrdichter zwingen oder wie dieser den Lehrtext den Erfordernissen eines heroisch-epischen Gleichnisses anzupassen hat, und schließlich, welche Funktionen die Gleichnisse im didaktischen Epos dadurch bekommen. Gegenstand der Untersuchungen sind die Gleichnisse in den Lehrgedichten der späten Republik und frühen Kaiserzeit: Lucrezens De rerum natura, Vergils Georgica und die Astronomica des Manilius. Eine gemeinsame Behandlung dieser Autoren bietet sich aus mehreren Gründen an. Sie sind für uns bis ins erste nachchristliche Jahrhundert die wichtigsten Vertreter der römischen Lehrdichtung. Weil ihre Werke nahezu vollständig erhalten sind, haben sie den Vorteil, daß sie nicht nur hinreichend Material für die Interpretation bieten,' 8 Vgl. Eustath. I, 270, 29f. van der Valk (zu Horn. Π. 2,81-87): epyov Se αυτής (sc. τής ταραβο\ής) και ΤΟ δίδασκαν άριδηΧώς τά ύτοκάμίνα πράτγματα, ων χάριν παράΧηπται. 9 D i e nur fragmentarisch erhaltenen Halieutica Ovids enthalten keine Gleichnisse. N u r ein einziges Gleichnis findet sich in dem Fragment von Grattius' Cynegetica (Grattius 223-229: D e r Eifer eines auf der Fährte schnüffelnden Jagdhundes wird mit dem Ehrgeiz eines thessalischen Viergespannes verglichen), zu dem Gleichnis unten S. 207 A n m . 212. Mit dem Cynegetica-Fragment des Nemesian sind wir bereits am Ende des dritten nachchristlichen Jahrhunderts,

12

Einleitung

sondern auch Rückschlüsse über die Stellung der Gleichnisse innerhalb der Gesamtkomposition zulassen. Jedes der drei Gedichte behandelt ein relativ scharf umgrenztes fachwissenschaftliches Thema: epikureische Atomistik, Landwirtschaft, Astrologie/Astronomie. Diese Gegenstände liefern einen repräsentativen Querschnitt durch die Themenvielfalt römischer Lehrdichtung, so daß sie auch Aufschluß darüber geben können, wie der Lehrgegenstand die Gleichnistechnik eines A u t o r s beeinflußt. T r o t z ihrer unterschiedlichen Thematik weisen die drei Gedichte auffällige formale Gemeinsamkeiten auf. In allen Fällen handelt es sich u m relativ umfangreiche hexametrische Lehrgedichte, die durch eine Bucheinteilung

gegliedert

sind. Sie wirken dadurch sehr viel >epischer< als etwa die in elegischen Distichen abgefaßten Lehrgedichte Ovids 1 0 oder die mit nur knapp 500 Hexametern verhältnismäßig kurze Ars poetica des Horaz, die ihrer Gattung nach eher der Versepistel verpflichtet ist. 11 Das vor 79 n. C h r . entstandene Aetna-Gedicht 1 2 fällt nicht nur durch seinen geringen Umfang v o n 645 Hexametern aus der v o n Lucrez inaugurierten Tradition römischer Lehrdichtung heraus, sondern ist auch v o n seinem T h e m a (Vulkanismus) her lediglich ein Auszug aus dem sechsten Buch v o n D e rerum natura (6,680-711). Ebenso berühren sich die lateinischen

das einen deutlichen Einschnitt in der Geschichte der römischen Literatur bildet. Das einzige Gleichnis der Cynegetica (Nemes. 272-278: Boreas) hat sein Vorbild in georg. 3,196-201, vgl. Effe (1977), 172. 10 Vgl. v. Albrecht I ^1994), 624 und 634 (zur Ars amatoria und den Remedia amoris). Die Ars amatoria und die Remedia amoris sind im übrigen keine reinen Lehrgedichte, sondern eine »spielerisch-parodistische Form« (vgl. Effe [1977], 238-248; im wesentlichen zustimmend Steudel [1992], 125-193). Zur gattungsmäßigen Einordnung der Fasten Rüpke (1994), 127f. Die Mischung verschiedener Gattungen ist typisch für das Dichten Ovids: Auch die Metamorphosen stehen zwischen Lehrgedicht und erzählendem Epos, vgl. Latacz (1979), 144 (»Kreuzungstyp zwischen Sachepos und heroischem Epos«). Hinds ([1987], 121) entdeckt in den Metamorphosen gar »elements characteristic of elegy, bucolic, didactic, tragedy, comedy and oratory«, vermischt mit »elements variously characteristic of the grand epic tradition«. 11 Vgl. Fuhrmann (1973), 100. Der Werktitel >Ars poetica< stammt im übrigen nicht von Horaz selbst, sondern erst von Quintilian (inst. 8,3,60). 12 Vgl. De Vivo (1989), 63f. (mit weiterer Literatur). Gleichnisse in der Aetna: 98-101 (Adern im Körper - von Höhlen durchzogene Erde); 105-110 (locker gehäufter Steinhaufen locker geschichtete Erdmassen); 293-300 (Wasserorgel bringt Töne hervor - Wind faucht in den Höhlungen des Aetna); 318-328 (dicht aufeinanderfolgende, vom Wind getriebene Wogen Wind im Inneren der Erde); 358-365 (Bäume rauschen im Wind und fangen Feuer - Feuer im Erdinneren entzündet sich durch Reibung); 470-474 (besiegte Schlachtreihe - Steine weichen der Macht des Feuers); 491f. (dicht aufeinanderfolgende Wogen - Lavastrom); 560-564 (Handwerker bearbeiten Eisen mit Hilfe von Feuer und Blasebälgen - Vorgänge im Inneren des Aetna; Zu- und Abnahme des Luftstroms); 606-609 (Jupiter schleudert Blitze - Aetna bricht aus). Auf interessante Verbindungen dieser Gleichnisse zu den Gleichnissen in früheren Lehrgedichten wird gegebenenfalls hingewiesen.

Einleitung

13

Arat-Übersetzungen thematisch mit dem ersten Buch der Astronomica; sie stellen außerdem ein Spezialproblem der lateinischen Ubersetzung eines griechischen Originals dar. Abgesehen von den äußerlichen Gemeinsamkeiten gibt es aber noch weitere Kriterien, welche die drei großen Lehrgedichte miteinander verbinden. So sehen die Verfasser ihre Aufgabe nicht allein in der Vermittlung von Sachwissen, sondern wollen zugleich eine umfassende Daseins- und Weltdeutung geben.13 Obwohl sie sich konkurrierenden philosophischen Systemen verpflichtet fühlen, lassen ihre Gedichte vielfältige Beziehungen sprachlicher und inhaltlicher Art erkennen. Vergil selbst versteht seine Georgica als eine Reaktion auf Lucrezens De rerum natura14 und ist in Sprache und Stil deutlich von diesem beeinflußt.15 Manilius setzt sich in den Astronomica - u.a. in den Gleichnissen16 - sowohl mit der lucrezischen als auch mit der vergilischen Weltdeutung auseinander und rekurriert in der sprachlich-stilistischen Gestaltung seines Lehrgedichtes ebenfalls stark auf Lucrez und Vergil.17 Diese Beziehungen zwischen den einzelnen Lehrgedichten legen es nahe, auch die in ihnen enthaltenen Gleichnisse gemeinsam zu behandeln. Bevor im folgenden etwas ausführlicher auf Vorgehensweise und Zielsetzung dieser Arbeit eingegangen wird, sollen kurz die bisherigen Forschungen zu den Gleichnissen im Lehrgedicht skizziert werden, da sich aus ihnen wichtige Anregungen für unsere Untersuchungen ergeben.

13 Vgl. W. Schmid, LAW Π (1965), Sp. 1699 s.v. Lehrgedicht. 14 Vgl. Verg. georg. 2,490-494: Felix, quipotuit rerum cognoscere causas /atque metus omnis et inexorabüe fatum / subiecit pedibus strepitumque Acherontis avari:/fortunatus et ille, deos qui novit agrestis /Panaque Silvanumque senem Nymphasque sorores, vgl. dazu Klingner (1963), 127f. Die Formulierung rerum cognoscere causas weist eindeutig auf den Werktitel De rerum natura, metus omnis ... strepitumque Acherontis auf Lucr. 3,37: et metus ille foras praeceps Acheruntis agendus, so daß wohl kaum nur unspezifisch »the man who understands the workings of universe« (Thomas, Verg. georg. I [K 1988], 253) gemeint ist. 15 Vgl. die Zusammenstellungen von Merrill (1918). 16 Vgl. z.B. Manil. 2,750-787, dazu unten S. 252-272. 17 Zu Manilius und Lucrez vgl. die Arbeit von Rösch (1911). Zahlreiche Reminiszenzen an die Georgica Vergils verzeichnet die Editio maior von Housman (Ed 2 1937); zu Strukturparallelen zwischen Georgica und Astronomica Hübner (1984), passim.

14

Einleitung

1. Zum Stand der Forschung Gemessen an der Aufmerksamkeit, die den Gleichnissen der heroischen Epen in der Forschung immer wieder zuteil geworden ist,18 war das Interesse an den Gleichnissen im didaktischen Epos bislang eher gering. In den allgemeineren Publikationen zum Lehrgedicht von W. KROLL (1924), M. EUREN (1956) und E. PÖHLMANN (1973) bleiben sie gänzlich unberücksichtigt. Nur wenige knappe Hinweise auf die Gleichnisse enthält die Monographie von B. EFFE (1977); zudem zieht Effe diese nur dort heran, wo sie seinen typologischen Ansatz bestätigen.19 In der neuesten umfassenderen Darstellung zur Lehrdichtung (1996) erwähnt der Verfasser P . TOOHEY lediglich die Gleichnisse aus dem Werk des Empedokles.20 Das Forschungsinteresse an den Gleichnissen der einzelnen Lehrdichter ist unterschiedlich stark. Die meiste Beachtung fanden in den einschlägigen Detailuntersuchungen erwartungsgemäß die Gleichnisse der >klassischen< Lehrgedichte des Lucrez und Vergil. Ahnlich wie bei den Gleichnissen der erzählenden Epik steht am Beginn der Beschäftigung mit den Gleichnissen des Lucrez das Bestreben, das vorhandene Material zu sammeln und zu ordnen. Die früheste Arbeit zur lucrezischen Bildersprache, die 1 8 9 3 in Halle erschienene Dissertation von H . FEUSTELL »De comparationibus Lucretianis« bietet daher Ubersichten über Verteilung, Zahl, Länge, Motive und Einleitungsformeln lucrezischer »comparationes«. Im einzelnen befaßt sich Feustell vorwiegend mit textkritischen Fragen und erörtert ausführlich Athetesen und Umstellungen verschiedener »comparationes« Probleme, die aufgrund des schlechten Uberlieferungszustandes des Lucreztextes

18 Vgl. die Forschungsberichte von Gärtner (1994), 14-27 (Homer. Apollonius. Vergil. Valerius Flaccus); Rieks (1981), 1019-1034 (Vergil); ein knapper Uberblick zu Apollonius auch bei Reitz (1996), 2. 19 Effe (1977), 69 Anm. 7 (Lucrez); 91-93 (Vergil); 172 (Nemesian); 140 und 151 m. Anm. 28 (Oppian, Halieutica). Effes typologische Einteilung der antiken Lehrdichtung in »sachbezogenes >transparente< und >formale< bzw. >artistische< Lehrgedichte ist verschiedentlich kritisiert worden, vgl. die Rezensionen von Lasserre (1978), 169f.; Kenney (1979 Ε), 70-73; besonders scharf Schrijvers (1982), 400-402, bes. 400: »Le choix de ces trois types a ete assez funeste, a notre avis, a l'utilite du livre [...]«. 20 Toohey (1996), 45. In seinem Epos-Buch weist Toohey hingegen explizit darauf hin, daß es sich bei den Gleichnissen um konstitutive Elemente des epischen Stils handelt: Toohey (1992), 16.

Einleitung

15

immer noch aktuell sind.21 Den Schluß der Arbeit bildet eine recht willkürliche Sammlung von Stellen, die Feustell als literarische Vorbilder für einzelne Vergleichungen ansieht. Unabhängig von Feustells Arbeit ist offenbar die Abhandlung von F. GUGLIELMINO: »Le similitudini nel poema di Tito Lucrezio Caro« (Acireale 1896) 2 2 entstanden. In der Einleitung lobt der Verfasser die genaue Beobachtungsgabe des Lucrez, zudem weist er auf den didaktischen Wert der lucrezischen Gleichnisse hin: Aus den Vergleichungen solle der Leser erkennen, daß unterschiedliche Sachverhalte denselben Gesetzmäßigkeiten unterliegen können.23 Ansonsten bietet auch Guglielmino im Wesentlichen eine Stellensammlung und eine Auflistung verschiedener »similitudini«, die jedoch keinen einheitlichen Kriterien folgt: Er gruppiert die Vergleichungen zum Teil nach Bildmotiven,24 zum Teil aber auch nach Themen25 oder nach ihrem Auftreten im Text.26 Zudem bezieht er in seine Betrachtung Stellen ein, an denen der Vergleich nur gedanklich nahegelegt und nicht explizit durchgeführt wird,27 muß zugleich aber zugeben, daß die Unterscheidung zwischen »similitudine« und »esempio« bisweilen schwierig ist. In einem kurzen Aufsatz, der weder die Arbeit von Feustell noch die von Guglielmino berücksichtigt, beschäftigt sich erst wieder R . C . HOHLER (1925) mit den lucrezischen Gleichnissen. Sie hebt vor allem auf den Kontrast zwischen homerischen und lucrezischen Gleichnissen ab: Während die homerischen Gleichnisse dekorative Elemente seien, hätten die lucrezischen Gleichnisse primär die Funktion, dem Leser die epikureische Philosophie nahezubringen;28 dementsprechend gebe es in lucrezischen Gleichnissen keine >überschießenden< Teile wie bei Homer.29 Des weiteren weist Hohler auf die Motiwielfalt der lucrezischen Gleichnisse hin, für die sie zahlreiche Beispiele bringt.

21 Vgl. z.B. die 1996 erschienene Arbeit von M. Deufert, die sich ausschließlich mit den unechten Zusätzen zum Lucreztext auseinandersetzt. 22 Nicht aufgenommen in der »Bibliographie zur antiken Bildersprache« von Pöschl (Bibl 1963). Für die Beschaffung des Buches danke ich G. Calboli (Bologna). 23 Vgl. Guglielmino (1896), 17. 24 Z.B. Guglielmino (1896), 28 (Feuer); 33f. (Meer). 25 Z.B. Guglielmino (1896), 38-40 (Gleichnisse zur Veranschaulichung der Liebesleidenschaft). 26 Vgl. Guglielmino (1896), 42-45 (Gleichnisse des fünften Buches). 27 Vgl. Guglielmino (1896), 17: »nella forma non paiono similitudini, ma sono nel pensiero«. 28 Vgl. Hohler (1925/26), 281f. 29 Vgl. Hohler (1925/26), 282.

16

Einleitung

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kommt es zu einer intensiveren Erforschung von Sprache und Stil des lucrezischen Gedichts. Besonders im englischsprachigen Raum ist »the poetry of Lucretius« Titel und Gegenstand zahlreicher Aufsätze. Dabei bemüht sich die philologische Forschung der 50er und 60er Jahre ganz konkret um ein besseres Verständnis der lucrezischen >BilderspracheBilder< als poetische Elemente. Doch werden in G. TOWNENDS und W.G. MAGUINNESS' Beiträgen zu dem Lucrez-Sammelband von D . R . DUDLEY (London 1965) die Gleichnisse (»similes«) relativ ausführlich behandelt.30 Beide Autoren trennen nicht scharf zwischen Gleichnissen und sprachverwandten Erscheinungen. Die Ergebnisse fallen daher sehr allgemein aus: Bei den Gleichnissen handele es sich um dichterische Mittel, deren Funktion es sei, die lucrezische Lehre zugänglicher und verständlicher zu machen. D. WEST befaßt sich mit der Bildersprache des Lucrez in seinem 1969 erschienenen Buch mit dem Titel »The imagery and poetry of Lucretius«. Wests Absicht ist es, seiner Leserschaft die lange verkannte dichterische Meisterschaft des Lucrez nahezubringen.31 Sein Thema ist allgemein die lucrezische Bildersprache, als deren Charakteristika er Detailreichtum, Stringenz und Fülle (»plenitude«) erarbeitet.32 Ferner weist er auf Wiederaufnahmen von Gleichnismotiven durch Metaphern im Haupttext hin. Lucrez stelle sogar häufig Verbindungen zwischen verschiedenen Bildern her und schaffe so ein dichtes Assoziationsgeflecht. Viele von Wests allgemeinen Beobachtungen zur lucrezischen Bildersprache lassen sich besonders gut an den Gleichnissen verifizieren. Sehr weit ist auch der Titel der Frankfurter Dissertation von B. GABRIEL »Bild und Lehre. Studien zum Lehrgedicht des Lukrez« (1970) gefaßt. Die Arbeit ist wesentlich von den sprachphilosophischen Ansätzen Pongs' und Seidlers beeinflußt, für die Dichtung einen Akt der Seele darstellt.33 Gabriel vereinigt unter dem Oberbegriff »Bild« so verschiedene Tropen wie Synekdoche, Emphasis, Vergleich (hier ist auch das Gleichnis eingeschlossen), Personifikation, Metonymie, Oxymoron, Metapher und Allegorie, da diese Erscheinungen einen »seelischen Anreiz« zu bieten vermögen.34 In seinen Einzelinter30 Maguinness (1965), 86-89; Townend (1965), 100-104. 31 Vgl. West (1969), VII: »suggesting what it is in Lucretius that I find magnificent«. 32 Vgl. West (1969), 1-15. 33 Gabriel (1970), 39. Zu den Ansätzen von Pongs und Seidler vgl. auch Knapp (1975), 150-156. 34 Gabriel (1970), 39.

Einleitung

17

pretationen35 kommt er dann jedoch nicht über die Ergebnisse seiner Vorgänger hinaus. Die im Jahre 1970 erschienene Interpretation von P . H . SCHRIJVERS: »Horror ac divina voluptas. Etudes sur la poetique et la poesie de Lucrece« hingegen, deren Ziel es ist, auf der Grundlage der expliziten und impliziten Aussagen zur Dichtung in De rerum natura eine >Poetik< des Lucrez zu erarbeiten,34 enthält auch einige sehr gute Beobachtungen zu einzelnen Gleichnissen im Kontext lucrezischer Bildersprache.37 Neben diesen Monographien, in denen die Gleichnisse als Teilaspekt der lucrezischen Bildersprache Erwähnung finden, wurden in den vergangenen vier Jahrzehnten drei Aufsätze speziell zu den Gleichnissen veröffentlicht. Von den vergilischen Gleichnissen her kommt der oben schon genannte D . WEST in einem Philologus-Aufsatz von 1970 »Virgilian multiple-correspondence similes and their antecedents« auf die Gleichnisse des Lucrez zu sprechen. Den wesentlichen Unterschied zwischen lucrezischen und vergilischen Gleichnissen sieht West darin, daß Lucrez Gleichnisse als Beweismittel (»proof of argument«), Vergil aber als Illustrationen der Erzählhandlung (»illustration of the narrative«) einsetze.38 Sein Aufsatz soll zeigen, daß Lucrez dennoch dem Vergil in nicht unerheblichem Maße als Vorbild in der Gleichnistechnik gedient habe. Schwerpunktmäßig geht es West - wie schon in seinem Lucrezbuch - um sprachliche Korrespondenzen, durch die Haupt- und Gleichnistext verbunden sind. Diese Beziehungen zwischen Gleichnis und Lehrtext sind auch Thema eines 1976 erschienenen Aufsatzes von Μ. BATTBTI, die die Interaktionen von Gleichnissen und Metaphern bei Lucrez anhand von zahlreichen Beispielen veranschaulicht. Schließlich erschien 1984 der Beitrag von A. LEEN »The rhetorical value of the similes in Lucretius«, ein nahezu wörtlicher Auszug aus ihrer 1980 abgeschlossenen Dissertation,39 die sich allgemein mit rhetorischen Einflüssen auf das Werk des Lucrez befaßt. Leen glaubt, daß Lucrez durch den Gebrauch >epischer< Gleichnisse eher der Epik als seinem philosophischen Lehrmeister Epikur verpflichtet sei. Die lucrezischen Bilder dienten jedoch als wissenschaftliche

35 Gabriel (1970), 46-49 (Jagdhunde); 116-119 (Absinth und Honig). Das lucrezische Absinthgleichnis ist übrigens keinesfalls der einzige »Vergleich, der in dem Gedichte nach dem Schema des homerischen Gleichnisses gebaut ist«, wie Gabriel auf S. 116 behauptet. 36 Vgl. Schrijvers (1970), 1. 37 Z.B. Schrijvers (1970), 27-40 (poetologische Aussagen im Absinth-Gleichnis 1,935-950); 270-272 (zu Lucr. 2,549-566: Schiffbruch-Gleichnis). 38 West (1970), 274f. 39 Leen (1980), 120-172.

Einleitung

18

Erklärungen, ihre Beweiskraft beruhe vor allem darauf, daß sie die Erfahrungswelt des Lesers einbezögen. Bei einem Vergleich von lucrezischen und vergilischen Gleichnissen stellt Leen fest, daß die Gleichnisse des Vergil gegenüber den streng auf den Sachgegenstand bezogenen lucrezischen Gleichnissen expressiver und suggestiver seien. So lautet ihr Fazit: »The difference is that where Vergil is deeply poetic and literary, Lucretius is relentlessly didactic«40. Es wird jedoch zu zeigen sein, daß die »poetische« und die »didaktische« Komponente sich keineswegs so zwangsläufig ausschließen, wie es nach Leens Formulierung den Anschein hat. Den Gleichnissen ist auch ein Kapitel in dem Beitrag von G. GARBUGINO »Immagine, mito ed allegoria in Lucrezio« (1989) gewidmet. Die Gleichnisse sind nach Ansicht des Verfassers besonders geeignet für wissenschaftliche Gedankengänge, da dort Bild und Sachtext klar gegeneinander abgesetzt werden; zugleich sind sie aber auch Bestandteile des »lepos lucreziano«. 41 Garbugino erkennt also eine Einheit von Dichtung und Lehre bei Lucrez. Die Einzelinterpretationen, in denen er insbesondere auf das Zusammenwirken von Gleichnissen und Metaphern eingeht, bringen jedoch gegenüber den früheren Arbeiten wenig Neues. A. SCHIESARO untersucht in seinem 1990 erschienenen Buch »Simulacrum et imago. Gli argomenti analogici nel De rerum natura« die Analogieschlüsse und ihren Beitrag zu den wissenschaftlichen Beweisführungen des Lucrez. Er unterscheidet zwischen synchronischen (also vom Standpunkt des Betrachters aus gleichzeitigen) und diachronischen (also vom Standpunkt des Betrachters aus vorzeitigen) Analogien. 42 Bei den synchronischen Analogien interessiert ihn in erster Linie, ob eine Analogie die Beweislast trägt oder nur bereits Bewiesenes bestätigt. D a die lucrezischen Gleichnisse bisweilen auch beweisende Funktion haben, werden sie von ihm unter den synchronischen Analogien ζ. T. berücksichtigt und als solche interpretiert.43 Der Schwerpunkt von Schiesaros Arbeit liegt also eher auf inhaltlichen denn auf sprachlich-stilistischen Aspekten lucrezischer Argumentationsformen.

40 Leen (1980), 155; (1984), 117; ähnlich auch (1980), 170: Vergils Referenzen zwischen Haupt- und Gleichnistext hätten »poetic value«, Lucrez hingegen »is concerned above all with his argument«. 41 Garbugino (1990), 40. 42 Kritische Bewertung dieser Einteilung bei Manuwald (1993), 594. 43 Z.B. Lucr. 1,277-294 (Stuizbach-Gleichnis): Schiesaro (1990), 22; 2,551-566 (Schiffbruch-Gleichnis): Schiesaro (1990), 44; 3,221-343 (Gleichniskomplex zur Veranschaulichung der atomistischen Seelenstruktur): Schiesaro (1990), 53-56.

Einleitung

19

Der Überblick zeigt, daß die Forschungsliteratur zwar eine Reihe wichtiger Einzelbeobachtungen zu den lucrezischen Gleichnissen enthält, die bereits verschiedene Facetten seiner Gleichnistechnik erkennen lassen. Allgemein weisen die Interpreten immer wieder auf den Gegensatz von Dichtung und Lehre hin. Der Wert ihrer Ergebnisse wird jedoch oft durch eine unscharfe Definition des Gleichnisbegriffs beeinträchtigt. Eine detailliertere Untersuchung der Funktionen von Dichtung und Lehre, die sich speziell auf das Gleichnismaterial konzentriert, steht bisher noch aus. Vergil ist wohl der anerkannteste und am besten erforschte lateinische Dichter. Das gilt auch für das Lehrgedicht. Ging es in den Arbeiten zur Bildersprache des Lucrez im Wesentlichen darum, seine Leistungen auf sprachlichstilistischem Gebiet zu würdigen und einen Zugang zu seinem Werk zu schaffen, so besteht die Problematik in den Forschungen zu den Gleichnissen der Georgica darin, daß sie nahezu vollständig im Schatten der Aeneis-Interpretationen stehen. Während die Bildersprache dieses Werkes immer wieder Gegenstand von Publikationen gewesen ist,44 fehlen spezielle Arbeiten zu den Georgica-Gleichnissen. Sofern sie überhaupt Beachtung finden, werden sie zumeist unter dem Oberbegriff »vergilische Gleichnisse« in einem Zug mit den Aeneisgleichnissen behandelt. Es ist bezeichnend, daß W . SUERBAUM in Kap. DC seiner Georgica-Bibliographie über »Sprache, Stil und Metrum der Georgica«45 für die Bildersprache auf die entsprechenden einschlägigen Untersuchungen zu den Aeneisgleichnissen verweisen kann, die er in seiner Aeneis-Bibliographie aufführt.46 Auch R . RIEKS hat in seinem Forschungsbericht47 bezeichnenderweise nur Arbeiten zu besprechen, die sich ausschließlich oder vordringlich mit den Gleichnissen der Aeneis beschäftigen. Ein Grund dafür mag sein, daß die Zahl der in den Georgica verwendeten Gleichnisse die der Aeneisgleichnisse bei weitem nicht erreicht. So bietet die große Zahl der Aeneisgleichnisse dem Interpreten eine Fülle von Material zur Untersuchimg der Charakteristika vergilischer Gleichnisse, während die Gleichnisse der Georgica allenfalls eine willkommene Ergänzung und Bestätigung ohnehin schon gewonnener Einsichten

44 Vgl. den Forschungsbericht bei Rieks (1981), 1019-1033; zuletzt Gärtner (1994), 25-27. In der Vergilforschung der letzten 15 Jahre (der Zeit nach dem Erscheinen von Rieks' Arbeit also) bestimmt die Analyse von ausgewählten Gleichnissen der Aeneis oder Einzelaspekten die Forschung, z.B. Salvatore (1982); Harrison (1988); zuletzt Ross (1997). 45 Suerbaum (Bibl 1980), 449-451. 46 Suerbaum (Bibl 1980 D), 173-175. 47 Rieks (1981), 1019-1033.

20

Einleitung

zu liefern scheinen. Das hat allerdings zur Folge, daß ihre Eigengesetzlichkeiten als Gleichnisse eines didaktischen Epos nahezu unberücksichtigt bleiben. Das dominierende Interesse an den Gleichnissen des erzählenden Epos zeigt sich deutlich an den frühen Abhandlungen zur Bildersprache Vergils, bei denen es sich wie bei Lucrez zumeist um Materialsammlungen fast ohne interpretatorische Auswertung handelt.48 Die Georgicagleichnisse spielen, sofern sie überhaupt in die Betrachtungen einbezogen werden, nur eine untergeordnete Rolle. Die Verfasser der Arbeiten verfolgen das Ziel, das umfangreiche Material in irgendeiner Form zu systematisieren, zumeist anhand der Gleichnismotive. Auch auf die griechischen Vorbilder für einzelne Gleichnisse wird bisweilen hingewiesen. Sehr viel tiefer in die vergilische Gleichnistechnik dringen erst die Monographien von V. PÖSCHL (1950), M. v. DUHN (1952) und A.S. HORNSBY (1970) ein, die allerdings ausschließlich das Gleichnismaterial der Aeneis untersuchen.49 Die intensive Beschäftigung mit den Gleichnissen der Aeneis hat jedoch auch Auswirkungen auf die Erforschung der Georgicagleichnisse. So kommen Einsichten in die Gleichnistechnik und die Verwendimg von Gleichnissen in der Aeneis auch dem Verständnis der Georgicagleichnisse zugute. P. BOVIES Aufsatz »The imagery of ascent - descent in Vergil's Georgics« (1956), der das Thema »Aufstieg und Verfall« als Leitmotiv der Georgica untersucht und aufweist, daß die Gleichnisse der Georgica innerhalb eines komplizierten Beziehungsgeflechts zu betrachten sind,50 wäre in dieser Form ohne frühere Arbeiten zur Aeneis nicht denkbar, wie Bovie selbst anmerkt.51 Vor allem aber finden die Gleichnisse der Georgica in den Monographien zu diesem Werk als Bestandteile des zu interpretierenden Textes Beachtung. Im Mittelpunkt des Interesses steht deshalb nicht das Gleichnis als sprachliches Mittel, sondern die Frage, inwieweit sich dort Vergils >Stimmung< und Weltanschauung widerspiegeln. Die Einschätzung, die der jeweilige Forscher insgesamt von den Georgica hat, beeinflußt dabei die Interpretation der Gleichnisse: F. KXJNGNER, der die Georgica positiv als Gedicht der pax Augusta be48 Vgl. den Überblick bei Rieks (1981), 1019. Die Zusammenstellung von Wilkins (1921), die ihre Konzeption bereits durch den Titel »Classification« verrät, will wohl nicht mehr sein als ein Instrumentarium für weitere Arbeit an den vergilischen Gleichnissen. 49 Die Arbeit von R. Rieks (1981), die auch die Gleichnisse der Georgica in die Betrachtungen einbezieht, wird unten S. 23 besprochen. 50 Bovie (1956), 344f. 51 Vgl. Bovie (1956), 342 Anm. 9; dort verweist er auf Knox (1950). Methodisch ähnlich ist auch die Untersuchung von Wilhelm (1982): »Pflug« und »Wagen« in den Georgica.

Einleitung

21

wertet, deutet in seinem Georgicabuch von 1963 das Heeresgleichnis (2,276-283) als verfremdendes Element, als »episches Spiel«.52 Auch im Kyklopengleichnis (georg. 4,170-176) sieht Klingner ein »Spiel mit den Paradoxien«.53 Ganz anders fällt hingegen die Interpretation derselben Gleichnisse bei M . C . PUTNAM aus, einem prominenten Vertreter der in den 60er Jahren im angloamerikanischen Raum aufkommenden Two-Voices-Theorie.54 Bereits in der Einleitung zu seiner 1979 erschienenen Georgica-Monographie kritisiert Putnam Klingners positive Deutung der Georgica.55 Entsprechend seiner düsteren und pessimistischen Georgica-Auslegung entdeckt Putnam pessimistische und bedrohliche Tendenzen auch im Heeres- und im Kyklopengleichnis.56 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt A. BETENSKY in detaillierten Einzelinterpretationen dieser beiden Gleichnisse.57 Ein in der Forschung verschiedentlich behandeltes Thema, das auch die Gleichnisse betrifft, ist die Vorbereitung der Aeneis in den Georgica, in der sich die »Einheit des vergilischen Lebenswerkes« (Klingner) zeigt. An erster Stelle sind hier die Arbeiten von W . W . BRIGGS über die Verswiederholungen aus den Georgica in der Aeneis zu nennen.58 Da Vergil in der Aeneis mehrfach auf Material der Georgicagleichnisse zurückgreift, geht Briggs auf dieses Werk relativ ausführlich ein; die Untersuchung von 1980 enthält sogar eine tabellarische Ubersicht über die in den Georgica verwendeten Gleichnisse und Kurzvergleiche und ihre mutmaßlichen Vorbilder.59 Briggs ordnet die Gleichnisse der Georgica zunächst in die Tradition der heroisch-epischen Gleichnisse Homers und Apollonius' ein. Lucrezischen Einfluß glaubt er in der kompositorischen Funktion der Georgica-Gleichnisse feststellen zu können. Außerdem informiert er über die Vergleichsmotive sowie über die Verteilung der Gleichnisse in den Georgica. Für ihre Verwendung im Lehrgedicht nennt er zusammenfassend drei Gründe: (1) die literarische Tradition, die eine Vielzahl von Vergleichsmotiven bereitstelle, (2) episches Kolorit und (3) die kompositionelle, strukturierende

52 Klingner (1963), 99, zu dem Gleichnis ausführlich unten S. 158-166. 53 Klingner (1963), 179, zu dem Gleichnis ausführlich unten S. 178-188. 54 Vgl. zu Begriffsbestimmung und Forschungsgeschichte Glei (1991), 11-24. 55 Putnam (1979), X. In ihrer Tendenz ähnlich ist auch die - unabhängig von Putnam entstandene - Monographie von Miles (1980). 56 Vgl. Putnam (1979), 116-118 (Heeresgleichnis); 256-258 (Kyklopengleichnis). 57 Betensky (1979) und (1979 Π). 58 Briggs (1974); (1980); (1981/82). 59 Vgl. Briggs (1980), 13. Unter der Rubrik »sources« gibt Briggs allerdings keine präzisen Stellenangaben, sondern nennt lediglich den Autor (z.B. »Homer«), aus dem VergU seiner Ansicht nach die Vergleichung entnommen hat.

Einleitung

22

Funktion von Gleichnissen.60 Insgesamt sind Briggs' Untersuchungen vorwiegend statistisch; da es ihm in erster Linie darauf ankommt, die Funktion der wiederholten Verse im Kontext der Aeneis zu ermitteln, betreffen sie zudem schwerpunktmäßig doch wieder die Aeneis. Nach Briggs untersucht auch W.S. ANDERSON (1984) ausgewählte Stellen, an denen Vergil in der Aeneis Georgicatext verarbeitet. Auch Anderson ist ein Vertreter der »pessimistischen« Aeneis-Interpretation, sieht aber die Aeneis gewissermaßen als ein Endprodukt der Persönlichkeitsentwicklung des Dichters in Richtung auf ein immer düstereres Weltbild. Er versucht daher zu zeigen, daß Vergil z.B. in der Wiederaufnahme der Verse des Kyklopengleichnisses (4,170-176) im achten Buch der Aeneis von dem »mock«-heroischen Tonfall der Georgica zu »increased seriousness and pessimism« in der Aeneis gelangt sei.61 Das Verhältnis der Georgica-Gleichnisse zur homerischen Epik wird in zwei Publikationen näher beleuchtet. G . N . KNAUER widmet in seinem ANRWArtikel »Vergil and Homer« ein recht umfangreiches Kapitel den Gleichnissen der Georgica. Er versucht, homerische und unhomerische Elemente der Georgica-Gleichnisse herauszuarbeiten, etwa hinsichtlich der Verarbeitung von literarischen Vorbildern. Daneben macht er auf homerische Gleichnismotive im Haupttext der Georgica aufmerksam. Für die eigentlichen Gleichnisse glaubt Knauer im vierten Buch der Georgica im Gegensatz zum ersten bis dritten einen starken homerischen Einschlag zu erkennen, da die Zahl der Gleichnisse in diesem Buch sehr viel höher sei als in den vorausgegangenen Büchern, wo Vergil für keines seiner Gleichnisse auf ein homerisches Vorbild zurückgreife,62 während er im vierten Buch zahlreiche homerische Motive verarbeite.63 In engem Anschluß an Knauers Ausführungen hat sich schließlich J. FARRELL relativ ausführlich in seiner 1991 erschienenen Monographie »Vergil's Georgics and the Traditions of Ancient Epic« vor allem mit dem Verhältnis der Gleichnisse des vierten Georgicabuches zur epischen Tradition beschäftigt.64 Seine Untersuchungen dringen tiefer in die Struktur der Georgica ein und bemühen sich darum, Verbindungen der einzelnen Gleichnisse untereinander herauszuarbeiten.

60 61 62 63 64

Briggs (1980), 14. Anderson (1984), 423. Knauer (1981), 893. Knauer (1981), 900. Farrell (1991), 240-253.

Einleitung

23

Die neueste umfangreichere Arbeit speziell zu den Gleichnissen Vergils stammt von R . RIEKS.65 Rieks geht die Werke Vergils in chronologischer Reihenfolge durch und bespricht in Einzelinterpretationen ausgewählte Gleichnisse. Darüber hinaus versucht er, die Gleichnisse innerhalb der Gesamtkomposition des jeweiligen Werkes zu sehen. Seine Untersuchung enthält daher auch Angaben über ihre Häufigkeit sowie die Verteilung auf einzelne Bücher. Auf Gleichnismotive im Haupttext der Georgica geht Rieks ebenfalls ein. Er ist sich zwar bewußt, daß Vergil bei der Ausgestaltung der Gleichnisse den unterschiedlichen Literaturgattungen, die sein Gesamtwerk umfaßt, Rechnung getragen hat, so auch der Lehrdichtung in den Georgica: »Daß und wie er in den >Georgica< [sc. im Unterschied zu den Eclogen] mit Gleichnissen umgeht, darf also zum wenigsten aus der Vervollkommnimg technischer Mittel, sondern muß vielmehr aus der Dichtgattung beurteilt werden, die bewegtere Handlungsführung und didaktische Anschaulichkeit erfordert.«66 Rieks selbst unternimmt allerdings nur sehr sporadisch den Versuch, diese Beobachtung zu vertiefen, ist ihm doch bei der Interpretation der Georgicagleichnisse vielerorts ihre Nachwirkung in der Aeneis wichtiger als ihre Beziehungen zur didaktischen Poesie. Trotz der relativ ausführlichen Besprechung der Georgicagleichnisse stehen auch in seiner Arbeit die Gleichnisse der Aeneis im Vordergrund. Die Sichtung der Literatur zur Bildersprache Vergils zeigt, daß durch die gesamte Vergilforschung hindurch aus den verschiedensten Gründen ein besonderes Interesse an den Gleichnissen der Aeneis bestanden hat, das auf die Erforschung der Georgicagleichnisse unmittelbaren Einfluß hatte. Demgegenüber ist die Betrachtung der Eigenheiten, die sie als Gleichnisse eines Lehrgedichts aufweisen, weitgehend vernachlässigt worden. Die Analyse ihres Verhältnisses zu Lucrez beschränkt sich auf wenige Einzelbeobachtungen.67 Dabei sind gerade diese Fragen für das Verständnis von Form und Eigenart der Gleichnisse in den Georgica von zentraler Bedeutung. Die Gleichnisse des Manilius sind weitaus seltener Gegenstand der Betrachtung gewesen. Eine Auflistung der wichtigsten Gleichnisse bietet der 1932 erschienene Aufsatz von R.B. STEELE68, der als eine Art allgemeine Einführung in diesen verhältnismäßig unbekannten Autor gedacht ist. Das eigentliche

65 Rieks (1981). 66 Vgl. Rieks (1981), 1052. 67 Vgl. Rieks (1981), 1033. 68 Steele (1932), 342. Anlaß für Steeles Aufsatz war der Abschluß von Housmans Editio maior des Manilius im Jahre 1930.

24

Einleitung

Interesse der Maniliusphilologie galt jedoch der Frage der Autorschaft, der Datierung und der Emendation des schwierigen und in der Uberlieferungsgeschichte vielfach entstellten Textes." Die dichterische Leistung des Manilius und die philosophische Tiefe seines Werkes hingegen wurde von der Forschung erst spät anerkannt. Der Untertitel zu F.F. LÜHRS 1969 veröffentlichter Dissertation »Ratio und Fatum« lautet »Dichtung und Lehre bei Manilius«. Lühr will untersuchen, »inwieweit sich in den Astronomica eine zeitgemäße und zeitgebundene >Weltanschauung< als Dichtung Gehör zu verschaffen versucht«.70 Er konzentriert sich dabei auf die Proömien und die Exkurse. Anhand der beiden Methodengleichnisse des zweiten Buches (2,750-787) versucht er, Manilius' eigene Auffassung von seiner dichterischen Aufgabe zu bestimmen.71 Die Untersuchung der Gleichnisse am Schluß des fünften Buches (5,726-745) steht unter der Uberschrift »Dichterische Technik in den Epilogen«. Hier möchte Lühr zeigen, wie Manilius in den Epilogen danach strebt, seinen Vorgänger Vergil zu übertreffen, wobei dieses »Ubertreffen« vor allem quantitativ gemeint ist.72 Die Gleichnisse werden von ihm hauptsächlich unter inhaltlichen Aspekten untersucht. Als eine Reaktion auf Lührs Untersuchung versteht sich die Dissertation von A. REEH (1973). Während Lühr besonderes Gewicht auf die Philosophie des Manilius legt, sieht Reeh das Hauptziel ihrer Arbeit darin, »die stilistische, pädagogische und wissenschaftliche Technik des Manilius zu untersuchen«.73 Die >Vergleiche^ zu denen Reeh außer den Gleichnissen auch gleichnisverwandte Erscheinungen zählt, gehören ihrer Ansicht nach zu den stilistischen Mitteln, welche »die Aufmerksamkeit des Lesers« wachhalten sollen.74 Reeh bemerkt bei Manilius eine Tendenz, »mehrere Vergleiche zur Veranschaulichung eines Phänomens« aneinanderzureihen.75 Ausführlich geht sie jedoch nur auf den Gleichniskomplex am Schluß des fünften Buches ein.76 In neuerer Zeit hat sich W. HÜBNER intensiv mit dem Werk des Manilius beschäftigt. Sein ANRW-Artikel »Manilius als Astrologe und Dichter« von 1984 gibt bereits durch den Titel zu erkennen, daß es um die für didaktische

69 70 71 72 73 74 75 76

Vgl. den Literaturbericht bei Hübner (1984), 132-135. Lühr (1969), 15. Lühr (1969), 52-56. Zu den Gleichnissen ausführlich unten S. 252-272. Lühr (1969), 68-72. Zu den Gleichnissen ausführlich unten S. 234-248. Reeh (1973), 6. Reeh (1973), 64. Reeh (1973), 65. Reeh (1973), 155-158.

Einleitung

25

Epik so typische Verknüpfung von Dichtung und Lehre geht. Im zweiten Teil dieser Arbeit, der sich eher mit sprachlich-stilistischen und literarhistorischen Fragen befaßt, kommt Hübner unter dem allgemeinen Titel »Der >Descensus< als philosophisch-poetisches Konzept« auch auf die Gleichnisse des ersten und fünften Buches zu sprechen.77 Seine Interpretationen deuten bereits einige Fernbezüge der Gleichnisse und ihre wichtige Funktion in der Gesamtkomposition der Astronomica an. Beachtung fanden die Gleichnisse des zweiten und fünften Buches schließlich in zwei Aufsätzen von L . LANDOLFI.78 Er behandelt jedoch eher inhaltliche Fragen als die Gleichnistechnik und die Funktion des sprachlichen Mittels >Gleichnismethodische< oder >reflektierende< Gleichnisse), gegebenenfalls auch zwischen Einzelgleichnissen und Gleichnisgruppen, also Gleichnissen, die z.B. aufgrund ähnlicher Motive zusammengehören. Lehrgedichtgleichnisse sind oft komplexe und facettenreiche Gebilde. Daher kommt es bei der Anordnung des Materials darauf an, von relativ einfachen zu komplizierteren, voraussetzungsreicheren Gleichnissen fortzuschreiten. In der Interpretation der einzelnen Gleichnisse wird besonders darauf zu achten sein, (a) auf welche Gegenstände und Sachverhalte ein Gleichnis bezogen ist (»was wird miteinander verglichen?«), (b) in welchem Verhältnis es zur epischen und außerepischen Tradition steht, (c) wie der Lehrdichter ein Gleichnis durch sprachliche oder inhaltliche Bezüge in den engeren und weiteren Kontext seines Lehrgedichts einbindet und (d) inwiefern das Gleichnis eine für Lehrdichtung charakteristische Funktion übernimmt. (3) Aus den konkreten, aus den Einzelinterpretationen gewonnenen Beobachtungen wird ein Gesamteindruck zusammengesetzt, der auf einer abstrakten Ebene ein möglichst vollständiges Bild von der Gleichnistechnik des Lehrdichters vermittelt. In einer Zusammenfassung (VD) soll abschließend eine Einschätzung des Verhältnisses von Gleichnis und Lehrdichtung unternommen werden, die auch allgemeinere Tendenzen der Lehrdichter im Umgang mit Gleichnissen aufzuweisen versucht.

Π. Zur Definition des Gleichnisbegriffs

Grundlage für alle weiteren Untersuchungen ist die Definition des Gleichnisbegriffs. Um die Auswahl des Materials auf eine möglichst objektive Basis zu stellen und die Abweichungen der Lehrgedichtgleichnisse von denen des heroischen Epos zeigen zu können, werden in dieser Arbeit ausschließlich Stellen behandelt, die ihrem Typus nach den Gleichnissen im heroischen Epos entsprechen. Die formalen und inhaltlichen Kriterien, die ein solches Gleichnis konstituieren, sollen im folgenden kurz dargestellt werden. Den besten Ausgangspunkt hierfür bieten immer noch die antiken Definitionsansätze, zumal sie in ihren Kernaussagen das Fundament vieler moderner Gleichnisdefinitionen bilden.1

1. Die Gleichnisdefinitionen der Antike Die Durchmusterung der antiken Aussagen zum Phänomen der Vergleichung ergibt ein auf den ersten Blick höchst uneinheitliches Bild. Dieser Eindruck entsteht zum einen durch die uneinheitliche Terminologie: Im Griechischen begegnen die Begriffe βίκων, εικασία, παραβολή und όμοίωσις, im Lateinischen sind neben dem griechischen Fremdwort parabole auch comparatio, collatio, similitudo, simile und imago in Gebrauch. Diese Termini werden von den einzelnen Autoren nicht immer in gleicher Bedeutung verwendet. Hinzu kommt, daß in der gesamten Antike eine umfassende Begriffsdefinition fehlt, die sowohl inhaltliche wie auch formale und funktionale Aspekte der Vergleichung berücksichtigt, so daß wir auf die Einzelaussagen verschiedener Autoren angewiesen sind, die ihrerseits unterschiedliche Schwerpunkte setzen und bisweilen sogar konträre Auffassungen vertreten. Dieses disparate Bild, das die antiken Definitionsansätze bieten, hat auch die moderne Forschung zu den epischen Gleichnissen beeinflußt. So wirft etwa U. Gärtner in ihrer 1994 erschienenen Arbeit zu den Gleichnissen des Valerius Flaccus die Frage auf, 1 Vgl. z.B. Grimm, J./W. Deutsches Wörterbuch IV (1949), Sp. 8200 s.v. Gleichnis. Die Aussagen Gottscheds, Herders und Volkmanns, die die Brüder Grimm zitieren, folgen sogar in ihren Beispielen z.T. den antiken Vorlagen. Deutlich von den antiken Definitionsansätzen beeinflußt ist auch Lausberg fl990), $ 845 und 847, vgl. Gärtner (1994), 39.

28

Zur Definition des Gleichnisbegriffs

»inwieweit die Dichter für ihre eigenen Vergleiche strenge Formen vor Augen hatten«,2 und bezieht auch mythologische Exempla und implizite Vergleiche in ihre Untersuchungen ein,3 da es ihr eher auf den Inhalt als auf die äußere Form der Vergleichungen ankommt.4 Doch entspricht ein solch weitgespannter Gleichnisbegriff zumindest in Hinblick auf die epische Dichtung nicht den antiken Vorgaben. Unbestritten ist zwar, daß zwischen Gleichnissen und anderen Formen bildhafter Rede Beziehungen bestehen können. Die Gleichnisse selbst jedoch stechen gerade dadurch aus dem Gesamttext hervor, daß sie einem festen Bauschema folgen, das sich während der gesamten Antike nicht wesentlich verändert;5 dieses feste Bauschema ist für den Rezipienten des Gedichts ein eindeutiges Signal dafür, daß der Dichter die Erzählebene verläßt und ins bildhafte Sprechen übergeht. Die antiken Definitionsansätze von Theodoros von Byzanz bis Quintilian wiederum, auf die Gärtner sich - in engem Anschluß an die Arbeit von McCall (1969)6 - beruft, sind für die Konstitution des Gleichnisbegriffs aus mehreren Gründen nur bedingt geeignet. Zum einen bezeichnen ebenso wie der deutsche Begriff »Gleichnis«7 auch seine griechischen und lateinischen Entsprechungen oftmals überhaupt nicht speziell das epische Gleichnis, sondern allgemein jedes sprachliche Mittel, das sich in irgendeiner Form mit der Ähnlichkeit zweier Sachverhalte befaßt. Daß vergleichende Rede in ihrer äußeren Form ganz unterschiedlich sein kann, bedeutet aber nicht, daß das epische Gleichnis ebenfalls keinen festen formalen Vorgaben folgt, wie die Ausführungen Gärtners nahelegen. Zum anderen ist die theoretische Auseinandersetzung mit vergleichender Rede, soweit sie für uns greifbar ist, beinahe ausschließlich Sache der Rhetorik;8 das bedeutet, daß im Zentrum des Interesses die Erfordernisse rhetorischer Praxis stehen, auch wenn spätestens seit dem 2 Gärtner (1994), 37. 3 Ζ. B. Val. Fl. 1,406 (dazu Gärtner [1994], 45); Val. Fl. 1,34-36 (dazu Gärtner [1994], 65: »Reflexion, in der mythologische Exempla angeführt werden«). In den Einzelinterpretationen unterscheidet Gärtner dann aber doch wieder zwischen Gleichnis und mythologischem Exemplum. 4 Vgl. Gärtner (1994), 44. 5 Vgl. Rieks (1981), 1025. 6 Vgl. Gärtner (1994), 29. 7 Vgl. Grimm, J./W, Deutsches Wörterbuch IV (1949), Sp. 8195-8199 s.v. Gleichnis. Die Bedeutungsvielfalt des Begriffs im Deutschen hat insbesondere in der allgemeinen Sprach- und Literaturwissenschaft und Philosophie zu einer Vielzahl divergierender Bestimmungsversuche geführt, auf die im Rahmen dieser Arbeit einzugehen wenig sinnvoll ist. Einen guten Uberblick vermittelt Knapp I (1975), 109-186; Auswahl bei Gärtner (1994), 38-41. 8 Eine nahezu vollständige Sammlung und Interpretation des Materials bis ins 1. Jhdt. n. Chr. gibt McCall (1969); die Hauptstellen tragen - allerdings ohne die m. E. dringend erforderliche Differenzierung - Rieks (1981), 1015-1017 und Gärtner (1994), 28-37 zusammen.

Zur Definition des Gleichnisbegriffs

29

Hellenismus mit Wechselbeziehungen zwischen Philologie, Philosophie, Poetik und Rhetorik zu rechnen ist.' Die rhetorischen Definitionen behandeln daher - kaum verwunderlich - schwerpunktmäßig gerade nicht das epische Gleichnis, sondern meist viel allgemeiner die Ähnlichkeit als Stil- und Argumentationsprinzip. Dabei gilt das Interesse der Rhetoriker in der Regel nicht der äußeren Form einer Vergleichung, sondern ihrer Funktion im Kontext. Aussagen zum epischen Gleichnis lassen sich dementsprechend nur dort finden, wo die Autoren explizit auf die Dichtung verweisen. Die früheste ausführliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Vergleichung findet sich in der Rhetorik des Aristoteles. Sie ist ganz auf rhetorische Bedürfnisse abgestimmt. Aristoteles trennt strikt zwischen zwei Arten der Vergleichung: παραβολή und άκων. Die παραβολή wird allein nach inhaltlichen Kriterien bestimmt (Rhet. 2,20,1393a23-1394al8). Sie fällt unter die κοιναϊ πίστεις und ist eine Form des παράδειγμα. Im Gegensatz zum historischen Exemplum (το \eyeiv πράγματα προγετ/ενημίνα [1393a29j bezeichnet sie das Argumentieren mit Hilfe von Ähnlichkeiten, die der Redner selbst erfindet (το αΰτον ποιάν [1393a29f.]) und die keinen Bezug zu einer konkreten historischen oder mythischen Situation haben. Auf derselben Stufe wie die παραβολή stehen die λόγοι (Fabeln), deren Hauptakteure Tiere sind. Die άκων hingegen behandelt Aristoteles im dritten Buch unter den Mitteln des Redeschmucks.10 Im Zuge seiner Ausführungen über die richtige Verwendung von Metaphern nennt und bewertet er verschiedene Arten des metaphorischen Sprechens. Die άκων ist für ihn eine Form der Metapher (Aristot. Rhet. 3,4,1406b20-25): εστίν δε και η βίκων μεταφορά· διαφερει -γαρ μικρόν όταν μεν γαρ etxij [τον ' Αχιλλέα] »ως δε λεων επόρουσεν«, άκων εστίν, όταν δε »λέων επόρουαε«, μεταφορά• δια yap το άμφω ανδρείους είναι, προσηγόρευσεν μετενεγκας λέοντα τον ' Αχιλλέα, χρήσιμον δε ή βίκων και εν λόγψ, όλιγάκις δε- ποιητικον yap.

Die άκων unterscheidet sich von der >gewöhnlichen< μεταφορά durch den Zusatz eines Vergleichswortes. Anders als bei der παραβολή nimmt Aristoteles

9 Vgl. Claming (1913), 77-107. Zu möglichen Beziehungen der Terminologie Quintilians zur stoischen Philosophie Rieks (1981), 1025f. Die Berufung auf Frankel als Gewährsmann (Rieks [1981], 1025 Anm. 40) ist jedoch irreführend, da Frankel in keiner der drei von Rieks zitierten Publikationen auf eine stoische Theorie des Gleichnisses, sondern auf die mutmaßlichen Beziehungen eines speziellen Gleichnisses des Apollonius Rhodius (3,756-767: Lichtreflexe des Wassers in einem Kessel) zur Stoa eingeht. 10 Aristot. Rhet. 3,4,1406b20-1407al8 und Rhet. 3,9,1410b6-36.

30

Zur Definition des Gleichnisbegriffs

hier eine deutliche Differenzierung nach formalen Gesichtspunkten vor; die folgenden Beispiele für άκόνες unterstreichen das.11 Das Ilias-Zitat, 12 mit dem Aristoteles die βίκων einführt, macht zudem deutlich, daß unter diesen Begriff im wesentlichen Beispiele aus der Dichtung fallen. Uberhaupt gilt ihm die άκων als poetisches Mittel, was ihre Verwendbarkeit in der Prosa erheblich einschränkt, weil poetische Mittel in der Prosa immer einen Verfremdungseffekt erzielen und deshalb vom Redner sparsam verwendet werden sollten. 13 Diesen Vorbehalten des Aristoteles gegenüber der άκων im rhetorischen Kontext ist es wohl in erster Linie zuzuschreiben, daß er auf ihre weitere formale Gestaltung nicht eingeht. So umfaßt der Begriff wohl ohne Unterschied alle Erscheinungen vom Kurzvergleich bis zum ausgeführten Gleichnis. Differenziertere Ausführungen zum Umfang von Vergleichungen bietet die anonyme Schrift De elocutione, die im allgemeinen dem Demetrius von Phaleron 14 zugeschrieben wird. Ps.-Demetrius unterscheidet zwei Formen der Vergleichung: άκασία und παραβολή, die er - wie vor ihm Aristoteles - auf die Erörterung verschiedener Formen der Metapher folgen läßt ([Demetr.] eloc. 89): ' Εταν μίντοι ύκασίαν τοιώμβν την μετά φοράν, ώς προλίλΐκται, στοχαστίον του συντόμου, και του μηδέν τλίον του »ώσττερ« προτιόενοα, ίτά τοι άντ' εικασίας παραβολή βσται ποιητική [...]. Die εικασία ist nach Ps.-Demetrius eng verwandt mit der Metapher, da sie aus dieser durch den Zusatz eines Vergleichswortes gebildet werden kann, wie es auch Aristoteles für die άκων konstatiert. Anders als Aristoteles lehnt jedoch der Autor von De elocutione den Einsatz der άκασία in der Prosa keineswegs ab. Dem pauschalen Vorbehalt des Aristoteles, daß die allzu große Länge die

11 Daß eine Überprüfung der von Aristoteles zitierten Stellen am Original ergibt, daß diese in einigen Fällen kein einleitendes Vergleichswort aufweisen, beweist meiner Ansicht nach nicht, daß die formale Gestaltung der άκων für Aristoteles keine Rolle gespielt habe, wie McCall (1969), 36f. darzulegen versucht. Aristoteles zitiert möglicherweise ungenau oder paßt die Zitate seinen Erfordernissen an. Daß jedoch das Vergleichswort für ihn ein wesentliches Merkmal der άκων darstellt, steht außer Zweifel, vgl. auch Rhet. 3,9,1410bl7-19: ίστιν yap ή

άκων [...] μ«ταφορά διαφέρουσα τροϋίσει [...].

12 So z.B. Horn. Π. 10,485; 11,129; 12,293; zur ungenauen Zitierweise des Aristoteles McCall (1969), 33. 13 Vgl. Aristot. Rhet. 3,1404b 4-8. 14 Zur Datierung der Schrift De elocutione vgl. McCall (1969), 137f. Obwohl die Entstehungszeit dieses Werkes möglicherweise erst nach der Herennius-Rhetorik liegt, erscheint es mir legitim, sie aufgrund ihrer engen Beziehungen zu Aristoteles bereits an dieser Stelle zu behandeln.

Zur Definition des Gleichnisbegriffs

31

άκων ungeeignet für die Prosa mache,15 versucht er dadurch zu begegnen, daß er im Falle der Verwendung einer εικασία in der Rede zu äußerster Kürze mahnt (στοχαστών του συντόμου) und die kurze εικασία von der zweiten, ausführlicheren Form, der παραβολή, trennt, bei der die Vergleichung durch qualifizierende Epitheta und die ausführlichere Beschreibung einer Handlung erweitert wird. Die Beispiele, die Ps.-Demetrios für die παραβολή anführt, ähneln den Tiergleichnissen der homerischen Gedichte.16 So hält er die »Langform« der Vergleichung auch für ein Mittel der Dichtung, bei deren Einsatz in der Prosa Vorsicht geboten sei (eloc. 90): Τάς 6e παραβολάς ταύτας ούτε ρφδίως ev τοις πβζοίς λόγοις τιϋίναι δει, ούτε άνευ πλείστης φυλακής. Einen aufschlußreichen Uberblick über die verschiedenen Arten der Vergleichung, welche die Rhetorik kennt, bietet die Rhetorica ad Herennium. Der Verfasser17 dieses Werkes ordnet die synonymen Ausdrücke similitudo/ simile zusammen mit dem exemplum und der amplificatio den exornationes zu, Mitteln des Redeschmucks, die der Argumentationsführung dienen.18 Schmükkende und argumentative Funktion der similitudo sind bei ihm nicht getrennt. Im vierten Buch definiert er die similitudo unter den exornationes sententiarum zunächst grundlegend als [...] oratio traducens ad rem quampiam aliquid ex re dispari simile (Rhet. Her. 4,45,59). Im Anschluß an diese allgemeine Definition unterscheidet er weiter zwischen vier verschiedenen Funktionen und Typen der similitudo (Rhet. Her. 4,45,59): Ea (sc. similitudo) sumitur aut ornandi causa aut probandi aut apertius dicendi aut ante oculos ponendi. Et quomodo quattuor de causis sumitur, item quattuor modis dicitur: per contrarium, per negationem, per conlationem, per brevitatem.

Jeder Funktion ordnet der Auetor ad Herennium im folgenden stark schematisierend jeweils einen bestimmten Typus zu, den er mit einem Beispiel vorstellt (Rhet. Her. 4,46,59 - 47,60): a) ornandi causa /per contrarium b) probandi causa / per negationem c) apertius dicendi causa / per brevitatem d) ante oculos ponendi causa /per conlationem. Die Einteilungskriterien sind sowohl formaler als auch inhaltlicher Art. Während die Präsentation der Vergleichungen per

15 Aristot. Rhet. 3,1410bl8f.: ήττον ηδύ, ότι μακροτίρως. 16 [Demetr.] eloc. 89: ωστtp Ιππος \υύ(1ς δια τΐδίου -γανριών και άτολακτίζων; dazu Horn. H. 6,506-515. Auch das Bild des Jagdhundes aus Xenophons Kyrupädie (1,4,21) berührt sich seinem Motiv nach mit homerischen Jagdgleichnissen. 17 Zur Verfasserfrage vgl. Calboli ([1965]; für die Autorschaft des Cornificius), wiederholt Rhet. Her. (K 1969), 3-11. 18 Vgl. Rhet. Her. 2,29,46, dazu McCall (1969), 59-61.

32

Zur Definition des Gleichnisbegriffs

contrarium und per negationem ausschließlich auf der Grundlage inhaltlicher Ähnlichkeiten (oder auch Unähnlichkeiten) erfolgt, kommt es bei den similitudines per brevitatem und per conlationem auf die formale Ausgestaltung und dabei ganz besonders auf den Umfang der similitudo an: Der Typus per brevitatem besteht - der εικασία des Ps.-Demetrius entsprechend - aus Vergleichspartikel und Vergleichsgegenstand ohne einen sich verselbständigenden Bildteil. Der Verfasser gibt folgendes Beispiel (Rhet. Her. 4,47,60): »in amicitia gerenda, sicut in certamine currendi, non ita convenit exerceri, ut quoad necesse sit venire possis, sed ut productus studio et viribus ultra facile procurras«. Der eigentliche Vergleich ist nur sehr kurz {sicut in certamine currendij); er wird jedoch durch Verben aus dem agonalen Bereich (exerceri, ultra procurras) im Haupttext weitergeführt. Demgegenüber ist die similitudo per conlationem die denkbar ausführlichste Form der Vergleichung. Sie wird ebenfalls mit einem Beispiel vorgestellt (Rhet. Her. 4,47,60): [...] sumetur similitudo - dicetur per conlationem - sie: »uti citharoedus cum prodierit optime vestitus, palla inaurata indutus, cum chlamyde purpurea variis coloribus intexta, et cum corona aurea magnis fulgentibus gemmis inluminata, citharam tenens exornatissimam auro atque ebore distinetam, ipse praeterea forma et specie sit et statura adposita ad dignitatem, si, cum magnam populo commorit iis rebus expectationem, repente, silentio facto, vocem mittat acerbissimam cum turpissimo corporis motu, quo melius ornatus et magis fuerit expectatus, eo magis derisus et contemptus eicitur; item, si quis in excelso loco et in magnis ac locupletibus copiis conlocatus fortunae muneribus et naturae commodis omnibus abundabit, si virtutis et artium, quae virtutis magistrae sunt, egebit, quo magis ceteris rebus erit copiosus et inlustris et expectatus, eo vehementius derisus et contemptus ex omni conventu bonorum eicietur.« Das Bild des Kitharoeden, der in seinem ganzen Ornat auftritt, sich aber mit den ersten Tönen als schlechten Sänger entlarvt, wird in aller Ausführlichkeit und unter Beschreibung zahlreicher Details ausgemalt und ebenso minutiös auf den zu illustrierenden Sachverhalt übertragen. Die Korrelation der Vergleichspronomina uti - item sowie syntaktische (quo - eo bei Bild und Sache) und semantische Parallelismen (derisus et contemptus·, eicietur) schafft eine enge Zusammenbindung beider Teile. Daß insbesondere die genaue, beinahe achsensymmetrische Spiegelung der ähnlichen Sachverhalte, die von dem Redner zueinander in Beziehung gesetzt werden, ihre Wirksamkeit garantiert, läßt sich auch aus den allgemeinen Bemerkungen des Aurtor ad Herennium entnehmen, die er an die Behandlung der verschiedenen similitudo-Typen anschließt. So fordert er, daß die Ähnlichkeit

Zur Definition des Gleichnisbegriffs

33

zwischen Vergleich und Verglichenem dem Hörer sinnfällig gemacht werden müsse. Dies könne etwa auf syntaktischer Ebene erreicht werden, indem man das Vergleichsmotiv in der Übertragung auf den Haupttext durch Metaphern (per translationern) desselben Motives wieder aufscheinen lasse (Rhet. Her. 4,48, 61): In similibus observare oportet diligenter, ut, cum rem adferamus similem, cuius rei causa similitudinem adtulerimus, verba ad similitudinem habeamus adcommodata. Id est huiusmodi: »Ita ut irundines aestivo tempore praesto saat,frigore pulsae recedunt-« ex eadem similitudine nunc per translationem verba sumimus: »item falsi amici sereno vitae tempore praesto sunt; simul atque biemem fortunae viderunt, devolant omnes.« Der Vergleich der falschen Freunde mit Schwalben, die vor der Winterkälte fliehen, ist ein weiteres Musterbeispiel für den vom Auetor ad Herennium zuvor vorgestellten Typus der similitude per conlationen. Bild und Sache entsprechen sich nicht nur in der Wortwahl, sondern sind auch syntaktisch parallel, so daß die Zielsetzung der Vergleichung sogleich deutlich wird - das ist wichtig für einen Redner, der ja auf die Nachvollziehbarkeit seiner Argumentation zu achten hat. Daß auch die Verfasser heroischer Epen in der Konzeption ihrer Gleichnisse dieses Prinzip der Verknüpfung von Bild und Sache in vielfältiger Ausprägung verwirklichen, weist J. Perkins in einem 1974 erschienenen Aufsatz überzeugend nach.19 Die ausführliche Behandlung der Vergleichung in Quintilians Institutio oratoria bezeugt die Beliebtheit dieses Mittels in der lateinischen Rhetorik des 1. Jhdt. n. Chr. Quintilian setzt sich sehr viel intensiver mit den Bauformen der Vergleichung auseinander als seine Vorgänger, auf deren Ansätze er im übrigen nicht selten Bezug nimmt. Sein Interesse20 gilt dabei auch den Gleichnissen der epischen Dichtung, insbesondere Vergils, auf die er in seinen Ausführungen immer wieder rekurriert. Die Aussagen Quintilians zur similitudo zeigen noch einmal deutlich die Ambivalenz des Begriffes: Similitudo im allgemeinen Sinne ist für ihn sowohl argumentatives als auch stilistisches Mittel. Beide Aspekte werden getrennt behandelt; allerdings macht Quintilian selbst auf die Doppelfunktion aufmerk19 Perkins (1974), 261-277, zur Rhetorica ad Herennium als theoretischem Fundament 276f. Die Wiederauinahme eines Gleichnismotivs im Haupttext durch Metaphern aus demselben Bereich in den Epen Homers bemerkt Porphyrius, Quaest. Horn. I, Nr. 6 und 17 Sodano, dazu Richardson (1980), 281. 20 Gleichnisse (similitudines) aus der Dichtung bei Quintilian: Verg. georg. 1,512-514; dazu Quint, inst. 8,3,78; similitudines Homers: inst. 10,1,49; Lucr. 1,935-950 (Absinth-Gleichnis): inst. 3,1,4, dazu McCall (1969), 179.

34

Zur Definition des Gleichnisbegriffs

sam.21 Dabei bedeutet die Verwendung der similitudo als stilistischem eine Einengung gegenüber der similitudo als argumentativem Mittel: Die similitudo als Mittel des Redeschmucks kann auch argumentativ verwendet werden, ohne daß jede argumentative similitudo zugleich auch zwingend stilistisches Mittel wäre. In seinen Aussagen zur similitudo als Mittel der probatio im fünften Buch der Institutio oratoria (5,11,22-35) ist Quintilian stark von Aristoteles und seiner Schule beeinflußt.22 Demzufolge gehören auch für ihn similitudo und exemplum - wie für Aristoteles παράδειγμα und παραβολή - eng zusammen. Eine Trennung der beiden sprachlichen Erscheinungen lehnt er ausdrücklich ab.23 Die Terminologie des Abschnittes ist nicht einheitlich: similitudo, simile und der griechische Begriff parabole stehen synonym nebeneinander. Aus Quintilians weiteren Aussagen geht hervor, daß die similitudo als Mittel der Uberzeugung in Inhalt und Wirkung so verschiedene Formen bildhaften Sprechens wie βίκων/imago und analogia einschließt,24 also wie in der Herennius-Rhetorik eine Art Oberbegriff darstellt. Wichtig ist vor allem die Beweiskraft der similitudo, deren Optimierung die inhaltliche Gestaltung Rechnung zu tragen hat: So soll der Redner die Vergleichsgegenstände möglichst benachbarten Gebieten entnehmen, d.h., er soll zum Beispiel nicht Menschen mit unbelebten Gegenständen vergleichen (inst. 5,ll,22f.). Praeclare vero ad inferendam rebus lucem repertae sunt similitudines - mit diesem positiven Urteil, das zugleich als Grundfunktion der similitudo die Illustration von Sachverhalten (rebus lucem inferre) angibt, beginnt Quintilian seine Darstellung der similitudo als stilistisches Mittel (inst. 8,3,72-81). Nach einer kurzen Rekapitulation verschiedener Funktionen der similitudo diskutiert er unter Verweis auf seine früheren Ausführungen25 Richtlinien zur Auswahl der Vergleichsgegenstände. Dabei warnt er den Redner einerseits vor dem Gebrauch allzu entlegener Bildmotive zur Veranschaulichung von an sich klaren Sachverhalten, da dies ein Privileg der Dichter sei (inst. 8,3,73);26 er rät aber auch vom Einsatz allzu abgegriffener Gegenstände ab, da gerade Ungewohntes das Interesse des Lesers zu reizen vermöge (Quint, inst. 8,3,74). Von einem Beispiel für eine ihrem Motiv nach ungewöhnliche similitudo aus Ciceros Rede pro Archia, die sich von den vorherigen Beispielen in ihrer Form durch das Fehlen 21 Quint, inst. 5,ll,5f. und 8,3,74, vgl. Gärtner (1994), 35. 22 Vgl. McCall (1969), 188. 23 Quint, inst. 5,11,2. 24 Quint, inst. 5,11,24 (άκων/imago); 5,11,34 (analogia). 25 Vgl. McCall (1969), 219f. 26 Ähnlich auch Aristot. Rhet. 3,1404b26-33.

Zur Definition des Gleichnisbegriffs

35

eines Vergleichswortes erheblich unterscheidet und unserem Empfinden nach auch sonst in diesem Zusammenhang deplaziert wirkt,27 kommt Quintilian auf sogenannte »unechte« similitudines zu sprechen, die die deklamatorische Praxis nicht von den »echten« trenne.28 Diese Feststellung veranlaßt ihn zur Beschreibung des Aufbaus der similitudo/parabole (Quint, inst. 8,3,77): In omni autem parabole aut praecedit similitudo, res sequitur, aut praecedit res et similitudo sequitur. sed interim libera et separata est, interim, quod longe optimum est, cum re, cuius est imago, conectitur, conlatione invicem respondente, quod facit redditio contraria, quae άντατόδοσις dicitur. Grundsätzlich besteht die parabole für Quintilian aus zwei Elementen, similitudo und res - »Vergleichsgegenstand« und »verglichener Gegenstand« - , deren Reihenfolge beliebig ist. Fehlt einer dieser beiden Teile, wie in den zuvor besprochenen »falschen« Vergleichungen der Sachbereich (res), auf den das Bild (similitudo) bezogen sein soll, kann man nicht mehr von einer parabole sprechen. Für erwähnenswert hält Quintilian des weiteren den Grad der Verknüpfung von Bild und Sache, der durchaus unterschiedlich ausfallen kann: Er unterscheidet zwischen Vergleichungen, in denen die Verbindungen zwischen res und similitudo nur sehr locker sind (libera ac separata [sc. similitudo]), und solchen, in denen Bild und Sachbereich deutlich zueinander in Beziehung gesetzt werden (cum re, cuius est imago, conectitur [8,3,77]).29 Den Teil, in dem der Autor das Bild auf den Sachzusammenhang überträgt, bezeichnet Quintilian als redditio contraria oder άνταπόδοσις. Aus den Beispielen, die er für die beiden similiίκί/ο-Typen anführt, läßt sich entnehmen, daß der Terminus libera ac separata similitudo Gleichnisse meint, bei denen kein expliziter Anschluß der sachlichen Übertragung (etwa durch sie) an das Bild vorhanden ist. Unter einer similitudo cum antapodosi hingegen versteht Quintilian ein Gleichnis, das vom Autor selbst durch ein korrelierendes Vergleichswort an den Haupttext angeschlossen wird. Die Beispiele aus Ciceros Rede Pro Murena, die Quintilian als Anschauungsmaterial für besonders gelungene similitudines cum antapodosi zitiert, führen darüber hinaus zwei unterschiedliche Formen weitergehender Verknüp-

27 Cie. Arch. 19: saxa atque solitudines voci respondent, bestiae saepe immunes cantu flectuntur atque consistent· nos instituti rebus optimis non poetarum voce moveamur? Bei diesem Beispiel handelt es sich um eine Priamel, die jedoch nicht - wie auch möglich (vgl. unten S. 237) - in Form eines Gleichnisses eingeführt ist, dazu Kröhling (1935), 8. 28 Quint, inst. 8,3,76: et falsis utuntur, nec illa iis, quibus similia videri volunt, adplicant. 29 Vgl. auch die Unterscheidung von τταραβοΧαΙ ανταποδοτικοί und vapaßoXal απόλυτοι bei Polybios von Sardes (S. 107, 1-10 Sp.).

36

Zur Definition des Gleichnisbegriffs

fung vor, die die Übereinstimmungen zwischen Bild und Sache hervortreten lassen: Während der Redner im ersten Beispiel aus Pro Murena (Cie. Mur. 29) durch eine in Bild- und Sachteil analog gestaltete syntaktische Struktur die Parallelen zwischen beiden Teilen hervorhebt,30 werden die Verbindungen zwischen Bild und Sache im zweiten Beispiel (Cie. Mur. 36), das Quintilian durch den Zusatz iam paene poetico spiritu in die Nähe der Dichtung rückt, durch metaphorisches31 Aufgreifen von zentralen Begriffen des Bildteils im Sachteil verdeutlicht,32 wie es bereits der Auetor ad Herennium für die beste Form der similitudo gefordert hatte.33 Syntaktische und semantische Ubereinstimmungen gehören offenbar für einen Rhetoriker ebenfalls zur redditio contraria. Etwas unverhofft kommt Quintilian am Schluß seiner Ausführungen zur Vergleichung auf die similitudines breves zu sprechen, die kürzeste denkbare Variante der Vergleichung, die nur aus Vergleichswort und Substantiv besteht.34 In welchem logischen Verhältnis zu den vorausgegangenen Ausführungen diese Bemerkung stehen soll, wird nicht explizit gesagt; Quintilian scheint darauf hinweisen zu wollen, daß auch similitudines breves trotz ihrer extremen Kürze mit Hilfe der redditio contraria in den Zusammenhang eingebunden werden können.35 Immerhin läßt sich aus ihr erkennen, daß für Quintilian Kurzvergleiche eine Sonderstellung einnehmen, die eine getrennte Behandlung erfordert. Standen bei den bisher behandelten Definitionsversuchen der Rhetorik die Vergleichungen der Prosa im Mittelpunkt, so gelten die Aussagen, die sich in der pseudoplutarchischen Schrift De Homero finden, ausschließlich den epi-

30 Cie. Mur. 29: ut aiunt in Oraecis artifieibus eos auloedos esse, qui citharoedi fieri non potuerint, sic nos videmus, qui oratores evadere non potuerint, eos ad iuris Studium devenire. 31 Die Metapher behandelt Quintilian ebenfalls im 8. Buch (6,4-18) unter den τρότοι. Seine Aussagen entsprechen im wesentlichen denen des Aristoteles, unterscheiden sich allerdings von diesen darin, daß Quintilian die Metapher 8,6,8f. aus der similitudo herleitet (in totum autem metaphora brevior est similitudo im Gegensatz zu eanv Se και ή άκων μεταφορά bei Aristoteles [Rhet. 3,4,1406b20]) - ein Indiz für die unterschiedliche Gewichtung, welche die beiden Autoren vornehmen. 32 Cie. Mur. 36: nam, ut tempestates saepe certo aliquo caeli signo commoventur, saepe improvise nulla ex certa ratione obscura aliqua ex causa concitantur: sie in hac comitiorum tempestate populari saepe intellegas quo signo commota sit, saepe ita obscura causa est, ut casu excitata videatur. 33 Siehe oben S. 32f. 34 Quint, inst. 8,3,81: sunt et illae breves: vagi per silvas ritu ferarum, et illud Ciceronis in Clodium: quo ex iudieio velut ex incendio nudus effugit. 35 Anders McCall (1969), 228.

Zur Definition des Gleichnisbegriffs

37

sehen Gleichnissen und Vergleichen Homers.36 Insbesondere die Ausführungen zu Einteilung und Form der Vergleichungen, die der Interpretation von Einzelstellen vorausgehen (ohne allerdings eine echte methodologische Grundlage für die folgenden Untersuchungen zu sein37), sind daher für eine Bestimmung der Form episch-poetischer Gleichnisse von besonderem Interesse. Der anonyme Verfasser38 behandelt das Gleichnis in Zusammenhang mit den Formen des Erzählens bei Homer ([Plut.] Horn. 84-90). Dem Erzählen ohne Wechsel der Erzählebene (ι/αλώς [sc. διηγβϊσ&χι]) stellt er das Erzählen vermittelst Vergleichung gegenüber, welche er ohne Angabe eines Oberbegriffs in drei Typen aufgliedert: μβτα άκόνος η όμοιώσεως ή παραβολής (84). Im folgenden werden die Begriffe άκων und ομοίωσις durch jeweils ein Beispiel aus den homerischen Gedichten erläutert.39 Da der Verfasser auf theoretische Aussagen ganz verzichtet, wird zunächst nicht recht klar, welche Kriterien die Unterscheidung bewirken. Sowohl bei der ε'ικων als auch bei der όμοίωσις handelt es sich um einfache Vergleiche, die die Erhabenheit oder Machtposition einer Person unterstreichen sollen40 und deren Länge nicht über einen Hexameter hinausreicht. Zu der Differenzierung führen vermutlich die unterschiedlichen Vergleichsworte ϊκελος (Adjektiv) und ώς (Konjunktion), da ικελος die Ähnlichkeit der äußeren Erscheinung hervorhebt, während der durch ώς eingeleitete Vergleich Agamemnons mit einem Widder lediglich auf seine leitende Stellung weist, also seine Funktion näher bestimmt. Deutlich abgesetzt von άκων und όμοίωσις ist die dritte Form der Vergleichung, die der Verfasser παραβολή nennt und die unseren Vorstellungen vom homerischen Gleichnis am ehesten entspricht. Sie wird in Aufbau und Inhalt kurz vorgestellt ([Plut.] Horn. 84): (διηγείται μετά) παραβολής δε, όταν παραπλήσιων πραγμάτων παράάεσιν ποιήσηται, εχουσαν άνταπόδοσιν τήν άπο του προκείμενου διηγήματος, και Ιστι παρ' αντώ ποικίλα τά είδη των παραβολών συνεχώς yap και πολντρόπως παρατίΰησι ταϊς τών άν&ρώπων πράξεσι και σχεσεσι ζφων άλλων ενεργείας και φύσεις.

36 Das ist wahrscheinlich der Grund dafür, daß sie von McCall (1969) und in dessen Nachfolge von Rieks (1981) und Gärtner (1994) nicht berücksichtigt wird. 37 Vgl. Clausing (1913), 86; Hillgruber, De Homero I (K 1994), 64 Anm. 226. 38 Zur Verfasserfrage vgl. Hillgruber, De Homero I (K. 1994), 1-5. Der Text wird nach der Ausgabe von Kindstrand (Ed 1990) zitiert. 39 ε'ικων: ή δ' ιεν εκ ΰαλάμοιο περίφρων üi/ceXoireia, / ' Αρήμιδι ικελη ήε χρυσή ' Αφροδίτη (Horn. Od. 17,36f.); όμοίωσις: [...] κτίλος ώς έπιπώλεϊται στίχας ανδρών (Horn. Π. 3,196). 40 Wenig überzeugend ist - zumindest bei Ps .-Plutarch - die Trennung zwischen ομοίωσις als »παραβολή ohne άνταπόδοσις* und άκων als »das Bild, das das Außere einer Person veranschaulichen soll« wie Clausing (1913), 101f. sie vornimmt.

