Unternehmer und technischer Fortschritt: Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 1994 und 1995 [Reprint 2014 ed.] 9783486830224, 9783486562682

Aus dem Inhalt: Francesca Schinzinger und Bernd Nagel: Einleitung Kerstin Burmeister: Die Vorstellungen Joseph Alois

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German Pages 399 [400] Year 1996

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Table of contents :
Name und Anschrift der Referenten
Zur Einführung
Die Vorstellungen Joseph Alois Schumpeters vom dynamischen Unternehmer
Der “Technische Fortschritt”, Definition und Meßbarkeit
Unternehmer und Technischer Fortschritt in den Quellen von Wirtschaftsarchiven
Historischer Evolutionsbruch oder Evolutionsbeschleunigung - Die Pest-Pandemie des 14. Jahrhunderts als Faktor sozialwirtschaftlichen und technischen Wandels - Eine innovationstheoretische Deutung
Technischer Fortschritt und Innovatoren im deutschen Bergbau vor der Industrialisierung
Mikroelektonik, die verspätete Basisinnovation
“Theuerster Onkel!” Rudolf und Gustav Böcking in Briefen an Carl Friedrich Stumm 1833 - 1835. Zum Qualifikationswettbewerb der frühindustriellen Unternehmerschaft
Über die Forschungs- und Technologiepolitik der Europäischen Union
Der Beitrag Schumpeters zur Erklärung von Stabilität und Instabilität der sozio-ökonomischen Entwicklung: Dargestellt an der Wirtschaftsgeschichte der DDR
Werner von Siemens als internationaler Unternehmer
Unternehmer und technischer Fortschritt zu Beginn der Feinchemikalienindustrie
Technischer Fortschritt und Unternehmerverhalten am Beispiel der württembergischen Kammgarnspinnerei Merkel & Wolf 1830-1870
Vernachlässigter Fortschritt? Schwankende Akzeptanz technischer Innovationen durch Unternehmer
Die Bugsirgesellschaft »Union« (1873-1914). Aufstieg und Niedergang einer bremischen Schlepp- und Fährreederei
»zur persönlichen Befriedigung, wenn nicht gar aus Selbstsucht ...«. Wilhelm Merton und die »experimentelle Gewerbehygiene«
Technischer Fortschritt als Leitfaden oder als Stolperdraht für Unternehmerentscheidungen
Unternehmer und Innovation in der Bauindustrie
Personenregister
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Unternehmer und technischer Fortschritt: Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 1994 und 1995 [Reprint 2014 ed.]
 9783486830224, 9783486562682

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Unternehmer und technischer Fortschritt

DEUTSCHE FÜHRUNGSSCHICHTEN IN DER NEUZEIT

Band 20

Im Auftrag der Ranke-Gesellschaft Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben und des Instituts für personengeschichtliche Forschung herausgegeben von FRANCESCA SCHINZINGER (t)

©

Harald Boldt Verlag im R.Oldenbourg Verlag

Unternehmer und technischer Fortschritt

Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 1994 und 1995

herausgegeben von FRANCESCA SCHINZINGER (t)

©

Harald Boldt Verlag im R.Oldenbourg Verlag München 1996

Gedruckt mit Unterstützung der Industrie- und Handelskammer zu Aachen

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Unternehmer und technischer Fortschritt / hrsg. von Francesca Schinzinger. München : Boldt im Oldenbourg-Verl., 1996 (Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte ; 1994/1995) (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit ; Bd. 20) ISBN: 3-486-56268-1 NE: Schinzinger, Francesca [Hrsg.]; 1. GT; 2. GT

© 1996 Harald Boldt Verlag im R. Oldenbourg Verlag München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Gesamtherstellung: WB-Druck, Rieden ISBN 3-486-56268-1

VORWORT

Die 31. und 32. Büdinger Gespräche sind durch das Oberthema "Unternehmer und technischer Fortschritt" verbunden. Die Publizierung der Vorträge in diesem Band ist durch den plötzlichen und unerwarteten Tod der Herausgeberin, Frau Professor Dr. Francesca Schinzinger, im November 1995 überschattet. Von 1992 bis 1995 hat Frau Professor Schinzinger die Büdinger Tagungen mit großem Engagement organisiert und geleitet. Sie nahm seit vielen Jahren an den Büdinger Gesprächen teil, referierte dort mehrmals und wird den Teilnehmern dieses Kolloquiums nicht zuletzt wegen ihrer allseits beliebten und geschätzten Art, geprägt durch Menschlichkeit und Humor verbunden mit einer scharfen Intelligenz, in lieber Erinnerung bleiben. Frau Professor Schinzinger hat sehr viel an der Publizierung dieses Bandes gelegen. Mein Kollege, Dipl.-Kfm. Bernd Nagel, und ich haben ihre Büdinger Arbeit begleitet und es uns zur Aufgabe gemacht, die Edition dieses Bandes im Sinne von Frau Professor Schinzinger zu Ende zu bringen. Wir hoffen, daß uns dies gelungen ist. Erleichtert wurde uns dieses Vorhaben dadurch, daß Frau Professor Schinzinger uns - vielleicht über das übliche Maß hinaus - in ihre Arbeit eingebunden und mit uns anstehende Aufgaben diskutiert und beraten hat. Für dieses Vertrauen und diese Verantwortung bleiben wir ihr immer dankbar. Die Vollendung des Bandes unter den traurigen Umständen wurde durch Hilfe von mehreren Seiten erleichtert. Insbesondere möchte ich dem Verleger, Herrn Peter Boldt, dafiir danken, daß er uns in der schwierigen Phase des Ubergangs des Harald Boldt-Verlages in den Oldenbourg-Verlag mit Rat und Tat zur Seite stand. Mein Dank gilt auch der Familie von Frau Professor Schinzinger, die unbürokratisch die Durchführung der vorgesehenen Finanzierung dieses Bandes ermöglichte. Ohne diese menschliche Gesten wäre die Publizierung dieses Beitrags stark gefährdet gewesen. Auch 1994 und 1995 standen die Bündinger Gespräche traditionell unter der Schirmherrschaft der "Ranke-Gesellschaft, Vereinigung für Geschich-

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te im öffentlichen Leben e.V." und dem "Institut für personengeschichtliche Forschung". Diesen Institutionen sei herzlich gedankt. S.D. Fürst WolfgangErnst zu Ysenburg und Büdingen stellte, ebenfalls einer langen Tradition folgend, den "Krummen Saal" seiner Bibliothek im Büdinger Schloß zur Verfügung und schuf mit seiner Gastfreundschaft das unverwechselbare Ambiente der Büdinger Gespräche. Im Namen aller Teilnehmer möchte ich mich hierfür ganz herzlich bedanken. Dank schulde ich auch Herrn Dr. Klaus Peter Decker, der wiederum durch die Organisation einer Exkursion zu historischen Stätten der Region zum Gelingen der Tagung beitrug. Herrn Dipl.-Kfm. Bernd Nagel gilt besonderer Dank für die selbständige Anfertigung der Druckvorlage, die Erstellung des Personenregisters und die Vollendung der Einleitung zu diesem Band, die nur konzeptionell von Frau Professor Schinzinger vorlag. Die Beiträge der Autoren wurden wed6r inhaltlich überarbeitet noch wurde der Anmerkungsapparat angeglichen. Hiermit wurde analog zum vorherigen Tagungsband verfahren und den unterschiedlichen Forschungsrichtungen der Autoren Rechnung getragen.

Aachen, im März 1996

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Kerstin Burmeister

INHALTSVERZEICHNIS

Name und Anschrift der Referenten

Seite 11

Francesca Schinzinger ( f ) und Bernd Nagel Zur Einführung

13

Kerstin Burmeister Die Vorstellungen Joseph Alois Schumpeters vom dynamischen Unternehmer

23

Otfried Wagenbreth Der "Technische Fortschritt", Definition und M e ß b a r k e i t . . . . Evelyn Kroker Unternehmer und Technischer Fortschritt in den Quellen von Wirtschaftsarchiven Karl Georg Zinn Historischer Evolutionsbruch oder Evolutionsbeschleunigung - Die Pest-Pandemie des 14. Jahrhunderts als Faktor sozialwirtschaftlichen und technischen Wandels - Eine innovationstheoretische Deutung

33

45

67

Werner Kroker Technischer Fortschritt und Innovatoren im deutschen Bergbau vor der Industrialisierung

105

Walter Kaiser Mikroelektonik, die verspätete Basisinnovation

127 7

Toni Pierenkemper "Theuerster Onkel!" Rudolf und Gustav Böcking in Briefen an Carl Friedrich Stumm 1833 - 1835. Zum Qualifikationswettbewerb der frühindustriellen Unternehmerschaft

155

Günter Schuster Über die Forschungs- und Technologiepolitik der Europäischen Union

189

Margrit Grabas Der Beitrag Schumpeters zur Erklärung von Stabilität und Instabilität der sozio-ökonomischen Entwicklung: Dargestellt an der Wirtschaftsgeschichte der DDR

211

Wilfried Feldenkirchen Werner von Siemens als internationaler Unternehmer

245

Ingunn Possehl Unternehmer und technischer Fortschritt zu Beginn der Feinchemikalienindustrie

265

Gert Kollmer-v.Oheimb-Loup Technischer Fortschritt und Unternehmerverhalten am Beispiel der württembergischen Kammgarnspinnerei Merkel & Wolf 1830-1870

283

Hansjoachim Henning Vernachlässigter Fortschritt? Schwankende Akzeptanz technischer Innovationen durch Unternehmer

301

Christian Ostersehlte Die Bugsirgesellschaft »Union« (1873-1914). Aufstieg und Niedergang einer bremischen Schlepp- und Fährreederei

321

Heike Knortz »... zur persönlichen Befriedigung, wenn nicht gar aus Selbstsucht ...«. Wilhelm Merton und die »experimentelle Gewerbehygiene«

333

8

Hasso Freiherr von Falkenhausen Technischer Fortschritt als Leitfaden oder als Stolperdraht für Unternehmerentscheidungen

371

Otmar Franz Unternehmer und Innovation in der Bauindustrie

385

Personenregister

395

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NAME UND ANSCHRIFT DER REFERENTEN

Kerstin Burmeister RWTH Aachen, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Templergraben 55, 52062 Aachen Dr.-Ing. Hasso Freiherr von Falkenhausen Gtlnter-Quandt-Haus Seedammweg 55,61352 Bad Homburg v.d.H. Professor Dr. Wilfried Feldenkirchen Universität Erlangen-Nürnberg, Lehrstuhl für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte Findelgasse 7, 90402 Nürnberg Dr. Otmar Franz Vorsitzender des Vorstands der STRABAG AG Siegburger Str. 241, 50679 Köln (Deutz) Professor Dr. Margrit Grabas Universität des Saarlandes, Historisches Institut, Abteilung Wirtschafts- und Sozialgeschichte Gebäude 10, Im Stadtwald, 66123 Saarbrücken Professor Dr. Hansjoachim Henning Gerhard-Mercator-Universität - Gesamthochschule Duisburg Fachbereich 1, Fach Geschichte Lotharstr. 63,47057 Duisburg Professor Dr. Walter Kaiser RWTH Aachen, Lehrstuhl für Geschichte der Technik Kopernikusstr. 16, 52074 Aachen 11

Dr. Heike Knortz Institut für Gemeinschaftskunde / Wirtschaftslehre Pädagogische Hochschule Karlsruhe Bismarckstraße 10,76133 Karlsruhe Professor Dr. Gert Kollmer-v.Oheimb-Loup Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg Schloß Hohenheim (Osthof West), 70593 Stuttgart Dr. Evelyn Kroker Deutsches Bergbau-Museum, DMT-Forschungsinstitut für Montangeschichte Am Bergbaumuseum 28,44791 Bochum Dr. Werner Kroker Deutsches Bergbau Museum, DMT-Forschungsinstitut für Montangeschichte Am Bergbaumuseum 28,44791 Bochum Dr. Christian Ostersehlte Tettenborn 4a, 28211 Bremen Professor Dr. Toni Pierenkemper Johann Wolfgang Goethe-Universität, Historisches Seminar Senckenberganlage 31,60054 Frankfurt am Main Dr. Ingunn Possehl Merck KGaA, Finnenarchiv 64271 Darmstadt Dr. Günter Schuster Generaldirektor a.D. der Europäischen Kommission Höhenweg 32, 53127 Bonn Professor Dr. Otfried Wagenbreth Pfarrgasse 11,09599 Freiberg Professor Dr. Karl Georg Zinn RWTH Aachen, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre (Außenwirtschaft) und Institut für Wirtschaftswissenschaften Templergraben 64, 52062 Aachen 12

Zur Einführung VON FRANCESCA SCHINZINGER ( f ) U N D BERND NAGEL

Der Titel des vorliegenden Tagungsbandes kombiniert zwei Begriffe, die schon für sich betrachtet schwer zu konkretisieren sind. Was ist ein Unternehmer? Daß sich diese Frage nicht leicht beantworten läßt, wurde bereits im Büdinger Tagungsband über Christliche Unternehmer deutlich1. Dennoch verbindet man mit dem Titel des vorliegenden Tagungsbandes den Namen Joseph Alois SCHUMPETER. Dementsprechend bildete SCHUMPETERS Theorie vom dynamischen Unternehmer nicht nur den Ausgangspunkt der Vortragsreihe. Grundlegend ist der Beitrag von Kerstin BURMEISTER über Die Vorstellungen Joseph Alois Schumpeters vom dynamischen Unternehmer. Für SCHUMPETER ist der dynamische Unternehmer nicht Erfinder, sondern "[...] der wirtschaftliche Innovator par excellence"2, der aus dem technischen Fortschritt resultierende neue Kombinationsmöglichkeiten der Produktionsfaktoren erkennt und durchsetzt. Als nicht minder präzisionsbedürftig erwies sich der Begriff des technischen Fortschritts. Ausschlaggebend dafür ist nicht zuletzt die Ambivalenz des Fortschritt-Begriffs im allgemeinen und speziell in bezug auf die Technik. So macht Otfried WAGENBRETH in seinen Ausführungen unter der Überschrift Der "Technische Fortschritt", Definition und Meßbarkeit darauf

1

2

Vgl. SCHINZINGER, Francesca, Zur Einführung, in: Christliche Unternehmer. Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 1992 und 1993, (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit, Bd. 19, im Auftrag der Ranke-Gesellschaft Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben und des Instituts für personengeschichtliche Forschung hrsg. v. derselben), Boppard am Rhein 1994, S. 13ff.; vgl. zur Schwierigkeit der Konkretisierung des Unternehmerbegriffs auch JAEGER, Hans, Unternehmer, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto BRUNNER, Werner CONZE und Reinhard KOSELLECK, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 707-732, hier S. 707f. Ebenda, S. 723.

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aufmerksam, daß mit Fortschritten in der Technik, d.h. mit technischen Neuerungen nicht nur positive, sondern in der Regel auch negative Folgen verbunden waren und sind. Damit stellt sich zwangsläufig die zentrale Frage dieses Beitrags, nämlich, wie technischer Fortschritt angesichts seiner vielfältigen Erscheinungsformen und seiner komplexen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wirkungen definiert und gemessen werden kann. Wichtige Einblicke in den Zusammenhang von Unternehmertum und technischem Fortschritt öffnen ferner die Überlegungen von Evelyn KROKER zum Thema Unternehmer und Technischer Fortschritt in den Quellen von Wirtschaftsarchiven. Sie warnt vor der verbreiteten Fehleinschätzung, in den Wirtschafts- und Unternehmensarchiven seien technikgeschichtliche Quellen kaum vorhanden oder unterrepräsentiert. Zwar handelt es sich bei den Archiven der Wirtschaft um einen recht jungen Zweig im Rahmen des Archivwesens, doch halten deren Bestände einen reichhaltigen Fundus von Quellen bereit, ohne die sich zahlreiche noch offene Fragen hinsichtlich des Beitrags der Unternehmerschaft zum technischen Fortschritt kaum schlüssig beantworten lassen. KROKER stellt nicht nur unterschiedliche Typen von Wirtschaftsarchiven vor, sondern liefert darüber hinaus zahlreiche Hinweise zur Eingrenzung der vorhandenen Aktenbestände, die für eine derartige Untersuchung von besonderer Relevanz sind. Insofern stellen ihre Ausführungen einen wertvollen »Schlüssel« zu bisher unbeachtet gebliebenem Quellenmaterial dar. Daß technischer Fortschritt immer auch im Kontext der zeitgenössischen sozialökonomischen Rahmenbedingungen gesehen werden muß, zeigt der Beitrag von Karl Georg ZINN unter dem Titel Historischer Evolutionsbruch oder Evolutionsbeschleunigung - die Pest-Pandemie des 14. Jahrhunderts als Faktor des sozialwirtschaftlichen und technischen Wandels. Eine innovations-theoretische Deutung. Damit konzentriert sich ZINN auf eine Epoche des Umbruchs, die "[...] den fundamentalen Wandel der europäischen Gesellschaft im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit brachte."3 Das mittelalterliche Feudalsystem erlebte seinen Niedergang, und es entstand eine neue Koalition aus städtisch-kapitalistischen Schichten und autokratischen Landesfürsten. Femer setzte in dieser Zeit der wissenschaftlich-technische Aufstieg der abendländischen Kultur ein. In diesem Zusammenhang verweist ZINN auf die in der Literatur noch wenig beachtete These von Joseph NEEDHAM hin, daß Europa im 14. Jahrhundert das sowohl wissenschaftlich als auch technisch führende ZINN, Karl Georg, S. 67 im vorliegenden Tagungsband [Hervorhebung im Original]

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China zu übertreffen begann. Damit stellt sich für ZINN zwangsläufig die Frage nach den wesentlichen Weichenstellungen für den innovativen Aufbruch in Wirtschaft, Technik und Wissenschaft in jener Zeit. Herausragende Beachtung verdient in diesem Zusammenhang die Pest des 14. Jahrhunderts, bewirkte die pandemisch ausgreifende Seuche doch einen massiven Wandel der sozialökonomischen Verhältnisse und - daraus resultierend - eine Richtungsänderung der Technikentwicklung, die ZINN ausführlich untersucht. Darauf aufbauend setzt sich ZINN mit der Technikentwicklung im Mittelalter und während der beginnenden Neuzeit auseinander. In diesem Zusammenhang fragt der Verfasser auch nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen diesen frühen technikgeschichtlichen Phasen und der Industriellen Revolution. Ausgehend von den historischen Sachverhalten analysiert ZINN diese beiden zentralen Fragenkomplexe nicht aus der historiographischen, sondern aus wirtschafts- und innovationstheoretischer Perspektive, um auf diese Weise zu Erklärungen im Sinne von Ursache-Wirkungsbeziehungen zu gelangen. Werner KROKER untersucht in seinem Beitrag den technischen Fortschritt im deutschen Bergbau vor der Industrialisierung. Einleitend hebt er hervor, daß die 1556 in lateinischer Sprache erschienenen "Zwölf Bücher vom Berg- und Hüttenwesen" des Georgius AGRICOLA trotz einiger Einschränkungen die wichtigste Quelle repräsentieren, will man den technischen Fortschritt im Bergbau seit dem Beginn der Neuzeit nachvollziehen. Der Verfasser konzentriert sich damit auf eine Periode, die auf den ersten Blick durch eine weitgehende Stagnation auf technischem Gebiet gekennzeichnet war, in der andererseits jedoch einzelne Personen - allen voran Friedrich Anton VON HEYNITZ - sehr wohl innovativ wirkten. Zwar handelte es sich bei diesen Innovationen verglichen mit denen der späteren Entwicklung um eher punktuelle Erscheinungen, doch ändert dies nichts an ihrer produktivitätssteigernden Wirkung. Zur Charakterisierung und als Beleg für diese Tatsache präsentiert KROKER eine Reihe von Beispielen, die gleichzeitig als Kennzeichnimg der Kernbereiche bergbaulicher Technik dienen. Nicht minder deutliche Belege für den engen Zusammenhang von Unternehmertum und technischem Fortschritt finden sich in dem Beitrag Die Mikroelektronik - die verspätete Basisinnovation von Walter KAISER. In diesem verdeutlicht KAISER anhand der Mikroelektronik, daß es eine der wichtigsten Fähigkeiten der in der Technik handelnden Menschen ist, frühzeitig Grenzen bestehender Technik vorauszusehen und Möglichkeiten zu ihrer Überwindung auszuloten. Ausgehend von der Entdeckung des Transistoreffekts bis hin zu den aktuellen Bemühungen um die stetige Miniaturisie15

rang von integrierten Schaltkreisen zeigt KAISER die lawinenartigen Innovationsschtlbe in der Mikroelektronik auf. Dabei vermag er deutlich zu machen, daß sich sowohl der Transistor als auch der integrierte Schaltkreis zunächst fast ausschließlich bei militärischen Verwendern durchsetzen konnte. Im Gegensatz dazu konnten die Festkörperelektronik und vor allem die integrierten Schaltungen in den USA erst Ende der sechziger Jahre langsam in konsumnahe Produkte vordringen. Welchen Stellenwert Bildung für die Entwicklung von Unternehmen haben kann, macht der Beitrag von Toni PIERENKEMPER unter dem Titel "Theuerster Onkel!" Rudolf und Gustav Böcking in Briefen an Carl Friedrich Stumm 1833 - 1835. Zum Qualifikationserwerb der frühindustriellen Unternehmerschaft deutlich. Ansetzend bei den verwandtschaftlichen wie geschäftlichen Verbindungen der Familien BÖCKING und STUMM charakterisiert PIERENKEMPER zunächst die Bedeutung der Familie BÖCKING insgesamt und der beiden besonders hervorgehobenen Familienmitglieder Rudolf (18101871) und Gustav (1812 - 1893) im Umfeld der südwestdeutschen Eisenindustrie. Im Anschluß daran beschreibt PIERENKEMPER das Studium der beiden Brüder als systematische Vorbereitung auf unternehmerische Aufgaben im frühen 19. Jahrhundert, wobei ausführlich auf deren Studienplanung eingegangen wird, die in enger Abstimmung mit der Familie erfolgte. Schließlich stellt PIERENKEMPER in seinen Ausführungen Reisen als eine zentrale Möglichkeit der Informationsgewinnung von industriellen Unternehmern heraus, wobei er die Reisen von Rudolf und Gustav BÖCKING nach Oberschlesien zwischen 1832 bis 1835 besonders betrachtet. Dabei geht PIERENKEMPER vor allem der Frage nach, "[...] in welcher Weise die Briefe, die sie während dieser Reisen an ihren Onkel, den saarländischen Eisenindustriellen Carl Friedrich Stumm, geschrieben haben, mit zum Technologietransfer zwischen Oberschlesien und der Saarregion beigetragen haben."4 Daß staatlichen bzw. suprastaatlichen Institutionen bei der Durchsetzung des technischen Fortschritts bisweilen eine maßgebliche Rolle zukommt, verdeutlicht Günter SCHUSTER in seinen Ausführungen über Die Forschungs- und Technologiepolitik der Europäischen Union. Ausgehend von der Tatsache, daß die großen Mitgliedsstaaten der EG in den 50er und 60er Jahren einer gemeinschaftlichen Forschungs- und Technologiepolitik ablehnend oder gleichgültig gegenüberstanden, zeigt SCHUSTER nicht nur die Gründe für die sukzessive Abkehr von dieser Position auf, sondern auch die daraus resultierenden Anstrengungen, die sich u.a. in zahlreichen ForPIERENKEMPER, Toni, S. 155 im vorliegenden Tagungsband.

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schungsprogrammen der EG manifestieren. Dabei macht der Verfasser deutlich, daß die Erfolge dieser Programme, der fortbestehende Konkurrenzdruck gegenüber den USA und Japan sowie das für die europäische Zusammenarbeit freundliche Klima Mitte 1987 dazu führten, daß eine gemeinsame Forschungs- und Technologiepolitik in den EWG-Vertrag aufgenommen wurde. Konsequente Fortsetzung dieser Anstrengungen ist - so SCHUSTER - der im November 1993 in Kraft getretene Vertrag von Maastricht, der eine neue Phase fQr die gemeinschaftliche Forschungs- und Technologiepolitik einleitete. Ungeachtet der von SCHUSTER herausgestellten Bedeutung des Staates bei der Förderung des Unternehmers darf jedoch nicht übersehen werden, daß technischer Fortschritt nicht durch den Staat »verordnet« werden kann. Dies zeigt sich besonders deutlich am technischen Fortschritt in Zentralverwaltungswirtschaften, der verglichen mit dem in Marktwirtschaften bedeutend geringer ausfällt. In diesem Zusammenhang sei auf den Beitrag von Margrit GRABAS unter der Überschrift Der Beitrag Schumpeters zur Erklärung von Stabilität und Instabilität der sozio-ökonomischen Entwicklung: Dargestellt an der Wirtschaftsgeschichte der DDR verwiesen. Er thematisiert die Nutzbarmachung der Modellvorstellungen von Joseph A. SCHUMPETER für die Erklärung sozio-ökonomischer Wandlungsprozesse von Gesellschaften, die sie am Beispiel der krisenhaften Wirtschaftsgeschichte der ehemaligen DDR transparent macht. Dazu skizziert GRABAS in einem ersten Teil zunächst die wichtigsten Eckpunkte der theoretischen Überlegungen SCHUMPETERS zum Wechsel von längerfristigen Stabilitäts- und Instabilitätsperioden der wirtschaftlichen Entwicklung. Darauf aufbauend wird in einem zweiten Teil ein durch SCHUMPETER inspirierter Modellansatz vorgestellt, der von der Verfasserin zur Erfassung und Erklärung säkularer Wachstumsschwankungen entwickelt worden ist. Dabei kommt es GRABAS vor allem darauf an, die von SCHUMPETER ins Zentrum gerückten "Innovations-Unternehmer"-Problematik durch eine stärkere Betonung von Diffusionsprozessen zu relativieren. Sie betont, daß es die Diffussionsprozesse bahnbrechender Innovationen sind, die durch die Etablierung relativ stabiler oder instabiler Nachfrageverhältnisse der Gesellschaft über Verlauf und Charakter einer konkret-historischen Wachstumsperiode entscheiden. Da das Zusammenwirken von Innovations- und Diffusionsfaktoren im Zeitablauf jedoch nicht konstant bleibt, lösen die Prosperitäts- und Stagnationsperioden einander ab und bedingen auf diese Weise eine ungleichgewichtige wirtschaftliche Entwicklung.

