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Impressum Andreas Helmke Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität - Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts In der Reihe Unterricht verbessern Schule entwickeln 5. Auflage 2014 Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen. Fotomechanische oder andere Wiedergabeverfahren nur mit Genehmigung des Verlages.
© 2012. Kallmeyer in Verbindung mit Klett Friedrich Verlag GmbH D-30926 Seelze-Velber Alle Rechte vorbehalten. www.friedrich-verlag.de
Druck: Kessler Druck + Medien GmbH & Co. KG, Bobingen Printed in Germany
ISBN: 978-3-7800-1009-4
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Andreas Helmke
Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität
Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts
Franz Emanuel Weinert gewidmet
Klett Kallmeyer
1
2
Vorwort
13
Einleitung
14
1.1
Die empirische Wende
14
1.2
Hürden, Hindernisse und Ärgernisse
15
1.3
Adressaten
16
1.4
Ziele
17
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
18
2.1
Übersicht
18
2.2
Strategien und Methoden der Unterrichtsforschung
20
2.2.1
Abschied von der traditionellen Methodenorientierung
20
2.2.2
Prozess- versus Produktorientierung
21
2.2.3
Variablen- versus personzentrierter Ansatz
24
2.2.4
Einzelmerkmale, Muster und Stile
26
2.2.5
Sozialisationstheoretisches Modell des Unterrichts
28
2.2.6
Quantitative und qualitative Methoden
30
2.2.7
Lineare und nichtlineare Zusammenhänge
31
2.2.8
Additive versus multiplikative Wirkungen
31
2.2.9
Wechselwirkungen
32
2.2.10 Wahrscheinlichkeitscharakter
33
Zielkriterien des Unterrichts
34
2.3
2.3.1
Die klassischen Taxonomien
35
2.3.2
Kritik an den klassischen Lernzieltaxonomien
36
2.3.3
Typen von Zielkriterien des Unterrichts
38
2.3 .3 .1 Individuelle versus kollektive Zielkriterien
38
2.3.3.2 Fachwissen versus Schlüsselkompetenzen
38
2.3.3.3 Sechs fundamentale Bildungsziele der Schule
40
2.3.3.4 Erzieherische Wirkungen
45
2.3.3.5 Kurz- versus langfristige Effekte
45
2.4
Lehren und Lernen: Theorien, Trends, Kontroversen
45
2.4.1
Von der Lehrerforschung zur Unterrichtsforschung
46
2.4.2
Von der Instruktion zur Konstruktion - und halfway back
47
2.4.3
Vom Labor zur Schulklasse
49
2.4.4
Von der fachübergreifenden zur fachspezifischen Sichtweise
50
2.4.5
Von der normativen zur empirischen Orientierung
50
2.4.6
Von der Klimaforschung zur Lehr-Lern-Forschung
52
2.4.7
Von einfachen Korrelationen zu komplexen zusammenhängen
53
2.5
Lernen als Verhaltensänderung
55
2.5.1
Klassisches Konditionieren
2.5.2
Operantes Konditionieren
56
2.5.3
Lernen am Modell
57
2.6
Lernen als Informationsverarbeitung
59
2.6.1
Das Dreispeichermodell des Gedächtnisses
59
2.6.2
Modi der Informationsverarbeitung
60
2.6.3
Kognitivistische Sicht
61
.„ .........................................................................................................................................................
2.6.3.1 Mastery Learning
61
2.6.3.2 Das Prozessmodell von Gagne und Driscoll
62
2.6.3.3 Das Modell von Klauer und Leutner
63
2.6.3.4 lnstructional Design
65
2.6.4
66
Sozial-konstruktivistische Sicht
2.6.4.1 Entdeckendes Lernen
66
2.6.4.2 Situiertes Lernen
67
2.6.5
Integrative Sicht
68
2. 7
Ein Angebots-Nutzungs-Modell unterrichtlicher Wirkungen
69
2. 7.1
Angebot und Nutzung ..
2.7.2
Lehrperson und -expertise
76
2.7.3
Prozessqualität des Unterrichts
76
2.7.4
Unterrichtsquantität
77
2. 7.5
Qualität des Lehr-Lern-Materials
79
2.7.6
Familie und Lernpotenzial
80
2. 7. 7
Mediationsprozesse
80
2.7.8
Wirkungen
82
2.7.9
Die Rolle des Kontextes
84
............................ .71
2.7.9.1 Der Klassenkontext
85
2.7.9.2 Nationaler Kontext
92
2.7.9.3 Kultureller Kontext- Exkurs nach Asien
93
2.7.9.4 Historischer Kontext: „Vademecum für junge Lehrer"
99
2.8
3
55
Literaturempfehlungen
Lehrerpersönlichkeit und Professionsstandards
102
.... J 03
3.1
„Lehrerhaft"? Eine intuitive Einführung ......................................................................................................................... 103
3.2
Vorbildwirkung von Lehrpersonen
109
3.3
Ansätze zur Klassifikation unterrichtsrelevanter Lehrermerkmale
11 O
3.4
Sachkompetenz
111
3.5
Unterrichtsrelevante Merkmale und Orientierungen von Lehrpersonen
113
3.5.1
Leistungsmotiv
113
3.5.2
Engagement
114
3.5.3
Subjektive Theorien und epistemologische Überzeugungen
115
3.5.4
Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbstreflexion
116
3.5.5
Humor
118
3.6
Diagnostische Expertise
119
3.6.1
Grundlegende Begriffe
120
3.6.2
Pädagogische Bedeutung der diagnostischen Expertise
121
3.6.3
Gütekriterien diagnostischer Urteile
3.6.3.1 Objektivität
4
124 124
3.6.3.2 Reliabilität
125
3.6.3.3 Validität
125
3.6.4
Gelten die psychometrischen Gütekriterien wirklich für Lehrkräfte?
126
3.6.5
Defizitäre diagnostische Kompetenz von Lehrkräften bei PISA 2000
127
3.6.6
Empirischer Forschungsstand zur diagnostischen Lehrerkompetenz
129
3.6.7
Dimensionen diagnostischer Lehrerurteile
132
3.6.8
Drei Komponenten der Urteilsgenauigkeit
133
3.6.9
Urteilstendenzen, -voreingenommenheiten und -fehler
134
3.6.10 Heuristiken bei der Urteilsbildung
137
3.6.11 Wie gut können Lehrer den eigenen Unterricht beurteilen?
138
3.6.12 Erfassung und Verbesserung der Diagnosefähigkeit: ein Zyklus
140
3.7
Professionsstandards
141
3.7.1
Die Standards der INTASC
142
3.7.2
Die Professionsstandards der PHZ Schwyz
143
3.7.3
Standards for Teaching des NBPTS
145
3.7.4
„Principles and Standards" für Schulmathematik des NCTM
148
3.7.5
Das Konzept der Standards der Lehrerbildung bei Oser
149
3.7.6
Die Standards des Lehrerhandelns der KMK
156
3.7.7
Fachliche Standards der KMK
3.8
Fit für den Lehrerberuf?
3.9
Literaturempfehlungen
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien 4.1
Klassenführung
61 . .163 167 168
172
4.1.1
Sichtweisen der Klassenführung
172
4.1.2
Relevanz für Lernen und Leistung
173
4.1.3
Gründe für die Vernachlässigung des Themas
175
4.1.4
Ein theoretisches Rahmenmodell
176
4.1.5
Professionswissen
177
4.1.6
Der Ansatz von Kounin
178
4.1.7
Regeln, Routinen, Rituale
179
4.1.8 4.1.9
Klassenmanagement als vorausplanendes Handeln Zeitnutzung
4.1.10 Umgang mit Störungen: Der Low-Profile-Ansatz Klarheit und Strukturiertheit 4.2.1 Anwendbarkeit auf Lehrer- und Schüleräußerungen
4.2
183 184 187 190
4.2.2 4.2.3
Akustische Verständlichkeit und sprachliche Klarheit
192 193
Lehrpersonen als Sprachmodelle
194
4.2.4
Sprecherziehung und Stimmprobleme im Lehrerberuf
4.2.5 4.2.6
Dimensionen der sprachlichen Verständlichkeit
195 196
Struktur und Kohärenz
197
4.2.7 4.2.8
Pseudo-Klarheit: Der Dr.-Fox-Effekt Fach- und Personspezifität
199 200
4.3
Konsolidierung, Sicherung
201
4.3.1
Notwendigkeit des Wiederholens und Übens
4.3.2
Varianten des Übens
201 202
4.3.3 4.3.4
Gegenstände der Übung
Das Paradox des chinesischen Lerners
203 204
4.3.5
Bedingungen erfolgreicher Übung im Unterricht
204
4.4
Aktivierung
205
4.4.1 4.4.2
Kognitive Aktivierung: Förderung selbstgesteuerten Lernens
205
Kognitiv aktivierende Arrangements und Programme
4.4.3
Lernförderliche Rückmeldung (Feedback) und Unterstützung
208 214
4.4.4 4.5
Förderliche Interaktionen für soziale Kompetenzen
216
Motivierung
221
4.5.1
Gibt es „gute" und „schlechte" Motivation?
4.5.2 4.5.3
Die Rolle der Lebenswelt
223 224
Die Rolle von Lehrererwartungen
225
4.5.4
Lehrperson als Modell
4.5.5 4.5.6
Kognitive Konflikte und Neugier als Motoren des Lernens
225 225
Motivförderungsprogramme
226
4.6
Lernförderliches Klima
227
4.6.1 4.6.2
Konstruktiver Umgang mit Fehlern
228
Entspannte Lernatmosphäre
232
4.6.3
Überraschungsoffene Grundhaltung
4.6.4 4.6.5
Abbau hemmender Leistungsangst
232 233
Unterrichtstempo und Wartezeiten
234
4.7
Schülerorientierung
236
4.7.1
Schülerfeedback
239
4.7.2
Unterrichtsbeteiligung
239
5
4.8
Kompetenzorientierung
240
4.8.1
Orientierung an den Bildungsstandards
240
4.8.2
Leistungsmessung in Schulen
243
4.8.3
Methoden der Evaluation schulischer Leistungen
244
4.8.4
Pädagogische Nutzung der Vergleichsarbeiten
246
4.9
Umgang mit Heterogenität
248
4.9.1
Ein zeitloses Thema
249
4.9.2
Konzepte des Umgangs mit Heterogenität
250
4.9.3
Lernermerkmale
252
4.9.4
Programm und Wirklichkeit
256
4.9.5
Gelingensbedingungen der Individualisierung
257
4.9.6
Empirische Ergebnisse
259
4.9.7
Resümee
262
4.10
Angebotsvielfalt
263
4.10.1 Ende des Methodendogmatismus
263
4.10.2 Gegenstand der Variation
265
4.10.3 Variation von Sinnesmodalitäten
267
4.10.4 Methodenvariation: Empirische Ergebnisse
269
4.11
271
Literaturempfehlungen
Diagnose und Evaluation des Unterrichts
5.1 5.2
Begriffliche Orientierung Evaluation: Ziele, Konzepte, Methoden
272 272 274
5.2.1
Evaluation
275
5.2.2
Kleiner Exkurs zu den Anfängen der Evaluation
275
5.2.3
Der Evaluationszyklus
275
5.2.4
Ziele von Evaluation
276
5.2.5
Selbstevaluation
277
5.2.6
Standortbestimmung durch Benchmarking ..
5.3 5.4
Vielfalt von Methoden und Akteuren: ein Überblick Lehrerangaben zum eigenen Unterricht
278 280
... 278
5.4.1
Checklisten
280
5.4.2
Self-Reflective Teacher Observation Protocol
282
5.4.3
Hatties „Personal Health Check for Visible Learning"
282
5.4.4
Lehrerfragebögen im Rahmen von EMU-Unterrichtsdiagnostik
283
5.5
Schülerangaben zum Unterricht
284
5.5.1
Warum Schülerfeedback zum Unterricht?
284
5.5.2
Eine Übersicht über erhältliche Instrumente
288
5.5.2.1 Schülerfragebögen aus Projekten der Bildungsforschung
288
5.5.2.2 SEIS .......
6
„ .....................................................................................................................................................................................................
289
5.5.2.3 IFS-Schulbarometer
290
5.5.2.4 IQES-online
290
5.5.2.5 Schüler als Experten für Unterricht - SEfU
291
5.5.2.6 Schülerfragebögen bei EMU-Unterrichtsdiagnostik
292
5.6
Unterrichtsbeobachtung
292
5.6.1
Arten der Unterrichtsbeobachtung
292
5.6.2
Werkzeuge der Unterrichtsbeobachtung
295
5.6.2.1 Rating-Bögen
295
5.6.2.2 Der Unterrichtsbeobachtungsbogen „Einblicknahme in die Lehr-Lern-Situation"
295
5.6.2.3 Mikroanalyse von Unterrichtsprozessen
301
5. 7
Gütekriterien der Unterrichtsbeobachtung
302
5.8
EMU - Evidenzbasierte Methoden der Unterrichtsdiagnostik und -entwicklung .................................. 305
5.9
Literaturempfehlungen
306
Unterrichtsentwicklung ...................................................................................................................................................................... 307 6.1
Bedingungen und Probleme der Unterrichtsentwicklung
309
6.1.1
Vom Wissen zum Können und Tun
309
6.1.2
Träges Wissen
31 O
6.1.3
Defizitäre Verhaltensorientierung
31 O
6.2
Ein Rahmenmodell
311
6.2.1
Forschung zur Wirksamkeit von Lehrerfortbildung: Fehlanzeige
314
6.2.2
Individuelle Bedingungen
315
6.2.2.1 Subjektive Theorien und stabile Gewohnheiten
315
6.2.2.2 Motivation
317
6.2.2.3 Weitere individuelle Bedingungen
318
6.2.3
319
Soziale und institutionelle Bedingungen
6.2.3.1 Schulentwicklung und Unterrichtsentwicklung
319
6.2.3.2 Unterstützung durch die Schulleitung
321
6.2.3.3 Evaluationskultur und Innovationsklima
321
6.2.3.4 Kooperation innerhalb des Kollegiums
321
6.2.3.5 Verankerung im Schulprogramm oder Schulprofil
322
6.2.3.6 Wertschätzung durch Schulaufsicht, Eltern, Verbände
323
6.2.3. 7 Wertschätzung durch die Schülerinnen und Schüler
323
6.3
Modelle und Szenarien
323
6.3.1
Professionelle Lerngemeinschaften
323
6.3.2
Gemeinsame Unterrichtsvorbereitung
324
6.3.3
Kollegiale Hospitation
325
6.3.4
Beobachtungsaufträge für das kollegiale Feedback
327
6.3.5 6.3.6 6.3.7 6.3.8
Die Methode „Szene-Stopp-Reaktion"
328 329 329
Coaching
330
6.3.9
Lesson Study
331 332
Fokus Unterricht Gegenseitige Unterrichtsbesuche: Tandem-Modell
6.3.10 Kooperative Lern(er)beobachtung und Unterrichtsentwicklung 6.3.11 Virtuelle Hospitation 6.3.12 Study Groups und Videoclubs 6.3.13 Unterrichtsmonitoring 6.3.14 Microteaching 6.3.15 Einzelkämpfer - aussichtslos?
7
333 334 334
6.4
Handlungstrainings
335 337 337
6.4.1 6.4.2
Das Münchener Lehrertraining
338
Das Konstanzer Trainingsmodell
339
6.4.3
Programme zum Classroom Management
6.5
Literaturempfehlungen ...
339 ... 341
Videografie des Unterrichts
342
7.1
Videobasierte Unterrichtsforschung
342
7.2
Forschung zur Rezeption und Nutzung von Videos
344
7.3
Rolle von Unterrichtsvideos für die Professionalisierung
344
7.4
Gründe für die geringe Nutzung von Video für den Unterricht
345
7.4.1 7.4.2
Mangelnde Lehrerkooperation Ausblendung des Kontextes
345 346
7.4.3
Untypisches Schülerverhalten bei der Unterrichtsvideografie?
346
7.4.4
Technische Schwierigkeiten?
7.4.5 7.4.6
Datenschutzprobleme
346 347
Reicht nicht das Transkript?
347
7.4.7
Mangel an verfügbaren Videos
7.5
Video in der Lehrerausbildung und -fortbildung
348 348
7.5.1
Erfahrungsberichte von Lehrpersonen
7.5.2
Ein Beispiel für die Verwendung von Video in der Lehrerausbildung
350 352
7.5.3
Nutzung von Videos zur Schulung der Beobachtung
353
7.6
Technische Hinweise
353
7.6.1
Tipps und Tricks zur Durchführung von Videografien
353
7.6.2 7.6.3
Technische Klassifikation von Videos
355
Software zur Auswertung videografierten Unterrichts
7.7
Ausblick: Chancen und Grenzen der Unterrichtsvideografie
7.8
Literaturempfehlungen
356 357 358
8
Ausblick und Perspektiven
359
9
Abkürzungsverzeichnis
365
10
Verzeichnis der Reflexionsaufgaben
367
11
Glossar ...
12
Autorenregister
374
13
Stichwortregister
378
14
Literatur
386
....370
Vorwort zur 5. überarbeiteten Auflage (2014) Seit der 4. Auflage (2012) hat im deutschen Sprachraum vor allem die Hattie-Studie Furore gemacht, begünstigt durch die von Klaus Zierer und Wolfgang Beywl herausgegebenen überarbeiteten deutschsprachigen Ausgaben von Hatties Büchern „Visible Learning" (2009) und „Visible Learning for Teachers" (2012). Ursprünglich war geplant, alle Originalzitate von Hattie in der Neuauflage durch die jeweiligen deutschen Übersetzungen in Hattie (2013, 2014) zu ersetzen. Angesichts der mutmaßlichen Vertrautheit der meisten Leserinnen und Leser mit der englischen Sprache habe ich davon jedoch Abstand genommen. Stattdessen biete ich im Online-Anhang meines Buches (http://andreas-helmke.de) ein Register „Hattie-Zitate" an: eine Synopse ausgewählter Originalzitate und deren Übersetzung durch Beywl und Zierer; ich danke den Kollegen Beywl und Zierer für die Zurverfügungstellung der Übersetzung und wünsche den Hattie-Büchern viele Leserinnen und Leser! Zahlreiche weitere Änderungen, Ergänzungen und Aktualisierungen finden sich im OnlineAnhang des Buches (z.B. eine ständig aktualisierte Übersicht über Unterrichtsvideos) sowie auf der EMU-Website (www.unterrichtsdiagnostik.info). Für Hinweise und Ergänzungen aller Art, insbesondere auf neu erschienene unterrichtsrelevante Publikationen und Videos, bin ich SEHR dankbar. Sie erreichen mich per Mail ([email protected]) oder per Post (Aeschenweg 3b, D-78464 Konstanz).
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
Vorwort zur 4. Auflage (2012) Die Neuauflage berücksichtigt viele neue Entwicklungen der Forschung zum Lehren und Lernen und zur Diagnostik des Unterrichts. Hier die wichtigsten Punkte: ~
Hatties „ Visible Learning": An erster Stelle ist das Werk von Hattie zu nennen, der den
gesamten weltweit (in englischer Sprache) verfügbaren Wissensstand zu Bedingungen schulischer Leistungen in seinem epochalen Werk „Visible Learning" (2009) zusammenfasst, ergänzt um das Werk „Visible Learning for Teachers" (2012). An diesen Meilensteinen muss sich jede künftige Darstellung des empirischen Forschungsstandes orientieren. ~
Unterrichtsdiagnostik: Zweitens steht seit 2011 im Internet das von uns entwickelte, um-
fassende Werkzeug EMU C§_videnzbasierte Methoden der Unterrichtsdiagnostik und -entwicklung) zur Unterrichtsdiagnostik zur Verfügung, das im Kern den Abgleich verschiedener Perspektiven auf die gleiche Unterrichtsstunde umfasst. Hierfür wurden im Auftrag der Kultusministerkonferenz einführende Texte, Fragebögen, Software zur Visualisierung der Ergebnisse und Folien entwickelt. Als Ergänzung zu EMU wurde - in Kooperation mit dem baden-württembergischen Kultusministerium - ein Leitfaden zum kollegialen Feedback aus der Perspektive der Lehrergesundheit entwickelt: EMUplus. Alles ist kostenlos herunterladbar und verwendbar unter http://www.unterrichtsdiagnostik.info. Den Kern von EMU bildet die datenbasierte Reflexion des Unterrichts im bewertungsfreien Raum; deshalb wird dem Potenzial der Hospitation im Kapitel zur Unterrichtsentwicklung besonders viel Platz eingeräumt. ~
Online-Buchanhang: Drittens wurde dem Sachverhalt Rechnung getragen, dass die Nut-
zung des Internets heute selbstverständlich geworden ist. Daher wurden diejenigen Teile des Buches, die einem schnellen Wandel unterliegen und deshalb ständig verändert und verbessert werden, zur Sicherung der Aktualität in den Online-Anhang des Buches ausgelagert. Dort befinden sich wie bisher vielfältige Fragebögen, Unterrichtsbeobachtungsbögen, Manuale und Unterrichtstranskripte sowie eine ausführliche - bisher Teil des Buches gewesene - Übersicht über erhältliche Unterrichtsvideos. Dazugekommen sind komplette Videos authentischer Unterrichtsstunden einschließlich von Transkripten und Daten zur Beurteilung dieser Stunde aus verschiedenen Perspektiven. Der Anhang steht uneingeschränkt (d. h. ohne Anmeldung, Registrierung oder Passwort) jedem Leser und jeder Leserin des Buches unter http://www.andreas-helmke.de/buchanhang zur Verfügung. Mein Dank gilt allen, die mich angeregt, unterstützt und beraten haben, insbesondere unserem Forschungsteam im Fachbereich Psychologie der Universität Koblenz-Landau sowie im DFG-Graduiertenkolleg „Unterrichtsprozesse" in Landau: Dr. Friedrich-Wilhelm Schrader, Dr. Tuyet Helmke, Dr. Giang Pham, Dr. Gerlinde Lenske, Dr. Anna Praetorius, Christoph Specka und Susanne Röder.
13
Die empirische Wende · Hürden, Hindernisse und Ärgernisse
1 Einleitung 1.1 Die empirische Wende Nach dem „TIMSS-Schock" und der „PISA-Katastrophe" hat die Bildungspolitik eine folgenreiche empirische Wende vollzogen. Die damit verbundene Orientierung auf nachweisbare Wirkungen ist nicht mehr rückgängig zu machen. Schule und Unterricht müssen sich daran messen lassen, welchen nachweislichen Ertrag sie bei ihrer Klientel, den Schülerinnen und Schülern, erzielen. Darüber sind sich Bildungspolitiker, maßgebliche Vertreter der Schulpraxis, Elternverbände und nicht zuletzt auch die Bildungsforschung einig. Mit den alten Parolen und Floskeln vom Typ „Die Sau wird vom Wiegen nicht fetter" oder „Nicht vermessen, sondern entwickeln!" lässt sich heutzutage nicht mehr punkten, weil eigentlich allen klar ist: Wir brauchen beides. Ebenso wie ein Arzt keine Therapie ohne vorherige Anamnese und Diagnose durchführt, benötigen wir in der Schule eine fundierte Bestandsaufnahme als Grundlage für gezielte Verbesserungsmaßnahmen. Alles andere wäre wie ein Stochern im Nebel - der St. Gallener Bildungsforscher Dubs bezeichnete diese aussichtslose Strategie einmal als „Blindflug". Zwar bezieht sich Dubs dabei auf die Wirkungen des Unterrichts; der Gedanke lässt sich jedoch mühelos auch auf die Prozesse des Unterrichts übertragen: „Es ist richtig, einmal zu prüfen, welche Resultate Bildung wirklich bringt. Ich war als Lehrer mein Leben lang im Blindflug - ich wusste nie, wie gut oder schlecht der Unterricht war, es gab keine Daten. Die Frage ist nur, was man mit den Daten macht. Diejenigen, die gerne mit der Pisa-Studie argumentieren, wissen oft nicht, dass sie drei Phasen kennt: Datenerhebung, Auswertung, Ableitung von Maßnahmen. Dafür brauchte es zwei, drei Jahre Forschung. Die Politiker wollen aber nicht warten, sie publizieren lieber unsinnige Ranglisten, die dazu verleiten, alles auf den Kopf zu stellen - obwohl die Aussagekraft der nackten Daten sehr beschränkt ist. Bis heute weiß niemand, was man vom Ranglistenersten Finnland übernehmen müsste. " (http://www.nzzfolio.ch/www/d80bd71b-b264-4db4-afd0-277884b934 70/showarticle/c 74d4a85-6ad8-4a5c9c35-74afad15136e.aspx, aufgerufen am 26. 03. 2012)
Dementsprechend folgert Terhart (2002a): „Entscheidend und in gewisser Weise tatsächlich revolutionär für den Schulbereich ist es, sich bei der Steuerung nicht länger nur am Prinzip einer immer detaillierteren Vorgabe von Inputs (Gesetze, Lehrpläne, Erlasse, Stundentafeln, Ordnungen), sondern verstärkt an den Outputs bzw. Outcomes, also an tatsächlich erreichten Effekten und Wirkungen, zu orientieren - und diese mit gesetzten Standards zu vergleichen. So etwas hat Folgen: Nur zu behaupten, dass ein Mehr an Investitionen hier oder dort eben hier oder dort dann schon gesteigerte Effekte nach sich ziehen werde, ist nicht mehr ausreichend - es geht um tatsächlich zustande kommende Wirkungen, und zwar Wirkungen auf der Seite der Schüler, denn die Schule ist letztendlich für die Schüler da." (S. 104)
Die Ausrichtung an messbaren Wirkungen der Schule („Output") bedeutet den Abschied von der gerade hierzulande lange gepflegten Input-Orientierung und dem, was Stryck (2000) die 14
Einleitung
„Steuerungsillusion" nennt: Sicherung der Bildungsqualität allein durch eine solide Lehrerausbildung, eine gute Infrastruktur, sorgfältig ausgewählte Curricula und sinnvoll gestaltete Stundentafeln. Mit der Entwicklung von Bildungsstandards, der kontinuierlichen Beteiligung an internationalen Lernstandserhebungen (wie PISA, IGLU, TIMSS), der Etablierung flächendeckender Vergleichsarbeiten (VERA) in den Klassenstufen 3, 6 und 8, der Einrichtung von Qualitätsagenturen zur Sicherung der Schulqualität sowie der Errichtung des IQB (für die Erklärung dieser und anderer Abkürzungen siehe das Abkürzungsverzeichnis am Ende des Buches) durch die KMK sind langfristige Weichen hin zur Output-Orientierung gestellt worden. Wir wissen also immer besser Bescheid über fachliche Schwächen und Stärken von Schülern. Wenn es dagegen darum geht, aus den Ergebnissen der großen Evaluationsstudien unterrichtliche Konsequenzen für die systematische Verbesserung des Lehrens und Lernens, für den Ausgleich von Kompetenzdefiziten abzuleiten, sieht die Lage schlechter aus. Eine Rückbesinnung auf den Unterricht als dem wesentlichen Faktor der Schule, dem sogenannten „Kerngeschäft", erscheint deshalb dringend notwendig. Hierzu äußerte Weinert bereits im Jahre 2000, noch vor der Publikation der PISA-Ergebnisse: „Wir haben in unseren Verfassungen das Recht eines jeden Kindes auf eine angemessene Bildung postuliert. Was geschieht also, wenn eine Schule schlechter ist als andere Schulen? Die Folge kann nur sein, dass der Staat als Träger der Schulbildung verpflichtet ist, den Unterricht - also Lernen und Lehren - so zu verbessern, dass bei der nächsten Evaluation diese Schulen, diese Regionen oder diese Schularten entsprechend besser werden. Wenn nur mittelmäßige Leistungen erzielt werden, was kann man dann, was muss man dann tun? Meiner Meinung nach gibt es nur eine wirkliche Möglichkeit schlechte Bildungsergebnisse zu korrigieren, und das ist eine Verbesserung der Qualität des Lernens und Lehrens." (S. 4 f.)
1.2 Hürden, Hindernisse und Ärgernisse Allerdings stehen einer wissenschaftlich fundierten Rückbesinnung auf den Unterricht in Deutschland einige Hürden und Hindernisse im Wege. Je mehr es gelingt, diese auszuräumen, desto größer ist die Chance für eine evidenzbasierte, das heißt auf empirischer Forschung basierende Analyse und Verbesserung des Unterrichts und damit auch des Lernerfolges der Schülerinnen und Schüler. Einige dieser Schwierigkeiten sollen kurz aufgezeigt werden (siehe Helmke, 2006, S. 42): Im deutschen Sprachraum ist
vor allem bedingt durch die in der Pädagogik vorherrschen-
de geisteswissenschaftliche Orientierung - empirische Unterrichtsforschung immer noch Mangelware. Es gibt zwar zahlreiche Praxisberichte, theoretische Abhandlungen, Modellversuchsberichte und Ratgeberliteratur zum Unterricht, aber nur wenige empirische Untersuchungen, deren Stichprobenplan, Design und statistische Auswertung methodischen Standards entspricht.
Die Strukturierung des Forschungsstandes wird dadurch erschwert, dass die Begriffe oft unscharf sind: Was ist mit „gutem" Unterricht gemeint? Die Professionalität und Kompetenz der Lehrperson, die Unterrichtsprozesse, die Unterrichtseffekte - oder eine Mischung von 15
Adressaten ·Ziele
alledem? Wenn auf die Wirkungen abgehoben wird, ist die logische Folgefrage: „Gut" für welches Zielkriterium, für welche Schülergruppe? Die Diskussion über die Unterrichtsqualität ist durch verbreitete Missverständnisse gekennzeichnet, vor allem durch die unangebrachte Gleichsetzung von Quantität (Vorkommen) und Qualität (Güte): Die Realisierung bestimmter „innovativer" Unterrichtsmethoden (z.B. Projektunterricht, Kleingruppenarbeit oder anderer Formen des offenen Unterrichts) ist nicht per se bereits guter Unterricht, ebenso wie lehrerzentrierter und frontaler Unterricht keineswegs automatisch „schlecht" ist: Man kann das eine wie das andere dilettantisch oder vorzüglich tun. Dass und unter welchen Bedingungen z.B. auch Frontalunterricht ein legitimer Teil der Unterrichtsorchestrierung sein kann, darauf hat Gudjons (2003, 2007) nachdrücklich hingewiesen. Erschwert wird der Durchblick durch die ausufernde Tendenz, allen möglichen bildungsund schulrelevanten Konzepten das Suffix „-kultur" zu verpassen und damit Begriffe zu vernebeln statt zu klären. Kaum ein Begriff blieb von dieser Kulturinflation verschont: Aufgabenkultur, Evaluationskultur, Gesprächskultur, Kooperationskultur, Unterrichtskultur, Lehrkultur, Lernkultur und, als Steigerung, Neue Lernkultur. 1 Diese pseudowissenschaftlichen Begriffe erheischen Respekt und Zustimmung, führen zu einem scheinbaren Konsens, tragen jedoch überhaupt nichts zu der Frage bei, welche Komponenten oder Faktoren z.B. des Lehrens warum, das heißt infolge welcher Mechanismen, wirksam sind. Sie lassen sich mit sehr unterschiedlichen Inhalten füllen und suggerieren eine konzeptuelle Klarheit, von der wir in Wirklichkeit weit entfernt sind. Und schließlich ist Realismus angebracht. Zwar besteht theoretisch Übereinstimmung über die Notwendigkeit einer an nachweisbaren Ergebnissen orientierten Ausbildung und Schulpraxis, verbunden mit entsprechenden Rückmeldungen. Jedoch, warnt Oelkers (2008): „Von einer solchen Feedback-Kultur, die sich ernsthaft an den Resultaten orientiert, ist die Lehrerbildung in Deutschland weit entfernt. Erste Erfahrungen mit Abnehmerrückmeldungen machen deutlich, dass hier ein mühsamer Kulturwandel verlangt wird[. . .]. Der ,reflektierte Praktiker' ist nur ein Schlagwort, ebenso die ,ko-konstruktive Lernumgebung' oder die ,effiziente Ressourcennutzung', solange sich damit keine konkrete Praxis verbindet. Die Anpassung der Sprache an solche Ausdrücke ist nicht genug. Nachhaltig wird es erst mit einschlägigen Erfahrungen. Dies gilt auch für die Rhetorik der Evaluation, die genauso dehnbar ist wie alle anderen Reformsprachen." (S. 28)
1.3 Adressaten An wen richtet sich dieses Buch? Adressaten sind primär Lehrkräfte und Schulleitungen, Lehrende und Studierende in der Lehrerausbildung und -fortbildung, Seminar- und Fachleiterin-
1 Jenseits des Schulbereichs entstanden so abstruse Wortschöpfungen wie Empörungskultur, Neidkultur, Vermögenskultur und Verrohungskultur. Wer sich für das wahre Ausmaß der skizzierten Kulturinflation interessiert, dem sei Martin Mosebachs ironischer Aufsatz in der FAZ vom 15. 02. 2006 („Sind die Deutschen noch ein Kulturvolk?") sowie Eckhard Henscheids Traktat „Alle 756 Kulturen - Eine Bilanz" (Verlag Zweitausendeins, Frankfurt 2001) ans Herz gelegt .
16
Einleitung
nen bzw. -leiter sowie ihre auszubildenden Referendarinnen und Referendare in Studienseminaren. Weiter gehören alle Personen in Ministerien, Schulaufsicht und Qualitätsagenturen dazu, die sich professionell mit Fragen der Qualitätssicherung befassen und sich hierzu einen Überblick über wichtige Fragen der Qualität des Unterrichts verschaffen, Wichtiges rekapitulieren oder (z. B. Werkzeuge der Unterrichtsdiagnostik) im Rahmen von Zielvereinbarungen nutzen wollen. Neben der individuellen Lektüre kann das Buch als Arbeitsmaterial dienen für ~
schulinterne Projekte, professionelle Lerngemeinschaften und Steuerungsgruppen sowie Zirkel der Qualitätssicherung, insbesondere im Bereich der Unterrichtsdiagnostik und -verbesserung, Veranstaltungen im Rahmen der schulinternen Lehrerfortbildung,
~
Lehrveranstaltungen im Rahmen der universitären Lehramtsausbildung (Unterricht, Lehren
~
Aus- und Fortbildung von Institutionen und Personen, zu deren Aufgabe die externe
und Lernen, Evaluation), Schulevaluation zählt (Qualitätsagenturen, Schulinspektoren, Evaluationsteams), ~
Seminare der Diplomstudiengänge Psychologie, Pädagogik und Erziehungswissenschaften im Bereich „Pädagogische Psychologie" und „Pädagogische Diagnostik" sowie „Evaluation".
Was in diesem Buch zu Fragen der Qualität schulischen Unterrichts und ihrer Messung gesagt wird, lässt sich großenteils mühelos auf andere Lehr-Lern-Situationen, beispielsweise im Kontext der universitären Lehre (siehe Helmke, Rindermann & Schrader, 2008) übertragen.
1.4 Ziele Die Ziele dieses Buches lassen sich durch die folgenden drei Leitfragen beschreiben: Was ist guter Unterricht? Was macht die erfolgreiche Lehrperson aus?
Die Kapitel 2 bis 4 liefern eine Orientierung über grundlegende Theorien und elementare Konzepte des Lehrens und Lernens, über die Bedeutung der Lehrerpersönlichkeit und Lehrerprofessionalität sowie über wesentliche fächerübergreifende Merkmale der Unterrichtsqualität. Wie kann man die Qualität des Unterrichts erfassen und bewerten?
In Kapitel 5 geht es um die Möglichkeiten und Grenzen von Methoden der Diagnose und Evaluation des Unterrichts. Wie lässt sich Unterricht verbessern?
Kapitel 6 handelt von der Unterrichtsentwicklung, das heißt von den Bedingungen und Handlungsmöglichkeiten der Veränderung von Unterricht. Dem schließen sich in Kapitel 7 Überlegungen zum Potenzial der Videografie für die Lehrerprofessionalisierung an, ergänzt um konkrete Hinweise auf erhältliche Videos mit Unterrichtsbezug Unterrichtsbezug (im „OnlineAnhang" des Buches: http://www.andreas-helmke.de/buchanhang). 17
Übersicht
2 Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte 2.1 Übersicht Schulischer Unterricht ist kein Selbstzweck, sondern verfolgt als Hauptziel die Ermöglichung, Anregung und Aufrechterhaltung individueller Lernprozesse. Hasselhorn und Gold drücken es so aus: „Das Auslösen und Optimieren von Lernprozessen ist das Ziel des Lehrens, insoweit ist es dem Lernen zweckrational vor- und untergeordnet zugleich." (Hasselhorn & Gold, 2006, S. 213) Diese Feststellung ist folgenreich, und zwar aus zwei Gründen: (1) Die Qualität (im Sinne von „Güte") des Unterrichts bemisst sich konsequenterweise primär daran, ob auf Seiten der Schüler Lernprozesse initiiert werden und wie nachhaltig diese sind. „Guter" Unterricht hieße demnach „lernwirksamer" Unterricht. Diese Überlegung stellt zugleich den Kern des Werkes von Hattie (2012) dar: „The lesson does not end when the bell goes! lt ends when teachers interpret the evidence of their impact on students during the lesson(s) relative to their intended learning intentions and initial criteria for success - that is, when teachers review learning through the eyes of their students. What was the impact, with whom, about what, and how efficiently?" (S. 145). Hattie geht noch weiter und pointiert: „I have almost reached the point at which I lose interest in discussion about teaching - not because it is not important, but because it often prevents important discussion about learning" (S. 162). (2) Für eine Vorstellung der Angriffspunkte und Wirkungsweise von Prinzipien effektiven Unterrichts ist es nötig, sich ein Bild der ablaufenden individuellen Lernprozesse zu machen. Ohne Wissen über Prozesse, die beim Lehren und Lernen ablaufen, ist effektives Unterrichten schwer möglich. Nur so lässt sich schlüssig begründen, welche das Lernen anregenden, unterstützenden oder verstärkenden Elemente das Unterrichtsangebot enthalten muss. Solange spezifische Unterrichtsmethoden oder -techniken nicht auf Lernprozesse beziehbar sind, kann ihre Wirkung nicht empirisch überprüft werden; „Listen" oder „Kataloge" mit Merkmalen der Unterrichtsqualität müssen dann beliebig erscheinen. „Qualität" (der Begriff geht zurück auf das lateinische Wort qualitas) in Bildungskontexten hat unterschiedliche Bedeutungen, und es gibt hierzu sehr differenzierte Analysen. Dies hier detailliert zu berichten, würde zu weit führen und wäre auch nicht sehr ertragreich. Von unmittelbarer Relevanz für dieses Buch sind die folgenden beiden Wortbedeutungen: Qualität als Beschaffenheit oder Eigenart eines Gegenstandes (z.B. des unterrichtlichen An-
~
gebots) oder Phänomens; etwa im Sinne von „qualitativen Merkmalen", also beschreibend und nicht wertend; Qualität im Sinne von Exzellenz, als Bezeichnung für die Güte. Dann liegt ein (wenn er auch
~
implizit sein kann) Maßstab zugrunde, es handelt sich um eine bewertende Aussage; der Begriff wird also zu einer Bewertung der Güte oder des Wertes verwendet. Der lernpsychologischen Fundierung von Konzepten der Unterrichtsqualität soll dadurch Rechnung getragen werden, dass einige Grundkonzepte der Lernpsychologie skizziert werden, die als begriffliches Handwerkszeug für ein Verständnis der Unterrichtswirksamkeit unabdingbar sind. Dies sind zunächst diejenigen Paradigmen, die Lernen als Verhaltensänderung verstehen 18
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
und die ihren Ursprung im Behaviorismus haben: klassisches Konditionieren, operantes Konditionieren und Lernen am Modell. Dazu kommen Typen des Lernens, bei denen es um Informationsverarbeitung, insbesondere um den Aufbau und die Veränderung von Wissen und Kom-
petenzen, geht und deren Grundlage kognitionspsychologische und sozialkonstruktivistische Theorien sind. Grundlage für das Verständnis aller Konzepte des Lernens als Wissenserwerb ist ferner eine Vorstellung vom Aufbau und der Wirkungsweise des Gedächtnisses.
Reflexionsaufgabe 1: Der Qualitätsbegriff in den Qualitäts- und Orientierungsrahmen für Schulqualität der Bundesländer bzw. Kantone ~
Überlegen Sie anhand des Orientierungs- oder Qualitätsrahmen Ihres Bundeslandes oder Kantons, an welchen Stellen die Aussagen zu Qualitätsbereichen beschreibend und wo sie bewertend sind.
Trotz der auf den ersten Blick einleuchtenden Devise „Das Lehren vom Lernen her denken" muss jedoch gesagt werden, dass es aussichtslos wäre, allein aus lernpsychologischen Gesetzmäßigkeiten eine Theorie des Lehrens zu entwickeln. Dies haben Lernpsychologen jahrzehntelang erfolglos versucht, und es hat sich als Sackgasse herausgestellt, weil die Bedingungen und Ziele des Lernens im Kontext der Schule anders gelagert sind als etwa die in laborexperimentellen Studien vorfindbaren Ausgangssituationen. Wohl keiner hat die Möglichkeiten und Grenzen der Übertragbarkeit lernpsychologischer Annahmen und Befunde auf das Lernen im Klassenzimmer nachdrücklicher beschrieben als Franz E. Weinert. Den bisher nur geringen praktischen Nutzen von Lern- und Instruktionstheorien skizziert Weinert (1996c, S. 24) wie folgt: ~
„Puristische Theorien postulieren isolierte Lernmechanismen (und simulieren ihre Effekte), die durch mikropsychologische Bedingungskonstellationen ausgelöst werden, aber in der Realwelt des Lernens weder analysierbar noch konstruierbar sind." Entsprechend eingeschränkt ist der praktische Nutzen solcher sehr auf einzelne Lernmechanismen fokussierter Theorien.
~
„Multiple Lernmodelle haben das Problem, aus einer beliebig zu vermehrenden Anzahl von potentiell relevanten Variablen, die zur Erklärung der Lern- und Leistungseffekte notwendigen und/oder hinreichenden zu identifizieren." Werden also verschiedene Lernmechanismen gleichzeitig betrachtet, dann ist es oft kaum möglich herauszufinden, welche das Lernen besonders fördern.
~
„Interaktionistische Lernmodelle geraten leicht in einen infiniten Regress, den Cronbach (1975a, S. 119) so charakterisiert hat: ,Once we attend to interactions, we enter a hall of mirrors that extends to infinity. However far we carry our analysis - to third or fifth order or any other -, untested interactions of a still higher order can be envisioned."' Die Betrachtung von Wechselwirkungen zwischen Person und Situation führt leicht zu einer unüberschaubaren Anzahl an möglichen Effekten: Z.B. kann die Wirksamkeit eines Lernme19
Strategien und Methoden der Unterrichtsforschung
chanismus vom Geschlecht, vom Sprachhintergrund, vom Vorwissen oder von einer Kombination mehrerer Merkmale abhängen. ~
„Kontextuierte Lernmodelle sind beständig in der Gefahr, jede Generalisierung von Ergebnissen konditional zu beschränken, sodass praktische Schlussfolgerungen nur für immer kleinere Klassen von Bedingungskonstellationen möglich werden. Umgekehrt nimmt die Anzahl der spezifischen Aussagen inflationär zu.
11
So lassen sich etwa Ergebnisse, die für das Lernen in bestimmten situativen Kontextengewonnen wurden, z.B. Lernen mit Medien oder mit Lehr-Lern-Texten, kaum auf andere Situationen, insbesondere nicht auf den regulären Unterricht im Klassenzimmer übertragen. ~
„Synthesen empirischer Befunde (z.B. durch statistische Metaanalysen) als Theorieersatz führen prinzipiell nicht zu theoretischen Modellen, sondern bestenfalls zu erfahrungswissenschaftlich gewonnenen Hypothesen, die der theoriegeleiteten empirischen Überprüfung bedürfen. Nach den bisher gemachten Erfahrungen erlauben Metaanalysen keine unmittelbaren praxisrelevanten Schlussfolgerungen.
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Die Zusammenfassung empirischer Ergebnisse ist also nicht gleichzusetzen mit einer empirisch bestätigten Theorie, aus der sich Aussagen über die Wirkmechanismen des Lernens unter spezifischen Bedingungen ableiten lassen.
2.2 Strategien und Methoden der Unterrichtsforschung Die Frage, was die Qualität des Unterrichts (Qualität im Sinne von „Güte", also gleichbedeutend mit der Frage nach „gutem" Unterricht) ausmacht, lässt sich aus zwei grundlegend unterschiedlichen Perspektiven beantworten. Zum einen kann man den Unterrichtsprozess selbst das, was im Klassenzimmer geschieht - zum Gegenstand der Beurteilung machen, man kann ihn anhand normativer Vorstellungen sozusagen „an und für sich" bewerten. Alternativ dazu kann man die Qualität des Unterrichts an seinem Ertrag (Output), also an seinen Wirkungen (Erreichung wichtiger Bildungsziele) festmachen. 2.2.1 Abschied von der traditionellen Methodenorientierung
Weder prozess- noch produktorientiert im Sinne der empirischen Lehr-Lern-Forschung ist der traditionelle Ansatz der Didaktik. Ihr zufolge ist ein Unterricht dann gut, wenn er bestimmte unterrichtsmethodische Forderungen erfüllt. Viele Lehrerinnen und Lehrer kennen aus der
Lehrerausbildung noch die sogenannten Formalstufen des Lehrens und Lernens, wie sie im ausgehenden 19. Jahrhunderten vogue waren. Damals glaubte man, dass Lernen nur möglich sei, wenn ihm eine strikte Abfolge von sehr spezifischen Lehrschritten zugrunde läge. Dies führte zu einer enormen Standardisierung und Rigidisierung des Volksschulunterrichts. Einseitige Methodenfixierungen finden sich - wenn auch in anderem Gewand - auch heute noch. Hierzu eine kritische Einschätzung von Weinert (1998a) aus einem Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel „Guter Unterricht ist ein Unterricht, in dem mehr gelernt als gelehrt wird", der - anknüpfend an der Kritik an den Formalstufen des Unterrichts - vor neuem Dogmatismus warnt: 20
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
Welch ein Glaube an die Zerlegbarkeit der Lehrstoffe in Lektionen, welch eine Vision von der stereotypen Einheitlichkeit der psychologischen Lernmechanismen und welche Hoffnung auf die unbegrenzten Möglichkeiten des Lehrens als Lernen! Kein Wunder, dass der Kampf gegen die Forma/stufen des Unterrichts zur großen Gemeinsamkeit der sonst sehr zerstrittenen Reformpädagogen wurde! Methoden zu Bewertungskriterien guten Unterrichts zu machen, ist aber kein Relikt des 19. Jahrhunderts, sondern findet sich auch in der Gegenwart in vielfältiger, oft versteckter, sich modern gebender, meist aber ideologisch eingefärbter Weise. Unterricht - so heißt es in einem kakophonen Chor - sei nur dann gut, wenn er lebenspraktische Projekte zum Inhalt hat, wenn er als Teamarbeit organisiert ist, wenn er völlig offen für die Gestaltung durch Schüler bleibt oder wenn er statt wichtiger Lerninhalte ausschließlich das Lernen lehrt. Solchen radikal einseitigen Methodenfixierungen - die z. B. im Erstleseunterricht lange Zeit zu ebenso erbitterten wie unsinnigen didaktischen Kontroversen geführt haben wird im Folgenden deutlich widersprochen. Methoden sind nicht Selbstzweck des Unterrichts, sondern Werkzeuge zur Erreichung bestimmter Ziele und nur als solche brauchbar oder unbrauchbar, gut oder schlecht. Kasten 1: Weinerts Warnung vor neuem Dogmatismus (Weinert, 1998a, S.8)
Diese Kritik richtet sich gegen Schematismus und Dogmatismus angesichts „vorgeschriebener" oder „nahegelegter" Methoden des Unterrichtsaufbaus. Treffend erscheint in diesem Zusammenhang Osers Metapher der Choreografie (Oser & Patry, 1990), welche dem Verlauf allen Lernens zugrunde liegt und „[. .. ] welche die Freiheit der Methodenorchestration mit der Strenge absolut notwendiger Lernschritte verbindet. Eine Choreografie ist ja ursprünglich eine Tanzschrittfolge, die zwei Sorten von Ansprüchen erfüllt. Einerseits kann der Tänzer den Raum frei nutzen, die ganze Palette seiner Künste vorzeigen, andererseits ist er an die Strenge des Rhythmus, an die Metrik der Zeit und an die Tiefenstruktur des musikalischen Verlaufs gehalten. Beides muss er verbinden können, Freiheit und Strenge, um erfolgreich dem Ausdruck, den er sich vorgenommen hat, gerecht werden zu können.
11
Originell erscheint mir Shulmans Metapher des Lehrers als Jongleur, die Niggli (2000) als Beleg für die Vielfältigkeit und Unberechenbarkeit des Unterrichts anführt (siehe auch Kapitel 4.6.3: „Überraschungsoffene Grundhaltung"): „Die versiertesten [Lehrer] unter ihnen verstünden es, auf spielerische Art und Weise sehr viele Bälle zu kontrollieren. Das Bild des Jongleurs unterscheidet sich unverkennbar von der Vorstellung eines gradlinigen, mechanistisch präparierten Weges, der zu einem festgelegten Ziel führt. Nach Shulmans Vorstellungen wird Unterricht eher als Spiel mit ihn charakterisierenden Möglichkeiten gesehen, als vielfältig und labil. (S. 37) 11
2.2.2 Prozess- versus Produktorientierung
Im Gegensatz zur „Methodenorientierung" in der Didaktik hat das Konzept der „Prozessorientierung" in der Lehr-Lern-Forschung eine andere Bedeutung: Prozessorientiert in diesem Sinne ist jede Herangehensweise an die Beschreibung und Bewertung des Unterrichts, die 21
Strategien und Methoden der Unterrichtsforschung
nicht vom Produkt (den Wirkungen) ausgeht, sondern nach der Beschaffenheit der Unterrichtsprozesse fragt. „Gut" ist aus dieser Perspektive ein Unterricht, der wissenschaftlich fundierten
Qualitätsprinzipien entspricht, wie sie beispielsweise in Form von kategorienbasierten Unterrichtsbeobachtungs- und Unterrichtsbeurteilungsbögen zur Verfügung gestellt werden. Die in diesen Kategorien zum Ausdruck kommenden Prinzipien (oder „Merkmale") der Unterrichtsqualität bilden den Gegenstand des zentralen Kapitels 4. Der Kontrapunkt zur prozessorientierten ist die wirkungsorientierte Sichtweise: Unterricht ist so gut wie die Wirkungen, die er erzielt. Dieser Blickwinkel wird von einer empirischen, evidenzbasierten Sichtweise, insbesondere von der Forschung zur Lehrerwirksamkeit (teacher effectiveness) nahegelegt und ist seit der empirischen Wende der Bildungspolitik in Deutsch-
land nicht mehr wegzudenken.
Reflexionsaufgabe 2: Output-Orientierung und Bildungsziele Gibt es Prozessmerkmale des Unterrichts, die Ihnen so wichtig sind, dass Sie sie nicht im Sinne einer Output-Orientierung opfern würden, auch wenn sie möglicherweise keinen fachlichen Lernfortschritt brächten? Wenn ja, welche Bildungsziele haben Sie dabei im Auge?
Angemessene und ausgewogene Aussagen über die Qualität des Unterrichts erfordern eine Sichtweise, die sowohl die Qualität der Prozesse als auch der Produkte berücksichtigt. Ein Ignorieren der Prozessqualität wäre gleichbedeutend mit der Maxime „Der Zweck heiligt die Mittel", und ein Ignorieren der Produktqualität käme einem Rückfall in die Zeit des „Blindflugs" vor der empirischen Wende gleich. In diesem Zusammenhang muss allerdings nachdrücklich darauf hingewiesen werden, dass es zum Nachweis der Wirksamkeit eines bestimmten Unterrichtsmerkmals nicht ausreicht, wenn lediglich positive statistische Zusammenhänge (Korrelationen) zwischen diesem Unterrichtsmerkmal und einem Zielkriterium wie z.B. dem Leistungsniveau der Klasse gefunden werden. Das hohe Leistungsniveau der Klasse könnte ja unter Umständen gar nicht Ergebnis der Unterrichtsmethode sein, sondern der Einsatz der Unterrichtsmethode könnte umgekehrt auch vom Leistungsstand der Klasse beeinflusst sein, was beides zu einer positiven Korrelation führen würde. Die Korrelation entspricht der Fragestellung: „Geht eine höhere Ausprägung des Unterrichtsmerkmals mit einem höheren Niveau z.B. des Lernerfolgs einher?" Einfache Korrelationen, wie sie bei nichtexperimentellen Surveystudien (wie PISA, DESI, TIMSS oder IGLU) anfallen, gestatten aber grundsätzlich keine Aussagen über Wirkungszusammenhänge und sind deshalb stets sehr vorsichtig zu interpretieren (Helmke & Klieme, 2008). Aussagekräftig sind eigentlich nur Studien mit experimentellem oder quasi-experimentellem Design (bei denen ein Unterrichtsmerkmal systematisch variiert wird und andere Merkmale konstant gehalten werden) und mit Einschränkungen Längsschnittuntersuchungen, bei denen sowohl der Unter22
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
richt als auch die Zielkriterien über einen längeren Zeitraum hinweg erfasst werden, sodass Veränderungen feststellbar sind. Einen Überblick über experimentelle Arbeiten im Bereich der
Lehr-Lern-Forschung geben Klauer und Leutner (2007) sowie Wellenreuther (2005).
Reflexionsaufgabe 3: Wirkungen guten Unterrichts
A
Überlegen Sie bitte einmal, an welchen Wirkungen Sie persönlich festmachen würden, ob Unterricht gut bzw. erfolgreich ist, und ziehen Sie für diese Einschätzung drei unterschiedliche Fächer heran: Mathematik, Englisch und Sport. ~
Unterscheiden sich Ihre Nennungen hinsichtlich dieser drei Fächer? Wenn ja, was gilt für alle Fächer gleichermaßen, was fachspezifisch?
Stellt man sich der Aufgabe, einen konkreten Unterricht sowohl prozess- als auch produktorientiert zu beurteilen, und unterteilt dabei der Einfachheit halber die Dimensionen jeweils in „negativ" und „positiv" (sogenannter „Mediansplit"), ergibt sich ein Vierfelderschema:
Bewertung des Unterrichtsproduktes
Bewertung des Unterrichtsprozesses
negativ
positiv
negativ
schlechter und wirkungsloser Unterricht
schlechter, aber wirkungsvoller Unterricht
positiv
guter, aber wirkungsloser Unterricht
guter und wirkungsvoller Unterricht
Abbildung 1: Vierfelderschema der prozess- vs. produktorientierten Sichtweise der Unterrichtsqualität
In der Diagonale von links oben nach rechts unten (in der Abbildung fett gedruckt) befinden sich die „erwartungsgemäßen" Ergebnisse. Vorausgesetzt, man hat die wichtigsten Gütekriterien des Unterrichtshandelns methodisch solide erfasst, sollten Schulklassen mit ausgeprägt positiver Prozessqualität des Unterrichts eigentlich auch auf der Produktseite gut dastehen. In der Realität finden sich aber immer auch Klassen in den beiden „erwartungswidrigen" Quadranten: Ein positiv eingeschätzter Unterricht, dessen Ertrag nicht hält, was seine Inszenierung verspricht (links unten), und umgekehrt: Unter den nachweislich erfolgreichen Klassen befinden sich gelegentlich auch solche, deren Unterricht keineswegs positiv eingeschätzt wird (rechts oben). Abgesehen von der bereits angesprochenen Tatsache, dass es viele simultan wirkende Einflussgrößen gibt, ist ein perfekter Zusammenhang zwischen Prozess- und Produktqualität auch aus methodischen Gründen nicht zu erwarten: Der Zusammenhang zwischen Merkmalen der Unterrichtsqualität und spezifischen Wirkungen ist niemals deterministisch, sondern immer 23
Strategien und Methoden der Unterrichtsforschung
nur probabilistisch, das heißt, er hat Wahrscheinlichkeitscharakter. Dazu kommt, dass in den Sozialwissenschaften alle Erhebungen im Feld notwendigerweise mit bestimmten Messfehlern behaftet sind.
A
Reflexionsaufgabe 4: Scheinbare Paradoxien bei der Kontrastierung von Unterrichtsprozess und Unterrichtsprodukt Stellen Sie sich vor, Sie beobachten den Unterricht einer Kollegin oder eines Kollegen und stellen danach fest: Das war gut, so sollte man unterrichten. Gesetzt den Fall, diese Klasse wäre beim Erreichen wichtiger Bildungsziele keineswegs erfolgreich (z.B. Vergleichsarbeiten, Lernstandserhebung), wie könnte dieser scheinbare Widerspruch aufzuklären sein? Und umgekehrt: In einer nachweislich sehr erfolgreichen Klasse sehen Sie einen Unterricht, dem Sie keinesfalls eine gute Qualität bescheinigen möchten. Was könnte sich dahinter verbergen?
2.2.3 Variablen- versus personzentrierter Ansatz
Von diesen beiden Sichtweisen der Qualität des Unterrichts zu unterscheiden sind zwei kontrastierende Strategien der Unterrichtsforschung: der variablenzentrierte und der personzentrierte Ansatz. Die variablenzentrierte Strategie geht so vor, dass einzelne Merkmale (Variablen) des Unterrichts - beispielsweise die Klarheit der Präsentation, die Häufigkeit von Gruppenarbeit oder die Anzahl anspruchsvoller Fragen - mit Maßen des Lernerfolgs in Beziehung gesetzt werden. Ergebnis sind statistische Zusammenhänge (Korrelationen) zwischen einzelnen Unterrichtsvariablen und dem Lernerfolg (je größer die Klarheit, umso höher ist der Lernerfolg). Dies ist die in der Forschung dominierende Methode. Sie ist intuitiv plausibel und die meist gewählte Methode, wenn es darum geht, Gesetzmäßigkeiten des Lehrens und Lernens zu erforschen. Bei einer ausschließlich variablenzentrierten Sichtweise bleibt jedoch das lehrende bzw. das lernende Individuum mit seinen spezifischen Merkmalskonfigurationen außer Acht. Unterricht wird ja nicht von Variablen veranstaltet, sondern von Personen, die jeweils ein individuelles Gesamtmuster unterschiedlicher Facetten repräsentieren. Diese personale Ganzheit gerät leicht aus dem Blickfeld. Deshalb sollte der variablenorientierte Forschungsansatz durch einen personzentrierten Ansatz ergänzt (nicht ersetzt) werden. Letzterer besteht darin, dass in einem ersten Schritt diejenigen Personen identifiziert werden, die als Experten gelten (sei es durch Nennung der Schulleitung, der Schulaufsicht, des Kollegiums oder durch Schülerurteile, sei es ergebnisorientiert auf der Basis der tatsächlich erzielten, empirisch nachgewiesenen unterrichtlichen Wirkungen). In einem zweiten Schritt werden diese Personen und ihr Unterricht unter die Lupe genommen, um von solchen Fällen „guter", das heißt „erfolgreicher" Praxis zu lernen: Worin besteht das Erfolgsgeheimnis dieser Lehrkräfte? Was macht das „Mischungsverhältnis", die angemessene Dosierung verschiedener Lehrmethoden, aus? Ein treffendes Beispiel für einen personzentrierten Ansatz ist die von der Schweizer Stiftung Avenir Suisse initiierte Studie „Best Practice" (Moser & Tresch, 2003). Auf Ergebnisse dieser 24
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
Studie wird später (Kapitel 4) noch eingegangen. Beim best practice-Ansatz geht es z.B. um die Frage: Wie lassen sich der Unterricht und das Denken und Planen von Lehrkräften charakterisieren, denen es gelingt, ihre Klasse zu weitaus besseren Leistungsresultaten zu führen, als man in Anbetracht des Kontextes (Einzugsgebiet der Schule, Klassenzusammensetzung im Hinblick auf Sozialschicht und Sprachherkunft etc.) eigentlich erwarten würde? Als Material für die Lehreraus- und -fortbildung könnten Ergebnisse von best practice-Studien sehr geeignet sein, insbesondere dann, wenn sie mit videobasierten Unterrichtsbeispielen kombiniert werden. Best practice-Studien können in anschaulicher Weise Profile erfolgreicher Lehrpersonen verdeutlichen. Allerdings ist bei der Interpretation der Ergebnisse von best practice-Studien zu berücksichtigen: Die Bildung von Extremgruppen (z.B. erfolgreiche
vs. erfolglose Lehrkräfte) ist nur legitim, wenn zuvor die allgemeinen, für die gesamte Stichprobe geltenden Zusammenhangsmuster ermittelt wurden. Andernfalls kann es zu Artefakten
kommen - bedingt durch die Art der Gruppenbildung: Die Gegenüberstellung der extremen 10-Prozent-Gruppen ergibt möglicherweise ein ganz anderes Bild als das der unteren vs. oberen 20, 25 oder 30 Prozent. Bei den oben angesprochenen Merkmalen der Unterrichtsqualität (im Sinne von Beschaffenheit) handelt es sich um Variablen, also um Merkmale, die unterschiedliche Werte annehmen können. Für Lehrpersonen und für andere, die mit Methoden und Prinzipien der empirischen Sozialforschung und der Statistik wenig vertraut sind, ist die „Zerlegung" des Unterrichts in unterschiedliche Aspekte (oder Komponenten, Segmente, Teilmerkmale) zunächst ein ungewohnter Zugang, der mit manchen Missverständnissen einhergeht, was den Zweck, die Reichweite und die Grenzen einer variablenzentrierten Strategie anbelangt (siehe hierzu Helmke, Helmke, Heyne, Nordheider & Schrader, 2006; Helmke & Schrader, 2008). Wenn es darum geht, den Unterricht anhand von Kriterien zu beurteilen, liegt in der Didaktik, verkürzt ausgedrückt, der Schwerpunkt meist darauf, welche Methoden eingesetzt werden,
um Unterrichtsabläufe lernwirksam zu gestalten. In der Empirischen Unterrichtsforschung dagegen charakterisiert man Unterricht - unabhängig von der jeweils gewählten Methode - im Hinblick auf bestimmte Qualitätsdimensionen (z.B. Strukturiertheit, Verständlichkeit, Motivierung), die nachweislich (belegt durch vorangegangene Untersuchungen) eine Rolle für den Lernerfolg spielen. Diese variablenorientierte Betrachtungsweise geht davon aus, dass der Unterricht verschiedener Lehrpersonen, aber auch bei der gleichen Lehrkraft, in verschiedenen Situationen (Fächer, Klassen, Zeitpunkte), hinsichtlich bestimmter Merkmale (Variablen) variieren kann (z.B. hohe Ausprägung der Variable „Verständlichkeit" bei Lehrperson A, niedrige
Ausprägung dieser Variable bei Lehrperson B). Die empirische Unterrichtsforschung untersucht, ob unterschiedliche Ausprägungen solcher Variablen mit Unterschieden im Lernerfolg (z.B. Leistungszuwachs, Verbesserung der Lernfreude) einhergehen - eine Perspektive, die auch in der Output-Orientierung der neuen Kernlehrpläne und der Bildungsstandards ihren Niederschlag findet. Insofern liegt zwischen beiden Sichtweisen, der der Allgemeinen Didaktik und der der Empirischen Unterrichtsforschung, eine Kluft, denn der Allgemeinen Didaktik ist das Denken in variablen Qualitätskategorien (wie „Strukturiertheit") und erst recht die Orientierung am empirisch nachweislichen „Output" fremd. 25
Strategien und Methoden der Unterrichtsforschung
Weinert (1999c) bezeichnet die variablen- und die personzentrierte Strategie als die beiden grundlegenden Konzeptionen der Unterrichtsforschung und skizziert sie wie folgt:
Nach einer längeren Periode der Konzentration auf theoretische Modelle des Lehrens erleben wir im Augenblick gerade eine stürmische Renaissance der Beobachtung und Analyse des Meisterlehrers als eines Experten für guten Unterricht. Es gibt keinen Zweifel, dass sich beide Forschungsparadigmen stark voneinander unterscheiden. Fasst man Unterrichten als eine künstlerische Tätigkeit oder auch nur als Produkt einer langfristig erworbenen, sehr komplexen, variabel nutzbaren Fertigkeit auf, so sind individuelle Lehrer und das von ihnen gezeigte kompetente Unterrichtshandeln die naheliegendsten wissenschaftlichen Beobachtungs- und Analyseeinheiten bei der Bildung von Makrotheorien, die für den angehenden Pädagogen bei der produktiven Imitation des Meisterlehrers von praktischem Nutzen sein können. Eine Zergliederung des unterrichtlichen Verhaltens in einzelne Variablen, deren Aggregierung und lnbeziehungsetzung zu den Lernfortschritten der Schüler in verschiedenen Klassen, scheint demgegenüber eine eher dysfunktionale Strategie mit nur geringem Erkenntniswert zu sein. Betrachtet man demgegenüber Unterricht als eine wissenschaftlich fundierte und prinzipiell von jedem erlernbare pädagogische Technologie, so dürfte die empirische Analyse lernrelevanter molekularer Unterrichtsmerkmale und ihre theoretische Verknüpfung zu praktisch nutzbaren molaren Verhaltensmustern des Lehrens eine zweckmäßige Forschungsperspektive sein. Beide Positionen sind in der aktuellen pädagogisch-psychologischen Forschung stark vertreten, und es wäre eine allzu vereinfachende Betrachtungsweise, in ihnen lediglich wechselnde wissenschaftliche Moden zu sehen. Wie im folgenden kurz zu zeigen sein wird, handelt es sich vielmehr um zwei verschiedene Ebenen bei der Konstruktion psychologischer Theorien. Auf der einen Seite gibt es die subpersonale Variablenebene mit ihren rein funktionalen Zusammenhangsannahmen und Effektbezügen und auf der anderen Seite geht es um die personale Ebene, die den Menschen als ein sich entwickelndes, erkennendes und handelndes Individuum betrachtet. Diese beiden theoretischen Analyseebenen schließen sich wechselseitig keinesfalls aus, sondern erfordern eine systematische, das heißt nicht eklektische Verknüpfung. Kasten 2: Weinert zur variablen- und personzentrierten Analysestrategie in der Unterrichtsforschung
(1999c, S. 206 f.) 2.2.4 Einzelmerkmale, Muster und Stile
In der Forschung dominieren Untersuchungen, die einzelne Merkmale der Unterrichtsqualität in den Blick genommen haben wie z.B. die Strukturiertheit, die Klassenführung oder die Klarheit. Auf einer Ebene darüber kann man nach Mustern von Merkmalen suchen. Mit dem Begriff des Unterrichtsstils wurde und wird immer wieder versucht, in der Mannigfaltigkeit und Variabilität des Lehrerverhaltens Einheit stiftende charakteristische Züge zu identifizieren, die zugleich Ausdruck der Persönlichkeit, der Lebensphilosophie und grundlegender Erziehungsvorstellungen des Pädagogen sind. Forschungslogisch entspricht die Suche nach Unterrichtsstilen dem Bedürfnis nach einer sparsamen Darstellung weniger, voneinander unabhängiger Faktoren anstelle einer unübersehbaren Vielzahl von Merkmalen. Ein typisches Beispiel für diese Reduktionsstrategie ist die familiäre Erziehungsstilforschung. Aus den beiden - als unabhängig voneinander gedachten 26
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
Dimensionen „Lenkung/Kontrolle" und „Wärme/Zuwendung" ergeben sich durch die Kombination von jeweils niedriger und hoher Ausprägung vier Felder, die verschiedenen Erziehungsstilen entsprechen: ~
Lenkung hoch, Zuwendung hoch: autoritativer Erziehungsstil, Lenkung hoch, Zuwendung niedrig: autoritärer Erziehungsstil,
~
Lenkung niedrig, Zuwendung hoch: permissiver Erziehungsstil, Lenkung niedrig, Zuwendung niedrig: vernachlässigender Erziehungsstil.
Die in der Unterrichtsforschung verbreiteten „Stile" sind im Vergleich dazu einfacher gestrickt und lehnen sich zumeist an die klassische Arbeit von Lewin, Lippitt und White (1939) an, die zwei Stile unterscheiden: a) einen eher traditionellen, formalen, autoritativen, direkten und lehrerzentrierten Stil und b) einen stärker offenen, demokratischen, sozial-integrativen und schülerorientierten Unterrichtsstil. Die Analogien zu Konzepten wie „Offener Unterricht" oder „Direkte Instruktion" liegen auf der Hand. Der scheinbare Vorteil einer Vereinfachung wird allerdings mit gravierenden Nachteilen erkauft, denn es ist keine weitgehend akzeptierte und präzise inhaltliche Definition dieser Stile in Sicht, was Kontroversen über die Angemessenheit von „Unterrichtsstilen" oft ausgesprochen platt und unfruchtbar erscheinen lässt. Insgesamt gesehen, hat sich das Konzept des globalen Unterrichtsstils nicht bewährt. Es ist eindimensional, polarisierend, schematisierend und wird der intraindividuellen Variabilität und Kontextabhängigkeit des Lehrerverhaltens nicht gerecht. Bei den Aspekten der Unterrichtsqualität, die den Hauptgegenstand dieses Buches bilden, handelt es sich um verschiedene Merkmale oder Merkmalsgruppen, die sich positiv auf das Lernen auswirken können, sei es direkt, sei es indirekt, z.B. auf dem Wege der Motivierung. Dies darf jedoch nicht in dem Sinne missverstanden werden, als sei es für den Unterrichtserfolg unabdingbar, dass alle diese Merkmale bei einer einzelnen Lehrkraft in maximaler Ausprägung vorhanden sein müssen. Entscheidend ist vielmehr das Gesamtmuster des Unterrichts; man spricht auch von „Orchestrierung", diese Metapher stammt ursprünglich von Oser (Oser und Baeriswyl, 2002). Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass erfolgreiche Schulklassen (sei es, dass man als Kriterium die durchschnittliche Leistungssteigerung oder auch die simultane Erreichung kognitiver und motivationaler Ziele zugrunde legt) sehr unterschiedliche Profile des Unterrichts, der Lehrer-Schüler-Interaktion und der Klassenführung aufweisen können. Vorausgesetzt, es wurden die wirklich bedeutsamen Unterrichtsmerkmale erfasst und angemessen operationalisiert, kann dies so interpretiert werden, dass Lehrkräfte je nach ihren Talenten, Vorlieben und pädagogischen Orientierungen mit ganz unterschiedlichen Mustern der Unterrichtsqualität zum gleichen Ziel gelangen können. Das BLK-Gutachten, das zur Etablierung des Schulentwicklungsprogramms SINUS geführt hat2 , weist ausdrücklich darauf hin „dass [es] offenbar hinreichende Bedingungen guten Unterrichts [gibt], die bis zu einem gewissen Grade auch austauschbar sind. Die Expertengruppe möchte diesen Befund betonen, um auf die Problematik pädagogischen Dogmatismus jeder
2 http://www.blk-bonn.de/papers/heft60.pdf
27
Strategien und Methoden der Unterrichtsforschung
Art hinzuweisen." (S. 24) Dementsprechend warnt die BLK-Expertise auch zu Recht vor der irrigen Vorstellung, „ Verbesserung des Unterrichts sei schon mit der Änderung eines einzelnen Merkmals, der Justierung einer Schraube vergleichbar, erreicht" (S. 67). 2.2.5 Sozialisationstheoretisches Modell des Unterrichts
Abbildung 2 stellt Sozialisationsbereiche und -agenten in ihrer Verflechtung dar. Schulumwelt und Klassenkontext
Lehrerpersönlichkeit
Prozessm~e-rk-m~a-le_d_e_s~U-n-te-r-ri_c_h-ts~~~~~~~ soziokulturelle Rahmenbedingungen
Medien
Persönlichkeit des Kindes: kognitive und metakognitive Kompetenzen motivationale, soziale und konstitutionelle Merkmale
Gleichaltrige
Bildungs- und Sprachlernbiografie
r----'----~-____jr Prozessmerkmale des elterlichen Erziehungsverhaltens
familiäre Lernumwelt
Persönlichkeit der Eltern
Abbildung 2: Makromodell der Bedingungsfaktoren schulischer Leistungen
Sie soll folgende Punkte veranschaulichen: 1. Schulische Leistungen und Leistungsunterschiede - zwischen Personen wie zwischen Schulklassen - haben viele mögliche Ursachen. Man sagt auch, sie seien multipel determiniert. Daraus folgt u. a., dass Schwächen in einem Bedingungsfeld bis zu einem bestimmten Ausmaß durch Stärken in anderen Feldern ausgeglichen oder ersetzt werden können (Kompensation oder Substitution). 2. Die verschiedenen Blöcke oder Bündel von Merkmalen sind untereinander komplex verknüpft. Die Grafik kann dies (durch entsprechende Pfeile, die Wirkungsrichtungen symbolisieren) nur unvollkommen thematisieren. Ihr geht es mehr um die Identifikation einflussreicher Bereiche (Faktorenbündel); die Dynamik des Zusammenwirkens verschiedener Faktoren kann nicht abgebildet werden. 3. Neben den Bereichen Schule/Lehrer/Schulklasse/Unterricht (oben) und Eltern/Familie (unten) werden zwei weitere Bereiche ausdrücklich aufgeführt, deren Bedeutung in den letzten Jahren zunehmend gestiegen ist: die Medien (TV, Video, Lernprogramme, Internet) 28
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
und die Gleichaltrigen. Ohne eine fundierte Kenntnis der damit verbundenen Modelle und Mechanismen, ohne Berücksichtigung entwicklungspsychologisch relevanter Sachverhalte (z.B. im Jugendalter) lassen sich Effekte des Unterrichts (oder ihr Ausbleiben) und der schulischen Sozialisation nur schwer verstehen. 4. Von zentraler Wichtigkeit für Erklärungen von Leistungsunterschieden ist die Persönlichkeit des Kindes, die den Rahmen für das Lernpotenzial absteckt: Die individuellen Eingangsvoraussetzungen umfassen kognitive und metakognitive Kompetenzen, das heißt das Vorwissen in dem betreffenden Fach, die kognitive Grundfähigkeit (Intelligenz) und die Lernstrategien sowie motivationale, soziale, konstitutionelle und affektive Merkmale (Selbstvertrauen, Lernfreude, Leistungsangst). Für Einzelheiten siehe Helmke und Weinert (1997). 5. Wichtig sind in dem zunehmend multikulturellen Umfeld der Schule die soziokulturellen Rahmenbedingungen. Sie wirken sich auf das gesamte Bedingungsgefüge aus, das in Ab-
bildung 2 gezeigt wird. Je nach vorherrschenden soziokulturellen Rahmenbedingungen können das relative Gewicht (Einfluss einzelner Faktoren) und das Zusammenhangsmuster unterschiedlich sein. 6. Distale und proximale Faktoren. Es gibt Merkmalsgruppen, die kausal „näher dran" sind an der Leistung ( „proximale" Faktoren), wie z.B. das Unterrichtsverhalten der Lehrkräfte und das Erziehungsverhalten der Eltern, verglichen mit kausal entfernteren ( „distalen") Faktoren. So sind Persönlichkeitsmerkmale von Lehrern nicht unwichtiger, sondern nur kausal weiter von der Schulleistung entfernt: Sie wirken sich nur insofern und in dem Maße aus, in dem sie tatsächlich im Schulleben manifest werden: in Form von Erwartungen, Einschätzungen und didaktischem Handeln. Ähnliches gilt für strukturelle Merkmale der Familie, wie z.B. der sozialen Schicht. Diese hat keinen eigenständigen Erklärungswert für Schulleistungsunterschiede, vielmehr sind es Merkmale wie Bildungsnähe, Ehrgeiz für den Erfolg der Kinder, Anregungsgehalt der Lernumwelt, die Qualität des sprachlichen Vorbildes und andere Merkmale, die eine Rolle spielen und die schichtspezifisch unterschiedlich ausgeprägt sind. Auf die Notwendigkeit, unterschiedliche Systeme und Subsysteme der Sozialisation sorgfältig voneinander zu unterscheiden, hat insbesondere Bronfenbrenner (1981) mit seinem ökologischen Ansatz hingewiesen: Er unterscheidet zwischen Mikro-, Meso-, Makro-, Exo- und Chronosystem. Angesichts einer kaum überschaubaren Flut von empirischen Ergebnissen zu den Bedingungen, Korrelaten (Verflechtungen; man spricht auch von Kokomitanten) und Konsequenzen schulischer Leistungen spielen zusammenfassende Darstellungen in Form von Metaanalysen eine wichtige Rolle. Das Prinzip der Metaanalyse besteht darin, die Ergebnisse vieler einzelner empirischer Studien in einer Weise quantitativ zu integrieren, dass die Befundlage transparent wird. Sie weist gegenüber einer narrativen Darstellung des Forschungsstandes den Vorteil auf, dass sie an methodischen Standards orientiert ist, die eine Replizierbarkeit gewährleistet und damit eine kritische Evaluation erst ermöglicht. Die bekanntesten und ergiebigsten Metaanalysen orientieren sich an dem Produktionsmodell schulischer Leistungen von Walberg (1986), das drei große Erklärungsblöcke vorsieht: Schülermerkmale (Fähigkeit, Motivation, Entwicklungsstand), Unterricht (Quantität und Qualität) und Umwelt (Familie, Klasse, Gleich29
Strategien und Methoden der Unterrichtsforschung
altrige, Fernsehen). Die Zusammenstellung von Metaanalysen über Determinanten der Schulleistungen (gewissermaßen Meta-Metaanalysen, auch Mega-Analysen genannt) von Hattie (2012) zeigt, dass die Lehrpersonen, die Qualität des Unterrichts und curriculare Aspekte am lernwirksamsten sind („Teachers are among the most powerful influences in learning", S. 18; „Teachers: the major players in the education process", S. 22). An zweiter Stelle stehen lernrelevante Schülermerkmale wie Vorkenntnisniveau, Selbstkonzept, Motivation und Ausdauer/ Engagement (Hattie, 2012, S. 39 f.). Dagegen erweisen sich Einflüsse des Elternhauses und Merkmale der Schule als deutlich weniger vorhersagestark. Innerhalb der Sozialisationsbereiche (Horne, School, Teacher, Curricula, Teaching) erweisen sich qualitative Aspekte als besonders wichtig, während strukturelle und organisatorische Aspekte erheblich weniger wirksam, gelegentlich sogar völlig unwirksam sind.
A
Reflexionsaufgabe 5: Zusammenspiel von Schule und Elternhaus Wo sehen Sie, wenn Sie an die Erklärungsblöcke „Prozessmerkmale des Unterrichts" und „Prozessmerkmale des elterlichen Erziehungsverhaltens" denken, Kompensationseffekte im Zusammenspiel von Elternhaus und Schule? Und lassen sich auch wechselseitige Verstärkungen denken, etwa im Sinne von Synergie-Effekten oder Aufschaukelungstrends?
A
Reflexionsaufgabe 6: Individuelle Bedingungsfaktoren schulischer Leistungen Welche der in Abbildung 2 genannten Aspekte der Persönlichkeit des Kindes spielen nach Ihrer persönlichen Einschätzung, insbesondere nach Ihrer Erfahrung als Lehrkraft, eine herausragende Rolle, und welche Merkmale sind für Sie weniger relevant?
2.2.6 Quantitative und qualitative Methoden
Zu den unfruchtbaren wissenschaftlichen Kontroversen gehört diejenige, ob sich quantitative oder qualitative Methoden für das Verstehen der Wirkungsweisen von Unterricht besser eignen. Ohne den wissenschaftshistorischen Prozess näher auszuleuchten, soll es hier ausreichen, den aktuellen Stand der Debatte zu referieren, der durch die Parole „Vom Methodenpurismus zur Methodenvielfalt" beschrieben werden kann. Auf der einen Seite gilt es heute als unstrittig, dass sozialwissenschaftliche Forschungsprogramme, die sich der gängigen methodischen Werkzeuge (wie Stichprobenziehung, beschreibende und schließende Statistik) bedienen, nicht per se qualitativen Analysen (z.B. Einzelfällen, Extremgruppen, ethnografischen Studien) überlegen sind. Welcher Ansatz geeignet ist, sollte von der zugrunde liegenden Fragestellung her bestimmt werden. Aussichtsreich sind Forschungsprogramme, die beide Methoden koppeln, beispielsweise (1) mit qualitativen Studien (z.B. Tiefeninterviews) starten, um eine
bessere Grundlage für anschließend zu entwickelnde, quantitativ auswertbare Fragebögen 30
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
zu erhalten, oder (2) die umgekehrte Reihenfolge wählen: Start mit einer quantitativen Survey- oder Längsschnittstudie, um anschließend herausragende, erwartungswidrig gute oder schlechte Einzelfälle oder Gruppen im Detail zu analysieren. 2.2.7 Lineare und nichtlineare zusammenhänge
Traditionell werden als Maß für Zusammenhänge zwischen Merkmalen Korrelationen berechnet. Diese sind ein Maß für die Stärke des linearen Zusammenhangs zwischen den jeweiligen Variablen (z.B. „Der Lernerfolg ist umso höher, je höher das Ausmaß der Strukturierung ist" und andere „Je „. desto"-Aussagen). Solche linearen Zusammenhänge sind aus theoretischer Perspektive jedoch nicht immer plausibel. Gerade in der Unterrichtsforschung geht es vielfach nicht um ein Maximum, sondern um ein Optimum auf dem entsprechenden Kontinuum, beispielsweise im Hinblick auf die Methodenvielfalt. So leuchtet es ein, dass ein völliges Fehlen jeglicher Strukturierung des Unterrichts für den Lernerfolg ebenso ungünstig ist wie eine exzessive, übertriebene Strukturierung. Ein solcher Zusammenhang wäre nicht vom Typ „je „. desto", sondern curvilinear. Wenn man es grafisch darstellen würde, wäre die Beziehung zwischen dem Ausmaß der Strukturierung um den Lernerfolg umgekehrt u-förmig: Das Optimum (höchster Lernerfolg) liegt irgendwo in der Mitte des Strukturierungs-Kontinuums. Weitere Beispiele hierzu finden sich in Kapitel 4. 2.2.8 Additive versus multiplikative Wirkungen
Die Frage nach der Gestalt des Wirkungszusammenhangs mehrerer Qualitätsvariablen wird oft gar nicht gestellt, oder es werden - durch die Wahl einer statistischen Auswertungsmethode Vorentscheidungen impliziter Art getroffen, die nicht ausdrücklich begründet werden. Angenommen, man prüft den Effekt mehrerer Unterrichtsvariablen auf ein Zielkriterium, z.B. den Kompetenzzuwachs, dann ist eine gängige Methode die Regressionsanalyse. Deren Prinzip besteht in einer Vorhersage des Zielkriteriums durch eine Linearkombination der Prädiktorvariablen. Nehmen wir als Beispiel hierfür das Zusammenspiel von Klassenführung und lernförderlichem Klima. Intuitiv werden bei einem linearen Modell zwei Vorentscheidungen getroffen, die
angemessen oder auch falsch sein können. Die Linearkombination vom Typ Z = ax + by (x und y seien Qualitätsmerkmale, a und b die jeweiligen Gewichtungen) bedeutet, dass unterschiedliche Dosierungen der beteiligten Variablen in additiver Weise zusammenwirken. Dies hieße beispielsweise, dass eine sehr ineffiziente Klassenführung durch ein besonders positives lernförderliches Klima kompensiert werden kann (und umgekehrt). Alternativ dazu könnte ein multiplikatives Modell (man könnte auch von einem Koppelungsmodell sprechen) die Realität möglicherweise angemessener beschreiben: Ist die Klassenführung völlig ineffizient, dann hilft auch ein fantastisches Lernklima nicht weiter - und vice versa. Mathematisch ausgedrückt: Weist nur ein Faktor die Ausprägung null auf (Totalausfall) oder fällt er unter einen kritischen Schwellenwert, dann ist der Gesamtertrag ebenfalls gleich null (Multiplikation mit null ergibt null). Die dahinterstehende Frage, unter welchen Umständen man in der Unterrichtsforschung von Koppelung oder von Kompensation von Merkmalen der Unterrichtsqualität (oder Mischformen) sprechen kann, ist theoretisch schwierig und methodisch anspruchsvoll und daher bisher kaum untersucht worden. 31
Strategien und Methoden der Unterrichtsforschung
Zu den Schwierigkeiten der Interpretation von Daten aus Unterrichtsstudien schreiben Helmke und Weinert (1997): „Nicht nur die ,Kulissenhaftigkeit' der Schulleistungsdeterminanten, die auf immer neue und verschachtelte proximale wie distale Einflussfaktoren und Wirkungsmechanismen verweist, stellt ein grundlegendes Problem für die pädagogisch-psychologische Unterrichtsforschung dar, sondern auch die oft komplizierten zusammenhänge zwischen den Determinanten und den Schulleistungskriterien erschweren die Theoriebildung. Einfache, lineare und kontextunabhängige Effektbeziehungen zwischen einem Bedingungsfaktor und einem Kriterium sind eher die Ausnahme. Komplexe funktionale Variablenzusammenhänge, multiple Interaktionen zwischen Einflussfaktoren und in Grenzen mögliche Substitutionen und Kompensationen zwischen den Determinationsvariablen sind vielmehr der Regelfall. Solche Beziehungs- und Effektmuster [. .. ] verschwinden in der einschlägigen Literatur allerdings oft hinter Wolken von Korrelationen, die zu beliebig plausiblen Interpretationen verführen." (S. 75)
Reflexionsaufgabe 7: Kulissenhaftigkeit von Schulleistungsdeterminanten Ein Beispiel für die „Kulissenhaftigkeit" von Schulleistungsdeterminanten könnte etwa die Wartezeit nach Fragen sein: Die Wartezeit ist möglicherweise nur ein Epiphänomen, d. h. eine „Kulisse" für dahinterstehende Merkmale der Lehrperson, beispielsweise „Langsamkeitstoleranz" oder „Geduld". Gibt es weitere Beispiele für Kulissenhaftigkeit?
Reflexionsaufgabe 8: Koppelung und Kompensation
A ~
Wann spricht man von Koppelung von Qualitätsmerkmalen des Unterrichts und wann von Kompensation? Ist Kompensation gleichbedeutend mit Substitution?
2.2.9 Wechselwirkungen
Es gibt einen weiteren Grund dafür, dass man nicht von „dem" guten Unterricht sprechen sollte. So hat die Forschung gezeigt (vgl. die Übersicht bei Klauer & Leutner, 2007), dass ein hoch strukturierter, lehrerzentrierter Unterricht mit vielen förderlichen Hinweisen und unterstützenden Maßnahmen von selbstbewussten, selbstsicheren und leistungsstärkeren Schülerinnen und Schülern als bevormundend und demotivierend empfunden wird, während diese Art von „direkter Instruktion" von leistungsängstlichen Schülerinnen und Schülern geschätzt wird und für ihren Lernfortschritt geradezu nötig ist. Man spricht deshalb auch von „differenziellem Profit" oder von „Wechselwirkungen" zwischen Lehrmethode und Schülermerkmalen (englisch: Aptitude x Treatment Interaction, ATI): Ein- und derselbe Unterricht in einer Klasse kann für
einige Schüler gut, für andere schlecht sein - je nach den kognitiven und motivationalen Eingangsvoraussetzungen auf Schülerseite. 32
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
Ein ähnliches Phänomen ist der sogenannte Matthäus-Effekt („Wer hat, dem wird gegeben"): Diejenigen Schüler, die zu Beginn eines Unterrichtsabschnittes bereits mit günstigeren Ausgangsbedingungen starten (z.B. ein besseres Vorwissen, eine höhere Intelligenz aufweisen), profitieren von einer bestimmten Unterrichtsmethode stärker als die mit den schwächeren Lernvoraussetzungen. Ein und derselbe Unterricht hat also für verschiedene Schüler oder Schülergruppen unterschiedliche (differenzielle) Wirkungen. Dies würde im genannten Beispiel zu einem Schereneffekt führen: Der Abstand zwischen leistungsstarken und -schwachen Schülern würde bei einem extrem „offenen" Unterricht immer größer. Es ist allerdings ein Mythos, dass die Schule notwendigerweise einen solchen Schereneffekt produziert: Die Münchner Langzeitstudie SCHOLASTIK (Weinert & Helmke, 1997b) beispielsweise konnte dies für Unterschiede zwischen Kindern mit unterschiedlichen Intelligenzniveaus bei der Entwicklung der Leistungen beim Rechtschreiben und bei mathematischen Fähigkeiten (in bayerischen Grundschulen) nicht belegen. Baumert spricht sogar von der Schule als der „großen Gleichmacherin der Nation": „Überall hält sie die Kinder stärker zusammen als die Familien" (ZEIT ONLINE 39/2008 vom 18. 09. 08) und verweist auf deutsche und amerikanische Langzeitstudien zum „Sommerlocheffekt": Während der Schulzeit verlaufen die Leistungskurven der Kinder aus unterschiedlichen Sozialschichten parallel, in den Ferien gehen sie auseinander; sozial benachteiligte Kinder lernen in dieser Zeit weniger dazu als Schulkameraden aus privilegierten Schichten. Einen ähnlich gegenläufigen Trend fand Hattie (2009) in seiner Sichtung des Forschungsstandes: „Middle dass students appeared to gain on grade-level equivalent reading recognition tests over summer (d=0.13) compared to lower dass students (d=-0.14). There were no moderating effects for gender or race but the negative effect of summer vacation did increase with grade level" (S. 81). Gelegentlich wird behauptet, die Forschung zur Wechselwirkung zwischen Unterrichtsund Schülermerkmalen sei nicht ergiebig, es sei nicht viel dabei „herausgekommen". Daraus die Irrelevanz dieser interaktiven Sichtweise abzuleiten, wäre jedoch ein Denkfehler, denn die weitaus meisten empirischen Studien haben den Aspekt einer möglichen Wechselwirkung schlicht ignoriert, indem die statistischen Analysen nur auf der Ebene der Schulklasse durchgeführt wurden. 2.2.1 O Wahrscheinlichkeitscharakter
Ein gelegentlich übersehener Punkt betrifft den probabilistischen (Wahrscheinlichkeits-)Charakter von Zusammenhängen zwischen Merkmalen der Unterrichtsqualität und Zielkriterium. Das Gegenteil davon wäre ein deterministischer Zusammenhang: Ist ein Unterrichtsmerkmal hoch bzw. günstig ausgeprägt, dann führt dies mit Sicherheit zum Lernerfolg. Da die Zusammenhänge zwischen einzelnen Qualitätsmerkmalen und Kriterien absolut gesehen oft nur gering sind, lässt sich aus der Kenntnis der Ausprägung eines einzelnen Unterrichtsmerkmals aber nur eine schwache Prognose für den Unterrichtserfolg machen: Dies ist ein weiterer Grund dafür, dass es oft zielführend ist, mehrere relevante Merkmale der Unterrichtsqualität gleichzeitig (simultan) in den Blick zu nehmen, also auf das Gesamtprofil oder die „Orchestrierung" zu achten. 33
Zielkriterien des Unterrichts
2.3 Zielkriterien des Unterrichts Schule und Unterricht verfolgen - über schulische Leistungen und Kompetenzen, über Wissen und Fertigkeiten in Schulfächern hinaus, wie sie in den Bildungsstandards thematisiert werden - eine Vielzahl von Zielen. Daneben hat die Schule zahlreiche - intendierte oder auch unbeabsichtigte - Wirkungen, die unter Begriffen wie „ erzieherische Wirkungen", „ überfachliche Effekte", „ Sozialisationseffekte" der Schule oder „ heimlicher Lehrplan" (hidden curriculum) geführt werden. Die Klassifikation solcher Ziele und Wirkungen ist keineswegs von rein akademischem Interesse, sondern für die Frage nach der Unterrichtsqualität von großer Wichtigkeit, denn Aussagen über die Güte und Angemessenheit von Unterrichtsstilen und -methoden lassen sich immer nur im Hinblick auf spezifische Ziele machen. Dementsprechend finden sich substanzielle Aussagen zu den Zielen von Schule und Unterricht sowohl in den Qualitäts- und Orientierungsrahmen der Bundesländer bzw. Kantone als auch in den jeweiligen Lehrplänen. Angesichts der großen, inzwischen flächendeckend durchgeführten Vergleichsarbeiten (VERA-3, VERA-6 und VERA-8) sowie der Überprüfung, ob die Bildungsstandards erreicht werden, ist es zur Vermeidung einer einseitigen Fixierung auf einen Ausschnitt aus der Gesamtheit schulischer Bildungsziele nötig sich klarzumachen, dass die in Vergleichsarbeiten (die im Klassenverband und schriftlich erfolgen) erhebbaren Kompetenzen nur ein - wenngleich wichtiger - Ausschnitt aus dem breiteren Kanon sein können, der durch die Bildungsstandards repräsentiert wird. Diese wiederum betreffen zwar den Kernbereich schulischer Wirkungen, daneben gibt es aber noch andere wichtige Bildungsziele, insbesondere die Allgemeinbildung sowie soziale, interkulturelle und Selbstregulationskompetenzen, die mit ökonomisch durchführbaren Tests nicht erfassbar sind. Die folgende Abbildung soll dies verdeutlichen.
Bildungsziele eines Unterrichtsfaches
Bildungsstandards: Kernbereiche fachlicher Kompetenzen
Gegenstand von Vergleichsarbeiten: schriftlich und ökonomisch testbarer Teil der Bildungsstandards
Abbildung 3: Bildungsziele - Bildungsstandards - Vergleichsarbeiten
34
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
Die bekanntesten Lernzieltaxonomien, die in der Lehrerausbildung meist ausführlich thematisiert werden, sind diejenigen von Bloom, Gagne und Krathwohl. Sie sollen hier zur Wiederauffrischung (knapp und unkommentiert) beschrieben werden. Da die Konzepte teilweise schwer bzw. nur mit Informationsverlust ins Deutsche übersetzbar sind, belasse ich es gelegentlich bei den originalen englischen Ausdrücken. 2.3.1 Die klassischen Taxonomien
Das Ergebnis der Bemühungen um eine präzise Beschreibung von Lernzielen und ihrer hierarchischen Ordnung bestand in der Entwicklung von Taxonomien. Die bekannteste Taxonomie stammt von Bloom, Englehart, Furst, Hill und Krathwohl (1956): ~
Wissen, Kenntnisse (knowledge),
~
Verstehen (comprehension), Anwendung (application), Analyse (analysis), Synthese (synthesis),
~
Bewertung (evaluation).
Bei diesem Buch handelt es sich übrigens um eines der erfolgreichsten pädagogischen Bücher überhaupt: Bis 1994 wurden über sechs Millionen Exemplare verkauft, und das Buch wurde in 18 Sprachen übersetzt. Die Taxonomie ist hierarchisch aufgebaut: Die Komplexität der Lernziele wird (von oben= Wissen nach unten= Bewertung gesehen) zunehmend größer. Darin kommt der kumulative Charakter von Lernprozessen zum Ausdruck. Das pädagogische Ziel dieser Taxonomie besteht vor allem darin, die Lehrer zu kognitiv anspruchsvolleren, d. h. über bloßes Faktenwissen hinausgehenden Fragen, Anforderungen und Aufgaben anzuregen. In der ebenfalls prominenten Taxonomie von Gagne (1988) werden fünf mögliche Ergebnisse von Lernprozessen unterschieden: Zu drei zentralen kognitiven Lernergebnissen (Faktenwissen und intellektuelle Fertigkeiten, heute meistens als deklaratives und prozedurales Wissen bezeichnet, sowie kognitive Strategien) kommen noch motorische Fertigkeiten sowie Einstellungen, also Lernergebnisse im affektiven Bereich: ~
verbal information,
~
intellectual skills, cognitive strategies, attitudes, motor skills.
Affektive Lernziele sind Gegenstand der Taxonomie von Krathwohl, Bloom und Masia (1964), die als Ergänzung der nur auf kognitive Lernziele bezogenen Systematik von Bloom zu sehen ist: ~
receiving or attending (sensitivity to stimuli), responding (motivation to learn),
~
valueing (acceptance, preference, commitment), organizing (value hierarchy), level (consistency of value and practice). 35
Zielkriterien des Unterrichts
Für Ausführungen dieser Taxonomien sei auf die Originalliteratur verwiesen. Überblicksdarstellungen finden sich bei McCown, Driscoll und Roop (1996), Marzano (2001), Mietzel (2007).
Reflexionsaufgabe 9: Blooms Taxonomie auf dem Prüfstand der Unterrichtspraxis
A
Halten Sie die hierarchische Staffelung von Blooms Taxonomie für zutreffend? Unterziehen Sie sie dem Praxistest: Denken Sie an drei beliebige Themen in Fächern, die Sie kürzlich unterrichtet haben (oder die Sie zu unterrichten planen), und überlegen Sie, ob Sie Ihren Unterricht gemäß dieser Taxonomie aufbauen würden. Wo sehen Sie Vorteile, wo entstehen Probleme?
2.3.2 Kritik an den klassischen Lernzieltaxonomien
Obwohl das Grundanliegen der Bloom'schen Lernzieltaxonomie noch heute berechtigt ist, geht man inzwischen weniger von globalen, bereichsübergreifenden intellektuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten aus, sondern betont die Bereichsspezifität, tendiert also zu einer Aufsplittung des Konzepts allgemeiner intellektueller Fähigkeiten und Fertigkeiten in bereichs- und fachspezifische Fähigkeiten. Was die hierarchische Organisation der Lernziele anbelangt, so ist sie vor allem bei den beiden höchsten Kategorien (also Synthese und Evaluation) in Zweifel gezogen worden. Ferner wurde argumentiert, dass das kritische Unterscheidungsmerkmal zwischen den hierarchisch angeordneten Stufen - die Schwierigkeit - nicht angemessen sei: „As intluential as Bloom's Taxonomy has been an educational practice, it has experienced some severe criticisms [. .. ]. One ot the most common criticisms was that the taxonomy oversimplified the nature of thought and its relationship to learning. The taxonomy certainly expanded the conception ot learning trom a simple, unidimensional, behaviorist model to one that was multidimensional and more constructivist in nature. However, it assumed a rather simple construct ot ditticulty as the characteristic separating one level trom another: Superordinate levels involved more difticult cognitive processes that did subordinate levels. The research conducted an Bloom's Taxonomy simply did not support this structure. For example, educators who were trained in the structure ot Bloom's Taxonomy consistently were not able to recognize questions at higher levels as more difficult than questions of lower levels of the taxonomy." (Marzano, 2001, S. 8)
Gestützt auf den gegenwärtigen Wissensstand in der Kognitionswissenschaft, entwirft Marzano (2001) eine neue Taxonomie, die sechs Stufen umfasst:
36
Level 1: Retrieval
The student can ...
Recall
identify or recognize features of information but does not necessarily understand the structure or can differentiate critical from noncritical components.
~)
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
~>
Execution
perform a procedure without significant error but does not necessarily understand how and why the procedure works.
Level 2: Comprehension Synthesis
identify the basic structure of knowledge and the critical as opposed to noncritical characteristics.
Representation
identify or recognize features of information but does not necessarily understand the structure of knowledge or can differentiate critical from noncritical components.
Level 3: Analysis Matching
identify important similarities and differences between knowledge.
Classifying
identify superordinate and subordinate categories related to knowledge.
Error Analysis
identify errors in the presentation or use of knowledge.
Generalizing
construct new generalizations or principles based on knowledge.
Specifying
identify specific applications or logical consequences of knowledge.
Level 4: Utilization Decision Making
use the knowledge to make decisions or can make decisions about the use of knowledge.
Problem Solving
use the knowledge to solve problems or can solve problems about the knowledge.
Experimental lnquiry
use the knowledge to conduct investigations or can conduct investigations about the knowledge.
Level 5: Metacognition Goal specification
set a plan for goals relative to the knowledge.
Process Monitoring
monitor the execution of the knowledge.
Monitoring Clarity
determine the extent to which he or she has clarity about the knowledge.
Monitoring Accuracy
determine the extent to which he or she is accurate about the knowledge.
Level 6: Seif
The student can „.
Examining importance
identify how important the knowledge is to him or to her and the reasoning underlying this perception.
~I>
37
Zielkriterien des Unterrichts
~>
Examining efficacy
identify beliefs about his or her ability to improve competence or understanding relative to knowledge and the reasoning underlying this perception.
Examining emotional response
identify emotional responses to knowledge and the reasons for these responses.
Examining motivation
identify his or her level of motivation to improve competence or understanding relative to knowledge and the reasons for this level of motivation.