Zur Definition des Gleichnisbegriffs

38

Die παραβολή ist gegenüber der βίκων und der όμοίωσις die ausführlichere Form. Durch ein »Danebenstellen« ähnlicher Sachverhalte (παραπλησίων τραυμάτων παράΰβσιν) verläßt der Dichter die Erzählebene, in die er jedoch durch die - von ihm selbst vorgenommene - Übertragung des Bildes auf den Sachzusammenhang zurückführt (βχουσαν άνταπόδοσιν την άπο τοϋ προκαμενου δϊψγήματος). Ebenso wie Quintilian benutzt auch der Verfasser von De Homero den Terminus άνταπόδοσις zur Bezeichnung der Interpretation des Bildes durch den Verfassen. Auch das Substantiv παράϋβσις bzw. das Verbum παρατιϋίναι scheint er terminologisch zu verwenden, um das Verlassen der Erzählebene zu beschreiben.41 Daß die Beziehung zwischen παραβολή und ανταπόδοσης durch korrelierende Vergleichspronomina hergestellt wird, läßt sich mittelbar aus den vorausgegangenen Aussagen über βίκων und ομοίωσις wie auch den Beispielen aus Ilias und Odyssee entnehmen, die der Autor im folgenden zitiert.42 Hinsichtlich des Inhalts, der Ausführung und der Motive homerischer Gleichnisse konstatiert Ps.-Plutarch eine große Variationsbreite (ποικίλα τα βιδη). Daß er besonders die Ausführlichkeit und Vielfalt derjenigen Gleichnisse würdigt, die eine Gegenüberstellung menschlicher Eigenschaften und Verhaltensweisen mit den Eigenschaften und Verhaltensweisen anderer Lebewesen bieten, legt die Vermutung nahe, daß er solche Vergleichungen als besonders charakteristisch für die Gedichte Homers angesehen hat. Der Abschnitt der Schrift De Homero, der sich mit den theoretischen Grundlagen des Gleichnisbegriffs auseinandersetzt, läßt sowohl in der Terminologie als auch in der Unterscheidung von Lang- und Kurzformen der Vergleichung deutliche Verbindungen zu Quintilian erkennen. Daraus wird deutlich, inwieweit sich die Vorschriften der Rhetorik zum Bau von Gleichnissen mit den Beobachtungen zu den Gleichnissen der homerischen Epen berühren. Man kann zudem wohl annehmen, daß die Ausführungen von De Homero auch Beobachtungen früherer Autoren tradieren,43 so daß sich aus ihnen die Existenz eines festen Bauschemas ableiten läßt, auf die in rhetorischem Zu-

41 Ahnlich gebraucht das Wort rapanöerai übrigens der Homer-Kommentator Eustathius, I 271,34 van der Valk (zu Horn. D. 2,87-93); rapanötvai im Zusammenhang mit Gleichnissen auch bei Porphyrius, Quaest. Horn. I, Nr. 17 Sodano. 42 [Plut.] Horn. 85-90. 43 Vgl. zum Problem der Quellen von De Homero Hillgruber, De Homero I (K 1994), 35-76, zur vorliegenden Stelle 64 m. Anm. 226.

Zur Definition des Gleichnisbegriffs

39

sammenhang schon die Verwendung des griechischen Terminus άνταπόδοσις durch Quintilian hindeutet.*4 Die Aussagen Quintilians und Ps.-Plutarchs zum Bau epischer Gleichnisse werden auch durch spätere rhetorische Traktate bestätigt, aus deren großer Zahl abschließend lediglich die Ausführungen Ps.-Herodians45 erwähnt werden sollen, da auch dieser Autor stark auf episches Material rekurriert. Er unterscheidet in der Schrift περι σχημάτων zwischen παραβολή und όμοίωσις ([Herod.] 63f. Hajdu): παραβολή δε πράγματος ομοίου παράάεσις η γινομένου η οίου τε όντος γενεσΰαι: »ώς δε λεων μηλοισιν άσημάντοισιν επελϋών.« ' Ομοίωσις δε πράγματος ομοίου παράύεσις, οίον »όρνιΰες ώς«. διαφερει δε της παραβολής, ότι δια συντόμων ως επιτοπλεϊστον λέγεται και χωρίς άνταποδόσεως φράζεται, άνταπόδοσις δε φράσις άνταποδιδομενη τη παραβολή και συνάπτουσα τοις πραττομενοις αύτη ν. »ως μεν θρηϊκας άνδρας έπψχετο Τυδεος υιός«.

Bei der ομοίωσις handelt es sich um einen Kurzvergleich vom Typus όρνιθες ως. Das ausgeführte Gleichnis der homerischen Epen hingegen ist die παραβολή, die ganz ähnlich wie bei Ps.-Plutarch als πραγμάτος ομοίου παράΰεσις η γινομένου η οίου τε όντος γενέσϋαι (63,66f.) definiert wird. Im Unterschied zur παραβολή sei die ομοίωσις sehr viel kürzer, vor allem bleibe sie χωρίς άνταποδόσεως, eine Formulierung, die Ps.-Herodian glaubt erklären zu müssen: άνταπόδοσις δε φράσις άνταποδιδομενη τη παραβολή και συνάπτουσα τοις πραττομενοις αΰτην (64,72f.). Ebenso wie für Ps.-Plutarch besteht für Ps.Herodian das Gleichnis somit aus den komplementären Elementen παραβολή und άνταπόδοσις. Besonders hervorgehoben wird von ihm zudem die sowohl anaphorische als auch kataphorische Funktion der άνταπόδοσις, die einerseits die sachliche Entsprechung zur bildhaften Redeweise gibt (άνταποδιδομενη τη παραβολή), sie zugleich aber auch an den Kontext anschließt (συνάπτουσα τοις πραττομενοις αΰτην). Wichtig ist aber vor allem, daß auch Ps.-Herodian ein formalistisches Gleichnisschema vor Augen zu haben scheint, das er mit einer festen Terminologie beschreibt.

44 Vgl. Rieks (1981), 1025; LSJ s.v. 6ίνταπόδοσις:»'ια a simile: correspondence with the object of comparison*. - In einem rhetorischen Zusammenhang begegnet der Terminus άνταπόδοαις erstmalig [Demetr.] eloc. 23, wo er den vollständigen verbalen und syntaktischen Parallelisms zur schärferen Herausarbeitung einer Antithese meint, vgl. McCall (1969), 139f. 45 Zur Datierung dieser Schrift und zur Verfasserfrage vgl. Müller (1904), 447-455 (Entstehungszeit), 455-460 (Verfasser), Hajdii (Ed 1998), 19-23.

40

Zur Definition des Gleichnisbegriffs

2. Moderne Definitionen des >epischen< Gleichnisses Auch von modernen Interpreten wurden die wesentlichen Merkmale der Gleichnisse im heroischen Epos verschiedentlich zu bestimmen versucht. Grundlage hierfür bildete vor allem das Gleichnismaterial der heroischen Epen, insbesondere Homers. Aus der Fülle der Literatur zu den verschiedenen Autoren sollen daher als Ergänzung zu den antiken Aussagen zu Gleichnis und Vergleich drei besonders prägnante und wirkungsreiche Definitionen vorgestellt werden, die auch für den Gleichnisbegriff der vorliegenden Arbeit richtungsweisend sind. Als Grundlage für seine Interpretation homerischer Gleichnisse hat sich H. Frankel auch mit deren formaler und inhaltlicher Gestaltung beschäftigt. Als wichtiges Merkmal der Gleichnisse konstatiert er, »daß sie den Hörer urplötzlich in eine andere Welt hineinreißen als die der Erzählung ist«. Ihre Wirkung bestehe »in dem überbrückten Kontrast [...], in dem Nebeneinander von Gleichsein und Anderssein«44 - eine Beobachtung, die sich mit den Aussagen des Auetor ad Herennium deckt.47 Fränkels Überlegungen zur äußeren Form von Gleichnissen entstehen in Auseinandersetzung mit der früheren Forschung, die in dem zum Teil recht abstrakt und punktuell gefaßten und von Homer selbst in den meisten Fällen nicht explizit genannten >tertium comparationis< die einzige Verbindung zwischen Bild und Sache sehen wollte und alle Erweiterungen des Bildes, die nicht unmittelbar auf dieses >tertium< bezogen werden könnten, als interpretatorisch irrelevantes Beiwerk außer acht läßt.48 Fränkel selbst geht demgegenüber von der Prämisse aus, daß Gleichnisse auch die Wiederholung desselben Vorganges in einer anderen Sphäre bieten könnten, ohne daß die beiden Ebenen für jedermann sichtbar in einem Punkt zusammenhängen müßten. Er weist ferner darauf hin, daß der Dichter oftmals selbst die Ausdeutung des von ihm verwendeten Bildes vornehme, wie es in ganz ähnlicher Weise bei der Interpretation der ihrer Struktur nach mit dem Gleichnis verwandten Vorzeichen durch den Seher geschehe. Dadurch, daß die Ausdeutung sich in vielen Fällen nicht auf offensichtliche Züge des Bildes bzw. Vorzeichens beziehe, werde der Hörer auf wichtige, auf den ersten Blick aber 46 Fränkel (1921), 99. 47 Siehe oben S. 31. 48 Fränkel (1921), 1-3. Als prominentesten Vertreter dieser Richtung nennt er S. 5 Finsler I (Ί914), 328-330.

Zur Definition des Gleichnisbegriffs

41

möglicherweise nicht erkennbare Aspekte hingewiesen, die durch die Hervorhebung besonders betont würden, während der Dichter offenkundige, für jedermann sichtbare Analogien oft der Erwähnung nicht für wert erachte.49 Auf dieser Basis entwickelt Fränkel ein Schema, das den »strengst gebauten Gleichnissen« zugrundeliege, die er als die denkbar ausführlichste und geläufigste Variante der homerischen Vergleichung einstuft (Fränkel S. 4): »[...] das letzte Stück der Erzählung (a) gibt gewissermaßen das Stichwort für das Auftreten des Gleichnisses; wir wollen es den »Stichsatz« nennen. E s folgt dann ein » W i e - S t ü c k « (b), an das sich die weitere A u s f ü h r u n g des Bildes schließt. Endlich ein » S o - S t ü c k « (c), das in die Erzählung zurückführt. Wiestück u n d Sostück, soweit sie i m sprachlichen A u s d r u c k (durch Wiederholung gleicher W o r t e oder durch parallelen Bau) aufeinander Bezug nehmen, wollen wir »die K u p p e l u n g « nennen.[...]«

Fränkels Beobachtungen zum Aufbau der homerischen Gleichnisse stimmen weitgehend mit Ausführungen Quintilians und Ps.-Plutarchs überein.50 Auch läßt die Verwendung der Termini »Wiestück« für den Bildteil und »Sostück« für den Sachteil des Gleichnisses erkennen, daß Fränkel die scharfe Trennung zwischen Bild und Sache durch die Verwendung korrelierender Vergleichsworte (darunter fallen auch quantifizierende Adjektive wie

öaaov

- τόσσον)

als Cha-

rakteristikum homerischer Gleichnisse ansieht. Einen eher sprachhistorischen Ansatz verfolgt G.P. Shipp, der unter dem Aspekt der Sprachentwicklung in den homerischen Epen auch die Gleichnisse von Ilias und Odyssee untersucht. Für die Genese der seiner Ansicht nach insgesamt später als der Erzähltext entstandenen und von ihrer Sprache her jüngeren Gleichnisse51 glaubt Shipp in den homerischen Gedichten verschiedene Stadien in der Entwicklung von einfachen zu immer komplexeren Formen greifen zu können. Dabei unterscheidet er drei Formen von wachsender Ausführlichkeit (Shipp S. 208): 1. D e n einfachen Vergleich einer Sache mit einer anderen v o m T y p u s \iwv ώς. 52 2. D a s ausgeführte Gleichnis, in d e m sowohl Bild als auch Sache in gleicher Ausführlichkeit entfaltet werden.

49 Fränkel (1921), 3f. 50 Vgl. Rieks (1981), 1025. Ein expliziter Verweis auf Quintilian bzw. Ps.-Plutarch fehlt bei Fränkel; allerdings halte ich es für durchaus wahrscheinlich, daß sein Bauschema homerischer Gleichnisse in Anlehnung an die antiken Beobachtungen entstanden ist. 51 Shipp fl972), 215. 52 Interessanterweise dasselbe Beispiel, mit dem auch in der antiken Theorie seit Aristoteles der Vergleich von der Metapher abgegrenzt zu werden pflegt.

42

Zur Definition des Gleichnisbegriffs

3. Das typische homerische Gleichnis, in dem der Bildteil eine Eigendynamik entwickelt und über die reine Illustration des unmittelbaren Erzählzusammenhanges hinauswächst. Shipps Einteilung der Vergleichungen erinnert an das in der Lautlehre verwendete System Schwundstufe - Normalstufe - Dehnstufe. Das Gleichnis mit im Bildteil überschießenden Teilen stellt nach Shipp den Endpunkt der sprachlichen Entwicklung dar. Da die Einteilung eine klare Zuordnung der verschiedenen Typen der Vergleichung ermöglicht, wird sie bisweilen auch der Analyse homerischer Gleichnisse zugrundegelegt.53 Allerdings fehlen in Shipps Dreierschema diejenigen Vergleichungen mit weiter ausgestaltetem Bildteil, aus dem nicht durch ein korrelierendes ως in die Erzählhandlung zurückgeführt wird und die, wollte man die »Entwicklungstheorie« konsequent verfolgen, sprachgeschichtlich zwischen Kurzvergleich (1) und >symmetrischem< Gleichnis (2) stehen müßten. Zudem lassen sich zwischen >symmetrischem< und homerischem Gleichnis noch Zwischenstufen und graduelle Unterschiede in der Erweiterung des Sachteils ausmachen, so daß Shipps Klassifikation von Gleichnis und Vergleich im homerischen Epos allenfalls als grobes Raster dienen kann.54 Ausführlich mit Form, Inhalt und Funktion von Gleichnissen hat sich auch R. Rieks in seiner Arbeit über die Gleichnisse Vergils beschäftigt. Als Gleichnis gilt ihm »die ausgeführte, d.h. mindestens zwei semantisch-syntaktische Glieder umfassende und daher in epischer Dichtung fast stets über die Länge eines Hexameters hinausgreifende Vergleichung eines Phänomens Α mit einem Phänomen B, die beide verschiedenen Gegenstandsbereichen zugehören, so daß die Zusammenstellung eine Spannung zwischen Identität und Differenz erzeugt«55 - eine griffige Definition, die in der Bewertung des Verhältnisses von simile und dissimile an die Rhetorica ad Herennium erinnert56 und dazu dienen soll, Kurzvergleiche und solche, in denen »eine Sache vermittelst veränderter Umstände an sich selbst gemessen wird« aus der Betrachtung auszuschließen.57 Das von Rieks konstruierte Bauschema epischer Gleichnisse sieht - ausgehend von dem antiken Terminus άρτατόδοσις - das Gleichnis als eine Art kondizionales Satzgefüge (Rieks S. 1025f.):

53 So ζ. B. von Schnapp-Gourbeillon (1981), 18f. 54 Vgl. Schnapp-Gourbeillon (1981), 19: »Cette classification est toutefois purement technique«. 55 Rieks (1981), 1012. 56 Siehe oben S. 31. 57 Rieks (1981), 1012.

Zur Definition des Gleichnisbegriffs

43

»Wenn wir den rahmenden Kontext (res) eines Gleichnisses als άτόδοσις bezeichnen, wobei wir den vorangehenden und abschließenden Sachverhalt durch die Indizes , und 2 unterscheiden und von der apodosis2 noch die ihr häufig vorgelagerte besondere άντατόδοσις abgrenzen werden, so ergibt sich nach der Analogie des kondizionalen Satzgefüges für das eigentliche Gleichnis (similitudo) die Bezeichnung τρότασις.[...] Meine Terminologie im folgenden beruht also auf dem Idealschema: res (Λ; Sachverhalt; Subjekt; einleitender Kontext; apodosis,) ret simili (B; ähnlicher Sachverhalt; Objekt; protasis) comparator (C; Vergleichung; Prädikat; antapodosis) et nonnumquam amplius explicatur (D; weiterführender Kontext; apodosisJ.« Rieks' Schema besticht durch eine auf den ersten Blick präzise Terminologie, die die einzelnen Elemente des Gleichnisses zu erfassen sucht und klar gegeneinander abgrenzt. Doch ist die Analogisierung von Gleichnis und kondizionalem Satzgefüge sowie die Bezeichnung des Erzähltextes als Apodosis, die des Gleichnistextes als Protasis in der antiken Literatur nicht belegt. Das Wort άνταπόδοσις wird im Griechischen nie in Zusammenhang mit einem kondizionalen Satzgefüge verwendet.58 Irreführend ist auch die Gleichsetzung der αντaπόδοσις mit »Prädikat« oder »Vergleichung«, da beide nicht identisch sind und die »Vergleichung« zudem als Wesensmerkmal des Gleichnisses nie fehlen kann. Trotz des fraglos interessanten Versuchs der Rekonstruktion der antiken Terminologie zur Benennung einzelner Teile des Gleichnisses kann daher zumindest der zweite Teil von Rieks' Definition nicht bedenkenlos übernommen werden.

3. Kriterien für die Materialauswahl und Terminologie der vorliegenden Arbeit Obgleich die antiken und modernen Bestimmungsversuche des Gleichnisses in Ansatz, Umfang und Ponderierung ζ. T. erheblich voneinander abweichen, läßt sich doch ein Grundkonsens ausmachen, dem die in den weiteren Untersuchungen verwendete Terminologie Rechnung zu tragen versucht. Mit dem Begriff Vergleichung werden ganz allgemein alle Stellen bezeichnet, an denen der Autor zwei Sachverhalte aufgrund von bestimmten - tatsächlich vorhandenen oder konstruierten - Ähnlichkeiten zueinander in Beziehung setzt. Vergleichung ist somit - dem lateinischen Begriff similitudo entsprechend - Oberbegriff für die verschiedenen Arten vergleichender Rede. 58 Vgl. LSJ s.v. άντατόδοσις.

44

Zur Definition des Gleichnisbegriffs

Als Kurzvergleich

(lat. similitudo brevis) gelten Vergleichungen mit einlei-

tendem Vergleichswort, bei denen der vergleichende Teil nicht zu einer selbständigen syntaktischen Einheit wird, sondern auf die Elemente »einleitendes Vergleichswort« + »Substantiv« (bisweilen durch Attribute erweitert) beschränkt ist. Mit dem Terminus Gleichnis

schließlich bezeichne ich ausschließlich Ver-

gleichungen, an denen der Autor zwei in einem oder mehreren Punkten ähnliche konkrete Sachverhalte aus unterschiedlichen Gegenstandsbereichen unter Angabe des vergleichenden Verhältnisses zueinander in Beziehung setzt, wobei der vergleichende, mit einem Vergleichswort oder einer Vergleichsformel eingeleitete Teil als Gleichnistext (Parabole), der verglichene als Haupttext bezeichnet wird. Ausgeschlossen bleiben nach dieser Definition (1) aufgrund ihrer Form alle Illustrationen, die vom Autor nicht explizit als Vergleich gekennzeichnet werden und (2) aufgrund ihres Inhalts diejenigen Fälle, die eine Person oder einen Gegenstand nur in verschiedenen Situationen zeigen oder abstrakte Größen aneinander messen.59 Der auf die Parabole hinführende Satz, für den es keine spezielle antike Bezeichnung gibt, wird - mit Fränkels Terminologie - Stichsatz genannt. Die Parabole umfaßt beim Gleichnis in der Regel mindestens einen Hexameter. Sie wird entweder durch ein eigenes Prädikat zu einem unabhängigen, vom Haupttext losgelösten Satz, von dem weitere Gliedsätze abhängig sein können oder ist zumindest durch einen Gliedsatz mit eigenem Prädikat erweitert. Wird die Parabole vom Autor selbst durch ein korrelierendes Vergleichspronomen, bisweilen zusätzlich durch sprachliche oder syntaktische Parallelismen mit einem interpretierenden Sachteil verbunden (der

Antapodosis), so handelt es sich um ein ausgeführtes Gleichnis (griech. παραβολή ανταποδοτική, lat. similitudo cum antapodosi). Gleichnisse ohne explizite Rückführung in den Argumentationszusammenhang werden dement-

sprechend Gleichnisse ohne Antapodosis (lat. similitudines sine antapodosi bzw. liberae, gr. παραβολαί απόλυτοι) genannt. Unter den Begriff heroisch-episches Gleichnis

oder episches Gleichnis fallen Gleichnisse, die entweder ihrem Motiv

nach aus der erzählenden Epik ins Lehrgedicht übernommen werden oder in ihrer Struktur (etwa mit überschießenden Elementen im Bildteil) an den Typus der speziell im heroischen Epos verwendeten Gleichnisse erinnern.

59 Beispiele für solche Sonderfälle: Lucr. 3,832-842 (Empfindungslosigkeit eines Menschen vor und nach seinem Tod); Verg. georg. 2,103-108 (wer die verschiedenen Weinsorten zählen will, der würde auch Wellen und Sand zählen), dazu unten S. 198-200; Manil. 4,701-710 (astrologische Geographie - zodiakale Melothesie), dazu unten S. 223f.

Zur Definition des Gleichnisbegriffs

45

Die Untersuchung konzentriert sich auf Stellen, die nach der vorangegangenen Definition die Kriterien eines Gleichnisses erfüllen. Doch hat die Betrachtung insbesondere der antiken Gleichnisdefinitionen die engen Beziehungen zwischen Gleichnissen, Vergleichen und den ebenfalls sprachverwandten Metaphern gezeigt, so daß auch diese für die Interpretation herangezogen werden, wo sie von ihrem Motiv her eindeutig mit einem Gleichnis korrespondieren.

ΠΙ. Die griechische Lehrdichtung

1. Vorgaben und Voraussetzungen in der homerischen Epik Die homerischen Gedichte sind zwar nicht im eigentlichen Sinne Lehrdichtung. Sie wurden jedoch in der Antike in manchen Textpartien durchaus als »didaktisch« empfunden,1 so daß insbesondere Homers Umgang mit Gleichnissen in mancher Hinsicht die Verfasser von didaktischen Epen beeinflußt haben dürfte. Zudem könnten aufgrund der Vorbildfunktion von Ilias und Odyssee für die spätere Dichtung die Beobachtungen zu Homer die Beziehungen zwischen heroisch-epischen Gleichnissen und Lehrdichtung erhellen und zeigen, wo ein Lehrdichter - abgesehen von der äußeren Form - für seine Gleichnisse Anregungen aus der erzählenden Epik beziehen konnte. Diesen beiden Ansätzen soll im folgenden nachgegangen werden. Ein für die Lehrdichtung wichtiger Aspekt ist die Stellung der homerischen Gleichnisse im Textzusammenhang. Hier läßt sich beobachten, daß Gleichnisse auch innerhalb der Epen Homers nicht gleichmäßig verteilt sind. Sie kommen vor allem dort zum Einsatz, wo es dem Dichter darum geht, besonders dramatisches und aktionsgeladenes Geschehen zu illustrieren und durch den Wechsel von der Sach- in die Bildebene zu retardieren, um dadurch die Spannung zu steigern. In der Ilias dienen sie daher in erster Linie der Beschreibung von Kampfhandlungen oder Szenen, die mit diesen in engem Zusammenhang stehen,2 so daß Gleichnisse Heeres- und Schlachtbewegungen, sehr häufig auch Erfolg oder Mißerfolg eines Helden veranschaulichen, ausdeuten, bisweilen auch antizipieren. Aus diesem Grund sind Zahl und Umfang der Gleichnisse in den Iliasbüchern ohne nennenswerte Kampfhandlungen (1. 6. 9. [10]. 14.19. 23. 24.) deutlich geringer als in den Büchern, in denen der Dichter ausführliche Schlachtbeschreibungen bietet. Während in der Aristie des Menelaos im 17. Buch der Ilias von den 761 Versen Gesamttext 119 Verse von insgesamt 24 Gleichnissen okkupiert werden, entfallen auf die 804 Verse des 24. Buches nur

1 Vgl. Lausberg (1990), 185-187 (dort weitere Literatur). 2 Vgl. z.B. Bowra (1930), 123; Hornsby (1970), 7; Krischer (1971), 17; Moulton (1974), 382f.; Edwards, Horn. Ii. V (k 1991), 39.

Die griechische Lehrdichtung

47

15 Gleichnisverse. Eine gewisse Affinität der Gleichnisse zu kriegerischen Handlungen in der Ilias (insbesondere zu den Aristien)3 ist unübersehbar. Naturgemäß etwas anders ist aufgrund des weitestgehend unkriegerischen Inhalts des Gedichtes die Verteilung der Gleichnisse in der Odyssee.4 Die Zahl der in diesem Werk verwendeten Gleichnisse ist erheblich geringer als in der Ilias.5 Auch in der Odyssee dienen sie in der Regel der Veranschaulichung außergewöhnlicher Geschehnisse oder Wendepunkte der Handlung. So werden etwa in der - insgesamt sehr gleichnisreichen6 - Μνηστβροφονία im 22. Gesang der Odyssee die Reaktionen auf den Anblick von Athenes Agis (22,297f.) durch ein Doppelgleichnis illustriert, das die panische Flucht der Freier durch das Megaron einerseits und das Nachsetzen von Odysseus und Telemach andererseits zeigt.7 Sehr viel häufiger als in der Ilias jedoch beschreiben die Gleichnisse in der Odyssee die Gefühle der Hauptpersonen in einer Entscheidungssituation: Staunen, Entsetzen und Trauer.8 Anstelle der durch die Kampfhandlungen der Ilias gegebenen äußeren Dramatik werden in dem Epos, das die Welt im Frieden zeigt, Szenen mit starker innerer Dramatik durch Gleichnisse veranschaulicht. Auffällig wenige und meist recht kurze Gleichnisse finden sich demgegenüber in den Reden von Ilias und Odyssee.' Noch geringer ist die Zahl der Gleichnisse in den Partien, in denen der Dichter die eigentliche Erzählhandlung und den durch sie gesteckten Rahmen verläßt. Während etwa der Aufmarsch der achaischen und der trojanischen Streitkräfte im 2. Buch der Ilias durch ausgeführte Gleichnisse, ja sogar durch ganze Gleichnisreihen illustriert wird,10 verwendet der Dichter in der Aufzählung der Truppenkontingente im soge-

3 Vgl. Krischer (1971), 17. 4 Vgl. Krischer (1971), 17; 36-75 (zu den Gleichnistypen der Aristie): Moulton (1977), 383. 5 Zum Zahlenverhältnis der Dias- zu den Odysseegleichnissen vgl. Moulton (1977), 117; Lee (1964), 3. 6 Fünf ausgeführte Gleichnisse auf 501 Verse Text. 7 Horn. Od. 22,299-308 (Freier: von einer Bremse gestochene Rinder / Odysseus und Telemach: aus den Wolken herabstürzende Geier). 8 So z.B. Horn. Od. 4,791-793; 8,523-531; 19,205-209; 20,25-30. 9 Die meisten und längsten Gleichnisse in den Reden der Dias verwendet Achill, vgl. Moulton (1977), 100f., Griffin (1986), 53. In der Odyssee sind Gleichnisse in den Reden im allgemeinen häufiger als in der Dias, vgl. Moulton (1977), 118. Daß Odysseus in seinen Irrfahrtenerzählungen eine Reihe von - meist allerdings sehr kurzen - Vergleichungen benutzt, ist wohl dadurch zu erklären, daß die Apologoi - ähnlich wie auch die Diupersis im 2. Buch der Aeneis - nicht als direkte Rede, sondern eher als Erzählung empfunden werden. Zum Fehlen von ausgeführten Gleichnissen in den Reden der Argonautica vgl. Drögemüller (1956), 238. 10 Horn. D. 2,455-483; 2,780-785 und 3,1-14.

48

Die griechische Lehrdichtung

nannten Schiffskatalog lediglich zwei Kurzvergleiche.11 Gleichnisarm ist ebenso wie die rein deskriptiven »typischen Szenen« - auch die Ekphrasis von Achills Schild im 18. Gesang, die überhaupt nur ein einziges, noch dazu sehr kurzes Gleichnis enthält.12 Diese ungleichmäßige Verteilung ist auffällig und bedarf einer Erklärung. Daß der Iliasdichter ausgeführte Gleichnisse in den Reden verhältnismäßig selten verwendet, hat seine Ursache möglicherweise darin, daß das Gleichnis als epische Kunstform empfunden wurde, die sich zum Einsatz in der gesprochenen Rede nur bedingt eignet - vor allem wohl deshalb, weil im erzählenden Epos Gleichnisse die Tendenz zeigen, statisch-retardierend zu wirken und so die eher >dramatische< Rede aufhalten. Die Ekphrasis von Achills Schild steht sowohl sprachlich-stilistisch als auch inhaltlich den Gleichnissen recht nahe,13 so daß manche der auf dem Schild dargestellten Bilder in ihrer Ausführung sogar mit Themen von Iliasgleichnissen identisch sind.14 Darüber hinaus macht jedoch die sparsame Verwendung von Gleichnissen in den Reden, Katalogen und Ekphraseis vor allem deutlich, daß sie für den Dichter primär Mittel zur Illustration der eher aktionstragenden Erzählhandlung sind15 und somit weitgehend funktionslos werden, wo diese unterbrochen wird. Gerade die handlungsarmen Partien der homerischen Epen kommen aber in ihrer Darstellungsform der didaktischen Poesie nahe, wenn man bedenkt, daß der appellativ-paränetische Charakter der Lehrdichtung1' in vielen direkten Reden der erzählenden Epik gewissermaßen vorgebildet ist17 und Beschrei-

11 Horn. D. 2,754 und 764. Gleichnisse im Katalog in den erzählenden Epen nach Homer sind erst seit Vergil nachweisbar, Gleichnisse, die sich direkt auf einzelne im Katalog genannten Personen oder Gruppen beziehen, erst seit Silius Italicus. 12 Horn. H. 18,600f. (Behender Reigen der Mädchen - leicht laufende Töpferscheibe). 13 Vgl. Kurman (1974), 4f.; Lonsdale (1990 Ε), 8 Anm. 3 (dort weitere Literatur) Edwards, Horn. Ii. V (K 1991), 200, der den Schild des Achill als »immense simile« bezeichnet. Ohne ausgeführte Gleichnisse bleiben - möglicherweise aus demselben Grund - auch die späteren Ekphraseis von der Beschreibung des Heraklesschildes in der pseudohesiodeischen Aspis bis hin zu denen des Silius Italicus. Die berühmte Ausnahme von der Regel bildet die Ekphrasis in Catull carm. 64, diese wird allerdings von Catull ganz bewußt als »untypisch« mit einer ganzen Reihe erzählender Elemente gestaltet, vgl. Laird (1993), 29. 14 So z.B. Horn. D. 11,67-71 (Schnittergleichnis) undll. 18,550-554; Ii. 18,579-586 und Ii. 11,172-178; dazu Lonsdale (1990), 121f. 15 Vgl. Scott (1974), 51; dieselbe Beobachtung für Apollonius Rhodius bei Drögemüller (1956), 238. 16 Vgl. Erren (1956), 5-25; Pöhlmann (1973), 832f. 17 Die Parainese Nestors an Antilochos im 23. Üiasgesang hat sogar ganz deutliche »didaktische« Züge, was bereits in der Antike von Piaton (Ion 537a5-b5) und Xenophon (conv. 4,6) konstatiert wurde, vgl. Munding (1959), 65 m. Anm. 33; 75.

Die griechische Lehrdichtung

49

bungen sowie Kataloge18 zur literarischen Technik des Lehrdichters gehören. Daß in der Ilias und der Odyssee die Gleichnisse vor allem Darstellungsmittel der Erzählhandlung sind, außerhalb derer sie nur zurückhaltend eingesetzt werden, dürfte auch den sparsamen Umgang mancher Lehrdichter mit dem Phänomen >Gleichnis< beeinflußt haben. Dennoch bleiben die Gleichnisse Homers nicht ohne Beziehung zur Lehrdichtung; allerdings nutzen Lehrdichter diese anders als die Verfasser narrativer Epen. Zu unterscheiden sind dabei zwei verschiedene Methoden der Rezeption homerischer Gleichnisse. Ein Lehrdichter kann zum einen - ähnlich wie der Verfasser erzählender Epen - bestimmte Motive der Gleichnisse und ihre individuelle Ausgestaltung bei Homer aufnehmen und in seinem Werk verwenden. Die Wirkung des rezipierten Motivs beruht dann zu einem nicht geringen Teil darauf, daß der Leser die Anspielung versteht und den ursprünglichen Zusammenhang, in dem das Gleichnis bei Homer gestanden hat, assoziiert oder sich zumindest mit dem Motiv vertraut fühlt. Umgekehrt besteht für einen Lehrdichter die Möglichkeit, auch dort auf homerische Gleichnisse zurückzugreifen, wo diese für ihre Darstellungen verwertbares Material bieten, so daß sie einzelne Gleichnisse - meist Beschreibungen von Naturkatastrophen, seltener Tiergleichnisse - bisweilen aus dem Erzählzusammenhang lösen und so umkehren,19 daß der Gleichnistext des heroischen Epos zum Haupttext im Lehrgedicht wird, wie wir es bei Homer in ganz ähnlicher Weise im Verhältnis zwischen Gleichnis und Schildbeschreibung beobachten konnten.20 Abgesehen von der Anspielung auf die literarische Vorlage demonstriert der Lehrdichter auf diese Weise gewissermaßen die Zugehörigkeit seiner Dichtung zum Epos, 18 Vgl. Lausberg (1990), 187f. 19 Dazu ausführlich unten S. 155f. 20 Vgl. Lausberg (1990), 186. Lausbergs Beobachtungen beziehen sich auf Vergils Georgica im Verhältnis zur Aeneis, sie gelten jedoch ebenso für Vergils Georgica und Homer, aber auch bereits für Lucrez und Homer; siehe unten S. 77; 79f.; 155f. Möglicherweise unter Einfluß der Lehrdichtung werden in der erzählenden Epik der Kaiserzeit ebenfalls Gleichnismotive zu Haupttext umgearbeitet, z.B. Sil. 3,468-471, wo das Dahinstürzen der Druentia in Anlehnung an homerische und vergilische Gleichnisverse geschildert wird, und Sil. 5,480-488, wo der Dichter zwei Bäume im Stil der Baumgleichnisse bei Vergil und Lucan beschreibt. Erst der Verfasser der Cynegetica greift in seinen Darstellungen auf Gleichnismaterial der Halieutica Oppians, seines Vorgängers in der Lehrdichtung, zurück, um dadurch in einen Wettstreit mit ihm einzutreten, vgl. James (1969), 78. Anders motiviert ist dagegen wohl die Verwendung desselben Motivs im Gleichnis- und Haupttext innerhalb desselben Werkes (frühestes Beispiel: das Wagenrennen-Gleichnis 0 . 22,162-166 und das Wagenrennen anläßlich der Leichenspiele des Patroklos Ii. 23,262-625, ferner das Pflugrind-Gleichnis Apoll. Rhod. 2,662-668, das die Arbeit des Jason in Kolchis antizipiert), wie es v. Albrecht I (21994), 546 für die Aeneis und (1989), 389 für Claudian zeigt.

50

Die griechische Lehrdichtung

von dem er sich aber zugleich durch die Umkehrung von Haupt- und Gleichnistext absetzt. Zum anderen besteht für den Lehrdichter auch die Möglichkeit, auf diejenigen Gleichnisse zurückzugreifen und sie gegebenenfalls auch weiterzuentwickeln, die auch schon bei Homer nicht in erster Linie das Handeln einer Person illustrieren, sondern das optische Erscheinungsbild eines Gegenstandes, den diese Person trägt. So vergleicht Homer nicht selten das Funkeln einer Waffenrüstung oder einzelner Ausrüstungsgegenstände des in den Kampf ziehenden Helden mit dem Glanz von Feuer, Stern oder Blitz;21 ein Gewand schimmert wie Zwiebelhaut22 oder glänzt wie Sonne oder Mond.23 Diese in der Regel recht kurzen Bilder dienen nicht primär der Ausdeutung der Erzählhandlung, sondern dazu, Sinneseindrücke dadurch zu intensivieren, daß eine in ihrer Qualität schwer vorstellbare Gegebenheit mit einer dem Hörer geläufigen Sache parallelisiert wird. Auch durch die - allerdings sowohl inhaltlich als auch formal ganz anders gestalteten - quantifizierenden Gleichnisse, in denen der Dichter räumliche und zeitliche Distanzen durch konkrete Maßangaben veranschaulicht,24 werden auf leicht verständliche Weise abstrakte Sachverhalte dem Vorstellungsvermögen des Hörers zugänglich gemacht. Ein Lehrdichter kann an solche Vergleichungen anknüpfen, sei es, daß er sie als Kurzvergleiche in sein Werk hineinnimmt oder sie weiter ausgestaltet. Sehr viel seltener werden der Thematik der homerischen Gedichte entsprechend ungewöhnliche Naturphänomene durch meist sehr kurze Vergleichungen illustriert. Als »didactic and explanatory« hat M. Coffey den Kurzvergleich im Achaierkatalog (11. 2,754) bezeichnet,25 wo das Flußwasser des Titaressos mit Ol verglichen wird, weil es sich bei der Einmündung des Titaressos in den Peneios nicht mit dessen Wasser vermischt. Die Wassertemperaturen der beiden Skamander-Quellen beschreibt der Dichter als so heiß wie Feuer oder kalt wie

21 So ζ. B. Horn. Π. 2,455-458; 17,88; 20,423; 22,134f. (Feuer). 11,66; 13,242-245 (Blitz). 19,381; 22,26-32 (Sternenglanz); zu diesem Gleichnistypus und seinen Verbindungen zur Aristie Krischer (1971), 36-38. 22 Horn. Od. 19,232f. 23 Horn. Od. 24,148. 24 So ζ. B. Horn. H. 11,86-90 (Die Zeit, zu der ein Holzfäller sein Mahl einnimmt, entspricht der Zeit, zu der die Achaier durch die Troerreihen brechen); 23,760-763 (Die Distanz zwischen Webschaft und Frauenbrust entspricht der Distanz zwischen Aias und Odysseus). Die Bilder ersetzen abstrakte Zeit- und Maßangaben, sie können aber bisweilen auch zur Deutung der Situation beitragen, vgl. Frankel (1921), 78f. 25 Coffey (1957), 122.

Die griechische Lehrdichtung

51

Schnee oder Eis;26 eine heraufziehende Sturmwolke ist schwarz wie Pech.27 Der Dichter greift hier eine einzige Eigenschaft des Stoffes (seine Temperatur bzw. seine Farbe) heraus, um sie mit einem anderen Stoff in Verbindung zu bringen, für den diese Eigenschaft besonders charakteristisch ist: Feuer - Hitze; Eis Kälte; Pech - schwarze Farbe. Auch solche Vergleiche sind im Kontext eines didaktischen Epos verwendbar, wo es um die Erläuterung schwer vorstellbarer naturwissenschaftlicher Gegebenheiten geht. >Didaktisch< im weitesten Sinne des Wortes sind auch diejenigen Gleichnisse und Kurzvergleiche, die der Dichter zur Veranschaulichung außergewöhnlicher naturwissenschaftlich-technischer Vorgänge einsetzt, die sich als Folge des Handelns einer Person einstellen: eine eherne Lanzenspitze, mit der der Held den silbernen Gürtel des Gegners durchbohren zu können hoffte, verbiegt sich wie Blei.28 Der Kurzvergleich unterstreicht die unerwartet weiche Beschaffenheit der Lanzenspitze und macht sie für den Hörer vorstellbar. Eine ähnliche Funktion hat das Gleichnis Ii. 5,900-905: Das ungewöhnlich schnelle Gerinnen des Blutes von Ares' Wunde, auf die Paieon seine Heilkräuter auflegt,25 wird mit der Verdickung von Milch durch die Zugabe von Feigenlab veranschaulicht. Zwar bleibt die eigentliche Übertragung des Bildes dem Hörer überlassen, da der Dichter mit ως άρα καρπάλίμως Ιησατο ϋοϋρον "Αρηα ohne weitere Erläuterungen in die Haupthandlung zurückführt, was den Lehrwert des Bildes erheblich einschränkt. Auch sind die beiden Vorgänge vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus nicht vergleichbar. Dennoch dient das Gleichnis dem Dichter auch als Erklärung eines medizinischen Prozesses und hat somit eine >didaktische< Funktion. Der Uberblick zeigt einerseits, daß sich die vom Kontext gegebenen Grundvoraussetzungen für Gleichnisse im narrativen Epos erheblich von denen der Lehrdichtung unterscheiden. Er macht aber auch deutlich, daß Gleichnisse und Gleichnistechniken der homerischen Epen der didaktischen Poesie in vielfältiger Weise Anregungen geboten haben können. Im folgenden wird darauf zu achten sein, wie sich die einzelnen Lehrdichter zu den Vorgaben Homers stellen.

2 6 Horn. II. 2 2 , 1 4 9 - 1 5 2 . Interessant ist hier die Parallele des Vergleichs der heißen Skamanderquelle

mit Feuer

zum Vergleich von Achills Lanzenspitze

mit

Feuer

oder

aufgehender Sonne (Π. 22,134f.), wobei der Dichter beide Male die Formulierung τυρός αΙΰομίνου(-οιό) verwendet. 27 Horn. H. 4,277 (im Gleichnis!). 28 Horn. II. 11,237. 2 9 Vgl. Kranz (1938), 102; Frankel (1921), 57.

52

Die griechische Lehrdichtung

2. Von Hesiod bis Nikander a. Hesiod Hesiod, der von späteren Lehrdichtern gern als Archeget der didaktischen Poesie angesehen wird,30 setzt in seinen uns erhaltenen Werken Vergleichungen nur sparsam ein.31 Die Theogonie enthält neben einigen Kurzvergleichen zwei ausführlichere Gleichnisse, von denen jedoch keines der Illustration des eigentlichen Lehrstoffes dient. Die umfangreichen Kataloge, in denen der Dichter die Götterwelt in ein genealogisches System zu bringen bestrebt ist, bleiben ganz ohne Gleichnisse. Der Gebrauch dieses sprachlichen Mittels ist somit auf die Mythenerzählungen der Theogonie beschränkt, durch die der Dichter die strenge Katalogform des Gedichtes auflockert. So veranschaulicht das spätere der beiden Gleichnisse das Schmelzen der Erde in der Endphase des Kampfes zwischen Zeus und dem Ungeheuer Typhoeus32 (Theog. 862-867) durch zwei konvergierende Bilder aus dem handwerklich-technischen Bereich. Während das Bild vom Zinnschmelzen die Schnelligkeit zeigen soll, mit der sich die Erde unter dem von Zeus hingestreckten Typhoeus verflüssigte, betont das Bild vom Eisenschmelzen durch den Zusatz δ irep κρατερότατος eanv (864) vor allem den zum Schmelzen der Erde erforderlichen Kraftaufwand und läßt so die Zerstörungskraft des bereits besiegten Typhoeus noch stärker hervortreten. Zusätzliche Wirkung bekommt das Gleichnis durch den Kontrast zwischen dem konstruktiven menschlichen Schaffen, dem die Zinn- und Eisenschmelze dient und das sie ihrerseits erfordert - τίχνη (863) - und dem zerstörerischen Wüten des erdgeborenen Ungeheuers. Motiv, Verwendung im Kontext und Funktionen der Bilder entsprechen der erzählenden Epik. Zum einen bezieht Hesiod das Gleichnis auf eine konkrete Situation sowie auf eine konkrete Person und schildert in ihm die Auswirkungen ihres Verhaltens. Zum anderen gelten Kämpfe und Schlachten gene-

30 Diese antike Zuordnung wird in der neueren Forschung immer wieder kritisiert, vgl. z.B. Diller (1962), Effe (1977), 24 Anm. 35. Die Frage nach der tatsächlichen Gattungszugehörigkeit der hesiodeischen Gedichte ist jedoch für unser Thema nicht relevant: »Hesiod kann [...] durchaus mit vollem Recht als Begründer des Lehrgedichts bezeichnet werden, wenn man nur damit nicht automatisch seine Wirkung und seine eigene Absicht in-eins-setzt« (Schmidt [1986], 78 Anm. 137). 31 Vgl. Seilschopp (1934), 81. 32 Die Bestrafung des Typhoeus ist in derllias selbst Gleichnisthema: Horn. Π. 2,781-785.

Die griechische Lehrdichtung

53

rell als Grundthema des heroischen Epos.33 Dementsprechend verwendet Hesiod für die Darstellung des Kampfes zwischen Zeus und Typhoeus dieselben literarischen Mittel wie der Iliasdichter. Insbesondere die näheren Begleitumstände des Kampfes oder der Fall eines Helden werden auch in der Ilias nicht selten durch konträre Gleichnisse illustriert.34 Hesiod hält sich mit dem Handwerkergleichnis somit strikt an die Vorgaben der narrativen Epik. Mit dem Bild der Drohnen, die sich untätig im Bienenstock aufhalten und all das verzehren, was die Bienen mühsam erarbeiten (Theog. 594-602), schließt Hesiod den Mythos vom Opferbetrug des Prometheus und Zeus' Bestrafung des Menschengeschlechts durch die Entsendung der Frau wirkungsvoll ab. Dieses ausführliche Gleichnis wirkt in Motiv und Durchführung zunächst sehr episch. Das Verhalten von Bienen oder Bienenschwärmen ist das Thema mehrerer Gleichnisse der Ilias,35 so daß man sich an Homer erinnert fühlt, obgleich Drohnen in den homerischen Gleichnissen nicht vorkommen.36 Auch die Kontrastwirkung, die der Dichter durch die Vertauschung der Geschlechter bei Bild- und Sache erzielt, indem er die Männer mit den Bienen, die Frauen aber mit den Drohnen gleichsetzt, macht das Bild der faulen Drohnen nicht zu einem erst von Hesiod inaugurierten Gleichnis.37 Kleinere Abweichungen von dem Stil Homers, wie etwa die unhomerische Einleitung der Antapodosis durch ώς δ' αΰτως (600) bewirken ebenfalls keine »völlige Isolation vom alten Epos«, wie Sellschopp es in ihrer Untersuchung des hesiodeischen Stils schreibt.38 Hingegen ist die Funktion, die das Gleichnis bei Hesiod bekommt, 33 Vgl. Koster (1970), 131-135. 34 Porter (1972), 14-17. Mit den beiden hesiodeischen Bildern ebenfalls vergleichbar sind die Bilder aus dem handwerklich-technischen Bereich, mit denen Homer Odysseus in den Apologoi die Blendung des Polyphem illustrieren läßt (Horn. Od. 9,322-324; 384-388; 391-394). Auch dort schafft der Dichter einen wirkungsvollen Kontrast durch die Gegenüberstellung des Schrecklichen, Unvorstellbaren mit dem Alltäglichen. Moulton (1977), 122 spricht von einem »ironic effect«, den der Dichter durch den Gebrauch dieser Bilder erziele; dieser ist m. E. wichtiger als »to clarify unnatural or unfamiliar phenomena«, das Moulton als ihre Hauptfunktion ansieht. 35 Vgl. Horn. H. 2,87-93; 12,167-172. Die Struktur des hesiodeischen Gleichnisses ähnelt Π. 21,257-263, vgl. West, Hes. Theog. (K 1966), 331. 36 Vgl. West, Hes. Theog. (K 1966), 331. 37 Vertauschung der Geschlechter z.B. auch Horn. Ii. 12,167-172 (Wespen oder Bienen Achaier); besonders drastisch D. 11,269-272 (Schmerzen des Agamemnon - Geburtsschmerzen einer Frau); Horn. Od. 8,523-531 (klagende Witwe - weinender Odysseus); Apoll. Rhod. 4,167-173 (fason freut sich über das goldene Vlies - Mädchen freut sich über den Glanz des Mondes, dazu Reitz [1996], 110-115); Verg. georg. 4,507-515 (Orpheus - philomela). 38 Seilschopp (1934), 87. Auch die Tatsache, daß Empedokles und die Hippokratiker die Formel ώς δ' αΰτως wieder aufgreifen (Seilschopp 87f.), macht Hesiod nicht zum stilistischen Wegbereiter der wissenschaftlichen Erklärung.

Die griechische Lehrdichtung

54

eine andere als bei Homer. Das hesiodeische Bild soll einen bis in die Zeit des Dichters fortdauernden Zustand illustrieren, nicht eine konkrete, einmalige Situation wie die Bienengleichnisse Homers. Dementsprechend geht es nicht darum, ein einmaliges Verhalten im Kontext einer Erzählhandlung zu veranschaulichen, sondern um die bildhafte Darstellung eines angeborenen Charakterzuges, was der Aussage des Dichters eine zusätzliche Schärfe verleiht. Die faulen Drohnen gelten als Schmarotzer par excellence.39 Nicht mehr das Individuelle, sondern das Typische wird durch das Gleichnis betont. In der Art der Durchführung und auch aufgrund des Kontextes, in dem es steht, erinnert das Drohnengleichnis an die Bilder in Semonides' Weiberjambus, in dem ja auch spezifische negative Charakterzüge von Frauen mit den Verhaltensweisen bestimmter Tiere in Beziehung gesetzt werden, wodurch Semonides verschiedene »Frauentypen« schafft.40 Mit den Tierbildern des Weiberjambus berührt sich das Drohnengleichnis auch insofern, als beide das Empfinden des Dichters widerspiegeln, wie es im Rahmen einer Invektive gegen das weibliche Geschlecht kaum anders möglich ist. Eine derartig subjektive, von der persönlichen Antipathie des Dichters getragene Färbung - betont durch ως δ'αντως άνδρεσσι κακόν

ΰνητοίσι

γυναίκας

/

Zeug

ϋψιβρεμβτης

ύηκί,

ξννηονας

έργων

/

άργαλέων (Theog. 600-602) - wird im homerischen Epos allenfalls durch Gleichnisse in den Reden bewirkt. Keines der Gleichnisse in den Erga ist länger als drei Verse.41 Die Struktur des Gedichtes und sein parainetischer Charakter42 scheinen keine Gleichnisse größeren Umfangs zuzulassen. In der Tradition erzählend-epischer Maß- und Zeitangaben durch Gleichnisse steht der Vergleich der Größe eines Blattes im Frühling mit dem Abdruck eines Krähenfußes (op. 679-681), obwohl das Motiv selbst bei Homer keine Parallele hat. Auch der Vergleich der Körperhaltung von Menschen im Schneesturm mit einem auf einen Stab gestützten alten Mann (op. 533-535) ist wohl Hesiods eigene Erfindung. Mit dem Drohnengleichnis (op. 303-306) nimmt der Dichter ein aus der Theogonie bekanntes Motiv wieder auf.43 Gegenüber dem detailliert ausgearbeiteten Theogonie-Gleichnis ist

39 Vgl. Suda s.v. κηφην: λέγεται 6e ϊκ τούτου και ανϋρωτος ό μηδέν δρα ν δυνάμενος. 40 Vgl. Snell (Μ980), 192f. 41 Bei dem αίνος von Fabel und Nachtigall (Hes. op. 202-212) handelt es sich nicht um ein »Gleichnis«, wie Wilamowitz, Hes. op. (K. 1928), 64 schreibt, vgl. Seilschopp (1934), 83-86. 42 Vgl. Schmidt (1986). 43 Vgl. West, Hes. op. (K. 1978), 233. Allerdings ist der Vergleich an dieser Stelle wohl kaum rein assoziativ, wie West meint. Materielle Not (Λιμός ... σύμφορος [302J und Prestigeverlust (tfeoi νεμίσώσι και άνίρες [303J bilden keinen Gegensatz: Hunger ist die erste Folge der

Die griechische Lehrdichtung

55

das Bild in den Erga auf die Kernaussage und von neun auf drei Verse reduziert; das entspricht der Reserviertheit Hesiods gegenüber ausführlichen Gleichnissen in den Erga. Nicht mehr gegen die Frauen richtet sich hier allerdings das Bild von den faulen Drohnen, sondern gegen die aepyoi unter den Männern ein auch in der späteren griechischen Literatur geläufiges Schimpfwort.44 Ε contrario veranschaulicht das Gleichnis somit auch den Gegenstand des Werkes: "Εργα. Indem Hesiod das Fehlverhalten der aepyoi mit demselben Bild belegt wie zuvor das der Frauen, stellt er beide auf eine Stufe, so daß sein Vorwurf durch das Selbstzitat noch stärker trifft. Entscheidend ist jedoch, daß mit den äepyoi

eigentlich Hesiods Bruder Perses gemeint ist,45 der sich auf Rechts-

streitigkeiten einläßt, anstatt sich um seinen Lebensunterhalt zu kümmern.44 Zumindest indirekt ist das Gleichnis also an den Adressaten des Gedichtes, an Perses, gerichtet. Ein solcher - wenn auch nur mittelbarer - Bezug des Gleichnisses auf den Adressaten bzw. Hörer ist in den Epen Homers nicht möglich, weil der homerische Erzähler sich, wie gesagt, anders als der Verfasser eines Lehrgedichtes nie an einen Adressaten richtet.47 In der Auswahl der Gleichnismotive und in der Art ihrer Ausgestaltung steht Hesiod eindeutig in der Tradition der epischen Dichtung, mag er sie auch in Einzelheiten variieren. Die Funktion der hesiodeischen Gleichnisse unterscheidet sich jedoch durch den veränderten Kontext mitunter erheblich von der ihrer homerischen Gegenstücke, so daß sich der πρώτος βνρβτης der Lehrdichtung in einigen Gleichnissen bereits deutlich von der erzählenden Epik absetzen läßt.

Untätigkeit; der mit dem Verlust des Ansehens verbundene Versuch, auf Kosten anderer durchs Leben zu kommen, die zweite, aus der Sicht Hesiods wichtigere. 44 So ζ. B. Aristoph. vesp. 1114; Plat. resp. 8,552c2-4. Daß Hesiods Drohnenvergleiche insbesondere der der Erga - den Ausgangspunkt für das vor allem von spätantiken Literaten gern verwendete Schimpfwort »Drohne« bilden, wie Stephanus, ThGl V, p.1538 s.v. κηφην (dort auch weitere Belege) vermutet, ist unwahrscheinlich: Es wird sich wohl um ein schon zu Hesiods Zeiten geläufiges Bild gehandelt haben, das dieser in sein Werk eingearbeitet hat. 45 Das geht deutlich aus Hes. op. 299-302 hervor: epyafrv, Πέρσι;, Siov ytvoq, οφρα at Αίμος / βχϋαίρΐ] [...] / Αίμος yap τοι ττάμταν άίργφ σύμφορος άνδρί. 46 Hes. op. 27-35. 47 Vgl. Pöhlmann (1973), 836f.

56

Die griechische Lehrdichtung

b. Empedokles Die relativ große Anzahl von Gleichnissen, die in den Fragmenten von Empedokles' philosophischem Lehrgedicht Περί φύσεως erhalten sind, läßt die Wertschätzung des Autors für dieses Darstellungsmittel erkennen. Die philologische Forschung hat sich mit den empedokleischen Gleichnissen ausführlicher beschäftigt als mit den Gleichnissen der übrigen griechischen Lehrdichter, da Empedokles als ein Denker gilt, der auf der Schwelle vom >mythischen< zum >rationalen< Denken steht und dessen Werk aus diesem Grund das Bindeglied zwischen Epik und Naturwissenschaft darstellt. Insbesondere die miteinander korrespondierenden und zum Teil aufeinander aufbauenden Untersuchungen von O. Regenbogen, H. Diller, W. Kranz und B. Snell setzen sich relativ ausführlich mit den empedokleischen Gleichnissen in ihrem Verhältnis zu Homer und zur späteren Fachprosa auseinander48 und leisten viel zum Verständnis ihrer Eigenart, so daß sich auch die folgenden Ausführungen im wesentlichen auf die von diesen Forschern gewonnenen Ergebnisse stützen. Die Motive seiner Gleichnisse entnimmt Empedokles ausnahmslos dem handwerklich-technischen Bereich.49 Sie dienen ihm nicht mehr zur Veranschaulichung oder Ausdeutung von Handlungen epischer Helden, sondern zur Illustration, Erklärung und auch zum Beweis von Abläufen oder Gesetzmäßigkeiten in der Natur, wie es die Thematik des Gedichtes erfordert. Aus diesem Grund wird Empedokles gern als Wegbereiter der »wissenschaftlichen Methode der Hypothesenbildung durch Analogieschluß«50 angesehen, da seine Gleichnisse nachweislich auf die Entwicklung dieses wissenschaftlichen Beweisverfahrens, das auch in den hippokratischen Schriften Περί -γονής, Περί φύσιος παιδίου und Περί νούσων wesentlicher Bestandteil der Argumentation ist, starken Einfluß gehabt haben.51 Empedokles kann mit seinen Bildern zwar an die bereits erwähnte Tradition der handwerklich-technischen Gleichnisse bei Homer anknüpfen - mit dem Bild der Verdickung von Milch durch Zugabe von Feigenlab (B 33 D.-K.)

48 Regenbogen (1930), Diller (1932), Kranz (1938), Snell f1980). 49 Allzu hypothetisch ist wohl die Annahme von Kranz (1938), 107, daß es sich bei Frg. Β 101 D.-K. (fagdhunde auf der Fährte) um ein Gleichnis zur Erläuterung des Geruchssinns gehandelt habe; siehe auch unten S. 127 Anm. 160. 50 Diller (1932), 14. 51 Regenbogen (1930), 141-194, zu Empedokles als »Erfinder« dieses Verfahrens vgl. ebenda 158-160.

Die griechische Lehrdichtung

57

rekurriert er sogar auch in der Auswahl des Motivs deutlich auf das homerische Epos52 - er ist jedoch gezwungen, diese in manchen Punkten weiterzuentwickeln und den Bedürfnissen seines Gedichtes anzupassen. Dies macht sich zunächst rein äußerlich in der Länge seiner Gleichnisse bemerkbar. Die technischen Gleichnisse aus Περί φύσεως sind, soweit sie vollständig erhalten sind, sehr viel ausführlicher als homerische Gleichnisse ähnlichen Inhalts. Homer begnügt sich in seinen handwerklich-technischen Gleichnissen meist mit einem knappen Hinweis auf den Vorgang, der seine Ausführungen illustrieren soll; auf eine ausführlichere Beschreibung verzichtet er jedoch in der Regel, da er ihn beim Leser als bekannt voraussetzen zu dürfen glaubt. Empedokles hingegen liefert in seinen Vergleichungen nicht nur detaillierte Beschreibungen des jeweiligen Prozesses, sondern verweist den Leser bisweilen sogar explizit auf die physikalischen Gesetzmäßigkeiten, die hinter diesem Prozeß stehen. Besonders deutlich wird das in Fragment Β 84 D.-K.: Empedokles vergleicht Bau und Funktion des menschlichen Auges mit dem Bau und der Funktion einer Laterne. Sowohl dieses wie auch jene besitzen eine dünne Membran, die das Licht zwar durchläßt, Regen und Wind jedoch abhält. Durch den weitgehend parallelen Bau der Verse 5 und 11 - φως δ' εξω δκχϋρώισκον, όσον ταναώτβρον ηεν und ττϋβ δ' el-ω διίβσκον, όσον ταναωπρον

ηει> - insbesondere durch die

zweimalige Wiederholung der erklärenden Formulierung όσον ταναώτβρον ηεν signalisiert der Dichter auch sprachlich die Identität der physikalischen Gegebenheiten, die Lichtdurchlässigkeit bzw. Wasserundurchlässigkeit ermöglichen. Sachliche und sprachliche Kongruenz wiederum sind unbedingt erforderlich, um aus dem handwerklich-technischen Bild dieselben Gesetzmäßigkeiten für den Vorgang in der Natur ableiten zu können, den das Bild illustrieren soll: Nur so wird das Gleichnis zum Beweismittel. Die >beweisende< Funktion, die den Gleichnissen im Werk des Empedokles zukommt, macht noch eine weitere Änderung gegenüber den homerischen Vorbildern erforderlich. Anders als Homer, dessen Gleichnisse nicht selten in der Parabole über das im Haupttext Gesagte hinauswachsen, achtet Empedokles streng auf die Kongruenz von Bild und Sache. Dazu gehört auch, daß er die Übertragung des Bildes auf den zu illustrierenden Sachverhalt selber vornimmt. Die Interpretation des Gleichnisses wird somit nahezu vollständig vom Autor

52 Ii. 5,902-905, vgl. Kranz (1938), 102. Leider ist das empedokleische Fragment zu kurz, als daß man einen ergiebigen Vergleich mit der homerischen Vorlage durchführen könnte; es zeigt aber m. E., daß es Empedokles bei der Auswahl seiner Bilder nicht in erster Linie auf Originalität ankam, sondern vor allem auf ihre Aussagekraft.

Die griechische Lehrdichtung

58

geleistet, um die Gefahr von Mißverständnissen auf ein Minimum zu reduzieren, eine unabdingbare Voraussetzung für jede Art von wissenschaftlicher Beweisführung. Obwohl die empedokleischen Gleichnisse auf den ersten Blick in ihrer Funktion und in der Auswahl der Motive recht homogen wirken, lassen sich doch nach dem erhaltenen Material zwei Vorgehensweisen unterscheiden. Im ersten Fall beschreibt Empedokles in dem von ihm ausgewählten Bild eine bestimmte handwerkliche Tätigkeit, anhand derer er Entwicklungen im Kosmos dem menschlichen Vorstellungsvermögen zugänglich machen will. Das Farbengleichnis (B 23 D.-K.) zum Beispiel soll die Entstehung aller Gegenstände aus der Mischung bestimmter Grundelemente veranschaulichen. Empedokles schildert in der Parabole die verschiedenen Arbeitsschritte, die Maler bei der Bemalung von άναϋηματα vollziehen: Auswahl der Farben, Mischung im richtigen Verhältnis (άρμονίη), schließlich die Abbildung verschiedener Gegenstände. Das Ergebnis wird vom Dichter durch die Aufzählung der unterschiedlichen Motive, mit denen die Maler die άναϋηματα schmücken, ausführlich dargestellt, da es für die Argumentation eine zentrale Bedeutung hat, geht es dem Verfasser doch darum, eine Theorie der Entstehung der verschiedenen Gegenstände zu entwickeln. Da nun der Vorgang der Elementemischung als solcher nicht beobachtbar ist, muß er ein Bild auswählen, in dem das vergleichbare Resultat dem Hörer die Identität der Wege suggeriert, dieses zu erhalten. Beim zweiten Typus werden anhand der Funktion technischer Geräte Vorgänge, die in der Natur oder im menschlichen Organismus ablaufen, veranschaulicht oder gar dem Verständnis des Lesers erst erschlossen: Bau und Funktion einer Laterne erklären Bau und Funktion des Auges (B 84 D.-K.); die Wechselwirkung von Luft und Blut in den Adern wird durch die Funktion einer Klepsydra erläutert (B 100 D.-K.). 53 Viel stärker als bei dem MalerGleichnis legt Empedokles hier Wert auf den Prozeß als solchen, auf seine beliebige Wiederholbarkeit. An seinem Ende braucht somit kein vorweisbares Ergebnis zu stehen. So sehr sich Empedokles' Gleichnisse in der Art ihrer Darbietung und in ihrer Funktion von den Gleichnissen der Epen Homers entfernen, so sehr stehen sie ihnen jedoch nahe, was ihre sprachlich-stilistische Ausgestaltung angeht. Obwohl es Empedokles vor allem auf die handwerklich-technischen

53 Zur Erklärung dieses sehr komplizierten Gleichnisses vgl. Regenbogen (1930), 192-194 (Beilage IV).

Die griechische Lehrdichtung

59

Vorgänge ankommt, werden diese trotz ihres oftmals experimentellen Charakters nie als Experimente geschildert, sondern in den meisten Fällen - ganz ähnlich wie die aus diesem Bereich stammenden homerischen Bilder - im alltäglichen Leben durch Angabe einer konkreten Person und Situation verankert. Dabei handelt es sich wohl kaum nur um »poetische Eierschalen«, wie B. Snell es formuliert hat.54 Zweifelsohne ist Empedokles allein deswegen, weil er seine Gedanken in gebundener Sprache darstellt und sich dadurch in der epischen Tradition bewegt, in seinem Stil stärker an Homer orientiert als die Verfasser naturwissenschaftlicher Prosatraktate. Er kommt seiner Leserschaft aber auch entgegen, wenn er Vergleichungen in ihrer traditionellen Form präsentiert. Darüber hinaus dient der >alltägliche* Rahmen, innerhalb dessen sich bei Empedokles die Gleichnishandlung vollzieht, aber auch dazu, dem Adressaten des Gedichtes Gesetzmäßigkeiten plausibel zu machen, die in der Theorie eben nicht alltäglich wirken - ein stilistischer Kunstgriff des Dichters, um die Glaubwürdigkeit seiner Aussagen zu steigern. Zusammenfassend kann man sagen, daß Empedokles der erste für uns faßbare Lehrdichter ist, der auf der Grundlage homerischer Gleichnisse eine Gleichnistechnik entwickelt, die speziell auf die Erfordernisse didaktischer Poesie abgestimmt ist und unmittelbar der Vermittlung von Lehrstoff dient. In seinen Gleichnissen ist daher die Spannung zwischen Dichtung und Lehre, wie sie für didaktische Poesie typisch ist, besonders gut erkennbar.

c. Arat Die Phainomena Arats sind das früheste Zeugnis hellenistischer Lehrdichtung; ein Werk, das bei den Römern in hohem Ansehen stand, wie seine zahlreichen lateinischen Ubersetzungen sowie die häufigen Zitate und Reminiszenzen bei römischen Autoren dokumentieren. Arats 1154 Verse umfassendes Gedicht über Sternbilder und Wetterzeichen enthält neben einer ganzen Reihe von Kurzvergleichen55 auch drei Gleichnisse, die alle in der ersten Hälfte der Phainomena (1-558) stehen. Diese Zahl erscheint zunächst als gering, zumal keines der Gleichnisse Arats mehr als fünf Hexameter beansprucht, seine Bilder also schon rein äußerlich sehr viel kürzer sind als die Gleichnisse der narrativen Epik. Für ein Gedicht wie die Phainomena ist sie jedoch erstaunlich hoch, und 54 Snell fl980), 196. 55 Phaen. 45; 296; 656; 961f.; 979f.; 986f.; 993; 1039f.; 1042f.

60

Die griechische Lehrdichtung

zwar aus mehreren Gründen. Alle Phainomena-Gleichnisse dienen unmittelbar der Veranschaulichung des Stoffes und werden dementsprechend ausschließlich in den »lehrhaften« Partien des Gedichtes eingesetzt. Der Lehrgegenstand insbesondere des ersten Teils der Phainomena und die Art, wie er vom Dichter präsentiert wird, unterscheidet sich erheblich von dem früherer Lehrgedichte. An die Stelle der Schilderung von Arbeitsleben (Hesiod, Erga) oder Vorgängen in der Natur (Empedokles) tritt bei Arat die Beschreibung der Gestalt der am nächtlichen Himmel sichtbaren Sternbilder. Seine sprachliche Darstellung ähnelt einer epischen Ekphrasis.56 Wenn Arat in diesem Abschnitt ausgeführte Gleichnisse einsetzt, verwendet er sie somit in einem Kontext, in dem sie im heroischen Epos gewöhnlich gemieden werden.57 Das bedeutet, daß seine Gleichnisse andere Erfordernisse zu erfüllen haben als solche, die der Illustration eines seiner Natur nach dynamischen Stoffes dienen. Es bedeutet aber auch, daß Arat durch den Einsatz von Gleichnissen in diesem ungewöhnlichen Umfeld ungewöhnliche Effekte erzielt. In dem ersten ausgeführten Gleichnis der Phainomena (Phaen. 192-195) vergleicht Arat die Anordnung der Sterne, die das Sternbild der Kassiopeia konstituieren, mit einem Schlüssel, mit dem eine von innen verriegelte, zweiflügelige Tür geöffnet werden kann. Dieses auf den ersten Blick recht unscheinbar wirkende Bild ist für die arateische Gleichnistechnik in mehrerlei Hinsicht aufschlußreich. Ähnlich wie Empedokles erläutert auch Arat seinem Leser einen unbekannten Sachverhalt, die Anordnung der Kassiopeia-Sterne, durch ein Gleichnis. Gegenstand des Vergleichs sind jedoch nicht zwei ähnliche Vorgänge, sondern die ähnlichen Formen der beiden Gebilde. Der Vergleich tritt an die Stelle einer abstrakten geometrischen Bezeichnung. Auch die Tatsache, daß der Dichter in der Parabole der starren Unbewegtheit des Gegenstandes entgegenzuwirken versucht, indem er die Form des Schlüssels durch Umschreibung seiner Funktion näher bestimmt und dem Bild dadurch eine gewisse Bewegung verleiht,58 kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß durch das Bild gerade die Unbewegtheit der zu illustrierenden Sache unterstrichen

56 Vgl. Caldini Montanari (1992), 5; allgemein zum Ekphrasis-Charakter von Sterndichtung Hübner (1987), 30. Erst ab V. 558 (Abschnitt über die Paranatellonten) zeigt Arat die Himmelskugel in Bewegung. 57 Siehe oben S. 48. 58 Für die Bewegung ist vor allem das Verbum άνακρονουσιν (193) verantwortlich. Eine ähnliche Wirkung erzielt Arat im Sachteil durch die Formulierung ίνδά\\οντοα ύστερες (194f.), durch welche die Sterne gleichsam zum handelnden Subjekt gemacht werden. Anders der Arat-Übersetzer Germanicus (198): talis dispostta est stellis [sc. Cassiepia],

Die griechische Lehrdichtung

61

wird. Daß weder Homer noch die früheren Lehrdichter Gleichnisse in dieser Form einsetzen,59 verstärkt die Wirkung des arateischen Bildes. Die Anordnung der Sterne, die in der astrologischen Tradition zwar durch die Bezeichnung »Kassiopeia« personalisiert wird, wird durch den Vergleich zum toten Gegenstand: Es handelt sich um ein schlecht sichtbares, aus in Form eines Schlüssels angeordneten Einzelsternen bestehendes Gebilde. Jegliche Assoziation mit einer lebendigen Person wird an dieser Stelle vom Dichter auf diese Weise konsequent ausgeschlossen - ungewöhnlich angesichts der in einer Ekphrasis immer wieder betonten >realistischen< Darstellung und der Tatsache, daß Arat bereits mit άτοτίίνβται ωμων (195) die Menschengestalt und mit φαίης Ktv άνιάζειν km παώί (196) den Mythos wieder in Erinnerung ruft. Genau anders in seiner Wirkung ist dagegen das zweite Phainomena-Gleichnis (342-348). Hier wird die vom Heck her aufgehende Argo mit einem in den Ankerplatz einlaufenden Schiff verglichen, das von den Ruderern rückwärts an das Ufer herangefahren wird.60 Gegenstand des Vergleichs ist somit die ungewöhnliche Richtung, in der die Argo über den Horizont gleitet, also die Bewegung, die das Sternbild vollzieht. Sie wird durch den Vergleich sogar noch übersteigert, da der Aufgang der Argo-Sterne sich sehr viel langsamer vollzieht, als das Gleichnis glauben macht. Im Unterschied zu dem früheren Gleichnis geht Arat auf die tatsächliche Form, in der das Bild am Himmel sichtbar ist, hier nicht ein. Obwohl die Argo nur mit ihrem Heck verstirnt ist, suggeriert Arat mit der Beschreibung des in den Hafen einlaufenden Schiffes ihre Vollständigkeit. Der Leser soll sich aufgrund seiner Beschreibung die Argo als rückwärts über den Himmelsbogen fahrendes Schiff vorstellen. Arat durchbricht also mit dem Gleichnis die rein deskriptive Ebene der Ekphrasis, indem er den in der Ikonographie des Sternhimmels dargestellten 59 Ganz anders das einzige Gleichnis in der Ekphrasis des Achilleus-Schildes Horn. Ii. 18,599-601, das die im Reigentanz ausgeführten Bewegungen mit der Drehung einer Töpferscheibe veranschaulicht. Vergleichbar mit Arat ist allenfalls Theocr. 22,48-50, wo - ebenfalls im Rahmen einer Ekphrasis - die Muskelpakete auf den Armen des Amykos mit vom Wasser glattgeschliffenen Felsen verglichen werden: ht> Se μύες OTtptdiai βραχίοσιν άκρον ύ τ ' ωμον / ϊστασαν, ήύτε -κίτροι ολοίτρσχοι, οϋστΐ κυλίνδων / χείμαρρους τοταμος μτγάΚαις χepiQeat

βίκαιςί·..]. Obwohl der Dichter deutlich auf Horn. II. 11,492-496 (χπμάρρους 493) und 13,137-145 (όλοοίτρόχος 137) Bezug nimmt, geht es hier gerade nicht um den Vergleich zweier Bewegungen, sondern um die Ähnlichkeit von Form und Aussehen der Muskeln mit glatten Steinen. Die Unbewegtheit des zu illustrierenden Gegenstandes wird durch Ιοταααν (49) zusätzlich unterstrichen, vor allem aber durch die Umarbeitung von extrem >dynamischen< homerischen Gleichnissen. 60 Bei Verg. georg. l,303f. dient nahezu dasselbe Bild zur Illustration der Erleichterung, die die Bauern nach dem Einbringen der Ernte am Ende des Sommers empfinden.

62

Die griechische Lehrdichtung

Gegenstand mit seinem Gegenstück in der Realität parallelisiert.61 Das Gleichnis ist für ihn ein weiteres Mittel, auf die realistische Darstellung der Sache aufmerksam zu machen (auch wenn diese reine Fiktion ist); es hat somit dieselbe Funktion wie die für den Ekphrasis-Stil der Phainomena typischen Beteuerungen der >Lebendigkeit< der dargestellten Objekte, von denen es sich im Prinzip lediglich durch seine größere Ausführlichkeit unterscheidet.62 Beinahe in der Mitte des Werkes steht das letzte ausgeführte Gleichnis der Phainomena (529-533). Im Anschluß an die Beschreibung der am Himmel sichtbaren Sternbilder und der Milchstraße geht Arat auf die vier gedachten Kreise (κύκλα) ein, durch welche die Himmelskugel gegliedert wird: Nördlicher und südlicher Wendekreis, Äquator und der zu den äußeren Kreisen schräg stehende und den Äquator in der Mitte durchschneidende Tierkreis. Die technische Vollkommenheit und künstlerische Qualität dieser Konstruktion, die sich aus dem Nebeneinander und Gegeneinander der verschiedenen Kreise ergibt, unterstreicht Arat durch ein Gleichnis: Sie stehe der Versiertheit eines Handwerkers, der bei Athene in die Lehre gegangen ist, in nichts nach.63 Mit der Auswahl des Bildmotivs verweist Arat auf entsprechende Handwerkergleichnisse bei Homer und Empedokles. Die umständliche Umschreibung für den Handwerker Άΰηναίης

χάρων δίδιδοτγμίνος ανηρ (529) erinnert an

ähnliche Periphrasen in den handwerklich-technischen Gleichnissen Homers.64

61 Ähnlich angrenzend sind die Gegenstände Od. 5,249-251 (Floß - Lastkahn); Apoll. Rhod. 4,933-938 (Delphine umschwimmen ein Schiff - Nymphen umschwimmen die Argo). 62 So z.B. Phaen. 252 ola διάκων, noch deutlicher 444 ξωοντι ϊοικώς. Diese Technik findet sich bereits in der Schildbeschreibung der pseudohesiodeischen Aspis, z.B. [Hes.] scut. 194 ώς et ζϊύονς ίναρίζων; 215 άτορρίψοντι άχκως; 244 ζωησιν ίκελοα. Zu ίοικως c. Part, als typisches Mittel des Ekphrasis-Stils vgl. Traina (1969), 71-78; speziell zu Arat Caldini Montanari (1992), 1-9. 63 Das Verständnis der Textstelle hat schon in der Antike Schwierigkeiten bereitet. Sowohl die Erklärungen einiger Scholiasten als auch die lateinischen Arat-Ubersetzer (insbesondere Cicero und Avien) verkehren die Aussage Arats in ihr genaues Gegenteil, da sie das aratische άλ\φ mit ούτω gleichsetzen und so zu der Auffassung gelangen, Arat habe die Fertigkeit des Handwerkers hinter die des Demiurgen, der den Kosmos schafft, zurücksetzen wollen, um dessen Leistung noch weiter aufzuwerten (vgl. Martin, Arat. Phaen. [K 1956], 75; Erren [1967], 166-168). Doch kann man die Formulierung Arats wohl kaum anders verstehen als Martin: »Aratos dit [...] que les cercles celestes sont aussi bien adaptes Tun ä l'autre que si un charron professionnel s'en etait occupe«, ähnlich auch Kidd, Arat. Phaen. (K 1997), 368. Diese Aussage bedeutet keine Zurücksetzung des Schöpfergottes oder nur ein »zweifelhaftes Lob«, wie Erren (166) schreibt. Arat will ja nicht Schöpfergott und Mensch vergleichen (von Erstgenanntem ist in dem gesamten Abschnitt keine Rede); vielmehr geht es ihm darum, das gesamte Gefüge als handwerklich durchdachte Konstruktion aufzuweisen. 64 Horn. IL 15,411f. ός pit re πάσης / el· ΐίδη αοφίης ντοΰημοσύνησιν ' Αύηνης; Od. 6,232f. ανηρ / Ιδρις, ον "Ηφαιστος Se&aev και Παλλάς Άΰηνη. - Daß in dem Odyssee-Gleichnis die

Die griechische Lehrdichtung

63

In der Durchführung des Gleichnisses weicht Arat jedoch trotz dieser deutlichen Anspielung auf die epische Tradition von den Vorgaben bei Homer und Empedokles ab. Der in dem Bild beschriebene handwerkliche Vorgang liefert keine wirkliche Illustration des zuvor dargestellten Stoffes. Vielmehr ist die Beschreibung des von dem Handwerker hergestellten Gegenstandes so vage gehalten, daß eine eindeutige Bezeichnung nicht möglich ist.65 Allein der Kontext, in dem Arat das Gleichnis verwendet, läßt vermuten, daß er ein Modell meint, in dem die Anordnung der Kreisbahnen zueinander dargestellt ist. Mit τοϊά re και τόσα (531) verweist er sogar explizit auf das himmlische Vorbild, an dem sich der Handwerker bei seiner Konstruktion orientiert, so daß nicht mehr das Bild die Sache illustriert, sondern seinerseits erst durch aus dem Haupttext zu entnehmende Erläuterungen verständlich wird. Mit den κυλινδόμβνα τροχάλαα (530) können nur die zuvor beschriebenen Himmelskreise gemeint sein. Von einem Vergleich zweier unterschiedlicher Gegenstände kann in diesem Fall somit ebensowenig die Rede sein wie in dem oben besprochenen Argo-Gleichnis.w Das im Haupttext beschriebene Objekt wird in der Parabole lediglich auf eine überschaubare Größe reduziert; vergleichbar im eigentlichen Sinne ist allein die Raffinesse der Konstruktion, die sich bei beiden Gegenständen nicht unterscheidet, wie Arat durch die Formulierung oü Ktv aKKij hervorhebt. Dennoch hat das Gleichnis eine wichtige Funktion für das Verständnis des in dem Abschnitt vermittelten Lehrstoffes. In den dem Gleichnis vorausgehenden Versen hat der Dichter jeden der einzelnen Himmelskreise für sich betrachtet und seine Lage auf der Himmelskugel durch die Angabe der auf ihm

Tätigkeit einer Gottheit (Athene »verschönert« Odysseus) veranschaulicht wird, spricht ebenfalls gegen Errens Auffassung (s. vorige Anm.), die Qualität göttlichen Schaffens könne durch den Vergleich mit menschlicher Geschicklichkeit in ungebührender Weise zurückgesetzt werden. Die Erwähnung von Göttern als Lehrmeister der Menschen wertet die Fertigkeit des Handwerkers zusätzlich auf und legitimiert dadurch den Vergleich der Tätigkeit von Göttern mit menschlichen Tätigkeiten. 65 Vgl. Erren (1967), 172f. Erren selbst äußert S. 172 Anm. 2 die Vermutung, daß in Arats Vorlage eine Armillarsphäre beschrieben worden sei, muß aber zugeben, daß das von Arat beschriebene Objekt »so unvollständig [ist], daß die Beschreibung auch ihr nicht mehr entspricht« (172). - Ob das Gleichnis in Arats Vorlage bereits gestanden hat, halte ich allerdings für fraglich. Gedacht hat Arat bei seiner Beschreibung am ehesten an eine Art Himmelsglobus (an dem sich im übrigen sein gesamtes Lehrgedicht orientiert; Anschauungsmaterial bei Stückelberger [1994], 29-46 m. Taf. 3-5). Wenig überzeugend hingegen Martin, Arat. Phaen. (K 1956), 74: χειρών δΐδι&οτ/μίνος άνηρ sei eine Periphrase für »charron«, ähnlich Ludwig (1963), 445f., der κυλινδόμενα τροχάλαα als Reminiszenz an den parmenideischen Dichterwagen auffaßt und daher mit »wirbelnde Räder« wiedergeben will. Zu dem Problem zuletzt Kidd, Arat. Phaen. (K. 1997), 368. 66 Siehe oben S. 61f.