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Dieses Erklärungsmodell zum Wandel von Prosperität und Stagnation verwendet GRABAS im dritten Teil ihrer Ausführungen für die Analyse der Wirtschaftsgeschichte der DDR. Unter Heranziehung eines Hypothesensamples wird die Auffassung begründet, daß Etablierung, Entwicklung und Untergang der ostdeutschen Volkswirtschaft nur im Kontext mit wechselnden Stabilitäts- und Instabilitätsbedingungen innerhalb dieser Wirtschaft bzw. auf dem Weltmarkt erklärt werden können. Dabei werden die für die Wirtschaftsgeschichte der DDR relevanten organisatorisch-institutionellen Veränderungen des Zentralverwaltungssystems in unmittelbarer Wechselwirkung mit der Dynamik des Wirtschaftswachstums betrachtet. Die Verfasserin weicht damit von der bisher üblichen Schwerpunktsetzung der wirtschaftshistorischen Forschung auf wirtschaftspolitische Zäsuren ab. Dadurch soll - so GRABAS - der derzeitig beobachtbaren Tendenz, die wirtschaftliche Entwicklung der DDR primär aus politischen Faktoren heraus zu erklären, entgegengewirkt werden. Daß Unternehmern bei der Durchsetzung des technischen Fortschritts eine zentrale Bedeutung zukommt, zeigen auch Beispiele von Unternehmerpersönlichkeiten. So stellt Wilfried FELDENKIRCHEN Werner VON SIEMENS in seiner Funktion als internationaler Unternehmer in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Haben sich die bisherigen Arbeiten über Werner VON SIEMENS vor allem auf dessen herausragende Bedeutung für die technische Entwicklung der Elekroindustrie beschränkt, akzentuiert FELDENKIRCHEN die unternehmerischen Aktivitäten von Werner VON SIEMENS. Die Studie dokumentiert, daß dieser nicht nur als Erfinder, Techniker und Wissenschaftler, sondern auch als Unternehmer maßgeblich daran mitgewirkt hat, daß sich die Elektrotechnik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus dem experimentellen Stadium zur Elektroindustrie entwickeln konnte. So entwickelte sich die Firma seit ihrer Gründimg im Jahre 1847 innerhalb weniger Jahrzehnte von einer kleinen feinmechanischen Werkstätte zu einem international operierenden und weltweit zu den größten Elektrofirmen zählenden Unternehmen, aus dem Werner VON SIEMENS 1890 ausschied. Ein weiteres Beispiel für einen dynamischen Unternehmer im SCHUMPETERSCHEN Sinne ist der 1794 in Darmstadt geborene Emanuel MERCK, den Ingunn POSSEHL ins Zentrum ihrer Ausführungen über Unternehmer und technischer Fortschritt zu Beginn der Feinchemikalienindustrie stellt. POSSEHL kennzeichnet den Apotheker Emanuel MERCK als Wegbereiter der industriellen Alkaloidherstellung in Deutschland, der "[...] die von Joseph Alois Schumpeter aufgestellten Kriterien für einen dynamischen Unternehmer in dreifacher Weise erfüllt. Er schuf - substantiell und qualitativ - neue Produk-

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te. Für diese entwickelte er neue Produktionsmethoden und erschloß neue Absatzmärkte in den im Umbruch begriffenen Apotheken seiner Zeit."5 Vergleichbares läßt sich - nach POSSEHL - auch für Johann Daniel RIEDEL und Ernst SCHERING, zwei weitere Protagonisten der Feinchemikalienindustrie, konstatieren. Wie MERCK produzierten auch sie in größerem Umfang und in besserer Qualität solche Chemikalien, die bis dato in einzelnen Apotheken dezentral hergestellt werden mußten. Ebenso fanden sie in ihren Apothekerkollegen dankbare Abnehmer und dadurch - begünstigt durch eine immer liberalere Gesetzgebung - neue und wachsende Absatzmärkte. Schließlich sei in diesem Zusammenhang auf den Beitrag von Gert KOLLMER-V. OHEIMB-LOUP verwiesen, welcher sich dem Verhältnis des Unternehmers zu innovativen Betriebsmitteln widmet, einem Forschungsbereich, der - so der Verfasser - bisher in der Unternehmensgeschichte völlig vernachlässigt wurde. Ins Zentrum seiner Ausführungen stellt der Verfasser das Informationsnetz, das die Investitionsprozesse überlagert und steuert, sowie die Entscheidungsgründe für die Akzeptanz bzw. Nichtakzeptanz des technischen Fortschritts. Vor diesem Hintergrund untersucht KOLLMER-V. OHEIMB-LOUP unter der Überschrift Technischer Fortschritt und Unternehmerverhalten am Beispiel der württembergischen Kammgarnspinnerei Merkel & Wolf 1830 1870 den für die Einführung technischer Innovationen maßgeblichen Informations- und Meinungsbildungsprozeß. Neben derartigen Erfolgsgeschichten stehen als lehrreiche Gegenbeispiele freilich immer auch unternehmerische Mißerfolge. So stellt sich etwa die Frage nach der Existenz von Unternehmern, die aufgrund ihrer mangelnden Akzeptanz des technischen Fortschritts gescheitert sind. In diesem Zusammenhang sei auf den Beitrag Vernachlässigter Fortschritt? Schwankende Akzeptanz technischer Innovation durch Unternehmer verwiesen, in dem Hansjoachim HENNING der Frage nachgeht, welche Bedeutung der Einstellung der Unternehmer zum technischen Fortschritt in bezug auf ihr Scheitern zukommt. Dazu sucht HENNING zunächst nach Willens- oder Fähigkeitsbarrieren, die einer Veränderung der Faktorkombination zugunsten eines optimierten Betriebsergebnisses entgegenstanden. Im Anschluß daran geht der Verfasser der Frage nach, "[...] ob nicht das Ausmaß der Diffusion, das für einige Branchen schon beispielhaft untersucht ist, Hinweise auf die Gründe unternehmerischen Verhaltens gegenüber dem technischen Fortschritt enthält."6 5 6

POSSEHL, Ingunn, S. 279 im vorliegenden Tagungsband. HENNING, Hansjoachim, S. 303 im vorliegenden Tagungsband.

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Abschließend geht er der Frage nach, ob die zögerliche Akzeptanz des technischen Fortschritts eventuell auf eine Rationalität eigener Art zurückzuführen und damit nicht nur bloßes Verharren in Rückständigkeit war. In diesem Zusammenhang sei zusätzlich auf den Beitrag von Christian OSTERSEHLTE über Die Bugsirgesellschaft "Union" (1873-1914) verwiesen, in dem er kritisch Aufstieg und Niedergang dieser bremischen Schlepp- und Fährreederei analysiert. Daß dem Thema "Unternehmer und technischer Fortschritt" auch eine soziale Komponente innewohnt, beweist Heike KNORTZ in ihrem Beitrag über Wilhelm MERTON, dem Gründer der Metallgesellschaft AG. Dieser entspricht nach KNORTZ "[...] einer hochmotivierten, aktiven, dynamischen und kreativen Person, wie sie die Theorie der Leistungsmotivation kennt, [...] die sich Probleme selbst stellt und nicht abwartet, bis diese 'von anderen vorgegeben' und an sie 'herangetragen' werden."7 KNORTZ veranschaulicht dies an den Anstrengungen MERTONS zur Beseitigung von gewerbehygienischen Mißständen, die ihm schon vor seinem endgültigen Eintritt in das Unternehmen seines Vaters in firmeneigenen australischen Blei-Zink-Hütten aufgefallen waren. Gehäufte Bleierkrankungen bei den Arbeitern veranlaßten MERTON dazu, diese Anlage zu schließen. Ferner beauftragte er einen in der Forschung tätigen Mediziner, das Problem der Bleivergiftungen zu untersuchen und entsprechende Schutzmaßnahmen auszuarbeiten. Im Jahr 1908 wurde schließlich auf Initiative MERTONS das "Institut für Gewerbehygiene" gegründet, dessen Aufgabe die "wissenschaftliche und praktische Förderung der Gewerbehygiene" sein sollte. Wilhelm MERTON ging mit dieser Schöpfung der institutionalisierten, experimentellen Gewerbehygiene, die er als ein Konglomerat aus Arbeits- und Umweltschutz sowie freiwilliger technischer Selbstkontrolle der Gewerbe betrachtete, weit über die seinerzeit bestehende staatliche Gewerbeaufsicht hinaus. So gehörte Wilhelm MERTON wohl zu jenen Unternehmern,"[...] denen es um das Wohl der Personen und die Sache selbst ging, gepaart mit einem 'Gefühl für das allgemeine Wohl'. Wilhelm Merton fühlte sich - um es mit einer Kategorie Max Webers zu belegen - der Verantwortungsethik verpflichtet, und handelte in diesem Sinne durchaus 'zur persönlichen Befriedigung, wenn nicht gar aus Selbstsucht', jedoch in einem introvertierten Sinne."8 Abgerundet wird der vorliegende Tagungsband durch zwei Beiträge aus der Unternehmerpraxis. So weist Hasso FREIHERR VON FALKENHAUSEN KNORTZ, Heike, S. 369 im vorliegenden Tagungsband. KNORTZ, Heike, S. 368f. im vorliegenden Tagungsband.

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eingangs darauf hin, daß technischer Fortschritt für den Unternehmer ein kreativer Unruheherd in den Märkten bzw. die Quelle für Signale über das Entstehen von neuen Chancen und Risiken ist. Anders als THESEUS kann sich der Unternehmer nicht an einem Leitfaden orientieren; vielmehr muß er aus einer Fülle von Fäden wählen, von denen nur wenige zum Erfolg führen, so daß sie für ihn zugleich Leitfäden und Fallstricke sind. Jede technische Vision beinhaltet das Risiko, den falschen Leitfaden zu wählen und mit dem Blick auf das Ziel an den Stolperdrähten zu scheitern. VON FALKENHAUSEN zeigt anhand mehrerer Beispiele aus der Praxis, wie Unternehmer eine technische Vision durch konsequentes Verfolgen einer Leitlinie zum Erfolg gebracht haben und wie andere daran scheiterten. Ursächlich dafür ist nicht zuletzt die Ähnlichkeit von Leitfaden und Stolperdraht. Um den Leitfaden nicht zu verlieren, braucht der Unternehmer Orientierungspunkte. Als Beispiele für solche Orientierungspunkte nennt VON FALKENHAUSEN Zwischenberichte von Messebesuchen und Kundengesprächen sowie Rückmeldungen aus der technischen Entwicklung. Gleichzeitig sollte sich der Unternehmer laufend selber kritisch hinterfragen, ohne dabei sein Ziel aus den Augen zu verlieren. Otmar FRANZ stellt in seinen Ausführungen den Zusammenhang von Unternehmer und Innovation in der Bauindustrie dar. Ausgehend von innovativen Bauunternehmern aus der Zeit zwischen dem dritten und zweiten Jahrtausend v. Chr. kann FRANZ verdeutlichen, daß die Innovationsfreude der Bauindustrie weithin unterschätzt wird. Den Ausschlag dafür gibt nicht zuletzt die Tatsache, daß der Ruhm an bedeutenden Bauwerken Göttern, Kaisern, Politikern und Feldherren gebührte, woran sich nach FRANZ im Prinzip nichts geändert hat. Auch heute sind Bauherren und Architekten häufig bekannter als die Bauunternehmer, ohne deren Innovationen zahlreiche bedeutende Bauwerke nicht entstanden wären. Diese Feststellung untermauert der Verfasser mit zahlreichen Beispielen aus Vergangenheit und Gegenwart. Dabei weist FRANZ darauf hin, daß es in den letzten zwei Jahrhunderten vor allem neue Baumaterialien und Maschinen sowie die Fortentwicklung der Baustatik waren, die neue Innovationsschübe ermöglicht haben. So hat sich die Leistung der Bauindustrie alleine in den letzten 30 Jahren mehr als verachtfacht. Für die Zukunft der Bauindustrie prognostiziert FRANZ, daß an diesen Industriezweig noch große Erwartungen gestellt werden können, wenn es ihm weiterhin gelingt, innovative, dynamische und kreative Menschen für sich zu gewinnen. Als Fazit dieser Vorträge kann festgehalten werden, daß die wirtschafts- und sozialhistorische Forschung Zusammenhänge zwischen der 21

wirtschaftlichen Entwicklung und den Unternehmerpersönlichkeiten, die durch Erkennen und Nutzen des technischen Fortschritts die wirtschaftliche Entwicklung vorantreiben, gemeinhin immer noch einseitig bzw. zuwenig beachtet. So existiert einerseits eine stark personengeschichtlich orientierte Forschungsrichtung. Andererseits werden vor allem Strukturen akzentuiert, hinter denen die einzelne Persönlichkeit und die ihr innewohnende Gestaltungskraft verblaßt. Zwischen diesen beiden Extremen gilt es, einen der historischen Wirklichkeit möglichst nahekommenden Weg zu zeichnen. Dieser Aufgabe sollten die Vorträge in Büdingen 1994 und 1995 dienen.

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Die Vorstellungen Joseph Alois Schumpeters vom dynamischen Unternehmer VON KERSTIN BURMEISTER

Die Vorstellungen darüber, was ein Unternehmer sei, wurden durch SCHUMPETERS gleichnamigen Artikel im Handwörterbuch der Staatswissenschaften von 19281 für lange Zeit geprägt. Schon vorher widmete er in seiner "Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung", deren 1. Auflage 1911 erschien,2 dem Pionierunternehmer besondere Aufmerksamkeit. Sein Verständnis dieses Pionierunternehmers entwickelte sich beeinflußt von der nachholenden Industrialisierung in Österreich-Ungarn, die er miterlebte. Ebenso war SCHUMPETER von den damals in der Soziologie üblichen Elitetheorien und von seiner Auseinandersetzung mit dem Werk von MARX beeinflußt.3 Die Aussagen SCHUMPETERS zu dem Begriff der wirtschaftlichen Entwicklung und zum dynamischen Unternehmer können nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Nach SCHUMPETER vollzieht sich wirtschaftliche Entwicklung auf drei Arten: durch Wachstum - wobei vor allem die Bevölkerungszunahme und das Wachstum an Produktionsmitteln gemeint sind - , zweitens durch Ereignisse außerhalb des Wirtschaftsbereiches wie Naturkatastrophen, Kriege und soziale Umwälzungen und drittens "dadurch, daß manche Individuen über die wirtschaftliche Erfahrung und die erprobte und gewohnte Routine hinausgreifend in den jeweils gegebenen Verhältnissen des Wirtschaftslebens neue Möglichkeiten erkennen und durchsetzen."4 Diese dritte Art 1

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SCHUMPETER, Joseph Alois, Unternehmer, in: Ludwig ELSTER, Adolf WEBER, Friedrich WIESER (Hrsg.), Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 8, 4., gänzl. umgearb. Aufl., Jena 1928, S. 476 - 487. SCHUMPETER, Joseph [Alois], Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Leipzig 1912 (erschien 1911). Vgl. PIPER, Nikolaus, Der Unternehmer als Pionier, in: Die Zeit, 47. Jg. (1992), Nr. 44 v. 23.10.1992, S. 25. SCHUMPETER, Joseph Alois, Unternehmer, S. 483.

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der Entwicklung ist nach SCHUMPETER die wichtigste, da das Erkennen und Durchsetzen neuer Möglichkeiten im ökonomischen Bereich das "Wesen der Unternehmerfunktion"5 ausmache. Nach SCHUMPETERS Definition sollen unter dem Begriff 'Entwicklung' nur solche Veränderungen des Wirtschaftslebens verstanden werden, welche als eine aktive ökonomische Veränderung innerhalb des Wirtschaftssystems selbst begriffen werden können und nicht einzig eine Reaktion auf Veränderungen außerhalb des Wirtschaftssystems darstellen.6 Dieses SCHUMPETERSCHE Entwicklungsverständnis läßt die Frage nach dem Subjekt - und damit dem Initiator und Promotor - und nach dem Objekt von ökonomischen Veränderungen aufkommen. 7 Objekt der wirtschaftlichen Entwicklung sind die Innovationen als erfolgreich am Markt durchgesetzte neue Kombinationen der Produktionsfaktoren. Bei SCHUMPETER umfaßt der Begriff der Innovation fünf Fälle: 1. Die Erzeugung und Durchsetzung neuer Produkte oder neuer ProduktQualitäten. 2. Die Einführung neuer Produktionsmethoden, die übrigens nicht auf einer wissenschaftlich neuen Entdeckung zu beruhen brauchen. 3. Die Erschließung neuer Absatzmärkte. 4. Die Erschließung neuer Bezugsquellen für Rohstoffe oder Halbfabrikate. 5. Die Einführung neuer Organisationen in der Industrie, z.B. die Schaffung oder das Durchbrechen eines Monopols.8 Innovation kann sich folglich in Produkt- und in Prozeßinnovationen niederschlagen, immer aber "handelt es sich um die Durchsetzung einer anderen als der bisherigen Verwendung nationaler Produktivkräfte, darum, daß dieselben ihren bisherigen Verwendungen entzogen und neuen Kombinationen dienstbar gemacht werden."9 Diese Begriffsbestimmung deutet auch daraufhin, 5 6

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SCHUMPETER, Joseph Alois, Unternehmer, S. 483. Vgl. SCHUMPETER, Joseph Alois, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, 6. Aufl., Berlin 1964 (unveränderter Nachdruck der 1934 erschienenen 4. Auflage), S. 95. Vgl. HANUSCH, Horst, Zur Bedeutung Schumpeters als Ökonom des 20. Jahrhunderts, in: Horst HANUSCH, Arnold HEERTJE, Yuichi SHIONOYA, Schumpeter - der Ökonom des 20. Jahrhunderts, Vademecum zu einem genialen Klassiker der Ökonomischen Wissenschaft (Klassiker der Nationalökonomie), Düsseldorf 1991, 5. 1 9 - 4 1 , hier S. 28. Vgl. hierzu: SCHUMPETER, Joseph Alois, Unternehmer, S. 483 und SCHUMPETER, Joseph Alois, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 6. Aufl., S. lOOf. SCHUMPETER, Joseph Alois, Unternehmer, S. 483.

daß SCHUMPETER nicht jede Änderung der Technik als technischen Fortschritt betrachtet. Werden technische Änderungen nur zur Anpassung an geänderte Wirtschaftsverhältnisse vorgenommen, ohne daß gleichzeitig eine Änderung in den Produktionsfunktionen eintritt, liege noch kein technischer Fortschritt vor. Eine Innovation stelle darüber hinaus einen ruckartigen Wandel in den Produktionsverhältnissen dar und keinen langsamen Anpassungsvorgang.10 Die Innovationen trennt SCHUMPETER streng von den Erfindungen. Die Funktion des Erfinders und des Unternehmers fallen nicht zusammen. Der Unternehmer kann auch Erfinder sein, aber dann grundsätzlich nur zufällig.11 Der dynamische Unternehmer ist für SCHUMPETER das Subjekt der wirtschaftlichen Entwicklung und wird von ihm zur treibenden Kraft des Wirtschaftsprozesses erhoben. Die Bezeichnung »dynamischer Unternehmer«, die sich in der Literatur eingebürgert hat, ist für SCHUMPETER eigentlich ein Pleonasmus, da er innovative Leistungen eben nur dem »Unternehmer« zuordnet, den er scharf gegen die große Masse der als "Wirte schlechtweg"12 bezeichneten »normalen« Geschäftsleute abgrenzt. Der dynamische Unternehmer bewirkt durch die neue Kombination von Produktionsfaktoren die ruckartige Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse und initiiert damit den Prozeß der wirtschaftlichen Entwicklung.13 Er ist nach SCHUMPETER durch Besonderheiten gekennzeichnet, die in sechs Punkten zusammengefaßt werden können und im folgendem erläutert werden sollen: Erstens ist Untemehmersein für SCHUMPETER kein Beruf und nicht unbedingt ein Dauerzustand. Der Unternehmer sei ab dem Moment kein solcher mehr, wo er eine "geschaffene Unternehmung kreislaufinäßig"14 weiterbetreibe. Unternehmer seien zwar eine Klasse im Sinne einer Gruppe, aber nicht eine Klasse als soziale Erscheinung, die im Zusammenhang mit Klassenkampf oder Klassenbildung gemeint sei: "Die Erfüllung der Unternehmerfunktion schafft klassenmäßige Positionen für den erfolgreichen Unternehmer und die Seinen, sie kann auch einer Zeit ihren Stempel aufdrücken, Lebensstil, moralisches und 10

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Vgl. SCHUMPETER, Joseph Alois, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 6. Aufl., S. 100. Vgl. ebd., S. 129. Ebd., S. 122. Vgl. WERNER, Josua, Das Verhältnis von Theorie und Geschichte bei Joseph A. Schumpeter, in: Antonio MONTANER (Hrsg.), Geschichte der Volkswirtschaftslehre, Köln, Berlin 1967 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 19), S. 277 - 295, hier S. 282. SCHUMPETER, Joseph Alois, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 6. Aufl., S. 116.

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ästhetisches Wertsystem formen, aber sie bedeutet an sich ebensowenig eine Klassenposition, als sie eine voraussetzt".15 Zweitens sei der Unternehmer typischerweise ein traditionsloser Aufsteiger, ein "Revolutionär der Wirtschaft - und der unfreiwillige Pionier sozialer und politischer Revolutionen - , und seine eignen Genossen verleugnen ihn, wenn sie um einen Schritt weiter sind, so daß er mitunter im Kreis etablierter Industrieller nicht rezipiert ist."16 Drittens liege die hauptsächliche Antriebskraft des Unternehmers in dem Streben nach Gewinn, 17 jedoch nicht etwa des Gewinns als solchem wegen, dieser diene vielmehr als Erfolgsindex, weil ein anderer fehle. 18 Da der Gewinn oft nicht dem Unternehmer direkt, sondern dem Betrieb zufalle, müßten daneben andere Antriebsgründe stehen. Eine solche zusätzliche Motivation liege in dem Siegerwillen, dem "Kämpfenwollen einerseits, Erfolghabenwollen des Erfolgs als solchem wegen andrerseits."19 SCHUMPETER erwähnt daneben weitere Motive des Unternehmerverhaltens. Er führt dazu aus: "Da ist zunächst der Traum und der Wille, ein privates Reich zu gründen, meist, wenngleich nicht notwendig, auch eine Dynastie. Ein Reich, das Raum gewährt und Machtgefühl, das es im Grund in der modernen Welt nicht geben kann, das aber die nächste Annäherung an Herrenstellung ist, die diese Welt kennt und deren Faszination gerade für solche Leute besonders wirksam ist, die keinen anderen Weg zu sozialer Geltung haben." 20 Diese Motivation sei bei dem einen mit "'Freiheit' und 'Sockel der Persönlichkeit', mit 'Einflußsphäre' beim andren, mit 'Snobismus' beim Dritten;"21 zu präzisieren, worauf es aber nicht weiter ankomme. Der Unternehmer schaffe aus innerem Zwang unermüdlich, nicht, um das Erworbene zu genießen,22 sondern dieser Aktivitäten willen. Wirkliche oder vermeindliche Schwierigkeiten fordern ihn eher heraus als daß sie ihn zurückschrecken.23

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Ebd., (Hervorhebungen im Original). SCHUMPETER, Joseph Alois, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 6. Aufl., S. 130f. Vgl. ebd., S. 238. Vgl. ebd., S. 138. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 137. Vgl. ebd., S. 138f. Vgl. auch ZINN, Karl Georg, Schumpeter und die politische Rechte, in: Sozialismus, 15. Jg. (1989), H. 107, S. 20 - 21, hier S. 21.

Viertens beachte der SCHUMPETERSCHE Unternehmer weder Risiken noch Chancen, wenn er Entscheidungen trifft, er blicke nicht ängstlich auf das Risiko. 24 In diesen Zusammenhang gehöre auch, daß er nicht alle möglichen alternativen Kombinationen sorgfältig studiere, denn dann würde er nach SCHUMPETER nie zum Handeln kommen. Die Betonung der mehr unbewußten Entscheidung des dynamischen Unternehmers relativiert SCHUMPETER später: "Wie in einer gegebenen strategischen Lage gehandelt werden muß, auch wenn die an sich beschaffbaren Daten für dieses Handeln nicht vorhanden sind, so muß auch im Wirtschaftsleben gehandelt werden, ohne daß das, was geschehen soll, bis in alle Einzelheiten ausgearbeitet ist."25 Der Unternehmer habe hierfür ein Gespür, "die Fähigkeit, die Dinge in einer Weise zu sehen, die sich dann hinterher bewährt, auch wenn sie im Momente nicht zu begründen ist ...".26 Die Frage, warum Unternehmer die Mühsal und das Risiko einer Innovation auf sich nehmen, beantwortet SCHUMPETER eindeutig: Der nichtinnovierende Unternehmer werde ständig von der Tendenz zur Stationarität eingeholt, von der die Wirtschaft bedroht sei; die Gefahr der Ertragslosigkeit habe der Unternehmer immer vor Auge. Durch eine gelungene Innovation könne ein Unternehmer vorübergehend einen Pioniergewinn einstreichen und sich einen Wettbewerbsvorteil verschaffen, der jedoch immer über kurz oder lang verpuffe, indem ihn die Konkurrenten nachahmen oder der Markt gesättigt werde. In dieser Situation drohe dem Unternehmer die Null-Gewinn-Zone, so daß er wieder etwas Neues wagen, eine neue Kombination durchsetzen müsse, oder er sei bald kein Unternehmer mehr. Der Untergang drohe dem Unternehmer, wenn seine "Kraft erlahmt ist",27 mindestens aber drohe er seinen Erben, die - wie SCHUMPETER sich ausdrückt - "mit der Beute nicht auch die Klaue geerbt haben" 28 und den Betrieb kreislaufmäßig weiterführen. Unternehmer treten nach SCHUMPETER scharenweise auf, "weil das Auftreten eines oder einiger Unternehmer das Auftreten anderer und dieses das Auftreten weiterer" 29 usw. erleichtere und damit nach sich ziehe. Der Erfolg der ersten Pio-

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Vgl. SCHUMPETER, Joseph [Alois], Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 1. Aufl., S. 163. SCHUMPETER, Joseph Alois, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 6. Aufl., S. 125. Ebd. Ebd., S. 238. Ebd. SCHUMPETER, Joseph Alois, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 6. Aufl., S. 339. Als Bedingungen, unter welchen Unternehmer auftreten, nennt SCHUMPETER das Vorhandensein neuer privatwirtschaftlicher Möglichkeiten, zu

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nierunternehmer räume Schwierigkeiten für die Nachfolgenden aus dem Weg, sei es, daß sie in dem gleichen oder einem anderen Produktionszweig tätig sind. 30 Der Wechsel von sozialem Auf- und Abstieg, die Abfolge von Innovation und Imitation, verursachen nach SCHUMPETER die Konjunkturzyklen und den wirtschaftlichen Fortschritt: "Das scharenweise Auftreten der Unternehmer .. [ist] die einzige Ursache der Erscheinung 'Aufschwung' ...".31 Deshalb bewirken die Aktivitäten des dynamischen Unternehmers Entwicklungsschübe und das Auf und Ab im wirtschaftlichen Ablauf. Hierdurch sei die Weiterentwicklung von Marktwirtschaften charakterisiert. Eine Beseitigung dieser Wellenbewegungen würde den wirtschaftlichen Fortschritt beenden.32 SCHUMPETER selber wies 1942 daraufhin, daß Innovationen auch eine verbreitete Strategie zur Verteidigung von Marktvorteilen darstellen.33 Dann aber ist nicht mehr das Streben nach Gewinn bzw. die Furcht vor fehlendem Gewinn die Antriebskraft des Unternehmers, "sondern das unternehmerische Bestreben, einmal eroberte Marktvorteile zu verteidigen".34 Beiden Antriebsmomenten ist gemeinsam, daß ihre Ursache in dem Konkurrenzdruck durch andere Wirtschaftssubjekte liegt.35 Fünftens finanziere sich der Unternehmer weitgehend mit Fremdkapital. 36 Für die Durchsetzung neuer Kombinationen der Produktionsfaktoren ist er von der Kreditgewährung der Banken abhängig. Unternehmer könne nur

denen beschränkte Zugangsmöglichkeiten bestehen. Dazu komme die Bedingung der Konkurrenzwirtschaft und eine Lage der Volkswirtschaft, die halbwegs verläßliche Kalkulation gestatte. 3 ® Vgl. SCHUMPETER, Joseph Alois, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 6. Aufl., S. 339 und S. 340f. SCHUMPETER, Joseph Alois, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 6. Aufl., S . 342. 32 Vgl. HANUSCH, Horst, Zur Bedeutung Schumpeters als Ökonom des 20. Jahrhunderts, S. 29. 33 Vgl. SCHUMPETER, Joseph Alois, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 2., erw. Aufl., Bern 1950 (übersetzt von Susanne PREISWERK), S. 140. 34 ROBERTS, Charles, C., Der Schumpetersche Unternehmer, technischer Fortschritt und die Prognostizierbarkeit der wirtschaftlichen Entwicklung, in: Karl Georg ZINN (Hrsg.), Beiträge zu Schumpeters Theorie der dynamischen Wirtschaft, Kolloquium am 28.10.1983, Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre, Aachen 1983, S. 1 0 6 - 143, hierS. 112. 35 Vgl. ebd. 36 Vgl. SCHUMPETER, Joseph Alois, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 6. Aufl., S. 148.