Kasten 3: Lernzieltaxonomie von Marzano (2001)
2.3.3 Typen von Zielkriterien des Unterrichts
Im Folgenden werden aus heutiger Sicht Möglichkeiten der Klassifikation von Zielkriterien vorgestellt. 2.3.3.1 Individuelle versus kollektive Zielkriterien
Oft wird bei den Zielkriterien nur an Wirkungen oder Veränderungen (z.B. Wissensaufbau, Leistungszuwachs etc.) auf Individualebene, das heißt bei den einzelnen Schülerinnen und Schülern gedacht. Auf einer höheren Ebene kann ein Ziel des Unterrichts jedoch auch auf die Verteilung von Merkmalen innerhalb der Klasse gerichtet sein, beispielsweise auf den Abbau
von Unterschieden zwischen leistungsschwachen und leistungsstarken Schülern, was einer Verringerung der Merkmalsstreuung innerhalb der Klasse entspricht. Angesichts der Ergebnisse von PISA und IGLU zur extremen Streuung der Lesekompetenz zwischen Schülern aus sozial schwachen und starken Familien (dort ging es um das jeweils untere und obere Viertel der sozialen Schicht) kommt dem Ziel der Egalisierung von unerwünschten Fähigkeits- oder jedenfalls Leistungsunterschieden zwischen Schülerinnen und Schülern in Schulen und Schulklassen, das heißt der Entkoppelung von sozialer Herkunft und Bildungschancen, in Zukunft eine verstärkte Bedeutung zu.
Reflexionsaufgabe 10: Bildungspolitiker und Eltern
A ~
An welcher Stelle könnten lnteressenskonflikte entstehen, wenn Sie zum einen an die bildungspolitische Forderung nach Egalisierung unerwünschter Leistungsunterschiede, andererseits an das Interesse der Eltern denken, denen an optimaler Förderung für ihr Kind gelegen ist? Gibt es weitere Konflikte oder Reibungsflächen zwischen individuellen und kollektiven Zielkriterien?
2.3.3.2 Fachwissen versus Schlüsselkompetenzen
Mit der Vielfalt unterschiedlicher Ziele des Schulunterrichts hat sich im Jahre 1809 bereits Wilhelm von Humboldt (1920) auseinandergesetzt:
38
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
„Der Zweck des Schulunterrichts ist die Übung der Fähigkeiten und die Erwerbung der Kenntnisse, ohne welche wissenschaftliche Einsicht und Kunstfertigkeit unmöglich ist [. . .]. Der junge Mensch soll in Stand gesetzt werden, den Stoff, an welchen sich alles eigene Schaffen immer anschließen muss, teils schon jetzt wirklich zu sammeln, teils künftig nach Gefallen sammeln zu können, und die intellektuell-mechanischen Kräfte auszubilden. Er ist also auf doppelte Weise, einmal mit dem Lernen selbst, dann mit dem Lernen des Lernens beschäftigt." (S. 268)
Diese beiden Zielkriterien und ihr relatives Gewicht für den Schulerfolg und die Bildungsqualität von Schule sind in den letzten Jahren Gegenstand von Kontroversen gewesen. Insbesondere das selbständige Lernen und das sinnentnehmende Lesen (siehe PISA) gelten als die Schlüsselkompetenzen, in neuester Zeit ergänzt durch Kompetenzen im Bereich der Informationstechnik (IT oder ICT
= Informations-
und Kommunikationstechnologien). In ei-
ner Zeit, in der man mit der Forderung nach „mehr Schlüsselqualifikationen" offene Türen einrennt und sich im Einklang sowohl mit berechtigten Klagen der Wirtschaft („mangelndes Basiswissen, defizitäre Schlüsselkompetenzen") wie der Universität ( „unzureichende Studierfähigkeit") befindet, scheint sich die Waage klar zugunsten der Schlüsselkompetenzen und zulasten der fachlichen Wissensbasis zu neigen, was in Slogans wie „Denken lernen statt Fachwissen anhäufen" oder „Persönlichkeitsbildung statt Stoff pauken" zum Ausdruck kommt. Mit Reusser (2000) halte ich es jedoch für unangebracht, Wissen und Denken, Fachbildung und Persönlichkeit gegeneinander auszuspielen, „als ob sich eine kulturrelevante Lern- und Denkfähigkeit fachbeliebig und ohne Gegenstände denken ließe" (S. 110). Die wichtigste Voraussetzung für kumulative und anspruchsvolle Lernprozesse sind gerade nicht formale Schlüsselqualifikationen, sondern ist eine solide und gut organisierte Wissensbasis, das heißt ein in sich vernetztes, in verschiedenen Situationen erprobtes und flexibel anpassbares Wissen („intelligentes Wissen"), das Fakten, Konzepte, Theorien und Methoden gleichermaßen umfasst. So sagt auch die Expertise der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (1997): „ Verständnisvolles Lernen ist ein aktiver und konstruktiver Aufbau von Wissenssystemen. Dies ist immer ein indivi-
dueller Konstruktionsprozess, der maßgeblich durch das verfügbare Vorwissen und den dadurch beschriebenen Verständnishorizont beeinflusst wird. Der kumulative Verlauf des Lernens innerhalb eines Wissensbereichs wird unmittelbar durch die Qualität des Vorwissens bestimmt. Umfang, Organisation, mentale Repräsentation und Abrufbarkeit machen die Qualität des Wissensbestandes aus. Bei steigender Schwierigkeit und Komplexität von Aufgaben und Problemstellungen nimmt die Bedeutung des spezifischen Vorwissens für deren erfolgreiche Bearbeitung zu." (S. 17)
Gerade weil nach den ernüchternden TIMSS- und PISA-Ergebnissen die Gefahr allzu einfacher Rezepte naheliegt, hier eine Warnung Weinerts (1998b):
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Zielkriterien des Unterrichts
Verführerisch klingen ihre Botschaften! Sie werden von politischen Parteien, Lehrerorganisationen, Elternverbänden, Industrie- und Handelskammern begierig aufgegriffen, interessengeleitet verstärkt und als wirksame Beiträge zur Schulreform propagiert. Die Empfehlungen sind durchweg eindimensional und scheinen extrem einfach zu sein. Behauptet wird zum Beispiel: ~
Wissen sei altmodisch: Was wir bräuchten, sei Medienkompetenz, um alle Informationen dieser Welt blitzschnell elektronisch abrufen zu können; Lernen sei viel zu inhaltsspezifisch und zu zeitaufwendig: Was wir bräuchten, sei deshalb, das Lernen zu lernen, damit sich jeder jederzeit bei entsprechendem Bedarf alles Notwendige in kürzester Zeit aneignen könne; Der Erwerb von Qualifikationen sei viel zu speziell und veralte zu schnell: Es genüge, einen Kanon von Schlüsselqualifikationen zu besitzen, um alle beruflichen Türen öffnen und dahinter erfolgreich tätig sein zu können.
In jeder dieser pädagogischen Visionen findet sich ein bildungspolitischer und lernpsychologischer Tropfen Wahrheit, der aber durchwegs von einer Woge psychologischer Illusionen überspült wird. Der menschliche Geist ist nämlich von Natur aus nicht darauf eingerichtet und nicht kurzfristig darauf zu programmieren, fehlendes Wissen durch Metawissen zu ersetzen; mangelnde Qualifikationen durch Schlüsselqualifikationen zu kompensieren; statt inhaltliches Wissen zu erwerben, vorwiegend das Lernen zu lernen; als Heranwachsender keine grundlegende Allgemeinbildung zu erwerben und doch lebenslang erfolgreich zu lernen [. .. J Auf allen diesen Lern- und Bildungsdimensionen das jeweils Zukunftsweisende zu tun, ohne das traditionell Notwendige zu lassen, das ist die wichtigste Schlussfolgerung aus den verfügbaren kognitions-, lern- und entwicklungspsychologischen Erkenntnissen. Kasten 4: Weinerts Warnung vor falschen Propheten und unzulässigen Vereinfachungen (Weinert 1998b, S. 113 f.)
Daraus folgt zweierlei, und dies ist bereits ein erstes Resümee: Erstens sind Programme und Konzepte, die sich der Entwicklung und der Stärkung von Schlüsselkompetenzen von Schülern widmen, nötig und wichtig - sie stoßen jedoch auch an Grenzen, wenn sie verabsolutiert werden oder wenn eine Unausgewogenheit zwischen der unabdingbaren Wissensbasis einerseits und Schlüsselkompetenzen andererseits entsteht. Gelegentlich sind Tendenzen der Vernachlässigung einer soliden fachlichen Wissensbasis festzustellen. Zweitens müssen sich Programme und Aktionen zur Entwicklung und Steigerung von Schlüsselkompetenzen (z.B. Methoden- oder Sozialkompetenzen, sei es bei Schülern oder bei Lehrern) der gleichen strikten empirischen Bewährungskontrolle stellen, wie dies auch für andere Unterrichtsprogramme verlangt wird. 2.3.3.3 Sechs fundamentale Bildungsziele der Schule
Weinert propagiert sechs fundamentale Bildungsziele: Erwerb intelligenten Wissens, anwendungsbezogenen Wissens, Erwerb von Schlüsselqualifikationen, Lernkompetenzen, sozialen Kompetenzen und Wertorientierungen. Dabei legt er als zentrales Zielkriterium des schulischen Unterrichts die Entwicklung fachlicher Kompetenzen zugrunde. Zur Vermeidung des Missverständnisses, es ginge dabei ledig-
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lieh um Faktenwissen, soll nochmals betont werden: Zentrales Ziel des schulischen Unterrichts ist nicht die Akkumulation von Stoff, geschweige denn von bloßem Faktenwissen, sondern es geht um intelligentes Wissen. Da Weinerts Klassifikation und vor allem seine Schwerpunktsetzung als Arbeitsgrundlage für die weiteren Ausführungen dient, ist zum besseren Verständnis im Folgenden die entsprechende - etwas längere - Passage aus einem grundlegenden Vortrag von Weinert (2000) abgedruckt:
1. Die Vermittlung von intelligentem Wissen ist für mich erstes und wichtigstes Bildungsziel. Keines der fünf folgenden Bildungsziele, die in neuester Zeit an Bedeutung gewonnen haben, ersetzt oder kompensiert das erste [. . .]. Intelligentes Wissen besitzen heißt also, ein Wissen besitzen, das bedeutungshaltig und sinnhaft ist. Gut verstandenes Wissen ist ein Wissen, das nicht „eingekapselt" ist, nicht tot im Gedächtnis liegt, nicht „ verlötet" ist mit der Situation, in der es erworben wurde, sondern das lebendig, flexibel nutzbar, eben intelligent ist. Intelligentes Wissen zu erwerben, ist und bleibt die wichtigste Aufgabe des Bildungssystems, des Ausbildungssystems und des lebenslangen Lernens. Es gibt keine herausragende Kompetenz auf anspruchsvollen Gebieten ohne ausreichendes inhaltliches Wissen. Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand der Kognitionswissenschaften kann es keine Zweifel geben, dass es zum Scheitern verurteilt ist, wenn man durch formale Techniken des Lernenlernens oder mithilfe einiger weniger Schlüsselqualifikationen fehlendes oder mangelhaftes inhaltliches Wissen kompensieren wollte. Intelligentes Wissen ist nicht reines Faktenwissen. Die Hauptstadt von Ecuador z. B. muss man in der Regel nicht auswendig kennen. Unter intelligentem Wissen ist ein wohlorganisiertes, disziplinär, interdisziplinär und lebenspraktisch vernetztes System von flexibel nutzbaren Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kenntnissen und metakognitiven Kompetenzen zu verstehen. Sowohl Voraussetzung als auch Resultat ist ein sachlogisch aufgebautes, systematisches, inhaltsbezogenes Lernen, das grundlegende Kenntnislücken, Verständnisdefizite und falsche Wissenselemente vermeidet. Intelligentes Wissen, das anschlussfähig sein soll für lebenslanges Lernen und das die Grundlage des lebenslangen Lernens darstellt, muss in systematischer Weise erworben werden. Daher kann es nicht in die Beliebigkeit des einzelnen Schülers gestellt sein, dieses Wissen zu erwerben, sondern es erfordert die Verantwortlichkeit auf Seiten des Lehrers. Es erfordert eine Unterrichtsmethode, die lehrergesteuert, aber schülerzentriert ist. Dazu muss die einzelne Lehrerin und der einzelne Lehrer prüfen, welche relevanten Voraussetzungen ihre Schüler zu Beginn des Unterrichts eigentlich haben. Manche Lehrer halten Unterricht und wissen gar nicht, auf welcher Basis des Vorwissens sie unterrichten. Wenn man die Mathematikleistungen mancher Klassen überprüft, stellt man fest, dass einige Schüler Defizite von zwei bis zu vier Schulj'ahren haben. Wie erfolgreich kann ein Unterricht sein, der sich an einen Schüler wendet, der solche Defizite hat? Wie soll das neue Wissen, wie sollen die neuen Informationen, wie soll das neue Verständnis eigentlich erworben werden in einem solchen Steinbruch von Wissen? Aus diesem Grunde sind die gelegentlich propagierten Übertragungen aller Verantwortlichkeiten für das Lernen auf die lernenden Schüler keine angemessene, sondern meiner Meinung nach eine falsche, sogar eine gefährliche Methode. Es gibt kein Lernen, ohne dass Schüler aktiv sind, aber dieses aktive - nicht das passive, schläfrige! - Lernen muss zum Teil vom Lehrer gesteuert werden. Ein letzter Satz in diesem Zusammenhang: Vieles von dem, was gelernt werden muss, wird ,,lustvoll" gelernt. Es wird Verknüpfun-
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Zielkriterien des Unterrichts
gen zwischen Vergnügung und Lernen geben. Lernen wird einerseits vergnügt und spielerisch sein und anderer-
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seits eine große, ernsthafte Auseinandersetzung von allen Heranwachsenden verlangen. 2. Man hat der Schule seit jeher vorgeworfen, dass Schüler zu wenig ihr Wissen in praktischen Situationen anwenden können. Industrie- und Handelskammern beklagen seit vielen Jahren, dass praktisch innerhalb der einzelnen Betriebe nochmals eine Neuvermittlung großer Teile des Wissens stattfinden müsse, um dieses eher systematische Wissen zum anwendungsbezogenen Wissen und Können zu machen. Das hat sich leider wissenschaftlich als richtig erwiesen. Ein geschlossenes System von Wissen im Kopf zu haben sorgt nicht dafür, dass dieses Wissen in unterschiedlichen Situationen angewandt werden kann. Dies hat in Amerika zu einem sehr intensiven Streit geführt, ob Schülerinnen und Schüler nicht besser anwendungszentriertes und situationsbezogenes Wissen erwerben sollten. Die Antwort, die inzwischen gefunden worden ist, liegt auf der Hand: Man muss das eine tun, ohne das andere zu lassen. Das heißt, dass neben dem lehrergesteuerten Unterricht in jeder Klasse - von der ersten bis zur letzten! - Projektunterricht mit sinnvollen, komplexen und transdisziplinären Problemen eine zwingende Notwendigkeit ist. Im Projektunterricht können Schüler lernen, wie ihr Wissen in unterschiedlichen Anwendungssituationen genutzt werden kann. Diese Anwendungssituationen haben nämlich eigene Regelhaftigkeiten. Daher besteht die Nutzung des Wissens aus der Verbindung der Eigengesetzlichkeit des Wissens mit der Eigengesetzlichkeit von Anwendungssituationen. Die Vermittlung anwendungsbezogenen Wissens ist eine Aufgabe, der sich die Schule nicht entziehen kann. 3. Nichts ist im Augenblick ein solches „Mysterium" wie der Begriff der Schlüsselqualifikation. Dieser Begriff wurde vor gar nicht so langer Zeit eingeführt in dem Bewusstsein, dass kaum jemand nur einen Beruf im Laute seines Lebens ausübt. Es geht um die Frage, welches methodische Wissen, welche Kenntnisse und welche Fertigkeiten, die in unterschiedlichen Berufen oder Tätigkeiten anwendbar sind, muss man den Schülern vermitteln? Schlüsselqualifikation bedeutet also nichts anderes als jene wichtigen Kenntnisse und jenes wichtige Können, die nicht in einer Situation, sondern in möglichst vielen beruflichen Situationen anwendbar sind. Eine Folge dieser Überlegungen war allerdings, dass innerhalb von zehn Jahren allein im deutschsprachigen Bereich und nur für die berufliche Bildung 654 Schlüsselqualifikationen in der Literatur genannt wurden. Das Auffällige daran ist, dass die Mehrzahl dieser Schlüsselqualifikationen sehr persönliche Eigenarten darstellen, die man nicht einfach lernen kann. Ich meine z. B. kritisches Denken oder Toleranz gegenüber Widersprüchlichkeit[. .. ]. Wir müssen zwei Gruppen von Schlüsselqualifikationen unterscheiden, die konkreten Schlüsselqualifikationen und die abstrakten Schlüsselqualifikationen. Drei Beispiele sollen die Gruppe der konkreten Schlüsselqualifikationen verdeutlichen. Der mündliche sprachliche Ausdruck ist vermutlich die bedeutendste Schlüsselqualifikation, die es gibt. Sie ist unverzichtbar für sehr viele Berufsbereiche und wichtig in vielen Situationen. Das Gleiche gilt wiederum - mit Betonung auf dem Mündlichen - für Fremdsprachen. Zu den konkreten Schlüsselqualifikationen gehört heute auch die Medienkompetenz. Die Mehrzahl der Lehrer ist den jungen Studenten oft hoffnungslos unterlegen. Mit jeder neuen Schülergeneration kommt praktisch eine verbesserte Expertengeneration auf diesem Gebiet. Das Land wird sich deshalb überlegen müssen, die Wirtschaft zu bitten, dass alle diejenigen Firmen, die auf diesem Gebiet junge Experten haben, diese für kurze Zeit in
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die Schulen schickt, und sei es nur für zwei Stunden in der Woche. Die Beschaffung von Geräten für die Schulen alleine reicht nicht aus. Aus der Gruppe der abstrakten Schlüsselqualifikationen seien zwei Beispiele entnommen, wie sie im Protokoll einer Konferenz, die Anfang des Jahres 2000 in der Schweiz im Auftrag der OECD stattgefunden hat, stehen: Autonomie und Selbstmanagement. Die Diskussion über die Schlüsselqualifikationen wird in den nächsten Jahren sehr heftig werden. Auf der einen Seite gibt es faszinierende Schlüsselqualifikationen, die einige wenige Menschen als persönliche Eigenarten besitzen und die außerordentlich schwer zu vermitteln sind. Auf der anderen Seite werden die konkreten, tatsächlich vermittelbaren Schlüsselqualifikationen gegenüber diesen abstrakten meiner Meinung nach zurzeit noch unterschätzt und dürften in den nächsten Jahren an Bedeutung gewinnen. Wir sollten darauf dringen, dass Schlüsselqualifikationen so untergliedert und in Komponenten zerlegt werden, damit zumindest partiell Lernvorgänge vorstellbar sind, die in Schulen stattfinden können. Sonst tut man den Schülern nichts Gutes und vermittelt den Lehrern ein schlechtes Gewissen. Nicht, dass ich eine dieser Schlüsselqualifikationen für wertlos halte; das Problem ist aber, dass wir in der Pädagogik nicht nur an das Wünschbare, sondern zugleich an das Machbare denken sollten. Ziele müssen immer etwas über das Machbare hinausgehen, aber das Machbare sollte ein entscheidendes Kriterium sein. 4. Der Erwerb von Lernkompetenzen ist ein weiteres Bildungsziel. Wenn in einer Universität ein Seminar über „Lernen lernen" angeboten wird, melden sich viele Studenten über alle Fächer hinweg. Das heißt, dass die Studenten das Gefühl haben, in der Schule nicht das Lernen gelernt zu haben. Das ist auch nicht erstaunlich, weil die Schule zu Recht darauf konzentriert ist, auf Lernergebnisse zu achten. Ohne Frage kommt es darauf an, dass z.B. die Schüler die Grundlagen der Mathematik beherrschen. Es ist eine der Hauptaufgaben des Lehrers, das Lernen zu organisieren, damit es möglichst für jeden Schüler erfolgreich ist. Aber heute kommt die neue Aufgabe hinzu, die Schüler im Laute ihrer Schulzeit anzuleiten, wie sie alleine kompetent lernen können - in der Schule und nach der Schule. Sie sollen Experten ihres eigenen Lernens werden. Das setzt ein Umdenken in der Schule, im Schulsystem und im Bildungssystem voraus. Einen Teil - einen sehr kleinen Teil - der Unterrichtszeit wird man den Lernprozessen widmen müssen. Das heißt, dass die Lernprozesse selbst zum Gegenstand des Unterrichts werden. Nehmen wir an, es sei vier Wochen lang ein Stoff im Mathematikunterricht behandelt worden. Danach ist es notwendig, eine, zwei oder drei Stunden zu intensivieren, um mit den Schülern zusammen nicht nur zu prüfen, was sie gelernt haben, sondern wie sie es gelernt haben. Zu tragen ist dann z.B., was es heißt, eine Sache gut verstanden zu haben und was der Unterschied zwischen „Eine-Aufgabe-lösen-können" und „Eine-Aufgabe-verstanden-haben" ist. Beim Lernen lernen geht es darum, für jedes Fach die erfolgreichen Lernwege und Lernstrategien zu erfassen. Jeder einzelne Schüler muss die wichtigsten Gesetzmäßigkeiten des Lernens und des eigenen Gedächtnisses beherrschen. Jeder Schüler muss, wenn er alleine und selbständig lernt, Folgendes können (das Wissen allein ist nutzlos!): Wie überwacht man das eigene Lernen? Wie plant man es? Wie löst man einen Lerngegenstand in einzelne Teile auf? Wie beobachtet man sich selbst beim Lernen? Wie kontrolliert und evaluiert man die Ergebnisse? Lernen lernen ist in jedem einzelnen Unterrichtsfach ein neues Teilgebiet. International liegen bisher keine ausreichenden Lehr- und Lernmaterialien vor. Man versucht zwar gegenwärtig in England und in den USA, diese Lücke wenigstens teilweise zu schließen. Ich sehe in Deutschland derzeit keine andere Möglichkeit, als dass die pädagogischen Zentren für bestimmte Fachgebiete,
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Zielkriterien des Unterrichts · Lehren und Lernen: Theorien, Trends, Kontroversen
in denen sie tätig sind, Materialien entwickeln. Mit diesen sollten sich Lehrer selbst Wissen und Können über
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die Lernprozesse so aneignen können, dass sie in der Lage sind, dieses den Schülern zu vermitteln. Dabei gilt allerdings: Schlagworte wie „Lernen lernen" lassen sich leicht und schnell aussprechen, sind aber ausgesprochen widerständig, wenn sie in die tatsächliche Lehr- und Lernpraxis umgesetzt werden sollen. 5. Das Gleiche gilt für das fünfte Bildungsziel, nämlich den Erwerb sozialer Kompetenzen. Wenn man in deutschen Unternehmen nach den wichtigsten schulischen Bildungszielen tragt, wird Teamfähigkeit und kooperative Kompetenz nach dem Lernen lernen an zweiter Stelle genannt. Das hat seine Berechtigung, wenn man die heutige Arbeitsorganisation in den meisten Firmen betrachtet. Auch wenn sich das klassische „ Volvo-Modell", die Aufteilung von Fließbandsystemen in bestimmte Gruppenarbeiten, in dieser klassischen Form nicht über verschiedene Sparten hinweg durchgesetzt hat, ist es inzwischen doch so, dass in der Wirtschaft die Bedeutung der Teamarbeit zu Recht immer stärker erkannt und gefordert wird. Es geht um die systematische Arbeit in Gruppen unter Anleitung des Lehrers. Neben der Arbeit im Klassenverband und dem Individualunterricht in der Stillarbeit müssen zehn oder fünfzehn Prozent der Unterrichtszeit mit angeleiteter Gruppenarbeit verbracht werden, will man Teamfähigkeit als eine Qualifikation verfügbar machen, über die die Mehrzahl der Schulabgänger tatsächlich verfügt. 6. Das letzte hier zu nennende Bildungsziel in dieser Reihe ist der Erwerb von Wertorientierungen. Es geht dabei nicht nur um kulturelle Regeln, soziale Sitten (z.B. Benehmen beim Mittagessen), sondern auch um universelle Normen wie etwa Fairness und Gerechtigkeit. Damit ist kein neues Fach gemeint, sondern: Wie organisieren Schulen ihren eigenen Unterricht? Was heißt das eigentlich, rege/geleitet zusammen leben? Was heißt das, eine Schulkultur aufbauen? Ich finde es großartig, dass die Bildungsminister inzwischen dazu übergegangen sind, den Schulen mehr Möglichkeiten zur Schwerpunktbildung zu geben. Damit kann jede Schule wieder eine Einheit von regelhaften, lern- und leistungsorientierten Komponenten auf der einen Seite und von Feiern, Festen und ähnlichen Dingen auf der anderen Seite entwickeln. Ich fasse den Abschnitt über die Bildungsziele zusammen: Wir müssen darauf achten, dass wir unter der Flut neuer Anforderungen und neuer Kompetenzen, die in der Schule vermittelt werden sollen, nicht das Wichtigste vergessen, nämlich den systematischen, anwendungsfähigen Erwerb intelligenten Wissens, im Wesentlichen durch /ehrerorganisierten Unterricht. Insofern kommt der Qualität und der Qualifizierung der Lehrer eine entscheidende Bedeutung für alle Schulverbesserungen zu. Es gibt aber weitere Kompetenzen und Qualifikationen, die oft nur Schlagworte sind, die aber Praxis werden müssen. Die genannten Anwendungskompetenzen - Methodenbeherrschung, soziale Kompetenzen, Lernkompetenzen und Wertorientierungen - werden in nächster Zeit die Diskussionen beherrschen. Sie gelten sowohl für die wenig Begabten als auch für die sehr gut Begabten. Aber diese Ziele können von unterschiedlich begabten Schülern nur auf unterschiedlichem Niveau erreicht werden. Kasten 5: Sechs fundamentale Bildungsziele nach Weinert (2000, S. 5-11)
Reflexionsaufgabe 11: Abstrakte und konkrete Schlüsselaufgaben
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Vollziehen Sie mit eigenen Worten Weinerts Unterscheidung zwischen konkreten und abstrakten Schlüsselqualifikationen nach. Fallen Ihnen weitere Beispiele für abstrakte Schlüsselkompetenzen ein?
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Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
2.3.3.4 Erzieherische Wirkungen
Zu den namhaftesten und produktivsten Wissenschaftlern im deutschen Sprachraum, die die erzieherischen Wirkungen der Schule zum Gegenstand ihrer Forschung gemacht haben und zugleich einen entwicklungspsychologischen Ansatz verfolgen, gehört zweit ellos Helmut Fend 3 , dessen Werk hier - stellvertretend für das gesamte Forschungsprogramm zu den erzieherischen Wirkungen der Schule - genannt werden soll. Seine Konstanzer und Züricher Studien thematisieren in einer - nicht nur für den deutschen Sprachraum - einzigartigen Weise die gesamte Palette schulischer Sozialisationseffekte: von der Sozialisation durch Literatur, der politischen Sozialisation bis hin zu den „klassischen" Sozialisationseffekten im Bereich lern- und leistungsbezogener Motive, Einstellungen, Orientierungen und Selbstkonzepte (Fend, 1998, 2008; Fend, Knörzer, Nagl, Specht & Väth-Szusdziara, 1976). 2.3.3.5 Kurz- versus langfristige Effekte
Jeder kennt die gute alte Formel non scholae, sed vitae discimus (die bekanntlich auf Seneca zurückgeht, der es als Tadel gegen den damaligen Studienbetrieb gerade andersherum benutzte [non vitae, sed scholae discimus], sinngemäß übersetzbar mit „Leider lernen wir ja nur für die Schule, nicht fürs Leben"). Trotzdem ist in den meisten Forschungsprojekten und wohl auch im Unterrichtsalltag die Reichweite der Wirkungsvorstellungen begrenzt, häufig auf ein Schuljahr, wenn es hochkommt auf den Zeitraum, während dem eine Klasse unterrichtet wird (z.B. während der Sekundarstufe I oder der Grundschule), selten aber über die Schule hinaus. Aus organisatorischen und finanziellen Gründen ist dies nachvollziehbar, aber es wird damit zugleich ein gravierendes Forschungsdefizit deutlich: Um zu einer angemessenen Bewertung der Qualität des Unterrichts zu gelangen, muss die Perspektive über die Schule hinausreichen: Was bewirkt der Unterricht für das Leben nach dem Ende der Schulzeit, das heißt für die Bewältigung der Anforderungen des Berufs und des Studiums? Die damit verbundenen Fragen erfordern Forschungstypen, die nur selten realisiert werden, im günstigsten Falle Langzeitstudien, die über das Ende der Schulzeit hinausreichen, oder auch sogenannte Absolventenstudien, bei denen Berufstätige rückwirkend zu ihren schulischen Erfahrungen befragt werden.
2.4 Lehren und Lernen: Theorien, Trends, Kontroversen Die Frage der Unterrichtsqualität war und ist Gegenstand sehr unterschiedlicher wissenschaftlicher Ansätze und Forschungstraditionen und -methoden. Anstelle deren Aufzählung und Beschreibung wird im Folgenden der Versuch unternommen, einige wesentliche Koordinaten der wissenschaftlichen Diskussion über Unterrichtsqualität und wichtige Trends zu identifizieren.
3 Ich darf an dieser Stelle anmerken, dass Helmut Fend, damals Universität Konstanz, mein Doktorvater war und dass ich von der Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter in den von ihm geleiteten interdisziplinären Forschungsprojekten („Evaluation von Schulsystemen", „Entwicklung im Jugendalter") ebenso profitiert habe wie später als Mitarbeiter von Franz E. Weinert.
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Lehren und Lernen: Theorien, Trends, Kontroversen
2.4.1 Von der Lehrerforschung zur Unterrichtsforschung
Das Persönlichkeits-Paradigma Die Frühphase des wissenschaftlichen Bemühens, Schulleistungsunterschiede zwischen Schülern und Schulklassen mithilfe empirischer Untersuchungen zu erklären, war durch die Hoffnung gekennzeichnet, man könne Eigenschaften erfolgreicher Lehrer identifizieren: Charaktermerkmale beispielsweise (wie Geduld) oder einen bestimmten Führungs- oder Unterrichtsstil. Man sprach auch von Merkmalen der „ positiven Lehrerpersönlichkeit". Diese Versuche gelten heute als gescheitert. Warum? Zu groß ist die Heterogenität der Aufgaben von Lehrkräften, zu lang und zu indirekt ist der kausale Wirkungspfad von einem allgemeinen Persönlichkeitsmerkmal eines Lehrers bis hin zu Lernprozessen individueller Kinder. Man fand nur wenige - und zudem schwache - Zusammenhänge zwischen Lehrerpersönlichkeit und Schulleistungsunterschieden, und diese wenigen Zusammenhänge erwiesen sich als relativ trivial: z.B. dass die gut beurteilten Lehrer überdurchschnittliche Werte im Bereich der emotionalen Stabilität, Verträglichkeit, der persönlichen Beziehungen/Kooperation und des Tätigkeitsdrangs/der Tatkraft aufwiesen. Hinzu kommt noch, dass es sich dabei überwiegend um Temperamentsaspekte handelt, bei denen ein systematisches Training von vornherein wenig aussichtsreich erscheint. Einen Überblick über die frühe Forschung zu Lehrerpersönlichkeit und Lehrermerkmalen geben Bohnsack (2004) sowie Bramme et al. (2004). Inzwischen hat sich eine Wende vollzogen, was die Einschätzung der Wichtigkeit von Lehrermerkmalen anbelangt. Deshalb ist diesem Bereich ein eigenes Kapitel zur Lehrerpersönlichkeit gewidmet, siehe Kapitel 3.
Reflexionsaufgabe 12: Personzentrierter Ansatz der Empirischen Unterrichtsforschung und Persönlichkeitsparadigma der Lehrerforschung Wo liegen die Unterschiede zwischen beiden Ansätzen, wo gibt es gemeinsame Sichtweisen?
Das Prozess-Produkt-Paradigma Nachdem die Suche nach Eigenschaften des „guten Lehrers" unergiebig war, wurde das Persönlichkeits-Paradigma vom Prozess-Produkt-Paradigma abgelöst. Dessen Architektur umfasst drei Schritte: ~
Prozesse: Erfassung bestimmter Aspekte ( „ Variablen") des Unterrichtsverhaltens (z.B. Be-
urteilung der Klarheit und Verständlichkeit oder Bestimmung der Anzahl anspruchsvoller Fragen pro Zeiteinheit), meist durch Methoden der Unterrichtsbeobachtung; Produkte: Erfassung von Zielkriterien, zumeist eines Maßes der Schulleistung in dem be-
treffenden Fach. Anspruchsvollere Studien testen außerdem die Vorkenntnisse, um so den Lerngewinn bzw. Leistungszuwachs berechnen zu können (value added);
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Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
Berechnung von Maßen des Zusammenhangs (überwiegend Korrelationen) zwischen Un-
terrichtsmaßnahme oder Unterrichtsstil einerseits und Zielkriterium (z.B. Leistungszuwachs innerhalb eines Schuljahres) andererseits. Die Prozess-Produkt-Forschung lieferte einen großen Schatz empirisch begründeten Wissens über lern- und leistungsrelevante Merkmale des Unterrichtens, was in den großen Handbuchartikeln und Übersichtsdarstellungen sowie in Metaanalysen seinen Niederschlag findet. Die Fortschritte der Pädagogischen Psychologie im letzten Jahrhundert haben - ohne das Prozess-Produkt-Paradigma generell infrage zu stellen - zu einer erheblichen Differenzierung geführt. Dies betrifft zum einen die Anreicherung des elementaren Prozess-Produkt-Paradigmas um vermittelnde und interpretative Prozesse (mediating processes) auf Schülerseite und zum anderen die Berücksichtigung komplexerer Wirkbeziehungen (z.B. auch nichtlineare Effekte, Wechselwirkungen und bedingte Effekte).
Reflexionsaufgabe 13: Additive und multiplikative Wirkungen revisited
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Erinnern Sie sich, was in Kapitel 2.2.8 über additive und multiplikative Wirkungen gesagt wurde: Was sollte vor der Berechnung von Maßen des Zusammenhangs immer bedacht werden?
Das Experten-Paradigma Das in seiner erweiterten Form noch heute aktuelle Prozess-Produkt-Paradigma - die Erforschung von systematischen Beziehungen zwischen Merkmalen des Unterrichts und Schülerleistungen - wurde durch eine ganzheitliche Sichtweise ergänzt, geleitet von der Vorstellung, dass Lehrkräfte „kompetente Fachleute", „Experten für das Unterrichten" oder „Künstler des Unterrichtens" sind. Wie beim Persönlichkeitsparadigma wird zwar wieder nach der „guten" oder „erfolgreichen" Lehrperson gesucht - nur geht es jetzt nicht mehr um Charaktereigenschaften oder Führungsstile, sondern um berufsbezogenes, also professionelles Wissen und Können, um fachliche und fachdidaktische Expertise, um subjektive und intuitive Theorien zum Lehren und Lernen (vgl. auch Kapitel 2.2.3 zum personzentrierten Ansatz). Heute geht man davon aus, dass sowohl der Expertenansatz als auch der Prozess-Produkt-Ansatz ihre Berechtigung haben und sich wechselseitig ergänzen. Details dazu finden sich in Kapitel 3. 2.4.2 Von der Instruktion zur Konstruktion - und halfway back
Das scheinbare Gegensatzpaar „Instruktion-Konstruktion" beschreibt ein Kontinuum, dessen beide Endpunkte in Reinkultur in der schulischen Realität (Lernen im Klassenzimmer) selten vorkommen dürften. Gelegentlich schwingt bei der Gegenüberstellung von „Instruktion" und „Konstruktion" auch eine Wertung mit, nach dem Motto: Instruktion möglichst vermeiden, Konstruktion maximieren. Eine solche Sichtweise, die Instruktion und Konstruktion gegeneinander ausspielt, ist jedoch naiv, denn schulisches Lernen erfordert fast immer beides: Anregung, Steuerung, Vorgabe von Aufgaben durch eine Lehrperson und individuelle Lernprozesse auf 47
Lehren und Lernen: Theorien, Trends, Kontroversen
der Seite des Schülers. Weinert und Helmke (1995) haben diese Scheinalternative in einem Artikel einmal so formuliert: „ Learning from wise mother nature or big brother instruction: The wrong choice as seen from an educational perspective." Klauer und Leutner (2007) unterstreichen diesen Punkt und weisen auf die historische Dimension hin: „In den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts setzte sich in der Psychologie die kognitive Wende durch und verdrängte den Behaviorismus weitgehend. Dabei stand die Erforschung von Kognitionen im Vordergrund, also von Prozessen der Wahrnehmung, des Denkens und der Erinnerung. Zentral erschien nun der Gedanke, dass lernende aktiv Informationen verarbeiten und dadurch Kenntnisse erwerben, die die weitere Informationsverarbeitung beeinflussen. Im letzten Drittel des Jahrhunderts rückte die Einsicht in den Vordergrund, dass der Beitrag des lernenden in besonderem Maße entscheidend ist für seinen eigenen Lernprozess. Um die Bedeutung des aktiven Anteils der lernenden am Lernprozess hervorzuheben, wurde später vielfach formuliert, lernende seien Konstrukteure ihres Wissenserwerbs. Es wurde sogar in der Entwicklungs- und lnstruktionspsychologie Mode, sich zu einer solchen konstruktivistischen Konzeption zu bekennen. Zweite/los war es an der Zeit, den Beitrag der lernenden an ihrem Lernen stärker zu betonen. Es wird nie einen Nürnberger Trichter geben, bei dem lernende nichts anderes zu tun haben, als den Kopf hinzuhalten, damit lehrende den Lehrstoff optimal hineinflößen können. Allerdings lässt sich leicht zeigen, dass die konstruktivistischen Ideen keineswegs neu sind, sondern in ähnlicher Form schon von vielen Psychologen und Pädagogen vertreten wurden. Die konstruktivistische Grundidee, dass das Lernen ein aktiver Prozess des lernenden ist, hatte Dewey (1902) schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts formuliert. Forscher wie Piaget und Wygotski, die sozusagen als Großväter des Konstruktivismus in Anspruch genommen werden, haben diesen Begriff allerdings genauso wenig wie Dewey je verwendet. Man kann also sehr gut auf ihn verzichten." (S. 8 f.)
Die Fähigkeit zum selbstregulierten Lernen, so argumentieren Klauer und Leutner, sei anerkanntermaßen ein wichtiges Bildungsziel, das möglichst früh für möglichst alle angepeilt werden solle, mit der Folge einer veränderten Lehrerrolle: An die Stelle des Instrukteurs tritt die Rolle der Assistenz beim Lernen. In diesem Zusammenhang weisen Klauer und Leutner (2007) auf einen weiteren Denkfehler hin, der in der wissenschaftlichen Diskussion häufig zu beobachten ist: „Allerdings ist dies nur die eine Seite der Medaille. Es gehört nämlich heute zum gesicherten Bestand pädagogischpsychologischen Wissens, dass fachspezifisches Vorwissen das Lernen am stärksten fördert, noch stärker als die allgemeine Intelligenz: Wer schon mehr Kenntnisse auf dem fraglichen Gebiet mitbringt, wird leichter und rascher Neues dazulernen als andere[. .. ]. Von daher gab und gibt es immer wieder Tendenzen, abwechselnd mal das mehr selbstgesteuerte Entdeckenlassen und mal das mehr vom Lehrer gesteuerte Unterrichten in den Vordergrund zu rücken. In der Geschichte der Didaktik ist dieser Wechsel der Erziehungs- und Lehrstile offenkundig, insbesondere seit der Reformpädagogik um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, und er wiederholt sich immer wieder in leicht wechselnder Verpackung. Selbst viele lnstruktionspsychologen ließen sich darauf ein, die konstruktivistisch orientierte lnstruktionspsychologie als neues Forschungsparadigma zu beschwören. Solche nahezu ideologischen Vorentscheidungen bringen indes wenig und werden von einer nachfolgenden Forschergeneration meist wieder verworfen. Es stünde der Lehr-Lern-Forschung und der lnstruktionsspsychologie gut an, dieses Hin und Her zu verlassen, um durch Forschungen empirisch herauszufinden, welches Vorgehen günstiger ist." (S. 9 t.)
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Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
Gudjons (2007), Vertreter eines gemäßigten Konstruktivismus, weist darauf hin, dass Instruktion ein notwendiges Element des Unterrichts ist, ohne das kaum ein Lernfortschritt möglich ist: „Auch und gerade in einem Konzept von Unterricht, welches das Lehren des Lehrers als Zurverfügungstellen und Arrangieren von Lernsituationen begreift, ist das Element der Instruktion unverzichtbar. Aber Instruktion eben nur als Element, als untergeordnetes Merkmal der Lehrerrolle. So wird aus dem Horrorbegriff der Instruktion mit seinem leicht autoritären Beigeschmack ein sinnvoller, zu kultivierender Bestandteil des Unterrichts." (S. 6) 2.4.3 Vom Labor zur Schulklasse
Von der Kritik Weinerts an puristischen Lerntheorien, die isolierte Lernmechanismen bei Individuen thematisieren, die durch mikropsychologische Bedingungen ausgelöst werden, war bereits zu Beginn des Kapitels die Rede. Der Nutzen der laborexperimentell basierten elementaren Lernforschung für den Unterricht ist aus noch einem anderen Grunde eingeschränkt: Der Kontext der Schulklasse als Lernort unterscheidet sich krass von der Situation (dem setting) in einem Labor; gelegentlich sprechen deshalb auch experimentell arbeitende Psychologen, die eine „saubere" Bedingungskontrolle und -variation gewohnt sind, mit leicht verächtlichem Unterton von der Schule als „schmutzigem Feld", in dem die zu untersuchenden Variablen in unauflösbarer Weise vermischt (konfundiert) sind. Doyle (2006) hat die Eigenart des Schulklassenkontextes auf den Punkt gebracht: ,,From an ecological perspective, a classroom is an environment in which, typically, 20 to 30 students - a class are gathered with one or perhaps two adults (teachers) to engage in activities, which have educational purposes and outcomes for the students. From this standpoint, there are several important features or dimensions of classrooms that are already in p/ace when teachers and students arrive at the classroom door. These inc/ude 1. Multidimensionality - a !arge quantity of events and tasks in classrooms take place. A classroom is a crowded place in which many people with different preferences and abilities must use a restricted supply of resources to accomplish a broad range of social and personal objectives. 2. Simultaneity - many things happen at once in classrooms. While helping an individual student during seatwork, for instance, a teacher must monitor the rest of the class, acknowledge other requests for assistance, handle interruptions, and keep track of time. 3. lmmediacy - there is a rapid pace of c/assroom events [. ..]. In most instances, therefore, teachers have little leisure time to reflect before acting. 4. Unpredictability - classroom events often take unexpected turns. Events are jointly produced and thus it is offen difficult to anticipate how an activity will go an a particular day with a particular groups of students. 5. Pub/icness - classrooms are public spaces and events, especially those involving the teacher, are offen witnessed by a !arge portion of the students. Teachers act in fisbowls; each child normally can see how the others are treated. 6. History - classes meet for 5 days a week for several months and thus accumulate a common set of experiences, routines, and norms, which provide a foundation for conducting activites for the rest of the term or year." (S. 98 f.)
Aus diesen Gründen geht die Empirische Unterrichtsforschung zunehmend ins „Feld", also in die Klassenräume, anstatt wie früher die Schüler ins Labor zu holen. 49
Lehren und Lernen: Theorien, Trends, Kontroversen
2.4.4 Von der fachübergreifenden zur fachspezifischen Sichtweise
Lange Zeit hat die Unterrichtsforschung fachspezifische Aspekte ignoriert. Umgekehrt werden in der Fachdidaktik Erkenntnisse zu allgemeinen, fachübergreifenden Wirkprinzipien oft ausgeblendet. Spätestens seit den großen Projekten der Bildungsforschung wie TIMSS, IGLU, PISA und DESI hat eine Wende stattgefunden. Unterrichtsforschung, dies ist heute allgemein Konsens, erfordert unbedingt einen zweifachen Blick: (1) auf allgemeine (generische) Faktoren und zugleich auf fachspezifische Merkmale der Unterrichtsqualität. Ein Verdienst von TIMSS ist es, dass diese bis dahin wohl umfassendste Evaluationsstudie zu einer lebhaften Diskussion auch fachdidaktischer Fragen geführt hat. Vor allem im Bereich der mathematischen und naturwissenschaftlichen Fachdidaktik gibt es inzwischen zahlreiche Publikationen, die Bezüge zur empirischen Forschung herstellen. Insbesondere ist auf die im Kontext von PISA geleistete Arbeit im Bereich der Mathematik und Naturwissenschaften zu verweisen. Dagegen wurden in den sprachlichen Fächern bisher nur wenige Brücken zwischen Fachdidaktik und empirischer Unterrichtsforschung geschlagen. Detaillierte Hinweise zur Didaktik der Fächer mit weiteren Hinweisen finden sich im Handbuch Lehrerbildung (Blömeke, Reinhold, Tulodziecki & Wildt, 2004), im Handbuch Unterricht (Arnold, Sandfuchs & Wiechmann, 2006) sowie auf den Web-
seiten der großen Bildungsforschungsinstitute (IQB, IPN, DIPF, IFS, MPI) und den Landesbildungsservern. 2.4.5 Von der normativen zur empirischen Orientierung
Die Allgemeine Didaktik (vom griechischen didaskein = unterrichten, lehren bzw. didaktike techne
= Lehrkunst) ist ein Teilgebiet der deutschen Erziehungswissenschaft. Sie beschäftigt
sich, vereinfacht ausgedrückt, mit der wissenschaftlichen Grundlegung des Lehrens. Bekanntlich setzte sich bereits Comenius (1592-1670) in seinem Hauptwerk „Die große Didaktik" (lateinisch Didactica Magna) umfassend mit Unterrichtszielen, -methoden und -mitteln auseinander. Die Vielfalt der heute anzutreffenden Varianten didaktischer Theorien, Schulen und Lager hier auch nur ansatzweise darstellen zu wollen, würde den Rahmen dieses Buches bei Weitem sprengen; aus Sicht der Erziehungswissenschaft siehe hierzu die Hinweise bei Arnold (2007; 2008), aus Sicht der Lehrerausbildung und Schulpraxis siehe Kron (1993) und Huwen-
diek (2000). Auf den Unterricht bezogen ist der entscheidende Punkt, dass die Allgemeine Didaktik allgemeine Prinzipien und Regeln der Gestaltung bereitstellt, die bei der Planung und Realisierung des Unterrichts beachtet werden müssen. Die allgemeine Didaktik hat eine Vielzahl von Regeln, Schemata und Anweisungen für den „ guten" Unterricht und Konzepte idealtypischer Stundenverläufe hervorgebracht, die in der Lehrerausbildung noch heute dominieren. Ob die Allgemeine Didaktik überhaupt den Status einer Wissenschaft hat, darüber wurde und wird in der Zunft heftig gestritten. Den meisten Ansätzen ist gemeinsam, dass sie nicht empirisch, sondern normativ sind, d. h., es geht vornehmlich um die Identifikation und Begründung der Ziele und Inhalte schulischen Lernens. Die Begründung von Inhaltsentscheidungen und Bildungszielen sowie die Modellierung einer „Verknüpfung von erzieherischen, allgemeinbildenden und fachlich qualifizierenden 50
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
Prozessen des Unterrichts" (Arnold, 2009) ist zweifellos ein wichtiges Feld, das von der empirischen Lehr-Lern-Forschung und Unterrichtsforschung nicht bestellt, oft sogar ignoriert wird. Für die Frage nach wissenschaftlich fundierten, empirisch belegbaren Merkmalen der Unterrichtsqualität ist die Allgemeine Didaktik jedoch wenig ergiebig, weil sie weitgehend empiriefern ist: Von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf die Bohl (2004), Beck (2000) und Arnold (2009) zu Recht hinweisen, hat die Allgemeine Didaktik kaum empirische Forschung angeregt, und wo sie es getan hat, geht es eher um Erfahrungsberichte, Modellversuche, Einzelfallstudien und deskriptive Berichte und nicht um hypothesenprüf ende Studien der Lernwirksamkeit des Unterrichts, die methodischen Standards genügen (etwa Längsschnittstudien, Unterrichtsexperimente und Trainingsstudien), deren Aussagen verallgemeinerbar und belastbar sind. Wellenreuther (2007) weist darauf hin, dass insbesondere experimentelle Methoden - die methodisch am strengsten sind und am ehesten Aussagen über Wirkmechanismen und Kausalität zulassen - seitens der überwiegend geisteswissenschaftlich geprägten deutschen Pädagogik, insbesondere von der Kritischen Theorie, abgelehnt wurden: Die Unterrichtsforschung wurde „mit einem Anspruch konfrontiert, dem (sie) nicht genügen konnte: Sie sollte den umfassenden Einfluss schulischen Erziehens und Unterrichtens auf die Lernfähigkeit sowie die Entwicklung der Heranwachsenden untersuchen [. .. ]. Damit wurden die Weichen für eine Forschungsorientierung gestellt, die immer den ganzen Unterrichts- und Erziehungsprozess im Blick behält und die damit nicht mehr pragmatisch isolierte Lehr-Lern-Prozesse im Unterricht untersuchen kann. Experimentelle Forschung wird unter solchen Vorzeichen leicht als technologische Forschung diffamiert. Da sich experimentelle Forschung auf die Prüfung der Wirkung einzelner Faktoren konzentrieren muss, kann sie das Ganze nicht hinreichend im Blick behalten. Dieser überhöhte Anspruch an empirische Unterrichtsforschung trug wesentlich dazu bei, dass in der deutschen Pädagogik experimentelle Forschung nicht richtig etabliert ist. Deutschland ist hier noch immer ein Entwicklungsland. " (S. 32)
Im Englischen gibt es ebenfalls ein Konzept didactics, das jedoch mit der „Allgemeinen Didaktik" deutscher Provenienz wenig zu tun hat und vergleichsweise unbedeutend ist. In den Stichwortregistern der großen englischsprachigen Handbücher und Enzyklopädien sucht man es meist vergebens, und wenn es doch einmal auftaucht, dann in Kapiteln europäischer Autoren wie z.B. Oser und Baeriswyl (2002). Unter didactics wird im angloamerikanischen Sprachraum, mit abwertender Konnotation, eine „schlechte" lehrerzentrierte „dozierende" Vermittlungstechnologie verstanden (one-way-transmission), die sich auf fachliche Inhalte beschränkt, - im Kontrast zur „guten" pedagogy, die zugleich auf die Persönlichkeitsentwicklung fokussiert (Hamilton & McWilliam, 2002). Wie verhalten sich Allgemeine Didaktik und Lehr-Lern-Forschung zueinander? Obwohl sich beide auf das Lehren und Lernen und damit insbesondere (aber nicht nur) auf den schulischen Unterricht beziehen, „herrscht zwischen den beiden Teildisziplinen Fremdheit und organisiertes Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen" (Terhart, 2002a). Bohl (2004) spricht von einem „prekären Verhältnis" der beiden Teildisziplinen, und von Terhart (2002a) stammt die Metapher von der gestörten Geschwisterbeziehung: Allgemeine Didaktik und Lehr-Lern-Forschung stünden im Verhältnis von „fremden Schwestern" zueinander, meint Terhart: 51
Lehren und Lernen: Theorien, Trends, Kontroversen
~
„Lehr-Lern-Forschung ist - wie der Name schon sagt - ein Forschungsbereich innerhalb der Pädagogischen Psychologie. Die Al/gemeine Didaktik ist demgegenüber gerade kein Forschungsbereich, sondern ein Element des Ausbildungsprozesses von angehenden Lehrern. "
~
Lehr-Lern-Forschung beschäftigt sich „mit der theoriege/eiteten Beschreibung, Erklärung und Optimierung von Lehr-Lern-Prozessen". Dagegen geht es in der Al/gemeinen Didaktik um die ,,Theoretisierung und operative Gestaltung von Lehren und Lernen im Kontext von Ausbildung für den pädagogischen Beruf des Lehrers".
~
Al/gemeine Didaktiken „sind nicht aus empirischer Forschung entstanden, sondern weitgehend im Kontext von Lehrerbildung, d. h. auf der Basis von Praktikerwissen. Als Ausbildungskonzepte sind sie normativ orientiert und haben eine bestimmte Funktion im Rahmen beruflicher Erst-Sozialisation; böse Zungen behaupten, sie seien lediglich ,Stoff' für Lehramtsprüfungen." (S. 80)
Es bleibt zu wünschen und zu hoffen, dass es gelingt, die Kluft zwischen Empirischer Unterrichts- und Lehr-Lern-Forschung einerseits und Allgemeiner Didaktik im Interesse beider Disziplinen zu verringern - auf ihre Überwindung zu hoffen, wäre angesichts der sehr unterschiedlichen Traditionen (einschließlich der beruflichen Sozialisation ihrer Protagonisten) wirklichkeitsfremd. In dem Maße, in dem die Allgemeine Didaktik sich der Empirie öffnet und damit anschlussfähig für unterrichtsbezogene Forschungsprogramme wird, könnte umgekehrt auch die Lehr-Lern-Forschung mit ihren blinden Flecken (etwa im Bereich der Normativität) und ihrer Fokussierung auf Unterrichtsprozesse (unter Absehung von der Unterrichtsplanung) von der Systematik, der historischen Tiefenschärfe und begrifflichen Präzision didaktischen Denkens profitieren. Insofern ist Arnold - namhafter Vertreter der Allgemeinen Didaktik und zugleich empirischer pädagogischer Forscher - zuzustimmen, wenn er resümiert: „Das Faszinierende an dieser Konstellation besteht darin, dass just das andere Forschungsgebiet jene Ergänzungskomponenten enthält, die dem einen fehlen." (2007, S. 10)
Reflexionsaufgabe 14: Allgemeindidaktische Forschung Um zu beurteilen, ob die Sichtweise Terharts angemessen ist, recherchieren Sie (z. B. auf den Websites der Lehrstühle für Allgemeine Didaktik), wo deren Forschungsschwerpunkte im Bereich des Unterrichts und seiner Wirkungen liegen und welche Rolle empirische Forschungsmethoden spielen.
2.4.6 Von der Klimaforschung zur Lehr-Lern-Forschung
Eine eigenständige, mit der eigentlichen empirischen Unterrichtsforschung kaum verknüpfte Forschungstradition ist die sogenannte Klimaforschung, wobei im Folgenden lediglich das Unterrichtsklima von Belang ist. Darunter versteht man Wahrnehmungen und Beurteilungen
von Aspekten des Unterrichts, des Lehrer-Schüler-Verhältnisses und der Lehrperson durch die Schülerinnen und Schüler einer Klasse. Da ein und derselbe Unterricht von den Adressaten mitunter sehr unterschiedlich beurteilt wird, streut die Unterrichtswahrnehmung innerhalb von Schulklassen je nach Merkmal erheblich. In der Forschungs- und Evaluationspraxis ver52
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
wendet man allerdings (zu Unrecht, denn die Streuung sagt etwas über Konsens und Dissens innerhalb der Klasse aus) fast ausschließlich die Klassenmittelwerte. In ihrer theoretischen Verankerung und hinsichtlich der von ihr verwendeten Analysemethoden ist die Schulklimaforschung hinter den entwickelten Standards der Unterrichtsforschung und der Evaluationsforschung so stark zurückgeblieben, dass die Forderung laut geworden ist, auf den Begriff des Klimas im Kontext des Unterrichts entweder ganz zu verzichten (Gruehn, 2000) oder sie theoretisch wesentlich enger mit der Lehr-Lern-Forschung zu verzahnen, vgl. auch die Kritik von Helmke (2002) und die weiterführenden Arbeiten von Wagner (2008). 2.4.7 Von einfachen Korrelationen zu komplexen zusammenhängen
In der Anfangszeit der empirischen Unterrichtsforschung dominierten statistische Analysen, die sich einfacher Maße des Zusammenhangs, vorzugsweise der (linearen) Korrelation zwischen einzelnen Merkmalen, bedienten. Dies ist nicht per se falsch, sondern kann im Einzelfall durchaus eine angemessene Analysestrategie sein. Es schränkt den Erkenntnisgewinn jedoch erheblich ein, wenn andere simultan wirksame Variablen ausgeblendet und Kontextvariablen wie Schulart, Unterrichtsfach oder Klassenzusammensetzung - ignoriert werden. Inzwischen gibt es methodische Standards, die allgemein anerkannt sind; diese im Detail zu skizzieren, würde den Rahmen des Buches sprengen. Die folgenden, aus Platzgründen nur kursorischen Ausführungen zu methodischen Fragen erfordern statistische Grundkenntnisse (und können bei Fehlen derselben übersprungen werden). ~
Zu den methodischen Standards gehört erstens die Modellierung mithilfe von sogenannten SEM-Methoden (structural equation modeling), wie beispielsweise LISREL, Mplus oder dergleichen - Verfahren also, die ausdrücklich zwischen der Güte eines Messmodells (wie gut werden verschiedene Konstrukte - wie z.B. Lesekompetenz - gemessen) und der eines Strukturmodells (welche Beziehungen bestehen zwischen den Konstrukten) unterscheiden. Zweitens muss - immer dann, wenn Schülerangaben zugrunde gelegt werden - dem Sach-
verhalt Rechnung getragen werden, dass hier mehrere Ebenen im .Spiel sind, nämlich mindestens die Individualebene und die Klassenebene. Komplexere Fragestellungen verlangen ggf. die Berücksichtigung weiterer Analyseebenen, z.B. Schule, Region, Schulart. Drittens wird vielfach ein mehrperspektivischer (z.B. Unterricht aus der Sicht sowohl von
Schülern als auch von Lehrern und Dritten) und mehrere Methoden umfassender Zugang gefordert, z.B. die Kombination von Daten aus Fragebögen, Beobachtungen, Interviews und Bewertung anhand vorgegebener, klar definierter Kategorien (sogenannte Ratingbögen). Schwierig wird die Lage dann, wenn Erhebungen mit verschiedenen Methoden und Perspektiven in Teilbereichen zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Dass man damit rechnen muss und wie sich einige der so gefundenen Dissonanzen interpretieren lassen, hat die Arbeit von Clausen (2002) sehr anschaulich und gründlich dargelegt. Trotz aller bekannten Einschränkungen im Hinblick auf Schülerwahrnehmungen des Unterrichts (vgl. hierzu Kapitel 5) trifft die Einschätzung von Baumert et al. (2004) zu, wenn sie hinsichtlich der Beurteilung von Unterrichtsprozessen auf der Basis einschlägiger Literatur resümieren: „Als bester Schätzer für Unterrichtsprozesse gilt die in der jeweiligen Lerngruppe (der Klasse) 53
Lehren und Lernen: Theorien, Trends, Kontroversen · Lernen als Verhaltensänderung
geteilte Wahrnehmung von Tatbeständen im Unterricht." (S. 320) Leider zeigen sich jedoch in der Empirie nur allzu häufig sehr große klasseninterne Streuungen bei der Beurteilung des gleichen Merkmals durch alle Schüler, also kein Konsens in der Beurteilung, sondern Dissens. Dies führt nicht nur bei der Datenanalyse zu großen Schwierigkeiten, sondern ist auch theoretisch mitunter nur schwer erklärbar. ~
Viertens schließlich - es klingt banal, ist es aber keineswegs - müssen die vorab genannten Konstrukte der Unterrichtsqualität auf der Basis theoretischer Annahmen zur Wirksamkeit in ein statistisch testbares Modell überführt werden, wenn man nicht auf dem Niveau bivariater Korrelationen stehen bleiben will. Angenommen, man hätte eine Reihe von Unterrichtsmerkmalen durch entsprechende Skalen (die jeweils eine latente Variable darstellen) reliabel erfasst und würde sie anschließend in eine SEM-Analyse als unabhängige Variablen einbringen, mit der Testleistung (in der Regel um Kontextmerkmale und/oder den Pretest bereinigt) als abhängiger Variablen, dann wäre absehbar mit methodischen Schwierigkeiten zu rechnen. Warum? Weil die Erfahrung zeigt, dass die oben genannten Merkmale mehr oder weniger stark zusammenhängen (kovariieren). Das daraus resultierende statistische Problem ist das der sogenannten „Multikollinearität", und es führt regelmäßig dazu, dass die entsprechende Statistiksoftware entweder gar nicht funktioniert oder zu sachlich unsinnigen Ergebnissen führt (etwa in der Weise, dass sich nur eines der Qualitätsmerkmale statistisch bedeutsam auf Leistung auswirkt und alle anderen Qualitätsmerkmale irrelevant zu sein scheinen).
Dieses notorische Multikollinearitätsproblem der Unterrichtsforschung lässt sich nicht lösen, aber es gibt einige Möglichkeiten, es zu entschärfen: ~
Die Beschränkung der Analyse auf ein oder zwei ausgewählte Merkmale der Unterrichtsqualität (obwohl andere ebenfalls nachweislich mit Leistungszuwachs korrelieren) wäre eine einfache, aber inhaltlich unbefriedigende Methode. Man will ja nicht den Einfluss z.B. nur der Klassenführung und des Übens auf den Lernzuwachs analysieren, sondern den Einfluss des Unterrichts insgesamt. Anspruchsvoller wäre ein schrittweises Vorgehen, das zunächst den Einfluss einzelner Unterrichtsmerkmale (z.B. nur kognitive Aktivierung), anschließend das gemeinsame Wirken (z.B. kognitive Aktivierung und Klassenführung) und schließlich zusätzlich den Klassenkontext in die Analyse einbezieht. Diese Strategie haben Klieme und Rakoczy (2003) in ihrer Analyse der PISA-2000-Daten verfolgt. Dabei sind sie mehrebenenanalytisch (gleichzeitiger Einbezug von Merkmalen auf der Individualebene und auf der Schulebene) vorgegangen und haben sukzessiv mehrere Modelle eingeführt. Es zeigte sich: Sobald die beiden für sich genommen erklärungsstärksten Unterrichtsvariablen simultan in die Analyse einbezogen wurde, waren sie auf der Schulebene nicht mehr signifikant, bedingt durch ihre hohe Kovariation. Als Konsequenz analysierten die Autoren die Wirksamkeit der beiden Unterrichtsvariablen auf Individual- und Schulebene separat. Ein ergänzender Zugang kann die Kommunalitätenanalyse (auf der Ebene der Klasse) sein, wenn es um die Frage geht: Wie viel Prozent der Leistungsunterschiede (bzw. Unterschiede im Zuwachs) gehen auf das Konto (a) des Klassenkontextes und (b) zusätzlich, also darüber hinaus, der Qualität des Unterrichts? Unterrichtsqualität wird dann als „Bündel" von Vari-
54
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
ablen gesehen, und innerhalb dieses Bündels oder Blocks wird nicht weiter differenziert. Den Kern der Kommunalitätenanalyse bilden die „Spezifitäten" (welchen spezifischen Erklärungsbeitrag liefert Variablengruppe A über Variablengruppe B hinaus und vica versa) und die Kommunalität (Wie viel Prozent der Kriteriumsstreuung lassen sich nicht eindeutig einer der beiden Variablengruppen zuordnen?). ~
Mithilfe dimensionsanalytischer Methoden könnte man die Vielfalt der Unterrichtsqualitätsmerkmale faktoranalysieren und die resultierenden Faktoren einer weiteren Faktorenanalyse unterziehen, um so Faktoren „zweiter Ordnung" zu erhalten. Im einfacheren Falle würde es sich um eine exploratorische Faktorenanalyse handeln. Stünde dagegen eine Theorie zur Verfügung, die klar von einer geringen Anzahl voneinander unabhängiger Qualitätsvariablen ausgeht, dann wäre die konfirmatorische Faktorenanalyse das Verfahren der Wahl. Dies wäre das anspruchsvollste Verfahren. Sehringer und Scheltwort (2004) haben beispielsweise eine anspruchsvolle Theorie entwickelt, die genau diesen Anspruch erhebt, voneinander unabhängige und zugleich erschöpfende Dimensionen der Unterrichtsqualität zu haben. Sie geht von vier Komponenten aus und behauptet ihre Unabhängigkeit: Kompetenz, Klarheit, Vertrauen und Lebendigkeit. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Theorie mit geeigneten Daten und statistischen Methoden - eben der konfirmatorischen Faktorenanalyse - bewährt.
2.5 Lernen als Verhaltensänderung Die elementaren Paradigmen des klassischen und operanten Konditionierens sowie des Lernens am Modell teilen das Schicksal manch anderer Konzepte, die ursprünglich behavioristische Grundlagen hatten und allein deshalb für verdächtig, überholt und anstößig gelten. Trotzdem sind sie in bestimmten Bereichen als Erklärungsprinzipien weiterhin unersetzbar. 2.5.1 Klassisches Konditionieren
Das Grundprinzip des Lernens durch klassische Konditionierung besteht darin, dass ein ursprünglich neutraler Reiz nach ausreichend häufiger Koppelung mit einem unbedingten (oder unkonditionierten) Reiz annähernd die gleichen Reaktionen auslöst wie der unbedingte Reiz. Im Falle des klassischen Versuches von Pavlov wurden ein unbedingter Reiz (Futter) und ein zunächst neutraler Reiz (Glockenton), der ursprünglich lediglich eine Orientierungsreaktion auslöste, so lange kombiniert, bis der Glockenton alleine die Reaktion (Speichelsekretion) auslöste. Reizgeneralisierung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass auch dem konditionierten Reiz (hier: Glockenton) ähnliche Reize (z.B. ähnlich klingende akustische Signale) die Reaktion auslösen können. Die pädagogischen Anwendungen beziehen sich vor allem auf den Erwerb emotionaler Reaktionen. Beispielsweise kann eine Prüfungssituation von einem Schüler als blamabel und
beschämend erlebt worden sein, weil er schlecht abgeschnitten hat. Wiederholte Misserfolgserlebnisse können zur Herausbildung einer allgemeinen Angst- und Vermeidungshaltung gegenüber Prüfungen führen und durch Reizgeneralisierung auf Schule und Lernen im Allgemeinen ausgeweitet werden. 55
Lernen als Verhaltensänderung
Es muss sich aber keineswegs nur um negative Emotionen handeln. Ein Beispiel: Erster Schultag, ein kleiner Schüler betritt zum ersten Mal das Schulgebäude, wird von seinem Lehrer mit einem Lächeln und einem kleinen Kompliment empfangen, in den Arm genommen. Dies kann eine nachhaltige emotionale Erfahrung sein, die die Einstellung zur Schule, zum Unterricht, zum Lehrer und zum Lernen positiv beeinflusst. Wie Gage und Berliner (1996) formulieren: „Praktisch alles in unserer Umwelt kann mit einem Stimulus gekoppelt werden, der emotionale Reaktionen hervorruft. Die freundlichen oder strengen Worte des Lehrers können Gefühle der Freude oder der Angst hervorrufen. Damit assoziierte Stimuli, wie ,Mathematik', ,Turnhalle', ,der Rektor' oder ,Schule' können eine Reaktion hervorrufen, die der unkonditionierten Reaktion sehr ähnlich ist, und zwar allein dadurch, dass sie in Kontingenz, das heißt in zeitlich-räumlicher Nachbarschaft, mit dem unkonditionierten Stimulus steht. Dabei gilt es festzuhalten, dass der lernende sich dessen nicht bewusst sein muss, dass ein respondentes Lernen dieser Form stattfindet; vielmehr erfolgt dies oft unbewusst, und so ist es für den, der davon betroffen ist, oft nur sehr schwer zu verstehen, warum er so reagiert und wie es dazu gekommen ist. Ein Lehrer, der Lernvorgänge im Unterricht unter dem Gesichtspunkt des respondenten Lernmodells betrachtet, kann seinen Schülern helfen, das Zustandekommen ihrer gefühlsmäßigen Reaktionen zu verstehen, bestimmte Lernziele leichter zu erreichen, und er kann sie davor bewahren, unerwünschte Reaktionen zu lernen." (S. 234 t.) 2.5.2 Operantes Konditionieren
Im Gegensatz zum klassischen Konditionieren, in dessen Mittelpunkt Reaktionen des Individuums stehen (daher spricht man auch von respondentem Lernen), geht es beim operanten Konditionieren um spontane Verhaltensweisen, die nicht Reaktion auf bestimmte Reize sind. Das Schlüsselkonzept des operanten Konditionierens ist die Verstärkung. Darunter versteht man alle Prozesse, die die Auftretenswahrscheinlichkeit von Verhaltensweisen erhöhen. Verstärkungen erfolgen dadurch, dass ein Verstärker eingesetzt wird. Dies kann ein positiver Verstärker sein, wie etwa ein Lob oder eine Belohnung (sein Hinzufügen erhöht die Verhaltenswahrscheinlichkeit) oder ein negativer Verstärker (seine Wegnahme ist verstärkend). Um diese Schlüsselbegriffe herum gibt es ein differenziertes Netz von empirisch vielfach untersuchten und bewährten Konzepten und Strategien, die hier im Detail nicht dargestellt werden können. Es geht um Stichworte wie Reizgeneralisierung und -diskriminierung, Premack-Prinzip, Extinktion (Löschung), primäre vs. sekundäre Verstärker und Verstärkungspläne (kontinuierlich vs. intermittierend, Intervall- vs. Quotenplan), Gesetz der Übung und Gesetz des Effektes. Zum Nachlesen und Vertiefen eignen sich die Werke von Langfeldt (2006), Mietzel (2007), Hasselhorn und Gold (2006) sowie Renkl (2008). In Schule und Unterricht sind Prinzipien des operanten Konditionierens von zeitlos großer Bedeutung. Grob gesagt lassen sich drei Bereiche voneinander unterscheiden:
Unterrichtsprozesse. Unter dem Einfluss behavioristischen Denkens glaubte man früher einmal, aus Prinzipien des operanten Konditionierens Unterrichtsformen ableiten zu können, die durch Zerlegung des Lernstoffs in kleine Einheiten, intensives Üben und häufiges Belohnen von erwünschtem Verhalten gekennzeichnet sind. Dahinter stand die Überlegung, Reiz-Reak56
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
tions-Verbindungen durch häufige Wiederholungen zu festigen. Diese Art von Unterricht (hierhin gehören auch frühe Erscheinungsformen des sogenannten Programmierten Unterrichts) ist seit der kognitiven Wende (Lernen als aktive Konstrukteure) als drill and practice-Unterricht zu Recht in Verruf geraten. Allerdings wurde dabei gelegentlich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, indem sämtliche Spielarten kleinschrittigen und übungsbasierten Vorgehens negativ tabuiert wurden. Inzwischen besteht Konsens, dass Konsolidieren und Üben nicht nur für basic skills (Grundrechenarten, Grundwortschatz etc.), sondern auch in anderen Bereichen für den
Lernfortschritt unabdingbar sind, siehe hierzu Kapitel 4.3. Verhaltens- und Disziplinprobleme. In diesem Bereich haben Prinzipien des operanten Kon-
ditionierens insbesondere bei jüngeren Schülerinnen und Schülern eine lange und erfolgreiche Tradition. Viele Programme und Konzepte des (proaktiven und reaktiven) Umgangs mit aggressivem und störendem Schülerverhalten basieren auf Prinzipien der Verhaltensmodifikation. Diese setzt voraus, dass das gewünschte Verhalten präzise beschrieben und in einzel-
ne Komponenten zerlegt wird. Entsprechende Verhaltensweisen der Schüler werden dann verstärkt, das heißt, sie werden belohnt. Als praktisch und wirksam erwiesen sich dabei u. a. sogenannte Tokens. Dabei werden für verschiedene erwünschte Verhaltenselemente (z.B. für die Tischgruppe, die als erste leise ist, aufgeräumt hat) Punkte vergeben, die gesammelt und gegen attraktive Gegenstände, Tätigkeiten etc. eingetauscht werden können. Eine andere Realisierungsform des Operanten Konditionierens in der Unterrichtspraxis ist die Löschung (Extinktion) unerwünschten Schülerverhaltens durch Nicht-Verstärkung. Hierbei sind allerdings einige wichtige Randbedingungen zu beachten. Beispielsweise muss die Nicht-Verstärkung (z.B. in Form von Ignorieren) konsequent und konsistent sein; andernfalls (das heißt durch gelegentliche Beachtung) wird das zu löschende Verhalten sogar noch verstärkt; für praktische Hinweise zu Bedingungen der Wirksamkeit, z.B. die Einbettung in kooperative Absprachen (Zielvereinbarungen), vgl. Schnotz (2006).
Reflexionsaufgabe 15: Operantes Konditionieren in der eigenen Unterrichtspraxis
A ~
Überlegen Sie einmal: In welchen Unterrichtssituationen setzen Sie - möglicherweise gar nicht bewusst - Formen des operanten Konditionierens ein?
Förderung der Lernmotivation. Für den Aufbau der Lernmotivation wie für ein notwendiges
Selbstvertrauen unersetzbar sind Verstärkungen in Form von Anerkennung, Ermutigung, Belohnung von Erfolgen. Deshalb ist die Motivierung einer der wichtigsten Qualitätsbereiche des Unterrichts, siehe hierzu Kapitel 4.5. 2.5.3 Lernen am Modell
Das Lernen am Modell (auch: Beobachtungslernen) basiert auf der von Bandura (1976) entwickelten sozial-kognitiven Lerntheorie. Lernen am Modell ist ein Prozess, in dessen Verlauf 57
Lernen als Verhaltensänderung · Lernen als Informationsverarbeitung
ein Individuum durch die Beobachtung des Verhaltens anderer Personen etwas lernt. Wichtig sind dabei folgende Punkte: Unterscheidung von Kompetenz und Performanz. Der Erwerb von Kompetenzen durch Be-
obachtung setzt Aufmerksamkeits- und Gedächtnisprozesse voraus. Ob das so gelernte Verhalten (Kompetenz) auch tatsächlich eingesetzt wird (Performanz), hängt dagegen von den Fähigkeiten der Person und ihrer Motivation ab. Attraktivität von Modellen. Ein Beobachter orientiert sich umso eher an einem Modell (lernt
von ihm), je mächtiger, wichtiger, kompetenter, glaubwürdiger und geschätzter es ist. Mächtige Modelle sind neben den Eltern vor allem die Lehrpersonen, daneben kommen auch Gleichaltrige (peers) als Modelle in Betracht. Live-Modelle versus Modelle in Medien. Die zu beobachtenden Modelle müssen nicht live
~
auftreten, sondern es kann sich auch um Personen handeln, die z.B. in einem Video auftauchen. Mit anderen Worten: Lehrer und Eltern konkurrieren als Modelle in gewisser Weise mit Figuren aus daily soaps, MTV und dergleichen. Die klassischen Experimente Banduras nutzten (aus Gründen der Standardisierung der Versuchsbedingungen) sehr oft Filme, bei denen Merkmale von Modellen systematisch variiert wurden (z.B. wurden Modelle für ihr Verhalten belohnt oder bestraft). ~
Was wird gelernt? Das Lernen am Modell umfasst keineswegs nur beobachtbares motori-
sches Verhalten, sondern auch Sprache, Einstellungen, Orientierungen und Erwartungen wie z.B. Hilfsbereitschaft, Autonomie, Aggressivität oder Freude am Lernen. Durch die Entdeckung der sogenannten Spiegelneurone in der Neurophysiologie durch Rizzolatti, Fogassi und Gallese (siehe Rizzolatti & Sinigaglia, 2007) hat das Lernen am Modell eine neue emotionale Qualität erhalten. Zwar kennt man aus der Sozial- und Emotionspsychologie seit Langem das Phänomen der emotionalen Ansteckung (emotional contagion), aber die Spiegelneuronen scheinen eine intuitive Einstimmung auf das Verhalten und Erleben anderer Menschen zu ermöglichen, also so etwas wie Empathie. In Deutschland wurde zur Rolle der Spiegelneurone für das intuitive Verstehen vor allem von Bauer geforscht. 4
Reflexionsaufgabe 16: Lehrperson als Modell ~
Als Lehrkraft sind Sie ein mächtiges Modell für Ihre Schüler. Überlegen Sie einmal, im Hinblick auf welche Verhaltensweisen Sie bereits mit sich als Modell zufrieden sind, aber auch, in welchen Bereichen Sie in Zukunft vielleicht noch bewusster mit dieser Verantwortung umgehen möchten.
4 http://www.spiegelneurone.de
58
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
2.6 Lernen als Informationsverarbeitung 2.6.1 Das Dreispeichermodell des Gedächtnisses
Modelle der Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses dienen als Gundlage, um Lernen als Informationsverarbeitung zu betrachten. Das bekannteste Gedächtnismodell ist das Dreispeichermodell (Atkinson & Shiffrin, 1968). Es ist zwar nicht unwidersprochen geblieben,
und es gibt alternative und erweiterte Modelle, aber es ist das anschaulichste und bekannteste Gedächtnismodell. Die Wirkungsweise des Gedächtnisses kann hier nur sehr kursorisch skizziert werden; für detaillierte Darstellungen vgl. Schermer (1991), Edelmann (1996), Seel (2000) oder Mietzel (2007). Die folgenden Konzepte sind wichtig, um die Komplexität des Gedächtnisses abschätzen zu können und dienen zugleich als begriffliche „Werkzeugkiste" für das Thema „Methodenvielfalt" (siehe Kapitel 4). Das Dreispeichermodell des Gedächtnisses (vgl. Abbildung 4, S. 60) sieht unterschiedliche Speicher vor: Das sensorische Register empfängt die einkommenden Reize und hält sie für sehr kurze Zeit im Speicher, und zwar originalgetreu, das heißt entsprechend ihren physikalischen Eigenschaften (ihrer Modalität). Gegenstand sind also visuelle, auditive, kinästhetische, olfaktorische und haptische Reize. Nach Filterungsprozessen landet ein Teil der sensorischen Informationen im Kurzzeitgedächtnis, wo die Information weiterverarbeitet wird, sodass sie gegebenenfalls auch für län-
gere Zeit verfügbar bleibt. Seine Kapazität, definiert über die sogenannte Gedächtnisspanne, umfasst in etwa sieben (plus minus zwei) Einheiten. Die Menge der im Kurzzeitgedächtnis gespeicherten Information kann dadurch erhöht werden, dass Einzelelemente zu einem chunk zusammengefügt werden, z.B. in Form von „Klumpen", „Bündeln" oder „Mustern". Das Kurzzeitgedächtnis gilt als der „Flaschenhals" der Informationsverarbeitung, wie insbesondere die cognitive Joad-Theorie von Sweller (1994) zur Kapazität des Arbeitsgedächtnisses dokumen-
tiert hat. Das Kurzzeitgedächtnis ist jedoch mehr als ein passiver Speicher; modernen Auffassungen der Architektur des Gedächtnisses zufolge (Baddeley & Hitch, 1974) umfasst es vier Module: eine zentrale Exekutive, ~
einen räumlich-visuellen Notizblock, eine phonologische Schleife und
~
einen Ereignisspeicher.
Das längerfristige Behalten wird vom Speicher des Langzeitgedächtnisses (LZG) erledigt. In der Gedächtnispsychologie unterscheidet man ~
unterschiedliche Typen von Speichern: semantisches, episodisches und prozedurales Gedächtnis, unterschiedliche Arten der Repräsentation: semantisch, propositional und neuronal,
~
unterschiedliche Arten des gespeicherten Wissens: deklarativ und prozedural,
59
Lernen als Informationsverarbeitung
Gedächtnis und Metagedächtnis; Letzteres ist das Wissen über das eigene Gedächtnis und umfasst deklarative, prozedurale und konditionale Elemente. Reizeingabe
Wiederholung
Langzeitspeicher Aufmerksamkeitsprozesse
Elaboration
Eingabe
- episodisch - semantisch - prozedural
Abruf
Abbildung 4: Dreispeichermodell des Gedächtnisses 2.6.2 Modi der Informationsverarbeitung
Bei der horizontalen Verarbeitung geht es um eine breite, vielfältige Verankerung im Langzeitgedächtnis. Sie zeichnet sich durch die Ausschöpfung mehrerer Sinneskanäle und Erlebnismodalitäten, die Anreicherung durch Verknüpfungen zu Alltagsphänomenen sowie durch konkrete Sinneserfahrungen aus: Je breiter die Informationsverarbeitung ist und je mehr unterschiedliche Repräsentationsformen (bildhaft-ikonisch, verbal-semantisch, motorisch-handlungsbezogen, Nutzung verschiedener Sinneskanäle: visuell, auditiv, kinästethisch, olfaktorisch und haptisch) einbezogen werden, desto vielfältiger wird die Spur im Gedächtnis verankert und desto leichter ist sie auch wieder abrufbar. Die vertikale Verarbeitung bezieht sich auf die Verständnistiefe, die durch die Bildung von Assoziationen, Hierarchien, Netzen oder anderen Strukturen erreicht wird. Beide Arten der Informationsverarbeitung ergänzen sich. Mehrfache Kodierung. Eine grundlegende Annahme der Gedächtnispsychologie ist die,
dass ein Sachverhalt tiefer verarbeitet und besser behalten wird, wenn er auf unterschiedliche Weise im Langzeitgedächtnis gespeichert wird, das heißt beispielsweise semantisch und bildlich. Paivio (1986) hat hierzu eine (weitgehend, wenn auch nicht ausnahmslos akzeptierte) Theorie entwickelt, die die Überlegenheit eines kombinierten (auditiv plus visuell) gegenüber einem unimodalen Informationsangebot behauptet. Aus der Trivialisierung dieser und verwandter Theorien sind jedoch für den Anwendungsbereich „Schule" vielfach falsche Konsequenzen gezogen worden, etwa dergestalt, dass eine multimodale Präsentation immer und uneingeschränkt wirkungsvoller sei als eine bloße Rede (auditiv) oder die Lektüre eines Textes (visuell). Es kommt- wie so oft, so auch hier - nicht auf das Ob an, sondern auf das Wie: „Durch Ansprechen unterschiedlicher Sinnesmodalitäten besteht die Möglichkeit, die zu vermittelnde Information auf unterschiedliche Sinneskanäle zu verteilen und so eine möglichst optimale Auslastung des Arbeitsgedächtnisses zu erreichen. Dabei sollten die aufeinander bezogenen Text- und Bildinformationen möglichst gleichzeitig angeboten werden, um die Wahrscheinlichkeit der gleichzeitigen Verfügbarkeit im Arbeitsgedächtnis zu erhöhen und die Kohärenzbildung zu erleichtern. Jedoch sollte nicht ein und dieselbe Textinformation auditiv und zugleich visuell in Kombination mit einem Bild dargeboten werden. Eine solche Form der multiplen Textdarbietung führt zu einer Teilung der visuellen Aufmerksamkeit und zu Interferenzen zwischen Hör- und Leseverstehen. " (Schnatz, 2006, S. 172)
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Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
Verarbeitungsebenen. In der Gedächtnispsychologie wird seit Craik und Lockhart (1972) eine
Hierarchie von Verarbeitungstiefen angenommen, von oberflächlich bis tief (level of processing); je tiefer die Verarbeitung, desto besser erinnert man sich später an das Gelernte. Tief
verarbeiteter Stoff hinterlässt vielfältige und starke Gedächtnisspuren. Die Tiefe der Verarbeitung lässt sich durch entsprechende Instruktionen, durch das Unterrichtsangebot und die Aufgabengestaltung beeinflussen. Erhalten Schüler lediglich die Aufforderung, einen Text „langsam und sorgfältig" zu lesen, dann wird dies eher zu einer oberflächlichen Verarbeitung führen. Werden sie dagegen aufgefordert, das Gelesene in eigenen Worten zu rekapitulieren oder in irgendeiner Weise mit der eigenen Person, den eigenen Erfahrungen in Beziehung zu setzen (Effekt des Selbstbezugs), dann ist die Wahrscheinlichkeit einer tiefen Verarbeitung höher. 2.6.3 Kognitivistische Sicht
Aus kognitivistischer Sicht sind Lernumgebungen und Lehr-Lern-Prozesse so zu gestalten, dass man „Lernenden sachlich wohlstrukturiertes Wissen in gut organisierter Weise vermitteln sollte" (Schnotz, 2006, S. 117). Dieser traditionellen Sichtweise zufolge übernimmt die Lehrperson die Rolle des didactic leader. Das Hauptinteresse gilt der Optimierung der Instruktion und weniger den konstruktiven Prozessen auf Seiten des Lerners. In der Anfangszeit war das Denken noch stark behavioristisch und mechanistisch geprägt: Zerlegung des Lehrstoffs in kleine bis kleinste Einheiten (z.B. in Gestalt des „Programmierten Lernens"). Stellvertretend für die Vielfalt an Theorien und Konzepten innerhalb der kognitivistisch orientierten Sicht des Lehr-Lern-Prozesses sollen im Folgenden einige prominente Modelle skizziert werden: das Mastery Learning von Benjamin Bloom, die Prozessmodelle von Gagne und Driscoll sowie von Klauer und Leutner und der Ansatz des Instructional Design. Die Konzepte der Direkten Instruktion und des Kooperativen Lernens werden in Kapitel 4 unter Angebotsvielfalt (4.10) behandelt. 2.6.3.1 Mastery Learning
Blooms Konzept des Mastery Learning (Bloom, 1985) geht davon aus, dass im Prinzip alle Schüler alle Lernziele erreichen können - vorausgesetzt, ihnen würde entsprechend viel Zeit zur Verfügung gestellt. Die Methodik des Mastery Learning besteht aus folgenden Schritten: (1) Zerlegung und Unterrichten des Stoffs in kleinen Einheiten, (2) Lerndiagnose nach jeder Unterrichtseinheit und (3) um Lücken zu erfassen, Maßnahmen zur Beseitigung von Lücken, bevor zur nächsten Lehr-Lern-Einheit übergegangen wird. Wenn Lücken festgestellt werden, erhalten die Lernenden eine individuelle Rückmeldung sowie individualisierte Anleitungen und Hilfestellungen, um ihr Ziel zu erreichen. In theoretischer Hinsicht geht das Modell von einem Modell des kumulativen Lernens aus: Die jeweils vorangehenden Lehr-Lern-Prozesse bereiten auf die folgenden Prozesse vor; ihre Anordnung basiert auf einer Analyse des Wissensstoffs in Form von Lernhierarchien. Das Mastery-Konzept war und ist enorm einflussreich, sowohl für die Theoriebildung als auch für die Schulpraxis, insbesondere im angloamerikanischen Sprachraum. 61
Lernen als Informationsverarbeitung
A
Reflexionsaufgabe 17: Mastery-Konzept - noch aktuell? Recherchieren Sie via Internet, welche Kritikpunkte aus theoretischer, methodischer und bildungspolitischer Sicht gegen das Mastery-Konzept vorgetragen wurden und welche Aspekte seiner Philosophie noch heute aktuell sind.
2.6.3.2 Das Prozessmodell von
und Driscoll
Das Prozessmodell von Gagne und Driscoll (1988) macht Unterrichtsmaßnahmen direkt an Elementen des Lernprozesses fest. Gagne und Driscoll gehen davon aus, dass alle in Tabelle 1 (S. 63) genannten Lernschritte beim typischen Lernen im Klassenzimmer notwendig sind. Zugrunde liegt hier das Modell eines lehrergesteuerten Unterrichts (Direkte Instruktion). Daraus werden spezifische unterrichtliche Maßnahmen (instructional events, siehe linke Seite der Tabelle) abgeleitet, die jeweils bestimmten elementaren Lernprozessen zugeordnet sind: Vorbereitungsphase. Die ersten drei Schritte des Unterrichts umfassen die Vorbereitungs-
phase des Lernens: Die Lehrperson muss erstens ein optimales Aufmerksamkeitsniveau auf Seiten der Schüler erzeugen (Aufforderungen, visuelle oder akustische Signale oder auch Rituale), zweitens über die Lernziele und den Stundenablauf orientieren und damit Erwartungen wecken und schließlich die Schüler dort „ abholen", wo sie zurzeit mit ihrem Wissen stehen, indem aktiv an vorhandenes Wissen angeknüpft wird (durch Wiederholung, Tests, Erfahrungsberichte usw.). Erwerbs- und Verhaltensphase. Dies (Schritte 4 bis 7) ist nach Gagne die Essenz des Ler-
nens im Klassenzimmer. Bei einer typischen Unterrichtsstunde heißt das: Präsentation von fachlichen Inhalten (seitens des Lehrers oder auch durch Schüler) durch Unterweisung/Erklärung, Diskussionen, Demonstrationen, Einsatz von Lehrbüchern, Folien, Software, Bildern, Postern - alles mit dem Ziel, den Schülern dabei zu helfen, die wichtigen Aspekte des Stoffs zu fokussieren und eine kognitive Struktur (eine geistige Repräsentation) zu entwickeln, die im Langzeitgedächtnis abgespeichert werden kann. Dem folgen practice, das heißt Festigung und Konsolidierung durch angeleitete Übung, sowie Feedback. Letzteres hat mehrere Funktionen: Es wird an die zu Beginn der Stunde auf gestellten Ziele angeknüpft, positive Leistungen (Zielerreichung auf Seiten der Schüler, z.B. Verständnis eines Konzeptes oder Beherrschung einer Fertigkeit) werden positiv verstärkt, und Fehler werden mitgeteilt und analysiert. Transferphase. Im Unterricht erworbenes Wissen soll anschlussfähig sein, das heißt in an-
deren Bereichen, Fächern und Situationen anwendbar sein (horizontaler Transfer), oder es soll die Basis für anspruchsvollere, darauf aufbauende Lernziele darstellen (vertikaler Transfer). Dies zu ermöglichen, ist Ziel der Transferphase des Lernprozesses.
62
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
Unterrichtliches Ereignis
Lernprozess
1
Aufmerksamkeit herstellen
Aufmerksamkeit, Wachheit
2
Orientierung, Motivierung über Ziele
Erwartungen
3
Vorwissensnutzung anregen
Abruf von Wissen aus dem Langzeit- ins Arbeitsgedächtnis
4
Präsentation des Lernmaterials
selektive Verarbeitung
5
Lernunterstützung anbieten
speichern im Langzeitgedächtnis
6
Leistung fordern
offenes Lernverhalten
informative Rückmeldung anbieten
Verstärkung
7 8
den Lernerfolg überprüfen Behalten und Transfer unterstützen
Abruf und Nutzung von Wissen aus dem Langzeitgedächtnis
Tabelle 1: Stationen des Lernprozesses nach Gagne und Driscoll (1988)
2.6.3.3 Das Modell von Klauer und leutner
Aus einer anderen Perspektive, aber mit der gleichen Zielrichtung, haben Klauer und Leutner (2007) ein Modell des Lehrprozesses entwickelt. „Hier wird[. .. ] ein Modell vorgestellt, das von vielen anderen psychologischen Modellen abweicht, weil es nicht beansprucht, tatsächlich stattfindende Prozesse (wie etwa die des Lehrens und Lernens) zu beschreiben. Vielmehr geht es darum, ein optimales Modell zu entwickeln, an das man sich halten kann, um die Lehre so zu gestalten, dass sie auch lernwirksam ist. Es geht also um ein präskriptives Modell, um eine Art Algorithmus, der zur Steue-
rung eines wirksamen Lehr-Lern-Prozesses dienen kann." (S. 64)
Abbildung 5 (S. 64) stellt den von Klauer und Leutner (2007) entwickelten Lehralgorithmus dar, verstanden als Anleitung, wie man vorgehen sollte, um Aufgaben einer definierten Klasse zu lösen. Im positiven Sinne strukturiert ist ein Unterricht dann, wenn darin der skizzierte Prozess (von der Motivation bis hin zum Transfer) erfolgreich durchlaufen wird. An dieser Stelle sei vor einem Missverständnis gewarnt: Die vorgeschlagenen Reaktionen „ Sorge für ... " bedeuten nicht, dass dies notwendigerweise Lehrerhandlungen sein müssten.
Vielmehr ,,[. .. ] können darüber hinaus Mitschüler oder Tutoren in Betracht kommen, ferner Lehrmaterialien und natürlich auch moderne Lernmedien wie etwa Computer oder interaktive Lernprogramme aus dem Internet. Im Extremfall mag sogar der lernende selbst Adressat sein. In diesem Fall wird jemand für sich selbst, für sein eigenes Lernen den Algorithmus heranziehen. Er oder sie übernimmt dann selbst die Lehrfunktionen. Selbstgesteuertes Lernen wird in dem Maße effektiv sein, in dem lernende die Lehrfunktionen für sich realisieren. Um selbstgesteuertes Lernen zu vermitteln, ist es daher angezeigt, lernende Schritt um Schritt mit den Grundzügen des Lehralgorithmus auf angemessene Weise vertraut zu machen [. . .]. Es wäre also ein Missverständnis anzunehmen, der Lehralgorithmus lege einen lehrerzentrierten Unterricht nahe." (S. 70) 63
Lernen als Informationsverarbeitung
START
j
Motivation Ist der Lerner motiviert?
NEIN
Sorge für Motivation durch interessantes Problem - Interessante Tätigkeit - motivierende Zieleingabe - anregende Atmosphäre
1
JA
l 1
1
Sorge für Aufmerksamkeit durch lnformatio n - Aufmerksamkeitslenkung Hat der lernend e die >-NEIN-> - advance organizer notwendige n - Aktivierung notwendiger lnformatione n? / Vorkenntnisse
-
Sorge für Information durch geeignete Mediatoren Sorge für optimale Gestaltung der Information
JA
11
Informationsverarbeitung Hat der lernende alles verstanden?
~NEIN->
,!:
Sorge für elaborative Prozesse durch Herausarbeiten von - Querverbindungen - Beziehungen - Voraussetzungen - Konsequenzen etc.
--
1
Sorge für reduktive Prozesse durch - Zerlegung in kleinere Strukturen - Zusammenfassen zu größeren Einheiten - Netzwerke („MindMaps") ..
,,
,
1
T1
Sorge für Einprägungsstrategien wie - Einordnen des Neuen in das Speichern und Abrufen Bekannte Kann der lerne r die ,__NEIN-> - yergleic~en, Analogien Information aus dem - Ubung, Uberlernen, Mastery Gedächtnis abr ufen? Learning ""' - Notizenmachen
JA
Transfer Kann der Lerner die Information anwenden?
NEIN
Sorge für Vergleichen durch Beachtung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden bei - ähnlichen Sachverhalten - Anwendung von Prinzipien
JA
l
ENDE
Abbildung 5: Der Lehralgorithmus nach Klauer & Leutner (2007, S. 68)
Ich danke den Autoren für die Genehmigung des Abdrucks. 64
1
-
Sorge für Abrufbarkeit durch - Fragen und Impulse - strukturierte Merk- und Abrufhilfen - Memotechnik '
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
Reflexionsaufgabe 18: Reichweite des Lehralgorithmus von Klauer und Leutner Für welche Lernaufgaben und Lernprozesse halten Sie den Lehralgorithmus von Klauer und Leutner für nützlich? Fallen Ihnen auch Lernprozesse ein, die möglicherweise ein anderes Lehrmodell nahelegen würden?
2.6.3.4 lnstrm:tional Design
Am klarsten kommt die kognitivistische Auffassung vom Lehren und Lernen im Konzept des Instructional Design (ID) zum Ausdruck. Mit ID bezeichnet man Prinzipien der Gestaltung von
Lehr-Lern-Prozessen (oft wird auch der Terminus „Lernumgebung" verwendet), die sich durch folgende Merkmale auszeichnen: Analyse der individuellen Lernvoraussetzungen (need analysis). Damit ist eine Diagnose der
wichtigsten individuellen kognitiven und motivationalen Eingangsvoraussetzungen gemeint, also insbesondere des bereichsspezifischen Vorkenntnisniveaus, der Lerngewohnheiten und -strategien sowie der motivationalen Orientierungen und Interessen. Mit Blick auf den nach PISA verstärkt geforderten verantwortlichen Umgang mit Heterogenität, nach individueller Förderung und Differenzierung ist diese Komponente zweifellos von größter Aktualität. Allerdings muss man hier mit einem trade-off rechnen (gegenläufige Ziele): Die Verbesserung eines Aspekts lässt sich nur erreichen, wenn man die Verschlechterung eines anderen Aspekts in Kauf nimmt, das heißt, je ausführlicher und differenzierter (und damit zeitraubender) die Diagnose der individuellen Lernvoraussetzungen, desto weniger Zeit bleibt für das eigentliche Kerngeschäft des Lehrens und Lernens. Wer also die im Prinzip gute Forderung aufstellt, dass Lehrpersonen für alle Schülerinnen und Schüler ihrer Klasse einen individuellen Lern- und Förderplan aufstellen und die individuelle Lernzielerreichung regelmäßig überprüfen, dem muss klar sein, dass dies viel Zeit kostet, die dann an anderer Stelle fehlt, siehe hierzu Kapitel 4.9. Analyse des Lerngegenstandes (task analysis). Eine präzise Lehrstoff- und Aufgabenanaly-
se ist ein weiterer Kern des Instructional Design. Hierzu sind bereits in den siebziger Jahren komplexe Verfahren der Strukturanalyse entwickelt worden (z.B. Unterscheidung von Begriffssystemen, Prinzipien und Prozeduren). Solche Inhaltsstrukturanalysen lassen sich auf alle Inhaltsgebiete anwenden, die mit Sachtexten arbeiten, wobei „Texte" sowohl schriftlicher als auch mündlicher Art (z.B. Lehrervortrag) sein können. Die Gegenüberstellung der hierarchischen Struktur des Lernstoffs und seiner Vermittlung (durch ein Lehrwerk oder durch die Lehrperson) ist eine zielführende Methode, um die Kohärenz der Vermittlung zu prüfen - und aus Kohärenzbrüchen ableitbare Verständnisschwierigkeiten und Fehler seitens der Lernenden zu erklären. Sequenzierung. Die Festlegung der Reihenfolge der fachlichen Inhalte ist ein weiteres
Bestimmungsstück des Instructional Design. Die Sequenzierung richtet sich - je nach Orientierung und Ziel des Lehr-Lern-Prozesses - zum einen nach den Eingangsvoraussetzungen, insbesondere der Vorwissensstruktur der Schülerinnen und Schüler, zum anderen nach den Struktureigenschaften des Lehrinhaltes. 65
Lernen als Informationsverarbeitung
Lernhilfen. Einen großen Raum nehmen in der Entwicklung von ID-Modellen solche Informa-
tionsangebote ein, die über den Lerninhalt hinausgehen und den Lernprozess unterstützen sollen. Dazu gehören die Mitteilung der Lernziele, vorangestellte oder nachgestellte Strukturierungshilfen und Lernfragen (siehe Schnotz, 2006, S. 151 f.). Auch hier gilt das Prinzip, dass ein Optimum - und nicht ein Maximum - von Lernhilfen angestrebt wird. Zu viele Lernhilfen können den Lernenden überfordern, zu einer Fehlbelastung des Arbeitsgedächtnisses (extraneous cognitive load) führen und damit den Lernprozess behindern, anstatt ihn zu fördern.
Kognitivistisch orientierte Sichtweisen sind vor allem wegen der Überbetonung der Lehrperson im Lehr-Lern-Prozess kritisiert worden. Auch die Aufteilung und Sequenzierung des Stoffes in kleine Segmente war und ist Gegenstand der Kritik, die von sozial-konstruktivistischer Seite geübt wurde und wird. 2.6.4 Sozial-konstruktivistische Sicht
Ausgangspunkt der konstruktivistischen Sichtweise ist die Betonung der konstruktiven Eigentätigkeit der Lernenden und des Kontextbezuges beim Lernen: Im Mittelpunkt stehen die individuellen Lernprozesse, also die aktive Konstruktion und nicht die Instruktion; und Lernumgebungen sollen so gestaltet sein, dass sie Bezüge zu realen, „authentischen" Lebenssituationen haben. Wegen der stärkeren Betonung der Eigenverantwortung der Lernenden spielt die (Fremd-)Evaluation des Lernfortschrittes in diesem Konzept eine deutlich geringere Rolle. Was zählt, sind lediglich Feedback-Informationen - sowohl an die Lernenden als auch an die Lehrenden gerichtet - zum Stand des Lehr-Lern-Prozesses. Die Lernenden sollen an allen Phasen des Lehr-Lern-Prozesses aktiv beteiligt werden. Hinzu kommt der Gedanke einer Einbettung allen Lernens in einen sozialen Kontext: Kognitionen sind sozial geteilte Aktivitäten
daher
„sozial-konstruktivistisch". Im Umfeld einer sozial-konstruktivistisch geprägten Orientierung sind vor allem die folgenden Konzepte und Modelle wichtig: Entdeckendes Lernen, situiertes Lernen, Lehrlingslernen (bekannter unter dem englischsprachigen learning by apprenticeship) und anchored instruction. 2.6.4.1 Entdeckendes lernen
Das Lernen durch Entdeckung (engl. learning by discovery) ist eine Form des Wissenserwerbs, bei der die Neugierde und Eigenaktivität des Lernenden im Vordergrund stehen (Hameyer, 2000; Hartinger, 2005; Neber, 2006b, 2006a). Es spielt sowohl in der Entwicklungspsychologie als auch in der Pädagogischen Psychologie eine wichtige Rolle. Die wichtigsten Methoden entdeckenden Lernens sind (a) Konfliktinduktion und Konfliktlösung, (b) Beispiele und Erklären sowie (c) Explorieren und Experimentieren. Entdeckendes Lernen kann zu forschendem Lernen werden, wenn es sich an den Prinzipien der wissenschaftlichen Forschung orientiert.