64

Die griechische Lehrdichtung

liegenden Sternbilder beschrieben. Mit dem Gleichnis bietet Arat seinem Leser nun gleichsam die Synthese der im vorausgehenden Abschnitt beschriebenen Einzelteile. Diese Synthese wird von ihm allerdings nicht allein auf gedanklicher Ebene vollzogen, sondern anhand einer konkreten handwerklichen Tätigkeit materialisiert (κολλησαιτο [530]),67 die zugleich eine Art >Außenschau< des Kosmos ermöglicht. Zudem hebt Arat hervor, daß sich das von ihm beschriebene Modell in Bewegung befindet (κυλινδόμΐνα τροχάλβια [530]).68 Die Verbindung der verschiedenen Himmelskreise untereinander bildet wiederum die Grundlage für die weiteren Ausführungen des Dichters, in denen es um die Bewegungen des Kreissystems im allgemeinen und den Auf- und Untergang der Bilder des Tierkreises im besonderen geht. Eine nähere Betrachtung der Phainomena-Gleichnisse zeigt, daß sich Arat in ihrer Verwendung sehr weit von den Vorgaben der Gleichnisse der erzählenden Epik entfernt. Er scheut sich nicht, von dem Darstellungsmittel »Gleichnis« in Zusammenhängen Gebrauch zu machen, für die es ursprünglich nicht geschaffen ist. Wenn er sich auch in Form und Stil an den Gleichnissen der erzählenden Epik orientiert, so ist das doch nicht mehr als eine Hülle für eine Ausdrucksform, für die die Bezeichnung >episches Gleichnis< eigentlich nur noch bedingt zutrifft. d. Nikander Außergewöhnlich großzügig stattet Arats hellenistischer Kollege Nikander von Kolophon69 seine Gedichte mit Gleichnissen aus. Die Theriaka enthalten in 958 Versen elf Gleichnisse, deren Umfang über die Länge eines Hexameters hinausgeht. Noch höher ist ihr Anteil am Gesamttext in den Alexipharmaka, in denen auf 630 Verse zwölf Gleichnisse kommen, die vor allem in der ersten Hälfte des Gedichtes Verwendung finden. Kurzvergleiche und Adjektive mit implizitem Vergleich gehören ebenfalls zu den festen Bestandteilen des nikandreischen Stils.70 Die Affinität Nikanders zu den sprachlichen Mitteln Gleichnis und Vergleich - in den Alexipharmaka reiht er den Vorgaben der erzählenden Epik

67 Aus ähnlichen Gründen zeigt auch Piaton im Timaios den Kosmos in seiner Entstehung, obwohl dieser nach seiner Lehre ewig und somit auch niemals entstanden ist. 68 Vgl. Hübner (1984), 250 Anm. 376. 69 Zur zeitlichen Einordnung Nikanders vgl. Gow - Scholfield, Nie. (Ed 1953), 5-8. 70 Vgl. Schneider (1962), 102-104.

Die griechische Lehrdichtung

65

entsprechend bisweilen einen Kurzvergleich und ein Gleichnis71 oder sogar zwei Gleichnisse72 aneinander - ist zunächst einmal durch die Thematik seiner Werke bedingt. Nikanders erklärtes Ziel ist ja, den Adressaten der Theriaka und Alexipharmaka über zoologisch-pharmakologische Sachverhalte zu informieren.73 In einem solchen Zusammenhang sind Gleichnisse und Vergleiche wichtige Hilfsmittel zur didaktisch ansprechenden Vermittlung des Stoffes, da sie dem Dichter allzu theoretische Ausführungen ersparen. Das Aussehen von dem Leser unbekannten Tieren oder die verschiedenen Vergiftungssymptome sollen durch Analogisierung mit einem bekannten Sachverhalt erschlossen werden und dadurch Identifikation oder Diagnose erleichtern. Umständliche Beschreibungen und abstrakte Maßangaben werden so in anschauliche Bilder umgesetzt: Die bräunliche Farbe der Aspis-Viper74 gleicht der Farbe des Nilwassers, wo es sich mit dem Meer vermischt (Ther. 174-176); der Geruch der Dryinas ähnelt dem von Leder auf einem verschwitzten Pferderücken (Ther. 421-423), die Bißwunde des Drakon sieht aus wie ein Mäusebiß (Ther. 446f.). Derartige Vergleichungen sollen ihrer Grundidee nach einen besseren Eindruck von der beschriebenen Sache vermitteln. Sie haben somit innerhalb des Textes eine ganz ähnliche Funktion, wie man sie auf optischer Ebene durch die Illustration der Werke Nikanders mit Abbildungen der im Text beschriebenen Tiere zu erreichen versuchte;75 sie gehen sogar noch darüber hinaus, da der Dichter mit ihnen sogar Vorstellungen von Geruch oder Fortbewegungsart eines Tieres oder der Symptome von Vergiftungen geben kann - sie sind jedoch als sprachliches Phänomen in einem solchen Sachzusammenhang nicht von vornherein Kennzeichen eines poetischen Stils. Zwar werden auch bei Homer Maß-, Zeit-, Färb- und Temperaturangaben durch Vergleiche umschrieben;76 man kann aber davon ausgehen, daß Verfasser zoologisch-medizinischer Prosatraktate ebenfalls Vergleiche dieser Art nutzen, um ihren Ausführungen größere Anschaulichkeit zu verleihen.77 Die Verwendung von Vergleichungen an sich 71 Nie. Alex. 29; 30-35; ähnlich Alex. 159; 160f. 72 Nie. Alex. 215f.; 217-223. 73 Vgl. Nie. Ther. 1-4; Alex. 4f. 74 Die Bezeichnungen der Tiere und Pflanzen richten sich nach den von Gow - Scholfield in ihrer Ausgabe (1953) vorgeschlagenen Identifikationen. 75 Vgl. Tert. scorp. 1, p.l44,4f.: Tot pernicies quot et species, tot colores quot et dolores: Nicander scribit et pingit-, zu den illustrierten Ausgaben Nikanders (vor allem der Nikander-Paraphrase im Wiener Dioskurides) Stückelberger (1994), 85 m. Taf. 23 u. 24. 76 Siehe oben S. 50f. 77 Vgl. Schneider (1962), 102. In die heroische Epik finden solche Vergleichungen Eingang ζ. B. Apoll. Rhod. 3,855-859 (Beschreibung des »Prometheuskrautes«), mit deutlichem Bezug zum Lehrgedicht Lucan 9,712-714 (Färbung der Ophites-Schlange).

66

Die griechische Lehrdichtung

bedeutet also noch keine Absetzung von der Prosavorlage, im Gegenteil: Insbesondere durch die zahlreichen Kurzvergleiche bekommen die Werke das Kolorit eines Fachbuches, das sich um Verständlichkeit bemüht; ein Eindruck, den Nikander möglicherweise durch die Übernahme des einen oder anderen Vergleichs oder Vergleichsmotives aus seinen Quellen verstärkt hat.78 Die Ziele, die Nikander in seiner Eigenschaft als Lehrdichter mit den Vergleichungen der Theriaka und Alexipharmaka verfolgt, gehen allerdings in vielen Fällen über die Vorgaben der Fachprosa hinaus. Zum einen läßt sich vor allem für die Alexipharmaka feststellen, daß Gleichnisse und Vergleiche vom Dichter vielfach als kompositorisches Mittel eingesetzt werden, um die Aufzählung und Beschreibung der verschiedenen Vergiftungssymptome abzuschließen. Sie markieren oftmals das Ende eines Abschnittes7'. Zum anderen tragen diejenigen Gleichnisse, deren Entfaltung mehr als einen Hexameter in Anspruch nimmt, in ihrer Ausführlichkeit häufig überhaupt nicht direkt zur Illustration des Lehrgegenstandes bei. Vielmehr wird die von den Prosavorlagen vorgegebene und vom Kontext geforderte didaktische Funktion der Gleichnisse nicht selten geradezu in den Hintergrund gedrängt oder gar dem Leser als bloße Fiktion entlarvt. Die bildhafte Größenangabe der Aspis-Schlange (ασπίς) in den Theriaka »so dick wie ein Jagdspeer« (169-171) erweckt zwar zunächst den Eindruck, als solle auf leicht verständliche und eingängige Art Lehrstoff vermittelt werden. Zur Bezeichnung des Jagdspeeres verwendet Nikander allerdings das epische Wort cäyavki], das in der Literatur vorher nur bei Homer belegt ist80 und in den Scholien zu Nikander als erklärungsbedürftig erachtet wird.81 Ob dem antiken Leser der Umfang des Schaftes einer axyavkr\ geläufiger war als die Dicke der Aspis-Viper, ist somit fraglich, zumal auch die weiteren, in der Parabole enthaltenen Informationen keine zusätzlichen Erläuterungen zum Haupttext enthalten. Der Dichter lenkt im Gegenteil den Blick des Lesers ganz bewußt von der Maßangabe auf den Hersteller der αίγανέη - der im

78 Vgl. Schneider (1962), 102-104. Äußerst fragwürdig erscheint mir - selbst unter der Voraussetzung, daß Paulus vom Aegina Nikander nicht gekannt hat - allerdings Schneiders Versuch, durch Vergleich mit den Prosatraktaten des Paulus diejenigen Bilder zu ermitteln, die Nikander aus seiner Prosavorlage übernimmt. 79 Nie. Alex. 30-35; 125-127; 215-223; 259/258 (sie!); 292-297. 80 Vgl. LSJ s.v. αί-γανίη. Auf das quantitierende Gleichnis Horn. H. 16,589-592, dessen Gegenstand die Weite des οΰ-γανΐη-Wurfes ist, nimmt Nikander möglicherweise bewußt Bezug. 81 Schol. Nie. p. 17 K.: cäyavet\ St το άκόντιον άτο μέρους, του cüyeiou ιμάντος, ον Ο-α-γκυλούμενοι βαΚΧουσιν. Xeyei Se τοϋ μβοαγκύλον του άναιροϋντος τους ϋηρας [...]. Auch in der Metaphrasis des Eutecnius (p. 326 Sch.) ist αι·γανίη um der besseren Verständlichkeit willen durch άκόντιον ersetzt.

Die griechische Lehrdichtung

67

übrigen im Anschluß an homerische Handwerkergleichnisse82 als Subjekt der Parabole erscheint - und auf ihre Funktion. Aus der Ebene der wissenschaftlichem Darstellung wechselt er recht unvermittelt in den Bereich der Jagd, möglicherweise eine Anspielung auf die zahlreichen Jagdgleichnisse der erzählenden Epik. Nikander hat das Motiv aber wohl noch aus einem anderen Grund ausgewählt. Indem er das gefährliche Tier mit einer von Menschenhand geschaffenen Waffe zur Bekämpfung anderer gefährlicher Tiere vergleicht, ohne dabei allerdings auf sachliche Richtigkeit Wert zu legen,83 unterstreicht er noch einmal die Bedrohung, die die Aspis-Schlange für den Menschen darstellt und trägt so eher zur Emotionalisierung als zur Erhellung des Lehrgegenstandes bei. Dem Verständnis des Sachzusammenhanges ebensowenig zuträglich ist der Vergleich der Gestalt des Ichneumon mit der des Wiesels (Ther. 195-199). Auch hier bezeichnet Nikander in der Parabole das Tier mit dem ungewöhnlichen, nur mit Hilfe der Scholien zuweisbaren Wort ίκπς. 84 Auf Aussehen und Körperbau dieses Tieres - Informationen, die für den Lehrzusammenhang interessant wären und die Ausweitung des Vergleichs auch sachlich gerechtfertigt hätten - geht er nicht ein. Stattdessen schildert er in knapp vier Versen die Bedrohung, die eine ϊκτις für Vögel darstellt, die sie im Schlaf in ihren Nestern mitsamt ihrer Brut überrascht. Zur Beschreibung der Gestalt des Ichneumon, die Nikander seinem Leser mit dem programmatisch am Versanfang stehenden Wort μορφή (195) verspricht, tragen diese Verse nicht im geringsten bei; sie zeigen allerhöchstens, daß zwischen Ichneumon und ϊκης charakterliche Ähnlichkeiten bestehen: Beide sind räuberische Tiere. Während allerdings ersteres der gefährlichen Aspis-Viper die Stirn zu bieten vermag, vergreift letztere sich lediglich an schlafenden Vögeln und ihrer Brut; und während Nikander den Ichneumon als Bezwinger der Aspis-Viper feiert, gilt seine Sympathie in der Parabole den Vögeln und ihren αφαυρα τίκνa (198f.), erinnert das Gleichnismotiv doch an das Vogelgleichnis im 16. Gesang der Odyssee (Horn. Od. 16,216-219), dessen Thema die Klage der Vögel über die vom Landmann aus dem Nest geraubten Küken ist. Es kommt dem Dichter also in erster Linie darauf an, die Ικης trotz ihrer Ähnlichkeit zum Ichneumon geradezu als dessen

82 Möglicherweise nach Horn. D. 23,712: ώς or' άμάβονπς,

τους η κλντος τ)pape ήκτων

[··•]·

83 Die Scholiasten und Lexikographen beschreiben die oäyuvki) (-a) als leichten Wurfspieß ganz aus Eisen, der der Jagd auf Ziegen dient, vgl. Stephanus, ThGl I, 889f. s.v. axyotvka. 84 Schol. Nie. p. 19 Κ.: Ικτις Se η Xeyopeirq äypia γαλή [...].

68

Die griechische Lehrdichtung

charakterliches Gegenbild zu zeichnen, wozu die Beschreibung der Gestalt des Ichneumon nur den äußeren Anlaß liefert. Beide Beispiele zeigen trotz ihrer unterschiedlichen Gegenstände meines Erachtens deutlich, wie wenig es dem Dichter in Wirklichkeit darum geht, durch eine weitere Ausgestaltung der Vergleichsmotive das Verständnis des Lehrstoffes zu fördern; dieser Aspekt wird von ihm im Gegenteil sogar konsequent unterbunden oder tritt zumindest stark in den Hintergrund. Um so wichtiger für das Verständnis nikandreischer Gleichnisse sind die Bezüge zur literarischen Tradition. Auch die Gleichnisse sind für Nikander ein Mittel, seine Werke trotz ihres prosaischen Inhalts als Dichtung darzutun. Dieses Ziel erreicht Nikander durch direkte oder indirekte sprachlich-stilistische oder inhaltliche Anspielungen auf seine Vorgänger, wobei sich je nach Kontext oder Gestaltung der jeweiligen Vergleichung ganz unterschiedliche Wirkungen ergeben können. Die Integration von Gleichnissen der epischen und außerepischen Dichtung in ein didaktisches Epos ist besonders gut an solchen Stellen möglich, an denen sich der Lehrstoff der nikandreischen Gedichte ohnehin mit einer in der Dichtung ebenfalls behandelten Thematik (wenn auch nur im weitesten Sinne) berührt. So erinnert der Vergleich des mit Koriander (κόρων) Vergifteten mit rasenden Bacchantinnen (Alex. 160) nicht nur von seinem Bildmotiv her an die in der antiken Dichtung häufig verwendeten Bacchantinnengleichnisse,85 sondern dient hier wie dort der Veranschaulichung des anomalen Verhaltens eines Menschen. Von seinem Kontext und seiner Thematik her ganz ähnlich ist ein anderes Gleichnis aus den Alexipharmaka (30-35), in dem Nikander die mit Eisenhut Vergifteten mit trunkenen Silenen vergleicht. Obwohl sich das Gleichnismotiv »trunkene Silene« in der Literatur vor Nikander nicht nachweisen läßt, tut der Dichter doch alles, um dem Gleichnis eine epische Färbung zu verleihen. Dazu gehört zunächst einmal seine ungewöhnliche Länge. Mit sechs Hexametern ist das Silen-Gleichnis eines der längsten Gleichnisse Nikanders. Auch in der Ausgestaltung der Parabole orientiert er sich an der erzählenden Epik. Die Einführung der Hauptakteure als ΣιΚηνοι Ktpaolo Αιωνύσοιο τι&ηνοί (31), die einen ganzen Hexameter in Anspruch nimmt, erinnert stilistisch wiederum an die Periphrasen von Berufsbezeichnungen in den homerischen

85 Vgl. den Kurzvergleich Horn. D. 22,460: ώς φαμίνη μργάροto διίσσυτο μαινάδι Ιση [sc.' Ανδρομάχη]; aber auch in der späteren Dichtung findet dieses M o t i v in Ausgestaltung zum ausgeführten Gleichnis vielfach Verwendung, vgl. Pease, Verg. A e n . 4 (K 1935), 279 (zum Bacchantinnen-Gleichnis Verg. Aen. 4,300-303).

Die griechische Lehrdichtung

69

Gleichnissen.86 Den Gleichnissen der erzählenden Epik ebenfalls nachempfunden ist die ausführliche, schon beinahe umständliche Beschreibung der näheren Umstände, die zur Trunkenheit der Silene führen und den Leser trotz des - ebenfalls an den epischen Stil gemahnenden87 - vorausgegangenen Kurzvergleiches ähnlichen Themas88 ziemlich unvermittelt aus der wissenschaftlichen Darstellung herausreißen. Detailliert schildert der Dichter das Stampfen von Weintrauben (äypioeaaav

ΰποϋλίψαντβς

όπώρην [30]) und den Genuß des

Getränks (πρώτον k-παφρίξονη ττοτω φρίνα. ΰωρηχύεντβς

[32]). Die freudigen

Vorbereitungen zum Gelage stehen in scharfem Kontrast zu dem zuvor im Haupttext beschriebenen Ringen des Vergifteten mit dem Eisenhut-Gift, dessen Gefährlichkeit vom Dichter durch den Vergleich mit der fröhlichen Trunkenheit der Silene (33f.) zunächst verharmlost wird, um dagegen in der Antapodosis die tödliche Wirkung des Eisenhut-Giftes (κακή βφαρηότες arq [35]) um so stärker absetzen zu können. Auch für diese Technik der bewußten Inkongruenz zwischen Bild und Sache kann der Dichter auf Vorbilder in der erzählenden Epik zurückgreifen.8' Aus den Beispielen ist erkennbar, daß Nikander einerseits mit Hilfe der Gleichnisse die Zugehörigkeit seiner Werke zum Epos dokumentiert. Andererseits scheut er sich jedoch keineswegs, Motive des heroischen Epos in einen gänzlich unepischen Kontext zu übernehmen und dadurch schreiende Kontraste zu produzieren, die auf den modernen Leser geschmacklos wirken mögen.'0 In den Alexipharmaka vergleicht er etwa die lauten Magengeräusche bei der Vergiftung durch die Chamäleon-Distel (ίξία) in einem Doppelgleichnis mit dem Donnern des Olymp oder dem Geräusch des Meeres, das gegen die Klippen kracht (Alex. 286-290). Der didaktische Wert der beiden Bilder ist minimal, da die Parallele zwischen Magengeräuschen und Donnergrollen oder Meeresbrandung für jeden Leser sofort als komische Ubersteigerung der Sachlage erkenn-

86 Siehe oben S. 62. 87 Z.B. Horn. Od. 22,299-308. Shipp (z1972), 211 sieht in diesem Gleichnistypus einen Anhaltspunkt für die Genese des homerischen Gleichnisses aus dem Kurzvergleich. 88 Nie. Alex. 29 (Symptome bei Vergiftung durch Eisenhut entsprechen Symptomen bei Trunkenheit); auch dieser Kurzvergleich möglicherweise nach Horn. Od. 18,240: νβνστάζων κεφαλή, μεϋΰοντι ίοικως. 89 Z.B. Horn. H. 15,679-686. Der Dichter vergleicht den auf den Schiffen umherspringenden Aias mit einem Akrobaten, D. 22,162-166 die Verfolgung Hektors durch Achill mit einem Wagenrennen, obwohl er selbst zuvor betont hat, daß es eben nicht um einen sportlichen Wettkampf und die dafür ausgesetzen Preise (άέΰλια), sondern um einen Lauf auf Leben und Tod {irtpi φνχής) geht. 90 Vgl. Schneider (1962), 107.

70

Die griechische Lehrdichtung

bar ist, 91 auch wenn in dem Verbum ύτοβρομ£α (287) das βροντησιν (288) des ersten und das ΰποβρεμβται. (290) des zweiten Vergleichs bereits antizipiert wird. Davon abgesehen stellen die Motive beider Gleichnisse eher eine Beziehung zur epischen Dichtung denn zur wissenschaftlichen Prosa her. Bereits die Erwähnung des Olymp läßt den Leser die Sphäre der Götter und Heroen assoziieren; Blitz und Donner gelten im mythischen Bereich als Manifestationen von Zeus' göttlichem Willen, und der Olymp als Ausgangspunkt eines von Zeus gesandten Unwetters ist als Motiv sogar in einem Ilias-Gleichnis verarbeitet. 92 Mit dem Bild des Meeres, das mit Getöse gegen die Klippen kracht, nimmt Nikander ebenfalls ein Vergleichsmotiv der erzählenden Epik auf, das sowohl Homer als auch Apollonius gebrauchen, um das Geschrei einer großen Volksmasse zu veranschaulichen. 93 Zumindest mittelbar werden also das Walten des Zeus und das Geschrei der Akteure in einem heroischen Epos mit einem besonders unappetitlichen Vergiftungssymptom parallelisiert - zwei von Nikander offenbar bewußt unpassend ausgewählte Vergleichsgegenstände, die den Lehrstoff eher verfremden, indem sie ihn durch die Verarbeitung hoher epischer Bilder ins Lächerliche ziehen, als zu seinem Verständnis beitragen. Obwohl die besprochenen Gleichnisse Nikanders in Umfang, Motiven und Funktion im Kontext mitunter stark voneinander abweichen, wird die nikandreische Gleichnistechnik im wesentlichen von dem Antagonismus zwischen unpoetischem Stoff und poetischer Darstellung geprägt, der vom Dichter vielerorts sogar provoziert wird. Die ungewöhnliche Konzeption der nikandreischen Gleichnisse ergibt sich vor allem dadurch, daß der Dichter aus einem seinem Inhalt nach höchst prosaischen Kontext heraus Gleichnisse entwickelt, 94 die er in einigen Fällen - bisweilen sogar überdeutlich - an epische Vorbilder bindet. Die Illustration des Sachzusammenhanges ist dabei sekundär, obgleich sie in allen Gleichnissen als primär fingiert wird. Vor allem geht es darum, beim Leser durch Auswahl und Gestaltung der Bilder Assoziationen zu wekken, ihn durch direkte und indirekte Anspielungen aus der didaktischen Ebene 91 Vgl. etwa auch Aristoph. nu. 385-394. 92 Horn. H. 16,364-366: ώς δ' ότ' άιτ' ΟΰΧύμνου νίφος Ιρχετοα οΰρανον άσω / άιϋίρος ex. δίης, ore re Ζευς λαίλαπα reivrj, / ώς των ίκ νηων yhtro ίαχη re φόβος re [...]. Man kann wohl annehmen, daß λαϊλαφ Blitz und Donner impliziert. 93 Horn. Π. 2,394-396; beinahe wörtliche Ubereinstimmungen zeigen sich zu Apoll. Rhod. 3,1370f: ϋτοβρίμεται σπίλάδεσσι (Nie. Alex. 290) und ενιβρομίων σπιλάδεσσιν (Apoll. Rhod. 3,1371). 94 Eine Trennung zwischen »sachlichen« und »poetischen« (oder gar »sachlich notwendigen« und »entbehrlichen«) Vergleichen, wie sie von Schneider (1962), 101 postuliert wird, ist aus diesen Gründen nicht zulässig.

Die griechische Lehrdichtung

71

herauszureißen. Damit eröffnet Nikander eine neue Dimension für den Einsatz von Gleichnissen im didaktischen Epos.

3. Ergebnisse Folgende Ergebnisse sind aus der Betrachtung der Gleichnissse der griechischen didaktischen Epik festzuhalten. Zunächst einmal fällt auf, daß die Gleichnisse griechischer Lehrdichter häufig stark geprägt sind von den Vorgaben der homerischen Epen: zum einen in der Auswahl der Vergleichsgegenstände, mit denen der jeweilige Lehrdichter vielfach an homerische Motive (sehr oft aus dem handwerklich-technischen Bereich) anknüpft, vor allem aber auch in ihrer sprachlich-stilistischen Ausgestaltung. Griechische Lehrdichter sehen sich selbst in erster Linie als epische Dichter, die sich in den Gleichnissen an den Gegebenheiten der epischen Sprache orientieren. Nicht nachzuweisen sind allerdings Beziehungen zwischen Gleichnissen innerhalb der Lehrdichtung. Griechische Lehrdichter scheinen auf die Vorgaben der erzählenden Epik einerseits und ihren eigenen Stoff andererseits so sehr fixiert zu sein, daß Imitationen von Gleichnissen innerhalb der Gattung Lehrgedicht für sie nicht in Frage kommen. Die stofflich-thematische Verschiedenheit der Lehrdichtung vom erzählenden Epos zwingen die Verfasser didaktischer Epen jedoch, das ihnen zur Verfügung stehende Material für ihre Zwecke umzugestalten; eine solche Umgestaltung kann entweder der Vermittlung des Lehrstoffes zugute kommen, wie bei Empedokles, oder darüber hinaus einen literarischen Kunstgriff bedeuten, wie bei Nikander von Kolophon. Die Funktionen der Gleichnisse in der griechischen Lehrdichtung sind ebenso vielfältig wie die in ihr behandelten Themen, bisweilen sogar vielschichtig und keinesfalls auf die Schlagworte »Episierung« oder »sachliche Erläuterung« einschränkbar. Sie dürften auch den lateinischen Lehrdichtern insbesondere dort, wo gleiche oder verwandte Themen behandelt werden, Richtlinien oder zumindest Orientierungshilfen in der Verwendung von Gleichnissen geboten haben.

IV. Lucrez

Lucrezens philosophisches Epos De rerum natura ist nicht nur das älteste vollständig erhaltene, sondern auch das umfangreichste Zeugnis lateinischer Lehrdichtung.1 Mit über 7000 Versen bietet es zugleich erheblich mehr Text als alle erhaltenen griechischen Lehrgedichte, und auch durch die Einteilung in sechs Bücher (immerhin 1/4 der Ilias) steht es rein äußerlich der heroischen Großepik näher als die μονόβιβΧοι der hellenistischen Dichter. Die Spannung zwischen Form und Inhalt ist im Falle von De rerum natura besonders groß: Seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Dichtung entsprechend2 meidet Epikur - zumindest in den erhaltenen Schriften - poetische Elemente, so daß der Einsatz nicht nur von Gleichnissen und Vergleichen, sondern von bildhaftem Sprechen überhaupt in einem Gedicht über die epikureische Philosophie besonders hervorsticht. Neben dem Umfang des Gedichtes, der Erwähnung von Homer und Ennius als Vorbildern sowie der Einfügung >epischer< Szenen gelten in der Forschung daher mitunter auch die Gleichnisse als Charakteristika des >epischen< Stils von De rerum natura. Während Murley das Auftreten von »Homeric similes< neben der sehr viel >moderneren< Metapher konstatiert,3 stellt Leen beim Vergleich von Lucrezens Gedicht mit Epikurs repl φύσ&ας fest, daß Lucrez, was den Gebrauch ausgeführter Gleichnisse angeht, »is truer to the traditions of epic poetry than to the practice of his master«.4 Mayer geht sogar noch einen Schritt weiter: »The formal device which most emphatically marks the De rerum natura as epic is the use of the extended simile«.5 Andere Forscher sehen die lucrezischen Gleichnisse zumindest in der Tradition des in Sprache und Stil der homerischen Epik ebenfalls stark verpflichteten Empedokles.6 Zu dieser Einschätzung paßt auch die hohe Zahl von Gleichnissen, die

1 Zur außergewöhnlichen Länge von De rerum natura vgl. Pöhlmann (1973), 836; Mayer (1990), 36. 2 Epic. frg. 229 Us. ( - Heracl. alleg. Homer. 4): ούδ'Έτικούρου φρονης ήμίν, ος της άσεμνου xepl τους ιδίους κήτους ήδονης γεωργός ianv, αταααν ομοΰ τοιηηκην ωστep 'ohköpiov μύύων δίΧεαρ άφοσιούμινος. Dazu Gigon (1981), 266. 3 Murley (1947), 339. 4 Leen (1984), 108, ähnlich noch einmal 109. 5 Mayer (1990), 40. 6 So z.B. Kranz (1944), 80-83, aufgenommen von Wöhrle (1991), 119; Gale (1994), 64f., welche die Gleichnisse (»extended similes«) des Empedokles sogar explizit ab »epic features« bewertet.

Lucrez

73

gewöhnlich für De rerum natura angegeben wird: Feustell zählt insgesamt 163 »comparationes«,7 Kranz spricht von »über 160«,8 Wöhrle sogar von »über 190« Gleichnissen.' Selbst wenn man von der geringeren Zahl ausgeht, die Feustell nennt, bedeutet dies, daß im Durchschnitt alle 45 Verse ein Gleichnis erscheinen müßte. Lucrez würde damit etwa ebenso viele Gleichnisse verwenden wie der lateinische Epiker mit der größten Gleichnisdichte, Valerius Flaccus.10 Die hohe Zahl von »über 160« bzw. »über 190 Gleichnissen«, die Kranz und Wöhrle nennen und die auf die Angaben Feustells zurückgeht, gibt jedoch nicht zu erkennen, daß Feustell in seiner Untersuchung explizit ankündigt, er wolle unter »comparationes« nicht nur Gleichnisse des epischen Typs (»similitudines«) verstehen, sondern bildhaftes Sprechen allgemeinster Art.11 Seine Aufstellungen berücksichtigen deshalb auch eindeutig nicht dem Gleichnis zugehörige Formen wie etwa das Bild vom Seesturm im Proömium des zweiten Buches (2,1-7), das eher der Allegorie zuzurechnen ist,12 und das Beispiel der aus den Startboxen hervorpreschenden Pferden zu Beginn des Wagenrennens (2,263265), in dem sich für Lucrez die Lenkung der Lebewesen durch ihren eigenen Willen offenbart.13 In Lucrezens »Vorliebe für Gleichnisse und Vergleiche« mit Wöhrle14 ein Kennzeichen des empedokleischen Stils zu sehen, ist daher kaum gerechtfertigt. Auch Kranz kann seine Angaben nur mit dem Hinweis darauf rechtfertigen, daß Lucrez seine Gleichnisse »feierlich-lehrhaft und ganz unepisch« einleite.15 Solche >unepischen< Gleichnisse dürften zum >epischen< Kolorit von De rerum natura wenig beitragen; noch sind sie geeignet, die lucre-

7 Feustell (1893), 6. 8 Kranz (1944), 79. 9 Wöhrle (1991), 119. Möglicherweise handelt es sich um einen Druckfehler, da Wöhrle sich auf Kranz (1944), 79 (»über 160« Gleichnisse) beruft. 10 Vgl. Gärtner (1994), 48 u. 50: »Ein ausgeführtes Gleichnis steht bei ihm im Durchschnitt alle 47 Verse«. Für die übrigen lateinischen Epiker nennt Gärtner 48f. folgende Zahlen: Vergil, Aeneis 105 ( - alle 94 V.); Lucan 91 (nach der großzügigen Zählung von Aymard[1951], 13) (= alle 89 V.); Silius Italicus 111 ( - alle 110 V.); Statius, Thebais »fast 200« Gleichnisse ( - alle 51 V.). 11 Feustell (1893), 5f. 12 Vgl. die Definition von Lausberg f1990), 441f.: Zumindest das erste Bild ist aufgrund der Implikationen >Schiff - Staat< allegorisch, vgl. z.B. das berühmte Horazgedicht >An das Schiff« Hör. carm. 1,14, das Quintilian (inst. 8,6,44) als Beispiel für eine allegoria zitiert. Das zweite Bild von der Schaugefechte vollführenden Legion mahnt explizit zum Abstand von militärischen Dingen. 13 Vgl. die Aufstellungen Feustells (1893), 6-10. 14 Wöhrle (1991), 119. 15 Kranz (1944), 82.

74

Lucrez

zische Gleichnistechnik der homerischen gegenüberzustellen.16 Läßt man als >Gleichnisse< tatsächlich nur die Stellen gelten, die ihrer Durchführung nach die Kriterien eines erzählend-epischen Gleichnisses erfüllen,17 so kann man bei 49 ausgeführten Gleichnissen, deren Parabole mindestens einen Hexameter Länge hat, mit Rieks lediglich »neben wenigen ausgeführten Gleichnissen ein großes Reservoir an Gleichnismotiven«18 konstatieren. Die statistische Häufigkeit der Gleichnisse epischen Typs liefert daher kein Argument dafür, De rerum natura als >empedokleisch< oder gar als >episch< einzustufen, zumal viele der Gleichnisse relativ kurz sind (d. h., daß ihre Parabole nicht mehr als zwei Hexameter umfaßt)19 und Lucrez sich auch in der Auswahl der Vergleichsmotive keineswegs strikt nach den Vorgaben der heroischen Epik gerichtet hat, sondern, wie sich zeigen wird, auch auf die Bildersprache anderer literarischer Genera zurückgreift. Ein weiteres äußeres Kriterium für die Beurteilung lucrezischer Gleichnisse ist ihre Verteilung innerhalb des Werkes. Bereits in Aufbau und Inhalt unterscheidet sich De rerum natura erheblich von einem heroischen Epos. Einen großen Teil des Gedichtes beanspruchen argumentative Partien, die den Lehrstoff überzeugend präsentieren sollen und die deswegen der Rhetorik näher stehen als der Epik, wie überhaupt De rerum natura ein sehr rhetorisches Werk ist.20 Erzählende bzw. >szenische< Einlagen, »die sich auch stofflich aus dem Lehrmaterial herausheben und die man, wären sie als Fragmente auf uns gekommen, eher einem mythologischen oder historischen Epos zuweisen würde« (etwa die Iphigenie-Geschichte [1,84-101] und der Magna-Mater-Exkurs [2,600-660], die Phaethon-Episode [5,396-405], aber auch die Pestbeschreibung

16 So etwa Hohler (1925/26), 282. 17 Richtig Townend (1965), 103: »Since purists may still object to the inclusion of all these illustrations under the common heading of >simileimagery< is preferable [...]«. Will man die epische Färbung des Stils eines Lehrdichters mit Hilfe von Gleichnissen nachweisen, ist es aufgrund des in der heroischen Epik üblichen strengen Bauschemas unbedingt erforderlich, zu diesen >Puristen< zu gehören. 18 Rieks (1981), 1054, nachdem allerdings auch er S. 1050 von einer »nach innerer und äußerer Form besonderen Gleichnisbildung bei Lukrez [...], die sich nicht nach dem Muster des Ennius gerichtet [...] hat« gesprochen hatte. Treffend und differenziert Lausberg (1990), 181 Anm. 37: »Die Analogiebeispiele sind dichterisch wirksam ausgestattet, jedoch nicht in der Art des homerisch-epischen Gleichnisses eingeführt.« 19 Vgl. dazu die Übersicht am Schluß der Arbeit. Nur 23 Gleichnisse sind in der Parabole länger als zwei Hexameter. 20 Zu den Einflüssen der Rhetorik im Werk des Lucrez vgl. Classen (1968); unabhängig von ihm kommt zu denselben Ergebnissen Bartalucci (1972).

Lucrez

75

im Finale von Buch 6 [1138-1286])21, sind demgegenüber auf ein Minimum beschränkt. Gerade in diesen Textabschnitten fehlen ausgeführte Gleichnisse vollständig. Damit bleiben die erzählender Epik am nächsten stehenden Abschnitte - abgesehen von wenigen Kurzvergleichen22 - gleichnisfrei. Wäre es dem Dichter darum gegangen, mit Hilfe der Gleichnisse die Zugehörigkeit seines Werkes zum Epos zu demonstrieren, hätte er wohl kaum auf ihren Einsatz in Kontexten verzichtet, die gerade ihrer Thematik und Darbietungsform nach dem Epos nahestehen. Die Verwendung von ausgeführten Gleichnissen erfolgt dagegen genau in den Abschnitten, die von ihrer Struktur her nur wenig mit der heroisch-epischen Tradition zu tun haben. Sie ist auf zwei Bereiche beschränkt: 1. den >didaktischenmethodologisch-reflektierendenwie zum Beispiel·.26 Andererseits gibt es aber in den didaktischen Partien durchaus auch Verse, die in einer Art vergleichendem Verhältnis zu einem zuvor beschriebenen Sachverhalt stehen, vom Dichter aber nicht in der Form eines epischen Gleichnisses präsentiert werden, sondern als Begründung mit et merito, quoniam o.ä.27 Aus der literarischen Tradition geläufige Vergleichungen werden von Lucrez zu Analogiebeweisen umgestaltet wie etwa das Bild der im Sonnenlicht auf- und abtanzenden Staubpartikel, an dem sich für ihn die Atombewegung

23 Vgl. Gale (1994), 114. Schon die frühe griechische Naturwissenschaft stützt sich auf das anaxagorische Prinzip οφις άδηλων τα φαινόμενα, vgl. dazu ausführlich Diller (1932). 24 Zu den historischen Voraussetzungen dieser naturwissenschaftlichen Beweismethoden des Lucrez (Analogieschluß, apagogischer Beweis usw.) vgl. Kullmann (1980). 25 Zum »unepischen« Charakter der Einleitungsformel quod genus (m. E. allerdings zu wenig differenziert) Büchner (1937), 99. 26 Ausgewählte Beispiele: Ut: 2,456-458: Alle Dinge, die sich zerstreuen können, müssen aus glatten und runden Atomen bestehen, ut fumum flammas nebulasque (457) Ceu·. 4,56: Viele Gegenstände sondern sichtbar Atome ab robora ceu fumum mittunt ignesque vaporem. Im OLD I (1976), 307 s.v. ceu erscheint die Stelle falsch unter »introducing a simile«, im ThlL (1909) s.v. ceu sowohl Sp. 977 (als Gleichnis) und Sp. 981 (als Beispiel). Sicut: 2,536f.: Verschiedene Regionen bringen verschiedene Tiere hervor sicut quadrupedum cum primis esse videmus / in genere anguimanus elephantos. Quod genus: 3,43 If.: Die Seele muß sehr viel feiner sein als Rauch und Nebel, da sie Rauch und Nebel wahrnehmen kann: quod genus in somnis sopiti ubi cernimus alte / exhalare vaporem altaria ferreque fumum [...]. Nec ratione alia: 4,1197-1200: nec ratione alia volucres armenta feraeque / et pecudes et equae maribus subsidere possent, / si non, ipsa quod illarum subat ardet abundans / natura et Venerem salientum laeta retractat. 27 Vgl. etwa Lucr. 6,543-551 (Der Dichter stellt das Zittern der Erde beim Erdbeben und die Erschütterung, die schwere Wagen verursachen, gegenüber).

Lucrez

77

offenbart.28 Andere, wie etwa das >BuchstabengleichnisHandlungsträger< von De rerum natura, bereits am Beginn des Werkes den Rang epischer Helden, eine Position, auf die Lucrez im weiteren Verlauf des Gedichtes durch die Beschreibung ihrer Aktivitäten als kriegerische Handlungen immer wieder zurückkommt.3' Der veränderte Bezug des Gleichnisses gibt somit auch Auskunft darüber, welchen Stellenwert Lucrez seinem Stoff beimißt: Er ersetzt die Erzählhandlung des heroischen Epos. Trotz des Verweises auf die literarische Tradition sind Funktion und Wirkung des lucrezischen Gleichnisses eine ganz andere als bei den homerischen Vorbildern. Zunächst einmal ist die prosaische Einleitungsformel nec ratione alia in der erzählenden Epik ohne Parallele. Vor allem ist es aber der veränderte Bezugspunkt, der das Gleichnis vom erzählenden Epos entfernt. Indem Lucrez den epischen Helden durch die venti corpora caeca ersetzt, stellt er nicht mehr so verschiedene Gegenstandsbereiche wie Natur und Menschenwelt zusammen, sondern lediglich die Wirkungen zweier amorpher Elemente, wobei auch der verglichene Gegenstand, der stürmisch dahinbrausende Wind, in der epischen Tradition ein geläufiges Gleichnismotiv darstellt.40 Das Gleichnis zielt somit aus heroisch-epischer Sicht nicht auf den Vergleich zweier unterschiedli38 Vgl. Mayer (1990), 40; zu Naturgewalten als traditionellen epischen Eingangsmotiven vgl. Hardie (1986), 90-94. 39 So z.B. Lucr. 2,118f., dazu Mayer (1990), 41; 5,392 (>Krieg< der Elemente); zur Verwendung von kriegstechnischen Ausdrücken in De rerum natura als Merkmalen des epischen Stils im allgemeinen vgl. Murley (1947), 343f. (»the arma vimmque formula«); Garbugino (1989), 24f. 40 Z.B. Horn. II. 2,144-146; 7,63-66; 9,4-8; 11,305-309; 13,795-801; 21,346-349. Zu den Sturmgleichnissen bei Homer auch Frankel (1921), 17 u. 21. Ein Sturmgleichnis in der lateinischen hexametrischen Dichtung vor Lucrez Enn. ann. 432-434 Sk. Wind und Wasser verbindet (möglicherweise in Anlehnung an Lucrez) Verg. Aen. 10,602-604: talia per campos edebat funera ductor / Dardanius torrentis aquae vel turbinis atri / more furens, der diese beiden Kurzvergleiche aber wiederum auf den Helden des Epos, Aeneas, bezieht. Der neuste Kommentar zum zehnten Buch der Aeneis von Harrison, Verg. Aen. (K 1991), 221 nennt als Vorbild lediglich das Wassergleichnis Horn. H. 5,87-93.

Lucrez

81

eher Ebenen, sondern setzt zwei Gleichnismotive in ein Ähnlichkeitsverhältnis zueinander. Aber auch in der antiken Naturwissenschaft gelten Wind und Wasser als eng verwandte Elemente.41 Da Lucrez zudem die Auswirkungen eines Sturmes bereits zuvor ausführlich dargestellt hat (1,271-276), ist eine Veranschaulichung seiner Zerstörungskraft von der Sache her überhaupt nicht erforderlich, zumal die Beschreibung der zerstörerischen Wirkung des Wassers auch semantisch-syntaktisch möglichst analog zu der des Windes gestaltet ist:42 So antizipiert das Verbum fluunt das folgende Bild;43 ferner entsprechen sich rapido percurrens turbine campos (273) und magno turbidus imbri/molibus ineurrit validis (286f.), silvifragis ...flabris (275) wird aufgenommen in fragmina coniciens silvarum (284), mit einem ita-Satz zieht der Dichter das Fazit aus beiden Beschreibungen (275 und 286). Diese Identität der Vorgänge wiederum ist für die Verwendung des Gleichnisses durch Lucrez entscheidend, denn sie stützt seine Argumentation auf einer sehr viel abstrakteren Ebene: Nachdem er den unsichtbaren Wind aufgrund der für jedermann beobachtbaren Wirkungen als corporeum eingestuft hat, stellt er ihm als weiteren Beleg für die Körperlichkeit der Windatome das ganz ähnlich wirkende, nun aber sichtbare Wasser an die Seite.44 Daß der Dichter Wind und Wasser sogar mit denselben Begriffen beschreibt, suggeriert dem Leser, daß beide auch in ihren Strukturen weitestgehend identisch sind und sich nur in einem einzigen Punkt, nämlich in dem Grad ihrer Wahrnehmbarkeit durch die Sinne, unterscheiden. Daraus gewinnt Lucrez ein weiteres Argument für die Existenz unsichtbarer Materie: Da das Wasser offenkundig körperlich ist, muß auch der Wind körperlich sein, und da der Wind unsichtbar ist, ist so die Existenz unsichtbarer corpora rerum bewiesen. In der Antapodosis begnügt sich Lucrez daher nicht mehr mit einer einfachen Parallelisierung von Wind und Wasser, sondern gestaltet diese als Schlußfolgerung aus den zuvor beschriebenen Beobachtungen (1,290-294): 290

sie igitur debent venti quoque flamina ferri, quae veluti validum cum flumen proeubuere

41 Vgl. Anaximenes frg. A 5 D.-K.: καϊ άροαοίιμενον [τον άίρα] μλν πυρ yiveaöai, 5e ανΐμον, «τα νίφος, ίτι Se μάλλον νδωρ [...], allerdings lehnt Lucrez diese Verwandlung der Elemente ineinander strikt ab (1,782-789). Ebenso wie Lucrez stellt aber auch Seneca vor allem im 5. Buch der Naturales Quaestiones De ventis Wind und Wasser immer wieder zusammen, z.B. nat. 5,12,3f.; 5,13,1-3; 5,13,4. 42 Vgl. West (1970), 262; Schiesaro (1990), 23. 43 Vgl. Battisti (1976), 83. 44 Vgl. auch Serv. georg. 4,219: ventum namque docet [sc. Lucretius] esse corporalem, non

πυκνονμενον

quod eum tenere vel cernere possumus, sed quod eius similis atque aquae effectus est, corporalem esse manifestum est.

82

294

Lucrez quamlibet in partem, trudunt res ante ruuntque impetibus crebris, interdum vertice torto corripiunt rapideque rotanti turbine portant.

Sowohl die resümierende Partikel igitur als auch das Verbum debent weisen dem in Motiv und Durchführung so epischen Gleichnis eine tragende Rolle in der Argumentation zu. Mit dem Verbum debere zieht Lucrez in De rerum natura häufig das Resümee aus einem Analogiebeweis.45 Debere übersetzt wahrscheinlich den griechischen Begriff άνοτγκη [sc. eoriv], der bereits in den hippokratischen Schriften zur Kennzeichnung einer zwingenden Schlußfolgerung aus einem zuvor entfalteten bildhaften Vergleich verwendet wird.46 Durch die klangliche Ähnlichkeit der Worte flamina und flumind17 sowie die Beschreibung ihres Vordringens mit den Wendungen impetibus crebns, vertice torto und rotanti turbine, die gleichermaßen auf Wind und Wasser bezogen sein können,48 hebt der Dichter noch einmal die Identität der Gegenstände hervor, die ihn seine eingangs aufgestellte These unterstreichen läßt (1,295-297): 295 297

quare etiam atque etiam sunt venti corpora caeca quandoquidem factis et moribus aemula magnis amnibus inveniuntur, aperto corpore qui sunt.

Der durch quandoquidem eingeleitete Satz präsentiert die Begründung für die Verwendung des Gleichnismotivs: Die corpora caeca, aus denen der Wind besteht, gleichen den Flüssen factis et moribus. Der Anschluß an die erzählende Epik wird durch diese Wendung, mit der die corpora caeca wiederum ver45 Vgl. Roberts (C 1969), 65 s.v. debent. Ähnlich verwendet der Dichter necesse/necessest, vgl. Roberts (C 1969), 183f. s.v. necesse/necessest: insgesamt 92 Belege in De rerum natura. 46 Regenbogen (1930), 151: »άνά-γκη bezeichnet den Tatsachenbeweis aufgrund einer empirischen Beobachtung ... der Vergleich dient nicht nur dem Schmuck ... er ist vielmehr ein wichtiges Stück im Beweisverfahren unseres Autors.« Zur Terminologie beim Argumentieren εκ αναλογίας ausführlich Lloyd (1966), 422f. 47 Vgl. Friedländer (1941), 18. 48 Eine solche Vertauschung der Seinsbereiche ist in der lateinischen Literatur nicht unüblich, vgl. etwa Enn. ann. 18 Sk.: transnavit cita per teneras caliginis auras·, danach Cie. Arat. 402; Verg. georg. 4,59; Aen. 6,16; Parallelisierung von Wasser und Luft im dem Gleichnis nahestehenden Augurium Verg. Aen. 1,393-400 (Schwäne-Schiffe des Aeneas). Zur Bewegung des Windes als fluere/pelv z.B. Aristot. Metereo. 1,13,349a 16-17: eiai δί τίνες ol φασιν τον κοϊΚοΰμίνον äepa κινοΰμενον μεν κάί ρέοντα άνεμον elvai; Cie. div. 2,44: placet enim Stoicis eos anhelitus terrae, quifrigidi sint, cum fluere coeperint, ventos esse; Vitr. 1,6,2: ventus autem est aeris fluens unda cum incerta motus redundantia; Sen. nat. 3,10,2: quid, si mireris, quod, cum venti totum aera impellunt, non deficit spiritus, sed per dies ac noctis aequaliter fluit, nec (ut flumina), certo alveo fertur, sed per vastum caeli spatium lato impetu vadit? und nat. 5,1,1: ventus est fluens aer.

Lucrez

83

menschlicht werden,49 noch einmal theoretisch formuliert. In dem abschließenden Relativsatz aperto corpore qui sunt schließlich nennt Lucrez mit der sichtbaren Körperlichkeit ausdrücklich das entscheidende Kriterium, das ihn zur Auswahl des Bildes bewogen hat. Der Leser wird also vom Dichter selbst darüber aufgeklärt, welche Rolle das Gleichnis in der Gedankenführung spielt. Solche theoretischen Äußerungen, die die Entscheidung des Dichters für ein bestimmtes Motiv vor dem Leser legitimieren, sind in der erzählenden Epik undenkbar, so daß das in Motiv und Stil so homerische Gleichnis zu einem gänzlich unhomerischen argumentativen Mittel wird. Daß Lucrez gerade bei dem ersten Gleichnis seines Werkes den Leser in der Ausdeutung so stark führt, soll dessen Blick möglicherweise dafür schärfen, wie er Gleichnisse im didaktischen Kontext anzugehen hat, wenn sie ihm im weiteren Verlauf des Gedichtes begegnen.50 Richtungsweisend ist in jedem Fall die Auswahl des Vergleichsgegenstandes >WasserEröffnungsgleichnis< der Phaisalia [Lucan.l,70-80J; Hardie (1986), 204f.; zuletzt Harrison (1988), 55. 51 So z.B. 1,370-379 (Analogisierung Wasser-Luft als Beweis für die Existenz des inane). 52 Vgl. Deufert (1996), 238f. 53 Offensichtlich handelt es sich um stehende Motive in der didaktischen Literatur, vgl.

Sen. nat. 1,5,6: alioquin, ut ait Nero Caesar disertissime, »colla Cytberiacae splendent agitata columbae«, et variis coloribus pavonum cervix, quotient aliquo deflectitur, nitet: numquid erg dtcemus specula eins modiplumas [...] ? 54 Vgl. Lucr. 2,34-37 und 52. Die Indifferenz gegenüber purpurnen Prachtgewändern, die der Epikureer sich nach Meinung des Dichters anzueignen hat, wird gewissermaßen >naturwissenschaftlich< begründet. Man beachte die Verbindungen zwischen Proömium und Lehre.

84

Lucrez

Nachdem Lucrez so ausführlich dargestellt hat, warum die Farbe zu den Atomen erst sekundär hinzutreten kann, glaubt er, aufgrund dieses Ergebnisses den pnmordia rerum auch die anderen Qualitäten absprechen zu können (2,843846): 843 845 846

[...] etiam secreta teporis sunt ac frigoris omnino calidique vaporis, et sonitu sterila et suco ieiuna feruntur, nec iaciunt ullum proprium de corpore odorem.

Während sich Lucrez nun damit begnügt, die Temperatur-, Ton- und Geschmacklosigkeit der Atome festzustellen, ohne an dieser Stelle irgendwelche Beispiele zu ihrer Illustration heranzuziehen, liefert ihm die Erwähnung ihrer Geruchlosigkeit das Stichwort zu einem Gleichnis (2,847-854): 847 850

855 858

sicut amaracini blandum stactaeque liquorem et nardi florem, nectar qui naribus halat, cum facere instituas, cum primis quaerere par est, quoad licet ac possis reperire, inolentis olivi naturam, nullam quae mittat naribus auram, quam minime ut possit mixtos in corpore odores concoctosque suo contractans perdere viro, propter eandem < r e m > 5 5 debent pnmordia rerum non adhibere suum gignundis rebus odorem nec sonitum, quoniam nil ab se mittere possunt, nec simili ratione saporem denique quemquam nec frigus neque item calidum tepidumque vaporem.

Das Motiv der Vergleichung entnimmt Lucrez diesmal nicht der erzählenden Epik, sondern der philosophischen Prosa. Ein Vergleich in Piatons Timaios liefert die Vorlage (Plat. Tim. 50e4-8):56

55 Die Stelle ist textkritisch unsicher. Gegen die Lesart des Codex Quadratus propterea eandem sprechen ebenso wie gegen das im Oblongus überlieferte propter eandem metrische wie auch sprachliche Gründe, da eandem kein Beziehungswort hat. Marullus ändert aus diesem Grunde eandem in tandem-, Lachmann ([Ed 41871], 124) ergänzt eandem , eine Änderung, für die sich auch Bailey in der Editio maior (K 1947) entscheidet - für mein Empfinden die bessere Lösung, da so nur ein geringer Eingriff in den Text des Oblongus (die Lesart des Quadratus ist aller Wahrscheinlichkeit nach durch Dittographie des schon früh verderbten propter eandem entstanden) erforderlich ist und durch eandem gut die Identität der beiden Sachverhalte unterstrichen wird. Keine der Lesarten ändert jedoch etwas an der Tatsache, daß Lucrez das Gleichnis an die Stelle eines wissenschaftlichen Beweises gesetzt hat. 56 Vgl. Shorey (1901), 204; zur Geschichte des Motivs zuletzt Lausberg (1991), 175 m. Anm. 27 u. 28, die auf die entsprechende Stelle in der Piatonübersetzung des Calcidius aufmerksam macht, welche den Text Piatons lateinisch wiedergibt: ut qui odora pigmenta

Lucrez

85

διό και πάντων έκτος είδών elvai χρεών το τα πάντα έκδεζόμενον εν αύτω ·γενη, κα&άπερ περί τα αλείμματα οπόοα ευώδη, τεχντ] μηχανώνται πρώτον τοϋτ' αύτο υπάρχον, ποιοΰσιν ότι μάλιστα άώδη τα δεξόμενα ύγρά τάς οσμας. Genau wie Lucrez legt Piaton Gewicht auf die Tatsache, daß bei der Salbenherstellung zu einem neutralen (άώδη) Grundstoff sekundär die geruchsbildenden Ingredienzien (ρπόσα ευώδη) hinzutreten. Während jedoch die platonische Vergleichung im Prinzip nur einen Allgemeinplatz antiker Salbenherstellung schildert,57 nennt Lucrez ausdrücklich die Inhaltsstoffe der Salbe und füllt so das summarische ευώδη Piatons mit konkretem Anschauungsmaterial: olivum, amaracinum, stactae liquorem, nardi florem, die zusätzlich in ihrer Qualität durch die Epitheta inolentis und blandum bzw. den Relativsatz nectar qui nanbus halat differenziert werden. Die etymologischen Paronomasien58 inolentis olivi und nardi,... qui naribus halat legitimieren die Auswahl des Olivenöls als besonders geruchlosen und der Narde als besonders geruchsstarken Stoff auch auf klanglicher Ebene. Diese ausführliche Beschreibung läßt - insbesondere bei Gegenüberstellung mit der Verknappung und Abstraktion, die den platonischen Vergleich kennzeichnet - an die Detailfreude homerischer und in seiner Tradition auch empedokleischer Gleichnisse denken.59 Doch hat diese Ausführlichkeit auch didaktischen Wert, da Lucrez so damit viel intensiver an die seiner Ansicht nach zur Erkenntnis notwendigen Sinne60 appelliert. Demselben Zweck dient auch die unmittelbare Wendung an den Adressaten durch den Gebrauch der 2. Person Singular: instituas (849), possis reperire (850). Obwohl diese Verse in der Art ihrer Darbietung dem Typus des epischen Gleichnisses eher entsprechen als dem sehr viel theoretischer formulierten Ver-

conficiunt ante omnia curant ut nullius sint odoris proprii quae condientur, susceptura videlicet humidos sucos odoraminum (p. 50e Waszink) und auf den Macrobius in seinem Salbenvergleich in der Praefatio der Saturnalien (praef. 8) zurückgeht. Allerdings löst Macrobius den Vergleich aus seinem ursprünglichen Zusammenhang und nutzt ihn zur Veranschaulichung seines methodischen Vorgehens. 57 Vgl. Forbes ΠΙ (1955), 28-38; Frankel f1960), 242, mit Verweis auf Theophr. de odor. 16: το άοσμότατον ζητάν. 58 Vgl. Snyder (1980), 102f., die nachweist, daß Lucrez in den etymologischen Paronomasien dem Typus stoischer Etymologisierung folgt, wie ihn auch Varro im 5. Buch von De lingua Latina praktiziert: »These [Stoic etymologies] involve the derivation of one word from another, which sounds at least remotely similar and which can be somehow connected to the first word in meaning, whether through a cause and effect relationship, some descriptive feature, or for that matter almost any logical or even illogical link between the words«. 59 Allerdings läßt sich keine direkte Beziehung zu Empedokles frg. Β 23 D.-K. herstellen, wie Kranz (1944), 81 es will. 60 Vgl. Lucr. 4,469-521.

86

Lucrez

gleich Piatons, sind sie aufgrund der Art ihrer Einbettung in den Kontext und somit auch aufgrund ihrer Funktion deutlich von den epischen Gleichnissen abgesetzt. Obgleich nämlich die Verwendung eines Gleichnisses strenggenommen einen konkreten Vorgang oder zumindest einen konkreten Gegenstand erfordert, von dem sie ausgehen kann, hat Lucrez in den vorausgegangenen Versen keine Handlung beschrieben, auf die er das Bild des Salbenmischens direkt beziehen könnte, sondern lediglich eine These aufgestellt - die These von der Qualitätslosigkeit der Atome -, für die der Leser eher eine Begründung denn den Verweis auf einen ähnlichen Sachverhalt erwartet. Das Gleichnis ist daher vom Dichter zwar sowohl formal als auch inhaltlich als solches gestaltet, seine Funktion aber wird durch den Kontext vollständig verändert. Beim Übergang vom Bild zur Sache läßt der Dichter dann auch gar keinen Zweifel mehr daran aufkommen, wie er die vorausgegangenen Gleichnisverse verstanden wissen will (2,854-858): 854 855 858

propter eandem < rem > debent primordia rerum non adhibere suum gignundis rebus odorem nec sonitum, quoniam nil ab se mittere possunt, nec simili ratione saporem denique quemquam nec frigus neque item calidum tepidumque vaporem.

Der präpositionale Ausdruck propter eandem < rem > signalisiert ein kausales Verhältnis zwischen Bild und Sache. Ebenso wird der Relativsatz in der Parabole nullam quae mittat naribus auram (851) in der Antapodosis in dem Kausalsatz quoniam nil ab se mittere possunt (856) wiederaufgenommen. Das Verbum debent präsentiert wiederum die Lehre von Geruch-, Ton-, Geschmack- und Temperaturlosigkeit der Atome als zwingende Schlußfolgerungen aus dem Bild von der Herstellung einer Salbenmischung. Interessant ist auch, daß das Fazit, das Lucrez aus der >Vergleichung< zieht, beinahe wörtlich die These aufgreift, von der aus er ins bildhafte Sprechen übergegangen war: Hatte er dort das Vorhandensein von atomimmanenten Qualitäten durch die Aufzählung der Eigenschaften, die die pnnctpia eben nicht haben, bestritten, um an die Erwähnung der prinzipiellen Geruchlosigkeit von Atomen das Gleichnis anzuschließen, so zieht er in der Antapodosis die Schlußfolgerung aus dem Bild zunächst zwar nur für den fehlenden Eigengeruch der primordia rerum. Im folgenden nimmt er jedoch die allein für eine einzige Qualität gewonnene Erkenntnis auch für die übrigen Atomqualitäten in Anspruch, die er, wie in der Einleitung in die Vergleichung (843-846), allerdings in beinahe umgekehrter Reihenfolge, noch einmal aufzählt:

Lucrez

87

nec sonitum ... / nec simili ratione saporem denique quemquam / nec frigus neque item calidum tepidumque vaporem (856-858). Er weitet also das konkrete Bild, auf das die einleitende Aufzählung hingeführt hatte, wieder aus. Durch diese Generalisierung signalisiert er, daß er die absolute Qualitätslosigkeit der Atome nun endgültig als bewiesen ansieht, und legitimiert zugleich seinen Verzicht auf langwierige und komplizierte Argumentationen. Beide besprochenen Gleichnisse stehen vor allem aufgrund des Kontextes, in dem der Dichter sie verwendet, an der Stelle von wissenschaftlichen Beweisen. Doch trägt Lucrez auch dort den Erfordernissen seines didaktischen Epos Rechnung, wo er die Gleichnisse an konkrete Vorgänge anschließt. Die Lehre von den Sinneswahrnehmungen, insbesondere vom Gesichtssinn, nimmt einen großen Teil des vierten Buches ein. Im Rahmen seiner Ausführungen über die simulacra rerum, jene hauchzarten Atomschichten, die sich fortwährend von allen Gegenständen ablösen und dadurch, daß sie in unser Auge gelangen, das Sehen bewirken, kommt Lucrez auch auf diejenigen simulacra. oder imagines zu sprechen, die auf die Oberfläche eines Spiegels prallen und dadurch nicht mehr in ihrem ursprünglichen Zustand, sondern seitenverkehrt auf unser Auge treffen (4,292-301): 292 295

300 301

nunc ea quae nobis membrorum dextera pars est, in speculis fit ut in laeva videatur eo quod planitiem ad speculi veniens cum offendit imago, non convertitur incolumis, sed recta retrorsum sie eliditur, ut siquis, prius arida quam sit cretea persona, allidat pilaeve trabive, atque ea continuo rectam si fronte figuram servet et elisam retro sese exprimat ipsa. fiet ita, ante oculus fuerit qui dexter, ut idem nunc sit laevus et e laevo sit mutua dexter.

Zur Verdeutlichung der Entstehung des seitenverkehrten Spiegelbildes wählt Lucrez wiederum ein Bild aus dem handwerklich-technischen Bereich. Eine Theatermaske aus feuchtem Ton, die, gegen einen Pfeiler gedrückt, gleichsam >umgestülpt< wird, so daß die Innenseite nach außen gedrückt wird, dient ihm als Illustration für das Zurückprallen des simulacrum von der Oberfläche des Spiegels. Bild und Sache sind auch bei diesem Gleichnis sowohl sprachlich als auch sachlich eng miteinander verbunden. So beschreiben dieselben oder synonyme Verba das Zurückprallen der imago vom Spiegel im Haupttext, der Tonmaske vom Pfeiler in der Parabole: Offendit wird wiederaufgegriffen durch

88

Lucrez

adlidat; eliditur klingt in elisam wieder an.61 Die Gemeinsamkeiten zwischen Vergleichsgegenstand und verglichenem Gegenstand erschöpfen sich jedoch nicht in sprachlichen Äußerlichkeiten. Auch sachlich entspricht der Vorgang, den Lucrez in der Parabole beschreibt, dem Vorgang, der veranschaulicht werden soll, in allen Einzelheiten. Die Nachbildung einer tönernen Theatermaske62 ist ebenso ein Abbild des menschlichen Gesichtes wie die imago, die auf die Oberseite des Spiegels trifft, mit dem einzigen Unterschied, daß die Maske aus unzählig vielen übereinandergelegten Atomschichten besteht, während das simulacrum nur eine einzige, vom Gegenstand abgelöste Lage von Atomen hat. Das Motiv >Maske< wählt Lucrez bewußt aus, denn deren verzerrtes Gesicht verhält sich zum menschlichen Antlitz wie das dünne simulacrum zur mehrschichtigem persona. Auch gaben in der Antike aufgrund geringer technischer Möglichkeiten die Spiegel die Gegenstände nur verzerrt wieder. Die enge Verwandtschaft von Maske und Gesicht bewirkt, daß die resümierenden Schlußverse fiet ita, ante oculus fuent qui dexter, ut idem / nunc sit laevus, et e laevo sit mutua dexter (300f.) auf Vergleichssubjekt und Objekt gleichermaßen bezogen werden können, so daß es einer expliziten Antapodosis nicht mehr bedarf. Der Pfeiler oder Balken, gegen den die noch feuchte Tonmaske gedrückt wird, entspricht der Oberfläche des Spiegels. Lucrez gebraucht hier die Wörter pila und trabes, weil diese beiden Stützelemente im Gegensatz zur columna keine ge-

61 Vgl. Leen (1984), 113. 62 Die beiden großen Kommentatoren des Lucrez, C. Giussani (HI [K 1897], 190) und C. Bailey (ΠΙ [Κ 1947], 1213) vertreten die Auffassung, daß mit cretea persona die Maske gemeint sei, die dem römischen Ahnenkult gemäß von den Gesichtszügen des Toten angefertigt wurde, damit man sie dann im Atrium des Hauses aufstellen und so die Erinnerung an den Verstorbenen bewahren konnte; ähnlich noch Leen (1984), 113: »plaster mask«. Sachliche und sprachliche Gründe sprechen gegen diese Interpretation. Es ist kaum anzunehmen, daß Lucrez, der im dritten Buch so leidenschaftlich gegen die Todesfurcht angeht, in deren Uberwindung er eine der Hauptaufgaben von De rerum natura sieht, ohne seine bei dieser Thematik sonst übliche bissige Kritik auf die Gepflogenheiten des Ahnenkultes Bezug nimmt. Zum anderen wissen wir aus Zeugnissen antiker Autoren, daß die Totenmaske aus Gips bestand (vgl. Plin. nat. 35,135; dazu K. Schneider, RE IX,1 [1914] Sp. 1100 s.v. imagines maiorum), der mit Wachs ausgegossen wurde, während Lucrez an dieser Stelle von cretea persona spricht. Das von cretea abgeleitete Adjektiv creteus bedeutet aber nicht »gipsern«, sondern »tönern« (vgl. ThlL IV [1908] Sp. 1187 s.v. creteus; Sp. 1189 s.v. creta: »ad res fictiles conficiendas«), ebenso wie man das Abbild des Toten niemals als persona, sondern immer als imago bezeichnet. Auch besitzt Gips eine Eigenschaft, die ihn für die Veranschaulichung des Lucrez gänzlich ungeeignet macht: Er härtet sich unter Beimischung von Wasser innerhalb sehr kurzer Zeit, so daß er schnell verarbeitet werden muß, wie auch Plinius weiß (nat. 36,183): gypso madido statim utendum est, quoniam celerrime coit. Die Anmerkungen Baileys und Giussanis zu dieser Stelle verstellen also in diesem Falle geradezu das Verständnis des Lucreztextes.

Lucrez

89

krümmte, sondern eine flache Oberfläche aufweisen.63 Die epischen Gleichnissen nachempfundene Angabe einer Alternative64 pilaeve trabive soll die Aufmerksamkeit des Lesers besonders auf diesen Punkt konzentrieren. Dadurch, daß sich die Aussagen in Gleichnis- und Haupttext sprachlich und inhaltlich so weit wie möglich entsprechen, legitimiert Lucrez die Auswahl des Vergleichsgegenstandes; zugleich erzielt er eine Durchsichtigkeit, die seinen Absichten als Lehrdichter entgegenkommt: Der Leser soll über eine physikalische Erscheinung in Kenntnis gesetzt werden, die, wie die gesamte Lehre von den simulacra rerum, zunächst schwer vorstellbar ist. Der Dichter ist daher gezwungen, das Bild so auszuwählen und zu gestalten, daß seine Beziehungen zur Sache sofort jedermann einleuchten; auf der perspicuitas des Gleichnisses beruht seine didaktische Wirkung,65 wie sie sich auch an den Gleichnissen des Empedokles feststellen ließ.66 Dennoch geht Lucrez in der Auswahl und Durchführung des Vergleiches noch einen Schritt weiter als seine Vorgänger. Zwar finden Handwerks- und Technikgleichnisse im Epos, in der Lehrdichtung des Empedokles und auch in der philosophischen Prosa durchaus Verwendung; sie beschreiben jedoch ausschließlich Handgriffe, Techniken und Gesetzmäßigkeiten, die ein fester Bestandteil des Handwerks sind, aus dessen Bereich das Gleichnis stammt. Lucrez hingegen schildert an dieser Stelle einen Vorgang, der mit dem Herstellungsverfahren der Tonmaske nichts mehr zu tun hat.67 Vielmehr ist das Schlagen der Maske gegen einen Pfeiler eine Art Experiment oder ein Modellversuch, anhand dessen sich die Auswirkung, die die glatte Oberfläche eines Spiegels auf die

63 Vgl. OLD Π (1976), 1379 s.v. pila 2 : »A squared pillar or column«. 64 Angabe von Alternativen sind im epischen Gleichnis überaus häufig bei geographischen Bezeichnungen (z. B. Horn H. 4,142: Mgoei? ή( Κάαρα; Apoll. Rhod. l,308f. Δήλοι* ... ψ Κλάρορ ... η ... ΐΐυΰώ / ... η Αυκίην, Verg. Aen. 12,858: Parthus sive Cydon); bisweilen bei Berufsbezeichnungen (Apoll. Rhod. 1,1172 φυτοσκάφος η τις άροτρίύς), in Verbindung mit Tieren (Horn. Ii. 8,338 συος ceypiov ψ λέοντος; Apoll. Rhod. 2,279 αίγας ... ψ τρόκας) oder Pflanzen (Horn. D. 13,389f. δρυς ... η άχίρωίς / ψ ιτίτνς; Verg. Aen. 11,69 seu mollis violae seu languentis hyacinthi); selten auch bei Gerätschaften (Apoll. Rhod. 3,757f. ήε Χίβητι / ψ ... iv γαυλφ). 65 Quint, inst. 8,3,74 verbietet dementsprechend dem Redner den Einsatz von

Gleichnissen, die nicht sogleich nachvollziehbar sind: non ... oratorem decebit, ut occultis aperta

demonstret

66 Siehe oben S. 57f. 67 Ziemlich ratlos ist E.G. Schmidt (in den Anmerkungen zur Neuausgabe der Dielsschen Ubersetzung [1991], 364) angesichts des von Lucrez geschilderten Vorgangs: »[...] ein offenbar routinemäßiges Verfahren, das von Lukrez jedoch nicht ausreichend klar beschrieben wird«. Vollständig abwegig erscheint mir Giussani ΠΙ (Κ 1897), 190: »La frequenza delF uso ha certo occasionato il gioco d' abilita qui descritto da Lucrezio«.

Lucrez

90

imago hat, demonstrieren läßt. Zu dem experimentellen Charakter des Gleichnisses gehört auch, daß Lucrez im Gegensatz zu den in der Dichtung sonst üblichen Berufsangaben68 durch das Indefinitpronomen siquis offenläßt, wen er nun als Ausführenden ansehen will. Diese Unscharfe des Ausdrucks hat zudem den Vorteil, daß sich jeder Leser aufgefordert fühlen kann, das, was Lucrez beschreibt, selbst einmal nachzumachen. So gelingt es ihm, diejenigen, an die er sich wendet und die er belehren will, in seine Ausführungen mit einzubeziehen. Was leistet das Gleichnis aber nun konkret für das Verständnis des Phänomens seitenverkehrtes Spiegelbilds Einleitend beschreibt Lucrez ja zunächst einmal die Beobachtung, die sich beim Blick in den Spiegel einstellt, um dann mit eo quod (293) eine abstrakte Erklärung anzuschließen. Beschreibung und Erklärung sind daher scharf getrennt. Das Bild der Tonmaske verbindet nun durch die sprachliche Gestaltung die Beobachtung mit der Erklärung, schafft also gleichsam die Synthese der zunächst so deutlich voneinander abgesetzten Teile. Indem Lucrez in allidat das zuvor verwendete Verbum eliditur aufnimmt, verifiziert er zugleich die Terminologie, mit der er die Entstehung des seitenverkehrten Spiegelbildes beschreibt. Zugleich ergänzt das Bild aber auch die Erklärung: Aus dem Experiment mit der feuchten Tonmaske - prius arida quam sit: im trockenen Zustand ist der Versuch nicht mehr durchführbar - geht erst hervor, daß Lucrez das >Bildchen< als dreidimensional verstanden wissen will," weil es nur so durch die Wucht des Aufschlags deformiert und >umgestülpt< werden kann. Das Gleichnis verleiht also den vorausgegangenen Ausführungen des Dichters nicht nur Glaubwürdigkeit durch die Legitimation der epikureischen Terminologie durch ihren Einsatz bei analog gedachten, dem Leser einsichtigen Vorgängen, sondern vermittelt sogar weitergehende Informationen, die der Haupttext nicht bietet. Die an dem Tonmasken-Gleichnis gewonnenen Beobachtungen lassen sich an der folgenden Vergleichung aus dem fünften Buch vertiefen. Im Rahmen seiner Darstellung der Entstehung des Kosmos beschreibt Lucrez dort die Trennung von feuerhaften, aus glatten und runden Atomen bestehenden aether von der schwereren Erde (5,457-470): 457

[...] ideo per rara foramina terrae partibus erumpens primus se sustulit aether

68 Siehe oben S. 62 und S. 68f. 69 Vgl. Bailey ΠΙ (Κ 1947), 1216.

Lucrez

91

ignifer et multos secum levis abstulit ignis,

460

465

470

non alia longe ratione ac saepe videmus, aurea cum primum gemmantis rore per herbas matutina rubent radiati lumina solis exhalantque lacus nebulam fluviique perennes, ipsaque ut interdum tellus fumare videtur omnia quae sursum cum conciliantur, in alto corpore concreto subtexunt nubila caelum: sic igitur tum se levis ac diffusilis aether corpore concreto circumdatus undique |saepsitf et late diffusus in omnis undique partis omnia sic avido complexu cetera saepsit.

Die Ausgangssituation für dieses Gleichnis ist gegenüber den bisher besprochenen Beispielen verändert. Während Lucrez dort lediglich vor dem Problem stand, Sachverhalte illustrieren zu müssen, die der direkten Wahrnehmung aufgrund ihrer geringen Größe nicht zugänglich waren, kommt hier eine weitere Schwierigkeit hinzu. Die Beschreibung des aus den Flüssen aufsteigenden Morgennebels soll dem Leser den Verlauf eines einmaligen, bereits in ferner Vergangenheit abgeschlossenen und daher nicht mehr wiederholbaren Ereignisses nahebringen, das sich zudem in Dimensionen vollzogen hat, die der Beobachtbarkeit durch den Menschen ohnehin verschlossen geblieben wären: Nicht nur die Kleinheit der aether-Atome, die durch das Bild des Nebels sichtbar gemacht werden, sondern vor allem die Ausmaße des Universums erschweren in diesem Fall den Zugang. Um dem Leser mit der Vergleichung eine echte Verständnishilfe zu bieten, muß Lucrez daher das Bild so auswählen, daß es zum einen den zu illustrierenden Prozeß auf eine überschaubare Größe reduziert, zum anderen der Erfahrungswelt des Lesers entnommen ist. Diese Vorgaben fordern eine Parallelisierung von Vorgängen nach der Erdentstehung mit Vorgängen bei der Erdentstehung geradezu heraus - eine Ausgangssituation für eine Vergleichung, mit der die Verfasser erzählender Epen in der Regel nicht konfrontiert werden.70 Lucrez achtet daher auch bei der Auswahl dieses Bildmotivs genaustens auf seine naturwissenschaftliche Stimmigkeit. Das Gleichnis

70 Direkt vergleichbar ist, soweit ich sehe, allenfalls Ov. met. 1,422-429, wo der Dichter - methodisch möglicherweise in spielerisch-parodistischer Form an Lucrez anknüpfend - das Zurückgehen des Wassers am Ende des diluviums und die Entstehung neuen Lebens mit dem Zurückgehen der Nilschwelle und der Entwicklung von Tieren aus dem zurückbleibenden Nilschlamm anschaulich zu machen versucht. >Anachronistische< Gleichnisse ferner bei Enn. ann. 79-83 Sk. (Spannung bei Beginn eines Wagenrennens); Verg. Aen. 9,710-716 (Pfeiler, der bei Baiae als Fundament für eine Luxusvilla ins Meer gesenkt wird), an beiden Stellen besteht jedoch sachlich kein Zwang für den Vergleich von Gegenständen unterschiedlicher Zeitstufen.

92

Lucrez

basiert ja auf der Ähnlichkeit von Nebel und aether, und beide sind insofern vergleichbar, als ihre Atomverbände nur sehr locker und höchst beweglich angeordnet sind.71 Darüber hinaus konstruiert Lucrez zwischen Nebel und aether aber noch eine weitere Verwandtschaft: Der aether ist ignifer (459) und diffusilis (467),72 von dem aufsteigenden Nebel sagt Lucrez ipsaque ut interdum tellus fumare videtur (464) und weist so die beiden auf den ersten Blick ganz unterschiedlichen Gegenstände demselben Bereich zu. Nebel und Rauch werden zudem auch sonst von Lucrez einander zugeordnet.73 Trotz der unübersehbaren zeitlichen Distanz sind die Vorgänge daher aufgrund ihrer >Zutaten< durchaus kompatibel. Dennoch ist der Anschluß der Parabole keineswegs so glatt und flüssig, wie es die naturwissenschaftliche Konzinnität vermuten läßt. Die Angabe des eigentlichen Vergleichsgegenstandes wird lange hinausgezögert. In einem die gesamte Länge des Hexameters beanspruchenden Einleitungssatz non alia longe ratione ac saepe videmus (460) klärt Lucrez zunächst einmal die Grundbedingungen, die ihn zur Auswahl des Vergleichsmotiv bewogen haben: Wichtig ist die Möglichkeit der unmittelbaren Beobachtbarkeit des Vorgangs, die Lucrez mit videmus suggeriert. Ein solcher Hinweis auf das unmittelbar Sinnlich-Wahrnehmbare ist wie auch der Gebrauch der 1. Person Plural in der erzählenden Epik unüblich:74 »He [Lucretius] knows that a claim to autopsy lends immediacy to the drabbest exposition«.75 Die adverbiale Bestimmung saepe gibt zudem an, daß der Vorgang geläufig und beliebig oft wiederholbar ist. An diese einleitende Vorbemerkung schließt sich zunächst eine Zeitangabe an, die in umständlicher Periphrase ge-

boten wird: aurea cum primum gemmantis rore per herbas / matutina rubent radiati lumina solis (46 lf.). Mit der Erwähnung der taufunkelnden Grashalme und der roten Morgensonne - sprachlich wirkungsvoll gestaltet durch die Häufung von Epitheta ornantia: gemmantis, matutina, radiati - bestimmt der Dich-

71 Vgl. Lucr. 2,456-461. 72 Zur Etymologisierung von fumus - diffundo - (diffusilis) vgl. Snyder (1980), 103f. 73 So ζ. B. Lucr. 2,457 diffugere, ut fumum nebulas flammasque, necessest; 3,430 quippe ubi imaginibus fumi nebulaeque movetur. 74 Ausnahmen: Apoll. Rhod. 2,541-548 (herumirrender, aus der Heimat vertriebener Mensch); Verg. Aen. 12,908-914 (Traumgleichnis), dazu Williams (1980), 194: »This technique is characteristic of didactic poetry [...] that direct approach to the reader is normally alien to the impersonality of the epic poet's persona«. 75 West (1969), 15. In dieselbe Richtung geht auch die stereotype Einleitung von Beispielen durch nonne vides, dazu ausführlich Schiesaro (1984), 143-157.