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werden, wer vorher Schuldner sei.37 SCHUMPETER betrachtet das Kapital nur als den Hebel, der den Unternehmer befähige, Innovationen durchzusetzen. Dies sei die einzige Funktion des Kapitals und damit sei seine Stellung in der Volkswirtschaft gekennzeichnet.38 Die Funktion des »Kapitalisten« liege darin, den Kredit bereitzustellen.39 SCHUMPETER erwartet unternehmerische Leistung folglich von kreativen, aber in der Regel kapitalarmen Personen. Es sei eine Ausnahme, wenn eine Person gleichzeitig Kapitaleigner und Unternehmer sei. Wenn dies vorkomme, siege in der Regel "die Kapitaleignerseele über die Unternehmerseele in derselben Brust".40 Sechstens überwindet der SCHUMPETERSCHE Unternehmer alle äußeren Schwierigkeiten, die sich der Durchsetzung neuer Methoden entgegenstellen. Deshalb werden neue Ideen auch erst dann zu Innovationen, wenn der Unternehmer innere und äußere Widerstände überwunden hat. Der äußere Widerstand liege in dem sozialen Gegendruck gegen verändertes wirtschaftliches Verhalten.41 Konkret seien dies der Widerstand der Arbeiter gegen neue Methoden, der Widerstand der Konsumenten gegen neue Produkte und der Widerstand der öffentlichen Meinung, der Behörden, des Rechts und der Kreditgeber gegen neue Betriebsformen.42 Innere Widerstände dagegen lägen im einzelnen Unternehmer selbst. Die Überwindung dieser Hindemisse erfordere Eigenschaften, über die nur ein geringer Prozentsatz von Personen verfüge. Um die Volkswirtschaft in neue Bahnen zu leiten, bedürfe es daher der wirtschaftlichen Führerschaft dieser Individuen. Die Unternehmerfunktion sei die "Führerfunktion auf dem Gebiet der Wirtschaft"43 SCHUMPETER schreibt: "Eine Minorität von Leuten mit einer schärfem Intelligenz und einer beweglichem Phantasie sehen zahllose neue Kombinationen ... Dann aber gibt es eine noch geringere Minorität - und diese handelt"44 Hierbei würden "graduelle Unterschiede der Persönlichkeiten ... zu wesentlichen Erklärungsmomenten des Ge-

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Vgl. ebd. und SCHUMPETER, Joseph [Alois], Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 1. Aufl., S. 208. Vgl. SCHUMPETER, Joseph Alois, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 6. Aufl., S. 165. Vgl. ebd., S. 104f. ZINN, Karl Georg, Schumpeter und die politische Rechte, S. 20. Vgl. SCHUMPETER, Joseph Alois, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 6. Aufl., S. 126. Vgl. SCHUMPETER, Joseph Alois, Unternehmer, S. 483. Ebd., S. 482. SCHUMPETER, Joseph [Alois], Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 1. Aufl., S. 163.

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schehens".45 Damit öffnete SCHUMPETER "als erster das Tor zur Erforschung des persönlichen Elements im Wirtschaftsleben".46 Diese Ausführungen verdeutlichen den Einfluß der Elitetheorien auf die Ideen SCHUMPETERS, der tatsächlich - wie Eduard MÄRZ hervorgehoben hat ein gründlicher Kenner der Elitetheorien des ausgehenden 19. Jahrhunderts war. MÄRZ zieht daraus den Schluß, "daß Schumpeters Entwicklungstheorie als ein Versuch gewertet werden muß, den vagen Elitetheorien seiner Zeit einen konkreten wirtschaftstheoretischen Inhalt zu geben."47 Abschließend kann festgehalten werden, daß sich SCHUMPETERS UnternehmerbegrifF wesentlich vom alltäglichen Sprachgebrauch unterscheidet. Für ihn ist jemand grundsätzlich nur dann Unternehmer, wenn er "neue Kombinationen realisiert."48 Unternehmer können auch "Organe einer sozialistischen Gemeinschaft oder Herren eines Fronhofes oder Häuptlinge eines primitiven Stammes" 49 sein, während Betriebseigentum oder Vermögen irgendwelcher Art keine entscheidenden Größen seien.50 Industrielle, Fabrikbesitzer, Bauern, Kaufleute, Angehörige freier Berufe und Handwerker müssen dieser Vorstellung nach nicht notwendigerweise Unternehmer sein,51 sie können es aber sein. Das Handeln des Unternehmers beruhe auf ungewöhnlicher Kreativität, sei aber auch mit großem Risiko verbunden. Immer schaffe es etwas Neues und zerstöre überflüssiges Altes. Der SCHUMPETERSCHE »Entrepeneur« ist damit in einen "Prozeß der 'schöpferischen Zerstörung'"52 eingebunden. Deshalb unter-

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SCHUMPETER, Joseph [Alois], Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 1. Aufl., S. 162, Fußnote 1. SCHMIDT, Karl-Heinz, Vorläufer und Anfänge von Schumpeters Theorien der wirtschaftlichen Entwicklung, in: Bertram SCHEFOLD (Hrsg.), Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie VII, (Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F., Bd. 115/VII), Berlin 1989, S. 99 - 126, hier S. 118. MÄRZ, Eduard, Zur Genesis der Schumpeterschen Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, in: On Politicai Economy and Econometrics, Essays in honour of Oskar Lange, London, Warszawa u.a. 1965, S. 363 - 388, hier S. 383. SCHUMPETER, Joseph Alois, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 1. Aufl., S . 174. SCHUMPETER, Joseph Alois, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 6. Aufl., S. 1 1 1 .

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Vgl. ebd., S. 112. Vgl. ebd. SCHUMPETER, Joseph Alois, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 138.

scheidet er sich deutlich vom 'statischen Wirt' der gängigen klassischen Wirtschaftstheorie.53 SCHUMPETER bezieht sein Unternehmerverständnis nicht nur auf die moderne Wirtschaft und versteht seine Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung nicht einzig als auf die Marktwirtschaft bezogen. Im Falle eines sozialistischen Staates liege die Unternehmertätigkeit beim Staat.54 An anderer Stelle ergänzt SCHUMPETER, daß auch im sozialistischen Staat neue Kombinationen durchgesetzt werden müssen. Er differenziert jedoch scharf zwischen dem Unternehmer und dem Kapitalisten, wobei nur der letztere eine auf die kapitalistische Gesellschaft beschränkte Erscheinung sei. Der Kapitalismus schaffe jedoch durch sein Kreditsystem besonders günstige Voraussetzungen für dynamische Unternehmer. Nach SCHUMPETER befinden sich kapitalistische Märkte stets im Ungleichgewicht, wofür die Schlüsselfiguren des Systems, die Pionierunternehmer, sorgen, indem sie permanent neue Kombinationen durchsetzen. Der Gleichgewichtszustand würde den Untergang des kapitalistischen Systems bedeuten.55 Der dynamische Unternehmer ist damit Initiator und Promotor von Fortschritt und Entwicklung. SCHUMPETER betont besonders die Rolle der Pionierunternehmer bei der Durchsetzung des technischen Fortschritts. Seiner Meinung nach sind sie die Träger des technischen Fortschrittes. Der dynamische Unternehmer ist auch als "napoleanischefr] [sie!] Führertyp auf wirtschaftlichem Felde" 56 bezeichnet worden.

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Vgl. HANUSCH, Horst, Zur Bedeutung Schumpeters als Ökonom des 20. Jahrhunderts, S. 29. Vgl. SCHUMPETER, Joseph [Alois], Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 1. Aufl., S. 173. Vgl. SCHUMPETER, Joseph Alois, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 213. Vgl. ZINN, Karl Georg, Schumpeter und die politische Rechte, S. 20.

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Der "Technische Fortschritt", Definition und Meßbarkeit VON OTFRIED WAGENBRETH

EINLEITUNG: ZUR AMBIVALENZ DES FORTSCHRITT-BEGRIFFES ÜBERHAUPT UND IN DER TECHNIK Fortschritt bedeutet etwas Neues. Damit ergibt sich sogleich die Frage, ob das Neue auch etwas Besseres ist. In der Politik ist (oder war) mit den Begriffen »fortschrittlich« und »konservativ« oft genug ein Werturteil verbunden. Die SED bezeichnete sich auch dann noch als »fortschrittlich«, als sie längst konservativ, d.h. auf die Konservierung der Machtverhältnisse bedacht war. Auf diese Ambivalenz des Fortschritt-Begriffes in der Politik zielt Eugen Roths Gedicht zum Thema: Der Fortschritt Wir hören gern, daß es bei Früchten gelang, sie ohne Kern zu züchten. Denn ihre Ernten sind ergiebig, Verwenden kann man sie beliebig. Der Fortschritt, lange schon ersehnt, wird immer weiter ausgedehnt: Gelang's doch schon, nach sichern Quellen, Auch Menschen kernlos herzustellen. Eine andere Ambivalenz des Fortschritt-Begriffes findet sich in der Technik. Jede Technik befriedigt direkt oder indirekt Bedürfnisse des Menschen wie Nahrung, Kleidung, Wohnung, Kommunikation und Verkehr. Technische Lösungen provozieren neue Bedürfnisse. Nachdem man mittels Radio fern-hören konnte, wollte man auch fern-sehen und entwickelte den Fernseher.

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Fortschritte in der Technik sind also technische Neuerungen. Diese aber sind - alle Folgen eingerechnet - nicht nur Verbesserungen. Als die Spinnmaschine an die Stelle des Spinnrades, der mechanische Webstuhl an die Stelle des Handwebstuhls trat, wurde nicht nur die Kleidung billiger, also für das Volk leichter erschwinglich, sondern wurden Massen von Handwerkern arbeitslos. Maschinenstürmerei und Weberaufstände als Reaktion darauf sind bekannt. Die Handspinner und Handweber fanden zwar damals schließlich andere Arbeitsplätze, dies war aber keine kausale Folge der technischen Neuerungen Spinnmaschine und mechanischer Webstuhl. Der Einsatz derart frei gewordener Arbeitskräfte an anderer Stelle ist auch kein unbegrenzt wirkender Mechanismus. Man stelle sich sämtliche Fabriken durch den technischen Fortschritt vollautomatisch geworden vor. Wohin dann mit den Arbeitskräften? Die soziale Problematik, dazu heute die Umweltproblematik haben neben dem aus der Tatsache des technischen Fortschritts resultierenden Technik-Optimismus schon seit einiger Zeit den Technik-Pessimismus treten lassen. Bausinger ordnet den Technik-Optimismus dem Industriezeitalter zu und sieht die Expansion als eins seiner wesentlichen Merkmale, wogegen die postindustrielle Gesellschaft durch Fortschrittskrise und Technikpessimismus gekennzeichnet sei.1 Die Ambivalenz des technischen Fortschritts zeigt sich auch auf niederen Hierarchieebenen, in speziellen Details. So hat die Erfindung des Telefons enge Gesprächskontakte über größere Entfernungen ermöglicht, aber die Briefkultur verkümmern lassen. Das Radio liefert gute Musik, so daß aktive Hausmusik weithin nicht mehr betrieben wird. Der Fotoapparat macht das eigene Zeichnen überflüssig, wie es Goethe zur Dokumentation geologischer Sachverhalte noch betrieben hat.2 Welcher Art sind solche Negativ-Effekte? Gibt es Technik ohne negative Nebenwirkungen? Objektiv negativ wirken Reinigungsmittel unserer Zeit durch Belastung von Abwasser und Umwelt. Die Dampfmaschine, etwa 1800 bis 1900 die wichtigste Kraftmaschine, lieferte größere Leistungen als Pferdegöpel und Wasserrad, bedeutete aber wegen der Kesselexplosionen ein größeres Risiko, erforderte also höhere menschliche Qualitäten in der Bedienung. Bei der Militärtechnik, die in der technischen Entwicklung eine besondere Rolle spielt, sind vom einzelnen Menschen aus betrachtet, die Negativ-Effekte sogar Vgl. BAUSINGER, Hermann, Perspektiven des Fortschritts. Eine kulturgeschichtliche Kosten-Nutzen-Analyse, (LTA-Forschung, Reihe des Landesmuseums für Technik und Arbeit, Heft 8), Mannheim 1992, S. 2. Vgl. WAGENBRETH, Otfried, Die geologischen, mineralogischen und bergbaulichen Handskizzen Goethes, in: Wiss. Zeitschr. Hochschule f. Archit. u. Bauwesen Weimar, 15. Jg. (1968), S. 63-80. 34

das Ziel der Technik. Der Elektromotor ist zwar als Kraftmaschine universell einsetzbar und extrem umweltfreundlich. Durch seine Anwendung aber sind der Energieverbrauch und damit das Risiko und die Umweltprobleme in Wärme- bzw. Atomkraftwerken auf ein Vielfaches gestiegen. (Vor wenigen Jahrzehnten diente menschliche Muskelkraft z.B. noch dem Wäschewaschen und dem Rasieren. Der technische Fortschritt lieferte Waschmaschine und Rasierapparat mit Elektroantrieb.)

ZUR DEFINITION DES TECHNISCHEN FORTSCHRITTES Vor einer Definition des technischen Fortschritts ist zu fragen, ob dessen geschilderte Ambivalenz in der Definition enthalten sein müßte. Ich meine nein, weil die Negativwirkungen nicht der Technik an sich, sondern ihrem Gebrauch durch den Menschen anzulasten sind. Bei exakter Einhaltung der Bedienungsvorschriften erfolgen z.B. keine Dampfkesselexplosionen. Oder aber: Man kann trotz Vorhandensein eines Radios noch selbst Hausmusik machen. So auf die positiven Effekte orientiert ist zu definieren: Ein technischer Fortschritt ist eine technische Neuerung, mit welcher ein Bedürfiiis der Menschen besser befriedigt werden kann. »Besser« bedeutet dabei in besserer Qualität, schneller, billiger oder Uberhaupt die Befriedigung eines neuentstandenen Bedürfnisses oder eine Kombination dieser Komparative. Solche technischen Neuerungen können neue Konsumgegenstände (z.B. Fernseher), neue Produktions- und Verkehrsmittel (z.B. Dampfmaschine im 18./19. Jh., Eisenbahn im 19. Jh., Flugzeug im 20. Jh.) und neue Verfahren (z.B. für die Stahlproduktion das Bessemer-Verfahren nach dem Puddeln) betreffen. In grober Näherung kann man für technische Neuerungen die historische Folge aufstellen: - Bis um 1800 (vor der Industriellen Revolution) betraf der technische Fortschritt nur jeweils einzelne Sektoren der Produktion. - In der Zeit 1800/1900 führte der technische Fortschritt in einem Industriezweig zu Fortschritten in anderen. Es entstand die »große Industrie«, in der die einzelnen Industriebetriebe und Industriezweige aber immer noch relativ selbständige Teilsysteme darstellten. - Im 20. Jahrhundert führten technische Neuerungen zu einem Netzwerk der Industrie, in dem ökonomische und ökologische Probleme globalen Charakter erhalten.

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Der technische Fortschritt wird in technikgeschichtlichen Arbeiten oft überbewertet: Technische Neuerungen treten zunächst punktuell auf, und es dauert meist eine geraume Zeit, ehe sie allgemein eingeführt sind. Die Technikgeschichte hat also für jede Zeit zu analysieren, in welchem Anteil und aus welchem Grunde (z.B. wegen noch nicht erfolgter Amortisation) »alte Technik« noch neben der neuen im Einsatz war. So sind Kolbendampfmaschinen bis um 1950, also über 70 Jahre lang, neben dem Elektromotor als Kraftmaschinen genutzt worden. Nur die jeweils neue Technik zu beachten, wäre nicht Technikgeschichte, sondern eine bloße Geschichte der Erfindungen.

ZUR MESSBARKEIT DES FORTSCHRITTS Meßbarkeit erfordert Quantifizierung. Nicht meßbar sind deshalb emotional orientierte Varianten des technischen Fortschrittes, z.B. Schönheit oder Bequemlichkeit einer neuen technischen Lösung. Manches kann meßbar gemacht werden, was zunächst als nicht meßbar erschien, z.B. die Sicherheit bzw. Unfallgefahr eines Autos durch Verformungsexperimente und Testversuche. Der Fortschritt in der Zuverlässigkeit des Dampfschiffs gegenüber dem Segelschiff drückt sich konkret in der bei Dampferlinien gegebenen Möglichkeit aus, genaue Fahrpläne aufzustellen. Wenn allerdings Nietzsche, wie es heißt, gesagt hat: "Die Größe des Fortschritts wird gemessen an der Größe der Opfer, die er gefordert hat", dann muß man dieser Art eines Versuchs, den technischen Fortschritt zu messen, widersprechen: Die Größe der Opfer, z.B. beim Untergang der Titanic 1912, wurde bestimmt durch menschliches Versagen. Allenfalls kann man die Korrelation aufstellen: Je größer das technische System, desto größer die Verantwortung des bedienenden Menschen. Wie kann technischer Fortschritt nun gemessen werden? - Durch Vergleich von Kenngrößen, die das Ziel des technischen Fortschritts betreffen. Dabei kann ein Fortschritt durch mehrere Neuerungen ermöglicht sein. Solche Kenngrößen sind: Länge (m) z.B.: Erreichbare Höhe durch Ballon, Flugzeug, Satellit; erreichbare Bohrlochtiefe, bestimmt durch festeres Bohrgestänge (Eisen statt Holz), kräftigeres Hebezeug (Dampfmaschine statt Tretrad); mögliche Transportwege von Waren (bei Braunkohle: Brikett weiter transportierbar als Naßpreßsteine).

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Gewicht (t): Leistungen der Hebezeuge und bergbaulichen Förderanlage, Transportleistungen von Eisenbahn und Flugzeug. Zeit (sek): Zeitbedarf für die Produktion einer Wareneinheit oder Stückzahl pro Zeiteinheit. Geschwindigkeit (m/sek): Schnellere Verkehrsmittel (Postkutsche, Eisenbahn, Flugzeug) Leistung (kgm/sek): Bei Verkehrsmitteln, Kraftmaschinen (Göpel, Wasserrad, Kolbendampfinaschine, Elektromotor), aber auch Leistungssteigerung in der Entwicklung eines Maschinentyps: Dampfmaschinen um 1800 etwa 1020 PS, um 1900 etwa 10.000 bis 30.000 PS. Eine besondere Gruppe der Kenngrößen sind die »spezifischen Kenngrößen« z.B.: Spezifisches Hubvolumen bei Kolbenkraftmaschinen (m3/PS) = Hubvolumen pro Leistungseinheit (wird mit technischem Fortschritt immer kleiner) Spezifischer Flächenbedarf (m2/PS) oder Spezifischer Raumbedarf (m3/PS) der Maschinen = Fläche bzw. Raum pro Leistungseinheit (wird mit technischem Fortschritt immer kleiner) Wirkungsgrad T| = N efl7 N ges = Nutzeffekt zu Gesamtaufwand, stets kleiner als 1, z.B. die einer Kolbendampfmaschine zu entnehmende mechanische Energie, bezogen auf den gesamten Energieinhalt des eingesetzten Brennstoffs. Der technische Fortschritt äußert sich in einer Erhöhung des Wirkungsgrades, d.h. gleiche Leistung mit weniger Energieaufwand (= weniger Kosten). Beispiel aus der Geschichte: Im Jahre 1848 konstruierte der Amerikaner George Henry Corliss eine neue Dampfinaschinensteuerung, die pro Leistungseinheit den Verbrauch an Dampf und damit an Kohle (= Geld) erheblich senkte. Er bot seine Dampfmaschine den Fabrikanten kostenlos an und verlangte nur die Hälfte der mit dem niedrigeren Brennstoffverbrauch erzielten Geld-Einsparung. Sein Gewinn war größer, als wenn er seine Maschinen zu den üblichen Preisen verkauft hätte.3 Kenngrößen, die indirekt den technischen Fortschritt bestimmen, sind Materialeigenschaften, die z.B. im Bauwesen für Bauwerksgrößen und Spannweiten von Decken, im Schiffbau und im Flugzeugbau für Größen und Bean-

Vgl. MATSCHOß, Conrad, Die Entwicklung der Dampfmaschine. Eine Geschichte der ortsfesten Dampfmaschine und der Lokomobile, der Schiffsmaschine und Lokomotive (2 Bände), Berlin 1908, und WAGENBRETH, Otfried; WÄCHTLER, Eberhard (Hrsg.), Dampfmaschinen. Die Kolbendampfmaschine als historische Erscheinung und technisches Denkmal, Leipzig 1986, S. 78. 37

spruchungen, im Maschinenbau für zulässige Drehzahlen und bei Satelliten für Belastbarkeit durch die extremen Start- und Raumbedingungen maßgeblich sind. Technischer Fortschritt kann statt mit bloß zwei Vergleichsmessungen auch mit einer statistischen Messung quantifiziert werden, so die beim Autobau erreichte Sicherheit mit einer Unfallstatistik, die durch Satelliten erreichten Fortschritte in der Wetterprognose durch eine Statistik der Trefferquote. Kenngrößen des technischen Fortschritts in der Betriebswirtschaft: Produktivität = Leistung pro Arbeitskraft, zu erhöhen z.B. durch Einsatz neuer Technik (also abhängig vom technischen Fortschritt) Gewinn = Ertrag minus Aufwand, zu erhöhen durch Senkung des Aufwandes mittels leistungsstärkerer Technik (also abhängig vom technischen Fortschritt). Produktivität und Gewinn als meßbare Kenngrößen bestimmen letztlich den technischen Fortschritt, denn technische Neuerungen werden von Unternehmen nur dann angewandt, wenn sie die Produktivität und/oder den Gewinn des Betriebes vergrößern, gegebenenfalls auch indirekt durch größere Sicherheit der Produktion oder bessere Verkaufsfähigkeit der Waren durch höhere Qualität. Aus den gleichen Gründen fördern Unternehmen natürlich auch die Realisierung technischer Fortschritte.

ZUR FUNKTION DES TECHNISCHEN FORTSCHRITTS IN DER TECHNIKGESCHICHTE In der Funktion des technischen Fortschrittes in der Technikgeschichte sind vier Modelle mit unterschiedlicher Meßbarkeit zu unterscheiden: 1. Der technische Fortschritt befriedigt ein neues Bedürfnis. Beispiel: Fernseher. Hier ist der Fortschritt gegenüber dem Zustand zuvor nicht meßbar. 2. Der technische Fortschritt bietet eine neue technische Lösimg, neben welcher die alten Lösungen weiter bestehen bleiben. Beispiel: Jahrzehntelang Elektrostahl neben Siemens-Martin-Stahl und Thomas-Stahl, Elektromotor neben Kolbendampfmaschine, LKW-Transport neben Eisenbahntransport. Das längere Nebeneinander der Varianten weist auf die Vielschichtigkeit der Problematik hin, so daß ein messender Vergleich den Fortschritt nur schwer erfassen kann. 3. Der technische Fortschritt ersetzt das bisherige Verfahren durch ein solches, das die Produktion verbilligt, vermehrt oder qualitativ verbessert. 38

Beispiele: Der Übergang vom Spinnrad zur Spinnmaschine, vom Handwebstuhl zum mechanischen Webstuhl, vom Holzkohlehochofen zum Kokshochofen, von der Ziegel-Handformung zur Ziegelpresse, vom Ziegel-Ringofen zum Tunnelofen. In diesen Fällen ist der technische Fortschritt durch den Vergleich technischer oder wirtschaftlicher Kenngrößen direkt meßbar. Für den technischen Fortschritt in diesem Modell gibt es zwei Ablaufschemen: a) Die Arbeitsmaschinen vergrößern sich (Spinnmaschine an Stelle des Spinnrades), infolgedessen müssen leistungsstärkere Kraftmaschinen eingesetzt werden (Wasserrad nach Muskelkraft, Dampfmaschine nach Wasserrad). b) Leistungsstarke Kraftmaschinen werden verfügbar (Wasserrad nach Muskelkraft), infolgedessen können die Arbeitsmaschinen vergrößert werden (Vergrößerung der Mühlsteine nach Einführung des Wasserrades in die Getreidemüllerei). 4. Der technische Fortschritt hat vorrangig die Verschlechterung der Produktionsbedingungen zu kompensieren, um die Produktion überhaupt aufrechtzuerhalten. Beispiel: Jeder Bergbau begann mit Gewinnung des Bodenschatzes von Hand dort, wo er an der Erdoberfläche ansteht. Ist dort der Bodenschatz abgebaut, muß er aus größerer Tiefe gewonnen werden, was leistungsstärkere technische Mittel erfordert. Die Korrelation von Schachttiefen und technischem Fortschritt (Tabellen 1 bis 3) zeigt, daß ohne technischen Fortschritt der Bergbau längst eingegangen wäre. Meist bringt jede technische Lösung, die zunächst nur dem Weiterbetrieb einer Produktion dienen soll, auch eine Leistungssteigerung mit sich. Wirtschaftlich ist eine solche auch nötig, da neue technische Verfahren meist höhere Investitionen erfordern, die amortisiert werden müssen. (Tabelle 4)

ZUR FRAGE DES TECHNISCHEN FORTSCHRITTS HEUTE UND KÜNFTIG Wie lange ist technischer Fortschritt zu erwarten? Wie beeinflußt er die Zukunft der Menschheit? Wie sollten die Menschen deshalb den technischen Fortschritt handhaben?

39

Immer weiterer Fortschritt in dem begrenzten System Erde ist eine Sonderform des Zukunftsproblems der Menschheit, das der Club of Rome ins Bewußtsein gerückt hat.4 Technischer Fortschritt ist auch weiter nötig, schon wenn man an seine Funktion in dem oben beschriebenen Modell 4 denkt. Technischer Fortschritt ist auch hinsichtlich seiner Rolle im Anliegen des Clubs of Rome ambivalent: Er vergrößert die Gefahr des Kollaps menschlicher Kultur, wenn er Anlaß gibt zu stärkerem Verbrauch von Rohstoffen und Energie. Er vermindert die Gefahr, wenn er genutzt wird zu sparsamerem Gebrauch von Rohstoffen, zur Realisierung derselben Leistung mit weniger Energie und zur Lösung von Umweltproblemen wie Verminderung des Mülls durch Recycling der Stoffe und Reinhaltung von Luft, Wasser und Erde. Künftiger Fortschritt muß wegen der globalen Probleme größten Nutzen mit minimalem Neu-Verbrauch an Rohstoffen und nicht regenerierbarer Energie erzielen. Künftiger Fortschritt ist an dieser Zielstellung zu messen, wobei alle seine Neben- und Langzeitwirkungen mit zu beachten sind.

ZUSAMMENFASSUNG Der Fortschritt überhaupt und der technische Fortschritt sind ambivalent: Sie bieten dem Menschen Verbesserung des Lebens und Gefahren. Mehr emotional zu registrierende Effekte des Fortschritts sind nicht meßbar. Verbilligte, gesteigerte und verbesserte Produktion ist durch technische Fortschritte erreichbar, die mit verschiedenen technischen oder wirtschaftlichen Kenngrößen gemessen werden können. Die Funktion des technischen Fortschritts in der Geschichte kann mit vier Modellen beschrieben werden, die jeweils in verschiedenen Bereichen der Technikgeschichte auftreten. Der technische Fortschritt künftig muß abgestimmt werden auf die "Grenzen des Wachstums" von Bevölkerung, Produktion und Umweltnutzung.

Vgl. MEADOWS, Dennis u.a., Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of

40

Tabelle 1: Die Korrelation zwischen Schachttiefe und Fördertechnik Bergbaugeschichte (geschätzte Durchschnittswerte) Zeit

Schachttiefe (m)

Fördertechnik

in der

maximale Leistung (PS)

Antike bis 16. Jh.

20 bis 50

Handhaspel

0,4 bis 0,8

14. Jh. bis 19. Jh.

100 bis 250

Pferdegöpel

Ibis 8

16. Jh. bis 19. Jh.

250 bis 400

Wassergöpel

10 bis 40

(Kehrrad) 1800 bis 1940

300 bis 1000

Dampfmaschine

10 bis 3000

1919 bis jetzt

300 bis 2000

Elektromotor

100 bis 3000

Tabelle 2: Korrelation zwischen der Tiefe der Gruben und der Wasserhaltungstechnik im sächsischen Erzbergbau (geschätzte Durchschnittswerte) Zeit (ungefähr)

maximale Tiefe Technik der Wasserhebung der Grube (m)

1168- 1550

50 bis 200

1550- 1830

200 bis 400

1820-1900

300 bis 600

1935 - 1 9 7 0

400 bis 800

Schöpfen in Eimern von Hand oder Ziehen in Kübeln mit Handhaspel, Einsatz zahlreicher Wasserknechte, die sich die Eimer zureichen Kunstgezeuge als Systeme untereinander stehender Saugpumpen mit gemeinsamem Antrieb durch Wasserrad und Gestänge Vereinfachung: Statt vieler Saugpumpen wenig Druckpumpen (nachdem Eisenrohre verfügbar). Nach Erfindung der Wassersäulenmaschinen: Ersatz mehrerer Wasserräder untereinander durch eine (kräftigere) Wassersäulenmaschine Kreiselpumpen mit Elektromotoren (beides schnellaufende Maschinen, Elektromotoren in Pumpenräumen untertage direkt mit Kreiselpumpen zu koppeln

Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart 1972.