Ein verbreitetes Missverständnis beim entdeckenden Lernen besteht in der Vorstellung, es handele sich dabei um ein völlig ungelenktes Lernen in unstrukturierten, offenen Lernumgebungen. In Wirklichkeit kann entdeckendes Lernen auf einem Kontinuum von offen und proj ektähnlich einerseits bis hin zu stark gelenkt andererseits erfolgen; ein Beispiel für Letzteres
ist etwa das sokratische Lehren. Die Forschung hat gezeigt, dass unterschiedliche Arten und 66
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
Niveaus der Lenkung für den Lernerfolg erforderlich sind, um die Lernenden nicht zu überfordern. Die Hauptsache ist, dass Unterstützungen immer adaptiv zu den gegebenen Lernvoraussetzungen der Schüler erfolgen sollen, wobei Schüler mit defizitären Lernvoraussetzungen eher von stärkerer Lenkung profitieren, während Schüler mit sehr guten Lernvoraussetzungen weniger Lenkung präferieren und benötigen. Empirisch erprobte Varianten lernförderlicher Lenkung (Neber, 2006a, S. 118) können beispielsweise sein: Reduktion der Komplexität der behandelten Modelle, Hilfen für einzelne Lernphasen, Vorgabe strukturierter Forschungszyklen, gleitende Übergänge von zunächst stark strukturierten zu offen Formen des Lernens, tutorielle Unterstützung (scaffolding).
2.6.4.2 Situiertes lernen Ausgangspunkt für die Strategie des situierten Lernens (situated learning) ist die Erfahrung, dass traditionell erworbenes Wissen oft träge" ist (inert knowledge), das heißt, es ist zwar 11
im Langzeitgedächtnis vorhanden, wird aber, wenn es nötig wäre, nicht abgerufen bzw. nicht sinnvoll angewendet (Transfer). Speziell für das schulische Lernen wurde vielfach kritisiert, dass es - im Gegensatz zum Lernen außerhalb schulischer Institutionen - weitgehend isoliert erfolgt und dass der Lernerfolg ebenfalls isoliert beurteilt wird. Insbesondere Resnick (1987) hat in ihren Publikationen zur situated cognition immer wieder kritisch darauf hingewiesen, dass in der Schule symbolisch vermittelte Inhalte im Vordergrund stehen und der Anwendungsaspekt des Gelernten unbeachtet bleibt. Für das schulische Lernen folgt daraus, dass Lern- und Anwendungssituationen möglichst ähnlich gestaltet werden sollten. Allerdings sind diese Ideen nicht unbedingt neu, weshalb Klauer (1999) in diesem Zusammenhang unter Verweis auf Piaget, Vygotski, Dewey und die Reformpädagogik von altem 11
Wein in neuen Schläuchen" spricht. Er erinnert an die Situationismusdebatte in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts: „Dort war mit großem Enthusiasmus behauptet worden, das Verhalten des Menschen sei nicht nur oder nicht so sehr von Eigenschaften als von Situationen geprägt. Diese Behauptung war aber schon damals keinesfalls neu [„.]. Solche Äußerungen haben aber nicht davon abgehalten, mit einem angeblich neuen Konzept die Fachwelt zu überraschen, einem Konzept, von dem heute kaum mehr die Rede ist. Die üblichen Übersteigerungen sind abgebaut, und was geblieben ist, war im Wesentlichen schon vorher unstrittig. Der ganze Aufwand hat allerdings dem Bekanntheitsgrad und der Eitelkeit einiger Autoren genutzt. (S. 120) Und: „Manche Psychologen legen es partout darauf an, 11
etwas Neues zu vertreten, und so tragen sie ein Modewort wie eine Bekennerfahne vor sich her, ohne zuvor klar zu definieren, was eigentlich das Neue und Unterscheidende sei, das sie vertreten und durchsetzen wollen. (S. 119) 11
Jeder einzelne der vier Punkte, die den Kern des Situiertheitskonzeptes ausmachen (Handeln ist mit der Situation verbunden, in der es gelernt wurde; Kenntnisse sind nicht auf andere Aufgaben übertragbar; Training durch Abstraktion ist nutzlos; Unterricht muss, um wirksam zu sein, in komplexen sozialen Situationen erfolgen) ist widerlegt worden (Anderson, Reder & Simon, 1996). Eine ausschließliche Orientierung am Konzept des situierten Lernens wäre nicht zielführend, weil eines der wichtigsten Ziele systematischen Lernens vernachlässigt würde: der Transfer. 67
Lernen als Informationsverarbeitung · Ein Angebots-Nutzungs-Modell unterrichtlicher Wirkungen
Obwohl der Absolutheitsanspruch des situierten Lernens wissenschaftlich unbegründet ist, hat die situierte Sichtweise zu nützlichen Anreicherungen traditioneller Lehr-Lern-Arrangements beigetragen. Einige der aus dem. Ansatz des situierten Lernens resultierenden Lehr-Lern-Szenarien werden in Kapitel 4 (Unterrichtsqualität) skizziert, Stichworte: Lehrlingslernen, Verstehensanker, Lernen durch Lehren und kooperatives Lernen.
Reflexionsaufgabe 19: Situiertes Lernen
A ~
Beim situierten Lernen sollen Lern- und Anwendungssituation möglichst ähnlich gestaltet werden. Können Sie sich dazu eine praktische Unterrichtssituation vorstellen? Was würde das für Ihren Unterricht bedeuten?
2.6.5 Integrative Sicht
Die sozial-konstruktivistischen Ansätze stehen trotz ihrer Plausibilität bisher auf deutlich schwächeren Füßen als die kognitivistischen Ansätze. Ein erster Kritikpunkt betrifft die im. Vergleich zu kognitivistischen Ansätzen bisher noch vergleichsweise spärliche empirische Fundierung der getroffenen Aussagen. Manche Untersuchungen belegen sogar Leistungsverschlechterungen, wenn zuvor nach kognitivistischen Prinzipien gelernt wurde. Besonders Schülerinnen und Schüler m.it ungünstigen Lernvoraussetzungen benötigen offenbar ein deutlich stärkeres Ausmaß an Anleitung, Unterstützung und Strukturierung, als es die kognitivistischen Ansätze zur Verfügung stellen. Daneben liegt die Gefahr von Schereneffekten auf der Hand. Schließlich müssen konstruktivistisch orientierte Lehr-Lern-Prinzipien sich oft ein sehr ungünstiges Kosten-NutzenVerhältnis vorwerfen lassen: Die damit verbundenen Verfahren sind zeitlich teilweise extrem. aufwändig, sodass ihre Realisierung im. großen Stil schon deshalb unrealistisch ist. Versuche der praktischen Im.plem.entation in den Unterricht haben die Kosten eines forciert sozial-kognitiv orientierten Vorgehens aufgezeigt. Insbesondere kann der Schwung (momentum) einer Stunde beträchtlich verringert werden.
Sowohl aus theoretischer und forschungsm.ethodischer als auch aus schulpraktischer Sicht sprechen viele Gründe dafür, keinen der beiden Ansätze zu verabsolutieren, sondern sie zu integrieren. Reinm.ann und Mandl (2006) sprechen sich in ihrem. Kapitel „Unterrichten und Lernum.gebungen gestalten" in diesem. Sinne für eine „gemäßigt konstruktivistische Auffassung" aus. Als Leitlinien eines problemorientierten Unterrichts postulieren die Autoren: ~
situiert und anhand authentischer Probleme lernen, in multiplen Kontexten lernen (zumindest an aktuelle Probleme, authentische Fälle oder persönliche Erfahrungen anknüpfen; wenn möglich Lernende in authentische Problem.situationen versetzen, die reales Handeln erfordern), unter multiplen Perspektiven lernen (bei der Präsentation neuer Inhalte zumindest unterschiedliche Anwendungsperspektiven verdeutlichen; wenn möglich das Gelernte konkret anwenden lassen),
68
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
in einem sozialen Kontext lernen (zumindest gelegentlich im Unterricht Phasen mit Gruppen- und Partnerarbeit einbauen; das Lernen und Arbeiten in Expertengemeinschaften ermög liehen), mit instruktionaler Unterstützung lernen. Konstruktion und Instruktion lassen sich nicht nach einem Alles-oder-nichts-Prinzip realisieren. Lernen erfordert zum einen immer Motivation, Interesse und Eigenaktivität seitens des Lernenden, und der Unterricht hat die Aufgabe, diese Konstruktionen anzuregen und zu ermöglichen. Lernen erfordert zum anderen aber auch Orientierung, Anleitung und Hilfe. Ziel muss es folglich sein, eine Balance zwischen expliziter Instruktion durch den Lehrenden und konstruktiver Aktivität des Lernenden zu finden.
2. 7 Ein Angebots-Nutzungs-Modell unterrichtlicher Wirkungen Es ist inzwischen fast ein Allgemeinplatz, dass ein einfaches Prozess-Produkt-Modell, das Merkmale des Unterrichts in korrelativer Weise mit Wirkungen auf Schülerseite verknüpft, aus vielen Gründen unzulänglich ist. Weinert (1999c) hat dies wie folgt skizziert:
Modelle des Lehrens schreiben aufgrund wissenschaftlicher Analysen der vorfindbaren zusammenhänge zwischen Merkmalen des Unterrichts und den Lernerfolgen der Schüler präskriptiv vor, was pädagogisch getan und wie gelehrt werden sollte, um erwünschte Unterrichtsziele möglichst optimal zu erreichen und unerwünschte Nebeneffekte zu vermeiden. Aber welche schulexternen und schulinternen Faktoren beeinflussen die kognitiven Leistungen und die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler während eines bestimmten Zeitraumes? Spielen dabei Merkmale des Lehrens und des Lehrers überhaupt eine bedeutsame Rolle? Es gibt fast nichts, was man zur Beantwortung dieser Frage nicht mit dem Unterrichtserfolg einzelner Schüler oder ganzer Schulklassen in Verbindung gebracht hätte. Die Folge davon war und ist eine lnflationierung der in pädagogisch-psychologischen Untersuchungen berücksichtigten potenziellen Einflussvariablen mit dem ebenso verallgemeinerbaren wie enttäuschenden Resultat, dass sich keine substanziellen, stabilen und generell gültigen zusammenhänge zwischen isolierten Unterrichtsmerkmalen und den verschiedensten Erfolgskriterien des Unterrichts finden lassen. Dieser Eindruck verändert sich auch nicht, wenn statt einzelner Untersuchungen mithilfe statistischer Metaanalysen die Befunde aus vielen einschlägigen Studien simultan berücksichtigt werden. Eine Zusammenstellung der dabei erzielten Resultate, die sich auf 7 827 einzelne Studien stützt, könnte zu der zynischen Schlussfolgerung verleiten, dass fast jede der berücksichtigten Variablen in gewisser Hinsicht sowohl bedeutsam als auch unwichtig ist. Prominent gewordene und vielfach propagierte Unterrichtsmethoden wie Individualisierung, computerunterstützte Instruktion, die Verwendung didaktischer Medien oder die Art der benutzten Lehrmethoden erweisen sich im Durchschnitt als ineffektiv, wenn man ihren Einfluss auf die Schülerleistungen isoliert und kontextfrei überprüft. Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als dass es isolierte, einfache, stabile und invariant gültige Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Kriterien des Unterrichtserfolgs und Merkmalen des Unterrichts nicht gibt. Damit fehlt den vielen vereinfachenden Prozess-Produkt-Modellen des Lehrens die wissenschaftliche Basis. Obwohl es gelegentlich gefordert wird, wäre es aber voreilig, die skizzierte Befundlage zum Anlass zu nehmen, die For-
~>
69
Ein Angebots-Nutzungs-Modell unterrichtlicher Wirkungen
i»
schungen zur Analyse vorfindbarer Variablenzusammenhänge und zur Konstruktion präskriptiver Lehrmodelle aufzugeben. Mehrere systematische Erweiterungen des Ansatzes haben inzwischen nämlich zu theoretisch wesentlich befriedigenderen empirischen Resultaten geführt: ~
Beobachtbare Merkmale des Unterrichts werden in ihrer Wirkung auf das Lernverhalten und die Lernleistungen der Schüler durch subjektive Erwartungen, Wahrnehmungen, Interpretationen, Ursachenerklärungen und Situationsbedeutungen auf Seiten der Lehrenden wie der Lernenden mediatisiert.
~
zusammenhänge zwischen spezifischen Unterrichtsmerkmalen und spezifizierten Effektkriterien sind kontextabhängig, das heißt, sie variieren in Abhängigkeit von verschiedenen Klassen psychologischer, sozialer und pädagogischer Randbedingungen.
~
Zwischen Lernvoraussetzungen auf Seiten der Schüler und der Wirksamkeit von Merkmalen des Unterrichtens gibt es sowohl kombinatorische als auch kompensatorische Effekte. Das Niveau der fachlichen Vorkenntnisse bei den Schülern und die Qualität der Instruktion addieren sich zum Beispiel in ihrem Einfluss auf die Güte der erzielten Schulleistungen. Umgekehrt ist die Effektivität eines vom Lehrer stark gesteuerten, kontrollierten und adaptiven Unterrichts bei Schülern mit schwach ausgeprägter Leistungsmotivation und defizienter Arbeitshaltung besonders groß, weil durch die Lehre eine externe Kompensation der mangelhaften internen Lernsteuerung erfolgt.
~
Durch die Verknüpfung einzelner Merkmale des Unterrichts zu typischen Lehrstilen werden die darauf aufbauenden Prognosen und/oder Erklärungen der Schülerleistungen bedeutsam verbessert. Die Konzepte der „direkten Instruktion" und des „offenen Unterrichts" sind dafür gute Beispiele.
~
Sowohl guter als auch schlechter Unterricht kann durch sehr variable Merkmalskonstellationen charakterisiert sein.
Die Forschungen über zusammenhänge zwischen Merkmalen des Unterrichts und Erfolgskriterien auf Seiten der Schüler haben durch die erwähnten Differenzierungen und Spezifizierungen in den letzten Jahren an theoretischem Gewicht gewonnen. Da es bei der subpersonalen Ebene der Theoriekonstruktion aber letztlich um die wissenschaftliche Analyse und technologische Manipulation rein funktionaler, d. h. weder bewusst werdender noch intendierter Bedingungs-Wirkungs-Beziehungen geht, bleibt bis zur Entschlüsselung der strukturellen Zusammenhangsmuster zwischen Lehr-, Lern- und Leistungsvariablen noch viel zu tun. Der Forschungsansatz erlaubt aber schon jetzt die begründete Isolierung von Komponenten eines wirkungsvollen Unterrichts, die sich systematisch einüben lassen und dann als Gliedstrukturen der individuellen Lehrkompetenz instrumentell nutzbar sind. Kasten 6: Weinert (1999c, S. 210-212) zu grundlegenden Fragen der Unterrichtsforschung
Diese Gedanken Weinerts und theoretische Überlegungen von Fend (1981) aufgreifend, soll nun ein vom Autor entwickeltes Angebots-Nutzungs-Modell präsentiert werden. Es versucht, Faktoren der Unterrichtsqualität in ein umfassenderes Modell der Wirkungsweise und Zielkriterien des Unterrichts zu integrieren. Es umfasst sowohl Merkmale der Lehrperson als auch des Unterrichts. Aus Gründen der Übersichtlichkeit tauchen die aus Abbildung 2 ersichtlichen außerschulischen Erklärungsblöcke in dieser Abbildung nicht auf. Das Modell sieht folgende Blöcke vor: Merkmale der Lehrperson, Kontext, Unterricht, Familie, individu70
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
elles Lernpotenzial, Mediationsprozesse und Lernaktivitäten auf Schülerseite; dazu kommt der Block „ Wirkungen". Im Folgenden soll auf einige Grundprinzipien des Modells eingegangen werden.
FAMILIE strukturelle Merkmale (Schicht, Sprache, Kultur, Bildungsnähe); Prozessmerkmale der Erziehung und Sozialisation
LEHRPERSON
t
UNTERRICHT (Angebot)
LERN POTENZIAL
Professionswissen fachliche, didaktische, diagnostische und KlassenführungsKompetenz
Prozessqualität des Unterrichts
1
- fachübergreifend
,_
- fachspezifisch
pädagogische Orientierungen Erwartungen und Ziele
Vorkenntnisse, Sprache(n), Intelligenz, Lern- und Gedächtnisstrategien; Lernmotivation, Anstrengungsbereitschaft, Ausdauer, Selbstvertrauen
Qualität des LehrLern-Materials
Engagement, Geduld, Humor
i kulturelle Rahmenbedingungen
WIRKUNGEN
LERNAKTIVITÄTEN Wahrnehmung und Interpretation
(Ertrag)
(Nutzung)
aktive Lernzeit im Unterricht außerschulische Lernaktivitäten
fachliche Kompetenzen
~
fachübergreifende Kompetenzen erzieherische Wirkungen der Schule
1
Unterrichtszeit
i regionaler Kontext
t
KONTEXT Schulform, Bildungsgang
Klassenzusammensetzung
didaktischer Kontext
Schulklima, Klassenklima
Abbildung 6: Ein Angebots-Nutzungs-Modell der Wirkungsweise des Unterrichts
2. 7.1 Angebot und Nutzung
Der Unterricht repräsentiert in seiner Gesamtheit ein Angebot. Diese Sichtweise betont das konstruktivistische Element des Lehr-Lern-Prozesses: Das unterrichtliche Angebot führt nicht notwendigerweise direkt zu den Wirkungen (äußerer rechter Kasten in Abbildung 6), sondern seine Wirksamkeit für das Lernen hängt von zweierlei Typen von vermittelnden Prozessen auf Schülerseite ab: (1) davon, ob und wie Erwartungen der Lehrkraft und unterrichtliche Maßnahmen von den Schülerinnen und Schülern überhaupt wahrgenommen und wie sie interpretiert werden, sowie (2) ob und zu welchen motivationalen, emotionalen und volitionalen (auf
den Willen bezogenen) Prozessen sie auf Schülerseite führen. Man spricht hier auch von Mediationsprozessen. Vom Ausgang dieser Prozesse hängt es ab, ob und welche Lernaktivitäten auf
Schülerseite resultieren. Mit anderen Worten: Unterricht ist lediglich ein Angebot; ob und wie effizient dieses Angebot genutzt wird, hängt von einer Vielzahl dazwischenliegender Faktoren 71
Ein Angebots-Nutzungs-Modell unterrichtlicher Wirkungen
ab. Die Mediationsprozesse - Wahrnehmung/Interpretation der Lehrkraft bzw. des Unterrichts und aktive Lernprozesse - hängen ihrerseits entscheidend von den individuellen Eingangsbedingungen (insbesondere dern Vorkenntnisniveau, den Lernstrategien und der Lernrnotivation) der Schüler und vorn Klassenkontext ab (z.B. ob es sich urn ein leistungsfreundliches oder -feindliches Klima handelt, ob die personelle Zusarnrnensetzung der Klasse lernförderlich oder lernhernrnend ist). Gelegentlich ist die Verwendung der aus der Wirtschaft starnrnenden Konzepte „Angebot" und „Nutzung" auch Anlass zu Missverständnissen. In einem Interview aus dern Jahre 2007 habe ich zu den diesbezüglichen kritischen Fragen der Kollegen Hilbert Meyer und Ewald Terhart, beide Pädagogen, Stellung genornrnen (Meyer & Terhart, 2007):
Meyer:
Herr Helmke: Sie haben wiederholt den auch in diesem Heft abgebildeten Theorierahmen Ihrer Studien zum guten Unterricht als „Angebots-Nutzungs-Modell zur Erklärung des Lernerfolgs" vorgestellt. Es bezeichnet den „state of the art"; es wurde auch bei der PISA-Studie zugrunde gelegt. Wer hat diese Vorstellung eigentlich in die Pädagogik eingebracht?
Helmke:
Die Metapher vom Unterricht, dessen Ertrag von der Nutzung durch die Schülerinnen und Schüler abhängt, stammt von Helmut Fend, der übrigens auch mein Doktorvater war. Gemeinsam mit Franz E. Weinert habe ich dieses Modell um- und ausgebaut.
Meyer:
Was haben Lehrerinnen und Lehrer davon, sich an diesem ursprünglich doch wohl für die Grundla-
Helmke:
Das Modell hat drei Vorteile: Es liefert einen kompakten Überblick über die wichtigsten Variablenbün-
genforschung entwickelten Modell zu orientieren? del zur Erklärung des Lernerfolgs. Es ist empirisch abgesichert. Und es benennt „ Stellschrauben", an denen Lehrer und Schüler drehen können, um den Lernerfolg zu erhöhen: ~
die Qualifikation der Lehrerin/des Lehrers (z.B. für die Diagnose von Lernständen, für das individuelle Fördern, für die Herstellung eines lernfreundlichen Klimas),
~
die Qualität der Lehr- und Lernprozesse,
~
die Qualität der eingesetzten Arbeitsmittel und Medien
~
und die zur Verfügung gestellte Lernzeit.
Eine weitere Leistung des Modells besteht für mich darin, die Komplexität des Zusammenwirkens verschiedener Einflussgrößen deutlich zu machen. Meyer:
Hätten Sie dafür ein Beispiel?
Helmke:
Das Modell veranschaulicht etwa, dass es Wechselwirkungen geben kann: Ein und derselbe Unterricht kann für einen Teil der Klasse günstig, für einen anderen Teil kontraindiziert sein. Schüler mit geringerem Vorkenntnisniveau und geringerer Sprachkompetenz benötigen deutlich mehr Vorgaben und Feedback als leistungsstärkere. Letztere profitieren mehr von offenen Lernsituationen und entdeckenlassendem Lernen. Aber grundsätzlich gilt: Die Forschung liefert keine stromlinienförmig umsetzbaren Handlungsanweisungen für den Unterricht, geschweige denn Rezepte, sondern ermöglicht eine Sensibilisierung des lehrenden für wichtige Einflüsse auf das Unterrichtsgeschehen.
72
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
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Meyer:
Der Einfluss der Variable „ Unterrichtsqualität" wird von den Forschern inzwischen mit 10 bis 25, maximal 30 Prozent geschätzt, und innerhalb der Variable „ Unterrichtsqualität" ist das Lehrerhandeln wiederum nur ein Element. Das überrascht viele Praktiker. Könnte es Anlass zur Resignation werden?
Helmke:
Wieso das? Das ist doch eine quantitativ beachtliche Erklärungsquelle für Unterschiede im Kompetenzniveau von Schulklassen und weit von der früheren gängigen, heute aber kaum noch benutzten Floskel „ Teachers make no difference" entfernt! Ich helfe den Lehrerinnen und Lehrern, auf der Grundlage dieses Modells zu einer nüchternen, dennoch optimistischen Einschätzung ihres Anteils am Lernerfolg der Schüler zu kommen. Das ist Aufklärungsarbeit, die von den jahrzehntelang tonangebenden Allgemein- und Fachdidaktiken nicht geleistet wurde, heute aber überfällig ist.
Meyer:
Das Modell hat m. E. einen Nachteil, der sich aus dem Vorteil der Übersichtlichkeit ergibt: Es ist viel zu abstrakt, um daraus direkte Konsequenzen für die Unterrichtsgestaltung zu ziehen.
Helmke:
Wenn man die Ableitbarkeit direkter Konsequenzen zu einem Kriterium der Güte eines Modells erklärt, dann ist es so, wie Sie sagen. Aus meiner Sicht will und kann das Angebots-Nutzungs-Modell dies gar nicht leisten. Sein eigentlicher Wert liegt in der Verdeutlichung möglicher Wirkmechanismen und -richtungen.
Meyer:
Inwiefern?
Helmke:
Seine bildliche Darstellung erleichtert beispielsweise die Vorstellung des sogenannten „fairen Vergleichs": Eine schwierige, ungünstig zusammengesetzte Klasse weist nicht nur ein geringeres Leistungsniveau auf - das sowieso. Die externen Rahmenbedingungen, also Schuleinzugsgebiet und Klassenzusammensetzung, machen es der Lehrperson auch schwerer, guten Unterricht zu machen. Unmittelbar einleuchtend ist dies beispielsweise beim Merkmal „Nutzung der Unterrichtszeit". Dass die Qualität und Quantität des Unterrichts nicht nur eine Steuergröße ist, sondern ein Stück weit selbst in seiner Wirksamkeit von nicht direkt steuerbaren Rahmenbedingungen abhängt, muss aus meiner Sicht bei der Beurteilung des Unterrichts berücksichtigt werden.
Meyer:
Meinen Sie die Unterrichtsbeurteilungen durch die Schulleitung?
Helmke:
Die weniger. Die Schulleitung ist ja in der Regel über die Rahmenbedingungen des Unterrichtens und innerschulische Unterschiede sehr gut im Bilde. Ich dachte vor allem an die externe Schulevaluation, zu deren Programm immer auch Unterrichtsbesuche und Unterrichtsbeurteilungen gehören.
Terhart:
Glauben Sie wirklich, dass man den Unterricht einer Lehrperson nach nur einer oder sogar nur einer halben Stunde beurteilen kann? Verbietet nicht gerade das Angebots-Nutzungs-Modell eine solche Vorstellung?
Helmke:
Das sehe ich ganz genauso. Ich bin an der Ausbildung der Evaluationsteams bzw. Schulinspektoren in einigen Bundesländern beteiligt. Dort betone ich, dass es aus methodischen Gründen ausgeschlossen ist, aus einer Momentaufnahme auf das Können der Lehrperson, auf die Qualität „des" Unterrichts zu schließen. Gehaltvoll sind solche Messungen lediglich auf der Ebene der Schule, und natürlich auch auf regionaler und Landesebene.
Terhart:
Ich sehe eine weitere Gefahr darin, dass sich Lehrerinnen und Lehrer - schon durch die Wortwahl in Ihrem Modell - an der falschen Stelle aus der Pflicht entlassen fühlen: Die Lehrer machen den Schülern ihr Angebot - was die Schüler daraus machen, ist ihre Sache. Wie sehen Sie hier die Rolle bzw. die Verantwortung des Lehrers?
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Ein Angebots-Nutzungs-Modell unterrichtlicher Wirkungen
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Helmke:
Sie meinen, jemand könnte herkommen und sagen: Ich mache ein erstklassiges Unterrichtsangebot, fachlich wie fachdidaktisch, und wenn das nichts bewirkt, haben die Schüler eben Pech gehabt?
Terhart:
Ja, überspitzt gesagt, könnte man es auf diesen Punkt bringen.
Helmke:
Dieser Gedanke hat durchaus einen wahren Kern: Es kann sehr wohl vorkommen, dass Lehrer sich buchstäblich zerreißen, dass sie alles tun, was menschenmöglich ist, und dass lernunwillige, kaum motivierbare Schülerinnen und Schüler ungünstigen falls diese Angebote eben nicht nutzen. Den Lehrern das Scheitern ihrer Bemühungen unter solchen Umständen zur Last zu legen, fände ich ungerecht und unfair. Schulleistungen sind, wie Helmut Fend es mal bezeichnet hat, immer Koproduktionen. Der Denkfehler liegt woanders, nämlich in einer zu simplen Vorstellung eines „Angebotes ". Dieses umfasst ja auch empirisch fundierte Qualitätsmerkmale, wie sie von Meyer und mir in ähnlicher Weise postuliert werden, und dazu zählen insbesondere Unterstützung und Förderung beim Lernen sowie Konsolidierung und Sicherung des Gelernten.
Meyer:
Ich möchte noch einmal nachhaken: Das Angebots-Nutzungs-Modell blendet m. E. einen Aspekt schülerorientierten Unterrichts aus, den Annemarie von der Groeben, ehemalige Didaktische Leiterin der Laborschule Bielefeld, kürzlich so formuliert hat: „Ich lerne von meinen Schülern, wie ich lehren soll. " Ich stimme ihr zu. Nicht nur die Lehrer machen Angebote an die Schüler. Auch die Schüler machen Angebote an die Lehrer und unterstützen sie dadurch beim Lehren.
Helmke:
Der Formulierung von Frau von der Groeben stimme ich ausdrücklich nicht zu. Ich finde, dies ist eine der allzu oft, gerade in der Pädagogik, vorfindbaren Übertreibungen, genauso wie die Vorstellung, Lehrer wären Partner oder Lernberater. Das sind sie gelegentlich auch, aber ganz sicher nicht nur. Die von Ihnen vorgenommene Interpretation, Herr Meyer, finde ich wesentlich differenzierter, und der kann ich gut zustimmen. Ich finde den Gedanken reziproker, also sowohl von den Schülern als auch von den Lehrern ausgehender Angebots-Nutzungs-Prozesse nicht nur einleuchtend, sondern sogar unbedingt nötig. Gerade das Lernen aus Schülerfehlern ist hier zu nennen: Schülerfehler sind nicht nur Hinweise auf fehlgeschlagene Lernprozesse, sondern können auch als Angebot an die Lehrperson verstanden werden, Inhalte und Methoden ihrer Lehre zu überdenken und verbessern. Es gibt noch einen weiteren, empirisch gut belegten Gesichtspunkt: Auch auf Seiten der Schüler gibt es ein beträchtliches Maß verschiedenster Angebote und Nutzungsarten: vom gemeinsamen Lernen in Gruppen über das Zurufen, Vorsagen bis hin zum Hausaufgabenabschreiben - dies wird gelegentlich übersehen.
Meyer:
Würden Sie sagen, dass es vor allem auf die Fehlerkultur und die Aufgabenkultur ankommt?
Helmke:
Das sind zwei Schlüssel für guten Unterricht, obwohl mich offen gesagt diese gewaltige Kulturinflation zunehmend nervt. Man nehme irgendeinen mehr oder weniger inhaltsleeren und unscharfen Begriff aus dem Bereich Schule und Unterricht und füge das Suffix -kultur hinzu, am besten noch gekoppelt mit „neu". Auf einmal erhält dieses neue Wort einen Adel, es hört sich bedeutungsvoll und durchdacht an. Ohne besondere mentale Anstrengung zu investieren, kann man sicher sein, dass einem keiner widerspricht, wenn man sich nachdrücklich ,,Für eine Neue Lernkultur!" ausspricht. Hinter dieser Pseudo-Harmonie steckt aber oft nur heiße Luft - oder soll ich sagen: Nebel?
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Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
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Terhart:
Wenn Unterricht als Gelegenheit für Lernen, als Angebot an die Schüler betrachtet wird - ist es dann eigentlich noch sinnvoll und legitim, Bildungsstandards zu formulieren, deren Erreichen anzustreben - und dann am Ende die Lehrer verantwortlich zu machen, wenn die Standards deutlich unterboten werden? Anders gefragt: Ist das Modell kompatibel mit dem Ansatz der Bildungsstandards?
Helmke:
Das eine schließt das andere nicht aus. Den Gedanken der Coproduktion habe ich bereits ausgeführt. Sollte es sich herausstellen, dass in einer Schule alles Menschenmögliche an Professionalisierung und Unterrichtsentwicklung gemacht wurde und die Standards dennoch verfehlt werden, dann ergeben sich aus dem Modell Hinweise darauf, welche Gründe dies haben und wo man gegebenenfalls extern unterstützen kann und muss.
Meyer:
Was wollen Sie tun, um das durch die Vergleichsarbeiten ausgelöste „teaching to the lest" zu unterbinden? Oder halten Sie es gar nicht für so fatal, wie dies einige Kritiker der KMK-Politik behaupten?
Helmke:
Das „teaching to the lest" kann verschiedene Formen annehmen. In seiner primitiven Form ist es nichts anderes als das mechanische Üben von Aufgaben, die so oder ähnlich in den Vergleichsarbeiten drankommen, um gut abzuschneiden. Damit ist keinem geholfen: Weder fördert es die Kompetenzentwicklung der Schüler noch dient es dem Zweck einer ernsthaften Bestandsaufnahme. Versteht man dagegen „teaching to the lest" so, dass anspruchsvolle Aufgabentypen verstärkt thematisiert werden und dass ausreichende Gelegenheiten für horizontalen (andere Kontexte) und vertikalen (höhere Komplexität, neue Fragestellungen) Transfer gegeben werden, dann würde ich das als eine intelligente Form des Übens betrachten.
Kasten 7: Interview zum Angebots-Nutzungs-Modell (Meyer & Terhart 2007, S. 62 f.)
Der Schüler in Abbildung 7 nutzt die Denkfigur der Coproduktion auf eine unerwartete, aber konsequente Weise:
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Abbildung 7: Die Logik der Coproduktion © Uli Stein/Catprint Media GmbH
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Ein Angebots-Nutzungs-Modell unterrichtlicher Wirkungen
In diesem Interview wird ein weiteres naheliegendes Missverständnis angesprochen, das darin besteht, das „Angebot" mit dem Input seitens der Lehrkraft gleichzusetzen. Selbstverständlich können auch Schülerinnen und Schüler Angebote machen, sei es organisiert und geplant ( „lehrerloser Unterricht": Schüler übernehmen vorübergehend die Lehrerrolle), sei es informell. Letzteres tun Schülerinnen und Schüler unaufhörlich. Dies haben beispielsweise die Untersuchungen von Nuthall (Nuthall, 2007; Graham, 1997; Nuthall & Alton-Lee, 1990) gezeigt. Nuthall hat auf etwas aufmerksam gemacht, was jedem Lehrer bekannt ist, jedoch aus Gründen mangelnder Ressourcen und anderweitiger Erkenntnisinteressen in der Unterrichtsforschung weitgehend ausgeklammert blieb: dass es nämlich- simultan zum „offiziellen" Unterrichtsgespräch der Lehrperson mit ausgewählten Schülern - zahlreiche verbale Parallelaktionen seitens der Schüler gibt (für Details siehe Kapitel 4.2.1): Im Unterrichtsalltag machen Schülerinnen und Schüler also ständig verbale Angebote: teils fachlich - teils privat, teils von der Lehrperson intendiert - teils nicht, teils erwünscht - teils ungern gesehen. Mit anderen Worten: Das real existierende Unterrichtsangebot muss also keineswegs ausschließlich von der Lehrperson stammen, obwohl man intuitiv und aus alter (und schlechter) Gewohnheit zunächst an den Lehrer als Instrukteur und die Schüler als Adressaten denkt. 2.7.2 Lehrperson und -expertise
Merkmale der Lehrperson - ihrer Persönlichkeit ebenso wie ihrer Expertise - werden in diesem Buch separat von den eigentlichen Merkmalen der Unterrichtsqualität abgehandelt, weil es sich um personale Merkmale handelt, die den Unterricht zwar beeinflussen, die aber nicht selbst als Aspekte der Unterrichtsqualität angesehen werden können. Von primärer Bedeutung ist die unterrichtsrelevante Expertise, das heißt die fachwissenschaftliche und fachdidaktische Expertise, ergänzt um die Expertise in den Bereichen Klassenführung und Diagnostik. Hinzu kommen wichtige andere Personmerkmale: schul- und unterrichtsrelevante Werte, Ziele und Orientierungen, subjektive und intuitive Theorien (epistemologische Vorstellungen) zu wichtigen Konzepten des Lehrens und Lernens, die Bereitschaft zur Selbstreflexion sowie das berufsbezogene Selbstvertrauen (Selbstkonzept, Selbstwirksamkeit). Die aufgeführten Expertisemerkmale können zum Teil angesehen werden als Merkmale der Lehrperson (wenn man die Wissensgrundlagen betont), aus anderer Perspektive als Merkmale des Unterrichtsangebots (wenn man die daraus resultierenden Unterrichts- und Verhaltenskompetenzen in den Vordergrund stellt). Details hierzu finden sich in Kapitel 3. 2.7.3 Prozessqualität des Unterrichts
Der Unterricht ist das Kerngeschäft der Schule, und den Kern der Unterrichtsqualität stellen diejenigen Prinzipien und Merkmale dar, die für den Unterrichtserfolg ausschlaggebend sind. Über die hervorragende Wichtigkeit des Unterrichts war man sich früher schon einmal einig, wie das folgende Zitat von Schnell (1850) zeigt:
76
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
„Wir sprechen von den wichtigsten und einflussreichsten Erziehungsmitteln absichtlich zuletzt; es ist zuförderst der Unterricht überhaupt. Dieser ist die Hauptsache jeder guten Schule; denn es wird hier von Anfang bis zu Ende vorund nachmittags gelehrt und gelernt, unterrichtet und geübt. Der Unterricht ist ein Haupttactor, oder wie ich lieber sage eine Hauptform aller Schulbildung; doch erkennt man den guten Unterricht eben nur daran, daß er erziehend wirkt; und erziehend wirkt er, wenn er den ganzen Menschen ergreift, wenn er zugleich auf Gemüth und Willen belebend und bildend einwirkt, wenn er zur Kunst des Lernens und zur Kunst des Lebens führt, wovon jene nur ein Theil ist, und wozu eben nicht bloß die Kunst des Denkens, sondern auch die der Selbstbestimmung und des Handelns ganz hauptsächlich gehört; erziehend wirkt der Unterricht, wenn er die Kinder sittlich ergreift und stimmt und ihr ganzes Seelenleben harmonisch ausbildet; wenn er eine praktische, vom Leben ausgehende und auf dasselbe zurückführende Richtung von A - Z verfolgt, wenn er nicht auf Vielwissen, sondern auf Fest- und Sicherwissen, auf Klarheit und Gründlichkeit hinarbeitet. Die Kunst des Wissens, des richtigen Denkens, des Sprechens u.s.w. erhält erst Zweck und Bedeutung durch die Kunst des richtigen Thatlebens, des richtigen Handelns, also, daß auch der Unterricht mit seinem Einzel- und Gesammtzweck immerhin nur Mittel für einen höheren Zweck ist, und zwar für den der Erziehung und Bildung überhaupt. Je besser der Unterricht beschatten ist; je geregelter und gründlicher, klarer und folgerechter er ertheilt wird; je mehr Geist und Leben er erzeugt; je mehr Form und Ordnung denselben durchdringt; je mehr Einheit, Maaß und Zusammenhang in dem Einzelnen und Ganzen waltet; je mehr und ungetheilter endlich in Folge dessen sich die Kinder demselben hingeben: desto wirksamer und heilsamer ist die Lehre und Uebung und alles Lernen, nicht bloß für den Verstand, für den Kopf, für die Intelligenz, für Wissen und Können, sondern auch für Gemüth und Willen, für Gesinnung und Charakter der Schüler, ja selbst für das leibliche Gedeihen, weil Denken, Wissen und Können mit Gemüth und Willen in der engsten Wechselwirkung stehen, weil der wahre Unterricht das Herz erfrischt und erfreut, den Willen stählt und stärkt, und der harmonisch thätige Geist den Leib bildet, erregt, veredelt und verklärt, die Sinne schärft und den ganzen Menschen rührig und rüstig, stark und tüchtig und frei macht. Der rechte Unterricht besitzt in der That mit einem Worte eine wahrhaft sittlich zeugende und bildende Kraft, und wenn das Kind zunächst auch nur dadurch aufmerken und achtsam sein lernt, es ist schon viel, sehr viel gewonnen. " (S. 92 f.)
Reflexionsaufgabe 20: Unterrichtsqualität: 1850 und heute Welche der von Schnell genannten Aspekte und Ziele des Unterrichts sind aus Ihrer Sicht noch heute aktuell?
Die aus heutiger Sicht zentralen Qualitätsmerkmale von Unterrichtsprozessen sind der Gegenstand von Kapitel 4. 2. 7.4 Unterrichtsquantität
Neben der Unterrichtsqualität ist die Unterrichtsquantität eine weitere, oft falsch eingeschätzte und missverstandene Bestimmungsgröße erfolgreichen Unterrichts. Die Bedeutung von Zeitfaktoren lässt sich anhand des folgenden Rahmenmodells veranschaulichen:
77
Ein Angebots-Nutzungs-Modell unterrichtlicher Wirkungen
Ebene der Klasse
Ebene des einzelnen Schülers
nominale Unterrichtszeit tatsächliche Unterrichtszeit tatsächliche Unterrichtszeit im Lehrstoffsegment X = Unterrichtsangebot
Anwesenheit von Schüler Y Lehrstoffsegment X vom Schüler Y verstanden
aktive Lernzeit von Schüler Y im Lehrstoffsegment X
Leistung von Schüler Y im Lehrstoffsegment X
ANGEBOT
NUTZUNG
ERTRAG
Abbildung 8: Ein Rahmenmodell zur Veranschaulichung von Zeitfaktoren (Unterrichtsquantität) für den Lernerfolg
(Treiber, 1982)
Was bedeuten die Termini? Nominale Unterrichtszeit: die im Fachstundenplan einer Klasse angesetzte Anzahl von Un-
terrichtsstunden in einem bestimmten Zeitraum (z.B. im Schuljahr). Tatsächliche Unterrichtszeit: die Anzahl der tatsächlich gehaltenen Unterrichtsstunden im
Schuljahr (also nominale Unterrichtszeit abzüglich Stundenausfälle durch Lehrerkrankheit, Fortbildung, Sportfest etc.). Nutzbare Instruktionszeit: der Zeitanteil an der tatsächlichen Unterrichtszeit, in dem lehrziel-
bezogener Stoff behandelt wird (also tatsächliche Unterrichtszeit minus Zeit, die für andere Aktivitäten als Stoffbehandlung verbraucht wird, wie z.B. Management von Störungen, sozialpädagogische Aktivitäten, Prozeduren wie Geldeinsammeln, Leerlauf etc.). Man spricht in der angloamerikanischen Literatur auch von content covered bzw. von opportunities to learn (Lerngelegenheiten). Die nutzbare Unterrichtszeit repräsentiert (wie im Rahmenmodell gezeigt) das Unterrichtsangebot. Die Nutzung des Unterrichtsangebots durch die Schüler kann auf mehrfache Weise scheitern; die Analyseeinheit in der Abbildung wechselt von der Klassenebene (Lehrer, Unterricht) auf diejenige des individuellen Schülers. Schüleranwesenheit: Die physische Präsenz eine Schülers ist trivialerweise eine notwendige,
allerdings nicht hinreichende Bedingung für Lernen. Krankheiten oder Schuleschwänzen können hier zu erheblichen Einbußen führen. Aktive Lernzeit: Dauer der Aufmerksamkeit eines Schülers während des Unterrichts. Dies
ist zweifellos die Schlüsselvariable im Zeitmodell, und zugleich ist sie am schwierigsten zu erfassen. Die Abwesenheit von Störverhalten ist ja für sich genommen noch kein Beleg für 78
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
aktives Lernen. Im Gegenteil: Es gehört vielfach zu den school survival skills, einen interessierten/engagierten Eindruck bei gleichzeitigem mentalem „Leerlauf" oder Stillstand zu erwecken. Umgekehrt kann ein Schüler, der auf den ersten Blick abgelenkt zu sein scheint (z.B. kramt, aus dem Fenster schaut) durchaus mental aktiv sein. Empirisch hat sich in vielen Studien ergeben: (a) Aktive Lernzeit („time-on-task") ist ein Prädiktor des Lernerfolges, wenngleich die Effekt stärke den Metaanalysen von Hattie (2009) zufolge mit d=0.38 knapp unter der „magischen" Grenze von d=0.4 liegt (S. 184). (b) Der Zusammenhang zwischen tatsächlicher Unterrichtszeit und Leistungszuwachs ist zunächst positiv linear (d. h., je mehr Unterrichtszeit, desto mehr Leistungszuwachs), doch von einer bestimmten Zone an führt zusätzliche Unterrichtszeit nur noch zu minimalen Verbesserungen auf der Leistungsseite; Letzteres entspräche, grafisch ausgedruckt, einer Asymptote. Welche Rolle die kumulative, über die gesamte Schulzeit hinweg aufsummierte Anzahl der Unterrichtsstunden für den Lernerfolg spielt, ist eine derzeit noch nicht geklärte Frage. Eine Analyse der PISA-Daten aus bildungsökonomischer Perspektive (TU München, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, Dr. B. Süßmuth5 ) scheint zu belegen, dass Länder mit mehr Schulstunden besser abschneiden: So differiert die Stundenzahl der Gymnasiasten von der 1. bis zur 9. Klasse zwischen Berlin (8 964) einerseits und Thüringen (10153) sowie Sachsen (10127) nicht unerheblich. Sollte sich dies bestätigen, hätte es Konsequenzen für die Frage des GB-Gymnasiums und die Ganztagsschule (Die WELT, 27. 08. 2008, S. 2; Süddeutsche Zeitung, 20. 08. 2008, S. 5).
A
Reflexionsaufgabe 21: Unterrichtsausfall Wie lässt sich der kontraintuitive Befund erklären, dass es zwischen Klassen mit mehr oder weniger Unterricht(sausfall) keine Unterschiede im Leistungsniveau (gemessen durch einen Mathematiktest) gibt?
2. 7.5 Qualität des Lehr-Lern-Materials
Auch die didaktische Qualität und der Anregungsgehalt der Lehr- und Lernwerke haben selbstverständlich einen Einfluss darauf, wie gelehrt und gelernt wird. Trotz der Normierung durch curriculare Vorgaben unterscheiden sich die Lehrwerke teilweise erheblich voneinander. Besonders deutlich wurde dies bei den kulturvergleichenden Forschungen (Vergleich Japan - USA- Deutschland) im Rahmen der TIMS-Studie. So weist Wellenreuther (2005) darauf hin, dass die japanischen Schulbücher in Mathematik eher „Erklärbücher" sind, während sie in Deutschland eher den Charakter von „Übungsbüchern" haben.
5 http://www.vwl.tum.de/Team/suessmuth.html
79
Ein Angebots-Nutzungs-Modell unterrichtlicher Wirkungen
A
Reflexionsaufgabe 22: Kriterien für die Auswahl von Unterrichtswerken Stellen Sie sich bitte folgende Situation vor: Sie sollen unter sechs verbreiteten Lehrbüchern für das von Ihnen unterrichtete Hauptfach eines für Ihre Schule aussuchen und dafür der Fachgruppe einen Vorschlag unterbreiten. Welche Kriterien würden Sie dabei zugrunde legen? Wie beurteilen Sie das aktuell von Ihnen verwendete Lehrbuch bzw. Arbeitsmaterial?
2.7.6 Familie und Lernpotenzial
Die individuellen Lernvoraussetzungen sind für das Lernen die entscheidenden Bedingungen: Ob, wie lange und wie erfolgreich jemand lernt und was er leistet, hängt ganz wesentlich von den kognitiven, motivationalen und volitionalen Lernvoraussetzungen ab: Intelligenz, Vorkenntnisniveau, Lernstrategien, Fähigkeitsselbstkonzept, Leistungsangst, Lernmotivation und Lernemotion. Für eine Übersicht vgl. Helmke und Weinert (1997), Helmke und Schrader (2006) sowie die Metanalyse von Hattie (2009, S. 39f.). Von überragender Wichtigkeit ist das Elternhaus, sowohl aus verhaltensgenetischer (Vererbung) als auch aus sozialisationstheoretischer Sicht (familiäre Lernumwelt). Hattie (2009) konnte hierzu zeigen, dass den folgenden drei Merkmalen das stärkste Vorhersagegewicht für den Lernerfolg zukommt (in Klammern die Effektstärke): der Sozialschicht (d=0.57), dem Anregungsgehalt der familiären Lernumwelt (d = 0.57) sowie dem elterlichen Engagement und ihren Erwartungen (d=0.51); im Gegensatz dazu sind Aspekte der Familienstruktur vergleichsweise unbedeutend (d=0.17). Auch die beste schulische Förderung ist zum Scheitern verurteilt, wenn die Eltern gar kein Interesse an der Bildung und dem Schulerfolg ihrer Kinder haben: Hier liegt ein Hoffnungspotenzial für die Ganztagsschule. 2. 7. 7 Mediationsprozesse
Unterricht hat, wie bereits zuvor erwähnt, keine direkten und linearen Effekte, sondern seine Wirkungen erklären sich nur auf dem Wege über individuelle Verarbeitungsprozesse. Damit sind zwei Arten von Prozessen gemeint: (1) Wahrnehmung und Interpretation des Unterrichtsangebotes, insbesondere des Lehrerverhaltens und (2) Lern- und Denkprozesse („Kognitionen "), Motivationen und Emotionen. Der Einbau dieser Mediationsprozesse wurde seinerzeit durch Grundlagenartikel von Doyle (1977) sowie von Winne und Marx (1977) gefordert, die damit das einfache Prozess-Produkt-Modell zu einem mediating processes paradigm erweiterten. Diese Sichtweise ist noch heute state of the art. Nur in dem Maße, in dem der Unterricht Lernaktivitäten anregt, bewirkt er den Aufbau von Wissen und beeinflusst den Lernerfolg. Hierzu wurde ein Inventar zur systematischen Beobachtung und Klassifikation des Aufmerksamkeitsverhaltens von Grundschülerinnen und -schülern während des regulären Unterrichts (MAI = Münchner
~ufmerksamkeits-!n
ventar) entwickelt, das über die SCHOLASTIK-Studie hinaus in vielen anderen Forschungs80
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
projekten, auch im Bereich der Heilpädagogik, eingesetzt worden ist (Helmke, 1988; Helmke & Renkl, 1992, 1993b).
Hier ein Überblick über die Kategorien:
(a) Unterrichtsfächer
- Deutsch Mathematik - Sachkunde - anderes Fach oder fächerübergreifender Unterricht
(b) Unterrichtskontexte
fachlich
nichtfachlich
(c) Aufmerksamkeitsstatus
- Unterricht Stillarbeit, Gruppen- und Partnerarbeit - Tests, Proben, Lernzielkontrollen - Übergangsphasen - Musik, Spiel, Gymnastik, Entspannung - private Interaktionen - prozentuale Aktivitäten - Management 0= 1= 2= 3= 4= 5=
no task (es liegt keine Aufgabe an) off-task (aktiv, interagierend, störend) off-task (passiv, nicht interagierend) on-task (passiv, unauffällig) on-task (selbst-initiierte Aktivitäten) on-task (fremd-initiierte Aktivitäten)
Kasten 8: Kategorien des Aufmerksamkeits-Inventars (für Details siehe Helmke, 1988)
Das Verfahren sieht so aus, dass bestimmte (oder auch alle) Schülerinnen und Schüler einer Klasse in regelmäßigen Zeitintervallen daraufhin beurteilt werden, welchen Aufmerksamkeitsstatus sie haben. Aus der Summe aller Einzelangaben pro Schüler lassen sich dann Prozentangaben berechnen, z.B. der Prozentsatz on-task, das heißt Kategorien 3 bis 5, geteilt durch alle Messungen dieses Schülers in der betreffenden Stunde. Das Schülerverhalten ist je nach Unterrichtskontext unterschiedlich zu bewerten; Beispiele für off-task (aktiv) während des LehrerSchüler-Gesprächs sind beispielsweise: ungefragtes lautes Reden, Ärgern von Mitschülern, in die Klasse rufen, sich fallen lassen; Beispiele für off-task (passiv): Lesen (nichtfachlicher Texte), Gähnen, Dösen etc. Zur Kennzeichnung des Aufmerksamkeitsniveaus einer gesamten Klasse wird separat für jede der o. g. Kategorien der Klassendurchschnitt gebildet. Begleitend dazu wird das Beteiligungsniveau der gesamten Klasse auf einer Skala von 0 (minimal) bis 4 (maximal) eingestuft. In dieses Urteil gehen drei Parameter des Schülerengagements ein: die Dauer, die Anzahl der Schülerinnen und Schüler und die Intensität der Beteiligung. Interessant können insbesondere Vergleiche zu verschiedenen Zeitpunkten innerhalb der gleichen Klasse, zwischen dem Aufmerksamkeitsverhalten in verschiedenen Fächern oder Vergleiche zwischen Parallelklassen sein. 81
Ein Angebots-Nutzungs-Modell unterrichtlicher Wirkungen
2.7.8 Wirkungen
Unterricht hat viele - beabsichtigte oder nicht intendierte - Wirkungen, weit über das fachliche Lernen und den Wissensaufbau hinaus. Die verschiedenen Zielkriterien waren Gegenstand von Kapitel 2.3. An dieser Stelle daher ein Resümee: Eine der zentralen Aussagen dieses Buches ist: Ob Unterricht gut oder schlecht ist, ob Lehrkräfte erfolgreich oder erfolglos sind, hängt entscheidend davon ab, welche Zielkriterien man zugrunde legt, also z.B. kognitive oder affektive Wirkungen auf Schülerseite, Leistungssteigerung oder Ausgleich von Leistungsunterschieden. Eine allgemeine Frage wie die nach „dem" guten Unterricht stößt daher ins Leere. Es ist unmittelbar einleuchtend, dass unterschiedliche Lernziele - z.B. Aufbau von Wissen vs. Automatisierung von Skills, Lernkompetenz vs. Sozialkompetenz - notwendigerweise unterschiedliche Lehr-Lern-Szenarien erfordern. Schon deshalb kann es nicht „den" guten Unterricht im Sinne einer bestimmten Methode oder eines bestimmten Stils geben. Franz E. Weinert hat dies in folgender Weise zusammengefasst:
Lernziele
Lernformen
Lehrmethoden
Lehrerqualifikationen
intelligentes Wissen
systematischer, kumulativer Wissenserwerb
lehrergesteuerte direkte Instruktion
disziplinäre Sachkompetenz; Klassenführungs-, diagnostische und didaktische Kompetenz
Handlungskompetenzen
praxisnahes, erfahrungsgesättigtes, situiertes Lernen
Projektarbeit
transdisziplinäre Sachkompetenz; didaktische Kompetenz
Metakompetenzen
reflexiv verarbeiteter Wissenserwerb über eigenes Lernen und Handeln; automatisierte Routinen der Überwachung, Kontrolle und Korrektur eigenen Handelns
angeleitetes selbständiges Lernen
diagnostische Kompetenz; didaktische Kompetenz
Tabelle 2: Verschiedene Lernziele erfordern unterschiedliche Lehr- und Lernmethoden nach Weinert (1999b, S. 31)
Für die empirische Unterrichtsforschung ergibt sich aus diesem Sachverhalt der Appell: Um eine engführende Sichtweise auf nur einen Ausschnitt relevanter Ziele zu vermeiden, sollten sich Studien der unterrichtlichen Wirkungen möglichst nicht auf ein einziges Kriterium (wie das der Schulleistung oder der Schulleistungsentwicklung) beschränken. Reizvoll sind aus dieser Perspektive gerade Ergebnisse zur Frage nach dem Unterricht, dem es gelingt, in mehreren wichtigen Bereichen gleichermaßen erfolgreich zu sein. Damit ist das Paradigma der „Optimalklassen" angesprochen, wobei in der Forschung bisher vor allem die folgenden Merkmale kombiniert wurden: 82
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
Qualifizierung (Leistungssteigerung) und Egalisierung (Chancenausgleich) innerhalb von Klassen: Treiber, Weinert & Groeben (1982); Treinies & Einsiedler (1996); Baumert et al. (1987), Helmke (1988); Leistungsentwicklung und Motivationsentwicklung: Gruehn (1995); Helmke & Schrader (1990); Schrader et al. (1997); Kunter (2005). In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sich die Bildungsstandards der KMK keinesfalls auf rein kognitive Kompetenzen im Sinne fachlichen Wissens und Verstehens beschränken, sondern auch kommunikative Kompetenzen (z.B. im Deutsch- und im Fremdsprachenunterricht) sowie Lernkompetenzen umfassen (siehe Maag Merki & Grob, 2003, 2005). Für die Diskussion über den „guten" oder „optimalen" Unterricht folgt aus diesen Überlegungen: „Den" optimalen Unterricht, „die" ideale Lehrmethode gibt es nicht - und wird es auch nie geben. Dies soll nun noch einmal in Form von plakativen Fragen zusammengefasst werden: Gut wofür? Dass unterschiedliche Bildungsziele unterschiedliche Lehrmethoden erfordern,
ist bereits mehrfach thematisiert worden. Um das Lernen zu lernen oder um soziale Kompetenzen zu erwerben, sind andere Lehr-Lern-Szenarien angemessen als für den Aufbau einer systematischen, sachlogischen Wissensbasis. Aber auch innerhalb des fachlichen Bereiches gilt das Prinzip der Passung: Das Lernen von Vokabeln oder des Grundwortschatzes in einer Sprache folgt anderen Regeln und benötigt andere Angebote als die Förderung von historischem oder literarischem Verständnis. ~
Gut für wen? Wenn es das Ziel des Unterrichts ist, möglichst alle Schülerinnen und Schüler
einer Klasse zu fördern, dann folgt daraus zwingend, dass - je nach Lernvoraussetzungen und Lernstilen - für verschiedene Schüler(gruppen) unterschiedliche Methoden eingesetzt werden. Gut gemessen an welchen Startbedingungen? Die Klassenzusammensetzung ist eine wich-
tige Rahmenbedingung, die den Erfolg des Unterrichts beeinträchtigen oder auch fördern, der Lehrkraft Rücken- oder Gegenwind verschaffen kann. Aus dieser Perspektive ist ein Unterricht „erfolgreich", der im Endergebnis zu günstigeren Resultaten führt, als man in Anbetracht des Klassenkontextes im Durchschnitt erwarten konnte. Man spricht deshalb auch von „Erwartungswerten". Die Einbeziehung des Kontextes ist bei bewertenden Urteilen ein zwingendes Gebot der Fairness. ~
Gut aus wessen Perspektive? Je nachdem, wer den Unterricht beurteilt, kommen unter-
schiedliche Maßstäbe, Erwartungen und Orientierungen ins Spiel. Wenn man eine Unterrichtsstunde videografieren würde und ein- und dieselbe Aufnahme Schülerinnen und Schülern, Kollegen, der Schulleitung, Fachwissenschaftlern und Fachdidaktikern zur Beurteilung vorlegen würde, dann gäbe es ganz sicher sehr unterschiedliche Ergebnisse. Hier hat die Arbeit von Clausen (2002) Pionierdienste geleistet. ~
Gut für wann? Bisher ist stillschweigend davon ausgegangen worden, dass sich der Erfolg
schulischen Lernens an Leistungen messen lassen muss, die in der Schule erbracht wurden. Das ist sicher auch richtig. Man kann die Zeitperspektive jedoch erweitern: Gut wäre dann ein Unterricht, der wirksam dazu beigetragen hat, später einmal wirkliche Lebensprobleme, 83
Ein Angebots-Nutzungs-Modell unterrichtlicher Wirkungen
Anforderungen im Alltag zu bewältigen, Erfolg im Beruf zu haben. Eine solche retrospektive Sichtweise würde ganz sicher zu einer Verschiebung der Akzente dessen führen, was „guter" Unterricht ist. Diese Orientierung an lebenspraktischen Aufgaben ist in der Didaktik nicht unbekannt und kommt auch im Konzept der literacy des PISA-Projektes zum Ausdruck. Die vorgenommene Relativierung ist nötig. Sie darf jedoch nicht zu dem Missverständnis führen, dass das Prinzip der Beliebigkeit herrscht (anything goes). Es gibt zwar nicht die „richtige" Unterrichtsmethode, aber es gibt sehr wohl fachübergreifende Qualitätsmerkmale und Wirkprinzipien des Unterrichts, die unbedingt und fraglos gültig sind (siehe Kapitel 4), es gibt wohlbegründbare Standards des Lehrerverhaltens und es gibt wichtige Merkmale der Expertise von Lehrkräften, über die man sich weitgehend einig ist. Um diese geht es im Kapitel 3.
A
Reflexionsaufgabe 23: Guter Unterricht aus der Sichtweise des Angebots-Nutzungs-Modells Lassen Sie Revue passieren, was Sie bisher intuitiv unter „gutem Unterricht" verstanden haben. Hat sich Ihre Perspektive durch die obigen Überlegungen erweitert oder fokussiert?
2.7.9 Die Rolle des Kontextes
Unterrichtsgestaltung und -erfolg hängen ganz wesentlich vom vorgefundenen Kontext ab: vom historischen und kulturellen Kontext, vom regionalen, kommunalen und schulischen Kontext (Schulart, Bildungsgang, Einzugsgebiet) und besonders stark natürlich von der unterrichteten Klasse selbst - ihrer Zusammensetzung, ihren Eingangsvoraussetzungen. Des Weiteren bedeutet „Kontext", dass sich nicht alle Ergebnisse der Unterrichtsforschung ohne Weiteres auf alle Schulfächer und Altersstufen anwenden lassen; man spricht deshalb auch von Spezifität. Neben den soziokulturellen Rahmenbedingungen (vgl. Abbildung 6) sind drei elementare
Kontexte zu unterscheiden: ~
die Altersstufe der unterrichteten Schülerinnen und Schüler, also ob es sich z.B. um Grundschüler oder um Schüler der Sekundarstufe handelt, der Bildungsgang (Hauptschule - Realschule - Gymnasium) sowie die Schulart und die Schulform (z.B. allgemeinbildende vs. spezielle Schulen, Sonderschulen oder Berufsschulen; staatliche vs. private Schulen) und das Unterrichtsfach.
Stellt man sich diese drei Dimensionen als Koordinaten eines Raumes vor, dann entsteht ein Würfel. Alle bisherigen und folgenden Aussagen zur Qualität des Unterrichts beziehen sich auf wesentliche, nie aber auf alle Teile dieses Würfels. So können in diesem Buch keine Aussagen zu spezifischen Aspekten der Unterrichtsqualität etwa in Sonder- oder Berufsschulen gemacht werden. Das Gleiche gilt für bildungsgang- und schulartspezifische Aspekte. Darüber hinaus gibt es in der Pädagogischen Psychologie reichhaltige und empirisch wohl fundierte Belege für die Fachspezifität (so bei Stodolsky, 1988). 84
Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
2.7.9.1 Der Klassenkontext
Neben diesen drei allgemeinen Aspekten des Kontextes spielt der Schulklassenkontext eine wichtige Rolle. Es wird oft nicht deutlich genug gesehen, dass Unterricht unter Bedingungen stattfindet, die sich Lehrkräfte in vieler Hinsicht nicht aussuchen und die sie nicht gestalten können. Nur eine überholte statische Sichtweise behandelt den Unterricht und seine Qualität ausschließlich als „ unabhängige" Variable. In Wirklichkeit stehen Unterrichtsqualität und Klassenkontext in einem dynamischen Verhältnis zueinander: Die Unterrichtsqualität ist Ursache (z.B. für den Leistungsfortschritt der Klasse) und Wirkung (abhängig z.B. vom gegebenen Niveau und der Heterogenität der Vorkenntnisse) zugleich. Eine ungünstige Klassenzusammensetzung setzt der Qualität des Unterrichts ebenso Grenzen, wie umgekehrt eine günstige Klassenzusammensetzung die Unterrichtsqualität und -effektivität fördern kann. Um nicht missverstanden zu werden: Auch in „ ungünstig" zusammengesetzten Klassen (leistungsschwach, hohe Leistungsstreuung, hoher Anteil von Migranten mit unterschiedlichen Herkunftssprachen und -kulturen) kann qualitativ hochwertiger Unterricht stattfinden - aber er muss eben anders gestaltet sein als z.B. derjenige in leistungsstarken und leistungshomogenen Klassen. Und dafür sind viele Lehrpersonen oft nicht oder nicht genügend ausgebildet. Umgekehrt gibt es gelegentlich sehr günstige Kontexte, deren Potenzial gar nicht ausgeschöpft wird. Nicht erst seit PISA 2000 wissen wir von der gravierenden Rolle des sozialen Hintergrundes für die schulischen Leistungen - Faktoren, die als Voraussetzungen (in Gestalt einer entsprechenden Klassenzusammensetzung) das Unterrichten und den Lernerfolg ganz erheblich beeinflussen, ohne dass die Schule an diesen Faktoren sehr viel ändern könnte. Diesem Sachverhalt wird in allen neueren Leistungsvergleichsstudien dadurch Rechnung getragen, dass man sich - anders als etwa im britischen Schulsystem, wo die unkorrigierten Werte der mittleren Testleistungen von Schulen veröffentlicht werden, mit gravierenden Folgen für den Status und das Renommee - nicht auf die Mitteilung der von Klassen oder Schulen erzielten Rohwerte beschränkt. Eine Schule im sozialen Brennpunkt einfach mit einer Schule mit ausgeprägt lernförderlichem Umfeld zu vergleichen, wäre wie ein Vergleich von Äpfeln mit Birnen. Angenommen, beide Schulen landen leistungsmäßig im Mittelfeld - dies wäre für die Schule im sozialen Brennpunkt ein großartiger Erfolg, für die gut situierte Schule dagegen eine Enttäuschung. Fähigkeits- und Vorkenntnisniveau der Klasse Schulleistungen und andere Zielkriterien sind, wenn man die Situation zu Anfang eines Schuljahres bedenkt (insbesondere bei der Einschulung und immer dann, wenn die Klasse eine neue Lehrkraft erhält) zugleich Eingangsbedingungen für den folgenden Unterricht. Dieser adaptive Aspekt des Unterrichts ist oft nicht bedacht worden, und in empirischen Studien kann er erst dann zutage gefördert werden, wenn zumindest die Zielvariablen (meist: die Schülerleistungen) mindestens zweifach gemessen werden: am Anfang und am Ende des Schuljahres. Das mittlere Fähigkeits- und Vorkenntnisniveau der Schulklasse hat sich in mehreren Studien als das wichtigste Kontextmerkmal herausgestellt. So hat die Münchner Studie (Helmke & Schrader, 1993; Helmke, Schneider & Weinert, 1986) beispielsweise belegen können, dass das bereichsspezifische Vorkenntnisniveau einer Schulklasse im Fach 85
Ein Angebots-Nutzungs-Modell unterrichtlicher Wirkungen
Mathematik nicht nur die Klassenleistung am Ende des Schuljahres maßgeblich beeinflusst, sondern auch die Qualität des Unterrichts selbst. Dies zeigt die folgende Abbildung. Die Pfeile zeigen Wirkungen zwischen den verschiedenen Variablen an, die Zahlen bezeichnen die Stärke der Wirkung. So hat das Vorkenntnisniveau der Klasse in Mathematik (.55) einen stärkeren Einfluss auf die Leistungen am Ende der 6. Klasse als die individuell unterstützende Kontrolle der Schüler durch die Lehrkraft (.21). An der Abbildung wird aber auch der relativ starke Zusammenhang zwischen Vorkenntnisniveau und Klarheit des Unterrichts (.37) bzw. zwischen Vorkenntnisniveau und Zeitnutzung (.40) deutlich: Je besser die Wissensbasis in Mathematik zu Beginn des Schuljahres, umso besser (also effektiver) kann der Lehrer die Unterrichtszeit nutzen - was wiederum einen positiven Effekt auf die Leistungen am Ende der 6. Klasse hat.
Leistung Mathematik Anfang 5. Klasse
·79
~1
.55 ·
erfolg korreliert mit hoher Lehrerzentriertheit") eine normative Entscheidung abzuleiten („genauso möchten wir es in Deutschland auch haben"). So einfach geht das nicht. Wer aus empirischen Befunden 1 zu 1 ableitet, was sein soll, macht einen logischen Denkfehler.
Der japanische Mathematikunterricht unterscheidet sich laut TIMS-Videostudie beträchtlich vom typisch deutschen oder US-amerikanischen Unterricht: In Japan dominieren intelligente und anspruchsvollere Formen des Übens und Anwendens (verglichen mit bloß repetitiven Formen des Übens), Anwendungssituationen werden häufig variiert, das Interaktionstempo ist langsamer und lässt auch langsameren Schülern und Schülerinnen Zeit für Erfolge. Dagegen unterscheidet sich die Stoffmenge nicht von der in Deutschland oder den USA. Wenn Baumert et al. (1997b) zusammenfassend feststellen: „Japanischer Mathematikunterricht ist Problemlöseunterricht", dann trifft dies sicher auf die Befunde der TIMS-Videostudie zu. Einschränkend muss jedoch festgehalten werden: Japanische Lehrer können sich den „Luxus" eines solchen Unterrichts nur deshalb leisten, weil weniger anspruchsvolle Formen des Lehrens und Lernens (wie Auswendiglernen und erbarmungsloses Wiederholen) in Jukus und im Elternhaus realisiert werden.
A
Reflexionsaufgabe 25: Von Asien lernen? Welche Aspekte von Schule und Unterricht im konfuzianisch geprägten Asien schätzen Sie aus deutscher Sicht positiv ein, welche negativ? Welche ,,features" lassen sich wegen der engen Verknüpfung mit asiatischer Geschichte und Kultur auf europäische Verhältnisse überhaupt nicht übertragen, welche womöglich doch?
2.7.9.4 Historischer Kontext: „Vademecum für junge Lehrer"
Über Lehrerprofessionalität und Unterrichtsqualität wird - wenn auch mit unterschiedlichen Termini - nachgedacht und publiziert, seitdem es Schule und Unterricht gibt. Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, dies auch nur annäherungsweise zu verfolgen; diese Aufgabe überlasse ich gerne der Historischen Pädagogik. Ich beschränke mich auf einen berühmt gewordenen Forderungskatalog an Lehrpersonen, der vor gut hundert Jahren in einem damaligen „Bestseller" von G. Leuchtenberger (1909) aufgestellt wurde. Leuchtenberger, seines Zeichens Königlich Preußischer Gymnasialdirektor, hatte im Jahre 1889 auf einer Direktorenkonf erenz den Auftrag erhalten, „einen Kanon pädagogischer und didaktischer Grundregeln für Kandidaten und jüngere Lehrer" aufzustellen. Seine Arbeit fand große Anerkennung und wurde 1909 (2. Auflage 1911) in Buchform unter dem Titel „Vademecum für junge Lehrer" publiziert. Otto Schönberger, Leiter des Siebold-Gymnasiums Würzburg, hat diesen Text wiedergefunden und in der Zeitschrift „Die Anregung" (28/1982, S. 211-214) vorgestellt; darüber hinaus wurde er in der FAZ (Ausgabe vom 05. 09. 2004) auszugsweise abgedruckt.
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Ein Angebots-Nutzungs-Modell unterrichtlicher Wirkungen
1. Gehe nie in eine Stunde ohne Vorbereitung! 2. Vergegenwärtige dir erstens, was du zunächst zu wiederholen und welche häusliche Aufgabe du zu kontrollieren hast! 3. Sodann überschaue, sichte und ordne den Stoff, den du neu darbieten, klarmachen und entweder einüben oder dem Gedächtnis der Schüler aneignen willst, und zerlege ihn in die Abschnitte (kleine Einheiten), in denen du ihn der Klasse glaubst am besten bieten zu können! 4. Dabei hast du dich einerseits an das eingeführte Lehrbuch anzuschließen, andererseits aber dich so zum freien Herrn über den Stoff und seine Anordnung zu machen, dass du bei der Durchnahme in der Klasse das Lehrbuch ganz und gar entbehren kannst. 5. Auch die Beispiele, die du zur Veranschaulichung und zur ersten Einübung benötigt hast, musst du schon zu Hause auswählen oder dir selbst bilden und sie dir so aneignen, dass du im Unterricht frei über sie verfügst. 6. Sei darauf bedacht, das Neue, das du darbieten willst, mit dem in Verbindung zu bringen, was die Schüler schon wissen!
7. Bei dieser ganzen Vorbereitung kontrollierst du dich am besten, indem du dir Stoff, Lehrgang, Beispiele, wenn auch nur kurz und andeutungsweise, schriftlich vorzeichnest. 8. Nach jeder Stunde gib dir genau Rechenschaft von dem Gang, den die Stunde genommen hatte! 9. Die Unterrichtsstunde hast du gleich nach dem Glockenzeichen zu beginnen und gleich nach dem Glockenzeichen zu schließen. 10. Fange den Unterricht nicht an, bis alle Schüler grade sitzen! 11. Bei allem Reden der Schüler halte auf Vernehmlichkeit und Deutlichkeit und vergewissere dich, wenn du zweifelhaft bist, ob man den Sprecher auch am äußersten Ende verstanden hat! 12. Kommt es (wie bei den Sprachen und der Mathematik) mehr auf ein Können an, so übe sicher ein, teils an Beispielen, die du selbst geboten, teils nach dem etwa eingeführten Hilfsbuch! 13. Die Regel, die du einüben willst, sprich zunächst aus! Dann lass sie sofort in einem Beispiel erscheinen, das du sagst und an die Tafel schreibst! An dem Beispiele verdeutlichst du dann die Regel. Nun lass sie auch von den Schülern aus dem Beispiel aufstellen! Füge ein zweites und drittes Beispiel hinzu, bis die Schüler die Regel wirklich verstanden haben! Gehe nicht eher weiter, als bis die Schüler in der Anwendung der Regel wirklich Sicherheit haben! 14. Vermeide Abschweifungen und bleibe streng bei der Sache! Wo aber Erkenntnisse, welche die Schüler auf anderen Gebieten schon gewonnen haben, dienen können zur Verdeutlichung dessen, was du klarmachen willst, benutze sie und schließe so das Neue an schon Bekanntes an! 15. Wo du irgend Gelegenheit hast, unterstütze das, was du sagst, durch das, was du zeigst: Karten, Bilder, Modelle und dgl.; vor allem aber die Schultafeln sind dazu da. 16. Deine Fragen sind an alle Schüler gestellt. Darum mache nach jeder eine kurze Pause; dann erst rufe den Einzelnen auf, der deine Frage beantworten soll! 17. In jeder Stunde muss möglichst jeder Schüler gefragt werden oder irgendwie „drankommen". Es ist ein großer Fehler, 10 Schülern je 5 Fragen zu geben und 30 Schülern gar keine. 18. Lehre und frage nicht auf einen Einzelnen los, indes du die anderen unbeschäftigt lässt!
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Lehren und Lernen: Theorien und Konzepte
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19. Fürchte dich nicht vor der kleinen Pause, die entsteht, bis du die nächste Frage stellst: Sie will doch überlegt sein, und Überlegung kostet eben Zeit. 20. lerne gut fragen: Deine Frage sei inhaltlich klar, formell kurz und grammatisch richtig, das heißt so gebaut, dass das Fragewort an richtiger Stelle steht! Merkst du, dass eine Frage nicht gut war, so stelle, ehe du zur Antwort aufforderst, eine besser gebaute, klarere, kürzere, wohl auch statt einer inkorrekten, unklaren, zusammengesetzten drei korrekte, klare, kurze, einfache! 21. An Fragen, auf die nur ein Ja oder Nein folgen soll oder kann, gewöhne dich nicht! 22. Frage nie: „Verstanden?" - Solltest du es doch tun, so wird der Zuhörende wissen, dass du selbst sicher bist, man habe dich nicht verstanden. 23. Unterbrich den Schüler nicht beim ersten halben oder schiefen Ausdruck, sondern lass ihn seinen Satz beenden, und wenn er mehrere Sätze zu sagen hat, so lass ihn diese alle beenden, ehe du verbessern oder ergänzen lässt! 24. Spaziere nicht in der Klasse umher, sondern wähle einen testen Standort, von welchem alle Schüler dich und du alle Schüler sehen kannst! Das wird gewöhnlich ein Platz in der Nähe des Katheders sein. 25. Zeige dich deinen Schülern gegenüber stets als gebildeten Mann! Lass dich ihnen gegenüber ja nicht in vulgären Redensarten gehen! 26. Unterlass alle Bemerkungen über Berufsstellung, Stand, Schicksale des Vaters oder der Mutter eines Schülers! 27. Habe keine Lieblinge und möge keinen „nicht leiden"! 28. Immer umfasse und halte mit dem Blick alle Schüler, aber ohne unstet die Augen umherzuwerten! Dazu gehört Gespanntheit bei innerer und äußerer Ruhe und Gehaltenheit. 29. Sei immer eingedenk, dass du nicht deine Redefertigkeit zeigen, sondern deinen Schülern die Zunge lösen sollst! 30. Lächerlich wäre es, wenn du Schülern der unteren und mittleren Klassen mit Gelehrsamkeit imponieren wolltest. 31. Wolle nicht dich zur Geltung bringen, sondern die Sache! 32. Sage es dir täglich, dass du der Schüler wegen da bist, nicht diese deinetwegen! 33. Läuft dir im Unterricht oder in der Korrektur ein Irrtum unter, so beweise den Schülern, dass die Wahrheit auch über dir steht! 34. Erwecke Interesse, und du brauchst wenig besondere Mittel der Disziplin im Unterricht. 35. Wenn die Aufmerksamkeit matt werden will, desgleichen, wenn etwas besonders Wichtiges als solches bezeichnet oder eingeprägt werden soll, ist auch das Chorsprechen zu empfehlen. 36. Rechne nicht auf schnellen Erfolg! Werde nicht missmutig, ungeduldig, verzagt! Suche den Grund mangelnder Erfolge immer zum großen Teil auch bei dir! 37. Brich nicht so leicht den Stab über einen Schüler! 38. Hast du in der Stunde Veranlassung zur Unzufriedenheit mit einem Schüler, so werde nicht gleich aufgebracht: Er ist ja ein Kind. Schau ihn an, dass er merkt, was du willst, und weiter tue zunächst nichts! Merkt er's nicht, so halt ein wenig im Fragen oder im Vortrag inne und lass den Blick auf ihm ruhen! Hilft auch das nicht oder hält es nicht vor, so musst du freilich das tadelnde Wort anwenden. 39. Aber nur nicht schimpfen! Auch keine Moralpredigt! Auch keine Ironie, keinen Spott! 40. Versuche es, in den Unterrichtsstunden überhaupt ohne Strafen durchzukommen! Du wirst sehen: Wenn du wirklich nicht das deine, sondern das, was des Schülers ist, suchst, es geht.
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Literaturempfehlungen
41. Komm nicht immer wieder auf einen bestraften Fehler zurück und trage nicht nach!
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42. Die häusliche Aufgabe stelle den Schülern nicht erst mit dem Glockenschlage, und sorge dafür, dass jeder sie sich richtig in sein Aufgabenbuch schreibt! 43. Bedenke, dass außer dir noch andere Leute da sind, die an die Zeit und Kraft der Schüler mit ihren häuslichen Aufgaben Anforderungen stellen! 44. Hast du Arbeiten im Fache Deutsch zu korrigieren, so lass stehen, was nicht geradezu falsch ist, und zeige, dass du weißt, du habest den Aufsatz eines Schülers vor dir! 45. Klassenarbeiten müssen aufs sorgsamste mit den Schülern vorbereitet sein, dürfen nicht Regeln unnatürlich gehäuft bieten und müssen kurz genug sein, um mit Ruhe und Sammlung angefertigt werden zu können. 46. Verhüte das Abschreiben durch stete Aufmerksamkeit! Finden sich Übereinstimmungen, die darauf schließen lassen, es habe einer vom andern abgeschrieben, so trägst du die Hauptschuld. Kasten 11: Leuchtenbergers „Kanon pädagogischer und didaktischer Grundregeln für Kandidaten und jüngere Lehrer" (1909)
Reflexionsaufgabe 26: Leuchtenbergers „Vademecum" und der heutige Unterricht Lassen sich einzelne Punkte (oder auch das Zusammenspiel verschiedener Forderungen) aus Leuchtenbergers Kanon auf die in Kapitel 2 vorgestellten Konzepte, Modelle und Ansätze beziehen?
2.8 Literaturempfehlungen Zu den theoretischen Grundlagen des Lehrens finden sich Übersichten und Teilkapitel in neueren Lehrbüchern der Pädagogischen Psychologie, etwa bei Hasselhorn und Gold (2006), Klauer und Leutner (2007), Mietzel (2007), Renkl (2008), Schnotz (2006) sowie Krapp und Weidenmann (2006) und unter den entsprechenden Stichworten im Handwörterbuch Pädagogische Psychologie von Rost (2006a; Lüders & Rauin (2004) im Handbuch der Pädagogischen Psychologie) sowie Schneider und Hasselhorn (2008). Didaktisch gut gestaltet und mit anschaulichen Beispielen aus der Schulpraxis angereichert sind viele amerikanische Lehrbücher zur Educational Psychology, z.B. McCown et al. (1996), Borich (2007a), Muijs und Reynolds (2001) und Slavin (2000). Einen ausgezeichneten Überblick über die wichtigsten schul- und unterrichtsrelevanten Stichworte liefern Hattie & Anderman (2013). Zur Vertiefung eignen sich neben Wellenreuther (2005) die beiden herausragenden Standardwerke im angloamerikanischen Sprachraum, deren verschiedene Auflagen sich wechselseitig ergänzen und zugleich Forschungstrends über die Zeit veranschaulichen: das „Handbook of Research on Teaching" (Travers, 1973; Wittrock, 1986; Richardson, 2002) sowie das „Handbook of Educational Psychology" (Alexander & Winne, 2006; Berliner & Calfee, 1996). 102
Lehrerpersönlichkeit und Professionsstandards
3 Lehrerpersönlichkeit und Professionsstandards In diesem Kapitel geht es um unterrichtsrelevante Merkmale der Lehrperson, die bereits in Kapitel 2.4.1. („Von der Lehrerforschung zur Unterrichtsforschung") angesprochen worden sind und hier vertieft werden sollen. Mit „Lehrerpersönlichkeit" sind relativ überdauernde, stabile Merkmale der Lehrperson gemeint (traits), was jedoch ihre Veränderung durch Lernen, Training und Fortbildung nicht ausschließt. Unterhalb dieser Ebene ist die Terminologie uneinheitlich: Zum einen wird von Wissen, Kompetenzen und Expertise gesprochen; daneben geht es aber auch um andere unterrichtsrelevante Merkmale der Lehrperson, wie z.B. Engagement und Humor. Zu Beginn jedoch ist ein Abstecher in die Welt der Klischees und Stereotypen verschiedener Berufe, darunter denen des Lehrers, vorgesehen.
Reflexionsaufgabe 27: Wer ist ein guter Lehrer?
A ~
Angenommen, Sie erhalten von der Schulaufsicht die Aufgabe, eine besonders erfolgreiche Lehrerin/einen besonders erfolgreichen Lehrer zu nennen (z. B. für einen Unterrichtsfilm oder für eine wissenschaftliche Studie, in der Lehrer als Experten für Unterrichtsqualität befragt werden): Wer fällt Ihnen dazu aus der Schule, die Sie leiten oder in der Sie unterrichten, oder aus dem Studienseminar ein? Warum gerade diese Person?
3.1 „Lehrerhaft"? Eine intuitive Einführung Wie würde ein Ingenieur reagieren, käme ihm zu Ohren, dass er einen ingenieurhaften Eindruck macht? Oder ein Arzt, den man als arzthaft oder oberarzthaft bezeichnen würde? Wahrscheinlich gar nicht - oder mit Unverständnis. Wenn man einen Lehrer ärgern will, dann muss man ihm nur vorwerfen, er sei lehrerhaft oder gar oberlehrerhaft. Es ist schon erstaunlich, dass ein von der Profession „Lehrer" abgeleitetes Adjektiv eine derartig negative Konnotation besitzt. Hierzu Schirlbauer (1996): „Es gehört zur Pathologie des Lehrers, dass er nicht lehrerhaft sein will. Keinem Anwalt oder Richter fiele es ein, sein Anwalt- oder Richtersein zu verleugnen oder zu kaschieren. Keinem Arzt käme es in den Sinn, den Habitus des Mediziners zu vertuschen. Auch der Ingenieur hat mit seiner Berufsrolle kaum nennenswerte Probleme - der Lehrer schon. Vor allem möchte er nicht lehrerhaft erscheinen. Nicht in der Öffentlichkeit, aber - und das macht stutzig auch nicht am Ort seiner Profession." (S. 71)
Ausgehend vom derzeit starken Interesse an Fragen wie „ Was ist guter Unterricht?" merkt Gruschka (2007) ironisch an: „In anderen professionellen zusammenhängen würde die berufsinterne Zuschreibung einer solchen Frage auf ein gravierendes Identitätsproblem der Professionellen hinweisen. Man weiß nicht mehr, worin die Qualität des Unter103
„Lehrerhaft"? Eine intuitive Einführung
nehmens besteht/zu bestehen hat, das man tagtäglich betreibt. Schon bei der Suche nach einer analogen Frage für Ärzte, Juristen oder Wissenschaftler kann man die Differenz zwischen dieser und jener Profession suchen. Mögen diese sich darüber streiten, welche Therapien bzw. Strategien bei Gericht, welche Form der Forschung die beste sei, fragen sich Lehrer und ihre Beobachter nun ganz allgemein und grundsätzlich, was wohl guter Unterricht sei. Im Lehrberuf geht die Verunsicherung augenscheinlich davon aus, dass man entweder nicht kann, was man als Qualität wohl kennt, oder ungleich irritierender, dass man nicht (mehr) weiß, was man überhaupt können sollte." (S. 11 f.)
Es wäre jedoch irrig, aus dem bloßen Vorhandensein dieser Adjektive mit negativer Valenz zu schließen, der Berufsstand der Lehrer wäre generell übel beleumundet, oder der Lehrberuf wäre durch geringe Wertschätzung in der Gesellschaft gekennzeichnet. Die Allensbacher Untersuchungen zum Prestige verschiedener Berufe unterstreichen im Gegenteil die außerordentlich hohe Wertschätzung des Lehrerberufs: Bei der letzten Befragung (2011) landete der Lehrer mit 42 Prozent an dritter Stelle nach dem Arzt (82 Prozent) und der Krankenschwester (67 Prozent) und rangierte damit noch vor dem Hochschulprofessor (33 Prozent), vom Politiker (6 Prozent) oder Banker (4 Prozent) ganz zu schweigen. Ein ähnliches, für das Prestige der Lehrer sehr positives Ergebnis zeigt sich bei den jährlichen Erhebungen der Firma GfK (Growth from Knowledge) Custom Research7 zum Vertrauen der Bevölkerung in ausgewählte Berufe. So zeigte die Erhebung zum „GfK-Vertrauensindex 2011 ", dass 84 Prozent der Deutschen der Berufsgruppe „Lehrer" vertrauen; übertroffen wird das Vertrauen in die Lehrer nur noch von der Feuerwehr (98 Prozent), Ärzten (89 Prozent) und
Reflexionsaufgabe 28: „Lehrerhaft"
A
Sie bekommen zufällig einen Gesprächsfetzen mit, „ ... finde ich ausgesprochen lehrerhaft".
„
Mit welchen Eindrücken verbinden Sie dieses Wort „lehrerhaft"? Was ist eigentlich das Gegenteil von „lehrerhaft"? Wie verhält es sich mit dem Wort „schulmeisterlich"? Was ist das „paukerhafte" am Pauker? Warum ergibt „lehrerinnenhaft" keinen erkennbaren Sinn?
„
„ „
Gibt es neben „oberlehrerhaft" weitere Steigerungsformen von „lehrerhaft"? Wodurch unterscheiden sich „lehren" und „belehren"? Wie ist die durchgängig negative Konnotation von „lehrerhaft" zu erklären? Ist sie fair? Ist dies ein spezifisch deutsches Phänomen? Gibt es Pendants zu „lehrerhaft" in anderen Kulturen? Sind Ihnen andere Berufe bekannt, bei denen es ähnliche Adjektive mit negativem Beiklang gibt? Gibt es Unterrichtsmethoden, die aus Ihrer Sicht mehr oder weniger „lehrerhaft" oder „be-lehrend" sind als andere?
7 http://www.gfk.com/imperia/md/content/presse/pressemeldungen_2011/20110617_trust_index _dfin.pdf
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Lehrerpersönlichkeit und Professionsstandards
und Polizisten (85 Prozent). Nur wenig Vertrauen wird auch in dieser Befragung Managern (20 Prozent) und Politikern (9 Prozent) entgegengebracht. International stehen die Lehrer beim GfK-Vertrauensindex mit 84 Prozent sogar - gleichauf mit den Ärzten - auf dem 2. Platz. Vergleicht man die Ergebnisse der GfK-Befragungen über die Jahre hinweg, so bleibt die positive Einschätzung der Lehrer sehr stabil.Ein ähnlich positives Ergebnis erbrachte die Umfrage der ZEIT (Infratest, 25. 09. 2008, S. 85): Demnach bescheinigen 64 % der Befragten den Lehrern, dass sie eine gute oder sehr gute Arbeit leisten. 8 Der Lehrerberuf ist durch zahlreiche Klischees gekennzeichnet. „Lehrerhaft" ist nur eines davon; das Klischee vom lockereren „Anti-Lehrertyp" ist ein anderes. In der deutschsprachigen Belletristik überwiegen satirisch-ironische Skizzen des Lehrers und seines Berufes. Hier nur eine kleine Auswahl:
Ingrid No//: „[. .. } und dazu kam ihre typische Lehrerinnenart, bei jeder sich bietenden Gelegenheit erhöhte Konzentration einzufordern, ihn zu unterbrechen und lautstark das Wort an sich zu reißen: Jetzt sei doch endlich einmal still! Nun pass einmal gut auf! Aber hör doch einmal richtig zu!" (No//, 2005, S. 37) Axel Hacke: „Aber neulich, ich weiß nicht, warum, ging ich doch in den Bäckerladen und sagte: ,Ein Panino, bitte.' ,Des san Panini', sagte die Verkäuferin, eine rundlich-freundliche Dame. ,Ein Panino, zwei Panini', sagte ich und hasste mich für meine Besserwisserei. Aber ich konnte nicht anders, es ist der Lehrer in mir, der deutsche besserwisserische Lehrer. So oft bin ich in Italien wegen meines grauenhaften Italienisch gedemütigt worden, endlich wollte ich einmal Recht haben. Im Übrigen hatte ich ja nicht damit angefangen, sondern die Verkäuferin. ,Einzahl, Mehrzahl, wissen Sie', fügte ich hinzu. ,Ein Cappuccino, zwei Cappuccini.' ,Na, na, des is a Panini, bei uns is des a Panini', sagte sie und wart eine von den großen Semmeln in eine Tüte. ,Hier hoaßn's Panini."' (Hacke, 2003) Markus Orth: „Nichts habe er in dieser Zeit dem Zufall überlassen, gewissenhaft sei er zu ihr ins Schlafzimmer gegangen, in jeden der von ihnen vollzogenen Akte habe er drei, wenn nicht gar vier Methodenwechsel eingebaut. Er habe meist als Einstieg ein Lied verwendet und sich zu seiner Frau gesetzt, dann aber, ehe es hätte langweilig werden können, den Rekorder ausgestellt, um im fragend-entwickelnden Gespräch ihrer Lust auf den Grund zu gehen. Er habe anschließend oft einen klassischen Übungsteil eingebaut, noch ehe aber die Übungsphase sich zu lang hätte hinziehen können, habe er seiner Frau aus einem entsprechenden Buch verschiedene Passagen vorgelesen, um die schon im Entstehen begriffene Stimmung zu verstärken. Nie habe er in jenen Stunden auch die Stillarbeitsphase vergessen, während der er seine mit sich selbst beschäftigte Frau beobachtet habe. Jedes ihrer Koseworte habe er ergebnissichernd an der statt des Spiegels überm Bett hängenden Tafel festgehalten." (Orth, 2003, S. 136 f.) Kasten 12: „Lehrerhaft" in der Belletristik: eine Auswahl
8 http://www.zeit.de/online/2008/39/umfrage-lehrer
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„Lehrerhaft"? Eine intuitive Einführung
Weitere schöne Beispiele finden sich auch in Heimerans „Lehrer, die wir hatten" (Heimeran, 1991) und im Sammelband „Schulzeit" (Gregor-Dellin, 1979). Aus anderen Kulturen sind mir keine ähnlich negativ belasteten Begriffe wie das deutsche „lehrerhaft" bekannt. Im konfuzianisch geprägten Südostasien ist es beispielsweise im Gegenteil so, dass das Wort „wie ein Lehrer" Ausdruck von Wertschätzung, Kompetenz und Respekt ist. Im hinduistisch geprägten Asien heißt die Übersetzung von Lehrer „Guru": Es bezeichnet den „Verleiher" des Wissens; der Guru wird als Vertreiber der Dunkelheit (Unwissen) angesehen. Während einer Großveranstaltung im Rahmen der Lehrerfortbildung in Baden-Württemberg wurden die anwesenden Lehrpersonen gebeten, spontan aufzuschreiben, welche Assoziation sie a) mit dem Wort „lehrerhaft" verbinden und b) welches wohl das Gegenteil davon sei. Hier die Ergebnisse, wobei nur die am häufigsten genannten Begriffe aufgeführt sind: „Lehrerhaft", das bedeutet ...
Das Gegenteil von „lehrerhaft" ist ...
besserwisserisch, belehrend, pedantisch, penibel, humorlos, erhobener Zeigefinger, viel reden, laut reden, rechthaberisch, dozierend, eigensinnig, starr, abgehoben, ungeduldig, mäkelt herum, jammert über Arbeitsbedingungen, unpünktlich, Klugscheißer, dominant, spaltet gerne Haare
großzügig, neugierig, tolerant, gelassen, zurückhaltend, offen, einfühlsam, wohlwollend, nicht belehrend, guter Zuhörer, selbstkritisch, einfach normal, kann sich zurücknehmen, kann Kritik annehmen, locker, lernfähig, unbefangen, freundlich, humorvoll, nicht alles ernst nehmen, nicht immer recht haben wollen, kreativ, empathisch, kommunikativ, kooperativ, souverän, witzig
Kasten 13: Ergebnisse einer Lehrerbefragung (2008)
Reflexionsaufgabe 29: „Lehrerhaft" aus der Sicht von Lehrern
A ~
Decken sich diese Aussagen mit Ihrer eigenen Definition (in der vorangegangenen Reflexions-
~
Wie bewerten Sie selbst die oben zitierten Äußerungen? Welches Bild vom Lehrer spricht aus den
aufgabe)? zu „lehrerhaft" und den in der rechten Spalte als Gegenteil dazu genannten Begriffen?
Darüber, was einen wirklich schlechten Lehrer ausmacht, kann man sich bemerkenswert schnell verständigen. Hierzu eine markante Äußerung von Terhart:
Jeder weiß, dass es sie gibt. Jeder kennt einen. Jeder hatte schon mal einen. Einen schlechten Lehrer. Einen wirklich schlechten Lehrer. Die betroffenen Schüler, Eltern, Kollegen, Vorgesetzten wissen ein entsprechendes Lied zu singen. Und es sind immer die gleichen Elemente, die genannt werden: fehlendes oder veraltetes Fach-
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Lehrerpersönlichkeit und Professionsstandards
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wissen; nicht vorhandene didaktisch-methodische Fähigkeit; unzusammenhängendes und unverständliches Unterrichten; Ignoranz gegenüber Lehrplanvorgaben; unberechenbares, unverständliches und unzuverlässiges Zensieren; völlige Unfähigkeit, auf Kinder und Jugendliche eingehen zu können; bizarre Unterrichtsmethoden; strafbare Disziplinierungstechniken; offen zur Schau gestellte Verachtung von kollegialem Miteinander; eisige Herablassung (oder völlige Distanzlosigkeit) zu Schülern, Eltern, Kollegen; lntrigantentum; perfekte Minimalisierung des Arbeitseinsatzes; Verbreitung von allgemeinem Zynismus und so weiter.
Kasten 14: Jeder weiß, dass es wirklich schlechte Lehrer gibt (Terhart, 2002b, S. 91)
Ungleich schwieriger ist es dagegen - und dies ist eines der Hauptanliegen des Buches -, den „guten" Lehrer oder den „guten" Unterricht zu beschreiben. Werfen wir dazu einmal einen Blick auf Äußerungen maßgeblicher Bildungspolitiker, wie es in der Fernsehsendung „Schulmeisterreport" (Serie „Unter deutschen Dächern", Erstausstrahlung am 3. 9. 2002 in der ARD) geschah, als am Rande einer KMK-Sitzung verschiedene Bildungspolitiker und -politikerinnen gebeten wurden, doch einmal spontan den Satz „Ein guter Lehrer ist „." fortzusetzen. Hier das Ergebnis:
Ein guter Lehrer ist ein Mensch, der ... . . . Menschen mag. [Nachfrage: Das reicht?] ... Das ist die wichtigste Voraussetzung. (Schavan/Baden-Württemberg) ... Freude an seinem Beruf hat und den Schülern diese Freude weitergibt. (Böger/Berlin) ... sich Zeit nimmt für Kinder, der die Kinder seine Liebe, seine Ausdauer, seine Zuneigung für sie spüren lässt und der auch für sie ein Vorbild ist. (Reiche/Brandenburg) ... seinen Beruf liebt und sich für die Schüler und deren Förderung engagiert. (Ahnen/Rheinland-Pfalz) ... gut vorbereitet in jede Unterrichtsstunde geht, der gut ausgebildet ist, der sich regelmäßig fortbildet und ... ausgeschlafen ist. (Erdsiek-Rave/Schleswig-Holstein). Kasten 15: Ministerinnen und Minister zum „guten Lehrer"
Insgesamt gesehen zeichnen die Antworten der Bildungspolitikerinnen und -politiker, übersetzt man sie in Fachtermini, ein markantes Bild vom guten Lehrer, das den affektiv-emotionalklimatischen Aspekt in den Vordergrund rückt: Freude am Beruf, Wertschätzung von Schülern, aber auch die Professionalität anspricht: Förderung, Ausbildung und fachliches Engagement. Dies sind durchweg Punkte, die zeitlos wichtig und (in teilweise anderen Begriffen) noch heute unstrittig relevant sind.
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„Lehrerhaft"? Eine intuitive Einführung· Vorbildwirkung von Lehrpersonen
Reflexionsaufgabe 30: Welchen Nachruf wünschen Sie sich?
A
Ein wertvoller Mensch, ein treuer Schulmann ging heim. „Studienrat Professor Friedrich Ehringhaus ist [. „] im 62. Lebensjahre gestorben [. „]. Im März 1908 kam er als Oberlehrer an die Oberrealschule II, der er bis zu seinem Tode mit vorbildlicher Treue und Fürsorge für jeden einzelnen seiner Schüler angehörte. Er verfügte über ein sehr bedeutendes Wissen auf dem Gebiet der deutschen Literatur und Geschichte und hat mehrere Geschichtsbücher verfasst, die in Fachkreisen verdiente Beachtung fanden [ ... ]. Er war ein stiller, bescheidener und ruhiger Mensch, der es nicht liebte hervorzutreten, aber dafür war er ein selten treuer, aufrechter und gerader Mensch, offen und liebenswürdig, der für ein Lehramt geradezu geschaffen war, sodass seine Schüler in ihm einen wahrhaft väterlichen Freund und fürsorgenden Kameraden verlieren, einen Berater und Förderer, der immer zu ihnen stand." [Kasseler Neueste Nachrichten, Oktober 1936] ~
Angenommen, auch Sie wären sterblich: Wären Sie mit einem Nachruf wie dem obigen zufrieden? (Es handelt sich übrigens um meinen Großvater mütterlicherseits.) Welche Attribute der Lehrerpersönlichkeit befremden uns heute, und welche Charakterisierungen sind zeitlos und lassen sich in das aktuelle pädagogische Vokabular übersetzen? Stellen Sie sich vor, Sie schauen dereinst auf Ihr Berufsleben zurück: Was zählt dann für Sie, und was ist nebensächlich?
Reflexionsaufgabe 31: fehlt da was? ~
Gehen Sie nochmals die Aussagen der Bildungspolitiker durch. Was hätten Sie gesagt?
Und hier noch ein letzter Abstecher in die Welt der Klischees verschiedener Berufe, darunter der des Lehrers: Ein Mensch in einer fremden Stadt fragt: „ Wo geht's denn hier zum Bahnhof?" Es antworten ihm: ein Gesprächstherapeut:
„Sie möchten wissen, wo der Bahnhof ist?"
ein Gesprächspsychotherapeut:
„Sie wissen den Weg zum Bahnhof nicht, und das macht Sie traurig?"
ein Psychoanalytiker:
„Sie meinen dieses lange, dunkle Gebäude, wo die Züge immer rein und raus, rein und raus fahren?"
ein Tiefenpsychologe:
„Sie verspüren wieder diesen Drang zu reisen?"
ein Allgemeinarzt:
„Sind Sie privat versichert?"
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Lehrerpersönlichkeit und Professionsstandards
ein Manager:
„Fragen Sie nicht lange - gehen Sie einfach hin!"
ein humanistischer Therapeut:
„Wenn Sie da wirklich hinwollen und ganz fest an sich glauben, dann werden Sie den Weg auch finden."
ein Neurologe:
„Sie haben also die Orientierung verloren. Passiert Ihnen das öfter in letzter Zeit?"
ein Sozialarbeiter:
„Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich geh schon für Sie hin."
ein Priester:
„Heiliger Antonius! Gerechter Mann! Hilf, dass er ihn finden kann!"
Reflexionsaufgabe 32: Ein Lehrer erklärt, wo es zum Bahnhof geht (Er)finden Sie eine aus Ihrer Sicht typische Antwort eines Lehrers! Und versuchen Sie zu be- und ergründen, weshalb diese Äußerung typisch ist.
Von den Alltagstheorien zur Lehrer- und Unterrichtsforschung: Was wissen wir aus der Forschung über den guten Lehrer und seine berufliche Professionalität? Darum soll es im Folgenden gehen.