Lucrez

93

ter jedoch nicht nur die Tageszeit in hochpoetischer Diktion,76 sondern versucht vielmehr auch den Eindruck unberührter Friedlichkeit77 zu vermitteln, die zu dieser Tageszeit herrscht. In diese Stimmung fügt sich die Beschreibung des aufsteigenden Morgennebels gut ein, der nur als Objekt ohne eigene Aktivität erscheint. Zu der friedlichen Szenerie steht der Vorgang, den sie illustrieren soll, in deutlichem Kontrast. Das Auseinandertreten von aether und terra beschreibt der Dichter mit den Verben expnmere (453), erumpere (458) und auferre (459) als höchst gewaltsamen und nur unter großem Kraftaufwand durchführbaren Prozeß. Der bereits erwähnten naturwissenschaftlichen Kongruenz von Bild und Sache steht somit eine Inkongruenz in ihrer Intensität gegenüber, wie sie sich auch in erzählend-epischen Gleichnissen bisweilen beobachten läßt; dort jedoch basiert der Kontrast zum großen Teil auf der unterschiedlichen Qualität der verglichenen Stoffe.78 Im Kontext der lucrezischen Lehre wird erst durch die Kombination von stofflicher Kongruenz und Inkongruenz in der Intensität des Handlungsablaufs die didaktische Funktion erreicht. Durch die Auswahl eines Bildes, das gerade das langsame Aufsteigen betont, wird der Prozeß für den Betrachter beobachtbar; Lucrez bietet gewissermaßen eine >Zeitlupenaufnahme< des Geschehens, die - zusammen mit der Auswahl eines sinnfälligen Vorganges und der Reduktion auf eine überschaubare Größe - wesentlich zu seinem Verständnis beiträgt: Das Bild erweist die kosmogonischen Vorgänge als etwas größer dimensionierte Abläufe alltäglicher Phänomene. Doch beschränkt sich das Gleichnis nicht auf die Erläuterung und Umsetzung des bis dorthin vermittelten Lehrstoffes. Hatte Lucrez in den vorausgegangenen Versen lediglich den Vorgang der Trennung von erdhaften und feurigen Elementen zur Sprache gebracht, so beschreibt er in der Parabole auch den

76 Die Poetizität der Beschreibimg würdigen Townend (1965), 101; Costa V (K. 1984), 80. Lachmann JEd 41871], 293) will die Verse 461f. als abundantes und deswegen unlucrezisches Element tilgen. Daß es sich bei der stilistischen Gestaltung des Gleichnisses allerdings keinesfalls um »a good example of L.'s enjoyment of painting a picture of his own sake« handelt, wie Costa (V [Κ 1984], 80) schreibt, wird die Interpretation zeigen. 77 Völlig anders dagegen das >Nebelgleichnis< Horn. Ii. 3,10-14, das - insbesondere in Vers

11 τοιμίσιν ούτι φιΧην, κλΐ-κτη δί re νυκτός άμΰνω - die Bedrohlichkeit der Situation ausmalt. Auch das Gleichnis Ov. met. 13,602f. betont - trotz des unmittelbaren Bezuges auf Lucrez (dazu Börner Ov. met. Π [Κ 1982], 355) die verhüllende Funktion des Nebels durch nec sol admittitur infra (13,603). Auch Lucr. 6,476-480, wo ein ähnlicher Vorgang die Entstehung von Wolken erklärt, verweist Lucrez mit der Formulierung suffundunt sua caelum caligine (479) auf die Verdüsterung des Himmels durch die Wolken. 78 Ζ. B. Horn. II. 12,278-289 (dichter Steinhagel wird mit Schneegestöber verglichen); Π. 13,588-592 (die vom Harnisch des Menelaos abprallenden Pfeile werden mit geworfelten Bohnen und Erbsen verglichen).

94

Lucrez

Schritt nach dem Entweichen des Nebels aus dem Wasser: omnia quae sursum cum conciliantur, in alto / corpore concreto subtexunt nubila caelum (465f.). Die Antapodosis knüpft ausschließlich an diese letzten Informationen der Parabole an: se ... aether / corpore concreto circumdatus undique f saepsit f [···] (467f.). Dadurch, daß der Dichter die Formulierung corpore concreto, mit der er in der Parabole die Vereinigung des Nebels zu Wolken beschrieben hatte, in der sachlichen Übertragung in wörtlicher Wiederholung auf den aether bezieht, identifiziert er Bild und Sache miteinander, um so von dem Gedanken der Trennung bruchlos zu dem der Herausbildung von Himmel und Erde überleiten zu können. Das Gleichnis wiederholt also nicht nur auf anderer Ebene einen Teil des Lehrstoffes, sondern greift schon den weiteren Ausführungen vor, es hat also gewissermaßen >ScharnierfunktionBelege< dafür anzuführen, wie man sich auch das Aussehen der unsichtbaren simulacra vorzustellen hat. Das

80 Vgl. Bailey ΠΙ (Κ 1947), 1196: »a commonplace of literature«: Aristoph. nu. 346f. (parodistische Verwendung eines naturwissenschaftlichen Beispiels); Aristot. de insomn. 3, p.461bl9-21; Diod. 3,50,4; Nachwirkung auch bei Cie. div. 2,49, dazu Pease, Cie. div. Π (Κ 1923), 433f.

Lucrez

96

Gleichnisbild enthält also wiederum in seinem zweiten Teil Informationen, die der Dichter seinem Leser im Haupttext vorenthält. Dadurch bindet Lucrez einerseits Bild und Sache auch inhaltlich eng aneinander, da die Parabole die Vermittlung von Lehrstoff nur auf einer anderen Ebene fortsetzt. Er vermeidet aber auch, daß die Lehre von den simulacra allzu spekulativ erscheint, da deren verschiedene Formen ja der Einsicht des Menschen erst nahegebracht werden müssen. Doch bietet gerade dieser zweite Teil der Parabole viel mehr als die Illustration des engeren Textzusammenhanges. Schrijvers und Hardie erkennen in dem Bild eine Umsetzung des mythischen Gigantenkampfes; magni monies und avulsa saxa sind die traditionellen Waffen im Kampf gegen Zeus.81 Wenn Lucrez dieses Großereignis des Mythos in die fragile Sphäre der Wolken verlegt, deren Wandelbarkeit ihn gerade zur Auswahl des Bildes Anlaß bewogen hat, gibt er ihn der Lächerlichkeit preis: Die Gigantomachie ist lediglich ein Produkt der Illusion.82 So ist das Gleichnis nicht nur wissenschaftliches Demonstrationsobjekt, sondern Träger der lucrezischen Ideologie. In dieselbe Richtung geht auch die Bedeutung, die das Bild zusätzlich für den weiteren Lehrstoff des Lucrez hat. Im Zuge seiner Ausführungen im vierten Buch kommt er nach der Erklärung der Sinneswahrnehmungen auf diejenigen simulacra rerum zu sprechen, die nicht über die Zwischenstation >AugeFabelwesen< exakt diejenigen simulacra verantwortlich sind, die Lucrez zuvor durch das Gleichnis illustriert hatte (4,735-738):

81 Vgl. Schrijvers (1983), 355-358; Hardie (1986), 211f.; zuletzt Gale (1994), 186f., die die Stelle als Beispiel für die lucrezische Praxis der »demythologization« bespricht. 82 Vgl. Schrijvers (1983), 355f.; Hardie (1986), 212. 83 Vgl. Lucr. 3,1011: Cerberus et furiae iam vero et lucis egestas.

Lucrez 735 738

97

omne genus quoniam passim simulacra feruntur, partim sponte sua, quae fiunt aere in ipso, partim, quae variis ab rebus cumque recedunt et quae confiunt ex horum facta figuris.

Mit den Formulierungen sponte sua und fiunt aere in ipso nimmt Lucrez explizit auf den Abschnitt über die spontan entstehenden simulacra Bezug. Das Gleichnis, das er dort verwendet, ist somit zugleich die Basis für die Erklärung der Fabelwesen.84 Daß der Leser von De rerum natura die physikalischen Ursachen für die Entstehung solcher Ungeheuer kennt, ist wiederum eine wichtige Voraussetzung dafür, daß er die Angst vor ihnen verliert. Daher leistet das Bild von den Wolkenformationen zumindest indirekt auch einen Beitrag zur Beseitigung der Furcht vor den als >übernatürlich< geltenden Phänomenen, unter der die Menschen aus Unkenntnis ihrer Ursachen leiden. Der Mensch in seinen Handlungen, Gefühlen und Bedürfnissen, der >klassische< Ausgangspunkt der Gleichnisse im erzählenden Epos, wird im Lehrzusammenhang von De rerum natura nur an einer einzigen Stelle mit einem Gleichnis belegt, das aber gleichwohl mehrere Charakteristika lucrezischer Gleichnistechnik erkennen läßt. Wie das dritte Buch mit den emotional gefärbten Ausführungen gegen die Todesfurcht einen dramatischen Schluß findet, so stellt Lucrez an das Ende des vierten Buches eine leidenschaftliche Diatribe über die Unsinnigkeit des ungezügelten Liebesverlangens, das er aufgrund der sinnlosen Peinigungen, die es für den Liebenden mit sich bringt, scharf ablehnt. In einem Gleichnis beschreibt er die Qualen eines liebeskranken Menschen (4,1097-1104): 1097 1100

1104

ut bibere in somnis sitiens cum quaerit et umor non datur, ardorem membris qui stinguere possit sed laticum simulacra petit frustraque laborat in medioque sitit torrenti flumine potans, sie in amore Venus simulacris ludit amantis nec satiare queunt spectando corpora coram nec manibus quiequam teneris abradere membris possunt errantes incerti corpore toto.

Das Bild des Träumenden, der seinen brennenden Durst nicht zu löschen vermag, wirkt insgesamt viel >epischer< als alle anderen Gleichnisse in didaktischem

84 Vgl. Ackermann (1979), 40. In der Beschreibung der >Wolkenberge< im sechsten Buch (Lucr. 6,194-198) fehlt denn auch ein derartiger Verweis, zu der Stelle ausführlich Schrijvers (1970), 247f.

98

Lucrez

Kontext. Dieser Eindruck entsteht zum einen dadurch, daß dieses Gleichnis sich auf den Seelenzustand von Menschen bezieht, der ja auch im erzählenden Epos nicht selten in Gleichnissen gespiegelt wird. Traumgleichnisse haben zudem in der Epik eine lange Tradition: Schon Homer vergleicht im 22. Gesang der Ilias die Verfolgungsjagd zwischen Hektor und Achill mit der beklemmenden Situation eines Alptraums.85 Lucrez bleibt bei der Vorstellung des Träumens; er wählt jedoch für den Traum ein anderes Motiv aus, das gleichwohl Assoziationen mit dem Mythos weckt: Wenn er den Liebenden mit einem ewig Durstigen vergleicht, läßt er ihn dieselben Qualen leiden, die auch Zeus dem Frevler Tantalus auferlegt hat.86 Die Formulierung medio in flumine erinnert an die Tantalusqual, die in der Nekyia der Odyssee beschrieben ist.87 Daß eine Assoziation der Liebesqual mit dem Leiden, das die Menschen als ewige Jenseitsstrafe einer mythischen Person zuschreiben, vom Dichter durchaus gewollt ist, wird deutlich, wenn man bedenkt, daß Lucrez ja auch in seinen Ausführungen über die Unsinnigkeit der Todesfurcht am Schluß des dritten Buches auf die vermeintlichen Qualen, die den Menschen im Tartarus erwarten, zu sprechen kommt und sie psychologisch geschickt als Allegorien der menschlichen Seelenängste deutet. Auch auf die Leiden des unglücklich Liebenden geht Lucrez in diesem Zusammenhang ein: Er sieht die Liebesqual in den Leiden des Tityos symbolisiert, dessen Körper die Vögel zerfleischen (3,992f.): 992 993

sed Tityos nobis hic est, in amore iacentem quem volucres lacerant atque exest anxius angor,

und diese Verse legen die Vermutung nahe, daß der Dichter in dem Gleichnis an den Tantalos-Mythos zumindest gedacht hat.88 So bekommt die Verglei-

85 Horn. Ii. 22,199-201. Auch Vergil wird im 12. Buch der Aeneis Turnus' vergebliche Flucht vor dem übermächtigen Aeneas durch ein Traumgleichnis illustrieren (Verg. Aen.12,908-914); zu den Änderungen, die Vergil an der homerischen Vorlage vornimmt vgl. Hübner (1970), 33 m. Anm. 139 (dort auch weitere Literatur). Von der epikureischen Traumtheorie beeinflußt ist Verg. Aen. 10,640-642, wo der Dichter das von Iuno hergestellte Trugbild des Aeneas, das Turnus vom Kampfplatz locken soll, mit einem Traumbild vergleicht. 86 Vgl. Leonard-Smith (K. 1942), 620; ausführlich Brown (K 1987), 236. Für die Bekanntheit der Tantalusgeschichte insbesondere bei den römischen Dichtern verweist Brown auf Lucil. frg. 140 Marx und Hör. sat. 1,1,68; mit eindeutig erotischer Assoziation Ach. Tat. 2,35,4, wo die vergängliche Schönheit des Knaben τφ τον Ταντάλου πωματι verglichen wird. 87 Horn. Od. 11,583 έσταότ' hv Χίμvrj, vgl. Gale (1994), 184.

88 Lucr. 3,980f. nec miser impendens magnum timet aere saxum / Tantalus, ut famast, cassa

formidine terpens spricht nicht gegen die Annahme, da hier lediglich ein anderer Aspekt der Bestrafung des Tantalos zur Sprache kommt, der den Dichter folglich auch zu einer anderen allegorischen Deutung veranlaßt.

Lucrez

99

chung sowohl durch den Kontext als auch durch die Beziehung zur Mythologie eine ausgeprägt epische Färbung. Durch die Verbindung zu den allegorischen Mythendeutungen im Finale des dritten Buches wird die >Tantalusqualnaturwissenschaftlichen Grundlagen für das Gleichnis bei seinen Lesern als bekannt voraussetzen und mit ihnen operieren kann. Die Ursachen für Durst und Hunger und auch den Vorgang der Sättigung bespricht Lucrez im Anschluß an seine Ausführungen über die Sinneswahrnehmungen. Nach epikureischer Theorie entsteht Durst durch die Zusammenballung von Hitzeatomen im Magen des Menschen, und die Flüssigkeit, die er daraufhin zu sich nimmt, >löscht< den Durst (4,871-874): 871 874

[...] glomerataque multa vaporis corpora, quae stomacho praebent incendia nostro, dissipat adveniens liquor ac restinguit ut ignem, urere ne possit calor amplius aridus artus.

Wenn Lucrez in der Parabole das Stillen des Durstes mit der Wendung ardorem stinguere bezeichnet, entspricht diese Wortwahl ganz genau der epikureischen Theorie.89 Auch die irreale Situation eines Alptraums, die Lucrez hier heraufbeschwört, hat einen deutlichen Bezug zur Lehre des vierten Buches, bildet doch die Theorie des Träumens ein großes Kapitel, von dem aus der Dichter zu seiner Ablehnung der Liebesleidenschaft überleiten kann. Der Traum vom ungestillten Durst wird vom Dichter in diesem Zusammenhang sogar als Musterbeispiel für einen Alptraum genannt,90 so daß der Verweis auf die lucrezische Lehre im Gleichnis noch deutlicher zu Tage tritt. Der Dichter setzt zuvor gewonnene Erkenntnisse ein, um das vergebliche Trachten der Verliebten zu

89 Vgl. Brown (K 1987), 237. 90 Lucr. 4,1024f. flumen item sitiens aut fontem propter amoenum / assidet et totum prope faucibus occupat amnem.

100

Lucrez

erklären, indem er Vorgänge, deren physikalische Grundlagen er im vierten Buch erarbeitet hat, nun mit dem Phänomen der Liebesleidenschaft, dem der Leser noch hilflos ausgeliefert ist, parallelisiert und sowohl sprachlich als auch sachlich Ähnlichkeiten zwischen den jeweils ablaufenden Vorgängen herausstellt. Das Wort ardor, das Lucrez in der Parabole in seiner wörtlichen Bedeutung zur Bezeichnung des brennenden Durstes verwendet hat, ist bei ihm ebenso Metapher für die Liebesleidenschaft91 - ein aus der literarischen Tradition geläufiges Bild: »Fire is perhaps the commonest of the metaphors associated with passion«;92 aber auch aus epikureischer Sicht legt der ähnliche Klang der Substantive ardor und amor eine solche Gleichsetzung nahe.93 Folglich nennt Lucrez die Bekämpfung dieser Leidenschaft restinguereflammam?*Er signalisiert so dem Leser, daß er die Ursachen für Liebe und Durst als dieselben erachtet. Der Situation im Alptraum entsprechend - das Oxymoron sitit torrenti flumine potans95 unterstreicht eindrucksvoll die Zwangslage, in der sich der Dürstende befindet - ist allerdings die >Liebesglut< nicht zu löschen, und der Versuch, durch die ständige Anwesenheit der Geliebten das Verlangen zu stillen, vermag keine echte Linderung zu schaffen. Abgesehen von den unangenehmen Assoziationen, die die Vorstellung hervorruft, von einem brennenden Durst gequält zu werden und nicht genug zu trinken zu haben, obwohl man inmitten eines Flusses steht, trägt jedoch auch die Kenntnis der epikureischen Traumtheorie und der Theorie der Sinneswahrnehmungen überhaupt wesentlich zum Verständnis des Gleichnisses bei. Als Ursache des Träumens hat Lucrez lose umherfliegende Bildchen genannt, die dem Menschen im Schlaf in den Verstand dringen96 und ihm dadurch Situationen vorspiegeln, die er nur in seiner Einbildung erlebt. Es sind dies simulacra rerum von ähnlicher Beschaffenheit wie die, vermittels derer das menschliche Auge >siehtErdgeschichteGruppierung< von Gleichnissen lassen sich verschiedene Typen ausmachen, die im folgenden vorgestellt werden sollen: 1. die Gleichnisreihe; 2. Gleichnisse mit unterschiedlichen Motiven, auf denselben Lehrstoff bezogen; 3. Gleichnisse mit ähnlichen Motiven, auf denselben Lehrstoff bezogen; und schließlich 4. Gleichnisse mit ähnlichen Motiven, auf unterschiedlichen Lehrstoff bezogen. Das sechste Buch weist in seinem ersten Teil eine besonders hohe Gleichnisdichte auf. Lucrez behandelt dort ausführlich die kosmischen Phänomene Blitz und Donner, denen eine rationalistische Erklärung die Aura des Numinosen entziehen soll: Die Donnergeräusche entstehen nicht aufgrund von Götterzorn, sondern durch den Zusammenprall von Wolken, in denen sich der Wind fängt oder die vom Wind gegeneinandergetrieben werden. In einem besonders gleichnisreichen Abschnitt (6,132-159) erläutert Lucrez, wie je nach Art der Wolken die optischen und akustischen Eindrücke, die der Beobachter des Gewitters empfängt, verschieden ausfallen: Besonders >harte< Wolken erzeugen ein Krachen, das an den Lärm vom Wind gegeneinanderschlagener Blätter und Aste erinnert (6,133-136): 133

[...] etenim ramosa videmus nubila saepe modis multis atque aspera ferri;

Lucrez 135 136

111

scilicet ut, crebram silvam cum flamina cauri perflant, dant sonitum frondes ramique fragorem.

>Wolkenströmungen< verursachen das Getöse sich brechender Wellen (6,142144): 142 144

sunt etiam fluctus per nubila, qui quasi murmur dant in frangendo graviter; quod item fit in altis fluminibus magnoque mari, cum frangitur aestus.

Fährt in eine >feuchte< Wolke ein Blitz, so ertönt ein Zischen, als tauchte man Eisen in einen Löschtrog (6,145-149): 145

149

fit quoque, ubi e nubi in nubem vis incidit ardens fulminis; haec multo si forte umore recepit ignem, continuo magno clamore trucidat ut calidis candens ferrum e fornacibus olim stridit, ubi in gelidum propere demersimus imbrem.

Eine >trockene< Wolke schließlich nimmt den Blitz mit einem Prasseln auf, das an einen brennenden Lorbeerbaum denken läßt (6,150-155): 150

155

aridior porro si nubes accipit ignem, uritur ingenti sonitu succensa repente; lauricomos ut si per montis flamina vagetur turbine ventorum comburens impete magno, nec res ulla magis quam Phoebi Delphica laurus terribili sonitu flamma crepitante crematur.

Die Gleichnisse folgen so dicht aufeinander, so daß sie beinahe, am Ende des Abschnittes sogar direkt aneinander anschließen. Da es sich ausschließlich um kurze similitudines sine antapodosi handelt, deren Parabole die Länge von zwei Hexametern nur im letzten Gleichnis (6,150-155) überschreitet, Wechsel Haupt- und Gleichnistext sehr rasch. Der gesamte Abschnitt bekommt dadurch eine besondere Dramatik, die an die Kampfschilderungen eines heroischen Epos erinnert, zumal auch der Iliasdichter Gleichnisse an besonders bewegten Stellen seines Werkes häuft. 12 ' Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, daß die Elemente oft als agierende Subjekte gezeigt werden (vis venti [137], vis fulminis [145f.],

126 So z.B. Horn. Π. 2,455-483 (Auszug der Achaier): Masse und Unruhe des Heervolkes werden in insgesamt fünf Gleichnissen - allerdings ohne Zwischentext - beschrieben. Zum Phänomen des Gleichnisblocks ausführlich unten S. 216f.

112

Lucrez

wobei die ebenfalls dem Epos entlehnte Periphrase mit vis127 die Haupteigenschaft der Elemente hervorhebt; nubes accipit ignem [150]) und sich auch in ihren >Reaktionen< bisweilen sehr menschlich geben: Wenn die feuchte Wolke, in die der Blitz hineinfährt, continue magno clamore trucidat (147), beschreibt eine solche Formulierung eher das Ende eines epischen Kampfes denn ein Naturereignis. Die Verse, die Lucrezens Ausführungen über Blitz und Donner eröffnen, bestätigen diese Interpretation (6,96-98): 96 98

principio tonitru quatiuntur caerula caeli propterea quia concurrunt sublime volantes aetheriae nubes contra pugnantibu' ventis [...]

Die Beschreibung des Aufeinandertreffens der Elemente als Kampf ( c o n c u r r u n t [97], contra pugnantibu'[98]) kennzeichnet bereits in der Einleitung den Gegen128 stand als besonders episch: Der Donner wirkt wie die Fanfaren, die die Kampfhandlungen der Elemente begleiten. Dazu paßt auch die Auswahl der Vergleichsgegenstände: Auch in der heroischen Epik werden Getöse, Geschrei und Kampflärm immer wieder in Gleichnissen überhöht. Die Motive ähneln denen, die auch Lucrez auswählt: Das Geschrei der Achaier und der Lärm auf dem Schlachtfeld erinnert den Dichter mehrfach an das Tosen von Wasser,129 und das Geräusch vom Wind gegeneinandergeschlagener Äste als Gleichnismotiv ist ebenfalls bereits in einem Iliasgleichnis vorgebildet. 130 Sogar in der Verbindung der drei amorphen Elemente Wasser - Feuer - Wind folgt Lucrez den Vorgaben eines quantifizierenden homerischen Dreifachgleichnisses, welches das Kampfgeschrei (άλάλητός) mit einer gegen das Festland brandenden Woge, dann mit dem Feuer in einem Bergtal und schließlich mit dem Sturm, der in einem Eichenwald rauscht, zu veranschaulichen sucht (Horn. Ii. 14,394-401): 394 395

400 401

oüre θαλάσσης κύμα τόσον ßoaq ποτΐ χίρσον, τovTodev όρνΰμενον πνοιή Βορίω äXeyetvij obre τυρός τόσσος ye ποτι βρόμας α'ιΰομίνοω οΰρβος ev βησσης, on τ' öspero καιίμβν νλην οϋτ' άνΐμος ιοααον ye -Kepi δρυσιν ΰψικόμοισιν ητΰίΐ, ός re μάλιστα μ έ γ α βρίμεται χαλίταίνων, οσση άρα Τρώω ν καϊ ' Αχαιών ϊπλίτο φωνή deivov άυσάντων, οτ' ίκ' άλληλοισιν δρούσαν.

127 Vgl. Derochette (1929), 69, der auf homerische Formulierungen wie βίη ' Η ρ α κ λ η ο ς und Ις Τηλεμάχοιο hinweist. 128 Vgl. auch Verg. georg. 1,318: ventorum concurrere proelia vidi, dazu Carilli (1986), 180. 129 So z.B. Horn. Ii. 2,394-397; 4,422-428; 17,263-266. 130 Horn. H. 16,765-771.

Lucrez

113

In der lucrezischen Gleichnisreihe ist die Reihenfolge der Elemente allerdings gegenüber Homer verändert. Lucrez beginnt mit dem Wind, schließt das Wasser an und endet mit dem Feuer. Der Grund für diese Umstellung ist wohl ein sachlicher: Die ersten beiden Gleichnisse behandeln das leichter zu erklärende Phänomen >Donner ohne Blitzwolkeninterne< Geräusche, während die folgenden Gleichnisse die Geräusche illustrieren, die beim Eintritt einer weiteren Kraft, des Blitzes, in die zuvor erklärten >feuchten< oder trockenem Wolkentypen entstehen. Aus demselben Grund erweitert Lucrez das homerische Gleichnistrikolon um ein weiteres Bild aus dem handwerklich-technischen Bereich, das das Aufeinandertreffen von Feuer und Wasser darstellt (6,145-149), das aber ebenfalls unmittelbar auf ein Bild Bezug nimmt, mit dem im 9. Gesang der Odyssee das Zischen beim Ausbohren des Kyklopenauges beschrieben wird (Horn. Od. 9.391-394):131 391 394

ως δ' οτ' άνηρ χάΚκβυς τίΧβκυν μί-γαν ήέ σκίταρνον άν ϋδατι φνχρω βάττη μεγάλα Ιάχοντα φαρμάασων το γαρ aire σίδηρου ye κράτος εστίν ώς του σί? οφθαλμός [...]

Wie schon in dem >Eröffnungsgleichnis< von De rerum natura132 charakterisiert Lucrez durch die Auswahl homerischer Gleichnismotive die Elemente als epische Helden und - in den drei ersten Beispielen - die Geräusche, die bei ihren Aktionen entstehen, als >Schlachtlärmepischen< Kontexts eher unwahrscheinlich; die Stellen aus der fachwissenschaftlichen Prosa, die Hardie unter Berufung auf Ernout/Robin ΠΙ ([Κ 1928], 212) zitiert, sind allesamt später als Lucrez. Auch eine »demythologization«, wie Aicher S. 144f. sie vermutet, hätte Lucrez wohl deutlicher gemacht. 132 Siehe oben S. 80. 133 Vgl. Aicher (1991/92), 143, der auf die Parallele stridit / Ιάχοντα hinweist.

114

Lucrez

σον in dem Dreifachgleichnis des 14. Iliasgesanges zeigt. Demgegenüber illustrieren in der lucrezischen Gleichnisreihe die verschiedenen Bilder tatsächlich die verschiedenen akustischen Eindrücke, die der Betrachter eines Gewitters empfängt:134 >RaschelnMurmelnZischenirdischen< Geräusche dem Leser bekannt, ja sogar geläufig sind. Da sie in so ähnlicher Form in den Wolken auftreten, liegt die Schlußfolgerung nahe, daß auch die Beschaffenheit der Wolken in irgendeiner Form den irdischen Vergleichsgegenständen entspricht: Wolken, die wie Laub in den Zweigen rascheln, müssen auch ihrer Zusammensetzung nach ramosa (133) - eine eigens für diesen Beweisgang geschaffene Neubildung des Dichters135 - sein, das Getöse sich brechender Wellen können nur fluctus per nubila (142), ein Zischen nur >feuchtetrockene< Wolken auslösen. Die Identität der akustischen Eindrücke ist daher Grundvoraussetzung für die Beweiskraft der Gleichnisbilder. Unter Berufung auf die irdischen Gegenstücke erklärt Lucrez somit Vorgänge in den μετέωρα, wie es überhaupt in der antiken Naturwissenschaft üblich war.136 Die Ähnlichkeiten zwischen den Geräuschen, die überhaupt erst zur Auswahl der Vergleichsgegenstände geführt haben, fungieren dabei zugleich als Begründungen für die Terminologie, mit der Lucrez die Wolkenarten in ihrer Beschaffenheit zu charakterisieren sucht. Dem entspricht auch die Art der Darbietung und die Reihenfolge von Lehrstoff und erläuterndem Gleichnis: Lucrez beschreibt zunächst den Wolkentypus, indem er ihn mit Kernbegriffen der nachfolgenden Vergleichung belegt, als seien diese terminologisch, so daß die Ähnlichkeit dem Leser von vornherein als naturgegeben erscheinen muß. Durch die viermalige Wiederholung dieses stereotypen Musters Beschreibung des Wolkentypus - erklärende bzw. begründende Vergleichung< stützen sich die einzelnen Beobachtungen gegenseitig: Die Aus-

134 Vgl. Bailey ΠΙ (Κ 1947), 1575. 135 Vgl. Schiesaro (1990), 71. 136 So z.B. auch Sen. nat. 1,14,1, der Himmelserscheinungen mit irdischen Bezeichnungen belegt; zu den naturwissenschaftlichen Vorgängern für dieses Verfahren Leonard-Smith (K. 1942), 781. Zur Vertauschung von Himmel und Erde in der Astrologie (wo sie jedoch anders begründet wird, da der Himmel Vorbild für die Erscheinungen auf der Erde ist) unten S. 220.

Lucrez

115

sagen und somit implizit auch die Methode des Dichters wirken allein schon aufgrund der Häufung analoger Beobachtungen, die sowohl die Auswahl analoger Vergleichsgegenstände als auch analoge Erschließungsmethoden zuläßt, glaubwürdig. Hinter der zunächst so episch anmutenden Gleichnisreihe steht also wiederum der Pragmatismus des Naturwissenschaftlers und Rhetorikers Lucrez. In Motiv und Darbietung völlig anders ist die folgende Gleichnisgruppe, die etwas eingehender untersucht werden soll. Das dritte Buch befaßt sich mit einem zentralen Kapitel der epikureischen Lehre: Es soll die Seele als atomistisch und somit als sterblich erweisen, um den Menschen die Furcht vor Tod und Jenseits zu nehmen.137 Insgesamt drei Gleichnisse138 setzen sich speziell mit dem Verhältnis von Seele und Körper auseinander. Das erste Gleichnis erklärt, warum beim Entweichen der anima aus dem Körper keine Reduktion des Körpergewichtes spürbar ist (3,218-223): 218 220

223

quatenus, omnis ubi e toto iam corpore cessit, extima membrorum circumcaesura tarnen se incolumem praestat nec defit ponderis hilum. quod genus est Bacchi cum Hos evanuit aut cum spiritus unguenti suavis diffugit in auras aut aliquo cum iam sucus de corpore cessit.

Mit einem weiteren Gleichnis will Lucrez zeigen, daß die Seele sich nicht ohne Schaden für beide Teile vom Körper lösen kann (3,325-330): 325

330

nam communibus inter se radicibus haerent nec sine pernicie divelli posse videntur. quod genus e thuris glaebis evellere odorem haud facile est, quin intereat natura quoque eius sie animi atque animae naturam corpore toto extrahere haud facile est, quin omnia dissolvantur.

In dem letzten Gleichnis schließlich geht es ihm darum, die Vorstellung zu entkräften, daß eine Trennung von Körper und Seele für beide Teile vollkommen unschädlich sei (3,339-343):

137 Vgl. Lucr. 3,35-37:[...] animi natura videtur /atque animae claranda meis iam versibus esse / et metus ille foras praeeeps Acheruntis agendus [...]. 138 Ohne interpretatorische Auswertung zusammengestellt von Guglielmino (1896), 25f.; die Zusammengehörigkeit von 3,325-330 und 3,339-343 vermerken Heinze DI (K. 1897), 96f. und Schiesaro (1990), 56.

116

339 340 343

Lucrez non enim, ut umor aquae dimittit saepe vaporem qui datus est, neque ea causa convellitur ipse, sed manet incolumis, non, inquam, sic animai discidium artus possunt perferre relicti sed penitus pereunt convulsi conque putrescunt.

Trotz der auf den ersten Blick unterschiedlichen Motive und des relativ weiten Abstandes, in dem sie zueinander stehen, zeigen diese drei Gleichnisse sowohl inhaltlich als auch sprachlich auffällige Ubereinstimmungen. Ihr gemeinsames Oberthema ist die Trennung von Körper und Seele; dementsprechend entstammen die Prädikate von Parabole und Antapodosis beinahe ausschließlich dem Wortfeld Verflüchtigung, TrennungAußerlichesDidaktisch< ist das Gleichnis also nicht so sehr aufgrund der parallelen Gestaltung von Parabole und Antapodosis als vielmehr aufgrund der expliziten Lenkung des Lesers durch den Dichter, zu der er die >Zweigliedrigkeit< des Gleichnisses voll ausnutzt. Die Identifikation des mit epikureischer Lehre nicht vertrauten Menschen mit unmündigen Kindern wiederholt Lucrez in einem weiteren Gleichnis (3, 87-93) c204 87 90 93

nam veluti pueri trepidant atque omnia caecis in tenebris metuunt, sic nos in luce timemus interdum, nilo quae sunt metuenda magis quam quae pueri in tenebris pavitant finguntque futura. hunc igitur terrorem animi tenebrasque necessest non radii solis neque lucida tela diei discutiant, sed naturae species ratioque.

Auffällig ist die ungewöhnliche Struktur des Gleichnisses. Die Kernaussage sie nos in luce timemus / interdum (88f.) bildet zugleich den Mittelpunkt, um den herum Parabole und Antapodosis ringkompositorisch angeordnet sind. Die eigentliche, durch veluti eingeleitete Parabole ist sehr kurz, sie umfaßt nur gut einen Vers; der Dichter wiederholt aber das in ihm gezeichnete Bild im Anschluß an die sachliche Ausdeutung noch einmal: Die Verse veluti pueri trepidant atque omnia caecis / in tenebris metuunt (87f.) werden in quae pueri in tenebris pavitant finguntque futura (90) wieder aufgenommen. Die Prädikate von Parabole und Antapodosis sind ebenfalls aufeinander bezogen, da sie demselben

204 Zu den Wiederholungen 2,55-61 und 6,35-41 als unechten Zusätzen zum Lucreztext zuletzt überzeugend Deufert (1996), 51-64; vor ihm Diller (1951), 16; Müller (1959), 16.

Lucrez

138

Wortfeld entstammen: trepidant, metuunt, timemus, sunt metuenda, pavitant.20S Ihre pleonastische Häufung betont das zentrale Thema des Gleichnisses: Angst. Trotz der Aufgliederung in veluti - sie sind die beiden Elemente des Gleichnisses also nicht voneinander abgesetzt, sondern Bild und Sache durchdringen sich und gehen teilweise ineinander über. Auch hier entwickelt der Dichter das Gleichnis auf der Basis geläufiger Metaphern.206 So stehen im Lateinischen tenebrae und seine Synonyme obscuritas, caligo u.ä. nicht nur für die real existierende Dunkelheit, sondern beschreiben auch geistige Unkenntnis. 207 In den reflektierenden Partien von De rerum natura sind Dunkel und Licht terminologisch für die Unkenntnis der Menschen bzw. für die Einsichten, die Epikurs Philosophie bringen wird.208 Geradezu programmatisch eröffnet Lucrez das

Proömium: Ο tenebns tantis tarn clarum extollere lumen / qui primus potuisti inlustrans commoda

vitae [...] (3,lf.). Epikur ist die aufgehende Sonne, die die

Dunkelheit vertreibt,209 da sich das Leben der Menschen gewöhnlich in tenebns vollzieht.210 In der Parabole setzt er dann das Wort wieder in seiner konkreten Bedeutung ein, da sich Kinder ja vor der realen Dunkelheit fürchten.211 Diese reale Dunkelheit ist aber auch gemeint, wenn Lucrez in der Antapodosis in luce (88) dem Ausdruck in tenebns (88) der Parabole gegenüberstellt. Dadurch wird das Verhalten der Menschen als besonders lächerlich entlarvt, da die Daseinsängste in luce die in aller Regel völlig grundlose, von Erwachsenen oft belächelte Furcht der Kinder im Dunkeln an Grundlosigkeit übertreffen212 - ein heftiger Vorwurf, den Lucrez dadurch abzumildern versucht, daß er sich durch den Gebrauch der ersten Person des Plurals und das Personalpronomen nos selbst in die Aussagen miteinschließt.213

205 Vgl. West (1969), 85. 206 Vgl. Battisti (1976), 78f. 207 Vgl. OLD Π (1976), 1918 s.v. tenebrae. Auch im Deutschen verwenden wir eine ganz ähnliche Metaphorik, wenn wir von »geistiger Umnachtung« und »Erleuchtung« sprechen. 208 Vgl. dazu die Stellensammlungen von Frances (1963), 170-172; zu den verschiedenen Arten von Lichtmetaphorik bei Lucrez auch Anderson (1960), 2-5; West (1969), 79-85; zuletzt Garbugino (1989), 28-32. 209 So in einem Kurzvergleich 3,1043f.: [Epicurus] omnis / restinxit, stellas exortus ut aerius sol. 210 Lucr. 2,15. 211 Vgl. Bonelli (1975), 653. 212 So auch Sen. ep. 110,6: non omni puero stultiores sumus, qui in luce timemusf, dazu Giussani I (K 1898), 162. 213 Ähnlich etwa Hör. ars 25: deeipimur specie recti, dazu Kiessling-Heinze, Hör. ΠΙ (Κ. Ί959), 292f.: »Fein begreift sich H[oraz] bei solchem Tadel seiner Kunstgenossen mit ein.«

Lucrez

139

Im Schlußsatz des Gleichnisses, der - erkennbar an igitur - die zuvor gemachten Beobachtungen resümiert, konfrontiert er schließlich wörtliche und übertragene Bedeutung. Während tenebrasque durch das hinzugesetzte terrorem animi (91) eindeutig als Metapher gekennzeichnet ist, kann man den folgenden Vers non radii solis neque lucida tela diei / discutiant (92f.) aufgrund des folgenden adversativen sed naturae species ratioque (93) gar nicht anders als wörtlich auffassen. Dadurch, daß die aufeinander bezogenen Begriffe zwar aus demselben Wortfeld stammen, sprachlich aber auf unterschiedlichen Ebenen stehen, entsteht eine paradoxe Situation: Die Dunkelheit ist nicht durch ihren natürlichen Gegensatz »Licht« zu beseitigen, sondern nur durch die abstrakte »höhere Einsicht«.214 Das Verhalten des Dichters seinem Leser gegenüber ist hier ein anderes als in den Methodengleichnissen des ersten Buches. Während er ihm dort noch geschmeichelt und mit dem Honig der Musen anzulocken versucht hatte, stellt er hier die in seinen Augen unsinnigen Befürchtungen des Menschengeschlechts bloß und gibt sie der Lächerlichkeit preis, um ihn so zu bewegen, sich auf Epikurs Philosophie einzulassen. Waren die bisher besprochenen Gleichnisse vorrangig auf den Rezipienten von De rerum natura bezogen, so steht bei den folgenden Tiergleichnissen der Dichter im Mittelpunkt. Das Proömium zum dritten Buch setzt mit einer Prädikation Epikurs ein. Ein Gleichnis beleuchtet Lucrezens Beziehung zu Epikur und dessen philosophischem Werk (3,9-13): 9 10

13

tu pater es, rerum inventor, tu patria nobis suppeditas praecepta, tuisque ex, inclute, chartis, floriferis u t apes in saltibus omnia libant,215 omnia nos itidem depascimur aurea dicta, aurea, perpetua semper dignissima vita.

Der Vergleich des Dichters mit einer Biene ist seit Simonides bezeugt.216 Er ergibt sich wahrscheinlich aus einer älteren Vorstellung,217 die den Wohlklang der Sprache durch Synästhesie mit dem süßen Geschmack des Honigs in Bezie214 Ähnlich Cie. Tusc. 1,45: praeeipue vero fruentur ea, qui tum etiam, cum has terras incolentes circumfusi erant caligine, tarnen acie mentis dispicere cupiebant. 215 Libant ist sichere Konjektur des Humanisten G. Avanzi (in der ersten Aldina, Venedig 1500) für das in Oblongus und Quadratus überlieferte, in Verbindung mit Bienen aber nicht gebräuchliche limant, vgl. Lachmann (Ed 41871), 143: »quod nulla lima est in ore apium pascentium«. 216 Simon, frg. 43 Diehl; vgl. Waszink (1974), 15. 217 Vgl. Waszink (1974), 6.

140

Lucrez

hung setzt. Um so mehr hat es einige Interpreten verwundert, daß Lucrez an dieser Stelle seine Art des Umgangs mit epikureischer Philosophie mit der Sammeltätigkeit einer Biene vergleicht, bedeute das doch, daß er durch diesen Vergleich die Lehre, die er anderenorts selbst als absintbia taetra (1,936) bezeichnet habe, mit dem süßen Honig vergleiche, den die Biene aus den Blüten gewinnt. Schrijvers urteilt: »Ii est toutefois difficile d'imaginer que Lucrece aurait considere les paroles d' Epicure comme ayant une douceur mielleuse«.218 Doch übersieht er dabei, daß Lucrez in dem Bienengleichnis überhaupt nicht von der Süße des Honigs, ja, nicht einmal vom Honig spricht, sondern seine Aussagen bewußt viel allgemeiner hält. Er bringt zwar den Umfang von Epikurs Werk durch in saltibus und seine Ergiebigkeit durch flonferis (11) zum Ausdruck und betont durch aurea dicta ihren Wert, nicht aber ihre geschmacklichen Qualitäten. Selbst die Tatsache, daß die Nennung der Bienen eine Assoziation der aurea dicta (12) mit Honig und seinem süßen Geschmack hervorrufen könnte, bringt die in den beiden Gleichnissen gemachten Aussagen nicht in Widerspruch zueinander. Ebenso wie die Rollen in beiden Gleichnissen unterschiedlich verteilt sind, weil der Dichter dort als Lehrer zum Schüler, hier jedoch als Schüler zum Lehrer spricht, unterscheiden sich auch die Standpunkte, die Lucrez jeweils einnimmt. In dem früheren Gleichnis versetzt der Dichter sich in einen Menschen hinein, der noch an die epikureische Philosophie herangeführt werden muß, wenn er den bitteren Absinth als Bild für seine Lehre heranzieht oder Epikurs Gedanken als res obscurae bezeichnet: Aus der Sicht eines uneingeweihten Lesers, dessen Augenmerk allein dem schlechten Stil epikureischer Traktate gilt, muß diese abstrakte Lehre tatsächlich herb und dunkel erscheinen. Es ist also gar nicht so sehr Lucrezens Meinung, sondern der Standpunkt des Lesers, der sich in jenem Gleichnis widerspiegelt. Anders zu Beginn des dritten Buches: Hier spricht Lucrez für sich selbst, und für ihn, den von der epikureischen Philosophie Begeisterten, der ihren Wert für die praktische Lebensführung erkannt hat, sind die Äußerungen Epikurs, wenngleich nicht »süß«, so doch ebenso inspirierend wie der Honig der Musen,21' vor allem aber von unschätzbarem Wert, eben aurea dicta, / ... perpetua semper dignissima

vita

(\2ί.).ηο Lucrez hat vielleicht eine ähnliche Erfahrung gemacht wie der plato-

218 Schrijvers (1970), 36 Anm.18. 219 So etwa P k t . Io 534a7-b2, vgl. Kenney ΠΙ (Κ 1971), 76; Gale (1994), 137. 220 Nichts berechtigt dazu, die chartae, von denen Lucrez spricht, unbedingt mit den 37 Büchern irept φύσεως Epikurs zu identifizieren, wie Waszink (1974), 32 es will. Problematisch ist auch die Zuweisung der aurea dicta an die κύριοα δόξαι, mögen sie auch ebenfalls unter dem Titel φωναί in Umlauf gewesen sein (vgl. Heinze ΠΙ [Κ 1897], 50).

Lucrez

141

nische Alkibiades, der den abstoßend häßlichen Sokrates mit einem Silen vergleicht, in dessen Inneren sich »goldene Götterbilder« befänden.221 Ein Widerspruch, wie Schrijvers ihn sieht, ergibt sich an dieser Stelle auf keinen Fall. Der Verehrung für sein Vorbild Epikur verleiht Lucrez zusätzlich Nachdruck durch die Formulierung [apes]... omnia libant, /omnia nos itidem depascimur aurea dicta, / aurea, perpetua semper dignissima vita (11-13). Das Verbum libare erinnert - auch seiner Etymologie nach222 - an das kallimacheische Ideal der όλίγη Χιβάς, die für Demeter von Bienen aus der reinen Quelle geschöpft wird (Call. hymn. Apoll. 110-112). Während bei Kallimachos jedoch die Kernaussage darin besteht, daß eben nicht jede Quelle gut genug ist (ουκ αϊτό -παντός [110]), um Wasser daraus zu schöpfen, erachten die lucrezischen Bienen - der Intention des Gleichnisses entsprechend - alle Blüten für hochwertig genug, um daran zu nippen. Eine weitere Steigerung läßt sich in der Antapodosis beobachten. Während die Bienen nur an den Blüten »nippen« (libant [II]),223 »weidet« der Dichter Epikurs Schriften »ab« (depascimur [12]). Depasci ist ein ebenfalls mit Bezug auf Bienen häufig gebrauchtes Wort,224 so daß auch hier wieder ein Ubergang vom bildhaften ins metaphorische Sprechen vorliegt. Um so deutlicher ist erkennbar, daß die Tätigkeit des Dichters erheblich intensiver ist als die der Biene. Das in der Antapodosis durch ίτταναστροφη225 wiederaufgenommene aurea (11 u. 12) zeigt ebenfalls Lucrezens Wertschätzung für Epikur. Was aber ist mit omnia... aurea dicta gemeint? Während Giussani sich darüber Gedanken macht, ob omnia ... aurea dicta nur die Schriften Epikurs umfasse oder auch die Schriften seiner Adepten,226 behilft sich Waszink damit, daß er omnia ... aurea dicta im Deutschen mit »lauter goldene Äußerungen« wiedergibt, weil Lucrez ja nachweislich nicht omnia ... aurea dicta Epikurs in seinem Lehrgedicht verarbeitet habe.227 Demgegenüber geht Clay wieder davon aus, daß Lucrez »extracted the gold from all of Epicurus' writings«.228 Doch berücksichtigen diese Interpretationen nicht den Gesamtzusammenhang, in den Lucrez das Gleichnis eingefügt hat. Der erste Teil des Proömiums besteht aus einer dreistufigen hymnischen Prädikation Epikurs, der zunächst als Lichtbringer, dann als 221 222 223 224 225 226 227 228

Plat. conv. 215a6-b2. Frisk, Et. Wörterbuch Π (1970), 97 s.v. λάβω. ThlL V n , 2,2 (1975), Sp. 1340 s.v. libo: »fere parcius«. Vgl. Bailey Π (Κ 1947), 989; ThlL V,1 (1911), Sp. 561 s.v. depascor. Vgl. Merrill (K 1907), 474. Vgl. Giussani ΠΙ (Κ 1897), 4f. Waszink (1974), 32f. Clay (1983), 180.

142

Lucrez

Schwan oder Pferd, schließlich als »Vater« und »Auffinder der Wahrheit«229 gefeiert wird. Dementsprechend steigert Lucrez auch den Grad der Hingabe an seinen geistigen Vater vom Nachfolgen (sequor [3]) zum Nacheifern (imitari [6]) bis zum Aufnehmen (depascimur [12]) der Lehre Epikurs, die das Gleichnis beschreibt. Omnia unterstreicht - wahrscheinlich rhetorisch übertrieben - die Begeisterung des Lucrez für die epikureische Philosophie. Man sollte also auch die Aussage des Dichters, er schöpfe omnia aurea dicta seines großen Vorbildes aus, nicht so deuten, daß Lucrez tatsächlich alle Schriften Epikurs oder gar alle Schriften epikureischer Philosophie in De rerum natura verarbeitet habe. Durch die Verwendung des absoluten Begriffs omnia bringt er lediglich noch einmal das bedingungslose Vertrauen zum Ausdruck, mit dem er dem Epikureismus begegnet: Jede Schrift Epikurs ist es wert, gelesen zu werden.230 So ist das Bienengleichnis Höhepunkt und markanter Abschluß der ersten Hälfte des Proömiums zum dritten Buch und zugleich eine gute Einleitung zu der Würdigung von Epikurs Leistung, die Lucrez - sozusagen als Begründung für seine Verehrung - folgen läßt (3,14-93). Das Kinderfurcht-Gleichnis, mit dem er diesen zweiten Teil beschließt, bildet dazu einen wirkungsvollen Kontrast. Einen weiteren Tiervergleich verwendet Lucrez zweimal im vierten Buch als Überleitung zu einem neuen Abschnitt (4,175-182; [180-182 = 909-911]): 175

180 182

Nunc age, quam celeri motu simulacra ferantur et quae mobilitas ollis tranantibus auras reddita sit, longo spatio ut brevis hora teratur, in quem quaeque locum diverso numine tendunt, suavidicis potius quam multis versibus edam; parvus u t est cycni melior canor, ille gruum quam clamor in aetheriis dispersus nubibus austri.

Bei dem Vergleich des Dichters mit einem Schwan handelt es sich ebenfalls um ein traditionelles Bild.231 Gegenstand der Betrachtung sind häufig Aussehen und Flug des Schwans, in dem sich Größe und Erhabenheit widerspiegeln, aber auch die hohe Qualität des Schwanengesanges gegenüber dem Gesang anderer

229 So übersetzt Diels (Ed 1924) rerum inventor. 230 In dieselbe Richtung geht auch Heinzes Interpretation (ΠΙ [K 1897], 50): »Die Biene saugt aus allen Blumen [...], so läßt sich aus allen goldenen Worten Epikurs Wahrheit gewinnen.« 231 E.g. Eur. Here. 691f.; Plat. resp. 10,620a4: Der Kleine Pauly, Bd. 5 (1975), Sp.42 s.v. Schwan (W. Richter). Zur Entwicklung des Bildes Warmuth (1992), 88, zuletzt Donohue (1993), 18-29.

Lucrez

143

Vögel.232 Tradition hat zudem der Kontrast zweier Tiere. Die Schlußverse eines Epigramms, das der hellenistische Dichter Antipatros von Sidon für die früh verstorbene Dichterin Erinna verfaßt, kommen der Lucrezstelle bereits sehr nahe (Anth. Pal. VII 713,7f.): 7 8

Χωίτβρος κύκνου μικρός ΰρόος ήβ κοΚοιων κρωγμός ev άαριναις κιδνάμενος νεφίΧαις.

Beide Dichter gehen von demselben Gegensatz aus. Der kurze Gesang des Schwans μικρός ΰρόος, parvus canor wird als Positivum dem mißtönenden Gekrächze anderer Vögel gegenübergestellt, die qualitativ hochwertige Einzelleistung des Individuums von der namenlosen Masse abgegrenzt. Doch ist der Kontext bei Lucrez gegenüber Antipatros verändert. Stand der Vergleich bei Antipatros noch am Ende eines Grabepigramms auf Erinna, deren Name mit dem kleinen Gedicht der Nachwelt überliefert werden soll, so sind die Rollen bei Lucrez vertauscht: Der hellenistische Epigrammatiker rechnet sich selbst durch den Gebrauch der ersten Person Plural (μαραινόμεΰα [6]) zu der Schar der »krächzenden Dohlen«, deren Lieder dem Untergang anheimfallen werden, während er Erinnas Dichtung mit Schwanengesang gleichsetzt, so daß er ihren Wert durch seine eigene Bescheidenheit noch weiter erhöht. Lucrez verfährt genau umgekehrt, indem er den neuen Lehrabschnitt mit suavidicis potius quam multis versibus edam (180) ankündigt. Er selbst sieht sich als Schwan, der seine Hörer mit Gesang erfreut, während er seine Dichterkollegen als in den Lüften kreischende Kraniche hinter sich zurücksetzt. Diese Aufwertung der eigenen Leistung wird durch die Veränderungen unterstrichen, die Lucrez gegenüber Antipatros' Versen vornimmt. Zwar stimmt der erste Vers des lucrezischen Gleichnisses mit seinem Vorbild fast wörtlich überein. In dem Ersatz von κολοιών (Krähen) bei Antipatros durch gruum (Kraniche) bei Lucrez sieht die Forschung eine Anspielung auf die yepavoi im Aitienprolog des Kallimachos (frg. ljDf.). 233 Doch betont Lucrez in Ubereinstimmung mit Antipater nachdrücklicher als Kallimachos die disparate Ineffizienz des Kranichgeschreis (κιδνάμενος νεφέλαις [8]: dispersus nubibus [182]), von der sich der Schwanengesang 232 E.g. Theocr. 5,137 (Schwan und Wiedehopf); Anth. Pal. 9,380,1 (Schwan und Hauben-

lerche); Verg. ecl. 8,55 (certent et cycnis ululae) und 9,36 (argutos inter strepere unser olores)·, ebenso Prop. 2,34,83f. (canorus / anseris indocto carmine cessit olor). 233 Kenney (1970), 372; zuletzt Donohue (1993), 31, der mit Hilfe des lucrezischen Gleichnisses auch das kallimacheische Dichterideal neu zu bestimmen versucht. Vor ihm hatte schon Pfeiffer ([1928], 314-316) mit Verweis auf die Lucrezstelle den Gegensatz Kranichgeschrei-Schwanengesang zu rekonstruieren versucht, diese These aber in seiner Kallimachos-Ausgabe (Ed I [1949], 4) zurückgezogen.

144

Lucrez

wohltuend unterscheidet. Das Lärmen der Kraniche ist in diesem Sinne bereits in einem Iliasgleichnis verarbeitet, wo es das unwirksame Kampfgeschrei des noch ungeordneten Trojanerheeres illustrieren soll, gegen das der Dichter das disziplinierte Schweigen der Achaier absetzt.234 Auf dieses Gleichnis, das auch Kallimachos im Blick zu haben scheint,235 spielt Lucrez236 mit clamor ([182]; das homerische κ\αγγή ist näher als das von Antipater verwendete κρωγμός) und mit aethenis (οΰρανόϋι πρό) an. Der Verweis auf die literarische Tradition impliziert also eine methodologische Begründung für die Wahl des parvus canor. Lucrezens Argumentation soll Abschweifungen vermeiden, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Daß es Lucrez jedoch nicht allein auf die Kürze und Stringenz seiner Gedankenführungen, sondern auch auf eine gewisse dichterische Qualität ankommt, zeigt das Epitheton suavidicis (180), mit dem er seine Verse qualifiziert. Das Vorderglied dieses Wortes erinnert an das Bild vom Honigbecher: Lucrezens Verse müssen süß klingen, da anderenfalls ihre psychagogische Wirkung verloren geht. Und daß Lucrez den Schwanengesang nicht nur aufgrund seiner besonderen Kürze als Vergleichsmotiv auswählt, sondern auch deshalb, weil er ihn der Dichtung klanglich als besonders ähnlich erachtet, zeigt die gemeinsame Nennung von beiden im zweiten Buch (505f.), wo cycnea mele Phoebeaque daedah chordis / carmina herausragende klangliche Qualitäten repräsentieren. Daß auch die Atombeschaffenheit von cycnea mele und Dichtung sich ähneln, läßt sich mittelbar daraus schließen, daß Lucrez letztere analog als musaea mele bezeichnet (2,412) und ihren Wohlklang mit ihrer Zusammensetzung aus elementis levibus erklärt hat. Wieder erläutert die Lehre das methodologisch-reflektierende Gleichnis. Die Auswahl des Schwans bekommt noch mehr Gewicht, wenn man bedenkt, daß Lucrez im Proömium zum dritten Buch Epikurs philosophischem Schaffen die Kraft eines Schwans zugesprochen hatte, gegen den er als Schwalbe im Wettkampf chancenlos bleiben müßte: quid enim contendat hirundo / cycnis [...]? (3,6f.). Indem er nun in diesem Gleichnis für seine Dichtung den Wohlklang des Schwanengesanges beansprucht, stellt er seine Leistungen auf dem Gebiet der Dichtung auf dieselbe Stufe mit Epikurs philosophischen Leistungen.237

234 Horn. Ii. 3,2-9. 235 Pfeiffer (1928), 314f. 236 Munro Π (Κ 1893), 241. 237 Biene und Schwan stellt Horaz in der Pindarode direkt gegenüber, um sein »kleines« Dichten von dem Pathos Pindars abzusetzen (Hör. carm. 4,2,25-32): multa Dircaeum levataura

Lucrez

145

Die selbstbewußte Aussage, die Lucrez in dem Schwanenvergleich über sein Dichten macht, wird noch weiter aufgewertet, wenn man bedenkt, daß er schon in den bereits besprochenen238 Methodenversen des ersten Buches (1,398-417) seinen Willen zum Verzicht auf bis ins Endlose ausgedehnte Vergleichsreihen kundgetan hatte. Es ist gewiß kein Zufall, daß er 4,909-911 an die Vergleichsverse die Aufforderung: tu mihi da tenuis auris animumque sagacem (4,912)

anschließt und so an das Jagdhund-Gleichnis des ersten Buches erinnert.23' Während er dort jedoch als Begründung den scharfen Verstand des Lesers angeführt hatte, dem kleinste Hinweise - die ausführlich erörterten vestigia parva - zur Wahrheitsfindung ausreichten, steht hier seine eigene poetische Leistung im Vordergrund.

3. Ergebnisse Die Untersuchungen haben gezeigt, daß der Lehrdichter Lucrez in der Gestaltung und Anwendung von Gleichnissen trotz mancher Reminiszenzen an die erzählend-epische Tradition erheblich von den Vorgaben dieser Gattung abweicht, und zwar sowohl, was die kontextuelle Einbettung als auch, was die Präsentation und Funktion der Gleichnisse angeht. Die Motive seiner Vergleichungen im didaktischen Kontext entstammen in der Mehrzahl nicht der heroischen Epik, sondern der philosophischen und naturwissenschaftlichen Fachprosa. Die in dieser Gattung üblichen Argumentationsstrategien appliziert Lucrez zudem durchaus auch auf Gleichnisse, die auf ein episches Vorbild zurückgehen (1,277-294: zerstörerischer Sturzbach). Auch die Gleichnisse, die Methodologisches verdeutlichen, sind ihrer Verwendung nach eher der philosophischen Prosa oder der Rhetorik verpflichtet (1,400-409: Jagd als Erkenntnisvorgang; das Gleichnis als Mittel der Captatio benevolentiae). Die Einschätzung der dichterischen Leistung durch Tierbilder in den reflektierenden Kontexten hingegen lehnt sich an die lyrische Dichtung an (3,9-13: Bienen; 4,180182: Schwan und Kraniche).

cycnum, / tendit, Antoni, quotiens in altos / nubium tractus: ego apis Matinae / more modoque / . . . carmina fingo; zur Interpretation des Bildes Gall (1981), 51-53; Warmuth (1992), 89-93. 238 Siehe oben S. 126-132. 239 Vgl. Thury (1987), 275.

146

Lucrez

Grundbedingung für die Auswahl des Vergleichsgegenstandes ist in einem didaktischen Epos mit real belehrender Intention240 seine Durchsichtigkeit und Nachvollziehbarkeit: Nicht das Abgelegene, Dunkle, sondern das Naheliegende, dem Leser unmittelbar Einleuchtende liefert das Material für die Gleichnismotive. Sehr häufig generalisiert Lucrez den im Bild beschriebenen Vorgang oder Sachverhalt durch die Verwendung des Indefinitpronomens {siquis: [4,296]), der Partikel saepe (5,460) oder gar einer abstrakten Angabe des Bereichs, dem er den Vergleichsgegenstand entnimmt (naufragiis: [2,552]; in fabrica: [4,513]), um die beliebige Wiederholbarkeit des Vorgangs zu unterstreichen. Der Leser wird mitunter direkt angesprochen (2,847-858) oder am Gleichnisgeschehen durch den Gebrauch der 1. Person Plural direkt beteiligt (4,131-142; 5,457-470). So wird ein unmittelbares Erleben auch bei Motiven fingiert, die aus der literarischen Tradition entlehnt sind. Ausführliche und detaillierte, mitunter >episch< breite Beschreibungen lassen auch vor dem geistigen Auge des Lesers ein lebendiges Bild entstehen (2,277-294). Die Verwendung eines Bildmotivs wird zudem durch zahlreiche und intensive Verknüpfungen mit dem Gesamtzusammenhang legitimiert. Mit dem engeren Kontext kann das Gleichnis dabei auf zwei Ebenen verbunden sein: (1) Das Bild muß unter naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten stimmig sein, d.h. seine Struktur muß der Struktur des Gegenstandes entsprechen, den es erläutern soll. Da das gesamte Weltgebäude, das Lucrez in De rerum natura entwirft, auf dem Zusammenwirken von Atomen und Atomverbänden beruht, ähneln sich Vergleichsgegenstand und verglichener Gegenstand nach Möglichkeit auch in ihrer atomistischen Beschaffenheit, damit die Stringenz des Gleichnisses gewährleistet bleibt. In der Auswahl der Motive verwendet Lucrez daher nicht selten Gegenstände, deren Atomstruktur er anderenorts erklärt hat (4,10971104: Traum-simulacra) oder noch erklären wird (1,935-950: Atomstruktur von Honig und Absinth). Die materiellen Ubereinstimmungen von Bild und Sache sind für die Auswahl des Vergleichsgegenstandes von entscheidender Bedeutung, im Gegensatz zu vielen Gleichnissen des erzählenden Epos, die ohne Rücksicht auf die naturwissenschaftliche bzw. strukturelle Kongruenz der verglichenen Gegenstände abstrakte Größen wie »Mut«, »Zorn« oder »Schnelligkeit« in Bilder umsetzen. Gerne wählt Lucrez auch >angrenzende< Gegenstände, deren Ähnlichkeit dem Leser sofort einleuchtet (1,277-294: Wind und Wasser als >benachbarte
Kontrastwirkungenanaphorisch< als auch >kataphorischdidaktischen< Partien von De rerum natura mehrere Aspekte eines Lehrgegenstandes oder zeigt ihn aus verschiedenen Blickwinkeln (z.B. die Vergleiche von Seele und Auge im dritten Buch). Mit Hilfe der von West für die lucrezische Bildersprache im allgemeinen beobachteten »fluidity of imagery«,243 bei der sich unterschiedliche Bildmotive durchdringen, schafft Lucrez ein Beziehungsgeflecht zwischen den Gleichnissen (z.B. >Kinder< im Absinth- und Kinderfurcht-Gleichnis [1,935-950; 3,87-93]). (4) Doch nutzt Lucrez auch in den didaktischen Gleichnissen die Möglichkeit, die Ebene sachlicher Darstellung zu transzendieren. Allein die Rezeption von in der literarischen Tradition vorgeprägten Bildern setzt ja beim Leser die Kenntnis der Vorlagen und, vor allem, der Implikationen voraus, die dem Bild im ursprünglichen Kontext anhaften. So ruft ein erzählend-episches Gleichnismotiv Assoziationen mit dem Epos hervor, auch dann, wenn seine Funktion nicht mehr der eines epischen Gleichnisses entspricht (1,277-294: Sturzbach-Gleichnis verleiht den Atomen den Rang epischer Helden). Auch die Verwendung eines Bildmotivs sowohl im didaktischen als auch im nichtdidaktischen Zusammenhang innerhalb des lucrezischen Gedichts eröffnet in beiden Fällen den Blick auf den jeweils anderen Kontext (2,549-566: Schiffbruch: Bild für das >Auseinanderdriften< der Atome und Warnung vor unepikureischer Lebensführung). Ahnlich vielfältig wie die Verflechtungen mit dem Kontext sind die Funktionen lucrezischer Gleichnisse. Die Grundfunktion einer Vergleichung wird bisweilen durch die Einleitung mit nam, sed o.ä. festgelegt. In den methodologisch-reflektierenden Gleichnissen versucht Lucrez Vorgänge zu materialisieren - zum Teil sogar durch die Verwendung von im Lehrzusammenhang naturwissenschaftlich abgesicherten Bildmotiven (1,935-950: Absinth und Honig als extrem bitterer bzw. extrem süßer Stoff) - , die auf geistiger Ebene ablaufen und den Dichter, seinen Stoff und die Einschätzung seiner Leistung betreffen. Dabei kommt zum einen Lucrezens eigener Standpunkt zur Sprache; im Methodengleichnis kann er aber auch die Rolle des Adressaten klären bzw. ihn für seine Dichtung zu gewinnen versuchen. Die primäre Funktion der Gleichnisse im didaktischen Kontext besteht, dem Stoff und der Intention des Gedichtes entsprechend, in der Veranschaulichung von Naturphänomenen und deren Wirkungsprinzipien. Der Dich-

243 Vgl. West (1969), 79, Kap. 7: "Light and fire and the fluidity of imagery".

Lucrez

149

ter kann mit Hilfe des Gleichnisbildes einen Vorgang analysieren, indem er die Beschaffenheit seiner >Zutaten< sowie die Gesetzmäßigkeiten, denen sie unterworfen sind, herausstellt (4,292-301: Tonmaske als Erklärung für die Entstehung von seitenverkehrten Spiegelbildern). Dabei kann das Gleichnis durchaus die Rolle eines wissenschaftlichen Beweises übernehmen (2,847-858: Salbenmischung beweist die Qualitätlosigkeit der Atome) oder umgekehrt dem gegnerischen Einwand vorgreifen und ihn ad absurdum führen (2,549-566: Schiffstrümmer auf dem Meer widerlegen die Theorie vom Vorhandensein begrenzt vieler Atome einer bestimmten Sorte im unbegrenzten Raum). Bisweilen werden im Gleichnis die Gedanken des Haupttextes weitergeführt, so daß das Bild einen Teil des Haupttextes ersetzt (5,457-470: aufsteigender Morgennebel, der sich zu Wolken verdichtet, nimmt die Ablagerung des aether um den äußeren Luftraum vorweg) - eine Methode, die Glausing für viele Gleichnisse bei Apollonius Rhodius,244 Fränkel für Homer245 und Lyne auch bei vielen vergilischen Gleichnissen beobachtet,244 so daß sich didaktische und erzählend-epische Dichtung schließlich doch wieder berühren, wie ja überhaupt die Wirkung lucrezischer Gleichnisse auf einem Ineinandergreifen von poetischen und didaktischen Elementen beruht.

244 Clausing (1913), 46-51; bes. 46:"Bei A[pollonius] ist das Gleichnis vielfach nichts anderes als indirekte Darstellung." 245 Vgl. Fränkel (1921), 73f. und 81. 246 Lyne (1989), 68-82. Für den Ersatz von Erzählhandlung durch Gleichnistext verwendet Lyne den Begriff "substitution".

V. Vergil

Vergils Georgica, das zweite bedeutende Zeugnis lateinischer Lehrdichtung, sind mit vier Büchern und nur knapp 2200 Versen auffällig kürzer als Lucrezens Werk. Im Verhältnis dazu ist die Zahl der Gleichnisse epischen Typs sogar noch etwas höher als in D e rerum natura. Bei insgesamt 16 Gleichnissen von mehr als einem Hexameter Länge 1 kommt im Lehrgedicht Vergils im Durchschnitt auf 137,5 Verse, in De rerum natura nur auf 151 Verse ein Gleichnis. Die Gleichnisse sind allerdings nicht gleichmäßig auf die einzelnen Georgica-Bücher verteilt. Es ist festzustellen, daß sich ihre Zahl in den Büchern 3 und 4, die insgesamt 11 Gleichnisse enthalten, gegenüber dem ersten und zweiten Buch mit insgesamt nur 4 Gleichnissen mehr als verdoppelt. Diese Steigerung ist so auffällig, daß sie wohl kaum auf einem Zufall beruht. Vergleicht man das erste und zweite mit dem dritten und vierten Buch, so stellt man auch fest, daß diese beiden Paare bereits durch ihre Themenstellung deutlich voneinander abgesetzt sind: Während die früheren Bücher mit Ackerbau und Baumzucht einen >statischen< Lehrgegenstand behandeln, dessen Illustration durch die eher aktionsbetonenden Gleichnisse nur begrenzt möglich ist, lassen die >dynamischeren< späteren Bücher über Vieh- und Bienenzucht die Verwendung dieses sprachlichen Mittels viel eher zu. Hinzu kommt, daß Vergil ja im Proömium zum dritten Buch ein heroisches Epos, wahrscheinlich die Aeneis, 2 ankündigt (mox tarnen

1 Vgl. dazu die Zusammenstellung am Schluß der Arbeit. Zu hoch ist die Zahl von 29 »similes«, die Briggs (1974), 203 und (1980), 13f. in den Georgica zu finden glaubt, oder gar von 32 »similes«, die Wilkins (1921), 170 angibt, vgl. dazu Rieks (1981), 1052 Anm. 125. Rieks selbst zählt in den Georgica nur 15 Gleichnisse; dabei führt er die Analogisierung von Sternbeobachtungen bei Landwirten und Seefahrern georg. 1,204-207 als Gleichnis an, obwohl diese Verse doch lediglich denselben Gegenstand »hinsichtlich veränderter Umstände an ihm selbst messen«, ein Typus, den er in seinen Präliminarien (1012) aus der Betrachtung ausschließen wollte. Auch in der Vergil-Ausgabe von Farnabius (Ed 1677), in der sämtliche Gleichnisse graphisch hervorgehoben werden, ist die Stelle 1,204-207 nicht als Gleichnis gekennzeichnet.Im dritten Buch hingegen findet Rieks nur drei Gleichnisse, weil er den Vergleich des Hereinbrechens von Viehkrankheiten mit Regen und Wirbelwind (3,470f.) unberücksichtigt läßt; im vierten Buch gilt ihm der Vergleich der Bienen mit Hagelkörnern oder Eicheln (4,80f.) als >KurzvergleichEpisierung< der Georgica. Die Gleichnisse des ersten Buches sind allesamt nicht direkt auf den Lehrstoff bezogen, sondern dienen der Reflexion über den allgemeinen Zustand der Welt und das Verhältnis des Menschen zu den Gesetzmäßigkeiten dieser höheren Ordnung - eine Funktion, die Gleichnisse im heroischen Epos in der Regel nicht übernehmen. Das eine Gleichnis im zweiten Buch illustriert ebenso wie die Gleichnisse des dritten Buches einen ganz konkreten Lehrgegenstand. Das vierte Buch schließlich enthält nur im ersten Teil sachliche Unterweisungen; diese sind allerdings noch stärker an das heroische Epos angenähert als im dritten, so daß die Gleichnisse in einem »quasi-epischen«4 Kontext stehen. Mit dem Aristaeus-Epyllion schließlich, das den zweiten Teil des vierten Buches beansprucht, verläßt Vergil endgültig die Gattung Lehrgedicht. Die Gleichnisse in diesem Finale gelten dementsprechend den handelnden Personen des Epyllions und stehen in einem rein erzählenden Zusammenhang. Die >Episierung< geht also mit einer fortschreitenden Konkretisierung der Stoffe einher, die durch Gleichnisse illustriert werden: Von der Reflexion über den allgemeinen Zustand der Welt fokussiert sich der Blick des Dichters immer weiter auf spezielle Lehrstoffe bis hin zu den Individuen im Aristaeus-Epyllion. Daraus ist bereits ersichtlich, daß die Verwendung von Gleichnissen in bestimmten Kontexten innerhalb der Gesamtkonzeption der Georgica sehr viel genauer geplant ist als bei Lucrez, spiegeln doch die Gleichnisse einen wichtigen Aspekt in der Komposition des Werkes wider, das sich ja auch inhaltlich vom Allgemeinen, Kosmischen des ersten zum Speziellen, Ausschnitthaften des vierten Buches verengt. Bevor ausgewählte Georgica-Gleichnisse einer näheren Untersuchung unterzogen werden, noch eine kurze Bemerkung zur Vorgehensweise. Aus den vor-

hat, dazu Glei (1991), 101-106 (bes. 104) mit umfangreichen Literaturhinweisen, zuletzt Kraggerud (1998), lOf. 3 Vgl. Briggs (1974), 206; (1980), 14; Knauer (1981), 893; Lausberg (1990), 180; Farrell (1991), 240. Kaum ausreichend ist die Erklärung von Rieks (1981), 1062, der ein stetig wachsendes Interesse des Dichters an Gleichnissen vermutet. 4 Vgl. Lausberg (1990), 180.

152

Vergil

ausgehenden Ausführungen ergibt sich, daß die Gleichnisse der Georgica sich auf drei unterschiedliche Kontexte verteilen: 1. den didaktischen, in dem konkreter Lehrstoff vermittelt wird, 2. den reflektierenden, in dem der Dichter sich um die Erkenntnis allgemeiner Gesetzmäßigkeiten bemüht, und 3. den heroisch-epischen des Aristaeus-Epyllions. Auf eine Behandlung der Gleichnisse im Aristaeus-Epyllion soll im Rahmen dieser Arbeit verzichtet werden, da sie nicht den typisch didaktischen Gleichnissen zuzurechnen sind und daher wenig dazu beitragen können, ihre Eigenart zu bestimmen. Im folgenden sollen zunächst die Gleichnisse im didaktischen, danach solche im reflektierenden Kontext betrachtet werden. Auch wenn diese Reihenfolge nicht der vergilischen Anordnung entspricht, erscheint es doch günstiger, die >eigentlichen< Lehrgedichtgleichnisse an den Beginn der Untersuchungen zu stellen, da sie gewissermaßen die Kernsubstanz der Georgica bilden.

1. Gleichnisse im didaktischen Kontext Ahnlich wie in De rerum natura stellen auch in den Georgica die Gleichnisse im didaktischen Kontext den größten Anteil an dem Gesamtkontingent. Die Ausgangssituation für ihre Verwendung ist jedoch schon aufgrund der Themenstellung des Gedichtes deutlich anders als bei Lucrez. Mit der Landwirtschaft behandelt Vergil ein zentrales Element römischer Kultur, dessen Nutzen außer Frage steht und für das er bei seinen Lesern nicht nur Interesse, sondern auch detaillierte Fachkenntnisse voraussetzen darf.5 Der Stil der Georgica ist daher in der Regel nicht argumentativ-belehrend, sondern deskriptiv,6 der Lehrvortrag befaßt sich mit konkreten Gegenständen und Beobachtungen; er wird immer wieder durch mitunter recht assoziativ angeschlossene Exkurse kleineren oder größeren Umfangs aufgelockert. Dementsprechend fehlen die vielfältigen Argumentations- und Beweismethoden, die im Werk des Lucrez mit den Gleichnissen konkurrieren, in den Georgica nahezu vollständig oder bekommen eine neue, gänzlich >unlucrezische< und von den Gleichnissen deutlich abgesetzte

5 Bezeichnend für die römische Wertschätzung von Landwirtschaft und landwirtschaftlichen Fachschriften ist die Tatsache, daß nach dem Zeugnis Columellas (Colum. 1,1,13) »von der punischen Literatur einzig das Werk des Mago über die Landwirtschaft erhalten und in die Sprache des Eroberers übersetzt wurde« (Glei [1991], 286). 6 Vgl. Wilkinson (1950), 28: »descriptive rather than didactic poetry«; wiederholt (1969), 4: »descriptive poetry«.

Vergil

153

Ausrichtung. Die lucrezische Einleitungsformel nonne vides [...] zum Beispiel wird zwar auch von Vergil in den Georgica dreimal verwendet.7 Sie kennzeichnet aber an keiner Stelle den Beleg einer abstrakten These, sondern lediglich (möglicherweise in Anlehnung an Varro8) zusätzliche bzw. weiterführende Beobachtungen. Im dritten Buch gar (3,103) leitet Vergil mit nonne vides von den Kriterien der Zuchtwahl der Hengste zur Beschreibung des Wagenrennens über, das ein Ergebnis dieser Zuchtwahl sein soll. Ahnlich verfährt er mit dem aus Lucrez übernommenen Imperativ contemplator.' Argumentations- und Darstellungsformen der didaktischen Poesie, die einen Vergleich implizieren, ohne Gleichnisse des epischen Typs zu sein, kommen in den Georgica verhältnismäßig selten vor. Nur ausnahmsweise erklärt Vergil einen Sachverhalt durch ein analoges Phänomen, meist in Form einer qualifizierenden oder quantifizierenden Angabe: Ein Feld, auf das im Winter Gerste gesät wird, bringt reichere Ernte als die Felder Mysiens (l,102f.), Bauern und Seeleute müssen die Sterne mit derselben Sorgfalt beobachten (1,204-207); Ziegenfraß ist für junge Triebe ebenso schädlich wie Kälte (2,376-379), die Bäume Indiens sind so hoch, daß auch ein Pfeilschuß der im Bogenschießen besonders versierten Inder ihre Spitze nicht zu erreichen vermag (2,122-125);10 die Bienen verehren ihren König nicht weniger als Ägypter, Lyder, Parther oder Meder (4,210-212). Diese Erläuterungen setzen zwar Sachverhalte aus unterschiedlichen Bereichen in ein vergleichendes Verhältnis zueinander und werden durch ähnliche Vergleichsworte eingeleitet wie die Gleichnisse (durch tantum und tamquam). Sie verlassen aber aufgrund der Subjektsgleichheit in Bild- und Sachteil die Ebene sachlicher Darstellung nicht vollständig und sind zudem so knapp gehalten, daß sie normalerweise die Länge eines Hexameters nicht überschreiten. Immerhin erfolgt aber auch hier die Auswahl der Motive nicht allein unter didaktischen Aspekten. Der Vergleich der italischen mit den mysischen Feldern enthält eine positive Wertung Italiens, die die Laudes Italiae im zweiten Buch (2,136-176) vorwegnimmt. Auch die Zusammenstellung des Bienenkönigs mit menschlichen Königen weist nicht nur auf dessen Machtfülle, sondern trägt zu der bekannten Anthropomorphisierung der Bienen11 bei.

7 Georg. 1,56; 3,103; 3,250. 8 Vgl. Salvatore (1981), 62, der für georg. 1,56 auf rust. 1,39 hinweist: Nonne videmus alia florere vemo tempore, alia aestivo [...]. Unverkennbar auf Lucrez deutet bei Vergil jedoch die Anrede an die 2. Person. 9 Verg. georg. 1,187; 4,61: Lucr. 2,114; 6,189. 10 Vgl. dazu Caspers (1883), 11, der diese Stelle als »similitudo« klassifiziert. 11 Vgl. Dahlmann (1954), 550f.

Vergil

154

Im dritten Buch besonders zahlreich sind direkte Verweise auf mythische Personen und Ereignisse in Form von mythologischen Exempla. Pollux' Pferd Cyllarus, die Rosse des Mars und des Achill sowie Saturnus in Roßgestalt verfügten nach Vergils Angaben über jene Idealstatur, die ein edles Pferd auszeichnet (3,86-95); das Insekt, das Io in Raserei versetzte, identifiziert Vergil als asilus/oestrum (3,146-153); die Wolle, mit der Pan Luna beschenkte, war so weiß wie die Wolle des besten Zuchtwidders (3,387-393). Da er diese mythologischen Exempla des dritten Buches, ähnlich wie epische Gleichnisse, mit talis, hoc modo oder sie einleitet, laufen sie zum Teil unter der Bezeichnung »simile« oder »Vergleich«.12 Doch trifft diese Bezeichnung strenggenommen nicht zu, denn sie bieten ja lediglich Belege für den Lehrstoff, ohne ein vergleichendes Verhältnis zu substituieren, und unterscheiden sich daher von den lucrezischen Analogiebeispielen nur insofern, als der Dichter ihre Gegenstände nicht der beobachtbaren Umwelt, sondern einer fernen mythischen Vergangenheit entnimmt und dadurch eher den Mythos rationalisiert bzw. den Lehrstoff mythifiziert,13 anstatt ihn zu verifizieren. Kurzvergleiche setzt Vergil zur Illustration des Lehrstoffes insgesamt sparsamer ein als Lucrez. Das Sternbild des Drachen gleicht einem Fluß (in morem fluminis [1,245]) - ein Vergleich, den Vergil nach Servius' Angabe aus Hesiod,14 wahrscheinlich aber doch direkt aus Arat entlehnt hat,15 wie er überhaupt im gesamten Abschnitt über Jahreszeiten und Wetterzeichen im ersten Buch stärker den Phainomena als den Erga folgt. Guter Boden haftet an den Händen des Bauern picis in morem (2,250), und auch der Leim, den die Bienen herstellen, ist zäher als Mistelleim oder Pech (4,41). Solche qualifizierenden Vergleichungen finden sich besonders häufig bei Nikander von Kolophon,16 so daß sie möglicherweise zum >nikandreischen< Kolorit der Georgica gehören. Diese Vermutung muß jedoch hypothetisch bleiben, da keiner der Kurzvergleiche aus den

12 Vgl. Fraenkel (1957), 427:»mythological comparisons«; Otis (1963), 172 (zu georg. 3,86-95). Präzise dagegen für diese Stelle Frentz (1967), 118: »Beispiele«; für 3,387-392 ist jedoch seine Bezeichnung »Vergleich« (Frentz ebenda, 129) nicht treffend. 13 Zur Funktion der mythologischen Exempla im dritten Georgica-Buch Gale (1995), 49f.; Frentz (1967), 118-131.