41

Tabelle 3: Der technische Braunkohlenindustrie

Fortschritt

Zeit (ungefähr) Bis 1850

Problem

um 1850

großer Bedarf an Leuchtöl und Paraffin

1858

Naßpreßsteine vertragen keinen weiten Transport, Absatz der Braunkohle auf Umgebung der Werke beschränkt. oberflächennahe Vorkommen erschöpft, Abbau untertage nur unter noch mächtigerem Deckgebirge möglich Nachteile der liegenden Retorten hemmen Produktionssteigerung der Schwelerei

um 1860/70

um 1880

1910

1925

1935

42

in

der

Geschichte

der

Technischer Fortschritt Abbau der Braunkohle meist im Tagebau, Verarbeitung der Klarkohle zu Naßpreßsteinen Entwicklung der Braunkohlenschwelerei mit liegenden Retorten (geringe Leistung, viel Handarbeit, schlechte Wärmenutzung) Erfindung der Brikettpresse. Braunkohlenbriketts weit transportierbar. (Konkurrenz zu Steinkohle) Ubergang zu vorrangigem Abbau der Braunkohle untertage. Gewinnung von Hand

Einführung des Rolle-Schwefelofens: große Leistung, wenig Handarbeit, schlechte Wärmenutzung Schlechte Arbeitsproduktivität bei Erster Abraumbagger: große Steider Braunkohlengewinnung, gerung der Arbeitsproduktivität, Handarbeit in Tiefbau und Tageauch bei mächtigerem Abraum bau Abbau im Tagebau möglich. Zwang zur Rationalisierung Stillegung zahlreicher Braunkohlen-Tiefbaue, Entwicklung von Großtagebauen mit Abraumbaggern und Abraumförderbrücken sowie Kohlebaggern Entwicklung der SpülgasIn der Schwelerei sind die Rolleöfen zu unproduktiv schwelung: Vollmechanisiert, hohe Leistung, gute Wärmenutzung aufgrund direkten Wärmeübergangs

Tabelle 4: Tagesförderung von Schachtförderanlagen mit verschiedener Schachtfördertechnik Zeit etwa

Schachtfördertechnik

Schachttiefe etwa (m)

Fördergeschwindig. keit (m/sek)

Inhalte des Fördergefäßes etwa (t)

Tagesleistung etwa (t/Tag)

1719. Jh.

Handhaspel

50

0,2

0,4

50

14./19. Jh. Pferdegöpel

250

1

2

260

16./19. Jh.

Kehirad

400

1,2

2,5

280

19./20. Jh.

Dampffördermaschine

1000

8

3

560

20. Jh.

elektrische Fördermaschine

2000

15

6

1000

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Unternehmer und Technischer Fortschritt in den Quellen von Wirtschaftsarchiven VON EVELYN KROKER

Das Thema hat einen historischen und einen quellenkundlichen Aspekt. Der historische Aspekt des Themenbereichs Unternehmer und technischer Fortschritt ist anzusiedeln im Schnittpunkt von Technik-, Unternehmens- und Wirtschaftsgeschichte, und zwar genau in dieser Reihenfolge. Den quellenkundlichen Aspekt könnte man ganz einfach nur provokativ so formulieren: Wo anders als in Unternehmens- und Wirtschaftsarchiven sollte man Quellen über Unternehmer und Innovationen finden? Methodische und methodologische Reflexionen über den Standort und die Aufgaben der Technikgeschichte haben im vergangenen Jahrzehnt einen beachtlichen Reifegrad erreicht1. Daher bietet es sich an, zunächst die Grundpositionen kurz zu umreißen. Der lange Zeit dominierende Gegensatz von einer primär ingenieurwissenschaftlich geprägten (speziellen) Technikgeschichte und der allgemeinen Technikgeschichte, die sich am historischen Gesamtprozeß orientiert, ist nicht nur eine Frage unterschiedlicher Ausgangsvoraussetzungen von Ingenieuren und Historikern. Dahinter offenbart sich vermutlich auch eine sachimmanente Schwierigkeit: Den vorrangig historisch geschulten Technikhistorikern mangelt es bis zu einem gewissen Grad an der technikwissenschaftlichen Befähigung zur Auswertung von Quellen, - vor allem des 20. Jahrhunderts. Ingenieuren mangelt es häufig an der historischen und quellen-

Vgl. beispielsweise LUDWIG, Karl-Heinz, Grundfragen der Technikgeschichte, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 15, 1964, S. 75-83; vgl. die grundlegenden Beiträge in RORUP, Reinhard/HAUSEN, Karin (Hrsg.), Moderne Technikgeschichte, Köln 1975; LUDWIG, Karl-Heinz, Entwicklung, Stand und Aufgaben der Technikgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte 18, 1978, S. 502-523; TROITZSCH, Ulrich/WOHLAUF, Gabriele (Hrsg.), Technikgeschichte. Historische Beiträge und neuere Ansätze, Frankfurt/Main 1980.

45

kritischen Schulung. Technikgeschichte ist laut Reinhard Rürup "eine historische Disziplin und sonst nichts".2 Trotz zahlreicher Einzelkritiken hat sich dieser Ansatz inzwischen durchgesetzt, und es hat sich der Blick für das, was denn unter dieser Prämisse zu tun sei, geschärft: "Zu viele Annahmen über das Verhältnis von Technik, Mensch und Arbeitswelt beruhen bisher auf empirisch nicht genügend abgesicherten Grundlagen", haben es Ulrich Troitzsch und Gabriele Wohlauf formuliert3. Und damit ist das Quellenproblem angesprochen. Die deutsche Technikgeschichte ist aus verschiedenen Gründen bisher auf die Phase der Frühindustrialisierung und auf die Industrialisierungsgeschichte schlechthin fixiert. Die Zeitgeschichte der Technik ist demgegenüber eher im Hintergrund geblieben. Rainer Stahlschmidt, von dem es eine insgesamt vorzügliche Quellenkunde der Technikgeschichte für das 20. Jahrhundert gibt4, charakterisiert die Quellen in Wirtschaftsarchiven folgendermaßen: "Firmen bewahren in ihren Archiven, soweit solche überhaupt vorhanden sind, in erster Linie Unterlagen der kaufmännischen und der Rechtsabteilung auf, die allenfalls indirekt die technische Entwicklung widerspiegeln."5 Die Technikhistoriker Ulrich Troitzsch und Wolfhard Weber beklagen im Hinblick auf technikgeschichtlich relevante Quellen und Akten pauschal "eine recht einseitige Kassation in der öffentlichen und privaten Archiwerwaltung." 6 Daß von Seiten der Unternehmens- und Wirtschaftsarchive dieses Bild korrigiert werden muß, wenn man die überlieferten Bestände und Einzelakten einmal näher in die Analyse einbezieht, ist eine zentrale Aufgabe dieses Beitrags. Eine Durchsicht der Zeitschrift "Technikgeschichte" beispielsweise ergibt, daß sich die überwiegende Mehrzahl der Beiträge auf gedruckte Quellen stützen.

2

3 4

5

6

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RÜRUP, Reinhard, Technikgeschichte als Historische Sozialwissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 5, 1979, S. 293 ff., hier S. 294. TROITZSCH, Ulrich/WOHLAUF, Gabriele (Hrsg.), Technikgeschichte, 1980, S. 27. STAHLSCHMIDT, Rainer, Quellen und Fragestellungen einer deutschen Technikgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts bis 1945, Göttingen 1977. STAHLSCHMIDT, Rainer, Arbeitsplatz und Berufsbild im Wandel: Der Drahtzieher, in: Fabrik - Familie - Feierabend, hrsg. von Jürgen REULECKE und Wolfhard WEBER, Wuppertal 1978, S. 115-134, hier S. 130. TROITZSCH, Ulrich/WEBER, Wolfhard, Methodologische Überlegungen für eine künftige Technikhistorie, in: TREUE, Wilhelm (Hrsg.): Deutsche Technikgeschichte. Vorträge vom 31. Historikertag am 24. September 1976 in Mannheim, Göttingen 1977, S. 99-122, hier S. 109; vgl. auch GLEITSMANN, Rolf-Jürgen, Die Archive und die Erforschung der Geschichte von Naturwissenschaften und Technik, in: Der Archivar 44, 1991, Sp. 43-51.

Die Unternehmensgeschichte hat sich ja zunächst in einem gewissen Gleichklang mit der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte entwickelt: "Die Konsolidierung der Unternehmensgeschichte als eines respektierten ertragreichen Zweiges der Wirtschafts- und Sozialgeschichte konnte erst nach einem jahrzehntelangen, oft dornenvollen Weg erfolgen und ist bis zum heutigen Tag nicht gänzlich abgeschlossen."7 Wie Hans Jaeger überzeugend dargetan hat, hat die Unternehmensgeschichte in Deutschland in den letzten zwei Jahrzehnten in Teilbereichen durchaus Fortschritte aufzuweisen, wenngleich auf zahlreichen Gebieten Desiderata vorhanden sind und das Theoriedefizit unübersehbar ist. Biographien einzelner Unternehmer sind in den letzten Jahrzehnten und Jahren viele erschienen, aber hier überwiegt ja bei weitem der personengeschichtliche und sozialhistorische Ansatz, von den firmennahen Publikationen einmal ganz abgesehen. Firmenfestschriften sind auch unzählige geschrieben worden, wobei die Tendenz zur Qualität seit den 1980er Jahren erfreulich zunimmt, auf jeden Fall für die "jubilierenden" Unternehmen, die über eigene Archive verfügen und das Schreiben ihrer Geschichte nicht (allein) der Werbeabteilung überlassen. Ein Desiderat der unternehmensgeschichtlichen Forschung hat wieder Hans Jaeger exakt umrissen: "Hingegen konnten die schwierigen Fragen nach dem konkreten, sozusagen meßbaren Beitrag der Unternehmerschaft als historisch variablem Faktor zum Prozeß der Industriellen Revolution und des wirtschaftlichen Wachstums einer differenzierenden Antwort kaum näher gebracht werden."8 Und wenn man diese Aussage noch auf den Bereich des technischen Fortschritts und der Innovationstätigkeit von Unternehmern erweitert, dann ist die Notwendigkeit der Annäherung an dieses Thema von der Quellenseite her nachdrücklich unter Beweis gestellt. Die grundlegenden Arbeiten über Unternehmer als sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Kategorie sind bekannt. Sie stammen von Joseph Schumpeter9, Fritz Redlich und Alfred D. Chandler10 und zuletzt von Jürgen

7

8 9

JAEGER, Hans, Unternehmensgeschichte in Deutschland seit 1945. SchwerpunkteTendenzen-Ergebnisse, in: Geschichte und Gesellschaft 18, 1992, S. 107-132, hier S. 109; vgl. zum Standort der Unternehmensgeschichte aus dem Blickwinkel eines in einem Großunternehmen tätigen Historikers POHL, Manfred, Unternehmen und Geschichte, Mainz 1992; zur Entwicklung der marxistischen Betriebsgeschichte vgl. KLUGE, Arnd, Betriebsgeschichte in der DDR - ein Rückblick, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 38, 1993, S. 49-62. JAEGER, Hans, Unternehmensgeschichte in Deutschland seit 1945,1992, S. 115 SCHUMPETER, Joseph A., Art. Unternehmer, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 8, 4. Aufl., Jena 1928, S. 476-487; ders., Theorie der wirtschaft47

Kocka". Im Erkennen und Durchsetzen neuer Möglichkeiten auf wirtschaftlichem Gebiet liegt nach Schumpeter das Wesen der Unternehmerfunktion, wobei die fünf Kriterien, an denen er wirtschaftliche FUhrungskräfte ("wirtschaftliche Führerschaft") mißt, die technische Komponente mit einbezieht, nämlich 1. die Erzeugung und Durchsetzung neuer Produkte oder neuer Qualitäten von Produkten, 2. die Einführung neuer Produktionsmethoden, 3. die Schaffung neuer Organisationen der Industrie, 4. die Erschließung neuer Absatzmärkte und 5. die Erschließung neuer Bezugsquellen12. Auch wenn Jürgen Kocka sich expressis verbis auf Redlich und Chandler beruft, so ist seine Definition der Unternehmerfunktion doch nicht weit entfernt von den fünf Schumpeterschen Kategorien: das Treffen von wesentlichen, d.h. strategischen Entscheidungen über das Unternehmensziel, seine Positionierung auf dem Markt, dies unter möglichst hohen Profit- und Rentabilitätserwägungen13. Wenn demnach zu dem Kern solcher strategischen Aufgaben Entscheidungen Uber die Mobilisierung und die Kombination der Produktionsfaktoren - also über Investitionen und Personal - gehören, so ist die Teilhabe oder Verhinderung von Innovationen und technischem Fortschritt mit zu den strategischen, typischen Unternehmerfunktionen hinzuzurechnen. Hilfreich und für die Themenstellung nützlich ist auch Kockas Unterscheidimg von Unternehmern und Managern, die sich nicht mehr nach dem Eigentumsbegriff richtet, wonach der Unternehmer als selbständiger Eigentümer vom angestellten Manager zu unterscheiden ist, sondern die Managerfunktion als die taktische Art beschreibt, die zur Durchführung der Unternehmerentscheidungen notwendig ist14. Wenn nun aber weiter nach dem Verhältnis von Unternehmern und Innovationen gefragt wird, dann muß doch wohl in erster Linie nach Unter-

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48

lichen Entwicklung, 6. Aufl., München 1964; ders., Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 3. Aufl., München 1972, S. 198 ff. CHANDLER, Alfred D./REDLICH, Fritz, Recent Developments in American Business Administration and their Conceptualization, in: Business History Review 35, 1961, S. 1-27; REDLICH, Fritz, Der Unternehmer. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Studien, Göttingen 1964. KOCKA, Jürgen, Unternehmer in der deutschen Industrialisierung, Göttingen 1975. SCHUMPETER, Joseph A., Art. Unternehmer, 1928, S. 483. KOCKA, Jürgen, Unternehmer in der deutschen Industrialisierung, 1975, S. 14. Ebd.

nehmern als Träger strategischer Entscheidungen gefragt werden. So kann das sehr allgemeine Beziehungsgeflecht von Unternehmern und technischem Fortschritt doch noch etwas eingegrenzt werden. Viele Jahrzehnte lang haben Technik- und Wissenschaftsgeschichte und auch die Firmengeschichtsschreibung für den Verlauf der Industriellen Revolution den Erfinder und schöpferischen Unternehmer in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt. Nach Wolfgang König ist das beispielsweise der Grund dafür, daß die Erfindungen auf dem Gebiet der metallbearbeitenden Werkzeugmaschinen, die häufig nicht eindeutig herausragenden Unternehmer- oder Technikerpersönlichkeiten zugeordnet werden können, weniger erforscht sind15. Wie überhaupt die Dominanz des selbständigen Einzelerfinders in weiten Teilen der älteren Literatur überwiegt. Der Begriff des technischen Fortschritts ist nicht nur im Sprachgebrauch, sondern vor allem in der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion eine makroökonomische Größe, die sowohl Wachstum des Vorrats an industriell nutzbarem Wissen wie auch die tatsächlich realisierten technischen Verbesserungen einschließt, deren Meßbarkeit aber umstritten ist16. Zwar ist unbestritten, daß zwischen wirtschaftlichem Wachstum und technischem Fortschritt ein enger, ja direkter Zusammenhang besteht, aber als dritte Größe neben Kapital und Arbeit ist technischer Fortschritt am schwierigsten quantifizierbar. Man hat sich deshalb zuerst in den Wirtschaftswissenschaften, dann auch in der neueren technikgeschichtlichen Forschung der Innovationstherorie, den Innovationen zugewandt17, also den den technischen Entwicklungen zugrundeliegenden Erfindungen und ihrer Umsetzung. Nachdem bereits Schumpeter in seinen "Konjunktur-Zyklen" die Innovation als die Aufstellung einer neuen Produktionsfunktion definierte und dazu sowohl die Einführung neuer Produktionen, die Erschließung neuer Märkte wie unternehmensstrategisch bedingte neue Organisationsstrukturen oder gar Fusionen zählte", gehört die Unterscheidung technischer Neuerungen zwischen Erfindung und Einführung, also zwischen Invention und Innovation, zu den Selbstverständ-

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17

18

Vgl. Einleitung zum Themenheft, S. 117. STAHLSCHMIDT, Rainer, Quellen und Fragestellungen einer deutschen Technikgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts bis 1945,1977, S. 16. Vgl. vor allem PFETSCH, Frank R. (Hrsg.), Innovationsforschung als multidisziplinäre Aufgabe, Göttingen 1975; ders. (Hrsg.), Innovationsforschung in historischer Perspektive. Ein Überblick, in: Technikgeschichte 45,1978, S. 118-133. SCHUMPETER, Joseph A., Konjunkturzyklen, Bd. 1, Göttingen 1961,S. 94 f.

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lichkeiten in der Technikgeschichte19. Und zweifellos erleichtert die Operationalisierung des Begriffs technischer Fortschritt in Invention, Innovation und Diffussion den Zugriff auf das Quellenmaterial. Damit ist das Moment der Neuheit und ein institutionell-sozialer Zusammenhang dieses Neuen als wichtigster Parameter des Innovationsbegriffes festgeschrieben. In Anlehnung an die Kommunikationswissenschaft können an Innovationen und Innovationsprozesse fünf Grundfragen gestellt werden: Wer innoviert für wen, was, wie und wozu. Frank R. Pfetsch kommt das Verdienst zu, die zentrale Fragestellung der Innovationsforschung für die Geschichtswissenschaft nach diesem Grundschema entwickelt und ausgefeilt zu haben20. Und sie sind außerordentlich hilfreich bei der nachfolgenden Suche von Quellen für dieses Thema in den Beständen und Akten von Wirtschaftsarchiven. Die erste Fragestellung, wer innoviert, betrifft den Träger, den Initiator, die treibende Kraft der Innovation. Im historischen Zeitverlauf reicht hier die Spannweite vom Erfinder/Unternehmer über den technischen Direktor/Vorstand, den wissenschaftlich-technischen Verband bis zu den F- und EAbteilungen unserer heutigen Konzerne. Die zweite Fragestellung, für wen innoviert wird, ist in den Unternehmen und deren ökonomisch-gesellschaftlichem Umfeld anzusiedeln. Die dritte Fragestellung, was innoviert wird, betrifft Gegenstand, Inhalt und Qualität der Innovation und gehört zum Kernstück des technischindustriellen Bereichs. Gleiches gilt für die vierte Fragestellung, wie innoviert wird. Die fünfte Fragestellung schließlich, nach dem wozu, ist im ökonomischen Bereich noch am einfachsten zu beantworten. Wie hilfreich und aussagefähig Theorien mittlerer Reichweite für den historischen Erkenntnis- und Forschungsprozeß sein können, zeigt Pfetsch an den drei Phasen, in die Innovationsprozesse eingeteilt werden können. Verkürzt dargestellt, erfolgt in der Inventionsphase die Erfindung oder Entdekkung, werden Ideen entwickelt, Forschungsprogramme aufgelegt. Im Unternehmensbereich endet diese Phase häufig mit der Anmeldung eines Patents. In der zweiten Phase erfolgt die Einführung, Anwendung, Nutzung der Inno-

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STAHLSCHMIDT, Rainer, Quellen und Fragestellungen einer deutschen Technikgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts bis 1945, 1977, S. 93. PFETSCH, Frank R. (Hrsg.), Innovationsforschung in historischer Perspektive, 1978, S. 118-133. Die folgenden Ausführungen lehnen sich eng an Pfetschs Gedankengänge an.

vation, bevor sich in der dritten Phase die Diffiission, also Verbreitung, Adoption, serienmäßige Herstellung und Vermarktung anschließt. Die Archive der Wirtschaft stellen einen relativ jungen Zweig im Rahmen des Archivwesens insgesamt dar. Die Geschichtswissenschaft beschränkte sich ja jahrhundertelang fast ausschließlich auf dynastischmilitärische Geschichte. Erst unter dem Einfluß des Historismus und dem Einsetzen einer breit angelegten "Lokal- und Territorialgeschichtsforschung" wurden soziale Strukturen und wirtschaftliche Entwicklungen verstärkt in die historische Forschung einbezogen. Hierfür stehen Namen wie Wilhelm Roscher und Bruno Hildebrand für die ältere historische Schule der Nationalökonomie oder Karl Bücher und Lujo Brentano für die jüngere historische Schule. Dieser neue Ansatz der Wissenschaft machte den Rückgriff auf Primärquellen aus Unternehmen, Kammern und Verbänden erforderlich und führte damit zur Errichtung eigener Archive der Wirtschaft21. Die erste Phase zur Gründung von Wirtschaftsarchiven lag vor dem Ersten Weltkrieg und umfaßte die Jahre 1905 bis 1914. In dieser Zeit entstanden vor allem finnenunabhängige Wirtschaftsarchive an Hochschulen wie das Thünen-Archiv in Rostock oder das Bilanzarchiv bei der Handelshochschule Köln sowie regionale Wirtschaftsarchive, allen voran das 1904 initiierte und 1906 unter wesentlicher Beteiligung der Kölner Handelskammer gegründete Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsarchiv in Köln. Es kann nicht nur beanspruchen, das älteste regionale Wirtschaftsarchiv im deutschsprachigen Raum und Vorbild für spätere Gründungen zu sein, sondern zählt heute zu den führenden Wirtschaftsarchiven in Deutschland. In seinem, im Mai 1993 eingeweihten, Magazinneubau beherbergt das Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsarchiv auf rund 2.000 Quadratmetern ca. 7 Regalkilometer Akten zur Geschichte rheinischer Firmen und Unternehmer. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es nur zwei Gründungen von Unternehmensarchiven: 1905 das Krupp-Archiv und 1907 das Siemens-Archiv. Beide gehören heute ebenfalls zu den großen Unternehmensarchiven. Die zweite Gründungsphase setzte in den 1930er Jahren ein, wobei der Schwerpunkt nun eindeutig auf den Firmen- bzw. Werksarchiven lag. Die Aufgeschlossenheit gegenüber dem Problem der wirtschaftlichen Archivgutpflege resultierte nun primär aus der durch die Neustrukturierung der Wirtschaftsorganisation drohenden und in jedem Fall unerwünschten Einmischung des Staates in Eigentumsfragen der Wirtschaft. Beispielgebend für

21

Vgl. dazu und zum folgenden EYLL, Klara van, Voraussetzungen und Entwicklungslinien von Wirtschaftsarchiven bis zum Zweiten Weltkrieg, Köln 1969.

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diese Phase sind die Archivgründungen der Unternehmen der rheinischwestfälischen Montanindustrie. Als Regionalarchiv entstand 1941 das Westfälische Wirtschaftsarchiv in Dortmund, eine Gründung der Wirtschaftskammern Westfalen und Lippe. Es wurde nach seiner Umwandlung in eine Stiftung (1969) vor allem in den 1980er Jahren Vorbild für die weitere Gründung von regionalen Wirtschaftsarchiven. Im Verlauf der dritten Aufschwungphase für Archive der Wirtschaft, die in den 1950er Jahren begann, entstand 1953 in Dortmund die Arbeitsgemeinschaft rheinisch-westfälischer Werks- und Wirtschaftsarchive, aus der 1957 die Vereinigung deutscher (Werks- und) Wirtschaftsarchivare hervorging22. In ihr fanden erstmals Regionalarchive, Unternehmens-, Kammerund Verbandsarchive eine gemeinsame Vertretung. Seit 1975 führt sie die Bezeichnung "Vereinigung deutscher Wirtschaftsarchivare" (VdW). Die VdW hat zur Zeit rd. 100 korporative und 200 persönliche Mitglieder. Fast 200 Archive der Wirtschaft sind in ihr vertreten. Sie ist der einzige überregionale Fachverband für das Archivwesen der Wirtschaft und hat zahlreiche Mitglieder auch aus dem übrigen deutschsprachigen Raum wie Österreich, der Schweiz, den Niederlanden und Luxemburg. Man kann wohl sagen, daß alle großen und alle forschungsorientierten und die meisten hauptamtlich besetzten Wirtschaftsarchive in der VdW vertreten sind, wobei sich ihre Branchenzugehörigkeit wie folgt verteilt: Die meisten Unternehmensarchive unterhalten die Banken (23), die Chemie (22), die Versicherungen (19) und der Maschinenbau (18), es folgen mit großem Abstand die Eisen- und Stahlindustrie (9), die Energieversorgungsunternehmen (8), Verlage (8) und die Elektroindustrie. Im Bereich des Handels und der Textilindustrie gibt es kaum Unternehmensarchive. Auch mittelständische Betriebe können sich eigene Archive kaum leisten. Zu den satzungsmäßigen Aufgaben der VdW gehören die Förderung des Archivwesens der Wirtschaft und die Unterstützung der Unternehmensgeschichte. Diese Koppelung der Ziele ist von den Gründungsmitgliedern ganz folgerichtig vorgenommen worden, denn ohne Quellen und Akten der Unternehmen ist Unternehmensgeschichtsschreibung nicht denkbar und ohne Wirtschaftsarchive sind zentrale Fragen der Technikgeschichte wie der Innovationen, wie an den Ausführungen dazu schon angeklungen ist, auf empirischer Grundlage nicht beantwortbar.

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EYLL, Klara van, 25 Jahre VdW: Bilanz-Standort-Perspektive, in: Archiv und Wirtschaft 1983, H. 3, S. 85-96.

Führende Wirtschaftsarchivare, allen voran Klara van Eyll, haben 1978 im Auftrag der Gesellschaft filr Unternehmensgeschichte das Verzeichnis "Deutsche Wirtschaftsarchive" herausgegeben. Inzwischen liegen 3 Bände vor23. Während Band 1 einen Nachweis historischer Quellen in Unternehmen, Kammern und Verbänden der Bundesrepublik beinhaltet, sind in Band 2 die Archive und Quellen der Kreditwirtschaft zusammengefaßt und in Band 3 die Bestände von Unternehmen, Unternehmern, Kammern und Verbänden in öffentlichen Archiven aufgeführt. So kommen die Gesellschaft für Unternehmensgeschichte und die Vereinigung deutscher Wirtschaftsarchivare dem Bedürfnis der historischen Forschung nach einem zuverlässigen Fundstellennachweis über Unternehmens-, wirtschafts-, sozial- und technikgeschichtlichen Quellen nach. Um dem Anspruch gerecht zu werden, allgemeines Findbuch der deutschen Wirtschaftsarchive zu sein, ist eine ständige Aktualisierung der Bände erforderlich. Gegenwärtig befindet sich die dritte, wesentlich überarbeitete Neuauflage von Band 1 der "Deutschen Wirtschaftsarchive" in Druck. Sie wurde von der Wirtschaftshistorikerin Dr. Renate Schwärzel besorgt. Angeregt durch die Hinweise in den zahlreichen Rezensionen der vorliegenden Bände in der wissenschaftlichen Fachliteratur wurde das Konzept zur Neuauflage erheblich erweitert. Neben der Möglichkeit, die Betriebs-/Unternehmensarchive der neuen Bundesländer erstmals zu erfassen, besteht ein wesentliches Ziel der Überarbeitung darin, die Informationsfulle des Bandes zu erhöhen. So wurden die für die "ersten Recherchen" eines wissenschaftlichen Nutzers erforderlichen Informationen, die einen Einstieg in das jeweilige Unternehmens- bzw. branchengeschichtliche Forschungsthema ermöglichen könnten, erfaßt und in übersichtlicher Form dargestellt. Inhaltliche Schwerpunkte der Darstellung sind: Historischer Abriß des Un-

23

Deutsche Wirtschaftsarchive, hrsg. im Auftrag der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte e.V. von Klara VAN EYLL, Beate BRÜNINGHAUS, Sibylle GRUBEBANNASCH, R e n a t e KÖHNE-LINDENLAUB, Carl A . REICHLING, Hans-Jürgen REUB, A n g e l a TOUSSAINT, Horst A . WESSEL.

Band 1: Band 2:

Nachweis historischer Quellen in Unternehmen, Kammern und Verbänden der Bundesrepublik Deutschland, 2. Auflage, Stuttgart 1987. Kreditwirtschaft. Im Auftrag des Instituts für bankhistorische Forschung und der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte. Bearb. von Monika POHLE und Dagmar GOLLYK-JUNK, 2. Auflage, Stuttgart 1988.

Band 3:

Bestände von Unternehmen, Unternehmern, Kammern und Verbänden der Wirtschaft in öffentlichen Archiven der Bundesrepublik Deutschland. Bearb. von Ulrike DUDA, 1. Auflage, Stuttgart 1991.