3.2 Vorbildwirkung von Lehrpersonen In Kapitel 2.5.3 war bereits die Rede von einem mächtigen Paradigma: dem Lernen am Modell oder Beobachtungslernen. In der Schulpraxis manifestiert sich dies in vielfältiger Weise, denn das Spektrum dessen, was durch Beobachtung gelernt werden kann, ist sehr groß. Es reicht von der Sprache, von lernrelevanten Orientierungen über allgemeine Einstellungen und Stile der Bewegung und Kleidung bis hin zu Marotten. Alle in den folgenden Abschnitten genannten Merkmale der Lehrperson wirken also zweifach: Zum einen beeinflussen sie die Qualität des Unterrichts (siehe Angebots-Nutzungs-Modell) und damit indirekt das Schülerverhalten, zum anderen wirken Lehrpersonen als Modelle und haben damit einen direkten Einfluss auf Lernen und Persönlichkeitsentwicklung der Schülerinnen und Schüler. Lehrpersonen sind - nach den Eltern - die wichtigsten Sprachmodelle. Lehrkräfte, deren sprachliche Klarheit zu wünschen übrig lässt (vgl. hierzu das Qualitätsmerkmal „ Klarheit und Verständlichkeit" in Kapitel 4), üben damit einen doppelt negativen Einfluss aus: Zum einen erschweren sie den Lernprozess der Schüler, zum anderen signalisieren sie unbewusst, dass sie der Beherrschung der Muttersprache keine besondere Bedeutung beimessen. In einem Interview mit dem SPIEGEL (34/2007) äußerte sich Hartmut von Hentig zu diesem Thema wie folgt:
109
Ansätze zur Klassifikation unterrichtsrelevanter Lehrermerkmale· Sachkompetenz
„Hentig: Was mir unter anderem auffällt, wenn ich die jungen Leute im Bus quasseln höre, sind die Stereotypen: ,toll' und ,super' und ,scheiß' und ,kannste vergessen' - in stundenlanger Wiederholung. Sie wollen etwas ausdrücken und können es nicht. Das tut mir leid. Spiegel: Was soll die Schule dagegen tun? Hentig: Der Lehrer muss selber eine gute Sprache sprechen und die Schüler auf ihre eigene Sprache aufmerksam machen: ,Meinst du das wirklich?' Und:, Versuch es mal genauer zu sagen!' In jedem Unterricht! An der Bielefelder Laborschule habe ich hartnäckig verlangt: Deutschunterricht sei immer. Sprache werde in jedem Augenblick geübt, selbst im Sport. "
3.3 Ansätze zur Klassifikation unterrichtsrelevanter Lehrermerkmale Nachdem die Lehrerforschung lange Zeit faktisch ausgestorben war, hat sie in neuerer Zeit unter anderer Perspektive einen Aufschwung erfahren. Man sucht heute nicht mehr nach allgemeinen, berufs- und unterrichtsfremden Persönlichkeitseigenschaften von Lehrpersonen, sondern lenkt den Blick auf Kompetenzen und Orientierungen, die einen inhaltlichen Bezug zum Geschäft des Unterrichtens aufweisen. Dies bezieht Prozesse der Planung, der schulinternen Kooperation und andere Aspekte des Schullebens mit ein. Die zahlreichen vorliegenden Versuche, unterrichtsrelevante Lehrermerkmale (Wissen, Kompetenzen, Personmerkmale) zu beschreiben, lassen sich in vier Gruppen unterteilen: Wissen und Expertise: International am bekanntesten ist vermutlich die Klassifikation von
Shulman (1986), der folgende Arten des Lehrerwissens unterscheidet (vgl. hierzu auch Haag & Lohrmann, 2006; Bromme, 1992, 1997; Baumert & Kunter, 2006): Fachwissen in dem zu unterrichtenden Fach, ~
fachübergreifendes pädagogisches Wissen (z.B. zu Regeln der Klassenführung), fachspezifisches (fachdidaktisches) pädagogisches Wissen,
~
curriculares Wissen (Logik des fachlichen Aufbaus der Lehrpläne, Standards und Curricula), Philosophie des Schulfachs.
Die wichtigste und in letzter Zeit am gründlichsten untersuchte Komponente ist das fachspezifische pädagogische Wissen. Lehrerpersönlichkeit. Im Windschatten der Expertiseforschung und begünstigt durch das
zunehmende Interesse an personalen Bedingungen des Lehrens ist eine Rückbesinnung auf unterrichtsrelevante Merkmale der Lehrperson festzustellen (Bromme & Haag, 2004). Dabei liegt ein besonderer Schwerpunkt auf solchen Merkmalen, die heute als Kern der Prof essionalisierung angesehen werden (z.B. Selbstreflexion, epistemologische Überzeugungen). Sie entsprechen den Auffassungen vom teacher as reflective practitioner (Schön, 1983). Schlüsselkompetenzen für das Unterrichten. Der im deutschen Sprachraum einflussreichste
Versuch einer Strukturierung unterrichtsrelevanter Kompetenzen stammt von Franz E. Weinert (2001b). Er unterscheidet Fachkompetenz, didaktische Kompetenz, Klassenführungskompetenz und diagnostische Kompetenz.
110
Lehrerpersönlichkeit und Professionsstandards
Standards. Analog zu den bekannteren Bildungsstandards handelt es sich bei den Standards
der Lehrerbildung und des beruflichen Handelns von Lehrkräften um nichts anderes als um erwartete Kompetenzen. Aus Deutschland sind die Ansätze von Oser (2001b) sowie der maßgeblich von Terhart beeinflusste Kanon von Lehrerkompetenzen der KMK (2004) zu nennen. Daneben soll auf Entwicklungen in den USA und in der Schweiz eingegangen werden. Es würde zu weit führen, alle diese Ansätze und Forschungsergebnisse detailliert darzustellen. Trotz teilweise unterschiedlicher Begrifflichkeiten wird im Folgenden versucht, äquivalente Merkmale - z.B. Fachwissen i. S. von Shulman und Fachkompetenz i. S. von Weinert (2001b) - zusammenzufassen. Weinerts Kompetenzbereiche „Fachdidaktik" und „Klassenführung" umfassen neben Wissen im engeren Sinne (deklaratives Wissen) in hohem Maße auch Elemente unterrichtlichen Könnens im Klassenzimmer (prozedurales Wissen, Können, Handlungsroutinen) und werden deshalb nicht in diesem, sondern in Kapitel 4 ausführlich thematisiert. Dies führt zur folgenden Aufgliederung der Lehrerkompetenzen: (1) Sachkompetenz, Expertise, (2) unterrichtsrelevante Personmerkmale und Orientierungen, (3) diagnostische Kompetenz und (4) Standards des Lehrerhandelns.
3.4 Sachkompetenz „Stricken ohne Wolle" oder „Luftgitarre spielen" - dies sind Metaphern, die auf die Bedeutung von Sachkompetenz, auf die unabdingbare Fachlichkeit des Unterrichts abzielen. Das eleganteste Lehr-Lern-Szenario, die ausgefeilteste Unterrichtsmethode nutzt nichts, wenn es an Sach- und Fachkompetenz fehlt. Damit ist die Beherrschung der zu vermittelnden Lehrinhalte, sowohl in ihrem wissenschaftlichen Gehalt als auch in ihrer didaktischen Strukturierbarkeit, gemeint. Angesichts des von Schulart zu Schulart variierenden Anteils an Lehrkräften, die „fachfremd" unterrichten, ist dies keineswegs trivial. Bramme (1997) hat in seiner Übersicht zum Zusammenhang von Fachwissen und Unterrichtserfolg belegt, dass es zwar kaum direkte Beziehungen zwischen Fachkenntnis und Lernerfolg der Klasse gibt, weil Lehrkräfte fachliche Defizite offenbar (bis zu einem bestimmten Ausmaß) kompensieren können (Leinhardt & Smith, 1985), dass sich beschränkte fachliche Kenntnisse aber in vielfältiger Weise indirekt auf die Unterrichtssteuerung auswirken. Diese Aspekte sind in Publikationen von Lipowsky (2006, 2007) und Berliner (1995, 2006) ausführlich dargestellt worden. Umso überraschender ist der Befund von Hattie, demzufolge die Rolle des Fachwissens (content knowledge) von Lehrpersonen für den Lernerfolg ihrer Schülerinnen und Schüler
mit einer Effektstärke von d = -0.09 praktisch vernachlässigenswert gering ist. Wie ist das zu erklären? Zum einen muss gesehen werden, dass diesem Abschnitt nur zwei Metaanalysen zugrunde liegen, eine aus dem Jahre 2004, die andere aus dem Jahre 1983. Gerade in neuerer Zeit sind jedoch in der Professionsforschung - gerade im deutschen Sprachraum wesentliche Fortschritte gemacht worden (Beck et al., 2008; Baumert et al., 2010; Kunter et al., 2011), indem man das Wissen von Lehrkräften nicht mehr indirekt über Ausbildungsmerkmale, sondern direkt erfasst hat (siehe die Übersicht bei Neuweg 2011). Hattie (2009) selbst argumentiert mit einem vermuteten Deckeneffekt: „that it is likely that subject matter 111
Sachkompetenz· Unterrichtsrelevante Merkmale und Orientierungen von Lehrpersonen
knowledge influences teaching eff ectiveness up to some level of basic competence but less so thereafter" (S. 114). Die Forschungsgruppe um Baumert und Blum (Projekt COACTIV) kommt zu differenzierteren Ergebnissen, als es die Metaanalyse von Hattie glauben lässt. Dabei erscheinen die folgenden Punkte bedeutsam: ~
Feindifferenzierung des Fachwissens in vier Komponenten: (1) akademisches Forschungswissen, (2) profundes mathematisches Verständnis des Schulstoffs (bei COACTIV: Elementarmathematik), (3) Schulwissen und (4) mathematisches Alltagswissen. Beispiel für ein Testitem zum Fachwissen: „Ist 2 1024 eine Primzahl?"
~
Feindifferenzierung auch des fachdidaktischen Wissens: (1) aufgabenbezogenes Wissen, (2) Wissen über mathematische Vorstellungen (einschließlich Fehlkonzepte, typische Fehler von Schülerinnen und Schülern sowie Vorstellungen zur Passung und zum diagnostischen Potenzial von Aufgaben), (3) Wissen über Repräsentationen und Erklärungen, einschließlich des schnellen Erkennens von Fehlern.
Fachliches und fachdidaktisches Wissen hängen eng zusammen, aber die direkte Wirkung auf die Mathematikleistung geht ausschließlich vom fachdidaktischen Wissen aus und ist ebenso stark wie der Effekt des mathematischen Vorwissens der Klasse. Mit anderen Worten: Der Effekt des Fachwissens wird vollständig durch das fachdidaktische Wissen vermittelt. Beispiel für ein Testitem zum fachdidaktischen Wissen: „Eine Schülerin sagt: ,Ich verstehe nicht, warum (-1) mal (-1) -1 ist.' Bitte versuchen Sie, Ihrer Schülerin diesen Sachverhalt auf möglichst vielen verschiedenen Wegen verständlich zu machen!" Weinert (1998b) weist im Zusammenhang mit der fachlichen Expertise besonders auf die Bedeutung des Alters der Lernenden für die Vermittlung der Unterrichtsinhalte hin: „Es genügt nicht, die wissenschaftlichen Grundlagen der Physik oder einer Philologie zu beherrschen, wenn man nicht zugleich im Detail weiß, wie sich diese wissenschaftlichen Inhalte bei jüngeren Kindern oder älteren Jugendlichen lehren und vor allem von diesen lernen lassen. Dabei kommt es nicht auf das Lebensalter als solches an, sondern auf die bisher erworbenen Kenntnisse in einem bestimmten Gebiet und auf die intellektuellen Fähigkeiten, über die die einzelnen Schüler verfügen. überprüft man dieses Wissen bei Lehrern, so stellt man erhebliche Differenzen fest. Das gilt zum Beispiel bei der subjektiven Einschätzung des Schwierigkeitsgrades verschiedener Lernaufgaben. " (S. 121)
Die Sachkompetenz von Lehrkräften umfasst also keineswegs lediglich reines Fachwissen, sondern beruht auf einer Mischung aus fachdidaktischer und fachwissenschaftlicher, pädagogisch-psychologischer (Wie lassen sich diese Inhalte geschickt und anregend vermitteln?) und entwicklungspsychologischer Expertise (Welches sind die typischen Schülervorstellungen, naiven und intuitiven Theorien und Vorstellungen, an die der Unterricht anknüpfen muss?). Zu den wenigen Untersuchungen, die die Fachkompetenz berufstätiger Lehrkräfte „hart" erfasst haben, das heißt nicht nur nach Selbsteinschätzungen der Kompetenz gefragt haben oder sich auf Merkmale der Lehrerausbildung verlassen haben, sondern die Fachkompetenz wirklich getestet haben, gehört die Studie COACTIV, ein an PISA 2003 angedocktes DFG112
Lehrerpersönlichkeit und Professionsstandards
Projekt zur Unterrichtsqualität in Mathematik (Brunner et al., 2006). Dort zeigte sich ein außerordentlich starker Effekt des Fachwissens (content knowledge) von Lehrkräften auf die Leistungsentwicklung der Schülerinnen und Schüler: Die erfolgreichsten Lehrkräfte zeichneten sich durch ein ausgezeichnetes Fachwissen aus, das vier Komponenten umfasst, siehe Baumert und Kunter (2006): „akademisches Forschungswissen, ein profundes mathematisches Verständnis der in der Schule unterrichteten Sachverhalte, Beherrschung des Schulstoffs auf einem zum Ende der Schulzeit erreichten Niveau und mathematisches Alltagswissen von Erwachsenen, das auch nach Verlassen der Schule noch präsent ist[. . .}. Dieses professionelle Fachwissen schließt die souveräne Beherrschung des Schulstoffes ein; aber weder Schulwissen, geschweige denn mathematisches Alltagswissen genügen, um die mathematischen Herausforderungen zu bewältigen, die sich Lehrkräften bei der Vorbereitung und Durchführung des Unterrichts stellen." (S. 495)
Bemerkenswerterweise gibt es bisher jedoch kaum empirische Untersuchungen, die die fachliche Qualität beobachteten Unterrichts direkt zum Gegenstand haben, sodass man auf Vermutungen darüber angewiesen ist, a) ob und wo sich fachliche Defizite abzeichnen und b) welchen Effekt dies auf die Lernentwicklung hat. Wenn man sich einmal - womöglich gemeinsam mit einem Mathematikdidaktiker - einige der publizierten TIMSS-Videobänder des Mathematikunterrichts in den USA und Deutschland ansieht, dann wird klar, dass nicht nur Schülerinnen und Schüler, sondern auch Lehrpersonen zahlreiche - auch fachliche - Fehler machen. Und dies, obwohl sie wussten, dass ihr Unterricht aufgezeichnet und für nachfolgende Lehrer- und Forschergenerationen konserviert würde.
3.5 Unterrichtsrelevante Merkmale und Orientierungen von Lehrpersonen 3.5.1 Leistungsmotiv
Die Einstellung der Lehrkraft zum unterrichteten Fach und zum Unterrichten ist vermutlich eine wichtige Bedingung des Unterrichts- und Berufserfolges von Lehrkräften, obwohl der empirische Forschungsstand zu dieser Frage zu wünschen übrig lässt: Im Gegensatz zur Lernmotivation von Schülern ist wenig darüber bekannt, welche Rolle beispielsweise Leistungsmotiv, Anschlussmotiv (Wunsch nach sozialen Bindungen) oder Machtmotiv für Lehrkräfte spielen. Anschaulich wird auf das Leistungsmotiv von Lehrern bei Rheinberg et al. (2001) eingegangen:
Auf den ersten Blick könnte man deshalb meinen, Schule sei ein ideales Anregungsklima für das Leistungsmotiv von Lehrern. Das ist aber keineswegs sicher. Personen mit starkem Leistungsmotiv sind von Situationen angezogen, in denen sie möglichst klare Rückmeldungen zum Stand oder Wachstum der eigenen Tüchtigkeit erhalten (z. B. Schwierigkeit und Güte eines selbst gespielten Musikstücks; aktuelle Zeit auf der abendlichen Joggingstrecke etc.). Aber an welchen Standards sollte ein Lehrer sein Expertentum in Sachen Unterricht messen? Am ehesten böte sich an, wie weit er die Klasse in der gesicherten Stoffbeherrschung vorangebracht hat (Lehrerleis-
~>
113
Unterrichtsrelevante Merkmale und Orientierungen von Lehrpersonen
a
tung). Gemessen an den meisten überzogenen Lehrplanforderungen hat er hier zunächst chronischen Misserfolg. Vergleiche mit realistischeren Standards, z. B. dem Lehrerfolg von Kollegen, sind bislang kaum möglich. So gesehen ist es nicht weiter verwunderlich, dass Lehrer eher selten die erreichten Leistungen ihrer Klasse ansprechen, wenn man sie danach befragt, worauf sie in ihrem Beruf besonders stolz sind (29 %der Befragten bei Lortie 1975). Viel häutiger werden überraschende Lernerfolge einzelner, meist „schwieriger" Schüler genannt (64 % der befragten Grundschullehrer) oder erfolgreiche Absolventen, wenn sie ihrer ehemaligen Schule einen Besuch abstatten (49 % der befragten Sekundarschullehrer). Das scheinen allerdings eher seltene Ereignisse zu sein [. .. ]. Für Lehrer ergibt sich das Problem, dass Lernzuwächse im Unterricht ein „Gemeinschaftsprodukt" von Lehrer und Schülern sind, bei dem die Einzelanteile nur schwer auseinandergehalten werden können. Von daher ist der Lernerfolg der Schüler nur eine partiell kontrollierbare Größe. Solche Konstellationen sind für hoch leistungsmotivierte Personen wenig attraktiv, da sie Situationen bevorzugen, in denen der Handlungsausgang von ihnen selbst und ihrer eigenen Tüchtigkeit abhängt.
Kasten 16: Warum das Leistungsmotiv für Lehrer keine nennswerte Rolle spielt (Rheinberg et al., 2001, S. 305 f.) 3.5.2
Engagement
Als ergiebig für die Frage nach dem Unterrichtserfolg hat sich die Forschung zum Enthusiasmus (enthusiasm) und zum Lehrerengagement herausgestellt, wie sie etwa bei Gage und Berliner (1998) dargestellt ist. Enthusiasmus umfasst so verschiedene Aspekte wie ausgeprägte Gestik, wechselnde Intonation, ständiger Blickkontakt, häufiger Standortwechsel auf der „Bühne" sowie Humor und lebendige Beispiele. In einem weiteren Sinne bedeutet Enthusiasmus aber auch einfach lebendige und überzeugende Kommunikation mit den Schülern (Gage & Berliner, 1996). Allerdings bringt der Umgang mit den gefundenen Ergebnissen mitunter
Schwierigkeiten mit sich. Dies liegt daran, dass es sich teils um Oberflächenmerkmale, teils um affektive Variablen handelt; dazu kommt, dass die verbreitete Berechnung von Korrelationen (etwa zwischen dem Ausmaß an Enthusiasmus und Merkmalen des Lernerfolges) schon deshalb in die Irre führt, weil es ganz offensichtlich nicht darum gehen kann, ein Maximum, sondern ein Optimum an Enthusiasmus zu verbreiten: Das Fehlen von jeglichem Enthusiasmus dürfte auf Schülerseite auf Dauer zu Langeweile und Monotonie führen, und ein Höchstmaß an Enthusiasmus könnte zwar vorübergehend als unterhaltsam oder „spannend" wahrgenommen, im Extremfall jedoch als fast schon hysterisch oder ekstatisch („Finger in der Steckdose") bzw. bei chronischer Verfestigung als unpassend, „uncool" oder peinlich empfunden werden (McKinney, Larkins, Kazelskis, Ford, Allen & Davis, 1983). Vom SPIEGEL (34/2007) dazu befragt, ob es nicht zu viel verlangt sei, dass Lehrer ein pädagogisches Feuer in sich haben müssten, äußerte Hartmut von Hentig:
„Das ist ein sehr starkes Bild, ein Feuer. Aber ich finde schon, dass ein Lehrer ohne Leidenschaft für seine Sache also der Routinier - ein Unglück ist. Ich verlange nicht, dass alle 700 000 Lehrer Deutschlands Pestalozzis sind. Aber dass nach all den pädagogischen und didaktischen Anstrengungen des 20. Jahrhunderts bei uns an den Schulen immer noch so viel Langeweile herrscht, ist ein Skandal." (S. 159) 114
Lehrerpersönlichkeit und Professionsstandards
Eine neuere Darstellung des Forschungsstandes zum teacher enthusiasm stammt von Kunter et al. (2008). 3.5.3 Subjektive Theorien und epistemologische Überzeugungen
Im Gegensatz zu wissenschaftlichen Theorien (z.B. der Determinanten schulischer Leistungen, der Leistungsangst etc.) sind mit subjektiven Theorien (das Konzept wird oft gleichbedeutend mit naiver Theorie, impliziter Theorie, Alltagstheorie verwendet) Aussagen- und Überzeugungssysteme gemeint. Subjektive Theorien sind ähnlich wie wissenschaftliche Theorien aufgebaut und strukturiert, ohne allerdings deren Gütekriterien (wie Systematik, Explizitheit, Falsifizierbarkeit usw.) aufzuweisen, geschweige denn Ergebnis einer wissenschaftlichen Überprüfung zu sein. Ähnlich wie wissenschaftliche Theorien dienen subjektive Theorien der Erklärung und Vorhersage menschlichen Verhaltens. In komplexen, wissenschaftlich erst ansatzweise erschlossenen Lebensbereichen wie dem von Erziehung und Unterricht leiten sie darüber hinaus das Handeln meist sehr viel stärker als wissenschaftliche Theorien (Bromme, Rheinberg, Minsel, Winteler & Weidenmann, 2006; Wahl, 2001, 2002). Für die Frage nach dem Unterrichtserfolg und der Veränderung des Unterrichts sind subjektive Theorien von Lehrpersonen von Interesse, denn sie steuern - vielfach gar nicht bewusst - das Lehrerhandeln; eine nur oberflächliche Veränderung von Unterrichtsmethoden (z.B. stärker die Schüler aktivierend) ohne vorherige Bewusstmachung und ggf. Veränderung der entsprechenden subjektiven Theorien und Überzeugungen führt unter Umständen in eine Sackgasse - oder in die Irre. Subjektive Theorien wurden vor allem in den folgenden Bereichen erforscht: Schüleraggressionen im Unterricht (Dann & Humpert, 1987), Schwierigkeiten des Unterrichtsablaufs (Wahl, Sehlee, Krauth & Murek, 1983) sowie Gestaltung von Gruppenarbeit (Lehmann-Grube & Dann, 1999; Haag, 1999). Von ihrer Struktur her den subjektiven Theorien verwandt sind die sogenannten epistemologischen Überzeugungen. Das sind subjektive Überzeugungssysteme, die sich entweder auf
die Struktur des Wissens oder auf die Struktur der Wissenserzeugung, also das Lernen, beziehen (Hofer & Pintrich, 1997). Beispiele: die Veränderbarkeit der Intelligenz, die Wirksamkeit des Lehrens oder - im fachdidaktischen Bereich - mathematische und naturwissenschaftliche Weltbilder. Obwohl die empirische Evidenz bisher noch schmal ist - siehe die Forschungsübersicht im deutschen Beitrag zur TIMS-Studie/Population III (Köller, Baumert & Neubrand, 2000) -, ist die Annahme plausibel, dass solche intuitiven Überzeugungen für die Gestaltung des Unterrichts und für die Erklärung schulischer Erfolge oder Misserfolge der Schüler folgenreich sind. Hier ein erhellender Abschnitt aus dem zitierten Kapitel von Köller et al.: „Epistemologische Überzeugungen sind intuitive Theorien, die integraler Teil des Fachverständnisses sind, aber zugleich die Art der Begegnung mit der erkennbaren Welt vorstrukturieren. Sie beeinflussen Denken und Schlussfolgern, Informationsverarbeitung, Lernen, Motivation und schließlich auch die akademische Leistung [„.]. Personen mit der Überzeugung, Mathematik sei das bloße Anwenden von Lösungsalgorithmen auf vorgegebene Aufgaben, sind weniger interessiert, verwenden vermehrt Oberflächenstrategien beim Lernen und erreichen niedrigere Leistungen." (S. 268) 115
Unterrichtsrelevante Merkmale und Orientierungen von Lehrpersonen
3.5.4 Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbstreflexion
Die Fähigkeit und Bereitschaft, den eigenen Unterricht regelmäßig selbstkritisch zu hinterfragen und verfügbare Methoden und Werkzeuge zur Selbstdiagnose und -verbesserung (beispielsweise Schülerfeedback oder kollegiale Rückmeldung und Supervision bezogen auf den Unterricht oder Messung unterrichtlicher Wirkungen) einzusetzen, ist eine Schlüsselbedingung für die Verbesserung des eigenen Unterrichts und damit ein zentrales und für den nachhaltigen Unterrichtserfolg unabdingbares Merkmal der Lehrperson. Das Konzept des reflective practitioner stammt von Donald A. Schön (1983) und zielt darauf ab, dass Lehrpersonen geziel-
te und kontinuierliche Anstrengungen unternehmen, über den eigenen Unterricht und seine Wirkungen zu reflektieren, um den Unterricht zu verbessern. In der angloamerikanischen Unterrichtsforschung wird Merkmalen wie self-reflection ein hoher Stellenwert eingeräumt. So schreibt Borich in seinem in den USA sehr verbreiteten Buch „ Observation Skills for Effective Teaching" (Borich, 2007b): „Lenses tor selt-improvement: Within the busy schedule ot a school day, teachers da not have many opportunities to reflect an the relative merits ot the strategies and methods they use. Ta pause tor contemplation during instruction could disrupt the pace ot classroom events and almost surely would result in a lass ot momentum; to retlect an events after c/ass or at the end ot the school day would require the ability to accurately remember events that may have occurred hours earlier. As a result, teachers trequently can be observed pertorming behaviors that they are unaware ot, such as dominating discussions and allowing too little response time tor students to think through an answer." (S. 13)
In der Grundschulstudie „ VERA - Gute Unterrichtspraxis" hat die Landauer Forschungsgruppe dazu einen Fragebogen entwickelt. In die Kästchen sind die prozentualen Antwortverteilungen der befragten Lehrpersonen von Grundschulen eingetragen, sodass die Tabelle zugleich als Referenz für eine eigene Standortbestimmung verwendet werden kann.
(ij
Wie oft tun Sie folgende Dinge?
·= Q)
E
ö
s a;
.c (.)
E
ö
c
U)
c
ca
....
.c
Q) U)
Ich denke darüber nach, wie ich meinen Erziehungsauftrag noch besser erfüllen kann.
0
0
18
60
22
Ich tausche mich mit Kolleginnen und Kollegen aus, um Anregungen für die Verbesserung meines Unterrichts zu erhalten.
2
8
25
48
18
Ich bemühe mich im Kollegium um Maßnahmen zur Qualifizierung.
3
10
31
45
11
Ich hole mir bei Schwierigkeiten im Unterricht Hilfe von anderen.
3
9
45
40
3
116
~)
Lehrerpersönlichkeit und Professionsstandards
~)
Ich setze Schülerfeedback ein, um Rückmeldung zu meinem Unterricht zu erhalten.
2
18
42
29
9
Ich nehme an einer Arbeitsgruppe oder einem Qualitätszirkel teil, in der es um Fragen der Unterrichtsqualität geht.
32
34
13
16
5
Ich nehme an Fortbildungen teil, um mich über Fragen der Professionalisierung auf dem laufenden zu halten.
10
14
51
19
6
5
11
50
25
9
Ich informiere mich über neue Publikationen zum Thema „Unterrichtsqualität".
Wie sehr stimmen Sie den folgenden Aussagen zu?
stimme gar nicht zu
stimme eher nicht zu
stimme eher zu
stimme voll und ganz zu
Ich nehme mir Zeit, um meinen Unterricht zu reflektieren.
0
8
72
20
Wenn ich Kritik oder Verbesserungsvorschläge höre, die meinen Unterricht betreffen, gehe ich darauf ein.
0
2
55
43
Ich mache mir Gedanken über die Art und Weise, wie ich berufliche Dinge anpacke.
0
0
49
51
Ich interessiere mich für meine eigenen Fehler, um daraus etwas über meinen Unterricht zu lernen.
0
2
32
66
Es interessiert mich, ob sich die Schülerinnen und Schüler in meinem Unterricht wohlfühlen.
0
0
19
81
Es interessiert mich, ob ich die Schülerinnen und Schüler in meinem Unterricht angemessen fördere, d. h. weder übernoch unterfordere.
0
2
25
74
Die Forderung nach „lebenslangem Lernen" erfordert gerade beim Unterrichten, dass man ständig an sich arbeitet.
0
0
23
77
Ich glaube, ich kenne mich und meine Art zu unterrichten ganz genau.
0
15
69
15
Ich versuche mir ein klares Bild von meinem Unterricht zu machen.
0
3
63
34
Tabelle 3: Fragebogen zur Selbstreflexion (Helmke, Helmke, Heyne, Hosenfeld, Schrader & Wagner, 2008c)
117
Unterrichtsrelevante Merkmale und Orientierungen von Lehrpersonen · Diagnostische Expertise
Reflexionsaufgabe 33: Reflexionspause In welchen Situationen im Unterricht würden Sie selbst manchmal gerne die Zeit anhalten, um sich eine Reflexionspause zu schaffen? Tritt dieser Wunsch eher vor einer anstehenden Entscheidung (wie soll ich mich jetzt verhalten?) oder nach einer getroffenen Entscheidung (was hätte ich stattdessen tun können?) auf?
3.5.5 Humor
Von „humorvoll" bzw. „humorlos" war bereits bei den Assoziationen zur Bezeichnung „lehrerhaft" bzw. ihrem Gegenteil die Rede. In der Forschung spielt das Persönlichkeitsmerkmal „Humor" vermutlich deshalb keine besondere Rolle, weil es schwer erfassbar ist. Trotzdem ist die Wirkung von Humor (im Gegensatz zur Ironie) auf das Lernen verschiedentlich Gegenstand empirischer Untersuchungen gewesen, insbesondere im Fremdsprachenunterricht (Schulze, 1995; Rißland, 2002; Raaf, 2005; Nöth, 1995; Darling & Civikly, 1987). Man könnte darüber hinaus vermuten, dass das Forschungsinteresse auch deshalb gering ist, weil Humor(losigkeit) ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal ist, das sich einer Beeinflussung entzieht. Diese Annahme ist jedoch falsch, wie ein Blick auf die existierenden Humor-Trainingsprogramme zeigt, die in der Wissenschaft unter „Positiver Psychologie" geführt werden.
Hier ein Interview mit Willibald Ruch von der Universität Zürich:
Herr Ruch, was ist Humor?
WILLIBALD RUCH: (lacht) Humor hat mindestens zwei verschiedene Bedeutungen. Einerseits eine heiter gelassene Haltung gegenüber den Widrigkeiten des Lebens, andererseits ist Humor ein Sammelbegriff für alles, was uns zum Lachen reizt.
Kann man Humor lernen?
W R.: Wir wollen herausfinden, ob gewisse Bereiche des Humors trainierbar
Wie lernt man Humor?
W R.: Wir bieten ein achtwöchiges Humortraining an. Am Anfang müssen
sind. Bisher gibt es erst zwei Studien, die zeigen, dass es nicht funktioniert. wir wohl falsche Überzeugungen widerlegen wie jene, dass, wer bei der Arbeit viel lacht, unreif und unprofessionell ist. Wir wollen das Auge für das Komische schärten, und die Leute sol!en verspielter werden. Was bringt's, wenn man Humor hat? W R.: Humor schafft eine gewisse geistige Flexibilität und fördert die Kreativität. Er hilft, Spannungen und Stress abzubauen. Braucht ein Humortorscher Humor? W R.: Eine Zeit lang musste man als Humortorscher eine Menge Humor haben, weil das Thema exotisch war und man mit der Ignoranz der Mainstreamforschung zurechtkommen musste. Kasten 17: Interview mit Willibald Ruch, Professor für Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik (UNIMAGAZIN, 4/06) 118
Lehrerpersönlichkeit und Professionsstandards
3.6 Diagnostische Expertise Nach Weinert (2000) ist die diagnostische Kompetenz eine von vier Basiskompetenzen für erfolgreichen Unterricht: „Dabei handelt es sich um ein Bündel von Fähigkeiten, um den Kenntnisstand, die Lernfortschritte und die Leistungsprobleme der einzelnen Schüler sowie die Schwierigkeiten verschiedener Lernaufgaben im Unterricht fortlaufend beurteilen zu können, sodass das didaktische Handeln auf diagnostischen Einsichten aufgebaut werden kann. Damit ist eine besonders wichtige, aber auch vielfach defizitäre Kompetenz von Lehrern angesprochen. Bittet man zum Beispiel die Lehrer eines bestimmten Faches, für die von ihnen selbst gestellten Prüfungsaufgaben anzugeben, wie die einzelnen Schüler vermutlich abschneiden werden, so zeigen sich große Unterschiede in der diagnostischen Kompetenz - mit nachhaltigen Auswirkungen auf die notwendige Individualisierung und Differenzierung des Unterrichts. Diese diagnostischen Fertigkeiten werden in der Lehreraus- und -weiterbildung kaum vermittelt, wobei es nicht etwa um ein Wissen über psychologische Tests geht, sondern um die fortlaufende Registrierung der Lernund Leistungsfortschritte, aber auch der Lernschwierigkeiten und Leistungsmängel der einzelnen Schüler innerhalb einer Klasse. " (S. 14 f.)
Unter diagnostischer Kompetenz wird im schulischen Kontext heute meistens die Fähigkeit verstanden, Personen oder Personengruppen (z.B. Schulklassen) zutreffend zu beurteilen bzw. genaue diagnostische Urteile abzugeben. Einen Überblick über dieses Thema geben Schrader (2006, 2008) und Langfeldt (2006), dort: Kapitel 12 („Diagnosekompetenz von Lehrerinnen und Lehrern"). Speziell zur Rolle alltäglicher, impliziter Diagnosen im Unterrichtsalltag vgl. Schrader und Helmke (2001), zum Unterrichtsmodell „Diagnostic-Prescriptive Teaching" vgl. Helmke und Schrader (1994), zur bildungspolitischen Bedeutung diagnostischer Lehrerkompetenzen vgl. Arnold (2001a, 1999). Was genau ist diagnostische Expertise, warum ist sie für die Unterrichtsqualität wichtig, welche Rolle spielt sie für das Lernen, wie kann man sie messen, und wie lässt sie sich - sei es im Rahmen von Fortbildungsmaßnahmen oder integriert in Lernstandserhebungen - trainieren und verbessern? Zunächst zum Begrifflichen: Es wird absichtlich das Konzept „Expertise" verwendet, um es von diagnostischer Kompetenz im engeren Sinne abzuheben, die sich meistens lediglich auf die zutreffende Informiertheit bezieht, also auf die Urteilsgenauigkeit (accuracy) oder Veridikalität (Übereinstimmung von Urteil und Realität). Expertise ist das umfassendere Konzept; sie
beinhaltet sowohl methodisches und prozedurales Wissen (Verfügbarkeit von Methoden zur Einschätzung von Schülerleistungen und zur Selbstdiagnose) als auch konzeptuelles Wissen (Kenntnis von Urteilstendenzen und -fehlern). Die damit verbundenen Fragen sind seit jeher Gegenstand der Pädagogischen Diagnostik. Hierzu liegen in deutscher Sprache verschiedene Darstellungen vor, von denen nur einige wenige genannt werden sollen (Ingenkamp, 1988; Lukesch, 1998; Ulich & Mertens, 1974; Hofer, 1969; Schwarzer & Schwarzer, 1977; Jäger, 2001,2006; Kleber, 1992; Jäger, 2006).
119
Diagnostische Expertise
3.6.1 Grundlegende Begriffe
Das Wort „Diagnose" leitet sich aus dem griechischen Wort diagnosis ab, was so viel heißt wie „auseinanderhalten" oder „unterscheiden". Nicht jede Beschreibung einer Person, nicht jede Aussage über eine Person ist bereits eine Diagnose. Das charakteristische Merkmal einer Diagnose liegt darin, dass anhand vorgegebener Kategorien, Begriffe oder Konzepte geurteilt wird. „Aussagen darüber, wie leistungsfähig, kompetent, motiviert, aggressiv oder ängstlich jemand ist, sind also erst dann als Diagnosen anzusehen, wenn ein differenziertes Merkmalsverständnis beim Urteiler vorhanden ist. Diagnosen bezeichnen also Schlussfolgerungen, denen präzise und begründete Fragestellungen vorausgehen und kontrollierte sowie theoriegeleitete Datenerhebungsprozesse folgen und zu einer Aussage über Personen, Sachen oder Institutionen führen." (Jäger, 2001; siehe auch Kapitel 5.1) Formale und informelle Diagnoseleistungen. Im Gegensatz zu solchen „formalen" Diag-
noseleistungen stehen informelle Diagnoseleistungen, das heißt implizite subjektive Urteile, Einschätzungen und Erwartungen, die eher beiläufig und unsystematisch im Rahmen des alltäglichen erzieherischen Handelns gewonnen werden. Diagnostische Wissensbasis. Die Fähigkeit eines Urteilers, Personen oder Gruppen (z.B.
Schulklassen) zutreffend oder genau - jeweils an einem vorgegebenen Maßstab oder Kriterium gemessen - zu beurteilen (accuracy), setzt eine fundierte Wissensbasis voraus, nämlich die Kenntnis von Grundlagen, -begriffen und -problemen sowie Instrumenten der pädagogischpsychologischen Diagnostik (vgl. Leutner, 2006; Lukesch, 1998). Dazu gehören insbesondere: ~
Orientierung über die wichtigsten Gütekriterien diagnostischer Leistungen; Kenntnis typischer und häufiger Fehler und Verzerrungen des Lehrerurteils; Fähigkeit, im Unterricht selbst einen Test ad hoc zu entwickeln, ihn einzusetzen, auszuwerten und die Ergebnisse zurückzumelden;
~
Orientierung über ausgewählte Test- und Fragebogenverfahren für schulische Zwecke und Kenntnis von Quellen, wie man sich solche Tests beschaffen kann.
Urteilsgenauigkeit, Veridikalität. Um ein Maß für die Urteilsgenauigkeit zu bilden (die einen
wesentlichen Teil der diagnostischen Kompetenz ausmacht), bedarf es eines Standards, d. h. eines Kriteriums. Im Bereich schulischer Leistungen handelt es sich meistens um Testergebnisse, bei affektiven Personmerkmalen (wie Selbstvertrauen) um Selbstauskünfte der Personen, die sich etwa durch Fragebögen gewinnen lassen. Aber Vorsicht: ~
Erstens gilt nicht unbedingt die Gleichung „je genauer, desto besser" - gelegentlich sind maßvolle optimistische Fehleinschätzungen pädagogisch günstiger als völlig realistische, „akkurate" Einschätzungen (siehe Weinert & Schrader, 1986).
~
Zweitens: Je nach Testsituation und Rahmenbedingungen können in die Testleistung auch andere Personaspekte mit eingehen, zum Beispiel Leistungsängstlichkeit, Cleverness im Umgang mit Tests (test wiseness) oder einfach Anstrengungsbereitschaft. Tests erfassen also nicht unmittelbar die Leistungsfähigkeit oder Kompetenz eines Menschen, sondern die davon möglicherweise abweichende Performanz. Dies muss man wissen und auf dieser Basis die Vertrauenswürdigkeit (Solidität) der Testergebnisse entsprechend einschätzen und gewichten.
120
Lehrerpersönlichkeit und Professionsstandards
Drittens: Es ist keineswegs von vornherein gesagt, dass Testleistungen „bessere" oder „verlässlichere" Messungen als das Lehrerurteil sind. Welche der beiden Zugänge die geeignetere Form der Messung ist und somit das bessere „Kriterium" darstellt, kann je nach den Umständen und dem Urteilsgegenstand unterschiedlich sein. Diagnose und Prognose. Noch komplexer als diagnostische Entscheidungen sind prognos-
tische Entscheidungen, das heißt Einschätzungen der künftigen Entwicklung von Personen, wie sie im Schulalltag bei Übertrittsentscheidungen (z.B. beim Grundschulgutachten bzw. der Empfehlung für den Besuch einer weiterführenden Schule) von großer Bedeutung sind. Bei der Prognose kommt zur genauen Einschätzung des Ist-Standes noch die zutreffende Einschätzung und Gewichtung entwicklungsrelevanter Person- oder Kontextmerkmale dazu (z.B. die Art der Unterstützung durch das Elternhaus). Im Folgenden geht es um den einfacheren Fall diagnostischer Leistungen. 3.6.2 Pädagogische Bedeutung der diagnostischen Expertise
Lehrkräfte vollbringen in ihrem Beruf zahlreiche diagnostische Leistungen. Diese umfassen sowohl fortlaufend während des Unterrichtens erfolgende implizite Diagnosen der ständig im Wandel begriffenen Lernvoraussetzungen der Schüler als auch „punktuelle, vom unmittelbaren Unterrichtsgeschehen abgehobene und explizite Formen der Informationsgewinnung und -verarbeitung, deren Ergebnis erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung wieder in den Unterricht zurückgeführt wird" (Schrader, 1989, S. 16). Die Bedeutung der diagnostischen Kompetenz für das schulische Lernen ergibt sich unmittelbar daraus, dass die Schwierigkeit von Unterrichtsmaßnahmen, Fragen und Auf gaben auf die Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler abgestimmt sein muss. Lehrkräfte, die über Fähigkeitsunterschiede und/ oder über Stärken und Schwächen ihrer Schüler nicht im Bilde sind, dürften Schwierigkeiten bei der Herstellung einer hinreichenden Passung zwischen Lernvoraussetzungen und Anforderungen haben. Auch die individuelle Förderung setzt ein ausreichendes diagnostisches Wissen der verantwortlichen Lehrkraft zwingend voraus. Weinert und Schrader (1986) schreiben hierzu:
In vielen neueren didaktischen Modellen wird dem Lehrer präskriptiv die Funktion zugeschrieben, den Unterricht so zu organisieren und zu realisieren, dass das aktuelle Lernverhalten, der kurzzeitige Leistungsfortschritt und die langfristige Persönlichkeitsentwicklung möglichst aller Schüler optimiert wird. Denkt man dabei an verschiedene Klassen und Schüler, an unterschiedliche Lerninhalte und Lehrziele und die damit verbundene Variabilität pädagogischer Situationen, so lässt sich das Verhalten des Lehrers theoretisch als eine Kette, oder (besser) als ein System didaktischer Entscheidungen und davon abhängiger (möglichst situationssensitiver und zielgerichteter) Handlungsanpassungen beschreiben. Solche Anpassungsbemühungen sind nach Snow (19 72) immer dann zu erwarten, wenn der lehrende nicht tolerierbare Diskrepanzen zwischen beabsichtigtem und tatsächlich ablautendem Unterrichtsgeschehen wahrnimmt und wenn er zugleich subjektiv über alternative Verhaltensmöglichkeiten zu verfügen glaubt. Permanente, hochautomatisierte und schematisierte Zustands-, Veränderungs-
~»
121
Diagnostische Expertise
~»
und Diskrepanzdiagnosen des Schülerverhaltens, des Unterrichtsverlaufs und der eigenen Handlungseffekte spielen in diesem Modell eine zentrale Rolle. Natürlich handelt es sich bei diesen subjektiven Diagnosen in der Regel nicht um die absichtliche, methodisch kontrollierte Gewinnung und Verarbeitung aller relevanten Informationen, sondern häufig um das routinierte Registrieren und Vergleichen subjektiv bedeutsamer Indikatoren des pädagogischen Geschehens. Nur bei Wahrnehmung didaktischer Entscheidungsfindungen, kritischer Unterrichtsereignisse oder praktischer Problemlagen dürften vom Lehrer bewusst reflektierte Formen des Diagnostizierens, wie z.B. systematische Schülerbeobachtungen oder Leistungsbeobachtungen, eingesetzt werden. Der pädagogische Nutzungswert der automatisch oder reflektiert gewonnenen diagnostischen Informationen ist für die zieladaptive Steuerung, Kontrolle und Korrektur des unterrichtlichen Handelns von großer Wichtigkeit.
Kasten 18: Zur Bedeutung diagnostischer Leistungen im Unterricht (Weinert & Schrader 1986, S. 11)
Es ist deshalb nur konsequent, wenn sich die KMK und alle Bildungs- und Lehrergewerkschaften auf eine Beschreibung des Berufsbildes von Lehrkräften geeinigt haben, in der der Lehrerschaft der Status von „Experten für das Lernen" zugewiesen wird. Als die Kernaufgabe von Lehrkräften wird dabei die „gezielte und nach wissenschaftlichen Erkenntnissen gestaltete Planung, Organisation und Reflexion von Lehr- und Lernprozessen sowie ihre individuelle Bewertung und systemische Evaluation" (Arnold, 2001a) angesehen. Wesentlich weiter gehen die US-amerikanischen Standards zur Lehrerkompetenz im Bereich der Leistungsbeurteilung (Standards for Teacher Competence in Educational Assessment of Students), wie sie als Richtlinien von der American Federation of Teachers 9 , dem National Council on Measurement in Education 10 und der National Education Association 11 vorgelegt wurden 12 :
1.
Lehrer sollen aus dem verfügbaren Methodenarsenal jene Diagnoseverfahren auswählen können, die für
2.
Lehrer sollen Diagnoseverfahren entwickeln können, die für anstehende Unterrichtsentscheidungen
3.
Lehrer sollen fähig sein, sowohl von Testexperten professionell konstruierte als auch unterrichtsbezogene,
4.
Lehrer sollen fähig sein, pädagogisch-diagnostische Informationen (a) in pädagogischen Entscheidungen,
anstehende Unterrichtsentscheidungen angemessen sind. angemessen sind. von Lehrern entwickelte Diagnoseverfahren anzuwenden, auszuwerten und zu interpretieren. die einzelne Schüler betreffen, (b) für die Planung ihres Unterrichts, (c) im Rahmen der Curriculumentwicklung und (d) in Schulentwicklungsprozessen zu nutzen. 5.
Lehrer sollen fähig sein, valide Verfahren der zusammenfassenden Beurteilung von Einzelbewertungen zu entwickeln (z.B. als Zensierungsmodell).
9 10 11 12
http://www.aft.org http://www.ncme.org http://www.nea.org http://www.unl.edu/buros/bimm/html/article3.htm
122
Lehrerpersönlichkeit und Professionsstandards
~>
6.
Diagnoseergebnisse sollen von Lehrern in verständlicher Weise den Schülern, Eltern oder anderen Laienpersonen mitgeteilt werden können.
7.
Lehrer sollen fähig sein, ethisch inakzeptable oder ungesetzliche oder in anderer Weise unangemessene Diagnoseverfahren bzw. eine in dieser Weise problematische Anwendung von Verfahren zu erkennen.
Kasten 19: Standards for Teacher Competence in Educational Assessment of Students (Übersetzung: A. Helmke)
Ergänzend hierzu sind unten die Leitthemen der Competency Standards in Student Assessment for Educational Administrators abgedruckt, die von vier wichtigen Institutionen entwickelt
wurden: American Association of School Administrators 13 , National Association of Elementary School Principals 14 , National Association of Secondary School Principals 15 und National Council on Measurement in Education 16 : ~
„Have a working level of competence in the Standards for Teacher Competence in Educational Assessment of
~
Know the appropriate and useful mechanics of constructing various assessments.
~
Understand and be able to apply basic measurement principles to assessments conducted in school settings.
~
Understand the purposes (e.g., description, diagnosis, placement) of different kinds of assessment (e.g.,
Students.
achievement, aptitude, attitude) and the appropriate assessment strategies to obtain the assessment data needed for the intended purpose. ~
Understand the need for clear and consistent building- and district-level policies an student assessment.
~
Understand and express technical assessment concepts and terminology to others in nontechnical but correct ways.
~
Understand and follow ethical and technical guidelines for assessment.
~
Reconcile conflicting assessment results appropriately.
~
Recognize the importance, appropriateness, and complexity of interpreting assessment results in light of students' linguistic and cultural backgrounds and other out-of-school factors in light of making accommodations for individual differences, including disabilities, to help ensure the validity of assessment results for all students.
~
Ensure that assessment and information technology are employed appropriately to conduct student assessment.
~
Use available technology appropriately to integrale assessment results and other student data to facilitate
~
Judge the quality of an assessment strategy or program used for decision making within their jurisdiction."
students' learning, instruction, and performance.
13 14 15 16
http://www.aasa.org http://www.naesp.com http://www.nassp.org http://www.ncme.org
123
Diagnostische Expertise
Gemessen an der offenkundig großen Bedeutung der pädagogischen Diagnostik in der Schulpraxis, spielt dieser Bereich in der deutschen universitären Lehramtsausbildung eine völlig untergeordnete Rolle. Arnold (2001b) weist darauf hin, dass nur unter extrem günstigen Umständen (sehr hoher obligatorischer Anteil erziehungswissenschaftlicher Elemente am Studium von einer (quantitativ) halbwegs zufriedenstellenden Ausbildung die Rede sein kann. Dieses massive Versäumnis kann auch von der 2. Phase der Lehrerausbildung nicht kompensiert werden, zumal diese ohnehin überfrachtet ist. Auch deshalb wird dem Bereich der diagnostischen Expertise in diesem Buch viel Raum gegeben.
Reflexionsaufgabe 34: Diagnostische Ausbildung
A
Bevor Sie weiterlesen: Glauben Sie, eine gute diagnostische Ausbildung erhalten zu haben? Sind Sie z. B. mit Gütekriterien und Verzerrungstendenzen diagnostischer Urteile vertraut? Wenn nein: Welche Strategien haben Sie entwickelt, um dieses Defizit zu kompensieren?
3.6.3 Gütekriterien diagnostischer Urteile
Im Rahmen von Schule und Unterricht fallen zahlreiche diagnostische Leistungen an, die mit ganz unterschiedlichen Zielsetzungen verknüpft sind. Innerhalb der Pädagogischen Diagnostik können nach Ingenkamp (1988) zwei grundlegende Aufgabenstellungen - Diagnostik zur Erteilung von Qualifikationen und Diagnostik zur Verbesserung des Lernens - unterschieden
werden. Beide Aufgaben stellen unterschiedliche Anforderungen an die Qualität der Diagnosen. Insbesondere dann, wenn es um die Erteilung von Qualifikationen geht (dazu zählen natürlich im weiteren Sinne auch Übergangs- oder Zulassungsentscheidungen), müssen die diagnostischen Urteile fair und genau sein und daher die in der Diagnostik gebräuchlichen Gütekriterien erfüllen. Dies sind vor allem Objektivität, Reliabilität und Validität. Diese Anforderungen gelten prinzipiell natürlich auch für Diagnosen zur Verbesserung des Lernens. Hier sind die Anforderungen aber oft bescheidener, weil einzelne punktuelle Diagnosen den Unterricht zunächst nur kurzfristig beeinflussen und erst in der Häufung einschneidende Konsequenzen für die Schülerinnen und Schüler haben können. Außerdem ist es hier meist wichtiger, eine schnelle, für den weiteren Unterricht nutzbare Orientierung zu bekommen, als die Güte der Diagnosen mit oft unverhältnismäßig großem Aufwand zu optimieren. Zur Frage, ob die Gütekriterien in gleichem Maße auch für diagnostische Lehrerurteile während des Unterrichtens gelten, wird in Abschnitt 3.6.4 detaillierter Stellung genommen. 3.6.3.1
Sie ist dann gegeben, wenn verschiedene Urteiler zu ein und demselben Ergebnis kommen (z.B. bei Kreuzkorrekturen). Wie wenig objektiv Noten und Schätzurteile von Lehrkräften z.B. bei der Beurteilung von Schüleraufsätzen - sind, ist seit Langem bekannt; Ingenkamp hat hier Pionierarbeit geleistet (1995). Aber Vorsicht: Hundertprozentige Objektivität (dies hieße: i24
Lehrerpersönlichkeit und Professionsstandards
Alle Lehrkräfte stimmen bei der Beurteilung einer Arbeit oder eines Schülermerkmals perfekt überein) ist nicht automatisch gleichbedeutend mit Korrektheit und sachlicher Richtigkeit; es gibt auch die Möglichkeit kollektiven Irrtums. 3.6.3.2 Reliabilität
Reliabel (oder zuverlässig) ist ein Urteil dann, wenn es sich - vorausgesetzt, das zu beurteilende Schülermerkmal bzw. die Schülerleistung ist im Zeitverlauf stabil geblieben - bei wiederholten Beurteilungen nicht ändert. Probe aufs Exempel: wiederholte Korrektur und Bewertung der gleichen Serie von Arbeiten (Aufsätze, Klassenarbeiten, Hausarbeiten) einige Monate später. Neben der Wiederholungs-(Retest-)Reliabilität gibt es noch andere Arten der Reliabilität, die hier aber nicht behandelt werden sollen (vgl. hierzu Ingenkamp & Lissmann, 2005). 3.6.3.3 Validität
Validität (oder Gültigkeit) bedeutet, dass sich das Urteil auch tatsächlich auf das Merkmal oder Konstrukt bezieht, das Gegenstand der Beurteilung sein soll. Beispiel: Beansprucht ein Fragebogen, ein Personmerkmal wie „Lernmotivation" zu messen, dann sollten der Fragebogen und die Erhebungssituation so angelegt sein, dass nicht „soziale Erwünschtheit" gemessen wird, das heißt die Tendenz, sich möglichst gut darzustellen. Je nach Ziel der Diagnose werden verschiedene Validitäten unterschieden. Die wichtigsten sind die Übereinstimmungs- und die prognostische Validität. Hier liegen die Hauptprobleme der Pädagogischen Diagnostik im Bereich von Schule und Unterricht. Eine hohe Übereinstimmungsvalidität weist ein Lehrerurteil dann auf, wenn es mit anderen Messungen, die das gleiche Merkmal zu erfassen beanspruchen, eng zusammenhängt. Oft wird dies ein Testbefund sein. Es ist allerdings ein verbreiteter Kurzschluss, Testleistungen automatisch als „wahren Wert", als unbestreitbar valides Außenkriterium hinzustellen, und das Ausmaß der Abweichung des Lehrerurteils vom Testbefund als „Fehler" zu charakterisieren. Dabei wird oft außer Acht gelassen, dass sich Testleistungen in mehrfacher Hinsicht von Zeugnisnoten unterscheiden: Sie betreffen meist nur Teilbereiche der zu prüf enden Kompetenz (z.B. im Englischunterricht häufig nur schriftliche Leistungen), Tests werden oft unter Bedingungen des Zeitdrucks durchgeführt, und die Testleistung kann massiv von individuellen Besonderheiten beeinflusst sein: beispielsweise negativ von akuter Leistungsangst oder positiv von „Testschlauheit" oder test wiseness (Anwenden von Strategien, die das Testergebnis maximieren: von intelligenten Täuschungen bis hin zum nutzenmaximierenden Vorgehen bezüglich Reihenfolge der Aufgabenbearbeitung und cleveren Ratetechniken bei Multiple-ChoiceAufgaben). Nicht weniger relevant ist die prognostische Validität von Lehrerurteilen, die bei Schullaufbahnempfehlungen (z.B. in manchen Bundesländern nach Ende der Grundschule) von großer Bedeutung ist - auch wenn Eltern nicht gezwungen sind, sich daran zu halten. Auch hier wäre es ein Fehler, wenn ein nur mittelhoher Zusammenhang zwischen prognostischem Urteil der Lehrkräfte (Schullaufbahnempfehlung) und dem realen späteren Schulerfolg oder -misserfolg als Beleg für mangelnde diagnostische Lehrerkompetenz interpretiert würde. Eine sehr hohe 125
Diagnostische Expertise
Vorhersagevalidität heißt ja nichts anderes als: Künftiger Schulerfolg hängt ausschließlich von den aktuell vorhandenen Merkmalen der Schülerperson ab. Mögliche Veränderungen der Schülermerkmale werden dabei nicht in Rechnung gestellt; ebenso bleiben Faktoren wie die Qualität des Unterrichts, das Leistungsklima in der künftigen Klasse und die außerunterrichtliche Förderung unberücksichtigt. Massive Einschränkungen der Validität diagnostischer Lehrerurteile können aus systematischen Urteilstendenzen resultieren; man spricht auch von Urteilsverzerrungen. Hierzu wird in Kapitel 3.6.9 mehr gesagt.
A
Reflexionsaufgabe 35: Maßnahmen zur Sicherung von Gütekriterien Kennen Sie aus Ihrer beruflichen Praxis Szenarien, Maßnahmen oder Methoden, mit deren Hilfe die Einhaltung der oben genannten Testgütekriterien geprüft oder sichergestellt werden kann?
3.6.4 Gelten die psychometrischen Gütekriterien wirklich für Lehrkräfte?
Die oben beschriebenen Gütekriterien für diagnostische Leistungen beziehen sich ursprünglich auf psychologische Testverfahren. Ist es realistisch und angemessen, für Urteilsleistungen der Lehrkräfte im Schulalltag den gleichen Maßstab anzulegen? Weinert und Schrader (1986, S. 18 f.) kommen in dieser Frage zu der folgenden Einschätzung:
Lehrerdiagnosen während des Unterrichts brauchen im Gegensatz zu landläufigen Überzeugungen keineswegs besonders genau sein, wenn sich der Diagnostiker der Ungenauigkeit, Vorläufigkeit und Revisionsbedürftigkeit seiner Urteile bewusst ist. Es gibt für die Unterrichtsarbeit im Klassenzimmer keine didaktischen Modelle, keine speziellen Lehrmethoden und keine rationalen Aufgabenzuweisungen an die Schüler, die durch extreme Genauigkeit der herangezogenen diagnostischen Informationen wesentlich verbessert werden könnten. Das Gleiche gilt natürlich in verstärktem Maße für die häufig geforderte Übereinstimmung der Lehrerurteile mit vergleichbaren Testwerten. Wichtig allein ist eine ungefähre Diagnose des Lehrers und ihre permanente Überprüfung im Verlauf des Unterrichts. Lehrerdiagnosen während des Unterrichts sollten sensitiv gegenüber Verhaltens-, Wissens- und Motivationsänderungen der Schüler und darauf einwirkender unterrichtlicher Maßnahmen sein (Cooper & Good, 1983). Das ist der wichtigste, von Cronbach (1975b) postulierte diagnostische Imperativ für den Lehrer. Von pädagogischer Bedeutsamkeit ist also weniger die Zustands- als die Verlaufsdiagnostik mit besonderer Beachtung erwartungskonformer und erwartungswidriger Veränderungen und Nicht-Veränderungen der Schulleistungen. Lehrerdiagnosen müssen verschiedene Maßstäbe berücksichtigen. Neben sozial- oder normorientierten (bei Lehrern also vorwiegend schulklassenbezogen) und kriterien- oder lehrzielorientierten Bezugssystemen hat sich vor allem die Verwendung eines individuumzentrierten Maßstabs als pädagogisch fruchtbar erwiesen. Der Lehrer registriert und bewertet dabei die Leistungen eines Schülers auf der Basis der früher erzielten Ergebnisse
126
~>
Lehrerpersönlichkeit und Professionsstandards
a
und der dadurch erkennbaren Leistungsveränderungen. Besonders die von Rheinberg (1980) vorgelegten empirischen Befunde demonstrieren den unterrichtspraktischen Nutzen dieser Beurteilungsperspektive. Lehrerdiagnosen müssen sich nicht durch neutrale Objektivität, sondern durch pädagogisch günstige Voreingenommenheiten auszeichnen. Diese Forderung nach einer systematischen Verzerrung der Wahrnehmung und Beurteilung von Schülern durch ihre Lehrer wird bei vielen psychometrisch eingestellten Wissenschaftlern auf Zweifel und Widerspruch stoßen. Wäre es nicht vorzuziehen, Lehrer könnten sich möglichst genau und zuverlässig Urteile über die Schüler bilden und daraus geeignete pädagogische Schlussfolgerungen ziehen? Das ist zweifellos richtig! Allerdings handelt es sich bei dieser Forderung um eine jener wohlklingenden Maximen, deren Nachteil in ihrer minimalen psychologischen Realisierungsmöglichkeit besteht. Unter den Belastungen des Unterrichts sind nämlich bei Lehrern situationsabhängige Erlebnisse, Urteile über andere und die Regulation eigener Handlungen keineswegs analytisch getrennt, sondern aufs Engste miteinander verknüpft. Wenn dem aber so ist, dann erscheint es unter praktischen Gesichtspunkten günstig, wenn der Unterrichtende im Vergleich zu den „wahren Werten" die Leistungsunterschiede zwischen den Schülern einer Klasse mäßig unterschätzt, die Leistungsfähigkeiten der einzelnen Schüler leicht überschätzt, ihre Erfolge subjektiv durch Begabung und ihre Misserfolge durch mangelnde Anstrengung oder ineffektiven Unterricht erklärt und sich selbst auf diese Weise vielfältige und immer neue pädagogische Handlungsanreize erschließt. Der Lehrer wird sich unter dieser Voraussetzung auch dann noch um Lernfortschritte bei den Schülern intensiv bemühen, wenn er aufgrund objektiver Diagnosen vielleicht längst resigniert hätte. Pädagogische Erfolge werden sich dadurch natürlich nicht immer, aber häufig einstellen, weil - ausreichende didaktische Kompetenz bei den Lehrern unterstellt - wahrscheinlich nichts so motivierend und erfolgreich ist wie eine leicht optimistische Erfolgserwartung. Als pädagogisch ungünstig müssen demgegenüber diagnostische Voreingenommenheiten von Lehrern angesehen werden, die häutig zu einer Überschätzung der Leistungsdifferenzen in der Klasse, zu einer Unterschätzung der individuellen Lernmöglichkeiten und zu einer subjektiven Erklärung von Misserfolgen durch mangelnde Begabung und von Erfolgen durch Zufall oder besondere Anstrengung führen.
Kasten 20: Warum Lehrerurteile nicht immer genau sein müssen (Weinert & Schrader, 1986, S. 18 f.) 3.6.5 Defizitäre diagnostische Kompetenz von Lehrkräften bei PISA 2000
Zu den aufsehenerregenden Ergebnissen von PISA 2000 zählt die dort gefundene defizitäre diagnostische Kompetenz von Lehrkräften. Was wurde eigentlich bei PISA genau erhoben und analysiert? Basis war die Befragung der für die Durchführung des PISA-Tests zuständigen Schulkoordinatoren (ausschließlich in Schulen des Bildungsganges Hauptschule). Diese wurden darum gebeten, sich bei den Klassen- bzw. Deutschlehrkräften danach zu erkundigen, welche der Schülerinnen und Schüler der PISA-Stichprobe schwache Leser seien. Dies wurde wie folgt definiert: „Als schwache Leser werden jene Schülerinnen und Schüler aus Hauptschulen bzw. Hauptschulzweigen gekennzeichnet, deren Lesefähigkeit so gering ausgeprägt ist, dass sich dies als ernsthaftes Problem beim Übergang ins Berufsleben erweisen wird. Die Lesefähigkeit dieser Schülerinnen und Schüler liegt deutlich unterhalb der Lesetä127
Diagnostische Expertise
higkeit gleichaltriger Schülerinnen und Schüler derselben Schulform. " (Artelt, Stanat, Schneider & Schietele, 2001b, S. 119)
Im Ergebnis blieben die meisten schwachen Leserinnen und Leser von den Lehrkräften unerkannt. Tabelle 4 zeigt noch einmal systematisch, welche Urteile abzugeben waren und um welche Kombination der beiden Dimensionen „Lehrerurteil" (schwacher Leser/kein schwacher Leser) und „PISA-Ergebnis" (schwacher Leser/kein schwacher Leser) es eigentlich geht. Die Zahlen stehen für den Anteil von Schülerinnen und Schülern unterhalb bzw. innerhalb der Kompetenzstufen, die bei der Befragung von ihren Lehrkräften als „schwache Leser" identifiziert wurden (Baumert, Jürgen, Klieme, Neubrand, Prenzel, Schiefele, Schneider, Stanat, Tillmann & Weiß, 2001). Leistung im PISA-Test unterhalb von Kompetenzstufe 1 Leh reru rtei 1
schwacher Leser
oberhalb von Kompetenzstufe 1
Summe
2.5
2.6
5.1
kein schwacher Leser
75.0
19.9
94.9
Summe
77.5
22.5
100
Tabelle 4: Die PISA-2000-Ergebnisse zur Diagnose der Lesekompetenz
Korrekt bzw. genau ist das Lehrerurteil in zwei der vier Felder, das heißt gemäß PISA: schwache Leser werden als solche identifiziert (linkes oberes Feld: 2.5 % ) und nichtschwache Leser ebenfalls (rechtes unteres Feld: 19.9 %). Daneben gibt es zwei Typen von Urteilsfehlern: (a) schwache Leser laut PISA werden nicht erkannt, ihre Fähigkeit wird also überschätzt (75 %), und (b) Leser, deren Lesekompetenz laut PISA nicht schwach ist, werden seitens der Lehrkräfte aber als schwache Leser eingeschätzt (2.6 %). Im ersten Fall spricht man in der statistischen Entscheidungstheorie von einem Fehler zweiter Art (ein tatsächlich vorhandener Effekt bzw. ein Signal wird nicht erkannt, miss), im zweiten Fall tritt ein Fehler erster Art auf (ein Effekt wird angenommen, obwohl er tatsächlich nicht vorhanden ist, false alarm).
A
Reflexionsaufgabe 36: Gründe für die Fehldiagnosen bei PISA Können Sie sich Gründe vorstellen, die zu der Fehleinschätzung geführt haben?
Bei der Bewertung des Ergebnisses muss man berücksichtigen, dass die tatsächlichen Quoten der „schwachen" Leser (77.5 %) und der „normalen" Leser (22.5 %) unterschiedlich groß sind. 128
Lehrerpersönlichkeit und Professionsstandards
Das Hauptproblem ist also, dass aus Sicht der beurteilenden Lehrkräfte die „Basisrate" unterschätzt wird: Sie schätzen, dass insgesamt 55 Leser schwach sind, in Wirklichkeit (PISA-Test) sind es aber 426. Im Hinblick auf die Förderungsbedürftigkeit ist vor allem der Fehler zweiter Art (unerkannte Defizite) von Bedeutung; und nur er wurde von den PISA-Autoren entsprechend herausgestellt. Auf den ersten Blick mutet dieses Ergebnis spektakulär an: Knapp 90 Prozent derjenigen Schülerinnen und Schüler, die sich laut PISA-Testergebnis noch unterhalb der Kompetenzstufe 1 befanden (und damit per definitionem als Risikogruppe gelten), wurden nicht als solche identifiziert, sondern als unauffällig eingeschätzt. Schaut man sich das von den Lehrkräften verlangte Urteil jedoch etwas genauer an, dann wird klar, dass hier eine komplexe diagnostische Aufgabe zu lösen war: Zwar wurde für sie definiert, was ein „schwacher Leser" ist, aber das Urteil war aus mindestens drei Gründen schwierig: a. Sie waren mit der der Bildung von Kompetenzstufen zugrunde liegenden Skalierung nicht vertraut. b. Die Aussage „ernsthaftes Problem beim Übergang ins Berufsleben" ist relativ unbestimmt, d. h., sie lässt sehr unterschiedliche Sichtweisen zu. Zudem setzt die Beurteilung eine zutreffende Orientierung über das Niveau der „Lesefähigkeit gleichaltriger Schülerinnen und Schüler derselben Schulform" voraus. c. Die Lehrkräfte sollten die Fähigkeit („Kompetenz") der betreffenden Schülerinnen und Schüler einschätzen. Zugrunde gelegt wurden jedoch die Ergebnisse der resultierenden Testleistung („Performanz"). Die tatsächliche Leistung kann aber unter Umständen durch mangelnde Anstrengung oder andere motivationale Defizite beeinträchtigt sein. Man würde PISA jedoch Unrecht tun, wenn man die Schwierigkeit der diagnostischen Aufgabe kritisieren und die Tragfähigkeit der daraus abgeleiteten Folgerungen infrage stellen würde; die Autoren sagen ja selbst, dass „PISA keine umfassende Erhebung der diagnostischen Kompetenz von Lehrkräften beinhaltet" (Artelt et al., 2001b, S. 120) und schlagen vor, die Diagnose der Lesefähigkeiten von Schülerinnen und Schülern unter die Lupe zu nehmen. 3.6.6 Empirischer Forschungsstand zur diagnostischen Lehrerkompetenz
In der empirischen Schulforschung ist der diagnostischen Kompetenz von Lehrkräften seit den frühen Arbeiten von Gage (1958, 1968) erstaunlicherweise nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Abgesehen von der Identifikation hochbegabter Schüler (Wild, K.-P., 1992; Hany, 1992) haben sich neben einigen wenigen neueren amerikanischen Studien (Coladarci, 1986; Hoge, 1983; Hoge & Cudmore, 1986) insbesondere die von Franz E. Weinert initiierten Arbeiten am MPI für psychologische Forschung (Schrader & Helmke, 1987; Schrader, 1989; Weinert & Schrader, 1986; Weinert & Lingelbach, 1995) sowie die Forschungsprojekte der Landauer Forschungsgruppe SALVE (Hosenfeld, Helmke & Schrader, 2002b) und VERA (Helmke, Hosenfeld & Schrader, 2003, 2004; Schrader, Helmke, Hosenfeld, Halt & Hochweber, 2006) mit diesen Fragen beschäftigt. Weitere Arbeiten stammen von Arnold (1999) und Spinath (2005). In einer dieser Arbeiten (Schrader & Helmke, 1987), die auf der Münchner Studie basiert, konnte gezeigt werden, dass der leistungssteigernde Effekt von Strukturierungshilfen von der 129
Diagnostische Expertise
diagnostischen Kompetenz (hier: gute Orientierung über Leistungsunterschiede zwischen den
Schülern) abhängt: Ist die diagnostische Kompetenz hoch und werden viele Strukturierungshilfen gegeben, ist das für den Lernerfolg (Leistungssteigerung im Fach Mathematik) optimal. Dagegen ist die Koppelung von häufigen Strukturierungshilfen mit unterdurchschnittlicher diagnostischer Kompetenz ungünstig, und als besonders leistungsabträglich stellte es sich heraus, wenn trotz vorhandener diagnostischer Kompetenz nur wenige didaktischen Förder- und Strukturierungsmaßnahmen ergriffen wurden. Lernerfolg
•
geringe Strukturierung
starke Strukturierung
4
3
2
0
niedrige Diagnosekompetenz
hohe Diagnosekompetenz
Abbildung 13: Lernerfolg (senkrechte Achse) in Abhängigkeit vom Ausmaß der Strukturierung und der Diagnosekompetenz der Lehrkräfte (Weinert & Helmke, 1987b)
Es zeigt sich somit, dass von einer einfachen linearen Beziehung zwischen diagnostischer Kompetenz und Lernerfolg der Schüler nicht die Rede sein kann; vielmehr scheint die Diagnosekompetenz so etwas wie eine Katalysatorvariable zu sein. In der Schulstudie SALVE (Hosenfeld, Helmke & Schrader, 2002), in der es - wie in der Münchner Studie - um die unterrichtlichen und individuellen Bedingungen der Lern- und Motivationsentwicklung bei Schülern der 5. und 6. Klassenstufe ging, wurde die Rolle der diagnostischen Kompetenz ebenfalls intensiv untersucht. Um nur ein Beispiel zu nennen: Nach einer Unterrichtsstunde (die auch videografiert wurde) wurden die Schüler zu der vorangegangenen Stunde befragt, u. a. ob der Unterricht für sie „ viel zu schwierig", „etwas zu schwierig", „gerade richtig", „etwas zu leicht" oder „viel zu leicht" gewesen sei. Aus den Antworten aller Schüler einer Klasse resultiert dann eine prozentuale Verteilung über die fünf Kategorien, wobei für das in Abbildung 3 berichtete Ergebnis die Kategorien „viel zu leicht" und „etwas zu leicht" zu einem Index der Unterforderung zusammengefasst wurden. Parallel dazu wurden die Lehrkräfte darum gebeten einzuschätzen, wie denn wohl ihre Schüler die Schwierigkeit der soeben gehaltenen Mathematikstunde einschätzen würde. Das Ergebnis zeigt Abbildung 14: 130
Lehrerpersönlichkeit und Professionsstandards
%
Vergleich von Lehrer- und Schülereinschätzungen D Lehrerschätzung: Unterforderung •Schülerangaben: Unterforderung
Abbildung 14: Lehrer- und Schülerangaben zur Unterforderung durch den Mathematikunterricht, geordnet nach dem Unterschied zwischen Schüler- und Lehrerangaben (Quelle: Hosenfeld, 1. et al., 2002b)
Zwei Aspekte dieses Ergebnismusters erscheinen bemerkenswert: a. Die Lehrkräfte schätzen das Vorkommen von subjektiver Unterforderung seitens der Schülerinnen und Schüler erheblich niedriger ein als diese selbst (bis auf die zwei Klassen am äußersten rechten Rand sind die Lehrer-Balken fast durchweg niedriger als die Schüler-Balken). b. Dies geht so weit, dass in einigen Klassen aus Lehrersicht kein einziger Schüler durch den Unterricht unterfordert ist - in krassem Gegensatz zu den Einschätzungen der Schüler selbst.
Reflexionsaufgabe 37: Unterforderung aus Lehrer- und Schülersicht
A ~
Wie erklären Sie sich die unterschiedlichen Wahrnehmungen? Welche Fehleinschätzungen auf Lehrer- und Schülerseite könnten dieses Ergebnis erklären?
Im Projekt VERA ging es darum, die Schwierigkeiten von Aufgaben einzuschätzen, und zwar in den Bereichen Leseverstehen und Mathematik. Hier die Ergebnisse für Mathematik; Datengrundlage für die folgenden Darstellungen sind die Angaben der Lehrkräfte, welche die Aufgabenschwierigkeiten eingeschätzt haben (N = 2124). 131
Diagnostische Expertise
Verteilung der Korrelationskoeffzienten in Mathematik %
Abbildung 15: Verteilung der Korrelationskoeffizienten: Ähnlichkeit zwischen geschätzten und empirischen Aufgabenschwierigkeiten (fachdidaktischer Aspekt der Diagnosegenauigkeit) im Bereich Mathematik; Angaben in Prozent
Die Ergebnisse zeigen, dass der überwiegende Teil der Lehrpersonen akzeptable Ergebnisse erzielt, das heißt Ähnlichkeitskoeffizienten von .50 und höher aufweist. Bei ca. zehn Prozent der Lehrpersonen sind die Zusammenhänge zwischen geschätzter und realer Aufgabenschwierigkeit allerdings so niedrig (teilweise sogar negativ), dass es aussieht, als sei das Ergebnis durch Raten zustande gekommen. 3.6. 7 Dimensionen diagnostischer Lehrerurteile
Die bei PISA 2000 erfasste diagnostische Leistung deckt nur einen kleinen Teil der möglichen und im Alltag von Lehrkräften geforderten diagnostischen Leistungen ab. Um die Bandbreite und den Facettenreichtum pädagogisch-psychologischer Diagnosen zu veranschaulichen, werden im Folgenden einige Dimensionen genannt: Person- versus Aufgabenmerkmale. Diagnostische Urteile müssen sich nicht nur auf Merk-
male von Personen beziehen, sondern können ebenso Aufgabenmerkmale (z.B. ihre Schwierigkeit oder typische Fehler) zum Gegenstand haben. Letztlich geht es auch hier um eine Beurteilung der Leistungen von Personen bei der Bewältigung bestimmter Anforderungen. Um die Genauigkeit der Diagnose von Aufgabenschwierigkeiten zu messen, setzt man die Lehrerurteile mit den empirisch ermittelten, tatsächlichen Aufgabenschwierigkeiten in Beziehung. Fachlicher oder überfachlicher Bezug. Lehrkräfte müssen sich sowohl über fachliche Leis-
tungen als auch über nichtfachliche lern- und leistungsrelevante Merkmale (Schlüsselkompetenzen) ein Bild machen, z.B. über Leistungsangst. Dass dies für Lehrkräfte - und ebenso für Eltern - eine schwierige Aufgabe darstellt, haben Untersuchungen in der Vergangenheit gezeigt (Helmke & Schrader, 1989, 1990). 132
Lehrerpersönlichkeit und Professionsstandards
Ebene (Individuum vs. Klasse). Lehrkräfte unterrichten in aller Regel Gruppen, das heißt Klas-
sen oder Kurse. Dementsprechend liegt es nahe, nicht nur einzelne Schülerinnen und Schüler, sondern auch die Leistungsstärke der gesamten Klasse zum Gegenstand diagnostischer Urteile zu machen. Für eine faire Beurteilung der Schülerleistungen ist es sogar unabdingbar, zumindest grob darüber orientiert zu sein, ob die in einem bestimmten Fach unterrichtete Klasse verglichen mit dem Leistungsniveau aller Klassen dieses Bildungsganges - am unteren Ende, im Durchschnittsbereich oder an der Spitze liegt. Status versus Potenzial. Diese Unterscheidung ist verwandt mit derjenigen zwischen Dia-
gnose und Prognose. Die Diagnose des Potenzials einer Person ist nichts anderes als die Einschätzung, was diese Person unter günstigen Umständen, z.B. bei strukturierter und dosierter Hilfestellung (scaffolding) zu leisten imstande wäre. Zugrunde liegt hier eine dynamische Perspektive: Zu beurteilen ist nicht der Ist-Stand, also die aktuelle Leistung, sondern der maximal erreichbare Leistungsstand. In ähnlicher Weise kann die geforderte Diagnoseleistung darin bestehen, rückwirkend die Leistungsentwicklung eines Schülers (z.B. während des vorangegangenen Schuljahres) in einem Fach zu diagnostizieren. Selbst- und Fremddiagnose. Diagnostische Urteile beziehen sich in der Regel auf andere
Personen. Aber auch das eigene Verhalten kann Gegenstand der (Selbst- )Diagnose sein (vergleiche hierzu Kapitel 3.6. 11). Bezugsnormen des diagnostischen Urteils. Von Urteils„genauigkeit" zu sprechen, hat über-
haupt nur dann Sinn, wenn es zur Bewertung der Güte oder Genauigkeit des diagnostischen Urteils einen objektiven Maßstab, ein gültiges Kriterium, gibt. Im Falle kognitiver Kompetenzen (wie der Lesekompetenz) werden dies in aller Regel Tests sein, bei affektiven und motivationalen Merkmalen zieht man Selbsteinschätzungen der Betroffenen heran. 3.6.8 Drei Komponenten der Urteilsgenauigkeit
Bei der Beschreibung der Genauigkeit diagnostischer Urteile werden drei voneinander unabhängige Komponenten unterschieden: Niveau-, Streuungs- und Rangordnungskomponente (Schrader & Helmke, 1987). Um dies zu veranschaulichen, stelle man sich am einfachsten vor, dass es darum ginge, die Lesekompetenz aller Schülerinnen und Schüler einer Klasse zu diagnostizieren, wie es bei PISA 2000 von Lehrkräften erwartet wurde. Die Niveaukomponente bezieht sich dann darauf, ob die Lehrkraft im Mittel die Schülerleistungen zu hoch, gerade richtig oder zu niedrig einschätzt. Dazu würde man den Mittelwert der Schülerleistungen berechnen (z.B. wie viele Aufgaben einer Testbatterie im Durchschnitt gelöst wurden) und diesen Wert mit dem Mittelwert der korrespondierenden Lehrereinschätzungen vergleichen. Gibt es systematische Tendenzen der Unter- oder Überschätzung, so können hierfür sehr unterschiedliche Gründe maßgeblich sein, z.B. der Strenge- oder Mildeeffekt oder die Orientierung an inadäquaten Vergleichsmaßstäben (z.B. der klasseninternen Leistungsverteilung anstelle des Kriteriums). Die Streuungskomponente bezieht sich auf den Vergleich der Verteilung der tatsächlichen Aufgabenlösung durch die Schüler und der korrespondierenden Lehrerangaben. Ist der Streubereich der Lehrerangaben deutlich geringer als der der Schülerangaben (die dabei als Kri133
Diagnostische Expertise
terium angesehen werden), dann kann ebenfalls eine systematische Urteilstendenz zugrunde liegen („Tendenz zur Mitte"), die dazu führt, dass der Streubereich der Einschätzungen unangemessen reduziert ist. Aber auch das Gegenteil (Überdifferenzierung) ist denkbar. Die Rangordnungs- oder Korrelationskomponente ist das Kernstück der diagnostischen Kompetenz, weil sie die Fähigkeit umfasst, die Rangordnung bzw. Fähigkeitsabstufung zwischen verschiedenen Schülern zutreffend zu erkennen. Hierzu überprüft man mithilfe korrelativer Verfahren, wie sehr reale und geschätzte Rangordnung übereinstimmen, mit anderen Worten: wie ähnlich die von der Lehrkraft geschätzte Rangfolge der tatsächlich durch einen Test ermittelten
Rangfolge ist. Im Idealfall würden beide übereinstimmen (Korrelation von r = 1.0); im entgegengesetzten (wenngleich unrealistischen) Fall wäre die geschätzte Rangordnung die perfekte Um-
kehrung der realen (r = -1.0); gibt es keinerlei Zusammenhang zwischen beiden Messreihen (wie bei einer völlig zufälligen Beurteilung), dann ergäbe dies eine Korrelation von r
= 0.
Reflexionsaufgabe 38: Praktische Übung zu den Komponenten der Diagnosegenauigkeit
A ~
In einer Klasse von 1OSchülern haben die einzelnen Schüler in einem Test (mögliche Werte zwischen 0 und 100) die folgenden Punktzahlen erreicht: 40, 30, 60, 20, 70, 10, 80, 50, 90, 100. Versetzen Sie sich in die Position einer Lehrperson, die versucht, für jeden einzelnen Schüler einzuschätzen bzw. vorherzusagen, welches Ergebnis dieser im Test erreicht hat, ohne dieses Ergebnis vorher zu kennen. Wie könnten die Einschätzungen von Lehrern aussehen, bei denen die drei Komponenten der Urteilsgenauigkeit wie folgt ausfallen? 1. hoher positiver Wert der Niveaukomponente (Überschätzung des Niveaus) 2. Wert der Streuungskomponente kleiner als 1 (Unterschätzung der Streuung) 3. hoher positiver Wert der Rangordnungskomponente (genaue Einschätzung der Rangordnung) 4. hoher negativer Wert der Rangordnungskomponente (Einschätzung ist der tatsächlichen Rangordnung entgegengesetzt) 5. Wert der Rangordnungskomponente von (ungefähr) O(kein systematischer Zusammenhang mit der tatsächlichen Rangordnung)
~
Konstruieren Sie für jeden dieser 5 Fälle einen Satz von 1OEinschätzungen (für jeden Schüler eine), die diesen Vorgaben entsprechen.
3.6.9 Urteilstendenzen, -voreingenommenheiten und -fehler
Es gibt unterschiedliche Arten von Fehlern bei der Urteilsbildung im Allgemeinen und im Bereich der pädagogisch-psychologischen Diagnostik im Besonderen (Schwarzer, 1979; Ulich & Mertens, 1974; Kleber, 1992). Die wichtigsten und „klassischen" Urteilsfehler, über die jede
Lehrkraft im Bilde sein sollte, sollen im Folgenden thematisiert werden. Ein für die Erklärung von Urteilsfehlern - die zu reduzierter Urteilsgenauigkeit führen plausibles theoretisches Rahmenmodell ist das sogenannte Linsenmodell von Brunswik: 134
Lehrerpersönlichkeit und Professionsstandards
proximale Merkmale wacher, verständiger Gesichtsausdruck Durchsetzungsvermögen ordentliche, saubere Arbeitsweise distales Merkmal
hohe Stirn
1ntelligenz
verständige Eltern
Beurteiler
Lehrerurteil
Vater mit guter Position geordnetes Elternhaus Erledigung der Hausaufgaben Abbildung 16: Beispiel einer psychologisch nicht fundierten impliziten Persönlichkeitstheorie: Linsenmodell von Brunswik
(nach Kleber, 1992, S. 132)
In diesem Beispiel geht es darum, bei Schülern den Ausprägungsgrad ihrer Intelligenz zu beurteilen. Diese ist kein direkt beobachtbares Merkmal, sondern ein verborgenes (latentes oder distales) Merkmal, man spricht auch von einem „hypothetischen Konstrukt". Es müssen also Indikatoren herangezogen werden. Solche der Beurteilung zugrunde liegenden beobachtbaren Indikatoren können z.B. proximale (da auf beobachtbarem Verhalten basierend) Merkmale des Verhaltens, Ergebnisse von Tests, biologische Merkmale (wie Geschlechtszugehörigkeit) oder Sprachherkunft sein. Ein Verhaltensmerkmal wie das schnelle Zurechtfinden in einer neuen Situation hängt außer von der Intelligenz aber auch von anderen persönlichen Merkmalen (z.B. Vorerfahrungen) oder von situativen Faktoren ab, sodass der Zusammenhang mit der Intelligenz nicht perfekt, sondern nur mehr oder weniger wahrscheinlich ist.
A
Reflexionsaufgabe 39: Distale und proximale Merkmale im Unterrichtsalltag Überlegen Sie einmal, welche Schüler Ihrer Klasse Sie für besonders ängstlich, intelligent, kreativ (oder das Gegenteil davon) halten und worauf Sie Ihre Einschätzung stützen! Halten Sie Ihre Urteile für valide?
135
Diagnostische Expertise
Die Güte der Diagnose ist beeinträchtigt, wenn der Urteiler unpassende Indikatoren verwendet (Merkmalsverwertung), die keinen oder nur einen geringen Vorhersagewert für das Konstrukt „Intelligenz" haben (Merkmalsvalidität). Merkmalsverwertung betrifft dabei die Frage, welche Indikatoren der Urteiler für die Urteilsbildung heranzieht und wie er diese gewichtet. Merkmalsvalidität bezieht sich darauf, ob und in welchem Maße die beobachteten („proxima-
len") Merkmale gültige (valide) Indikatoren für das zu beurteilende Konstrukt (das „latente" Merkmal, hier die Intelligenz) sind. Stützt sich der Urteiler bei seinen Urteilen also auf eine hohe Stirn als Anzeichen für Intelligenz, so benutzt („verwertet") er ein Merkmal, das tatsächlich natürlich kein valider Indikator für Intelligenz ist, und die Genauigkeit seines Urteils wird dann beeinträchtigt sein. Oder: Wenn die Lehrkraft als beobachtetes Merkmal für Lerninteresse lediglich heranzieht, ob sich jemand spontan meldet, dann stützt sie sich auf ein Merkmal, das kein guter (valider) Indikator für Lerninteresse ist, während sie validere Merkmale (z.B. freiwillige Beschäftigung mit bestimmten Lerngegenständen) nicht berücksichtigt. Das Bild der „doppelten Linse" bedeutet: Zunächst muss man sich dem Konstrukt Intelligenz widmen, es definieren und auffächern, also Indikatoren suchen. Diese werden nach der Erhebung von empirischen Daten (z.B. Verhaltensbeobachtung) wieder zu einem Ganzen (der Aussage zum Konstrukt) zusammengesetzt. Hier einige bekannte Urteilstendenzen: ~
Tendenz zur Mitte. Extreme Urteile werden vermieden, es ergibt sich eine Tendenz zu Ur-
teilen im mittleren Bereich (z.B. Noten, oder Antwortkategorien bei Multiple-Choice-Items). Beispiel: Eine Lehrerin gibt niemals eine 1, aber auch niemals eine 5 oder 6. ~
Tendenz zu extremen Urteilen. Das Gegenteil zur Mittentendenz: Urteile in der Mitte der
Notenskala oder innerhalb vorgegebener Antwortkategorien werden vermieden. ~
Milde-Effekt. Die Schüler werden durchweg günstiger beurteilt, als es von der Sache her
angemessen wäre, bzw. günstiger, als sie von Vergleichspersonen (anderen Lehrkräften) beurteilt werden. ~
Referenzfehler. Anstelle der Orientierung an einem objektiven Kriterium (welche Lernziele
wie gut erreicht wurden, welche Kompetenzen beherrscht werden) orientiert sich die Lehrkraft an einer anderen Bezugsnorm, etwa an der Leistungsposition innerhalb der Klasse. Dies erschwert die Vergleichbarkeit von Noten über Parallelklassen hinweg oder macht sie gar unmöglich. ~
Halo-Effekt (auch Hof-Effekt oder Heiligenschein-Effekt genannt). Aufgrund nur weniger
Hinweisreize (Aussehen, Kleidung, Dialekt, Sprachherkunft) wird in wertender Weise auf globale Merkmale der Schülerpersönlichkeit geschlossen. Beispiel: Wer den Unterricht schwänzt, dem Lehrer, der Lehrerin nicht zuhört, ist „faul" oder hat einen „schlechten Charakter". Oder: Sauber und ordentlich geschriebene Aufgaben werden auch inhaltlich besser bewertet. ~
Logischer Fehler. Von der Ausprägung eines bestimmten Schülermerkmals (z.B. Aufgeregt-
heit in Leistungssituationen) wird auf ein anderes Schülermerkmal geschlossen, ohne dass dies empirisch gerechtfertigt wäre. Beispiel: Wer Mängel in der Rechtschreibung aufweist, ist nicht intelligent. 136
Lehrerpersönlichkeit und Professionsstandards
Reflexionsaufgabe 40: Urteilstendenzen im Alltag ~
Welche Urteilstendenzen haben Sie bei sich selbst schon wahrgenommen, im beruflichen Feld und privat? Wie begegnen Sie ihnen?
3.6.1 O Heuristiken bei der Urteilsbildung
Aus psychologischer Sicht sind Beobachtungen und Beurteilungen von Merkmalen des Unterrichts - sei es per Fragebogen oder auf andere Weise - kognitive Prozesse, über deren Bedingungen und Entstehen in der Allgemeinen Psychologie, in der Psychologie der Urteilsbildung und in der kognitiven Survey-Forschung einiges bekannt ist. Dieses Basiswissen ist nützlich, um sich ein Bild der Möglichkeiten und Grenzen, insbesondere der Fehleranfälligkeit individueller diagnostischer Urteilsleistungen, zu machen. Wichtige Beiträge zu diesem Thema entstanden vor allem vor dem Hintergrund der Theorie der Informationsintegration von Anderson (z.B. Anderson, 1981) sowie der Prospectus Theory von Tversky und Kahnemann (siehe etwa Tversky & Kahneman, 1974). Beide Theorien beschreiben und erklären das Urteilsverhalten von Personen bei Unsicherheit. Nehmen wir als Beispiel ein Item aus einem Schülerfragebogen: „Unsere Lehrer erklären so, dass wir es verstehen können", oder ein „Item" (in der Sozialforschung gebräuchliches Wort für „Aussage") aus einem Bogen zur Unterrichtsbeurteilung durch externe Beobachter: „Die Schüler haben Gelegenheit, fachliche und/oder methodische Kompetenzen zu erwerben bzw. zu erproben." Als Antwortkategorie ist ein von 1 bis 7 reichendes Kontinuum vorgegeben. Diese beiden auf den ersten Blick harmlos wirkenden Items erfordern in Wirklichkeit hochkomplexe Urteilsleistungen. Um beim zuletzt genannten Item zu bleiben: Der Beobachter der Unterrichtsstunde muss bei seinem Urteil eigentlich ... ein korrektes Verständnis der vorgestellten Konzepte (fachliche Kompetenzen, methodische Kompetenzen, Erwerb, Erprobung) haben, was noch zusätzlich dadurch erschwert wird, dass die Konzepte im Plural vorkommen und durch das „und/oder" miteinander gekoppelt sind; über den
beobachtet~n
Zeitraum hinweg eine Art kognitiven Durchschnitt bilden;
falls das Verhalten bei einigen Schülern zu beobachten ist, bei anderen nicht: über die am Unterricht teilnehmenden Schüler hinweg einen Mittelwert bilden; falls der zu beurteilende Sachverhalt mit unterschiedlicher Intensität auftritt, z.B. über eine kurze Zeit hinweg extrem stark, anschließend gar nicht: Auch hier muss eine Art Mittelung betrieben werden. Und bei dem Item im Schülerfragebogen müsste der Schüler idealerweise ... ~
alle ihn unterrichtenden Lehrer Revue passieren lassen, eventuell Hauptfächer dabei stärker gewichten, um daraus ein Urteil abzuleiten; 137
Diagnostische Expertise
das vergangene Schuljahr in Gedanken vorüberziehen lassen, denn es ist ja vom Unterricht im Allgemeinen und nicht vom gestrigen Unterricht die Rede; ~
desgleichen auch die Schüler der Klasse checken: Für welche trifft das zu, für welche nicht?
Die Vorstellung, Personen würden - zumal wenn keine Zeit im Überfluss zur Verfügung stehtsich so zuverlässig und sorgfältig verhalten und auch nur annähernd so viel mental effort investieren (können), ist allerdings weltfremd, wie die psychologische Forschung gezeigt hat. Anstelle der von den Fragebogenkonstrukteuren insgeheim erhofften komplexen Denkprozesse, verfolgen Personen in solchen Situationen eine Reihe von vereinfachenden Strategien, die auch „Heuristiken" genannt werden. Wie Kahneman und Tversky (1973) herausgefunden haben, verwenden Menschen bei solchen Urteilen keine Gewichte und berechnen auch keine Mittelwerte, sondern orientieren sich bevorzugt an besonders auffälligen Ereignissen und an zuletzt erfahrenen Ereignissen. Die Forschung hat gezeigt, dass es eine ganze Reihe solcher Heuristiken gibt. Dieses Wort stammt aus dem Altgriechischen: heurisko, zu Deutsch: „Ich finde". Heuristiken sind Entscheidungshilfen, die bei Unsicherheit eine schnelle Lösung liefern, indem die Komplexität der Urteilsfindung reduziert wird. Unsicherheit kann dabei sowohl auf Informationsmangel als auch auf einem Informationsüberfluss beruhen.
A
Reflexionsaufgabe 41: Heuristiken bei der Diagnose mündlicher Leistungen Wenn Sie Schülern Noten für mündliche Leistungen geben, auf welche Heuristiken greifen Sie dann zurück?
3.6.11 Wie gut können Lehrer den eigenen Unterricht beurteilen?
Lehrer sind aus verschiedenen Gründen nicht die optimalen Beurteiler ihres eigenen Unterrichts. Weinert und Schrader (1986) meinen hierzu: „Die meisten Lehrer tendieren dazu, die Bedeutung der eigenen Arbeit für die Leistungsgenese ihrer Schüler zu unterschätzen (Rheinberg, 1975). Sie sind außerdem nur in sehr begrenztem Maße in der Lage, von ihrer gewohnten Unterrichtsführung abweichende Lehrstrategien zu verwenden, wenn sich die Wirkungen ihrer bisherigen pädagogischen Bemühungen als unbefriedigend oder problematisch erwiesen haben. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass erhebliche Zweifel an der Fähigkeit von Lehrern zur Selbstdiagnose ihres Unterrichts bestehen; verwunderlicher ist es schon, dass diese Form der Diagnose wissenschaftlich bisher so wenig untersucht wurde. Dabei dürfte gerade die Entwicklung geeigneter Hilfsmittel zur Beurteilung des Unterrichts durch Lehrer eine wichtige Aufgabe für eine an der praktischen Verbesserung des Unterrichts interessierten Erziehungswissenschaft sein." (S. 17)
In diesem Zusammenhang hat die empirische Schulforschung gezeigt: Wenn Angaben zum Unterricht aus unterschiedlichen Perspektiven (Schüler, Beobachter im Unterricht, Dritte als Beurteiler videografierten Unterrichts - und Lehrkräfte selbst) erhoben wurden, gibt es in 138
Lehrerpersönlichkeit und Professionsstandards
vielen Studien einen ähnlichen Trend: Mit Ausnahme der Lehrerangaben konvergierten die Daten aus den anderen Perspektiven hoch miteinander, das heißt, die Lehrerangaben hängen mit allen anderen inhaltlich korrespondierenden Datenquellen kaum zusammen. Eine grundlegende Arbeit zu dieser Frage stammt von Clausen (2002), der in seinem Perspektivenvergleich - basierend auf Daten der TIMS-Studie - von Lehrkrafturteilen, Schülerfragebogendaten und Videobeurteilungen insgesamt gesehen nur geringe Zusammenhänge zwischen diesen verschiedenen Formen der Beurteilung fand. Eines der erstaunlichsten Ergebnisse der DESI-Videostudie ist die Kluft zwischen Selbsteinschätzung und Realität bei wichtigen Merkmalen des Unterrichts. Bei DESI wurden die Lehrpersonen unmittelbar nach der videografierten Unterrichtsstunde u. a. danach gefragt, welcher Anteil der gesamten Sprechzeit in etwa auf das eigene Reden entfallen sei. Abbildung 17 zeigt, dass Lehrkräfte insgesamt gesehen, das heißt über alle Klassen hinweg, ihre eigene Sprechzeit unterschätzen (Helmke, T. et al., 2008, S. 352).
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Ich muss Disziplin, Mitarbeit und Ergebnisse kontrollieren! Ich muss in Gruppenkonflikte aktiv eingreifen! Ich muss den vorgefassten Zeitplan einhalten! Ich muss die Auswertung nach meinen Vorstellungen durchführen! Ich muss die Auswertung straft durchziehen! NICHT-EINGREIFEN Ich muss die Gruppen sich selbst zusammenraufen lassen! Die Schüler müssen die Aufgabenverteilung selbst hinkriegen! Ich muss die Gruppe selbständig arbeiten lassen! Ich muss mich bei Auseinandersetzungen heraushalten! Ich muss den Schülern Zeit nach Bedarf geben! Ich muss den Schülern Freiraum lassen! Ich muss alle Gruppen drankommen lassen!
Kasten 42: Widersprechende Imperative (Dann et al., 2002, S. 13)
Und hier die Konsequenzen der Autoren aus ihren Erfahrungen und Untersuchungen:
Gruppenunterricht ist nach unseren Beobachtungen problematisch, wenn man als Lehrkraft den Grundkonflikt häufig zugunsten von Eingreifen entscheidet, also z. B. die Ziele der Gruppenarbeit allein festlegt, lautend die Arbeit der Gruppen kontrolliert und inhaltlich lenkt, bei Störungen sofort interveniert und überwiegend nur die Leistungen der Schüler bewertet, ohne die Vorgänge in den Gruppen zu beachten. Hervorragender Gruppenunterricht ist vor allem dann möglich, wenn man als Lehrkraft den Grundkonflikt häutig in Richtung auf Nicht-Eingreifen entscheidet, wenn man sich während des Gruppenunterrichts von der traditionellen Rolle der Lehrkraft als wissende Autorität löst und stattdessen mehr als Moderator auftritt. Bessere Arbeitsergebnisse können auch erreicht werden, wenn es gelingt, autoritäre und starre Führungsstrukturen in den Arbeitsgruppen aufzulösen und möglichst flexible Rangordnungen bei guter Umgangsqualität zu etablieren. Qualitativ hochwertigen Gruppenunterricht leisten schließlich diejenigen Lehrkräfte, die auf ein reichhaltiges, differenziertes und gut organisiertes didaktisch-methodisches Wissen zurückgreifen können. Lehrkräfte, denen guter Gruppenunterricht gelingt, haben also auch eine entsprechende handlungswirksame Wissensbasis aufgebaut. Ohne ein solches Expertenwissen sind Lehrkräfte nicht in der Lage, einen qualitativ hochwertigen Gruppenunterricht zu praktizieren. Versuchen sie es dennoch, kann es leicht zu Misserfolgen kommen, die dann zur vorschnellen Ablehnung dieser Sozialform des Unterrichts führen. Kasten 43: Bedingungen erfolgreicher Gruppenarbeit, nach Dann et al. (2002, S. 14)
Als vorläufiges Resultat kann man festhalten: Bei der Gruppenarbeit im Unterricht gibt es eine Kluft zwischen ihrer Empfehlung durch die Pädagogik und ihrer praktischen Realisierung im 218
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
Unterrichtsalltag. Die Gründe für dieses Missverhältnis sind vielfältig; einige wurden bereits angesprochen. Fast immer bringt Gruppenarbeit neuartige Probleme mit sich, sie bedarf einer besonders guten Vorbereitung, sie kostet Zeit, schafft Unruhe. In der Lehrerausbildung wird Gruppenarbeit - wenn überhaupt - oft nur abstrakt und verbal thematisiert. Nötig wäre hier ein wesentlich stärkerer Verhaltensbezug, wie er etwa mit Verfahren des Microteaching (siehe hierzu Kap. 6) erreicht werden kann. Das Angebot der Unterrichtsdiagnostik von EMU (http://www.unterrichtsdiagnostik.info) umfasst u. a. einen Schülerfragebogen zur Qualität der Gruppenarbeit. Nach einer Phase der Gruppenarbeit sollen die Schüler beurteilen, ob die folgenden Aussagen zutreffen (Antwortmöglichkeiten: stimme nicht zu/stimme eher nicht zu/stimme eher zu/stimme zu). Die von EMU angebotene Visualisierung der Ergebnisse ermöglicht es, Schwächen und Stärken aus Sicht der Schülerinnen und Schüler - und auf die kommt es hier an - zu erkennen und den Unterricht entsprechend weiterzuentwickeln:
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Vorgaben
1 2 3 4 5
Der Arbeitsauftrag der Gruppe war mir vollkommen klar. Es gab eine klare Zeitvorgabe für die Arbeit der Gruppe. Die Sitzordnung für die Gruppenarbeit fand ich günstig. Die Gruppenzusammensetzung fand ich für den Arbeitsauftrag günstig. Die Gruppengröße empfand ich als angemessen.