14 Serv. georg. 1, 245: Hesiodus: ττοταμω pkovn ίοικως ( - Hes. frg. 293 M.-W.). 15 Arat. Phaen. 45 όίη τοταμοϊο άπορρωξ; dazu Hübner (1984), 209 Anm. 228. Zum Vergleich: Cicero (Arat. frg. 8 Buescu) übersetzt: veluti rapido cum gurgite flumen; Germanicus

(48): abruptifluminisinstar. Avien erweitert den Vergleich (139): ceu circumflexu sinuantur

flumina lapsu.

16 Siehe oben S. 65f.

Vergil

155

Georgica in den erhaltenen Lehrgedichten Nikanders nachweisbar ist. 17 D a aber auch Nikander letztlich auf jene Kurzvergleiche zurückgreift, mit denen H o m e r besondere Qualitäten veranschaulicht, 18 kann man nicht v o n einer spezifisch didaktischen Darstellungsform sprechen, die mit den lucrezischen Argumentationsformen vergleichbar wäre. Stärker als in D e rerum natura bestehen in den Georgica v o n der Darbietung des Lehrstoffes her Verbindungen zum Gleichnis. Während Lucrez Gleichnismotive der heroischen Epik nur sehr sporadisch und andeutungsweise in den Haupttext seiner Ausführungen hineinnimmt, 1 ' sind derartige Umkehrungen v o n H a u p t - und Gleichnistext geradezu ein Stilmerkmal der Georgica. Das hat mehrere Gründe. Das T h e m a >Landbau< an sich ist im heroischen Epos nicht selten Gleichnismotiv, das die pastorale als Gegenbild zur kriegerischen Sphäre in Erscheinung treten läßt. 20 Daher ist es dem Dichter gerade in einem W e r k wie den Georgica möglich, auch innerhalb des Textes Gleichnisstoffe aufzugreifen. So erwähnt er unter den Schädlingen der pastoralen Welt Kraniche (1,120), Schlangen ( 2 , 1 5 3 - 1 5 6 ) und die Kuhfliege (3,143f.), Tiere, die auch in heroischepischen Gleichnissen ein schlechtes Image haben. 21 Sogar das Motiv >Wolf i m

17 Vergil rekurriert nur an einer einzigen Stelle für uns erkennbar auf eine nikandreische Vergleichung, und zwar georg. 4,96-98, wo er das unterlegene Bienenvolk mit einem über und über mit Staub bedeckten Wanderer vergleicht. Sachlich geht diese Angabe auf einen Kurzvergleich bei Varro (rust. 3,16,20) zurück, dem die besiegten Bienen ut pulverulentae erscheinen, doch weitet Vergil den Kurzvergleich zu einem kleinen Gleichnis aus, wobei er auf eine Vergleichung in den Theriaka (762f.) zurückgreift, mit der Nikander die Flügeloberfläche einer ägyptischen Motte (tpaXkcava), einem ebenfalls stechenden Insekt (vgl. zur Identifikation Gow - Scholfield [K 1953], 185f.), beschreibt. In beiden Fällen dient das Gleichnis dazu, die Farbe des jeweiligen Tieres zu spezifizieren. Signifikant ist jedoch die Veränderung, die Vergil an seiner Vorlage vornimmt. Nikander vergleicht das typische Aussehen der Motte mit dem Aussehen des Menschen in der Ausnahmesituation, während Vergil das Erscheinungsbild der Bienen in einer Ausnahmesituation illustriert. Durch die Nikander-Reminiszenz gibt Vergil also indirekt eine Bewertung des unterlegenen Bienenvolkes: Es stellt eine Bedrohung dar, wie sie auch von der φαλλαινα ausgeht, so daß das Gleichnis die vorausgegangene sachliche Anweisung rechtfertigt, den unterlegenen Schwärm zu beseitigen. 18 Siehe oben S. 65 m. Anm. 76. 19 Siehe oben S. 77 und S. 80. 20 Im Aristaeus-Epyllion ist diese konventionelle Ordnung bezeichnenderweise wieder hergestellt: Alle drei Gleichnisse (4,433-436; 473f.; 507-515) entstammen der pastoralen Sphäre, die hier allerdings nicht kriegerische und agrarische Welt, sondern die Märchenatmosphäre des Epyllions mit der Lebenswirklichkeit, wie sie im Lehrtext der Georgica beschrieben wird, konfrontieren. 21 Beispiele: Kraniche: Horn. H. 3,3-7 (dazu Farrell [1991], 222-225); Schlangen: Horn. Ii. 3,33-37; Π. 22,93-97; Apoll. Rhod. 4,1541-1547; Ameisen: Apoll. Rhod. 4,1452f.; Kuhfliege: Horn. Od. 22,299-301; Apoll. Rhod. 1,1265-1272; 3,276f. Zur Beziehung der apollonianischen Gleichnisse zu der Georgica-Stelle vgl. Ross (1987), 158f.

156

Vergil

Schafspferch22< nimmt Vergil in seiner Darstellung der Norischen Viehseuche im Finale des dritten Buches auf, um es allerdings ins Gegenteil zu verkehren: Die Krankheit macht auch vor den Raubtieren nicht halt, so daß der dahinsiechende Wolf zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, um die Schafshürde zu überfallen. Dieses Detail hinterläßt einen noch stärkeren Eindruck bei dem Leser, wenn er die zahlreichen Wolfsgleichnisse des erzählenden Epos assoziiert.23 Die Norische Viehseuche führt nämlich nicht nur zu einer pervertierten aurea aetas,24 sondern verdreht auch jegliche epische Tradition, die den Wolf als blutrünstigen Räuber sieht. Gleiches gilt übrigens auch für die Schlange, die sich vergeblich vor der Seuche zu verbergen sucht (3,544f.). Noch weitere Beschreibungen im Lehrtext, wie die Bewässerung eines Feldes (1,104-110), die fliegende Spreu als Zeichen für stürmisches Wetter (1,316-321) oder als Periphrase für den Spätsommer (3,133f.), der prodigiös über die Ufer tretende Po (1,481-483), das Verhalten des edlen Pferdes (3,81-88), die Arbeit der Pflugstiere (3,166-173) und schließlich auch die Bienen erinnern an Motive epischer, oft sogar homerischer Gleichnisse.25 Dabei nutzt Vergil, ähnlich wie die Verfasser heroischer Epen, bisweilen sogar mehrere Vorlagen: Die Schilderung des Waldbrandes etwa (2,303-311) kombiniert vier Gleichnisse der Ilias und eines der Argonautica und ist zudem von Lucrez beeinflußt.26 Bezeichnend für das Verhältnis von sachlicher Darstellung und Gleichnissen in den Georgica ist aber vor allem, daß relativ viele Verse aus dem Haupttext der Georgica im Gleichnistext der Aeneis erscheinen27 oder Motive, die in den Georgica nur angedeutet werden, in der Aeneis als ausgearbeitete Gleichnisse begegnen. Diesem Phänomen, das bereits von Hornbostel (1870) konstatiert

22 E. g. Apoll. Rhod. 2,123-129; Verg. Aen. 9,59-66. 23 Die Bedrohung des Schafstalles durch den Wolf wird sogar in einen Gleichnis im Aristaeus-Epyllion thematisiert (georg. 4,435: auditisque lupos acuunt balatibus agnt); Putnam (1979), 288 sieht darin einen Versuch des Dichters, der Stelle eine epische Färbung zu verleihen. 24 Dazu zuletzt Glei (1991), 275: »Topoi des goldenen Zeitalters werden verhöhnt«. 25 Beispiele: Bewässerung eines Flusses: Horn. II. 21,256-264 (dazu Farrell [1991], 211f.); fliegende Spreu: Horn. Π. 5,499-505; über das Ufer tretende Flüsse: Horn. D. 5,87-94; (über Lucr. 1,280-289 aufgenommen Verg. Aen. 2,494-502; vgl. Kenney [1979], lllf.), speziell der Po: Lucan. 6,268-278; Pflugstiere (-rinder): Horn. D. 13,703-708; Apoll. Rhod. 2,662-668; losstürmendes Pferd: Horn. D. 6,506-514 ( - 15, 263-270), dazu unten S. 166f. Bienen: Horn. Π. 2,87-94 (zum Verhältnis dieser Stelle zu Verg. georg. 4,67-87 vgl. Landolfi [1987], 66f.), Hes. Theog. 593-601 (dazu oben S. 53-55); Apoll. Rhod. 1,879-885; 2,130-136. 26 Horn. II. 2,455-458; II. 11,155-159; Ii. 15,605f.; H. 20,490-494; Apoll. Rhod. 4,139-144; Lucr. 6,150-155; vgl. Eichhoff (1825), 200, der die größeren Gleichnisse und die Apollonius-Stelle nennt; Rieks (1981), 1055, der die Apollonius-Stelle ausläßt. 27 Vgl. Lausberg (1990), 186.

Vergil

157

wird,28 galt auch in neuerer Zeit das Forschungsinteresse in besonderem Maße, zeigt sich doch in der Verswiederholung deutlich die »Einheit des Vergilischen Lebenswerks«.2' W.W. Briggs widmet daher in seinen Untersuchungen über die Verswiederholungen Vergils jeweils ein umfangreiches Kapitel denjenigen Aeneisgleichnissen, die auf Material der Georgica zurückgehen.30 Auch W.S. Anderson stellt fest: »Each book of the Georgics contains at least one descriptive passage which Vergil has systematically adapted to produce a simile in the Aeneid«.31 Die wichtigsten Stellen seien hier noch einmal genannt: Das Schlangenkapitel im dritten Georgicabuch nutzt Vergil im insgesamt sehr Schlangenreichen^2 zweiten Buch der Aeneis für ein Gleichnis (2,471-475).33 Die Ameisen, die in den Georgica (1,380) unter den Schädlingen genannt werden, kehren in einem düsteren Gleichnis im 4. Buch der Aeneis wieder, das den überstürzten Aufbruch der Trojaner aus Karthago widerspiegelt.34 Die Beschreibung der Wintereiche {aesculus [2,290-297]) regt den Vergleich des zwischen Liebe und Pflicht hin- und hergeworfenen Aeneas mit einer windgeschüttelten Eiche an (Aen. 4,441-449).35 Der Kampf der Stiere (3,219-234) findet sich fast wörtlich im 12. Buch der Aeneis wieder (Aen. 12,715-724), die Beschreibung des Bienenfleißes (georg. 4,158-169) im ersten (Aen. l,430-436).36 Die vielfältigen Verweise auf Gleichnismotive aus dem Haupttext der Georgica lassen das Werk als Ganzes bereits gleichnishaft erscheinen, eine Wirkung, die der Wirkung heroisch-epischer Ekphraseis entspricht.37 Daneben ist aber noch ein weiterer Aspekt wichtig. Da die Gleichnisse im heroischen Epos meist den Helden des Geschehens gelten, werden diejenigen Pflanzen und Tiere in den Georgica, deren Verhalten der Dichter mit Gleichnistopoi beschreibt, bereits mittelbar anthropomorphisiert. Diese Gegebenheiten beeinflussen nicht nur die Funktion und Wirkung, sondern auch die Konzeption der Georgicagleichnisse, wie sich im folgenden zeigen wird.

28 Hornbostel (1870), 17 m. Anm. 29 Klingner (Π965), 274; vgl. auch Coffey (1961), 72. 30 Briggs (1974), 234-334; (1980), 30-91. 31 Anderson (1984), 418. Zum Verhältnis von Haupt- und Gleichnistext in Eclogen, Georgica und Aeneis zuletzt v. Albrecht fl994), 544-547 (dargestellt anhand des Motivs »Bienen«). 32 Vgl. dazu die gründliche Untersuchung von Knox (1950). 33 Vgl. Knox (1950), 399; Coffey (1961), 66; Kenney (1979), 107-109. 34 Verg. Aen 4,402-407 (dazu auch Briggs [1981/2], 141f.; Anderson [1984], 423-425). 35 Vgl. Rieks (1981), 1055f.; Anderson (1984), 425f. 36 Siehe dazu ausführlicher unten S. 179. 37 Zum Verhältnis von Gleichnis und Ekphrasis siehe oben S. 48 m. Anm. 11-13.

158

Vergil

a. Einzelgleichnisse Von den vier größeren Gleichnissen in den lehrhaften Abschnitten der Georgica steht nur das erste in einem Kontext, der auch im engeren Wortsinn als >didaktisch< bezeichnet werden kann. Ein großer Teil des zweiten Buches ist der Kultivation und Pflege des Weins gewidmet. Dabei spielt für das Gedeihen der Weinstöcke die Anlage der Pflanzung eine wichtige Rolle (2,274-287):38 274 275

280

285 287

[...] si pinguis agros metabere campi, densa sere (in denso non segnior ubere Bacchus); sin tumulis acclive solum collisque supinos, indulge ordinibus; nee setius omnis in unguem arboribus positis secto via limite quadret: ut saepe ingenti bello cum longa cohortis explieuit legio et campo stetit agmen aperto, derectaeque acies ac late fluetuat omnis aere renidenti tellus, needum horrida miscent proelia, sed dubius mediis Mars errat in armis. omnia sint paribus numeris dimensa viarum, non, animum modo uti pascat prospectus inanem, sed quia non aliter viris dabit omnibus aequas terra, neque in vacuum poterunt se extendere rami.

Das Bild von der in Schlachtordnung aufgezogenen Legion sticht aus den Ausführungen des zweiten Buches aus mehreren Gründen hervor. Es ist nicht nur - abgesehen von dem Kurzvergleich 2,250 - die einzige Vergleichung, die der Dichter in diesem Buch verwendet, sondern es bildet durch seine Stellung beinahe genau in der Buchmitte 3 ' gleichsam den Kern der Belehrungen, so daß es bereits aus kompositorischen Gründen hervorgehoben ist. Der Ausgangspunkt für das Gleichnis ist, ähnlich wie für beinahe alle Vergleichungen im didaktischen Kontext von De rerum natura, eine konkrete sachliche Unterweisung. Der Leser soll dazu angeleitet werden, wie er eine Weinpflanzung in der Ebene oder am Hang anzulegen hat. Von den äußeren Bedingungen her handelt es sich also um eine typische Lehrsituation. So betont Vergil gleich zu Beginn der Parabole durch das Adverb saepe in lucrezischer Manier, 40 daß die Szenerie, die er im folgenden ausmalen wird, immer wieder 38 Grundlage für die Vergil-Zitate ist die Ausgabe von R.A.B. Mynors (Ed 1969). 39 Vgl. Knauer (1981), 894. 40 Vgl. Lucr. 1,404; 2,317; 2,778; 5,460. Zu >generalisierenden< Tendenzen in den lucrezischen Vergleichungen oben S. 146. Saepe im Gleichnis bei Vergil sonst nur noch Aen.

Vergil

159

beobachtbar und von zeitloser Gültigkeit ist. Auf die Lehrdichtung verweist aber vor allem das Gleichnismotiv. Es wurde früh beobachtet,41 daß Lucrez ein Bild aus demselben Bereich sowohl im Proömium zum zweiten Buch (2,5f. und 40f.) als auch innerhalb des didaktischen Kontexts einsetzt (Lucr. 2,323-332): 323 325

330 332

praeterea magnae legiones cum loca cursu camporum complent belli simulacra cientes, fulgor ibi ad caelum se tollit totaque circum aere renidescit tellus subterque virum vi excitur pedibus sonitus clamoreque montes icti reiectant voces ad sidera mundi et circumvolitant equites mediosque repente transmittunt valido quatientes impete campos. et tarnen est quidam locus altis montibus stare videntur et in campis consistere fulgor.

Mit der Formulierung aere renidenti tellus (georg. 2,282), die das lucrezische aere renidescit tellus (Lucr. 2,326) an derselben Versstelle beinahe wörtlich aufnimmt,42 ruft Vergil die lucrezische Vorlage in Erinnerung und stellt so das Gleichnis in die Tradition der didaktischen Dichtung. Unterzieht man die beiden Stellen jedoch einer genaueren Betrachtung, so stellt man fest, daß der Verweis auf Lucrez vor allem dazu dient, die Unterschiede seiner Gestaltung der Stelle gegenüber der Vorlage noch schärfer hervorzuheben.43 Wie sehr häufig in den Georgica, läßt der Anklang Vergils an Lucrez »mehr den Abstand als die Gemeinsamkeit fühlen«.44 Zum einen verwendet Lucrez das Bild ja überhaupt nicht direkt als Vergleich,45 sondern als Beleg für die zuvor aufgestellte These, 1,148-156, dessen erster Vers ac veluti magno in populo cum saepe coorta est im übrigen stark an den ersten Vers des >Heeresgleichnisses< ut saepe ingenti hello cum longa cobortis erinnert, vgl. Klingner (1963), 97. 41 De la Cerda (K 1647), 306 mit Verweis auf Frühere. 42 Vgl. Klingner (1963), 98; Effe (1977), 92. 43 Zu negativ Glei (1989), 189 Anm. 43, noch einmal (1991), 280: »Die Berührungen bei einem ähnlichen Gleichnis bei Lucrez erstrecken sich lediglich auf den schon von weitem sichtbaren Glanz der Rüstungen und Waffen - ein schon homerisches Bild (19,362f.)«. Die wörtliche Ubereinstimmung zwischen aere renidescit tellus und aere renidenti tellus reicht als Hinweis auf Lucrez vollständig aus; richtig Schäfer (1996), 42f. Anm. 112: »Die augenfällige Parallele [...] erlaubt es, auch die übrigen Ubereinstimmungen nicht als im Thema liegende Zufälle zu bewerten«. Die homerische Formulierung Horn. Π. 19,362f. αίγλη δ'ούρανον lice, γέλασσί δΐ πάσα irepl χθων / χαλκοΰ ύττο στΐροπης- νττο δε κτύπος οτρυvt τοσαίν [...], an die Glei denkt, ist näher an Lucrez als an Vergil. 44 Klepl (1940), 44. 45 Als solchen klassifizieren die Stelle Klingner (1963), 98; Effe (1977), 92 und noch Glei (1991), 280 (vgl. Anm. 43); präzise hingegen Schrijvers (1970), 307: »Le fait que, malgre le mouvement incessant de tous les atomes, l'objet qu'ils constituent semble se trouver dans un etat de repos (Π 309/310), est compare par le poete ä l'impression d'immobilite, que [...] les

160

Vergil

daß auch scheinbar unbewegte Dinge sich in heftigster Bewegung befinden. Als Beispiel führt er die Tatsache an, daß auch Legionen im Manöver von einem weit entfernten Punkt aus nur als unbewegte Masse wahrgenommen werden: stare videntur et in campis consistere fulgor (Lucr. 2,332). Das vergilische Gleichnis geht dagegen genau von der entgegengesetzten Voraussetzung aus: Nicht die Bewegung, sondern gerade die Unbewegtheit der Formation veranlaßt Vergil zur Auswahl des Vergleichsmotivs. Die eher >aktionsbetonende< Natur der Gleichnisse steht in diesem Fall im Widerspruch zu dem starren Objekt, das illustriert werden soll: »The thrust of the simile is to deny traditional epic standards, for it assigns value to a static order«.46 Dennoch kommt in dem Bild der >dynamische< Charakter des Gleichnisses zum Ausdruck, da es von seiner Wortwahl her so gestaltet ist, daß sich in dem Resultat immer noch die Aktion widerspiegelt. So beschreibt das Verbum explicate an sich zwar einen Vorgang; indem Vergil jedoch das Perfekt explicuit (280) verwendet, präsentiert er nur noch das Ergebnis, das freilich die vorausgegangene Handlung impliziert und sie dadurch dem Leser erst recht bewußt macht. Das kurz darauf folgende resultative Perfekt stetit (280) betont zwar ebenfalls den Aspekt des Statischen, deutet aber die vorausgegangene Handlung stärker an, als es etwa durch das Praesens stat möglich wäre.47 Das einzige Verbum, das eine Bewegung bezeichnet, ist ßuctuat (281): » Bei Lukrez befindet sich das Heer in Bewegung und scheint von Ferne ruhig, bei Vergil steht das Heer fest und scheint von Ferne in Bewegung«.48 Aber auch fluctuare meint nicht die Bewegung in eine bestimmte Richtung, sondern ein auf einen bestimmten Punkt fixiertes Auf und Ab49 im Gegensatz zu der anbrandenden Flutwelle, mit der eine kriegerische Aktion sonst beschrieben wird.50 Im zweiten Teil der Parabole wird durch necdum ... miscent / proelia (282f.) ebenfalls die Bewegung negiert. Obwohl die

grandes legions font sur l'observateur [...]«. Richtig auch Betensky (1979), 113: »illustration«; Rieks (1981), 1055: »Beispiele«. 46 Miles (1980), 133. 47 Ähnlich auch Verg. Aen. 3,679-681 (das extrem >statische< Baumgleichnis, mit dem Vergil die Lähmung der Kyklopen illustriert, siehe unten S. 178 Anm. 113): aeriae quercus aut

coniferae cyparissi / constiterunt. 48 Schäfer (1996), 43 Anm. 113. 49 Vgl. ThlL VI,1 (1919), Sp. 942 s.v. fluctuo: »spectat ad modum fluendi ac refluendi«. Zu viel Bewegung suggeriert die Interpretation von Putnam (1979), 118: »Ordinary motionless land begins to behave like water [...]«. Fluctuare ist möglicherweise auch Gegenmetapher zum lucrezischen fervere (Lucr. 2,40f.: legiones... fervere cum videos). 50 Vgl. Tyrt. frg. 12.22W. κύμα μάχης-, Acc. trag. 608 Ribbeck; Lucr. 5,1289f. belli ... fluctus; vgl. ThlL VI,1 (1920), Sp. 947 s.v. fluctus.

Vergil

161

Schlacht kurz bevorsteht, ist der Zeitpunkt noch nicht gekommen, zu dem sich die Formation im Schlachtgetümmel auflöst. Auch die wörtliche Reminiszenz an das lucrezische Vorbild lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Spannung zwischen Statik und Dynamik. Aus dem aktionsbetonenden Incohativum renidescit bei Lucrez (2,326) wird bei Vergil das den Zustand beschreibende Partizip renidenti (282). Ferner tritt dadurch, daß für die lucrezische Argumentation der entscheidende Punkt gerade die Bewegung der Legionen ist, die Statik des vergilischen Gleichnisses um so schärfer hervor,51 da sich bei Lucrez die Ruhe, die ein Betrachter aus der Distanz wahrzunehmen glaubt, als »objektiv falscher Eindruck«52 erweist. Die Imitation der Lucrezstelle ist also vor allem auf Kontrastwirkung angelegt; das lucrezische Bild liefert gleichsam die als im Bewußtsein des Lesers präsent vorausgesetzte Schablone, vor der sich die Eigenart der vergilischen Gestaltung um so deutlicher abhebt. Trotz der Rückgriffe auf die lucrezische Lehrdichtung und der >didaktischen< Ausgangssituation bestehen aber wesentliche Unterschiede zu den lucrezischen Lehrgleichnissen. Während bei Lucrez der didaktische Gehalt und das Argumentationsziel der Vergleichung in der Regel in einer Antapodosis erklärt werden, die wesentliche Punkte des Gleichnisinhalts noch einmal aufgreift, fehlt in dem vorliegenden Gleichnis - wie übrigens in beinahe allen Georgicagleichnissen - eine Antapodosis, mit der der Dichter den Gleichnistext auf den Lehrzusammenhang überträgt. Vergil verzichtet also darauf, die Rückkehr vom Gleichnis- in den Haupttext explizit kenntlich zu machen, so daß sie vom Leser auf sprachlicher Ebene nur durch den veränderten Modus (omnia sint paribus numeris dimensa viarum [284] gegenüber errat im letzten Vers der Parabole [283]) erschlossen werden kann. Dementsprechend ist das Illustrationsziel des vergilischen Heeresgleichnisses nicht annähernd so präzise formuliert wie bei Lucrez. In der Forschung wurde bisweilen die Auffassung vertreten, Vergil habe hier die Anordnung der Rebstöcke in quincuncem illustrieren wollen.53 Obgleich die Manipelstellung einer Legion, bei der die principes, bastati und triarii in drei

51 Ähnlich verfährt Vergil übrigens in der Schildbeschreibung (Aen. 8,630-728), in der er die Bilder beschreibt, die Aeneas auf dem fertigen Schild sieht, während Homer (Π. 18,478-613) den Schild in seiner Entstehung zeigt. Zum Verhältnis von Gleichnis und Ekphrasis oben S. 48 m. Anm. 11-13. 52 Rieks (1981), 1055. 53 Conington-Nettleship I (K 51898) 254 (wobei der Überarbeiter Haverfield diese Deutung ablehnt); Goelzer (K s1947), 53; Richter (K 1957), 233; Page (K 1960), 266f.; dagegen Sandbach (1928), 60, der - m. E. wenig plausibel - bestreitet, daß Vergil hier überhaupt eine quincunx beschreibt.

162

Vergil

Reihen hintereinander »auf Lücke« aufgestellt waren,54 durchaus einer quincunx-Anordnung entspricht, stellt sich die Frage, ob das Bild tatsächlich eine Periphrase des in quincuncem serere bieten soll. Im miltitärischen Bereich ist der Begriff quincunx nicht belegt.55 Zudem liefert bereits der einleitende Stichsatz arbonbus positis secto via limite quadret alle Informationen, die notwendig sind, um die Anordnung in quincuncem zu beschreiben. Weiterhin fällt auf, daß Vergil in der Parabole keinerlei Fachtermini verwendet, die den Begriff quincunx präzisieren oder zumindest paraphrasieren. Wenn das Gleichnis überhaupt die quincunx-Vormation veranschaulichen kann, so ist das nur deshalb möglich, weil sie dem Leser von vornherein bekannt ist. Es ist daher kaum anzunehmen, daß die Praxis des in quincuncem serere tatsächlich das vordringliche Illustrationsziel des Gleichnisses darstellt. Vergil sieht zwar die Ähnlichkeit der »genau ausgerichteten Reihen«56 von Weinpflanzung und Legion. Betrachtet man jedoch den größeren Zusammenhang, in dem das Gleichnis steht, so stellt man fest, daß Vergil das Bild nicht an die >reguläre< Form der Weinpflanzung in der Ebene anschließt, sondern von einem Weinberg mit geneigtem Boden ausgeht (tumulis acclive solum collisque supinos [276]), auf dem der Bauer den einzelnen Pflanzen mehr Raum gewähren soll als im flachen Gelände. Entscheidend ist dabei, daß diese Auflockerung der Pflanzung nicht auf Kosten der Exaktheit ihrer Ausrichtung gehen darf: nec setius quadret (277f.). Dadurch, daß das Gleichnis explizit den Aufmarsch eines Heeres in der Ebene (campo ... aperto [280]) beschreibt, hebt Vergil diesen Aspekt besonders hervor. Es geht weniger um die exakte Ausrichtung an sich, als vielmehr darum, daß die Anordnung, die ein Heer in der Ebene praktiziert, bei der Pflanzung von Weinstöcken auch unter erschwerten Bedingungen in Hanglage gewahrt bleiben muß.57 Die konkrete sachliche

54 Vgl. Veg. mil. 3,14,6: singuli autem armati in directum temos pedes inter se occupare consuerunt, hoc est, in mille passibus mille sescenti sexaginta sex pedites ordinantur in longum, ut nec acies interluceat et spatium sit arma tractandi, inter ordinem autem et ordinem a tergo in latum sex pedes distare voluerunt, ut haberent pugnantes spatium accedendi atque recedendi; dazu Fröhlich (1890), 147f.; E.F. Lämmern, R E Π A 1 (1921), Sp. 484f. s.v. Schlachtordnung. 55 Irreführend Haberman (1977), 55, die vermutet, daß eine militärische Konnotation des Wortes quincunx, das in Varros Res rusticae der Terminus technicus für die Anordnung der Weinstöcke ist, Vergil dazu bewogen habe, das Legionsbild auszuwählen. Die einzige Stelle, an der quincunx in einem militärischen Kontext vorkommt, findet sich Caes. Gall. 7,73,5 (Belagerung von Alesia), wo allerdings nicht Soldaten, sondern die Gruben, in denen die liliae eingegraben wurden, in quincunx-F ormztion angeordnet sind. 56 Klingner (1963), 98. 57 Nicht den Punkt trifft Betensky (1979), 115: »on an open, fertile field the farmer may sow thickly in no special order, and Bacchus will not be more lazy or less fertile*. Richtig

Vergil

163

Unterweisung ist somit sekundär; der didaktische Wert des Gleichnisses besteht vor allem darin, daß Vergil eine abstrakte Norm, nämlich das Prinzip >OrdnungHeeresaufmarsch< oder >Heeresversammlung< unserer Kenntnis nach in keinem Gleichnis im heroischen Epos Verwendung gefunden hat,5' sondern nicht selten selbst mit Gleichnissen mitunter auch aus dem agrarischen Bereich60 - belegt wird. Dadurch, daß die Gegenstände sowohl im Haupt- als auch im Gleichnistext vertauscht werden, bekommt das Gleichnis eine ähnliche Kontrastwirkung wie seine Gegenstücke im heroischen Epos, denn genau wie dort prallen auch hier zwei unterschiedliche Sphären menschlichen Daseins unmittelbar aufeinander. Zugleich wird die Weinpflanzung durch den Vergleich mit einem Bild aus der Menschenwelt anthropomorphisiert. Daraus läßt sich ableiten, welchen Stellenwert der Vergleichsgegenstand >Weinpflanzung< für Vergil hat: Er ist epischen Stoffen ebenbürtig. Obgleich insbesondere der erste Vers der Parabole auf Kontrastwirkung hin konzipiert ist und den Leser aus dem Lehrtext und kurzfristig möglicherweise sogar aus der Lehrdichtung herausreißt, sind durchaus Elemente vorhanden, die Bild und Sache miteinander verbinden. Das Wort ordo (277) bezeichnet auch die Formation eines Heeres;" ebenso könnte das Verbum quadret (278) an die Marschformation im agmen quadratum denken lassen.62 Der Aspekt des Militärischen spielt aber auch sonst in der vergilischen Darstellung eine wichtige

59 Das bedeutet nun allerdings nicht, daß es im heroischen Epos überhaupt keine Gleichnisse aus dem Bereich des Kriegswesens gibt, wie die Ausführungen von Glei (1991), 280 vermuten lassen könnten; sie sind jedoch sehr viel seltener als solche aus dem agrarisch-pastoralen Bereich (z.B. Horn. Π. 18,219-221 [Trompete]; 18,207-214 [Rauch von einer Stadt im Krieg]; Apoll. Rhod. 2,1077-1079 [Kriegsgeschrei]). 60 So ζ. B. Horn. Π. 2,147-149. Das Getreidefeld ist auch in der Aeneis Metapher für die waffenstarrende Schlachtordnung (strictis seges ensibus [7,526]; strictisque seges mucronibus horret [12,663]); die Tatsache, daß man aus Holz auch Lanzen fertigen kann, wird in der Polydorus-Geschichte ausgenutzt: confixum ferrea texit / telorum seges (3,45f.): Die Lanzen, durch die Polydorus zu Tode kam, schlugen Wurzeln und sogen das Blut des Getöteten auf; es entstand der Hain, in dem Aeneas die Zweige für den Altar zu brechen versucht. - Die Weinpflanzung selbst ist allerdings unseres Wissens im heroischen Epos nie Gleichnismotiv. - Ein weiteres Motiv, das die Unruhe einer Heeresversammlung illustriert, ist das hin- und herwogende Meer (Horn. Π. 2,144-146; 7,63-66): Ein solches Wassergleichnis wird möglicherweise reflektiert in fluctuat (281); aber fluctuate sagt man dichterisch auch vom Hin- und Herwogen des Saatfeldes: Sen. Here. f. 699: fluctuat Zepbyro seges. 61 Haberman (1977), 55; ThlL IX,2 (1980), 956 s.v. ordo. 62 Vgl. De la Cerda (K 1647), 306; OLD Π (1976) s.v. quadratus. Zur Erklärung der Formation des agmen quadratum Junkelmann (1986), 235.

Vergil

165

Rolle: »Militärische Metaphern finden sich auf nahezu alle Bereiche der Natur angewendet«.63 Domare, exercere, cogere und imperare beschreiben die landwirtschaftliche Tätigkeit als quasi-militärische Operation.64 Krieg und Landwirtschaft haben beide ihren Ursprung in der ferrea aetas, da zu ihrer Ausübung das Eisen erforderlich ist.65 Daß gerade der Weinberg mit einem militärischen Gleichnis belegt wird, soll aber vielleicht auch auf die destruktive, >kriegerische< Seite im Wesen des Weingottes hinweisen, den etwa Euripides in den Bacchen als einen Gott beschreibt, der geordnete Schlachtreihen in Panik zu versetzen vermag.66 Zwischen Mars und Bacchus bestehen enge verwandtschaftliche Beziehungen. Putnam stellt daher fest: »Mars bears the same relation to men in arms as his brother Bacchus does to the vines. They too can be marshaled but it will not be long before we will see their disturbing effects on the humans who have trained their growth«.67 Das erklärt auch, warum Vergil so stark betont, daß die Schlacht noch nicht stattfindet, die Ordnung noch nicht gestört ist, denn es geht an dieser Stelle um die Pflanzung, nicht um das Endprodukt Wein, den Vergil selbst am Ende des Abschnittes verurteilt, weil er oftmals Streitigkeiten bis hin zu kriegerischen Aktionen auslöst und den Aufwand, dessen es zu seiner Kultivation bedarf, nicht rechtfertigt.68 In dem Gleichnis ist möglicherweise mit horrida ... proelia (282f.) die an späterer Stelle geäußerte Kritik schon vorbereitet. Die Analyse zeigt, daß Vergil in dem ersten didaktischen Gleichnis Elemente des heroischen Epos mit typischen Elementen der Lehrdichtung verbindet. Dem heroischen Epos verpflichtet ist das Gleichnis vor allem in sprachlich-stilistischer Hinsicht sowie darin, daß zwei Grundbereiche des mensch-

63 Glei (1991), 279 mit Verweis auf die ausführlichen Untersuchungen von Carilli (1986), 173. 64 Z.B. Verg. georg. 1,99 (hier geht es übrigens, ähnlich wie bei der Weinpflanzung, um die exakten Linien, diesmal beim Pflügen); 2,62; ,356, vgl. auch Carilli (1986), 173-176. Landwirtschaft - Krieg übrigens auch bei Manilius: 2,2 müitiamque soli (über Hesiods Lehrgedicht); 4,145 militiam indicit terris (sc. Taurus). 65 Vgl. Lucr. 5,1289-1290: aere solum terrae tractabant, aereque belli / miscebant fluctus et vulnera vasta serebant 66 Eurip. Bacch. 302-304, dazu Dodds, Eurip. Bacch. (K 2 1960), 109f. Keine Textindizien lassen sich allerdings dafür finden, daß Vergil auf die Funktion von Mars als altem Landwirtschaftsgott (vgl. Cato agr. 141,2) aufmerksam machen will, so Glei (1991), 277f. - Die Verwandtschaft von Bacchus und Mars schlägt sich auch in der Astrologie nieder, wo Bacchus bisweilen den Planeten Mars ersetzt, vgl. Hübner (1984), 140f. 67 Putnam (1979), 119. 68 Verg. georg. 2,454-457 (vituperatio vitis).

166

Vergil

lichen Lebens kontrastierend gegenübergestellt werden. Deutlicher als die Verfasser heroischer Epen arbeitet Vergil jedoch heraus, daß beide Bereiche aufgrund eines höheren Prinzips miteinander vergleichbar sind. Genau wie bei Lucrez die atomistische Beschaffenheit der Welt Vergleichsgegenstand und verglichenen Gegenstand verbindet, so lassen sich gemäß der vergilischen Darstellung auch ähnliche Gesetzmäßigkeiten für Krieg und Landwirtschaft ausmachen. Doch besteht ein wesentlicher Unterschied zu Lucrez. In De rerum natura ist die übereinstimmende Atomstruktur der verglichenen Gegenstände nur die Basis, aufgrund derer Einzelaspekte der Lehre verdeutlicht werden können. Vergil hingegen kommt es in diesem Gleichnis gerade darauf an, die übergeordneten Gemeinsamkeiten zwischen Krieg und Landwirtschaft erst herauszustellen, wohingegen die Illustration der konkreten sachlichen Vorschrift in den Hintergrund tritt. Das dritte Georgica-Buch enthält zwei größere Gleichnisse (3,193-201 und 3,235-241), die beide Haltung und Aufzucht des Großviehs betreffen. Vergil beschreibt ausführlich die unterschiedliche Ausbildung von Pferd und Rind, die auf deren zukünftige Tätigkeit vorbereiten soll. Das Pferd als das Tier für Krieg und Wagenrennen muß vom vierten Lebensjahr an die verschiedenen Schrittarten und vor allem seine Schnelligkeit trainieren (3,193-201): 193 195

200 201

[...] tum cursibus auras tum vocet, ac per aperta volans ceu liber habenis aequora vix summa vestigia ponat harena: qualis Hyperboreis Aquilo cum densus ab oris incubuit, Scythiaeque hiemes atque arida differt nubila; tum segetes altae campique natantis lenibus horrescunt flabris, summaeque sonorem dant silvae, longique urgent ad litora fluctus: ille volat simul arva fuga, simul aequora verrens.

Wiederum schließt Vergil das Gleichnis an eine konkrete Lehrvorschrift an. Den Ausgangspunkt bildet diesmal das Lauftraining des Pferdes. Der iussive Charakter des Abschnittes wird an den Konjunktiven vocet [194] und ponat [195] deutlich. Dennoch wirkt er weitaus weniger didaktisch als jener Abschnitt, in dem das Heeresgleichnis steht: zum einen, weil die Anweisung zwar dem Pferd gilt, zugleich aber beschrieben wird, wie sich das rennende Pferd, dessen Geschwindigkeit sich immer mehr steigert, dem Betrachter darstellt. Zum anderen ist das Pferd selbst ein geläufiges episches Gleichnismotiv. Ein oft rezipiertes Iliasgleichnis zeigt Paris als edles Pferd, das sich an der Krippe satt-

Vergil

167

gefressen hat und kraftvoll über die Weide stürmt.69 Dadurch, daß der Dichter ein Tier mit einem epischen Gleichnis belegt, heroisiert er die Tierwelt.70 Da aber Pferde im heroischen Epos durchaus auch Gleichnisse bekommen,71 ist Vergils Vorgehensweise an dieser Stelle nicht gänzlich eposfremd. Hinzu kommt, daß der Wind, wie alle Naturgewalten, zu den traditionellen Gleichnismotiven im heroischen Epos gehört.72 Insbesondere die Geschwindigkeit des Windes wird im Griechischen zudem in Kurzvergleichen und Adjektiven mit implizitem Vergleich als Maßstab benutzt,73 so daß in diesem Abschnitt die epischen Bestandteile gegenüber den didaktischen überwiegen. Obgleich die heroisch-epische Tradition an dieser Stelle prävalent ist, lassen sich in der Parabole deutliche Reminiszenzen an die didaktische Dichtung des Lucrez erkennen. Rieks macht auf »lukrezische Prägungen« in der Wortwahl aufmerksam: d i f f e r t nubila, campt natantes, incubuit;74 lucrezisch sind überdies flabris und verrensP Vor allem fällt auf, daß Vergil - anders als die homerischen Gleichnisse, die zumeist auf einen einzigen Bereich beschränkt bleiben - die Wirkung auf alle Bereiche des Kosmos schildert: Himmel {nubila}, Land (segetes, campi, silvae) und Wasser (fluctus), wobei er das Land nochmals in die hohe {summae silvae), die niedrige {campi natantei6) und die mittlere Sphäre {segetes altae) differenziert. Diese Trias Land - Wasser - Luft begegnet in anderer Reihenfolge auch bei Lucrez, der aus den sichtbaren Zerstörungen, die der Wind

69 Horn. D. 6,506-514 ( - 15,263-270), vgl. Apoll. Rhod. 3,1259-1262; 4,1604-1610; Enn. ann. 535-539 Sk., zu diesem Motiv ausführlich v. Albrecht (1969), 333-345, Wülfing-von Martitz (1972), 267-270. Zu Pferdegleichnissen im homerischen Epos zuletzt Lonsdale (1990), 75 Anm. 11. Vgl. ferner Verg. Aen. 11,492-497; Val. Fl. 2,384-389 (dazu Gärtner [1994], 81-88). 70 Vgl. Klingner (1963), 147; Putnam (1979), 189. 71 Ε. g. Horn. H. 2,764f.; 16,384-393. 72 Vgl. Frankel (1921), 17. 73 Horn. Od. 2,148: βήτοντο μίτα τνοιήσ' άνίμοω; 6,20 ανέμου ώς πνοιη ϊπίσσυτο; Apoll. Rhod. 4,1368: ωρτο dktiv τνοιη ΙκεΧος πόδας-, Eurip. Iph. Aul. 206f.: τον Ισάνΐμον ... Άχιληα. 74 Rieks (1981), 1058. 75 Flabris·. Lucr. 1,275 silvifragis vexat flabris; verrens·. Lucr. 1,279: verrunt. 76 Die Wendung campi natantes (Klingner [1963], 147 Anm. 1 vermutet hier eine Enniusreminiszenz) ist in ihrer Bedeutung umstritten. Drei verschiedene Interpretationen wurden vorgeschlagen: 1. »das Meer« (so zuletzt Thomas Π [Κ 1988], 77) 2. »wogende Saatfelder« 3. »überschwemmte Flächen«. Die erste Deutung würde eine unschöne Doppelung bedeuten, weil Vergil die Wirkung des Windes auf die Meeresfläche schon in Vers 200 beschreibt. Aus ähnlichen Gründen können auch »wogende Saatfelder« wohl nicht gemeint sein, da diese in segetes altae explizit genannt sind; zudem ist die Bezeichnung campi natantes - Saatfelder sonst nicht belegt. Für den dritten Vorschlag »überschwemmte Flächen« spricht vor allem, daß Lucrez campi natantes mehrfach (5,488; 6,267; vgl. auch georg. 1,372 rura natant) in dieser Bedeutimg verwendet: Richter (K 1957), 286.

Vergil

168

anrichtet, auf seine atomistische Beschaffenheit schließen zu können glaubt (Lucr. 1,277-279): 277 279

sunt igitur venti nimirum corpora caeca, quae mare, quae terras, quae denique nubtla caeli verrunt ac subito vexantia turbine raptant.

Während Lucrez im folgenden, um seine Behauptung zu stützen, den unsichtbaren Wind durch Vergleich mit dem Wasser auf die Ebene des Sichtbaren rückt, 77 vollzieht sich bei Vergil insofern genau die umgekehrte Bewegung, als er das Pferd mit dem amorphen Wind vergleicht. So wie der Wind bei Lucrez durch das Wassergleichnis erst sichtbar wird, so wird das Pferd durch die Parallelisierung mit dem Wind unsichtbar, wie es ja tatsächlich im schnellen Lauf von einem Betrachter nur schemenhaft und ohne scharfe Konturen wahrgenommen werden kann. Diese >Entkörperlichung< kommt sprachlich auch in der Parabole zum Ausdruck: Während Aquilo in den ersten beiden Versen noch als Agierender erscheint, der Winterunwetter und Wolken zerstreut

(incubuit,

differt [197]), ist in den folgenden Versen nach einem Subjektswechsel nicht mehr explizit vom Wind die Rede, sondern nur noch von den Auswirkungen seines Wehens auf belebte und unbelebte Natur. Warum wählt Vergil gerade den Nordwind als Vergleichsmotiv aus? Pferd und Wind werden in der literarischen Tradition häufig zusammengesehen. Pferde gelten als äeXkoiroöeq

oder άεΧΧοδρομάδίς/8 ihre Schnelligkeit wird an der

des Windes gemessen.7' Das Gleichnis erweitert und >reaktiviert< somit lediglich eine traditionelle Metapher,"0 wie es in ähnlicher Weise für lucrezische Gleichnisse festzustellen war. Dementsprechend kann Vergil das Bild ähnlich wie Lucrez so vorbereiten, daß es sich zwanglos aus dem Zusammenhang ergibt: Das Pferd soll zunächst »den Wind herausfordern« {tum cursibus auras / tum vocet [193f.J, um ihm schließlich gleichzukommen. Auch das »Dahinfliegen« des Pferdes (polaris [194]) weist auf das Gleichnis. 81 Der letzte Vers der Parabole ille volat simul arva fuga, simul aequora verrens (201) greift in volat und aequora die

77 Siehe dazu oben S. 81. Zur Trias Himmel - Land - Wasser auch unten S. 229f. 78 Vgl. Hehn (Ί894), 36; Mynors (K 1990), 212. 79 Horn. D. 10,437: öeieiv δ' άνίμοισιν όμοιοι, Apoll. Rhod. 4,220f.: Immun μετίτρβTev,

ους oi iraaaev /'Ηίλιος τνοιησιν (αδομίνους άνίμοιο·, vgl. auch Verg. Aen. 12,345 equo praevertere ventos.

80 Zu negativ Rieks (1981), 1058, der von einem »abgegriffenen Vergleich« spricht. 81 Vom »Dahinfliegen« der Pferde bzw. der Gespanne ist im dritten Buch auch sonst die

Rede: 3,107 volat viferoidus axis·, 3,181 et lovis in luco currus agitare volantis.

Vergil

169

Formulierungen des einleitenden Stichsatzes auf, so daß er auf Pferd und Wind gleichermaßen bezogen werden kann' 2 - eine Ambivalenz, die vom Dichter zweifelsohne gewollt ist und die zeigt, wie weit Wind und Pferd assimiliert werden. Das Pferd wird zum Wind. Diese >Metamorphose< ist der Höhepunkt seiner Grundausbildung, auf die der >Ernst des Lebens< in Form von Krieg und Wagenrennen (markiert durch hinc [202]) folgt. Die Vergleichbarkeit von Pferd und Wind ist noch aus einem anderen Grund gewährleistet. Die Schnelligkeit des Pferdes führte man auf verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Pferd und Wind zurück. Vergil selbst lehrt, daß die Stuten sich, um zu empfangen, zum Zephyrus hin ausrichten und vom Wind geschwängert werden (3,272-277): 272

275

[...] illae ore omnes versae in Zephyrum stant rupibus altis, exceptantque levis auras, et saepe sine ullis coniugiis vento gravidae (mirabile dictu)

277

saxa per et scopulos et depressas convallis diffugiunt, non, Eure, tuos neque solis ad ortus [...]

Wenn die Stuten sich durch den Wind schwängern lassen, so erklärt das, warum sie, was ihre Schnelligkeit angeht, mit dem Wind in Konkurrenz treten können. Daß dieser Aspekt bei der Auswahl des Vergleichsmotivs durchaus mitgedacht worden ist, zeigt sich zum einen daran, daß nach antiker Tradition außer Zephyrus, den Vergil in der eben zitierten Stelle erwähnt, auch Boreas/Aquilo fähig ist, Rosse zu schwängern.83 Zwischen Boreas/Aquilo und dem Pferd besteht darüber hinaus noch eine besondere Verbindung. Aus der Vereinigung des Boreas mit der Erinys gingen feuerschnaubende Rosse hervor.84 In der Ilias wird berichtet, wie Boreas Pferdegestalt annimmt und sich mit den Stuten des Erichthonios paart (Horn. Ii. 20,223-229): 223 225

229

τάων καϊ Β ο ρ ί η ς ήράσσατο βοσκομΐνάων, Iirirti) δ' άσάμβνος TapeXei-aro κυανοχαίτη· αϊ δ' ΰποκυσάμεναι ετΐκον δυοκαίδβκα τώΧονς. αί δ' ore μ(ν σκιρτωεν km ξάδωρον άρουραν, άκρον έπ' άνύερίκων καρτον ΰίον ούδε κατίκΧων άλλ' ore δη σκιρτώίν eir' ebpka νώτα θαλάσσης, άκρον kirl ρη-γμίνος άλος πολιοΐο ΰάσκον.

82 Thomas Π (Κ. 1988), 77f. 83 Vgl. Roscher, Myth. Lex. I, 804f. s.v. Boreas (A. Rapp); Hunger, Myth. Lex. ("1988), 535 s.v. Winde. 84 Quint. Smyrn. 8,241-244.

170

Vergil

Die Metamorphose, die der Iliasdichter beschreibt, vollzieht sich bei Vergil in umgekehrter Richtung: Während sich Boreas in der Ilias in das Pferd verwandelt, geht Vergil von dem Pferd aus, das er im zweiten Schritt mit Aquilo vergleicht. Erneut kehrt er die Vorgaben seines literarischen Vorbildes um.85 Dementsprechend wird die Schnelligkeit des Pferdes in dem Stichsatz, der das vergilische Gleichnis einleitet, ähnlich beschrieben wie die der Pferde, die aus Boreas' Verbindung mit den Stuten hervorgehen: Ihre Füße berühren kaum die Erde, so daß sie die Ähren eines Kornfeldes im Lauf nicht zerknicken (ούδε κατίκΧων [Horn. Ii. 20,227]). Diese Ubereinstimmung macht wahrscheinlich, daß Vergil auf die mythische Begebenheit, die der Iliasdichter schildert, hat anspielen wollen, so daß das Gleichnis über eine mythologische Implikation verfügt.86 Hier lassen sich zwei wesentliche Unterschiede zu Lucrez erkennen. An die Stelle der atomistischen Verwandtschaft von Vergleich und Verglichenem, die bei Lucrez in der Regel die Auswahl des Gegenstandes maßgeblich beeinflußt, tritt bei Vergil eine mythologische, die das Gleichnis zum Aition für die Schnelligkeit des Pferdes werden läßt. Und während in den lucrezischen Gleichnissen der implizite Mythos an den Stellen, an denen er begegnet, dazu dient, überkommene mythologische Vorstellungen zu demaskieren, läßt Vergil dieselben mythologischen Vorstellungen sogar als Kriterium für Vergleichbarkeiten gelten. Der Verweis auf eine mythische Begebenheit hat noch eine weitere Funktion. Um sie zu erkennen, muß man den Kontext berücksichtigen, in dem die Vergleichung erscheint. Nach Homer ist die windgleiche Schnelligkeit der Boreas-Nachkommen angeboren; in der vergilischen Darstellung hingegen stellt sie sich erst am Ende des harten Trainings ein. Dadurch, daß Boreas im Vergleich erscheint und seine Beziehungen zum Pferd nur mittelbar erschlossen werden können, charakterisiert Vergil möglicherweise zugleich die Zeit, von der seine Georgica ausgehen: Es ist gerade nicht mehr die mythische Vorzeit, in der Pferde schon aufgrund ihrer Abstammung so schnell waren wie der Wind, sondern seine eigene, in der der mythische Zustand nur durch hartes, diszipliniertes Training erreicht werden kann.

85 Jahn (1905), 375, der - meines Wissens als einziger - die Stelle ausschreibt, verwischt diese Pointe: »Dort waren es Füllen, Kinder des Boreas, hier ist es Boreas selbst, der mit einem windschnellen Füllen verglichen wird.« 86 Zum >latenten< Mythos bei Vergil Lyne (1987), 139-144; speziell in den Georgica Frentz (1967), 72-107; zuletzt Gale (1995), 52. Unsere Stelle wird in keiner der Arbeiten erwähnt.

Vergil

171

Das zweite große Gleichnis im dritten Buch steht dem Aquilo-Gleichnis in mehrfacher Hinsicht nahe. Als Auftakt seiner Ausführungen über den ungesunden Liebeswahn der Tiere schildert Vergil zunächst das Verhalten der Stiere, insbesondere des im Kampf um die Färse besiegten Rivalen, der die Schmach seiner Niederlage nicht erträgt, sich in die Einsamkeit zurückzieht und nach intensiver Vorbereitung den ahnungslosen Gegner überrumpelt, indem er erneut zum Kampf antritt (3,235-241): 235

240 241

post ubi collectum robur viresque refectae, signa movet praecepsque oblitum fertur in hostem: fluctus uti medio coepit cum albescere ponto, longius ex altoque sinum trahit, utque volutus ad terras immane sonat per saxa neque ipso monte minor procumbit, at ima exaestuat unda verticibus nigramque alte subiectat harenam.

Die Ausgangssituation ist ähnlich wie bei dem Aquilo-Gleichnis. Auch an dieser Stelle gilt das Gleichnis einem Tier, daß in der erzählenden Epik selbst oft Gleichnismotiv ist. Der Kampf zweier rivalisierender Tiere wird unseres Wissens erstmals von Apollonius in einem Gleichnis beschrieben, 87 fehlt aber von da an in keinem heroischen Epos. 88 Allerdings hat Vergil den Stierkampf stark anthropomorphisiert. 89 Der Abschnitt gehört seiner sprachlichen Gestaltung nach zu den »preannunzi di >Epische Technik< nelle Georgiche«, die Beschreibung des Kampfes ist epischen Kampfschilderungen nachempfunden. 90 Die Aktionen des Stiers werden mit Begriffen aus dem politischen (exsulat [225], regnis excessit avitis [228]), moralischen (mos [224]; ignominia [226]) und militäri-

87 Apoll. Rhod. 2,88f. 88 Verg. Aen. 12,715-724; ausführlicher Vergleich mit der Georgica-Stelle bei Putnam (1965), 182-186; Perutelli (1972), 47f.; Rieks (1981), 1060-1062; Ov. met. 9,46-49, dazu Börner (1974), 506-513; Lucan. 2,601-609 (deutlich von Vergil beeinflußt, vgl. Aymard[1951], 51); Val. Fl. 2,546-549, dazu Gärtner (1994), 93-97 (auch zum Vorbild georg. 3,219-236); Sil. 5,309-315 (314f. ac iam signa moventem / et sparsa pugnas meditantem spectat harena ist eine eindeutige Anspielung auf georg. 3,234 und 236); 16,4-10, dazu v. Albrecht (1963), 358. Überaus häufig sind Stiergleichnisse bei Statius, vgl. Kytzler (1962), 144-149. 89 Vgl. Briggs (1980), 19. Aber auch für die Gleichnisse der Aeneis stellt Salvatore (1982) immer wieder eine »umanizzazione« der Tierwelt fest, die er als ein Zeichen für die besondere Sensibilität des Dichters wertet. Man sollte jedoch nicht übersehen, daß die Wirkung der Tiergleichnisse (wie auch die aller anderen) generell darauf beruht, daß die Vergleichsgegenstände durch die Wortwahl anthropomorphisiert werden, vgl. Snell ^1980), 185. 90 Vgl. Landolfi (1987), 57-65, der Beziehungen zu homerischen Kampfschilderungen herstellt; Ross (1987), 164: »war of epic dimensions, kingdoms lost and regained, reges et proelia«.

172

Vergü

sehen Bereich bezeichnet: bellantis (224), victor (227), signa movet, hostem (236).'1 Durch zahlreiche Details wird die Darstellung stark individualisiert, so daß die Szene geradezu ein erläuterndes >Fallbeispiel< für den ungesunden Liebeswahn darstellt. Das Gleichnis, in das der gesamte Abschnitt ausläuft, verstärkt den Eindruck des Lesers, sich in einer epischen Szenerie zu befinden, zumal auch Anknüpfungspunkt und Motiv des Gleichnisses den heroisch-epischen Vorgaben entsprechen: Wie der Held auf seinem Weg in den Kampf häufig mit einer Naturgewalt verglichen wird,' 2 so zeigt auch an dieser Stelle das Bild von der Flutwelle den Stier auf dem Weg zu seinem Rivalen. So überrascht es nicht, daß ein Uiasgleichnis die Grundlage der vergilischen Vergleichung bildet (Horn. Ii. 4,422-428): 422

425

428

ως δ' or' kv αίγιαλω τολυηχέι κύμα όαΧάσσης ορνυτ' ίτασσύτίρον ϊεφνρου δτο κινησαντος· ττόντω μίν τε τρώτα κορύσσεται, αντάρ ereira Χ&σψ ρη·γνύμβνον μεγάλα βρίμβι, άμφΐ δε τ' άκρας κυρτον eov κορυφοϋται, άχοττύει δ' άλος άχνην ως τότ' έτασσυτεραι Δαναών κίννντο φάλαγγες ρωλεμέως ττόλεμόρδε- [...]

Abgesehen von dem gleichen Motiv, der gegen das Festland anlaufenden Flutwelle, lassen zahlreiche wörtliche Ubereinstimmungen erkennen, daß Vergil eben dieses Iliasgleichnis imitiert: Die Bewegung beginnt mitten auf dem Meer (πόντω μίν re πρώτα κορύσσετοα [424]; medio ... ponto [237]), die Woge türmt sich berggleich immer höher auf (κορυφοϋται [426]; neque ipso / monte minor [238f.]) und krümmt sich (κυρτον eov [426]; longius ex altoque sinum trahit [238]) und bricht sich schließlich mit lautem Getöse (pyvvßevov μεγάλα βρίμα [425]; volutus / ad terras immane sonat [239]) in den Felsen (άμφι δε τ' άκρας [425]; per saxa [239]). Die motivischen, sprachlichen und kontextuellen Ubereinstimmungen zeigen, daß Vergil in der Konzeption der Vergleichung heroisch-epischen Vorgaben folgt. Es bestehen jedoch auch Unterschiede. So gilt das Gleichnis in der

91 Vgl. Carilli (1986), 181-183. Interessant ist in diesem Zusammenhang vielleicht auch, daß sich in der Aeneis Stellen finden, an denen genau die umgekehrte Tendenz feststellbar ist, nämlich, daß Militärisches zunächst mit landwirtschaftlichen Metaphern beschrieben und im Anschluß daran durch ein Gleichnis erläutert wird, so z.B. Aen. 7,523-530 (das Heer wird als Saatfeld beschrieben und mit dem Meer verglichen), dazu Hornsby (1970), 28. 92 Horn. D. 11,297 (Wirbelwind); 11,492^97 (Sturzbach); 13,137-145 (vom Wasser losgespülter Felsen); 15,624-629 (Woge dringt in ein Schiff). Vergil selbst wiederholt nahezu dasselbe Gleichnis in der Aeneis (7,528-530), dazu Briggs (1980), 19.

Vergil

173

Ilias nicht einer Einzelperson, sondern bildet die Bewegung der Phalangen ab.' 3 Während das vergilische Gleichnis am Schluß des Abschnittes steht, eröffnet das homerische die Beschreibung der vorrückenden Schlachtreihe. So ist auch zu erklären, daß das homerische Gleichnis zunächst eine Zusammenfassung der Situation bietet (422f.) und im Anschluß daran auf die Entwicklungsphasen der Woge eingeht, während der Leser bei Vergil von vornherein die >Entwicklung< der Woge Schritt für Schritt >miterlebtirrationale< Verbindungen schafft.128 Das Adjektiv tenax beschreibt im Lehrtext die Qualität des Bienenleims, also eines Produktes der Bienenarbeit, im Gleichnistext jedoch die Eigenschaft der Zange (forceps), mit der das Produkt hergestellt wird; accipiunt ist einmal auf die Lasten bezogen, die die Bienen einander abnehmen, im Gleichnis aber auf die Luft, die von den Blasebälgen ein- und ausgesogen wird. Auch sind die Vorgänge inhaltlich bei weitem nicht so ähnlich, wie es die sprachliche Gestaltung suggeriert. Während nämlich in den Versen, die dem Gleichnis vorausgehen, einzelne Tätigkeiten der Bienen beschrieben werden, die voneinander unabhängig sind und parallel ablaufen, schildert das Gleichnis die verschiedenen Stufen bei der Entstehung des Blitzes: Aus der unbearbeiteten Rohmasse (massis [170]) entsteht zunächst Erz (aera [172]), dann Eisen (ferrum [175]). Die sprachlichen Ubereinstimmungen zwischen Bild und Sache dienen somit nicht wie bei Lucrez dazu, die Identität der verglichenen Gegenstände hervorzuheben, sondern machen lediglich deutlich, daß sie im weitesten Sinne als vom Dichter aufeinander bezogen intendiert sind. Weder aufgrund des Motivs noch aufgrund der Durchführung des Bildes von den Kyklopen bekommt der Lehrgegenstand eine größere Anschaulichkeit, zumal ja auch die differenzierte und mit konkreten Beispielen belegte Schilderung der Bienenarbeit an sich keiner Illustration mehr bedarf. In einer Antapodosis wird schließlich das eigentliche Illustrationsziel des Gleichnisses noch einmal formuliert (176-178): 176 178

non aliter, si parva licet componere magnis, Cecropias innatus apes amor urget habendi munere quamque suo. [...]

127 Vgl. Putnam (1979), 257. 128 West (1969), 40; Anderson (1984), 421: »irrational correspondence«.

182

Vergil

Das Kyklopengleichnis ist das einzige größere Gleichnis im didaktischen Kontext der Georgica, das durch eine Antapodosis geschlossen wird. Diese setzt jedoch nicht den Gleichnistext in Sachtext um, wie es die rhetorische Theorie verlangt und es in der Regel bei den lucrezischen Gleichnissen der Fall ist. Vielmehr abstrahiert Vergil die Einzelbeobachtungen in einem allgemeinen Fazit. Beiden Parteien gemeinsam sind weder die Größe noch die Art ihrer Tätigkeiten, sondern einerseits die Intensität, das emsige Streben, das für die Kyklopen aktivisch durch properant (171), für die Bienen in der Antapodosis passivisch durch urget (177) ausgedrückt wird,129 andererseits die Verteilung der Aufgaben, die Vergil in munere quamque suo (178) zusammenfaßt. Statt der Art der Tätigkeit nennt die Antapodosis also den Beweggrund für die Tätigkeit. Dennoch spielt auch die Größe der Kyklopen mittelbar für die Wirkung des Gleichnisses eine Rolle. Indem Vergil nachweist, daß hinter den Tätigkeiten der winzigen Bienen wie auch der riesigen Kyklopen dieselben Prinzipien stehen, wird der Arbeitseifer der Bienen, die ja ohnehin als fleißige Tiere par excellence gelten, stark aufgewertet, gerade aufgrund der ungleichen Größenverhältnisse. Während jedoch ungesagt bleibt, was die Kyklopen dazu veranlaßt, die Blitze zu schmieden, nennt Vergil bei den Bienen als Triebfeder ihres Schaffens ein angeborenes Streben nach Besitz (innatus amor habendi). Ihr Arbeitseifer ist also nicht nur kyklopisch, sondern auch eine feste Charaktereigenschaft. Aufgewertet wird die Bienenarbeit außerdem durch den Einwurf si parva licet componere magnis (176), mit dem Vergil das erste Mal explizit auf den Größenunterschied zwischen Bild und Sache hinweist. Diese methodische Aussage, in der theoretisch das formuliert wird, was zuvor praktisch ausgeführt worden ist, ist noch in anderer Hinsicht aufschlußreich. Vergil zitiert sich hier selbst: In der ersten Ecloge ironisiert der Hirt Tityrus im Gespräch mit Meliboeus seine Vorstellungen, die Stadt Rom sei der nahen Provinzhauptstadt ähnlich, durch einen Vergleich (ecl. l,22f.): 22 23

sie canibus catulos similis, sie matribus haedos noram: sie parvis componere magna solebam.

Aus solebam in der Ecloge wird in den Georgica licet, aus der naiven Gewohnheit eine urbane Entschuldigung, die erkennen läßt, daß der Dichter genau

129 Vgl. Serv. georg. 4,170-178: comparatio ad festinationem pertinens solam. Allerdings ist dieser Aspekt nicht der einzige (Heyne I [K 4 1830], 621): »comparatio non versatur in specie apum et Cyclopum, sed in operae industria«.

Vergil

183

weiß, wie unverhältnismäßig das von ihm ausgewählte Motiv ist: Vergil hat die Sphäre bukolischer Dichtung verlassen, das schlichte Gemüt des Hirten Tityrus abgelegt. Der Gegensatz zwischen Groß und Klein durchzieht das gesamte vierte Georgica-Buch. Bereits im Proömium erhofft Vergil sich »nicht geringen Ruhm«, obgleich der Gegenstand gering ist, den er behandelt (4,6): in tenui labor: at tenuis non gloria [...]. Die Bienen werden mehrfach mit Adjektiven wie magnus und ingens belegt. Trotz ihrer geringen Körpergröße sind sie magnanimi (4,4), ihre Kleinheit steht in Widerspruch zu ihren Bestrebungen {ingentis animos angusto inpectore versant [4,83]), ihre Kämpfe sind magno discordia motu (4,68), und der Feind wird magnis clamonbus (4,76) herausgefordert. Die Entschuldigung dafür, daß das gewählte Vergleichsmotiv etwas zu groß geraten ist, relativiert möglicherweise auch die vorausgegangenen Aussagen über die Großtaten der Bienen, ohne sie allerdings sogleich auch als >mockAusnahmezustand< beschreibt. Der Aetna bricht aus, weil die Kyklopen nicht mehr ihrer geregelten Tätigkeit nachgehen.141 Erst die Verbindung zum Kyklopengleichnis macht die kosmische Dimension des Prodigiums deutlich, eben weil der Dichter im vierten Buch so unterschiedliche Wesen wie Bienen und Kyklopen durch das Gleichnis zusammenbringt. Das Prodigium zeigt darüber hinaus, wie Vergil die Kyklopentätigkeit einschätzt: Sie wird von ihm als durchaus positiv empfunden, solange sie in geregelten Bahnen abläuft. Erst die Zerstörung der Esse ist ein Zeichen für »disorder«. Davon, daß Vergil in dem Vergleich von Bienen und Kyklopen den Konflikt zwischen »creative forces of farming and the destructive forces of war« habe ausdrücken wollen, wie Betensky schreibt, 142 kann nach dieser Interpretation keine Rede sein. Das Kyklopengleichnis kann aber nicht nur mit der Prodigienreihe im Finale des ersten Buches verbunden werden, sondern ist erst vollkommen verständlich in Zusammenhang mit der von Vergil im ersten Buch entwickelten Legitimation der Arbeit. Putnam weist darauf hin, daß die Arbeit der Bienen, wie sie von Vergil geschildert wird, deutlich von den Prinzipien des eisernen Zeitalters geprägt ist. Insbesondere ihr Besitzstreben {amor habendi) ist dem saturnischen Zeitalter vollkommen fremd.143 Auch in dem Kyklopen-Gleichnis findet Putnam Hinweise auf die ferrea aetas, denn es ist ja Eisen (ferrum [175]), welches die Kyklopen zu Blitzen verarbeiten; die Ambosse, die anderenorts in

140 Ähnlich auch der Kontrast georg. 4,184 labor omnibus unus (von den Bienen) und georg. 3,244 amor omnibus idem (von den übrigen Tieren). Die Bienen, die keine Liebe kennen, können ihre Energie vollständig in Fleiß und Organisation investieren: Otis (1963), 185. 141 Vgl. Lyne (1974), 54. 142 Betensky (1979 Ή), 27. 143 Vgl. Putnam (1979), 258.

188

Vergil

den Georgica dazu dienen, Schwerter zu schmieden (2,540), deuten auf die >Wehrhaftigkeit< der Bienen und auf die eiserne Zeit. Putnam glaubt hieraus schließen zu können, daß Vergil die Tätigkeit der Bienen aufgrund des Vergleichs mit den Kyklopen negativ beurteile: »[...] the parallelisms make a positive definititon of their creativity impossible«.144 Doch muß man wohl auch in diesem Fall die Auswahl der Kyklopen als Vergleichsgegenstand sowie die damit verbundenen expliziten Hinweise Vergils auf die eiserne Zeit anders verstehen. Das Besitzstreben {amor habendi) der Bienen hängt nämlich eng zusammen mit ihrem Streben nach Ruhm, der für die //onigproduktion in Aussicht gestellt ist (generandi gloria mellis [205]). Honig ist das >klassische< Produkt der goldenen Zeit.145 Dementsprechend ist das Ende der goldenen Zeit dadurch gekennzeichnet, daß Jupiter den Honig von den Blättern schüttelt (1,131): mellaque decussit foliis ignemque removit. Es ist gewiß kein Zufall, daß Vergil an dieser früheren Stelle Honig und das Feuer, das ja in dem Kyklopengleichnis eine wichtige Rolle spielt, in einem Vers zusammenschließt. Vergil nennt in der Aitiologie der Arbeit im ersten Buch aber auch den Grund dafür, warum Jupiter den paradiesischen Urzustand beendet: Die Not soll die Menschen dazu zwingen, selbst kreativ zu werden.144 Betrachtet man das Kyklopengleichnis mit seinen unmißverständlichen Verweisen auf die Zeit, in der der Dictaeus rex Jupiter regiert, vor diesem Hintergrund, so ergibt sich ein anderes Bild als das, welches Putnam zeichnet. Die Bienen mit ihrer Organisation, ihrer Arbeitsteilung und ihrem Fleiß praktizieren in mustergültiger Weise das, was sich Jupiter bei seinem Herrschaftsantritt erhofft hat und haben somit für den Menschen Vorbildfunktion. Nur sie können das Produkt der goldenen Zeit par excellence, den Honig, auch unter den veränderten Umständen herstellen, wie sie unter Jupiters Regiment herrschen. Sie sind dazu jedoch allein deswegen in der Lage, weil Jupiter sie selbst mit diesen Eigenschaften ausgezeichnet hat, die er sonst nur seinen ergebensten Dienern, den Kyklopen, zuteil werden läßt.

144 Putnam (1979), 257. 145 Vgl. z.B. Verg. ecl. 4,30; Hör. epod. 16,47; Ov. met. 1,112: Betensky (1979 Π), 28. 146 Vgl. dazu auch unten S. 265f.; 269f.

Vergil

189

b. Mehrfachgleichnisse und Gleichnisgruppen Die Interpretationen haben gezeigt, daß die größeren Gleichnisse im didaktischen Kontext der Georgica mitunter durchaus aufeinander bezogen werden können. Dagegen bilden Gleichnisgruppen im Sinne des Lucrez, bei denen die Gleichnisse blockartig aufeinander hin konzipiert sind,147 in den Georgica die Ausnahme. Eine >Gleichnisgruppe< im lucrezischen Sinne verwendet Vergil lediglich im vierten Buch. Sie besteht aus drei Gleichnissen, die aufgrund ihrer Struktur und Motivauswahl zusammengehören. Diese sind relativ kurz; ihr Umfang übersteigt drei Hexameter nicht. Keines der Gleichnisse wird durch eine Antapodosis geschlossen. Formal handelt es sich um Mehrfachgleichnisse; das bedeutet, daß ein Sachverhalt mit zwei oder drei verschiedenen Vergleichungen belegt wird, die unmittelbar aneinander anschließen und durch eine Konjunktion verbunden sind. Bereits ihrer äußeren Form nach wirken die Bilder der Gleichnisgruppe also höchst dynamisch und kommen ausschließlich in Abschnitten zum Einsatz, die Aktionen der Bienen beschreiben. Der erste Doppelvergleich begegnet in einem Kontext, der dem heroischen Epos besonders nahesteht. Vergil schildert den Kampf zweier Bienenvölker (4,77-81): 77 80 81

ergo ubi ver nactae sudum camposque patentis, erumpunt portis, concurritur, aethere in alto fit sonitus, magnum mixtae glomerantur in orbem praecipitesque cadunt: non densior aere grando, nec de concussa tantum pluit ilice glandis.

Dieser erste Vergleich der Gruppe ist zugleich auch der kürzeste. Dadurch, daß in nur anderthalb Hexametern zwei verschiedene Motive verarbeitet werden, wirkt er nicht retardierend, sondern setzt die Dynamik des Geschehens lediglich auf einer anderen Ebene fort. Da sich Vergleichsgegenstand und verglichener Gegenstand in ihrer Größe ungefähr entsprechen, ergibt sich zudem kein abrupter Ubergang, der den Gleichnistext vom Haupttext absetzt. Auch durch den Komparativ densior wird der Vergleich in den Satz integriert, da er nicht, wie es bei einleitendem ut der Fall wäre, in einem abgetrennten Gliedsatz, sondern als Subjekt des Satzes erscheint. Zugleich wird durch den Komparativ densior

147 Zu den verschiedenen Formen der Gleichnisgruppen bei Lucrez oben S. 110.

Vergil

190

der Vergleichsgegenstand dem verglichenen Gegenstand nicht nur gegenübergestellt, sondern sogar an ihm gemessen, wobei sich allerdings durch die Negation der Vergleichsgegenstand letztlich nicht als überlegen, sondern als gleichwertig erweist. Durch die negierte Komparation wird die Intensität des beschriebenen Vorgangs zusätzlich verstärkt. Briggs bringt ein ausführlichen Gleichnis bei Apollonius mit der vergilischen Vergleichung zusammen.148 Apollonius vergleicht dort die Harpyien in ihrem Angriff auf die durch Schilde geschützten Argonauten mit Hagelschlag, der dem Haus und seinen Bewohnern, die in gespannter Erwartung das Unwetter abwarten, nichts anhaben kann (Apoll. Rhod. 2,1083-1088): 1083 1085 1088

ως δ' όχότ« Κρονίδης τυκινην ίψίηκβ χάλαζαν €κ νίφίων άνά τ' άστυ και οικία, τοϊ δ' ύπο τοΐσιν βνναίται, κόναβον re-yew ν Direp άααίονπς, ηνται άκην, eirei ου σψί καπΧΚαβΐ χβίματος ώρη άιτροφάτως, άλλα πριν ίκαρτΰναντο μίλαύρον ώς πυκινα τττβρα τοΐσιν βφίβσαν [...].

Aus den vielfältigen Bezügen, die das apollonianische Gleichnis aufweist, nimmt Vergil, anders als in einem weiteren Hagel-Gleichnis in der Aeneis,14' allein die Dichte der Hagelkörner (τυκινην ... χάΚάζαν) auf. Der Rückgriff auf Apollonius dient der epischen Färbung des Abschnitts.150 Entscheidend ist jedoch, daß der Dichter mit Hilfe des Gleichnisses noch weitere textimmanente Assoziationen schafft. Der Hagelschlag wird in den früheren Büchern unter den Naturgewalten aufgeführt, die der Welt des Bauern großen Schaden zufügen: tarn multa in tectis crepitans salit horrida grando (georg. 1,449). Hier greift Vergil auf Einzelheiten desselben apollonianischen Gleichnisses zurück. Das Gleichnis des Apollonius wird von Vergil zerlegt und nicht nur auf verschiedene Stellen im Werk verteilt, sondern auf verschiedenen sprachlichen Ebenen, einmal im

148 Briggs (1980), 20. 149 Verg. Aen. 5,458-460:

nec mora nec requies: quam multa grandine nimbi / culminibus crepitant, sic densis ictibus heros / creber utraque manu pulsat versatque Dareta, vgl. auch Lucan 3,482-484, dazu Hunink, Lucan. ΠΙ (K 1992), 193; Ov. met. 12,480 (dazu Börner, Ov. met. ΧΠ-ΧΠ (Κ 1982), 158f. Ahnlich knapp wie in den Georgica und möglicherweise sogar in Anlehnung an diese bemerkenswerterweise Ov. met. 5,158 (vom Angriff der Harpyien auf Phineus): tela volant hiberna grandine plura. 150 Vgl. Thomas Π (Κ. 1988), 160: »conjuring up an approprimately epic atmosphere«. Ob man allerdings die Tatsache, daß Vergil hier ein Gleichnis des Apollonius aufnimmt, als »parodistisches« oder »mock-heroisches« Element werten will (so Briggs [1980], 20), hängt von der Gesamteinschätzung des vierten Buches ab und ist aus der sprachlich-stilistischen Gestaltung des Gleichnisses nicht zu erkennen.

Vergil

191

Haupt-, dann wieder im Gleichnistext genutzt.151 Berücksichtigt man die Erwähnung des Hagels an der früheren Stelle, auf die Vergil durch die Apollonius-Reminiszenz eindeutig hinweist, so zeigt sich in dem Vergleichsmotiv >Hagel< bereits die Bedrohung, die von den Bienenkämpfen ausgeht. Der Bezug zum Lehrstoff der früheren Bücher wird noch deutlicher in dem zweiten Motiv, das keine Entsprechung in der epischen Tradition hat.152 Die Eicheln werden jedoch bereits im ersten Georgicabuch im Haupttext erwähnt (1,155-159): 155

159

quod nisi et adsiduis herbam insectabere rastris et sonitu terrebis avis et ruris opaci falce premes umbras votisque vocaveris imbrem, heu magnum alterius frustra spectabis acervum concussaque famem in silvis solabere quercu.

Derjenige, der sein Land nicht einer ununterbrochenen Pflege unterzieht, wird keine Ernte einbringen und daher gezwungen sein, sich von Eicheln zu ernähren. Wenn Vergil das Motiv »Eicheln« an dieser Stelle im Gleichnis wiederaufnimmt, schlägt er einen Bogen zum ersten Buch. Das Gleichnis geht also über die offensichtliche Intensivierung des Sinneseindrucks hinaus, da Vergil durch die Auswahl der Motive den Kampf als unproduktiv verurteilt und so zugleich das Eingreifen des Menschen legitimiert, in dessen Macht es ja steht, den Kampf pulveris exigui iactu (4,87) zu beenden. Das zweite Mehrfachgleichnis erscheint erst knapp 200 Verse später. Es beschreibt den Lärm in einem von Krankheit befallenen Bienenstock (4, 260-263): 260

263

tum sonus auditur gravior, tractimque susurrant, frigidus u t quondam silvis immurmurat Auster, u t mare sollicitum stridit refluentibus undis, aestuat u t clausis rapidus fornacibus ignis.

Das komplexe Gleichnis - übrigens das einzige Dreifachgleichnis, das Vergil verwendet153 - dient dieses Mal nicht der Intensivierung eines optischen, sondern

151 Eine ähnliche >Gleichniszerlegung< des vergilischen Kyklopengleichnisses (georg. 4,170-178) findet sich Aetna 36-40 (Kritik an der Vorstellung, der Aetna sei die Blitzschmiede der Kyklopen: Haupttext) und Aetna 560-564 (Handwerkergleichnis zur Erläuterung der Vorgänge im Inneren des Aetna). 152 Irreführend der Verweis von Thomas Π (Κ 1988), 161 auf Horn. II. 6,146-149, wo der Wechsel der Generationen mit dem Wechsel der Blätter am Baum verglichen wird. 153 Vgl. Briggs (1974), 225.