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ternehmens, Beschreibung der Archivbestände mit Namen, Umfang sowie Findmitteln und Literatur zur Geschichte des Unternehmens und des Archivs. Was den Stand des Wirtschaftsarchivwesens in den ehemaligen alten Bundesländern betrifft, so ist die Entwicklung gerade in den 1970er und 1980er Jahren in vieler Hinsicht insgesamt gesehen erfreulich verlaufen24. Das Bergbau-Archiv als erstes Branchenarchiv wurde 1969 gegründet. Bei den regionalen Wirtschaftsarchiven hat es neben den seit langem bestehenden und gut funktionierenden Archiven in Köln (Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv) und Dortmund (Stiftung Westfälisches Wirtschaftsarchiv) immerhin in den letzten zwölf Jahren drei Neugründungen gegeben: 1980 wurde die Stiftung Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg gegründet, ein Archiv, das innerhalb von zehn Jahren in diesem süddeutschen Bundesland auf dem Gebiet der Sicherung von Archivgut der Wirtschaft sehr viel bewirkt hat und 1991 bereits die Archive von 215 Firmen und 15 Industrie- und Handelskammern verwahrte, ein Aktenvolumen von immerhin 7.000 lfm Akten. Das Archiv der Handelskammer für München und Oberbayern konnte 1991 in ein regionales Wirtschaftsarchiv für das Land Bayern umgewandelt werden. Vor 1 Vi Jahren, im Oktober 1992, wurde, nach vielen Jahren vorbereitender Gespräche und Bemühungen, für das Land Hessen in Wiesbaden ebenfalls ein regionales Wirtschaftsarchiv eingerichtet, das zunächst als Gast Aufnahme im dortigen Staatsarchiv fand und seit kurzem im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt seinen endgültigen Standort gefunden hat. Anlaß zur Sorge gibt es dagegen auf dem Gebiet des Wirtschaftsarchivwesens in den neuen Bundesländern seit der Wiedervereinigung. In der zentralistisch gelenkten Volkswirtschaft der DDR gab es bis 1989/1990 in den Betrieben und sogenannten Kombinaten ein ausgedehntes, in der Regel personell gut ausgestattetes, Netz von Betriebs- und Verwaltungsarchiven. Das Betriebsarchivgut war Bestandteil des staatlichen Archivfonds der DDR. Mit der Privatisierung der Wirtschaft in den neuen Bundesländern nach dem 3. Oktober 1990 entstand für die Betriebsarchive eine gänzlich neue Situation. Den Unternehmen obliegt seitdem die privatrechtliche Verantwortung für das im Unternehmen vorhandene Archivgut. Der Prozeß der Schließung dieser Archive ist noch nicht abgeschlossen, aber immerhin gibt es seit dem Frühjahr 1993 ein regionales Wirtschaftsarchiv für Sachsen in Leipzig.

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KROKER, Evelyn/SCHWÄRZEL, Renate, Zur aktuellen Situation des Wirtschaftsarchivwesens in der Bundesrepublik Deutschland, in: Archivmitteilungen 43, 1994, S. 1-5.

Es gibt fünf verschiedene Typen von Wirtschaftsarchiven: 1. das Unternehmensarchiv, 2. das regionale, für einen räumlich begrenzten Wirtschaftsraum arbeitende Wirtschaftsarchiv, 3. das für einen Industriezweig zuständige Branchenarchiv, 4. das Verbandsarchiv, 5. das Kammerarchiv, das nur über die jeweiligen Kammerakten selbst verfügt, nicht aber über andere Aktenbestände seines Kammerbezirks. Wirtschaftsarchive in der Bundesrepublik 1. Unternehmensarchive (z.B. Historisches Archiv Fried. Krupp, Firmenarchiv Bayer AG, M.A.N. Augsburg-Nürnberg Werksarchiv, Historisches Archiv Deutsche Bank AG) 2. Verbandsarchive (z.B. Bundesverband deutscher Banken, Verband der chemischen Industrie, Verband der pfälzischen Industrie) 3. Kammerarchive (z.B. Handelskammer Bremen, Handwerkskammer Trier) 4. Regionale Wirtschaftsarchive (z.B. Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln, Westfälisches Wirtschaftsarchiv Dortmund) 5. Branchenarchive ( z.B. Bergbau-Archiv Bochum, Historisches Archiv des Börsenvereins des deutschen Buchhandels) Wenn man sich dem Themenbereich Unternehmer und Innovationen/technischer Fortschritt auf der Suche nach Aktenbeständen weiter annähern will, dann sind auf den ersten Blick Unternehmensarchive, regionale Wirtschaftsarchive, Branchenarchive apriori ergiebiger als Verbands- oder Kammerarchive. Art und Qualität von Archivgut sind bekanntlich abhängig von der Funktion des Bestandsbildners. Im Bestand einer Verkaufsorganisation oder einer schulischen Einrichtung wird der Technikhistoriker kaum Archivalien zu seinem Thema erwarten. Umgekehrt wird der Bestand einer technischwissenschaftlichen Organisation häufig eine Fundgrube sein. So sind beispielsweise Archivalien zur Technikgeschichte des Bergbaus im zuständigen Branchenarchiv in drei großen Gruppen von Beständen zu erwarten: in Beständen der Unternehmen (Zechen und Bergwerksgsellschaften), in Beständen des Verbandswesens, sofern Technik und Wissenschaft ihre Aufgabengebiete waren, und in Nachlässen von Ingenieuren und Unternehmern25. Auf andere Wirtschaftsarchive übertragen heißt das, daß es drei Bestandsgruppen sind, die Quellen zum Themenbereich Unternehmer und

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Vgl. dazu die Beständeübersichten, in: KROKER, Evelyn, Das Bergbau-Archiv und seine Bestände, Bochum 1977; dies., Das Bergbau-Archiv. Kurzführer, 2. Aufl., Bochum 1994.

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technischer Fortschritt erwarten lassen: Nachlässe, Unternehmensakten und Gremien- bzw. Verbandsakten. Bei einem thematischen Zusammenhang zwischen historischen Führungsschichten und technischem Fortschritt muß vorrangig auf den Stellenwert von Nachlässen für die Unternehmens- und Technikgeschichte hingewiesen werden, enthalten Nachlässe doch Korrespondenzen, Konzepte, Manuskripte, Gutachten, Tagebücher, Lebenserinnerungen und last but noch least Handakten, im Idealfall - beim Typus des echten Nachlasses - alle jene Quellen, die Entscheidungen, Handlungsmuster und Motivationen deutlich machen können. Häufig farbiger und ungeschminkter als Dienstakten können sie die Vielfalt und Verästelungen technischer Prozesse, auch Irrwege und Fehlschläge, dokumentieren. Nicht außer Acht zu lassen ist auch die Funktion, die Nachlaßschriftgut als Ersatzüberlieferung für verloren gegangene Wirtschaftsakten haben kann. Auf den ersten Blick erscheint die Spurensuche nach Nachlässen für den Historiker relativ einfach, seit es das von Denecke/Brandis 1969 veröffentlichte Nachlaßinventar gibt, dessen Neubearbeitung Wolfgang J. Mommsen in zwei Bänden vorgenommen hat26. Eine Neubearbeitung der Nachlässe in deutschen Archiven wird seit dem Frühjahr 1993 vom Bundesarchiv vorgenommen. Nachlässe sind als archivische Bestandsgruppe die begehrtesten Konkurrenz- und Sammelobjekte von Bibliotheken, Archiven aller Sparten, Museen und Dokumentationsstellen. Deshalb ist es bei Unternehmer-, Erfinder- und Technikernachlässen gar nicht so selbstverständlich, daß sie sich in Wirtschaftsarchiven auch tatsächlich befinden. Der Nachlaß von Heinrich Roessler, dem Gründer der Degussa, befindet sich beispielsweise nicht im Unternehmensarchiv der Degussa sondern im Stadtarchiv Frankfurt/Main, der Nachlaß des Grafen Zeppelin liegt im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, der des BASF-Chemikers Heinrich Caro in den Sondersammlungen des Deutschen Museums München, ebenso wie der von Werner von Siemens. Das Deutsche Museum besitzt auch einen Teilnachlaß von Rudolf Diesel, der andere Teil ist im Archiv der MAN in Augsburg. Während sich das Archiv des Unternehmers und Erfinders Carl Berg im Westfälischen Wirtschaftsarchiv Dortmund befindet, wird der Nachlaß im Deutschen Museum verwahrt27. Der zum Themenkreis Unternehmer und technischer Fortschritt Forschende wird darauf zu achten haben, daß Unternehmensarchive, deren Un-

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MOMMSEN, Wolfgang A., Die Nachlässe in den deutschen Archiven, 2 Bde., Boppard 1971/1983. Alle Angaben nach WESSEL, Horst A., Technikernachlässe - Konkurrierende Sammlungen, in: Der Archivar 40, 1987, Sp. 50 ff., hier Sp. 51 f.

teraehmen ihre Gründung und ihren Aufstieg schöpferischen und innovativen Unternehmern verdanken, sowohl firmen- und familiengeschichtliche Bestände haben, wie das für das Krupp-, Bosch- und Siemensarchiv gilt. Hier können sich Nachlaßunterlagen auch in den Firmenbeständen finden, ohne daß es eigene Nachlässe gibt. Im Mercedes-Benz Archiv in Stuttgart werden die Bestände, beispielsweise Maybach, Daimler, Benz und Jellinek, nicht als Nachlässe bezeichnet sondern als "Biographien".28 Sie enthalten Nachlaßsplitter und angereichertes Archiv- und Sammlungsgut von und vor allem über die betreffende Persönlichkeit. Würde man nun aber den Nachlaß Maybach suchen, müßte man das Pressearchiv der MTU in Friedrichshafen benutzen29. Die mustergültige archivische Trennimg von Nachlaßsplittern, Unternehmensbestand und Familienarchiv ist dem Westfälischen Wirtschaftsarchiv mit den Harkort-Beständen gelungen. Der Bestand von Friedrich Harkorts Fabrik in Wetter ist einer der zentralen Bestände zur Geschichte der Industrialisierung Deutschlands. Mit der 1993 in zwei Bänden erfolgten Veröffentlichung des Findbuches30 ist der Forschung ein Instrument an die Hand gegeben, das über die bisher bekannten Unternehmerdarstellung wie etwa der Festschrift von Conrad Matschoß "Ein Jahrhundert deutscher Maschinenbau" erheblich hinausreicht: "Nur an wenigen anderen Beständen kann so unmittelbar untersucht werden, welche Schwierigkeiten die Durchsetzung der Dampfkraft und der Verkauf der Maschinen bereitete."31 Dieser Bestand ist ein gutes Beispiel für den Zusammenhang von archivischer Erschließung und historischer Forschung: Je effizienter die archivische Erschließung ist, umso wirksamer können Ansprüche der Forschung erfüllt werden; damit kann auch Forschungsinteresse geweckt werden. Für die Charakterisierung der großen Bestandsgruppe über Unternehmer und technischen Fortschritt, die Unternehmensbestände und Unternehmensakten soll eine Hilfskonstruktion von drei Ebenen dienen, auf denen sich die Beschäftigung und schriftliche Fixierung mit technischen Fragen vollzogen: die Führungs- oder Direktionsebene, die Vorbereitungs-, Durch-

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DAS MERCEDES-BENZ-ARCHIV, Das Mercedes-Benz-Archiv, Archivfuhrer, Stuttgart 1993, S. 199. Frdl. Auskunft von Dr. NIEMANN, Leiter des Mercedes-Benz-Archivs, vom 14.3.1994. Friedrich Harkort, Kamp & Co. - Die Mechanische Werkstätte in Wetter. Inventar zum Bestand F 1, 2 Bde., Dortmund 1993. Ebd., S. XIII; vgl. grundsätzlich zu den Beständen des Westfälischen Wirtschaftsarchivs die vorzügliche Bestandsübersicht: DASCHER, Ottfried (Hrsg.), Das Westfälische Wirtschaftsarchiv und seine Bestände, München 1990.

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führungs- oder auch Vollzugsebene (Betriebsakten), die Ebene der Spezialisierung und nachgeordneter Dienste. Zu den technikgeschichtlichen Archivalien der Führungsebene: Dazu gehört die schriftliche Fixierung der Rahmenbedingungen, in deren Grenzen sich Investitionen, Maßnahmen zur Ausweitung oder Beschleunigung des technischen Fortschritts, zum Einsatz technischer Innovationen oder Rationalisierungsbemühungen bewegt haben. Das daraus entstandene Schriftgut zeichnet sich in der Regel äußerlich durch eine gewisse Gleichförmigkeit (Berichte, Vorstandsvorlagen, Protokolle etc.) und inhaltlich durch ein hohes Maß an Abstraktion bezüglich der Charakterisierung technischer Verfahren aus. Um ein Beispiel dafür zu nennen: Die Entscheidung der Berggesellschaft X, den neu zu errichtenden Schacht mit einer Koepe-Vierseilförderung statt der gebräuchlichen Doppelseilförderung auszustatten, setzt die Kenntnis aller technischen Fragen voraus oder andersherum gesagt, sie setzt Technik stets in Bezug zur Unternehmenspolitik und Wirtschaftlichkeit. Der Schritt von der ersten, der Führungsebene, zur zweiten, der Vorbereitungs- oder Durchführungsebene, läßt sich auch kennzeichnen als der Schritt von der Ergebniszur Motivationsdiskussion. Aus den Archivalien, die auf dieser Ebene entstanden sind, erhält man Kenntnisse und Informationen über die konkrete technische Ausgestaltung und ihre Schwierigkeiten, über Fortschritt und Rückschritte. Typische technikgeschichtliche Archivalien sind: Monats-, Quartals- und Jahresberichte; Betriebspläne und Betriebsberichte; Versuchsberichte und Gutachten. Speziell im Bergbaubereich sind zu ergänzen: Zechenbücher, Seilfahrtbücher, Dienstanweisungen, Schriftwechsel mit der Bergbehörde sowie die bisher viel zu wenig als technikgeschichtliche Archivalien ausgewerteten Unfallberichte. Auf der dritten Ebene, der Spezialisierung und der nachgeordneten Dienste, entstehen in der Regel jene Archivalien, die für die Technikgeschichte besonders wichtig sind: technische Spezialberichte, Karten, Pläne, Risse; Fotos32. Hierzu gehören beispielsweise auch Teile der Überlieferung der Stabsabteilungen mit einer Fülle von statistischem Material (z.B. über Kennzahlen zur Teil- und Vollmechanisierung), die kartographischen Ergebnisse der Markscheidereien (Vermessungsabteilungen) z.B. über den Stand der Aus- und Vorrichtungsarbeiten, die Protokolle der Abteilung für Grubensicherheit. Als nachgeordnete Dienststelle ist auch die Werksfotografie zu bezeichnen, die ihre Aufträge in der Regel aus der zweiten Ebene be32

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Vgl. dazu grundsätzlich KROKER, Evelyn, Archivalien zur Technik in Wirtschaftsarchiven, in: Archivpflege in Westfalen und Lippe 36, 1992, S. 33-36.

zieht. Ihre Bedeutung für die Technikgeschichte des bergmännischen Arbeitsplatzes z.B. ist unübertroffen, wie das Bergbau-Archiv in einer 2bändigen Publikation zu zeigen versucht hat33. Auch die Anlegung von Prospektsammlungen gehört in diesen Bereich. Ihre Existenz kann einen doppelten Zweck haben: zum einen Kenntnis über betriebsspezifische Einsatzmöglichkeiten zu geben, zum anderen die Kenntnis über bergtechnische Entwicklungen über den Einzelbetrieb hinaus. An der Hilfskonstruktion der drei Ebenen für technikgeschichtliche Archivalien in Unternehmensbeständen ist eines ganz sicher deutlich geworden: ihr Entstehungszusammenhang und damit auch ihre Aussagefähigkeit können außerordentlich heterogen sein. Unverzichtbar ist die Kenntnis der Provenienz. Für die Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebietes gibt es zwei vorzügliche Arbeiten über Unternehmer/Unternehmen und technischen Fortschritt, die in weiten Teilen auf der Auswertung von Quellen aus Unternehmensarchiven beruhen und auf die als exemplarische Beispiele etwas näher eingegangen werden soll34. Ulrich Troitzsch hat sich in seiner (leider nie als Ganzes veröffentlichten) Habilitationsschrift mit Innovationen beim Aufund Ausbau von Hüttenwerken beschäftigt35. In den Unternehmensarchiven der Gutehoffnungshütte von Hoesch u.a. hat er als wichtigste Quellen Betriebsberichte der Hochofenwerke, Verwaltungsratsprotokolle, Generalversammlungsniederschriften, Reiseberichte, persönliche Notizbücher und vor allem innerbetriebliche Korrespondenzen zwischen den Leitern von Hochofenwerken, führenden Technikern und der Unternehmensleitung - hießen sie nun technischer oder kaufmännischer Direktor oder waren es EigentumsUnternehmer - ausgewertet. Während er die Innovationsprozesse, ihre An-

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UNVERFERTH, Gabriele/KROKER, Evelyn, Der Arbeitsplatz des Bergmanns in historischen Bildern und Dokumenten, Bd. 1, 3. Aufl., Bochum 1990; KROKER, Evelyn, Der Arbeitsplatz des Bergmanns in historischen Bildern und Dokumenten, Bd. 2: Der Weg zur Vollmechanisierung, Bochum 1986. In diesem Zusammenhang sei ebenfalls auf die Veröffentlichungen HANF, Reinhardt, Technischer Fortschritt in wirtschaftshistorischen Analysen, dargestellt am Beispiel der Daimler-Motoren-Gesellschaft (DMG), in: Technikgeschichte 46, 1979, S. 138-162 und ders., Im Spannungsfeld zwischen Technik und Markt, Wiesbaden 1980 (= Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beiheft 17) verwiesen. Vgl. Teilergebnisse in TROITZSCH, Ulrich, Innovation, Organisation und Wissenschaft beim Aufbau von Hüttenwerken im Ruhrgebiet von 1850 bis 1870, Dortmund 1977 (= Vortragsreihe der Gesellschaft für Westfälische Wirtschaftsgeschichte, H. 22).

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triebe und Auswirkungen sehr detailliert darstellen kann, kommt er hinsichtlich der Teilhaber der Unternehmer bzw. der betrieblichen Führungsschicht am Innovationsprozeß zu einer einigermaßen relativierenden Einschätzung: "In diesen Betriebskonferenzen fallen dann auch die Vorentscheidungen über die Einführung technischer Neuerungen; denn bei den täglichen Diskussionen über die Rentabilität der Produktionsprozesse, über technische Probleme steht immer die Frage im Hintergrund, wie man es besser machen kann. Erst nach solchen Vorabklärungen werden entsprechende Vorschläge etwa zur Anschaffung einer neuentwickelten Maschine mit den entsprechenden Kostenanschlägen an den Verwaltungsrat weitergereicht, wo dann die Entscheidimg nach rein ökonomischen Gesichtspunkten gefällt wird. Es erscheint mir deshalb falsch oder zumindest nur die halbe Wahrheit zu sein, wenn man, wie es häufig in der Literatur der Fall ist, das Movens zur innovatorischen Tätigkeit ausschließlich bei der Führungsspitze eines Unternehmens sucht, sei es nun ein Verwaltungsrat oder ein Unternehmer. Gerade dem Einzelunternehmer werden hier oft Leistungen angedichtet, die in der Wirklichkeit aus dem Zusammenwirken mehrerer Faktoren resultieren."36. Ulrich Wengenroth, heute Inhaber des Lehrstuhls für Technikgeschichte an der Technischen Universität München, hat in seiner Dissertation mit dem Titel "Unternehmenstrategien und technischer Fortschritt" einen Vergleich der deutschen und britischen Stahlindustrie 1865-1895 angestellt37. Wengenroth definiert technischen Fortschritt nicht nur als "Wahrnehmung eines vorwiegend von außen an die Unternehmen herangetragenen Technologieangebots, sondern als ein von unternehmenstrategischen Entscheidungen bestimmter und in seiner Richtung gesteuerter Prozeß."38 Mit gutem Grund unterscheidet er bei seinen Aussagen nicht zwischen Unternehmen, Unternehmern, Industriellen oder wie immer, weil er den globalen Strategiebegriff aus dem Umkreis der Harvard Business School zugrundelegt: Strategie wird als Problemlösungsprozeß verstanden, der vor allem die Anpassung des Unternehmens an Veränderungen zum Ziel hat. Dahinter verbirgt sich aber nichts anderes als das schwerwiegendste quellenkritische Problem des Themas: die notwendigerweise beschränkte Informationsgrundlage jeder unternehmerischen Entscheidung. Wengenroth hat diesen Tatbestand sehr treffend gekennzeichnet: "Inhalte strategischer Entscheidungen gerinnen sehr 36

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TROITZSCH, Ulrich, Innovation, Organisation und Wissenschaft beim Aufbau von Hüttenwerken im Ruhrgebiet von 1850 bis 1870,1977, S. 34 f. WENGENROTH, Ulrich, Unternehmenstrategien und technischer Fortschritt. Die deutsche und britische Stahlindustrie 1865-1895, Göttingen/Zürich 1986. Ebd, S. 17.

viel eher zu historischen Quellen als intellektuelle Prozesse in den Köpfen wenig dokumentierter Leute. Aussagen über Unternehmensstrategien werden dann auch dort möglich, wo keine Quellen zu den eigentlichen Entscheidungsprozessen mehr existieren. Damit bietet sich dieser Strategiebegriff für unternehmensgeschichtliche Untersuchungen geradezu an, da er eines der schwerwiegendsten Quellenprobleme, die Dokumentation von Entscheidungsprozessen, überwinden hilft."39 Dennoch hat Wengenroth an einigen Fallbeispielen, wo es die Quellenlage zuließ, versucht, die "subjektiven" Unternehmensstrategien und damit die innere Struktur der Entscheidungsprozesse zu rekonstruieren. Krupp ist eines dieser Beispiele. Aufgrund der vorzüglichen Überlieferung im Krupp-Archiv - im sog. Familienarchiv wie im sog. Werksarchiv - können die Entscheidungsprozesse über Veränderungen und Verbesserungen in der Produktion von Bessemerstahl nachvollzogen werden. Daran beteiligt waren Alfred Krupp, die sog. BessemerKommission, der Leiter des Bessemerwerks und der englische Vertreter der Firma Krupp. Die Analyse der Quellen - vor allem der interne Briefwechsel im Bestand Zentralregistratur (Geschäftskorrespondenz), die Protokolle der Kommission - zeigt eindrucksvoll, wie erfolgreich Alfred Krupp mit seiner Strategie war, nicht zu experimentieren, sondern Erprobtes zu kopieren, und wie er sich gegenüber den anderen, an diesem Entscheidungsprozeß Beteiligten, durchsetzte40. Verallgemeinernd kann man anhand dieses Beispiels sagen, daß der extrem ausgeprägte Hang eines Unternehmers wie Alfred Krupp zur schriftlichen Aufzeichnung die Haltung zum technischen Fortschritt noch am ehesten dokumentieren läßt41. Zum Abschluß soll noch ein Beispiel aus der Chemie herangezogen werden, das nicht nur im Themenbereich der Büdinger Gespräche 1994 angesiedelt ist, sondern erst durch die Auswertung bisher nicht bekannter Unternehmensakten bearbeitet werden konnte42. In der chemischen Industrie dauert die Umsetzung einer Erfindung in die industrielle Produktion ca. 10 39

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WENGENROTH, Ulrich, Unternehmenstrategien und technischer Fortschritt, 1986, S. 19. Ebd., S. 94. Vgl. dazu auch KÖHNE-LINDENLAUB, Renate, Art. Krupp, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 13, Berlin 1982, S. 128-145, hier S. 130 ff. RASCH, Manfred, Technische und chemische Probleme aus dem ersten Dezennium des Berginverfahrens zur Hydrierung von Kohlen, Teeren und Mineralölen, in: Technikgeschichte 53, 1986, S. 81-122; vgl. auch ders., Paul Rosin - Ingenieur, Hochschullehrer und Rationalisierungsfachmann. Beiträge zur Wirtschafts-, Technik- und Unternehmensgeschichte der 1920er und 1930er Jahre anhand seines Nachlasses, in: Technikgeschichte 56, 1989, S. 101-132.

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bis 15 Jahre. Manfred Rasch, heute Leiter des Thyssen-Archivs in Duisburg, versucht nun zu zeigen, wie die Hydrierung von Kohle zur Gewinnung flüssiger Kohlenwasserstoffe - das sog. Berginverfahren - verlief, welche Nachfolgeerfindungen es auslöste, wie die Strukturen der Entscheidungsprozesse zu bewerten sind. An den Versuchen der Finanzierung zur Übertragung des Berginverfahrens, für das Friedrich Bergius 1931 den Nobelpreis erhielt, waren als Unternehmer der Vorstandsvorsitzende der Th. Goldschmidt AG und der oberschlesische Industrielle Henckel-Donnersmarck beteiligt. Es existieren weder ein Nachlaß von Bergius noch ein Archiv der Rheinauer Versuchsanlage, aber im Unternehmensarchiv der Th. Goldschmidt AG in Essen sind die technischen Monatsberichte der Gesellschaft vorhanden, die die Rheinauer Versuche bis 1925 finanzierte. Neben dieser zentralen Quelle wurden Patente und Patentanmeldungen herangezogen. Bei der Untersuchung von Rasch steht die industrielle Umsetzung einer chemischen Erfindung im Vordergrund, man erkennt, "wie kleinschrittig technischer Fortschritt sein kann",43 dagegen bleiben die handelnden Personen in diesem Prozeß eher im Hintergrund. Im Grunde genommen ist die gleiche Beobachtung zu machen bei dem jüngst erschienenen Buch von Hans-Jürgen Reuß zum Thema "Hundert Jahre Dieselmotor - Idee, Patente, Lizenzen, Verbreitung", das sich in wesentlichen Teilen auf Bestände und Akten der Unternehmensarchive Klöckner-Humboldt-Deutz, Fried. Krupp, MAN, Mercedes-Benz und MTU Motoren- und Turbinen-Union stützt44. Abgesehen davon, daß man darüber diskutieren muß, wie stark das unternehmerische Moment bei Diesel gewesen ist, bleibt die Persönlichkeit hier ganz ausgespart. Aber für die Verbreitung einer Innovation wie dem Dieselmotor sind die Quellen aus den Wirtschaftsarchiven ganz unverzichtbar. Abschließend seien als weitere Beispiele der jüngsten Historiographie die Arbeiten von Manfred Pohl über Emil Rathenau und die AEG45 und Wilfried Feldenkirchen über Werner von Siemens46 - geschrieben auf dem Quellenfundus der Archivbestände - nur noch als beispielhaft zu erwähnen.

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RASCH, Manfred, Paul Rosin - Ingenieur, Hochschullehrer und Rationalisierungsfachmann, 1989, S. 113. REUß, Hans-Jürgen, Hundert Jahre Dieselmotor. Idee - Patente - Lizenzen Verbreitung, Stuttgart 1993. POHL, Manfred, Emil Rathenau und die AEG, Berlin/Frankfurt/Main 1988. FELDENKIRCHEN, Wilfried, Werner von Siemens. Erfinder und internationaler Unternehmer, München/Berlin 1992.