Zeitnutzung
6
Wir haben zu Beginn besprochen, wie wir uns die Arbeit aufteilen können. Vor dem Arbeitsbeginn haben wir in der Gruppe geschätzt, wie viel Zeit wir 7 ungefähr für die verschiedenen Teilaufgaben benötigen. Ich habe anschließend gleich mit der Arbeit begonnen, ohne Zeit zu 8 verlieren. 9 Ein Zeitwächter sorgte dafür, dass die Zeit eingehalten wurde. 10 Die Zeitvorgaben wurden eingehalten. 11 Während der Gruppenarbeit habe ich keine Zeit vertrödelt. 12 Ich bin die gesamte Zeit bei der Sache geblieben. Gelegentlich haben wir überprüft, ob unser Arbeitsstand bereits für die 13 Präsentation ausreicht.
Regeln
14 15 16
Die Regeln für die Gruppenarbeit waren mir von Anfang an klar. Ein Regelwächter sorgte für die Beachtung der Regeln. Die Regeln der Gruppenarbeit wurden eingehalten.
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219
Aktivierung · Motivierung
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Kooperation
17 Wir haben uns während der Gruppenarbeit wechselseitig unterstützt.
18
19 20 21 22 23 24
Die Verteilung der Aufgaben innerhalb der Gruppe war fair. Alle Meinungen wurden ernst genommen. Wenn jemand gesprochen hat, haben die anderen zugehört. Wir haben in der Gruppenarbeit neue Ideen entwickelt. Keiner wurde links liegen gelassen. Keiner hat sich vor der Arbeit gedrückt. Wenn Probleme auftraten, wurden sie offen angesprochen.
Arbeitsklima, Feedback
25 Wir waren in der Gruppe freundlich zueinander. 26 Ich habe anderen Gruppenmitgliedern eine positive Rückmeldung gegeben. Ich habe von anderen Gruppenmitgliedern eine positive Rückmeldung erhalten. Am Ende der Gruppenarbeit hat jeder kurz mitgeteilt, wie er/sie die 28 Zusammenarbeit gefunden hat.
27
Präsentation, Diskussion
29 Am Ende wurden die Ergebnisse im Plenum präsentiert. 30 An der Ergebnispräsentation habe ich selbst aktiv teilgenommen.
Unsere Präsentation wurde von anderen Mitschülern/Mitschülerinnen bewertet. 32 Die Präsentation unserer Gruppenergebnisse vor der Klasse ist gelungen. 33 Die Inhalte der Präsentation wurden in der Klasse diskutiert. 34 An den Ergebnissen der Gruppenarbeit wurde im Unterricht angeknüpft.
31
Bilanz
35 Ich bin mit dem Ergebnis unserer Gruppenarbeit zufrieden.
Meine Aufgabe in der Gruppe war nicht zu schwierig und nicht zu leicht,
36 sondern gerade richtig. 37 Ich habe gut mit den anderen in der Gruppe zusammengearbeitet. 38 Die Arbeit in der Gruppe hat mir Spaß gemacht. 39 Ich habe durch die Gruppenarbeit etwas dazugelernt. 40
Die Gruppe konnte selbstständig ohne Hilfe des Lehrers/der Lehrerin arbeiten.
4.5 Motivierung Die Notwendigkeit der Motivierung ergibt sich unmittelbar aus dem in Kapitel 2 entfalteten Modell von Klauer und Leutner (Klauer & Leutner, 2007). Schon bei Brunnhuber (1977) ist Motivierung (neben Zielorientierung, Strukturierung, Aktivierung, Angemessenheit und Leistungssicherung) eines der Gestaltungsprinzipien31 effektiven Unterrichts, und bei Ditton (2006) 31 z.B. in Rheinland-Pfalz: http://www.mbwjk.rlp.de/bildung/orientierungsrahmen-schulqualitaet.htm
220
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
ist der Bereich Motivierung (neben Qualität, Angemessenheit und Unterrichtszeit) einer der vier zentralen Faktoren des Unterrichts. Auch in den Orientierungsrahmen zur Schulqualität sowie in den Werkzeugen der Qualitätsagenturen32 zur Unterrichtsbeurteilung (Schülerfragebogen) und -beobachtung (durch Inspektoren, Referenten, Visitatoren; das Personal der externen Evaluation von Schulen hat je nach Bundesland unterschiedliche Namen) spielen Aspekte der Motivierung zu Recht eine überragende Rolle. Motive sind die Motoren des Handelns, man spricht auch von Beweg-Gründen. Abgeleitet ist das Wort „Motivation" aus dem lateinischen Verb movere (=bewegen). Ein vielfältig motivierender Unterricht ist dadurch gekennzeichnet, dass er bewährte Prinzipien der Lern-und Motivationspsychologie zugrunde legt. Begrifflich muss man „Motiv" und „Motivierung" unterscheiden, obwohl sie umgangssprachlich weitgehend synonym verwendet werden; Motive sind gewachsene Verhaltenstendenzen (trait), während sich Motivation auf den Zustand in einer konkreten Situation (state) bezieht. Wie aus dem Modell von Klauer und Leutner (siehe Kapitel 2.6.3.3) ersichtlich wird, ist ein ausreichender Grad der Motivierung unabdingbar, um Lernprozesse zu initiieren. Dies reicht jedoch nicht aus: Das Motivationsniveau der Lernenden muss fortlaufend beachtet werden; gegebenenfalls muss interveniert werden. Die Motivation spielt somit während des gesamten Lernprozesses eine Rolle. Wenn man sich vom Bild einer konkreten Unterrichtssituation entfernt, dann kommen weitere Anwendungsfelder ins Spiel, beispielsweise die Hausaufgaben und andere außerschulische Lerngelegenheiten. Ziel der Motivierung durch die Lehrperson muss es sein, die motivationale Fremdsteuerung so weit wie möglich durch motivationale Selbststeuerung zu ergänzen bzw. zu ersetzen. Das heißt, Schüler sollen zunehmend lernen, sich selbst zu motivieren und damit Lehrfunktionen für sich selbst zu übernehmen. Motive (also zeitstabile Bevorzugungen bestimmter Klassen von Anreizen) sind individuell unterschiedlich stark ausgeprägt, können aufsuchend oder vermeidend sein (Hoffnung versus Furcht) und beziehen sich auf unterschiedliche Gegenstandsbereiche (Rheinberg & Vollmeyer, 2008), nämlich darauf, etwas besonders gut zu machen, sich selbst zu übertreffen, Kompetenzen zu entwickeln (Leistungsmotiv),
sich durchzusetzen, Macht und Einfluss zu gewinnen, zu dominieren (Machtmotiv), neue Kontakte zu finden, Vertrauen zu erzeugen, von den anderen geschätzt zu werden (Anschlussmotiv).
An der Initiierung und Aufrechterhaltung des Lernens in der Schule können alle diese Motivsysteme - in ihrer aufsuchenden oder meidenden Variante - beteiligt sein. Die Lernmotivation ist deshalb ein heterogenes Konstrukt, das sich aus unterschiedlichen Quellen speist. Urhahne (2008) hat argumentiert, dass es eigentlich sieben Arten von Lernmotivationstheorien gibt: klassische Leistungsmotivationstheorien, erweiterte Erwartungs-Wert-Theorien, Attributions-
32 z.B. in Bayern: http://www.isb.bayern.de/isb
221
Motivierung
theorien, Zielorientierungskonzepte, Theorien intrinsischer Motivation, Volitionsmodelle und Theorien sozialer Motivation. Schief ele hat die folgenden Komponenten einer überdauernden Lernmotivation unterschieden, wobei er extrinsische (von außen kommende) und intrinsische (von innen stammende) Aspekte unterscheidet (Schiefele, 2008, S. 43):
Extrinsische Lernmotivation ~
Streben nach positiver Leistungsrückmeldung(= leistungsbezogene Motivation i.e.S.);
~
Lernen, um andere zu übertreffen bzw. um die eigene überlegene Fähigkeit zu demonstrie-
~
Bemühung um soziale Anerkennung (soziale Lernmotivation);
ren (wettbewerbsbezogene Lernmotivation); Verfolgen materieller Ziele (materielle Lernmotivation) und Lernen, um später eine bestimmte berufliche Laufbahn einschlagen zu können (berufsbezogene Lernmotivation).
Intrinsische Lernmotivation Lernen aus Interesse und Neugier (gegenstandszentrierte intrinsische Lernmotivation); Freude am Lernen (tätigkeitszentrierte intrinsische Lernmotivation).
Reflexionsaufgabe 64: Fallbeispiele der Motivierung Welche Motive werden durch die folgenden Lehreräußerungen angesprochen? Du kannst stolz auf dich sein, dass du das geschafft hast. Wenn du Chemiker werden willst, musst du in Englisch fit sein. Ich helfe dir nicht, du sollst selbst darauf kommen.
4.5.1 Gibt es „gute" und „schlechte" Motivation?
In der „fortschrittlichen" Pädagogik hat es gelegentlich den Anschein, als gebe es „gute" und „schlechte" Lernmotive. Hierzu Weinert (1997a): „Positiv zu bewerten sind[. .. ] vor allem intrinsische Beweggründe zum Lernen, also das persönliche Interesse an den Lerninhalten, die Lust am Lernen selbst und die Freude am Erreichen selbst gesetzter Ziele. Demgegenüber werden äußere Zwänge, aber auch erwartete Belohnungen als Triebfedern des Lernens negativ beurteilt[. .. ] Inspiziert man die empirische Basis der Argumente und Gegenargumente zur pädagogisch angemessenen Lernmotivation, so erscheinen die intrinsischen Beweggründe im Vergleich zu den extrinsischen langfristig dem Lernen förderlicher zu sein. Auf der anderen Seite gilt aber auch: Wenn die spontane Motivation zum Erwerb notwendiger oder nützlicher Kompetenzen bei Schülern fehlt oder gestört ist, so sind extrinsische Anregungen, Anreize und Bekräftigungen wirksame, keineswegs schädliche Mittel zur Motivierung des Lernens." (S. 17)
222
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
Diese Einschätzung ist in der wissenschaftlichen Psychologie inzwischen unbestritten (vgl. Cameron & Pierce, 1994; Deci & Ryan, 1985). Felten (1999) schreibt zur Notwendigkeit extrinsischer Motivation (im Ausblick seines Buches „Neue Mythen in der Pädagogik"): „Erfolgreiches Lernen ist vielfach nicht nur angenehm, sondern bedeutet Gründlichkeit und Anstrengung, Aushalten von Belastungen und Überwinden von Widerständen. Wer in einer modernen Gesellschaft frei und mündig werden möchte, sollte sich auch mit Sachverhalten auseinandersetzen, die ihn zunächst nicht interessieren oder mit denen er vielleicht niemals vertieft befasst sein wird - er hat dann aber seine geistigen Kräfte sinnvoll geschult und sich zudem fachliche Operationen erworben. (S. 171) 11
Reflexionsaufgabe 65: Streben nach Kompetenzerweiterung
A
Recherchieren Sie, was es mit dem „Streben nach Kompetenzerweiterung", auch „kompetenzbezogene Lernmotivation" genannt, auf sich hat: Was bedeutet es, wer hat das Konzept entwickelt? Handelt es sich um intrinsische oder extrinsische Motivation - und warum?
In einem der „Klassiker" der schul- und erziehungsrelevanten Werke zur Motivationspsychologie schlagen die Autoren, Pintrich und Schunk (1996), vier Strategien zur Förderung intrinsischer Motivation vor: ~
„ Challenge students' skills with activities of intermediate difficulty. Ensure that students do not become bored
~
Curiosity: Present ideas slightly discrepant from learners' existing knowledge and beliefs. lncorporate surprise
with easy tasks or reluctant to work on tasks perceived as overly difficult. and incongruity into classroom activities. ~
Contra/: Allow students choices in activities and a voice in formulating rules and procedures. Foster attributions
to causes over which they have some control. ~
Fantasy: Engage students in make-believe activities, games, and simulations. Ensure that the motivational
embellishments are task relevant and not too distracting. (S. 279 f.) 11
4.5.2 Die Rolle der Lebenswelt
Einen zentralen Stellenwert nehmen in der neueren Diskussion über Unterrichtsqualität - nicht nur im Kontext der Motivierung, sondern vor allem bei soziokonstruktivistisch geleiteten LehrLern-Konzepten wie dem Lehrlingslernen oder den Verstehensankern-Konzepte wie Authentizität, Verknüpfungen mit dem Alltag und der Lebenswelt ein. Unbestritten ist die instrumentelle Funktion von Verweisen künftiger Nützlichkeit (Noten, Beruf, Unterricht in der nächsten Klassenstufe etc.). Oft reicht es allerdings nicht aus, auf künftigen Nutzen und eine sich später erweisende Wichtigkeit des Unterrichtsstoffes hinzuweisen, sondern an aktuellen Motiven und Bereitschaften anzuknüpfen. Hierzu Hartmut von Hentig (2000), auf die Frage des SPIEGEL „Disziplin entsteht durch Leidenschaft?" (SPIEGEL 34/2000): 223
Motivierung
„Schüler sind überall da diszipliniert, wo sie beteiligt sind. Man muss ihnen doch nur mal beim Skateboarden zugucken, da machen sie hundertmal dieselbe Übung, bis sie diese verdammte Drehung hinkriegen. Die Wahrheit ist: Wir verlieren die jungen Leute, weil wir uns nicht auf ihre Sache einlassen, ihnen Dinge aufdrängen, die in ihrem Leben jetzt keine Rolle spielen: Später werdet ihr's brauchen!, sagen wir und: Es steht so im Lehrplan. Gerade in der Altersstufe der 12- bis 15-Jährigen müssten wir ganz und gar anders verfahren, da funktioniert Paper-and-Pencil-Work nicht. Mein Rat: Versucht nicht immer die Schüler in den Lehrplan, die Leistung, die Bildung zu pressen, macht vielmehr das ihrem Alter Entsprechende und Verständliche richtig, und es wird ein besseres Ergebnis herauskommen als aus allem, was uns PISA eingegeben hat." (S. 160)
Andere Unterrichtspraktiker weisen allerdings darauf hin, dass es auch das gegenteilige Phänomen gibt: dass sich Schülerinnen und Schüler gegen einen sich als anbiedernd empfundenen Unterricht wehren und die Grenze zu dem, was sie außerhalb von Schule und Unterricht interessiert, gewahrt wissen wollen (z.B. ihre Musikvorlieben nicht im Unterricht auch noch analysiert und zerredet werden). 4.5.3 Die Rolle von Lehrererwartungen
Dass Lehrererwartungen eine wichtige Rolle für das Lernverhalten von Schülern spielen, ist bereits in Kapitel 3.2 erwähnt worden. Aus motivationspsychologischer Sicht sind deshalb die Erwartungen von Lehrern ebenfalls Motoren des Handelns. Im Projekt DESI erwies sich im Fach Deutsch die Höhe der wahrgenommenen fachlichen Lehrererwartungen als einer der stärksten Prädiktoren für den Kompetenzzuwachs während der 9. Klasse. Hier einige Items aus dem Lehrerfragebogen für Deutschlehrkräfte (Helmke, Helmke, Schrader & Wagner, 2007) zur Illustration (Antwortkategorien: nicht wichtig/ weniger wichtig/ wichtig/ sehr wichtig): Was ist für deine Deutschlehrerin/deinen Deutschlehrer wichtig? ~
Wortschatz: Nutzung treffender Wörter beim Sprechen
~
deutliche und korrekte Aussprache
~
Fragen an einen Text stellen können
~
im Gespräch dem Partner zuhören und auf ihn eingehen
Sprechen von Hochdeutsch statt Dialekt
grammatikalisch richtiges Sprechen ~
grammatikalisch richtiges Schreiben
~
Fähigkeit, überzeugend zu argumentieren
~
nach Stichpunkten ein Kurzreferat halten können
Beherrschung von Rechtschreibung und Zeichensetzung Kenntnis wichtiger grammatischer Begriffe (wie z.B. Präsens, Konjunktiv, Adverb) ~
Fähigkeit, die wichtigsten Inhalte eines Textes zusammenzufassen Fähigkeit, sich Informationen aus dem Internet zu besorgen
~
Einsatz von Lerntechniken (wie Markieren von Schlüsselstellen in Texten) Vertrautheit mit Bibliotheken und Buchhandlungen
224
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
Beherrschung von Grundregeln des Zeitmanagements Texte schreiben 4.5.4 Lehrperson als Modell
Von der Vorbildwirkung von Lehrpersonen war bereits mehrfach die Rede (Stichwort: Engagement, enthusiasm): Die Einstellung von Lehrpersonen zum Unterricht, zu ihrem Fach kann sich massiv auf die Lernmotivation von Schülern auswirken. Dieser motivationsförderliche Aspekt wird in der deutschsprachigen einschlägigen Literatur nur am Rande erwähnt, ganz im Gegensatz zur pädagogischen Forschung im angloamerikanischen Sprachraum. „When teachers present a topic with enthusiasm, suggesting that it is interesting, important, or worthwile, students are likely to adopt this same attitude. Effective teachers convey their enthusiasm with sincere statements of the value they place on a topic or activity." (Gettinger & Kohler, 2006, S.87) 4.5.5 Kognitive Konflikte und Neugier als Motoren des Lernens
Schon Piaget betrachtete kognitive Konflikte als den entscheidenden Motor für das Lernen: Das neu zu erwerbende Wissen wird zunächst in die vorhandene Wissensstruktur einzugliedern versucht (Assimiliation). Wenn Elemente des neu zu erwerbenden Wissens mit dem vorhandenen Vorwissen unverträglich sind, kommen Korrekturprozesse in Gang: Die Wissensstrukturen selbst werden geändert (Akkomodation). Hier ergibt sich eine Parallele zum motivationalen Konzept der Neugier: Werden im Unterricht Probleme angeboten, für die es keine offenkundige Lösung gibt, wird eine widersprüchliche Aussage vorgestellt oder wird ein Sachverhalt (absichtlich und gut dosiert natürlich) unklar dargestellt (verfremdet, fehlende Elemente, unsinnige Features), dann kann dies Neugier hervorrufen und damit zum Lernen motivieren. Jean-Pol Martin hat dies in dem Dokumentarfilm „Neue Lehrer braucht das Land" (siehe Kapitel 7) einmal so formuliert: „ Unterrichten: Das heißt lnkohärenzen, Widersprüche entstehen lassen, damit sie geklärt werden. Warum? Men-
schen reden und kommunizieren nur dann, wenn etwas nicht klar ist. Also mein Unterricht schafft Unklarheiten. Und der traditionelle Unterricht versucht immer Klarheit zu schatten, was auch nicht ganz falsch ist, weil wir beides brauchen, wir Menschen. Wir brauchen Unklarheit, damit wir angeregt werden, aus dieser Unklarheit Klarheit zu machen. So sind wir strukturiert: dialektisch. "
Reflexionsaufgabe 66: Unklarheiten schaffen
A ~
Wie passt der hier beschriebene dialektische Ansatz zu der in Kapitel 4.2 vorgestellten Sichtweise, Klarheit und Strukturierung seien wichtige Merkmale eines erfolgreichen Unterrichts?
~
In welchen Fächern haben Sie selbst einmal absichtlich Unklarheit erzeugt, um damit Klärungsprozesse anzustoßen?
225
Motivierung · Lernförderndes Klima
4.5.6 Motivförderungsprogramme
Rheinberg und Krug (1993) sowie Rheinberg und Vollmeyer (2008) kommt das Verdienst zu, den Stand der Forschung zu schulischen Motivförderungsprogrammen systematisch gesichtet und selbst eine Reihe von Programmen entwickelt und überprüft zu haben. Als besonders vorteilhaft für die Lernmotivation hat sich eine ausgeprägte individuelle Bezugsnormorientierung erwiesen, die die Aufmerksamkeit weg von sozialen Vergleichen (Ranking) hin zu individuellen Fortschritten lenkt. In mehreren großen Untersuchungen hat sich diese Orientierung als günstig für die Entwicklung des Fähigkeitsselbstkonzeptes herausgestellt. Rheinberg (2008) erklärt die Wirksamkeit wie folgt: „Zunächst wird unter dieser Bezugsnorm der Lernzuwachs jedes Lerners besonders gut sichtbar. Das fördert Vertrauen in das eigene Lernpotenzial und die Zuversicht, sich weiterentwickeln zu können (Wirksamkeitserwartungen). Dabei zeigt die Vergleichsperspektive (,besser oder schlechter als beim letzten Mal') zudem sehr sensibel die je aktuellen Veränderungen an, die man dann mit den vorangegangenen Lehraktivitäten in Zusammenhang bringen kann: Man sieht genauer, welche Lehraktivitäten zu welchen Lernzuwächsen führen." (S. 182)
Zur Orientierung an individuellen Bezugsnormen sind auch Trainingsprogramme für Lehrer, Eltern und Schüler entwickelt worden, mit dem Ziel, dass sich die Selbstbewertung auf verschiedene Bezugsnormen stützen kann, wobei die Zufriedenheit mit sich selbst primär von der individuellen Bezugsnorm abhängig ist; siehe hierzu die Hinweise bei Rheinberg (2008, S. 184) sowie Rheinberg und Vollmeyer (2008). Ein auf die Schulpraxis zugeschnittenes Buch zur Motivierung von v. Grone und Petersen (2002) gibt - auf der Grundlage eines theoretischen Fundamentes - praktische Hinweise für eine motivationsförderliche Gestaltung des Unterrichts. Im angloamerikanischen Sprachraum sind Breitband-Programme verbreitet, die neben der motivationalen Förderung auch andere Zwecke, insbesondere die kognitive Verbesserung, anstreben (für Details siehe Klauer & Leutner, 2007), beispielsweise ~
das Programm von Fries (2002) zur gleichzeitigen Förderung des Leistungsmotivs und kognitiver Kompetenzen, das Programm ARCS (A =Attention, R =Relevant, C = Confidence, S = Satisfaction), das Programm ECOLE C§_motional and Cognitive Aspects of Learning).
4.6 Lernförderliches Klima Mit „lernförderlichem Klima" ist eine Lernumgebung gemeint, in der das Lernen der Schülerinnen und Schüler erleichtert, begünstigt oder auf andere Weise positiv beeinflusst wird. In allen wichtigen Klassifikationen der Unterrichtsqualität taucht dieser Qualitätsbereich auf, so auch bei Meyer (2004, S. 17: „Lernförderliches Klima - durch gegenseitigen Respekt, verlässlich eingehaltene Regeln, Verantwortungsübernahme, Gerechtigkeit und Fürsorge"). In der Beschreibung der Kategorien des Unterrichtsbeobachtungsbogens der Bayerischen Qualitätsagentur wird das „Unterrichtsklima" so skizziert: „Eine positive Grundeinstellung gegenüber Lernen und Leisten sowie ein vertrauensvolles Klima zwischen Lehrkräften und Schülern und 226
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
zwischen den Schülern sind Grundlagen für Lernbereitschaft und Lernvermögen." 33 Brophy (2000), für den dieses Merkmal (supportive classroom climate) an der Spitze seiner Liste steht, legt den Schwerpunkt auf die Unterstützung durch die Lehrperson: ,,Ta create a climate for moulding their students into a cohesive and supportive learning community, teachers need to display personal attributes that will make them effective as models and sociafizers: a cheerful disposition, friendliness, emotional maturity, sincerity, and caring about students as individuals as well as learners. The teacher displays concern and affection for students, is attentive to their needs and emotions, and sociafizes them to disp/ay these same characteristics in their interactions with one another." (S. 8)
Der Forschungsstand auf diesem Gebiet ist unübersichtlicher als bei den vorangegangenen Qualitätsbereichen, ein Teil der Studien ist laborexperimenteller Art und auf den angloamerikanischen Sprachraum begrenzt, und verschiedene Terminologien sorgen zusätzlich für Verwirrung. Zusammenfassend lassen sich die folgenden Aspekte als wichtig für ein lernförderliches Klima herausstellen: Umgang mit Fehlern, angemessene Wartezeiten, entspannte Lernatmosphäre und Abbau von Angst. Die empirisch nachgewiesenen direkten Beziehungen des Lernklimas mit der Schulleistung sind zwar schwach. Gleichwohl muss dieser Bereich ernst genommen werden, da Wohlbefinden und Zufriedenheit der Akteure selbst ein wichtiges Zielkriterium sind, und zwar nicht
nur aus wissenschaftlicher Perspektive (Hascher, 2004), sondern auch aus bildungspolitischer Sicht: Aus gutem Grund betonen dies - wenngleich mit unterschiedlichen Termini - die Qualitätsrahmen der Bundesländer. So heißt es im Orientierungsrahmen Schulqualität des Landes Rheinland-Pfalz :34 „Zufriedenheit ist eine wesentliche Voraussetzung für erfolgreiches und wirksames Unterrichten und Lernen und für gute Ergebnisse einer Schule. Zug/eich ist sie ein Ergebnis guter schulischer Arbeit. Zufriedenheit hat eine affektive Dimension, bezieht sich aber auch auf die Arbeitsbedingungen des schulischen Personals (z. B. Ausstattung und Belastungen, Aufstiegsmöglichkeiten, berufliches Vorwärtskommen, Bezahlung, Anerkennung) und die Lernbedingungen der Schüler/innen (z.B. Unterstützung, Anspruchsniveau, materielle Bedingungen). Aufschluss hierüber geben die Rückmeldungen der abnehmenden Schulen, Einrichtungen und Betriebe sowie des regionalen Umfelds. "
Schon das Internationale Netzwerk Innovativer Schulsysteme (INIS), das sich im Herbst 1997 gründete und sich darum bemüht, Qualitätsdimensionen von Schule zu erfassen, legte als eine von fünf solcher Dimensionen die „Zufriedenheit von Schülern, Lehrern, Eltern und sonstigen Mitarbeitern" fest. Der Zufriedenheit wurde eine Ampelfunktion zugesprochen, denn: „Kommt es in den anderen Feldern zu Störungen, wirkt sich das in diesem sensiblen Bereich umgehend aus." (Stern, Mahlmann & Vaccaro, 2004, S. 16) Diese fünf Qualitätsdimensionen wurden später Grundlage des Befragungsinstrumentes SEIS (siehe auch Kapitel 5.5.2.2).
33 http://www.isb.bayern.de/isb 34 http://aqs.rlp.de/externe-evaluation/orientierungsrahmen-schulqualitaet.html
227
Lernförderliches Klima
4.6.1 Konstruktiver Umgang mit Fehlern
Vor allem die Arbeiten von Fritz Oser (Oser, 2001a; Oser et al., 2006) und seinem Forschungsteam an der Universität Fribourg in der Schweiz haben sich intensiv mit Fragen der Fehlerkultur beschäftigt, daneben sind Pädagogen und Psychologen wie Reusser (1999) und Weinert (1999a) zu nennen. Der Journalist Reinhard Kahl hat eine sehr anregende Serie von Videofilmen mit dem Titel „Lob des Fehlers" produziert, auf die im Kapitel 7 („Videografie des Unterrichts") Bezug genommen wird. Dies weist bereits auf das Potenzial von Fehlern als Lernchance hin: Fehler können Fenster zu den Lern- und Denkprozessen von Schülerinnen und Schülern sein. Fehler können jedoch auch gravierende Lernbarrieren sein. Weinert (1999a) gebührt das Verdienst, auf die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Lernsituationen hingewiesen zu haben:
Fehler als Lernchancen
Der „gute Fehler" ist in Karl Dunckers „Zur Psychologie des produktiven Denkens" (1935) oft eine notwendige Voraussetzung für die erfolgreiche Suche nach der richtigen Lösung bei einem schwierigen Problem. Die Dominanz lösungsinadäquater Gestaltfaktoren, die funktionale Fixierung darauf und die damit verbundenen falschen impliziten Selbstinstruktionen führen nicht selten zu rigiden Einstellungen gegenüber einem Problem (Luchins, 1946), deren Barrierehaftigkeit nur durch eine fehlertolerante Ideenproduktion überwindbar ist (vgl. auch Koffka, 1963). Auf dem Hintergrund einer solchen gestalttheoretischen Orientierung betonen Wehner und Stad/er (1994), dass die meisten Fehler nicht zufällig auftreten, sondern bestimmten, in einem gegebenen Moment dysfunktionalen Gesetzmäßigkeiten folgen. Gibt es keine externen Beschränkungen, so erlauben Fehler vertiefte Einsichten in die Dynamik des selbstorganisierten systemischen Verhaltens. ,,The attention to errors may facilitate problem solving." (Wehner &Stad/er, 1994, S. 582) Oser und Hascher (1997) kommen aufgrund ähnlicher Überlegungen zu einem Plädoyer für „das Lernen aus Fehlern" (S. 5), für eine ,,Theorie des Fehlerwissens" (S. 6) und für die Entwicklung einer ,,Fehlerkultur" (S. 9). Kombiniert man diese pädagogischen Überlegungen mit den verfügbaren psychologischen Erkenntnissen, so ergibt sich für das Lernen vielfältig nutzbarer mathematischer Heuristiken, die man als kognitive Kernkompetenzen des mathematischen Wissens bezeichnen könnte, eine zwingende Schlussfolgerung: Der notwendige Erwerb einer Kollektion variabler Such- und eines Systems metakognitiver Kontrollstrategien hängt auch und nicht zuletzt vom produktiven Umgang mit Fehlern ab (Schoenfeld, 1992; vgl. auch De Garte, Greer & Verschaffe!, 1996). Fehler als Lernbarrieren
Die lernpsychologische Situation stellt sich völlig anders dar, wenn es nicht um den Aufbau strategischer und metastrategischer Kompetenzen geht, sondern um das Lernen numerischer Algorithmen und mathematischer Routinen. In diesem Fall stellen Lücken, Mängel und fehlerhafte Elemente im deklarativen, vor allem aber im prozeduralen Wissen den weiteren Lernfortschritt und die praktische Nutzung des Gelernten mehr oder minder massiv infrage. Irrige Konzepte, falsche Regeln und fehlerhafte Routinen sind nur schwer zu korrigieren, wenn sie erst einmal in den prozeduralen Wissenssystemen integriert sind. Sie müssen deshalb im Verlauf des Lernens vermieden oder schnell überwunden werden.
228
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
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Das gilt vor allem für die Unterweisung von wenig intelligenten Kindern, deren Kenntnisse besonders rigide organisiert sind, sodass spontane Fehlerreparaturen und sekundäre Einsichten nicht erwartet werden können. Fehler als janusköpfige Motivationsfaktoren
Schüler haben gelegentlich differenziertere, weil pragmatischere Einsichten als manch einseitig ideologisierter Wissenschaftler. Das bestätigt sich in der von Os er und Hascher (199 7) durchgeführten Pilotstudie, bei der sie 40 Jugendliche der 10. Klasse über ihre Erfahrungen und Erlebnisse mit dem Fehlermachen befragten. Die Ergebnisse zeigen, „dass die Schülerinnen und Schüler klar zwischen Nutzen und Schaden von Fehlern unterscheiden. Nach Meinung der befragten Jugendlichen sind Fehler nicht gleich Fehler und werden nicht in jeder Situation als hilfreich und lernunterstützend bewertet [. .. ] Wenn die Konsequenzen für die Schülerinnen und Schüler niedrig sind, ihr Wissen aber noch nicht hoch sein kann, dann sind Fehler erlaubt. Unverzeihlich sind Fehler allerdings, wenn es um Noten und Beurteilungen geht." (S. 13) Damit haben die Schüler intuitiv erfasst, was die wissenschaftliche Psychologie inzwischen weiß: Ob Fehler positiv oder negativ erlebt werden und motivational stimulierend oder frustrierend wirken, hängt davon ab, ob sie im Kontext von Lern- oder von Leistungssituationen auftreten (Dweck, 1996). Lernsituationen zeichnen sich in der Wahrnehmung der Schüler und in den Intentionen der Lehrer durch ihre Offenheit, ihren Probiercharakter, die Suche nach Neuem und den Umgang mit noch nicht ganz Verstandenem aus. Fehler und ihre erlebte Überwindung durch das Entdecken des Richtigen, Besseren und Angemesseneren sind subjektiv erlebte Indikatoren des individuellen Lernfortschritts: Der lernende nimmt sich selbst als Ursache eines vertieften Verstehens, einer verbesserten Einsicht, eines souveräneren Könnens wahr - mit all den positiven motivationalen Folgen, wie sie von DeCharms (1968), Bandura (1997) und Csikszentmihalyi (1975) beschrieben wurden. Demgegenüber erscheinen Leistungssituationen als in sich geschlossene gespannte Felder, in denen verbindliche Anforderungen gestellt werden und generelle Bewertungsmaßstäbe gelten, sodass der einzelne Erfolge oder Misserfolge erlebt. Fehler sind unter diesen situativen Bedingungen sichtbare Indikatoren des persönlichen Misserfolgs mit entsprechenden Frustrationserlebnissen, mit Gefühlen subjektiver Beschämung, mit Zweifeln an der eigenen Tüchtigkeit und mit wachsender Furcht vor langfristigem Versagen - vor allem dann, wenn sich die Fehler, auch und gerade im Vergleich zu anderen, häufen (Heckhausen, 1989).
Kasten 44: Weinert: Aus Fehlern lernen und Fehler vermeiden lernen (1999a, S. 104 f.)
Fehler sind also ein natürlicher Bestandteil des Lernens. Sie eröffnen die Chance, einen Blick auf Missverständnisse und fehlgeschlagene Verstehensprozesse auf Seiten der Schüler wie auf Mängel in der Vermittlung des Unterrichtsangebotes werfen zu können. Für die Lernmotivation - und damit mittelbar für die Lern- und Leistungsentwicklung - ist es wichtig, dass Fehler in Lernsituationen nicht zu Beschämung führen, mit Tadel oder anderen negativen Konsequenzen verbunden sind, sondern als selbstverständlicher Teil des Lernprozesses angesehen werden.
229
Lernförderliches Klima
Hattie (2012) formuliert es, auf der Grundlage seiner Metaanalyse, so: „An optimal classroom climate for learning is one that generates a climate in which it is understood that it is okay to make mistakes, because mistakes are the essence of learning [... ] Expert teachers create classroom climate that welcome admission of errors; they achieve this by developing a climate of trust between teacher and student, and between student and student. The climate ist one in which 'learning is cool', worth engaging in, and everyone - teachers and students - is involved in the process of learning." (S. 26)
Reflexionsaufgabe 67: Hartmut von Hentig und das Lernen aus Fehlern
A
Stellen Sie Beziehungen zwischen Hartmut von Hentigs Appell „Die Sachen klären, die Menschen stärken!" und Weinerts Überlegungen zum Lernen aus Fehlern her!
Die Schaffung vieler Erfolgssituationen stellt den Kern eines lernförderlichen Unterrichtsklimas dar. Wichtig für einen konstruktiven Umgang mit Fehlern ist: ~
Wenn auf Fehler eingegangen wird, dann in einer Weise, die dem Schüler klarmacht, was falsch war und wie man den Fehler überwinden kann. Vielfach ist es günstig, wenn Schüler selbst ihren Fehler korrigieren.
~
Der Unterricht sollte durch eine gute Balance aus Lernsituationen und Leistungssituationen gekennzeichnet sein. An Leistungssituationen, in denen nachgewiesen werden muss, ob man erfolgreich gelernt hat oder nicht, führt kein Weg vorbei. Vielleicht bringt die folgende Formel die Sache auf den Punkt: So viele nicht mit Leistungsbewertungen verbundene Lernsituationen wie möglich, so viele Leistungssituationen wie nötig. Wichtig ist aber in jedem Fall, im Unterricht Lernsituationen klar von Leistungssituationen zu trennen. In Lernsituationen sind Fehler akzeptabel, weil sie häufig zu tieferem Verständnis führen; in Leistungssituationen, also nach abgeschlossenem Lernvorgang, sollten Fehler dagegen nicht mehr auftreten.
~
Nicht nur Schüler, auch Lehrer machen im Unterricht Fehler: sprachliche, fachliche, pädagogische. Zu einer positiven Fehlerkultur gehört auch, dass Lehrerfehler kein Tabu sind und kein Unfehlbarkeitsnimbus entsteht.
Erhellend - und auf den ersten Blick so gar nicht erwartet - sind auch Äußerungen zum Thema „Fehler machen" aus der Wirtschaft. Hier zwei Auszüge aus der Videoserie „Lob des Fehlers" von Reinhard Kahl. Hannelore Kerbl, Ausbildungsleiterin bei Wacker Chemie: ,„Ich frag Sie jetzt ganz spontan: Woran haben Sie das meiste gelernt? An den Dingen, die Ihnen gelungen sind, oder an den Aufgabenbereichen, in denen Sie Schwierigkeiten haben?' ,In denen, die mir halb gelungen sind oder nicht gelungen sind.' ,Ja, genau! Und das braucht Mut von beiden Seiten. Von der Seite des Ausbilders, solche
230
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
Fehler auch zuzulassen und nicht im Ansatz schon zu verhindern. Und es braucht Mut von den Auszubildenden, sprich von den jungen Menschen, sich an die Dinge heranzutrauen, auch ein Risiko einzugehen. Es kann ja selbstverständlich ein Fehler passieren. Sie dürfen das nicht so verstehen, dass wir jetzt Fehler konstruieren. Aber der Ausbilder ist aufgefordert, Fehler bis zu bestimmten Punkten zuzulassen, selbstverständlich gibt's hier Grenzen. Auch die Wacker Chemie kann sich nicht erlauben, ihre Kunden zu verärgern, aber bis zu diesen Punkten sollte der Ausbilder Fehler zulassen und sollte dann aber auch Situationen schaffen, dass der Auszubildende diese Fehler selbst wieder beheben kann. "'
John Hormann, IBM Deutschland: „Das war ja auch noch die Idee: Wir wollen alles richtig machen. Wir wollen die Dinge besser machen. Da hängen ja die Japaner fest. Sie wollen besser sein als alle anderen. Und das geht heute überhaupt nicht mehr. Es geht nicht, weil das auf der Ebene der Effizienz ist. Wir müssen mindestens eine Ebene weiter kommen. Nämlich der Effektivität. Die richtigen Dinge machen. Nicht die Dinge richtig machen. Das sowieso, sondern wir müssen die richtigen Dinge machen und das, was wir weglassen können, weglassen. Wir sind gewohnt, dass man immer dazulernt. Oder auch, dass unsere Regierung immer neue Gesetze schafft. Wir müssen uns mal von alten Gesetzen, von alten Denkstrukturen lösen. Wegwerfen, Strukturen weggeben. " 4.6.2 Entspannte Lernatmosphäre
Als lernförderlich gilt ein Lernklima, das durch Stichworte wie „entspannt" und „locker" charakterisierbar ist. Zahllose Untersuchungen der Schulforschung haben belegt, dass es für die Lernfreude, das Lerninteresse und die Lernmotivation günstig ist, wenn die Atmosphäre entspannt ist, wenn öfter auch mal gelacht wird, wenn Lehrer sich selbst nicht immer uneingeschränkt ernst nehmen und als humorvoll wahrgenommen werden. Den angloamerikanischen Forschungsstand fassen Gettinger und Kohler (2006) so zusammen: „The best junior high school teachers solicited and accepted student ideas, joked and smiled frequently, and spent considerable time ,setting the climate' for students on the first day of school. In sum, when teachers are enthusiastic about a subject, students are likely to develop enthusiasm of their own, and, ultimately, to achieve at higher levels." (S. 87) Allerdings sind die Zusammenhänge zwischen einer entspannten Lernatmosphäre - zur Psychophysiologie des entspannten Lernens und verwandter Phänomene siehe Dieterich (2000) - und der Leistungsentwicklung nicht sehr ausgeprägt und tendieren in manchen Studien gegen null. Dies könnte sich daher erklären, dass sich viele Forscher zur Berechnung von Zusammenhängen des verbreiteten Korrelationskoeffizienten bedienen. Dieser prüft bekanntlich die Enge (oder Stärke) von linearen Zusammenhängen zwischen zwei Variablen, also Beziehungen vom Typ „je ... desto". Beim Qualitätsmerkmal „entspannte Atmosphäre" ist jedoch vermutlich nicht eine maximale, sondern eine mittlere Ausprägung günstig, also ein Unterricht zwischen den Extremen humorfrei, dehydriert, dröge, trocken, gespannt, gedrückt, ernst und ausgelassen, exzessiv humorvoll, Feuerwerk von Witzen.
231
Lernförderliches Klima
4.6.3 Überraschungsoffene Grundhaltung
In Kapitel 2 war von Doyles Charakterisierung des Schulklassenkontextes die Rede, der sich im Gegensatz zum Lernlabor - u. a. durch schnelle, unvorhersehbare Reaktionen auszeichnet (simultaneity, immediacy, unpredictability). Diesen Punkt betont Mühlhausen (2007). Er kriti-
siert die bisher praktizierte Lehrerausbildung mit dem Ziel einer optimalen Unterrichtsvorbereitung anhand fachdidaktischer Konzepte und fordert eine „ überraschungsoffene Grundhaltung", verbunden mit „ Überraschungsprophylaxe": „Wenn man sich vor Augen geführt hat, dass Unterricht grundsätzlich ein Abenteuer mit einem für alle Beteiligten unbekannten Ausgang ist, dann ist eine vergleichbare überraschungsoffene Grundhaltung erst recht Lehrern zu empfehlen. Eine solche Grundhaltung gegenüber dem Unerwarteten zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass Lehrer neugierig auf ihre Schüler werden (und bleiben!), anstatt sie danach zu beurteilen, inwiefern diese sich als Objekte i. S. des Lehrerkalküls verhalten. Lehrer sollten gespannt darauf sein, wie Schüler Lehrerfragen aufnehmen und welche Vorschläge sie dazu äußern. Lehrer sollten auf ungewöhnliche Schülerideen ,lauern', statt ungeduldig darauf zu drängeln, dass endlich die einzig erwünschte Antwort kommt [. . .]. Eine überraschungsoffene Grundhaltung drückt sich auch darin aus, mehr Geduld mit Schülern zu haben, wenn diese es brauchen." (S. 269)
Reflexionsaufgabe 68: Konsequenzen einer überraschungsoffenen Grundhaltung Was folgt aus dem Plädoyer Mühlhausens für fachübergreifende Merkmale der Unterrichtsqualität, wie sie in diesem Buch (ebenso wie von Hilbert Meyer) postuliert werden?
4.6.4 Abbau hemmender Leistungsangst
Nach über 100 Jahren Angst- und Stressforschung wissen wir inzwischen gut, wie sich bei wem Leistungsangst auf Lernen und Leistung auswirkt und warum. Abbildung 19 macht deutlich, dass sich Leistungsangst sowohl auf das Lernen (Enkodieren von Information) als auch auf die Leistung und den dafür nötigen Abruf von Informationen (retrieval) auswirkt. Beide Effekte der Leistungsangst können theoretisch sowohl positiv (förderlich) als auch negativ (leistungsbeeinträchtigend) sein. Angst kann die Informationsaufnahme fördern, indem sie zur Mobilisierung aller Ressourcen, zu maximaler Anstrengung und starkem Engagement führt. Andererseits wissen wir aus der Gedächtnisforschung, dass Stoff, der unter starkem Stress gelernt wurde, oberflächlicher verarbeitet und gespeichert wird als Stoff, der unter affektiv neutralen oder positiven Bedingungen gelernt wurde. In der Lernstrategieforschung spricht man auch von surface level processing im Gegensatz zu deep level processing (vgl. dazu auch Kapitel 4.4.1).
Auch in der Phase des Abrufs von gelerntem Wissen (recall) kann Angst sowohl stimulierend wirken als auch blockieren. Die Wirkrichtung hängt von der Kompetenz der betroffenen Person und von der Schwierigkeit der Aufgabe ab (siehe Abbildung 19).
232
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
Informationsaufnahme (encoding)
--
Prüfungsangst
Informationswiedergabe (recall)
+-
+r-
--
Leistung
motivationale Beeinflussung der 1 nformationsverarbeitu ng - positiv (förderlich) - negativ (hemmend, „Übermotivation")
"'
Abbildung 19: Wirkungsweise von Angst auf Lernen und Leistung
Dieser vielfach bestätigte empirische Befund wurde in den letzten Jahren durch Ergebnisse der Hirnforschung ergänzt und unterstrichen (Spitzer, 2002). Der springende Punkt dabei ist, dass im Kontext der Schule die leistungsbeeinträchtigenden Wirkungen der Leistungsangst die leistungsförderlichen Effekte klar dominieren. Mit anderen Worten: Ein lernförderliches Klima bedeutet auch, dass der Unterricht dysfunktionale, leistungsbeeinträchtigende Angst abbaut bzw.
noch besser - dafür sorgt, dass sie gar nicht
erst entsteht. Hierzu können wir auf ein fundiertes, empirisch vielfach gesichertes Wissen zu den Bedingungen der Leistungsangst zurückgreifen (Strittmatter, 1997; Helmke, 1983; Rost & Schermer, 2006). Demnach ist ein Unterricht dann geeignet, Angst abzubauen oder ihr übermäßiges Entstehen zu verhindern, wenn er durch folgende Merkmale gekennzeichnet ist: ~
Schaffung von Sicherheit: die Leistungsbewertung ist berechenbar und transparent, Leis-
~
Klima des Vertrauens zwischen Lehrperson und Schülern (Wärme, Wertschätzung, Freund-
tungssituationen sind vorhersehbar und vorbereitbar; lichkeit); ausdrückliches Sprechen über „Angst" im Unterricht: das Thema enttabuisieren, aber nicht bagatellisieren; ~
individualisierendes, ermutigendes Feedback, Orientierung an einer individuellen Bezugsnorm (Rheinberg, 2006); ein Klassenklima, das durch Kooperation und in geringem Maße durch Wettbewerb und Konkurrenz charakterisiert ist (Zumhasch, 2006).
In diesem Zusammenhang soll auf ein umfassendes Programm zum Angstabbau in der Schule hingewiesen werden, das von Bohse-Wagner und Strittmatter (1986) entwickelt und erfolgreich empirisch überprüft wurde. Ziel der vier Module ist es, 233
Lernförderliches Klima
„ die Lehrer-Schüler-Interaktion zu verbessern, Angst und Angstabbau zum Thema einer Unterrichtseinheit zu machen,
„ die Lehrer zu einer transparenten Gestaltung ihres Leistungsbewertungsprozesses und zu einer verstärkten sach- bzw. individualnormbezogenen Rückmeldung zu veranlassen und den Schülern geeignete Lern- und Arbeitstechniken zu vermitteln Sieland (2007, S. 280) gibt einen Überblick über Möglichkeiten der Prävention und Therapie von Schul- und Leistungsängsten und weist darauf hin, dass drei Strategien aktiviert werden müssen:
„ vermeidbare Stressoren und Angstauslöser abbauen,
die emotionale Kompetenz zur Stress- und Angstbewältigung stärken,
Kompetenzen und Selbstwirksamkeitserfahrungen in kritischen Leistungsbereichen wie zum Beispiel in bestimmten Unterrichtsfächern stärken. 4.6.5 Unterrichtstempo und Wartezeiten
Das Unterrichtstempo ist der Prototyp eines Unterrichtsmerkmals, bei dem es nicht auf Maximierung oder Minimierung, sondern auf Passung, also auf Optimierung, ankommt (hierzu mehr im Qualitätsbereich „Umgang mit Heterogenität"), denn verschieden leistungsstarke Schüler brauchen unterschiedliche Aufgaben und Tempi. Viele Unterrichtssituationen erfordern von der Lehrperson Geduld und Toleranz von Langsamkeit, Abwarten und Zurückhalten spontaner Reaktionen. Auf der anderen Seite wissen wir aus der Unterrichtsforschung, insbesondere durch die Videostudien von Kounin (1970, 2006), dass für einen erfolgreichen Unterricht das momentum wichtig ist, am besten übersetzbar mit „Schwung". Das Gegenteil wäre ein zähflüssiger Unterricht mit dysfunktional langen - und manchmal peinlichen - Pausen. Aus theoretischer Sicht liegt irgendwo auf diesem Kontinuum, zwischen Hektik und Zeitdruck auf der einen Seite und einem quälenden Zeitlupenunterricht auf der anderen Seite, die Zone der Passung. In der Unterrichtsrealität scheint die Gefahr jedoch eindeutig weniger bei zu großer Langsamkeit als bei zu großer Geschwindigkeit des Vorgehens zu liegen, beispielsweise beim Warten auf Antworten. Aus der Unterrichtsforschung gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass es - außer bei Fragen, die auf basic skills, auf Automatisierung und Überlernen abzielen - bei Lehrerfragen zwei kritische Wartezeiten gibt: Wartezeit 1 (Wartezeit nach einer Lehrerfrage an einen Schüler) und Wartezeit 2 (Zeit zwischen einer verbesserbaren Schülerantwort und der Lehrerreaktion), siehe Borich (2007b, S. 152 f.).
Wartezeit 1: In der Unterrichtsforschung besteht Konsens darüber, dass Wartezeiten unter 3 Sekunden nach einer Frage durchweg zu gering sind, weil sie es dem Schüler nicht ermöglichen, in Ruhe seine Gedanken zu ordnen. In der Schulpraxis liegt die durchschnittliche Wartezeit nach einer Frage jedoch unter einer Sekunde (Bromme, 1997, S. 193). Dazu Hattie (2012, S. 75), unter Berufung auf Cazden (2001): „For teachers, questions are often the glue to the flow of the lesson, and they see questions as enabling, keeping students active in the lesson, arousing interest, modelling enquiry, and confirming that most of the students are keeping up. But the majority of questions are about the 'facts, just give me the facts', and the students all 234
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
know that the teacher knows the answer. Teachers are most able to choose students who do or do not know them and use this decision about whom to ask to maintain their flow of the lesson. Students are given, on average, one second or less to think, consider their ideas, and respond (Cazden, 2001); the brighter students are given longer to respond than the less able, and thus those students who most need the wait time are least likely to get it". Gage und Berliner (1998) empfehlen Lehrpersonen, ihre Wartezeit bei low-level questions auf 3 bis 4 Sekunden auszudehnen und bei high-level questions bis zu 15 Sekunden zu warten. Außerdem haben so auch langsamere Schüler die Chance, sich zu melden (sonst kommen oft die gleichen „Blitzmerker" dran). Schüler interpretieren die Wartezeit als Indikator dafür, wie überlegt und gedankenreich eine Antwort sein soll. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Fragen von vornherein auf unverzügliche Antworten abzielen, wie z.B. bei der „Kopfrechengymnastik", dem Einüben des Grundwortschatzes etc. ( „Überlernen"). Hier wären Wartezeiten dysfunktional, weil es ja gerade um Automatisierung und schnellen Abruf geht. Wartezeit 2: Wenn - beispielsweise nach kursorischen, bruchstückhaften oder zu kurzen
Schülerantworten (so im Fremdsprachenunterricht nach den verpönten „Einwortsätzen" oder „Zweiwortsätzen") - die Lehrperson sofort danach reagiert, indem sie z.B. das Gespräch fortsetzt, zeigt sie damit implizit, dass es ihr so recht war. Baut sie dagegen nach suboptimalen Schülerantworten eine kurze Verzögerung ein, signalisiert sie damit dem Schüler: „Ich erwarte von dir, dass du deine Antwort noch ein wenig ergänzt, verbesserst, differenzierst, elaborierst!", und zugleich, dass sie es ihm zutraut. Eine solche Kombination aus anspruchsvollen Erwartungen (try harder!) und Ermutigung (you can!) zeigt ein Klima an, das für die Förderung der Anstrengungsbereitschaft und des Lernengagements pädagogisch günstig ist. Ein auf den ersten Blick verschwenderischer Umgang mit der Unterrichtszeit kann also - bei guter Dosierung und gutem Timing - eine hohe Rendite mit sich bringen. Für beide Wartezeiten gilt nach Borich (2007a, S.319), dass ihre Erhöhung auf Dauer Folgendes bewirkt: ~
~
Die Lernenden geben auf Fragen längere Antworten. Die Lernenden melden sich freiwillig, um zu antworten. Es gibt weniger unbeantwortete Fragen.
~
Die Lernenden sind sich ihrer Antworten sicherer. Die Lernenden sind eher bereit, spekulative Antworten zu geben. Die Lernenden stellen selbst mehr Fragen.
In der DESI-Videostudie wurde bei allen videografierten 210 Englischstunden auf Mikroebene u. a. kodiert, wer wie lange und wie oft im Verlauf einer Stunde spricht. Aus diesem Basisdatensatz lässt sich u. a. berechnen, wie viel Prozent der gesamten Unterrichtszeit auf Lehrerfragen entfällt und was nach Lehrerfragen passiert.
235
Lernförderndes Klima · Schülerorientierung
1
Häufigkeit
1
Darstellung 18%
anderes (Hilfestellung, Aufforderung ... ) 51%
Frage 12%
Schüler/in antwortet spontan 49%
Lehrperson wartet nicht 40%
anderes (weitere Frage, Anweisung „.) 66% 1
Lehrperson antwortet selbst (3%) f
Abbildung 20: Wartezeit nach Lehrerfragen, DESl-Videostudie (Helmke, Schrader, Wagner, Nold &Schröder, 2008, S. 354)
Abbildung 20 zeigt, dass knapp die Hälfte der Lehrerfragen von den Schülerinnen und Schülern spontan beantwortet wird (49 %). Ist dies nicht der Fall, das heißt, es vergehen mehr als 3 Sekunden, haben Lehrpersonen verschiedene Möglichkeiten zu reagieren: Hilfestellung geben, eine andere Frage stellen, die Frage an einen anderen Schüler weiterreichen, die Frage selbst beantworten, im Stoff weitergehen etc. Dies tun Lehrkräfte in ca. 40 Prozent der Fälle. Sie können jedoch auch warten, also der gefragten Schülerin oder dem gefragten Schüler Zeit geben, die Antwort zu überlegen. Dies passiert allerdings nur in ca. 11 Prozent der Fälle. Nimmt man die Wartezeit unter die Lupe, dann ergibt sich, dass sie von 3 Sekunden (definitionsgemäß die untere Grenze) bis knapp 10 Sekunden reicht. Der Mittelwert liegt bei 6.7 Sekunden.
4. 7 Schülerorientierung Das Qualitätsmerkmal „Schülerorientierung" hängt zwar eng mit lernförderlichem Klima zusammen, ist aber ein Bereich sui generis, weil es hier primär darum geht, dass Schüler, unabhängig von Lernen und Leistung, als Person ernst genommen und wertgeschätzt werden. Dies hat viel mit dem affektiven Aspekt der Lehrer-Schüler-Beziehung und dem Wohlbefinden von Schülerinnen und Schülern zu tun: Ein schülerorientierter Unterricht ist dadurch
gekennzeichnet, dass Schülerinnen und Schüler die Lehrperson als Ansprechpartner auch in nichtfachlichen Fragen erleben und sie als fürsorglich und an der Schülerperson - nicht nur ihrem Leistungsniveau und Lernfortschritt - interessiert, gerecht und fair wahrnehmen. Bei Meyer (2004) ist die Schülerorientierung Teil des „lernförderlichen Klimas", das sich u. a. in gegenseitigem Respekt, Verantwortungsübernahme und Fürsorge ausdrückt. In der Fachdidaktik trifft man demgegenüber oft auf ein sehr breites Verständnis von „ Schülerorientierung", das Aspekte umfasst, die hier unter „Passung" und „Motivierung" laufen. So schreibt Mindt (2002): „Schülerorientierung: Jede Planung und Durchführung von Unterricht sollte von den in der Bedingungsfeldanalyse ermittelten Voraussetzungen ausgehen. Das bedeutet u. a., dass bei der Formulierung der Lernziele und der Lernin-
236
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
halte die Erfahrungen und Interessen der Schüler angemessen berücksichtigt und die Schüler auch an deren Auswahl in geeigneter Weise beteiligt werden. Je mehr Raum ihnen der Englischunterricht zur Äußerung ihrer eigenen Gedanken, Meinungen, Gefühle und Wünsche zur Verfügung stellt, desto größer wird in der Regel die Lernbereitschaft der Schüler und damit auch die Effektivität des Unterrichts sein [. .. ]. Schülerorientierung bedeutet auch, dass nicht ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Lernerfolge von Lektion zu Lektion fortgeschritten wird, sondern erst dann, wenn die ausgewählten Unterrichtsgegenstände ausreichend gefestigt sind." (S. 105)
Praktisch heißt dies, sich in der Planung und Durchführung des Unterrichts konsequent am Schüler zu orientieren, an seinen Interessen, seinem Vorwissen, seiner Aktivierung etc. Zugleich wird in einem schülerorientierten Unterricht die erzieherische Aufgabe von Lehrpersonen deutlich, die damit zum Ausdruck bringen, dass ihre Verantwortung mehr umfasst als den Kompetenzerwerb. Hierzu Struck (2008) („Die 15 Gebote des Lernens"): „Neben Fachlehrern, die Fächer beherrschen, brauchen Schulen zunehmend Klassenlehrer, die auch etwas von Ernährung, Bewegung, Spiel, Verhaltens- und Lernstörungen, Gewalt- und Suchtprävention, Medienerziehung und Elternschaftlernen im Sinne einer zugehenden Pädagogik verstehen, zumal da mittlerweile etwa 30 Prozent der deutschen Eltern Angst vor Erziehung haben und etwa 60 Prozent der deutschen Kinder nicht mehr hinlänglich erzogen in die Schule kommen. Die altbewährte Arbeitsteilung, mit der die Familie erzieht und die Schule bildet, funktioniert bei immer mehr Kindern nicht mehr, sodass die Schule ihren klassischen Bildungsauftrag mit einem breiteren erzieherischen Rahmen anreichern muss. In dem Maße, wie die Schule auch langfristig nicht die Erziehung des Elternhauses wird übernehmen können, und nicht Reparaturbetrieb der Gesellschaft wird werden dürfen, muss sie gegenläufig wenigstens den Eltern bei der Erziehung zu helfen vermögen, damit ihre Bildung gelingt." 35 (S. 4)
Anno dazumal empfahl Schnell (1850): „ Versteht es der Lehrer, väterlichen Ernst, väterliche Liebe, väterliche Autorität in der Schule zu behaupten und wal-
ten zu lassen, so wird er sich den Schülern weder zu nah, noch zu fern stellen, den rechten Ton der Freundlichkeit und der Strafe treffen, ohne ins Abnorme zu gerathen; so wird er die rechte That zur rechten Zeit vollbringen, und daher nicht lange wackeln und fackeln, wenn und wo es gilt, dem Leichtsinne durch eine derbe Rüge und der frechen Lüge durch eine gehörige Züchtigung zu begegnen; so wird er das gute, rechte Wort zur guten, rechten Stelle reden und weder vieler Kunststücke noch allerlei künstlicher Maßregeln bedürfen, um auch äußere Zucht und Ordnung in der Schule aufrechtzuerhalten; er wird ferner weder zu viel regieren noch zu wenig erziehen; er wird mit einem Worte den rechten Weg, die rechte Weise und das rechte Maaß auch als Erzieher zu treffen wissen. " (S. 53f.)
In Fragebögen zur Unterrichtsqualität aus Schülersicht wird zur Erfassung von Schülerorientierung dementsprechend gefragt, ~
ob sich die Schüler von der Lehrperson respektiert fühlen,
~
ob die Lehrperson zu sprechen ist, wenn es etwas Persönliches zu bereden gibt,
35 http://www.erasmus-viersen.de/schueler/sonstiges/Struck_15_Gebote_ des _Lernens.pdf
237
Schülerorientierung
• ob sich die Lehrperson bei Schwierigkeiten Zeit für die Schüler nimmt, • ob die Lehrperson- als Ausdruck persönlichen Interesses-über die Stärken und Schwächen einzelner Schüler im Bilde ist, • ob die Lehrperson auf Anregungen und Vorschläge der Schülerinnen und Schüler eingeht, • ob sie bei Fragen der Unterrichtsgestaltung mitreden und mitbestimmen können. Ein hohes Ausmaß an Schülerorientierung (erfasst aus Sicht der Schüler) geht einher mit einer positiven Einstellung zur Schule, zum Lehrer und zum Lernen, mit Wohlbefinden, größerem Selbstvertrauen und günstigerer Lernmotivation. Es betrifft aber auch die Beteiligung von Schülern am Schulleben, von Klassenräten bis hin zu Schulversammlungen, das heißt, es geht auch um die Förderung der Fähigkeit und Bereitschaft zum demokratischen Zusammenleben. Dies erscheint besonders nötig angesichts der Ergebnisse der internationalen CIVIC-Studie der IEA, der zufolge die Bereitschaft deutscher Achtklässler zu politischem Engagement unter dem Durchschnitt anderer Länder liegt und die auch gezeigt hat, dass sich deutsche Achtklässler durch den höchsten Grad an Fremdenfeindlichkeit, Angst vor Fremden (Xenophobie) und der Ablehnung von Fremden auszeichnen. 36 Ist das „ Duzen" von Lehrern durch Schüler Ausdruck von Schülerorientierung? Dieses Thema ist immer wieder mal Gegenstand von Proklamationen und Diskussionen. Hierzu eine Pressemeldung der „Rheinzeitung" vom 8. 5. 2008:
Die Schüler im Land wollen ihre Lehrer duzen. Das ist eine der Forderungen der etwa 120 Sprecher der Gymnasien und Gesamtschulen in ihrem Abschlusspapier der 44. Landeskonferenz. Die informelle Anrede „Du" muss auch an den weiterführenden Schulen Standard sein, heißt die Aufforderung der Schüler an die Landespolitiker. „Es gilt, eine vertrauensvolle Atmosphäre zwischen Lehrern und Schülern aufzubauen und die durch das Sie künstlich geschaffene Distanz abzubauen. " Gegenseitige Anerkennung und Respekt lassen sich nach Auffassung der Schüler nicht durch Autorität schatten. Lehrerverbände reagieren skeptisch auf die Duz-Forderung. Felix M. (19), Sprecher der LandesschülerlnnenVertretung, hält das Duzen für „natürlicher". „Die Idee kam eigentlich aus der Betrachtung der Grundschule. Da duzen die Schüler ihre Lehrer heute", meint er. Dann folge der unnötige Wechsel zum „Sie" durch den Wechsel auf die weiterführende Schule. Er manifestiere das „Machtgefälle" zwischen Lehrer und Schüler. Kasten 45: Schüler wollen die Lehrer duzen (Rheinzeitung vom 8. 5. 2008)
Reflexionsaufgabe 69: Sollen Lehrer ihre Schüler und Schüler ihre Lehrer duzen? •
Welche Argumente sprechen für und welche gegen die beiden Varianten des Duzens?
36 http://www.iea.ni/cived.html
238
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
4. 7.1 Schülerfeedback
Vom Schülerfeedback als Methode wird noch ausführlich in Kapitel 5.5 die Rede sein, und im Online-Anhang sind Beispiele für Schülerfragebögen aufgeführt. Der systematische und regelmäßige Einbezug der Schülerinnen und Schüler ist ein wichtiger Aspekt der Schülerorientierung: Schüler werden als Zielgruppe des eigenen Tuns nicht nur wahr-, sondern auch ernst genommen. Die meisten Orientierungsrahmen zur Schulqualität in den Bundesländern weisen unter den Stichworten „Qualitätssicherung", „Interne Evaluation" oder „Individualfeedback" auf den Nutzen und die Wichtigkeit von Schülerfeedback hin. Aus vielfältigen Erfahrungen kann geschlossen werden, dass Schülerinnen und Schüler es sehr zu schätzen wissen, wenn ihre Meinung zum Unterricht, ihre Präferenzen, Wünsche und Kritikpunkte Gegenstand des Interesses und der Diskussion sind. Leider werden die damit verbundenen Möglichkeiten in der Schulpraxis kaum ausgenutzt. Und dies, obwohl inzwischen zahlreiche erprobte und aussagekräftige Werkzeuge zur Verfügung stehen, man also nicht in jeder Schule zum Zwecke des Schülerfeedbacks das Rad neu erfinden muss. Allerdings kann Schülerfeedback nur dann als Ausdruck von Schülerorientierung gelten, wenn nicht bloß Daten erhoben werden, sondern wenn über die Ergebnisse und mögliche Konsequenzen daraus gesprochen wird. Von minimalem wissenschaftlichem, unter Umständen jedoch von praktischem Interesse ist es, einmal den Blick auf eine derzeit verbreitete Sichtweise der „Unterrichtsqualität" und des „guten Lehrers" zu lenken, wie sie auf der Internetseite von „spick-mich! " 37 auftaucht. Auf dieser Seite können Schülerinnen und Schüler ihre Lehrpersonen auf einer Reihe von Merkmalen benoten, z.B. ob sie eher „cool und witzig" oder „peinlich und öde", „menschlich" oder „unmenschlich" sind usw. Zusätzlich wurde ein entsprechendes Forum auch für Eltern eingerichtet, die Noten für Lehrer, Schulleitung, das Klima an der Schule und das Gebäude vergeben können. 38 Einen ähnlichen Trend gibt es übrigens auch für die Bewertung von Hochschullehrern. 39 Obwohl die Existenz anonymer Urteile im Internet ein Ärgernis ist, sind bisher alle Versuche, diese Art von „Evaluation" mit rechtlichen Mitteln zu verhindern, unter Hinweis auf das Recht zur freien Meinungsäußerung gescheitert. Die sicherste Methode, eine solche Pseudo-Evaluation zu vermeiden, ist: ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem die Lehrkraft in ihrer Klasse selbst ernsthafte Rückmeldungen zu ihrem Unterricht einholt und darüber spricht. 4. 7.2 Unterrichtsbeteiligung
Hiermit ist dreierlei gemeint: Mitentscheidung über Fragen des Unterrichts, Mitgestaltung des Unterrichts und aktive Beteiligung am Unterricht. Bereits die Rutter-Studie (1983) konnte belegen, dass sich die aktive Einbindung von Schülern in Form verantwortlicher Aufgaben und Ämter positiv auf das Schülerverhalten auswirkt. Seit den Ergebnissen der Untersuchungen
37 http://www.spick-mich.de 38 http://www.schulradar.de 39 http://www.meinprof.de
239
Schülerorientierung · Kompetenzorientierung
von Fend zu den Sozialisationseffekten der Schule (Fend et al., 1976) wissen wir, dass die Mitgestaltung des Unterrichts durch Schüler sowie die altersangemessene Beteiligung an unterrichtsrelevanten Entscheidungen ein wichtiger Hebel für die Förderung der Lernmotivation sein kann. In Abhängigkeit vom Alter und vom Schulfach gibt es hierfür eine breite Palette von Möglichkeiten, von der Mitsprache bei der Auswahl von Themen bis hin zur Delegation von Lehrfunktionen durch den Lehrer an den Schüler. In der DESI-Studie sind die Schüler u. a. danach gefragt worden, ob und in welcher Weise sie Mitgestaltungsmöglichkeiten im Deutsch- und Englischunterricht haben. Die Ergebnisse für Englisch sind in Abbildung 21 aufgeführt: Dein paar Mal pro Woche
ein paar Mal pro Monat
ein paar Mal pro Jahr •
nie
Auswahl von Lerninhalten
Hausaufgaben zur Auswahl
Aufgaben zur Auswahl in Arbeiten
Reihenfolge der Lerninhalte
von Schülern entwickelte Aufgaben 0%
20%
40%
60%
80%
100%
Abbildung 21: Mitbeteiligung von Schülern am Englischunterricht (Helmke, Helmke, Schrader, Wagner, Nold & Schröder,
2008e, S. 380)
Es fällt auf, dass über ein Drittel der Schüler angeben, niemals bei der Auswahl von Lerninhalten beteiligt worden zu sein; am geringsten ist die Chance, selbst Aufgaben zu entwickeln: Zwei Drittel der befragten Schülerinnen und Schüler haben dies nie erfahren.
4.8 Kompetenzorientierung 4.8.1 Orientierung an den Bildungsstandards
Ein wesentliches Ziel des Unterrichts ist der Erwerb von Kompetenzen, wie sie in den Bildungsstandards beschrieben sind. Bildungsstandards sind ja nichts anderes als erwartete Kompetenzen. Anders als die altbekannten Lehrpläne beschreiben sie nicht, was durchgenommen werden soll, sondern was Schüler am Ende können sollen. Grundlage eines kompetenzorientierten Unterrichts ist also eine an messbaren Ergebnissen des Unterrichts ausgerichtete empirische Orientierung. 240
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
Kompetenzorientierter Unterricht ist zunächst einmal ein Unterricht, der bewusst und geplant die Förderung der in den Bildungsstandards formulierten Kompetenzen zum Gegenstand hat. Deren Nutzung für den Unterricht wird durch Aufgaben, Beispiele und Werkzeuge der Selbstevaluation erleichtert. Hierzu sind auf Initiative des IQB bereits einige Publikationen für Lehrpersonen erschienen, zum Beispiel für Mathematik/Grundschule (Walther, Van den HeuvelPanhuizen, Granzer & Köller, 2008), Mathematik/Sekundarstufe I (Blum, Drüke-Noe, Hartung & Köller, 2008), Französisch/Sekundarstufe I (Tesch, Leupold & Köller, 2008) und Englisch/
Sekundarstufe I (Rupp, Vock, Harsch & Köller, 2008); weitere werden folgen. Ein konsequent kompetenzorientierter Unterricht folgt anderen Regeln als traditioneller Unterricht. Lersch (2007) hat die damit verbundene didaktische Strategie, die ein Umdenken erfordert, plastisch beschrieben: „Unter den neuen Bedingungen (insbesondere bei abschlussbezogenen Bildungsstandards) müssen Curricula, Jahrespläne, Unterrichtseinheiten und -stunden von ihrem angezielten Ende her konzipiert werden, indem der kumulative Prozess des Kompetenzerwerbs quasi ,rückwärts' von der distalen Kompetenz in proximale Kompetenzen ,zerlegt' wird (downsizing) (Lange, 2005). (S. 40) 11
Ein Problem liegt darin, wie die für eine bestimmte Klassenstufe entwickelten Standards auf darunterliegende Klassenstufen „herunterzubrechen" sind. Was beispielsweise folgt aus den Grundschulstandards (die sich auf Kompetenzen am Ende der Grundschulzeit beziehen) für den Unterricht in der 2. und 3. Klasse? Hier zeigt sich: Kompetenzorientierter Unterricht setzt eine neue Qualität des Professionswissens, genauer genommen: des pedagocial content knowledge voraus, nämlich Wissen über den Kompetenzerwerb.
Hierzu Lersch (2007): „Solange noch nicht für alle Domänen entsprechende validierte Kompetenzmodelle vorliegen oder aber auch im Praxisalltag bei der Planung z.B. einer mehrstündigen Unterrichtseinheit durch Lehrer(innen), ist die Entwicklung eines Kompetenzrasters oder besser noch: der Entwurf eines Kompetenzerwerbsschemas hilfreich[. .. ] Der Entwurf eines solchen Kompetenzerwerbsschemas ist praktisch die Planung für kompetenzfördernden Unterricht. Es beinhaltet sämtliche didaktischen und methodischen Entscheidungen einschließlich ggf. überprüfter Zwischenziele, die die Lehrkraft nach Diagnose der Ausgangslage der Schüler(innen) im Interesse des angestrebten Kompetenzerwerbs getroffen hat: Es enthält präzise Angaben über Auswahl und Abfolge in der Vermittlung des notwendigen systematischen Wissens (didaktische Entscheidungen) ebenso wie klare Vorstellungen über mögliche Situierungen für die sukzessive Kultivierung fachlichen und überfachlichen Könnens (methodische Entscheidungen).
11
(S. 40)
Blum et al. (2008, S. 15ff.) haben einmal formuliert: „Jede einzelne Unterrichtsstunde und jede Unterrichtseinheit muss sich daran messen lassen, inwieweit sie zur Weiterentwicklung inhaltsbezogener und allgemeiner Schülerkompetenzen beiträgt [„ .] Die wichtigste Frage ist nicht ,Was haben wir durchgenommen?', sondern: Welche Vorstellungen, Fähigkeiten und Einstellungen sind entwickelt worden?" In genau diesem Sinne wurde im Projekt EMU-Unter241
Korn petenzorientieru ng
richtsdiagnostik ein Zusatzbereich geschaffen: „Kompetenzorientierter, an den Bildungsstandards orientierter Unterricht" (siehe http://www.unterrichtsdiagnostik.de/downloads/fragebogen). Dort geht es um die rückblickende Einschätzung einer Unterrichtsstunde im Hinblick darauf, welche Kompetenzen eigentlich Gegenstand in dieser Stunde waren. Die Beschäftigung mit dieser Frage soll mehrere Ziele erreichen helfen: ~
Kenntnis und Verständnis der Bildungsstandards,
~
Reflexion, inwiefern bestimmte Kompetenzen konkret gefördert wurden,
~
Planung konkreter kompetenzorientierter Aufgabenstellungen.
Für die Entwicklung von Items für diesen Bereich kommen insbesondere die Bildungsstandards in Frage, wobei es aus Platz- und Zeitgründen ratsam ist, sich zu beschränken, also entweder in die Breite oder in die Tiefe zu gehen. ~
Breit wäre ein Ansatz, bei dem gefragt wird, welche übergeordneten Kompetenzen Gegenstand waren (bei den Bildungsstandards für das Fach Deutsch/Grundschule z.B. auf die übergeordneten Bereiche Sprechen und Zuhören, Schreiben, Lesen - mit Texten und Medien umgehen und Sprache und Sprachgebrauch untersuchen). Tief wäre ein Ansatz, bei dem Teilkompetenzen innerhalb einer Kompetenz fokussiert werden (bei den Bildungsstandards z.B. innerhalb des Kompetenzbereichs „Sprechen und Zuhören": Gespräche führen, zu anderen sprechen, verstehend zuhören, szenisch spielen, über Lernen sprechen).
Zur Erleichterung der Nutzung dieses Werkzeugs in der Schulpraxis wurden alle derzeit geltenden Bildungsstandards zusammengestellt; die Standards für das Fach Deutsch finden sich etwa unter http ://unterrichtsdiagnostik.info/media/files/Bildungsstandards_Deutsch. pdf. Daraus können die entsprechenden Abschnitte per Drag-and-Drop in den dafür vorgesehenen Bereich eingefügt werden. Ditton (2007) weist in seinem Aufsatz „Erwartungen verdeutlichen und Ergebnisse sichern - Was wissen wir über Kompetenzorientierung?" auf die überragende Rolle der Bildungsstandards und der zu ihrer Überprüfung entwickelten Lernstandserhebungen hin: „Bildungsstandards orientieren sich an Bildungszielen, denen schulisches Lernen folgen soll, und konkretisieren diese in Form von Kompetenzanforderungen, mit denen festgelegt wird, über welche Kompetenzen die Schüler verfügen müssen, wenn wichtige Ziele der Schule als erreicht gelten sollen." (S. 41) Er weist in diesem Zusammenhang insbesondere auf die vom Projekt VERA entwickelten Methoden und Formate der webbasierten Ergebnisrückmeldung hin und schlussfolgert: „Entscheidend ist nun, wie die damit gegebenen Möglichkeiten an den Schulen und von den einzelnen Lehrkräften genutzt werden, z. B. um ~
eine kritische Einschätzung des Ertrags des eigenen Unterrichts vorzunehmen, den Bezugsmaßstab der Notengebung zu reflektieren und ggf. zu adjustieren, spezifischen Förderbedarf einzelner Schüler zu erkennen,
242
~
zu entscheiden, auf welche Kernbereiche hin der Unterricht stärker fokussiert werden könnte,
~
im kollegialen Austausch von den Erfahrungen anderer zu profitieren und eigene Erfahrungen weiterzugeben." (S. 42)
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
Ziener (2008) hat ein Konzept für den standardorientierten Unterricht entwickelt, verbunden mit einem Fortbildungsprogramm. Ausgehend von einer Darstellung verschiedener Kompetenzerwartungen (Standards) in Form von Rastern beschreibt er Methoden, wie auf dieser Grundlage schulinterne Curricula entwickelt werden. Gestützt auf eine Durchsicht der in den Bildungsstandards enthaltenen Kompetenzerwartungen belegt er, dass es trotz vieler Unterschiede in sprachlichen Details im Grunde genommen vier Typen von Fähigkeiten gibt, die im Unterricht erworben werden sollen: Fähigkeiten aus den Bereichen ~
Wahrnehmen, Wissen und Verstehen, Sprechen und Auskunft geben, Erarbeiten und Gestalten sowie, Planen und Zusammenarbeiten.
In diesem Zusammenhang ist das Entwicklungsprojekt FORMAT der KMK zu nennen, das eines der Handlungsfelder nach PISA aufgreift. Der Autor dieses Buches ist wissenschaftlicher Berater dieses Projektes mit dem Titel „Bereitstellung von Fortbildungskonzeptionen und -materialien zur kompetenz- bzw. standardbasierten Unterrichtsentwicklung" in den Fachbereichen Deutsch, Mathematik, Naturwissenschaften und Fremdsprachen (Sekundarstufe I). Inhaltlich geht es um die Frage, welche Kompetenzen Lehrerinnen und Lehrer entwickeln müssen und welche Instrumente/welches Handlungs- und Methodenrepertoire ihnen zur Verfügung stehen müssen, damit sie einen kompetenzbasierten Unterricht an ihrer Schule planen und durchführen können. Zielgruppe des zu entwickelnden Fortbildungsmaterials sind vornehmlich die Fachgruppen in Schulen, daneben soll das Material auch für die Lehreraus- und -fortbildung genutzt werden. Die Arbeitsergebnisse umfassen Materialien und Handreichungen (gedruckt und in elektronischer Fassung) zu folgenden Themen (Projektleitung for.mat, 2009): ~
Grundsätze der Arbeit in Fachgruppen/Fachkonferenzen als professionelle schulinterne Lerngemeinschaften für den kompetenz- bzw. standardbasierten Unterricht;
~
Konzeptionen für die Gestaltung von Workshops und Sitzungen solcher Fachkonferenzen/ Fachgruppen; Materialien für die Arbeit in Fachgruppen/Fachkonferenzen, z.B. strukturierte Planungshilfen für kompetenzbasierten Unterricht (wie Kompetenzraster, Planungsschemata etc.).
Zu neueren Entwicklungen im Bereich des kompetenzorientierten Unterrichts siehe AfL (2010), Freytag-Baumgartner & Dyrda (2010), Tschekan (2011), Drieschner (2009), Wellenreuther (2011) und Klinger & Asbrand (2012). 4.8.2 Leistungsmessung in Schulen
Methoden der Leistungsmessung sind ein umfassendes Themengebiet, und es kann nicht Ziel dieses Textes sein, hier ein Kurzprogramm zur Entwicklung, Durchführung und Auswertung von Leistungstests zu geben. Hierfür stehen gute Lehrbücher (z.B. Lukesch, 1998; Langfeldt & Tent, 1999; Tent & Stelzl, 1993) zur Verfügung. Hervorgehoben werden soll vor allem das für diese Frage zentrale, im Auftrag der KMK von Franz E. Weinert herausgegebene Buch „Leistungsmessungen in Schulen" (2001a) sowie das Friedrich Jahresheft 2012 („Schule vermessen"). 243
Korn petenzorientieru ng
Nach einem Überblick über die Vielfalt unterschiedlicher Messmethoden soll exemplarisch für das Projekt VERA berichtet werden, wie sich Vergleichsarbeiten für die Schul- und Unterrichtsentwicklung nutzen lassen. Da sich Vergleichsarbeiten an den Bildungsstandards orientieren, also an erwartbaren Kompetenzen der Schüler an bestimmten Gelenkstationen der Schulkarriere, ist die effiziente Nutzung des Instrumentes „Vergleichsarbeiten" ein konstitutiver Bestandteil der Kompetenzorientierung. 4.8.3 Methoden der Evaluation schulischer Leistungen
Zu einer entwickelten Evaluationskultur gehört es, eine Vielfalt von Methoden und Techniken zur Messung schulischer Leistungen einzusetzen. Nicht weil Vielfalt per se ein Gewinn wäre, sondern weil allen Methoden Schwächen innewohnen, die durch Kombination mit anderen Verfahren zumindest entschärft werden können, und zweitens aus Gründen der Fairness gegenüber den Schülerinnen und Schülern. Aus dem gleichen Grund, aus dem eine Vielfalt von Unterrichtsmethoden geboten ist (vgl. dazu auch Kapitel 4.10), sind nach Möglichkeit auch unterschiedliche Messmethoden bei der Leistungserfassung einzusetzen, um den unterschiedlichen Präferenzen und Kompetenzen auf Schülerseite entgegenzukommen. Zu den verschiedenen Methoden können hier nur Stichworte gegeben werden; wer darüber mehr erfahren will, konsultiere eines der zu Beginn dieses Kapitels genannten Standardwerke. Vorab ein wichtiger Hinweis: Man muss unterscheiden zwischen der Methode der Erfassung schulischer Leistungen einerseits und der Rückmeldung dieser Ergebnisse an die
Schülerinnen und Schüler andererseits. Beides wird gelegentlich miteinander verwechselt. Es handelt sich jedoch um völlig unabhängige Themen. Hier zunächst ein Blick auf einige Erhebungsmethoden. Lernstandserhebungen und Vergleichsarbeiten. Das größte deutsche Vergleichsarbeiten-
Projekt (VERA) nahm seinen Ausgangspunkt im Projekt „Vergleichsarbeiten in der Grundschule" in Rheinland-Pfalz (Helmke & Hosenfeld, I., 2003a, 2003b). Das Projekt ist an den Bildungsstandards orientiert, die die KMK für die Grundschule entwickelt hat. Nachdem VERA bis 2005 zunächst nur für einen Verbund von sieben Bundesländern durchgeführt wurde, einigten sich die Länder im Jahre 2007 darauf, VERA künftig in allen Bundesländern durchzuführen, und zwar jeweils am Ende der 3. Klasse (VERA-3), der 6. Klasse (VERA-6) und am Ende der 8. Klasse (VERA-8). Ziel der Vergleichsarbeiten ist es, auf einer empirischen Basis (Kompetenztests) fachliche, fachdidaktische und pädagogisch-psychologische Impulse für die Schul- und Unterrichtsentwicklung zu liefern. Die aktive Beteiligung der Lehrkräfte an der Durchführung und Auswertung soll zu schulinterner Kooperation und Diskussion über z.B. Standards, Unterrichtsgestaltung oder Beurteilungspraxis anregen und damit einen Beitrag zur Professionalisierung leisten. Standardbasierte Tests, die vom IQB entwickelt wurden, verwenden - wie die Vergleichsar-
beiten - empirisch normierte („geeichte") Aufgaben. Anders als die Vergleichsarbeiten werden sie von Testleitern (statt von den Lehrpersonen) durchgeführt und eignen sich aufgrund ihres Designs für das Bildungsmonitoring, nicht aber für die Standortbestimmung einzelner Schulen oder Klassen. 244
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
Tests mit Mehrfachwahl-Antworten (Multiplechoice). Spätestens seit TIMSS wird dieser Typ
von Test - sowohl bei Fragebögen zur Selbst- und Unterrichtseinschätzung als auch bei Leistungstests - in internationalen wie nationalen Schulstudien in großem Umfang eingesetzt und hat sich dort gut bewährt. Multiple-Choice-Testaufgaben bieten den Vorteil der leichten Auswertbarkeit, die sie für alle groß angelegten Untersuchungen unverzichtbar macht. Die verbreitete Einschätzung, der zufolge Multiple-Choice-Tests nur Oberflächen- und Faktenwissen erfassen können, ist längst widerlegt. Trotzdem hält sich diese Ansicht gerade bei vielen Lehrkräften noch hartnäckig. Dass Mehrfachwahlantwort-Tests auch Beschränkungen haben, ist unbestritten. Insbesondere kann man als Lehrkraft (oder Forscher) die tatsächlichen Lösungswege und Fehlertypen bei solchen Tests nicht erkennen. Es gibt jedoch die Möglichkeit, die „Distraktoren" (das heißt die neben der richtigen Antwort angebotenen falschen oder suboptimalen Antworten) so zu gestalten, dass sie stellvertretend für typische Fehler bei der jeweiligen Aufgabe sind und dass auf diese Weise die Fehlermuster einer Klasse Hinweise auf mögliche Defizite bei Vorkenntnissen, Lerngelegenheiten oder Didaktik geben können. Richtige Antworten können auch durch Raten zustande kommen. Wenn der Test genügend Aufgaben aufweist, ist das kein wirkliches Problem. Problematischer ist schon, dass es bei Schülern eine unterschiedliche Bereitschaft zu raten gibt. Aber solche unterschiedlichen Tendenzen des „intelligenten Ratens" lassen sich durch geeignete Instruktionen weitgehend entschärfen (z.B. durch den Hinweis, im Zweifel eher die wahrscheinlichste Antwort anzukreuzen und damit zumindest eine gewisse Trefferchance zu haben, als die Frage gar nicht zu bearbeiten). Verhaltenstests („performance assessment"). Dabei handelt es sich um praktische Aufga-
ben - als Alternative (bzw. Ergänzung) zu den gängigen Multiple-Choice-Tests wie auch zu Klassenarbeiten: „Performance assessment aims to provide students with a testing environment which is more ,true to life' and ,authentic' than the traditional paper-and-pencil written test, and, by providing them with equipment and materials to manipulate in a realistic problem-solving situation, attempts to elicit pertormances or behaviors which will be a more valid indication of the students' understanding of concepts and potential performance in real life situations. "40
Die TIMS-Studie 1995 enthielt eine Option zur Durchführung solcher Tests (im Bereich der Naturwissenschaften), die jedoch wegen des Aufwandes und methodischer Schwierigkeiten nur von wenigen Ländern (wie z.B. der Schweiz) realisiert wurden. Dort wurden zusätzlich zu den Tests standardisierte Experimente durchgeführt (vgl. Reusser, Pauli & Zollinger, 1998). Portfolio. Ein in letzter Zeit auch hierzulande zunehmend populäres Werkzeug sind Portfolios.
Sie umfassen eine Sammlung unterschiedlichster Schülerarbeiten: Tests, Hausaufgaben, Logbücher, Bilder, Leistungsresultate und andere Dokumente, die in ihrer Gesamtheit einen umfassenden und ganzheitlichen Blick auf die Leistungen eines Schülers und seine Entwicklung im Laufe der Zeit ermöglichen (vgl. Hascher & Schratz, 2001; Andexer & Thonhauser, 2001). 40 http://timss.bc.edu/timss1995i/TIMSSPDF/PAintro.pdf
245
Kompetenzorientierung
Selbstbewertung der Leistung durch Schülerinnen und Schüler. Dies klingt nur auf den ersten
Blick absurd oder weltfremd, denn damit ist nicht etwa gemeint, dass solche Selbstbewertungen objektive Angaben (wie die auf der Basis von Tests) oder Urteile der Experten (Lehrerurteile) ersetzen sollen. Vielmehr können wiederholte Selbsteinschätzungen der eigenen Leistungen durch die Schülerinnen und Schüler bewirken, dass die Sensibilität für eigene Stärken und Schwächen sowie die Fähigkeit zur realistischen Selbsteinschätzung gesteigert werden, was eine wichtige Voraussetzung für die Selbststeuerung des Lernens und den wirkungsvollen Einsatz von Lernstrategien ist. Darüber hinaus kann die Kontrastierung von Selbst- und Fremdbewertung der Schülerleistung bewirken, dass der Lehrkraft bisher verborgen gebliebene Defizite sowohl der Schülerinnen und Schüler als auch der eigenen Person (ungerechte oder unfaire Leistungsbeurteilung) klar werden. 4.8.4 Pädagogische Nutzung der Vergleichsarbeiten
Fähigkeitsniveaus - Deutsch (3b) ein Schüler/eine Schülerin Ihrer Klasse entspricht etwa 4% llmlll nicht auswertbar
Niveau 2
c==J Niveau 1
c==J Niveau 3
Lesen Schule Klasse
Schreiben Land Schule Klasse
Rechtschreiben Land Schule Klasse
Sprachbetrachtung Land Schule Klasse
0
20
40 Prozent
60
80
100
Abbildung 22: Beispiel für eine netzbasierte Ergebnisrückmeldung im Projekt VERA
Das Projekt VERA sieht eine Vielfalt von grafisch unterstützten Ergebnisrückmeldungen vor. Das Beispiel oben ist das Bild einer grafisch unterstützten Ergebnisrückmeldung, wie sie Schulen und Klassen nach Durchführung der Vergleichsarbeiten erhalten, hier: für unterschiedliche Kompetenzbereiche im Fach Deutsch; die Ergebnisse sind fiktiv. Die Bestandsaufnahme umfasst die Verteilung auf unterschiedliche Kompetenzstufen (von „nicht auswertbar" bis zur höchsten Kompetenzstufe „Niveau 3") und ermöglicht einen Abgleich der Ergebnisse 246
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
der eigenen Klasse im Vergleich zur Schule, der eigenen Schule im Vergleich zum Bundesland und der eigenen Klasse im Vergleich zum Bundesland (vgl. Groß Ophoff, Koch, Hosenfeld. & Helmke, 2006). Zur Illustration des pädagogischen Nutzens von Vergleichsarbeiten wurde eine ausführliche Handreichung mit dem Titel „Vergleichsarbeiten - Chancen und Grenzen" entwickelt, die auf der VERA-Website 41 unter „Materialien" heruntergeladen werden kann. Sie umfasst die folgenden Gliederungspunkte: ~
Beurteilung der Leistungsverteilung der eigenen Klasse, Analyse einzelner Aufgaben und Aufgabenbereiche, Fehler und Falschlösungen, Von der Diagnose zur Erklärung, Vergleichsarbeiten als Ausgangspunkt für Förderung,
~
Erfassung der Diagnosegenauigkeit.
Dass die Vergleichsarbeiten in der Grundschule tatsächlich nicht ganz folgenlos geblieben sind, zeigen die Ergebnisse der internetbasierten Lehrerbefragungen zu den Konsequenzen von VERA (Koch, Groß Ophoff, Hosenfeld & Helmke, 2006; Helmke et al., 2007a). Sind die Ergebnisse von VERA für Sie Anlass, etwas an Ihrem Unterricht zu verändern?
Unterrichtsinhalte
Individualförderung
Unterrichtsgestaltung
nein
erwogen
realisiert
Wiederholung bzw. Vertiefung
12
19
70
Übung best. Aufgabentypen
22
16
62
Neuaufnahme von VERA-lnhalten
45
23
31
Vorziehen von VERA-lnhalten
52
28
21
Gespräch mit Eltern wegen Fördermöglichkeiten
39
14
47
Einbezug von Förderlehrern
65
15
21
zusätzlicher Unterricht in diesem Fach
68
15
18
Überdenken der eigenen Unterrichtsmethoden
27
22
52
leistungshomogene Differenzierung
34
16
50
leistungsheterogene Kleingruppen
37
17
47
leistungsstarke Schülerinnen und Schüler als Tutoren
43
13
44
41 http://www.uni-landau.de/vera/
247
Kompetenzorientierung · Umgang mit Heterogenität
Leistungskontrollen
Lehr-Lern-Material
Klassenarbeiten mit Parallelklassen
33
11
56
an VERA angelehnte Testaufgaben
36
20
44
wiederholter Einsatz von VERA-Aufgaben
52
18
29
VERA-Korrekturkriterien in Klassenarbeiten
64
19
17
Entwicklung/Überarbeitung eigener Unterrichtsmaterialien
42
18
40
Entwicklung von neuen Übungsaufgaben, angelehnt an VERA-Aufgaben
35
25
40
Wechsel des Lehrbuchs
77
18
6
Tabelle 6: „Sind die Ergebnisse von VERA für Sie Anlass, etwas an Ihrem Unterricht zu verändern?"
(Antworthäufigkeiten in Prozent)
Selbstverständlich sind Ergebnisse dieser Art von Studien in ihrer Aussagekraft beschränkt. Erstens wird mit internetbasierten Surveys immer nur ein Teil der angesprochenen Zielgruppe erreicht, und zweitens handelt es sich um self-reports, und man weiß (noch) nicht, wie die Realisisierung der Unterrichtsveränderung beschaffen und wie nachhaltig sie ist. Hierzu fehlen derzeit noch empirische Untersuchungen. Was wir dagegen seit der Metaanalyse von Hattie (2009) wissen - und dieses Ergebnis mag für manchen überraschend sein - ist, dass häufige Leistungstests keineswegs schädlich, dem Lernerfolg nicht abträglich sind - im Gegenteil! Zwar erreicht die Effektstärke nicht die magische Grenze von 0.40, aber sie beträgt immerhin 0.34 (Hattie, 2009, S. 178). Wird der Leistungstest mit Feedback an die Schüler gekoppelt, dann resultiert sogar ein Effekt von 0.62 (S. 179). Möglicherweise, so Hattie, ist es nicht die Häufigkeit von Leistungstests per se, die den Lernerfolg steigert, sondern dass häufige Tests „made the learning intentions and success criteria more specific and transparent" (S. 178).
4.9 Umgang mit Heterogenität Wann immer Lernende nicht individuell (vom Hauslehrer oder Tutor), sondern in Gruppen (wie Schulklassen) unterrichtet werden, entsteht automatisch die Frage, wie mit der Heterogenität in Form interindividueller Unterschiede in den Lernvoraussetzungen umgegangen werden soll. Ein in der Lehr-Lern-Forschung verbreitetes Konzept ist das des Adaptiven Unterrichts, ein Sammelbegriff für unterschiedliche Varianten des Umgangs mit Heterogenität. Im englischen Sprachraum spricht man in ähnlicher Weise von taking account of individual differences, von individualized instruction oder adapting instruction to the needs of learners. In der Pädagogik
wird vor allem der Term „Binnendifferenzierung" verwendet. 248
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
4.9.1 Ein zeitloses Thema
Dass bereits vor 160 Jahren dezidiert über Fragen der Individualisierung nachgedacht wurde, zeigt das folgende Zitat von Schnell (1850): „Die Individualität der Kinder ist freilich auch darin sehr verschieden, indem die Einen ein lebendiges Ehrgefühl, die Anderen ein stumpfes und unempfängliches von Natur oder durch die häuslichen Verhältnisse erhalten haben. Deßhalb ist es durchaus eine der ersten Forderungen an den denkenden und wachsamen Lehrer, in dieser, wie in anderer Beziehung die Kunst des lndividualisirens zu üben, und daher auch auf Geschlecht, Temperament, geistige Begabtheit, Alter und Bildungsstufe der Schüler verständige Rücksicht zu nehmen. Das Kind, in welchem z. B. das Gefühl überwiegend vorwaltet, ist ganz anders zu nehmen als der Knabe, der schon als Knabe rasch und thatkräftig sich zeigt und als Mann mehr handeln und handthieren wird, als Gefühlen und Gedanken hingegeben sein. Und so ist vor allen Dingen Beobachtung, Aufmerksamkeit und psychologischer Blick und Tact erforderlich, um die Gemüther individuell richtig zu erfassen, zu beurtheilen, und, was die Hauptsache ist, ihrer Individualität gemäß, überhaupt richtig und erfolgreich zu erziehen. Was aber nicht weniger als unbedingt gewiß behauptet werden kann, ist schließlich das: daß sowohl unzeitiges als übermäßiges Lob auch die besseren Kinder verdirbt; daß ungerechtes Loben Mißgunst und Neid unter den Kindern erzeugt und überdies den Lehrer in den Augen und Herzen der Kinder heruntersetzt, seine Autorität untergräbt. Das Lob und die Anerkennung sei daher eine stärkende Arznei dem Schwachen und Kranken, ein Erquickungsmittel dem Gesunden, und werde nicht nach allopathischem, sondern nach homöopathischem Maaße ertheilt. (S. 84) 11
Wischer (2007) verweist auf Trapp (1745-1818), den ersten Pädagogikprofessor Deutschlands, für den die Aufgabe des Erziehers durch zwei Anforderungen verkompliziert werden: „Erstens bezögen sich Erziehung bzw. Unterricht nicht nur auf ein einzelnes Kind, sondern gleich auf einen ganzen ,Haufen', und zweitens würden sich die Kinder dieses ,Haufens' auch noch in vielerlei Hinsicht unterscheiden[. .. ]. Er schlug vor, den Unterricht auf die ,Mitte/köpfe' zu orientieren[. . .]. Damit beschreibt er eine Strategie, die für die Realität des deutschen Schulsystems nach wie vor prägend ist: Wenn Unterricht auf die Mitte/köpfe, den imaginären Durchschnitt kalkuliert und kalibriert werden soll, dann ist es durchaus sinnvoll, die Abweichungen von diesem Durchschnitt möglichst gering zu halten: Je geringer die Abweichungen, desto weniger über- bzw. unterfordert müssten all diejenigen sein, die vom Durchschnitt abweichen [. . .]. Und plausibel werden so dann all die Maßnahmen, mit denen man im deutschen Schulsystem Lerngruppen in Bezug auf die Lernvoraussetzungen der Schülerinnen möglichst weitgehend zu homogenisieren versucht. (S. 422) 11
Aus lerntheoretischer und entwicklungspsychologischer Sicht ist dies plausibel: Im Idealfall sollten die unterrichtlichen Anforderungen in einer Schwierigkeitszone liegen, die oberhalb des aktuellen Wissensstandes der zu Unterrichtenden liegt, aber auch nicht zu weit davon entfernt sein darf. Anforderungen in dieser „Zone der nächsten Entwicklung" (Vygotski, 1978) sind dadurch gekennzeichnet, dass mit Unterstützung der Lehrkraft neues Wissen
erworben wird, ohne dass dies durch Unterforderung (zu einfach, im Extremfall: „sattsam bekannt") oder Überforderung (zu schwierig, wird als Bedrohung oder als aussichtslos empfunden, bewirkt Angst) beeinträchtigt wird. Je größer die Bandbreite des Vorwissens in einer 249
Umgang mit Heterogenität
Klasse, desto anspruchsvoller wird die Aufgabe, eine gute Passung herzustellen. Von daher hat die „Sehnsucht nach der homogenen Lerngruppe" durchaus eine ernst zu nehmende Grundlage. In neuerer Zeit haben PISA und IGLU wiederholt gezeigt, dass das Kompetenzgefälle zwischen Schülergruppen unterschiedlicher familiärer und sprachlicher Herkunft in Deutschland außerordentlich hoch ist (PISA-Konsortium, 2007; Bos et al., 2007), verglichen mit Ländern, die es schaffen, soziale Disparitäten gering zu halten, wie z.B. Hongkong, die kanadischen Provinzen, Italien und Dänemark (IGLU 2006) bzw. Kanada, Mexiko, Island, Finnland, Korea und Japan (PISA 2006). Eine der Konsequenzen, die daraus gezogen wurde, ist die Forderung \nach einem besseren Umgang mit Heterogenität. Folgt man den Appellen der Bildungspolitik, \insbesondere nach PISA und IGLU, dann ist moderner Unterricht dadurch gekennzeichnet, \dass vielfältige organisatorische und didaktische Maßnahmen der Differenzierung und Indivi(iualisierung der Heterogenität der Schüler-Eingangsvoraussetzungen gerecht werden sollen. 1
relfalt wird als Chance und nicht als Belastung angesehen, Unterschiede im Sprachhinter1grund oder den Vorkenntnissen als Potenzial und nicht als Unterrichtserschwernis. So und .!ähnlich (z.B. „Heterog_enität als Chance") lauten auch die Titel immer zahlreicher werdender 1 . ~
·--·----·~-···-···-·-················---·--
:Publikationen zu diesem Thema.
4.9.2 Konzepte des Umgangs mit Heterogenität
Um eine begriffliche Verständigung zu erleichtern, sollen zunächst zwei prominente Klassifikationsansätze vorgestellt werden, nämlich die von Weinert und von Leutner. Für weiterführende Überlegungen siehe auch Krüger-Potratz (2004), Hasebrook (2006), Bräu und Schwerdt (2005) und Wischer (2007). Anschließend werden Ergebnisse und Desiderate der Forschung und schließlich einige notwendige Bedingungen erfolgreicher Differenzierung und Individualisierung skizziert. Weinert identifiziert vier Reaktionsmöglichkeiten auf die vorfindbaren Lern- und Leistungsdifferenzen (Weinert, 1997b):
Ignorieren der lern- und Leistungsunterschiede (passive Reaktionsform): Manche Lehrer verwenden als Bezugssystem für die Gestaltung ihres Unterrichts unbewusst einen fiktiven oder auch realen Durchschnittsschüler, dessen Lern- und Leistungsfortschritte zum Maßstab für die Schnelligkeit und Schwierigkeit des Lehrens werden. Dass durch Nichtstun auch nichts bewirkt wird, ist allerdings eine Illusion. Zwei Effekte sind nämlich wissenschaftlich gut belegt. Zum einen ist die Qualität des Unterrichts nicht nur von der Persönlichkeit und Kompetenz des einzelnen Lehrers abhängig, sondern wird z. B. auch vom durchschnittlichen Niveau und der Variationsbreite kognitiver Lernvoraussetzungen der Schüler in einer Klasse beeinflusst. Zum zweiten bewirkt die lgnorierung individueller Lern- und Leistungsunterschiede im Unterricht, dass die guten Schüler besser und die schlechten schlechter werden. Das gilt insbesondere dann für einen offenen, schülerzentrierten Unterricht, wenn sich der Lehrer nur als Moderator autonomer Lerngruppen versteht. Unter diesen Umständen ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der individuelle Lernfortschritt eine direkte Funktion der persönlichen Lernvoraussetzungen ist.