192

Vergü

eines akustischen Eindrucks.154 Die Geräusche im Stock, die Vergil zunächst mit dem Verbum susurrare beschrieben hat, werden durch drei Bilder differenziert. Sie gleichen a) dem Rauschen (immurmurare) von Wind in den Wäldern b) dem Tosen (stridere) der Meeresbrandung und c) dem Fauchen (aestuare) eines Feuers in einem geschlossenen Ofen. Vergil versucht, dem Leser durch den Hinweis auf bekannte Geräusche das erste Symptom für eine Seuche im Bienenstock zu erläutern, ähnlich wie auch Nikander von Kolophon Vergiftungssymptome durch Vergleichungen veranschaulicht.155 Dennoch ist auch in diesem Gleichnis der Bezug zum heroischen Epos offenkundig. Schon Servius hat das homerische Vorbild erkannt (Horn. Ii. 14,394-401): 394 395

oxne ΰάΚάσσης κύμα τόσον ßoaqc τοτί χίρσον, icovTodev όρνύμβνον τνοιη Βopeu aXeyeivi)·

ούτε τυρός τόσσος ye τοτί βρόμος αίάομίνοιο οϋρίος'evβήσσης, ore τ' ωρβτο καιίμεν υΚην οϋτ' άι>€μος τόσσον ye trepl δρυσιν νψικόμοισιν, ητίκι, ός re μάλιστα /ίέγα βρίμ^ται

400 401

χαλίταίνων,

οσση άρα Τρώων και ' Αχαιών erXero φωνη Seivov άυσάντων, ότ' ev' άΚΚηΚοισιν ορουααν.

Durch die offensichtliche Übernahme dringt episches Kolorit in den Lehrtext ein, durch das die Bienen mit epischen Helden und der Beginn der Krankheit mit dem Beginn einer Schlacht gleichgesetzt werden.156 Krankheit und Krieg werden so auf eine Stufe gestellt. Mit der Übernahme eines Gleichnisses aus einer epischen Kampfbeschreibung weist Vergil indirekt auf das vorausgegangene Gleichnis zurück, das in einem real epischen Kontext steht. Zu den Veränderungen, die er an der Vorlage vorgenommen hat, bemerkt Servius (Serv. georg. 4,261): Tres comparationes singulis impletae versiculis de Homero translatae sunt, quas ille binis versibus posuit. Die einzelnen Motive, die in dem Uiasgleichnis in je zwei Hexametern entfaltet werden, sind bei Vergil auf je einen Hexameter verkürzt.157 Darüber hinaus unterscheidet sich das vergilische Gleichnis aber noch in weiterer Hinsicht von der homerischen Vorlage. Zum einen werden die einzelnen Geräusche bei Vergil stärker differenziert als bei Homer. Während die Ausdrücke ßoaei, βρόμος, rjiruei, und ßeya βρΐμίται vor allem auf die akustische Quantität weisen, wählt Vergil bewußt Verben, die ganz unterschiedliche

154 Vgl. Richter (K 1957), 368. 155 Siehe oben S. 68-70. 156 Vgl. Putnam (1979), 268; Ross (1987), 211. 157 Vgl. auch Rieks (1981), 1063.

Vergü

193

klangliche Qualitäten beschreiben. Signifikant ist auch die Auswahl der Geräusche. Nach der antiken Einteilung der Laute gehören stridere, aestuare und wohl auch immurmurare zu den άφωνα, also zu den Lauten, die nicht durch die Stimmen von Mensch und Tier hervorgebracht werden, sondern durch Reibung und Perkussion entstehen.15" Sie passen im Zusammenhang mit den Bienen besonders gut, da auch die Bienen den άφωνα zuzurechnen sind. Mit stridere beschreibt Vergil auch im Haupttext die Geräusche, die Bienen von sich geben.159 Die identische Wortwahl legitimiert hier die Auswahl des Vergleichsgegenstandes. Zudem entstammen die Verben stridere und immurmurare der römischen Auguralsprache, wo sie Geräusche schlechter Vorbedeutung bezeichnen.160 Bereits die Wortwahl zeigt an, wie sehr die Existenz der Bienen bedroht ist. Es geht also nicht allein um den akustischen Eindruck, sondern auch um die mit diesem Eindruck verbundene negative Konnotation, die das nachfolgende Unheil antizipiert. Mit der homerischen Vorlage stimmt die Auswahl der Elemente Feuer, Wasser und Luft überein.161 Daß Vergil genau wie Homer die Erde ausläßt, mag im Kontext des vierten Georgica-Buches einen sachlichen Grund haben. Die Bienen gehören nämlich in den Bereich der caelestia,ia so daß ein Vergleich dieser Himmelswesen mit der Erde unpassend gewesen wäre. Gegenüber der homerischen Vorlage betont Vergil stärker die Unterschiede in der Temperatur der einzelnen Elemente. Er belegt den Wind mit dem Epithetonfrigidus,wozu die Hitze im Ofen (aestuat) in deutlichem Kontrast steht. Zudem ändert er die Reihenfolge der Vergleichsmotive. Während bei Homer die Elemente in der Reihenfolge Wasser - Feuer - Wind erscheinen, folgt bei Vergil das Feuer erst als drittes Element auf Wind und Wasser. Diese Anordnung entspricht zum einen der Abfolge, in der Lucrez die Motive im sechsten Buch anordnet (6,133-155), wo - ebenfalls in homerischer Tradition163 - die verschiedenen Donnergeräusche mit sich brechenden Wogen, Wind in den Wäldern und Feuer in einem Bergtal verglichen werden. Die Form des homerischen Dreifachgleichnisses verbindet Vergil mit der lucrezischen Reihenfolge der Elemente und

158 Vgl. Hübner (1984 Π), 10. 159 Verg. georg. 4,310; 4,556; Aen. 12,590 (im Gleichnis vom Ausräuchern des Bienenstockes). 160 Zum prodigiösen stridor vgl. Hübner (1970), 25 m. Anm. 101. Das Wort murmur begegnet häufig in magischen Kontexten, vgl. Baldini Moscadi (1976), 254-262. 161 Vgl. Ross (1987), 211. 162 Vgl. Verg. georg. 4,lf.: protinus ami mellis caelestia dona / exsequar. 163 Siehe oben S. 112f.

194

Vergil

schafft so eine Synthese von heroisch-epischer und didaktischer Dichtung. Des weiteren ersetzt Vergil das Bild des Waldbrandes, mit dem sowohl Homer als auch Lucrez das Wüten des Feuers beschrieben haben, durch das Fauchen des Feuers in einem geschlossenen Ofen. Mynors vermutet, daß Vergil das Motiv deswegen ausgewählt hat, weil der geschlossene Ofen dem ebenfalls geschlossenen Bienenkorb sachlich entspricht.164 Darüber hinaus ist aber noch eine weiterführende Erklärung denkbar. Das Bild vom Feuer im Ofen soll den Leser möglicherweise an das knapp 100 Verse zurückliegende Kyklopengleichnis erinnern, denn der Ofen gehört selbstverständlich zur Ausstattung der Schmiede unter dem Aetna, auch wenn Vergil ihn an jener Stelle nicht ausdrücklich erwähnt.165 Überdies bestehen ja Beziehungen zwischen dem Kyklopengleichnis und der Vergleichsreihe im sechsten Buch von De rerum natura.166 Die Vermutung, daß Vergil das Motiv gegenüber Homer und Lucrez bewußt abgeändert hat, um auf das Kyklopengleichnis zu verweisen, erhält eine Bestätigung dadurch, daß auch die beiden ersten Motive des Gleichnisses auf die Motive der vorausgegangenen ausführlicheren Gleichnisse zurückdeuten, die zudem ebenfalls den akustischen Eindruck erwähnen, der unter der Einwirkung der Naturgewalten entsteht. Der frigidus Auster erinnert an den ebenfalls kühlen Nordwind, der die Wipfel der Bäume zum Rauschen bringt (summaeque sonorem / dant silvae [3,199f.J; das tosende Meer an das Dröhnen der sich brechenden Flutwelle (ad terras immune sonat per saxa [3,239]). Die Welt der Bienen wird so durch das Dreifachgleichnis mittelbar mit dem Stoff der früheren Bücher in Verbindung gesetzt, wie wir es ja auch schon im Kyklopengleichnis beobachten konnten.167 Die Elemente Luft, Wasser und Feuer spielen im weiteren Verlauf des vierten Buches eine Rolle. So sind an der Entstehung der Bienen aus dem Rindskadaver eben jene drei Elemente beteiligt, die Vergil in dem Dreifachgleichnis erwähnt (4,308-311): 308 310 311

interea teneris tepefactus in ossibus umor et visenda modis animalia miris, trunca pedum primo, mox et stridentia pennis, miscentur, tenuemque magis magis aera carpunt [...]

aestuat,

164 Mynors (K 1990), 291. 165 Vgl. aber georg. l,471f.: quotiens Cyclopum effervere in agros / vidimus undantem ruptis

fomacibus Aetnam.

166 Siehe oben S. 185. 167 Siehe oben S. 186-188.

Vergil

195

Auf das Dreifachgleichnis kommt Vergil auch am Ende des Aristaeus-Mythos nochmals zurück. Er beschreibt nämlich die >UrbugoniePlatzregen< ist mit dem Motiv >Hagel< aus dem früheren Gleichnis (4,77-81) eng verwandt. Da Regen und Hagel lediglich verschiedene >Aggregatzustände< desselben Stoffes sind, werden sie auch in Gleichnissen bisweilen verbunden.169 Mit dem Motiv verweist Vergil aber auch implizit auf den früheren Kontext, der den Untergang der Bienen im Gefecht zeigt. Durch die Auswahl gerade dieses Gleichnismotivs konfrontiert Vergil an einer exponierten Stelle nochmals den werkbestimmenden Gegensatz von Leben und Tod. Auf die Sphäre von Krieg und Schlachten weist das zweite Motiv des Doppelgleichnisses, das die Bienen mit parthischen Pfeilen vergleicht. Dieses Bild liegt nahe, da das Schwirren eines fliegenden Pfeils nicht selten stridere heißt.170 Ebenso wie die Parther werden auch die Bienen als leves bezeichnet.171 Dasselbe Motiv baut Vergil noch einmal im 12. Buch der Aeneis zu einem ausgeführten Gleichnis aus, um den Flug der Dira vom Olymp zur Erde zu illustrieren (Aen. 12,856-860). In jenem Gleichnis weist Vergil darauf hin, daß die Pfeile vergiftet sind; wahrscheinlich, um die handlungshemmende Wirkimg der Dira zu unterstreichen.172 Genau wie die Pfeile ist aber auch der Stachel der Bienen vergiftet. Während das erste Motiv (>RegenschauerPfeileDichterbekenntnis< des Binnenproöms im ersten Buch von De rerum natura auf;1*0 es findet sich aber kein Gleichnis, das - wie das Absinth-Gleichnis bei Lucrez - die Verwendung von Dichtkunst legitimiert. Der Grund dafür, daß Vergil auf Methodengleichnisse nach Art des Lucrez verzichtet, ist wahrscheinlich zunächst einmal ein rein formaler. Da er darauf bedacht ist, in den nicht gerade umfangreichen Georgica auch seine methodologischen Bemerkungen möglichst knapp zu halten, bleibt schlicht und einfach kein Raum für voluminöse Methodengleichnisse, wie Lucrez sie verwendet. Möglicherweise hat Vergil aber auch deshalb auf methodologische Hinweise in Form eines epischen Gleichnisses verzichtet, weil er diese Darstellungsform in einem methodologischen Kontext als unangemessen empfand. Dafür spricht auch seine Vorgehensweise an einer Stelle im zweiten Buch. Vergil vergleicht dort die vergebliche Liebesmüh, die Zahl der verschiedenen Weinsorten bestimmen sowie ihre Namen kennen zu wollen mit dem Versuch, Wellen und Sand zählen (2,103-108): 103 105 108

sed neque quam multae species nec nomina quae sint est numerus, neque enim numero comprendere refert; quem qui scire velit, Libyci velit aequoris idem dicere quam multae Zephyro turbantur harenae aut, ubi navigiis violentior incidit Eurus, nosse quot Ionii veniant ad litora fluetus.

Die Bilder, mit denen die Zahl der Weinsorten »bis ins Unermeßliche geweitet«181 wird, indem der Dichter verschiedene Himmelsrichtungen mit geographischen oder metereologischen Bezeichnungen umschreibt,182 weisen vor allem hinsichtlich ihrer Durchführung unverkennbare Gemeinsamkeiten mit einem epischen Gleichnis auf. Unübersehbar große Zahlen werden verschiedentlich mit 178 Lucr. l,400f.: Multaque praeterea tibi possum commemoranäo / argumenta fidem dictis corradere nostris; vgl. Merrill (1918), 146; Thomas I (K 1988), 98; Mynors (K. 1990), 40f. 179 Siehe oben S. 126-132. 180 Lucr. 1,921-950; zum Absinth-Gleichnis oben S. 132-137. 181 Klingner (1963), 74. 182 Süden: Libya aequor, Westen: Zephyrus-, Osten: Eurus und (von Italien aus gesehen): Ionii fluetus, zur Strukturierung des Bildes auch Thomas I (K 1988), 174.

Vergil

199

quantifizierenden Gleichnissen belegt, deren Motive denen ähneln, die Vergil hier verwendet.183 Apollonius Rhodius vergleicht das Heervolk der Kolcher mit Blättern und Wellen;1·4 auch die Italerscharen in Vergils Aeneis sind so zahlreich wie Wellen und Ähren.185 Diesen epischen Gleichnissen ähnlich ist die über das Illustrationsziel »Unzählbarkeit« hinausgehende Detailfreude, mit der Vergil die Bilder in den Georgica ausführt, indem er sie durch geographische Angaben spezifiziert oder - im Fall der Wellen sogar syntaktisch ähnlich wie in der Aeneis184 - auf ihre Ursache hinweist. Doch besteht ein wesentlicher Unterschied zu den Beispielen aus der erzählenden Epik. In den Georgica wird die Zahl der Weinsorten nicht direkt mit der Zahl der Wellen und des Sandes verglichen, sondern das bei Wein, Sand und Wellen gleichermaßen vergebliche Unterfangen, ihre Zahl arithmetisch genau bestimmen zu wollen. Die Bilder greifen also die sprichwörtliche Unzählbarkeit von Sand und Wellen auf.1'7 Sowohl die Position des Bildes am Schluß eines Kataloges als auch das Motiv »Sand« folgt einer Vorgabe Pindars, der am Schluß des Siegerkataloges in der 13. Olympischen Ode seine Unfähigkeit eingestehen muß, alle Siege des Adressaten und seiner Familie zu nennen (Pind. Ol. 13,45f.): ώς μάν σαφές / ουκ αν β'ώείην \eyav τοντιάν ψάφων άριϋμόν. Mit dem Bild bei Pindar hat die vergilische Vergleichung nicht nur das Motiv gemeinsam, sondern auch die Stellung in der Gesamtkomposition. Auch der potentiale Konjunktiv scire velit entspricht dem Optativ αν έώάην bei Pindar. Obgleich Vergil die Aussage anders als Pindar auf die dritte Person bezieht, betont er durch idem die Subjektsgleichheit in Bild— und Sachteil: Wer die Weinsorten zu zählen unternimmt, der würde auch Sandkörner und Wellen zählen. Die Struktur der Vergleichung sowie ihre Stellung im Kontext entstammt also eher der lyrischen denn der erzählend-epischen

183 Einen Uberblick - ohne interpretatorische Auswertung - gibt McCartney (I960), 79-89. 184 Apoll. Rhod. 4,214-219, nach ihm Val. Fl. 6,163-167. Das Gleichnis Horn. Π. 2,144-149, das Briggs (1980), 15 als Parallele nennt, geht nicht auf die Zahl des Heervolkes, sondern auf die Unruhe in der Versammlung. 185 Verg. Aen. 7,718-721. 186 Verg. Aen. 7,719: saevus ubi Orion hihemis conditur undis: georg. 2,107: aut, ubi navigüs violentior incidit Eurus. 187 Otto (1890), Nr. 786 (Sand); Nr. 673 (Wellen); Nr. 37 (Afrika). Der einzige, der für sich in Anspruch nimmt, die Zahl von Sand und Wellen zu kennen, ist Apollon, vgl. den Orakelspruch Her. 1,47,3. Zur Unzählbarkeit des Sandes ferner Gow, Theocr. I (K 1965), ad Theocr. 16,60: κύματα μετράν mit reichem Stellenmaterial. - Auch bei Theokrit ist das Bild von epischen Gleichnissen beeinflußt. Vergil hat die Stelle offenbar nach Catull. 7,3-6 gebildet, vgl. Richter (K 1957), 199, Thomas I (K. 1988), 174; zu dem Bild bei Catull Kroll, Catull. (K '1989), 15.

200

Vergil

Dichtung. Ihrer Funktion nach entspricht sie dem Topos der »hundert Münder«,188 mit dem Vergil - ebenfalls im zweiten Buch (2,42-44) - die Notwendigkeit gerechtfertigt hatte, aus der Fülle des Stoffes eine Auswahl zu treffen oder dem Hinweis auf Platzmangel, mit dem Vergil im vierten Buch die Aufzählung der verschiedenen Pflanzen abbricht, die der korykische Greis in seinem Garten kultiviert (4,147f.). Daß Vergil sich an unserer Stelle zwar des Bildmaterials und der Diktion, nicht aber der Form des epischen Gleichnisses bedient, hat seine Ursache einerseits darin, daß eine strenge Gliederung in Bild- und Sachteil zuviele Verse beansprucht hätte; offenbar empfindet Vergil aber tatsächlich Gleichnisse des epischen Typs zur Beschreibung von Methodischem - und sei es nur in ablehnender Form - generell für sein Lehrgedicht als unpassend. Daß Vergil von methodologischen oder poetologischen Gleichnissen, wie sie in De rerum natura zu finden sind, keinen Gebrauch macht, bedeutet jedoch nicht, daß er auf Gleichnisse als Mittel der Reflexion vollständig verzichtet. Allerdings sind in den Georgica didaktischer und reflektierender Kontext nicht so deutlich gegeneinander abgesetzt wie in Lucrezens Lehrgedicht, denn die Reflexionen ergeben sich in den Georgica zumeist zwanglos aus sachlichen Anweisungen. Das hat zur Folge, daß auch die reflektierenden Gleichnisse einen relativ engen Bezug zum Lehrstoff der Georgica haben, bieten sie doch Analysen über den Zustand der Welt, also gewissermaßen den »ideologischen Hintergrund< für die Belehrungen. Sie begegnen ausschließlich im ersten Buch, da dieses stärker als die folgenden Bücher einführenden Charakter hat und daher nicht nur praktische Vorschriften enthält, sondern darüber hinaus eine grundlegende Erklärung für die Mühsal bäuerlicher Arbeit versucht; die weiteren Bücher können auf diesen allgemeinen Vorbedingungen aufbauen. Die beiden reflektierenden Gleichnisse des ersten Georgicabuches sind vom Dichter als eng aufeinander bezogen konzipiert.18* Sie entsprechen sich nicht nur in ihrer Länge (jeweils drei Verse), sondern auch darin, daß sie beide innerhalb der Struktur des Buches eine wichtige Funktion haben.1"5 Einen großen Teil des ersten Buches nehmen die Ausführungen Vergils über die Legitimation der Arbeit durch Jupiters Ratschluß ein, der die Menschen dadurch zu besonderer Kreativität zwingt, daß er sie einer feindlichen Natur aussetzt, die bei der geringsten Nachlässigkeit die menschlichen Anstrengungen

188 Vgl. z.B. Horn. H. 2,484-493 (δίκα μίν γλώσσαι, δέκα δί οτόματ' [489]); Verg. Aen. 6,625-627; zur Genese dieses Topos ausführlich Courcelle (1955). 189 Vgl. Otis (1963), 161; Putnam (1979), 79, Knauer (1981), 893. 190 Pridik (1980), 505.

Vergil

201

zunichte macht. Die Vorschriften zur Eindämmung von Wildwuchs und Schädlingen (1,176-196) münden dementsprechend in eine allgemeine Reflexion über die Anstrengung, die es kostet, über die allgegenwärtige Tendenz zur Degeneration die Oberhand zu behalten (1,197-203): 197 200 203

vidi lecta diu et multo spectata labore degenerare tarnen, ni vis humana quotannis maxima quaeque manu legeret: sic omnia fatis in peius ruere ac retro sublapsa referri, non aliter quam qui adverso vixfluminelembum remigiis subigit, si bracchia forte remisit, atque illum in praeeeps prono rapit alveus amni.

Als »Schlußfigur«191 am Ende des ersten großen Lehrabschnitts hat Vergil das Bild des Ruderers im kleinen Boot,1'2 der sich gegen die Strömung abmüht, diesen Kampf aber bei der geringsten Unachtsamkeit verliert, stilistisch sorgfältig ausgestaltet. Das Gleichnis bleibt ohne Antapodosis, so daß das in der Parabole entwickelte Bild als Abschluß des Abschnittes noch unmittelbarer wirkt.1'3 Der spondeenreiche Beginn qui adverso vix flumine lembum /... subigit (201f.), der die Mühe des Ruderers auch klanglich malt, steht in deutlichem Kontrast zu dem letzten Vers der Parabole atqu(e) ill(um) in praeeeps prono rapit alveus amni (203), in dem das schnelle Fließen des Wassers durch Synaloephen und den daktylischen Schluß zum Ausdruck kommt. Durch den abrupten Subjektwechsel von qui... / remigiis subigit (201f.) zu rapit alveus (203) wird ebenfalls deutlich, wie sehr der Fluß die Oberhand gewinnt, zumal der Ruderer in demselben Vers nur noch als Objekt {illum) ohne die Möglichkeit zu eigener Aktivität erscheint. Das Gleichnis unterscheidet sich von den bisher besprochenen Beispielen in mehrfacher Hinsicht. Es ist nicht auf eine konkrete Lehrvorschrift, ja nicht einmal mehr auf eine konkrete Situation bezogen, sondern es setzt ein Naturgesetz in ein Bild um.1'4 Um dem Leser die Identifikation zu erleichtern, wird das Bild deswegen bereits im einleitenden Stichsatz durch Metaphern vorbereitet. Sowohl das Verbum ruere als auch die Wendung sublapsa referri bereiten den 191 Briggs (1974) und (1980), passim (dt. Fremdwort im englischen Text). 192 Vgl. Serv. georg. 1,201: lembum: naviculam admodum brevem. Grosse, R E ΧΠ,2 (1925), Sp. 1895 s.v. lembus; ThlL VE,2,2 (1974), 1136 s.v. lembus. 193 Vgl. Rieks (1981), 1053. 194 Vgl. Briggs (1974), 209 (wiederholt [1980], 28): "a state of mind, a political atmosphere"; ähnlich (allerdings ohne Verweis auf Briggs) Miles (1980), 88: "the generalizing force of the simile".

202

Vergil

Vergleich mit einem reißenden Fluß vor. Dennoch beschränkt sich Vergil nicht nur darauf, das zunächst abstrakt formulierte Weltgesetz in dem Bild auszudrükken. Dem generalisierenden omnia im Stichsatz, welches belebte und unbelebte Natur gleichermaßen umfaßt, entspricht im Bildteil der Relativsatz qui [...] lembum / remigiis subigit. Vergil beschreibt also nicht allein das Vorwärtsdrängen der Strömung, sondern vor allem das Bemühen des Ruderers, gegen die übermächtige Kraft des Wassers zu bestehen und möglicherweise sogar vorwärts zu kommen - das sprichwörtliche »Schwimmen gegen den Strom«.1'5 Durch die Parallelisierung von Weltgesetz und Fluß, die er durch die sprachliche Gestaltung der einleitenden Verse vorgibt, legt er dem Leser nahe, den Ruderer, der sich gegen die Strömung abmüht, mit der vis humana des Bauern zu identifizieren, dessen ständiger Existenzkampf gegen die feindliche Natur zuvor (197-199) beschrieben worden war. Das Bild greift allerdings nicht allein auf diese Verse zurück,1*6 sondern bildet gewissermaßen die Synthese von zwei zuvor sukzessiv erarbeiteten Sachverhalten: Der konkreten Beobachtung, daß der Bauer sich in einem ständigen Daseinskampf befindet, die durch die »Topologie der Augenzeugen- und Botensprache« (vidi [193; 197]1'7) als unmittelbar erlebt dargestellt wird, und der abstrahierenden Vermutung, daß hinter der Tendenz aller Dinge zur Degeneration wohl ein Naturgesetz stehen müsse. Das Gleichnis dient nun dazu, auch die erste, zunächst auf die konkrete Situation bezogene Feststellung als einen grundsätzlichen Mechanismus allen menschlichen Daseins aufzuweisen. Dadurch wird zugleich der Stoff der gesamten ersten Buchhälfte noch einmal auf den Punkt gebracht: Nur unermüdlicher labor garantiert das Uberleben in einer an sich feindlichen Welt.

195 Vgl. Otto (1890), Nr. 680; Kertsch (1987), 247, der hier einen Gemeinplatz der antiken Diatribenliteratur hat erkennen wollen. Allerdings ist die Gewichtung in dem Sprichwort etwas anders als bei Vergil: Es warnt davor, sich gegen den Lauf derfata oder der Natur zu stemmen, da schon der bloße Versuch zum Scheitern verurteilt wäre (vgl. ζ. Β. Ov. Pont. 3,7,7f. ergo mutetur stripti sententia nostri, / ne totiens contra, quam rapit amnis, earn·, Sen. epist. 122,19: contra illam (sc. naturam) nitentibus non alia vita est, quam contra aquam remigantibus; dementsprechend positiv wird das Rudern mit Unterstützung der Strömung eingeschätzt, vgl. Ov. Pont. 4,15,27f.: flumine saepe secundo /augetur remis cursus euntis aquae), während ja für Vergil das Rudern gegen die Strömung die einzige Möglichkeit darstellt, die Existenz zu sichern. - Mit ganz anderem Illustrationsziel findet sich das Bild des Schwimmers gegen die Strömung in der stoischen Philosophie, wo es in empedokleischer Manier die Funktion der Muskeln erklärt, vgl. Rolke (1975), 84. 196 So Rieks (1981), 1053. 197 Vgl. Börner (1974), 505; möglicherweise liegt aber auch eine Reminiszenz an Lucr. 4,577 bzw. 6,1044 vor, da Vergil hier auch inhaltlich eindeutig lucrezische Gedanken aufnimmt, vgl. Gale (1995), 43 mit Anm. 34.

Vergil

203

Das Bild ist aber noch auf einer anderen Ebene in den Kontext des ersten Buches eingepaßt. Landwirtschaft und Seefahrt werden von Vergil im ersten Buch der Georgica immer wieder parallelisiert.198 Er hebt die Gleichartigkeit der Mühen hervor, die beide mit sich bringen; ferner bedienen sich Landwirte und Seeleute ähnlicher Hilfsmittel, um den rechten Zeitpunkt für Ausfahrt und Aussaat zu erkennen; beide Kulturtechniken weisen dieselben zeithchen Begrenzungen auf. Diese Analogisierung hat den sachlichen Grund, daß alle Kulturtechniken Errungenschaften der Zeit Jupiters sind. Die Erfindung der Schiffahrt markiert das Ende der goldenen Zeit (1,136-138): 136 138

tunc alnos primum fluvii sensere cavatas; navita tum stellis numeros et nomina fecit Pleiadas, Hyadas, claramque Lycaonis Arcton.

Die Erwähnung der f/i^schiffahrt innerhalb des Weltaltermythos ist ungewöhnlich: In der Regel beginnt die Seefahrt mit der Seefahrt auf dem Meer, das erste Schiff ist die Argo. 1 " Als typisches Schiffsholz gilt gemeinhin nicht die Erle, sondern Tanne (abies) oder Pinie (pinus).^ Wenn Vergil in den Georgica die »Kähne aus Erlenholz« und das Befahren der Flüsse als erste Errungenschaft der Schiffahrt nennt, so entspricht das zum einen wahrscheinlich dem tatsächlichen Gang der Entwicklung. Zum anderen legt diese Aussage eine Verbindung mit dem Gleichnismotiv nahe - zumal Vergil auf das Gleichnis, genau wie an der früheren Stelle (l,136f.), die Darstellung der Himmelskunde folgen läßt, deren Kenntnis für Bauern und Seeleute gleichermaßen unerläßlich sei (1,204207). All diese zivilisatorischen Errungenschaften entstehen jedoch nach der Lehre Vergils daraus, daß Jupiter die Menschen dadurch zur Arbeit zwingt, daß er ihnen die Segnungen des saturnischen Zeitalters entzieht. Die Erwähnung der Flußschiffahrt innerhalb dieser >Aitiologie der Arbeit< gibt eine didaktischideologische Begründung für die Parallelisierung von Landwirtschaft und Seefahrt, vor allem aber für die Auswahl des Vergleichsgegenstandes. Sie zeigt, daß Bild und Sache denselben Ursprung haben und somit auch denselben Gesetz-

198 Georg. 1,204-207; 252-258; 302-304; 370-373; 428f. 199 So z.B. Hes. op. 164f.: Die Seefahrt zieht den Raub der Helena nach sich; Lucr.

5,1000-1005; vgl. aber auch Verg. ed. 4,31-35: pauca tarnen suberunt priscae vestigia fraudis, / quae temptare Thetim ratibus, quae cingere muris / oppida, quae iubeant telluri infindere s /alter erit tum Tiphys et altera quae vehat Argo /delectos heroas [...]. Man beachte das Nebeneinander von Seefahrt und Landwirtschaft.

200 Pinus, abies·. Catull. 64,1,7 und 10; abies·. Enn. scaen. 206 R. abiegna trabes; Verg.

georg. 2,68; pinus, τάκη·. Eur. Med. 4; Hör. carm. 1,14,11; Ov. met. 1,95.

204

Vergil

mäßigkeiten unterworfen sind. Vergil geht aber in dem Gleichnis insofern noch einen Schritt weiter, als er in dem Bild technische Errungenschaft und Mühsal vereinigt: Das Leben ist hart trotz der Hilfsmittel, die die Menschen zur Linderung ihrer Not erfunden haben.201 Diese Interpretation entspricht dem, was auch der konkrete Lehrtext (1,176-196) deutlich machen will. Die Gerätschaften, die dem Bauern zur Verfügung stehen, können Schädlinge und Mißernte zwar eindämmen, aber niemals ganz beseitigen. Das Gleichnis bietet also wiederum die Abstraktion eines zuvor am konkreten Lehrstoff entwickelten Gedankens. Das Bild von den fata als einem Fluß, gegen dessen Strömung der Ruderer anzukämpfen hat, wird jedoch nicht erst in Verbindung mit den vorausgegangenen Ausführungen verständlich, sondern erschließt auch seinerseits im Finale des ersten Buches die tiefere Bedeutung eines der Prodigien, die das Zeitalter der Bürgerkriege einleiten. Vergil sagt, daß die Flüsse in ihrem Lauf innehalten: sistunt amnes (1,479). Das ist ein Zeichen dafür, daß die gesamte Weltordnung, die im Verlauf des ersten Buches entwickelt und gerechtfertigt wird, im Finale auffällig gestört ist - die Voraussetzung für das Chaos der Bürgerkriege. Vergil nutzt also auch an dieser Stelle202 die wesensmäßige Verwandtschaft zwischen Gleichnissen und Prodigien,203 um einem weiteren Vorzeichen eine kosmische Dimension zu verleihen. Bleiben wir beim Finale des ersten Buches. Dem Gleichnis vom Ruderer gegen den Strom, mit dem der erste große Lehrabschnitt endet, entspricht ein zweites, das die Reflexion des Dichters über das Grauen der Bürgerkriege und die axis den Fugen geratene Welt beschließt (1,509-514): 509 510

514

hinc movet Euphrates, illinc Germania bellum; vicinae ruptis inter se legibus urbes arma ferunt; saevit toto Mars impius orbe, ut cum carceribus sese effudere quadrigae, addunt in spatia, et frustra retinacula tendens fertur equis auriga nee audit currus habenas.

201 Vgl. Putnam (1979), 40. 202 Ähnlich georg. 1,471-473 und 4,170-179, dazu oben S. 187. 203 Vgl. Frankel (1921), 3f. (formale Verwandtschaft von Gleichnis und Vorzeichen bei Homer), in der Tragödie z.B. Aesch. suppl. 223-229; [Aesch.] Prem. 856-859; Hübner (1970), 113-117; (1995), 116 (zur Verwandtschaft von Gleichnissen und Vogelaugurien bei Vergil). Zu Beziehungen zwischen Gleichnis und Prodigium/Oiakel bei Valerius Flaccus Gärtner (1994), 254f.

Vergil

205

Die Stellung dieses Gleichnisses ist noch exponierter als die des Bildes vom >Ruderer gegen den StromAusblick< von zwei Hexametern Länge; zur Stelle ausführlich unten S. 235-248. Gleichnisse (allerdings ebenfalls cum antapodosi) am Buchschluß bei Oppian. Hai. 1,792-797 und 4,685-693. Gegen die >offene< Form, wie Vergil sie verwendet, scheinen in der gesamten Antike Bedenken zu bestehen. 205 Vgl. Quint, inst. 8,3,78f., der diese Stelle als Beispiel für eine similitudo sine antapodosi zitiert. 206 Vgl. Rieks (1981), 1053. 207 Vgl. Verg. Aen. 5,144-147, wo Schiffe- und Wagenrennen verglichen werden; zu dieser Stelle im Verhältnis zu georg. 1,511-514 und 3,103-112 vor allem Briggs (1974), 207-211. Neptun fährt im Wagen übers Meer (Verg. Aen. 1,154-156); Schiffe sind άλος Iirirot (Horn. Od. 4,708), bei Catull (64,9) ist currus Metapher für die Argo: vgl. Hardie (1987), 165. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Lucan. 7,123-127, wo der Dichter Pompeius, der der Kampfwut seiner Soldaten nachgibt (frenosque furentibus ira/laxat [124f.J, mit einem Seemann vergleicht, der den Winden das Regiment überläßt. 208 So ζ. B. Horn. H. 23,315-318, aufgenommen am Beginn von Ovids Ars amatoria (1,2-8), wo Ovid nicht nur die (erlernbare) Kunst, Schiffe und Wagen zu lenken, mit der (ebenfalls erlernbaren) Kunst der Liebe analogisiert, sondern sich auch in eine Reihe mit dem Wagenlenker Automedon und dem Steuermann Tiphys stellt.

206

Vergü

Kontrolle geraten ist. Dementsprechend ähnlich ist ihre Durchführung: Auch in dem Gleichnis vom ohnmächtigen Wagenlenker geht der Dichter von einer historischen Situation aus, um dann im Bildteil den Stand des Menschen zu klären, der ihr unterworfen ist.209 Zwar ist die historische Situation am Ende des Buches konkreter gefaßt als an der früheren Stelle, denn verantwortlich dafür ist impius Mars (511), nicht mehr die gestaltlosen fata. Dennoch abstrahiert Vergil in dem resümierenden Satz saevit Mars impius orbe (511) die verschiedenen Ereignisse, die zuvor von ihm beschrieben worden sind: Die Verkehrung von Recht und Unrecht, die Verödung der Felder sowie das Umschmieden von Sicheln zu Schwertern fällt unter Mars' Verantwortlichkeit, der somit nur noch eine Metonymie für den Krieg an sich darstellt. Ein wesentlicher Unterschied zu dem Schlußgleichnis des früheren Abschnittes besteht allerdings insofern, als das Gleichnis vom ohnmächtigen Wagenlenker inhaltlich da ansetzt, wo das Ruderer-Gleichnis geendet hat.210 Während dort die drohende Degeneration und das drohende Chaos nur als Möglichkeit formuliert worden waren, die bei Nachlässigkeit eintreten könnte (» bracchia forte remisit [1,202]), macht das Gleichnis vom ohnmächtigen Wagenlenker das Chaos und die fehlenden Mittel, ihm Einhalt zu gebieten, zum Hauptgegenstand. Auch aus den vorausgegangenen Versen wird deutlich, daß das zweite Bild als die negative Steigerung des ersten gedacht ist. In der Beschreibung der Kriegsgreuel erwähnt Vergil auch die Verödung der Felder, deren Besitzer im Heer dienen (l,506f.): non ullus aratro / dignus bonos, squalent abductis arva colonis. Diese Bemerkung versteht der Leser erst richtig in Verbindung mit der Lehre von der stetigen Degeneration

209 Ähnlich allgemein Hör. sat. 1,1,113-116, wo das Wagenrennen den Konkurrenzkampf der Menschen untereinander illustriert. Als abwegig ist daher der Versuch des Servius zu werten, den auriga in der Parabole mit dem jungen Octavian zu identifizieren (Serv. georg.

1,512 [p. 218]: res publica quidem habet optimum imperatorem, sed tanta sunt vitia temporum praeteritorum, [...] ut ea, licet optimus, rector rtfrenare non possit), mag auch Ovid beten, Caesar ut imperii moderetur frena (Ov. Pont. 2,9,33), wenig überzeugend auch der Versuch von Dewar (1988), 563f., aufgrund einer Parallele am Ende von Aischylos' Choephoren, wo Orest selbst sich als von einem durchgehende Gespann fortgerissen sieht (Cho. 1022f.), eine Gleichsetzung von Orest - auriga - Octavian vorzunehmen und daraus eine latente Kritik Vergils an Octavians >Führungsstil< abzuleiten. Auch hat Vergil an dieser Stelle wahrscheinlich keine Aussage darüber machen wollen ob "allein Oktavian noch imstande [ist], die Zügel [...] mit Festigkeit zu führen." (Rieks [1981], 1054; ähnlich auch Lyne [1974], 65). Eine Personalisierung ist von Vergil eindeutig nicht gewollt. Explizit auf eine konkrete Person bezogen ist das Gleichnismotiv dagegen bei Silius Italicus (8,279-283), der den Konsul Varro mit einem unerfahrenen Wagenlenker vergleicht; zu diesem Gleichnis und seiner Beziehimg zu den Georgica v. Albrecht (1964), 94 Anm. 12; Spaltenstein Sil. I (K 1986), 517. 210 Zu pauschal Rieks (1981), 1053: "Die Bedeutung beider Gleichnisse ist ein und dieselbe".

Vergil

207

aller Dinge. Das, was Vergil an der früheren Stelle nur als drohende Gefahr ausgemalt hatte, die es nach Möglichkeit abzuwenden galt, ist durch den Bürgerkrieg Realität geworden. Wildwuchs greift auf den Feldern um sich, denen die ordnende Kraft der coloni fehlt. In der Parabole verweist die Metapher effudere (512) auf das frühere Gleichnis:211 Den Gespannen wohnt dieselbe Kraft inne wie dem Wasser, nur daß die Kraft des Gespanns von Anfang an nicht mehr kontrollierbar ist. Obwohl das Schlußgleichnis des ersten Georgicabuches der Reflexion über einen Zustand dient, entspricht sein Bildmotiv durchaus den Vorgaben epischer Dichtung, vielleicht, um bereits an dieser Stelle den Ubergang zu den >eposnäheren< Gleichnissen der späteren Bücher vorzubereiten. Gleichnisse aus dem Bereich des Wagenrennens finden sich in den heroischen Epen vor Vergil von Homer bis Ennius.212 Darüber hinaus ist das Bild vom Wagenlenker auch in der philosophischen Literatur verbreitet. Piaton verwendet es im Phaidros als Bild für den Verstand, dessen Aufgabe es ist, die Seelenrosse in Zaum zu halten.213 Genauso wie Vergil geht es also auch ihm, wenn auch in einem etwas anderen Bereich, um die Kontrolle, die der Wagenlenker auszuüben hat. Den von innenpolitischen Wirren erschütterten Staat scheint vor Vergil auch Cicero mit einem durchgehenden Gespann verglichen zu haben, das seinen ungeübten Wagenlenker abwirft,214 so daß der politische Bezug aufgrund der literarischen Tradition nahelag.215 Ahnlich wie Lucrez im Methodengleichnis aus dem Bereich der Jagd 211 ThlL V,2 (1932), Sp. 215 s.v. effundo; vgl. auch georg. 4,312: ut aestivis effusus nubibus imber. Noch deutlicher wird die Wassermetaphorik in Verbindung mit Wagenrennen Aen. 5,146: undantia lora (hier veranschaulicht das Wagenrennen ein Schiffsrennen). 212 Horn. Π. 22,22-24; 22,162-166; Od. 13,81-85 (aufgenommen Verg. Aen. 5,142-147; verglichen von Macr. Sat. 5,11,20 dazu Ehwald [1894], 790f.; v. Duhn [1952], 92-96; Briggs [1974], 208 und [1980], 25; Rieks [1981], 1057f., zuletzt Willcock [1988], 11); Apoll. Rhod. 3,1271-1274; Enn. ann. 79-83 Sk. Bei Lucrez (2,261-265) liefert der Augenblick des Starts und die zeitliche Diskrepanz zwischen Lospreschenwollen und tatsächlichem Lospreschen der Pferde den Beweis dafür, daß die Willenskraft die Triebfeder der Lebewesen ist. Zu der Auswahl der unterschiedlichen Zeitpunkte des Geschehens bei den einzelnen Dichtern (Ennius: der Augenblick vor dem Start; Lucrez: der Augenblick des Starts; Vergil: der Augenblick nach dem Start) Rieks (1981), 1057. Interessant ist die Verwendung des Motivs >Wagenrennen< in einem Gleichnis des römischen Lehrdichter Grattius (226-229), der den Ehrgeiz und die Zielstrebigkeit des spürenden Jagdhundes mit dem Ehrgeiz eines thessalischen Viergespannes vergleicht (Grattius 228f. quam gloria patrum / excitat et primae spes ambitiosa coronae ist im übrigen angelehnt an georg. 3,112 tantus amor laudum, tantae est victoria curae). 213 Plat. Phaedr. 246a5-b4; 253c7-254el0; vgl. Wilhelm (1982), 217. 214 Cie. rep. 2,68 [ - Non. p. 292,38]: ut auriga indoctus e curru trahitur opteritur laniatur eliditur. Der Zusammenhang der Stelle ist leider nicht überliefert. 215 Wilhelm (1982), 217 bemerkt, daß die Wagenfahrt auch am Beginn der Aeneis als politische Metapher verwendet wird: Neptun, der sein Gespann über die Wogen lenkt, wird mit einem Staatsmann verglichen, der eine aufgebrachte Volksmenge beruhigt (Aen. 1,148-156).

208

Vergil

im ersten Buch216 kombiniert Vergil ein seiner Durchführung nach episches Motiv mit der Sinngebung, die dieses durch die philosophische Prosa erhalten hat. In ähnlicher Weise werden epische und mythologisch-philosophische Tradition noch durch eine weitere Implikation des Bildes miteinander verbunden. Der Vergleich des Krieges mit einem durchgehenden Gespann verweist auf das Epos, da auch Mars im Streitwagen einherfährt,217 ein Bild, das Vergil in der Aeneis (12,324-340) zur Veranschaulichung von Turnus' Wüten entfaltet.218 Diese Tradition ist an unserer Stelle wahrscheinlich sehr viel bewußter aufgenommen, als es etwa die Interpretation von Rieks vermuten läßt. Rieks weist zwar auf die Vorstellung von »Mars auf dem Streitwagen« hin, macht jedoch zugleich darauf aufmerksam, daß an dieser Stelle nicht Mars mit dem ohnmächtigen Wagenlenker verglichen wird, sondern das Gleichnis ein Bild sei für die »Unfähigkeit des Menschen, den Kriegen Einhalt zu gebieten«.219 Dieser Aspekt tritt aber besonders deutlich erst dann hervor, wenn man die ebenfalls mögliche Konnotation Wagenlenker - Mars berücksichtigt. Dann zeigt sich nämlich, daß der Mensch eine Position einnimmt, die eigentlich nicht ihm zusteht, sondern allerhöchstem dem Kriegsgott selbst. Diese Konstellation dürfte beim gebildeten Leser eine weitere Assoziation hervorrufen. Sie erinnert an den Mythos von Phaethon,220 der in seiner Vermessenheit die Quadriga seines Vaters erbittet und aus Mangel an Kraft und Kompetenz scheitert221 und in besonders eindringlicher Form vor Augen führen soll, wohin Hybris führen kann.222 Für die Implikation

216 Siehe oben S. 126f. 217 Vgl. Horn. II. 5,355-366; Π. 15,119f.; [Hes.] scut. 191-196 (in der Ekphrasis des Herakles-Schildes). Pind. Pyth. 4,87f. heißt Mars χαλκόφματος [...] τόσις Άφρο&τας. Das Gespann des Mars ist nach Vergil allerdings ein Zweigespann, vgl. georg. 3,91 Marlis equi biiuges, was jedoch aufgrund der ideologischen Nähe von Krieg und Wagenrennen nicht so stark ins Gewicht fällt. 218 Vgl. Rieks (1981), 1054. Eine Gegenüberstellung der beiden Gleichnisse bei Anderson (1984), 427f. Anderson stellt auf S. 428 fest, "that [in Aen. 12,324-340] Vergil has made absolutely no allusion to Georg. Γ, um - meiner Ansicht nach wenig überzeugend - aus der Tatsache, daß in den Georgica von einem unkontrollierbaren Gespann, in der Aeneis aber von einem "destructive charioteer" die Rede sei, eine pessimistischere Ausrichtung der Aeneis abzuleiten. 219 Rieks (1981), 1054; ähnlich spekulativ Anderson (1984), 428:"[Vergil] is appealing to his ruler to mount the chariot and bring it under control as a strong, intelligent charioteer". 220 Vgl. Lyne (1987), 140 m. Anm. 63. 221 Die Geschichte von Phaethons Sturz ist seit Hesiod bekannt (Pease Cie. nat. deor. Π [Κ 1958], 1171 zu 3,76), vgl. vor allem die ausführliche Beschreibung Ov. met. 2,150-324 (Einordnung und weiterführende Literatur bei Börner Ov. met. I [Κ 1969], 220-223). 222 So etwa Hör. carm. 4,11,25-28; dazu Hillgruber (1995), 494.

VergÜ

209

aunga - Phaethon spricht, daß Vergil das Finale des ersten Buches mit der Sonne als Künderin von Bürgerkriegen einleitet (Ι^ββ^δδ). 223 Da zudem die Phaethon-Episode in der Philosophie vielfach allegorisch gedeutet wurde,224 ist wahrscheinlich, daß Vergil auf sie mit dem Bild vom ohnmächtigen Wagenlenker hat anspielen wollen, ist doch der Bürgerkrieg im Grunde genommen nichts anderes als ein vollkommen aus dem Gleichgewicht geratener Zustand der Welt, der durch ein Fehlverhalten der Menschen ausgelöst wird und somit ähnlich katastrophal enden wird wie Phaethons Versuch, das Gespann seines Vaters zu lenken. Das Schlußgleichnis des ersten Buches ist jedoch nicht nur im Beziehungsgeflecht der literarischen bzw. mythologischen Tradition zu interpretieren, sondern weist auch, wie bereits das erste >reflektierende< Gleichnis, Verbindungen zum Haupttext auf. Hier sind vor allem Beziehungen zum dritten Buch herzustellen, das sich ja in seinem ersten Teil intensiv mit der Pferdezucht beschäftigt: »Die volle Bedeutung des Gleichnisses erschließt sich erst im Licht des dritten Georgicabuches« stellt Glei fest.225 Das Wagenrennen und seine Begleitumstände werden im dritten Buch mehrfach thematisiert. Vergil betont hier die Gleichartigkeit der Ausbildung von Kriegs- und Rennpferd und stellt beide als gleichwertig nebeneinander. Zwischen Krieg und Wagenrennen besteht also ein »didaktischen Zusammenhang. Aber auch die Ursache für das Durchgehen der Pferde läßt sich dem Lehrtext des dritten Buches entnehmen. In dem Abschnitt, der der Liebe der Tiere gewidmet ist, erwähnt Vergil unter anderem, daß liebestolle Pferde von einem solchen furor ergriffen sind, daß sie von Zügeln nichts mehr wissen wollen (georg. 3,252) oder gar ihren Wagenlenker verschlingen, wie im Falle des unglücklichen Glaucus, dessen tragisches Ende Vergil im dritten Buch erwähnt (georg. 3,267f.) - eine Steigerung gegenüber dem Schlußgleichnis des ersten Buches.226 Das Gespann im Schlußgleichnis des ersten Bu-

223 Lyne (1987), 140 Anm. 63. Wenig überzeugend ist allerdings m. E. Lynes Versuch, aufgrund der Gleichung Sol - Caesar - Phaethon, Sohn des Sol - Octavian, Sohn des Caesar aus dem Gleichnis eine latente Kritik an Octavian, "as yet ineffective in managing the state" als eine "further voice" im Werk des Vergil herauszulesen. - Den Sonnenwagen erwähnt Vergil ausdrücklich georg. 3,357-359. 224 Plat. Tim. 22c2-d2; Lucr. 5,392-415; Manil. 4,834-837, vgl. dazu Hillgruber (1995), 483-491, speziell zum Phaethon-Mythos bei Lucrez Gale (1994), 26-38, bes. 33f. (in Auseinandersetzung mit Ackermann [1979], 94-98.) 225 Glei (1991), 292; zu den folgenden Ausführungen vgl. Glei (1991), 292-295. 226 Vgl. Wilhelm (1982), 227, unabhängig von ihm nochmals Ross (1987), 167. Eine resignative, pessimistische Stimmung, die Ross (seiner Grundthese von der negativen Ausrichtung der Georgica entsprechend) hieraus ableitet, da "the trainer, who must dominate

210

Vergil

ches ist also wahrscheinlich deshalb nicht kontrollierbar, weil die Pferde von furor getrieben werden, der sie ihre Ausbildung vergessen läßt. Überträgt man diesen Gedanken auf den zu illustrierenden Gegenstand, so ergibt sich auch die Ursache für den Bürgerkrieg. Werte und Konventionen werden durch einen animalischen furor außer Kraft gesetzt.227 Das Gleichnis bekommt also durch die Querverweise auch eine didaktische Funktion, da es eine Analyse der Faktoren liefert, die den Bürgerkrieg bedingen. Schließlich klingt in dem Motiv des Wagenrennens noch ein weiterer Aspekt an, der zwar mit der Verwandtschaft von Krieg und Wagenrennen in keinerlei Beziehung steht, an dieser Stelle aber wohl doch mitschwingt. Das zweite Buch der Georgica endet mit einer bildhaften Aussage des Dichters (2,541f.): 541

sed nos immensum spatiis confecimus aequor,

542

et i a m t e m p u s e q u u m fumantia solvere colla.

Das Bild bildet einen Kontrapost zum Schluß des ersten Buches. Während dort allerdings das Wagenrennen außer Kontrolle gerät, erwähnt Vergil hier das Abschirren der Pferde nach erfolgreich durchmessener Strecke.228 Dieses Bild nun steht in einem ganz und gar anderen Zusammenhang als das Gleichnis, welches das erste Buch beschließt. Vergil bezieht nämlich die Aussage auf seine eigene Dichtertätigkeit, er selbst (nos [541]), nicht ein nicht näher bestimmter auriga, steht auf dem Gespann. Die riesige Strecke (immensum spatii aequor [541]) ist ein Bild für die Fülle des im zweiten Buch behandelten Stoffes. Da Wagenfahrt und Wagenrennen als Metaphern für Dichten und Dichtung in der griechischen Literatur verbreitet sind229 und in den Georgica noch anderenorts begegnen,230 läßt sich auch das Bild vom Wagenrennen im ersten Buch trotz des

through violence and subiugation, is ultimately destroyed in the figure of Glaucus", ist so aber wohl nicht intendiert. 227 Glei (1991), 250. 228 Kaum wahrscheinlich ist, daß Vergil hier an "pflügende Pferde" gedacht hat, wie Wimmel (I960), 195 schreibt, da das Pflügen mit Pferden an keiner anderen Stelle in den Georgica erwähnt wird und in der Antike wohl auch nicht üblich war. 229 Simonid. frg. 79 Diehl [ - A P 6,213]; Pann. fig. Β 1,1-5 D.-K.; Pind. Olymp. 9,80f.; Isthm. 2,lf. Vgl. auch Dornseiff (1921), 58; allgemein zu Dichtung - Wagenfahrt Wimmel (1960), 105f. (Wagenfahrt im apologetischen Zusammenhang) und 107f. (Wagenfahrt vor Kallimachos); Suerbaum (1968), 121 Anm. 396; Buchheit (1972), 155f., zuletzt Asper (1997), 21-26.

230 Verg. georg. 3,8 temptanda via est, qua me quoque possim / tollere humo [...], dazu

Lundström (1976), 178-181; georg. 3,18: centum ... currus, georg. 3,285 circumvectamur.

Vergil

211

gänzlich anderen Kontextes als poetologische Aussage deuten, wenn man es mit dem Schluß des zweiten Buches zusammennimmt: Wie dem Wagenlenker sein Gespann, so ist auch Vergil der Stoff außer Kontrolle geraten in Richtung auf die hohe Gattung des Epos. Die Verbindimg von politischen und poetologischen Konnotationen im Schlußgleichnis macht dem Leser auch auf sprachlicher Ebene bewußt, wie sehr sich der Dichter selbst von den Ereignissen betroffen fühlt, die er darstellt. Ihre Sogwirkung ist so stark, daß sie sogar Auswirkungen auf den Prozeß seines Dichtens haben.

3. Ergebnisse Fassen wir auch für Vergil die Ergebnisse der Einzelinterpretationen kurz zusammen. Insgesamt kann man sagen, daß die Gleichnisse der Georgica der heroisch-epischen Tradition näherstehen als die lucrezischen Gleichnisse. Diese Verwandtschaft zeigt sich an mehreren Punkten: (1) Vergil nimmt in den Georgica mehrfach Gleichnisse auf, die auf ein episches, bisweilen sogar homerisches Vorbild zurückgehen (3,235-241: FlutwellenGleichnis; 4,260-263: Dreifachgleichnis: Wind/Wasser/Feuer) oder er verarbeitet in den Gleichnissen Themen des heroischen Epos (2,274-287: >HeeresformationKyklopenepische< Prägung des Gleichnisses ergibt sich auch dort, wo der Kontext dem Erzähltext epischer Dichtung angenähert wird: Epische Stoffe, wie etwa die Bienenkämpfe im vierten Buch (4,67-81) werden mit Gleichnissen ausgestattet; zudem anthropomorphisiert Vergil die Lebewesen, denen die Gleichnisse gelten, so daß ihr Verhalten dem von epischen Helden entspricht (3,224-235: Der im Kampf unterlegene und exilierte Stier sinnt auf Rache). (3) Schließlich läßt auch die sprachliche Gestaltung der Gleichnisse epische Einflüsse erkennen, etwa in ihrer Ausstattung mit typisch epischen Epitheta wie magnus und ingens. Auch die Struktur der Parabole aller größeren Gleichnisse (Vergleichspartikel; cum-Satz; sich verselbständigende Parenthese) entspricht dem regulären Bauschema heroisch-epischer Gleichnisse. Trotz der starken Verpflichtung gegenüber dem heroischen Epos dringen aber auch verschiedene außerepische Elemente in die Georgica-Gleichnisse ein: (1) Ebenso wie der Haupttext enthalten die Gleichnisse zahlreiche Reminiszenzen an Lucrez. Diese Reminiszenzen betreffen allerdings nie die Durchführung des gesamten Gleichnisses, sondern vor allem Einzelaspekte: einzelne

212

Vergü

Wendungen (aere renidenti im Heeresgleichnis 2,282) oder die Abfolge von Gedanken (die Anordnung der Elemente in dem Aquilo-Gleichnis 3,193-201 oder in dem Dreifachgleichnis 4,260-263, in dem Homer ja über die Zwischenstufe Lucrez rezipiert wird), so daß lucrezischer Einfluß zwar erkennbar ist, jedoch nicht die Funktion der Gleichnisse bestimmt. (2) Deutlicher schert Vergil aus der epischen Tradition aus, wo er Haupt- und Gleichnistext gegenüber dem Epos vertauscht (4,158-178: Vergleich von Bienen und Kyklopen) oder zwei epische Gleichnismotive zueinander in ein vergleichendes Verhältnis setzt (3,224-241: Stier und Flutwelle). Auch diese Umkehrungen werden allerdings durch die starke Anthropomorphisierung der Tierwelt abgemildert. (3) Die stärkste Abkehr vom heroischen Epos ist jedoch dort festzustellen, wo Vergil Gleichnisse in Kontexten verwendet, die ihrer Struktur nach unepisch sind. So entspricht der Anschluß eines Gleichnisses an eine Lehrvorschrift, die durch einen Imperativ oder einen iussiven Konjunktiv gekennzeichnet ist, eher didaktischen denn epischen Bedürfnissen (das Heeresgleichnis 2,274-287 wird an eine konkrete Lehrvorschrift angeschlossen; beim Aquilogleichnis 3,193-201 liegt eine Zwischenform vor, die didaktische mit erzählenden Elementen kombiniert). Auch die beiden Gleichnisse im ersten Buch, die der Reflexion über allgemeine Zustände dienen, sind eher ein philosophisch-diatribenhaftes denn ein episches Element. Betrachten wir nun die Gleichnisse in ihrer Stellung innerhalb der Georgica. Bereits die Makrostruktur des Gedichts erweist sie als Brennpunkte der Darstellung. Hier ist zunächst die eingangs231 erwähnte >Entwicklung< der Gleichnisse in den Georgica von eher >unepischen< zu >epischen< Bildern zu nennen. Zum anderen haben die Georgica-Gleichnisse meist eine exponierte Stellung in der Buchmitte (2,274-283: Heeresgleichnis), am Ende eines Abschnittes (3,235-241: Flutwellen-Gleichnis), oder gar des gesamten Buches (1,509-514: Wagenrennen-Gleichnis) und sind dadurch aufeinander bezogen. Ahnlich wie Lucrez setzt also auch Vergil Gleichnisse als kompositorische Mittel ein.232 Während jedoch die kompositorische Funktion lucrezischer Gleichnisse zumeist auf einen bestimmten Lehrabschnitt beschränkt bleibt, dienen die Gleichnisse Vergil sogar dazu, die Bücher als Ganze zu strukturieren (ζ. B. die reflektierenden Gleichnisse im ersten Buch).

231 Siehe oben S. 150f. 232 Vgl. Briggs (1974), 12; wiederholt (1980), 12.

Vergil

213

Doch auch auf sprachlicher und inhaltlicher Ebene sind die Gleichnisse in die Struktur der Georgica eingebunden. Obschon ihre Motive in der Regel aus einem ganz anderen Bereich stammen als der verglichene Gegenstand und dadurch gewissermaßen ein >Fenster< in eine andere Realität öffnen, bemüht sich der Dichter um Verknüpfungen, die die Auswahl eines bestimmten Vergleichsgegenstandes legitimieren. Dies gilt zunächst für den engeren Kontext, in dem ein Gleichnis steht: (1) Die Motive sind in der Regel so ausgewählt, daß sie auf ideeller Ebene Verbindungen zum verglichenen Gegenstand aufweisen. An die Stelle einer atomistischen Kongruenz, die bei Lucrez die Auswahl der Vergleichsgegenstände bestimmt, treten bei Vergil mythologische, theologische oder ideologische Gemeinsamkeiten zwischen Bild und Sache (2,279-283: Verwandtschaft von Mars und Bacchus; 3,193-201: Boreas'/Aquilos Verhältnis mit den Stuten des Erichthonios; 4,170-178: Bienen und Kyklopen als >Helfer< des Zeus). (2) Ähnlich wie Lucrez bereitet Vergil seine Gleichnisse zum Teil bereits im Haupttext durch Metaphern vor, die im Bildteil dann als Vergleiche weiter ausgeführt und dadurch reaktiviert werden (1,197-203: Ruderer-Gleichnis). Darüber hinaus verbindet er Bild und Sache dadurch, daß er in Bild- und Sachteil gleiche oder synonyme Worte verwendet (3,220-241: ater im Haupttext wird durch niger im Gleichnistext wiederaufgenommen) oder Bild und Sache durch syntaktische Parallelismen als deckungsgleich erweist (4,158-178: aliae - pars aliae - aliae und alii - alii - illi im Kyklopengleichnis). Diese semantischen und

syntaktischen Kongruenzen betonen die Identität zwischen Vergleichsgegenstand und verglichenem Gegenstand. Stärker als Lucrez nutzt Vergil jedoch die Möglichkeit, durch Ubereinstimmungen in der Wortwahl auch irrationale Verbindungen zu schaffen (4,158-178 zwischen Kyklopengleichnis und Haupttext) oder Hinweise auf das weitere Verständnis des Gleichnisses zu geben, etwa dadurch, daß er Seiten- und Nebenzüge hervorhebt, die im Text nicht ausdrücklich erwähnt werden (den Revanche-Kampf im Flutwellen-Gleichnis 3,235-241), so daß das Gleichnis den Haupttext ergänzt. Die Gleichnisse sind für Vergil aber ebenso wie für Lucrez auch ein Mittel, über den engeren Kontext hinauszugreifen. »Nothing is said or done or described at any point in the Aeneid without having connections throughout the poem«.233 Diese programmatische Aussage, die Hornsby seinen Untersuchungen

233 Hornsby (1970), 3.

214

Vergü

über die Aeneis-Gleichnisse voranstellt, gilt auch für die Gleichnisse der Georgica in mehrfacher Hinsicht: (1) Die Gleichnisgruppe im vierten Buch verknüpft verschiedene Aspekte desselben Lehrgegenstandes: Kampf, Krankheit/Tod und Neuentstehung der Bienen. (2) Auch bei den Einzelgleichnissen kann man häufig feststellen, daß sie Lehrstoff voraussetzen, den Vergil bereits vermittelt hat oder noch vermitteln wird (1,509-514: das durchgehende Gespann deutet auf den furor amatonus, den Vergil im dritten Buch beschreibt). Ebenso nutzt Vergil die Möglichkeit, durch das Gleichnis später ausgeführte Gedanken und Bewertungen zu antizipieren (im Heeresgleichnis 2,274-287 die vituperatio vitis). Gleichnisse können jedoch auch dazu dienen, zuvor formulierte Aussagen erst in ihrer ganzen Tiefe verständlich zu machen, wie etwa zwei der Prodigien im Finale des ersten Buches (Ausbruch des Aetna und Innehalten der Flüsse). Solche Verknüpfungen erreicht Vergil zum Teil durch wörtliche Anklänge an der früheren bzw. späteren Stelle, aber auch durch die Aufspaltung einer Vorlage in Haupt- und Gleichnistext (im Hagel-Gleichnis 4,80f., das ein Vorbild bei Apollonius aufnimmt). (3) Das Hauptmotiv der größeren Gleichnisse wird bisweilen mit Hilfe von Metaphern oder gar Vergleichen aus anderen Bereichen entfaltet (3,235-241: Die Flutwelle wird als Schlange darstellt, ihre Größe mit einen Berg verglichen, ihr Zerstörungspotential mit einem Vulkanausbruch). Durch metrische Identitäten oder Anspielungen auf die literarische Tradition weist der Dichter auf andere, innerhalb des Gedichtes schon behandelte Bereiche zurück (4,170-178: Kyklopenarbeit und Stierkampf). Die größeren Gleichnisse der Georgica enthalten somit oftmals mehrere Gegenstände und bekommen dadurch eine größere Tiefe und Vielschichtigkeit. Abschließend ist nach der Funktion der Georgica-Gleichnisse zu fragen. Da sie im didaktischen Kontext von einer konkreten Lehrvorschrift oder von der Beschreibung eines konkreten Sachverhaltes ausgehen, sind sie im Unterschied zu den lucrezischen Gleichnissen, die oftmals argumentative, beweisende oder widerlegende Funktion haben, eher deskriptiv. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den lucrezischen und vergilischen Vergleichungen besteht des weiteren darin, daß sie bei Vergil an keiner Stelle sachlich notwendige Erläuterungen des konkreten Lehrstoffes bieten. In der Regel bleiben sie ohne Antapodosis, so daß eine explizite Übertragung der Bild- auf die Sachebene fehlt (z.B. beim Heeresgleichnis 2,274-287). Die Interpretation des Bildes wird dadurch in das Ermessen des Lesers gestellt. Das einzige Gleichnis, das durch eine Antapodosis abge-

Vergil

215

schlossen wird, ist das Kyklopengleichnis (4,158-178); die Antapodosis enthält dort jedoch keine minutiöse Übertragung auf den konkreten Sachverhalt mit Hilfe von semantisch-syntaktischen Übereinstimmungen, wie es die Rhetorik fordert, sondern eine Art abstrahierendes Fazit, das die Kernausssage der vorausgegangenen Beschreibungen (Arbeitseifer der Bienen) formuliert. Hier wird die Funktion des Gleichnisses im engeren Kontext einmal explizit genannt: Es soll ein abstraktes Prinzip hervorheben. Andere Gleichnisse beschreiben Sinneseindrücke (3,193-201: die Metamorphose des rennenden Pferdes vom Tier zum amorphen Wind), intensivieren sie (4,80f.: das Niederprasseln der Bienen im Kampf) oder bringen gar - wiederum typisch episch - die Stimmung eines Abschnittes zum Ausdruck. Vor allem aber eröffnen die Gleichnisse hinter dem eigentlichen Lehrstoff eine weitere Dimension, da sie unterschiedliche Aspekte der Weltordnung zusammenstellen. Effe sieht darin eine »Verfremdung« und »Transparenz« des Lehrgegenstandes.234 Die mythologischen, theologischen und ideologischen Gemeinsamkeiten, die Vergleichsgegenstand und verglichenen Gegenstand miteinander verbinden, sowie die zahlreichen Reminiszenzen an anderen Lehrgebiete legen jedoch eine andere Interpretation nahe. Im vierten Buch referiert Vergil im Zusammenhang mit der Lehre, daß die Bienen Anteil an der göttlichen Seele hätten, die Lehre vom stoischen Pantheismus,235 die besagt, daß der gesamte Kosmos vom göttlichen Geist durchdrungen sei (4, 221-227): 221

225 227

[...] deum namque ire per omnis terrasque tractusque maris caelumque profundum; hinc pecudes, armenta, viros, genus omne ferarum, quemque sibi tenuis nascentem arcessere vitas: scilicet hue reddi deinde ac resoluta referri omnia, nec morti esse locum, sed viva volare sideris in numerum atque alto succedere caelo.

Die Bemerkung, daß alle Dinge am Göttlichen partizipierten, da ja letztlich alles auf den Allgott zurückgeht, macht es möglich, alle Gegenstände miteinander zu vergleichen und in Beziehung zu setzen. Sie sind einander ja nicht wirklich fremd, sondern lediglich verschiedene Bestandteile einer höheren Ordnung. In den Gleichnissen mit ihrem vielfältigen Beziehungsgeflecht manifestiert sich also auf literarischer Ebene die von Vergil in den Georgica vertretene Weltsicht.

234 Vgl. Effe (1977), 92. 235 Vgl. v. Albrecht I (Ί994), 550.

VI.

Manilius

Das wohl noch unter Augustus begonnene, aber erst in tiberianischer Zeit vollendete1 astronomisch-astrologische Lehrgedicht eines sonst unbekannten M. Manilius2 ist nach Lucrezens De rerum natura und den Georgica Vergils das dritte große didaktische Epos, dessen Verfasser eine umfassende Darstellung und Deutung der Weltordnung unternimmt.3 Mit insgesamt 4258 Hexametern sind die Astronomica beinahe doppelt so lang wie die Georgica und mit fünf Büchern nur um ein Buch kürzer ab Lucrezens De rerum natura. Der Anteil der Gleichnisse am Gesamttext ist demgegenüber deutlich geringer als in den beiden früheren Lehrgedichten: Die Astronomica enthalten nur 12 ausgeführte Gleichnisse,4 so daß durchschnittlich auf 354 Verse ein Gleichnis kommt. Der Eindruck, daß Gleichnisse in den Astronomica eine Ausnahmeerscheinung sind, wird noch dadurch verstärkt, daß Manilius die wenigen Gleichnisse in seinem Lehrgedicht nie einzeln verwendet, sondern sie an bestimmten Stellen zu Blöcken von zwei bis vier Gleichnissen zusammenfaßt, die ohne Zwischentext aufeinander folgen. In der heroischen Epik werden solche Gleichnisblöcke nur ausnahmsweise und in besonders dramatischen Situationen verwendet,3 in der

1 Die Frage nach der Entstehungszeit der Astronomica gehört zu den in der Manilius-Forschung am häufigsten behandelten Problemen, vgl. die Literaturübersichten bei Schanz-Hosius Π (41935), 443; Lühr (1969), 9 Anm. 2; ergänzende Angaben bei Hübner (1984), 132 Anm 22 u. 23. Die Datierung in augustisch-tiberianische Zeit, von der die vorliegende Untersuchung ausgeht, gilt heute als sicher, vgj. Hübner (1984), 132; zuletzt v. Albrecht Π (Ί994), 769. Zur Genese des Werkes überzeugend Hübner (1984), 247f. 2 Zum Namen des Verfassers vgl. v. Wageningen, RE XIV,1 (1928), 1115f. s.v. Manilius; Schanz-Hosius Π (41935), 442. 3 Vgl. Lühr (1969), 5-8, bes. 6: »im Rahmen eines Themas, das Möglichkeiten birgt, die über die Darstellung einer SpezialWissenschaft hinausführen, soll eine verbindliche, allgemeingültige Kosmosdeutung gegeben werden«; Hübner (1984), 228: »universales Gedicht«, erklärt 228-268, zuletzt (1997), 438: »weltumfassendes Universalgedicht«; v. Albrecht f1994), 771: »kosmische Dichtung, die vom Weltenherrscher inspiriert ist«.- Zum Begriff des Weltgedichts allgemein Zinn (1956), der allerdings die Astronomica nicht behandelt. Zu kurz greift insbesondere für Manilius' Lehrgedicht die Typologisierung von Effe (1977), 106-126, der die Astronomica unter die >sachbezogenen< Lehrgedichte einordnet. Kritik bei Kenney (1979 D), 73 und Hübner (1984), 242. 4 Vgl. die Zusammenstellung am Schluß der Arbeit. Eine Auflistung der wichtigsten Gleichnisblöcke bei Steele (1932), 342. Nichts zu den Gleichnissen des Manilius bietet Cramer (1882). 5 So z.B. Horn. Π. 2,144-148 (Meer. Saatfeld); 2,455-464 (Feuer. Vogelschwärme); 2,469-483 (Mücken. Ziegenherde. Rind); 11,548-565 (Löwe. Esel); 15,262-278 (Pferd. Hunde auf

Manilius

217

Lehrdichtung vor Manilius kommen sie überhaupt nicht vor. Manilius führt also einen Gleichnistypus, der im heroischen Epos eine Ausnahmeerscheinung darstellt, in sein didaktisches Epos als einzige Form ein. Hinzu kommt, daß der Dichter nie mehr als einen einzigen Gleichnisblock pro Buch verwendet; das dritte Buch, also das >mittlereKonzentration< von mehreren Gleichnissen in einem bestimmten Abschnitt dient dazu, den Gegenstand hervorzuheben, auf den sie bezogen sind. In weitaus stärkerem Maße als die früheren Lehrdichter macht Manilius die Gleichnisse also bereits aufgrund der Gesamtkomposition der Astronomica zu Brennpunkten der Darstellung. Aufschlußreich für den Stellenwert der Gleichnisse in den Astronomica ist des weiteren die Frage, in welchen Kontexten Manilius dieses sprachliche Mittel verwendet. Die Astronomica enthalten sehr viel weniger erzählende Partien als die Georgica; auch läßt der Lehrstoff eine Präsentation der Gegenstände mit den Mitteln des heroischen Epos nur sehr begrenzt zu. Zwar gibt es in den Astronomica auch mythologischen Einlagen. Sie sind eine Konzession des Dichters an die >traditionelle< Poesie, die er sonst strikt ablehnt.7 Gerade in diesen der Jagd), an den letzten beiden Stellen gilt jedoch je ein Gleichnis einer Kriegspartei; [Hes.] scut. 426-442 (Löwe. Felsblock); Apoll. Rhod. 2,123-136 (Wölfe. Bienen); 2,1073-1079 (Bedachung eines Hauses. Schlachtlärm). Vergil meidet nicht nur in den Georgica, sondern auch in der Aeneis unmittelbar aufeinanderfolgende Gleichnisse. 6 Die Buchzahl der Astronomica ist in der Forschung umstritten. Für ein 6. Buch z.B. Costanza (1987), 223-263 (mit Überblick über frühere Literatur); gar für acht Bücher Housman I (Ed 21937), LXIX; Thielscher (1958), 372, der im übrigen - wenig überzeugend - als Verfasser des Werkes einen gewissen Navigius Fronto und als Werktitel »Apotelesmatica« annimmt Für den Umfang von fünf Büchern - m.E. plausibel - Hübner (1984), 262f. 7 Vgl. Effe (1977), 123-125 (besonders 124f.). Allerdings sind »mythische Stoffe in der Naturdeutung ein Charakteristikum gerade stoischen Philosophierens und Dichtens«; auch bei Manilius »sind Mythos und ratio keine Gegensätze«, vgl. Lühr (1969), 110, ähnlich Hübner (1984), 237: die Verwendung von Mythen sei »Resultat mythischer Denkweise«, die für astrologisches Denken typisch sei. Speziell zur längsten mythologischen Einlage in den Astro-

218

Manilius

im weitesten Sinne erzählenden Abschnitten verzichtet Manilius jedoch auf Gleichnisse. Das mag zunächst einmal daran liegen, daß die Hinweise auf mythische Begebenheiten in den Astronomica zumeist so kurz sind, daß für Gleichnisse kein Raum bleibt.' Aber auch in dem ausführlichsten mythologischen Exkurs, der Andromeda-Episode (Manil. 5,538-618), fehlen Gleichnisse vollständig, was um so erstaunlicher ist, als Ovid, auf dessen Andromeda-Erzählung in den Metamorphosen Manilius immer wieder rekurriert,9 die Dramatik seiner Erzählung durch mehrere Gleichnisse steigert.10 Dieser Verzicht auf Gleichnisse hat seine Ursache wohl kaum nur darin, daß Manilius sich von der ovidischen Vorlage absetzen will.11 Vielmehr folgt Manilius der Vorgabe des Lucrez, der ebenfalls in den epischen bzw. mythologischen Partien von De rerum natura generell keinerlei Gleichnisse verwendet.12 Vor allem aber empfindet er die mythologischen Einlagen offenbar nicht als so zentral, daß er sie mit dem seiner Auffassung nach gewichtigen sprachlichen Mittel Gleichnis ausstatten will. Die Gleichnisse der Astronomica erscheinen dementsprechend in Abschnitten, die Manilius als für sein Lehrgedicht entscheidend einschätzt: 1. in didaktischen Kontexten im Anschluß an konkrete Lehrgegenstände, und 2. in methodologischen Kontexten zur Erklärung und Rechtfertigung des eigenen Dichtens und der eigenen Weltsicht.

1. Gleichnisse im didaktischen Kontext Die Exzeptionalität von Gleichnissen, die sich für die gesamten Astronomica beobachten läßt, sticht besonders in den lehrhaften Partien hervor. Obgleich die Darstellung astronomisch-astrologischer Sachverhalte naturgemäß den größten Teil der Astronomica-Verse beansprucht, enthalten die didaktischen Teile nur zwei Gleichnisblöcke. Der Anteil der Gleichnisverse am didaktischen nomica, der Andromeda-Episode Voss (1972), 420-422. Auch hier ist die Bewertung der Andromeda-Episode als Element »eines gewissen artistischen Spiels« (Effe 125) oder als »Extravaganz« (Voss 422) viel zu hart, vgl. Hübner (1984), 196-199. 8 So z.B. Manil. 1,420-432 (Gigantomachie); 2,489-491 (Europa); 2,874-880 (Bestrafung des Typhoeus); 4,745-748 (Phrixos und Helle); 5,175-182 (Meleager, Atalante); 5,326-328 (Orpheus); 5,340-343 (Giganten). 9 Ov. met. 4,663-752; ausführlicher Vergleich der beiden Stücke bei Paschoud (1982), 126-149. 10 Ov. met. 4,706-708; 709f.; 714-720. 11 Vgl. Paschoud (1982), 131; wiederholt 138 und 139. 12 Siehe oben S. 74f.

Manilius

219

Kontext ist daher im Verhältnis sehr viel geringer als in den methodologischen Kontexten. Hinzu kommt, daß jene gleichnisähnlichen oder gleichnisverwandten Erscheinungen, die in den Lehrgedichten des Lucrez und Vergil mit den Gleichnissen konkurrieren,13 in den Astronomica nur sehr sporadisch vorkommen. So läßt sich etwa in den didaktischen Partien kein einziges Beispiel für eine Umarbeitung von epischem Gleichnis- zu didaktischem Haupttext finden, wie sie für den Stil der Georgica so typisch sind.14 Das mag zum einen inhaltliche Gründe haben, denn die >mathematischen< Partien der Astronomica, z.B. im dritten Buch mit seinen zahlreichen verifizierten Rechenoperationen, sind für solche Wiederaufnahmen epischer Gleichnismotive kaum geeignet. Allerdings wäre die Technik »Gleichnistext zu Haupttext« z.B. in den Ekphrasis-Teilen der Astronomica (z.B. im ersten Buch der Astronomica) durchaus anwendbar gewesen, da die Ekphrasis dem Gleichnis generell sprachlich und inhaltlich nahesteht.15 Auch in der Beschreibung der Tierkreiszeichen-Eigenschaften hätte Manilius prinzipiell auf episches Gleichnismaterial zurückgreifen können, insbesondere für Tierkreiszeichen wie Löwe und Stier, da diese Tiere auch im heroischen Epos Gegenstand zahlreicher Gleichnisse sind und die Eigenschaften, die Manilius diesen Zodia zuschreibt (z.B. Kampflust und Beutegier des Löwen)16 häufig in den heroisch-epischen Gleichnissen dargestellt werden.17 Dadurch, daß Manilius im didaktischen Kontext so konsequent auf die Wiederaufnahme epischer Gleichnismotive im Haupttext verzichtet, heben sich die >echten< Gleichnisse sehr viel stärker aus dem Lehrtext heraus als bei Lucrez und Vergil. Manilius ist in dieser Beziehimg somit sehr viel >epischer< als seine beiden didaktischen Vorgänger. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man das Verhältnis von Gleichnissen und sprachverwandten Erscheinungen betrachtet. Bereits die Thematik des Ge-

13 Vgl. dazu oben S. 76f. und S. 152-157. 14 Siehe oben S. 155-157. 15 Siehe oben S. 48f. m. Anm. 11-13 und S. 157. 16 Manil. 4,176-179: Qttis dubitet, vasti quae sit natura Leonis / quasque suo dictet signo nascentibus artes? / Ille novas semper pugnas, nova bella ferarum / apparat, et spolio vivit pecorumque rapinis; [...]; vgl. dazu etwa Horn. II. 5,161-164 (Löwe greift Rinder an); 20,164-175 (165 αίντης als Epitheton des Löwen); Verg. Aen. 9,337-341 (Löwe im Schafepferch). 17 Kaum als Reminiszenz an den heroisch-epischen Gleichnistext zu werten sind Stellen wie Manil. 4,509 ipse in comua fertur (sc. Aries), auch wenn sich die Formulierung in cornua im Gleichnistext mehrfach in Verbindung mit >gehörnten< Tieren findet (Aen. 12,104 [Stier]; 10,725 [Hirsch]), hierzu Hübner (1984), 163. Auch der Bezug der Beschreibung der Tätigkeit der Wippspringer (5,438-445) zum Taucher-Gleichnis (Horn. Π. 16,742-749) ist nicht so deutlich, wie Hübners Ausführungen ([1984], 223) denken lassen.