Nun zur dritten Gruppe der Bestände: den Beständen des Verbandswesens. Sehr konkret ist der Stellenwert jener technikgeschichtlichen Archivalien anzusetzen, die sich in Beständen des technisch-wissenschaftlichen Verbandswesens befinden. Ein geradezu idealtypisches Beispiel dafür ist der Bestand der Technischen Abteilung des Bergbau-Vereins, bei dem sich seit der Jahrhundertwende und verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg die Bemühungen des deutschen Steinkohlenbergbaus um Rationalisierung und Mechanisierung konzentriert haben. Die Tätigkeit des Vereins vollzog sich weitgehend in Ausschüssen mit klar umgrenzten bergtechnischen und betriebswirtschaftlichen Aufgabenbereichen. Die aus dieser Arbeit hervorgegangenen Archivalien lassen sich folgendermaßen charakterisieren: Berichte, Protokolle, Sitzungsniederschriften von Arbeitskreisen und Ausschüssen mit klar umgrenzten bergtechnischen Sachbereichen, z.B. Schachtabteufen und Schachtausbau, Anwendung von Elektrizität über und unter Tage, Schacht- und Streckenförderung. Wichtig sind in diesem Zusammenhang weiter die Anlagen zu den Ausschußberichten: technische Zeichnungen, Skizzen und Schemata, Prospekte, Anwendungsbeispiele, Literaturzusammenstellungen, Erfahrungsberichte. Ergiebig für technische Detailfragen in einem solchen Bestand sind schließlich die Korrespondenzen mit auskunftsuchenden Unternehmen oder Anfragen bei SpezialUnternehmen und Ingenieurbüros. Aus der Überlieferung eines solchen Bestandes ergibt sich eine wichtige Rückkopplung zu den Unternehmensbeständen. Die Vorsitzenden der Ausschüsse rekrutierten sich nämlich aus dem Kreis der technischen Vorstandsmitglieder der Zechen und Bergwerksgesellschaften. Und der BergbauVerein z.B. berief jene in die Leitung eines Fachausschusses, die selbst bzw. deren Zechengesellschaft als innovativ, spezialisiert und erfahren auf bestimmten bergtechnischen Teilbereichen galten. Für den Diffusionsprozeß technischer Neuerungen im Steinkohlenbergbau ist dies ein ganz wichtiger Aspekt. Hierbei gewinnen dann z.B. die Gremienakten einer Führungskraft und in unserem konkreten Fall die Vorstandsakten eines Bergwerkdirektors über seine Funktion als Ausschußvorsitzender beim Bergbau-Verein technikgeschichtlich eine besondere Aussagefähigkeit. Dieses Beispiel ist im Grunde genommen übertragbar auf Verbands- und Gremienfunktionen von Führungskräften und die Wertigkeit ihrer aus dieser Tätigkeit erwachsenen Akten. Als Fazit der Überlegungen können folgende Punkte zusammengefaßt werden:

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1. Unbestreitbar ist, daß neue Fragestellungen den historischen Forschungsprozeß voranbringen, - neue Fragestellungen an bekannte Quellen, neue Fragestellungen an kaum genutzte oder bisher unbeachtet gebliebene Quellen. 2. Für die Verbindung von technikgeschichtlichen mit unternehmensgeschichtlichen Untersuchungsgegenständen, wie dem der Büdinger Gespräche 1994, bieten die Wirtschaftsarchive eine breite Quellengrundlage. 3. Für die moderne Unternehmerforschung gibt es in den Wirtschaftsarchiven viele Bestände, altbekannte und bisher vielleicht übersehene, die auf eine erneute Auswertung unter geänderten Fragestellungen warten. Der Eugen-Langen-Nachlaß im Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv mit seinen lückenlosen Briefbüchern von 1859-1895 und seinen Serien von Geschäftsbüchern wäre vielleicht ein lohnendes Objekt für solche Projekte. 4. Es gibt einige erfreuliche Ansätze, die bisherigen Desiderata in Angriff zu nehmen. 5. Dabei ist in der Analyse des technischen Fortschritts die Tendenz zu beobachten, den/die Träger der Innovationen globaler zu fassen als die Inhalte der Innovationen, oder andersherum gesagt: die Analyse der Innovationen fällt durchweg präziser aus als die der Innovationsträger, was 6. zu einem Teil mit der Beschaffenheit und der Aussagemöglichkeit der Quellen zusammenhängt. 7. Wissenschaftliche Benutzer, die über ein technikgeschichtliches Thema arbeiten, sind in Wirtschaftsarchiven immer noch eine seltene Erscheinung. Man kann nun darüber spekulieren, ob dieses Defizit eine Folge der Unkenntnis über die Quellenlage in Wirtschaftsarchiven ist oder auch Ausdruck einer personell nicht ausreichend ausgestatteten Wissenschaftsdisziplin. Ein weiterer Grund könnte darin liegen, daß die Technikhistoriker eher dazu neigen, die zahlreichen gedruckten Quellen aufzuarbeiten, ehe sie sich dem insgesamt zeitaufwendigen Aufarbeiten des Aktenmaterials der Wirtschaft zuwenden. Um auch bei den Wirtschaftsarchiven im Konjunktiv zu bleiben: ihr in der Öffentlichkeit und auch in der historischen Zunft pauschal eher zur Zurückhaltung denn zur Öffnung tendierendes Erscheinungsbild könnte Schranken aufgebaut haben. In manchen Fällen könnte auch der Erschließungszustand des Quellenmaterials eine Ursache dafür sein. Zu einer differenzierteren Behandlung des Problems sollen diese Ausführungen beitragen, und sie sollen vor allem den Fehlschluß in aller Deutlichkeit verhindern, daß in den Archiven der Wirtschaft technikgeschichtliche Quellen kaum vorhanden oder unterrepräsentiert seien.

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8. Was nun noch ganz und gar fehlt, ist eine grundlegende zusammenfassende Studie zur Kritik unternehmensgeschichtlicher Quellen, zu den Möglichkeiten und Grenzen ihrer Aussagefähigkeit für bestimmte, konkret definierte Forschungsfragen. Dafür kann dieser Beitrag allenfalls als Anregung dienen.

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Historischer Evolutionsbruch oder Evolutionsbeschleunigung - Die Pest-Pandemie des 14. Jahrhunderts als Faktor sozialwirtschaftlichen und technischen Wandels - Eine innovationstheoretische Deutung VON KARL GEORG ZINN

1. PROBLEMSTELLUNG a) Konturen des Umbruchs Das 14. und das 15. Jahrhundert besetzen im historischen Bewußtsein keinen prominenten Platz, obgleich diese Zeit den fundamentalen Wandel der europäischen Gesellschaft im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit brachte. Die scheinbar eindeutige Charakterisierung der beiden Jahrhunderte als "Spätes Mittelalter" war seit langem umstritten und erweist sich nach jüngeren Forschungsergebnissen als viel zu einseitig. Im 14. und 15. Jahrhundert endete das Mittelalter, und es begann die Neuzeit.1 Wir haben es also mit einer Übergangsperiode zu tun, die ihr eigenständiges Profil in der Inhomogenität ihres Gesamtbildes abbrechender, neu entstehender und sich immer wieder modifizierender Entwicklungen zeigte.2 Es war die Zeit einer großen Krise, eines in den geschichtlichen Details chaotisch verlaufenden Wandels, dessen Beispielsweise datiert Haussherr den Beginn der Neuzeit mit dem Ende des 14. Jahrhunderts. Vgl. Haussherr, H., Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit vom Ende des 14. bis zur Höhe des 19. Jahrhunderts, 3. A., Köln/Graz 1960. Vgl. auch die Problematisierung der zeitlichen Abgrenzung zwischen Mittelalter und Neuzeit von Schmidtchen. Schmidtchen, V., Technik im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit zwischen 1350 und 1600, in: König, W., Hrsg., Propyläen Technikgeschichte, Bd. 2: Metalle und Macht. 1000 bis 1600, Berlin 1992, S. 209f. Vgl. Brenner, P. J., Montaigne oder Descartes? Die Anfänge der Neuzeit im Lichte einer Neuinterpretation, in: Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 75, 1993, S. 335ff.

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wichtigstes Ergebnis wohl im Niedergang des mittelalterlichen Feudalsystems und der Enstehung einer neuen Koalition aus städtisch-kapitalistischen Schichten und autokratischen Landesfürsten zu sehen ist. Die historisch herausragende Bedeutung des 14. Jahrhunderts als Startphase des wissenschaftlich-technischen Aufstiegs der abendländischen Kultur gewinnt ausnehmend scharfe Kontur, wenn sie quasi von außen, vom außereuropäischen Blickwinkel aus betrachtet wird. Joseph Needham, dessen Forschung die eurozentristisch verzerrten Vorstellungen des Westens von der technisch-wissenschaftlichen Kultur Chinas allmählich verändern dürfte, gelangt in seinen vergleichenden Studien zur chinesischen und europäischen Wissenschaftsgeschichte zu der in der Literatur bisher noch wenig beachteten These, daß Europa im 14. Jahrhundert auf wissenschaftlichem und technischem Gebiet die bis dahin technisch führende Kultur China zu überholen begann. 3 Needham gibt allerdings nur vage Hinweise auf die möglichen Ursachen. Er stellt deskriptiv die staatliche Instabilität und die "merkantilistische Mentalität" des neuzeitlichen Europas der chinesischen "Homöostase" einer quasi "kybernetischen", bürokratischen Verwaltungswirtschaft gegenüber 4 und betont, daß mit dem Niedergang des mittelalterlichen Feudalsystems die institutionellen Barrieren fortfielen, die einen innovativen Aufbruch in Wirtschaft, Technik und Wissenschaft behindert hatten. Wenn sozusagen die Geburt der modernen Welt ins 14. Jahrhundert fällt, so verdient diese Zeit besonderes Interesse. Müßten doch damals die wesentlichen Weichenstellungen erfolgt sein, die der geschichtlichen Bewegung eine neue Richtung gaben. In diesem Zusammenhang verlangt die "Jahrtausendkatastrophe" der Pest des 14. Jahrhunderts gewiß herausragende Beachtung.

"Im Verhältnis zu Asien spielte Europa bis zum 14. Jahrhundert n. Chr. fast ausschließlich die Rolle des Empfangenden, nicht die des Gebers." Siehe Needham, J., Bemerkungen über die sozialen Beziehungen zwischen Wissenschaft und Technologie in China, in: Wissenschaftlicher Universalismus. Über Bedeutung und Besonderheit der chinesischen Wissenschaft, hrsg. u. eingel. v. T. Spengler, 3. A., Frankfurt/M 1993, S. 166. "Die im Westen weitverbreitete Vorstellung, daß die traditionelle chinesische Kultur statisch oder stagnierend war, erweist sich angesichts dieser Evidenzen (wissenschaftliche und technische Entwicklung; d. V.) als ein typisch okzidentales Mißverständnis. Es wäre jedoch gerecht, sie »homöostatisch« oder »kybernetisch« zu nennen... Es ist in der Tat verblüffend, wie weltbewegend die Wirkungen chinesischer Erfindungen für die Sozialsysteme Europas waren, als sie dorthin ihren Weg gefunden hatten, doch die chinesische Gesellschaft ließen sie fast unberührt." Siehe Needham, J., Der Zeitbegriff im Orient, in: derselbe, Wissenschaftlicher Universalismus, 1. c., S. 244f.

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Die pandemisch ausgreifende Seuche glich einem historischen "Megaexperiment", und dies um so mehr, als ihr plötzliches Auftreten nicht aus der vorhergehenden (europäischen) Geschichte erklärt werden kann, wie es bei den meisten anderen katastrophalen Geschehnissen - etwa den Kriegen selbstverständlich ist. Die sozialökonomischen, technikgeschichtlichen, mentalen, ideologischen, generell die kulturellen Folgen der Pest-Pandemie bedeuteten eine Richtungsänderung gegenüber vielen - naturgemäß nicht allen - Entwicklungstrends der vorhergehenden Epoche. Zeitgenössische Autoren - etwa Petrarca, Konrad von Megenberg, Heinrich von Herford 5 - hatten zwar geistige und moralische Krisenerscheinungen bereits für die Zeit vor Eindringen der Seuche wahrgenommen, was die Deutung nahelegt, daß die Pest "nur" einen sich ohnehin abzeichnenden Umbruch beschleunigte. Doch selbst wenn diese Katalysatorfunktion der Seuche für einige historische Tendenzen zutreffen mochte, so waren die grundlegenden sozialökonomischen und die - hier vor allem interessierenden - technischen Folgen nicht vorprogrammiert. Die demographische Katastrophe war ein Umbruch per se - ein zuvor nicht absehbarer Wirkungsfaktor größten historischen Ausmaßes.

b) Geschichtliches Material als Komponenten theoretischer Vorstellung Hier geht es um historische Sachverhalte, aber sie werden aus theoretischer Sicht betrachtet. Es ist nicht die historiographische Perspektive, sondern das Material wird wirtschafts- und innovationstheoretisch interpretiert, um zu Erklärungen i. S. von Ursache-Wirkungsbeziehungen zu gelangen. Im Mittelpunkt des folgenden Referats stehen zwei Fragenkomplexe, die sich erst aus der Beschäftigung mit den geschichtlichen Fakten ergeben haben: 6 1. Die Seuche bewirkte einen umwälzenden Wandel der sozialökonomischen Verhältnisse7, und daraus folgte auch eine Richtungsänderung der Technikentwicklung. Dies soll im folgenden eingehender untersucht werden.

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Vgl. Bergdolt, Klaus, Der Schwarze Tod in Europa, 2. A., München 1994, S. 151f. Vgl. Zinn, K. G., Kanonen und Pest. Über die Ursprünge der Neuzeit im 14. und 15. Jahrhundert, Opladen 1989. Vgl. die bis heute grundlegende Darstellung des sozialökonomischen Umbruchs im 14./15. Jahrhundert von Friedrich Lütge, Das 14./15. Jahrhundert in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 162, 1950, S. 161-213.

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Deshalb gehören auch wirtschafte- und innovationstheoretische Überlegungen zu unserem Thema. 2. Der zweite hier interessierende Problemkomplex ergibt sich aus dem ersten und betrifft den Vergleich zwischen der Technikentwicklung im Mittelalter und während der beginnenden Neuzeit. Exkursorisch wird auch nach Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen diesen frühen technikgeschichtlichen Phasen und der Industriellen Revolution gefragt. In der Literatur wird mit eindrucksvollen Argumenten die These vertreten, daß die Industrielle Revolution in ideell-ideologischen, materiellen und insbesondere technischen Veränderungen der frühen Neuzeit wurzelt und letztere wiederum als eine Fortsetzung der mittelalterlichen Technikentwicklung zu verstehen seien. Dem Hochmittelalter wird somit erhebliches technikgeschichtliches Gewicht für die Entstehung der modernen Welt zugemessen. 8 Als exemplarische Belege für diese Sicht seien einige Zitate angeführt. Lynn White jr. konstatiert apodiktisch: "... modern technology is the extrapolation of that of the Western Middle Ages not merely in detail but also in the spirit that infuses it."9 Wolfgang von Stromer hebt in seinem Aufsatz über eine "industrielle Revolution im Spätmittelalter" dessen "Innovationsschübe" hervor: "Grundsätzlich handelt es sich bei den dargelegten Innovationsschüben des Spätmittelalters und denen des Zeitalters der Erfindungen und Entdeckungen um einen zusammenhängenden Prozeß, mit denen des 12./13. Jahrhunderts als Vorbereitungsphase." 10 Ulrich Wengenroth bemerkt in seiner jüngst vorgelegten Überblicksdarstellung der Industriellen Revolution: "Als zweite Voraussetzung für die Industrielle Revolution (als erste wird die Machtverschiebung von Asien und dem Orient, die durch militärische Bedrohungen in ihrer Entwicklung gehindert worden wären, nach Europa genannt; d. V.) bedurfte es einer optimistischen Mentalität des rastlosen Schaffens, die dem menschlichen Tatendrang keine ideologischen Grenzen setzte - oder anders formuliert: einer Ideologie 8

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10

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Vgl. Bosl, K., Die Grundlagen der modernen Gesellschaft im Mittelalter. Eine deutsche Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters, 2 Tie. in 2 Bdn., Stuttgart 1972 (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters, Bde. 4/1,4/II). White jr., L., Cultural Climate and Technological Advance in the Middle Ages, in: Viator, Bd. 2,1971, S. 172. Stromer, W. v., Eine "Industrielle Revolution" des Spätmittelalters?, in: U. Troitzsch, G. Wohlauf, Hrsg., Technik-Geschichte. Historische Beiträge und neuere Ansätze, Frankfurt/M 1980, S. 138.

des Fortschritts und der Veränderung. Eine solche ideologische Neuorientierung fand, parallel zum weltweiten Ausgreifen Europas, tatsächlich statt; das neue Denken trug die europäische Expansion ganz wesentlich mit, ohne daß sich dies freilich im Sinn einer simplen militärischen Eroberungsmentalität auf den geographischen Raum beschränkte. Der Mentalitätswandel, der im ausgehenden Mittelalter einsetzte und vor allem im 17. und 18. Jahrhundert weite Bereiche der westeuropäischen Gesellschaft durchdrang, hatte eine doppelte Stoßrichtung: zum einen etablierte er ein neues Objektverhältnis zur Welt, zum anderen versöhnte er religiöse Hoffnungen mit entschlossenem Erwerbsstreben."11 Die zitierten Autoren deuten langfristige technikgeschichtliche Kontinuitäten an, die vom Mittelalter bis zur Industriellen Revolution und damit bis in die Gegenwart hinein wirkten. Dieser Sicht wird im folgenden partiell widersprochen, wenn die These erläutert wird, daß der Beginn der Neuzeit im 14./15. Jahrhundert als Umbruch und nicht als evolutiver Übergang verstanden werden kann.

2. BEDARF, NACHFRAGE UND TECHNIKPRODUKTION - DAS REFERENZMODELL ZUR ERKLÄRUNG DER INTERDEPENDENZEN a) Monetär und nichtmonetär artikulierter Bedarf Die ökonomisch motivierte Technikverwendung wird vom Bedarf bestimmt. Unter marktwirtschaftlichen Verhältnissen artikuliert sich Bedarf (fast nur) durch monetäre bzw. kaufkräftige Nachfrage. Der zahlungsfähige Auftraggeber entscheidet letztlich, was rentabel produziert und verkauft werden kann! Somit sind der Bedarf sowie Höhe und Verteilung von Einkommen bzw. Kaufkraft die bestimmenden Faktoren für die Technikentwicklung in einem marktwirtschaftlichen bzw. geldwirtschaftlichen Umfeld. Wird Bedarf hingegen Uber nichtmonetäre Medien an das Produktionssystem vermittelt, wie es beispielsweise ftlr die subsistenzwirtschaftlichen Fronhof-

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Wengenroth, U., Die Industrielle Revolution. Chancen und Risiken des technischen Wandels, Tübingen 1994, (= Deutsches Institut für Fernstudien, Studienbrief der Reihe: Technik und Gesellschaft bearbeitet von F. Diestelmeier), S. 12. Auf die Bedeutung der flexiblen, merkantilen "Mentalität" weist, wie erwähnt, auch Needham hin. Vgl. Anmerkung 3.

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bezirke des Mittelalters,12 für Verwaltungswirtschaften (z.B. des alten Chinas, des Inkastaates oder der modernen Kriegswirtschaften) und für (mittelalterliche) Klosterwirtschaften zutrifft, so beeinflußt monetäres Einkommen bzw. monetäre Nachfrage die Technikentwicklung allenfalls marginal oder auch gar nicht (die inkaische Hochkultur kannte kein Geld, und auch in China wurde der Agrarsektor kaum von den Ware-Geld-Beziehungen erfaßt 13 ). Im europäischen Mittelalter wurde technischer Fortschritt in starkem Maße in den Klosterwirtschaften der Benediktiner und später der Zisterzienser realisiert und verbreitete sich von dort aus auf den übrigen Agrarsektor. 14 Das mittelalterliche Wirtschaftssystem wurde nicht von Ware-GeldBeziehungen dominiert. Der agrartechnische Fortschritt des Mittelalters entstand und diffundierte im großen und ganzen nicht als marktinduzierter, sondern erst mit steigendem landwirtschaftlichen Mehrprodukt - Folge vorhergehender Produktivitätssteigerung - konnten dann auch wachsende Mengen von Agrargütern vermarktet werden. Die naturale, d.h. noch rudimentäre Tauschwirtschaft wurde erst allmählich von Ware-Geld-Beziehungen abgelöst.

b) Wirtschaftlich gesteuerte Technikentwicklung Technischer Fortschritt resultiert aus der politisch und/oder ökonomisch gesteuerten Auswahl bestimmter technischer Optionen 15 und deren breiter Anwendung im Diffusionsprozeß. Welche Optionen zu einem Zeit-

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Vgl. Rösener, W., Bauern im Mittelalter, München 1975, S. 35f. passim. Needham erwähnt in seinem China-Europa-Vergleich, "daß China nie eine voll entwickelte Geldwirtschaft kannte." Siehe Needham, J., Bemerkungen über die sozialen Beziehungen zwischen Wissenschaft und Technologie in China, in: derselbe, Wissenschaftlicher Universalismus, 1. c., S. 170. Vgl. Zinn, Kanonen und Pest, 1. c., S. 73ff. Unter Option wird hier eine Art "Technikgattung" verstanden, die verschiedene Versionen technischer Problemlösungen umfassen kann. Beispielsweise stellt der Verbrennungsmotor eine Option dar; zugehörige Versionen sind die Dampfmaschine, der Ottomotor, der Dieselmotor etc. Bei der Marktdurchsetzung von Versionen kommt angebotsseitigen Faktoren (vor allem der Marktmacht) größere Bedeutung zu. Deshalb können u. U. technisch (und ökologisch) betrachtet zweitoder drittrangige Versionen Vorrang erhalten. Dies war beispielsweise bei der Durchsetzung des VHS-Systems der Videotechnik gegenüber dem besseren BetaSystem der Fall.

punkt verfügbar sind, scheint einer technikendogenen Kausalität zu folgen und resultiert aus der zeitabhängigen Kumulation technischen Wissens.16 Doch die zweckbezogene Selektion einer bestimmten technischen Entwicklungsrichtung wird von wirtschaftlichen Bedingungen, insbesondere vom nachfragewirksamen Bedarf bestimmt. Jacob Schmookler, der als Begründer der jüngeren, nachfrageorientierten Innovationstheorie gilt,17 drückt jenen Sachverhalt folgendermaßen aus:18 "Der technische Fortschritt hängt wesentlich von wirtschaftlichen Phänomenen ab. Die Tatsachen lassen vermuten, daß eine Gesellschaft die Bereitstellung von Erfindungs-Ressourcen tatsächlich durch den Marktmechanismus beeinflussen kann, ähnlich wie sie allgemein auf die Bereitstellung von wirtschaftlichen Ressourcen einwirkt. Wenn das stimmt, stellt der technische Fortschritt keine unabhängige Ursache des sozio-ökonomischen Wandels dar, und damit ist eine Interpretation, die in Geschichte im wesentlichen den Versuch der Menschheit sieht, sich einer neuen Technologie jeweils anzupassen, eine verzerrte Interpretation." Bedarf und seine Artikulation als kaufkräftige Nachfrage bilden eine notwendige, keine hinreichende Innovationsbedingung. Ohne Erfinder, ohne Innovatoren bzw. ohne Schumpetersche Unternehmer bleibt die Innovation aus. Doch wenn Bedarf und (potentielle) Nachfrage fehlen, gibt es erst gar keinen Anreiz für Innovation. Die Nachfrageabhängigkeit der Innovationen sei kurz am Beispiel der Spinnerei in der frühen Neuzeit und während der Industriellen Revolution verdeutlicht. Die Garnproduktion stellte in der frühen Neuzeit keinen Engpaß dar, weil die Endnachfrage nach Gewebe das mit herkömmlicher Spinnereitechnik produzierbare Garnvolumen nicht überschritt:

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Von Clarence E. Ayres, einem Vertreter des (originären) Institutionalismus der USA, wird die Kumulation technologischer (Wissens-)Komponenten als wesentlicher Faktor des Beschleunigungsprozesses technischer Entwicklungen verstanden: Mit dem Zuwachs technologischer, aber auch anderer Einzelkenntnisse (Ayres: "tools"), also von "Information" im umfassenden Sinn, nehmen die Kombinationsmöglichkeiten überproportional zu. Ayeres basiert auf dieses "toolcombination principle" eine Erklärung der Industriellen Revolution und der Beschleunigung des technischen Wandels im Geschichtsablauf. Vgl. Ayres, C. E., The Theory of Economic Progress, New York 1944; Reuter, N., Der Institutionalismus. Geschichte und Theorie der evolutionären Ökonomie, Marburg 1994; Zinn, K. G., Konjunktur und Wachstum, 2. A., Aachen 1995. Vgl. Schmookler, J., Invention and Economic Growth, Cambridge/Mass. 1966. Schmookler, J., Ökonomische Ursachen der Erfindertätigkeit, in: Hausen, K , R. Rürup, Hrsg., Moderne Technikgeschichte, Köln 1975, S. 136.

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"Die Wandlung des Teils des schwäbischen Leinenreviers ... stimulierte keine Spinnindustrie als Vorgewerbe, da der Bedarf an leinenen Kettfäden wie bisher aus Hausgewerben und bäuerlichen Nebengewerben zu befriedigen war und das Baumwollgarn für die Schußfäden noch nicht mit Maschinenkraft, sondern nur handwerklich versponnen werden konnte." 19 Ganz anders 400 Jahre später. Die englische Tuchproduktion stieß nicht an Absatzgrenzen, sondern es bestanden Lieferschwierigkeiten wegen eines Engpasses bei der Garnherstellung. Diesen Flaschenhals konnte nur eine grundlegend veränderte, arbeitssparende Spinnereitechnik sprengen. 20 Deshalb erst wurden die Erfindungen von Hargraves und Arkwright seitens der Textilindustriellen aufgegriffen, die dann in die neue Technik investierten und ihr zum Durchbruch verhalfen: "Die Tucherzeugung war das bedeutendste Exportgewerbe Großbritanniens; ... und vermutlich hätte noch viel mehr abgesetzt werden können, wenn die Heimspinnerinnen und Heimweber mehr produziert hätten. Das Geschäft wurde also nicht durch die Konkurrenz oder mangelnde Kaufkraft auf den nationalen und internationalen Märkten begrenzt, sondern durch die Produktionsfähigkeit des Verlagsgewerbes."21 Und in gleichem Sinn: "Wichtig ist hierbei festzuhalten, daß dahinter nicht ein technisches Angebot stand, das die Unternehmer freudig aufnahmen. Die Technisierung war vielmehr der gezielte Versuch, die Kontrolle über eine wachsende Produktion nicht zu verlieren bzw. wiederzuerlangen. Die Kontrolle der Produktion wurde zum Dreh- und Angelpunkt der ersten Fabriken, noch bevor es um sinkende Kosten ging; von einer besonderen Billigkeit des Garnes war in 19

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Siehe Stromer, Industrielle Revolution des Spätmittelalters, 1. c., S. 129f. Regional vorkommende Behinderungen des technischen Fortschritts in der Garnproduktion, auf die Ludwig hinweist, dürften auf begrenzte Nachfrage nach Garnen zurückzuführen sein - nicht auf eine grundsätzliche Technikaversion. Vgl. Ludwig, K.-H., Technik im hohen Mittelalter zwischen 1000 und 1350/1400, in: König, W., Hrsg., Propyläen Technikgeschichte, Bd. 2: Metalle und Macht. 1000 bis 1600, Berlin 1992, S. 112f. "Diese und andere Ursachen hatten zur Folge, daß die handwerkliche Produktion den gewachsenen quantitativen und qualitativen Ansprüchen nicht mehr genügen konnte. Zudem hatte sich zwischen den beiden technischen Grundoperationen textiler Produktion, dem Spinnen und Weben, ein arges Mißverhältnis entwickelt. Die Spinnerei konnte der nächsten Verarbeitungsstufe, der Weberei, nicht die Menge an Garnen liefern, die der Markt forderte." Siehe Sonnenmann, R., Einleitung, in: Buchheim, G., R. Sonnemann, Hrsg., Geschichte der Technikwissenschaften, Leipzig 1990, S. 17. Siehe Wengenroth, Industrielle Revolution, 1. c., S. 19.

dem erwähnten Preisausschreiben (die Society of Arts hatte 1761 einen Preis für die Erfindung einer Spinnmaschine ausgeschrieben, die die Arbeit von sechs Arbeitskräften leisten sollte; d.V.) keine Rede." 22 Die nachfrageseitige Innovationserklärung stellt gegenwärtig eine Minderheitsmeinung in der Wirtschaftswissenschaft dar, was sich auch an der recht zurückhaltenden Rezeption von Schmooklers grundlegender Monographie erkennen läßt. 23 Die Mehrheitsmeinung, die auch in der aktuellen Wirtschaftspolitik, insbesondere der Innovations- und Technologiepolitik vorherrscht, setzt beim technischen Wandel auf Schumpetersche Unternehmer, auf risikobereite Kapitalgeber, auf angebotsseitige Maßnahmen wie Lohnkostensenkungen, Steuerpräferenzen, staatliche Investitionsprämien und dergleichen und bestreitet, daß technischer Fortschritt auf nachfrageseitige Barrieren treffen könnte. Vertreter der jüngeren, sozialökonomischen "Schule" der Technikgeschichte stellen hingegen die Interdependenzen von (Konsum-)Nachfrage und Produktion in den Mittelpunkt der Erklärung von Prozeß- und Produktinnovationen. 24 Beispielsweise unterstreicht Wolfgang König, daß sich "Massenproduktion... nur entwickeln (kann), wenn aufnahmefähige Märkte erschlossen oder geschaffen werden. Manchmal lohnt es sich nur, wenn eine Ausweitung von lokalen und regionalen zu nationalen oder gar globalen Märkten gelingt." 25 Das zentrale Argument der nachfrageorientierten Innovationserklärung basiert auf einer Art challenge-response-Mechanismus:26 Innovationen 22 23 24

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Wengenroth, Industrielle Revolution, 1. c., S. 22. Schmookler, Invention and Economic Growth, 1. c. Vgl. König, W., Auf dem Weg in die Konsumgesellschaft, Tübingen 1993 (= Deutsches Institut für Fernstudien, Studienbrief der Reihe: Technik und Gesellschaft bearbeitet von F. Diestelmeier), darin: Integration von Produktion und Konsumtion: das neue Verständnis von Technikgeschichte, S. lOf. Ibidem, S. 9. Vgl. auch Pfetsch, F. R., Innovationsforschung in historischer Perspektive. Ein Überblick, in: Technikgeschichte, Bd. 45, 1978, S. 131, passim. Vgl. hierzu auch die Innovationserklärung von Boserup, die die Bevölkerungsagglomerationen als ursächlichen Faktor betont. Boserup, E., Population and Technology, Oxford 1981. Die demographische Entwicklung, d.h. Diskrepanzen zwischen Bevölkerungsvermehrung und Nahrungsgrundlage wurde schon von dem altchinesischen Staatstheoretiker Han Fei (280-233 v. u. Z.) als die ausschlaggebende Ursache des historischen Wandels und der ihm eingebetteten Technikentwicklung erkannt. Han Fei nahm die wesentlichen Gedanken der Malthusschen Bevölkerungslehre vorweg, ohne jedoch die pessimistische Sicht Malthus' zu teilen. Vgl. Han Fei, Die Kunst der Staatsführung. Die Schriften des Meisters Han Fei, aus dem Altchinesischen übersetzt von W. Mögling, Leipzig 1994, S. 13, 545ff.