250
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Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
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Anpassung der Schüler an die Anforderungen des Unterrichts (substitutive Reaktionsform): Neben einigen stark umstrittenen schulorganisatorischen Maßnahmen zur Homogenisierung von Schulklassen (Zurückstellung vom Anfangsunterricht, Klassenwiederholung, Modi der äußeren Differenzierung) gibt es viele psychologische Programme zur systematischen Intelligenzförderung, zur Gedächtnisschulung, zum Erwerb des Lernenlernens und zur Motivationssteigerung. Die damit verbundenen Hoffnungen auf eine leistungswirksame Verbesserung der Lernvoraussetzungen schwacher Schüler haben sich i. d. R. aber nicht erfüllt. Nur die systematische Verbesserung der lernrelevanten Vorkenntnisse, das gezielte Schließen von Wissenslücken, die damit verbundenen Möglichkeiten der Vermittlung wirksamer Lernstrategien (metakognitive Kompetenzen) und die Beeinflussung der Lernmotivation (durch attraktive Lernanreize, durch differenzielle Bekräftigungen und durch ein angstfreies, stimulierendes und aufgabenorientiertes Klassenklima) versprechen eine Reduzierung unerwünschter Leistungsunterschiede zwischen den Schülern einer Klasse. Anpassung des Unterrichts an die lernrelevanten Unterschiede zwischen den Schülern (aktive Reaktionsform): Mit dem Konzept des adaptiven Unterrichts wurde die illusionäre Hoffnung überwunden, man könne durch Verwendung von ein und derselben Lehrstrategie oder von zwei kontrastiven Lehrmethoden (z. B. induktives und deduktives Verfahren) bei allen Schülern gleiche Lernleistungen erzielen. Adaptiver Unterricht ist demgegenüber der realistische Versuch, mithilfe einer differenziellen Anpassung der Lehrstrategien bei möglichst vielen Schülern ein Optimum erreichbarer Lernfortschritte zu bewirken und dadurch auch den leistungsschwächeren Schülern die subjektive Überzeugung persönlicher Selbstwirksamkeit (wieder) zu vermitteln. Gezielte Förderung der einzelnen Schüler durch adaptive Gestaltung des Unterrichts (proaktive Reaktionsform): Im Bewusstsein der Tatsache, dass durch Unterschiede in den individuellen Lernvoraussetzungen nicht alle Schüler alles lernen und Gleiches leisten können, kommt es im Unterricht darauf an, dass Lehrer die Lernmöglichkeiten, aber auch die Leistungsgrenzen ihrer Schüler möglichst frühzeitig realistisch diagnostizieren und optimistisch interpretieren (Schrader, 1997). Dabei gilt die Erfahrungsregel: lernende können unter günstigen pädagogischen Bedingungen mehr an Wissen und Können erwerben, als ihnen oft vorschnell zugetraut wird. Voraussetzung dafür sind differenzielle Lernziele (d. h. die Unterscheidung zwischen einem Basiscurriculum mit fundamentalen Lernzielen für alle Schüler und einem differenziellen Aufbaucurriculum, das Schülern mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und verschiedenen lnteressensrichtungen möglichst große geistige Entfaltungsmöglichkeiten bietet), ein adaptiver Lehrstil (mit betonter Individualisierung während ausgedehnter Stillarbeitsphasen) und genügend nachhelfende (remediale) Instruktion zur Realisierung der basalen Lernziele.
Kasten 46: Weinert (1997b, S. 51 f.) zum Umgang mit Heterogenität
Eine etwas anders strukturierte Klassifikation stammt von Leutner (1992). Er unterscheidet zwischen dem Zweck und der Art der Realisierung der Adaptation. Zweck der Adaption. Hier lassen sich drei Modelle unterscheiden: Fördermodell: ursachenbezogener Ausgleich von Kompetenzdefiziten, das heißt Beseiti-
gung von Defiziten durch zusätzlichen Unterricht, z.B. in der Gestalt von Förderunterricht;
251
Umgang mit Heterogenität
Kompensationsmodell: Veränderung defizitärer individueller Lern- und Leistungsvoraus-
setzungen, etwa im Bereich der Lernmotivation, des Selbstvertrauens, der Anstrengungsbereitschaft oder der Selbstregulation; Präferenzmodell: Nutzung ausgeprägter Stärken und Vorlieben der Lernenden, z.B. durch
Wahl besonders günstiger, „passender" Methoden. Realisation der Adaptation. Je nachdem, was auf die Lernenden abgestimmt wird, lassen sich
drei Orientierungen unterscheiden: ~ Anpassung des Lernziels:
Lernenden werden je nach Lernvoraussetzungen unterschiedli-
che Ziele vorgegeben; Anpassung der Lehrmethode: Das Unterrichtsangebot und insbesondere die Lehr-Lern-
formen orientierten sich an den Eingangsvoraussetzungen der Lernenden; ~ Anpassung der Zeit:
Den Lernenden wird - je nach Eingangsvoraussetzungen
die für die
Erreichung der Lernziele erforderliche Zeit gewährt, d. h. Lernenden mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen wird ein unterschiedlicher Umfang an Lernzeit zugestanden.
Reflexionsaufgabe 70: Weinerts versus Leutners Konzept der Adaption
A
~
In welcher Hinsicht unterscheiden sich die Konzepte von Weinert und Leutner? Recherchieren Sie, was man unter „remedialem Lernen" versteht, und versuchen Sie, dieses Konzept in die obigen Klassifikationen einzuordnen.
4.9.3 Lernermerkmale
Vier Lernermerkmale, deren Heterogenität in Schulklassen diskutiert wird, sollen angesprochen werden: Vorwissen, Migrationshintergrund, Entwicklungsstand und Lernstil. (1)
~en.
Das mit Abstand wichtigste Lernermerkmal ist das bereichsspezifische Vorwis-
sen. Je mehr sich die Orientierung an den Bildungsstandards durchsetzt, desto mehr - so ist zu hoffen - diagnostische Werkzeuge wird es geben, die den Lehrpersonen ein zutreffendes Bild der aktuellen und sich ändernden Kompetenzverteilung in ihrer Klasse geben. Individualisierung erfordert einen Zyklus, der bereits beim mastery learning propagiert worden ist: (a) Eingangsdiagnostik (base line), (b) Förderung (individuell oder in Gruppen) und (c) Wiederholung des Tests, um den Effekt der Förderung einzuschätzen. Die Testergebnisse werden also zur nachfolgenden Lernsteuerung, etwa in Gestalt von Binnendifferenzierung, verwendet (Martinez & Martinez, 1992): Die Lernprozesse der Schüler in einer Klasse verlaufen dann nicht mehr im gleichen Takt (gleichschrittig), sondern je nach Art und Ausmaß der im Test diagnostizierten Kompetenzdefizite wird (a) unterschiedliches Material und werden (b) unterschiedliche Methoden angeboten, um die Lücken zu schließen. Gerade bei hierarchisch aufgebautem Wissen (wie in Mathematik und Naturwissenschaften) sind das Schließen von Lücken und das Erkennen und Überwinden von Fehlern notwendige Voraussetzungen für darauf aufbauende Lernprozesse.
252
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
Die Forschung zu Wechselwirkungen zwischen Merkmalen der Unterrichtsmethode und Schülermerkmalen (aptitude-treatment interaction, ATI) hat in zahlreichen Studien ein klares Muster ergeben: Schüler mit defizitärem Vorkenntnisniveau, Wissenslücken und geringerer Sprachkompetenz sprechen besser auf einen Unterricht an, der ihre noch nicht voll entwickelte eigene kognitive Struktur durch entsprechende Unterrichtsangebote ersetzt bzw. un\terstützt (Weinert & Helmke, 1987a). I:.2E!11:~,!:1...cl~.?gUenen.Unterrichts, die den Lernern viel 'Freiheit lassen, wenige Vorgaben machen und kaum Rückmeldungen vorsehen, sind für diese Schülergruppe kontraindiziert; Schüler mit günstigen Lernvoraussetzungen können dagegen von einem derartigen Unterricht profitieren. Das heißt: Ein und derselbe Unterricht hat für unterschiedliche Schülergruppen unterschiedliche Auswirkungen. (2) Migrationshintergrund. Im März 2007 trat die von der Generalversammlung der UNESCO im Jahre 2005 verabschiedete „Konvention über Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen" nach der Ratifizierung durch die nationalen Parlamente in Kraft. Gogolin und Wulf (2007) weisen darauf hin, dass damit die Ausdrucksformen kultureller Vielfalt eine neue Legitimation erlangt haben. Damit ist für die Schulen noch stärker die Notwendigkeit eines professionellen Umgangs mit kultureller Diversität ins Bewusstsein gerufen worden. Diese Forderung wird durch die Ergebnisse von PISA und IGLU verstärkt. So hat IGLU 2006 für die Lesefähigkeit gezeigt: Kinder, deren Eltern beide im Ausland geboren wurde, weisen gegenüber ihren Mitschülerinnen und Mitschülern, deren Eltern beide im Inland geboren wurden, einen gravierenden Leistungsrückstand (48 Punkte auf der Kompetenzskala) auf. Berücksichtigt man allerdings zusätzlich Indikatoren der sozialen Herkunft, dann halbiert sich dieser Rückstand (27 Punkte). Das heißt, der Leistungsrückstand der Migrantenkinder geht zum Teil darauf zurück, dass ihre soziale Herkunft häufig ungünstiger ist als die von Kindern ohne Migrationshintergrund. Die Einflüsse der sozialen Herkunft und des Sprachhintergrundes sind in früheren Studien nicht immer auseinandergehalten worden. Die meisten empirischen Studien, die dies in methodisch angemessener Weise tun, belegen nämlich, dass es der ungünstige soziale Hin. tergrund ist (Bildungsferne, kognitiver Anregungsgehalt, Ausbildungsniveau der Eltern) und 1
nicht der Sprachhintergrund, der sich nachteilig auswirkt. Dies zeigen Tiedemann und Bill-
Jmann-Mahecha (2007) für die Übergangsempfehlung: Werden individuelle Schülervoraussetzungen (Lesekompetenz, Rechtschreibleistung, Intelligenz, Bildungsorientierung der Eltern und Alter) statistisch kontrolliert, dann zeigte sich keine Benachteiligung infolge des Migrationshintergrundes, sondern die Benachteiligung geht ausschließlich auf den ungünstigen sozialen Hintergrund zurück. Die Hamburger LAU-Studie (Lehmann, Peek & Gänsfuß, 1997, S. 89 f„ 101) zeigt im Gegenteil sogar einen „Ausländer-Bonus": Ausländische Kinder erhalten zwar absolut gesehen seltener als deutsche Kinder eine Gymnasialempf ehlung (Sozialstatus und Migrationshintergrund hängen zusammen, sind konfundiert); wenn sie jedoch eine Gymnasialempfehlung erhalten, dann bereits bei deutlich geringeren Testleistungen. Zum Umgang mit Schülerinnen und Schülern nichtdeutscher Sprachherkunft in multikulturell zusammengesetzten Klassen gibt es inzwischen eine Reihe von Projekten, Initiativen und Empfehlungen, deren detaillierte Darstellung hier zu weit führen würde; daher werden im Folgenden nur einige Hinweise gegeben: 253
Umgang mit Heterogenität
~ Das BLK-Projekt FÖRMIG (Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrations-
hintergrund42) ist ein umfangreiches interdisziplinäres Projekt mit dem primären Ziel der Sprachförderung. Ihm liegt eine von der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung in Auftrag gegebene Expertise „Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund" zugrunde (BLK, 2003). ~
Im Projekt QuimS (Qualität in multikulturellen Schulen) im Kanton Zürich43 wurden erfolgreich drei Handlungsfelder bearbeitet: Förderung der Sprache, des Schulerfolgs und der
Integration. In der Forschung zur Interkulturellen Pädagogik geht es um pädagogische Ansätze, die ein Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft fördern sollen und im gemeinsamen interkulturellen Lernen einen Umgang mit Fremdheit sehen. Interkulturelles Lernen bezeichnet eine Form des sozialen Lernens mit dem Ziel der interkulturellen Kompetenz. Darunter fällt vor allem ein bewusster und kritischer Umgang mit Stereotypen, die Überwindung einer ethnozentrischen Sichtweise und das Entwickeln von Verständnis für andere Kulturen, Religionen, Sprachen und Sitten. Hierzu gibt es inzwischen eine Vielfalt von Ansätzen, siehe z.B. das Internetportal interculture der Thüringischen Landeszentrale für Politische Bildung. 44 ~
Im angloamerikanischen Sprachraum laufen Konzepte zur Förderung interkulturellen Lernens im Unterricht unter der Rubrik culturally sensitive teaching oder cultural responsive
teaching. Ausgangspunkt ist die im Hinblick auf Leistungsfähigkeit und Anpassung an schulische Regeln besonders ungünstige Lage von Schülern mit afrikanischem und lateinamerikanischem Hintergrund (Gay, 2006): „Multicultural curriculum content and teaching techniques make it easier for teachers to maintain classroom environments that are conducive to learning, and build positive relationships with ethnically, racially, socially, and linguistically diverse students. Therefore, cultural responsive teaching ist imperative to the effective classroom management of students of color." (S. 343) (3) Entwicklungsstand. Eine Voraussetzung für den Erfolg von Unterricht ist, dass dieser ent-
wicklungsgemäß oder entwicklungsangemessen, das heißt auf den Entwicklungsstand der , Lernenden abgestimmt ist (Weinert & Treiber, 1981; Weinert, 1977). Dazu gehört auf Lehrer: seite vor allem die Orientierung über und das Anknüpfen an die kindlichen bzw. jugendlichen !Vorstellungen im jeweiligen Gegenstandsbereich. Damit sind auch spezifische alterstypische Fehler und misconceptions gemeint. Hierzu ein Zitat des Mathematikdidaktikers Lorenz (1987): ,,Ich glaube, dass man sehr viel stärker den Blick des Lehrers oder der Lehrerin auf das Denken der Kinder und darauf, wie Kinder Probleme lösen, richten sollte. Wir sollten weg von der Normierung in der Form, dass alle etwas 42 http://www.blk-foermig.uni-hamburg.de 43 http://www.quims.ch 44 http://www.ikkompetenz.thueringen.de/ikprojekt/index.htm
254
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
standardmäßig nach einem Verfahren gleich machen. Kinder denken eben anders, und sich auf dieses individuell sehr unterschiedliche Denken einzulassen und es zu beobachten, ohne es gleich korrigieren und verändern zu wollen, das halte ich für wesentlich. Es ist mehr eine Einstellungssache, denke ich, dass man Kindern gegenüber eine gewisse Toleranz auch im Denken und im Lösen von Rechenaufgaben entgegenbringt. Der Impetus, sofort eingreifen zu müssen, ist ziemlich verheerend, weil man dann Kinder über einen Kamm schert und ihnen eigentlich die Möglichkeit nimmt, Problemsituationen oder Zahloperationen selbst zu untersuchen, dabei Entdeckungen zu machen und sie damit zu verstehen. Solch eine Einstellung langsam zu entwickeln, das wäre ein Ziel; und ich glaube, das gelingt über positive Beispiele."
Hierhin gehört insbesondere auch die gezielte Anknüpfung an vorhandene „naive" oder „intuitive" Konzepte von Schülerinnen und Schülern insbesondere im naturwissenschaftlichen Unterricht. Zu den Themen „Schülervorverständnis", misconceptions und conceptual change gibt es inzwischen eine große Zahl von Publikationen, Forschungsaktivitäten bis hin zu Kongresszyklen zu genau dieser Thematik, wovon man sich bei einer Internetrecherche mit den gängigen Suchmaschinen leicht überzeugen kann. Zu den bekanntesten Protagonisten dieser wichtigen Forschungsrichtung zählen Vosniadou und Brewer (1987) und Schnatz (2001). ~.In
der pädagogischen Diskussion ist oft von individuellen Lernstilen oder Lernty-
pen die Rede. Das in Deutschland bekannteste Beispiel ist die Klassifikation von Vester (1975), der vier Lerntypen unterscheidet: (1) den auditiven Lerntyp, der durch Hören und Sprechen lernt, (2) den visuellen Lerntyp, bei dem Sehen und Beobachten entscheidend sind, (3) den
haptischen Lerntyp (Fühlen, Tasten, Anfassen) und (4) den intellektuellen Lernenden (verbal abstraktes Denken). Diese Klassifikationen sind aus Sicht der empirischen Unterrichtsforschung jedoch unergiebig, und die für ihre Diagnostik entwickelten Tests sind überwiegend methodisch fragwürdig (Quast, 2007; Denzine, 1999; Looß, 2001). Muijs und Reynold (2005) kommen deshalb nach einer sorgfältigen Sichtung der Literatur zu dem Schluss: „Spending a lot of time and effort (and money) on instruments designed to measure different styles and then trying to match teaching to each pupil's individual learning preferences is probably not worth the effort." (S. 196) Stattdessen empfehlen sie: „A good lesson needs to be varied and interesting, and use different types of materials and explanations. Mixing verbal, visual and tactile elements can obviously aid pupil's attention while at the same time addressing possible different learning preferences. Also, varying teaching styles in different lessons according to lesson goals and topics will automatically cater for different learning styles." (S. 196)
Klippert (2008) weist auf die Grenzen einer kompletten Individualisierung hin: „Zwar ist es richtig, dass alle Schüler/innen auf spezifische Weise verschieden sind und mehr oder weniger unterschiedliche Leistungspotenziale haben. Daraus jedoch den Schluss abzuleiten, dass jedem Schüler sein eigenes Lernpaket geschnürt werden muss, ist ebenso utopisch wie pädagogisch fatal. Utopisch deshalb, weil die schon jetzt hohe Vorbereitungsbelastung vieler Lehrkräfte nachgerade ins Unermessliche gesteigert werden müsste, 255
Umgang mit Heterogenität
wenn man diesen Ansatz hierzulande ernsthaft zu Ende denkt. Konsequente Individualisierung setzt nämlich Unmengen an unterschiedlichen Materialien und Aufgaben voraus, die bislang aber weder da sind, noch mit vertretbarem Zeit- und Arbeitsaufwand hergestellt werden können [. . .]. Pädagogisch fatal ist die skizzierte Individualisierung insofern, als damit auch der Anspruch auf Integration, Kooperation und gemeinsames Lernen über Gebühr aufgegeben wird. Bildung zielt nicht nur auf individuelle kognitive Potenzförderung, sondern auch und zugleich auf das Erlernen von Sozialkompetenz, Solidarität, Empathie, Mitmenschlichkeit, Demokratiekompetenz." (S. 103)
Der Einfluss der Unterschiedlichkeit von Lernvoraussetzungen wird nach Ansicht von Stern (2004, S. 39) gelegentlich überschätzt. Sie empfiehlt eine kognitionspsychologische Herangehensweise, die vor allem auf den Umgang mit unterschiedlichem Vorwissen abzielt: Für jede Unterrichtseinheit sollte die Lehrperson eine Lernumgebung schaffen, deren Gestaltung die Beantwortung der folgenden Fragen voraussetzt: ~
Welche Routinen müssen beherrscht werden?
~
Welche Begriffe müssen verstanden und welche Fakten müssen bekannt sein, damit ein bestimmtes Lernangebot genutzt wird?
~
Wie könnte das Wissen aussehen, das manche Schüler bereits mitbringen?
~
An welche Art von Wissen kann man anknüpfen? Wo liegen die Quellen für Missverständnisse? Welche unterschiedlichen Möglichkeiten gibt es, einen bestimmten Sachverhalt auszudrücken? Welche Veranschaulichungsformen können angeboten werden?
Reflexionsaufgabe 71: Umgang mit Heterogenität in der Praxis
A
Angenommen, Sie würden beschließen, in Ihrem Unterricht stärker als bisher der Heterogenität der Schüler Rechnung zu tragen: Wo würden Sie ansetzen, an welchen Stellen sehen Sie Probleme, wo bräuchten Sie Rat und Unterstützung?
4.9.4 Programm und Wirklichkeit
Schaut man sich Beispiele guter Praxis an, wie sie uns in den Medien (z.B. in der Videoserie „Treibhäuser der Zukunft" von Reinhard Kahl) aus Skandinavien oder aus sogenannten „Leuchtturmschulen" vorgeführt werden, dann führt kein Weg an der Feststellung vorbei: Die Ermöglichung individualisierten Lernens in der Schule und das Eingehen auf individuelle Besonderheiten sind kein Traum, sondern scheinen prinzipiell möglich zu sein. Mit der Forderung nach einem besseren Umgang mit Heterogenität, nach der Ermöglichung individuellen Lernens rennt man offene Türen ein. Die Individualisierung wird oft als eine quasi selbstverständliche Unterrichtsform thematisiert,
256
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
„[. .. ] ohne im Einzelnen anzugeben, welche differenziellen Unterrichtsformen, Lehrmethoden und sozialen lnteraktionsmodi unter welchen klassenspezifischen Bedingungen und im Hinblick auf welche pädagogischen Zielsetzungen zu praktizieren sind, um die erwünschten Effekte zu erzielen, unerwünschte Nebeneffekte zu vermeiden und die Lehrer nicht heillos zu überfordern. Ein wahrhaft herkulisches pädagogisches Problem[. .. }." (Weinert, 1997b, S. 50)
·Dementsprechend machen sich Ernüchterung, Ratlosigkeit oder Verwirrung breit, wenn präzise definiert werden soll, wie Individualisierung in regulären Schulklassen ohne erheblichen finanziellen Lehraufwand und unter Bedingungen einer „normalen" Schule funktionieren kann - bei Konstanthaltung der zur Verfügung stehenden Unterrichtszeit und des Lehrpersonals und in Anbetracht der für alle Schülerinnen und Schüler geltenden Kompetenzerwartungen (Bildungsstandards). 4.9.5 Gelingensbedingungen der Individualisierung
Wenn Individualisierung gelingen soll, müssen einige wesentliche Bedingungen gegeben sein. Diese sollen im Folgenden skizziert werden.
Einstellungswandel. Solange viele Lehrpersonen von der Behauptung, Heterogenität sei eine Bereicherung, nicht überzeugt sind, handelt es sich beim „Potenzial der Verschiedenheit" um einen bloßen Appell, eine folgenlose Parole, zu der Lippenbekenntnisse abgegeben werden, die für die Unterrichtspraxis ohne Belang sind. Darüber, dass ein individualisierender Unterricht ein radikales Umdenken erfordert - weg von der Sehnsucht nach der homogenen Lerngruppe -, besteht allseits Einigkeit (Graumann, 2002; Wischer, 2007; Tillmann, 2004). Allerdings: „Ein solcher Einstellungswandel ist bei näherer Betrachtung sehr voraussetzungsreich, verbirgt sich doch dahinter die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Revision bisheriger Denkund Sichtweisen, die auch das Menschen- und Gesellschaftsbild, das Lernverständnis sowie das eigene Rollenverständnis einschließen." (Wischer, 2007, S. 424)
Diagnostische Kompetenz. Ohne eine ausgeprägte diagnostische Kompetenz ist eine Lehrperson, die individualisierendes Lernen in der Schulklasse einführen will, nicht handlungsfähig. Um die individuellen und sich durch Lernprozesse verändernden kognitiven und motivationalen Lernvoraussetzungen überhaupt erkennen zu können, benötigt die Lehrperson hohe diagnostische Fähigkeiten, die im Lehramtsstudium und der Lehrerfortbildung kaum entwickelt und gefördert werden (Arnold, 1999, 2001a, vgl. dazu auch Kapitel 3.5). Individualisierung erfordert den regelmäßigen Einsatz kompetenz- und standardorientierter Tests, um die Adaptivität des Unterrichts zu erhöhen und die Nutzung zentraler Vergleichsarbeiten. Die Notwendigkeit diagnostischer Lehrerkompetenzen hat auch die KMK erkannt: Sie hat die Stärkung der diagnostischen Kompetenz zu einem der zentralen Handlungsfelder erklärt und hierzu ein länderübergreifendes Projekt beschlossen („Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte in Hinblick auf Verbesserung der Diagnosefähigkeit, Umgang mit Heterogenität, individuelle Förderung"). 45
45 Der Autor dieses Buches ist gemeinsam mit Dr. F.-W. Schrader an einem der Module dieses KMK-Projektes beteiligt.
257
Umgang mit Heterogenität
Professionswissen und Didaktische Expertise. Zusätzlich benötigt die Lehrperson ein breites
Repertoire an Unterrichtsstrategien und ein fundiertes Wissen, z.B. • im Bereich „Zweitsprachendidaktik"/ „Deutsch als Fremdsprache", • über Funktionsweise und Typen verschiedener Arten des Lernens in Kleingruppen und den situationsgerechten Einsatz des kooperativen Lernens, Beherrschung verschiedener Varianten des „Lernens durch Lehren", über und Beherrschung von jahrgangsübergreifendem Unterricht, ein gut funktionierendes Klassenmanagement, um den geänderten Lehr-Lern-Szenarien gerecht zu werden, darüber, bei welchem Stoff und bei welcher Schülergruppe offene oder direkte Formen der Instruktion angemessen und förderlich sind. Diese Themen werden in der deutschen Lehrerausbildung jedoch weitgehend vernachlässigt, obwohl es eigentlich ein vielfältiges Angebot an Publikationen gibt, die sich für die praktische Anwendung im Unterrichtsalltag eignen. Neben den Werken von Klippert (2006, 2007, 2008) sind dies beispielsweise Eller und Grimm (2008), Paradies und Linser (2008), Lehberger und Sandfuchs (2008), Graumann (2002), Niggli (2000) sowie Bräu und Schwerdt (2005); siehe auch das Friedrich-Jahresheft 2004 (Heterogenität) sowie die Schwerpunkthefte der pädagogischen Zeitschriften (wie z. B. Heft 12/2007 der PÄDAGOGIK: Umgang mit Heterogenität). Über die Vernachlässigung der Klassenführung ist bereits berichtet worden, aber es gilt in gleicher Weise für die angemessene Berücksichtigung sozialschichtbedingter, leistungsmäßiger kultureller und sprachlicher Unterschiede. Lehr- und Diagnosematerial. Wellenreuther (2005) hat darauf hingewiesen, dass ein indivi-
dualisierender Unterricht neben diagnostischen Werkzeugen auch die Verfügbarkeit von geeignetem Lernmaterial erfordert, also fachdidaktisch validierte Schulbücher mit einer klaren Schwierigkeitsstufung, mit yerständlichen, zum selbständigen Erarbeiten entwickelten Erklärungen, mit Tests und Zusammenfassungen. In diesem Zusammenhang weist Wellenreuther (2008) auf das Beispiel Neuseeland hin, das bei PISA zu den Spitzenländern bei der Lesekompetenz gehört. Einer der Gründe dafür liegt nach Wellenreuther in der Einteilung der Unterrichtsmaterialien nach Kompetenzstufen und der Einteilung der Schüler in leistungshomogene Gruppen: In Neuseeland werden die Lesebücher „grob in drei Schwierigkeitsstufen eingeteilt: Anfänger, erstes Lesen und flüssiges Lesen [.„]. Alle Lesematerialien außerhalb des Schulbuchs sind in ähnlicher Weise nach Schwierigkeit eingestuft. Dadurch wird die Formulierung differenzierter Arbeitsaufträge erleichtert." (S. 180)
Dazu kommt die „Einteilung der Schüler in bis zu sieben leistungshomogene Gruppen: Dadurch werden die Lehrer möglicherweise für die Größe der bestehenden Unterschiede sensibilisiert. Wenn ein Schüler die Schwierigkeiten seiner Kompetenzstufe gemeistert hat, kann er in die nächsthöhere Kompetenzstufe aufsteigen. Im Gegensatz zu dieser stark differenzierenden Vorgehensweise wird in Deutschland meist nach dem Motto ,im Gleichschrittmarsch' verfahren." (S. 180)
258
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
Einbezug außerschulischer Faktoren. Vor allem, aber nicht nur in Schulen in sozialen Brenn-
punkten, ist es unabdingbar, zumindest grob über die außerschulischen (vor allem die familiären, in berufsbildenden Schulen auch über die betrieblichen) Verhältnisse im Bilde zu sein. Wie nötig dies ist, ggf. verbunden mit professioneller Hilfe durch Schulsozialarbeit, ist in den letzten Jahren mehrfach aufgezeigt und in Dokumentarfilmen wie dem Videozyklus „Krisenmanagement im Klassenzimmer" nachdrücklich gezeigt worden. Individualisierung und Standards. Solange die Bildungsstandards - wie dies in Deutschland
der Fall ist - nicht als Mindeststandards, sondern als Regelstandards definiert sind, mit relativ arbiträren Abstufungen von Anforderungsbereichen, leisten sie der Individualisierung keinen Dienst. Dies kann sich in der Zukunft jedoch ändern, und zwar in zweierlei Hinsicht: (a) Die Bildungspolitiker müssten den Mut haben, eines Tages den Schritt zu Minimalstandards zu gehen; damit wäre zwingend eine Verpflichtung verbunden, im Falle der Nicht-
erreichung von Mindeststandards alle remedialen Möglichkeiten in Bewegung zu setzen und für die Kosten aufzukommen. (b) Ein Riesenschritt in die gewünschte Richtung wäre es, die Anforderungsbereiche der Bildungsstandards durch inhaltlich fundierte Niveaustuf en zu ersetzen, die auf Kompetenzmodellen basieren (Helmke & Hosenfeld, I., 2004), und diese Stufen mit Beispielaufga-
ben und brauchbarem Unterrichtsmaterial zu verbinden. Die aktuelle Entwicklung, z.B. in Form einschlägiger Arbeiten und Publikationen des IQB, zeigt, dass es guten Grund für Optimismus gibt. Ressourcen. Es liegt auf der Hand, dass dies alles etwas kostet, nämlich finanzielle (z.B. zu-
sätzliche Stellen), materielle (z.B. geeignete Räume, wie man sie in „Leuchtturmschulen" wie der Bielefelder Laborschule, selten aber in „normalen" Schulen vorfindet) und zeitliche Ressourcen. Wenn Lehrpersonen während der Unterrichtszeit verstärkt als Diagnostiker fungieren sollen, und daran führt kein Weg vorbei, dann kostet dies Zeit, die woanders fehlt - eine ganz einfache Rechnung. Anders ausgedrückt: Wer Individualisierung im Klassenzimmer fordert, muss sie mit allen nötigen Mitteln unterstützen; andernfalls kann der Verdacht entstehen, dass es sich um Sonntagsreden und Lippenbekenntnisse handelt. 4.9.6 Empirische Ergebnisse
Empirische Studien zeigen, dass Differenzierung und Individualisierung im regulären Schulalltag wenig verbreitet sind; vgl. die Übersicht bei Wischer (2007, S. 425 f.). Bei IGLU 2001 (Bos, Lankes, Prenzel, Schwippert, Walther & Valtin, 2003, S. 257 f.) zeigte sich z.B.: „Die Tatsache, ·dass zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler einen Unterricht erfahren, in dem mit den glei. chen Übungsaufgaben und dem gleichen Material gearbeitet wird, lässt vermuten, dass eine .individuelle, auf Fehlerschwerpunkte abzielende Förderung im Rechtschreibunterricht keine Selbstverständlichkeit ist." In der Grundschulstudie VERA - Gute Unterrichtspraxis wurde ebenfalls nach Formen der Differenzierung gefragt (Schrader & Helmke, 2008). Hier die Ergebnisse:
259
Umgang mit Heterogenität
Wie häufig setzen Sie die folgenden Maßnahmen ein, um Schülerinnen und Schüler nach ihren individuellen Lernvoraussetzungen zu fördern?
·c: Cl)
.s= Ci) (1)
-;; E
.c
= E c.:I
CO
-
ö
-...
ö
.c
Cl)
(1)
für schwache Schülerinnen und Schüler: zusätzliche Unterstützung im Unterricht
0
2
20
49
29
schnellere Schüler gehen schon zum Nächsten über, wenn ich mit den langsameren noch übe oder wiederhole
2
3
20
46
29
gezielte Zusatzaufgaben, wenn Schülerinnen und Schüler etwas nicht verstanden haben
5
5
20
56
15
Extraauigaben für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler, durch die sie gefordert werden
0
3
26
39
32
freie Wahl von Lesetexten durch einzelne Schüler (z. B. aus der Klassenbücherei, von zu Hause)
0
9
22
33
36
Kleingruppen von Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlichem Leistungsniveau
2
9
25
49
15
von Schülerinnen und Schülern mit guten Leistungen verlange ich deutlich mehr
0
3
36
44
17
bei Stillarbeit: Variation der Aufgabenstellungen, um Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Leistungsstärke gerecht zu werden
3
11
39
39
9
Kleingruppen von Schülerinnen und Schülern mit ähnlichem Leistungsniveau
3
11
55
25
6
bei Gruppenarbeit: Unterscheidung verschiedener Leistungsgruppen, die jeweils gesonderte Aufgaben erhalten
11
29
36
21
3
unterschiedliche Lesetexte für Mädchen und Jungen gemäß ihren geschlechtsspezifischen Interessen
52
32
12
5
0
Tabelle 7: Prozentuale Häufigkeit von Differenzierungsmaßnahmen in der Grundschule, Projekt VERA - Gute Unterrichts-
praxis, N =
71 Lehrpersonen
Die Ergebnisse dieser Grundschulstudie (Schrader & Helmke, 2008) zeigen: Im Vordergrund stehen Maßnahmen, die sich gezielt an leistungsschwächere und langsamere Schülerinnen und Schüler wenden, vermutlich für Lehrkräfte das dringlichste Problem. Auch das Bereitstellen von Extraaufgaben für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler könnte neben der gezielten Förderung den Nebeneffekt haben, dass Lehrkräfte freie Kapazitäten für die Arbeit mit den Schwächeren gewinnen. Es folgen eher allgemeine und im Hinblick auf ihre Umsetzung offen 260
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
gehaltene Maßnahmen, während aufwändigere und vorbereitungsintensivere Maßnahmen wie leistungsdifferenzierte Gruppenarbeit mit jeweils gesonderten Aufgaben und leistungshomogene Kleingruppen deutlich seltener eingesetzt werden. Interessant ist, dass heterogene Kleingruppen häufiger gebildet werden als homogene. Ob die Bildung heterogener Gruppen als nützlicher oder nur als weniger aufwändig angesehen wird als die Bildung homogener Gruppen, muss offen bleiben. Am wenigsten verbreitet ist der Einsatz geschlechtsspezifischer Lesetexte. Die Ergebnisse zur Differenzierung im Englischunterricht der 9. Klasse in der DESI-Studie der KMK (Helmke et al., 2008e, S. 374) zeigen dagegen, dass sich die am häufigsten vorkommenden Differenzierungen im Unterricht insbesondere auf die leistungsstarken Schülerinnen und Schüler beziehen (zusätzliche Aufgaben, schnellere Taktung, höheres Erwartungsniveau). Am ausgeprägtesten wird in der Realschule leistungsdifferenziert und am wenigsten in Hauptschulen und Integrierten Gesamtschulen; das Gymnasium befindet sich in der Mitte. Dagegen findet bei den Hausaufgaben deutlich weniger Leistungsd~ff erenzierung statt - am ehesten noch in der Hauptschule. Im Deutschunterricht zeigt sich ein ähnliches Bild (Klieme et al., 2008, S. 324 f.). Sind Klassen mit ausgeprägter Leistungsdifferenzierung erfolgreicher als solche mit geringer Leistungsdifferenzierung? Soweit Formen der Individualisierung und Differenzierung empirisch untersucht worden sind, ergibt sich ein eher ungünstiges Bild von deren Wirksamkeit. Lüders und Rauin (2004) stellen bei ihrer vergleichenden Übersicht eine leichte Überlegenheit offener Unterrichtsformen beim sozialen Lernen und klare Nachteile bei der Kompetenzentwicklung fest. Letzteres berichtet auch Gruehn (1998) von der Studie BIJU des MPI für Bildungsforschung; als Ursache vermutet sie den erhöhten Organisationsbedarf und die suboptimale Zeitnutzung, die mit den durch individuelle Lerntempi bedingten potenziellen Leerlaufphasen für einzelne Schüler(gruppen) zusammenhängt. Hattie (2009) findet für verschiedene Varianten der Differenzierung und Individualisierung schwach positive oder gar keine Effekte (in Klammern die Effektstärken): „ability grouping" (d=0.12), „within-class grouping" (d=0.16), „individualized instruction" (d=0.23) und „open instruction" (d=0.01). Aber Vorsicht vor voreiligen Schlussfolgerungen für die Unterrichtsgestaltung! Einige der oben genannten Lehr-Lern-Szenarien verfolgen explizit auch andere Ziele und haben andere Kompetenzen im Visier; hier zeigen sich die Grenzen der Aussagekraft von Hatties Metaanalyse, dessen Zielkriterien ausschließlich fachliche Leistungen sind. Lediglich zwei Erscheinungsformen des Umgangs mit Vielfalt erweisen sich bei Hattie als lernwirksam: „matching style of learning" (d=0.41) und Förderprogramme und -maßnahmen für hochbegabte Schüler: „lt typically involves progress through an educational program at rates faster or ages younger than is conventional, although there are many options, such as curriculum compacting or telescoping, and advanced placement" (Hattie, 2009, S. 100). Bei ihrer Diskussion des internationalen Forschungsstandes kommt Chall, eine der prominentesten Forscherpersönlichkeiten in der amerikanischen Erziehungswissenschaft, in ihrem Buch mit dem bezeichnenden Titel "The academic achievement challenge. What really works in the classroom" (2002) zu einem ebenso negativen Ergebnis. Mit Blick auf die amerikanischasiatischen Vergleichsstudien (Stevenson & Stigler, 1992) schreibt sie: 261
Umgang mit Heterogenität · Angebotsvielfalt
„Stevenson and Stigler found that there was a sense of loneliness among the children in the United States because of the emphasis an individual work at an individual pace [. .. ].lt is ironic that the ideal in the United States ot individualizing instruction, original!y thought to bring greater desire for learning and higher achievement, is seen by Stevenson and Stigler as contributing to U.S. students' lack of enthusiasm for school and their lower academic achievement." (S. 89)
In diesem Zusammenhang klagt sie über die Ignoranz solider wissenschaftlicher Befunde und fragt nach den Gründen: „What explains this tendency to ignore the past educational research findings? Perhaps it is because so few in the educational protession can conduct research and interpret it [. .. ]. Another reason tor paying so little attention to research is the strong ideological commitments towards one or the other ot the two educational approaches. Always trom the start, progressive education became ,/arger than lite' and was viewed as the education that will make American children happier, more democratic, and more creative. lt was difficult to question it. Most researchers thought twice about doing research an issues that might question the value of progressive education." (S. 180)
Reflexionsaufgabe 72: Ideologisierung der pädagogischen Debatte Sehen Sie Parallelen zwischen der von Chall skizzierten Lage in den USA und der pädagogischen Diskussion hierzulande?
! In der Grundschulstudie VERA - Gute Unterrichtspraxis (Schrader & Helmke, 2008) zeigt der
Vergleich von besonders erfolgreichen mit erfolglosen Klassen, dass die Intensität der Leistungsdifferenzierung weder für den Leistungszuwachs beim Leseverstehen noch im Bereich Mathematik eine Rolle spielt, dass Leistungsdifferenzierung per se also weder nutzt noch schadet. Dieses Ergebnis unterstützt die Schlussfolgerungen, zu denen bereits Rossbach und Wellenreuther (2002) bei ihrer Sichtung des internationalen Forschungsstandes gekommen sind: Danach schaffe Leistungsdifferenzierung „lediglich einen Rahmen für wirksame pädagogische Maßnahmen" (S. 53). Entscheidend sei aber, wie lernförderlich die dabei eingesetzten Unterrichtsmethoden sind. Wichtiger als der quantitative Aspekt dürfte also die Qualität der Differenzierung sein: Wie angemessen erfolgt die Bildung von Lerngruppen, wie gut wird der Unterricht auf die Lernvoraussetzungen abgestimmt, und wie lernförderlich ist er? Welche Rolle spielen dabei das professionelle Wissen von Lehrpersonen und ihre diagnostischen und unterrichtlichen Kompetenzen? Und schließlich: Profitieren alle Schülerinnen und Schüler in gleichem Maße von leistungshomogenen oder -heterogenen Leistungsgruppen, oder gibt es typische Gewinner und Verlierer? 4.9.7 Resümee
Prinzipien wie Adaptiver Unterricht oder Binnendifferenzierung sind zunächst einmal nur Konzepte, die es im Unterrichtsalltag kleinzuarbeiten und auszubuchstabieren gilt. Erfahrungsbe262
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
richte aus Skandinavien und aus Leuchtturmschulen in Deutschland zeigen, dass adaptiver Unterricht funktionieren kann. Einige der Schulen in Deutschland, die beim Wettbewerb um den Deutschen Schulpreis besonders gut abgeschnitten haben, waren Schulen im sozialen Brennpunkt ohne außergewöhnlich günstige Rahmenbedingungen oder Privilegien, so beispielsweise die Schule Kleine Kielstraße in Dortmund (Deutscher Schulpreis 2006). Zusammengefasst: Die bloße Tatsache, dass Individualisierung stattfindet, ist weder gut noch schlecht- je nachdem, wie sie realisiert wird, kann sie dilettantisch oder brillant sein, Gutes oder Schlechtes (oder gar nichts) bewirken. In der pädagogischen Debatte über adaptiven Unterricht und vor allem Individualisierung wird zu oft schwarz-weiß gemalt, nach dem Motto: radikale Individualisierung oder gar keine. Zwischen diesen beiden Endpunkten gibt es jedoch ein breites Kontinuum: Formen der Individualisierung lassen sich auch schrittweise einführen, in ausgewählten Klassen pilotieren. Ein Hauptziel binnendifferenzierenden, individualisierenden Unterrichts ist die Ermöglichung und Initiierung selbständigen Lernens für möglichst alle Schüler. Ohne ein Umdenken - weg vom imaginären Durchschnittsschüler, von den „Mittelköpfen" hin zu einer differenzierten Sichtweise - kann Individualisierung nicht gelingen. Und schließlich, zum wiederholten Male: Wer als Bildungspolitiker Individualisierung fordert, muss auch bereit sein, dafür zu sorgen, dass sie gelingen kann.
4.1 O Angebotsvielfalt 4.10.1 Ende des Methodendogmatismus
Wiechmann (2008) geht davon aus, dass sich alle Unterrichtsformen auf einer Ebene abbilden lassen, die durch zwei Koordinaten gebildet wird: die Dimension des Vermittlungsstils (lehrend/expositorisch vs. entdecken lassen) und die Dimension der Lenkung (lehrergelenkt vs. selbstbestimmt/autonom). Zugleich macht er klar, dass dogmatische und einseitige Sichtweisen verfehlt sind, dass es vielmehr auf eine gute Balance ankommt: „Ein ausschließlich belehrender Unterricht ist in der Schulrealität ebenso wenig denkbar wie ein rein entdeckender; ein völlig gelenkter Unterricht ebenso unrealistisch wie das vollkommen autonome Lernen. Die Realität eines effektiven Unterrichts liegt zwischen den vier Eckpunkten des Methodenrepertoires. Die didaktisch begründete Wahl der jeweils besten Unterrichtsmethode erfordert eine Kenntnis der spezifischen Leistungsfähigkeit der verschiedenen Unterrichtsmethoden." (S. 21)
Wiechmann (2011) beschreibt eine Vielzahl von Unterrichtsmethoden, die in ihrer Gesamtheit ein breites Spektrum darstellen: Frontalunterricht, Gruppenpuzzle, Stationenarbeit, Wochenplanarbeit, Lernen in Inszenierungen, Lehrstückunterricht, Entdeckendes Lernen, Fallstudie, Werkstattarbeit und Projektmethode. Auch der gelegentlich zu Unrecht tabuisierte „Direkte Unterricht" (direct instruction) kommt in diesem Buch vor. Dieser wird bekanntlich oft asso263
Angebotsvielfalt
ziiert mit: autoritär, reaktionär, anachronistisch, schülerfeindlich, militaristisch, Drill, mechanischem Lernen, passivem Lernen, bloßer Wissensakkumulation, absoluter Lehrerdominanz. Von daher wird es nahezu als anstößig empfunden („Was nicht sein darf, kann nicht sein"), dass viele empirische Untersuchungen seine Überlegenheit im Hinblick auf die Leistungsentwicklung gezeigt haben, und zwar in hochstrukturierten („harten") Fächern (wie Mathematik), insbesondere bei leistungsschwächeren und bei jüngeren Schülerinnen und Schülern. Er umfasst als typische Elemente: Wiederholung des zurückliegenden Stoffs, explizite Angabe der Ziele der Stunde, kleinschrittiges Vorgehen mit vielen Übungsgelegenheiten, klare und deutliche Hinweise (cues), aktive Übung unter ständiger Kontrolle, regelmäßige Fragen zur Gewährleistung des Verständnisses und systematische Rückmeldungen und Korrekturen. Hattie (2009) fand für direct instruction einen sehr starken lernförderlichen Effekt (d = 0.59), wobei er sich die folgende ironische Bemerkung erlaubt: „Every year I present lectures to teacher education students and find that they are already indoctrinated with the mantra 'constructivism good, direct instruction bad'. When I show them the results of these meta-analyses, they are stunned, and they often become angry at having been given an agreed set of truths and commandments against direct instruction. Too often, what the critics mean by direct instruction is didactic teacher-led talking from the front; this should not be confused with the very successful 'Direct Instruction' method." (Hattie, 2009, S. 204 f.) Grell & Wiechmann (2008) schreibt: „ Unterrichtskonzeptionen und didaktische Modelle können leider nicht selbst unterrichten. Das können nur kompe-
tente Lehrerinnen und Lehrer. Aus einem hervorragenden Drehbuch kann man einen schlechten Film machen. Jede Didaktik lässt sich leicht verhunzen, wenn sie inkompetent und unprofessionell inszeniert wird. Die Schüler gewinnen dann keine Einsichten, sondern verlieren den Durchblick. Auch das Direkte Unterrichten kann misslingen. Mit einer gehörigen Portion Humorlosigkeit und Pedanterie, Sturheit und Starrheit ausgeführt, kann direktes Unterrichten zu vorsintflutlichem Forma/stufen-Unterricht werden." (S. 48)
Der Schweizer Unterrichtsforscher Niggli (2000) spricht in seinem Buch ausdrücklich nicht von „Unterrichtsmethoden", sondern beschränkt sich auf Lernarrangements, das heißt auf Unterrichtsformen, die eher dem „offenen" Unterricht zuzurechnen sind. Er hebt ebenfalls hervor, dass innovative Lernarrangements, die sich von traditionellem Unterricht unterscheiden, nicht a priori guter Unterricht seien, sondern sich an Leitfragen und Bewährungskriterien orientieren müssen, die generell für den Unterricht gelten. Diese sachliche und empirisch orientierte Sichtweise hebt sich sehr wohltuend von vielen anderen Schriften ab, in denen unter Begriffen wie „Neue Lernkultur" pauschal traditionelle, klassische und bewährte Formen des Unterrichts generell infrage gestellt werden. Niggli unterscheidet zwei Typen von Lernarrangements: (a) Inszenierungen von Lernarrangements zum individualisierten, selbstgesteuerten Lernen (Werkstattunterricht/Stationenlernen, Wochenplanunterricht oder Phasenpläne) und (b) Inszenierung von kooperativen Lernarrangements (Gruppenpuzzle, Gruppenralley). Bereits zuvor war davon die Rede, dass wegen der vorfindbaren Vielfalt an Persönlichkeits-, Lernstil-, Fähigkeits-, Motivations-, Verhaltens- und Leistungsunterschieden bei Schülerinnen 264
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
und Schülern eine Mono-Lehrkultur unangemessen, ja sogar unfair wäre. Aber auch verschiedene Lernziele erfordern zwingend unterschiedliche Lehrmethoden. Es geht also um zweierlei: um das Gewusst-Wann (Welche Unterrichtsziele und curricularen Inhalte eignen sich für welche Unterrichtsmethoden?) und das Gewusst-für-Wen (Welche Schülergruppe profitiert von einer bestimmten Unterrichtsmethode oder leidet unter ihr?). Wie Wiechmann (2000a, S. 10) konstatiert, ist die Forderung nach Methodenvielfalt in der Pädagogik ebenso unumstritten wie wohl begründet. Insbesondere durch den Wandel des früher herrschenden Paradigmas vom passiv-rezeptiven Lernen hin zu dem, was man heute mit „neuer Lernkultur" umreißt, ergibt sich nach Wiechmann die Notwendigkeit, eine Vielfalt von Unterrichtsmethoden zu kennen und zu können: das heißt, ihre Logik und Ziele, aber auch ihre Beschränkungen und möglichen Nachteile zu kennen- und vor allem: sie zu erproben, sie einzuüben und darüber kollegial zu reflektieren. Brophy (2000), einer der profiliertesten Unterrichtsforscher, formuliert es so: „Research on learning tasks suggests that activities and assignments should be sufficiently varied and interesting to motivate student engagement, sufficiently new or challenging to constitute meaningful learning experiences rather than needless repetition, and yet sufficiently easy to allow students to achieve high rates of success." (S. 23) Er weist bei dieser Gelegenheit ausdrücklich auf einen zentralen Punkt hin, der auch in diesem Buch wiederholt thematisiert wird, nämlich auf die notwendige Methodenvielfalt: „No single teaching method [ ... ] can be the method of choice for all occasions. An optimal programme will feature a mixture of instructional methods and learning activities." (S. 6) 4.10.2 Gegenstand der Variation
Wenn man von „Angebotsvielfalt" spricht, denkt man zunächst an eine Vielfalt von Methoden im Sinne von Meyer (2004), wenn also der Reichtum der verfügbaren Inszenierungstechniken 11
genutzt wird, wenn eine Vielfalt von Handlungsmustern eingesetzt wird, wenn die Verlaufsformen des Unterrichts variabel gestaltet werden und das Gewicht der Grundformen des Unterrichts ausbalanciert ist" (S. 74). Gegenstand der Variation sind nach Meyer (2004, S. 74 f.) auf der Makroebene die methodischen Großformen: ~
Freiarbeit (mit einem hohen Anteil selbstorganisierten Lernens, überwiegend als Einzelund Partnerarbeit), Lehrgänge (mit einem hohen Ausmaß an Lehrerlenkung, überwiegend als Frontalunterricht),
~
Projektarbeit (mit gemeinsamen Zielabsprachen und hohen Anteilen von Team- und Gruppenarbeit),
auf der Mesoebene die Dimensionen methodischen Handelns: Sozialformen (Plenumsunterricht, Gruppenunterricht, Tandemarbeit, Einzelarbeit), Handlungsmuster (Vortrag, Erzählung, Tafelarbeit, Lehrgespräch, Disput, Experiment u. v.m.), Verlaufsformen (Sequenzen vom Typ Einstieg-Erarbeitung-Ergebnissicherung) und auf der Mikroebene die 265
Angebotsvielfalt
~
Inszenierungstechniken (wie Verlangsamen, Beschleunigen, Zeigen, Vormachen, Verrätseln, Ausblenden, Modellieren, Dramatisieren, Impuls geben, Verfremden, Provozieren u. v.m.).
Die folgende Abbildung (mit freundlicher Genehmigung der Bildungsdirektion des Kantons Zürich) soll verdeutlichen, dass sich verschiedene Unterrichtsmethoden durch die Sozialform sowie durch das Ausmaß der damit verbundenen Fremd- oder Selbststeuerung lokalisieren lassen (Bildungsdirektion Kanton Zürich, 2007). Sozialform
Schule
Frontalunterricht Projektunterricht
Klasse
Gruppe
Paar
Arbeitsplan, Planarbeit, Leittext,· Postenlauf Einzelner
fremdgesteuert Kontrolle Sicherheit
selbstgesteuert Verantwortung Eigenständigkeit
Abbildung 23: Lokalisierung von Unterrichtsmethoden
A
Reflexionsaufgabe 73: Vergleich der Konzepte von Wiechmann mit der Darstellung der Züricher Bildungsdirektion Wenn Sie die Koordinaten der Abbildung 24 mit dem Konzept Wiechmanns und Hilbert Meyers vergleichen: Wo liegen die Unterschiede? Könnte man die genannten drei Sichtweisen zu einem dreidimensionalen Modell kombinieren, und wenn ja: mit welchem Gewinn?
Methodenvielfalt macht sicher den Kern der Angebotsvariation aus. Bei einem Unterricht, welcher der Heterogenität der Lernvoraussetzungen, des Stoffs und der zu erreichenden Bildungsziele gerecht werden will, bezieht sich die Vielfalt des unterrichtlichen Angebotes dagegen auf mehr, nämlich auch auf 266
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
Medien, Typen von Aufgaben, z.B. mit situierten und abstrakten Vorgehensweisen, siehe Müller und Helmke (2008), Textsorten, Aussprache und Lautstärke stimmlicher Äußerungen, Lernorte (innerhalb der Schule und außerhalb); Beteiligung von Gästen oder anderen Lehrpersonen, die angesprochenen Sinnesmodalitäten, das heißt insbesondere Koppelung von sprachlichen mit nichtsprachlichen Angeboten der mentalen Repräsentation (grafisch-bildlichvisuell, Herstellen physikalischer Modelle, Bewegung, kinästhetisch-szenisches Lernen), abwechselnde Lern- und Entspannungsphasen. 4.10.3 Variation von Sinnesmodalitäten
Eine gut dosierte Kombination semantischer (rein sprachlicher, linguistischer) und nichtlinguistischer Lernangebote ist ein großes, derzeit noch unzureichend genutztes Lernpotenzial. Marzano, Pickering und Pollock (2005) schreiben in ihrem auf empirischer Forschung basierenden Bestseller mit dem bezeichnenden Titel „ Classroom instruction that works - Researchbased strategies for increasing student achievement" hierzu: „Probably the most underused instructional strategy of all those reviewed in this book - creating nonlinguistic representations - helps students understand context in a whole new way. As we have seen, teachers can take a variety of approaches, ranging from graphic organizers to physical models." (S. 73) In ihrem sehr praxisorientierten Buch verdeutlichen Brüning und Saum (2007) anhand zahlreicher Beispiele, dass es neben dem allseits bekannten Mind Map noch zahlreiche andere grafische Strukturierungsformen gibt, die sich für den Unterricht - insbesondere auch für kooperative Arbeitsformen - eignen: Concept Map, Word Web, Flussdiagramm, Sequenzdiagramm, Zeitleiste, Fischgräten-Diagramm, Ursachenkette, Kreislaufdiagramm, Tabelle und Venn-Diagramm. Sie geben einen Überblick über die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten dieser grafischen Strukturierungsformen (2007, S.11): Sachinhalte erarbeiten und ihre logische Struktur
darstellen, Struktur eines Themenbereiches vor seiner Erarbeitung im Überblick darstellen, Wissensvoraussetzungen aktivieren, Texte erschließen, Wissen einprägen, Gedanken kreativ entwickeln, Schreiben von Texten vorbereiten, Präsentieren und Vortragen, Mitschreiben bei Vorträgen, Lernstand selbst diagnostizieren, Evaluieren, Urteilen und Entscheiden sowie Unterricht vorbereiten. Während die Nutzung visueller Vorgehensweisen noch vergleichsweise bekannt sein dürfte, ist dies beim kinästhetischen Lernen, das heißt der Nutzung körperlicher Aktivitäten, vermutlich weniger der Fall. Hier zwei Beispiele: Body Math (Grundschule): „Otten, to take abriet pause in math class, Ms. Jenkins asks her 4th grade students to think ot ways they can represent what they are learning. For example, during the lesson an radius, diameter, and circumterence ot eire/es. Barry uses his fett arm outstretched to show radius, both arms outstretched to show diameter and both arms torming a circle to show circumterence. During a different lesson an angles, Devon depicts obtuse and acute angles by making wide and not-so-wide 'Vs' with her arms and the children yell out the de267
Angebotsvielfalt
grees. They even have ways to show fractions, mixed numbers, and turning fractions into their simpliest forms. Ms Jenkins startet the acitivity she called Body Math just to give the students a break from the routine of doing math drills, but then realized that it was a powertul way tor students to show whether or not they understood the concept behind the problems. Once the ward got around, other students could be seen peeking in the classroom to see what they were doing that day with body math. (Marzano et al., 2005, S. 82 f.) 11
Aus didaktischer Sicht ist es zum einen die Abwechslung, die Neugier, Spannung oder Interesse erzeugen kann und damit die Aufmerksamkeit fördert. Aus kognitionspsychologischer Sicht kann szenisches Lernen dazu beitragen, dass der betreff ende Stoff besser enkodiert wird, da er auf unterschiedliche Weise im Langzeitgedächtnis gespeichert wird (im semantischen und im episodischen Gedächtnis). Ein anschauliches und originelles Beispiel zeigt der Videofilm „Das Gehirn lernt immer Die Gehirnforschung und die Schule" von Paul Schwarz: Im Geschichtsunterricht (im Gymnasium Kirchheim, Teil des Netzwerkes „Gehirnforschung und Schule") werden in Kooperation mit dem Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL) z.B. Körperhaltung und Mimik absolutistisch herrschender Monarchen inszeniert (wie man sie auf alten Stichen findet), und im Lateinunterricht wird Vokabellernen mit rhytmischen Bewegungen verbunden. Dazu ein Ausschnitt aus dem Erfahrungsbericht eines beteiligten Lehrers (Studienrat Holger Heidemann in einer persönlichen Mitteilung, 2008): „Körper/ich und emotional Gelerntes wird besser verarbeitet und memoriert. Das Gehirn wird multilateral angeregt, zahlreiche(re) Gedächtnisspuren werden angelegt und auch Körper- und Sozialkompetenzen werden ausgeprägt. Das ist nicht nur in den Stunden selbst zu verzeichnen, sondern führt auch später noch zu offener und bereitwilliger Auseinandersetzung mit sonst so eintönig vermittelten Lerngegenständen. Der Unterricht selbst findet in einer anderen Atmosphäre statt. Dies ist nach meiner Erfahrung tatsächlich die zentrale erste Schnittstelle zwischen Lernen und Lehren. Hier werden die Weichen für eine effektive Unterrichtseinheit gelegt, da weiterführende Aufgaben oder Aktivitäten der Schüler direkt an positive Grundstimmung und Offenheit anknüpfen können.
A
11
Reflexionsaufgabe 74: Szenisches Lernen Überlegen Sie einmal, in welchen der von Ihnen unterrichteten Fächer sich Varianten des szenischen Lernens einbauen ließen, um Lerninhalte lebendig erfahrbar zu machen!
Ein anderer Typ der Aktivierung ist der Einbau von Bewegung in den Unterricht, der in einer Reihe von Modellversuchen unter dem Motto „Bewegte Schule" oder „Bewegtes Lernen" praktisch erprobt wurde und sich bewährt hat. 46 Hier geht es ursprünglich weniger um didak-
46 z.B. http://www.bewegteschule.de
268
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
tische Überlegungen, sondern um die überaus plausible Aufforderung, mehr Bewegung - im gymnastischen Sinne-in den Unterricht zu integrieren, mit dem Ziel einer stärker bewegungs-, gesundheits- und lernfördernden Gestaltung des Lern- und Lebensraums Schule. In gewisser Weise kann szenisches Lernen ebenfalls als eine Form bewegten Lernens aufgefasst werden. 4.10.4 Methodenvariation: Empirische Ergebnisse
Abschließend soll noch ein Blick auf die Empirie geworfen werden. Die erste Frage lautet: Wie häufig wird der traditionelle lehrerzentrierte Frontalklassenunterricht eigentlich durch alternative Lehr-Lern-Formen ergänzt? Tabelle 8 bezieht sich auf das Projekt DESI der KMK und berichtet separat für die vier Bildungsgänge, wie viel Prozent der Lehrkräfte die jeweilige alternative Organisationsform mindestens ein paar Mal pro Monat realisieren. Die Bildungsgänge sind wie folgt abgekürzt: HS (Hauptschule), RS (Realschule), IGS (Integrierte Gesamtschule) und GY (Gymnasium). Hier zeigt sich, dass in der Hauptschule im Fach Englisch signifikant weniger Gruppenarbeit realisiert wird als in den anderen Bildungsgängen, während Wochenplanarbeit und Stationenlernen in der Integrierten Gesamtschule häufiger als anderswo vorkommen.
Englisch
Deutsch
Methode
HS
RS
IGS
GY
ges.
HS
RS
IGS
GY
ges.
Arbeit mit kleinen Schülergruppen
32
53
70
62
51
64
40
68
60
54
4
40
39
46
33
61
45
48
57
53
fachübergreifendes Lernen
13
22
26
17
19
68
31
22
23
37
Freiarbeit
17
8
19
14
13
32
10
27
8
17
Wochenplan
7
5
28
5
7
12
10
12
6
10
Projektlernen
2
8
0
7
5
16
5
21
1
8
Peer-Tutoring
5
3
5
7
5
13
4
0
5
6
geschlechtshomogene Kleingruppen
2
5
11
6
5
9
2
16
4
5
10
2
9
2
4
10
3
0
3
5
Diskussionsrunden
Lernzirkel/Stationenlernen
Tabelle 8: Prozentanteil von Lehrpersonen in der Sekundarstufe 1(9. Klasse), die die folgenden Szenarien in ihrem Unterricht realisieren (Projekt DESI der KMK; repräsentative Stichproben, Ergebnisse gerundet)
Mit der Methodenvielfalt verhält es sich auf den ersten Blick wie mit der Individualisierung: Wer ist schon für Methodeneinfalt oder für eine Monokultur - beispielsweise des lehrerzentrierten Frontalunterrichts? Mit der Forderung nach Methodenvielfalt rennt man wie bei der Individualisierung weit geöffnete Türen ein. Bei näherem Hinsehen kommen allerdings eini269
Angebotsvielfalt
ge Sackgassen in den Blick; beispielsweise ist der erfolgreichste Unterricht selten derjenige mit einem Maximum an Methodenvariation, sondern der mit einem Optimum. Dies hat unter anderem die Studie MARKUS gezeigt (siehe Abbildung 24): Am erfolgreichsten waren diejenigen Klassen mit einer überschaubaren Anzahl unterschiedlicher Lehr-Lern-Szenarien. Klassen mit ausschließlich Frontalunterricht oder mit exzessiv vielen Unterrichtsformen schnitten gleichermaßen schlecht ab. Diejenigen Lehrpersonen, die (vielleicht „verzweifelt" wegen anhaltender Misserfolge) mit anderen Lehrtechniken alles Mögliche erprobten, wurden in Nachbefragungen von ihren Schülerinnen und Schülern als tendenziell „hysterisch" oder „hektisch" geschildert - ein Hinweis darauf, dass hier ein „Zuviel" geboten wurde. Eine zu große Methodenvielfalt scheint also auf Kosten der Umsetzungsqualität der einzelnen Methoden zu gehen. Lernerfolg
80 70 60 50 40 30 20 10-·····························
0
1
1
2
r
..
3
1
1
4
1
5
6
1
7
Anzahl aktualisierter Lehrtechniken neben Frontalunterricht
Abbildung 24: Lernerfolg (Mathematiktestleistung) und Anzahl der im Schuljahr realisierten Lehr-Lern-Szenarien (Projekt MARKUS)
Leider gibt es keine Metrik, mit deren Hilfe man das Optimum an instruktionaler Variation bestimmen könnte. Dies hängt von zu vielen Faktoren ab, insbesondere von der Klassenzusammensetzung (der Vielfalt an Lernvoraussetzungen), vom Stoff und vor allem davon, wie gekonnt und überzeugend die jeweiligen Methoden tatsächlich realisiert werden. Weinert (1996b) äußert sich hierzu skeptisch: „Diese Situation wird sich auf der Basis der gegenwärtig bevorzugten Forschungsstrategien auch künftig kaum verändern. Instruktion bleibt vermut270
Unterrichtsqualität: Bereiche, Merkmale, Prinzipien
lieh die wissenschaftlich zwar fundierte, aber nur durch gesunden Menschenverstand, praktische Vernunft und plausible Erfahrungsgeneralisierung nutzbare Anwendung von Prinzipien." (S.41)
Reflexionsaufgabe 75: Eigene Stärken und Schwächen Lassen Sie die in diesem Kapitel beschriebenen Qualitätsbereiche noch einmal Revue passieren und denken Sie an Ihren eigenen Unterricht: In welchen Bereichen liegen Ihre Stärken, wo sind möglicherweise Schwächen?
Reflexionsaufgabe 76: Zwei Vergleiche Vergleichen Sie die zwölf Bereiche Osers mit dem Angebots-Nutzungs-Modell des Unterrichts in Abbildung 4: Welche der bei Oser aufgeführten Bereiche kommen dort gar nicht oder in anderer Weise vor? Und umgekehrt: Welche der dort genannten Konzepte finden keine Entsprechung bei den hier genannten Standards von Oser? ~
Ordnen Sie die 46 Gebote des „Vademecums für junge Lehrer" (Kapitel 2.7.9.4, S. 100ff.) den zehn Merkmalen der Unterrichtsqualität zu!
4.11 Literaturempfehlungen Literaturempfehlungen waren bereits in den einzelnen Unterkapiteln gegeben worden, insbesondere wurde auf die umfassenden Metaanalysen von Hattie (2009 und 2012) hingewiesen, daher erfolgt hier nur ein kurzer Hinweis. Übersichten zum Stand der Forschung zur Unterrichtsqualität befinden sich bei Meyer (2004), Klauer und Leutner (2007), Wellenreuther (2005, 2009) und Lipowsky (2006). Einen guten Einstieg bieten diejenigen Lehrbücher zur Pädagogischen Psychologie, die Fragen des Lehrens und Lernens einen besonderen Schwerpunkt einräumen, beispielsweise von Hasselhorn und Gold (2006), Renkl (2008), Mietzel (2007) und Schnotz (2006) sowie die einschlägigen Kapitel und Stichworte in den Lehr- und Handbüchern von Krapp und Weidenmann (2006) und Rost (2006a). Breitere Darstellungen stammen von Langfeld (2006), Dubs (2009) und Schweer (2008). Für umfassende, weiter ausholende Darstellungen werden das „Handbook of Educational Psychology" (Alexander & Winne, 2006) und das „Handbook of Research on Teaching" (Richardson, 2002) empfohlen. Eine praxisorientierte und zugleich umfassende Übersicht ist in dem zweibändigen Handbuch „Instrumente für die Qualitätsentwicklung und Evaluation in Schulen" (Brägger & Posse, 2007) zu finden.
271
Begriffliche Orientierung
5 Diagnose und Evaluation des Unterrichts 5.1 Begriffliche Orientierung Zunächst sollen einige Begriffe geklärt werden, die gelegentlich unscharf verwendet und miteinander verwechselt werden, sich aber teilweise auch in ihrer Bedeutung überlappen. ~
Erhebung (assessment) ist eine unspezifische Bezeichnung für die Erfassung von Daten jeg-
licher Art. Messung (measurement) ist ganz allgemein der Prozess der Zuordnung von Zahlen zu Aus-
prägungen eines Merkmals und bedeutet in diesem Buch das Gleiche wie Erhebung oder Erfassung. Einschätzung (rating) ist ein subjektives Urteil über einen Sachverhalt, z.B. in Form eines
kategorienbasierten Rating-Bogens, bei dem die Ausprägung eines Merkmals durch die Entscheidung für eine von mehreren vorgegebenen Antwortkategorien eingeschätzt werden soll. Beispielsweise kann das Merkmal „Schülerbeteiligung im Unterricht" durch die Kategorien „stark", „mittel" oder „niedrig" beurteilt werden. ~
Im Gegensatz dazu wird unter Diagnose eine Urteilsleistung verstanden, die sich an bestimmten vorgegebenen Kategorien (z.B. Personenmerkmale oder Merkmale der Unterrichtsqualität) orientiert, in aller Regel theorie- und hypothesengeleitet und spezifischen Gütekriterien unterworfen ist. Das Wort leitet sich aus dem griechischen diagnostikos (zum Unterscheiden geschickt) ab. Diagnostik ist eine professionelle, systematische, wissenschaftlich und methodisch fundierte Tätigkeit mit dem Ziel, Erkenntnisse über Merkmalsträger zu gewinnen oder Entscheidungen über nachfolgende Maßnahmen treffen zu können. Dabei wird ein Ist-Stand erfasst. In Abgrenzung davon geht es bei der Prognose um die Beschreibung eines in der Zukunft liegenden und bei der Retrognose um die Beschreibung eines in der Vergangenheit liegenden Sachverhaltes.
~ Monitoring ist die systematische und regelmäßige Überwachung von Prozessen oder Sys-
temen (z.B. des Bildungssystems: Bildungsmonitoring) mit dem Ziel, im Falle eines unerwünschten Verlaufs (z.B. Unter- oder Überschreitung von Schwellenwerten) steuernd einzugreifen. Benchmarking ist die Standortbestimmung durch Vergleiche mit einer Bezugsgruppe, einem
Referenzwert (z.B. Durchschnitt) oder mit herausragenden Personen/Firmen/Gruppen. ~
Evaluation (Bewertung) ist der Prozess (auch: das Ergebnis) der Beurteilung des Wertes ei-
nes Produktes, Prozesses oder Programmes unter Zugrundelegung eines Gütemaßstabes, um das Programm oder Produkt selbst zu verbessern. „Evaluation" leitet sich ab aus dem lateinischen valere =wert sein, bei Kräften sein; hieraus abgeleitet: valoir (franz.) =kosten, wert sein, value (engl.) = Wert, Nutzen, evaluation (engl.) = Schätzung, Bewertung. Von Evaluation im Sinne der Evaluationsforschung spricht man dagegen nur dann, wenn die Evaluation anerkannte sozialwissenschaftliche Regeln und Methoden zugrunde legt. Wie unterscheiden sich nun Diagnose und Evaluation voneinander?
272
Diagnose und Evaluation des Unterrichts
Diagnostik bezieht sich auf die Erhebung von Daten bei einzelnen Personen (oder Perso-
nengruppen) mit dem Ziel, bestimmte Entscheidungen zu treffen, die genau diese Personen betreffen. Diagnostik dient der Informationsbeschaffung; deshalb sind Diagnosen oder diagnostische Befunde als solche zunächst einmal wertfrei und folgenlos. Ob sie Folgen haben und welche dies sind, hängt von der Entscheidungssituation ab. Sofern wissenschaftlich fundierte und empirisch erprobte Messinstrumente verwendet und bestimmte methodische Gütekriterien berücksichtigt werden, spricht man von wissenschaftlicher Diagnostik (im Unterschied zu Alltagsdiagnostik). ~
Evaluation bezieht sich im Unterschied zur Diagnostik in aller Regel nicht auf eine einzelne
Person, sondern typischerweise auf Aussagen zum Wert oder Erfolg eines Programmes, einer Institution (z.B. einer Schule) oder eines Systems. Im Gegenstaz zur Diagnose ist es für die Evaluation konstitutiv, dass Gütemaßstäbe (Normen, Benchmarks, Kriterien) zugrunde gelegt werden. Evaluationen sind ebenfalls Grundlage von Entscheidungen, aber eben von solchen auf der Ebene von Systemen oder Programmen. Evaluationen können wissenschaftlich fundiert sein (wie im Rahmen der Evaluationsforschung), erfolgen aber oft alltagsnah, z.B. wenn der Erfolg einer Maßnahme auf der Grundlage subjektiver Eindrücke bewertet wird. Überlappende Bedeutung: Trotzdem lassen sich beide Begriffe nicht völlig klar voneinander
abgrenzen, sondern überlappen sich in ihrer Bedeutung, insbesondere, wenn es um den Urteilsgegenstand „Unterricht" geht. Warum? Erstens erfolgt die Diagnose von Merkmalen der Unterrichtsqualität (z.B. „Klarheit" oder „Lernförderliches Klima") im Allgemeinen mit Hilfe von Unterrichtsbeobachtungsbögen, deren einzelne Aussagen (Items) wertgeladen sind, das heißt bei einer niedrigen Ausprägung eine negative und bei einer hohen Ausprägung eine positive Konnotation aufweisen. Zweitens: Unterrichtsdiagnostik mit Hilfe kategorienbasierter Urteilsbögen, wie sie beispielsweise anlässlich wechselseitiger Hospitation erfolgt (siehe http://www.unterrichtsdiagnostik.info) ist zwar eine Entwicklungs- und keine Evaluationsmaßnahme, kann (und sollte unbedingt) jedoch auch sehr folgenreich sein, nämlich in Gestalt der Vereinbarung von Entwicklungszielen und konkreten Maßnahmen der Weiterentwicklung des eigenen Unterrichts. Wenn in einer Schule verschiedene individuelle Aktivitäten (Unterrichtsdiagnostik im Team) organisiert, koordiniert und in ein Qualitätsprogramm eingebunden werden, dann kann dies zu einem Qualitätssprung führen: von vereinzelten unterrichtsdiagnostischen Maßnahmen zu einer systematischen, kooperativen und kontinuierlichen Standortbestimmung (Monitoring) der Unterrichts, verbunden mit einer fortlaufenden Professionalisierung der beteiligten Akteure. In diesem Falle würde man von Selbstevaluation der Schule sprechen. Diese könnte ebenso datengestützt erfolgen wie die externe Evaluation; es müssten lediglich alle von Tandems erhobenen Daten in eine anonymisierte Datenbank eingepflegt werden, so dass sich die Schule ohne fremde Hilfe ein Bild ihrer Stärken und Schwächen und ihrer Entwicklungstrends machen und dies als Startpunkt für konkrete Maßnahmen der Fortbildung und Professionalisierung nutzen kann.
273
Begriffliche Orientierung · Evaluation: Ziele, Konzepte, Methoden
Für vertiefende theoretische, inhaltliche und methodische Fragen der Diagnostik sei auf die entsprechenden Passagen und Hyperlinks auf der Website http://www.unterrichtsdiagnostik. ~fo
verwiesen. Die folgende Darstellung fokussiert auf Evaluation. Da im Kontext der Schule
viele diagnostische Maßnahmen meist auch einen evaluativen Zweck verfolgen (in der Regel formative und nichtsummative Evaluation, und interne oder Selbstevaluation und nicht Fremdevaluation), ist diese Konzentration auf Evaluation sinnvoll.
Reflexionsaufgabe 77: Diagnose versus Evaluation Skizzieren Sie einen Sachverhalt im Konntext der Schule, bei dem es um Diagnose, aber nicht um Evaluation geht! Skizzieren Sie den gegenläufigen Sachverhalt, Evaluation, ohne dass man von Diagnostik sprechen könnte ~
Diagnostik oder Evaluation - und warum? (1) Unterrichtsbesuch durch die Schulleitung (2) Unterrichtsbeobachtung im Rahmen der externen Evaluation (Schulinspektion, Qualitätsagentur), (3) Wechselseitige Unterrichtsbeurteilung im Rahmen kollegialer Hospitation, (4) Schülerfeedback zum Unterricht?
5.2 Evaluation: Ziele, Konzepte, Methoden Eine der Konsequenzen von TIMSS und PISA in Deutschland ist das gewachsene Bewusstsein für die Notwendigkeit, die Qualität von Schule und Unterricht kontinuierlich zu prüfen, zu sichern und ggf. zu verbessern. Im Zeichen zunehmender Autonomie der Schulen ist die Notwendigkeit dieses Unterfangens klarer als je zuvor. Ähnliches gilt für die Schweiz, wo sich viele Schulen einer erheblichen Umstrukturierung gegenübersehen: von bisher ungeleiteten Schulen zu einer Schulstruktur, die eine Leitung vorsieht. In einer Übersicht über die wichtigsten deutschsprachigen Veröffentlichungen zum Thema „Evaluation" in der Schule (Schnack, 1997) war noch von einer „überschaubaren" Anzahl von Publikationen die Rede. Inzwischen hat die Anzahl einschlägiger Publikationen immens zugenommen: kein Landesinstitut, kein Bildungsministerium, das nicht einschlägige Handreichungen, Broschüren, Gebrauchsanweisungen etc. zur Verfügung stellt. Wegen ihres besonders reichhaltigen Angebotes sollen die folgenden Websites besonders erwähnt werden: ~
Deutscher Bildungsserver47 ,
~ Qualität in Schulen (Q.i.S.), Website des Österreichischen Bundesministeriums für Unter-
richt, Kunst und Kultur48 , ~
Institut für Schulentwicklungsforschung (Technische Universität Dortmund) 49 ,
47 http://www.bildungsserver.de 48 http://www.qis.at 49 http://www.ifs.uni-dortmund.de
274
Diagnose und Evaluation des Unterrichts
Interkantonale Arbeitsgemeinschaft Externe Evaluation von Schulen (ARGEV) in der Schweiz50 , ~
Instrumente für die Qualitätsentwicklung und Selbstevaluation von Schulen (IQES) 51 .
5.2.1 Evaluation
Was ist eigentlich Evaluation ? An dieser Stelle soll eine Definition vorgestellt werden, die 11
11
einfach und konsensfähig ist; für weitergehende und ausführliche Darstellungen vgl. Wottawa (2001a, 2001b), für Anwendungen speziell in der Schule vgl. Burkhard und Eikenbusch (2000). Demnach umfasst das Konzept der Evaluation folgende Bestandteile: (1) Systematische Erfassung (2) der Durchführung oder der Ergebnisse (3) eines Programms oder einer Maßnahme, (4) verglichen mit vorgegebenen Standards, Kriterien, Erwartungen oder Hypothesen (5) mit dem Ziel der Verbesserung des Programms oder der Maßnahme. Wichtig: Auch der Prozess der Evaluation selbst ist evaluierbar ( Meta-Evaluation 11
11
),
und pro-
fessionelle Evaluationsprogramme umfassen immer auch diese Form der Selbstevaluation: Wie effizient, ökonomisch, erfolgreich etc. war die Evaluation? 5.2.2 Kleiner Exkurs zu den Anfängen der Evaluation
Manch einer wird von einem Lehrbuch erwarten, dass auch ein historischer Abriss gegeben wird. Diese Erwartung wird hier enttäuscht, denn die historische Dimension erscheint für Zweck und Addressaten dieses Buches eher marginal. Daher die Beschränkung auf einen (nicht ganz ernst gemeinten) historischen Exkurs (entnommen aus Eikenbusch, 2001): „Und am siebten Tag ruhte Gott aus von seinem Werke. Sein Erzengel kam zu ihm und fragte ihn: ,Gott, woher weißt du, dass das, was du geschaffen hast, , wirklich gut' ist und Qualität hat? Welche Beurteilungskriterien hast du? Auf welche Datengrundlage gründet sich deine Bewertung? Welche Ziele verfolgst du genau genommen mit welchen Ergebnissen? Und bist du nicht zu sehr mit der Sache verbunden, um unabhängig und gerecht zu evaluieren?' Gott dachte über diese Fragen den ganzen siebten Tag nach und seine Ruhe war gründlich gestört. Am achten Tag sagte er: ,Luzifer, fahr zur Hölle!' Das war die Erschaffung der Evaluation." (S. 92) 5.2.3 Der Evaluationszyklus
Typischerweise folgen Evaluationen dem folgenden Zyklus: ~
Ausgangspunkt: Planung eines Evaluationsvorhabens, Bestimmung des Ziels, Identifikation der Zielgruppe,
~
Planung der Durchführung (Zeit, Geld, Personal, Genehmigungen), Datenerhebung (Tests, Fragebögen, Interviews, Statistiken), Analyse und Interpretation der Daten,
50 http://www.argev.ch 51 http://www.iqesonline.net
275
Evaluation: Ziele, Konzepte, Methoden
Nutzung der Daten für Veränderungen, Modifizierung des Evaluationsprogramms (Feedback-Schleife). 5.2.4 Ziele von Evaluation
Die wichtigsten Typen von Evaluation ergeben sich durch Beantwortung folgender Fragen: WAS wird evaluiert? Traditionellerweise spricht man nur dann von Evaluation, wenn es
sich um Programme oder Maßnahmen handelt, deren Wirksamkeit untersucht werden soll, wie z.B. bei Reformprojekten, Unterrichtsversuchen, Projekten in der Entwicklungsförderung etc. „Evaluation" im Kontext der Schule wird jedoch inzwischen wesentlich weiter gefasst: Sie kann Aspekte des Kontextes, des Inputs, des Prozesses, des Produktes einschließlich möglichen Transfers beinhalten (Burkard & Eikenbusch, 2000, S. 63 f.). WOZU wird evaluiert? Formativ sind Evaluationen, die nach einzelnen Lernphasen, summativ solche, die nach Abschluss des Themas/des Lehrgangs/des Schuljahres erfolgen. Formative
Evaluationen dienen vorwiegend der Förderung, summative Evaluationen sind abschließende Bewertungen. WER evaluiert? Übernehmen die Schulen die Evaluation in eigener Regie und Verantwor-
tung (ob freiwillig oder durch ein Schulprogramm dazu „veranlasst", sei dahingestellt), dann handelt es sich um eine interne Evaluation oder „Selbstevaluation", ansonsten um eine externe Evaluation, vgl. Burkard und Eikenbusch (2000, S. 68 f.). WANN wird evaluiert? Manche Evaluationen sind singulär, das heißt, sie umfassen eine
einzige Erhebung (Querschnitt, Momentaufnahme). Die großen Evaluationsprojekte der Bildungsforschung und des Bildungsmonitoring (wie PISA, IGLU, VERA oder TIMSS) sind dagegen als Zyklen angelegt, können also Entwicklungstrends über die Zeit hinweg feststellen. WORAN wird evaluiert, das heißt an welchem Maßstab? Hier gelten die gleichen Prinzipien
wie bei der Leistungsmessung: Die Evaluation kann sich darauf beziehen, wie gut ein Ziel erreicht bzw. eine Kompetenz erworben wurde ... im Vergleich zu anderen (Schülern, Schulen, Bundesländern, Nationen). Zum Beispiel: An welcher Stelle der Rangreihe oder um wie viel besser oder schlechter als der internationale Durchschnitt (Benchmark) liegt Deutschland beim Leseverstehen bei PISA 2009? ~
im Vergleich zu einem absoluten, a priori vorgegebenen Kriterium (wie die für das Sportabzeichen geltenden Absolutwerte für einzelne Disziplinen) oder präzisen Lernzielen und Bildungsstandards. Zum Beispiel: Wie viele der PISA-Mathematikaufgaben schafft eine 9. Klasse in der vorgegebenen Zeit? im Vergleich zu einer vergleichbaren Leistung der gleichen Person (oder Klasse, Schule etc.) zu einem vorangegangenen oder nachfolgenden Zeitpunkt (Pre- und Posttest). Die Betrachtung des Zeitverlaufs drückt den dynamischen Charakter, das Veränderungspotenzial aus: Wie viel hat ein Schüler durch Unterricht im Laufe eines Jahres dazugelernt? Um wie viel höher ist die Lesekompetenz von Schülern nichtdeutscher Sprachherkunft bei PISA 2009 als bei PISA 2006?
276
Diagnose und Evaluation des Unterrichts
5.2.5 Selbstevaluation
Ein umfassendes Handbuch zur Evaluation in der Schule liegt von Burkhard und Eikenbusch (2000) vor. Dort werden alle Schritte - von der Klärung der Ziele über die Fragebogenentwicklung bis hin zur Kommunikation der Ergebnisse - ausführlich und praxisnah beschrieben. Das Buch enthält darüber hinaus zahlreiche direkt im Unterricht einsetzbare Instrumente. Es wird unterschieden nach ~
Ebenen: Mikroebene (eigene Klasse), Mesoebene (ganze Schule) und Makroebene
(Gesamtsystem) sowie Zielen: (a) Planung, Steuerung und Beteiligung für Schulentwicklung, (b) Selbstvergewis-
serung, Forschung, Professionalisierung, Erkenntnisgewinn und (c) Rechenschaftslegung. Das umfassendste Konzept der Selbstevaluation von Schulen ist derzeit das IQES-Konzept, das in einem zweibändigen Handbuch (Brägger & Posse, 2007) dokumentiert ist. In Kapitel 4 des ersten Bandes sind die „ Schritte des Entwicklungs- und Evaluationszyklus" ausführlich beschrieben: Entscheiden Standort bestimmen Entwicklungsschwerpunkt festlegen Umsetzungsideen austauschen Ziele formulieren Planen Projekt skizzieren Kommunikationskonzept entwickeln Voraussetzungen prüfen Stärken und Schwächen des Vorgehens analysieren Erfolgsindikatoren festlegen Evaluationsmaßnahmen planen Handeln - Lernen 0-Gruppen und Unterrichtsteams bilden Q-Projekte umsetzen Lehrer-Schüler-Trainings durchführen Überprüfen Feedback geben und nehmen Prozesse und Ergebnisse dokumentieren Evaluation vorbereiten Evaluation vorbereiten Evaluationsbereich festlegen Ziele der Evaluation klären Qualitätsindikatoren vereinbaren Spielregeln und Ablaut der Evaluation festlegen
277
Vielfalt von Methoden und Akteuren: ein Überblick
Daten sammeln Evaluationsinstrumente auswählen Datensammlung durchführen Ergebnisse aufbereiten Analysieren Daten kommunizieren Ergebnisse reflektieren und analysieren Erkenntnisse formulieren Konsequenzen festlegen - Bericht erstatten Konsequenzen vereinbaren Prioritäten setzen Qualitätsbericht schreiben Implementieren 5.2.6 Standortbestimmung durch Benchmarking
Eine Möglichkeit, den eigenen Standort im Bereich Unterrichtsqualität zu bestimmen, liegt im Vergleich des eigenen Unterrichtsprofils (Grundlage dafür können Schülerangaben zum Unterricht sein) mit Referenzwerten. Dabei ergeben sich drei Basisdimensionen: ~
Vergleich der Unterrichtsprofile von Parallelklassen innerhalb einer Schule
~
Vergleich des auf Schulebene gemittelten Unterrichtsprofils mit dem anderer Schulen
~
Vergleich der Profile der gleichen Klasse oder Schule zu verschiedenen Zeitpunkten
Erweitert man die Erhebungsperspektiven (Schülerfragebogen plus Selbsteinschätzung des Unterrichts plus Sichtweisen von Kollegen, z.B. durch Hospitation), dann ergibt sich eine Vielfalt von weiteren Möglichkeiten des Abgleichs.
5.3 Vielfalt von Methoden und Akteuren: ein Überblick Das Einholen von Rückmeldung ist ein zentrales Prinzip jeder Art von professionellem Training und Unterricht. Ebenso wie Schulsysteme der regelmäßigen Wirkungskontrolle bedürfen (system monitoring), geleistet durch externe Evaluationsstudien vom Typ TIMSS, DESI, IGLU, VERA oder PISA, ist der Einsatz von Verfahren des Feedbacks, der Supervision oder der Rückmeldung als unabdingbarer Teil der Lehrerprofessionalität anzusehen. Um eine Metapher aus der Medizin heranzuziehen: Kein Therapieerfolg ist denkbar ohne vorherige Diagnose. Das gilt auch für den Unterricht: Ohne eine solide Bestandsaufnahme, ohne eine gültige Beschreibung des Ist-Standes, sind zielgerichtete Veränderungen des Unterrichts ein aussichtsloses Unterfangen. Für die Erfassung von Aspekten der Unterrichtsqualität gibt es eine große Zahl von Methoden, die ihrerseits wieder von unterschiedlichen Akteuren und damit aus verschiedenen
Perspektiven eingesetzt werden können. Jede einzelne Methode hat - alleine eingesetzt - ihre Schwächen, jeder Adressat bei der Unterrichtsbeurteilung seine „ blinden Flecken". Deshalb kommt es darauf an, sich bei der Information über den eigenen Unterricht nach Möglichkeit 278
Diagnose und Evaluation des Unterrichts
nicht nur auf eine einzige Methode oder auf einen einzigen Adressaten zu beschränken, sondern Kombinationslösungen zu probieren. Der folgende Abschnitt gibt eine Übersicht über mögliche Methoden und skizziert mögliche Akteure der Unterrichtsbeurteilung. Als Methoden zur Erfassung des Unterrichts kommt das gesamte Spektrum sozialwissenschaftlicher Erhebungstechniken in Betracht. Im Folgenden sollen nur einige Koordinaten angesprochen werden, hinsichtlich derer sich die vorfindbaren Methoden klassifizieren lassen: Frei vs. gebunden. Je nach dem Ausmaß der Vorstrukturierung sind freie Berichte, schwach
strukturierte Verfahren (z.B. Interviews lediglich mit Leitfragen) bis hin zu völlig gebundenen Verfahren (z.B. Fragebögen im Multiple-Choke-Format) zu unterscheiden. Schriftlich vs. mündlich. Es kann sich um schriftliche (z.B. Angaben in einem Fragebogen)
oder mündliche Angaben (z.B. der Schüler oder Kollegen im Rahmen eines Interviews) handeln. Breitbanddiagnose vs. Ausschnittbeleuchtung. Angesichts begrenzter zeitlicher und materi-
eller Ressourcen entsteht gelegentlich das sogenannte „Bandbreite-Genauigkeits-Dilemma": Die Diagnose kann umfassend, aber unscharf sein, also die Gesamtheit der Person (z.B. der Lehrerpersönlichkeit) bzw. des Unterrichts einbeziehen, oder sie kann zwar ein höheres Auflösungsvermögen aufweisen, dafür aber nur einen kleinen Teilausschnitt herausgreifen, der differenzierter behandelt wird. Aktuell vs. kumulativ. Die Beurteilung des Unterrichts kann sich auf den soeben erfahrenen/
gesehenen Unterricht beziehen (aktuell), oder es kann darum gehen, retrospektiv über einen längeren Zeitraum hinweg zu urteilen (kumulativ, habituell). Letzteres erfordert gedankliche Mittelungsprozesse über viele Situationen. Niedrig-inferent vs. hoch-inferent. Von niedrig-inferenten Angaben spricht man dann, wenn
der Beurteilungs- und Ermessensspielraum gering ist. Beispiel: Während eines Unterrichts wird auf der Basis eines vorgegebenen Kategorienbogens ausgezählt, wie oft bestimmte für die Beurteilung der Unterrichtsqualität relevante Ereignisse vorkommen (z.B. dass sich jemand verspricht, Sätze nicht korrekt zu Ende führt, sich verhaspelt, Füllwörter einsetzt, „okay" oder „ähhhh" sagt). Dagegen wäre die Beurteilung des „Humors" der Lehrkraft („gering", „mittelmäßig", „stark" etc.) ein hoch-inferentes Urteil, in das eine Portion Ermessen und Subjektivität eingeht. Medium der Beurteilung. Neben dem Einsatz von Papier und Bleistift (Bögen, Formulare,
Checklisten bzw. Protokollierung mit Laptop etc.) sind Audio- und Videoaufnahmen möglich. Während man früher den Unterricht durch anwesende Beurteiler „live" beschreiben und beurteilen ließ, versucht man heute, den Unterricht oder Teile davon zu konservieren. Damit wird der Prozess der Erhebung von dem der Auswertung abgekoppelt. Das hat den großen Vorteil, dass die Unterrichtsaufnahmen wiederholt - und somit ohne Zeitdruck - und aus verschiedenen Perspektiven (z.B. Frontalkamera vs. Ausschnittkamera) sowie aus verschiedenen Blickwinkeln beurteilt werden können, siehe hierzu Kapitel 7. Verwendung als Forschungsmethode oder in der Schulpraxis. Hier gibt es eine erhebliche Überlappungszone: Die meisten Beurteilungsbögen, die für die Unterrichtsforschung entwickelt und dort eingesetzt werden, lassen sich im Prinzip auch in der Schulpraxis und in der 279
Lehrerangaben zum eigenen Unterricht
Lehrerausbildung einsetzen. Umgekehrt gibt es jedoch eine große Zahl „selbst gestrickter", eher unsystematischer Checklisten" etc., die zwar in der Praxis kursieren, sich jedoch für eine 11
wissenschaftlich fundierte Einschätzung des Unterrichts nicht eignen. Die Angaben zum Unterricht können nicht nur mithilfe verschiedener Methoden, sondern von unterschiedlichen Akteuren erhoben werden. Als „Datenlieferanten" kommen in Frage: ~
die Lehrkräfte selbst,
~
Kollegen (Peers), Schülerinnen und Schüler der unterrichteten Klasse, Schulleitung, Schulaufsicht, Eltern, Dritte, z.B. Experten, die zur Beurteilung von Aufnahmen des Unterrichts hinzugezogen werden.
5.4 Lehrerangaben zum eigenen Unterricht Die Protokollierung des eigenen Unterrichts in Form von Tagebüchern, Logbüchern oder anderer Methoden ist eine wichtige Methode der Selbstvergewisserung und eine fruchtbare Basis für didaktische und pädagogische Diskussionen. Hierzu gibt es inzwischen eine größere Zahl von Instrumenten, von denen einige exemplarisch skizziert werden sollen. 5.4.1 Checklisten
Was für Zwecke der Forschung oder der externen Evaluation praktisch keine nennenswerte Rolle spielt, ist für die alltägliche Rechenschaftslegung und damit für die persönliche Unterrichtsentwicklung sehr wohl bedeutsam: die Selbstbeurteilung des Unterrichts - vor allem dann, wenn die Selbstbeurteilung durch einen „fremden Blick" (kollegiales Feedback, Schülerwahrnehmung) ergänzt wird. Im Alltag finden solche Selbstreflexionen ständig statt - jedoch nicht systematisch, sondern eher zufällig und intuitiv, und dies überwiegend bei erwartungswidrigen Unterrichtsverläufen und -ergebnissen. Systematisch werden sie z.B. in der 2. Phase der Lehrerausbildung gelegentlich praktiziert. Zur Erleichterung solcher Selbsturteile sind zahlreiche Checklisten entwickelt worden. Für die einer Unterrichtsstunde (im Idealfall) folgende Selbstreflexion schlägt Becker (1998, S. 217) die Selbstbefragung zu den folgenden Punkten vor: ~
„Wie habe ich den Lehr-Lern-Prozess angeregt? Wurde das Interesse am Lerninhalt aufrechterhalten?
~
Wurden die Schüler auf zentrale Frage- oder Problemstellungen hingelenkt?
~
Lässt die Unterrichtsstunde einen Schwerpunkt erkennen? Wie viele Fragen habe ich gestellt?
280
~
Was für Fragen habe ich gestellt?
~
Wie viele Fragen stellten die Schüler?
Diagnose und Evaluation des Unterrichts
~
Was für Fragen stellten die Schüler? Waren die Frage- bzw. Problemstellungen sachlogisch aufeinander bezogen?
~
Welche Beiträge lösten welche Fragen aus?
~
Härte ich den Schülern zu?
~
Wurden vereinbarte Gesprächsregeln eingehalten?
~
Wie ging ich auf die Schülerbeiträge ein? Wurden Schülerbeiträge von mir wörtlich wiederholt?
~
Benutzte ich stereotype Verstärkungsformen?
~
Wurden auch Interaktionen zwischen den Schülern angeregt?
~
Wie hoch war mein Sprechanteil? Wie hoch war der Sprechanteil aller Schüler?
~
Gab es einzelne Schüler mit besonders hohen Sprechanteilen?
~
Wie stark beteiligten sich die Mädchen im Vergleich zu den Jungen?
~
Welche Beiträge leisteten bestimmte Problemschüler? Konzentrierte ich mich auf bestimmte Schüler?
~
Wie kam es zu spezifischen Konfliktsituationen?
~
Welchen Verlauf nahmen die Auseinandersetzungen?
~
Wie wurden Konflikte vorläufig bewältigt?
~
Waren die Arbeitsaufträge verständlich? Wie wurden die Arbeitsaufträge in den Prozess eingebracht? Welche Lernhilfen wurden von mir gegeben?
~
Wie wurden die Arbeitsergebnisse präsentiert?
~
Wie wurden Kenntnisse, Einsichten oder Erkenntnisse festgehalten?"
In Kombination mit gemeinsamer Unterrichtsvorbereitung, -hospitation oder -durchführung können solche Listen als Werkzeug der Selbstvergewisserung dienen und Anstöße für die Unterrichtsverbesserung geben. Allerdings muss einschränkend gesagt werden, dass ihr Gebrauch nur dann wirklich sinnvoll und zielführend ist, wenn er auf der Grundlage eines wissenschaftlich fundierten und empirisch gesicherten Wissens über den Unterricht und seine Wirkungen erfolgt. Andernfalls ist die Bearbeitung solcher Bögen in der Gefahr, dass sie zu einer schematischen Pflichtübung verkommt. Außerdem haben die meisten dieser Checklisten den Charakter eines Potpourri, das heißt, es ist keine theoretische oder begriffliche Systematik erkennbar, keine Dimensionen oder Koordinaten. Ungünstigenfalls verursacht das Abarbeiten solcher Checklisten eine Menge Arbeit, ohne dass davon konstruktive Impulse für eine Weiterentwicklung des eigenen Unterrichts ausgehen. Becker sieht dieses Problem selbst: „ Diese Zusammenstellung darf keinesfalls als Katalog missverstanden werden. Die Liste muss notwendig unvollständig sein, da fast jeder Unterricht Überraschungen bietet, Ereignisse, die mit hier nicht genannten Begriffen zu belegen und zu beurteilen sind." (Becker, 1998,
s.
217)
281
Lehrerangaben zum eigenen Unterricht
5.4.2 Self-Reflective Teacher Observation Protocol
Ein anderes Beispiel ist das vom Vancouver School District52 entwickelte „Self-Reflective Teacher Observation Protocol". Neben offenen Angaben zu Lehrer- und Schüleraktivitäten in der entsprechenden Stunde enthält dieses Inventar 17 geschlossene Fragen (multiple choice) zu acht Inhaltsbereichen. Nach jedem Inhaltsbereich soll man sich die Frage stellen: „What am I thinking right now? How does this apply to me in my teaching?" Dies sind die acht Bereiche: 1. „ Student work shows evidence ot conceptual understanding, not just recall. 2. Students are engaged in activities to develop understanding and create personal meaning through reflection. 3. Apply knowledge in real world contexts. 4. Students are engaged in active participation, exploration, and research. 5. Teacher uses diverse experiences ot students to build ettective learning experiences. 6. Classroom-based assessment allows students to exhibit higher-order thinking and construct knowledge.
7. Students are presented with a challenging curriculum designed to develop depth ot understanding. 8. lnterpersonal interactions reflect a supportive learning environment. "
Als Beispiel das Item #12 aus dem Bereich (5): ~
„Ditterentiated instruction is used to meet the needs ot diverse learners.
~
Students are experiencing multiple ways to practice a concept or new learning. Students are making their own choices about ways to approach learning tasks. Students are pertorming in multiple learning approaches.
~
Lesson is based on student needs rather than text progression.
~
Enrichment or remediation activities are available."
Gestützt auf diese Indikatoren wird die Ausprägung des Qualitätsmerkmals (Differenzierung) auf einer grafischen Skala angekreuzt, die von not apparent bis very descriptive reicht. Dieses Instrument und vergleichbare andere Instrumente lassen sich mit Google oder anderen Suchmaschinen bei Eingabe des Strings „self-reflective teacher observation protocol" oder „teaching attributes observation protocol" leicht auffinden. 5.4.3 Hatties „Personal Health Check for Visible Learning"
Hattie (2012, S. 169) schlägt vor, die folgende Checkliste als eine Art Logbuch zur Selbsteinschätzung zu verwenden und anschließend die Ergebnisse mit einem Kollegen oder Coach zu besprechen: ~
,,/am actively engaged in, and passionate about teaching and learning I provide students with multiple opportunities tor learning based on surtace and deep thinking
52 http://www.vansd.org
282
Diagnose und Evaluation des Unterrichts
~
I know the leaming intentions and success criteria of my lessons, and I share these with students
~
I am open to leaming and actively leam myself
~
I have a warm and caring classroom climate in which errors are welcome
~
I seek regular feedback trom my students
~
My students are actively involved in knowing about their leaming (that is, they are assessment-capable)
~
I can identify progression in leaming across multiple curricular levels in my student work and activities
~
I have a wide range ot teaching strategies in my day-to-day teaching repertoire. I use evidence of leaming to plan the next leaming steps with students."