220

Manilius

dichtes erfordert vielerorts Verweise auf ähnliche Sachverhalte und die Parallelisierung verschiedener Seinsbereiche, denn die astrologische Lehre beruht im Wesentlichen darauf, daß Himmel und Erde analogisiert und dadurch zueinander in Beziehung gesetzt werden.18 Die Gemeinsamkeiten zwischen Himmel und Menschenwelt, die der Astrologe zu erkennen glaubt, ermöglichen überhaupt erst eine Deutung des menschlichen Schicksals mit Hilfe der Sterne. Es ist daher zu beobachten, daß Manilius sehr häufig die Seinsbereiche Himmel und Erde dadurch vertauscht, daß er sie mit Metaphern aus dem jeweils anderen Bereich beschreibt;" in der Metapher findet die Verflechtung von Himmel und Erde ihren poetischen Ausdruck. Dagegen verwendet Manilius im Rahmen seiner Darstellung des astrologischen Systems keine Gleichnisse der epischen Typs, wo es ihm darum geht, aus den Interferenzen zwischen Himmel und Erde Rückschlüsse auf das menschliche Leben zu ziehen. Die wenigen Stellen, an denen Himmel und Erde durch Vergleichsworte in Beziehung gesetzt werden, sind deutlich von den Gleichnissen abgesetzt. Im zweiten Astronomica-Buch z.B. stellt Manilius fest, daß Freund- und Feindschaften der Tierkreiszeichen im menschlichen Leben ihre Entsprechung finden, das ja ebenfalls von Sympathien und Antipathien geprägt ist (Manil. 2,479-484). Die Ubereinstimmung bringt er durch das Vergleichswort sicut zum Ausdruck: sicut naturas hominum plerasque videmus / qui genus ex signis ducunt formantibus

ortus

(2,483f.). Dennoch geht es Manilius an dieser Stelle nicht um einen einfachen Vergleich zwischen Himmel und Erde. Entscheidend ist vielmehr, daß die Ähnlichkeiten, die sich hier feststellen lassen, darauf zurückzuführen sind, daß die irdischen Verhältnisse von den himmlischen beeinflußt sind; die Feindschaften auf der Erde sind denen am Himmel nicht nur ähnlich, sondern ein Resultat bestimmter Sternkonstellationen und Oppositionen. 20 Noch deutlicher wird dieses Abhängigkeitsverhältnis, wenn man die sehr viel konkreteren Prognosen betrachtet, die Manilius im fünften Buch, ausgehend von den Tierkreiszeichen und ihren Paranatellonten, stellt. Auch diese Prognosen präsentiert der Dichter in einigen Fällen in Form eines ut/velut - sie - Gefüges. Das Paranatellon

18 Vgl. Hübner (1984), 237. 19 Vgl. Hübner (1984), 215-224. 20 Ähnlich Manil. 4,810-817 (Oppositionen und Feindschaften von Ländern, Städten und Erdteilen ergeben sich aus den Feindschaften der Tierkreiszeichen, die diese Länder beeinflussen); ohne Andeutung eines vergleichenden Verhältnisses z.B. 2,256-264 (die verstümmelten Zeichen sind eine Aufforderung der Natur an den Menschen, sein Geschick zu ertragen); 4,370-377 (unterschiedliche Charaktere von unter demselben Zeichen Geborenen bezeugen [testis erit (373)] die Richtigkeit der Lehre von den Dekanen).

Manilius

221

Delphinus z.B. bringt nach der Lehre des Manilius Menschen hervor, die sich zu Wasser und zu Lande betätigen. Seine Begründung hierfür lautet (Manil. 5, 419-422):21 419 420 422

nam, velut ipse citis perlabitur aequora pinnis nunc summum scindens pelagus nunc alta profundi et sinibus vires sumit fluctumque figural, sie, venit ex illo quisquis, volitabit in undas.

Formal entspricht diese Stelle einem epischen Gleichnis; auch ist das Springen der Delphine durchaus Gegenstand heroisch-epischer Vergleichungen.22 Davon abgesehen hat die Stelle mit einem epischen Gleichnis aber nur wenig zu tun. Die Ähnlichkeit zwischen der Eigenschaft des Paranatellons >Delphin< und dem Tätigkeitsfeld des Menschen ergibt sich allein deswegen, weil der Mensch unter dem Paranatellon Delphin geboren und somit von ihm beeinflußt ist. Das velut -sie - Gefüge ersetzt also lediglich einen Kausalsatz, wie er von Manilius ebenfalls für Prognosen verwendet wird, wenn er etwa ausführt, daß die unter dem Paranatellon Spica (Ähre) Geborenen kunstfertige Handwerker werden, weil die Ähre selbst ein kunstvolles Gebilde ist.23 Trotz formaler Ähnlichkeit sind also Prognosen und Analogisierungen von himmlischen und irdischen Verhältnissen nicht Gleichnisse im eigentlichen Sinn. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man die argumentativen Partien der Astronomica betrachtet, die den Kosmos als planvoll durchdachte Konstruktion erweisen sollen, um dadurch die astrologische Wissenschaft zu legitimieren. Obwohl Manilius sich in der sprachlich-stilistischen Gestaltung dieser Abschnitte an seinem Vorgänger Lucrez orientiert, ohne seine Argumentationen allerdings immer konsequent auszuführen, da ja der Blick zum Himmel seine Aussagen viel eher bestätigt als jede theoretische Reflexion,24 verwendet er keinerlei Gleichnisse, um seine Argumentation zu stützen oder gegnerische Ansichten ad absurdum zu führen. Zudem sind die Stellen, die der Dichter als 21 Textgrundlage für die Manilius-Zitate ist die Ausgabe von G.P. Goold (Ed 1985). Auf abweichende textkritische Entscheidungen wird hingewiesen. 22 So z.B. Apoll. Rhod. 4,933-938 (Delphine umschwimmen ein Schiff); als Kurzvergleich Verg. Aen. 5,594f.; 9,119.

23 Manil. 5,285-289: quia dispositis habitatur spica per artem / frugibus [...]/ sculpentem faciei sanctis laquearia templis [...]. 24 Vgl. Reeh (1973), 195 und 210; zu den wissenschaftlichen Methoden, die Manilius in den Astronomica anwendet und den Änderungen, die er gegenüber Lucrez vorgenommen hat, ausführlich 195-206; Hübner (1984), 236: »Es kommt mehr auf die bleibende Gestalt als auf die Genese an, mehr auf das Schauen als auf das Denken.«

222

Manilius

Analogieschlüsse gestaltet, auch dort, wo er zuvor entwickelte Gedanken mit sie auf den eigentlichen Lehrstoff überträgt,25 weder formal noch inhaltlich den Gleichnissen ähnlich. Uberhaupt lassen sich in der Auswahl der Gleichnismotive in den Astronomica keinerlei Überschneidungen mit den anderen argumentativen Mitteln feststellen. Die Verwendung desselben Motivs als Gleichnis, Beispiel, Vergleichung ohne einleitendes Vergleichswort und Analogieschluß, wie sie Lucrez mehrfach praktiziert,26 scheint Manilius bewußt zu vermeiden. Eine solch scharfe Trennung zwischen Gleichnissen und argumentativen Mitteln, die in den Astronomica ziemlich konsequent durchgehalten ist, zeigt, daß Manilius - vielleicht in der Tradition Vergils - Gleichnisse eher als >dichterische< Mittel und daher als einem argumentativen und somit »wissenschaftlichem Kontext nicht angemessen empfindet. Ungleich seltener als Lucrez verwendet Manilius dementsprechend im didaktischen Kontext die Form des epischen Gleichnisses, ohne auch die inhaltlichen Vorgaben dieses sprachlichen Mittels zu beachten. Im Finale des vierten Buches stellt er zum Beispiel Mensch und Kosmos in einem ut - sie - Gefüge gegenüber (4,886-893): 886

890

893

an d u b i u m est habitare d e u m sub pectore n o s t r a in caelumque redire animas caeloque venire, utque sit ex o m n i constructus c o r p o r e m u n d u s aeris atque ignis s u m m i terraeque marisque h o s p i t i u m menti t o t u m quae infusa gubernet, s i c esse in n o b i s terrenae corpora sortis sanguineasque animas animo, qui cuncta gubernat dispensatque b o m i n e m ? [...]

Die Analogisierung von Kosmos und menschlichem Körper erinnert an die zahlreichen Vergleiche zwischen Körper und Weltenganzem, mit denen Lucrez dem Leser allzu groß dimensionierte kosmische Phänomene erläutert.27 Im Unterschied zu Lucrez sagt Manilius explizit, daß Körper und Kosmos aus denselben Werkstoffen bestehen und an demselben göttlichen Weltgeist par-

25 Z.B. Manil. 4,108-118 (Die Argumentationsführung ist hier folgende: Die menschliche virtus ist nicht weniger wert, weil sie von dem Gott verliehen ist, denn 1) giftige Kräuter sind nicht weniger hassenswert, weil sie aus einen bestimmten Samen erwachsen; 2) Leckerbissen sind nicht weniger wohlschmeckend, weil die Natur sie hervorbringt. Fazit: Ebenso (sie) sollte man die Verdienste von Menschen nicht zuletzt deshalb würdigen, weil sie ein Geschenk des Himmels sind). 26 Siehe oben S. 77. 27 Siehe oben S. 122-125.

Manilius

223

tizipieren: esse in nobis terrenae corpora sortis /sanguineasque animas animo [...] (89If.). Gerade dieser Aspekt ist nämlich für die weiteren Ausführungen des Dichters von Bedeutung: Nur weil Mensch und Kosmos beide von derselben Weltvernunft durchströmt werden, ist der Mensch zur Erkenntnis kosmischer Phänomene überhaupt befähigt. Manilius setzt also an dieser Stelle nicht den einen Gegenstand zur Erklärung des anderen ein, sondern betont die Gemeinsamkeiten, die beide miteinander verbinden. Ein weiterer erwähnenswerter Sonderfall liegt bei der Analogisierung von zodiakaler Melothesie (der Zuordnung von Tierkreiszeichen zu bestimmten Körperteilen) und astrologischer Geographie (der Zuordnung von Tierkreiszeichen zu bestimmten Ländern der Erde) im vierten Buch vor. Im Anschluß an seine Beschreibung der bewohnten Welt weist Manilius zunächst allgemein darauf hin, daß eine Beziehung zwischen den Tierkreiszeichen und den Ländern der Erde existiert (4,696-710): 696

700

705

710

Hos erit in fines orbis pontusque vocandus, quem deus in partes per singula dividit astra ac sua cuique dedit tutelae regna per orbem et proprias gentes atque urbes addidit altas, in quibus assererent praestantis sidera vires, ac, velut humana est signis discripta figura, et, quamquam communis eat tutela per omne corpus, et in proprium divisis artubus exit (namque Aries capiti, Taurus cervicibus haeret, bracchia sub Geminis censentur, pectora Cancro, te scapulae, Nemeaee, vocant teque ilia, Virgo, Libra colit clunes et Scorpios inguine regnat, et femina Arcitenens, genua et Capricoraus amavit, cruraque defendit Iuvenis, vestigia Pisces), sic alias aliud terras sibi vindicat astrum.

Auch diese Stelle, mit der Manilius auf einen im zweiten Buch behandelten Lehrgegenstand zurückverweist,2® erinnert zunächst an ein episches Gleichnis.29 Der Dichter stellt in einem weitgespannten ue/«i-Teil dem eigentlichen Lehrstoff einen weiteren Sachverhalt an die Seite, zu dem er abschließend sogar in einem sic-Teil wieder zurückführt. An epische Gleichnisse mag auch die mit namque (704) eingeleitete Parenthese erinnern,30 in der Manilius den zuvor all28 Vgl. Manil. 2,453-456. 29 Vgl. Hübner (1984), 240; 251; 253. 30 Vgl. Hübner (1984), 240; zur Parenthese als Charakteristikum des epischen, insbesondere des homerischen Gleichnisses v. Albrecht (1964 Π), 179-182.

224

Manilius

gemein formulierten Gedanken »Jedes Tierkreiszeichen kann einem Körperteil zugeordnet werden« konkretisiert. Dennoch handelt es sich nicht um ein Gleichnis im eigentlichen Sinn. Der wesentliche Unterschied besteht darin, daß es Manilius hier nicht vordringlich darauf ankommt, zwei verschiedene Sachverhalte miteinander zu vergleichen, sondern darauf, die Wirkung derselben Sache (der Tierkreiszeichen) auf verschiedene Bereiche (Körper und Kosmos) zu konstatieren und sie dadurch zu analogisieren, so daß man hier doch eher von >Analogieepischem Gleichnis< sprechen sollte. Aus den vorausgegangenen Bemerkungen ergibt sich, daß Manilius in den didaktischen Partien der Astronomica nicht nur von Gleichnissen des epischen Typs sehr sparsam Gebrauch macht, sondern zudem darauf bedacht ist, die Gleichnisse von den übrigen argumentativen Mitteln abzusetzen. Auch daran ist zu erkennen, daß er die >echten< Gleichnisse eher als poetische Formelemente empfindet, deren Funktion weit über die Vermittlung von Sachwissen hinausgeht. Wenden wir uns nun den beiden Gleichnisblöcken im didaktischen Kontext der Astronomica zu. Sie stehen im ersten und im fünften Buch, also in den >Rahmenbüchern< der Astronomica32 und gehören daher bereits aus kompositorischen Gründen zusammen. Das erste Buch bietet mit der Beschreibung des Himmels die astronomischen Grundlagen der folgenden Bücher: Manilius nennt Lage, Form und Bezeichnung der am nächtlichen Himmel sichtbaren Sternbilder (Tierkreiszeichen sowie die nördlichen und südlichen Sternbilder [255 - 482]) und behandelt das Gradnetz des Himmels (560A - 717). Nach den >imaginären< unbeweglichen und beweglichen Kreisen bespricht er schließlich die sichtbaren Himmelskreise Tierkreis und Milchstraße.33 Die Milchstraße wird sehr viel ausführlicher vorgestellt als die vorausgegangenen Himmelskreise: Manilius umschreibt zunächst

31 Vgl. Reeh (1973), 200. 32 Zur Buchzahl der Astronomica siehe oben S. 217 Anm. 6. 33 Zu den Abweichungen dieser Reihenfolge von der Darstellung Arats vgl. Hübner (1984), 249. Arat (Phaen. 469-479) beginnt mit der Milchstraße, um aus ihr als markantem und sichtbarem Himmelskreis die Existenz der anderen, unsichtbaren Himmelskreise folgern zu können, er geht somit sehr viel didaktischer vor als Manilius. Den Zodiakos behandelt er nicht zusammen mit der Milchstraße, sondern erst Phaen. 537-549 als Einleitung in das Paranatellonten-Kapitel. Die Verbindung von Zodiakos und Milchstraße, die Manilius vornimmt, entspricht aber durchaus der ikonographischen Tradition, wo Zodiakos und Milchstraße nahe beieinanderliegen, so daß die Zuweisung bisweilen schwierig ist, vgl. Gundel (1992), 63. Es gilt als sicher, daß Manilius bei der Beschreibung der Milchstraße einen Himmelsglobus vor Augen hatte, vgl. W. Gundel, R E VÜ.1 (1910), Sp. 570 s.v. Γαλαξίας.

Manilius

225

ihre Position am Himmel; außerdem geht er auf den optischen Eindruck ein, der sich ihrem Betrachter bietet (1,701-717): 701

715

nec quaerendus erit (sc. orbis viae lacteae): visus incurrit in ipsos sponte sua seque ipse docet cogitque notari. namque in caeruleo candens nitet orbita mundo ceu missura diem subito caelumque recludens, ac veluti viridis discernit semita campos quam terit assiduo renovans iter orbita tractu. [inter divisas aequabilis est via partes] ut freta canescunt sulcum ducente carina, accipiuntque viam fluctus spumantibus undis quam tortus verso movit de gurgite vertex, Candidus in nigro lucet sic limes Olympo caeruleum findens ingenti lumine mundum. utque suos arcus per nubila circinat Iris, sie super ineumbit signato culmine limes Candidus et resupina facit mortalibus ora,

717

dum nova per caecam mirantur lumina noctem inquiruntque sacras humano pectore causas.

705

710

Der erste Gleichnisblock der Astronomica ist bereits aufschlußreich für Manilius' Umgang mit diesem sprachlichen Mittel. Die Gleichnisse gelten der Milchstraße, also dem auffälligsten aller Himmelskreise, der dem Betrachter sogleich ins Auge fällt und ihn in seinen Bann zieht. Dadurch, daß der Dichter seine Beschreibung der Milchstraße durch drei Gleichnisse retardiert, erreicht er, daß auch der Leser seines Lehrgedichtes bei dieser Himmelserscheinung länger verweilt als bei den zuvor beschriebenen Himmelskreisen. Er versucht also, auf sprachlicher Ebene dieselbe Wirkung hervorzurufen, wie sie die >reale< Milchstraße auf den Betrachter hat. Aber auch in kompositorischer Hinsicht steht der Gleichnisblock an einer entscheidenden Stelle innerhalb des ersten Buches, da er die Präsentation des eigentlichen Lehrgegenstandes, die Ekphrasis des Sternhimmels, abschließt. Im folgenden wird Manilius die verschiedenen Erklärungen erörtern, die für das Phänomen >Milchstraße< vorgeschlagen wurden, bevor er mit den Erscheinungen in den Meteora ein neues Thema beginnt. Die Gleichnisse markieren somit den Ubergang von der Darstellung zur Deutung; sie verbinden eine deskriptive mit einer eher reflektierenden Partie und haben dadurch gewissermaßen kompositionelle Scharnierfunktion. Der eigentliche Gleichnisblock besteht aus drei unmittelbar aneinander anschließenden Gleichnissen, die insgesamt 12 Verse beanspruchen. Manilius vergleicht das weiße Band der Milchstraße, das der Betrachter des nächtlichen

226

Manilius

Sternhimmels erblickt, (1) mit einem Weg, den Wagenräder in eine grüne Wiese einschneiden (705f.),M (2) mit der Kielspur eines Schiffes (708-712) und (3) mit der Krümmung des Regenbogens (713-717). Ungewöhnlich ist zunächst einmal der Kontext, in dem die Gleichnisse stehen. Sie sind nicht, wie die meisten ihrer heroisch-epischen Gegenstücke, auf eine Handlung bezogen, sondern beschreiben das Erscheinungsbild des im Lehrtext behandelten Gegenstandes. Inhaltlich entsprechen die Gleichnisse dem Typus der Färb- und Formvergleiche, mit denen im heroischen Epos ungewöhnliche optische Eindrücke - bisweilen sogar in Mehrfachgleichnissen - veranschaulicht und intensiviert werden.35 Andererseits bemüht sich Manilius jedoch, in der sprachlich-stilistischen Gestaltung des gesamten Abschnittes dem dynamischen Charakter des sprachlichen Mittels >Gleichnis< Rechnung zu tragen. Bereits die Position der via lactea wird ausschließlich mit Verben der Bewegung als >Verlauf< umschrieben: succedit (684), transitque (686), descendens, tangit (687), secat (688), sinuat flexus (692), ascendere caelum / incipit (693f.), subit (696). Auch die Gleichnismotive Weg, Kielspur und Regenbogen präsentiert der Dichter höchst aktivisch mit Hilfe von aktionsbetonenden Verben: der Pfad »durchschneidet«, discemit (705), die Felder; die Fluten »werden weiß«, canescunt (708); oder als Resultate einer Handlung: Der Weg entsteht dadurch, daß die Wagenräder eine Spur ins Feld schneiden (tent orbita [706]), die Spur durch das Meer ist ein Ergebnis der Ruderschläge (tortus movit de gurgite vertex [710]), verantwortlich für den Regenbogen ist die zwischen Himmel und Erde vermittelnde Götterbotin Iris: circinat Ins (713), die im übrigen nach homerischem Vorbild am Hexameterschluß steht.36 Die Art der Darstellung verleiht den Gleichnissen eine epische Färbung. Andererseits scheint aber die Vergänglichkeit insbesondere von Kielspur und Regenbogen, die ja nur temporäre Erscheinungen sind, für Manilius keinerlei Bedeutung zu haben. Die Gleichnisse erinnern so an einen Film, der zwar die Genese einer Sache zeigt, der aber zum >Standbild< wird, sobald das Ergebnis erreicht ist. Wenden wir uns nun den einzelnen Bildern zu. Nur die letzten beiden Gleichnisse werden durch eine Antapodosis geschlossen. Bereits das äußere Er34 Kaum zutreffend die Übersetzung von Fels (Ed 1990), 73f.: »wie ein Fußpfad die grünenden Fluren durchschneidet, den eine / Spur, eine Strecke durch ständiges Gehen erneuernd, fest austritt«, da orbita eindeutig die von einem Wagenrad (orbis) eingeschnittene Spur meint, vgl. ThlL IX,2 (1978), Sp. 920 s.v. orbita: »linea vel via rota currus impressa«. 35 Zu den homerischen Färb- und Formvergleichen und ihrem Verhältnis zur didaktischen Poesie oben S. 50f.; 65. 36 Z.B. Horn. II. 2,786; 8,425; 18,166; 24,95; bei Vergil nur Aen. 10,73.

Manilius

227

scheinungsbild gibt so zu erkennen, daß die beiden ersten Gleichnisse eine Einheit bilden, gegen die das dritte abgegrenzt ist. Aber auch inhaltlich gehören das Wagenspur- und das Kielspur-Gleichnis zusammen. Zum einen werden Schiff und Wagen als Bildmotive häufig zusammengestellt;37 zum anderen geht es in beiden Gleichnissen um die gerade Spur, die diese Transportmittel auf ihrem Weg über Wasser oder Land hinterlassen. Die syntaktische Struktur ihrer Parabolai ist in allen wesentlichen Punkten parallel: Sie bestehen jeweils aus dem Vergleichssatz, der durch einen Relativsatz näher bestimmt wird. Da es sich in beiden Fällen um ein relatives quam (Bezug semita [705] bzw. viam [709]) handelt, wirkt der Parallelismus besonders stark. Sowohl die Doppelung als auch die parallele syntaktische Gestaltung verleihen den beiden Bildern besonderen Nachdruck.38 Die Beschreibung der Form der Milchstraße läßt sich nur mittelbar aus den beiden Bildern entnehmen. Wichtiger ist ein anderer Aspekt: die Farbe. Bereits in dem einleitenden Stichsatz weist Manilius auf den Kontrast zwischen dem strahlendweißen Glanz der Milchstraße und dem blauschwarzen Nachthimmel hin, da er das Auffinden erleichtert: visus incurrit in ipsos / sponte sua [...]. / namque in caeruleo candens nitet orbita mundo / ceu missura diem subito caelumque recludens (701-704). Die Milchstraße sticht nicht allein vom Nachthimmel ab, sie leuchtet sogar so intensiv, daß es den Anschein hat, als zöge der Tag herauf.39 Der Eindruck, den der Betrachter der Milchstraße gewinnt, wird durch den Gegensatz zwischen hell und dunkel bestimmt. In den beiden folgenden Bildern wird diese Beobachtung aufgespalten. Das erste Gleichnis hebt die dunkle Farbe des Hintergrundes hervor. Der Dichter nennt explizit die Farbe der Felder, die von dem Weg durchzogen werden (viridis... campos [705]), während er die Farbqualität des Weges unbezeichnet läßt. Im Lateinischen bereiten die Abgrenzungen im Blaugrünbereich generell Schwierigkeiten,40 so daß der Vergleich von blauem Himmel und grüner Wiese nicht erstaunlich ist. Im zwei37 Siehe oben S. 205f. m. Anm. 207-209. 38 Zur Intensivierung durch Motiwerdoppelung in den Gleichnissen augusteischer Dichtung vgl. Fraenkel (1957), 427 (zu den beiden Gleichnissen am Beginn von Hör. carm. 4,4). 39 Ähnlich hyperbolisch Manil. 5,58-60: Orion [...], / quo fulgente [...] / ementita

nigras nox contrahit alas. 40 Vgl. ThlL ΠΙ (1906), Sp. 106 s.v. caeruleus: »accedens ad notionem viridis et albi«; besonders aufschlußreich ist der Beleg Enn. ann. 537 Sk., wo die Farbe der Felder mit dem Adjektiv caeruleus bezeichnet wird, was möglicherweise eher das Farbempfinden der Römer spiegelt denn als »geistig-seelischer Ausdruck eines willenstarken Naturells« (v. Albrecht [1969], 344) zu werten ist. Gegen Götz (1906-8), 86f., der caeruleus ausschließlich die Farbe blau zuweisen will, treffend Andre (1949), 170f. Eine sorgfältige Differenzierung der Farbnuancen von caeruleus bietet auch Heijn (1951), 62-69.

diem

Manilius

228

ten Gleichnis hingegen konzentriert Manilius sich auf die weiße Kielspur (freta canescunt

[708]), wohingegen die damit kontrastierende dunkle Farbe des

Meerwassers keinerlei Erwähnung findet. Jede Parabole ist also speziell einer Farbe gewidmet. Die Antapodosis, die das Kielspur-Gleichnis schließt, führt die in den beiden Parabolai gewonnenen Einzelbeobachtungen wieder zusammen: Das Wort limes, das Manilius hier für die Milchstraße verwendet, ist in seiner ursprünglichen Bedeutung synonym mit semita.41 Das Verbum findere hingegen paßt eher zu der Wendung sulcum ducere im zweiten Gleichnis. Mit der Formulierung Candidus in nigro lucet sic limes Olympo

(711) vereinigt der

Dichter die zuvor sukzessive insinuierten kontrastiven Farbqualitäten in einem Vers, der zudem mit dem ersten Vers des Stichsatzes: in caeruleo candens nitet orbita mundo (703) beinahe wörtlich übereinstimmt. Ebenso greift Manilius in dem zweiten Antapodosis-Vers caeruleum findens ingenti lumine mundum (712) die bereits im einleitenden Stichsatz geäußerte Vorstellung auf, daß die Milchstraße eine Öffnung im Himmelsgewölbe sei, durch die das Licht hindurchscheine: ceu missura diem subito caelumque recludens (704). Wagenspur- und Kielspurgleichnis werden so durch einleitenden Stichsatz und Antapodosis gerahmt und eng miteinander verbunden. Die beiden Bilder gehören aber noch aus einem weiteren Grund zusammen. Housman42 verzeichnet in seinem Kommentar als Vorbild für unsere Stelle einen Abschnitt aus den Argonautica des Apollonius, in dem der Dichter den optischen Eindruck beschreibt, den die Argo bei ihrer ersten Ausfahrt bietet (1,544-546): 544 545 546

σ τ ρ ά τ τ ί δ' ύπ' ήΐλίω φλογι eiKeXot νηος ιούσης τίύχία· μακραϊ δ' a'tev έΧευκαίνοντο κεΧευΰοι, άτραπος ως χΧοεροιο Sieiδομένη ττίδίοιο.

Die motivischen Ubereinstimmungen der manilianischen Gleichnisse mit dieser Stelle sind evident: Um »die Szene visuell erfaßbar zu machen«,43 vergleicht

41 Vgl. ThlL Vn,2,2 (1975), Sp. 1410 s.v. limes. 42 Housman I (Ed 21937), 113. Weitaus weniger deutlich ist die Parallele Verg. Aen. 5,141f. adduetis spumant freta versa lacertis. / inßndunt pariter sulcos [...], die Liuzzi I (K 1990), 200 angibt, wenig aussagekräftig auch die Verbindung mit Aen. 5,186 praeeunte carina und Aen. 5,158 longa sulcant vada salsa carina·, Val. Fl. 3,32 nox erat et leni canebant aequora sulco ist möglicherweise - mit typischer Vertauschung von Himmel und Wasser (vgl. Snell [51980 Π], 89 zum Namen >Asterie< für Delos) - bereits eine Reaktion auf Manilius' Vergleich von Milchstraße und Kielspur. Von Manilius beeinflußt ist möglicherweise auch Sil. 14,360-362 salts icta frequenti / albescit pulsu facies, perque aequora late / spumat canenti sulcatus gurgite limes. 43 Drögemüller (1956), 167.

Manilius

229

Apollonius die lange weiße Kielspur, welche die Argo auf ihrer Fahrt über das Meer hinterläßt, mit einem Pfad, der eine grüne Ebene durchschneidet. Auch er hebt die helle Farbe der Kielspur hervor (ελβυκαίνοντο icehevdoi [545]), während er erst im Vergleich die Farbe der Umgebung (χλοβροϊο ... πβδίοω [546]) explizit nennt, und spaltet so die Beschreibung des farblichen Kontrasts auf. Manilius übernimmt an dieser Stelle also nicht nur die Motive, sondern auch Strukturelemente von seinem epischen Vorgänger. Dennoch bestehen wesentliche Unterschiede zwischen dem Gleichnis bei Apollonius und seiner Wiederaufnahme in den Astronomica. Zum einen ist es aufgrund des verschiedenen Darstellungsziels der beiden Autoren notwendig, daß Manilius gegenüber Apollonius das Verhältnis von Gleichnis- und Haupttext verändert. Apollonius bezieht Kielspur und Wagenspur aufeinander; die Kielspur der Argo ist der Erzählgegenstand, von dem sein Vergleich ausgeht. Während Manilius nun das Wagenspur-Gleichnis abgesehen von dem erweiternden Vers 706 quam terit assiduo renovans iter orbita tractu unverändert von seinem Vorgänger übernimmt, macht er in dem anschließenden KielspurGleichnis den Haupttext der Argonautica zum Gleichnistext. Aus der Unterordnung der Motive bei Apollonius wird so bei Manilius eine Beiordnung. Zudem kehrt er die Reihenfolge der Motive gegenüber der Vorlage um: Die Wagenspur erscheint als erstes, die Kielspur, die bei Apollonius Anlaß für die Vergleichung ist, erst als zweites Gleichnis. Durch diese Umkehrung erreicht Manilius zunächst einmal, daß der Gleichnisblock mit dem Bild beginnt, das auch bei Apollonius schon als Gleichnis verwendet wird. Erst mit dem nächsten Bild löst er sich von der epischen Vorlage. Die konkrete Situationsbeschreibung, die bei Apollonius aus dem Erzählzusammenhang erwächst, verwandelt Manilius in ein >zeitloses< Gleichnis,44 das sich auf ein immer wieder beobachtbares Phänomen bezieht. Sowohl diese Verwandlung des apollonianischen Haupttextes in Gleichnistext als auch die Umkehrung der in dem Epos vorgegebenen Reihenfolge haben gravierende sachliche Konsequenzen. Die beiden irdischen Gegenstände, die bei Apollonius einander zugeordnet waren, sind bei Manilius auf einen himmlischen, die Milchstraße, bezogen. Manilius' Darstellung umgreift so die Bereiche Himmel - Land - Wasser zunächst in vom Himmel her absteigender Reihenfolge, dann, auf derselben Ebene, vom Festen zum Amorphen (Land - Wasser).45 Es sind dies genau die Räume, die vom 44 Zur Behandlung der Dimension >Zeit< in den Astronomica ausführlich Hübner (1984), 231-233. 45 Ebenso Verg. georg. 3,196-201 (dazu oben S. 167f.). Auch auf dem Tellus-Relief der Ära Pacis ist die Anordnung von links nach rechts (der >Leserichtung< antiker Monumente

230

Manilius

stoischen Allgott durchwaltet werden und in denen sich sein Lehrgedicht bewegt.46 Stärker als Apollonius arbeitet Manilius so die kosmische Dimension heraus, die typisch für die Konzeption seines Werkes als >Weltgedicht< ist.47 Durch die Gleichnisse setzt Manilius all diese Räume zueinander in Beziehung, wobei natürlich - der Intention seines Gedichtes entsprechend - Land und Wasser dem Himmel untergeordnet sind und daher nur im Gleichnistext erscheinen. Entscheidend für das Verständnis dieses ersten Gleichniskomplexes ist jedoch noch ein weiterer Aspekt. Vordergründig dient er zwar der Darstellung von Farbe und Form der Milchstraße. Die Beschreibung ihrer Helligkeit im einleitenden Stichsatz als ceu missura diem subito caelumque recludens (704), die im letzten Vers der Antapodosis (caeruleum findens ingenti lumine mundum [712]) noch einmal aufgenommen wird, nimmt jedoch bereits die in den Versen 718-722 vorgetragene rationalistische Deutung der Milchstraße als »Riß« im Himmelsgewölbe vorweg, der ein außerhalb des Kosmos scheinendes Licht eindringen läßt (1,720): admittantque novum laxato tegmine lumen (sc. rimae). Ebenso weist der Vergleich der Milchstraße mit einer Wagenspur auf die Interpretation der Milchstraße als »alten Weg der Sonnenrosse« hin, die Manilius als ersten >mythologischen< Deutungsversuch anführt (729-734). Schon in diesem ersten Komplex des Gleichnisblocks werden also Beschreibung und Deutung von Manilius sorgfältig aufeinander abgestimmt. Das dritte Gleichnis ist mit nur einem einzigen Parabole-Vers nicht nur deutlich kürzer als die beiden vorausgegangenen, sondern auch inhaltlich von ihnen abgesetzt. Während Wagenspur- und Kielspur-Gleichnis die kontrastive Farbgebung von Milchstraße und nachtdunklem Himmel behandeln, beschreibt das Bild des Regenbogens ihre gekrümmte Form und bringt somit gegenüber

entsprechend) Himmel - Erde - Wasser. Interessant ist auch die absteigende Anordnung der Bereiche Himmel - Erde - Wasser in der Kosmogonie der Metamorphosen (met. 1,22-31); auch für Ovid stehen Land und Wasser auf derselben Ebene, vgl. Börner, Ov. met. I (Κ 1969), 27. Allgemein zum Descensus als philosophisch-poetischem Konzept bei Manilius Hübner (1984), 242-245. 46 Vgl. Manil. 2,60-62: namque canam tacita naturae mente potentem / infusumque deum caelo terrisque fretoque / ingentem aequali moderantem foedere molem [...]. Allgemein zu stoischen Ausrichtung von Manilius' Lehrgedicht Reeh (1973), 159-161; Hübner (1984), 234-237; Neuburg (1993), 259 m. Anm. 29. Daß Manilius die stoische Ethik in den Astronomica nicht behandelt, spricht nicht gegen seine stoische Grundeinstellung (so Woltjer [1881], 93), denn auch sein didaktischer Vorgänger Lucrez thematisiert in De rerum natura ja nicht die für die epikureische Philosophie immens wichtige Ethik, sondern die Physik. 47 Vgl. Hübner (1984), 230.

Manilius

231

den früheren Gleichnissen »die vertikale Dimension ... mit ins Spiel«.48 Daß ein Regenbogen im Gegensatz zur nächtlichen Milchstraße definitiv nur bei Tageslicht und dann auch nur unter bestimmten Umständen sichtbar ist, scheint für den Vergleich keine Rolle zu spielen. Entscheidend ist, daß der Leser hier eine neue Sachinformation enthält: Der Regenbogen (arcus) macht erst bewußt, daß auch die Milchstraße nur als Halbkreis wahrgenommen werden kann.49 Die Farbe des Regenbogens hingegen wird in dem Vergleich mit keinem Wort erwähnt. Das ist um so erstaunlicher, als die Regenbogen-Gleichnisse der literarischen Tradition gerade die Farbenvielfalt dieser Erscheinung hervorheben.50 Dadurch, daß Manilius diesen Aspekt völlig beiseite läßt, konzentriert er die Aufmerksamkeit des Lesers allein auf die Form. Zum anderen entstammt das Vergleichsmotiv nicht mehr dem irdischen Bereich. Manilius nutzt hier vielmehr die Gelegenheit, einen weiteren Himmelskreis einzuführen. Bei dem Regenbogen handelt es sich um eine Erscheinung, die in den Meteora anzusiedeln ist.51 Das Bild ist so nicht nur eine Art Bindeglied zwischen Himmel und Erde, sondern weist auch von den im ersten Teil des Buches behandelten Caelestia auf die im folgenden noch zu besprechenden Meteora,52 zu denen z.B. die Kometen 48 Hübner (1984), 250 Anm. 376. 49 Ahnlich übrigens Manil. 3,213 arcus in der Bedeutung »Tierkreis«. 50 Vgl. Horn. D. 17,547: τορφνρίην Ιριν; Verg. Aen. 5,88f. ceu nubibus arcus / mille iacit varios adverso sole colores. Explizit auf die Krümmung des Regenbogens weist -neben der Farbe - nur Ovid (met. 6,63-65): [...] arcus / inftcere ingenti longum curvamine caelum, / in quo diversi niteant cum mille colores. Auch die Erklärungen der antiken Naturwissenschaft konzentrieren sich auf die Farbenvielfalt des Regenbogens, vgl. etwa Sen. nat. 1,3,1-14. 51 Vgl. Hübner (1984), 250 Anm. 376. 52 Hübner (1984), 250 (wiederholt [1997], 439) vertritt die Auffassung, daß Manilius den Iris-Vergleich u.a. deswegen ausgewählt habe, weil für ihn auch die Milchstraße eine Erscheinung in den Meteora sei. Er verweist in diesem Zusammenhang auf Aristoteles, der die Milchstraße am Beginn seiner Metereologie als metereologisches Phänomen in einem Atemzug mit den Kometen nennt (Aristot. Meteor. 338b): irepi re γάλακτος και κομητών. Dagegen spricht jedoch zum einen, daß die Zuordnung Milchstraße - Kometen, die Aristoteles vornimmt, in der Antike keinesfalls Communis opinio gewesen ist. Vielmehr referiert Aristoteles ja zunächst frühere Lehrmeinungen, die er als irrig ablehnt, um diesen dann seine eigene Theorie gegenüberzustellen (ημάς Se Χέγωμβν [345bJ. Daß Manilius der aristotelischen Theorie, welche die Milchstraße als einen überdimensionierten Kometen ansieht, nicht folgt, zeigt sich bereits daran, daß er sie in seinem Katalog der Erklärungen (1,718-804) mit keinem Wort erwähnt. Kometen und Milchstraße werden von ihm auch sonst überhaupt nicht in Beziehung gesetzt, sondern sukzessive behandelt, wobei die Kometen ausdrücklich als Meteora-Erscheinung eingeführt werden (1,815): aera per liquidum. Andererseits gibt die sprachliche Gestaltung des Milchstraßen-Abschnitts bei Manilius zu erkennen, daß er sie in allem als Äquivalent zum Tierkreis ansieht und somit beide auf derselben Himmelsebene ansiedelt. So setzt er die Beschreibungen von Tierkreis und Milchstraße durch ein disjunktives alter - alter zueinander in Beziehung; ferner bestimmt er etwa ihre Position - ebenso wie bei den übrigen Himmelskreisen - mit Hilfe der Tierkreiszeichen, durch die die Milchstraße hindurchläuft

232

Manilius

gehören. Dazu paßt, daß Manilius den Regenbogen mit seinem mythologischen Namen als Ins bezeichnet, die als Götterbotin zwischen Himmel und Erde vermittelt und als deren sichtbarer Weg durch die Luft der Regenbogen gilt.53 Durch die Einführung der Göttin Ins gibt Manilius aber zugleich den Stil nüchterner sachlicher Darstellung der beiden vorausgegangenen Gleichnisse auf. Der Ubergang von der Beschreibung des Himmels zur anschließenden Reflexion bzw. Interpretation, der durch den Gleichnisblock markiert wird, kommt also auch in der sprachlichen Gestaltung des Regenbogen-Gleichnisses zum Ausdruck. Vollends deutlich zeigt er sich in der Antapodosis, die zugleich den gesamten Gleichnisblock beschließt (1,714-717): 714

sie super ineumbit signato culmine limes

715

Candidus et resupina facit mortalibus ora, dum nova per caecam mirantur lumina noctem

717

inquiruntque sacras humano pectore causas.

Ihrem abschließendem Charakter entsprechend bezieht sich die Antapodosis sachlich nicht allein auf das Regenbogen-Gleichnis, sondern auch noch einmal auf die beiden vorausgegangenen Bilder. Abermals hebt der Dichter den Gegensatz zwischen hell und dunkel {nova per caecam ... lumina noctem [716]) hervor. Dennoch ist der Blickwinkel gegenüber der Antapodosis, welche die beiden früheren Gleichnisse beschließt, verändert. Im Mittelpunkt steht nicht mehr so sehr der optische Eindruck, den die Milchstraße ihrem Betrachter bietet, als vielmehr dessen Reaktion auf diese unglaubliche Himmelserscheinung: Intensive Beobachtung (resupina5* facit mortalibus ora [715]) und staunende Verwunde-

(itransit [686]; secat [688]). Schließlich spricht auch der Erklärungsversuch für die Milchstraße als Riß oder Narbe im Himmelsgewölbe (also dem obersten Teil des Kosmos) eher dafür, daß Manilius sie für eine Erscheinung in den Caelestia hält.

53 So z.B. Verg. Aen. 4,701 f. mile trahens varios adverso sole colores /devolat [...]; 5,658: ingentemque fuga seeuit sub nubibus arcum. Die Beschreibung des Weges einer Gottheit vom Himmel zur Erde bzw. ins Wasser durch ein Gleichnis (z.B. II. 15,170-172 [Iris - Hagelschauer]; 24,80-82 [Iris - Senkblei]) gehört zu den Konventionen homerischer Epik, vgl. Krischer (1971), 19-22; vgl. aber auch Verg. Aen. 12,854-860 (Flug der Dira wird mit dem Flug eines Pfeils verglichen), zu diesem Gleichnis ausführlich Hübner (1970), 19-23. 54 Das Adjektiv resupinus ist - als Gegenteil zu pronus - geradezu eine Steigerung des aufrechten Gangs, der den Menschen vor den Tieren auszeichnet und es ihm ermöglicht, den Himmel zu betrachten, vgl. Xen. mem. 1,4,11; Sali. Cat. 1,1; Cie. leg. 1,26; nat. deor. 2,140 (dazu Pease, Cie. nat deor. Π [Κ 1958], 914); Ον. fast. 1,300 (dazu Börner, Ov. fast. Π [Κ 1958], 37); met. 1,84-86 (dazu Börner, Ον. met. I-IV [Κ 1969], 46), Manil. 4,906-908, in Verbindung mit der Frage nach den Ursachen für wissenschaftliche Phänomene Aetna 224-230, bes. 226f.

nossefidemrerum dubiasque exquirere causas, / ingenium sacrare caputque attollere caelo Allgemein zum status erectus-Motiv Spoerri (1959), 168 m. Anm. 19 (mit weiterer Literatur).

Manilius

233

rung (mirantur [716]),55 die schließlich zu einer Frage nach den Ursachen dieser merkwürdigen Erscheinung führt (inquiruntque [...] causas [717]). Die Antapodosis leitet also explizit von der Beschreibung zur Deutung des Phänomens über.56 Dieser Aspekt ist jedoch durch die Erwähnung der mythologischen Figur Ms in der Parabole bereits angelegt. Der Vater der Iris ist Thaumas, was etymologisch mit dem Verbum θαύμαζαν in Verbindung gebracht wurde:57 Die Menschen staunen über den Regenbogen und fragen nach seiner wundersamen Ursache.58 In der Antapodosis knüpft Manilius somit durch mirantur als Ubersetzung von ϋαυμάξειν einerseits an den Stoff der Parabole an; andererseits bezieht sich seine Aussage in der Antapodosis nicht auf den Regenbogen, sondern auf das im Haupttext beschriebene Phänomen >MilchstraßeMilchstraße totumque micare stipatum stellis mundum nec cedere summa floribus aut siccae curvum per litus harenae, sed, quot eant semper nascentes aequore fluctus, quot delapsa63 cadant foliorum milia silvis, amplius hoc ignes numero volitare per orbem. utque per ingentis populus discribitur urbes principiumque patres retinent et proximum equester ordo locum, populumque equiti populoque subire vulgus iners videas et iam sine nomine turbam, sic etiam magno quaedam res publica64 mundo est quam natura facit, quae caelo condidit urbem. sunt stellae procerum similes, sunt proxima primis sidera, suntque gradus atque omnia fvictaf priorum: maximus est populus summo qui culmine fertur; cui si pro numero vires natura dedisset, ipse suas aether flammas sufferre nequiret, totus et accenso mundus flagraret Olympo.

A u c h dieser Gleichnisblock erscheint an einer exponierten Stelle innerhalb der Gesamtkomposition. N a c h dem uns überlieferten Text, der aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich den Schluß der Astronomica bildet, 65 steht er beinahe am Schluß nicht nur des Buches, sondern sogar der gesamten Astronomica. Diese Schlußstellung läßt an das Ende des ersten Georgicabuches denken, das ja ebenfalls - für die antike Dichtung höchst ungewöhnlich - mit einem Gleich-

63 Delapsa steht (nach Angabe von Goold [Ed 1985], 141) im Text der Editio Bononiensis (Bologna 1474), es handelt sich wahrscheinlich um eine Humanistenkonjektur aus Verg. Aen. 6,310 für die handschriftlich überlieferten, jedoch nicht verständlichen Lesarten delibia (M) bzw. deliba (GL). 64 res publica ist - vor allem in Hinblick auf den Relativsatz quae caelo condidit urber.. ([739]; hier ist Barths Korrektur urbem für das überlieferte orbem so gut wie sicher, da die Verschreibung orb-/urb- in der Manilius-Überlieferung häufig vorkommt [z.B. Manil. 1,243; 1,882; 2,772; 4,512; 4,813; 5,739], zur Verwechselung orb-/urb- vgl. auch ThlL IX,2 [1978], Sp. 906 s.v. orbis) - eine einleuchtende Konjektur von Bentley für das überlieferte respondere (LM) bzw. res pendere (G). Wenig überzeugend ist wegen der Unschärfe des Ausdrucks Breiters (Π [K 1908], 179) Entscheidung für res pondere im Sinne von »eine bedeutsame Schöpfung am Himmel«. 65 Vgl. Lühr (1969), 68: »keine Frage, daß sich die Verse für einen Buch- und Werkschluß vortrefflich eignen«; außerdem Romano (1979), 69f. und 72; Hübner (1984), 248. Gegen das überlieferte Ende als tatsächlichen Schluß der Astronomica z.B. v. Wageningen, RE XIV, 1 (1928), Sp. 1123 s.v. Manilius; Schanz-Hosius Π (41959), 440; Housman V (Ed 21937), XLVI; wenig überzeugend auch die Argumentation von Reeh (1973), 156: Die letzten drei Verse brächten »eine astronomische Erläuterung, die die auflockernde Wirkung der vorhergehenden Vergleiche zerstört« und seien daher als Werkschluß nicht geeignet.

236

Manilius

nis endet.66 Die Buchschlüsse von Georgica 1 und Astronomica 5 ähneln sich auch insofern, als in beiden eine - irdische oder kosmische - Katastrophe beschrieben wird: Im ersten Georgicabuch das Wüten der Bürgerkriege, im fünften Buch der Astronomica ein Weltenbrand, der bei einem Uberschuß von kosmischem Feuer entstehen könnte. Dennoch bestehen wesentliche Unterschiede. Zum einen ist der Gleichnisblock bei Manilius mit elf Versen beinahe viermal so lang wie das Schlußgleichnis des ersten Georgicabuches und wirkt bereits durch seine Länge eher reflektierend und retardierend denn dynamisch wie das Bild vom durchgehenden Gespann. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, daß Manilius seinen Gleichnisblock im Gegensatz zu Vergil mit einer Antapodosis beschließt, auf die außerdem eine Art >Reflexion< im Umfang von sechs Versen folgt. Die kosmische Katastrophe, die Manilius am Schluß des fünften Buches ausmalt, ist nicht real wie der Bürgerkrieg bei Vergil, sondern nur hypothetisch und deswegen ausgeschlossen, weil die Natur selbst entsprechende Vorkehrungen getroffen hat. Das fünfte Buch der Astronomica endet dementsprechend harmonischer als das erste Georgicabuch. Manilius spielt also zwar auf Vergil an, setzt seine Ausführungen aber zugleich formal und inhaltlich deutlich von denen seines Vorgängers ab. Aber nicht nur dem Schluß des ersten Georgicabuches, sondern vor allem dem Gleichnisblock im ersten Buch der Astronomica stehen die Verse im fünften in mehrfacher Hinsicht nahe. Wie schon im ersten bilden die Gleichnisse auch im fünften Buch den Ubergang von einer darstellenden (der Einteilung der Sterne in verschiedene Helligkeitsklassen) zu einer reflektierenden Partie (der Annahme einer kosmischen Katastrophe). Auch an dieser Stelle ist das Licht der Sterne Ausgangspunkt der Vergleichungen. Während die Milchstraße jedoch nach Manilius' Darstellung unübersehbar hell ist, sind die Sterne des imus census nur unter bestimmten Voraussetzungen zu beobachten, nämlich dann, wenn weder Orion noch die Planeten noch der Mond den nächtlichen Himmel allzu sehr erhellen (5,721-725). Bei diesen Versen, mit denen Manilius die lichtlose Nacht schildert, handelt es sich interessanterweise um eine nahezu wörtliche Übersetzung der Verse, mit denen Arat in den Phainomena seine Beschreibung der Milchstraße einleitet.67 Durch die Arat-Reminiszenz stellt 66 Vgl. Hübner (1984), 256. Zum Schlußgleichnis des ersten Georgicabuches ausführlich oben S. 205 m. Anm. 204 (dort auch zur Bedeutung von Gleichnissen am Buchschluß allgemein). 67 Arat. Phaen. 469-472: « τότε τοι νυκτός καϋαρης, ore τάντας άγαυους / αστέρας άνϋρώτοις ετιδείκ,νυται ye κνίφαος διαφαίνεται

ούρανίη Νύξ, / οΰδί τις άδρανεων φέρεται διχόμηνι σεΧήνη, / ά λ λ α τά οξία ττάντα.

Manilius

237

Manilius also die Ausführungen zur Milchstraße im ersten Buch mit denen zu den verschiedenen Sternklassen im fünften Buch zusammen. Diese Verbindung vom ersten und fünften Buch ist programmatisch, wie sich im folgenden zeigen wird. Der Gleichnisblock selbst ist wiederum deutlich zweigeteilt. Zunächst vergleicht Manilius mit dreimaligem Neueinsatz (nec cedere ... quot ... quot) die letztlich nicht meßbare Zahl der Sterne mit der unermeßlichen Zahl von Blüten, Sand, Meeresfluten und Blättern. Das Mehrfachgleichnis erinnert an die priamelhaften 68 Vergleichungen am Schluß des vierten Buches (4,924-930), wo Manilius - ebenfalls in drei Schritten - die überragende Fähigkeit des Verstandes an dem Wert von Gold, Diamanten und schließlich der Fähigkeit des Auges mißt, den Kosmos zu erkennen. Das zweite Gleichnis hingegen geht nochmals auf den Lehrstoff des vorausgegangenen Abschnittes zurück. Die unterschiedliche Lichtqualität der Sterne wird mit der Ständeordnung des römischen Volkes in Beziehung gesetzt. Während also das erste Gleichnis quantifizierend ist, ist das zweite in seiner Grundtendenz eher qualifizierend, mag es auch »formal das letzte Glied ... zur Veranschaulichung der Vielzahl« sein.69 Der unterschiedlichen Ausrichtung der beiden Gleichnisse entspricht auch die Form, in der sie vom Dichter präsentiert werden: Das qualifizierende Gleichnis (734-739) bietet in einer kompakten, vier Verse umfassenden Parabole einen nüchternen Abriß der römischen Ständeordnung. Dagegen spiegeln die zunächst negativ (nec cedere [729]) und erst in einem zweiten Ansatz positiv (sed, quot [731]) formulierten quantifizierenden Gleichnisse mit ihren zahlreichen verschiedenen Motiven bereits äußerlich das Ringen des Dichters mit seinem Stoff wider. Er muß mehrmals ansetzen, ohne daß es ihm gelingt, ein angemessenes Vergleichsmotiv für die riesige Menge der Sterne zu finden, deren Zahl letztlich doch alles andere übersteigt: amplius hoc ignes numero volitare per orbem (733).70 Bleiben wir zunächst bei den quantifizierenden Gleichnissen, mit denen Manilius den Gleichnisblock eröffnet. Die unfaßbar große Zahl der Sterne wird mit insgesamt vier verschiedenen Gegenständen analogisiert: Blüten, Sand, Wellen und Blätter. All diese Dinge stehen auch sonst in der literarischen Tradition für Unüberschaubares und zahlenmäßig nicht Erfaßbares. Sand und

68 Vgl. die Definition bei Kröhling (1935), 19. 69 Hübner (1984), 258. 70 Vgl. Reeh (1973), 156.

238

Manilius

Wellen gelten sogar sprichwörtlich als unzählbar/ 1 Die Vergleichungen lassen deshalb zunächst an jene Stelle im zweiten Georgicabuch denken,72 an der Vergil den Katalog der Weinsorten mit einem Verweis auf ihre Unzählbarkeit abbricht (Verg. georg. 2,103-108): 103 105 108

sed neque quam multae species nec nomina quae sint est numerus, neque enim numero comprendere refert; quem qui scire velit, Libyci velit aequoris idem dicere quam multae Zephyro turbantur harenae aut, ubi navigiis violentior incidit Eurus, nosse quot Ionii veniant ad litora fluctus.

Sowohl das Motiv >Sandkörner< (harenae) als auch das Motiv >Wellen< {fluctus) kehrt bei Manilius an derselben Stelle im Vers - am Versschluß - wieder. In der Formulierung quot eant ... fluctus (731) nimmt Manilius möglicherweise sogar das vergilische quot veniant ... fluctus (georg. 2,108) auf. Wie bei Vergil beschließen auch bei Manilius die Gleichnisse eine katalogartige Aufzählung, so daß der didaktische Rahmen, in dem die Vergleichungen stehen, bei den beiden Dichtern ähnlich ist. Da das fünfte Buch des Manilius auch sonst in seiner ποικιλία mit dem >heiteren< zweiten Georgicabuch verwandt ist,73 dürften diese Ubereinstimmungen wohl kaum auf einem Zufall beruhen. Dennoch unterscheiden sich die beiden Vergleichungen in Konzeption und Durchführung auffällig voneinander. Zum einen benötigt Manilius gegenüber Vergil bei gleicher Verszahl die doppelte Anzahl von Bildern, um die riesige Menge der Sterne zu veranschaulichen. Er deutet so die Quantität seines Lehrstoffes im Verhältnis zu seinem Vorgänger an. Obgleich die Motive >Sand< und >Wellen< bei Manilius ebenso wie bei Vergil aufeinander folgen und sachlich zusammengehören, sind sie syntaktisch voneinander getrennt. Die Sandkörner gehören zusammen mit den Blüten zum >negativenpositivenBlüten< und >Blätter< verweist Manilius auf die heroischepische Tradition. Bereits im zweiten Gesang der Ilias umschreibt der Dichter die Masse des in der Skamanderebene aufmarschierten Achaierheeres mit dem wirkungsreichen Vergleich 2,46s).

77

δσσα

tc

φύλλα

και άνϋβα yiyverai

ωρη

(Horn. Ii.

Daneben findet sich aber auch die Kombination von Blättern oder

Blüten mit Wellen oder Sand.78 Nicht nur durch die Motive der quantifizierenden Gleichnisse und die Art ihrer Präsentation, sondern auch durch ihre Kombination schafft der Dichter also an dieser Stelle episches Kolorit. Die motivisch-strukturellen Anklänge an das heroische Epos lassen jedoch die Unterschiede um so deutlicher hervortreten. So eng sich Manilius auch an die heroisch-epische Tradition anlehnt, was die Auswahl und der Präsentation der Vergleichsmotive angeht, so wenig entspricht der Kontext, in dem die Gleichnisse bei ihm erscheinen, den heroisch-epischen Vorgaben. Ebensowenig wie die Rebsorten, deren Unzählbarkeit Vergil in den Georgica hervorhebt, werden im heroischen Epos Sterne mit Gleichnissen belegt. Sterne sind vielmehr selbst sprichwörtlich für eine unermeßliche Vielzahl und erscheinen daher nicht selten in quantifizierenden Gleichnissen.75 Manilius vergleicht also 74 Vgl. Lühr (1969), 69. 75 Siehe oben S. 199. 76 Blüten: Horn. Π. 2,468; Sand: Horn. Π. 2,800; Wellen: Horn. Π. 11,305-309; Blätter: Horn. II. 2,467f.; 21,464; Od. 9,51; vgl. McCartney (1960), 79-83. 77 Vgl. auch Horn. Od. 9,51; Val. Fl. 6,167 (mit dem umfangreichen Verzeichnis der Vorbilder bei Gärtner [1994], 331, die allerdings die Manilius-Stelle nicht erwähnt). 78 Blüten und Wellen: Apoll. Rhod. 4,216-219 (bei Housman V [Ed 2 1937], 92 als Vorbild fur die Manilius-Stelle aufgeführt); Blätter und Sand: Horn. Π. 2,800f. 79 Vgl. Otto (1890), Nr. 1643 (sidus); Mc Cartney (1960), 83f.: Der älteste Beleg ist Horn. Ii. 8,555-561, wo die Zahl der Wachfeuer in der Skamanderebene mit der Zahl der Sterne verglichen wird, besonders wirkungsvoll (u.a. wegen des Binnenreims) auch Ov. ars 1,57-59: Gargara quot segetes, quot habet Methymna racemos, / aequore quot pisces, fronde teguntur aves,

240

Manilius

Gegenstände miteinander, die in der literarischen Tradition gewöhnlich auf derselben (Vergleichs-) Ebene stehen. Dadurch erscheint der Vergleich einerseits besonders plausibel und intensiviert den beim Leser ohnehin schon vorhandenen Eindruck unermeßlicher Fülle. Von allen bekanntermaßen unzählbaren Dingen sind die - ebenfalls bekanntermaßen unzählbaren - Sterne die unzählbarsten^ Entscheidend ist aber, daß Manilius an die Stelle der Menschen, auf die die Gleichnisse ursprünglich bezogen sind, die Sterne setzt, eine Identifikation, die wegen der zahlreichen Sterngleichnisse im heroischen Epos durchaus naheliegt.80 Dadurch kommt eine weitere Dimension in das Gleichnis hinein. Wie bei Lucrez die Atome81 und bei Vergil die Pflanzen und Tiere,82 so werden bei Manilius die Sterne mit den Heroen der epischen Dichtung gleichgesetzt. Vollends deutlich wird das in dem Vergleich, der den quantifizierenden Gleichnisblock abschließt (5,732f.): 732 733

quot delapsa cadant foliorum milia silvis amplius hoc ignes numero volitare per orbem.

Dieser Blättervergleich hat eine lange Tradition.83 In einem berühmten Gleichnis im sechsten Iliasgesang vergleicht Glaukos, als er auf dem Schlachtfeld seinem Gastfreund Diomedes begegnet, den Wechsel der Generationen mit dem Fallen von Blättern.84 Auch der Vergleich bei Manilius geht nicht nur auf die Masse der Sterne, sondern auch auf Werden und Vergehen, was auch in dem Gegensatz nascentes ... fluctus (731) u n d delapsa foliorum

milia (732) z u m Aus-

85

druck kommt. Das unmittelbare sprachliche Vorbild für den Blättervergleich / quot caelum stellas, tot habet tua Roma puellas, dazu Hollis Ov. ars I (K. 1977), 43: »A comparison with the stars in the sky for number is of course very common [...],« ferner Catull. 7,7f., dazu Kroll, Catull. (Κ 71989), 15 mit Verweis auf Call. hymn. Del. 4,175f.; Plat. Euthyd. 294b (Sand und Sterne werden verbunden). 80 So z.B. Horn. Ü. 22,317-319 (Abendstern übertrifft die übrigen Gestirne an Helligkeit); Apoll. Rhod. 1,240 (Heroen: Sterne in Wolken); 3,1359-1363 (Sterne am Winterhimmel); aber auch Lucr. 3,1043f. (Epikur: aufgehende Sonne, die die Sterne überstrahlt), ähnlich Ov. met. 2,722-725 (Sonne überstrahlt Sterne). 81 Siehe z.B. oben S. 80. 82 Siehe z.B. oben S. 157. 83 Vgl. McCartney (1960), 79f.; Norden, Verg. Aen. 6 (K 21916), 223; Thaniel (1971), 237-240. 84 Horn. D. 6,146-149 (ähnlich übrigens auch Π. 21,464-466): οιη irep φΰΚΚων ytvk-η, τοίη Se και άνδρων/ φΰΧΚα τα μίν τ' άνεμος χαμάδις χκι, άλλα δί ϋ' ύλη / τηΧίύόωσα ιρνα, eαρος δ' έτι·γί·γνεται ωρη· / ώς άνδρων yeveri ή μίν φΰΐΐ, ή δ' άτολήγβι. 85 Vgl. Hübner (1984), 258. Ausschließlich auf Werden und Vergehen ist das Bild der fallenden Blätter bei Horaz bezogen: ars 60-63: ut silvae foliis pronos mutanter in annos, / prima cadunt: ita verborum vetus interit aetas, / et iuvenum ritu florent modo nata vigentque. Der Vergleich der wechselnden Worte mit fallenden Blättern ähnelt unserer Manilius-Stelle

Manilius

241

bei Manilius liegt jedoch in einem Gleichnis im 6. Buch der Aeneis vor.86 Vergil beschreibt dort die Schar der Toten, die Aeneas am Ufer des Acheron entgegendrängt (Verg. Aen. 6,305-312): 305

310 312

hue omnis turba ad ripas effusa ruebat, matres atque viri defunetaque corpora vita magnanimum heroum, pueri innuptaeque puellae, impositique rogis iuvenes ante ora parentum: quam multa in silvis autumni frigore primo lapsa cadunt folia, aut terram gurgite ab alto quam multae glomerantur aves, ubi frigidus annus trans pontum fugat et terris immittit apricis.

Die Formulierung in silvis... / lapsa cadunt folia (Aen. 6,309f.) kehrt in delapsa cadant foliorum milia silvis (Manil. 5,732) beinahe wörtlich wieder. Ein Gleichnis, das bei Vergil auf die Schatten in der Unterwelt bezogen ist, wird von Manilius auf die Sterne am Himmel übertragen. Auch das Verbum volitare, mit dem Manilius in der Antapodosis die Bewegung der Sterne benennt, ist nicht nur ein Verweis auf das Vogelgleichnis, das in der Aeneis an das Blättergleichnis anschließt (Aen. 6,310-312), sondern vor allem ein >terminus technicus< für das Umherschwirren der körperlosen Seele.87 Die Sterne werden so durch den intertextuellen Bezug auf das sechste Buch der Aeneis mit den Schatten der Toten gleichgesetzt. Eine solche >Kontamination< von Himmel und Unterwelt findet sich auch schon im ersten Buch der Astronomica, wo Manilius die Milchstraße als Wohnstätte von Heroen deutet und einen nach dem Vorbild des sechsten Aeneisbuches gestalteten Heldenkatalog an den Himmel verlegt.88 Manilius stellt also an dieser Stelle - wiederum über einen intertextuellen Bezug - eine weitere Verbindung zum Ende des ersten Buches her. Sie läßt hier, am Schluß des gesamten Werkes, in hochpoetischer Form noch einmal die Weltanschauung des Dichters erkennen, der die Unterweltsbeschreibungen seiner Vor-

insofern, als auch Horaz ein Gleichnis des heroischen Epos (Kiessling-Heinze, Hör. ΠΙ [Κ 1959], 300 nennen als Vorbild Horn. H. 6,141-149) auf den Gegenstand seines Lehrbriefes überträgt und somit die Worte anthropomorphisiert. 86 Vgl. Cramer (1882), 68; Housman V (Ed 21937), 93; Liuzzi V (K 1997), 164. 87 So z.B. Lucr. 3,732; 4,42; Verg. Aen. 6,293; 6,329; Tib. 1,5,51; Ον. Met. 14,411; Lucan. 7,180: OLD Π (1976), 2098 s.v. volito: »applied to the imagined movement of disembodied souls«. Volitare von Himmelskörpern noch Manil. 1,200; 1,654; 1,806; 2,415. 88 Manil. 1,757-804; vgl. Hübner (1984), 229 m. Anm. 295 (mit früherer Literatur); allzu vorsichtig Goold (Ed 1977), XXXV: »inspired perhaps by the pageant at the end of Aeneid 6, though he does not repeat Virgil's success«. 6

242

Manilius

gänger ablehnt89 und den verstorbenen Menschen als Teilhabern am Weltνοΰς90 eher einen Platz in einer höheren Sphäre zuweisen will. Mit der resümierenden Antapodosis amplius hoc ignes numero volitare per orbem (732) sind die quantifizierenden Vergleichungen bereits formal von dem folgenden qualifizierenden Gleichnis abgesetzt. Manilius schwenkt hier zu einem gänzlich anderen Bereich über. Gegenstand des Gleichnisses sind die verschiedenen Klassen der römischen Gesellschaft, die für die unterschiedlichen Helligkeitsgrade der Sterne stehen: Senatoren {patres), Ritter (equester ordo), Volk (populus) sowie die namenlose Masse (vulgus iners et iam sine nomine turba).91 Der Leser wird so relativ unvermutet aus der Sphäre der belebten und unbelebten Natur in den konstitutionellen Bereich versetzt. Dieser Ubergang von dem einen zum anderen Gleichnismotiv ist kaum weniger abrupt als die zahlreichen Fälle von »violent iuxtaposition« von Haupt- und Gleichnistext,'2 die den Leser im heroischen Epos aus dem Erzählzusammenhang herausreißen und mit einer vollkommen anderen, bisweilen sogar konträren Welt konfrontieren. Auch in seiner Durchführung unterscheidet sich das Gleichnis von den vorausgegangenen Bildern. Auffällig ist seine Aktionslosigkeit, die in der Passivform discribitur (734) und dem statischen retinent (735) ihren sprachlichen Ausdruck findet. Manilius beschreibt keinen konkreten Vorgang, ja nicht einmal eine konkrete Situation, sondern ein abstraktes System, dessen wesentliche Merkmale gerade Kontinuität und Unveränderlichkeit sind.'3 Zwar sugge-

89 Vgl. Manil. 2,46-48: quin etiam tenebris immersum Tartaron atra / in lucem de nocte vocant orbemque revolvunt / interius versum naturae foedere rupto. 90 Vgl. Manil. 4,883-895, bes. 884-887: et capto potimur mundo nostrumque parentem /pars sua perspicimus genitique accedimus astris. / an dubium est habitare deum sub pectore nostro / in caelumque redire animas caeloque venire [...] t 91 Das Verständnis von Vers 737 vulgus iners videos et iam sine nomine turba hat Schwierigkeiten bereitet. Unklar ist hier, (a) ob vulgus und turba zwei eigenständige Klassen unterhalb des populus bezeichnen oder aber (b) auf einer Ebene stehen und eine einzige Klasse unterhalb des populus bilden, so daß sine nomine turbam lediglich eine Erklärung von vulgus iners darstellt. Für das Verständnis von et iam sine nomine turbam als Apposition zu vulgus iners überzeugend Paschoud (1982), 149-153, vgl. Manil. 1,471 stellarum vulgus, fugiunt sine nomine signa (Bentleys Konjektur von turba für das überlieferte signa, die Goold in den Text aufnimmt, ist nicht erforderlich, dazu Hübner [1984], 256 Anm. 397). Hier ist fugiunt sine nomine signa eindeutig als Apposition zu stellarum vulgus zu verstehen. Richtig auch die Ubersetzung der Stelle bei Fels (Ed 1990), 423: »wie der müßige Pöbel / tinter dem Volk steht und vollends ein namenloses Gewühl ist [...]«. 92 Vgl. Porter (1972). 93 Vgl. Landolfi (1991), 253: »Manilio ... non riesce a concepire un'immagine diacronica (e variabile) dello stato romano, convinto della bontä dell'immobilismo istituzionale.«

Manilius

243

riert er dem Rezipienten des Gleichnisses durch das an lucrezische Formulierungen erinnernde Verbum videos (737)94 die Möglichkeit zu unmittelbarer Wahrnehmung; in Wirklichkeit geht es ihm jedoch um geistiges Erkennen, das Einblick in eine abstrakte Ordnung gewährt. Im Gegensatz zu den vorausgehenden Bildern, welche die unüberschaubare und dadurch verwirrende Fülle der Sterne zeigen und somit den ersten Eindruck repräsentieren, den der Betrachter des nächtlichen Himmels bei seinem Anblick empfängt, dient das Staatsgleichnis Manilius dazu, in die zunächst verwirrende Vielfalt eine gewisse Ordnung und Systematik hineinzubringen. Die Perspektive wechselt also im Staatsgleichnis gegenüber den vorausgegangenen Bildern. Die quantifizierenden Gleichnisse zeigen den Himmel, wie er sich dem noch unbefangenen, das Staatsgleichnis hingegen, wie er sich dem kundigen Betrachter darbietet. Die Bedeutung des Gleichnisses geht jedoch noch weiter. Mit dem Vergleich von Kosmos und Staat nimmt Manilius ein traditionelles Bild auf, das in der philosophischen Literatur in verschiedenen Varianten begegnet.95 Er wechselt also nicht nur von der Natur in den menschlichen, sondern auch vom heroisch-epischen in den philosophischen Bereich. In den beiden großen staatstheoretischen Schriften der Antike, in Piatons Politeia wie auch in Ciceros De re publica, werden jeweils am Schluß des Werkes staatliche und kosmische Ordnung parallelisiert, wobei der wohlgeordnete Kosmos die überhöhte Form eines wohlgeordneten Gemeinwesens ist. Vor diesem Hintergrund kann etwa auch ein Dichter wie Lucan am Beginn seiner Pharsalia die vom Bürgerkrieg verursachte Zerrüttung des Gemeinwesens mit einer kosmischen Katastrophe vergleichen." Manilius kehrt den Vergleich um: Nicht mehr der Kosmos illustriert den Staat, sondern der wohlgeordnete Staat bildet das Universum ab.97 Aber auch die Vorstellung vom Kosmos als Staat ist in der philosophischen Tradition geläufig. In der Stoa gilt der Staat (wie übrigens auch der Körper, den

94 Vgl. z.B. Lucr. 2,41; 6,168; 6,650 (videos bei der Wahrnehmung eines konkreten Gegenstandes); Lucr. 1,664; 2,269; 4,572 (videos bei geistigem Erkennen). Im Gleichnis gebraucht Lucrez allerdings eher die 1. Person Plural des Indikativs (videmus/cernimus), dazu oben S. 92 m. Anm. 74. 95 Materialsammlung bei Pease, Cie. nat. deor. Π (Κ 1958), 950 zu 2,154; vgl. außerdem Flores (1982), 121; Hübner (1984), 255f. m. Anm. 396. 96 Lucan. 1,70-80; zu dem Gleichnis und seinen Beziehungen zu den Metamorphosen und dem unten S. 247f. besprochenen >Eröffnungsgleichnis< der Aeneis Lebek (1976), 48-50. Nichts über eine mögliche Beziehung des Gleichnisses zu Manilius bei Schwemmler (1916). 97 Vgl. Hübner (1984), 256.

244

Manilius

Manilius ebenfalls mehrfach mit dem Kosmos analogisiert)98 als mikrokosmisches Abbild des Makrokosmos Universum." Die Analogisierungen haben dort häufig eine theologische Komponente: Wie es sich bei einem Staatswesen um ein planvoll organisiertes Gebilde handelt, so ist auch der Kosmos das Produkt eines umsichtig planenden Schöpfergottes.100 Beide Aspekte schwingen aufgrund dieser philosophischen Tradition auch in dem Staatsgleichnis des Manilius mit. Der Vergleich mit einem Staatswesen reduziert zum einen den Kosmos auf eine überschaubare Größe; da Manilius allerdings in den vorausgehenden Bildern einen Eindruck von der unermeßlich großen Zahl seiner >Bewohner< zu vermitteln versucht hat, ist nur ein Staatswesen von gewaltigen Ausmaßen (ingentis101... urbes [734] in Korrespondenz mit magno quaedam res publica mundo [738]) als Vergleichsgegenstand für ihn geeignet. Zum anderen wählt Manilius gerade den Vergleich mit dem wohlgeordneten, streng hierarchisch gegliederten Staatswesen, weil dieses besonders gut die umsichtige Planung der Natur abbildet. Wichtig ist aber noch ein weiterer Aspekt. Es fällt auf, daß Manilius in dem Gleichnis trotz des allgemein gehaltenen Einleitungsverses utque per ingentis populus disaibitur urbes (734) konkret die soziale Hierarchie der Census-

98 So z.B. Manil. 1,17 praecordiarnundi;l,133f. (Sterne - oculi mundi; Kosmos - corpus)·, 1,725 (Milchstraße - cicatrix)·, 3,50f. diversaque membra / ordinibus certis sociaret corpus in unum. Die Verbindung von Kosmos und Körper ist mit der Verbindung Staat und Kosmos eng verwandt, da auch die Vorstellung von Staat - Körper geläufig ist (man denke z.B. an die Parallelisierung von Staat und Körper in der Parabel des Menenius Agrippa [Liv. 2,32,8-12], die ihrerseits auf griech. Vorbilder zurückgeht, vgl. Ogilvie, Liv. I-V [K 1965], 312 zu Liv. 2,32,8, ausführliche Untersuchung bei Hillgruber [1996], der S. 52-54 sogar eine stoische Vorlage vermutet), so daß das Staatsgleichnis auch die Parallelisierungen Kosmos - Körper absorbiert. Explizit verbunden werden die Bilder von Staat und Körper in Beziehung auf den Kosmos z.B. Sen. nat. 7,24,3: credis autem in hoc maximo et pulcherrimo corpore inter innumerabiles stellas, quae noctem decore vario distinguunt, quae minime vacuam et inertem esse patiuntur, quinque solas esse, quibus exercere se liceat, ceteras stare ftxum et immobilem populumf 99 Vgl. Lühr (1969), 70 m. Anm. 1 (dort auch weitere Literatur); Rolke (1975), 71-76; zuletzt Landolfi (1991), 248f. 100 Z.B. SVF Π, 1010, S. 301, 4-13, dazu Rolke (1975), 72 und 302. 101 Das Adjektiv ingens verleiht dem Gleichnis zudem eine epische Färbung, dazu Ingvarsson (1950). Auch Lucrez und Vergil verwenden das Wort in ihren Lehrgedichtgleichnissen, um diese episch zu färben, vgl. Lucr. 1,272 (in der Einleitung zum Sturzbach-Gleichnis) ingentisque mit navis et nubila differt (yenti vis), dazu oben S. 79 m. Anm. 37; Verg. georg. 2,279f. (Heeresgleichnis) ut saepe ingenti bello cum longa cohortis / explicuit legio, dazu oben S. 163. Ingens steht hier an derselben Stelle im Vers wie bei Manilius; es ist daher nicht ausgeschlossen, daß Manilius an dieses Gleichnis denkt und sein >Staatsgleichnis< als Gegenbild zum >Kriegsgleichnis< Vergils auffaßt.- Möglicherweise denkt Manilius darüber hinaus auch an die stoische Vorstellung vom Kosmos als μ^γαλόχολίς, vgl. SVF ΠΙ, 323 S. 79,38f. η μβν yap μτγαλόιτόΧις όδί ό κόσμος, dazu Landolfi (1991), 249.

Manilius

245

klassen im römischen Staat vor Augen hat, die er mit präzisen staatstheoretischen Termini technici beschreibt:102patres (735), equester /ordo (735f.), populus (736).103 Das Staatsgleichnis ist somit eines der wenigen Gleichnisse, die explizit auf die römischen Verhältnisse Bezug nehmen. Das hängt zum einen damit zusammen, daß das Gleichnis in einem Epilog steht: »Manilio ama inserire osservazioni di carattere politico negli epiloghi«.104 Es ist jedoch noch mehr als das. Manilius setzt die griechische Interpretation von den Sternen der Lychnopolis als Phyleten und Archonten, wie sie uns Plutarch überliefert,105 für seine römische Leserschaft um. Zugleich erfährt die römische res publica dadurch an dieser Stelle eine enorme Aufwertung. Nicht jedes beliebige Staatssystem, sondern allein der römische Staat kann nach Manilius' Auffassung als irdisches Gegenstück zum Sternenstaat herangezogen werden, den die Natur so wohlüberlegt eingerichtet hat. Hier zeigt sich bereits, daß zwischen Gleichnis und Haupttext eine Wechselbeziehung besteht, denn dadurch, daß Manilius das Bild des römischen Staates wählt, um den Lehrstoff zu systematisieren, macht er zugleich deutlich, daß er diesen Staat allein als der Kosmopolis ebenbürtig erachtet. Die Wechselbeziehung zwischen Bild und Sache ist auch wichtig für den folgenden Gedanken. Im Anschluß an die Gleichsetzung von Kosmos und Staat in einer kurzen, lediglich resümierenden Antapodosis (magno quaedam res publica mundo est [738]) nimmt Manilius in einem zweiten Ansatz nochmals vergleichend das Bild der römischen Ständeordnung auf (5,740-745): 740

745

sunt stellae procerum similes, sunt proxima primis sidera, suntque gradus atque omnia fvictaf priorum: maximus est populus summo qui culmine fertur; cui si pro numero vires natura dedisset, ipse suas aether flammas sufferre nequiret, totus et accenso mundus flagraret Olympo.

102 Vgl. Landolfi (1991), 250. 103 Zur Polysemie von populus in diesem Abschnitt vgl. Landolfi (1991), 251. - Kaum herauszulesen ist aus der Tatsache, daß der Princeps Augustus in dieser Ständeordnung nicht erwähnt ist, eine latente Kritik an der Staatsform des Prinzipats, wie Flores (1966), 89 Anm. 71 und (1981), 127 sowie Baldini Moscadi (1981), 68f. es wollten; dagegen Salemme (1983), 65-67; Landolfi (1991), 255-258. 104 Romano (1979), 71. 105 Plut. de comm. not. 34, p,1076f. ( - SVF Π 645, S. 194, 16-20): άλλα μην τον ye

κόσμον elvai τολιν και τολίτας τους άστίρας, ei δί τοϋτο, και φυλίτας καΙ άρχοντας δηλονότι και βουλεντην τον ήλιον και τον eorepov τρντανιν η άστύνομον [...]; dazu ausführlich Rolke (1975), 303.

246

Manilius

In proceres, proxima prirnis und populus kehren die Kernbegriffe der Parabole wieder. Durch das Adjektiv similes (740) behält Manilius zunächst das vergleichende Verhältnis bei. Erst im folgenden gibt er den expliziten Vergleich zugunsten von Metaphern auf. An die Stelle der Ähnlichkeit tritt dadurch eine Identität der Gegenstände, wie es dem Wesen der Metapher entspricht.106 Zudem wird die Aufmerksamkeit des Lesers von der gesamten Ständeordnung auf die untere Volksschicht fokussiert, die zahlenmäßig die größte Gruppe ausmacht: maximus est populus summo qui culmine fertur (742). Der Dichter kehrt somit nicht nur zum letzten Glied seiner Klassifikation, der unzählbaren Menge schwach leuchtender Sterne vierten bis sechsten Grades (716-720), zurück, die den Ausgangspunkt des Gleichnisblocks gebildet hatte, sondern hebt nochmals die zahlenmäßige Überlegenheit {maximus [742]) hervor, durch die sich der stellarum populus auszeichnet. Diese quantitierende Angabe leitet über zu einer weiteren Reflexion, die der Dichter in Form einer irrealen Periode präsentiert: Wenn die Leuchtkraft der Sterne ihrer Masse entspräche, müßte es zwangsläufig zu einem Weltenbrand kommen, da der Kosmos einem derartigen Feuerüberschuß nicht gewachsen sei. Einen ähnlichen Gedanken hatte Manilius bereits im ersten Buch geäußert: Die Formen der Sternbilder sind nur angedeutet, da zuviel Feuer am Himmel wäre, wenn diese in ihrer vollen Gestalt abgebildet wären (l,461f.): non potent mundus sufferre incendia tanta, / si plenis ardebunt sidera membns.

omnia

Ein Sternbild wird daher durch nur wenige

helle Sterne umrissen. Manilius nennt an dieser Stelle eine andere Möglichkeit, einen Feuer-Uberschuß zu verhindern: Die lichtstarken Sterne dürfen nicht so zahlreich sein, daß sie den Kosmos abbrennen. Während im ersten Buch die Quantität zugunsten der Qualität aufgegeben ist, tritt am Schluß des fünften Buches die Qualität zugunsten der Quantität zurück. Die Qualität der lichtstarken Sterne wird im ersten Buch auch noch einmal eigens hervorgehoben (1,469-471): 469 470 471

praecipue, medio cum luna implebitur orbe, certa nitent mundo tum lumina: conditur omne stellarum vulgus, fugiunt sine nomine signa.