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sind Antworten auf Probleme i.w.S., vor allem auf Bedürfnisse - seien es angeborene (z.B. Hunger) oder historisch bzw. gesellschaftlich bedingte (z.B. auf dem Mond landen zu wollen). Je drängender die Probleme (Bedürfiiisse) bzw. je höher das Interesse deijenigen, die über Ressourcen verfügen (Machtaspekt), an der Problemlösung, desto eher werden die Probleme auch (innovativ) gelöst. Ökonomisch äußert sich das Interesse an einer Problemlösung darin, dafür Mittel aufzuwenden, und dies heißt unter Ware-GeldVerhältnissen nichts anderes, als monetär Nachfrage nach Problemlösungen (= Produkte, Verfahren) zu artikulieren, was Kaufkraft voraussetzt. Nicht der Hungrigste, sondern der Zahlungsfähigste erhält unter marktwirtschaftlichen Bedingungen die knappen (Nahrungs-)Güter.

3. DIE TECHNIKGESCHICHTLICHEN BEFUNDE - TECHNIK IM MITTELALTER UND IN DER BEGINNENDEN NEUZEIT Der Vergleich der bekanntesten technologischen Schriften des Mittelalters 27 mit denen des 14./15. Jahrhunderts läßt keinen Zweifel, daß im Mittelalter die zivile, landwirtschaftliche, produktivitätssteigernde Technik im Vordergrund stand, während das spätere Schrifttum der Waffenherstellung und dem Militärwesen sowie den zuzuordnenden Gewerben weit mehr Gewicht gab. In einem jüngeren Kommentar zu dem kulturgeschichtlich bedeutsamen "Mittelalterlichen Hausbuch" (1475-1485) 28 bemerkt die Autorin, daß im "Hausbuch viel über Kriegskunst und so wenig über Landwirtschaft zu lesen ist." 29 Der Vergleich der wichtigsten technischen Innovationen des europäischen Mittelalters (700-1350) und der Übergangszeit von 1350 bis 1500 (siehe Anhang) veranschaulicht, wo jeweils die Schwergewichte lagen:

27

28

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Zu nennen sind vor allem die Schriften von Theophilus Presbyter, Herrad von Landsperg, Villard de Honnecourt, Hugo von St. Viktor, Robert Grosseteste, Petrus Peregrinus, Roger Bacon Walter von Henley und Albertus Magnus. Vgl. Zinn, Kanonen und Pest, 1. c., S. 64ff. Waldburg-Wolfegg, Johannes Graf, Das mittelalterliche Hausbuch, München 1957. Siehe Hutchison, J. C., Das mittelalterliche Hausbuch ca. 1475-1485, in: Kok, J., P. Filedt, Hrsg., Vom Leben im späten Mittelalter. Der Hausbuchmeister oder Meister des Amsterdamer Kabinetts, Ausstellungskatalog, Amsterdam - Frankfurt/M 1985, S. 206.

landwirtschaftliche Prozeßinnovationen im hohen Mittelalter und städtischgewerbliche Produktinnovationen zu Beginn der Neuzeit.30 Vermutlich sind bisher nicht alle "wichtigen" Innovationen erfaßt. Doch relevant für die Aussagekraft der Zusammenstellung wäre eine vollständigere Liste für die hier interessierende Frage nur, soweit dadurch die Hypothese differierender Entwicklungstrends widerlegt werden könnte. An engen technologischen Kriterien gemessen mögen die Innovationen des Mittelalters simpel anmuten, weshalb ihre fundamentale Bedeutung auch lange Zeit verkannt wurde. Doch der Übergang von der Zwei- zur Dreifelderwirtschaft im frühen Mittelalter,31 die Einführung und Ausbreitung von schwerem Eisenpflug und Beetpflug, Hufeisen und Kummet - alle diese teils durch Technologie-Import aus Asien nach Europa gelangten Neuerungen32 waren Basisinnovationen - ermöglichten die landwirtschaftliche Produktivitätssteigerung, ohne die das Bevölkerungswachstum des Hochmittelalters und die explosionsartige Zunahme mittelalterlicher Stadtgründungen nicht eingetreten wären.33 Während des Mittelalters fand sozusagen eine Änderung der gesamtwirtschaftlichen Produktionsfunktion statt, wie sie in vergleichbarer Dimension erst wieder mit der Agrarrevolution des 17./18. Jahrhunderts realisiert wurde. Die Technik des mittelalterlichen Europas gründete weitgehend auf dem Technologie-Import aus den alten technischen Kulturen Asiens, insbesondere Chinas, und der Vermittlung technischen Wissens durch die Araber. 34 Die technologischen Verbindungslinien zwischen China und Westeuropa konnten zwar noch nicht genau nachgezeichnet werden, aber dank der jüngeren wissenschaftsgeschichtlichen Forschung, insbesondere der kulturvergleichenden Arbeiten von Joseph Needham, steht außer Zweifel, daß 30

31

iL

33

34

Ausgewertet wurde die synoptische Zusammenstellung technischer Erfindungen von Michael Matthes, ergänzt um Angaben aus weiteren Quellen. Vgl. Matthes, M., Hrsg., Geschichte der Technik. Eine Synopse von den Anfängen bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1983. Ausführliche Literaturzusammenstellung siehe: Zinn, Kanonen und Pest, 1. c., S. 273, Anmerkung 50. Vgl. zur eingehenden Analyse und Berechnungen des Ertragszuwachses White, L. jr., Die mittelalterliche Technik und der Wandel der Gesellschaft, München 1968, S. 65ff.; Zinn, Kanonen und Pest, 1. c., S. 48ff. Needham, J., Wissenschaft und Zivilisation in China, Bd. 1 der von Colin A. Ronan bearbeiteten Ausgaben (Cambridge 1978), Frankfurt/M 1984, S. 80-103. Der mittelalterlichen Innovationstätigkeit bzw. dem Technologie-Import sind auch die energietechnischen Basisinnovationen für die folgenden fünf Jahrhunderte zu verdanken, die Wassermühle und die Windmühle. Siehe Fußnote 33.

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China bis zu Beginn der europäischen Neuzeit die technische Spitzenstellung auf der Erde einnahm. 35 Für Needham stellt sich das historisch zentrale entwicklungstheoretische Problem, warum Europa und nicht China den Übergang zur "modernen Welt" vollzog, in besonderer Schärfe, weil Needham aufgrund seiner Forschungen die technisch-wissenschaftliche Leistung des alten China wie kaum ein anderer Forscher vor ihm erkannt hat. Dies sticht um so mehr hervor, als die fundamentalen technischen Neuerungen zu Beginn der Neuzeit - insbesondere Schießpulver bzw. Feuerwaffe und mechanische Uhr bzw. Uhrenhemmung (Unruh) - allenfalls europäische Wiedererfindungen chinesischer Erstinventionen waren, wenn nicht gar TechnologieImporte aus China. Needhams technik- und wissenschaftsgeschichtliche Charakterisierung des 14. Jahrhunderts als die Phase der entscheidenden Wende vom mittelalterlichen zum neuzeitlichen Europa wirft die zentrale Frage auf, warum in dieser relativ kurzen Zeit ein derart fundamentaler sozialökonomischer Wandel stattfand, daß ein Epochenwechsel eintrat. Deskriptiv läßt sich feststellen, daß im 14. Jahrhundert die gesellschaftliche und militärische Elite des Mittelalters, das Rittertum, einen rapiden, irreversiblen Machtverlust erlitt - ökonomisch und militärisch. Innerhalb eines knappen Jahrhunderts wurde infolge der Agrarkrise nach der Pest die wirtschaftliche Grundlage der feudalistischen Oberschicht ausgehöhlt, und ihr Waffenprivileg ging mit der Ausbreitung der "bürgerlichen" Feuerwaffentechnik unwiederbringlich verloren. Die Geschwindigkeit dieses Vorgangs kontrastiert zu der eher behäbig verlaufenden geschichtlichen Bewegung während der vorhergehenden Jahrhunderte und ruft somit nach einer dezidierten Erklärung. Die folgenden Ausführungen, die jene Frage zwar nicht in den Mittelpunkt stellen, mögen dennoch einige klärende Hinweise geben. Die herausragenden technischen Innovationen Europas im 14. und 15. Jahrhundert fanden nicht mehr im Agrarsektor statt und trugen in weit geringerem Maße zur gesamtwirtschaftlichen Produktivitätssteigerung bei als der 35

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"Nur wenige Historiker haben erkannt, wie stark Europa während der ersten vierzehn Jahrhunderte unserer Zeitrechnung in der technologischen Schuld Chinas stand. Die alte bürokratische Gesellschaft der Chinesen war im Hinblick auf technische Kreativität der Gesellschaft der Renaissance sicherlich unterlegen. Doch sie war sehr viel erfolgreicher als der europäische Feudalismus oder die Sklavenhaltergesellschaft der Hellenen gewesen, die diesem vorausgegangen war." Siehe Needham, J., Bemerkungen über die sozialen Beziehungen zwischen Wissenschaft und Technologie in China, in: derselbe, Wissenschaftlicher Universalismus, 1. c., S. 174. Vgl. auch die Tabelle der chinesischen Erst- und europäischen Wiedererfindungen bei Needham, Wissenschaft und Zivilisation in China, 1. c., S. 102f.

mittelalterliche agrartechnische Fortschritt. Vom 14. Jahrhundert an dominierten die Produktinnovationen; charakteristische Beispiele sind mechanische Uhr und Feuerwaffe. Soweit produktivitätswirksame Neuerungen im städtisch-gewerblichen Bereich realisiert wurden, blieb ihre Rückwirkung auf die Produktivität des Agrarsektors, wo etwa 90 % der Gesamtbevölkerung lebten, lange Zeit nachrangig. Die (Wieder-)Erfmdung der chinesischen Kunst des Buchdruckens, exakter: der beweglichen Letter, im Europa des 15. Jahrhunderts stellte zwar eine Prozeßinnovation dar, aber mit anfangs nur begrenzter Wirkung filr die gesamtwirtschaftliche Produktivität. Produktivitätswirksam erwiesen sich zwar auch etliche Innovationen in der Metallurgie und vor allem im Bergbau, aber der Produktivitätsfortschritt des Montanbereichs kam vorzugsweise der Waffenproduktion zugute,36 auch wenn der Metallbedarf für zivile Zwecke von der Mitte des 15. Jahrhunderts an ebenfalls Wachstum verzeichnete.37 Hiervon gingen daher auch nur sehr begrenzte Rückwirkungen auf die landwirtschaftliche, d.h. auf die Arbeitsproduktivität von fast neun Zehnteln der damaligen Bevölkerung aus. Um so bemerkenswerter erscheint vor diesem Hintergrund der mit dem 14./15. Jahrhundert zu datierende Übergang Europas zu einer eigenständigen technischwissenschaftlichen Entwicklung. Die wissenschaftsgeschichtliche Erklärung Needhams, der die sozialökonomischen Besonderheiten Europas38 - im 36

37

38

Ohne die tendenziell expansive, wenn auch diskontinuierliche Waffennachfrage kaufkraftstarker Auftraggeber hätte es wohl überhaupt am Anreiz ftlr die aufwendigen Investitionen im Bergbau gefehlt, so daß auch die Bergbaukrise des 14./15. Jahrhunderts nicht beendet worden wäre. Vgl. Nef, J., The Conquest of the Material World, Chicago - London 1964, S. 30f. Die Bedeutung der Feuerwaffenproduktion für die technische Entwicklung zwischen 1350 und 1600 wird ausführlich von Schmidtchen dargelegt. Vgl. Schmidtchen, V., Technik im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit zwischen 1350 und 1600, in: Troitzsch, Propyläen Technikgeschichte, 1. c„ Bd. 2: Metalle und Macht. 1000 bis 1600, S. 266355, passim. Der zivile Metallbedarf ließ sich selbstverständlich besser bzw. kostengünstiger decken, nachdem Bergbau und Metallurgie produktivitätssteigernde Innovationen vollzogen hatten. Zudem ließ das "Stoßgeschäft" der Nachfrage nach Rüstungsgütern temporäre Absatzlücken entstehen, die vom zivilen Metallbedarf geschlossen werden konnten bzw. mußten. Vgl. auch Schmidtchen, Technik im Übergang, 1. c„ S. 390f. "Für die Fragestellungen eines Wissenschaftshistorikers müssen wir deshalb auf die wesentlichen Unterschiede zwischen dem aristokratischen, militärischen Feudalismus Europas achten, der zusammen mit Renaissance und Reformation erst den merkantilen und dann den industriellen Kapitalismus entstehen ließ, und jenen anderen Arten des Feudalismus (falls es sich wirklich darum handelte), die das mittelalterliche Asien charakterisierten..." Siehe Needham, J., Wissenschaft

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Vergleich zu China - als den bestimmenden Faktor der Aufkunft von Kapitalismus, moderner (Natur-)Wissenschaft und wissenschaftlich fundierter Technik hervorhebt, 39 und das "bäuerliche" China dem militärisch aggressiveren Europa 4 0 gegenüberstellt, fügt sich durchaus in das seit der Pest durch einen rasch ansteigenden Gewaltpegel bestimmte Bild der europäischen Gesellschaften. 41

4. ZUR PHÄNOMENOLOGIE DER PEST a) Die demographische

Katastrophe

Die Pest wurde kurz vor der Mitte des 14. Jahrhunderts von der Nordküste des Schwarzen Meeres auf Genueser Handelsschiffen nach Westeuropa eingeschleppt. Bis 1722 blieb die Pest in Europa endemisch und verschwand dann aus bisher nicht eindeutig geklärten Gründen. Im Unterschied zu der

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40 41

80

und Gesellschaft in Ost und West, in: derselbe, Wissenschaftlicher Universalismus, 1. c., S. 62. Needham konfrontiert die bürokratisch stabilisierte, durch staatliche Interventionen geleitete chinesische Gesellschaft mit der beweglicheren, in gewissem Sinn irrationaleren und chaotischeren Situation in Europa, um zu erklären, warum in China eine "merkantile" Entwicklung unterbunden, in Europa hingegen hervorgebracht wurde. "Diese vielen verschiedenen Entdeckungen und Erfindungen hatten in Europa immense Auswirkungen, während in China die soziale Ordnung des bürokratischen Feudalismus von ihnen kaum berührt wurde. Man muß daher die der europäischen Gesellschaft innewohnende Instabilität mit dem homeostatischen Gleichgewicht Chinas vergleichen, dem Produkt einer nach meiner Überzeugung im Grund sehr viel rationaleren Gesellschaft als die des Westens." Siehe Needham, Joseph, Wirtschaft und Gesellschaft in Ost und West, in: derselbe, Wissenschaftlicher Universalismus, 1. c., S. 82. Needhams Analyse folgend ließen sich drei große Stufen zur europäischen Moderne unterscheiden: 1. Entstehung einer eigenständigen Kaufmannschaft, die die europäischen Städte beherrschte und dort der "merkantilen Mentalität" zum Durchbruch verhalf und der Gesellschaft allmählich das Ware-Geld-System aufzwang; 2. gesellschaftliche Ausbreitung der "merkantilen Mentalität", d. h. der Dominanz individualistischer, gewinnwirtschaftlicher Interessen gegenüber moralischen Traditionen und weltanschaulicher Orthodoxie, so daß auf dieser Grundlage die "exakte Wissenschaft" des Messens, Wägens, empirischen Experimentierens und des rationalen Kalküls aufbauen konnte; 3. wirtschaftliche Anwendung wissenschaftlich fundierter Technik im Industriekapitalismus. Ibidem, S. 64ff. Vgl. Zinn, Kanonen und Pest, 1. c., S. 245ff.

ersten pandemischen Pestwelle zwischen 1347 und 1352 und den geographisch noch relativ ausgedehnten Endemien in den folgenden Jahrzehnten blieb die Pest später vorwiegend lokal auf Städte begrenzt und übte dann vergleichsweise schwächere demographische Effekte aus.42 Die demographische Bilanz der Seuche zeigt in nüchternen Zahlen, daß die europäische Bevölkerung um mindestens ein Drittel dezimiert wurde (vgl. Tabelle 1); möglicherweise gar um die Hälfte, wie einige Autoren schätzen.43 Tabelle 1: Bevölkerungsentwicklung Europas 500 bis 1450 (Mio.) nach J. C. Rüssel Südeuropa West- und Mitteleuropa Osteuropa gesamt

500 13 9

650 9 5,5

1000 17 12

1340 25 35,5

1450 19 22,5

5,5 27,5

3,5 18

9,5 38,5

13 73,5

9,5 50

Quelle: J. C. Rüssel, Population in Europe 500-1500, in: C. M. Cipolla, Hrsg., The Fontana Economic History of Europe, Bd. 1, Glasgow 1972, S. 36. Der Tiefstand der Bevölkerungszahl trat nicht unmittelbar nach der ersten Pandemie ein, sondern der Bevölkerungsrückgang setzte sich noch einige Jahrzehnte fort, so daß die volle demographische Wirkung der Seuche im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts eingetreten sein dürfte.44 Das Ausmaß des Bevölkerungsverlustes bewirkte einen fundamentalen Wechsel der demographischen Situation. Sollte die bisher umstrittene These zutreffen, daß sich zu Beginn des 14. Jahrhunderts eine malthusiani42

43

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Vgl. zur ausführlichen Darstellung der Pest-Geographie: Biraben, J.-N., Les hommes et la peste en France et dans les pays européens et méditerannéens, Bd. 1 : La peste dans l'histoire, Paris 1975; derselbe, Les hommes et la peste en France et dans les pays européens et méditerannéens, Bd. 2: Les hommes face à la peste, Paris 1976. Vgl. Bosl, K., Staat, Gesellschaft, Wirtschaft im deutschen Mittelalter, 2. A., München 1975, S. 189. Vgl. Henning, F.-W., Das vorindustrielle Deutschland 800-1800, 3. A„ Paderborn 1977, S. 19, 125ff.; Schröder, R., Zur Arbeitsverfassung des Spätmittelalters. Eine Darstellung mittelalterlichen Arbeitsrechts aus der Zeit der großen Pest, Berlin 1984, S. 47ff.

81

sehe Situation abzeichnete, 45 so war jedenfalls dieses Überbevölkerungsproblem mit einem Schlag verschwunden. Die Zahl der Arbeitskräfte und Esser sank auf den Stand des 11. bis 12. Jahrhunderts, also auf das Niveau vor der Welle hochmittelalterlicher Städtegründungen. Die Pest entleerte Dörfer und Landstriche, wie von der Wüstungsforschung materialreich nachgewiesen wurde. 46 Die Städte erlebten prozentual einen noch stärkeren Bevölkerungsrückgang. Die Zuwanderungen vom Land glichen die städtischen Bevölkerungsverluste nur sehr langsam aus. Die Arbeitskräftemigration vom Land in die Städte stieß auf verschiedene Widerstände, so daß ein neues "Gleichgewicht" der Arbeitskräfteverteilung zwischen Agrarsektor und städtisch-gewerblicher Produktion lange Zeit nicht zustandekam. Das städtische Handwerk wehrte erfolgreich die Konkurrenz billiger Arbeitskräfte aus dem Agrarsektor ab. 47 Die Zuwanderung in die Städte blieb daher nach der Pest relativ schwach. Zwischen 1350 und 1450 ging der Anteil der städtischen Bevölkerung an der deutschen Gesamtbevölkerung zurück und stieg erst danach wieder auf das frühere Niveau. 48 Innerhalb der Städte vermehrte die Zuwanderung vom Land vornehmlich die Unterschichten; die sozialökonomische Ungleichheit in den Städten wurde auch dadurch verschärft. Auf dem Land bemühten sich Grundherren ebenfalls nicht ohne Wirkung, die Abwanderung ihrer Arbeitskräfte zu unterbinden. Regional begrenzt, aber als Keimzellen späterer "Protoindustrien" bedeutsam, erfuhren das Hausgewerbe und

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Vgl. Postan, M., Some Evidence of Declining Population in the Late Middle Ages, in: The Economic History Review, 2. ser., Bd. 2, S. 221-246; vgl. auch die Chronologie der Hungersnöte bei Walford, C., The Famines of the World, in: Journal of the Statistical Society of London, Bd. 41, 1878, S. 434ff. Zur Kritik an der Postan-These vgl. Rüssel, J. C., The Preplague Population in England, in: The Journal of British Studies, Bd. 5, 1966, S. 1-21; Hallam, H. E„ The Postan Thesis, in: Historical Studies, Bd. 15, S. 203-222; Robinson, W. C., Money, Population and Economic Change in Late Medieval Europe, in: The economic history review, Bd. 12, 1959, S. 63-76. Vgl. Abel, W., Wüstungen und Preisverfall im spätmittelalterlichen Europa, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 165, 1953, S. 380-427. Vgl. ibidem und Bergdolt, Schwarzer Tod, 1. c., S. 204ff. Schröder, Arbeitsverfassung des Spätmittelalters, 1. c., S. 49. Schröder gibt mit Rückgriff auf Henning folgende demograpische Daten für Deutschland. Jahr 1350 1430 1450

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Stadtbevölkerung Landbevölkerung 640 000 5,76 Mio. 385 000 5,85 Mio. 640 000 3,95 Mio.

Relation 11,1:100 10: 100 17,8: 100

korrespondierend das Verlagswesen infolge des sektoralen Strukturwandels Auftrieb, 49 so daß neben der städtischen auch eine schmale gewerbliche Produktion auf dem Land voranschritt. Der absolute Rückgang der Zahl der Arbeitskräfte führte selbstverständlich zu einem außerordentlichen Produktionsrückgang. Auch wenn hierzu keine genauen Angaben vorliegen, so mußte der demographische Einbruch eine erhebliche Reduktion des Sozialprodukts bewirkt haben, aber er war relativ geringer als der Bevölkerungsverlust. Denn die Pest vernichtete Menschen, aber das Sachvermögen blieb erhalten. Damit stieg in kurzer Zeit der Kapitalstock pro Kopf. Land, Gebäude, Wirtschaftsgeräte, Luxusvermögen etc. waren plötzlich relativ reichlich vorhanden, und Arbeitskraft wurde im Verhältnis zum Kapitalstock entsprechend knapp; weshalb alle Kapitaleigner über Arbeitskräftemangel bzw. hohe Löhne klagten. 50 Dies traf insbesondere für die Städte zu, deren Bevölkerungsverluste wegen der höheren Mortalitätsrate in Agglomerationsgebieten relativ - nicht absolut - höher lagen als die des flachen Landes. Da sich die handwerklichen, gewerblichen und intellektuellen Qualifikationen in den Städten konzentrierten, bewirkte die Pest einen massiven Verlust an menschengebundenen Fähigkeiten. Im Unterschied zur relativen Fülle des Sachvermögens, die die Pest zurückließ, erlitt das europäische Humankapital i.w.S. massive Einbußen. 51 Daraus ergab sich ein sozialökonomischer und politischer Positionsgewinn der handwerklich-gewerblichen Schichten seit der zweiten Hälfte des 14. und zu Beginn des 15. Jahrhunderts. Während der Pest starben ganze Familien aus. Hinterlassenes Sachvermögen blieb häufig ohne leibliche Erben des Verstorbenen, fiel dann der öffentlichen Hand zu, wurde in steigendem Maße aber auch vom Erblasser Stiftungen vermacht, und herrenlos gewordenes Vermögen provozierte 49

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Vgl. Lütge, F., Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Ein Überblick, Berlin-Göttingen-Heidelberg 1952, S. 218£f. Daher auch die vielfältigen arbeitsrechtlichen und Lohnreglementierungen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, Vgl. Schröder, Arbeitsverfassung des Spätmittelalters, 1. c. Faktum ist, daß produktions-, insbesondere prozeßtechnische Kenntnisse des Mittelalters, die häufig nur direkt von Meister zu Geselle und Lehrling, eventuell durch Lehrgedichte, aber nicht schriftlich weitergegeben wurden, später wieder "ausstarben" (z.B. Herstellungsverfahren farbigen Glases). Vgl. Buchheim/Sonnemann, Geschichte der Technik, 1. c., S. 63: "Es ist... sicher, daß ein Teil des empirischen Wissens über die mittelalterlichen Produktionsprozesse verlorengegangen ist." Zur Vervielfachung der Einkommen qualifizierter Arbeitskräfte vgl. Bergdolt, Schwarzer Tod, 1. c., S. 204f.

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"natürlich" Habgier und rief die Aasgeier der menschlichen Spezies auf den Plan. Doch selbst soweit die Vermögensübertragungen rechtmäßig abliefen, fand in kürzester Zeit eine massive Reichtumsumverteilung statt. Eine Schicht von Neureichen tauchte auf, die ein nonkonformistisches Element in den sozialökonomischen Strukturen der Städte bildete und die kulturelle und moralische Klimaänderung verstärkte. Religiöse und moralische Traditionen verloren an Einfluß, 52 und damit beschleunigte sich der Mentalitätswandel zwischen Mittelalter und Neuzeit.

b) Weniger Konsumenten - landwirtschaftliche Überproduktion Die absoluten Verluste an Arbeitskräften gingen einher mit einer Zunahme der landwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität, so daß die landwirtschaftliche Pro-Kopf-Produktion und damit auch der vermarktungsfähige Überschuß des Agrarsektors anstiegen. Der landwirtschaftliche Produktivitätszuwachs ergab sich vor allem infolge der entfallenen Notwendigkeit, schlechtere Böden zu bebauen, so daß nur noch die besseren unter den Pflug genommen wurden. Zudem dürften die landwirtschaftlichen Grenzerträge auch durch die Ertragsgesetzwirkung gestiegen sein, soweit der durchschnittliche Arbeitseinsatz pro genutzter Flächeneinheit vermindert wurde. Es wurde bereits erwähnt, daß die relative Arbeitskräfteknappheit im Verhältnis zur verfügbaren landwirtschaftlichen Fläche zunahm. Doch es ergab sich zugleich das Paradoxon eines relativen Arbeitskräfteüberschusses im Agrarsektor - gemessen an den Absatzmöglichkeiten der Agrarproduktion. Der relativ stärkere Bevölkerungsverlust der Städte hatte auch eine entsprechende Reduktion der Nahrungsgüternachfrage zur Folge. Außerdem bewirkte die größere Vermögens- und Einkommensungleichheit in den Städten eine veränderte Konsumstruktur: Es wurden relativ weniger Nahrungs- und lebenswichtige Verbrauchsgüter und entsprechend mehr Gebrauchsgüter mit Komfort- und Luxuscharakter nachgefragt. Die Folge war ein anhaltender Rückgang der relativen Agrarpreise. Die realen Austauschverhältnisse (terms of trade) zwischen Agrar- und städtischem Sektor änderten sich zugunsten der Städte. In Arbeitsmengen gerechnet wurde sozu-

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Vgl. Delumeau, J., Angst im Abendland. Die Geschichte der kollektiven Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, 2 Bde., Reinbek 1985; Zaddach, B. I., Die Folgen des Schwarzen Todes (1347-1352) für den Klerus Mitteleuropas, Stuttgart 1971.

sagen weniger städtische Arbeit in Form von gewerblichen Waren gegen mehr landwirtschaftliche Arbeit, vergegenständlicht in den Agrargtltern, getauscht. Damit verbesserte sich generell die Einkommensposition der Städte, wovon die verschiedenen städtischen Schichten allerdings recht unterschiedlich profitierten. Insgesamt stand dem städtischen Sektor relativ mehr Kaufkraft zur Verfügung (vgl. Abb. 2). Wofür das gestiegene städtische Realeinkommen verwandt wurde, hing weitgehend von der innerstädtischen Einkommensverteilung und der daraus resultierenden Nachfragestruktur ab. Der Verfall landwirtschaftlicher Preise bzw. Gelderlöse zog eine säkulare Agrarkrise nach sich. 53 Der Agrarsektor fiel in eine Depression. Da etwa 90 % der Bevölkerung von der Landwirtschaft lebten, handelte es sich zugleich um eine gesamtwirtschaftliche Depression.54 Gemessen an der stark reduzierten Nachfrage nach Agrargütern erwies sich das agrarische Arbeitskräftepotential eben nicht als zu gering, sondern als zu groß. Es zeigte sich das widersprüchliche Resultat, daß der Bevölkerungsverlust zu einem relativen Überhang landwirtschaftlicher Arbeitskräfte geführt hatte; zuviel Arbeitskräfte, um bei dem gestiegenen vermarktungsfähigen Angebot landwirtschaftlicher Produkte auskömmliche Agrarpreise zu erzielen. Eine stärkere Ausweitung des Hausgewerbes und der Verlagsproduktion auf dem flachen Land, die bereits seit dem 13. Jahrhundert existiert hatte,55 konnte sich mangels expansiver Nachfrage gerade nicht entwickeln, so daß auch dieser Weg zur Einkommenssteigerung des Agrarsektors versperrt wurde. Den Zeitgenossen war der Charakter dieses neu entstandenen Ungleichgewichts vermutlich nicht bewußt, geschweige denn daß sachgerechte wirtschaftspolitische Maßnahmen möglich gewesen wären oder ein marktwirtschaftlicher Ausgleich der disproportionierten Arbeitskräfteverteilung zwischen Stadt und Land hätte ablaufen können. Ein Arbeitsmarkt mit "freien" Lohnarbeitern und marktwirtschaftlicher Lohnbildung existierte im 14. Jahrhundert allenfalls in einzelnen Regionen und auch dort nur in ersten Ansätzen. Hierin zeigte sich ein fundamentaler Unterschied zur Entstehungsphase der Industriellen Revolution, während der überschüssige Arbeitskräfte aus der

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Vgl. Abel, Wüstungen und Preisverfall, 1. c.; Slicher van Bath, B. H., The Agrarian History of Western Europe. A. D. 5 0 0 - 1 8 5 0 , New York - London 1963. Vgl. zu der - umstrittenen - These einer Wirtschaftsdepression während der Renaissance: Lopez, R. S., H. A. Miskimin, The Economic Depression of the Renaissance, in: Economic History Review, 2. ser., Bd. 1 4 , 1 9 6 1 , S. 408-426. Vgl Haussherr, Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit, 1. c., S. 16ff.