5.4.4 Lehrerfragebögen im Rahmen von EMU-Unterrichtsdiagnostik
Im Rahmen des Projektes EMU C§_videnzbasierte Methoden der !:!nterrichtsdiagnostik und -entwicklung), das wir im Auftrag der KMK durchgeführt haben, stehen zahlreiche für die Schulpraxis entwickelte Fragebögen und Interviewleitfäden zur Verfügung. Die Mehrzahl richtet sich an (unterrichtende und hospitierende) Lehrpersonen, viele davon haben als Pendant einen Schülerfragebogen mit äquivalenten Items (zur Ermöglichung des Abgleichs von Perspektiven), einige sind ausschließlich für Schülerinnen und Schüler gedacht. Da sämtliche Fragebögen einschließlich Durchführungs- und Auswertungshinweisen und Software im Internet kostenlos herunterladbar sind (http://www.unterrichtsdiagnostik.info), soll an dieser Stelle nur kurz auf die derzeit verfügbaren Lehrerfragebögen und Interviewleitfäden hingewiesen werden; zur Hospitation siehe Kapitel 6.3.3. Basisbereich (Versionen für unterrichtende und hospitierende Lehrperson sowie für Schülerin-
nen und Schüler): ~
Klassenmanagement Lernförderliches Klima und Motivierung Klarheit und Strukturiertheit Aktivierung Bilanz
~
Zusatzbereich (kann selbst entwickelt und hinzugefügt werden)
Fragebögen nur für (unterrichtende und hospitierende) Lehrpersonen: ~
Umgang mit Heterogenität Fachlichkeit: Orientierung an den Bildungsstandards Fachliche und fachdidaktische Qualität Lehrersprache Kognitive Aktivierung der Schülerinnen und Schüler Zusatzbereich (kann selbst entwickelt und hinzugefügt werden)
Interviewleitfaden, um über eine Unterrichtsstunde aus dem Blickwinkel der Lehrergesundheit
zu reflektieren: ~
Bilanz Umgang mit Emotionen Umgang mit Störungen Rollenverständnis und Schüleraktivierung 283
Schülerangaben zum Unterricht
Umgang mit der Stimme Hospitation und Kooperation Resümee
5.5 Schülerangaben zum Unterricht Die Reflexion des eigenen Unterrichts ist eine notwendige Voraussetzung für die Unterrichtsentwicklung. Ein Schritt in diese Richtung ist die Selbstvergewisserung bezüglich des eigenen Unterrichts. Es ist allerdings lediglich ein erster Schritt, denn ein individueller Rückblick auf den eigenen Unterricht alleine führt - ohne Verknüpfung mit anderen Sichtweisen und Werkzeugen - häufig in eine Sackgasse. Deshalb ist der Abgleich unterschiedlicher Sichtweisen auf den gleichen Unterricht so fruchtbar. Schülerfeedback „ist darauf gerichtet, mit Hilfe angemessener Methoden Sichtweisen und Bewertungen anderer Personen kennen zu lernen, um einen Gegenstand besser zu verstehen. Rückmeldung berücksichtigt also die Wechselseitigkeit der Erfahrungen. Sie will die Perspektiven- und Erfahrungsunterschiede produktiv machen" (Bastian, Combe & Langer, S. 7). 5.5.1 Warum Schülerfeedback zum Unterricht?
Die Unterrichtsforschung hat gezeigt, dass klassenweise gemittelte Schülerangaben zu Aspekten der Unterrichtsqualität gute Vorhersagen des Lernerfolges der Klasse ermöglichen (Gruehn, 2000; Clausen, 2002; Ditton, 2002; Helmke, Piskol, Pikowsky & Wagner, 2009). Deshalb wird dem Schülerfeedback für die Schul- und Unterrichtsentwicklung ein hoher Stellenwert zugeschrieben (Burkard, Eikenbusch & Ekholm, 2003; Bastian, Come & Langer, 2007; Rolff, 2007; Strahm, 2008). Alternativlos ist die Schülerperspektive bei solchen Aspekten des Unterrichts, die nur Schüler selbst beurteilen können (z.B. ihr Verständnis eines Themas oder ihre Befindlichkeit im Unterricht).
A
Reflexionsaufgabe 78: Schülerfeedback im Unterrichtsalltag Wie schätzen Sie selbst den Nutzen von Schülerfeedback ein? Haben Sie diese Methode schon einmal praktisch eingesetzt, und wenn ja: Wie sind Sie mit den Ergebnissen umgegangen?
Auch Hattie schreibt der Sichtweise der Schülerinnen und Schüler einen überragenden Stellenwert zu: „The notion of how the student experiences the lesson is critical to engagement and success in participating in learning - more so for adolescent than for elementary students" (Hattie, 2012, S. 140); für ist die Berücksichtigung der Schülerperspektive ein Kernelement eines schülerorientierten Unterrichts („student-centred teaching"). Für Kämpfe ist die Schülerperspektive „eine hoch relevante, jedoch derzeit noch vergleichsweise unterrepräsentierte Informationsquelle für die Evaluation von Unterrichtsprozessen" (2009, S. 151). Auch Hattie (2009) beklagt, dass dieses Potenzial derzeit kaum ausgeschöpft wird: „One powerful, but most 284
Diagnose und Evaluation des Unterrichts
unused, method is student evaluation of teachers (SETs). Students are more than passive observers of teachers." (S. 141) Und noch deutlicher: ,,The lack of use ot student evaluations in elementary and high schools should be a major concern. The stakes are too high to depend an beliefs that quality is high, or that that the students are too immature to have meaningful judgements about the effects of teachers an their leaming. A key is not whether teachers are excellent, or even seen to be excellent by colleagues, but whether they are excellent as seen by students - the students sit in the classes, they know whether the teacher sees leaming through their eyes, and they know the quality of the relationship. The visibility of leaming trom the students' perspective needs tobe known by the teachers so that they can have a better understanding of what learning looks and teels like tor the students." (Hattie, 2009, S. 116)
Schülerfeedback ist in Deutschland vor allem durch das Internetbewertungsportal „spickmich" in die öff entliehe Diskussion geraten, in der Potenzial und Gefahren dieses Ansatzes kontrovers und medienwirksam thematisiert wurden. Neben berechtigter Kritik an Form und Inhalt solcher Schülerbewertungen ist jedoch zu bedenken, dass dabei offenbar ein wesentliches Bedürfnis zugrunde liegt: Schüler möchten ernst genommen werden und ihre Meinung über Schule und Unterricht äußern. Was liegt also näher, als sie zum Kerngeschäft von Schule, dem Unterricht, zu befragen und sie in die Verbesserung und Weiterentwicklung von Unterricht einzubeziehen? Die Erfahrung zeigt, dass Schüler es sehr zu schätzen wissen, wenn ihre Ansicht zählt. Insofern ist Schülerfeedback nicht nur ein Zugang zur Diagnose der Lehr-Lern-Situation, sondern zugleich eine Maßnahme zur Unterrichtsentwicklung, nämlich der Förderung und Stabilisierung eines lernförderlichen Klimas. Wird es auf Schulebene eingesetzt - etwa um den Erfolg von Schulentwicklungsmaßnahmen, neuen Lehrkonzepten zu beurteilen, ist es ein Werkzeug der Selbstevaluation von Schulen. Im einfachsten Fall findet Schülerfeedback mündlich statt, etwa am Ende einer Unterrichtseinheit. Wenn es schriftlich erfolgt, werden meist offene Fragen gestellt, z.B. „Was hat dir das Lernen erleichtert?", „Was hat dir in dieser Unterrichtsstunde gefallen?", „Gibt es etwas, das du noch nicht verstanden hast?". Im Gegensatz dazu bieten Instrumente zur Unterrichtsdiagnostik mit Hilfe von Fragebögen die Grundlage für ein systematisches Schülerfeedback, dessen Ergebnisse mit der Selbsteinschätzung und (falls der Referenzzeitraum eine konkrete Stunde ist) der kollegialen Einschätzung der gleichen Unterrichtsstunde verglichen werden können und das auch den Vergleich mehrerer Zeitpunkte ermöglicht. Es berücksichtigt ein breites Spektrum von fachübergreifenden Merkmalen der Unterrichtsqualität und bietet eine Vielzahl von Möglichkeiten, mit den Schülern über Unterricht ins Gespräch zu kommen, um den diesen gemeinsam zu verbessern. Insofern ist Feedback nicht lediglich ein „Beurteilungsinstrument" (im Sinne des „spickmich"-Portals), sondern geht einen entscheidenden Schritt weiter in Richtung eines „Entwicklungsinstrumentes" (Bastian, Combe & Langer, 2007). Das datengestützte Erhebungsverfahren dient der Versachlichung der Rückmeldungen, denn im Vordergrund steht die Sache (nämlich der Unterricht) und nicht die Person. Der Nutzen von Schülerfeedback im Rahmen der Unterrichtsdiagnostik ist vielfältig: Die Lehrkraft 285
Schülerangaben zum Unterricht
erhält Aufschluss darüber, wie der Unterricht bei den Schülern „ankommt": Die Schülerrückmeldung ermöglicht es der Lehrkraft, die eigene Perspektive mit derjenigen der Schüler abzugleichen. Stärken und Schwächen des eigenen Unterrichts können so offengelegt und mögliche „blinde Flecken" identifiziert werden. ~
erfährt Entlastung durch kooperative Unterrichtsentwicklung: Schüler werden als „Ko-Produzenten" an der Entwicklung des Unterrichts beteiligt. schafft Raum für die Kommunikation über Unterricht: Mit dem Verfahren wird Raum für produktive Gespräche über Unterricht geschaffen. Kontinuierlich praktizierte Feedbackgespräche bieten den Nährboden für die Etablierung einer Feedbackkultur.
~
wird für einen wichtigen Aspekt der Heterogenität innerhalb der Klasse sensibilisiert: Einund dasselbe Unterrichtsangebot wird von verschiedenen Schülern oft ganz unterschiedlich wahrgenommen, interpretiert und genutzt.
Die Schüler ~
erhalten die Möglichkeit, sich konstruktiv zum Unterricht zu äußern und erfahren dadurch, dass sie wertgeschätzt werden. Dies ist ein Ausdruck von Schülerorientierung und zugleich ein aussichtsreicher Schritt zur Verbesserung des lernförderlichen Klimas in der Klasse.
~
lernen, in Feedbackgesprächen eine qualifizierte Rückmeldung zu geben, d. h. sich unter Beachtung bestimmter Regeln und auf Basis der Rückmeldedaten qualifiziert zu äußern. werden an der Unterrichtsentwicklung beteiligt: Es werden Bereiche aufgegriffen, in denen sich Schüler aktiv einbringen können und so die Wirksamkeit ihres Feedbacks erfahren.
Allerdings sollte man sich auch der Grenzen von Schülerfeedback bewusst sein: ~
Schülerinnen und Schüler können mit der Unterrichtsbeurteilung überfordert sein: Die didaktische Kompetenz und die fachliche Expertise von Lehrkräften können sie beispielsweise kaum beurteilen. Es kommt also auf eine sorgfältige und altersangemessene Auswahl der Inhalte an.
~
Es ist oft unklar und geht aus den Angaben vieler Feedbackbögen nicht hervor, welchen Maßstab Schülerinnen und Schüler zugrunde legen sollen, wenn sie ein Urteil über eine bestimmte Lehrkraft abgeben. Wenn keine spezifischen Angaben gemacht werden, dann kann dies dazu führen, dass Schülerinnen und Schüler den zu beurteilenden Unterricht nicht so beurteilen, wie man es sich wünscht. Beispiel: Bei der Beurteilung bezieht man sich auf eine markante, kürzlich erlebte Stunde, oder man legt als Vergleichsmaßstab den Unterricht einer anderen Lehrkraft zugrunde. Solche Verzerrungen lassen sich mit präzisen Angaben zum Urteilskriterium und zum Beurteilungszeitraum weitgehend vermeiden. In einzelnen Fällen ist nicht auszuschließen, dass die Angaben verzerrt sind (etwa: Bevorzugung extremer Antworten, negative Herabsetzung oder freundliche Aufwertung im Sinne von Gefälligkeitsaussagen). Differenzielle Angaben zu einzelnen Facetten der Unterrichtsqualität können überlagert werden durch die allgemeine Beliebtheit und Wertschätzung der Lehrkräfte (sogenannter Halo- oder Hofeffekt), insbesondere bei Beurteilungen des Unterrichts durch Grundschülerinnen und Grundschüler.
286
Diagnose und Evaluation des Unterrichts
Empfehlungen zur Praxis des Schülerfeedbacks. Hier einige Empfehlungen zur Nutzung des
Schülerfeedbacks im Rahmen der Unterrichtsdiagnostik: ~
Als Lehrkraft von Beginn an Offenheit für Schülerrückmeldungen demonstrieren: Strittmatter (2006) weist darauf hin, dass die Haltungen der Lehrkräfte entscheidend für das Gelingen von Schülerfeedback sind: Echtes Interesse der Lehrkraft an den Rückmeldungen der Schüler und die Überzeugung, dass sich auf Grundlage solcher Rückmeldungen Unterricht verändern lässt, sind Grundvoraussetzungen. Schüler umfassend mit dem Sinn und Nutzen des Verfahrens vertraut machen: Schüler sind es gewohnt, Rückmeldungen von Lehrern zu erhalten. Sie sind jedoch in der Regel nicht damit vertraut, selbst Rückmeldung zu geben. Daher sollte die Lehrkraft die Schüler umfassend mit dem Konzept vertraut machen. Je nach Vorerfahrungen mit Feedback sind auf Schülerseite eventuell Bedenken vorhanden, die von der Lehrkraft ernst genommen werden sollten. Schüler bereits bei der Auswahl der Bereiche von Unterrichtsqualität beteiligen: Im Idealfall werden gemeinsam mit den Schülern im aktuellen Unterricht Bereiche der Unterrichtsqualität ausgewählt, die derzeit als aktuell und relevant angesehen werden.
~
Auf strikte Anonymität der Erhebung hinweisen: Damit soll sichergestellt werden, dass alle Schüler Feedback geben und dieses auch ehrlich ist. In diesem Punkt liegt auch ein Vorteil gegenüber spontanem mündlichem Feedback in der Klasse, bei dem sich ruhige und zurückhaltende Schüler unter Umständen nicht trauen, sich zu äußern. Zeit für die Feedbackgespräche und die Maßnahmenvereinbarung nehmen: Im Mittelpunkt des Verfahrens steht die Reflexion der Ergebnisse in Form von Feedbackgesprächen und einer daran anknüpfenden Maßnahmenvereinbarung. Hierfür sollte sich die Lehrkraft ausreichend Zeit nehmen. Manche Schulen haben hierfür geeignete Zeitgefäße vorgesehen, z. B. „Klassenlehrerstunden" oder „Reflexionsrunden" . Schülerfeedback als dauerhaften Bestandteil des Unterrichts etablieren: Günstigenfalls wird Schülerfeedback regelmäßig realisiert, d. h. von Zeit zu Zeit wiederholt. Die zeitlichen Abstände müssen natürlich groß genug sein, um Sättigungs- und Erschöpfungseffekte zu vermeiden (vgl. hierzu auch die Bedeutung der Wiederholungsmessung).
Feedbackgespräche mit Schülern. Das Gespräch mit Schülern über die Feedbackergebnisse
ist eine Herausforderung und wird häufig unterschätzt. Von Bedeutung ist einmal mehr die Haltung der Lehrkraft: Sie begegnet den Schüleräußerungen mit Wertschätzung, nimmt keine Schuldzuweisungen vor und bringt ein ehrliches Interesse an einer Klärung zum Ausdruck. Im Gegensatz zu häufig improvisierten Klassengesprächen erfordert ein für alle Beteiligten gewinnbringendes Gespräch über die Feedbackergebnisse eine gewisse Systematik. Bewährt hat sich eine Prioritätensetzung bei der Auswahl der Rückmeldedaten. Sie kann entweder alleine oder aber auch gemeinsam mit den Schülern getroffen werden (vgl. hierzu auch den Punkt „Beispielbasierte Leitfragen zur Interpretation der Ergebnisse"). Dadurch wird auch das Problem entschärft, dass die Rückmeldedaten womöglich unübersichtlich erscheinen. Was die methodische Gestaltung der Feedbackgespräche angeht, so gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, z.B.: 287
Schülerangaben zum Unterricht
Ergebnisse intensiver in Kleingruppen analysieren: Die Lehrkraft gibt Leitfragen vor, um eine produktive Auseinandersetzung mit den Ergebnissen zu fördern. Während der Kleingruppenarbeit beschränkt sich die Lehrkraft auf eine moderierende Funktion. Für das abschließende Plenumsgespräch kann es sinnvoll sein, die Schüler auf bereits vereinbarte Gesprächsregeln hinzuweisen oder gegebenenfalls gemeinsam Regeln zu vereinbaren (siehe Bastian et al., 2007). Methode „ Think - Pair - Share". Diese aus dem kooperativen Lernen stammende Methode sieht vor, dass die Schüler sich zunächst individuell mit dem Thema auseinandersetzen und sich anschließend mit dem Partner austauschen. Nachdem die Ergebnisse in der Gruppe besprochen und verschriftlicht wurden, findet ein abschließendes Plenumsgespräch statt. Gemeinsame Maßnahmenvereinbarung. Eine wichtige Gelingensbedingung für ein nachhal-
tiges Schülerfeedback ist die gemeinsame Maßnahmenvereinbarung. Sie beinhaltet folgende Punkte: ~
Vereinbarte Maßnahmen in einem Maßnahmenplan festhalten, analog zur Dokumentation der mit dem Kollegen abgeleiteten Maßnahmen. Erwartungen klären: Natürlich kann es vorkommen, dass nicht alle von den Schülern vorgeschlagenen Veränderungen realisiert werden (können oder wollen). Bastian et al. (2007) raten Lehrkräften, dies zu bedenken und zu überlegen, wie sie mit solchen Situationen umgehen, um unrealistische Erwartungen und Enttäuschungen seitens der Schüler zu vermeiden. Überprüfen, ob die Maßnahmen erfolgreich waren: Eine Wiederholungsmessung könnte z.B. Aufschluss über tatsächliche Änderungen geben. Im Idealfall sehen die Schüler, dass ihr Feedback positive Auswirkungen hat, und erleben dies als Erfolg.
5.5.2 Eine Übersicht über erhältliche Instrumente 5.5.2.1 Schülerfragebögen aus Projekten der Bildungsforschung
Die ausführlichen und differenzierten Fragebögen zum Unterricht, wie sie vor allem für die großen Unterrichts- und Leistungsstudien entwickelt wurden, sind überwiegend - käuflich oder auch kostenlos - erhältlich: MARKUS (Mathematik-Gesamterhebung
~heinland-Pfalz:
_!Sompetenzen, Unterrichtsmerk-
male, Schulkontext), siehe Helmke, Jäger, Balzer, Hosenfeld, Ridder und Schrader (2002b). Diese Instrumente sind auf der Homepage des Autors verfügbar. 53 Diese Instrumente sind im Online-Anhang des Buches verfügbar: http://www.andreas-helmke.de/buchanhang. DES!. Die Skalenhandbücher und Beobachtungsleitfäden der DESI-Studie (Deutsch Eng-
lisch Schülerleistungen International) befinden sich ebenfalls im Buchanhang. BIJU. Zu den differenziertesten und ausführlichsten Fragebögen zur Wahrnehmung des Un-
terrichts aus Schülersicht gehört der im Projekt BIJU (Bildungsprozesse im Jugendalter) des MPI für Bildungsforschung verwendete Schülerfragebogen (Baumert, Jürgen, Gruehn, Heyn, Köller & Schnabel, 1997a). Er ist bei Gruehn (2000) sowie bei Clausen (2002) abgedruckt. 53 http ://www. u n i-koblenz-landau. de/landau/fb8/ein richtu ngen/entwickl u ngspsycholog ie
288
Diagnose und Evaluation des Unterrichts
DESI. Die Skalenhandbücher und Beobachtungsleitfäden der DESI-Studie (Deutsch Eng-
lisch Schülerleistungen International) sind beim Autor dieses Buches, künftig auch im DIPF (Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung54 , das bei der Studie die Federführung innehatte, erhältlich (Helmke, Helmke, Schrader & Wagner, 2007g, 2007d, 2007e, 2007h, 2007f; Helmke et al., 2007i). Deutsch-schweizerische Mathematikstudie „ Unterrichtsqualität, Lernverhalten und mathematisches Verständnis", auch unter dem Namen „Pythagoras-Studie" bekannt: Die Erhebungs-
und Auswertungsinstrumente sind publiziert und können erworben werden (Klieme, Pauli & Reusser, 2005; Klieme, Pauli & Reusser, 2006b, 2006a). IPN-Physikstudie (DFG-Projekt „Lehr-Lernprozesse im Physikunterricht - eine Videostu-
die"): Die Erhebungs- und Auswertungsverfahren dieses Projektes 55 sind in Form von Materialienbänden erhältlich (Prenzel, Duit, Euler, Lehrke & Seidel, 2001). Schweizer Physikstudie „Lehr-Lern-Kultur im Physikunterricht - eine Videostudie". Es han-
delt sich um das Partner-Projekt der IPN-Physikstudie; die Instrumente finden sich bei Knierim (2008). PISA 2000 (Kunter, Schümer, Artelt, Baumert, Klieme, Neubrand, Prenzel, Schiefele, Schnei-
der, Stanat, Tillmann & Weiß, 2003) und PISA 2003 (PISA-Konsortium Deutschland, 2006). Die Dokumentation von PISA 2000 kann auch als pdf-Datei56 heruntergeladen werden. IGLU 2001: Das komplette Instrumentarium ist ebenfalls erhältlich (Bos, Lankes, Prenzel,
Schwippert, Valtin, Voss & Walther, 2005). 5.5.2.2 SEIS SEIS (Selbstevaluation in Schulen) ist ein von der Bertelsmann-Stiftung angebotenes Instrument, das Schulen eine umfassende Standortbestimmung ermöglichen soll, verbunden mit dem ausdrücklichen Ziel der Schul- und Unterrichtsentwicklung. Die Fragebögen richten sich an Lehrkräfte, Eltern, Schülerinnen und Schüler, ausbildende Institutionen und sonstige Mitarbeiter. Die einzelnen Items der Fragebögen aus unterschiedlichen Perspektiven sind großteils untereinander vergleichbar, sodass ein mehrperspektivisches Bild der Schule gezeichnet werden kann. Details sind der Website zu entnehmen. 57 SEIS bietet ein breites Fundament für die Selbstevaluation von Schulen an - allerdings erfordert die sachgemäße Auswertung und Interpretation der SEIS-Ergebnisse in der Regel eine professionelle Unterstützung, weil sie die Ressourcen und Expertisen von Schulen übersteigt; dieser Support wird von der Bertelsmann-Stiftung sowie von den entsprechenden Prozessbegleitern oder Beratern für Schulentwicklung der Bundesländer angeboten. 2007 wurde das Überblicksinstrument SEIS noch einmal weiterentwickelt: Aus den bisher 5 wurden 6 Qualitätsbereiche mit insgesamt 29 Kriterien, womit SEIS stärker an die Orientierungs-
54 55 56 57
http://www.dipf.de http://www. ipn. uni-kiel. de/projekte/video/videostu .htm http://edoc.mpg.de/14414 http://www.seis-deutschland.de/seis-instrument
289
Schülerangaben zum Unterricht
rahmen der Bundesländer angepasst wurde. Die sechs Qualitätsbereiche sind: Ergebnisse, Lehren und Lernen, Schulkultur, Führung und Schulmanagement, Professionalität der Lehrkräfte, Ziele und Strategien der Qualitätsentwicklung. „Lehren und Lernen" seinerseits umfasst folgende Aspekte: schulinternes Curriculum, Schülerunterstützung und -förderung, fachliche und didaktische Gestaltung von Lernen im Unterricht, selbstbestimmtes und selbstgesteuertes Lernen, Gestaltung von Beziehungen, Lernzeit und Lernumgebung, Leistungsanforderungen und Leistungsbewertung. Zum 1. 10. 2008 hat ein Länderkonsortium SEIS von der Bertelsmann-Stiftung übernommen. Die Stärke von SEIS liegt in der differenzierten Erfassung der Lernkompetenz von Schülern als einem wichtigen Zielkriterium von Schul- und Unterrichtserfolg. Der Bereich „Unterrichtsqualität und Klassenführung" ist allerdings noch ausbaufähig. 5.5.2.3 IFS-Sc:trnlbarometer
Vom Dortmunder Institut für Schulentwicklungsforschung (US) wurde ein umfassender Fragebogen u. a. zu Themen der Schul- und Unterrichtsqualität entwickelt, dessen Ergebnisse auf großen Stichproben basieren: das US-Schulbarometer (Institut für Schulentwicklungsforschung, 1999). Dieses ist ein Instrument zur Erfassung von Schulwirklichkeit aus unterschiedlichen Perspektiven und eignet sich ab der 5. Klassenstufe; Informationen zum IFS-Schulbarometer sind auf der Website des Instituts für Schulentwicklungsforschung58 zu finden. Zur Eingabe und Auswertung der Daten liegt ein passendes Programm für alle Fragebögen auf Diskette vor. In der so genannten US-Durchschnitts-Schule werden Vergleichsdaten aus repräsentativen Befragungen angeboten, differenziert nach den Bildungsgängen Hauptschule, Realschule, Gymnasium und Gesamtschule. Auf diese Weise eignet sich das Schulbarometer ebenfalls als Maßstab (Benchmark), um die (auf Klassenebene gemittelten) Angaben zum Unterricht in der eigenen Klasse besser einschätzen zu können. Es umfasst Angaben zu den Bereichen: allgemeine Einschätzung der eigenen Schule, Schulleben, Unterricht, Schülermitbestimmung, persönliche Einschätzungen, Angaben zur Person. Daneben bietet das US auf seiner Website einen Werkzeugkasten mit einem breiten Sortiment an Fragebögen, Ratingbögen und anderen Instrumenten an. 59 5.5.2.4 IQES-online
Das Angebot von IQES (Instrumente für die Qualitätsentwicklung und Evaluation in Schulen60) stellt verschiedene kleinere und darum in der Praxis gut handhabbare Instrumente zur Verfügung. Es bietet eine bedürfnisgerechte Wahlmöglichkeit. IQES-online ist derzeit das einzige Angebot in deutscher Sprache, das den Schulen ermöglicht, in Eigenregie webbasierte Evaluationen durchzuführen. Die Website bietet Feedbackinstrumente für Lehrpersonen und Unterrichtsteams wie auch für die Selbstevaluation der Schule. Neben einem frei zugänglichen kostenlosen Angebot an Feedbackinstrumenten (die vom Autor dieses Buches entwickelt wurden) kann man Zugang zu einem Evaluations-Center erwerben, das es Schulen ermöglicht, 58 http://www.ifs-dortmund.de 59 http://werkzeugkasten.ifs-dortmund.de/module.html 60 http://www.iqesonline.net
290
Diagnose und Evaluation des Unterrichts
unkompliziert und effizient webbasierte Evaluationen durchzuführen und Feedbacks zum Unterricht, zu den Wirkungen des Unterrichts und zur Qualität der Schule zu erhalten. Finanziell ist die Beteiligung an IQES für Schulen besonders günstig, wenn eine ganze Region (ein Bundesland, ein Kanton oder eine Bildungsregion) mit IQES kooperiert. Es gibt Instrumente für verschiedene Nutzerebenen: Instrumente für das Individualfeedback für Lehrpersonen mit Excel-Eingabemasken für eine schnelle Auswertung der Ergebnisse auf dem eigenen PC, Instrumente für die Schulevaluation, die online durchgeführt werden kann, ~
Instrumente für Schulbehörden und Verwaltungen,
~
Handreichungen und Beispiele guter Praxis zu verschiedensten Qualitätsbereichen,
~
die Netzwerkpartner (Städte, Gemeinden, Bundesländer etc.) können eigene Instrumente für die Online-Evaluation zur Verfügung stellen, die Netzwerkpartner verfügen über ein eigenes Eintrittsportal.
Eine Besonderheit von IQES ist die Möglichkeit, die Ergebnisse der großen Vergleichsstudien und repräsentativen Surveystudien für eine Standortbestimmung hinsichtlich der Unterrichtsqualität in der eigenen Klasse zu nutzen. Diese Möglichkeit bieten Programme, die auf der Basis der Fragebogeninstrumente der Studien MARKUS (Mathematik) und DESI (Englisch und Deutsch) für die Website IQES entwickelt wurden. Die Website von IQES bietet interessierten Lehrpersonen als kostenlosen Service die Möglichkeit, den Fragebogen und eigens dafür geschaffene Excel-Auswertungsprogramme herunterzuladen. 5.5.2.5 Schüler als Experten für Unterricht - SEfU
Das Selbstevaluationsinstrument SEfU („Schüler als Experten für Unterricht", Kämpfe, 2009; Groot-Wilkens, 2011a, b, c) wird Lehrern bzw. Schulen in Sachsen und Thüringen sowie in Nordrhein-Westfalen seit 2006 zur freiwilligen Nutzung angeboten. Auf der Grundlage des in Sachsen entwickelten und in der Pilotstudie 1999/2000 erprobten Instruments wird eine begleitende Einschätzung der Unterrichtsqualität durch Schüler möglich. Die Auswertung des technologiebasierten Verfahrens orientiert sich an dem schulischen Qualitätsrahmen (für Thüringen) bzw. dem Leitbild für Schulentwicklung (für Sachsen). Der Fragebogen ermöglicht eine Ist-Stand-Analyse des Qualitätsbereichs „Lehren und Lernen" auf Basis der Erfahrungen von Schülern. Teilnehmen können Lehrer und Schüler der 5. bis 10. Klasse von Mittel- bzw. Regelschulen und Gymnasien. SEfU wird als internetbasiertes Evaluationsinstrument angeboten61 und kann dadurch innerhalb kürzester Zeit eingesetzt werden. Nach einer Anmeldung der Klasse auf dem Schulportal erhält der Lehrer ein Befragungskennwort, das zum Ausfüllen der Onlinefragebögen berechtigt. Die Bearbeitungszeit für den Schülerfragebogen beträgt ca. 20 Minuten. Wenn alle Schülerantworten erfasst wurden und der Lehrerfragebogen ausgefüllt ist, sind die Ergebnisse online abrufbar.
61 http://www.kompetenztest.de/sefu/sefu1 .html
291
Schülerangaben zum Unterricht · Unterrichtsbeobachtung
5.5.2.6 Schülerfragebögen bei EMU-Unterrichtsdiagnostik
Im Rahmen des KMK-Projektes EMU
(~videnzbasierte
Methoden der .!::!nterrichtsdiagnostik
und -entwicklung; siehe hierzu auch Kapitel 5.8) wurden für die Schulpraxis unter anderem sich ausführliche Schülerfragebögen zu fachübergreifenden Merkmalen der Unterrichtsqualität entwickelt. Die meisten dieser Fragebögen sind mit äquivalenten Fragebögen aus der Sicht der unterrichtenden und einer hospitierenden Lehrperson kombinierbar. Der so mögliche Abgleich verschiedener Sichtweisen kann mithilfe der beigefügten Software visualisiert werden. Inhaltlich geht es unter anderem um folgende Aspekte: Klassenführung, Klarheit und Strukturiertheit, Lernförderliches Klima und Motivierung, Aktivierung, Bilanz der Stunde, Qualität der Gruppenarbeit. Werkzeuge und Software werden ständig weiterentwickelt. Das gesamte Material kann kostenlos heruntergeladen werden unter http://www.unterrichtsdiagnostik.info.
5.6 Unterrichtsbeobachtung 5.6.1 Arten der Unterrichtsbeobachtung
Der Königsweg zur Beschreibung und Bewertung des Unterrichts ist zweifellos die Beobachtung: Keine andere Methode hat ein solches Potenzial, was die differenzierte Beurteilung der Differenziertheit des Unterrichts anbelangt, kein anderes Verfahren kann den dynamischen Verlaufsaspekt, das heißt die Abfolge zeitlicher Sequenzen und Muster, berücksichtigen. Deshalb spricht man in der Bildungsforschung auch nur dann von „ Unterrichtsforschung" im eigentlichen Sinne, wenn neben Fragebögen zum Unterricht zumindest auch Methoden der Beobachtung eingesetzt wurden. Diese lassen sich auf sehr unterschiedliche Weise klassifizieren - für Details siehe z.B. Böhm-Kasper und Weishaupt (2004). Strukturiertheit. Auf der einen Seite des Kontinuums befindet sich die von jeglichen struk-
turierenden Vorgaben freie Beobachtung des Unterrichts. Ergebnis dieser Herangehensweise sind narrative Beschreibungen des Unterrichts, seines Verlaufs und seiner Qualität. Diese in der Praxis verbreitete Methode hat den Vorteil, dass sie den Beobachter nicht einengt, aber den Nachteil, dass der Gegenstand der Beobachtung weitgehend idiosynkratisch bleibt und dass es keine Möglichkeit gibt, Vergleiche anzustellen. Worauf die Aufmerksamkeit des Beobachters gelenkt wird und in welcher Weise die Ergebnisse formuliert werden, ist weitgehend subjektiv. In der Praxis erfolgen viele Unterrichtsbesuche mit dem Ziel der Bewertung von Lehrpersonen (z.B. durch Schulleitung und Schulaufsicht) nach diesem Schema. Auf der anderen Seite des Kontinuums stehen so genannte Rating-Verfahren, bei denen inhaltliche Kategorien und quantitative Antwortschemata vorgegeben werden. Dieses Verfahren ist inzwischen state of the art im Rahmen der externen Evaluation von Schulen. Zwischen diesen Polen existiert eine Vielfalt von Zwischenstufen. Ein Beispiel ist die Vorgabe nur von Leitbegriffen oder Basisdimensionen, ohne dass Qualitätsdimensionen oder Bewertungskriterien vorgegeben werden; so beispielsweise das Verfahren „ Fokus Unterricht: Unterrichtsentwicklung durch Beobachtung" (Brosziewski & Maeder, 2007), das in Kapitel 6.3.5 beschrieben wird. 292
Diagnose und Evaluation des Unterrichts
Sichtstruktur vs. Tiefenstruktur. Dies ist die theoretisch vielleicht bedeutendste Unterschei-
dung. Mit Sichtstruktur sind Merkmale des Geschehens gemeint, die sich relativ einfach, eindeutig und objektiv zählen, messen, feststellen lassen. Man spricht auch von „niedrig-inferenten" Verfahren, um zu unterstreichen, dass der Entscheidungs- und Ermessensspielraum beim Urteil gering ist, im Gegensatz zu hoch-inferenten Verfahren, wo er hoch ist. Hoch-inferente Beurteilungen erlauben eine Zusammenfassung von Einzelratings zu übergeordneten Quali-
tätsmerkmalen. Konstrukte wie „Klarheit" und „Strukturiertheit" oder „Kognitive Aktivierung" sind intuitiv zugänglich und können mit konkreten Vorstellungen unterrichtlichen Handelns in Verbindung gebracht werden. Im Gegensatz zu hoch-inferenten Ratings sind niedrig-inferente Kodierungen für sich genommen deutlich weniger aussagestark. Erst in ihrer Zusammenschau entfalten sie ein umfassenderes Bild von Unterricht. Niedrig-inferente Kodierungen beziehen sich auf die Erfassung von direkt beobachtbaren Aspekten der Sicht der Oberflächenstruktur des Unterrichts, wie z.B. die Unterrichtsorganisation hinsichtlich der Interaktionsstruktur und der Sozialformen, die Formulierung des Lektionsziels durch die Lehrperson beim Stundeneinstieg oder die Verwendung von technischen Hilfsmitteln wie Taschenrechner und Computer im Verlauf der Lektion usw. Die Bestimmung von Anfangs- und Endpunkt eines bestimmten Vorkommnisses erlaubt später bei der Datenanalyse die Auszählung von Häufigkeiten wie auch die Feststellung der zeitlichen Dauer von bestimmten Unterrichtsaktivitäten (Petko, Waldis, Pauli & Reusser, 2003). Detailliert und mit Beispielen aus der Forschung werden diese Konzepte skizziert von: Seidel et al. (2003b), Hugener, Pauli und Reusser (2006) sowie von Reyer (2004). Daneben lassen sich Methoden der Unterrichtsbeobachtung durch weitere Aspekte klassifizieren - für Details und weiterführende Hinweise vgl. Scheltwort (2006), die einen Überblick über Ziele, Arten, Möglichkeiten und Grenzen der Unterrichtsbeobachtung bietet, sowie die Standardwerke zur Beobachtungsmethode von Faßnacht (1979) und Galton (1995). Häuhgkeit und Dauer. Das Kontinuum reicht von Kurzbeobachtungen (z.B. 3- 7 Minuten
beim „classroom-walkthrough"; einer halben Unterrichtsstunde, wie im Rahmen der externen Evaluation der meisten Bundesländer) über die Beobachtung einer ganzen oder mehrerer ganzen Stunden bis hin zur Analyse eines kompletten Lehrgangs, z.B. der Entwicklung des Bruchbegriffs (Grommelt, 1991) oder intensiven Langzeitbeobachtungen (Nuthall, 1997). Analyseeinheit. Die beobachtete Unterrichtseinheit lässt sich - je nach Fragestellung - mit
unterschiedlichem Auflösungsvermögen beurteilen, das heißt, die Beurteilung kann sich auf die gesamte Einheit, auf eine Episode innerhalb der Einheit (z.B. Eröffnungssequenzen), auf einen turn (zusammenhängende verbale Äußerung, die mehrere Sätze umfassen kann) oder innerhalb eines turns auf einen Satz oder ein Satzfragment beziehen. Bei der externen Evaluation wird aus pragmatischen Gründen immer eine grobe Auflösung gewählt, in der Forschung dagegen finden sich - oft auch simultan - alle Varianten. Bei der DESI-Videostudie beispielsweise wurde sowohl ein auf die gesamte Stunde bezogenes Rating-Instrument eingesetzt als auch eine Mikroanalyse auf der Basis einzelner Äußerungen. Weitere Klassihkationskriterien sind: Stellung des Beobachters (teilnehmend vs. nichtteilnehmend), Standort des Beobachters (fix oder variabel), Sichtbarkeit des Beobachters (offen 293
Unterrichtsbeobachtung
oder verdeckt), Art der Beobachtungssituation (natürlich, z.B. im Klassenraum, vs. künstlich, z.B. im Labor). Je nach Ziel und Zweck der Unterrichtsbeobachtung lassen sich unterschiedliche Methoden unterscheiden. In der Literatur werden Zeichensysteme von Kategoriensystemen unterschieden. Diese Unterscheidung ist jedoch semantisch unglücklich und verwirrt mehr, als sie klärt. Ähnlich wie bei Stallings und Mohlmann (1990) wird auf diese Einteilung verzichtet. Es reicht aus, die folgenden Typen der Beobachtung zu unterscheiden: Checklisten: Mit ihrer Hilfe lässt sich das Vorkommen bestimmter Verhaltensweisen regis-
trieren, die vorab im Beobachtungssystem festgelegt sind (z.B. die Häufigkeit, mit der Lehrer oder Schüler Fragen stellen oder beantworten, niesen, „Ähmmm" sagen, Sprechpausen machen etc.). Damit wird in der Regel nur ein kleiner Teil des Verhaltensstroms beachtet; der weitaus größere Teil wird ausgeblendet. Im einfachsten Falle werden diskrete Verhaltensweisen separat voneinander erfasst. Ein komplexeres, in der Unterrichtsforschung gelegentlich eingesetztes Vorgehen ist der „Schnappschuss" (snapshot), bei dem in bestimmten Zeitintervallen die jeweilige Aktivität, das gerade verwendete Material sowie die Interaktion des Lehrers kodiert werden. Interaktionssysteme: Diese erfassen mit vorab festgelegten Kategorien den Verlauf einer
Unterrichtsstunde, beispielsweise die Abfolge von Zyklen wie „Lehrerfrage - Schülerantwort - Lehrerfeedback". Dabei kann man entweder Zeitstichproben oder Ereignisstichproben ziehen. Zeitstichprobe (time sampling) heißt, dass in festgelegten Zeitintervallen (z.B. alle fünf Minuten) das Verhalten der Akteure beurteilt wird. Ein Prototyp hierfür ist das MAI (Münchner ~ufmerksamkeits!nventar), bei dem mehrfach pro Unterrichtsstunde kodiert wird, wie viele Schüler on-task (also bei der Sache) und off-task (unaufmerksam oder mit unterrichtsfremden Dingen beschäftigt) sind (Helmke & Renkl, 1992, 1993a, 1993b). Wendet man dagegen das Ereignisstichprobenverfahren an (event sampling), dann werden die zu kodierenden Verhaltensweisen immer dann - und so lange - aufgezeichnet, wenn sie auftauchen. Dies ermöglicht die quantitative Bestimmung von Häufigkeit und Zeiten. Dieses Verfahren ist sehr aufwändig, jedoch sehr ertragreich. In der Unterrichtsforschung wird es häufig angewendet, für die Schulpraxis dagegen kommt es aus pragmatischen Gründen kaum in Betracht. Rating-Systeme (oder auch: Schätzskalen): Diese verlangen vom Beobachter ein Urteil über
den Ausprägungsgrad eines Verhaltens oder eines Qualitätsmerkmals (wie „Verständlichkeit", „Effizienz der Klassenführung" etc). In der Praxis der Selbst- und Fremdevaluation von Schulen wird aus pragmatischen Gründen jeweils der gesamte beobachtete Unterrichtsausschnitt (z.B. eine Unterrichtseinheit) zugrunde gelegt. Bei den Antwortkategorien kann es sich um Beurteilungen der Intensität oder um Grade der Zustimmung („stimmt genau" bzw. „trifft genau zu", „stimmt kaum") handeln. Oft werden solche Ratings gekoppelt mit der Beurteilung von Häufigkeiten. Dagegen wird in der Unterrichtsforschung gelegentlich das Auflösungsvermögen erhöht, indem die Ratings separat für verschiedene Episoden der Stunde erfolgen, z.B. getrennt für eine Einleitungsphase und für eine Phase der Gruppenarbeit.
294
Diagnose und Evaluation des Unterrichts
5.6.2 Werkzeuge der Unterrichtsbeobachtung 5.6.2.1 Rating-Bögen
In der Grundschulstudie SCHOLASTIK wurde ein vom Autor dieses Buches gemeinsam mit F.-W. Schrader entwickelter Rating-Bogen eingesetzt, der auch in dem Buch von Weinert und Helmke (1997a) abgedruckt ist (Helmke & Schrader, 1997). Dieser bildete die Grundlage für einen Rating-Bogen zur Erfassung von Merkmalen der fachübergreifenden Unterrichtsqualität im Projekt VERA - Gute Unterrichtspraxis (Helmke et al., 2007a; Helmke, Helmke, Heyne, Hosenfeld, Schrader & Wagner, 2007b). Ein weiterer in der Unterrichtsforschung entwickelter Rating-Bogen, der sich auch im Rahmen von Projekten der Qualitätssicherung und der Lehrerfortbildung einsetzen lässt, ist der Rating-Bogen, der für das Projekt DESI entwickelt wurde. Gegenstand ist die Qualität des Englischunterrichts. Dieser Bogen findet sich im Anhang, ergänzt um ein Zusatzmodul, das für die Kodierung von Aussprachefehlern von Lehrern und Schülern entwickelt und erstmals in der Folgestudie „English as a Foreign Language" in Vietnam eingesetzt wurde. Alle diese Werkzeuge befinden sich im Anhang dieses Buches, der aus Platzgründen auf die Homepage des Autors ausgelagert ist und kontinuierlich aktualisiert wird. Beide Rating-Bögen befinden sich im Online-Anhang dieses Buches: http://www.andreashelmke.de/buchanhang. 5.6.2.2 Der Unterrichtsbeobachtungsbogen „Einblicknahme in die lehr-lern-Situation"
Für die externe Evaluation wurden vom Verfasser dieses Buches in Kooperation mit den Experten der Qualitätsagentur AQS (Agentur für Qualitätssicherung, Evaluation und Selbstständigkeit von Schulen) ein Unterrichtsbeobachtungsbogen entwickelt. Dieser Bogen, genannt ELL (Einblick in die Lehr-Lern-Situation), ist strikt auf den Orientierungsrahmen Schulqualität des Landes Rheinland-Pfalz zugeschnitten und umfasst die folgenden Inhaltsbereiche: Klassenmanagement, Förderung der Lernbereitschaft, Förderung der Lernprozesse und Individuelle Förderung - ergänzt durch deskriptive Angaben zu eingesetzten Sozialformen, Medien, Sprechanteilen und Umgang mit Vielfalt. Er umfasst zwei Teile: (1) einen kategorienbasierten Rating-Bogen mit einzelnen Aussagen (Items), deren Zutreffen und Nichtzutreffen beurteilt
werden muss, sowie (2) einen Appendix, der die Bedeutung der Items durch typische Beispiele im beobachtbaren Verhalten veranschaulichen soll. Letzterer wird auf der Grundlage der Erfahrungen bei der externen und internen Evaluation sowie in Abhängigkeit vom aktuellen Forschungsstand ständig erweitert und überarbeitet. Zur Einführung werden im Folgenden der Vorspann und der ELL-Bogen abgedruckt; die jeweils aktuelle Version des wesentlich umfassenderen Appendix (wie auch der ELL selbst) finden sich im Online-Buchanhang (http://www. andreas-helmke. de/buchanhang). Beobachtbarkeit und Beurteilbarkeit. Es sind möglichst alle Items zu bearbeiten, außer wenn
dies logisch unmöglich ist. Dies ist bei konditionalen Items der Fall: Dort ist ein Sachverhalt vorgegeben (z.B. dass Schülerfehler vorkamen, dass sich Lehrpersonen während des Unterrichts verbal geäußert haben), der Voraussetzung für ein darauf basierendes Urteil ist. Gab es im beobachteten Unterrichtsausschnitt keinerlei Schülerfehler, dann sind z.B. die Items zum 295
Unterrichtsbeobachtung
Umgang mit Schülerfehlern gegenstandslos; wurde nur Gruppen- oder Stillarbeit angetroffen und die Lehrperson schwieg, sind die Items zur sprachlichen Prägnanz gegenstandslos. Nur in diesem Fall ist das Kästchen „nicht beurteilbar" anzukreuzen. Items und Indikatoren. Die meisten Items des ELL werden im Appendix durch konkrete
Sachverhalte und typische Beispiele (Indikatoren) veranschaulicht. Diese Indikatoren sollen nicht (wie die Items) Punkt für Punkt durchgegangen und separat beantwortet werden, sondern dienen der Veranschaulichung des Bedeutungsgehalts der jeweiligen Items. Der Appendix wird entsprechend den Erfahrungen bei der Unterrichtsbeobachtung laufend aktualisiert. Einblicknahme. Dieses Wort ist bewusst gewählt. Es handelt sich bei den Unterrichtsbeob-
achtungen nicht um eine Beurteilung „der" Unterrichtsqualität einer Lehrperson und nicht um eine Evaluation dieses Unterrichtsausschnittes. Ob in einer konkreten Stunde z.B. Verknüpfungen mit der Lebenswelt vorkamen, ob differenziert wurde, ob Medien eingesetzt wurden oder ob Übungsphasen vorkamen oder nicht, lässt überhaupt keinen Schluss auf die Qualität dieser Stunde zu, geschweige denn auf das Können der Lehrperson. Insofern stellt die einzelne Unterrichtsbeobachtung einen Einblick dar, nicht mehr und nicht weniger. Auf Schulebene kann eine Übersicht dagegen aufschlussreich sein und Anlass zu Nachfragen und konstruktiven Empfehlungen geben, z.B. wenn in einer Schule niemals Medien eingesetzt werden, wenn bestimmte Sozialformen des Unterrichts auffällig unter- oder überrepräsentiert sind. Zwar gibt es auf Schulklassenebene neben rein beschreibenden Urteilen auch solche, die eine Bewertungsleistung erfordern; von „Evaluation" kann man jedoch nur auf Schulebene sprechen. Mehrperspektivität. Die Beobachtungsstichprobe (in der Regel 20 Minuten) ist ein Aus-
schnitt aus der Unterrichtsrealität. Die Aussagekraft des ELL ist daher begrenzt. Aussagen zur Unterrichtskultur in einer Schule müssen immer mehrere Perspektiven berücksichtigen. Urteilsgegenstand. Die Angaben im ELL beziehen sich ausschließlich und strikt auf den beobachteten Unterrichtsausschnitt. Darüber, was folgt oder voranging, soll nicht spekuliert
werden, weil dies der Subjektivität Tür und Tor öffnen würde. Beobachterrolle. Anders als etwa bei Lehrproben halten sich die Unterrichtsbeobachterin-
nen und -beobachter während des beobachteten Unterrichts diskret zurück. Orchestrierung. Die Evaluation eines beobachteten Unterrichts als „gut" oder „schlecht"
auf der Basis eines einzelnen Qualitätsbereiches oder gar eines einzelnen Items ist nicht möglich. Die Qualitätsbereiche sind Teil eines Ensembles und erhalten je nach Gesamtprofil eine unterschiedliche Bedeutung. Eine „entspannte Lernsituation" beispielsweise kann je nachdem, ob sie mit effizientem Klassenmanagement und hoher Schüleraufmerksamkeit gekoppelt ist oder nicht, positiv oder negativ sein.
296
Diagnose und Evaluation des Unterrichts
Beobachtungsperson AQS
1
ETL
1
1
1
SAB
Anzahl SCH 1
1
Koref
1
1
Sonst
1-10
1
11-21
1
1
1
22-26
Ganztagsklasse
Anzahl unterrichtender LK 1
>26
0
1
1
1
1
2
1
1
1
2:3
ja
nein
1
Integrative Klasse ja
1
1
1
nein
1
Anmerkung: Bei mehr als einer unterrichtenden Lehrperson bitte die Beobachtung auf die für den Gesamtunterricht wichtigere Lehrperson beziehen. Einblicknahme in die Lehr- und Lernsituation, V 7.0 Alle aufgeführten Kategorien werden durch Beispiele beobachtbaren Verhaltens (inkl. Gegenbeispiele und Ausschlussfälle) in einem Appendix fortlaufend präzisiert und kategorisiert. ::II N
FÄCHERÜBERGREIFENDE ASPEKTE DER LEHR-LERN-SITUATION
ECo)
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::II N
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-
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::II N
....
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~
::II N
~
Kriterium: Die Unterrichtszeit wird in hohem Maße für Lernen genutzt
E a:> E
=
a:>
ro i:::: ro
E
i::::
a:>
Cf) Cf)
ro
::;2
1.
Der Zeitrahmen wurde - von der LK und den SCH - eingehalten.
2.
Die Lehrperson hatte den Überblick über Schüleraktivitäten.
Die SCH waren fast die gesamte Zeit über mit Lernaktivitäten/unterrichtsbezogenen Inhalten beschäftigt. Kriterium: Ein verbindliches Regelsystem begünstigt die Lehr-Lern-Prozesse
3.
4.
Der Unterricht war störungsfrei.
5.
Die Lautstärke war der Sozialform und dem Lerninhalt angemessen.
Das Verhalten von SCH und LK ließ auf funktionierende Regeln schließen. Kriterium: Die Lernmotivation wird durch die Anknüpfung an den persönlichen Erfahrungshorizont gefördert.
6.
7.
Der Unterricht hatte aktuelle Bezüge.
Der Unterricht enthielt Beispiele aus dem Alltag/der Lebenswelt der SCH oder knüpfte an die Interessen der SCH an. Kriterium: Wichtigkeit und Nutzen des Lernstoffs werden verdeutlicht SCH erfuhren, dass sich die Beschäftigung mit dem Unterrichtsfach 9. lohnt, weil es für andere Fächer oder den Alltag notwendig, nützlich oder wichtig ist. (Gegenwartsbezug) SCH erfuhren, dass sich die Beschäftigung mit dem Unterrichtsfach 10. lohnt, weil es für andere für die Berufsausbildung oder das Studium notwendig, nützlich oder wichtig ist. (Zukunftsbezug) Kriterium: Die Lernbereitschaft wird durch Lob und Ermutigung gefördert Gute Beiträge zum Unterricht, gute Leistungen oder gutes Lernver11. halten wurden lobend anerkannt (positive Bekräftigung). Die LK ermutigte und ermunterte SCH, sich bei Schwierigkeiten an12. zustrengen, es noch mal zu probieren, noch mal nachzudenken, nicht aufzugeben. Kriterium: Es herrscht eine Atmosphäre von wechselseitiger Wertschätzung und gegenseitigem Respekt 8.
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~
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a:>
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2a:>
'E :o u..
13.
Die SCH verhielten sich gegenüber der LK höflich und kooperativ.
14.
Die LK verhielt sich den SCH gegenüber höflich und freundlich.
297
....CO
- ==
= ...
..c ·.S:2 ~ ::II Q)
.c
Unterrichtsbeobachtung
Die SCH gingen freundlich und rücksichtsvoll miteinander um, halfen und unterstützten einander. Kriterium: Mit Fehlern wird konstruktiv und lernfördernd umgegangen Fehler wurden zum Anlass für Verständnis fördernde Hinweise oder 16. zur Wiederholung des betreffenden Themas genommen.
15.
Q)
cn cn
Q)
e N
D..
E Q)
_J
Ci3
"Cl O>
c:
2
17.
Fehler wurden von den SCH selbst korrigiert.
Kriterium: Wenn SCH Fragen beantworten sollen, erhalten sie ausreichend Zeit zum Nachdenken, und ihre Antworten werden nicht unterbrochen
18.
Die SCH hatten ausreichend Zeit zum Nachdenken.
19.
Die SCH konnten ausreden.
Q)
"Cl
:0
L.L
Kriterium: Rückmeldungen und Feedback sind Teil eines kompetenzorientierten Unterrichts
20. 21.
Die SCH beurteilten ihre Leistungen oder Kompetenzen selbst. Die SCH erhielten differenziertes Feedback zu ihren Lernwegen oder Lernergebnissen.
Plenumsunterricht (nicht Schülervortrag) weiter mit ltem 22
Schülerarbeitsformen (Partner-, Gruppen-, Einzel-, Stillarbeit, Plan-, Projektarbeit, Stationenarbeit) weiter mit ltem 29
::s N
FÄCHERÜBERGREIFENDE ASPEKTE DER LEHR-LERN-SITUATION
E(..')
·=
-
gleichrangig weiter mit ltem 29
::s N
E(..')
·=.... Cl)
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Cl)
~
Kriterium: Der Unterricht ist klar und strukturiert
22. Q)
cn cn
23.
Q)
e N
D..
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Ci3
_J
Ci3
"Cl O>
c:
2
24.
Der Unterrichtsverlauf ließ eine klare Struktur, einen roten Faden erkennen. Der Lernprozess wurde durch Strukturierungshilfen oder Visualisierungen gefördert. Arbeitsaufträge, Erklärungen, Impulse und Fragen waren klar, präzise und kohärent formuliert.
Kriterium: Der Unterricht eröffnet Beteiligungsmöglichkeiten und Sprechgelegenheiten für die SCH
25. Die SCH beteiligten sich aktiv am Unterricht.
Q)
"Cl
:0 L.L
26.
Die LK stellte offene Fragen oder ermutigte die SCH zum Stellen von Fragen bzw. eigenen Stellungnahmen.
27. Die LK ging auf Anregungen oder Einwände der SCH ein. .
.....:
"Cl
'-
:~ ~
-
c: :o
298
L.L
Kriterium: Die SCH werden individuell beim Lernen unterstützt
28.
Die LK stellte sicher, dass alle SCH den Unterrichtsinhalten folgen konnten.
=. .
::s
::s
·;::Cl)
~
N
-..c: Cl)
N
....Cl:!
s
::!:! ..c: ·.=:! c ....
::s Cl)
.c
Diagnose und Evaluation des Unterrichts
Der Unterschied ist klar und strukturiert 29.
Die Arbeitsphase war gut vorbereitet.
30.
Die Raumanordnung war auf die Arbeitsphase abgestimmt.
31.
Es gab Zeitvorgaben.
32.
Es gab Strukturierungshilfen, die die SCH jederzeit nachschauen konnten.
Kriterium: Der Unterricht eröffnet Beteiligungsmöglichkeiten und Sprechgelegenheiten für die SCH Q) Cf) Cf)
Q)
N
0
0..
E Q)
_J
03 'O O'>
c:
2 Q)
33.
Die SCH beteiligten sich aktiv am Unterricht.
34.
Die Beteiligung innerhalb der Gruppe war ausgewogen.
35.
Die SCH gestalteten den Unterricht, bereiteten Unterrichtssequenzen vor, präsentierten in übersichtlicher Form Arbeitsergebnisse.
Kriterium: Selbstständiges Lernen wird im Unterricht auf vielfache Weise gefordert und gefördert
'O
:0 L.L
36.
Die SCH recherchierten mit Hilfe geeigneter Tools.
37.
Die SCH führten eigene Untersuchungen o. Ä. durch.
38.
Die LK ließ die SCH selbstständig arbeiten.
Kriterium: Der Unterricht eröffnet Freiräume für eigene Lernwege und Aufgabenlösungen 39.
Die Lernaufgaben ermöglichten unterschiedliche Lösungswege, methodische Zugangswege, eigene Entscheidungen.
40.
SCH hatten die Möglichkeit, den Lernort zu wählen.
Kriterium: Die SCH werden individuell beim Lernen unterstützt .
......:
> Q) '6 'E c: :o -
41.
L.L
42.
Es wurde ein Helfersystem (tutorielles Lernen, „Lernen durch Lehren") praktiziert. SCH wurden beim Lernen angemessen beraten, erhielten eine angemessene Lernbegleitung.
UNTERRICHTSCHARAKTERISTIKA: Bitte alles ankreuzen, was im Unterricht beobachtet wurde: Realisierte Sozialformen:
D
Plenumsunterricht
D
Gruppenarbeit
D Partnerarbeit
D
Einzelarbeit
Offene Unterrichtsformen:
D
Planarbeit
D
Stationenlernen
D Projektarbeit
D
Sonstige (Freiarbeit, Werkstattarbeit u. a.)
Nutzung neuer Medien:
D
Internet, E-Mail
D
PC-Programme
D Smart-/Whiteboard
D
computergesteuerte Fertigungstechnik
299
Unterrichtsbeobachtung
Bitte alles ankreuzen, was im Unterricht beobachtet wurde: Redeanteile im Unterricht: Anteil am insgesamten Gesprochenen
0
LK hatte überwiegend den Redeanteil
0
gleichmäßig zwischen SCH und LK verteilt
0
SCH hatten überwiegend den Redeanteil
Handlungsanteil im Unterricht: Anteil, in dem sich die SCH aktiv handelnd in das Unterrichtsgeschehen einbrachten
0
gering
0
mittel
0
überwiegend
Hausaufgaben:
0
wurden erteilt
0
wurden besprochen
Umgang mit Vielfalt:
0
Die SCH konnten Aufgaben in unterschiedlichem Zeitrahmen oder Umfang bearbeiten (quantitative Differenzierung).
0
Es standen Aufgaben mit abgestufter Schwierigkeit oder verschiedene Aufgabentypen zur Verfügung (qualitative Differenzierung).
0
Die SCH konnten zwischen unterschiedlichen Medien, Lernwegen, Material oder methodischen Zugangsweisen wählen.
0
Die SCH konnten zwischen unterschiedlichen Sozialformen oder Lernorten wählen.
Bitte immer ankreuzen, in welcher Schulart und in welcher Klassenstufe der Unterricht beobachtet wurde (bei verbundenen Systemen bitte das jeweilige „Teilsystem" ankreuzen, in dem beobachtet wurde):
0
Grundschule:
0
Klassenstufe 1 oder 2
0
Klassenstufe 3 oder 4
0
Realschule plus:
0
Klassenstufe 5 oder 6
0
Klassenstufe 7 bis 1O
0
Klassenstufe 11 oder 12
0
Gymnasium:
0
Orientierungsstufe
0
Mittelstufe
0
Oberstufe
0
Integrierte Gesamtschule:
0
Orientierungsstufe
0
Mittelstufe
0
Oberstufe
0
Klassenstufe 1 bis 5
0
Klassenstufe ;::: 6
Förderschule: nur „Lernen"
Bitte immer ankreuzen, in welchem Fachbereich der Unterricht beobachtet wurde (Überblick für alle Schularten, außer BBS): Arbeitslehre / Wirtschaftslehre/ Technik1
Sport
Deutsch
Sprachlich5
Gesamtunterricht (GU)
Technik und Naturwissenschaften (TuN; RS+)
Gesellschaftswissenschaftlich 2
Therapie/ Pflege
1 auch: Technisches Zeichnen, Praxis in der Schule, Medienbildung/Textverarbeitung, Hauswirtschaft 2Geschichte, Sozialkunde/Politik, Erdkunde, Wirtschaftsund Sozialkunde, Recht, Erziehungswissenschaften 3NaWi, Physik, Chemie, Biologie, Informatik, Ökologie, Informationstechnologie 4 Musik, (Bildende) KunsV Textiles Gestalten/ Werken, Darstellendes Spiel
300
Hauswirtschaft und Sozialwesen (HuS; RS+)
Mathematik
Unterricht für Schüler/innen nicht deutscher Herkunftssprache (MU)
Naturwissenschaftlich3
Werte und Religion 6
Musischkünstlerisch 4
Wirtschaft und Verwaltung (WuV; RS+)
5Englisch, Französisch, Spanisch o.Ä., Integrierte Fremdsprachenarbeit 6auch Philosophie, Ethik 7 z.B. Sozialpädagogik, Gesundheit
Sachunterricht
Sonstige 7
Diagnose und Evaluation des Unterrichts
5.6.2.3 Mikroanalyse von Unterrichtsprozessen
Als Beispiel für ein Werkzeug mit einem höheren Auflösungsvermögen als dem auf eine gesamte Stunde bezogenen Rating soll die für die DESI-Videostudie entwickelte für sogenannte „Basiskodierung" angeführt werden. Die videobasierte Analyse des Unterrichtsgeschehens erfolgt in zwei Schritten: (1) Transkription aller sprachlichen Äußerungen als Voraussetzung für die weiteren Auswertungen. In der Erprobung (Pilotierung) der Videostudie zeigte sich allerdings eine Tendenz der Lehrkräfte, sehr lange, aus mehreren Sätzen bestehende und unterschiedliche Aspekte (Fragen, Hilfestellungen, Rückmeldungen) umfassende Äußerungen zu machen. Aus diesem Grund erwies sich eine satzweise Kodierung (Grundlage: ein einzelner Satz - anstelle der verbreiteten Analyseeinheit Turn im Sinne von Sprecherwechsel) als geeigneter. Hierfür wurde das nutzerfreundliche Programm Videograph verwendet (Rimmele, 2007). (2) Kodierung: Alle Einzeläußerungen bzw. nichtsprachlichen Interaktionen wurden, wie bei TIMSS-Video, lückenlos kodiert („Basiskodierung"), sodass sich ein vollständiges Bild des Unterrichtsgeschehens und der Lehrer-Schüler-Interaktion ergibt. Alle Kodierungen können zeit- oder häufigkeitsbasiert ausgewertet werden, also z.B. Anzahl von Lehrerfragen pro Stunde und/oder Zeitanteil der Stunde, die auf Lehrerfragen entfällt. In der DESI-Videostudie sind die wichtigsten Kategorien, deren Vorkommenshäufigkeit und zeitliche Dauer, erfasst worden: Interaktionsteilnehmer (Wer spricht zu wem?), ~
Sprechanteile Lehrer/Schüler; nonverbale Phase,
~
benutzte Sprache (Englisch, Deutsch, gemischt), Gegenstand der Äußerung (lehrstoffbezogen, disziplinbezogen, prozedural, sozial),
~ Länge der Schüleräußerung (Einwort-Äußerung, Satzfragment, ganzer Satz, Satzunter-
brechung durch Lehrer), Art der Schüleräußerung (Wiederholen, Ablesen, nach Vorgabe sprechen, frei sprechen), ~
Korrektheit der Schüleräußerung, Funktion der Lehreraktivität (Darstellung, strukturierender Hinweis, Frage, Anweisung, Aufforderung),
~
Funktion der Lehrerreaktion (Hilfestellung, Rückmeldung, Fehlerbehandlung, Selbstbeantwortung),
~
Charakteristika der Frage (Antwortspielraum, sprachliche Komplexität der vom Schüler geforderten Antwort, Authentizität, Lebensweltbezug), Gehalt der Lehrerrückmeldung (informativ und affektiv),
~
Umgang mit Fehlern (Wie, wann und von wem werden welche Arten von Fehlern korrigiert?).
Die oben genannten Kategorien lassen sich kontextuieren (das heißt je nach Unterrichtskontext oder Episode aufschlüsseln), kombinieren (z.B. Anteil von Satzfragmenten in deutscher vs. englischer Sprache) und sequenzieren (Analyse von Mustern der zeitlichen Aufeinanderfolge: Ketten, Skripts, Sequenzen - z.B. Häufigkeit von Lehrerfragen, denen eine Wartezeit folgt, oder Häufigkeit, mit der ein und derselbe Schüler in einen Lehrer-Schüler-Dialog einbezogen wird). Das gesamte Instrument befindet sich einschließlich Durchführungsmanual im OnlineBuchanhang (http://www. andreas-helmke. de/buchanhang). 301
Gütekriterien der Unterrichtsbeobachtung
Mikroanalysen des Unterrichtsgeschehens sind keineswegs nur für Forschungszwecke interessant, sondern können - unterstützt durch eine Software wie Videograph - sehr wohl auch im Rahmen von schulinternen Qualitätszirkeln, professionellen Lerngemeinschaften oder Fachgruppen erfolgen, sofern man den Fokus auf einige wenige Kategorien, wie z.B. auf die Sprechzeit oder das Vorkommen von Fehlern und den Umgang damit beschränkt (zur Unterrichtsentwicklung vgl. Kapitel 6).
5. 7 Gütekriterien der Unterrichtsbeobachtung Die aus der pädagogisch-psychologischen Diagnostik bekannten Gütekriterien für Messungen (siehe hierzu auch Kapitel 3.5.3) - Objektivität, Reliabilität und Validität - lassen sich eingeschränkt auch auf die Unterrichtsbeobachtung und -beurteilung anwenden. Die Objektivität der Durchführung, Auswertung und Interpretation von Unterrichtsbeobachtungen hängt von der Präzision und Eindeutigkeit der Instruktionen ab. Ist das Vorgehen bei der Datenerhebung, -analyse und -auswertung standardisiert (etwa in Form eines präzisen Manuals) und sind die zu beurteilenden Sachverhalte klar und eindeutig beschrieben, dann ist das Instrument nicht anfällig für Verzerrungen durch verschiedene Beobachter. Die Objektivität ist also das geringste aller methodischen Probleme. Von größerer Bedeutung bei der Unterrichtsbeobachtung und -beurteilung ist die Reliabilität, insbesondere die sogenannte Inter-Rater-Reliabilität. Unterrichtsbezogene Urteile sind umso reliabler (zuverlässiger), je mehr verschiedene Beurteiler des gleichen Sachverhaltes (des gleichen Stundenausschnittes) in ihrem Urteil über ein jeweiliges Unterrichtsmerkmal übereinstimmen und je mehr die Urteile zwischen verschiedenen Sachverhalten variieren. Handelt es sich um mehrere Beurteilungsgegenstände (z.B. Unterrichtsstunden verschiedener Lehrkräfte) und zwei Beobachter, dann kann man zur Bestimmung der Reliabilität der jeweiligen Urteilskategorien einen Korrelationskoeffizienten berechnen. Dabei werden allerdings die Urteile jedes Beurteilers bezüglich des Mittelwerts und der Streuung adjustiert. Die „ einfache" Korrelation vergleicht somit die Profile der Urteiler, nicht die absoluten Ausprägungen. Bei zwei oder mehr Beobachtern (z.B. im Rahmen video basierten Beobachtungstrainings von Schulinspektoren oder bei der Beurteilung einer konkreten Unterrichtsstunde durch die gesamte Schulklasse) gibt der so genannte Intraclass-Korrelationskoeffi.zient Auskunft über die Übereinstimmung. Liegen Urteile nur zu einem Sachverhalt vor (oder nur zu sehr wenigen), dann lässt sich die Reliabilität nicht bestimmen. In diesem Fall kann jedoch beispielsweise die Streuung der Urteile im Sinne der Inter-Rater-Übereinstimmung (statt der Inter-Rater-Reliabilität) interpretiert werden. Allerdings ist zu beachten: Eine verlässliche Beurteilung des Unterrichts durch verschiedene Beobachter setzt zwar ein Mindestmaß an Übereinstimmung voraus. Dies ist eine notwendige, aber noch keine hinreichende Voraussetzung: Denkbar sind auch Fälle kollektiven Irrtums, das heißt eine perfekte, aber in der Sache irrige Übereinstimmung. Die Höhe der Reliabilität hängt von zweierlei ab: vom zugrunde liegenden Instrument und von der Urteilskompetenz der Beobachter. Je mehr Urteils- und Ermessensspielraum die For302
Diagnose und Evaluation des Unterrichts
mulierung einer Kategorie erlaubt, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Urteile streuen, also mehr oder weniger weit voneinander abweichen. Will man sich bei der Unterrichtsbeobachtung nicht nur auf Oberflächenmerkmale beschränken, sondern auch hochinferente Merkmale einbeziehen, die eine Wertung voraussetzen, dann ist dies natürlich eine Quelle für Variationen zwischen den Urteilern. Durch Training der Beobachter und durch treffende Kommentierung der Kategorien inkl. typische Beispiele lässt sich die Streuung verringern und damit die Reliabilität steigern. Es wäre allerdings unrealistisch zu erwarten, dass als Ergebnis von Unterrichtsbeobachtungstraining die Inter-Rater-Streuung komplett verschwindet. Das wichtigste Gütekriterium ist die Validität (Gültigkeit). Wird mit der Beobachtung überhaupt das infrage stehende Merkmal, also die Qualität des Unterrichts gemessen? Hier besteht die Gefahr, dass trotz etwaiger hoher Übereinstimmungen nicht (nur) das gewünschte Merkmal gemessen wird. Beispiel „Verständlichkeit": Ist das, was Experten als „verständlich" beurteilen, auch für die jeweiligen Schüler einer Klasse wirklich verständlich? Es liegt auf der Hand, dass man für ein valides Gesamturteil über unterschiedliche Perspektiven verfügen müsste. Ziel des Unterrichtsbesuchs ist es, sich ein Bild des Unterrichts zu machen, wie er in der betreffenden Schule vorgefunden wird. Ist die Annahme realistisch, dass man (z.B. als Schulleiter, Schulrat, Inspektor oder auch „nur" als Kollege oder „kritischer Freund") normalen, alltäglichen Unterricht geboten bekommt, aus dem sich ein Urteil über die Schule (manche sprechen auch von der „Unterrichtskultur" an einer Schule) ableiten lässt? Um sich darüber klar zu werden, müssen die folgenden Gesichtspunkte beachtet werden: Vorbereitbarkeit. Wenn im Voraus bekannt ist, dass und wann die Unterrichtsbesuche er-
folgen (dies dürfte die Regel sein), kann man natürlich nicht ernsthaft damit rechnen, alltäglichen, normalen Unterricht geboten zu bekommen, sondern in aller Regel Unterricht, der aus Sicht der unterrichtenden Person optimal ist. Mit anderen Worten: Jede Lehrperson mit einem Mindestmaß an Selbstachtung und Professionalität wird die beobachtete Unterrichtsstunde selbstverständlich so gut wie nur möglich vorbereiten, um einen kompetenten Eindruck zu vermitteln und sich - wie auch die eigene Schule - nicht zu blamieren. Routinen und automatisierte Verhaltensabläufe. Auf der anderen Seite ist jeder Unterricht
durch routinehafte Abläufe und schwer beeinflussbare Wirkungen geprägt. Deshalb lassen sich wünschbare Verhältnisse (wie z.B. eine sehr aktive Beteiligung der Schülerinnen und Schüler am Unterrichtsgespräch) in den seltensten Fällen kurzfristig herstellen, sodass eine Beobachtung und Beurteilung des Unterrichts keinesfalls eine Farce ist. Wenn Schülerinnen und Schüler im Fremdsprachenunterricht es im Laufe von ein bis zwei Schuljahren beispielsweise nicht geschafft haben, sich in der Fremdsprache einigermaßen flüssig auszudrücken, dann wäre es zu schön, um wahr zu sein, wenn dies durch einen kurzfristigen Crashkurs vor dem angekündigten Besuch oder der bevorstehenden Lehrprobe gelänge. Ähnliches gilt für alle diejenigen Merkmale des Lehrerverhaltens und der Lehrer-Schüler-Interaktion, die der Lehrperson gar nicht bewusst sind, beispielsweise für die Wartezeit auf Schülerantworten, den Sprechanteil, eingeschliffene Muster der Lehrer-Schüler-Interaktion, den Umgang mit Fehlern sowie für non- und paraverbale Aspekte der Kommunikation. Die in Kapitel 3 berichteten 303
Gütekriterien der Unterrichtsbeobachtung · EMU
Ergebnisse der DESI-Videostudie (Lehrer als Diagnostiker des eigenen Unterrichts), machen deutlich, wie krass Lehrpersonen danebenliegen, wenn sie den Prozentanteil der gesamten Sprechzeit im Unterricht schätzen sollen, der auf sie selbst entfällt (Helmke, T. & Helmke, 2007; Helmke, T. et al„ 2008). Momentaufnahme. Mit nur einem einzigen Unterrichtsbesuch lässt sich keine Aussage über
„den" Unterricht der betreffenden Lehrperson ableiten, geschweige denn ein Urteil über die Kompetenz der Lehrperson. Das wäre ebenso unangemessen wie der Versuch, die Intelligenz einer Person mit einer einzigen Textfrage zu erfassen. Kontextabhängigkeit der Unterrichtsqualität. Wir wissen aus der Unterrichtsforschung (sie-
he das Angebots-Nutzungs-Modell in Kapitel 2.7), dass Unterricht Teil eines Systems ist: Nicht nur die Wirksamkeit des Unterrichts (Erreichung von Bildungszielen, Kompetenzerwerb), sondern auch die Qualität des Unterrichts selbst hängen von Rahmenbedingungen ab, die die Lehrkraft nicht steuern kann. Dazu gehört insbesondere die Klassenzusammensetzung. Zuletzt wurde dies in der Studie DESI der KMK deutlich: In Klassen mit günstigeren Eingangsvoraussetzungen ist es einfacher, anspruchsvollen Unterricht zu veranstalten. Ein vermeintlich ineffizienter Unterricht, der die verfügbare Zeit weniger für Stoffbehandlung, sondern z.B. für sozialpädagogische Maßnahmen, für private Interaktionen, für Entspannung u. a. nutzt, kann in einer „schwierigen" Klasse oder in einer Klasse, deren überwiegendem Teil nach Schulabschluss die Arbeitslosigkeit bevorsteht, die einzige Möglichkeit sein, um überhaupt erst akzeptable Bedingungen für die Vermittlung des Lehrstoffs zu schaffen. Fehlendes Kontextwissen. Die Unterrichtsbeurteilung ist dann erschwert, wenn der Unter-
richtsbeobachter (wie etwa bei der externen Evaluation) keine oder nur unzureichende Informationen darüber hat, was in den Stunden davor unterrichtet wurde, welche Ziele die beobachtete Unterrichtsstunde verfolgt und wie das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler beschatten ist. Subjektivität unterrichtsbezogener Urteile. Unterrichtsbeobachtungen und erst recht -beur-
teilungen sind in dem Umfang invalide, in dem nicht die Qualität des vorgeführten Unterrichts, sondern die subjektive Unterrichtstheorie des Beobachters erfasst wird. Den Einfluss individueller subjektiver Theorien „guten Unterrichts" kann man nie ganz ausschließen, man kann ihn jedoch durch klare Formulierungen der Kategorien und durch Beobachtertraining verringern. Zur Subjektivität von Unterrichtsbeobachtungen gehören auch die im Kapitel „Diagnostische Kompetenz" (Kapitel 3.6) besprochenen Wahrnehmungsverzerrungen und Urteilsvoreingenommenheiten, wie z.B. der Milde- und Strenge-Effekt und der Referenzfehler. Bei Letzterem wird das Urteil des Unterrichts nicht an beobachtbarem Verhalten, sondern daran festgemacht, wie man selbst in einem vergleichbaren Fall unterrichtet hätte. Resümee. Lässt man alle oben genannten Argumente Revue passieren, dann erscheint es
im Hinblick auf die Unterrichtsbesuche angezeigt, ganz bescheiden von einem „Einblick in die Lehr-Lern-Situation" zu sprechen und auf der Ebene der einzelnen Schulklasse bzw. eines separaten Unterrichtsausschnitts das Wort „Evaluation" tunlichst zu vermeiden.
304
Diagnose und Evaluation des Unterrichts
5.8 EMU - Evidenzbasierte Methoden der Unterrichtsdiagnostik und -entwicklung Seit 2011 steht ein umfassendes Werkzeug zur Unterrichtsdiagnostik zur Verfügung, das im Internet heruntergeladen und kostenfrei genutzt werden kann. Im Folgenden werden einige Features dieses Programms beschrieben; für vertiefende Texte, Fragebögen, Software, Folien, Literatur etc. wird auf die EMU-Website verwiesen: http://www.unterrichtsdiagnostik.info. EMU richtet sich an alle, die ihren Unterricht weiterentwickeln möchten oder andere dabei beraten. Dies sind primär Schulen und Studienseminare. EMU eignet sich auch für die Schulaufsicht, Bildungsadministration, pädagogische Berater/Beraterinnen und universitäre Lehrerbildungszentren. Die Ziele: ~
Standortbestimmung: Erkennen von Stärken und Schwächen des eigenen Unterrichts Bewusstmachung eigener subjektiver Theorien des Lehrens und Lernens Erkennen blinder Flecken bei der Unterrichtswahrnehmung Sensibilisierung für Heterogenität innerhalb der Klasse
~
datenbasierte Vereinbarung von Maßnahmen zur Weiterentwicklung des Unterrichts datenbasierter kollegialer Austausch über Unterricht im bewertungsfreien Raum Verständigung über ein gemeinsames Bild von Unterricht im Team oder Kollegium
~ Schulentwicklung durch „ Öffnung der Klassenzimmertüren" und Austausch über Unterricht ~
Wertschätzung der Schüler/Schülerinnen: Nutzung der Fragebogeninstrumente für Schülerfeedback
EMU ist ein Akronym für Evidenzbasierte Methoden der .!:d:nterrichtsdiagnostik und -entwicklung. Es handelt sich dabei um ein handlungsorientiertes Programm, das an der Universität Koblenz-Landau im Auftrag der Kultusministerkonferenz entwickelt wurde. Das Material umfasst: ~
eine 11-seitige Broschüre (in einer Freistunde gut zu lesen), mit Links zu weiterführenden Texten Instrumente für die Unterrichtsdiagnostik aus Lehrer-, Kollegen- und Schülersicht:
Effiziente Klassenführung, Schüleraktivierung, Lernförderliches Klima und Motivierung, Klarheit und Strukturiertheit, Bilanz, Umgang mit Vielfalt, Kompetenzorientierung, Qualität von Gruppenarbeit, Kognitive Aktivierung, fachliche/fachdidaktische Qualität und Lehrersprache ~
Software für die Visualisierung der Ergebnisse Leitfaden für ein kollegiales Feedbackgespräch über eine Unterrichtsstunde aus Sicht der Lehrergesundheit (EMU plus)
~
L_,,-"
Unterrichtsvideo mit Auswertungsdaten für Ausbildungs- und Trainingszwecke
EMU steht allen Schulen und Studienseminaren uneingeschränkt und kostenfrei zur Verfügung. Das Programm ist selbsterklärend und erfordert keine externen Spezialisten. EMU ist modular aufgebaut und bietet viele Einstiegsmöglichkeiten. Das Material wird kontinuierlich
verbessert und ergänzt. Download: http://www.unterrichtsdiagnostik.info oder http://www.unterrichtsdiagnostik.de ~
Anfragen an: [email protected] Autoren: A. Helmke, T. Helmke, G. Lenske, G. Pham, A.-K. Praetorius, F.-W. Schrader, M. Ade-Thurow 305
Literaturempfehlungen
5.9 Literaturempfehlungen Vertiefende Texte und Literaturhinweise zur Diagnostik von Unterrichtsprozessen finden sich bei Helmke et al. (2012) auf der Website http://www.unterrichtsdiagnostik.info. Ein praxisorientierter Überblick zum Thema „Evaluation" im Kontext der Schule (nicht speziell auf Unterricht bezogen) mit vielen Beispielen stammt von Burkhard und Eikenbusch (2000); daneben sind zu nennen: Kempfert und Rolff (1999), Höfer und Madelung (2006), Pikowsky (2004) sowie Mittelstädt (2006). Eine kurze Einführung in Unterrichtsevaluation gibt Helmke (2003). Über Theorien und Methoden der Selbstevaluation informiert das von D. Granzer, P. Wendt und R. Berger herausgegebene Buch „Selbstevaluation in Schulen. Theorie, Praxis und Instrumente" (Weinheim: Beltz, 2008). Eine Einführung in die Statistik für Lehrer stammt von Eikenbusch und Leuders (2004). Wissenschaftliche Grundlagen der Evaluation werden in den entsprechenden Kapiteln der Handbücher, Lehrbücher und Enzyklopädien abgehandelt, etwa bei Walberg und Haertel (1990), Böhm-Kasper und Weishaupt (2004), Wottawa (2006b, 2006a), Bortz und Döring (2006), Wottawa und Thierau (2003), Gollwitzer und Jäger (2007). Methoden zur Beobachtung und Beurteilung des Unterrichts finden sich vor allem in Publikationen, die im Zusammenhang mit den großen Video-Unterrichtsstudien des letzten Jahrzehntes erschienen (Seidel et al., 2003b; Seidel, 2003; Knierim, 2008; Reyer, 2004), siehe auch Welzel und Stadler (2005) und Aufschnaiter und Welzel (2001). Auf das Potenzial und die Grenzen beobachtungsbasierter Unterrichtsbeurteilung im Rahmen der externen Evaluation weist Helmke (2007; 2008) hin; zum Potenzial des Abgleichs von Lehrer- und Schülerbeurteilungen der gleichen Unterrichtsstunde siehe Helmke, Piskol, Pikowsky und Wagner (2009).
306
Unterrichtsentwicklung
6 Unterrichtsentwicklung In diesem Abschnitt soll versucht werden, Überlegungen zur konkreten Nutzung der bisher dargestellten Prinzipien und Ergebnisse für die Verbesserung des Unterrichts anzustellen. Hierfür hat sich in der Schulentwicklung der Terminus „ Unterrichtsentwicklung" (UE) etabliert, obwohl dieses Wort nicht optimal ist- es geht doch schlicht um eine „ Verbesserung" oder Optimierung. Der traditionelle Entwicklungsbegriff der Psychologie hingegen legt die Vorstellung eines Prozesses nahe, der ohne nennenswerte äußere Beeinflussung organisch angelegt ist und nach einer Art innerem Bauplan abläuft - Vorstellungen, die der aktiven Steuerung und kooperativen Durchführung praktischer Verbesserungen des Unterrichts völlig zuwiderlaufen. Da sich aber der Terminus „Unterrichtsentwicklung" nun einmal eingebürgert hat, werde ich ihn in diesem Abschnitt ebenfalls benutzen. Was ist eigentlich mit „Unterrichtsentwicklung" gemeint? Horster und Rolff (2001) verstehen unter Unterrichtsentwicklung die „Gesamtheit der systematischen Anstrengungen, die darauf gerichtet sind, die Unterrichtspraxis [... ] zu optimieren [... ]. Das grundlegende Ziel der Unterrichtsentwicklung ist die Effektivierung des Lernens der Schüler/innen in allen Dimensionen." (S. 58) Bastian (2007) versteht Unterrichtsentwicklung als „Entwicklungsprozess". Er definiert den Begriff der Unterrichtsentwicklung wie folgt: „ Unter Unterrichtsentwicklung verstehen wir alle systematischen und gemeinsamen Anstrengungen der an Unterricht Beteiligten, die zur Verbesserung des Lehrens und Lernens und seiner schulinternen Bedingungen beitragen." (S. 29) Meyer et al. (2007b) bezeichnen Unterrichtsentwicklung als „ die mehr oder weniger systematischen Prozesse und die mehr oder weniger nachhaltigen Ergebnisse individueller und gemeinsamer Anstrengungen von Lehrern und Schülern zur Verbesserung der Lern- und Arbeitsbedingungen im Unterricht". Die Autoren erläutern ihre Definition, indem sie Prinzipien der Entwicklung aufführen:
Deskriptivität: Man kann den Begriff Entwicklung beschreibend und/oder normativ verwenden. Deskriptiv wird er
verwandt, wenn es ausschließlich um die wertneutrale Erfassung geplanter oder ungeplanter Aktivitäten zur Veränderung des Ist-Zustands von Unterricht geht. Auch das, was Menschen für guten oder schlechten Unterricht halten, zählt zum Ist-Zustand und kann deskriptiv erfasst werden. Normativität: Die in der Arbeitsdefinition enthaltene Forderung, zur Verbesserung des herkömmlichen Unter-
richts beizutragen, stellt eine bewusst vorgenommene Normierung dar. Unterricht soll entwickelt werden - aber natürlich in eine positive Richtung. Dafür ist eine Vision guten Unterrichts nötig, die nicht nur aus dem hohlen Bauche heraus, sondern in Kenntnis theoretischer Einsichten und empirischer Befunde über Merkmale guten Unterrichts formuliert werden sollte (s. u.). Prozesshaftigkeit: Wege entstehen beim Gehen. Deshalb ist UE grundsätzlich ein offener, dynamischer und
manchmal auch chaotischer Prozess. Ohne regulierende Vorgaben, ohne Zielvereinbarungen und Arbeitspläne kann dieser Prozess schnell aus dem Ruder laufen. Aber ohne einen Vertrauensvorschuss und Freiräume für die
:>
307
Bedingungen und Probleme der Unterrichtsentwicklung
Akteure geht es ebenso wenig. Schon Immanuel Kant hatte vor 220 Jahren angemerkt, dass das Hauptproblem
O
der Pädagogik darin bestünde, "die Freiheit bei dem Zwange zu kultivieren". Kontextabhängigkeit: UE setzt nie beim Nullpunkt an, sondern bei der in einem Klassenzimmer bzw. der ganzen
Schule etablierten Unterrichtspraxis. Deshalb ist schulische UE 0perieren am offenen Herzen" - und das ist 11
immer mit gewissen Risiken verbunden. Eingefahrene Routinen müssen verflüssigt, aber irgendwann auch wieder verfestigt werden, weil kein Mensch auf Dauer ertragen kann, dass alles am Schwimmen ist. Ergebnisorientierung: Wir halten den Satz "Der Weg ist das Ziel" für eine Zumutung. Unterrichtsentwickler sind
deshalb klug beraten, bei den Ergebnisabsprachen nicht nur allgemeine Zielformeln zu vereinbaren, sondern konkret vorzeigbare Ergebnisse anzustreben. Welche Ergebnisse sinnvoll sind, muss im Kollegium und mit den Schülern, Eltern und sonstigen Beteiligten ausgehandelt werden. Dem dienen Zielvereinbarungen, Schulprogramme, Fortbildungsplanung und anderes mehr. Prognosedefizit: Die tatsächlichen Effekte bestimmter Maßnahmen können zumeist nur grob vorhergesagt wer-
den. Deshalb lautet das Credo aufgeklärter Unterrichtsentwickler: Nichts wird so realisiert, wie es einmal ge11
plant war." Deshalb ist Unterrichtsentwicklung grundsätzlich und nicht nur hier und dort eine "rollende Reform". Wiederholte Zieljustierungen, Evaluationen und Stützmaßnahmen gehören dazu. Unterrichtsentwicklung benötigt Akteure - Menschen, die Hoffnungen und Ängste, Einsichten und Vorurteile, ______,Abneigungen und Vorlieben haben. Deshalb ist UE mit vielfältigen Anstrengungen verbunden: Das Wechseln der Perspektiven kann wehtun, der Zwang zur Teamarbeit ebenfalls. Es kann aber auch viel Befriedigung verschaffen, und davon lebt die UE. Es geht um gemeinsame Entwicklungsarbeit von Lehrern und Schülern, weil auch empirisch nachgewiesen ist, dass die Qualität der Lehrer-Schüler-Kommunikation den Lernerfolg der Schüler erhöht. Aber selbst dort, wo die UE von Einzelkämpfern vorangetrieben wird, kooperieren diese Einzelkämpfer zumindest mit ihren Schülerinnen und Schülern. Die Ergebnisse der UE sollten nachhaltig sein - Eintagsfliegen erwärmen die Herzen für kurze Zeit, aber sie haben keinen dauerhaften Einfluss auf die Unterrichtskultur der Schule und die Lernleistungen der Schüler. Deshalb ist es unerlässlich, die erforderlichen Sach- und Personalressourcen für die Pflege neu erarbeiteter Bausteine der Unterrichtskultur bereitzustellen. Kasten 47: Entwicklungsprinzipien des Unterrichts nach Meyer et al. (2007a, S. 4 f.)
In diesem Kapitel wird von einem breiteren Konzept von Unterrichtsentwicklung ausgegangen als bei Bastian und Meyer. Unter Unterrichtsentwicklung werden alle Aktivitäten und Initiativen verstanden, die sich auf Verbesserung des eigenen Unterrichts und des dafür notwendigen professionellen Wissens und Könnens beziehen. Unterrichtsentwicklung bezieht sich also auf ~
die Veränderung der Lehrmethoden und Lehr-Lern-Szenarien,
~
die Eff ektivierung der Klassenführung,
~
die Stärkung eigener (didaktischer, fachlicher, diagnostischer) Kompetenzen sowie
~
die Optimierung des Lehrmaterials mit dem Ziel, die Wirksamkeit des eigenen Unterrichts zu steigern.
Dieses Kapitel ist folgendermaßen aufgebaut: Basierend auf verbreiteten Klagen zur Praxisferne der Lehrerbildung und daraus resultierenden Mängeln des Unterrichts wird zunächst der Frage 308
Unterrichtsentwicklung
nachgegangen, was aus dieser Diskussion für die Unterrichtsverbesserung folgt. Hierzu wird ein Rahmenmodell entwickelt, das individuelle und institutionelle Bedingungen und Prozesse der Unterrichtsverbesserung integriert. Darauf aufbauend, werden einige konkrete Aktivitäten, Programme und Trainings angesprochen, die im Zusammenhang mit der Unterrichtsverbesserung von Bedeutung sind: das Programm SINUS, Methoden unterrichtsbezogener Lehrerkooperation (wie Teamteaching und Hospitation), der Einsatz von Methoden der Leistungsmessung, der Diagnose und Beurteilung des Unterrichts sowie Verhaltenstrainings für Lehrkräfte.
6.1 Bedingungen und Probleme der Unterrichtsentwicklung 6.1.1 Vom Wissen zum Können und Tun
Es gibt nur wenige Sachverhalte, bei deren Nennung man derart schnell offene Türen einrennt wie bei der Kritik an der gegenwärtigen Lehrerausbildung, insbesondere an ihrem mangelnden Praxisbezug. Zahlreiche Studien, Denkschriften und Resolutionen haben dies beklagt- so die der Kommission der KMK zur Lehrerbildung (Terhart, 2000), die Hamburger Kommission „Lehrerbildung" (Keuffer & Oelkers, 2001) und die Kommission „Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern in Nordrhein-Westfalen-Empfehlungen der Expertenkommission zur Ersten Phase" (2008). Die Praxisrelevanz eines großen Teils der universitären Lehrerausbildung wirdinsbesondere von berufstätigen Lehrerinnen und Lehrern selbst - als desolat eingeschätzt. Und diese Einschätzung bezieht sich nicht nur auf die Bundesrepublik Deutschland - vgl. hierzu die Kritik Osers an der schweizerischen Lehrerbildung und seine starke Forderung nach der „Zertrümmerung" der bisherigen Ausbildungsstrukturen (Oser & Oelkers, 2001b). Anstatt auf einer theoretisch fundierten und empirisch untermauerten Pädagogik, Didaktik und Psychologie aufzubauen und für den Unterricht davon zu profitieren, wird in der Schulpraxis der gesamten fachdidaktischen sowie pädagogisch-psychologischen Ausbildung oft jeglicher praktische Wert für den Unterrichtsalltag aberkannt. Bestenfalls werden noch diejenigen Wissenselemente steinbruchartig dem „studierten" Wissen entnommen, die eine direkte Umsetzbarkeit im eigenen Unterricht versprechen. Es ist inzwischen Allgemeingut, dass bloßes (angelesenes) Wissen keineswegs gleichbedeutend ist mit Handlungskompetenz. Man kann noch so viele Tennislehrfilme sehen oder Bücher über Rhetorik lesen und ist deswegen noch lange kein guter Tennisspieler und keine gute Rednerin. Dies gilt erst recht für eine derart komplexe Tätigkeit wie das Unterrichten. Dieses Thema ist in den letzten Jahren vor allem von der Forschungsgruppe Wahl an der PH Weingarten erforscht worden (Wahl, 2001, 2002). Insofern haben Horster und Rolff (2001) recht, wenn sie darauf hinweisen, dass Konzepte der Unterrichtsentwicklung zu kurz greifen, „die davon ausgehen, allein schon durch die Verbreitung von Kenntnissen über neue und andere Unterrichtsmethoden die unterrichtliche Praxis in den Schulen nachhaltig zu verändern" (S. 58). Das ist es eben: Der Weg vom Wissen (und Behalten) zum Können (der Kompetenz) und weiter bis zum Tun (der wirklichen Veränderung) ist weit und schwierig. Entscheidende Beiträge zur Erklärung und Verringerung der Kluft zwischen Wissen und Handeln stammen von Wahl (2008), der in seinem Forschungsprogramm zu Subjektiven The309
Bedingungen und Probleme der Unterrichtsentwicklung · Ein Rahmenmodell
orien differenzierte Erklärungen dafür geliefert hat, warum der Weg von der Information (im Rahmen von Lehreraus- oder -fortbildung) zu entsprechendem Handeln so weit ist und mit welchen Methoden man kompetentes Handeln - statt lediglich träges Wissen - erzeugen kann: „Wenn alltägliches unterrichtliches Handeln rasch und weitgehend implizit abläuft, dann bleibt wenig Raum, um sich zu ändern. Versucht man jedoch, die Bewusstheit zu erhöhen, verlangsamt sich der Handlungsprozess und die ablautenden Kognitionen und Emotionen treten deutlicher hervor. Erreichen kann man dies dadurch, dass den Teilnehmenden Aufgaben zur Selbstbeobachtung in Praxissituationen gegeben werden." (Wahl, 2008, S. 93)
Reflexionsaufgabe 79: Vom Wissen zum Können und Tun
A
Wenn Sie bis zu diesem Abschnitt des Buches über Unterrichtsqualität vorgedrungen sind, haben Sie ~
bereits eine beachtliche Menge an Informationen, Theorien, Begriffen und Fakten rezipiert. Wenn Sie einmal ganz ehrlich zu sich selbst sind: Sind Sie davon überzeugt, dass diese Inhalte Einfluss auf Ihr Handeln im Unterricht oder als Schulleiterin bzw. Schulleiter haben werden? Wenn Sie nicht fest davon überzeugt sind: Weshalb nicht? Was fehlt?
Um diese letzte Frage der Reflexionsaufgabe geht es im Folgenden. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Ebene der individuellen Lehrperson. 6.1.2 Träges Wissen
Eine häufig gebrauchte Erklärung für die Kluft zwischen Wissen, Können und Tun ist, dass es sich bei dem in der Lehrerausbildung erworbenen unterrichtsbezogenen Wissen um „träges Wissen" (inert knowledge) handelt (zum Konzept vgl. Renkl, 2001). Was guter Unterricht ist, wie man erfolgreich lehrt usw. - dies ist zwar irgendwo im Langzeitgedächtnis gespeichert, aber nicht in einer Weise, die die Umsetzung im Berufsalltag ermöglicht. Um für praktische alltägliche Situationen nutzbar gemacht zu werden, müsste es in einer Weise gelehrt werden, die praktische Unterrichtssituationen von Anfang an mit einbezieht, sie sogar als Ausgangspunkt ansieht. Man spricht in der Forschung auch von „situiertem Wissen": Wissen, das in einer Weise erworben wurde, dass es mit Praxissituationen verknüpft ist und damit mit höherer Wahrscheinlichkeit angewendet werden kann; siehe Kapitel 2.6.4.2. 6.1.3 Defizitäre Verhaltensorientierung
Unabhängig vom geringen Unterrichtsbezug ist feststellbar, dass viele Elemente der Lehrerausbildung nur einen minimalen Verhaltensbezug haben. Es wird über Sachverhalte wie „Disziplinprobleme lösen", „intelligent üben", „Kleingruppenarbeit" oder „Entspannungstechniken" viel geredet, palavert und referiert, aber es wird entweder gar nicht, zu spät oder jedenfalls viel zu selten praktisch gehandelt und probiert. 310
Unterrichtsentwicklung
Wenn Lehramtsstudierende hingegen konkrete Aufgaben lösen müssen, die das zu erwerbende neue Wissen mit bisherigem Handlungswissen verknüpfen (learning by doing), werden bessere Lernergebnisse erzielt (vgl. Nölle, 2002). Eine theoretische Erklärungsgrundlage ist der Ansatz der Anchored Instruction, demzufolge sowohl der Erwerb von Wissen wie von professionellem Handeln eines Ankers bedarf, damit neue Handlungsschemata wirksam mit bereits vorhandenen Schemata verknüpft werden. Der springende Punkt ist, dass dieser Anker bildhafte, episodische oder autobiografische Elemente beinhalten muss. Prototypen einer verhaltensorientierten unterrichtlichen Ausbildung sind Handlungstrainings für Lehrkräfte (siehe Abschnitt 6.4) und das microteaching: eine Lehrmethode, bei der Elemente der zu erwerbenden Handlungskompetenz sukzessive, mit zunehmender Nähe zur Realsituation, kooperativ und mit videounterstützter Supervision erprobt, diskutiert und verfeinert werden. Zuerst die kognitive und später dann die konstruktivistische Wende in der Psychologie haben dazu geführt, dass dieser Methode der Makel des Behaviorismus anhängt. Dies ist jedoch, wie Klinzing (2002) zeigt, ein völlig unzutreffendes Urteil.
Reflexionsaufgabe 80: Wo ist der Motor? In seinem Aufsatz „Zwölf häufige Fehler bei der Entwicklung von Schule und Unterricht" schreibt Horster (2000): „Dieses Vorgehen folgt der Vorstellung, neues Wissen allein führe bereits zu einer neuen und verbesserten Praxis. Es fehlt das Bewusstsein davon, dass Veränderung in einer Organisation wie der Schule einer tragenden Struktur bedarf. Neues Wissen kann dem Veränderungsprozess wie ein Kompass die Richtung vorgeben, es muss aber ein leistungsfähiger Motor hinzukommen, der die Entwicklung vorantreibt." (S. 229) Was hat es mit dem Motor auf sich? Worin könnte dieser bestehen?
6.2 Ein Rahmenmodell Der Veranschaulichung von Wirkfaktoren, die über den Erfolg der Unterrichtsentwicklung bei einer Lehrperson entscheiden, dient das folgende Rahmenmodell. Ausgehend von der für die Veränderung des eigenen Unterrichts notwendigen Sequenz von Prozessen versucht es, individuelle, soziale und institutionelle Bedingungen der Unterrichtsentwicklung augenfällig zu machen. Dahinter steht die Überlegung, dass Unterrichtsentwicklung auf sehr verschiedene Weise gefördert werden kann: direkt (durch unmittelbare Initiierung eines Programms oder einer Aktivität) oder auch indirekt (durch flankierende Maßnahmen, d. h. durch Einflussnahme auf die für Unterrichtsentwicklung entscheidenden Bedingungen). Ein Mindestmaß an Kenntnissen über das vermutliche Wirkgefüge dieser Bedingungen ist wichtig, um (als Schulleitung) Prozesse der UE über einen längeren Zeitraum zu steuern und Fehlentwicklungen vorzubeugen. 311
Ein Rahmenmodell
individuelle Bedingungsfaktoren subjektive Notwendigkeit, Veranlassung Motivation: Kosten-Nutzen-Bilanz Bereitschaft zur Selbstreflexion professionelles Wissen Selbstwirksamkeit
Information
Rezeption
über Unterricht ~ Übermittlung und ____. Verständnis
l
Reflexion
Aktion
Evaluation
Suche nach Erklärung; Erhebung von Zusatzinformationen
Unterrichtsentwicklung Training Supervision Fortbildung
nachweisliche und andauernde Effekte Nebenwirkungen? Differenzieller Profit? Aufwand zu Ertrag?
r externe Bedingungsfaktoren Evaluations- und Kooperationsklima in der Schule Verbindlichkeit durch das Schulprogramm Wertschätzung durch Schulleitung, Eltern, Schüler, Kommune Hilfeleistung durch die Wissenschaft Schulausstattung, finanzielle Basis Unterstützung durch Moderatoren, Modellversuche, Beratung, Anreizsysteme
Abbildung 25: Ein Sequenzmodell der Unterrichtsentwicklung und ihrer Bedingungen
Das Modell sieht die folgende Basissequenz vor: Information. Startpunkt sind Informationen über Unterrichtsqualität, woher auch immer sie
stammen - zum Beispiel aus der Lehrerfortbildung oder aus diesem Buch. Rezeption. Je nach Gestaltung, inhaltlicher und formaler Qualität kommt das Material über
Unterricht und Unterrichtsentwicklung beim Adressaten an
oder auch nicht: Informationen
können übersehen oder ignoriert werden, verpuffen oder versickern, missverstanden oder falsch interpretiert werden. Ob dies der Fall ist, hängt zunächst einmal von der Darstellung ab: ihrer Verständlichkeit, Relevanz, Aktualität und Korrektheit. Reflexion. Günstigenfalls führt die Rezeption zum Nachdenken, zum Diskurs über Fragen
des Lehrens und Lernens, zur Erwägung von Veränderung. Aktion. Zwischen Motivation und Realisation kann es, wie die Volitionsforschung gezeigt
hat, Bruchstellen geben. Nicht jede Motivation wird auch in reales Verhalten umgesetzt. Ausschlaggebend ist, ob auch über eventuelle Durststrecken hinweg und in kritischen Phasen (Widerstände, Mangel an Bekräftigung, kein sichtbarer Erfolg) an der Veränderung des eigenen Unterrichts festgehalten wird. Ein besonderes Phänomen ist in diesem Zusammenhang das der procrastination: Obwohl man motiviert ist, werden notwendige, aber unangenehme (lästige, 312
Unterrichtsentwicklung
schwierige, anstrengende) Aktivitäten aufgeschoben. In der Politik kann ein solches „Aussitzen" gelegentlich klug sein, in der Schule weniger, denn es kann ein Teufelskreis entstehen: Die Betroffenen nehmen sich immer wieder vor, die unangenehmen Auf gaben zu einem bestimmten Zeitpunkt zu bewältigen - doch sie lassen diese Zeitpunkte auch immer wieder verstreichen. Dadurch entstehen negative Emotionen wie Angst und Scham, die ihrerseits weitere Aktivitäten untergraben können. Evaluation. Unterrichtsentwicklung ist kein Selbstzweck, sondern dient letztlich der Erleich-
terung des Lernens. Der entscheidende, aber am schwersten zu gehende letzte Schritt der Kette im gezeigten DE-Modell besteht darin, dass veränderter Unterricht auch tatsächlich zu besserem Lernen führt. Ist dies nicht der Fall, dann war der Aufwand vergebens, denn Unterrichtsentwicklung ist kein Selbstzweck. Abbildung 25 zeigt einen linearen Verlauf des Prozesses, vom „Anfang" (links) bis zum „Ende" (rechts). Dies dient jedoch lediglich einer übersichtlichen Darstellung (und Zuordnung) der Bedingungsfaktoren in den Kästen. In der Praxis ist die oben genannte Reihenfolge nicht zwingend, vielmehr sind Einstiege an unterschiedlichen Stellen des Prozesses möglich. Die realitätsangemessenere Form der Darstellung wäre deshalb ein Kreismodell, siehe Abbildung 26.