Mit Metapher stellarum vulgus für die lichtschwachen Sterne deutet Manilius auf das Staatsgleichnis voraus. Sein Augenmerk gilt an der früheren Stelle allerdings den Sternen der vorderen Helligkeitsklassen. Erst bei Vollmond kommt

106 Vgl. Aristot. Rhet. 3,10,1410bl7-20.

Manilius

247

das Licht dieser hellen Sterne richtig zur Geltung, da sie die einzigen sind, die gegen das Mondlicht bestehen können. Für ein leichtes Auffinden der Sternbilder bedarf es exakt der Bedingungen, welche die Beobachtung der Vielzahl aller Sterne verhindern. Der Schluß des fünften Buches und die Verse 469-471 des ersten Buches sind somit komplementär. Dementsprechend nimmt Manilius am Schluß des fünften Buches besonders die unteren Helligkeitsklassen in den Blick, die er an der früheren Stelle buchstäblich >ausgeblendet< hatte. Allerdings bekommen seine Ausführungen an der späteren Stelle durch das vorausgegangene umfangreiche Staatsgleichnis und die anschließenden Metaphern aus dem Bereich des Staatswesens eine besondere Transparenz. Die Wechselbeziehung zwischen Staat und Kosmos, die Manilius in den vorausgehenden Versen aufgebaut hat, legt es nämlich nahe, auch das, was von ihm als kosmischer Weltenbrand ausgemalt wird, auf den Staat zu beziehen: »Die Katastrophe am Himmel, die eintreten würde, wenn es die planvolle Hand der natura nicht gäbe, bedeutet auf der Erde Revolution«.107 Das Gleichnis wirkt in den Lehrstoff hinein und verleiht ihm eine politische Dimension. Daß Manilius an dieser Stelle eine potentielle Katastrophe im Gemeinwesen mitdenkt, ist noch aus einem anderen Grund wahrscheinlich. Das Staatsgleichnis berührt sich mit dem berühmten ersten Gleichnis der Aeneis (Verg. Aen. 1,148-156): 148 150

155 156

Ac veluti magno in populo cum saepe coorta est seditio saevitque animis ignobile vulgus; iam faces et saxa volant, furor arma ministrat: tum pietate gravem ac mentis si forte virum quem conspexere, silent arrectisque auribus adstant ille regit dictis animos et pectora mulcet: sie cunctus pelagi cecidit fragor, aequora postquam prospiciens genitor caeloque invectus aperto flectit equos curruque volans dat lora secundo.

Vergil vergleicht das von den entfesselten Winden aufgewühlte Meer und seine Besänftigung durch Neptun mit einem Volksaufstand, dem die Autorität eines durch seine pietas ausgezeichneten Mannes Einhalt gebietet.108 Auf den Beginn des ersten Parabole-Verses ac veluti magno in populo (Aen. 1,147) spielt Manilius in dem ersten Vers des Staatsgleichnisses utque per ingentis populus ... urbes

107 Lühr (1969), 70; ähnlich (allerdings mit Bezug auf das Paranatellonten-Buch) Hübner (1984), 256: »Zuviel Macht der unteren Schichten bedeutet eine kosmische Katastrophe«, zuletzt Landolfi (1991), 255 der konkret an »un secolo di guerre civili« denkt. 108 Zum programmatischen Charakter dieses Gleichnisses oben S. 83 Anm. 50 (dort auch weitere Literatur).

Manilius

248

(734) unüberhörbar an. Auch bei Vergil kommt es zu einem Aufstand der untersten Volksschicht (saevit animis ignobile vulgus [Aen. 1.149J, zu dessen Waffen das Feuer (faces [150]) gehört. Soweit stimmen die beiden Abschnitte überein. Inhaltlich unterscheiden sie sich dennoch auffällig voneinander. Vergil bietet im ersten Buch der Aeneis ein aktionsgeladenes Bild, Manilius hingegen eine Zustandsbeschreibung. Während Vergil die Konsolidierung des aus den Fugen geratenen Gemeinwesens beschreibt, in dem das ignobile vulgus über eine allzu große Machtfülle verfügt, schildert Manilius in seinem Gleichnis eine wohlgefügte Staatsordnung, in der die unteren Schichten zwar zahlreich, aber nicht gefährlich mächtig sind. So kann Manilius die Katastrophe, die bei Vergil tatsächlich eingetreten ist und nur unter besonderen Bedingungen, nämlich durch insignem pietate virum gebannt werden kann, in einem irrealen Satzgefüge (si... dedisset... nequiret ...flagraret) als lediglich vorgestellte Realität außerhalb des eigentlichen Gleichnistextes ausmalen. Der Schluß der Astronomica ist dadurch zwar ambivalent, aber nicht wirklich pessimistisch, denn die Natur selbst ist ja so eingerichtet, daß sie die Störung des kosmischen Gleichgewichts verhindert.

2. Gleichnisse im methodologischen Kontext Wie seine didaktischen Vorgänger Lucrez und Vergil unterbricht auch Manilius den Lehrtext bisweilen durch methodologische Zwischenbemerkungen, die den Stand der Untersuchungen klären, den Leser zum Weiterlesen ermuntern und über die Zielsetzungen seiner Dichtung informieren sollen. Diese Methodenverse sind ähnlich wie die entsprechenden Partien in den Georgica stark von lucrezischen Vorgaben geprägt. Manilius' Einstellung gegenüber den Gleichnissen im methodologischen Kontext ist allerdings weitaus weniger zurückhaltend als die seines Vorgängers Vergil. Das zeigt sich bereits daran, daß er anders als Vergil mehrfach auf lucrezische Methodengleichnisse zurückverweist. Er macht sich dabei zunutze, daß auch Lucrez seine methodologisch-reflektierenden Gleichnisse aus geläufigen Metaphern heraus entwickelt.109 Das Gleichnis im ersten Buch von De rerum natura, in dem der Dichter seinen Leser auf der Fährte der Erkenntnis mit einem scharf spürenden Jagdhund vergleicht, wird von Manilius an mehreren Stellen in seinem Lehrgedicht aufgenommen.

109 Siehe dazu oben S. 127f.; 138.

Manilius

249

So lassen die Aufforderung animum compone sagacem, mit der Manilius im 2,788 die Lehre von den cardines eröffnet,110 ebenso wie die Formulierung vestigia veri (3,247) an den Stichsatz denken, mit dem Lucrez das JagdhundGleichnis einleitet (verum animo satis haec vestigia parva sagaci /sunt [...] [Lucr. l,402f.]). Deutlicher noch schließt Manilius an denselben Abschnitt in der Einleitung zu der Lehre von den Dekanen an (4,368f.): altius est acies animi mittenda sagacis /inque alio quaerendum aliud [...]. Neben acies animi sagacis erinnert vor allem das Polyptoton inque alio ... aliud an alid ex alio in der Antapodosis des lucrezischen Gleichnisses (Lucr.1,407). Manilius greift an dieser Stelle möglicherweise ganz bewußt auf ein lucrezisches Gleichnis zurück, weil er die Lehre von den unsichtbaren Dekanen111 als dem in De rerum natura behandelten Lehrstoff besonders verwandt empfindet. Auch auf die Spannung zwischen realer und verstandesmäßiger Dunkelheit sowie Erleuchtung, wie sie in dem Kinderfurcht-Gleichnis (Lucr. 3,87-93) dargestellt wird, nimmt Manilius in demselben Abschnitt Bezug. Er bemerkt dort (4,308f.): quae tibi non oculis, alta sed mente fuganda est /caligo, penitusque deus, non fronte, notandus. Am Schluß des Abschnittes läßt Manilius seinen Leser in einem imaginären Einwand112 sagen (4,388f.): [...] in magna mergis caligine mentem, / cemere cum facili lucem ratione viderer. Manilius konstruiert an beiden Stellen einen ähnlichen Gegensatz wie Lucrez. Mit caligo ist nicht die konkrete, mit den Augen wahrnehmbare Finsternis gemeint, sondern mangelnde geistige Erkenntnis, die dementsprechend nicht mit der Sehkraft der Augen durchdrungen werden kann, sondern allein durch die Schärfe des Verstandes. Die Manilius-Verse lesen sich daher wie eine Replik auf die Quintessenz, die Lucrez aus seinem Gleichnis gewinnt: hunc igitur terrorem animae tenebrasque necessest / non radii solis neque lucida tela diet / discutiant, sed naturae species ratioque (Lucr. 3,91-93). Es ist bezeichnend, daß ein Bild, mit dem Lucrez dazu aufruft, die Seelenängste mit Hilfe der Philosophie Epikurs zu überwinden, von Manilius in einem Kontext verwendet wird, in dem er die Kenntnis kosmischer Gesetzmäßigkeiten mit Gotterkenntnis gleichsetzt.113 Ma110 Ahnlich auch Manil. 3,276: animo cognosce sagaci und 4,368 animi sagacis. Daß Manilius sich der ursprünglichen Bedeutung von sagax »scharf witternd« (siehe dazu oben S. 128) durchaus bewußt ist, zeigt ζ. B. Manil. 5,200 {catulos nutrire sagacis) und Manil. 5,709 (catulosque sagacis), wo das Wort auf Jagdhundwelpen bezogen ist. 111 Vgl. Manil. 4,363: haec ratio (i.e. die Lehre von den Dekanen) retegit latitantis robora mundi [...] 112 Vgl. Neuburg (1993), 273. 113 Vgl. Manil. 4,390-392: quod quaeris, deus est· conaris scandere caelum / fataque fatali genitus cognoscere lege / et transire tuum pectus mundoque potiri.

250

Manilius

nilius zeigt sich hier also in einer für die Astronomica typischen Kontrastimitation 114 als »positiver Antilucrez«.115 In explizit ablehnender Form nimmt Manilius andeutungsweise sogar das berühmte lucrezische Absinth-Gleichnis (Lucr. 1,935-950) auf. Im Proömium zum dritten Buch legt er dem Leser sein poetisches Programm dar (3,36-39): 36

39

hue ades, ο quicumque meis advertere coeptis aurem oculosque potes, veras et pereipe voces, impendas animum; nec dulcia carmina quaeras: ornari res ipsa negat contenta doceri.

Der Abschnitt, in dem diese Verse stehen, erinnert insgesamt bereits inhaltlich an Lucrez. Manilius betont die Neuheit des Stoffes, den er zu behandeln gedenkt, sowie die Schwierigkeiten, die sein Thema gegenüber den Themen des heroischen Epos mit sich bringt. Doch darf der Leser nicht dulcia carmina erwarten, wenn er Manilius' Astronomica zur Hand nimmt. Mit der Formulierung dulcia carmina scheint Manilius auf das Absinth-Gleichnis im Binnenproömium des ersten Buches von De rerum natura (1,936-950) anzuspielen. Nach Lucrezens Darstellung soll der »süße Honig der Musen« den Leser dazu bewegen, seine Ausführungen weiter zu verfolgen und dabei die heilsame Lehre Epikurs in sich aufzunehmen. Erst vor dem Hintergrund dieses Gleichnisses wird deutlich, wie sehr sich Manilius' Einschätzung seiner Lehrdichtung von der seines Vorgängers Lucrez unterscheidet. Für Lucrez nämlich ist der Wohlklang der Dichtung etwas Externes, außerhalb der Lehre Stehendes. Für Manilius hingegen bedarf der Lehrgegenstand keines zusätzlichen poetischen Schmucks,116 keines Honigs, der die Bitterkeit des Absinth vergessen läßt; der Lehrstoff selbst lehnt externen Schmuck ab (ornari res ipsa negat [39]), da er selbst schon ausreichende Schönheit besitzt.117 Der Lehre wird - zumindest an dieser Stelle118 - absoluter Vorrang vor der Dichtung eingeräumt.

114 Zur Kontrastimitation als Stilmerkmal der Astronomica vgl. Di Giovine (1978), 404: »nel senso della contrapposizione ideologica ed insieme dell'imitazione formale«; ähnlich Flores (1982), 124: »riuso per opposizione« (dort auch Hinweise auf grundlegende Literatur). 115 Vgl. Hübner (1984), 236: »Manilius' Sterngedicht hat nicht die missionarische, fast fanatische Härte eines Lucrez, sondern eine konziliante Weite [...]. Man sollte daher das Wort >Antilucrez< meiden oder zumindest so einschränken, wie es noch R. Heinze im Hinblick auf die Aeneis getan hat: »positiver Antilucrez« [Heinze fl915), 475]«. 116 Vgl. Landolfi (1990), 28.

117 Vgl. Manil. 4,436-442; bes. 438: nec fmgenda datur, tantum monstranda figura. 118 Vgl. Lühr (1969), 37f., der hierin eine Captatio benevolentiae sehen will; in Wirklichkeit statte Manilius sein Gedicht ebenso dichterisch-kunstvoll aus wie Lucrez. Entscheidend ist aber wohl, daß Manilius' Einstellung gegenüber der Dichtung eine andere ist als bei Lucrez und

Manilius

251

Neben diesen Rückgriffen auf methodologisch-reflektierende Gleichnisse des Lucrez verweist Manilius im methodologischen Kontext jedoch auch auf Gleichnisse, die in De rerum natura im didaktischen Kontext stehen. An das lucrezische Schiffbruch-Gleichnis, das ja auch eine Warnung des Dichters vor falscher, unepikureischer Lebensführung impliziert,119 will Manilius möglicherweise erinnern, wenn er die Grade als Folge fehlerhafter Trigonberechnungen »Schiffbruch« (naufragium) erleiden läßt.120 Eindeutig auf das zweite große Gleichnis, mit dem Lucrez die gegnerische Meinung ad absurdum führt, verweist Manilius im dritten Buch der Astronomica. Er weist hier auf die Bedeutung einer präzisen Aszendenten-Berechnung für die astrologische Lehre hin (3,206-210): 206

210

quod nisi subtili visum ratione tenetur, fundamenta ruunt artis nec consonat ordo; cardinibus quoniam falsis, qui cuncta gubernant, mentitur faciem mundus nec constat origo flexaque momento variantur sidera templi.

Eine nachlässige Berechnung des Aszendenten führt nach Manilius zu einem Zusammenbrach des gesamten Systems: fundamenta ruunt artis nec consonat ordo (297). Diese Formulierung erinnert an das Baukunst-Gleichnis im vierten Buch von De rerum natura (Lucr. 4,507-521), mit dem Lucrez seinem Leser vor Augen führen will, wie wichtig es ist, sich auf die Sinne als Mittel der Erkenntnis verlassen zu können: Falsche Sinneswahrnehmungen haben auf die Erkenntnis ähnlich katastrophale Auswirkungen wie eine schief angelegte Richtschnur beim Hausbau.121 Manilius überzeichnet das lucrezische Bild, denn nicht nur das Haus, das auf schadhaften Fundamenten steht, stürzt zusammen, sondern sogar das Fundament selbst. Indem er auf dieses sehr eindrucksvolle Gleichnis seines didaktischen Vorgängers Lucrez Bezug nimmt, weist er der Aszendenten-Berechnung den Rang zu, den bei Lucrez die Sinne haben. Da auch in der stoischen Philosophie die Sinne als unfehlbar galten,122 bedeutet diese Übertragung eine starke Aufwertung des Lehrgegenstandes, die seine ausgedehnte Behandlung (3,203-509) rechtfertigt. Erst die Kenntnis der literarizwar insofern, als die schöne Form im Gegenstand selbst begründet liegt und nicht von außen an ihn herangetragen werden muß. 119 Lucr. 2,549-566, dazu ausführlich oben S. 102-107. 120 Manil. 2,330: naufragium facient partes unius in ipsis. 121 Vgl. Lucr. 4,518: tarn ruere ut quaedam videantur velle, ruantque. 4,506 nennt er die Sinne fundamenta quibus nixatur vita salusque, dazu ausführlich oben S. 108-110. 122 Vgl. zur Forschungsdiskussion Neuburg (1993), 265 Anm. 43.

252

Manilius

sehen Tradition allerdings ermöglicht es dem Leser, die Bedeutung, die Manilius seinem Lehrstoff beimißt, vollständig zu erfassen. Die Beispiele zeigen, daß Manilius auf das Gleichnismaterial seines Vorgängers Lucrez nicht nur rekurriert, sondern es gezielt zur Auseinandersetzung mit dessen Ideologie einsetzt. Ein ähnliches Verhältnis zu den didaktischen Vorgängern läßt sich auch in dem Block von zwei großen Methodengleichnissen im zweiten Buch der Astronomica erkennen, der im folgenden betrachtet werden soll. Die beiden Gleichnisse bilden das Haupt- und Kernstück eines methodologischen Exkurses, den Manilius im zweiten Buch zwischen der Behandlung der verschiedenen Dodekatemorien und der Dodekatropos einschiebt. Den Vorgriff auf die im Lehrgedicht noch nicht systematisch behandelten Planeten, der sich durch die Behandlung des Planetendodekatemorions ergibt, bricht Manilius mit dem Versprechen ab, diesen Stoff an späterer Stelle noch ausführlicher darzulegen123; zunächst aber gelte es, die allgemeinen Grundlagen astrologischer Lehre zu erarbeiten (2,750-787): 750

755

760

765

770

verum haec posterius proprio cuncta ordine reddam; nunc satis est doeuisse suos ignota per usus, ut, cum pereeptis steterit fiducia membris, sie totum corpus facili ratione notetur et bene de summa veniat post singula carmen. ut rudibus pueris monstratur littera primum per faciem nomenque suum, tum ponitur usus, tum coniuncta suis formatur syllaba nodis, hinc verbi struetura venit per membra legendi, tunc rerum vires atque artis traditur usus perque pedes proprios nascentia carmina surgunt, singulaque in summam prodest didicisse priora: quae nisi constiterint primis fundata elementis, versaque quae propere dederint praeeepta magistri, effluat in vanum rerum praeposterus ordo sie mihi per totum volitanti carmine mundum erutaque abstrusa penitus caligine fata, Pieridum numeris etiam modulata, canenti quoque deus regnat revocanti numen in artem, per partes ducenda fides et singula rerum sunt gradibus tradenda suis, ut, cum omnia certa notitia steterint, proprios revocentur ad usus, ac, velut, in nudis cum surgunt montibus urbes, conditor et vaeuos muris circumdare colles 123 Zu diesem Planeten-Plan ausführlich Hübner (1984), 245-247.

Manilius

253

destinat, ante manus quam temptet scindere fossas, vertit124 opus: ruit, ecce, nemus, saltusque vetusti procumbunt solemque novum, nova sidera cernunt, pellitur omne loco volucrum genus atque ferarum, antiquasque domos et nota cubilia linquunt, ast alii silicem in muros et marmora templis rimantur, ferrique rigor per ftempora notaf quaeritur: hinc artes, hinc omnis convenit usus tum demum consurgit opus, cum cuncta supersunt, ne medios rumpat cursus praepostera cura, sic mihi conanti125 tantae succedere moli materies primum rerum, ratione remota, tradenda est, ratio ne sit post irrita neve argumenta novis stupeant nascentia rebus.

775

780

785 787

Mit insgesamt 33 Gleichnisversen bietet der methodologische Exkurs des zweiten Buches die unseren Kenntnissen nach ausgedehnteste Gleichnispartie antiker Lehrdichtung. Aufgrund seiner außergewöhnlichen Länge soll der gesamte Abschnitt als Grundlage für alle weiteren Interpretationen zunächst einmal gegliedert und paraphrasiert werden. E r zerfällt in zwei Teile von ungleicher Länge: I.

2 , 7 5 0 - 7 5 4 : In einer kurzen allgemeinen Vorbemerkung begründet der

Dichter, weshalb er das Planetendodekatemorion erst an späterer Stelle erklären

124 Die Stelle bleibt textkritisch unsicher. Die Konjektur fervet bzw. fervit von Woltjer [1881], 86) bzw. Ellis ([1891], 63, in Anschluß an Verg. georg. 4, 169) für das überlieferte vertit, die von Housman Π (Ed 21937) und Goold (Edd 1977 und 1985) in den Text aufgenommen wird, kann nicht überzeugen, da die Parenthese, die durch diese Konjektur entsteht, im Kontext unmotiviert wirkt und das Verbum fervere eher zu einer Massenszene paßt (vgl. Feraboli/Flores/Scarcia [K 1996], 352). Die Kommentatoren Feraboli und Scarcia (fK 1996], 352) glauben, daß Manilius vertit opus im Sinne von vertit aratrum verstanden wissen wollte, müssen allerdings selbst einräumen, daß diese Formulierung »rimane di apprezzabile durezza metaforica«. Die Bedeutung der Stelle muß etwa sein: »Er trifft die notwendigen Vorarbeiten«. 125 Conanti ist überzeugende Konjektur von Markland (vgl. Goold [Ed 1985], 54) für das handschriftlich überlieferte cunctanti, das Lühr (1969), 54 Anm. 2 im Text belassen will, da in cunctantt »das zögernde, fast furchtsame Beginnen gut zum Ausdruck« komme. Meines Erachtens will Manilius aber nicht sagen, daß »die Aufgabe ... so gewaltig« ist, »daß Zweifel an der Durchführung aufkommen« (Lühr [1969], ebenda), sondern allerhöchstens, daß die Stoffmasse so unglaublich groß ist, daß ihre Bewältigung nur ein zaghafter Versuch sein kann, der nur dann gelingen wird, wenn man das Material gut strukturiert. In diese Richtung geht auch der Vorschlag von Scaliger (Ed [1579], 120) an dieser Stelle tentanti zu lesen. Tentanti macht aber gegenüber conanti den größeren Eingriff in den Text erforderlich; zudem begegnet conari in methodologischem Kontext bereits bei Lucrez: 1,25 qtios ego de rerum natura pangere conor, 6,768 nam de re nunc ipsa dicere conor, auch in dem Absinth-Gleichnis 1,937 cum dare conantur (sc. medentes).

254

Manilius

wird. Voraussetzung für das Verständnis des Gesamtkörpers (totum corpus [753J sei die gründliche Kenntnis seiner einzelnen Glieder (membris [752J). II. 2,755-787: Die Methode des schrittweisen und systematischen Voranschreitens im Stoff wird in zwei Gleichnissen beschrieben: (1) 2,755-771: Kinder lernen lesen, indem man ihnen zunächst den einzelnen Buchstaben, sein Aussehen, seinen Namen und seinen Lautwert vorführt, dann die Verbindung einzelner Buchstaben zu Silben und von Silben zu vollständigen Wörtern vermittelt und schließlich deren richtige Verwendung im Satz sowie die Grundprinzipien der Metrik lehrt, so daß am Ende die Lektüre von Dichtertexten stehen kann. Wenn der Lehrer diese Reihenfolge nicht strikt einhält, riskiert er, daß keine seiner Bemühungen zu einem Lernerfolg führt. (2) 2,772-787: Vor dem Bau einer neuen Stadt muß das Gelände vorbereitet, das Walddickicht gerodet126 und Baumaterial sowie Gerätschaften bereitgestellt werden, damit der Fortgang der Arbeiten nicht unnötigerweise unterbrochen werden muß und sich dadurch verzögert. Betrachten wir zunächst den Kontext, in dem Manilius die beiden Gleichnisse verwendet. Seiner Konzeption nach steht der Abschnitt in der Tradition lucrezischer Methodenverse, da in ihm nicht direkt Lehrstoff vermittelt, sondern das Verfahren seiner Präsentation durchsichtig gemacht wird. Manilius hat hier mehrere Lucrezstellen kombiniert. Zum einen rekurriert er mit dem Abschnitt auf das Binnenproömium im ersten Buch von De rerum natura, in dem Lucrez sich zum Verhältnis von Dichtung und Lehre in seinem didaktischen Epos äußert (Lucr. 1,921-950).127 Der methodologische Exkurs im zweiten Buch der Astronomica hat nicht nur beinahe dieselbe Länge wie das lucrezische Binnenproömium, er erscheint auch an einer ganz ähnlichen Stelle in der Gesamtkomposition des Buches, da er wie das lucrezische Binnenproömium zwei große Lehrabschnitte voneinander trennt. Der erste Teil des zweiten Astronomica-Buches beschäftigt sich mit den Beziehungen der Tierkreiszeichen untereinander, während der an den methodologischen Exkurs anschließende Abschnitt über die Dodekatropos die verschiedenen Räume behandelt, die der Tierkreis durchläuft: »Es handelt sich also um ein festes Raster und nur dann

126 Housman Π (Ed 21937), 128 versteht die Stelle anders: »non areae faciendae causa urbi in nudis montibus et vacuis collibus (772sq.), surgenti [sc. ruit nemus], verum ut suppetat materies, sicut 779sq. saxum effoditur.« Diese Interpretation erscheint mir allerdings nicht überzeugend, da in der vergilischen Vorlage (georg. 2,207-211) eindeutig vom Roden des Hains zur Gewinnung von Ackerland die Rede ist. 127 Vgl. Romano (1978), 121f.

Manilius

255

um die Tierkreiszeichen des Zodiakos, wenn man den Sternenstand eines bestimmten Zeitpunktes fixiert.«128 Hinzu kommt eine weitere Lucrezreminiszenz. In der Einleitung zu dem Dodekatemorion-Kapitel (dem Kapitel, das dem methodologischen Exkurs unmittelbar vorausgeht) entschuldigt sich Manilius bei seinem Leser dafür, daß er diesen Lehrstoff nur mit einem griechischen Fremdwort benennen könne (2,693-695): Perspice nunc tenuem visu rem, pondere magnam / et tantum Graio signari nomine passam /dodecatemoria [...]. Ganz ähnlich führt Lucrez die Homoiomeria-Theorie des Anaxagoras ein, die seinem poetischen Dichterbekenntnis im ersten Buch von De rerum natura vorausgeht (Lucr. 1,830-832): Nunc etAnaxagorae scrutemur homoeomerian /quam Grai memorant nec nostra dicere lingua / concedit nobis patrii sermonis egestas.12' Durch den Verweis auf Lucrez wird bereits an dieser Stelle ein methodologischer Exkurs angekündigt. Neben diesen kompositorisch-strukturellen Rückgriffen auf das erste Buch von De rerum natura nimmt Manilius jedoch in dem Exkurs selbst noch auf eine weitere Lucrezstelle Bezug. Im Anschluß an den großen Lehrvortrag im ersten Buch seines Lehrgedichts tut Lucrez seinen Willen zum Verzicht auf bis ins Unendliche ausgedehnte Beweisreihen kund (Lucr. l,402f.): verum animo satis haec vestigia parva sagaci / sunt per quae possis cognoscere cetera tute. Ahnlich wie jene Lucrezstelle wird auch der methodologische Exkurs bei Manilius mit verum haec eingeleitet130 und enthält eine Abbruchformel (satis), die den Leser auffordert, sich zunächst einmal mit dem bisher vermittelten Stoff zufriedenzugeben. Das an sich unpoetische Adverb posterius (750) ist ebenfalls ein lucrezisches Wort.131 Auch mit dem Vers, der im Anschluß an den methodologischen Exkurs die Lehre von den cardines einleitet, spielt Manilius eindeutig auf die oben zitierten Lucrezverse an (2,788f.): Ergo age noscendis animum compone sagacem / cardinibus [...]. Für den methodologischen Exkurs kombiniert Manilius also zwei methodologisch-reflektierende Abschnitte des Lucrez, die beide jeweils ein Gleichnis enthalten. Daß Manilius in seinem Exkurs zwei Gleichnisse verwendet, erklärt sich daher möglicherweise aus seinem Bestreben, die lucrezischen Vorbilder an dieser Stelle zusammenzu-

128 Hübner (1995 Π), 6. 129 Vgl. Steele (1932), 323. Weitere Hinweise auf griechische Terminologie in den Astronomica: 2,897 (Daemonia); 3,162 (athla); 4,818 (ecliptica), 4,298 (Decania)·, 5,646 (Engonasin). 130 Vgl. aber auch die Abbruchformel Verg. georg. 4,147f.: verum haec ipse equidem spatiis exclusus iniquis /praetereo [...] 131 Vgl. Leo, Culex (Ed 1891), 28 zu V. 8: »adverbium non poeticum, sed Lucretio usitatum; Manil. 2,750«.

256

Manilius

führen, auch wenn die Gleichnisse von ihren Motiven her den lucrezischen Gegenstücken nicht entsprechen. Dadurch entsteht allerdings bei Manilius ein starkes Ubergewicht der Gleichnisse gegenüber dem Haupttext. Während sowohl in der methodologischen Zwischenbemerkung als auch in dem Binnenproömium des Lucrez die Gleichnisse nie mehr als die Hälfte des Abschnittes ausmachen, besteht der Exkurs bei Manilius abgesehen von der kurzen einleitenden Bemerkung ausschließlich aus Gleichnisversen. Wenden wir uns nun den beiden Gleichnissen zu. Bereits das erste Gleichnis ist mit insgesamt 17 Versen sogar noch zwei Verse länger als das überaus umfangreiche Absinth-Gleichnis des Lucrez.132 Die mit 10 Versen ebenfalls ungewöhnlich ausführliche Parabole weist eine deutliche Zweiteilung auf. Manilius gibt zunächst einen Abriß des griechisch-römischen Elementarunterrichts (755-760), der vom einzelnen Buchstaben zu Silben, Worten und schließlich ganzen Dichterwerken fortschreitet.133 Der Lernfortschritt kommt in dem Genus-Verbi-Wechsel von monstratur (755) zu perque pedes proprios nascentia carmina surgunt (760) deutlich zum Ausdruck. Es fällt auf, daß Manilius die einzelnen Verbindungen zwischen Buchstaben, Silben und Wörtern, die im Elementarunterricht sukzessive erarbeitet werden, mit Metaphern aus verschiedenen Bereichen charakterisiert. Die Verbindung zwischen den Buchstaben bezeichnet er wie die Verknüpfungen eines Gewebes als nodi (suis formatur syllaba nodis [757]); die einzelnen Silben wie Teile des menschlichen Körpers als membra (verbi ... per membra legendi [758]). Der Begriff structura schließlich, mit dem die Zusammenfügung der einzelnen Silben zu ganzen Worten bezeichnet wird, entstammt dem Bauwesen.134 Diese wie auch die anderen Metaphern sind zwar im lateinischen Sprachgebrauch durchaus etabliert, so daß sie den Rezipienten des Buchstabengleichnisses nicht jäh aus dem Bild herausreißen; es wird jedoch zu zeigen sein, daß sie für die Fernbezüge zwischen Gleichnis und Haupttext wichtig sind. Der zweite Teil der Parabole (761-765) bietet nicht mehr eine konkrete Beschreibung, sondern die theoretische Auswertung der zuvor skizzierten Vorgehensweise. Manilius betont zunächst die Tatsache, daß für das Erfassen der Gesamtheit die Kenntnis der einzelnen Elemente von Nutzen ist; im Anschluß

132 Siehe oben S. 133. 133 Vgl. Plat. Prot. 325e-326a; Dionys. Hai. Demosth. 52; Dionys. Hai. de compos. 211 S. 135 Us. Rad.; Aug. ord. 2,24; zu den einzelnen Schritten beim Lesenlernen im antiken Unterricht Marrou (1950), 221-226. 134 Vgl. die ausführliche Untersuchung von Lieberg (1956).

Manilius

257

daran stellt er dem Adressaten seines Lehrgedichtes vor Augen, welche negativen Auswirkungen eine unsachgemäße und überstürzte Ausbildung zwangsläufig haben muß: Wo die Grundlage fehlt, sind alle weiteren Bemühungen müßig. Es fällt auf, daß Manilius auch diesen Sachverhalt mit Hilfe einer Metapher aus dem Bauwesen beschreibt. Die Formulierung primis fundata elementis (762) läßt an die Fundamentierung eines Gebäudes denken. In versaque ... praecepta (763) schwingt dementsprechend die Vorstellung vom Einsturz desselben, unsachgemäß errichteten Gebäudes mit, zudem ein Kontrast zu carmina surgunt (760), dem Ergebnis einer sinnvollen Ausbildung. Manilius denkt möglicherweise wiederum an das lucrezische Hausbau-Gleichnis (Lucr. 4,507-521), in dem ja ebenfalls der Einsturz eines Gebäudes beschrieben wird, dessen Fundament schief gelegt ist. Vor allem wird aber durch die Verwendung von Metaphern die abstrakte methodologische Reflexion für den Leser gegenständlich gemacht. Neben der Reminiszenz an das lucrezische Gleichnis vom falschen Hausbau lassen sich aber noch weitere Bezüge zur literarischen Tradition erkennen. Der Vergleich des in astrologischer Lehre noch unsicheren Lesers mit leseunkundigen Kindern (ut rudibus pueris [755]) nimmt Lucrezens Gleichsetzung des Lesers mit einem unmündigen Kind im Kinderfurcht- und im Absinth-Gleichnis auf.135 Die Anspielung auf Lucrez wird noch dadurch unterstrichen, daß die pueri in dem manilianischen Gleichnis nicht nur an derselben Stelle im Vers vor der Penthemimeres, sondern auch im selben Kasus erscheinen wie in dem Absinth-Gleichnis: sed veluti pueris (Lucr. 1,936); ut rudibus pueris (Manil. 2,755). Manilius eröffnet sein Gleichnis somit geradezu programmatisch mit dem Verweis auf den älteren seiner beiden didaktischen Vorgänger. Es ist dies der erste für uns greifbare Fall in der didaktischen Poesie, in dem ein Lehrdichter in einem Gleichnis nicht auf ein erzählend-episches, sondern auf ein didaktisches Gleichnis reagiert. Doch dient der Verweis auf das lucrezische Gleichnis Manilius vor allem dazu, sich von seinem didaktischen Vorgänger abzusetzen. So ist das Verhältnis Dichter - Leser bei ihm vollkommen verändert: Manilius sieht sich nicht als Arzt, der die puerorum aetas improvida (Lucr. 1,939) in ihrem eigenen Interesse täuscht, sondern der stoischen Auffassung entsprechend als Lehrer,136 der seinen Zöglingen Schritt für Schritt zur Einsicht verhilft.137 Nicht psychagogische Tricks, sondern allein eine systematische, auf 135 Vgl. Landolfi (1990), 29. 136 Vgl. Neuburg (1993), 259-261. 137 Vgl. Landolfi (1990), 29.

258

Manilius

die Bedürfnisse des Lesers abgestimmte Methode kann den Lehrstoff nahebringen. Die dichterische Form, die nach Lucrezens Auffassung als >Honig< von außen zu der Lehre hinzutritt, ergibt sich für Manilius organisch aus einer systematischen Ausbildung der Knaben, wie er sie für vorbildlich hält: nascentia carmina surgunt (760). Auch der zeitliche Rahmen, in dem sich die Handlung in dem manilianischen Gleichnis vollzieht, ist sehr viel weiter gesteckt als bei Lucrez. Während Lucrez in seinem Gleichnis nur ein kurzes, punktuelles Ereignis im Leben der pueri beschreibt, durchläuft das manilianische Gleichnis den gesamten Stoff des Elementarunterrichts. Manilius setzt in dem Gleichnis den im Gedicht für die Präsentation des Lehrstoffes benötigten Raum in die Zeit um, derer es bedarf, einen jungen Menschen auszubilden; die Einsichten, die dieser nach und nach gewinnt, entsprechen den immer profunderen Kenntnissen, die sich der Leser während seiner Astronomica-Lektüre erwirbt. Lucrezens und Manilius' unterschiedliche Konzeptionen werden auch dann besonders deutlich, wenn man die sprachliche Gestaltung der beiden Parabolai einander gegenüberstellt: Während die Parabole des Absinth-Gleichnisses mehrere ineinander verschränkte Hypotaxen aufweist (cum - prius - ut - interea - sed), kommt das schrittweise Voranschreiten im Stoff bei Manilius durch die parataktische Struktur der Parabole zum Ausdruck, in der jeder einzelne Lernschritt durch eine adverbiale Zeitbestimmung vom vorausgegangenen abgegrenzt wird: primum - tum - hinc - tunc. Manilius erhebt dadurch in dem Gleichnis einen höheren Anspruch, was die Qualität seines Lehrgedichtes betrifft. Sein Leser soll systematisch und dadurch dauerhaft Einblick in die astrologische Lehre bekommen. Die Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition bestimmt auch die Auswahl des Kernmotivs der Vergleichung: Die Verbindung von Buchstaben zu Silben, Wörtern und schließlich zu Versen eines Gedichts im Schulunterricht. Dieses Bild wird in der Rhetorik gerne verwendet, um einzelne Aspekte der Ausbildung zu erläutern.138 Vor allem handelt es sich aber um ein in der philosophischen Literatur geläufiges Bild,139 das nach Aristoteles' Zeugnis erstmalig von Demokrit und Leukipp entwickelt wurde, die mit den Buchstaben Gestalt, Anordnung und Lage der Atome veranschaulichten140 - ein Vergleich, der im

138 Z.B. Cie. de orat. 2,130; Quint, inst. 1,1,24; 5,10,125; Firm. math. 1,4,12-13 (Garrod Π [Κ 1911], 140 vermutet hier eine Manilius-Imitation). 139 Zur Geschichte des Motivs ausführlich Diels (1899); reiches Material bei Pease, Cie. nat. deor. Π (Κ 1958), 780f. zu Cie. nat deor. 2,93. 140 Aristot. metaph. A 4,985bl5-19 ( - Leuc. A6 D.-K.), vgl. Diels (1899), 13f.

Manilius

259

Griechischen aufgrund des Doppelsinns von στοιχάον nahelag. Ähnlich werden die Buchstaben auch von Lucrez in De rerum natura immer wieder als Abbild der unsichtbaren Atome für die Beweisführungen herangezogen.141 Wie bei den Buchstaben gibt es auch bei den Atomen begrenzt viele verschiedene Arten, die aber in unendlich großer Anzahl vorhanden und beliebig kombinierbar sind, und wie die Buchstaben gehen auch die einzelnen Atome Verbindungen ein, vermittels derer die sichtbaren Gegenstände geformt werden, wobei es wesentlich darauf ankommt, welche Position die Atome bzw. Buchstaben innerhalb des Gefüges >Wort< bzw. >Gegenstand< haben. Bei Manilius steht das Bild zwar in einem methodologischen Kontext. Es bezieht sich daher nicht auf den Lehrstoff an sich, sondern auf dessen Disposition. Dennoch spielt die ursprüngliche Verwendung der Buchstaben in einem didaktisch-argumentativen Kontext für das Verständnis des Gleichnisses eine wichtige Rolle.142 Uber seine erklärende und veranschaulichende Funktion hinaus hat das Bild von den Buchstaben nämlich auch ideologische Bedeutung. Dasselbe Motiv, das der Epikureer Lucrez einsetzt, um seine atomistischen Theorien zu beweisen, wird von der Stoa aufgegriffen, um das von den Epikureern proklamierte Zufallsprinzip bei der Entstehung des Kosmos zu kritisieren. So läßt Cicero im zweiten Buch von De natura deorum den Stoiker Baibus argumentieren (Cie. nat. deor. 2,93): Hie ego non mirer esse quemquam, qui sibi persuadeat corpora quaedam solida atque individua vi et gravitate ferri mundumque effici ornatissimum et pulcherrimum ex eorum corporum concursione fortuita? hoc qui existimat fieri potuisse, non intellego cur non idem putet, si innumerabiles unius et viginti formae litteraruxn vel aureae vel quales übet aliquo coniciantur, posse ex iis in terram excussis Annales Ennii, ut deineeps legi possint, effici: quod nescio an ne in uno quidem versu possit tantum valere fortuna.

Die Vorstellung, daß durch bloßes Schütteln und Hinwerfen von goldenen Buchstaben143 irgendwann einmal etwas so Planvolles wie die Annalen des En-

141 Lucr. l,196f.; 1,823-829; 1,907-914; 2,686-699; 2,1013-1022, vgl. dazu auch Diels (1899), 5-10. 142 Zu scharf daher die Trennung bei v. Albrecht Π (!1994), 773:»Das uns aus Lucrez vertraute Buchstabengleichnis beschreibt hier freilich nicht den Aufbau der Welt; vielmehr illustriert der Aufstieg vom Buchstaben über die Silbe zum Wort und schließlich zum Satz den Lehr- und Lernprozeß«. 143 Zum sachlichen Hintergrund vgl. Marrou (1950), 398; Pease, Cie. nat deor. Π (Κ 1958), 781. Daß Cicero hier von >goldenen< Buchstaben spricht, obschon im Schulunterricht gewöhnlich Buchstaben aus Elfenbein oder Buchsbaum verwendet wurden (Quint, inst. 1,1,26; Hieron. epist. 107,4,2), verleiht dem Bild eine besondere Pointe: Auch das wertvollste Material vermag die Annalen des Ennius nicht zu schaffen, wenn es planlos ausgestreut wird.

Manilius

260

nius entstehen könnte, soll die Auffassung der Epikureer, der wohlgeordnete Kosmos sei durch die zufällige Kollision von Atomen entstanden, ad absurdum führen.144 Wenn Manilius ein ganz ähnliches Bild - auch am Ende seines Gleichnisses stehen Werke der Dichtkunst - verwendet, die Gedichte jedoch als Resultate einer kleinschrittigen, wohlgeplanten Ausbildung erweist (coniciantur und excussis bei Cicero stehen singula undprodest didicisse bei Manilius gegenüber), deutet er zugleich das ursprünglich epikureisch-atomistische Bild, das Cicero den Stoiker Baibus mit scharfer Kritik belegen läßt, positiv im Sinne der Stoa um. Nicht der Zufall, sondern die ordnende und planende Hand einer übergeordneten Macht ist für die Entstehung des Kosmos verantwortlich. Durch den Verweis auf die literarische Tradition bringt Manilius an dieser Stelle eine weitere Ebene in das Gleichnis hinein: Es dient nicht nur der Veranschaulichung seiner didaktischen Methode, sondern ist auch Ausdruck seiner eigenen, anderenorts in den Astronomica immer wieder proklamierten, von der Stoa beeinflußten Weltsicht. Solche Verbindungen der methodologischen Gleichnisse zu der Ideologie des Manilius werden auch in den weiteren Interpretationen noch nachzuweisen sein. Das Buchstabengleichnis wird durch eine umfangreiche, sieben Verse umfassende Antapodosis geschlossen (765-771). Auch mit dieser Form der weitgespannten Antapodosis verweist Manilius auf das lucrezische Absinth-Gleichnis, dessen Antapodosis sogar acht Verse umfaßt.145 Auch das einleitende sie mihi (765) nimmt das lucrezische sic ego (Lucr. 1,943) auf. Lucrezisch ist aber auch hier nicht viel mehr als der äußere Rahmen. Die Antapodosis bei Manilius läßt eine deutliche Zweiteilung erkennen. In einer ausgedehnten Periphrase, die mit vier Versen mehr als die Hälfte der Antapodosis beansprucht, geht Manilius zunächst auf seine eigene Dichtertätigkeit ein. Er nennt drei Aspekte seines Lehrgedichts: Es behandelt den Kosmos, den der Dichter auf einer Himmelsreise zu »durchfliegen« imaginiert (mihi per totum volitanti carmine mundum [765]), es soll seinem Leser in hochpoetischer Form {Pieridum numeris etiam modulata [767]) das Wirken der fata (erutaque ahstrusa penitus caligine fata [766]) und das Wirken der göttlichen Macht (quoque deus regnat revocanti numen in artem [768]) erschließen. Auffällig ist die bildhafte Form, in der Manilius die poetologischen Aussagen bietet. Das Bild der Himmelsreise nimmt die geläufige

144 Vgl. Diels (1899), 4f. 145 Siehe dazu oben S. 134f.

Manilius

261

Gleichsetzung von Dichtung und Wagenfahrt auf,146 das >Ausgraben< der fata aus der Dunkelheit erinnert an die Vorstellung vom >Hervorziehen< der Wahrheit aus einer dunklen Höhle, die Lucrez im Jagdhund-Gleichnis entwickelt.147 Auch die Formulierung Pieridum numeris etiam modulata (767) verweist auf lucrezische carmine Pierio (Lucr. 1,946). Die poetologischen Reflexionen über Rang und Zielsetzung seiner Dichtung, die Lucrez dem Absinth-Gleichnis voranstellt, werden von Manilius in den Gleichnistext integriert. Erst im Anschluß an diese atisgedehnte Periphrase überträgt Manilius in weiteren drei Versen das Bild von den lesenlernenden Kindern auf seine eigene Vorgehensweise. Dabei nimmt er allerdings nicht, wie sein Vorgänger Lucrez, Zug umr Zug die Aussagen der Parabole auf.148 Vielmehr abstrahiert er die konkreten Aussagen des Bildteils: Es ist generell wichtig, den Lehrstoff in kleinere Abschnitte zu unterteilen (per partes ducenda fides [769]) und ihn schrittweise zu präsentieren (gradibus tradenda [770]). Diese Vorschriften gelten jedoch nicht nur für Manilius' dichterische Technik, sondern für Vermittlung von Lehrstoff im Allgemeinen. Konkret auf sein Lehrgedicht bezogen sind sie nur dadurch, daß Manilius zwischen Dichtung und Schulunterricht bereits zuvor Verbindungen hergestellt hat. Am Ende des Lernprozesses, den er in der Parabole beschreibt, steht ja als Resultat und krönender Abschluß des Elementarunterrichts die Lektüre von Dichtertexten. Manilius fängt so zugleich »das Gefälle zwischen den ABC-Schützen und dem ernsten Werk des Dichters«, das Lühr beanstandet,14' geschickt auf. Zudem sind dadurch die in Parabole und Antapodosis gegenübergestellten Gegenstände keineswegs so scharf gegeneinander abgesetzt, wie es die Auswahl des sprachlichen Mittels >Gleichnis< annehmen läßt. Vielmehr setzt die Antapodosis an dem Punkt ein, an dem die Parabole aufhört, denn das eigenständige Verfassen von Texten, wie Manilius es betreibt, ist der nächste Ausbildungsschritt, der auf den Elementarunterricht folgt. Die Parabole wird somit in der Antapodosis nicht nur gespiegelt bzw. abstrahiert, sondern sogar fortgesetzt. Die letzten anderthalb Verse der Antapodosis cum omnia certa / notitia stetennt, proprios revocentur ad usus (770f.) leiten bereits über zum zweiten Gleich146 Zur Wagenfahrt als poetologischer Metapher vgl. oben S. 210f. (dort auch weitere Literatur). Zum Motiv der Himmelsreise (Variation der geläufigen Metapher Dichtung Wagenfahrt) bei Manilius Lühr (1969), 43-52; Scarsi (1987), 101-105. 147 Lucr. 1, 408f.: caecasque latebras / insinuare omnis et verum protrahere itide, zu dem Gleichnis ausführlich oben S. 126-132. 148 Siehe oben S. 136. 149 Lühr (1969), 55 Anm. 1.

262

Manilius

nis des methodologischen Exkurses, das ohne Zwischentext an das vorausgegangene anschließt. Manilius vergleicht hier die Disposition des Materials mit den Vorbereitungen zur Gründung einer neuen Stadt,150 die sinnvollerweise erst dann stattfinden kann, wenn das Gelände geebnet und das Baumaterial bereitgestellt ist. Das Motiv dieses zweiten Gleichnisses ist einem gänzlich anderen Bereich entnommen als das vorherige. Dennoch bestehen Verbindungen zwischen den Gleichnissen. Ihre Struktur ist weitestgehend parallel. Ahnlich wie beim Buchstaben-Gleichnis zerfällt auch die Parabole des Städtebau-Gleichnisses in einen konkreten, beschreibenden und einen theoretisch-generalisierenden Teil, dessen zentraler Ausdruck praepostera cura (783) mit praeposterus ordo (764) im vorausgegangenen Gleichnis korrespondiert. Zudem wird das Städtebau-Gleichnis in dem Buchstaben-Gleichnis sprachlich vorbereitet. Dabei macht sich der Dichter zunutze, daß Ausbildung und Schulunterricht nicht selten mit Metaphern aus dem Bauwesen belegt werden. Das Adjektiv rudis, mit dem Manilius den >unfertigen< Zustand der Knaben beschreibt, bezieht sich in seiner ursprünglichen Bedeutung auf unbearbeitetes bzw. ungeformtes Material.151 Das letzte Prädikat des beschreibenden Teils schließlich, surgunt (760), wiederholt Manilius im ersten Parabole-Vers des folgenden Gleichnisses (in nudis cum surgunt montibus urbes [772]) und nochmals gegen Ende (tum demum consurgit opus [782]). Dem unmittelbar vorangehenden nascentia carmina (760) entspricht in dem Vers, der die Antapodosis des zweiten Gleichnisses beschließt, argumenta... nascentia (787). Die beiden Gleichnisse sind so trotz ihrer verschiedenen Motive durch die Wortwahl miteinander verklammert. Mit 12 Versen ist die Parabole des Städtebau-Gleichnisses sogar noch zwei Verse länger als die des vorausgehenden Buchstaben-Gleichnisses. Der Dichter beginnt diesmal mit dem Endergebnis: in nudis cum surgunt montibus urbes (772), das am Ende der Parabole nochmals aufgenommen wird: tum demum

150 Wenig überzeugend erscheint mir die in der neusten kommentierten Manilius-Ausgabe von Feraboli/Flores/Scarcia flX 1996], 351) von Feraboli und Scarcia geäußerte Vermutung, Manilius habe mit diesem Bild die Gründung der Stadt Rom beschreiben wollen, um die Anstrengungen, die dazu im Vorfeld notwendig waren (tantae molis erat Romanam condere gentem [Verg. Aen. 1,33]), mit dem Aufwand zu analogisieren, den sein dichterisches Vorhaben erfordere. Gegen diese Annahme sprechen zum einen die Verweise auf die Beschreibung der Gründung Karthagos Aen. 1,418-429, die Landolfi (1990), 34 und auch Feraboli und Scarcia (352) feststellen; zum anderen hätte Manilius einen Bezug auf Rom und die römischen Verhältnisse wohl deutlicher formuliert, wie das >Staatsgleichnis< am Ende des fünften Buches zeigt. 151 Vgl. OLD Π (1976), 1665 s.v. rudis; bei Manilius in dieser Bedeutung 3,28: rudis ipsa materies. Möglicherweise denkt Manilius hier aber auch bereits an die im zweiten Gleichnis imitierte Vergilstelle georg. 2,211: at rudis enituit impulso vomere campus.

Manilius

263

consurgit opus (782). Die Stadtgründung wird in einer umfangreichen, mehr als einen ganzen Hexameter umfassenden Periphrase beschrieben; als >Griindungsakt< gilt dem Dichter das Ziehen der Mauern: conditor et vacuos muris circumdare colles / destinat (773f.). Erst aus den folgenden Versen wird aber deutlich, daß die Stadtgründung überhaupt nicht das eigentliche Thema des Gleichnisses ist, sondern die im Vorfeld dieser Stadtgründung durchgeführten Vorarbeiten: destinat (durch das Enjambement besonders hervorgehoben); ante ... quam temptet (774). Manilius nennt im folgenden zwei verschiedene Bereiche, auf die sich die Arbeiten konzentrieren sollen: (a) die Vorbereitung des Geländes und (b) die Bereitstellung von Baumaterial und Handwerkszeug. Im Unterschied zu dem vorausgegangenen Gleichnis laufen diese Arbeiten aber nicht sukzessiv, sondern parallel ab, wie aus dem disjunktiven ast alii (779)152 hervorgeht. Nicht die Zusammenfügung der Teile zu einem sinnvollen Ganzen und die Struktur steht im Vordergrund, sondern die Sammlung des Rohmaterials, die einer Bearbeitung vorausgehen soll. Dieses Ziel wird von Manilius im folgenden noch einmal theoretisch formuliert: tum demum consurgit opus, cum cuncta supersunt / ne medios rumpat cursus praepostera cura (782f.). Eine nachträgliche Materialsammlung würde den reibungslosen Ablauf der Arbeiten nachhaltig beeinträchtigen. Bereits die Parabole gibt jedoch zu erkennen, daß die Ziele, die Manilius mit dem Gleichnis verfolgt, auch in diesem Fall über die Darstellung der dichterischen Methode hinausgehen. Das zeigt sich zum einen daran, daß sich der in der Parabole dargestellte Gegenstand in weitaus höherem Maße als im Buchstaben-Gleichnis von den Bezügen zum Haupttext löst und wie in den Gleichnissen der homerischen Epen in einer Parenthese >verselbständigtcivilization< is not accomplished without a price«.155 Dadurch, daß Manilius die vergilische Beschreibung rezipiert, setzt er einen kulturkritischen Akzent, der von der methodologischen Ausrichtung des Gleichnisses losgelöst ist und eher in den Bereich der Diatribe gehört. Eine ähnliche Beobachtung läßt sich auch in den folgenden Versen machen, in denen Manilius die Bereitstellung der verschiedenen Baumaterialien beschreibt: silex, marmor und ferrum. Das Verbum rimantur (780), mit dem er das Gewinnen

154 Vgl. Miles (1980), 131f.; Thomas, Verg. georg. I (K. 1988), 195. 155 Putnam (1979), 111.

Manilius

265

von Stein für Mauern und Tempel bezeichnet, verleiht dieser Arbeit eine pejorative Note,156 die mit der in den vorausgehenden Versen angedeuteten Kulturkritik übereinstimmt. Der Bergbau, der das Material für den Städtebau erst zutage fördert, ist eine Errungenschaft der Eisernen Zeit,157 in der die Menschen in die >Eingeweide der Erde< vordringen: itum est in viscera terrae.™ Allerdings sieht Manilius den zivilisatorischen Fortschritt keineswegs so negativ, wie es zunächst den Anschein hat. Der Marmor, der in den Bergwerken gebrochen wird, soll dem Bau von Tempeln dienen (779). Einen »Tempel aus Marmor« will aber auch Vergil am Ufer des Mincius errichten: templum de marmore ponam verspricht er im Proömium des dritten Georgica-Buches (3,13). Dieser Tempel steht für eine epische Dichtung (wahrscheinlich die Aeneis), die Augustus gewidmet sein soll. Die Reminiszenz an den Beginn des dritten Georgica-Buches legt nahe, auch die manilianische Formulierung marmorn templis als Allegorie für seine Dichtung aufzufassen und somit positiv zu werten. Ein Weiteres kommt hinzu. Als letztes und wichtigstes Material, das vor der Stadtgründung bereitzustellen ist, nennt Manilius das Eisen: fem rigor (780), das die Entstehung von Kulturtechniken überhaupt erst ermöglicht: hinc artes, hinc omnis convenit usus (781). Die exkursartige Einlage, die zunächst von einem konkreten Gegenstand ausgegangen war, mündet in eine allgemeine Reflexion, deren Formulierungen an den labor improbus-Exkurs des ersten Georgica-Buches erinnern. Nach Vergils Darstellung entzieht Jupiter den Menschen die Segnungen der Ära Saturns, ut varias usus extunderet artes (georg. 1,133). Auch die Technik der Eisenverarbeitung gehört zu den Errungenschaften der Herrschaft Jupiters (georg. 1,143-145): 143 145

t u m fern rigor atque argutae lammina serrae (nam primi cuneis scindebant fissile lignum), t u m variae venere artes [...]

156 Vgl. OLD Π (1976), 1655 s.v. rimor 1. Manilius hat hier möglicherweise sogar konkret zwei Verse aus der >norischen Viehseuche< am Schluß des dritten Georgica-Buches im Sinn, in denen Vergil schildert, wie die Menschen, deren Arbeitstiere ein Opfer der Seuche geworden sind, das Erdreich mit Hacken oder gar mit den bloßen Händen auf der Suche nach Nahrung durchwühlen: ergo aegre rastris terramrimantur,et ipsis / unguibus infodiunt fruges (georg. 3,534f.). 157 Vgl. auch Manil. 5,276-278 (zum Paranatellon Spica): quod solum decuit mortalis nosse metallum: / nulla fames, non ulla forent ieiunia terris; / dives erat census saturatis gentibus < olim / argenti venis aurique latentibus> orbi. Das einzige >MetallGebäudes< Kosmos.16' Nicht nur die didaktischen, sondern auch die kosmischen Grundlagen nennt er in den Astronomica fundamina170, und materies ist nicht nur auf den »Stoff« seines Gedichtes bezogen, sondern bezeichnet - in der Kosmogonie des ersten Buches - auch das Material, aus dem der Kosmos besteht.171 Vor allem aber ist das Verbum surgere Terminus technicus für den Aufgang der Sterne.172 Die Junktur carmina surgunt ist ungewöhnlich und nur für diese

165 Vgl. Manil. 4,9 materiam struimus magnae per vota ruinaer, 4,120 fabricate gradus; 5,4 non ultra struxisset opus, caeloque rediret (sc. alius), zur Forschungsdiskussion zu dieser Stelle Lühr (1969), 48; Hübner (1984), 361. Daß man zwischen dem realen Kosmos und seinen Darstellungen in der Literatur in der Antike nicht scharf trennte, zeigt besonders gut das - von Hofmann (1985) gelöste - Rätsel in Vergils dritter Ecloge (104f.) die, quibus in terris - et eris mihi magnus Apollo - / tris pateat caeli spatium non amplius ulnas, das eine Papyrusrolle mit den Phainomena A rats meint. 166 ThlL VI,1 (1924), Sp. 1553 s.v. fundamentum: »spectat ad artes et litteras, librorum compositionem.« 167 Fundamenta, fundamina u.ä. als didaktische Grundlage z.B. Manil. 3,207 fundamenta ruunt artis nec consonat ordo, zum Verhältnis dieser Stelle zum lucrezischen Baukunst-Gleichnis oben S. 251f. 168 So z.B. Manil. 1,113 hoc mihi surgit opus-, 2,690 quae mihi mox certo digesta sub ordine surgent. 169 So z.B. Manil. 1,139: et mundi struxere globum prohibentque requiri-, 1,247 hoc opus immensi constructum corpore mundi; l,486f. moenia mundi /seminibus struxit minimis inque illa resolvit 3,48 cum tantas strueret moles per moenia mundi. 170 Z.B. Manil. 1,728 in cuneos alti cogat fundamina caeli. 171 Vgl. Manil. 1,131 caecaque materies caelum perfecit et orbem-, l,135f. seu liquor hoc peperit, sine quo riget arida rerum / materies ipsumque vorat, quo solvitur, ignem. 172 So z.B. Manil. 2,153; 2,451; 2,827; 3,275; 3,387.

πι

Manilius

Manilius-Stelle belegt.173 Scarcia hat erkannt, daß der Versschluß nascentia carmina surgunt (760) die vergilische Formulierung surgentia sidera dicent auf-

nimmt, mit der Anchises an jener berühmten Stelle im 6. Buch der Aeneis die Aufzählung der Künste beschließt, in denen andere Völker den Römern überlegen sind.174 Surgentia sidera dicere ist genau das Thema des manilianischen Lehrgedichts. Lehrgegenstand und dichterische Methode folgen letztlich denselben Gesetzmäßigigkeiten, wobei sie sich gegenseitig bedingen und durchdringen.

3. Ergebnisse Die Basis für die Bewertung manilianischer Gleichnisse ist aufgrund der Zurückhaltung, mit der sie in den Astronomica eingesetzt werden, weitaus weniger breit als bei Lucrez und Vergil. Dennoch lassen sich bei Manilius' Umgang mit diesem sprachlichen Mittel gewisse Grundtendenzen feststellen, die im folgenden noch einmal kurz rekapituliert werden sollen. Ahnlich wie sein didaktischer Vorgänger Vergil fühlt sich Manilius in den Gleichnissen der heroisch-epischen Tradition in mehrfacher Hinsicht verpflichtet: (1) Mit der Zusammenfassung von mehreren Gleichnissen zu Gleichnisblöcken nimmt der Dichter eine prominente Ausnahmeerscheinung des heroischen Epos auf, so daß bereits das äußere Erscheinungsbild der Gleichnisse deutlich episches Kolorit trägt. (2) Die Gleichnisse stehen bei Manilius nie in argumentativen, sondern ausschließlich in deskriptiv-reflektierendem Kontext. Keines seiner Gleichnisse schließt an eine konkrete Lehrvorschrift an. Manilius vermeidet zudem bewußt jede Berührung der Gleichnisse mit sprachverwandten naturwissenschaftlichen oder philosophischen Argumentations- und Darstellungsformen, offenbar um den Eindruck von den Gleichnisse als Kennzeichen des epischen Stils möglichst unverfälscht zu bewahren.

173 Vgl. ThlL ΠΙ (1907), Sp. 469 s.v. carmen. 174 Verg. Aen. 6,849f. orabunt causas melius, caelique meatus /describent radio et surgentia sidera dicent [...]: Scarcia (1993), 138. Vgl. aber auch Manil. 3,297f. certis surgentia signa / ducere temporibus. Weitaus weniger deutlich ist der Verweis auf Aen. 7,44 maior rerum mihi nascitur ordo [...] (Proömium des iliadischen Aeneis-Teils), den Scarcia in nascentia sehen will.

Manilius

273

(3) Auch Manilius greift in den Astronomica-Gleichnissen auf Gleichnismaterial der heroischen Epik zurück (1,703-712: Vergleich der Milchstraße mit einer Wagenspur oder der Kielspur eines Schiffes; 5,732f.: Vergleich der Sterne mit fallenden Blättern). Dabei handelt es sich nicht nur um allgemeine Reminiszenzen an das heroische Epos, sondern um die Verarbeitung konkreter Vorbilder, deren Kenntnis unabdingbare Voraussetzung für das Verständnis des Textes ist. Stärker noch als seine Vorgänger Lucrez und Vergil setzt Manilius auf Intertextualität. Andererseits lassen sich aber auch Einflüsse der didaktischen Dichtung auf die manilianische Gleichnistechnik feststellen: (1) Mit der Verwendung von Gleichnissen in einem methodologischen Kontext (2,750-787: >Schulunterricht< und Vorbereitungen zur StadtgründungBuchstaben< als Bild für die Atome bei Lucrez; Verweise auf die >Aitiologie der Arbeit< im Städtebau-Gleichnis). Betrachten wir nun die Stellung der Gleichnisse innerhalb der Gesamtkomposition der Astronomica. Bereits aufgrund der Seltenheit ihres Vorkommens und der Konzentration an wenigen Stellen in den Astronomica ragen die Gleichnisse in besonderer Weise aus dem Haupttext hervor. Aber auch unter inhaltlichen Gesichtspunkten erscheinen die Gleichnisse an entscheidenden Punkten des manilianischen Lehrgedichts: Sie markieren den Ubergang von einem beschreibenden zu einem reflektierenden bzw. interpretierenden Abschnitt (im ersten Buch: Beschreibung der Milchstraße - Gleichnisblock - Deutung der Milchstraße; im fünften Buch: Klassifizierung der Sterne - Gleichnisblock - Reflexion über eine potentielle Störung des kosmischen Feuerhaushaltes) oder trennen zwei große Lehrabschnitte voneinander (im zweiten Buch: Dodekatemorien - Methodengleichnisse - Dodekatropos). Die Stellung der Gleichnisse im Gesamtwerk des Manilius ist somit vielleicht sogar noch exponierter als die der Georgicagleichnisse. Die symmetrische Verteilung der Gleichnisse in den Astronomica macht sie zu das ganze Werk strukturierenden Elementen. Auch in den Astronomica sind Gleichnisse und Haupttext durch sprachliche und inhaltliche Bezüge miteinander verknüpft. In den engeren Kontext sind

274

Manilius

die manilianischen wie auch die lucrezischen und vergilischen Gleichnisse dadurch eingebunden, daß der Dichter sie durch Metaphern aus demselben Bereich vorbereitet oder aufnimmt (ζ. B. 1,703: die Bezeichnung der Milchstraße als orbita antizipiert das Wagenspur-Gleichnis; 2,785: die Bezeichnung des Lehrstoffes als materies nimmt das vorausgegangene Städtebau-Gleichiiis auf). Zugleich legitimiert der Dichter durch derartige Verflechtungen von Gleichnis- und Haupttext auch die Auswahl eines bestimmten Gleichnismotivs. Fernbezüge zwischen dem Gleichnistext und anderen Abschnitten des Werkes sind in den Astronomica bei den Gleichnissen im didaktischen Kontext sehr viel seltener als bei Vergil. So ist das »Staatsgleichnis« am Schluß des fünften Buches explizit nur mit einer einzigen Stelle im ersten Buch (1,471 stellarum. vulgus) verbunden, mag auch der Mikrokosmos-Gedanke, der dem Vergleich von Kosmos und Staat zugrunde liegt, auch an anderen Stellen in den Astronomica nachweisbar sein. Die Methodengleichnisse des zweiten Buches hingegen sind in mehrfacher Hinsicht in den weiteren Kontext der Astronomica eingebunden: (1) Manilius verweist an späteren Stellen auf die in den Gleichnissen entwickelte Methode und führt diese sogar weiter (z.B. 3,586-589 mixtum, Synthese des Stoffes). (2) Die von Manilius ausgewählte Darstellungsmethode wird dadurch legitimiert, daß sie dem dem Gang der Kultur- bzw. Menschheitsgeschichte entspricht, wie er sie Manilius am Beginn der Astronomica skizziert. (3) Manilius verweist an verschiedenen Stellen seines Werkes durch Metaphern auf die Methodengleichnisse zurück. Da diese Metaphern sowohl auf den Lehrgegenstand als auch auf die Methode seiner Darstellung bezogen werden können (z.B. structura; fundamenta; surgere), zeigt er, daß Stoff und Darstellungsform miteinander harmonieren. Welche Funktion haben die Gleichnisse im Lehrgedicht des Manilius? Eine wirklich >didaktische< Funktion ist für keines der Astronomica-Gleichnisse im didaktischen Kontext nachzuweisen. Keines der Gleichnisse ist unentbehrlich für das Verständnis des Lehrgegenstandes. Allenfalls nutzt der Dichter die Gleichnisse zur Intensivierung eines Sinneseindrucks (1,703-712: Farbe der Milchstraße; 5,726-733: unermeßliche Zahl der am Himmel sichtbaren Sterne). Bereits durch ihre Länge wirken die Gleichnisblöcke retardierend; sie erlauben dem Dichter, bei einem Gegenstand länger zu verweilen bzw. über ihn zu reflektieren. Da die Gleichnisse im didaktischen Kontext immer eine beschreibende mit einer reflektierenden Partie verbinden, bemüht sich der Dichter,

Manilius

275

durch die Gestaltung der Gleichnisse sowohl dem Aspekt der Darstellung als auch dem der Reflexion Rechnung zu tragen. So bereitet etwa das Wagenspur-Gleichnis die Deutung der Milchstraße als alten Weg der Sonnenrosse oder als Absturzstelle Phaethons vor; das Staatsgleichnis macht die politische Dimension das kosmischen Gleichgewichts bewußt. Auch sonst dienen die Gleichnisse Manilius dazu, die Ebene rein sachlicher Darstellung zu transzendieren und Kerngedanken seiner Lehre zu vermitteln (z.B. 2,775-781: Bewertung der Kulturentstehungslehre; 2,755-764: Auseinandersetzung mit der Lehre der Epikureer vom Kosmos als Zufallsprodukt im Buchstabengleichnis). Durch die enge Verknüpfung der Gleichnisse mit der literarischen Tradition, auf die bereits eingangs hingewiesen wurde, eröffnet Manilius weitere Dimensionen hinter dem Lehrtext, durch die das Werk vielschichtig wird. Auch die Gleichnisse tragen also dazu bei, die Astronomica zum >Weltgedicht< zu machen.

ΥΠ. Zusammenfassung

Stellen wir abschließend die für die einzelnen Autoren gewonnenen Ergebnisse noch einmal zusammen. Soviel wurde bereits deutlich: Der Umgang mit Gleichnissen ist bei den drei untersuchten Autoren keinesfalls einheitlich. Daß es »das« Gleichnis in »dem« Lehrgedicht nicht geben kann, darf bei den Unterschieden in Themenstellung, literarischer Technik und Weltanschauung nicht verwundern. Die Unterschiede in den Gleichnistechniken der einzelnen Lehrdichter sind daher mitunter sehr groß. Eine wichtige Rolle bei der Beurteilung von Lehrgedichtgleichnissen spielt ihre Stellung in der literarischen Tradition. Hier ist zunächst einmal festzustellen, daß die römischen Lehrdichter - zumindest unserer Kenntnis nach - kaum auf Gleichnismaterial ihrer griechischen didaktischen Vorgänger zurückgreifen. So läßt sich für kein einziges lucrezisches Gleichnis eine direkte Abhängigkeit von Empedokles nachweisen, obwohl die beiden Lehrgedichte sich thematisch eng berühren. Auch Vergil nimmt unseres Wissens nur in einem Fall auf ein Gleichnis des Nikander von Kolophon Bezug.1 Manilius hat die wenigen Gleichnisse der Phainomena Arats2 überhaupt nicht rezipiert. Was die Gleichnisse betrifft, gibt es also keine Beziehungen zwischen griechischer und römischer Lehrdichtung, wie sie innerhalb der heroischen Epik vielfach für Vergil und Homer bzw. Apollonius Rhodius nachweisbar sind, was wohl kaum nur auf den fragmentarischen Uberlieferungszustand griechischer didaktischer Poesie zurückzuführen ist. Fragt man hingegen nach dem Einfluß der heroischen Epik auf die Gleichnisse der römischen Lehrdichter, so ergibt sich ein etwas anderes Bild. Zwischen eizählend-epischen und didaktischen Gleichnissen bestehen zahlreiche Beziehungen. Allerdings fühlen sich die römischen Lehrdichter der heroischen Epik unterschiedlich stark verpflichtet. Lucrez löst sich in seiner Gleichnistechnik sehr weit von den Vorgaben des heroischen Epos. Die Motive seiner Gleichnisse entnimmt er häufiger der philosophischen und naturwissenschaftlichen Fachprosa; doch auch Gleichnisse, die auf direkte epische Vorbilder zurückgehen,

1 Vgl. oben S. 155 Anm. 17. 2 Vgl. oben S. 59.

Zusammenfassung

277

wirken oft >unepischepischzerlegt< und auf zwei verschiedene Kontexte verteilt.6 3 4 5 6

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

oben oben oben oben

S. S. S. S.

79-81; 126-128. 21 lf. 273. 190f.

278

Zusammenfassung Auch bei Manilius ist Intertextualität ein fester Bestandteil der Gleich-

nistechnik. Die Verbindungen zwischen den einzelnen Gleichnissen erschließen sich teilweise nur demjenigen, der die literarischen Vorlagen kennt. Der Kontext der Vorlage ist bisweilen geradezu eine Art >Kommentar< zu Manilius' Ausführungen, ohne den die Aussageabsicht in wesentlichen Punkten unverständlich bleibt.7 Betrachtet man die Gleichnisse im weiteren Kontext des jeweiligen Lehrgedichts, so bemerkt man ebenfalls erhebliche Unterschiede. Den lucrezischen Gleichnissen kommt zwar bisweilen eine gewisse kompositorische Funktion innerhalb des Abschnittes (seltener innerhalb des gesamten Buches) zu,8 sie spielen aber in der Makrostruktur des Werkes keine Rolle. Gleichnisse ähnlichen Motivs dienen bei ihm nicht so sehr der Strukturierung als vielmehr dazu, verschiedene Aspekte der epikureischen Lehre miteinander zu verknüpfen.' Die Georgica-Gleichnisse bestimmen in weitaus höherem Maße als die Gleichnisse des Lucrez die Struktur des Werkes. Innerhalb des jeweiligen Buches haben sie eine exponierte Stellung: Sie stehen entweder genau in der Buchmitte, am Buchschluß oder am Schluß eines für die Gedankenführung wichtigen Abschnittes.10 Die wenigen Gleichnisse in den Astronomica des Manilius erscheinen ausschließlich an zentralen Stellen innerhalb des Lehrgedichts. Ihre Verteilung auf die einzelnen Bücher ist ausgewogen. Auf das Gesamtwerk bezogen lassen sie eine symmetrische Anordnung erkennen. Insbesondere nutzt der Dichter die Gleichnisse, um die Rahmenbücher seines Werkes einander zuzuordnen. Sie markieren die Makrostruktur des Gedichts.11 Man kann also sagen, daß von Lucrez bis Manilius die Gleichnisse innerhalb der Gesamtkomposition der Lehrgedichte eine immer größere Bedeutung erlangen. Aufschlußreich ist schließlich, welche Funktionen die Lehrdichter den Gleichnissen zuweisen. Die beiden Komponenten Dichtung und Lehre, die in einem didaktischen Gleichnis zum Tragen kommen, werden von den Autoren unterschiedlich gewichtet. Erheblichen Einfluß auf die Funktion von Gleichnissen hat zweifelsohne der in dem Lehrgedicht behandelte Gegenstand. So

7 Vgl. oben S. 273. 8 Vgl. oben S. 102; 108. 9 Vgl. oben S. 147. 10 Vgl. oben S. 212. 11 Vgl. oben S. 217; 273.

Zusammenfassung

279

erfordert die Darstellung der unsichtbaren Gesetzmäßigkeiten des Kosmos, die Lucrez in De rerum natura unternimmt, vielfach Verweise auf Sichtbares, so daß die Gleichnisse häufig erläuternde oder sogar argumentierende Funktion haben. Auch die Gleichnisse im methodologischen Kontext dienen mittelbar der Lehre. Das bedeutet jedoch nicht, daß Lucrez mit seinen Gleichnissen ausschließlich Lehrstoff vermitteln will. Bisweilen transzendiert er die Ebene sachlicher Darstellung oder nutzt Gleichnisse, um einen Lehrgegenstand in einen größeren Zusammenhang einzuordnen.12 Grundsätzlich kann man aber sagen, daß die didaktische Komponente für Lucrez eine wichtige Rolle spielt. Die vielfältigen sprachlichen und inhaltlichen Bezüge zwischen Gleichnis und Haupttext sollen dem Leser zeigen, warum sich das gewählte Vergleichsmotiv zur Erklärung des Lehrstoffs besonders gut eignet. Die deskriptiven Georgica mit ihrer stark anthropomorphisierten Pflanzenund Tierwelt und ihren zahlreichen, bewußt an das heroische Epos angenäherten Abschnitten bieten ebenso wie die eher darstellenden Astronomica sehr viel mehr Möglichkeiten für beschreibende und reflektierende Gleichnisse. Dementsprechend liegt die Hauptfunktion der Gleichnisse weder in den Georgica noch in den Astronomica in der Vermittlung von Lehrstoff, auch wenn sie - bei Vergil - bisweilen an eine konkrete sachliche Unterweisung angeschlossen sind.13 Die Autoren scheinen im Gegenteil sogar darauf bedacht zu sein, die Gleichnisse von ihrem didaktischen Gewicht zu entlasten, so daß der Blick auf übergeordnete, weltanschauliche Aspekte frei wird. Uberhaupt hat die Verwendung von Gleichnissen innerhalb des jeweiligen philosophischen Systems, dem sich der Verfasser eines Lehrgedichts verpflichtet fühlt, eine unterschiedliche Bedeutung. Für Lucrez gewährleistet die ähnliche Atomstruktur zweier Gegenstände ihre Vergleichbarkeit;14 andererseits beweist aber jedes Gleichnis die Existenz der unsichtbaren primordia rerum. Bei Vergil hingegen sind die Gleichnisse ein Ausdruck der stoischen Sympathielehre;15 auch bei Manilius gehören sie zu den Aspekten des >Weltgedichts< Astronomica.16 Die Auffassung, daß der stoische Allgott alle Räume durchwaltet, läßt Vergleiche nicht nur zwischen Belebtem und Unbelebtem (Vergil), sondern auch zwischen Himmel und Erde (Manilius) zu.

12 13 14 15 16

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

oben oben oben oben oben

S. S. S. S. S.

147. 158; 166. 146. 215. 275.

280

Zusammenfassung

Die unterschiedlichen Gleichnistechniken des Lucrez, Vergil und Manilius sind darüber hinaus auch aufschlußreich für die gattungsmäßige Einordnung ihrer Lehrgedichte. Gleichnisse sind zwar, wie eingangs erwähnt, typische Mittel des epischen Stils und und verleihen somit den Gedichten a priori eine epische Färbung. Doch füllt Lucrez seine Gleichnisse oftmals mit völlig unepischen Inhalten, so daß lediglich ihre Form (manchmal auch ihre sprachlich-stilistische Gestaltung) an das Epos erinnert. Diese Beobachtung kann man auf sein gesamtes Lehrgedicht übertragen: De rerum natura weist zwar äußerlich Merkmale eines epischen Gedichts auf, ist aber seinen Inhalten und seiner Zielsetzung nach ζ. T. bewußt antiepisch. Vergil nutzt die Gleichnisse, um seinem Leser die Mittelstellung der Georgica zwischen Bukolik und Epos ins Bewußtsein zu rücken. So entwickeln sich seine Gleichnisse von relativ >eposfernen< in den früheren zu solchen von deutlich epischer Färbung in den späteren Georgicabüchern. Auch die GeorgicaGleichnisse implizieren also eine gattungstheoretische Aussage. Mit ihnen dokumentiert der Dichter die allmähliche Verwandlung der Georgica in ein heroisches Epos, die sich ja auch in der Thematik der einzelnen Bücher manifestiert.17 Insgesamt ist jedoch die Verpflichtung gegenüber der epischen Tradition bei Vergil stärker als bei Lucrez. Die gesamte Konzeption der manilianischen Gleichnisse und ihr Verhältnis zu sprachverwandten Erscheinungen zeigt, daß der Autor sie grundsätzlich als Mittel poetischer Sprache ansieht.18 Allerdings zeugt sein Rekurs auf die Methodengleichnisse des Lucrez durchaus von dem Bewußtsein für einen Gleichnistypus, der seit dem ersten römischen Lehrdichter charakteristisch für didaktische Poesie ist. Ebenso hat die Dichtung im Werk des Manilius auch sonst keine >Randfunktion< wie bei Lucrez, sondern steht gleichwertig neben der Lehre.19 Es hat sich bereits gezeigt, daß der Umgang unserer Lehrdichter mit Gleichnissen gewisse Entwicklungen innerhalb der Gattung erkennen läßt. So ist etwa zu beobachten, daß die Lehrdichter ihre Gleichnisse immer stärker auf die Gesamtkomposition ihrer Werke abstimmen. Was allerdings den didaktischen Gehalt der Gleichnisse angeht, kann man von Lucrez zu Manilius eine fortschreitende >Entfunktionalisierung< ausmachen. Die Vorbilder und Vorgaben der literarischen Tradition, insbesondere der heroischen Epik gewinnen von Lucrez zu Manilius immer größere Bedeutung. Diese >Episierung< soll möglicherweise 17 Vgl. oben S. 150f.; 212. 18 Vgl. oben S. 216f. ; 272. 19 Vgl. oben S. 250f. m. Anm. 118.

Zusammenfassung

281

die Lehrgedichte enger an das heroische Epos anschließen, um dadurch die >dichterische< Komponente von Lehrdichtung aufzuwerten. Vollends deutlich wird dies in den Fischfang- und Jagdgedichten Oppians und Ps.-Oppians, die eine überaus hohe Gleichnisdichte aufweisen und in denen sehr viele Gleichnismotive heroisch-epischer Provenienz aufgenommen sind.20 Vor allem aber zeigt sich in den drei in dieser Arbeit behandelten Lehrgedichten eine Tendenz zur Glättung und Angleichung der Gleichnistechniken sowie ein Bestreben der Lehrdichter, die Gleichnisse innerhalb des Lehrgedichts durch ein immer komplexeres Beziehungsgeflecht miteinander zu verbinden. Lucrez >experimentiert< geradezu mit unterschiedlichen Gleichnistechniken und Gleichnisfunktionen und nutzt verschiedene Vorlagen, wo es der Vermittlung des Stoffs zuträglich erscheint. Sein Gedicht enthält eine Vielzahl verschiedener Ansätze zum Umgang mit dem sprachlichen Mittel >Gleichnisklassischen< Bildersprache des saeculum Augustum (der Entstehungszeit der Georgica und der Astronomica) dargestellt. So entwickelt sich etwa die römische Wandmalerei von dem experimentierfreudigen, alle Möglichkeiten perspektivischer Darstellung auslotenden >zweiten< zum eher flächigen >dritten< Stil.23 Obwohl Zankers Beobachtungen den archäologischen Bereich betreffen, kann man sie - cum grano salis - auch in der Literaturgeschichte und den Gleichnistechniken der Lehrdichter von Lucrez bis Manilius wiederfinden, wobei es sich freilich nicht um eine Analogie

20 Vgl. Lausberg (1990), 181 Anm. 37. 21 Vgl. oben S. 148f. 22 Vgl. dazu oben S. 150f„ 212. 23 Vgl. etwa Zanker (4990), 39 Abb. 22 (Villa dei Misteri, ca. 44 v. Chr.) und 282, Abb. 224a (Villa des Agrippa bei Boscotrecase, ca. 10 v. Chr.).

282

Zusammenfassung

handelt, die den Autoren selbst bewußt war oder gar von ihnen gewollt ist. Doch zeigt sich möglicherweise in den unterschiedlichen Gleichnistechniken des Lucrez, Vergil und Manilius der Ubergang von der späten römischen Republik zum Prinzipat und von der >Vorklassik< zur >Klassik