Rezeption
Information über Unterricht
Reflexion
Evaluation
Aktion
Abbildung 26: Zyklisches Verlaufsmodell
Falls man ein Konzept der Progression vertritt, könnte man den Prozess der fortlaufenden Verbesserung und qualitativen Änderung auch mit einem Spiralmodell (ähnlich dem unterrichtlichen Spiralcurriculum) abbilden. Ob dieser Prozess gelingt oder ob er in einem frühzeitigen Stadium stecken bleibt, ob intendierte Maßnahmen der Initiierung der Unterrichtsentwicklung also erfolgreich sind oder zwischendurch versickern oder verpuffen, hängt sowohl von individuellen als auch von sozialen und institutionellen Bedingungen ab. In den folgenden Abschnitten werden (ohne Anspruch auf Systematik oder Vollständigkeit) die hierfür wichtigen Bedingungen angesprochen. 313
Ein Rahmenmodell
6.2.1 Forschung zur Wirksamkeit von Lehrerfortbildung: Fehlanzeige
Reflexionsaufgabe 81: Von Fortbildung profitieren
A
Denken Sie an Ihre letzte Lehrerfortbildung: Was haben Sie davon in Ihrem Unterricht selbst umgesetzt, und wie lange haben Sie sich daran gehalten? Haben andere Kolleginnen oder Kollegen von Ihrer Fortbildung profitiert - oder umgekehrt: Haben Sie von den Fortbildungserfahrungen anderer profitiert? Wenn nein - warum eigentlich nicht?
Dabei muss jedoch gleich einschränkend gesagt werden, dass die empirische Evidenz für die Nutzung von Information für die Verbesserung des Lehrens und letztlich des Lernens bisher außerordentlich gering ist - noch viel spärlicher als die eigentliche Unterrichtsforschung. Es gibt zur Wirksamkeit von Lehrerfortbildung nur sehr wenige Untersuchungen, die methodischen Standards genügen, vgl. die Übersicht von Lipowsky (2004) und Grewe (2006). Viele Studien zielen lediglich auf die Feststellung des subjektiven („gefühlten") Lernzuwachses, der Zufriedenheit mit dem Kurs und dessen Evaluation als Wirksamkeitskriterien. Dieses sind sehr „weiche" und verzerrungsanfällige Maße. Eine andere Art von Studien untersucht die Veränderung des professionellen Lehrerwissens und von Überzeugungen. Alle verfügbaren Untersuchungen zeigen, dass Kompetenzverbesserungen nur dann auftreten, wenn zuvor intensive Formen der Auseinandersetzung mit konkreten Unterrichtssituationen oder mit entsprechenden Videos stattgefunden haben, verglichen mit einer traditionell, überwiegend theoretisch orientierten Fortbildung. Eine dritte Gruppe von Studien zieht als Wirksamkeitskriterium der Fortbildung die Veränderung des Lehrerhandelns heran. Hier waren bisher nur integrierte Ansätze erfolgreich, die sowohl Fertigkeiten als auch die eigenen Überzeugungen und beliefs zum Gegenstand machten; vgl. hierzu Kapitel 6.4: Handlungstrainings. Fast gar keine Studien gibt es bemerkenswerterweise zu den Effekten der Lehrerfortbildung auf Schülerleistungen, obwohl dies - die Verbesserung des Lernens der Schülerinnen und Schüler - ja eigentlich das Hauptziel von Lehrerfortbildung sein sollte. Grewe (2006) berichtet die ernüchternden Ergebnisse einer Untersuchung von Jacob und Lefgren (2004) zur Fortbildung in 71 Grundschulkollegien in den Fächern Mathematik und Lesen. Die Teilnehmer waren mit dem Kurs zwar außerordentlich zufrieden, verglichen mit einer „unbehandelten" Kontrollgruppe zeigten sich jedoch auf Schülerseite keinerlei Leistungsverbesserungen. Metaanalysen von Cohen und Hill (2000) ergaben, dass sich unterrichtsbezogene Fortbildungen nur dann auf die Schülerleistungen auswirkten, wenn ein begrenztes Thema mit hoher Praxisrelevanz über einen längeren Zeitraum hinweg behandelt wurde. Angeführt sei hier noch eine Studie der britischen Abteilung der Unternehmensgruppe McKinsey & Company „How the world' s best-performing school-systems come out on top" , die im September 2007 veröffentlicht wurde und im deutschsprachigen Raum wenig öffentliche 314
Unterrichtsentwicklung
Resonanz hatte. Sie soll hier genannt sein, weil in ihr deutlich wird, wie wesentlich Lehrerfortbildung ist! Die Verfasser wollten wissen, worin der Erfolg derjenigen Länder liegt, deren Schülerinnen und Schüler in den internationalen OECD-Vergleichstests PISA gut abgeschnitten hatten. Sie kamen zu folgendem Ergebnis: Die drei wichtigsten Einflussfaktoren sind 1. „getting the right people to become teachers, 2. developing them into ettective instructers and 3. ensuring that the system is able to deliver the best possible instruction tor every child (executive summary) ".
Für die Studie haben die Verfasser 15 Staaten und 9 Regionen untersucht, 100 Experten befragt und Fachliteratur gewälzt. Sie stellen fest, dass weder die Bildungsausgaben eines Landes noch die Senkung der Klassengröße noch die Ein- oder Mehrgliedrigkeit eines Schulsystems noch der Umfang der Lernzeit der Schlüssel der Länder und Regionen ist, die bei PISA gut abgeschnitten haben. Denn in den genannten Bereichen unterscheiden diese sich sehr voneinander. Übereinstimmungen fanden sie aber unter anderem in den folgenden Punkten: ~
Diese Länder achten darauf, jedem Kind den bestmöglichen Unterricht angedeihen zu lassen, z. B. durch Förderzeiten nach dem Regelunterricht, durch sorgfältige Diagnosen oder Einzelunterricht. Es wird ganz besonderer Wert auf die Lehrerausbildung gelegt, indem streng ausgewählt wird, welche Studenten für die Lehrerausbildung überhaupt zugelassen werden und auch anschließend den Lehrerberuf ausüben dürfen. Darüber hinaus - und das ist in diesem Zusammenhang wichtig: Ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer werden nach dem Studium nicht sich selbst überlassen, sondern verpflichtet, sich regelmäßig und oft fortzubilden - so müssen siez. B. in Singapur jährlich 100 Stunden Fortbildung nachweisen. Oder: Lehrkräfte in Finnland müssen sich wöchentlich zu gemeinsamen Unterrichtsplanungen treffen bzw. gegenseitig hospitieren. Das bedeutet, ein ständiges Weiterlernen im Beruf, die Durchdringung relevanter Berufsthemen in Wissen, Können und Tun sind unabdingbar. 62
6.2.2 Individuelle Bedingungen 6.2.2.1 Subjektive Theorien und stabile Gewohnheiten
Wie die Forschung zu den subjektiven Theorien (gelegentlich auch „implizite Theorien", „Alltagstheorien", „epistemologische Theorien", „intuitive" oder „naive" Theorien) von Lehrkräften (Wahl, 2002, 2008) gezeigt hat (siehe hierzu auch Kapitel 3.5.3), entwickeln Lehrkräfte im Laufe der Zeit eigene, die Orientierung und das Handeln im Schulalltag erleichternde „MiniTheorien", die sich vielfach erheblich von dem unterscheiden, was sie „eigentlich" gelernt
62 Für Details dieser Studie: http://www.mckinsey.com/clientservice/socialsector/resources/pdf/Worlds School Systems Final.pdf
315
Ein Rahmenmodell
haben und was sie etwa in der Lehrerfortbildung an Wissen über „modernen" Unterricht akkumulieren. Dies betrifft sowohl grundlegende implizite Theorien über das Lehren und Lernen als auch spezifische Vorstellungen über die Funktion und Struktur des unterrichteten Faches. Ein Beispiel für Ersteres ist das so genannte „Vorratsmodell" des Lernens: Die Auffassung vom Lernen ist dabei die eines Akkumulierens von Wissensstoff, und dementsprechend ist die Rolle der Lehrkraft weitgehend (implizit) als Instrukteur definiert. Es liegt auf der Hand, dass solche impliziten Konzepte in Widerspruch mit konstruktivistisch orientierten Sichtweisen geraten müssen, bei denen gerade nicht die Ansammlung von Wissen, sondern dessen aktive Konstruktion und Reflexion im Vordergrund stehen. Ein Beispiel für fachspezifische implizite Theorien sind Vorstellungen von Lehrkräften über die Mathematik, wie sie z.B. im Rahmen von TIMSS/III bei Lehrkräften erhoben wurden (Baumert, Bos & Lehmann, 2000a, 2000b). Dort spricht man von epistemologischen Überzeugungen oder vom mathematischen oder naturwissenschaftlichen Weltbild. Eine fundierte und zugleich knappe Darstellung des theoretischen Hintergrundes und der Messbarkeit solcher Weltbilder findet sich bei Köller, Baumert und Neubrand (2000). Aus der Unterrichtsforschung weiß man, dass Lehrkräfte zur Bewältigung ihres Berufsalltages eine ganze Reihe von Gewohnheiten entwickeln, die schon nach wenigen Jahren als Handlungsketten fest im Verhaltensrepertoire aufgehen, also nicht mehr bewusst eingesetzt
werden, sondern weitgehend automatisch ablaufen. Ihnen wohnt eine stabilisierende Tendenz zur Selbstverstärkung inne: Sofern nicht etwas sehr Ungewöhnliches und Erschütterndes passiert, werden sie kontinuierlich eingesetzt. Ohne Feedback seitens der Schülerinnen und Schüler, in einer noch immer vorherrschenden individualistischen Berufskultur von Lehrkräften, ohne Verständigung über Unterricht und Unterrichtsprobleme unter Kollegen, von gemeinsamer Unterrichtsvorbereitung und -durchführung ganz zu schweigen, wird sich hieran auch wenig ändern (Wahl, 1991, 2002). Grewe (2007, S. 35) weist aus neurophysiologischer Perspektive auf eine weitere Schwierigkeit hin, nämlich auf den gravierenden Unterschied zwischen Neulernen und Umlernen: „Anders als beim Erwerb einer ganz neuen Kompetenz verfügen Lehrkräfte bereits über sehr differenzierte Strukturen des deklarativen und prozeduralen Wissens, wenn sie sich zu einer Fortbildung anmelden[. .. ]. Neue Fortbildungsinhalte, die sich in der Praxis auswirken sollen, müssen also nicht nur in bereits bestehende Wissensbestände (deklaratives Wissen) eingefügt werden, sondern in viele vorhandene, weitgehend automatisierte Handlungs- und Reaktionsmuster (prozedurales Wissen) integriert werden. Da beide Wissensteile in unterschiedlichen Regionen gespeichert werden und zwischen ihnen kein ,update' stattfindet, ist es ganz normal, dass ein neues Wissen oder eine neue Einstellung sich nicht automatisch auf das konkrete Handeln auswirkt. Hierzu müssen weitere Lernschritte erfolgen, die weitaus schwieriger sind als die Ansammlung von neuen Informationen." (S. 335)
Deshalb erscheint es unabdingbar, bereits während der Lehrerausbildung subjektive Theorien zu thematisieren und sie im Rahmen von Lehrveranstaltungen und Lehrproben zu rekonstruieren. Fischler (2001) hat gezeigt, dass für diese Zwecke die Verwendung von Videodaten einen großen Gewinn bietet: Lehrkräfte, die unmittelbar nach Abschluss einer Unterrichtsstunde mit 316
Unterrichtsentwicklung
Ausschnitten ihres videografierten Unterrichts konfrontiert werden (stimulated recall), haben einen besseren Zugang zu ihren Überlegungen während des Unterrichtshandelns als bei bloßen Fragen oder bei der Verwendung von Tonbändern. Die Stabilität von subjektiven Theorien stellt alle Bemühungen um Veränderung des Unterrichts vor immense Schwierigkeiten und muss bei der Planung von Maßnahmen mit einkalkuliert werden. Ein Unterrichtsentwicklungsprogramm, das nicht den enorm starken Einfluss von impliziten Theorien und Verhaltensgewohnheiten ausdrücklich in die Planung mit einbezieht, muss zwangsläufig scheitern - oder es wird lediglich oberflächliche Effekte haben; Lehrkräfte führen z.B. verstärkt Kleingruppenarbeit mit dem Ziel der Ermutigung von Selbständigkeit durch, geraten aber in Schwierigkeiten mit konfligierenden Verhaltensgewohnheiten (z.B. Eingreifen in die Gruppenarbeit bei minimalen Schwierigkeiten). Die Änderung alleine der Oberflächenstruktur ihres Unterrichts kann nicht nachhaltig wirken. Für die Unterrichtsentwicklung in der Schule folgt daraus zweierlei: Zum einen wäre es angesichts des komplexen Wirkungsgefüges unterschiedlicher Facetten von Lehrerpersönlichkeit, Unterrichtsqualität und -quantität naiv zu hoffen, das Drehen an einer einzigen Stellschraube (z.B.: „Erhöhe den Zeitanteil von Gruppenarbeit um das Dreifache!") allein wäre Erfolg versprechend. Zum anderen brauchen Programme der Unterrichtsentwicklung viel Zeit und einen langen Atem, und zwar aus mehreren Gründen: ~ Voraussetzung für die Änderung eigener Lehrmethoden und Verhaltensgewohnheiten ist de-
ren Diagnose, sei es in Form einer Befragung, der gemeinsamen Verständigung in der Fachkonferenz, wechselseitiger Hospitation oder reflexiver Unterrichtsdiskussion im Kollegium. Stagnation und Scheitern, Unzufriedenheit und Ungeduld müssen von vornherein mit einkalkuliert werden, damit im Falle des Falles ein stützendes Netzwerk zur Verfügung steht. ~
Veränderungen des eigenen Unterrichts sollten nicht gewaltsam und überstürzt, sondern eher behutsam erfolgen, weil sich die Lehrkraft andernfalls (wie auch die Schülerinnen und Schüler und möglicherweise auch die überraschten Eltern) damit überfordert. Dies alles vorzubereiten und zu überwachen geht nicht von heute auf morgen, sondern braucht viel Zeit und Geduld.
6.2.2.2 Motivation
Die Binsenweisheit, dass jedes zielgerichtete Verhalten motiviert ist, trifft selbstverständlich auch auf die Veränderung des eigenen Unterrichts zu. Wenn Sie als Lehrkraft oder als Schulleitung erreichen möchten, dass in Ihrem Kollegium nachhaltige Anstrengungen in Richtung Unterrichtsentwicklung unternommen werden, dann ist es lohnenswert, sich einmal in die Perspektive der angesprochenen Kolleginnen und Kollegen zu versetzen. Warum eigentlich sollten sie die damit verbundene Mühe und Unsicherheit freiwillig auf sich nehmen, vom zusätzlichen Zeitbudget ganz zu schweigen? Die Antwort ist: Sie werden es dann - und nur dann - bilanzierend erwägen, wenn es sich für sie „lohnt", das heißt, wenn der erwartete Gewinn höher ausfällt als die zu befürchtenden Kosten. Dies entspricht einem Grundgesetz der Motivationspsychologie, nämlich dem Prinzip der Anstrengungskalkulation: Nichts geht ohne einen ausreichenden Anreizwert. Wenn Unterrichtsentwicklungsanstrengungen dazu führen, dass mehr Zeit geopfert wird, mehr 317
Ein Rahmenmodell
Sorgen auftreten, neue Ängste aufkommen - bei ungewisser oder fehlender Erfolgsaussicht, dann werden solche Initiativen gar nicht erst unternommen oder bald wieder eingestellt. Die Bilanz von Kosten und Gewinn (cost benefit analysis) muss positiv sein. Basierend auf der Befragung von Lehrerkollegien (Stichprobe: 336 Lehrkräfte) zur Einführung des schulischen Qualitätsmanagements im Rahmen des Modellversuchs QuabS gibt Tenberg (2002) hierzu eine sehr pessimistische Einschätzung: „Einerseits skeptisch, ob der Ansatz (von schulischem Qualitätsmanagement) überhaupt etwas bringt, andererseits überzeugt, dass er mit Aufwand und Arbeit verbunden ist, bleibt eine Lehrerin bzw. ein Lehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit genau in jener Abwartehaltung, welche sich schon im Zusammenhang mit der passiven Informationshaltung angedeutet hat. Damit besteht die Gefahr einer ungünstigen Beeinflussung der kollegialen Mitarbeit im Schulentwicklungsprozess: Anstelle von Motivation und Interesse könnten Gehorsam und Pflichterfüllung treten. Rückblickend auf die Schulentwicklung der vergangenen Jahrzehnte ist leider festzustellen, dass Lehrerinnen und Lehrer gewohnt sind, regelmäßig mit schulischen Neuerungen konfrontiert zu werden, sie sind es jedoch auch gewohnt, diese ebenso regelmäßig an sich vorbeigehen zu lassen. " (S. 6)
Das von Tenberg benannte Problem einer sehr geringen Wirkungserwartung ist ein fundamentales motivationales Problem: Wenn die Bilanz von handlungsfördernden und -blockierenden Motiven negativ ausfällt, entfallen alle potenziell weiterführenden Aktivitäten so lange, bis die Anreizstruktur verändert ist. Darüber hinaus dürfte es häufig vorkommen, dass sich Lehrkräfte gegenüber neuen Entwicklungen abgeschottet haben und deswegen „immun" gegenüber Veränderungsimpulsen sind.
Reflexionsaufgabe 82: Gewinn der Unterrichtsveränderung
A ~
Verluste kommen eher in den Sinn und liegen auf der Hand. Worin könnte der subjektive Gewinn einer lnfragestellung und Veränderung des eigenen Unterrichts bestehen?
6.2.2.3 Weitern individuelle Bedingungen Professionelles Selbstverständnis: Sind Gefühle der Verpflichtung zu gutem Unterricht ent-
sprechend den Standards der Profession und der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, den Eltern und den Schülerinnen und Schülern nur schwach ausgeprägt, dann dürften entsprechende Appelle weitgehend wirkungslos verhallen. Es handelt sich hier um eine sehr wichtige personale Bedingung. Subjektiver Leidensdruck: Eine Lehrkraft, die mit sich und ihrem Unterricht rundum zufrie-
den ist, wird naheliegenderweise keine besondere Motivation verspüren, sich an Maßnahmen der Unterrichtsentwicklung zu beteiligen. Warum auch? Bereitschaft zur Selbstreflexion: Unterrichtsveränderung ohne die Bereitschaft, sich selbst -
jedenfalls partiell - infrage zu stellen, dürfte ein aussichtsloses Unterfangen sein. 318
Unterrichtsentwicklung
Bereitschaft zur Kooperation: Rein theoretisch könnten die Lehrerinnen und Lehrer ihren eige-
nen Unterricht verändern, ohne jegliche Absprachen und ohne Einbettung in übergreifende Kooperationsabkommen. Praktisch dürfte dies jedoch außerordentlich schwierig, um nicht zu sagen aussichtslos, sein. Wichtige Instrumente der Unterrichtsentwicklung wie gemeinsame Unterrichtsvorbereitung, wechselseitige Hospitation, Teamteaching und microteaching erfordern per definitionem ein erhebliches Maß an Kooperation, die auf der Basis einer (jedenfalls in Deutschland) noch weitgehend individualistischen Sichtweise, die durch Abschottung gekennzeichnet ist, keineswegs als gegeben vorausgesetzt werden kann. Unterrichtsentwicklung fördern heißt somit auch: im Kollegium das Bewusstsein fördern, dass Kooperation nötig ist, sich lohnt und auch Spaß macht. Weitere individuelle Bedingungen, deren Ausprägung darüber entscheiden kann, ob Informationen über Unterricht genutzt werden, sind die Akzeptanz von Evaluation, das bereichsspezifische Vorwissen der Lehrkraft (insbesondere im Bereich Pädagogische Diagnostik), ihre Motive und Bedürfnisse, das Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten und ganz besonders: die Stabilität von Gewohnheiten. 6.2.3 Soziale und institutionelle Bedingungen 6.2.3.1 Sc:hulentwic:klung und Unterrichtsentwicklung
Der Fokus dieses Kapitels liegt zwar auf der Unterrichtsentwicklung - eine von der Schulentwicklung ganz losgelöste Durchführung von Vorhaben der Unterrichtsentwicklung ist jedoch weder sinnvoll noch chancenreich. Zu Aspekten der Schulentwicklung gibt es eine Vielzahl von Stellungnahmen, Sichtweisen und Vorschlägen, aber nur wenige umfassende Ansätze. Ein Gesamtkonzept zum systematischen Zusammenwirken unterschiedlicher Elemente, das Qualitätsentwicklung mit Gesundheitsentwicklung integriert, liegt nunmehr in Gestalt eines Handbuches von Brägger und Posse (2007) vor. Das zweibändige Werk trägt den Titel „Instrumente für die Qualitätsentwicklung und Evaluation (IQES). Wie Schulen durch eine integrierte Gesundheits- und Qualitätsförderung besser werden können". Band 1 ist ein Führer durch die Qualitätslandschaft. Die Autoren entwickeln ein Modell, dem drei Grunddimensionen guter Schule zugrunde liegen: gute Leistungen und Ergebnisse, gute Prozesse in Lernen, Unterricht und Schule sowie Gesundheit und Wohlbefinden. Um diese Ziele zu erreichen, bedarf es der simultanen Arbeit in mehreren Qualitätsbereichen: Unterrichtsentwicklung, ~
kooperatives Lernen,
~
Kompetenzen der Lernenden fördern und beurteilen, qualitäts- und gesundheitsorientierte Schulführung, ressourcenorientierte Personalentwicklung,
~
gemeinsame Qualitätsziele, Qualitätskonzept, Feedback und Selbstbeurteilung,
~
Evaluation der Schulentwicklung.
319
Ein Rahmenmodell
Je besser die Arbeit in diesen zehn Bereichen aufeinander abgestimmt ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Unterrichtsentwicklung Rückenwind erhält und dass entsprechende Aktivitäten auf einen fruchtbaren Boden fallen. Band 2 beschreibt vierzig Qualitätsbereiche, die mit Schlüsselindikatoren und Umsetzungsbeispielen beschrieben werden, und zwar in den Bereichen • Unterricht, • Schule als Lebens- und Erfahrungsraum, Bildungs- und Lernprozesse, Schulkultur und Schulklima, • Schulführung, • Professionalität und Personalentwicklung, Qualitätsmanagement der Schule, • Wirkungen und Ergebnisse der Schule. Der für dieses Kapitel interessante Bereich „ Unterricht" umfasst die Abschnitte: Schulprogramm - Gesundheitsförderung und Prävention als Programmschwerpunkt
• wirksame Schulprogrammarbeit, • gesundheitsbezogenes Curriculum, Bewegungs- und Sportkonzept. Unterrichtsgestaltung, Lehr- und Beurteilungsformen
• individualisierende Unterrichtsgestaltung, • differenzierte Prüfungs- und Beurteilungspraxis. Klassenführung und Unterrichtsklima
• lernförderliches Unterrichtsklima und effiziente Klassenführung, • Bewältigung von Disziplinproblemen. Lernbegleitung, Förderung und Integration
• individuelle Lernbegleitung und Förderung, • Integration von lernbehinderten und leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern, • Sprach- und Leseförderung für alle. Gesundheitsbezogene Kurse, Unterrichtsprogramme und -inhalte
• Integration gesundheitsbezogener Inhalte in den Unterricht, • Bedeutsamkeit und lebensweltlicher Bezug der Inhalte, Handlungs- und Erfahrungsorientierung als gesundheitsförderliche Unterrichtsprinzipien: Beispiel Ernährung, Bewegungsförderung in Schule und Unterricht, Wahrnehmungsförderung, Stressbewältigung und Entspannung, • Umgang mit der eigenen Körperlichkeit. Ein anderes, ebenfalls integratives Konzept liegt dem von Klippert (2008) entwickelten Programm PASS
(~rogramm
zur
~usbildung
von §_chlüsselkompetenzen und §_chülerselbsttätig-
keit) zugrunde, das in vielen deutschen und österreichischen Schulen eingesetzt wird. Der Fokus dieses Programms ist klar der Unterricht. Dabei wird zu Recht deutlich gemacht, dass Unterrichtsentwicklung Hand in Hand gehen muss mit einer Methodenklärung auf Schulebene und mit einem wirksamen Innovationsmanagement, das Konferenz- und Workshop320
Unterrichtsentwicklung
arbeit ebenso umfasst wie Elternarbeit, Öffentlichkeitsarbeit, Stundentafeln, Lehrereinsatzplanung und dessen Dreh- und Angelpunkt die schulinterne Lehrerfortbildung ist. 6.2.3.2 Unterstützung durch die Schulleitung
Die Schulleitung spielt bei der Initiierung und Aufrechterhaltung von Programmen der Unterrichtsentwicklung eine Schlüsselrolle, sowohl in ideeller Hinsicht als auch dadurch, dass Prinzipien des Lernens am Modell und des Verstärkungslernens wirksam werden. Entsteht bei Kollegen, die zur Unterrichtsentwicklung aufgefordert werden, der Eindruck, dass die Schulleitung selbst nicht konsequent dahintersteht, dass sie Unterrichtsentwicklung nur halbherzig (etwa weil es die Schulaufsicht oder der Schulelternbeirat fordern) betreibt oder dass es sich um bloße Lippenbekenntnisse handelt - dann dürfte ein ganz wesentlicher Motor der Unterrichtsentwicklung in einer Schule entfallen. Zugleich setzen Schulleitungen auch Rahmenbedingungen (oder gestalten sie mit), die für die Unterrichtsentwicklung entscheidend sein können, z.B. die Installation und aktive Förderung von Fachkonferenzen, die Organisation gemeinsamer Freistunden bei der Stundenplangestaltung etc. 6.2.3.3 Evahrntionskultur und Innovationsklima
Schulen unterscheiden sich erheblich voneinander, was die Wertschätzung und Förderung von Evaluation anbelangt. In manchen Schulen sind Leistungsmessung, Schülerfeedback zum Unterricht und andere Formen der Selbstevaluation eine Selbstverständlichkeit, in anderen Schulen finden sich Vorbehalte, Ängste, Abwehr und Tabus. In dem Umfang, in dem sich in einem Kollegium die Anschauung durchsetzt, dass die Schule für die unterrichtlichen und erzieherischen Wirkungen verantwortlich ist und dass deshalb Maßnahmen der Evaluation nötig und unverzichtbar sind, ist zugleich eine entscheidende Bedingung für Aktivitäten der Unterrichtsentwicklung gegeben. Neben der Evaluationskultur ist auch von Bedeutung, ob die Schule eher durch ängstliches Beharren auf traditionellem Unterricht oder durch die Bereitschaft gekennzeichnet ist, Neues zu erproben und dabei durchaus auch Risiken (des Scheiterns) einzugehen. Auch hier dürfte der Schulleitung eine Schlüsselrolle zufallen. Es gibt Kollegien, in denen sich in puncto Unterrichtsentwicklung viel bewegt, wo erprobt, ausgetauscht, experimentiert wird. Und andere, bei denen das Gegenteil der Fall ist. Bekannt geworden sind in diesem Zusammenhang die beiden folgenden Sprüche (gefunden bei Feindt, Fichten & Meyer, 2006): „Sage mir, was du willst, und ich sage dir, warum es nicht geht." (ein aktiver Unterrichtsentwickler über das Klima in seinem Kollegium) „Alle sagten, das geht nicht. Dann kam eine, die das nicht wusste, und hat's gemacht." 6.2.3.4 Kooperation innerhalb des Kollegiums
Auf diese ist bereits mehrfach hingewiesen worden, siehe Kapitel 6.2.3.4. Insbesondere die Fachkonferenz kann ein entscheidender Motor der Unterrichtsentwicklung sein. Allerdings: Prinzipiell (wenn auch schwierig und wenig aussichtsreich) sind einige Aktionen und Initiativen (z.B. mit Schülerfeedback in der eigenen Klasse zu beginnen) auch für Einzelpersonen möglich. Mit anderen Worten: Die Einschätzung, Unterrichtsentwicklung sei leider nicht mög321
Ein Rahmenmodell · Modelle und Szenarien
lieh, da die Kollegen nicht mitziehen, kann Alibicharakter haben. Die Dynamik kann ja auch so aussehen, dass einer alleine erst mal anfängt - und dass sich dann ein Sogeffekt einstellt. 6.2.3.5 Verankerung im Schulprogramm oder Schulprofil
Aus Symbolgründen und zur Selbstverpflichtung kann das Bekenntnis zu einem Schulprogramm der Unterrichtsentwicklung vorteilhaft sein. Bedingung ist dabei, dass a) der Unterricht wirklich im Zentrum des Schulprogramms steht und dass b) das Programm verpflichtend gemacht wird, also deutlich über deklamatorische Äußerungen hinausgeht. Der Verbindlichkeitscharakter kann darin bestehen, dass konkrete Zielvereinbarungen getroffen und spezifische Maßnahmen geplant werden und dass Evaluation vorgesehen wird. Gerade Letztere stößt jedoch noch auf erhebliche Widerstände und Skepsis, wie Haenisch und Burkard (2002) als Ergebnis ihrer qualitativen Studie zu den Gelingensbedingungen von Schulprogrammarbeit in NRW zeigen: Einerseits fehlt es an Handwerkszeug und Know-how für die Gestaltung von Evaluation und die Notwendigkeit von Evaluation wird oft überhaupt nicht gesehen. Andererseits ist eine Morgenröte in Sicht: Die Bundesländer legen zunehmend Wert auf ein Schulprogramm, das im Alltag lebendig wirkt und den Unterricht (der auch Gegenstand von Evaluation sein soll!) als Kerngeschäft im Blickfeld hat. Bei aller Notwendigkeit, den systemischen Zusammenhang von Unterricht, Personal und Organisation zu beachten, deutet sich jedoch - nach TIMSS und PISA verstärkt - ein erfreulicher Trend an, den Unterricht in das Zentrum von Schulprogrammen zu stellen. Exemplarisch sei hier die Position von Riecke-Baulecke (2001) aus dem „Schulleiter-Handbuch" (Band 100/2001) zitiert:
Das zentrale Evaluationskriterium für die Schulprogrammarbeit ist nicht beliebig aus der einen oder anderen pädagogischen Auffassung abzuleiten, sondern aus dem in den Schulgesetzen definierten Auftrag von Schule: „Wird die Wirksamkeit von Bildungs- und Erziehungsprozessen vor allem im Kernbereich von Schule, dem Unterricht, mit Hilfe eines Schulprogramms gesichert bzw. verbessert? (S. 7) Wer jedoch beabsichtigt, Schule nicht bloß zu ,entwickeln', sondern Bildung und Erziehung wirksamer zu gestalten, der muss sich den Prozessen zuwenden, die Schule maßgeblich prägen. Die wichtigsten schulischen Bildungs- und Erziehungsprozesse finden im Unterricht - ob es nun geschlossener oder offener, fachbezogener oder fächerübergreifender ist- statt: Unterricht ist die zur Zeit absolut dominante Form schulischen Lernens. (S. 30) Kriterium für erfolgreiche Schulentwicklung - kann nicht sein, dass eine Schule über ein Schulprogramm verfügt, Budgetautonomie und partizipative Führungsstrukturen usw. besitzt. Al/einiges oder ausschlaggebendes Kriterium ist ebenso nicht, dass die Schülerinnen und Schüler Spaß an der Schule haben und die Lehrerinnen und Lehrer ihren Beruf mit großer Zufriedenheit ausüben [. . .]. Die Frage ist vielmehr, ob durch bestimmte Entwicklungsvorhaben der Schule auch die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler gefördert werden, ob durch das Schulprogramm[. .. ] tatsächlich die Wirksamkeit von Bildung und Erziehung der Schülerinnen und Schüler gesichert bzw. verbessert wird. (S. 16) Kasten 48: Den Unterricht in das Zentrum des Schulprogrammes stellen! (Riecke-Baulecke, 2001)
322
Unterrichtsentwicklung
Es kann gar nicht deutlich genug gesagt werden, dass Schulprogramme etc. kein Selbstzweck sind, sondern sich ausschließlich dadurch legitimieren, dass sie den Unterricht und letztlich das Lernen verbessern! 6.2.3.6 Wertschätzung durch Schulaufsicht, Eltern, Verbände
Erhält ein DE-Programm Rückenwind und Unterstützung durch die Schulaufsicht, wird es von den Eltern und ihren Vertretern sowie von Lehrer- und Schulleiterverbänden und regionalen Institutionen, zum Beispiel den „ Bildungsregionen", konstruktiv begleitet, dann sind dies weitere förderliche Rahmenbedingungen. Durch Absprachen und frühzeitige Informationen lassen sich unter Umständen solche günstigen Konstellationen wenn nicht schaffen, so doch positiv beeinflussen. 6.2.3.7 Wertschätzung durch die Schülerinnen und Schüler
Dies dürfte eine der entscheidenden Bedingungen sein, denn eine erfolgreiche Unterrichtsentwicklung ohne ein Mindestmaß an positivem Lehrer-Schüler-Verhältnis bzw. gegen die Schüler - oder über ihren Kopf hinweg -ist umso schwerer vorstellbar, je älter die Schüler sind und je mehr Mitsprache und Schülerfeedback zum Unterricht als normal und selbstverständlich angesehen werden.
6.3 Modelle und Szenarien 6.3.1 Professionelle Lerngemeinschaften
Das Konzept der professionellen Lerngemeinschaften (PLG) findet in der Schul- und Unterrichtsentwicklung immer mehr Befürworter. Brägger und Posse (2007) bringen es wie folgt auf den Punkt: „Aktuelle Leitbilder zum Lehrberuf gehen davon aus, dass Lehrpersonen neben der kontinuierlichen Praxisreflexion auch die gemeinsame Schul- und Unterrichtsentwicklung verstärken müssen. Das bedeutet, dass ,die Mitglieder eines gesamten Kollegiums in Kooperation eine gemeinsam verantwortete Gestalt von Schule entwerfen und verwirklichen'. Die gewachsene Vielfalt an - externen und internen - Ansprüchen und Erwartungen an die Schule lässt die isolierte Berufsausübung (ich und meine Klasse) auch in der Schulrealität definitiv als überholte Lösung erscheinen. In Bezug auf die Unterrichtsentwicklung steht seit einigen Jahren das Konzept der ,Professionellen Lerngemeinschaften' im Zentrum der Diskussion, hinsichtlich der Schulentwicklung ist es die Notwendigkeit einer Arbeitsorganisation, die von möglichst allen Schulbeteiligten mitverantwortlich getragen und gestaltet wird. Die Bezeichnung ist mit Bedacht gewählt: Professionell heißt, dass die Absicht besteht, kontinuierlich das jeweils aktuelle praktische und theoretische Standardwissen im Lehrberuf anzuregen. Da die Ausbildung sie ohne abschließendes Professionswissen in den Beruf entlässt, ist für Lehrpersonen ,das fortwährende Lernen eine vitale Funktion'; und die verbindliche Zusammenarbeit von Professionellen im Sinne des kollegialen Lernens macht aus ihnen eine Gemeinschaft, ein Team. Jedenfalls sind PLG nicht identisch mit der gesamten Schule, sie sind intermediäre Organisationen zwischen der Einzelschule als Betrieb und den einzelnen Lehrpersonen, sie sind fach- und lerngruppenorientiert mit einem klaren Fokus auf der Verbesserung des Unterrichts."
323
Modelle und Szenarien
Strittmatter (2006) skizziert Professionelle Lerngemeinschaften wie folgt: „Auftragsbezogen lernen: Das Lernen der PLG orientiert sich am Kernauftrag: Erfüllung des Lehrplans, Auftrag zur Schulentwicklung, Kriterien guten Unterrichtens, wirksame Förderung der lernenden. ~
Suchbewegungen Richtung state of the art: Auch wenn in der Pädagogik - anders als in andern Professionen anerkannte Standards vielfach fehlen, ist doch die Suchhaltung charakteristisch für PLG. Entwicklung und Verwendung einer Fachsprache: Auch wenn in der Pädagogik eine anerkannte Fachsprache fehlt, können sich PLG zumindest lokal dank definierter Begriffe schnell und eindeutig verständigen.
~
Reflektiertes Erfahrungswissen schaffen: In PLG verarbeiten Lehrpersonen ihre Alltagserfahrungen in legitimes Handlungswissen, indem sie sie durch Feedback und Dialog reflektieren, verdichten und eichen. Eigenerfahrung und externes Expertenwissen gleichermaßen würdigen: Solcherart gewonnene Eigenerfahrung wird in PLG mit Expertenwissen konfrontiert, selbstbewusst verglichen und angereichert.
~
Kultur des neugierigen Lernens voneinander und füreinander: Eine Kultur des Sich-Öffnens und der Neugier kennzeichnet die PLG, was den Erfahrungsaustausch ebenso betrifft wie die Weitergabe von Unterrichtsmaterialien - und dies in fixen, strukturierten Zeitgefäßen unter Beachtung von vereinbarten Spielregeln.
~
Ressourcen einfordern und gut verwalten: Professionelle fordern die für solches Wissensmanagement notwendigen Ressourcen selbst- und betriebsbewusst ein, legen über deren Verwendung aber auch Rechenschaft ab." (S. 5 f.)
6.3.2 Gemeinsame Unterrichtsvorbereitung
Es besteht kein Zweifel daran, dass die gemeinsame Planung ein geeignetes Werkzeug zur wechselseitigen Information und Abstimmung sowie für die Entwicklung von Unterricht einschließlich der Überprüfung der Wirksamkeit solcher Entwicklungsprozesse ist. Es ergeben sich nicht nur vielfältige Möglichkeiten der Aufteilung in Kleingruppen, sondern aus Ideenvielfalt resultiert auch mehr Kompetenz und Abwechslung im Unterricht und eine differenziertere Beobachtung des Gruppengeschehens. Trotzdem führt die gemeinsame Unterrichtsvorbereitung in deutschen Schulen ein Schattendasein, wie z.B. die Studien MARKUS in Rheinland-Pfalz (Helmke et al., 2002b) sowie DESI zeigten (siehe Kapitel 4), ganz anders als z.B. in der Schweiz (Halfhide, Frei & Zingg, 2002).
Englisch (DESI) Deutsch (DESI)
HS
RS
IGS
GY
ges.
Gemeinsame Unterrichtsvorbereitung
3
4
-
-
2
Gemeinsame Unterrichtsdurchführung
-
2
-
-
1
Gemeinsame Unterrichtsvorbereitung
16
5
21
1
8
Gemeinsame Unterrichtsdurchführung
4
1
5
-
2
Tabelle 9: Prozentanteile (auf ganzzahlige Werte aufgerundet) von Lehrpersonen in der Sekundarstufe 1(9. Klasse), die zumindest gelegentlich (ein paar Mal pro Monat oder häufiger) den Unterricht gemeinsam vorbereiten oder durchführen (Projekt DESI der KMK) 324
Unterrichtsentwicklung
Die Studie MARKUS zeigte: Im Fach Mathematik kommt eine gemeinsame Unterrichtsvorbereitung lediglich im Bildungsgang Hauptschule bei einem nennenswerten Teil von Lehrkräften
vor, während es eine gemeinsame Durchführung von Unterricht praktisch nicht gibt (Helmke et al., 2002a, S. 364 f.). Noch ungünstiger fiel das Ergebnis der für Deutschland repräsentativen Studie DESI aus, was die Verbreitung von gemeinsamer Unterrichtsvorbereitung und -durchführung anbelangt. Tabelle 9 berichtet separat für die vier Bildungsgänge, wie viel Prozent der Lehrkräfte die jeweilige Organisations- oder Kooperationsform mindestens ein paar Mal pro Monat realisieren. In dieser Tabelle sind die Bildungsgänge wie folgt abgekürzt: HS (Hauptschule), RS (Realschule), IGS (Integrierte Gesamtschule) und GY (Gymnasium). Wenn der Englischunterricht überhaupt gemeinsam vorbereitet wird, dann am ehesten noch in der Realschule. Steinert, Hartig und Klieme (2008) weisen darauf hin, dass es verschiedene Niveaustufen der Lehrerkooperation in Schulen gibt, die eine unterschiedliche Qualität und ein unterschiedliches Niveau der Verbindlichkeit aufweisen: vom Austausch von Materialien über fachinhaltliche, fachdidaktische bis hin zu diagnostisch-methodischer Kooperation (S. 423). Diese Sachlage steht übrigens ganz im Gegensatz zu einigen bei TIMSS und PISA erfolgreichen Ländern wie z.B. Japan, in denen unterrichtsbezogene innerschulische Kooperation eine Selbstverständlichkeit ist (vgl. Schümer, 1999; Schubert, 1999; Rohlen & Björk, 1998). Worauf dieses Defizit zurückzuführen ist, ist unklar. Sind es die fehlenden Modelle und Lerngelegenheiten während der Lehrerausbildung? Ist es das Mehr an zeitlicher Belastung, das durch die Vorteile nicht aufgewogen wird? Sind es die Ängste vor Fremdbewertung, Gesichtsverlust und Bedrohung des Selbstwertgefühls? Liegt es an mangelnder Unterstützung durch Schulleitung, Schulaufsicht und Eltern?
Reflexionsaufgabe 83: Teamteaching im Schulalltag Welche Rolle spielen gemeinsame Unterrichtsvorbereitung und -durchführung in Ihrer Schule? Was könnte, was müsste man ändern, um die Kooperation bei der Unterrichtsentwicklung zu fördern?
6.3.3 Kollegiale Hospitation
Es gibt eine Menge Gründe dafür, dass - über die gemeinsame Vorbereitung des Unterrichts hinaus - auch die gemeinsame Unterrichtsbeobachtung und -analyse ein wichtiges Werkzeug für die Diagnose und Verbesserung des eigenen Unterrichts ist. Leuders (2001) nennt z.B. folgende Gründe: ~
„Lehren Lernen in direkter Konfrontation mit realem Unterricht ist effektiver als die gemeinsame Reflexion über hypothetischen oder tatsächlichen, aber nicht erlebten Unterricht.
~
Es gibt viele unterrichtsrelevante, aber nur schwer kommunizierbare Details: Handlungsroutinen, Körpersprache, Kommunikationsverhalten etc.
325
Modelle und Szenarien
Der Perspektivwechsel erlaubt über den distanzierten Blick auf andere einen Blick auf sich selbst. Als Beobachter ist man vom Handlungszwang entlastet, kann mehr Einzelheiten des Unterrichtsgeschehens wahrnehmen und hat größere Freiräume für Reflexion. ~
Man kann aus jedem Unterricht vielfältige Anregungen für die eigene Praxis mitnehmen. Die Vielfalt der Persönlichkeiten und Unterrichtsstile ist eine ergiebige Quelle für Impulse, die man ansonsten nach abgeschlossener Ausbildung nicht wieder erhält.
~
Die Unterrichtsbeobachtung und deren Vor- und Nachbereitung erfordern eine Auseinandersetzung mit didaktischen und methodischen Grundfragen und sind Bestandteil einer Schulentwicklung, die auf der Ebene des einzelnen Lehrers und der einzelnen Lehrerin ansetzt.
~
Unterrichtsbeobachtung bedeutet die direkte Beobachtung der Lehrkraft bei der alltäglichen Ausübung ihres Berufs. Ein solches Verfahren wird auch als Supervision bezeichnet. Die Vorbehalte, die der Supervision entgegengebracht werden, beschränken sich nicht allein auf die negativen Konnotationen des Begriffs (Supervision
= Überwachung = Kontrolle),
sondern sind vielfach auch auf schlechte Erfahrungen mit externer Supervision
zum Zwecke der Leistungsüberprüfung zurückzuführen. Sie sind ein Grund dafür, dass die Supervision in Deutschland als Methode der Entwicklung von Unterrichtsqualität so gut wie keine Bedeutung hat." (S. 227)
Reflexionsaufgabe 84: Supervision und Intervision
A ~
Decken sich Ihre Erfahrungen mit Supervision (und Intervision) mit denjenigen, die im Zitat von Leuders geschildert werden? Welche Bedingungen müssen aus Ihrer Sicht gegeben sein, damit Supervision gelingt?
Auch in der Schulentwicklungsforschung wird das große - und bisher viel zu wenig genutzte - Potenzial der kollegialen Unterrichtshospitation als ein wichtiges Werkzeug eingeschätzt (Altrichter, Messner & Posch, 2004; Altrichter & Posch, 2007). Horster und Rolff (2001) sehen in ihrem Buch „ Unterrichtsentwicklung" einen Schlüssel für die Evaluation und Verbesserung des Unterrichts im Feedback auf der Grundlage von gegenseitigen Unterrichtsbesuchen der Lehrkräfte. Basierend auf ihren eigenen mannigfachen Erfahrungen und den Vorschlägen von Klippert (2000) machen sie konkrete Vorschläge:
Gruppengröße: Kollegiale Hospitationszirkel sollten aus etwa drei Lehrpersonen bestehen, die sich gegenseitig
in jedem ihrer beiden Fächer innerhalb eines (halben?) Jahres einmal besuchen. Dies führt zu einer überschaubaren Anzahl von Terminen: Jedes Mitglied eines Hospitationszirkels erhält zwei Besuche und führt vier Besuche durch. Organisation: Die zeitliche Planung der Besuche sollte von den Mitgliedern des Hospitationszirkels innerhalb des
gesetzten Zeitraumes dezentral organisiert werden. Hierdurch werden Stundenplanprobleme minimiert.
326
Unterrichtsentwicklung
~>
Fachbezug: Es ist nicht erforderlich, dass sich Lehrpersonen gleicher Fächer zu einem Hospitationszirkel zusam-
menfinden. Es kann eine wichtige Erfahrung sein, dass es auch über das jeweilige Fach hinaus Wichtiges zu beobachten und zu besprechen gibt und dass sich Professionalisierung nicht auf Fragen der Fachdidaktik beschränkt. Zusammensetzung: Die Bildung der Hospitationsgruppe kann durch Sympathiewahl erfolgen; dies sichert am
ehesten das notwendige Maß an Vertrauen und Offenheit. Aufgabe der Schulleitung: Die Schulleitung sollte sich darauf beschränken, die Anzahl der verabredeten Besu-
che einzuhalten; sie sollte sich jedoch nicht ohne Nachfrage des Kollegiums inhaltlich einbringen, um den kollegialen (d. h. hierarchiefreien) Charakter der Veranstaltungen nicht zu gefährden. Thematische Schwerpunkte: Die Fragestellungen, unter denen Unterrichtsbesuche und Unterrichtsnachbespre-
chungen stehen, können sich aus unterschiedlichen zusammenhängen und Interessen ergeben: (a) eine Lehrperson wünscht individuelle Rückmeldung zu einer sie persönlich interessierenden Frage; (b) eine Fachkonferenz hat im Zusammenhang mit der Einführung neuer Richtlinien die Erprobung neuer Aufgabenstellungen und Arbeitsformen verabredet; (c) im Rahmen der Arbeit am Schulprogramm sind pädagogische Leitsätze formuliert worden, von deren Praktikabilität sich das Kollegium einen Eindruck verschaffen möchte. Kasten 49: Vorschläge zur Bildung und Arbeitsweise von kollegialen Hospitationszirkeln (Horster & Rolff, 2001, S. 162 f.) 6.3.4 Beobachtungsaufträge für das kollegiale Feedback
Antworten auf die Frage, wie man das kollegiale Feedback für konkrete Beobachtungsaufträge nutzen kann, liefert IQES (Instrumente für die Qualitätsentwicklung und Evaluation in Schulen). Das von Brägger, Obrist und von Aesch 63 entwickelte Instrument „Beispiele von Beobachtungsaufträgen - Checkliste für das kollegiale Feedback in Unterrichtshospitationen") umfasst eine Checkliste mit insgesamt 29 möglichen Beobachtungsaufträgen, gruppiert danach, worauf der Fokus der Beobachtung liegen soll. Hier einige Beispiele: Beobachtungsauftrag mit Fokus Schülerinnen- und Schülerverhalten ~
Wie groß ist das Unterrichtsengagement der Schülerinnen und Schüler? Woran wird innere Beteiligung bzw. Desinteresse erkennbar? Beobachte die drei Schüler und Schülerinnen in der hintersten Bankreihe. Es gibt dort manchmal Störungen.
~
Woran erkennt man die Selbständigkeit der Jugendlichen? Gibt es Unterschiede? Gibt es unterstützende Verhaltensweisen von mir?
Beobachtungsauftrag mit Fokus Unterrichtsgestaltung ~
Wie lange warte ich, nachdem ich eine Frage gestellt habe? Wie viel Zeit lasse ich den Schülerinnen und Schülern, um eine Antwort zu finden? Zeit zum Nachdenken, Überlegen, Fragenstellen, zur Verarbeitung im Partnergespräch?
63 http://www.iqesonline.net
327
Modelle und Szenarien
~
Wie motiviere ich die Schülerinnen und Schüler? Wie hole ich sie ab? Woran merkt man, dass sie motiviert sind? Was hat das mit meinen Handlungen zu tun? Gehe ich beim Aufrufen der Schülerinnen und Schüler nach einem festen Ablauf vor? Gibt es Schülerinnen und Schüler, die ich besonders oft aufrufe, oder solche, die ich (fast) nie drannehme? Wie sind die Antwortmöglichkeiten verteilt? Wie oft nehme ich Schülerbeiträge auf und baue sie in den weiteren Verlauf des Unterrichts ein (z.B. indem ich die Frage oder das Lösungsbeispiel der Schülerin XY wieder aufgreife?)
Beobachtungsauitrag mit Fokus Lehrerverhalten ~
Wie wirke ich nonverbal (Gesten, Mimik usw.)? Habe ich bestimmte Angewohnheiten? Welche Körpersignale sende ich aus? Welche Verhaltensweisen zeigen Freundlichkeit, Wärme und Herzlichkeit?
~
Beobachte meine Stimme: Ist sie zu laut oder zu leise? Ist sie akustisch gut verstehbar? Spreche ich langsam/schnell, deutlich/undeutlich? Gibt es weitere Auffälligkeiten in der Stimme?
~
Wie reagiere ich auf Fehler und falsche Schülerantworten? Beobachtest du negative oder herabsetzende Reaktionen? Ungeduld?
6.3.5 Fokus Unterricht
Das von der PH Thurgau im Kooperation mit der Bildungsdirektion Zürich entwickelte Programm „Fokus Unterricht: Unterrichtsentwicklung durch Beobachtung" (Brosziewski & Maeder, 2007) ist ein Entwicklungsinstrument, das professionelle Beobachtung und Kommunikation über Unterricht zum Gegenstand hat. Ziel ist die Selbstreflexion über den eigenen Unterricht mit dem Ziel, ihn zu optimieren. Die bei Fokus Unterricht entwickelten Werkzeuge sind nicht auf kollegiale Hospitation beschränkt, sondern können auch der Selbstbeobachtung und der Beratung (Coaching) dienen. Ziel der Auswertung von Beobachtungsnotizen ist die Formulierung von sogenannten „Kernsätzen", d. h. Sachverhalten, die als besonders auffällig und wichtig wahrgenommen wurden. Beispiele aus der Arbeit (Brosziewski & Maeder, 2007): „Beispiel für die Dimension Beziehungen: Die Beziehungen sind stark von anregenden Appellen von mir (der Lehrkraft) geprägt; Beispiel für die Dimension Stoffe: Die Einrichtung des Lernateliers erzeugt Unruhe; Beispiel für die Dimension Zeit: Das vorgegebene Tempo zur Erarbeitung des Stoffes war gerade richtig." (S. 68 f.)
Das zur Verfügung gestellte Werkzeug (in Form von Arbeitsmappen, Beobachtungsrastern etc.) eignet sich jedoch auch ohne diesen theoretischen Unterbau zur Schulung der Wahrnehmung und für die Selbstreflexion.
328
Unterrichtsentwicklung
6.3.6 Gegenseitige Unterrichtsbesuche: Tandem-Modell
Stellvertretend für mehrere Projekte dieses Typs sei auf das Modell „Gegenseitige Unterrichtsbesuche nach dem Tandem-Arbeitsmodell in der Q-Gruppe" der Fachstelle für Schulentwicklung, Evaluation und Beratung (Leitung: H. Joss, P. Strahen) in Bern/Schweiz hingewiesen. 64 Es handelt sich um ein partnerschaftliches Fortbildungssystem mit klar definierter, zielgerichteter, selbstgesteuerter, beruflicher Partnerschaft, einem strukturierten Ablauf zur Gestaltung der kollegialen Weiterbildung und einer Anzahl von Methoden und funktionalem Handwerkszeug zur Unterstützung der partnerschaftlichen Lernprozesse. Der Ablauf umfasst typischerweise die folgenden Schritte: Zwei oder mehr Lehrkräfte besuchen sich während eines bestimmten Zeitraums gegenseitig im Unterricht. Sie beobachten den Unterricht gezielt und auftragsbezogen. Sie geben sich in professioneller Weise Rückmeldungen. Sie überlegen gemeinsam Schlussfolgerungen und setzen diese um. Eine interessante Weiterentwicklung des Individualfeedbacks über Unterricht mit dem Tandem-Modell gelingt dann, wenn es systematisch mit der Selbstevaluation und damit dem institutionellen Lernen der Einzelschule verbunden wird. Dies erreicht seit 1993 das FQS-Modell (!:örderndes oder !:ormatives gualitätsevaluations-§_ystem), dessen Initiator Anton Strittmatter ist. Methodisch-organisatorisch wird die Schnittstelle Individuum (Individualfeedback zum Unterricht) und Institution (systematische Unterrichtsentwicklung der Schule über Selbstevaluation) über die Qualitätsgruppen geschlossen. Jede Lehrperson nimmt an einer Q-Gruppe teil, die aus vier bis fünf Lehrpersonen besteht. Jede Q-Gruppe organisiert die gegenseitigen Unterrichtshospitationen, tauscht Erfahrungen aus und überlegt, welche dieser Erfahrungen und Reflexionen im gesamten Kollegium (CH: Konvent) kommuniziert werden und zu Maßnahmenplanungen führen sollen. Lehrpersonen aus den Q-Gruppen (aus jeder Gruppe nur eine) bilden zusammen mit der Schulleitung die sogenannte Steuergruppe, welche die Themen vorstrukturiert, die dann das gesamte Kollegium miteinander berät. Die Idee des FQS wurde von Fachberatern aus dem Regierungspräsidium Karlsruhe weiterentwickelt, organisatorisch „durchkomponiert" und gilt in Baden-Württemberg als ein Einstiegsmodell für die Selbstevaluation von Schulen. Es nennt sich QUS (_9ualitätsentwicklung in :Qnterricht und §_chule) und setzt wie FQS direkt bei der Unterrichtsentwicklung der Schule an.6s 6.3. 7 Die Methode „Szene-Stopp-Reaktion"
Eine aussichtsreiche Methode, wie man spontanes eigenes Unterrichtshandeln erleben und /
reflektieren kann, ist die Methode „Szene-Stopp-Reaktion". Wahl (2008, S. 94), der diese Me1
thode entwickelt und ausführlich untersucht hat, beschreibt sie wie folgt:
64 http://www.befaseb.de 65 http://www.qus-net.de
329
Modelle und Szenarien
„Das eigene unterrichtliche Handeln kann nicht nur in der wirklichen Praxis erlebt werden, es kann auch realitätsgetreu simuliert werden [. .. ]. Hierbei wird in Lehrveranstaltung oder Kurs eine Situation dargeboten. Dies kann über einen kurzen Videoausschnitt geschehen. Leider ist solches Material selten. Möglich ist auch eine anschauliche Schilderung, die mündlich oder schriftlich gegeben werden kann. Hohen Aufforderungscharakter hat das Anspielen einer Szene im Rollenspiel. Allen vier Formen (Video, Rollenspiel, mündliche Schilderung, schriftliche Schilderung) ist eines gemeinsam: Die Episode endet abrupt an einem vorgegebenen Punkt. Sobald die Szene stoppt, muss die entsprechende Person handeln. Dabei ist es ausdrücklich verboten, sich minutenlang mit der Reaktionswahl Zeit zu lassen und dann unverbindlich zu formulieren ,Hier würde ich ... ', ,Viel/eicht könnte ich hier ... '."
Wahl weist in diesem Zusammenhang auf die überragende Wichtigkeit des praktischen Erprobens neuer Handlungsalternativen hin: Dieser Schritt
„[. .. ] ist sicherlich der wichtigste von allen. Angeregt durch Vorsatzbildung und Erinnerungshilfen probieren alle Teilnehmenden die ausgearbeiteten und vorgeübten Handlungsalternativen aus. Günstig ist es dabei, die ersten Erprobungen in vereinfachten oder einfachen Situationen vorzunehmen, damit die Chance des Gelingens möglich hoch ist. Beispiele dafür sind Situationen, in denen man es nur mit einem Schüler oder mit wenigen Schülern zu tun hat (Nachhilfe-Situationen, Stützunterricht, Förderunterricht etc.). Erst später sollte man sich an Klassen heranwagen, die vielleicht schwierig sind, in denen der Unterricht häufig gestört wird oder in denen die Lehrer-SchülerBeziehung eher belastet ist." (S. 98) 6.3.8 Coaching
Im Konzept von West und Staub (2003) geht es um die Entwicklung von Handlungskompetenzen im Rahmen der Fortbildung von Mentoren für Praktikanten (Lehramtsstudierende, die ein Blockpraktikum in der Schule absolvieren) und/oder Betreuung von Lehramtstudierenden. Damit sind Strategien und Fertigkeiten gemeint, unterrichtsrelevantes Wissen dialogisch in die Beratung und Unterstützung einzubringen. Im Zusammenhang mit universitären Veranstaltungen werden best practice-Modelle und Videodokumente eigener Praxiseinsätze reflektiert und analysiert. Die dem Buch beigefügten CDs thematisieren das Coaching für verschiedene Zielgruppen: a) new teacher, b) experienced teacher und c) teacher leader. In einer neueren Arbeit (Kreis, Lügstenmann & Staub, 2008) erwies sich kollegiales Coaching als erfolgreich: „Die Frage, ob Lehrpersonen in den kollegialen Coachings ko-konstruktiv kooperierten und ob Innovationen in Bezug auf Unterrichtsgestaltung angeregt wurden, lässt sich in der Tendenz positiv beantworten: Rund drei Viertel der Befragten sprechen von mindestens teilweisen Veränderungen in ihrem Unterricht im Kontext von kollegialem Coaching. Ko-konstruktive Kooperation in der Planungsphase des Unterrichts ermöglicht es, individuell auf die Kinder und die Lehrperson abgestimmte Innovationen einzuführen, wobei wir mit Innovationen etwa die Einführung von neuen Ideen zur Gestaltung von Unterricht, wie beispielsweise individualisierte Lernziele oder offene, problemorientierte Aufgaben im Mathematikunterricht, meinen. Im komplexen und anforderungsreichen, von einer Lehrperson allein zu bewältigenden Unterrichtsalltag ist es anspruchsvoll, bewährte Formen durch möglicherweise mit Risiken verbundene Neuerungen zu ersetzen. Gleichzeitig ist zu vermuten, dass Lehrpersonen nur jene Neuerungen in ihr Handlungsrepertoire aufnehmen, von denen sie erfahren haben, dass sie mit ihrer Klasse funktionieren und einen
330
Unterrichtsentwicklung
Gewinn mit sich bringen. Die coachende Lehrperson stellt in der Planung und während des Unterrichts eine zusätzliche Ressource dar und kann in der Erprobung neuer Formen oder Vorgehensweisen entlastend wirken. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass keine Lehrperson angibt, als Coach nicht von der Zusammenarbeit profitiert zu haben. Wenn das gesamte Team sich dazu verpflichtet, den relativ offenen Ansatz des kollegialen Unterrichtscoachings als Maßnahme zur Qualitätsentwicklung aufzugreifen, scheinen alle Lehrpersonen - auch jene, die gegenüber Kooperation als Ko-Konstruktion kritisch eingestellt sind - Lerngewinne zu erzielen. Die Analyse der berichteten Inhalte von Coachingbesprechungen zeigt, dass die Lehrpersonen auch gezielt über Optimierungen sprechen. Für die Hospitationen vor Beginn der Intervention wird dieser Inhalt nicht genannt. Diesbezüglich scheint der Grundsatz, die Unterrichtssequenz in geteilter Verantwortung zu planen und durchzuführen, eine zentrale Rolle zu spielen. Dass die Verantwortung von der coachenden und der gecoachten Lehrperson gemeinsam wahrgenommen wird, lässt offenbar größeren Spielraum für Dialoge über kritische Aspekte zu." (S. 41 f.) 6.3.9 Lesson Study
Ein ganz anderes Konzept ist die in Japan und China verbreitete institutionalisierte Kooperationsmethode der lesson study, oft auch research lesson genannt: Mehrere Lehrkräfte erarbeiten - entsprechend dem neuesten Erkenntnisstand der Fachwissenschaft, der Fachdidaktik und der Mediennutzung - gemeinsam „Musterstunden", die auch anderen Kollegen zur Ansicht und zur Diskussion zur Verfügung gestellt werden (vgl. Stigler & Hiebert, 1999). In China treffen sich die Mathematiklehrer spätestens alle 14 Tage für zwei Stunden, um an der Weiterentwicklung von Unterrichtseinheiten zu feilen (Paine & Ma, 1993; Shimahara, 1991). Die Lehrer sind hier den ganzen Arbeitstag in der Schule und können somit in der unterrichtsfreien Zeit neben dem Korrigieren von Arbeiten und der Kontrolle von Hausaufgaben miteinander kooperieren. Allerdings haben chinesische und japanische Lehrer auch ein niedrigeres Stundendeputat: Grundschullehrer haben in Japan nur 19, Sekundarschullehrer 15 Stunden zu unterrichten. Die Mehrzahl der japanischen Lehrer verlässt dennoch das Schulgebäude nicht vor 18 Uhr. Catherine Lewis zitiert japanische Lehrer: „Lesson Study develops the eyes to see children." Und: „lt is really about learning how children are learning." (Lewis, 2002, S. 27) Grundlagen sind zudem Erkenntnisse der pädagogischen Psychologie der letzten Jahrzehnte: Lernen ist ein Prozess aktiver Konstruktion, deshalb muss neben den Inhalten und dem Lehren das Lernverhalten der Lerner stärker fokussiert werden. Es ist seit langem bekannt, dass professionelles Reflektieren zur Förderung von Expertise beiträgt. In den USA ist vor allem unter den Begriffen Learning Community und Community of practice (Lave, 1991) die hohe Wirksamkeit gemeinsamen systematischen und professionellen Handelns und Reflektierens belegt. Nach den Erfolgen des japanischen Unterrichts gerade im Elementarbereich beginnt dieses Konzept sich auch anderswo, insbesondere in den USA, zu etablieren. Dort wird es wie folgt beschrieben: 66
66 Lesson Study Group at Mills College, http://lessonresearch.net/
331
Modelle und Szenarien
,,In Lesson Study teachers: ~
think about the long-term goals of education - such as love of learning and respect for others; carefully consider the goals of a particular subject area, unit or lesson (for example, why science is taught, what is important about levers, how to introduce levers);
~
plan classroom „research lessons" that bring to life both specific subject matter goals and lang term goals for students; and carefully study how students respond to these lessons - including their learning, engagement, and treatment of each other."
In Deutschland hat das Konzept der lesson study ebenfalls zu einem interessanten Konzept der Kooperation von Lehrerinnen und Lehrern geführt, das im folgenden Abschnitt beschrieben wird. 6.3.10 Kooperative Lern(er)beobachtung und Unterrichtsentwicklung
Das Konzept KLUQ (Kooperative Lern( er)beobachtung und Unterrichtsentwicklung- Qualitätsentwicklung an Schulen) wurde von Peter Koderisch in Anlehnung an das japanische lesson
study-Konzept entwickelt. Der Autor, Fachberater für Unterrichtsentwicklung im Regierungspräsidium Freiburg, skizziert es wie folgt: 67 „KLUQ ist ein Konzept zur Unterrichtsentwicklung: kooperativ, auf Lern(er)verhalten fokussierend und in enger Verknüpfung mit der Qualitätsentwicklung der Schule. Von bekannten Konzepten zur Unterrichtshospitation und zum Feedback unterscheidet es sich in folgenden Kennzeichen: ~
Die systematische Unterrichtsentwicklung steht im Mittelpunkt.
~
Es besteht eine langfristige und intensive Kooperation der Kollegen.
~
Das Lernverhalten der Schüler wird fokussiert.
~
Unterrichtsentwicklung wird Thema der Qualitätsentwicklung der gesamten Schule.
~
Beobachter verstehen sich als lernende.
~
Dabei werden diagnostische, didaktische, soziale und selbstreflektive [selbstref/exive?]Kompetenzen der betei-
~
Die Schule unterstützt die KLUQ-Teams und erhält Daten und Impulse für ihre Qualitätsentwicklung.
~
Lehrer an der Schule und KLUQ-Teilnehmer außerhalb der Schule erhalten erprobte Unterrichtsmaterialien."
ligten Lehrer gefördert und lebendiges, anwendbares Wissen über Lernen und Lernverhalten erworben.
Grundlagen für das KLUQ-Konzept sind japanische, chinesische und US-amerikanische Erfahrungen mit lesson study (siehe voriges Kapitel). Im Laufe eines Schuljahres durchschreiten 3 bis 6 Lehrer einen KLUQ-Zyklus: Sie planen gemeinsam Lernziele und erarbeiten auf dieser Grundlage eine konkrete Stunde. Sie entwickeln Indikatoren für Beobachtungsaufträge und führen die Stunde durch. Ein Kollege hält die Stunde, die anderen und zusätzliche Gäste beobachten Lernverhalten. Am Nachmittag werden die Beobachtungen ausgewertet und Schlussfolgerungen gezogen. 67 http://www.kluq.de
332
Unterrichtsentwicklung
6.3.11 Virtuelle Hospitation
Mehr Kooperation im Allgemeinen und gemeinsame Unterrichtsvorbereitung, Hospitation, Teamteaching und andere kooperative Unternehmungen im Besonderen werden oft und gerne gefordert. Nur sieht die Praxis ganz anders aus. Die Studie MARKUS in Rheinland-Pfalz (Helmke & Jäger, 2002) hatte beispielsweise gezeigt, dass lediglich zwischen 26 Prozent (Bildungsgang Hauptschule) und 9 Prozent (Bildungsgang Gymnasium) der Lehrpersonen ihren Unterricht im Fach Mathematik gemeinsam vorbereiten. Hospitationen sind, verglichen mit der gemeinsamen Unterrichtsvorbereitung, noch seltener. Warum eigentlich? Nach unseren Erfahrungen sind es neben Zeitgründen vor allem auch psychologische Barrieren: Die Vorstellung, Kollegen könnten einem in die Karten schauen, man könne sich blamieren, ist angstbesetzt. Wenn es gelänge, den eigenen Unterricht Kollegen gegenüber zu öffnen, einen fremden Blick zuzulassen und selbst Einblick zu nehmen in die Unterrichtswelt des Kollegen, dann wäre dies ein Riesenschritt in Richtung Kooperation und Professionalisierung. Baumert meint hierzu: „Professionalisierung und Professionalität heißt, man besitzt eine Kasuistik, man besitzt eine Sprache, in der man in nicht verletzender Weise über die eigene Berufstätigkeit, das heißt über Fälle, über eigenen Unterricht reden kann, und dass man Unterricht aufmachen muss[. .. ]. Warum soll eine Lehrkraft nicht alle drei Monate eine Unterrichtsaufzeichnung mitbringen, die Schüler aufgenommen haben, und man bespricht sie in der Fachschaft?" (Zitat aus einer ZDF-Reportage vom 24. 03. 2002, nach PISA)
Mit virtueller statt „ Live" -Hospitation ist genau dies gemeint: ~
In einer Schule oder auch schulübergreifend verabreden Kollegen, ihren Unterricht wechelseitig aufzuzeichnen. Dazu wird ein inhaltlicher Fokus verabredet (z.B. Klassenführung, Umgang mit Migranten, Lehrersprache).
~
Jeder Teilnehmer steuert dazu ein Unterrichtssegment bei und entscheidet selbst, was er/ sie von sich preisgeben will. Die Bedrohung des Selbstwertgefühls durch befürchtete negative Kritik und Ansehensverlust kann auf diese Weise reguliert werden.
~
Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass es günstig (weil weniger selbstwertrelevant) ist, zunächst einmal mit weniger heiklen Themen zu beginnen, beispielsweise mit der Beobachtung von Schülerverhalten. Die Summe der so entstandenen Videosegmente ist der Korpus der video basierten „ virtuellen" Hospitation: einer systematischen, verhaltensbasierten Analyse des Unterrichts aus zeitlicher Distanz.
Wenn Schülerinnen und Schüler den Wunsch äußern, das fertige Video auch einmal zu sehen, dann kann das Videoprojekt zwanglos mit einem Schülerfeedbackprojekt verknüpft werden. Nach den Erfahrungen von Stadler (2005) ist es dabei günstig, strukturiert vorzugehen: „Lassen Sie Ihre Schüler/innen zunächst in Einzelarbeit folgende Fragen beantworten: Was fällt mir auf? Was soll so bleiben, was sich ändern? Bei mir selbst, an meinen MitSchüler/innen, bei der Lehrkraft. Stellen Sie in Gruppen die 333
Modelle und Szenarien
so gefundenen Positionen gegenüber und lassen Sie die Schüler/innen nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in ihren Antworten suchen. Die Ergebnisse dieser Arbeit werden im Plenum präsentiert. " (S. 7) 6.3.12 Study Groups und Videoclubs
Für die Fortbildung sind Lerngemeinschaften, die sich mit dem Ziel der Analyse und Verbesserung ihres Unterrichts zusammenschließen, z. B. study groups und Videoclubs, ein wichtiges Instrument der Professionalisierung. Petko et al. (2003, S. 278) bemerken hierzu: „Die gemeinsame Betrachtung der videografierten Lektionen hat zum Ziel, den eigenen Unterricht zu reflektieren und das videografierte Material zur Generierung neuer Ideen für die persönliche Unterrichtsgestaltung zu nutzen. Videodaten bilden einen Kristallisationspunkt der fachdidaktischen Verständigung über Unterrichtsprozesse und bauen eine Brücke über die Kluft zwischen didaktischer Theorie und Praxis." (S. 278)
Wichtig ist neben einer wissenschaftlichen Fundierung (theoretische Basis, empirischer Forschungsstand, konkrete Fragestellung, aus der sich die per Video zu überprüfenden Hypothesen ableiten lassen) vor allem, dass die wechselseitige Unterrichtsmitschau in einem Klima von hilfreicher, konstruktiver Kritik und einer unterstützenden Lernumgebung erfolgt. Ein bevorzugtes Handlungsfeld solcher Lerngemeinschaften ist die kollegiale fallbasierte Unterrichtsberatung (Dorlöchter, Krüger, Stiller & Wiebusch, 2004). Der einzige Nachteil dieser Strategie liegt in ihrer mangelnden Breitenwirkung und in einer gewissen Misswirtschaft, wenn man bedenkt, dass landes- oder bundesweit viele Tausende von Lehrkräften von gut gemachtem Unterrichtsvideomaterial profitieren könnten, dieses jedoch nur einem kleinen Zirkel zugute kommt. Diese Überlegung legt eine andere Form von Organisation nahe - nämlich webbasierte Datenbanken mit Videos zum Unterricht, die nicht anstelle, sondern zusätzlich zu schulinternen Lerngemeinschaften angeboten werden sollten. 6.3.13 Unterrichtsmonitoring
Gärtner (2007) hat ein Konzept entwickelt und empirisch überprüft, das er „ Unterrichtsmonitoring" nennt. Im Kern besteht es darin, dass sich ein schulinterner oder schulübergreifender Qualitätszirkel bildet, mit dem Ziel, sich über Ausschnitte des videografierten Unterrichts auszutauschen. Seine Studie ist schon deshalb bemerkenswert, weil sie zu den wenigen empirischen Arbeiten der videobasierten Unterrichtsentwicklung zählt, die nicht im Labor, sondern in der Schulwirklichkeit durchgeführt wurden. Neben den ermutigenden Ergebnissen wird bei der Beschreibung des Untersuchungsverlaufs auch deutlich, wie schwer es manchen Lehrpersonen fällt, über ihren eigenen Schatten zu springen und den Kollegen Ausschnitte aus dem eigenen Unterricht zur gemeinsamen Besprechung vorzulegen. Hier ein Auszug aus dem gleichwohl positiven Resümee des Verfassers (Gärtner, 2007): „Dauerhafte Veränderungen in Unterrichtsgeschehen zu erreichen ist schwer. Typische Fortbildungsmaßnahmen wie relativ kurze Workshops und Seminare zeigen dahingehend keine Wirkung. In dieser Arbeit wurde das Konzept des Unterrichtsmonitorings als ein gangbarer Weg der Unterrichtsentwicklung vorgestellt. Hierbei handelt es sich 334
Unterrichtsentwicklung
um einen fachspezifischen videobasierten Qualitätszirkel, in dem Lehrkräfte über ein Schuljahr hinweg regelmäßig zusammenarbeiten und eigene Unterrichtsaufzeichnungen diskutieren. Diese Videos sollen im Rahmen des Gruppensettings Reflexionsprozesse anstoßen und alternative Handlungsweisen im Unterricht aufzeigen. So können bisher unbewusste eigene Handlungsmuster erkannt und bearbeitet werden. Dies geschah bei monatlichen Gruppentreffen in Form eines kollegialen Feedbacks. Im Schuljahr 2004/5 nahmen sechs bzw. acht Mathematiklehrkräfte Berliner Schulen an zwei Qualitätszirkeln teil, weitere acht standen als parallelisierte Kontrollgruppe zur Verfügung. Ziel der Zusammenarbeit war die Einführung bestimmter Aspekte eines neuen Mathematik-Lehrplans. Die Ergebnisse zeigten auf Lehrerebene klare Effekte, u. a. eine Veränderung des Mathematikunterrichts in Richtung der im neuen Lehrplan geforderten Kriterien, wie z. B. einer neuen Aufgabenkultur oder der Verwendung neuer Formen der Leistungsbewertung. Des Weiteren veränderten sich die Überzeugungen der beteiligten Lehrkräfte über Mathematikunterricht in eine konstruktivistische Richtung [. . .]. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass diese selbstgesteuerte Form der Fortbildung effizienter als klassische Fortbildungsangebote ist und zudem den Mut steigert, auch weiterhin Neues auszuprobieren. Die generelle Anwendbarkeit des Konzeptes wurde bestätigt." (S. 215) 6.3.14 Microteaching
Damit bezeichnet man eine Methode des Unterrichtstrainings in der Ausbildung von Lehrern, bei der in kleinen Gruppen eng eingegrenzte Aufgabenstellungen (z.B. Vortragsverhalten, Einbezug aller Teilnehmer) in kurzen Übungssequenzen von durchschnittlich 15 Minuten bearbeitet werden. Jede Sequenz wird anschließend sorgfältig durchgesprochen, eventuell in den zentralen Punkten noch einmal durchgespielt, was entscheidend zur Effizienz der Methode beiträgt. Es geht also um das handelnde Einüben von Elementen des Lehrens auf einem Mikrolevel - z.B. den Erwerb spezifischer Skills wie Leitung von Gruppendiskussionen, Vorbeugung von und effizientes Umgehen mit Störungen etc. - und zwar außerhalb der Schulrealität, meist im Rahmen von kleinen Gruppen. Ein entscheidendes Element von microteaching ist das videobasierte Feedback. Dieses erfolgt entweder im Rahmen der Kleingruppe von Lehramts-
studenten oder gemeinsam mit einem Mentor oder Supervisor. Nach videobasierter Reflexion und Diskussion der gehaltenen Stunde wird die Stunde mit entsprechenden Änderungen noch einmal gehalten. Der damit verbundene Zyklus ist von Sherin (2004) ausführlich beschrieben worden. Ein Beispiel: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer beschreiben eine problematische schulische Situation, die anschließend mittels Rollenspiel dargestellt und videografiert wird. Dann werden die Aufnahmen in der Gruppe ausgewertet, Feedbacks ausgetauscht und neue Lösungen erarbeitet. Diese werden in einem Rollenspiel ausprobiert und wiederum aufgenommen. In der darauf folgenden Auswertung wird die Effektivität der neuen Lösungen reflektiert, und die Veränderungen werden diskutiert. Microteaching kann somit die Fähigkeit zur Wahrnehmung und Beobachtungsgabe aller steigern; durch die Videoauswertungen können neue pädagogische und fachliche Lösungsmöglichkeiten erlernt und ausprobiert werden. Klinzing (2002) hat darauf hingewiesen, dass sich das microteaching entgegen vielfacher teilweise auch berechtigter - Kritik im Großen und Ganzen sehr bewährt hat. In seinem Überblick über 35 Jahre Forschung fasst er die Ergebnisse wie folgt zusammen:
335
Modelle und Szenarien · Handlungstrainings
„Microteaching und dessen Weiterentwicklungen haben in einem ungewöhnlich reichen Bestand von Untersuchungen relativ konsistent positive Auswirkungen in Bezug auf die Aneignung von sozialen und unterrichtlichen Kompetenzen sowie Transferleistungen und Langzeitwirkungen gezeigt. Dies gilt sowohl für das „klassische" Microteaching (Training in Kleingruppen von Schülern) als auch für dessen weit weniger aufwendige Variante, das Training in Kleingruppen von Mittrainierenden (Peerteaching). Weiterhin ergibt sich aus dem Forschungsstand, dass mit der Verwendung des Verfahrens sowohl in der Aus- als auch in der Weiterbildung positive Resultate zu erwarten sind. Wenn nicht gerade Wunder von einem Trainingsverfahren erwartet werden, ist eine Integration von Microteaching und verwandten Verfahren in die Aus- und Weiterbildung von Personal interaktionsintensiver Berufe auch weiterhin zu empfehlen. Eine pessimistische Sicht der Effektivität dieser Verfahren, wie sie in einigen Stellungnahmen und Forschungsberichten verbreitet wird, hat eine nur geringe empirische Basis." (S. 208)
Wie ist es zu erklären, dass das microteaching in der Aus- und Fortbildung von Lehrpersonen trotzdem praktisch keine Rolle mehr spielt? Krammer und Reusser (2004) erklären diese Tatsache mit der behavioristischen Grundlegung: ,,frühere bzw. ältere Formen des Video-Einsatzes (z. B. Microteaching) waren noch stark einer behavioristischen Sicht von Lernen verpflichtet. Sie teilten die Grundannahme, dass die Komplexität der Lehr-Lern-Prozesse im Unterricht auf isolierbare Einzelfertigkeiten reduziert werden kann, welche angehende Lehrpersonen schrittweise einüben und deren Beherrschung sie mittels wiederholter Videoaufnahmen überprüfen können. Mit der kognitiven Wende in der (Pädagogischen) Psychologie veränderte sich die Sichtweise auf das unterrichtliche Handeln und auf die dazu erforderlichen Kompetenzen - und damit auch auf die Einsatzformen von Videos. Während unter behavioristischem Vorzeichen die Nachahmung oder Übung eines vorgegebenen und prädefinierten Zielverhaltens im Vordergrund stand, steht unter einer kognitionspsychologischen Sichtweise stärker die Frage nach Reflexion über pädagogisch produktiven und wirksamen Unterricht im Zentrum. Im Unterschied zur Imitation eines erwünschten Verhaltens zielt das Reflektieren über Unterrichtssituationen auf ein tieferes Verständnis von Lehr-Lern-Prozessen sowie den Aufbau produktiver und weiterführender didaktischer Kompetenzen. Eine Unterrichtssituation lässt sich dabei in Bezug auf vielfältige Aspekte untersuchen und bietet sich als Ausgangslage für die Diskussion über die Komplexität realer Unterrichtssituationen und die professionelle Tätigkeit von Lehrpersonen an. Das Vorzeigen von modellhafter Unterrichtspraxis (Best oder Good Practice) mit dem Ziel der Nachahmung birgt die Gefahr, dass die lernenden schematische Handlungsmodelle übernehmen, ohne Reflexion über und Bewusstsein für Lehr-Lern-Prozesse in ihrer Tiefenstruktur. Aus diesem Grund messen wir der vertieften Analyse und Diskussion von Unterrichtssituationen eine hohe Bedeutung bei für die Erweiterung des professionellen didaktischen Wissens und den Aufbau von wirksamen Verhaltensstrukturen. Eine solche Form des Lernens setzt Forderungen von aktuellen Ansätzen des situierten Lernens um und fußt in Vorstellungen des fallbasierten Lernens sowie des forschenden Lernens." (S. 39 f.)
Inzwischen zeichnet sich eine Renaissance des microteaching in der Lehrerausbildung ab, auch wenn der Begriff „microteaching" - vermutlich wegen der behavioristischen Konnotation nicht mehr verwendet wird, sondern als eine von mehreren Techniken (oder als ein Modul) im Rahmen von „Blended Learning" (Kombination von E-Learning und Präsenzveranstaltungen), „Microteaching!Multi-Feedback Training" und „Videogestützte Selbstreflexion und Feedback"
(Selbstkonfrontation, Coaching) umschrieben wird - siehe Petko und Reusser (2005). 336
Unterrichtsentwicklung
6.3.15 Einzelkämpfer - aussichtslos?
Durch die vergangenen Abschnitte hat sich wie ein roter Faden die Betonung der Wichtigkeit von Lehrerkooperation gezogen. Forschungsergebnisse und Erfahrungen sprechen eine klare Sprache: Rückhalt im Kollegium, wechselseitige Unterstützung, Teamarbeit fördern die Unterrichtsentwicklung. Heißt das umgekehrt, dass jeder Versuch einer einzelnen Lehrperson, ihren Unterricht zu verbessern, aussichtslos ist, dass individuelle Bemühungen um Unterricht obsolet sind? Hier ist ein verbreiteter Denkfehler zu konstatieren: die Verwechslung von förderlichen und notwendigen Bedingungen für die Verbesserung des Unterrichts. Natürlich ist es für die Unterrichtsdiagnose und nachfolgende Verbesserungen aussichtsreicher, erfreulicher und vor allem einfacher, wenn Rückenwind von der Schulleitung kommt, wenn es Unterstützung durch die Kollegen gibt, wenn die Klassen kleiner, das Lehrdeputat geringer und überhaupt der gesamte Berufsstress geringer wären. Zwischen der legitimen und realistischen Inrechnungstellung förderlicher Faktoren einerseits und einer resignativen und defaitistisch-fatalistischen Alibihaltung andererseits (Start eigener Aktivitäten erst bei Vorliegen allseits optimaler Rahmenbedingungen) liegt indes nur ein schmaler Grat. Plakativ könnte man sagen: Wer wirklich will, kann mit der Selbstvergewisserung, der Diagnose, Evaluation und Verbesserung des eigenen Unterrichts jederzeit - schon morgen - beginnen und damit für andere im Kollegium den Startschuss für kooperative Aktionen geben, und diese können unter Umständen durchaus auch zeitverzögert erfolgen. Vielleicht lassen sich andere anstecken und ziehen nach.
6.4 Handlungstrainings Eine indirekte, aber effiziente Möglichkeit, den Unterricht zu verbessern, besteht darin, zentrale unterrichtsrelevante Kompetenzen von Lehrkräften zu stärken. Gerade im deutschen Sprachraum gibt es eine Reihe theoretisch fundierter und empirisch vielfach bewährter Trainingsprogramme. Unter „Training" wird der Versuch verstanden, „durch zielgerichtete und regelmäßige Übung gewünschte Kompetenzen und/oder Handlungstendenzen aufzubauen, zu verbessern oder zu erhalten" (Bromme et al., 2006, S. 328). Dem Training des Lehrerhandelns ist auch ein Schwerpunktheft der „Zeitschrift für Pädagogik" (Heft 2/2002) gewidmet. Dort findet sich neben Beiträgen zum Konstanzer Trainingsmodell (Dann & Humpert, 2002; vgl. Kapitel 6.4.2) und zum Microteaching (Klinzing, 2002) auch ein Artikel von Havers und Toepell (2002), in dem ein ausführlicher Überblick über unterschiedliche Trainingsverfahren im Rahmen der Lehrerbildung („Training von Unterrichts- und Sozialkompetenz") gegeben wird: 68
~
Münchener Lehrertraining: Prof. Dr. Norbert Havers (Universität München);
~
Training kommunikativer Kompetenzen: Dr. Dietlinde H. Heckt (Technische Universität Braunschweig);
~
Konstanzer Trainingsmodell kompakt: Prof. Dr. Winfried Humpert (Rorschach, Schweiz) &Prof. Dr. HannsDietrich Dann (Universität Erlangen-Nürnberg);
68 Siehe dazu auch http://www.lehrertraining.de oder http://www.paed.uni-muenchen.de/atus/modelle.htm
337
Handlungstrainings
a
Training sozialer und beruflicher Kompetenzen: Prof. Barbara Jürgens (Technische Universität Braunschweig); Interagieren als Experimentieren: Training kommunikativer Fertigkeiten, Prof. Dr. Hans Gerhard Klinzing (Universitäten Tübingen und Stuttgart); Training zur Bewältigung sozialer Konfliktsituationen: Dr. Gabriele Krause (Technische Universität Braunschweig); Stressmanagement für Lehrerinnen und Lehrer: Prof. Dr. Rudolf Kretschmann (Universität Bremen); Lehrertraining zur Vermeidung und Bekämpfung von Schüleraggressionen: Dr. lrene Mayrhofer-Schällig (Erding); Pädagogisch-psychologischer Kurs für Studienreferendare: Dipl. Psych. Bernhard Meißner (Siebold Gymnasium Würzburg) et al.; ~
Gordon-Lehrertraining: Dr. Friedrich Ch. Sauter (Universität Würzburg).
Kasten 50: Übersicht aktueller Handlungstrainings für Lehrkräfte
Das Training des Lehrerhandelns kann aus verschiedenen Perspektiven und mit sehr verschiedenen Methoden erfolgen. So unterscheiden Bromme et al. (2006, S. 328 f.) vier verschiedene Ansatzpunkte (S. 327 f.): Bewältigung von Belastungssituationen: Dazu gehören Programme zum Stressabbau, Ent-
spannungstechniken wie Autogenes Training oder Progressive Muskelentspannung ~
Optimierung der Lernmotivation von Schülerinnen und Schülern: Hier wurden von Rhein-
berg et al. (2001) Trainingsprogramme entwickelt, die auf der Forschung zur individuellen Bezugsnormorientierung (Fokussierung auf individuelle Veränderungen über die Zeit anstelle sozialer Vergleiche) basieren; zu Programmen mit dem Ziel, die Lernmotivation zu steigern, siehe auch Brophy (2000) und Stipek (1996). ~ Förderung der sozialen Handlungskompetenz:
Hier liegt ein sehr breites Angebot von Leh-
rertrainings vor, von gruppendynamisch ausgerichteten Encounter-Gruppen über Sensitivity-Trainings oder Gordon-Trainings zur partnerorientierten demokratischen Konfliktlösung, bis hin zu Trainings zu non-direktiver, wertschätzender Interaktion in der Tradition von Rogers sowie Tausch und Tausch (Tausch, 2001). ~ Förderung der Unterrichtskompetenz:
Dies sind für das Ziel dieses Buches zweifellos die
wichtigsten Trainingsmethoden. Die erfolgreichsten Programme beziehen sowohl Aspekte des Verhaltenstrainings (in Präsentationen, mit Supervision und Feedback) als auch kognitive Komponenten (subjektive Theorien, reflective teaching) ein. Als besonders wirksam stellten sich Programme heraus, deren Training sowohl kognitive Komponenten (Stichwort: reflective teaching) als auch verhaltensorientierte Übungen umfasste. Ein Beispiel hierfür ist das kombinierte Lehrertraining von Kramis (1991). 6.4.1 Das Münchener Lehrertraining
Dieses von Havers (LMU München) entwickelte Training 69 umfasst den Umgang mit schwierigen Schülern, das Lehrerverhalten in kritischen Unterrichtssituationen sowie die Reflexion per69 http://www.paed.uni-muenchen.de/lehrertraining
338
Unterrichtsentwicklung
sönlicher Vorstellungen zum Lehrerberuf. Es besteht aus einem fünftägigen Trainingsseminar, das sich an Studierende der Lehramtsstudiengänge kurz vor dem Studienabschluss wendet; mit Sicherheit können aber auch Lehrkräfte von dem Material profitieren. Nachbefragungen ehemaliger Teilnehmer zeigten positive Langzeiteffekte für den wirksamen Umgang mit Disziplinproblemen und die Selbstreflexion des eigenen Unterrichts und der eigenen Rolle. Vom Bayrischen Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV) wurde dieses Programm 2001 mit dem ersten Preis (Förderpreis „Pädagogik innovativ") - für ein erfolgreiches und praxisadäquates Programm - prämiert (Havers, 1998a, 1998b). Der Illustration des Münchener Lehrertrainings dient eine sehr instruktive DVD mit Rollenspielen, Verhandlungsspielen, Nachbesprechungen und einem kleinen Booklet. Die DVD ist für 19,90 Euro erhältlich bei der LMU München. 70 6.4.2 Das Konstanzer Trainingsmodell
Eines der fundiertesten Programme ist das von der Forschungsgruppe Dann entwickelte Konstanzer Trainingsmodell (KTM). Das KTM wird als primär- und sekundärpräventives Programm seit 1987 im deutschsprachigen Raum eingesetzt, um die Selbst- und Sozialkompetenz von Lehrpersonen im Umgang mit aggressivem und störendem Schülerverhalten zu erhöhen. Zum Aufbau bereichsspezifischen Expertenwissens und -könnens liegt der Ansatzpunkt- unter Berücksichtigung systemischer Gesichtspunkte - sowohl auf der kognitiven Ebene (Optimierung subjektiver Theorien) als auch auf der Verhaltensebene (Einüben neuer Verhaltensmuster). Als Weiterentwicklung liegt inzwischen ein Kurztraining „KTM kompakt" vor (Dann & Humpert, 2002). Das Konstanzer Trainingsmodell ist ein Selbsthilfeprogramm für den Umgang mit Aggressionen und Störungen im Unterricht. Zwei Lehrkräfte derselben Schule bilden für die Dauer eines Schuljahres ein „Tandem", das sich gegenseitig helfen will. Unterstützt durch ein Trainingshandbuch (KTM-Ordner) analysieren die Tandems aktuelle problematische Unterrichtssituationen und planen selbständig den weiteren Trainingsverlauf. Hierzu sind insbesondere gegenseitige regelmäßige Unterrichtshospitationen vorgesehen. 6.4.3 Programme zum Classroom Management
Einen Eindruck von der Ernsthaftigkeit, mit der Fragen des Klassenmanagements im angloamerikanischen Sprachraum thematisiert werden, mag der folgende Überblick über die angebotenen Trainings-, Aus- und Weiterbildungsprogramme aus dem Kapitel „Research-based programs for preventing and solving discipline problems" geben (Freiberg & Lapointe, 2006):
Programme
Websites
Aggression Replacement Training
http://www. researchpress. com/producV item/5004/
Aggressors, Victims, and Bystanders: Violence Prevention
http://www.thtm.org/special.htm
:)
70 http://www.lmu.de/Unterrichtsmitschau
339
Handlungstrainings
~)
Al's Pals: Kids Making Healthy Choices
http://www. wingspanworks. com
Behavioral Monitoring &Reinforcement Program
http://www.colorado.edu/cspv/
Bullying Prevention Program
http://www. colorado. edu/cspv/blueprints/ model/programs/BPP.html
Child Development Project
http://www.devstu.org/cdp/
Classroom Organization and Management Program
http ://www. camp. arg
Community of Caring
http://www.communityofcaring.org/
Consistency Mgt. &Coop. Discipline
http://www.ed.gov/pubs/ToolsforSchools/ cmcd.html
High/Scope Perry Preschool Program
http://www.highscope.org
1Can Problem Salve
http://www.thinkingchild.com
The lncredible Years
http://www.incredibleyears.com
Learning for Life
http://www. learning-for-life. arg
Lions Quest
http://www.lions-quest.org
Open Circle
http://www.open-circle.org
Peace Works
http://www.peaceeducation.org/
Peaceßuilders
http://www.peacebuilders.com
PAL - Peer Assistance and Leadership
http://www.palusa.org
Peers Making Peace
http://www.paxunited.org/
Positive Action
http://www. positiveaction. net
Positive Adolescent Choices Training
http://www.state.sc.us/dmh/schoolbased/ pact.htm http://www.researchpress.com/product/ item/4800/
Primary Project
http://www. childrensinstitute. net
Productive Conflict Resolution Program
http://www.schoolmediationcenter. arg
Project ACHIEVE
http://www.sopriswest.com
340
~i>
Unterrichtsentwicklung
a Promoting Alternative Thinking Strategies (PATHS)
http://www.prevention.psu.edu http://www.channing-bete.com
Resp. in Peaceful and Positive Ways (RIPP)
http://www.has.vcu.edu/RIPP
Responsive Classroom
http://www. responsiveclassroom. arg
School-wide Positive Behavior Support
http://www.pbis.org
Second Step: A Violence Prev. Curriculum
http://www.cfchildren.org/programs/ssp/ overview/
Skillstreaming the Adolescent
http://www.researchpress.com/product/ item/4954/
SMART Team: Students Managing Anger and Resolution Together
-
http://http://www.lmssite.com/SMARTteam. html
Social Decision Making & Prob. Solv. Prag.
http://www.ubhcisweb.org/sdm/
Teaching Students tobe Peacemakers
http://www. co-operation. arg
Violence Prevention Curriculum for Adolescents
http://www.thtm.org/special.htm
Auch im deutschen Sprachraum gibt es mittlerweile Trainings für Lehrpersonen, insbesondere was die Übung sozialer Kompetenzen für Schülerinnen und Schüler angeht. Zumeist sind diese Trainings aus dem Angloamerikanischen angeregt oder übersetzt (z.B. Faustlos, Fit for Life, Streitschlichterprogramme und Anti-Mobbing-Trainings bis hin zum Trainingsraum-Modell/ Arizona-Modell). Weitere Hinweise auf Programme, die die Förderung sozial kompetenten Verhaltens und den Abbau aggressiven Verhaltens zum Gegenstand haben, geben Wild, Hofer und Pekrun (2006, S. 265 f.).
6.5 Literaturempfehlungen Es gibt inzwischen eine Reihe neuerer Publikationen zur Unterrichtsentwicklung: nach Horster und Rolff (2001) inzwischen auch Bastian (2007), Meyer, Feindt und Fichten (2007b, 2007a) sowie Rolff (2007) - und dort vor allem Kapitel 8 ( „ Unterrichtsentwicklung als Schulentwicklung"). Dazu kommt das Gesamtwerk von Klippert, dessen Fokus die Unterrichtsentwicklung ist (z.B. 2000, 2007), siehe auch das Schwerpunktheft der PÄDAGOGIK „ Unterricht evaluieren und entwickeln" (Heft 2/2007). Zum Lehrerverhaltenstraining gibt es den „Klassiker" (Mutzeck & Pallasch, 1983); weitere Übersichten stammen von Havers (Havers & Helmke, 2002; Havers & Toepell, 2002).
341
Videobasierte Unterrichtsforschung
7 Videografie des Unterrichts Im folgenden Abschnitt geht es um die Videografie als einer Methode zur Erfassung des Unterrichts. Sie erlaubt eine Verbindung von qualitativen und quantitativen Analysemethoden: z.B. ein Nebeneinander von globalen Urteilen über eine Unterrichtsstunde (oder über Episoden daraus) einerseits und Beschreibung auf einer niedriger gelegenen Analyseebene, z.B. Beobachtungen der Häufigkeit bestimmter Verhaltensweisen, andererseits. Dies sowie der ganzheitliche Charakter der Erfassung des Unterrichts - man muss sich bei der Videografie noch nicht endgültig auf eine Auswahl zu beurteilender Unterrichtsmerkmale festlegen - machen den Reiz und das Potenzial von Videoaufnahmen aus. Im Folgenden werden einige Stationen der Unterrichtsvideografie als Forschungswerkzeug nachgezeichnet, gefolgt von Vorschlägen zur Nutzung von Unterrichtsvideos in der Lehrerfortbildung. Am Ende befindet sich eine Übersicht nützlicher unterrichtsbezogener Websites und käuflicher Videos.
7.1 Videobasierte Unterrichtsforschung In der Unterrichtsforschung hat die Videografie des Unterrichts lange ein Schattendasein geführt. Bereits 1983 wurde im Rahmen der „Münchner Studie" (deutscher Beitrag zur Internationalen „Classroom Environment Study" der IEA) eine Intensivstudie zum Erwerb des Bruchbegriffs in 13 Klassen der 6. Klassenstufe durchgeführt. Dabei wurden sämtliche 13 x 5 Unterrichtsstunden videografiert und ausführlich analysiert (Grammelt, 1991; Weinert & Helmke, 1984). Obwohl die Qualität der Videobänder (Profi-Format „U-Matic") tadellos war, gestalteten sich die Durchführung und vor allem die Auswertungen aus technischen Gründen enorm umständlich und zeitraubend. Seit der 1995 in Deutschland, Japan und den USA durchgeführten bahnbrechenden TIMSVideostudie (Baumert et al., 1997b) beginnt sich in der Unterrichtsforschung ein Umschwung anzudeuten, der durch neue technische Möglichkeiten der Aufzeichnung, Speicherung und Auswertung von Filmmaterial begünstigt wird. Insbesondere der deutsche Beitrag zur TIMSVideostudie erwies sich als folgenreich. Der Nachweis typischer „Skripts" (zeitlicher Abfolgen, Sequenzen) des deutschen Mathematikunterrichts (Stichwort: Engführung des fragend-entwickelnden Unterrichtsgesprächs) hat zu einem bemerkenswerten Aufschwung der Mathematikdidaktik und zu vielfältigen Praxisprojekten geführt, von denen in erster Linie das Programm SINUS und sein Folgeprojekt SINUS-Transfer zu nennen sind. Besonders hervorzuheben ist hier die Forschungsgruppe um Kurt Reusser an der Universität Zürich, von der seit Jahren weltweit wichtige Impulse für eine Nutzung der Videografie sowohl für die Wissenschaft als auch für die Lehrerausbildung ausgehen (Reusser et al., 1998; Reusser, 2003, 2005; Reusser & Pauli, 2004). In deutscher Sprache erschienen u. a. Bücher von Aufschnaiter und Welzel (2001) und Welzel und Stadler (2005). Daneben gibt es Schwerpunkthefte zum Thema Videografie in der Schule, beispielsweise
342
Videografie des Unterrichts
„journal für lehrerinnenbildung", Heft 2/2005: „Videos in der Lehrerinnenbildung", Zeitschrift „SEMINAR - Lehrerbildung und Schule": Heft 4/2004: „Videogestützte Unterrichtsreflexion
III
Schwerpunktheft 2/2003: „Analyse von Unterrichtsvideos" der „Unterrichtswissenschaft", Schwerpunktheft 6/2006: „Videogestützte Unterrichtsforschung" der „Zeitschrift für Pädagogik". Der Videostudie TIMSS 1995 folgten weitere Videostudien des Unterrichts, insbesondere: ~
TIMSS 1999 (das Akronym steht seit 1999 nicht mehr für