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Landwirtschaft relativ ungehindert in die nicht-landwirtschaftliche Produktion wechselten, j a zum Wechsel gezwungen wurden. 56 Der relative Überschuß an landwirtschaftlichen Arbeitskräften im skizzierten Sinn widerspricht nur scheinbar der vielfach belegten Tatsache, daß die Grundherrschaften nach der Pest über Arbeitskräftemangel klagten. In Relation zum vorhandenen Land waren Arbeitskräfte in der Tat knapp. Dieser relative Arbeitskräftemangel wurde um so mehr empfunden, als die Agrarerlöse sanken und die für den Agrarsektor bis heute charakteristische inverse Angebotsreaktion vermutlich auch damals schon bestand. 57 Abbildung 1: Entwicklung von Getreidepreisen, Löhnen und Preisen gewerblicher Produkte (1351/1470 = 100)

1331/40

1371/80

1411/20

1451/60

1491/1500

Quelle: Schröder, Arbeitsverfassung des Spätmittelalters, 1. c., S. 58 (nach Angaben von Henning, Vorindustrielles Deutschland, 1. c., S. 127)

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Der Wechsel fand nur teilweise als Land-Stadt-Wanderung statt. In erheblichem Umfang enstanden auch gewerbliche Produktionen auf dem Land (Heimarbeit, Verlagssystem). Vgl. Haussherr, Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit, 1. c. Inverse Angebotsreaktion = steigende Angebotsmenge bei sinkenden Preisen in der falschen Erwartung der Anbieter, der Erlös ließe sich durch größere Absatzmengen stabilisieren. Die Ausweitung der Angebotsmenge führt primär zu weiterem Preis- und Erlösverfall, und zwar um so stärker, je geringer die Preiselastizität der Nachfrage ist. Die vom Erlösverfall betroffenen Grundherren mochten (irrtümlich) erwarten, daß sie ihr (monetäres) Einkommen stabilisieren könnten, wenn sie mehr Arbeitskräfte einsetzten und größere Warenmengen verkauften; deshalb ihre Klage über Arbeitskräftemangel.

c) Reichtumskonzentration und Nachfragestruktur Die Pest brachte eine generelle Reichtumsumverteilung von der ländlichen zur städtischen Bevölkerung, und innerhalb der Städte nahm die Vermögens- und Einkommenskonzentration, wie beschrieben, erheblich zu. 58 Auf dem Land zeigten sich unterschiedliche Entwicklungen. In manchen Fällen konnten ehemalige Pächter zu selbständigen Bauern und kleine Bauern zu größeren Landbesitzern aufsteigen. Diese Umverteilungsprozesse bewirkten insgesamt eine stärkere Kaufkraftkonzentration mit dem Effekt, daß die Nachfragestruktur stärker vom Oberschichtenkonsum bestimmt wurde. Da die marktvermittelte Produktion der Nachfrage folgte, mußte, wie begründet wurde, auch eine Verschiebung der Produktionsstruktur eintreten, woraus sich wiederum Konsequenzen für die Technikentwicklung ergaben. Die nachfrageorientierte städtische Produktion folgte der Kaufkraftumschichtung vom Land in die Stadt und der vertärkten Kaufkraftkonzentration auf Oberschichten. Daraus erklärt sich dann auch die Dominanz der Produktinnovationen und das Desinteresse und der teils heftige Widerstand (der Zünfte) gegenüber produktivitätssteigernden (Prozeß-)Innovationen und gegen eine stärkere Zuwanderung von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft in die protektionistischen Gewerbe der Städte. 59 Der städtischen Produktion fehlten expansive Absatzmöglichkeiten im Agrarsektor. Nicht steigende Verbrauchsmengen gewerblicher Güter seitens der breiten Bevölkerung, sondern die Luxus- und Rüstungsgüternachfrage der Oberschichten und Machteliten bestimmte, wo innovative, wachstumsträchtige Branchen entstanden. An erster Stelle ist hier die Expansion der Feuerwaf-

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Ygl. zur städtischen Vermögensschichtung im 15. Jahrhundert Weyrauch, E., Über soziale Schichtung, in: Batori, I., Hrsg., Städtische Gesellschaft und Reformation, Stuttgart 1980, S. 57 passim. Die protektionistische Politik der Zünfte ist hinlänglich bekannt, wird aber in ihrer entwicklungshemmenden Bedeutung häufig überschätzt, wie Hausherr kritisiert. Die einseitig negative Beurteilung der Zünfte als innovationsfeindliche Institution spiegelt die wirtschaftsliberalistischen und "chronozentristischen" Vorstellungen späterer Autoren wider, die den Funktionen der Zünfte historisch nicht gerecht werden. Zudem blieben gerade technisch innovative Bereiche vom Einfluß der Zünfte häufig verschont. Beispielssweise galten Groß- und Monumentaluhrmacher als freie Künstler. Die vom 14. bis zum 18. Jahrhundert verlaufende Zunahme der Verzunflung wäre wohl kaum möglich gewesen, wenn sie nicht im Interesse einer breiteren Öffentlichkeit gelegen hätte. Vgl. Haussherr, Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit, 1. c., S. 15ff.

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fen-Produktion mit ihren weitreichenden Vorleistungen zu nennen. 60 Insbesondere der Montansektor profitierte vom Wachstumsschub der Waffennachfrage, und hier wurden - neben der Textilindustrie - auch die ersten Formen frühen Industriekapitalismus geschaffen. Innerhalb von weniger als 200 Jahren - vom Anfang des 14. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts - wurde die Feuerwaffe durch Verbesserungs- und Folgeinnovationen auf den technischen Stand gebracht, der den europäischen Kolonialmächten für die folgenden Jahrhunderte die globale militärische Überlegenheit in die Hände gab. Die expansive Waffennachfrage spiegelte den damaligen RüstungsgüXtrbedarf wider. Der Bedarf läßt sich aber nicht einfach durch das technikgeschichtliche Faktum erklären, daß um 1300 - also noch vor der Pest - die Feuerwaffe in Europa bekannt wurde, sondern diese Invention bedeutete per se nur eine technische Option. Zur Innovation und raschen Diffusion bedurfte es eines historischen Umfeldes, in dem die neue Vernichtungstechnik bevorzugt nachgefragt, d.h. die technische Option in Innovationen transformiert wurde. Es mußte Bedarf dafür vorhanden sein, und er mußte sich in kaufkräftiger Nachfrage äußern. Die historische Konstellation des 14./15. Jahrhunderts erfüllte diese Voraussetzungen, und deshalb wurde die Waffenherstellung zur herausragenden Wachstumsindustrie der beginnenden Neuzeit. Die bereits erwähnten Erklärungen von Needham und Schmookler zum be60

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Vgl. Schmidtchen, V., Bombarden, Befestigungen, Büchsenmacher, Von den ersten Mauerbrechern des Spätmittelalters zur Belagerungsartillerie der Renaissance. Eine Studie zur Entwicklung der Militärtechnik, Düsseldorf 1977; derselbe, Technik im Übergang, 1. c., S. 266ff.; Pope, D., Feuerwaffen. Entwicklung und Geschichte, Bern - München - Wien 1965; Zinn, Kanonen und Pest, 1. c., S. 113ff; Sombart, W., Krieg und Kapitalismus, München - Leipzig 1913. Die Rüstungsgüterproduktion war die erste Branche, in der Elemente von systematischer Rationalisierung eingeführt wurden - z.B. Normierung der Kaliber bzw. Kugeln und vom 19. Jahrhundert an der Austauschbau. Schon in älteren Hochkulturen hatte die Rüstungsgüterproduktion wesentlichen Anteil am technischen Fortschritt, und in der europäischen Neuzeit, insbesondere im 19./20. Jahrhundert, wurde sie zu einem Schrittmacher der Entwicklung von hochtechnologischen Gütern. Für diese technikgeschichtliche Vorrangstellung der militärischen Produktion lassen sich schon bei oberflächlicher Betrachtung verschiedene Gründe erkennen, aber der entscheidende Faktor war und ist, daß Rüstungsgüter vom Staat bzw. staatsähnlichen Institutionen in Auftrag gegeben werden und für den Produzenten das Absatzrisiko faktisch entfällt. Auch extrem hohe Entwicklungsund Investitionskosten stellen daher kein Innovationshindernis dar. Der (die) garantierte Absatz (Nachfrage) treibt Produktion und technische Innovationen an. Vgl. Röhrich, H., Beiträge zur Geschichte der Vereinheitlichung der Kriegsfeuerwaffen in Deutschland, in: Beiträge zur Geschichte der Technik und Industrie, Bd. 27, 1938, S. 76-86.

stimmenden Einfluß sozialökonomischer Faktoren in der Technikentwicklung wird durch die vorstehend geschilderten Zusammenhänge bestätigt. Neben der Waffenherstellung lassen sich weitere Wachstumsproduktionen anführen - etwa die Uhrenherstellung und generell die für den expandierenden Fernhandel produzierenden Gewerbe. Produktionswachstum ohne entsprechende Nachfrage war jedoch nicht möglich. Die kaufkraftschwache Agrarbevölkerung - 90 % der Menschen - bot keine Wachstumsmärkte. Deshalb konzentrierte sich das Wachstum auf das gesamtwirtschaftlich betrachtet enge Segment der Konsumtion der wohlhabenden Eliten - und den Rüstungsbedarf der Städte und Landesherren. Auch die Fernhandelsexpansion zeugt eher von der Absatzschwäche am "inneren Markt" des agrarischen Landes als von gesamtwirtschaftlichem Wachstum.61

d) Schematische Gegenüberstellung der mittelalterlichen und der Wirtschaftsstruktur im 14./15. Jahrhundert Der landwirtschaftliche Produktivitätsanstieg des Mittelalters resultierte aus technischen Neuerungen und ging mit einem Anstieg der Gesamtproduktion und der Bevölkerung einher. Eine völlig andere Konstellation ergab sich zur Mitte des 14. Jahrhunderts. Der Produktivitätszuwachs des Agrarsektors verdankte sich nun der Anbaubeschränkung auf die besseren Böden. Bestenfalls stagnierte die praktizierte Agrartechnik, und häufig dürften sogar EfFizienzverluste eingetreten sein.

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Vgl. in diesem Sinn etwa Stromer, Industrielle Revolution des Spätmittelalters, 1. c., S. 114: "... die Käuferzahlen und Konsumkraft der lokalen Märkte in den Gewerbestädten und ihrem Umland gingen schlagartig zurück, wofür zahlreiche Wüstungen dieser Epoche zeugen, was die Tendenz zur Exportgutproduktion steigerte, die schon in den Gewerbelandschaften des Hochmittelalters angelegt war."

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Abbildung 2: Sektorales Mehrprodukt und seine Verwendung AGRARSEKTOR

STÄDTISCHE WIRTSCHAFT

Produktivitätsanstieg steigendes Mehrprodukt Verwendung: • •

landwirtschaftliche Investitionen im Mittelalter Abfluß in den städtischen Sektor infolge des terms of trade-Effekts nach 1350

• •

Absatzsteigerung gewerblicher Waren im Agrarsektor Anstieg der Pro-Kopf-Einkommen und des städtischen Mehrprodukts

Mehrproduktverwendung: • • • •

Luxuskonsum Repräsentationsbauten Rüstung (Bauten, Waffen, etc.) produktive Investitionen

Die Unterschiede zwischen der mittelalterlichen und der Wirtschaftsstruktur von der Mitte des 14. Jahrhunderts an spiegelten sich auch in der Verteilung und Verwendung des gesamtwirtschaftlichen Mehrprodukts wider. Das gesamtwirtschaftliche Mehrprodukt setzte sich aus den beiden sektoralen Komponenten, landwirtschaftliches und städtisches Mehrprodukt, zusammen (vgl. Abb. 2). Im Mittelalter verblieb ein relativ großer Teil des landwirtschaftlichen Überschusses im Agrarsektor und wurde dort reinvestiert. Die Agrarkrise des 14./15. Jahrhunderts veränderte die realen Austauschverhältnisse zugunsten der Städte; landwirtschaftliches Mehrprodukt wurde auf diese Weise i.S. eines "ungleichen Tauschs" an die Städte übertragen. Die Städte verwandten ihr Mehrprodukt jedoch zu einem erheblichen Teil für unproduktive Zwecke; der reinvestierte Anteil fiel entsprechend gering aus. Das relativ gestiegene Mehrprodukt der Städte erlaubte ihnen, sich mit der neuen Feuerwaffentechnik hochzurüsten, Repräsentationsbauten zu errichten, und die Oberschichten, deren soziale Zusammensetzung sich

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stark durch die vielen Aufsteiger und Pestgewinnler ("Neureiche") verändert hatte, frönten dem Luxus und ihrer "individualistischen" Protzsucht. 62

e) Sozialpathologische Folgen des "Schwarzen Todes" Die Veränderung der materiellen Situation infolge der Pest steht hier im Mittelpunkt. Dennoch sind einige Bemerkungen zu den psychischen Effekten erforderlich, da der Mentalitätswandel und die damit verbundene Gewichtsverschiebung in den Werthaltungen, Handlungsmotiven und Ver. haltensweisen eigenständige Faktoren im Prozeß des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels bilden. Das Schwinden des mittelalterlichen Ordinis Dei gab das Feld frei, auf dem der neuzeitliche (Wirtschafts-)Egoismus, die menschenverachtende Brutalität der mit Feuerwaffen geführten Kriege und der europäische Rassismus aufgingen, aber auch die von der Vernunft bestimmten Gegenkräfte, Rationalismus und Humanismus, Wurzeln schlugen. Die Pest im 14. Jahrhundert wurde als völlig neue, imbekannte Seuche - als "Strafe Gottes" - erlebt. An die bekannten epidemischen Krankheiten der Zeit hatten sich die Menschen gewöhnt und vermochten damit wenigsten psychisch umzugehen. Mit der Pest stand es anders. Überliefertes Wissen von der ersten Pestpandemie, der "Pest des Justinian" (seit 542) des frühen Mittelalters, war selbst in spärlichen Resten nicht mehr im kollektiven Gedächtnis vorhanden. 63 Die neue, unbekannte Seuche übertraf in ihrer verheerenden Vernichtungskraft alle anderen, den Menschen vertrauten Krankheiten. Die Erkrankten starben in kürzester Zeit. Scheinbar noch Gesunde brachen plötzlich tot zusammen. Man kannte weder die Ursache der Krankheit noch Mittel gegen sie. Die Pest hob sich von allen bis dahin erfahrenen Katastrophen markant ab. Der menschlichen Welt schien der Untergang bereitet zu sein, und Zukunft verlor ihre Bedeutung. Es ist somit verständlich, daß die Seuche bereits durch ihre unmittelbare Schreckenswirkung die "europäische

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In der Literatur wird immer wieder auf die Nachäfferei des adligen Habitus durch die städtischen Parvenüs aufmerksam gemacht. In diesem Zusammenhang ist auch die erst seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts von breiteren Schichten übernommene Sitte zu sehen, individuelle Grabstätten mit mehr oder weniger aufwendigen Grabsteinen anzulegen. Individualbegräbnisse waren zuvor ein Privileg der sozialen Eliten, insbesondere von Adel und hohem Klerus. Vgl. Bergdolt, Schwarzer Tod, 1. c., S. 161. Vgl. Bergdolt, Schwarzer Tod, 1. c„ S. 14ff.

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Seele" in einen pathologischen Zustand versetzte und die Menschen bar jeglicher rationaler Erklärung des Unglücks den Halt in der Welt verloren. Allgegenwärtige Todesangst war nicht das bestimmende Novum, sondern die Unheimlichkeit des Geschehens, die trostlose Erfahrung von Gott verlassen zu sein. Ohne Ordnung und Orientierung blieb dem Individuum nur sein egoistischer Grundtrieb, um sein Verhalten zu leiten. Der moderne abendländische Individualismus, der bis heute unser Selbstverständnis als Europäer charakterisiert, hat seine spezifisch psychologischen Wurzeln in jener Zeit, in der die mittelalterliche Ordnung unterging. Der "Schwarze Tod", wie die Pest des 14. Jahrhunderts später genannt wurde, führte in eine anhaltende geistige und moralische Krise, die sich nicht zuletzt in zunehmender Rücksichtslosigkeit in den sozialen Beziehungen, der Eskalation von Grausamkeit und Verfolgung von Minderheiten äußerte. Die gewalttätigen Konflikte, die militärischen Auseinandersetzungen, die inquisitorische Repression und die Verfolgung von Minderheiten, insbesondere der Juden, eskalierten und zeigten ein Bild gesellschaftlicher Atroxität,64 das sich deutlich vom Mittalter unterschied. In einem solchen Umfeld fand die Erfindung der Feuerwaffe günstige Innovations- und Diffusionsvoraussetzungen. Von der Mitte des 14. Jahrhunderts an nahm die Nachfrage nach Feuerwaffen in der Tat explosionsartig zu.65 Nicht die Erfindung der neuen Waffentechnik, sondern der gesellschaftliche Bedarf für sie führte in Europa zur militärischen Revolution.66 Die neue Vernichtungstechnik korrespondierte mit dem Mentalitätswandel des Jahrhunderts. Das Menschenleben wurde wertloser.

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Judenverfolgung, Inquisition, insbesondere die Hexenverfolgung, fast alltäglicher Gebrauch der Folter, Verschärfung des Strafrechts mit der Anwendung verstümmelnder Körperstrafen erreichten erst mit Beginn der europäischen Neuzeit, also im 14./15. Jahrhundert, das Ausmaß, das fälschlich dem "finsteren Mittelalter" untergeschoben wurde und noch heute das Mittelalterbild einer historisch schlecht informierten Öffentlichkeit bestimmt. Vgl. Zinn, Kanonen und Pest, 1. c., S. 199ff. Vgl. u.a. Rathgen, B., Das Geschütz im Mittelalter. Quellenkritische Untersuchungen von B. R., Berlin 1928; Schmidtchen, Bombarden, Befestigungen Büchsenmacher, 1. c. Vgl. das Zitat Needhams in Anmerkung 40.

5. EXKURS ZUM TECHNOLOGISCHEN UND PRODUKTIONSTECHNISCHEN NIVEAU IM 14./15. JAHRHUNDERT Voraussetzung steigender Pro-Kopf-Einkommen und damit steigenden Durchschnittskonsums sind Produktivitätssteigerungen. Produktivitätssteigerungen erfordern - wie die Industrielle Revolution veranschaulicht Prozeßinnovationen, die sowohl organisatorische Neuerungen (etwa innerbetriebliche Arbeitsteilung im Sinne des Stecknadelbeispiels Adam Smith's) als auch neue maschinen-technische Problemlösungen umfassen. Wenn auch spekulativ, so ist es doch legitim, die Frage zu erörtern, ob im 14. Jahrhundert technologisch und produktionstechnisch hinreichende Voraussetzungen bestanden, um die gesamtwirtschaftliche Produktionsfunktion so zu verändern, daß ein anhaltendes gesamtwirtschaftliches Produktivitätswachstum wie schon im Mittelalter - erreicht worden wäre. Falls diese Frage positiv beantwortet werden kann, würde das darauf hinweisen, daß die sozialökonomische Entwicklung bzw. die Pestfolgen in gewisser Weise den geschichtlichen Prozeß "verzögert" haben: Die Industrielle Revolution begann sozusagen später, als von der Produktionstechnik her möglich war. Hier kann keine Antwort auf die spekulative Frage, sondern nur ein Argumentationsansatz formuliert werden. Dazu einige Thesen. 1. Ingeniöse Talente und Innovatoren bildeten im 14./15. Jahrhundert keinen entscheidenden Engpaßfaktor, wie die einschlägige Forschung zu Technik und Unternehmertum erkennen läßt. 2. Die produktionstechnischen Höchstleistungen, auf die bereits hingewiesen wurde, brauchen sich nicht hinter späteren, auch nicht hinter denen zu Beginn der Industriellen Revolution, zu verstecken. Welches Spitzenniveau die ingenieurtechnische Fähigkeit und das produktionstechnische Know-how im 14. Jahrhundert erreicht hatten, zeigte sich exemplarisch am Astrarium des Giovanni De Dondi (1364). 67 Da die Nachahmung einer Erstinnovation nach aller Erfahrung und aus den dargelegten theoretischen Gründen fast zwangsläufig eintritt, wenn entsprechende Nachfrage vorliegt, hätten der Diffusion produktivitätswirksamer Verbesserungen keine Hindernisse seitens imitatorischer Fähigkeiten in der damaligen Zeit entgegenge67

Vgl. Giovanni Dondi dall'orologio. Tractatus asterii. Biblioteca Capitolare di Padova, Cod. D. 39, Einführung, Übersetzung und Glossar von A. Barzon, E. Morpurgo, A. Tetrucci, G. Francescato, Vatikanstadt 1960; Bach, H., Das Astrarium des Giovanni De Dondi (= Schriften der "Freunde alter Uhren", Bd. XXIV/B, hrsg. v. d. Deutschen Gesellschaft für Chronometrie), (Furtwangen) 1985.

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standen. Doch es fehlten eben die nachfrageseitigen Voraussetzungen. Hinderlich waren zwar auch die innovationsfeindliche Haltung der Zünfte und die rigide Geheimhaltung (Berufsgeheimnis) von technischen Neuerungen in einer Zeit ohne Patentrecht bzw. -schütz, doch diese Innovationsrestriktionen hätten gegenüber einer expansiven Nachfrage kaum standgehalten, wie später die Industrielle Revolution erkennen ließ. Das Beispiel der raschen Ausbreitung der drucktechnischen Neuerung Gutenbergs nach der militärisch bedingten Aufhebung des Produktionsgeheimnisses zeigte, wie rasch sich auch zur damaligen Zeit ein Diffusionsprozeß abspielen konnte, wenn die Marktbedingungen die Innovation trugen. Bereits für das hohe Mittelalter konstatieren Gimpel und CarusWilson eine "industrielle Revolution". 68 Wolfgang von Stromer weist, wie erwähnt, für das 14./15. Jahrhundert ebenfalls nach, daß Erfindungen auf hohem technologischen Niveau gemacht wurden, die in einzelnen Fällen vor denen der Industriellen Revolution nicht zurückstehen. 69 Nicht technologisches Unvermögen, sondern wirtschaftliche Faktoren hinderten den gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsfortschritt bzw. die Ausbreitung produktivitätssteigernder Innovationen. Produktion und Installation von Rationalisierungstechnik (Maschinen) erforderte hohe Investitionen, die nur bei großen Absatzmengen der Endprodukte und/oder Monopolrechten (z.B. das KupferMonopol von Fugger/Thurzo im 16. Jh. und v.a. die im Merkantilismus zur Investitionsförderung verliehenen Privilegien) rentierten. Dort wo sich entsprechende Marktchancen boten, kam es zu einer erstaunlich raschen Diffusion von Neuerungen. Dem Tenor der Argumentation Wolfgang von Stromers, der die industrielle Technologie des 14./15. Jahrhunderts betont, 70 läßt sich um so mehr folgen, als auch die chinesische Kultur schon während

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Gimpel, J., Die industrielle Revolution des Mittelalters, München 1980; CarusWilson, E. M., An Industrial Revolution in the thirteenth Century, in: Economic History Review, Bd. 11, 1941, S. 39-62; vgl. auch Bosl, Grundlagen der modernen Gesellschaft, 1. c. Stromer, Industrielle Revolution, 1. c., S. 105-138; Endrei, W., W. von Stromer, Textiltechnische und hydraulische Erfindungen und ihre Innovatoren in Mitteleuropa im 14./15. Jahrhundert, Walter Kesingers Seidenzwirnmühle in Köln 1412, in: Technikgeschichte, Bd. 41, 1974, S. 89-117; White, Mittelalterliche Technik und Wandel, 1. c.; derselbe, Technology and Invention in the Middle Ages, in: Speculum, Bd. 15, 1940, S. 141-159. Vgl. die instruktive Zusammenstellung "zahlreicher neuer Maschinen, Verfahren und Produkte" des Spätmittelalters (bezeichnenderweise vor allem im Montanbereich) bei Stromer, Industrielle Revolution des Spätmittelalters, 1. c., 120f.

der Song-Dynastie 71 einen Entwicklungsstand erreicht hatte, der, wie schon bemerkt wurde, die bis heute nicht abschließend beantwortete Frage aufwirft, warum nicht dort und damals der Übergang zur Industriellen Revolution vollzogen wurde. 72 Es gibt offenbar verschiedene historische Beispiele für technische Konstellationen, die der Industriellen Revolution i.e.S. genügt hätten, aber wegen des Fehlens notwendiger sozialökonomischer Voraussetzungen ihr latentes industrielles Potential nicht entfalten konnten. 3. Die ersten entscheidenden Prozeßinnovationen der Industriellen Revolution erfolgten ohne Rückgriff auf die zeitgenössische Naturwissenschaft, standen also noch ganz in der Tradition der empirischen Technik der Handwerker-Ingenieure. Daher kann die noch rückständige Naturwissenschaft des 14. Jahrhunderts nicht als entscheidendes Hindernis für produktivitätswirksamen technischen Fortschritt qualifiziert werden. 4. Die kapitalistische Produktionsweise war im Europa des 14. Jahrhunderts zwar noch nicht so weit entwickelt wie zu Beginn der Industriellen Revolution, aber das gilt nur beim Blick auf Gesamteuropa. Regional - etwa Oberitalien, Flandern, Hansestädte - bestanden frühe handelskapitalistische Enklaven, die den Übergang zum industriekapitalistischen Aufstieg hätten vollziehen können, wenn die nachfrageseitigen Wachstumsbedingungen günstiger gewesen wären. Als Resümee dieser Plausibilitätsüberlegungen ergibt sich, daß eine industrielle Revolution im 14./15. Jahrhundert nicht an einer vermeintlich zu primitiven, zu unterentwickelten Technik gescheitert wäre. Entscheidend waren, wie dargelegt, die sozialökonomischen Bedingungen, die eine Fortsetzung des mittelalterlichen Produktivitätswachstums - auch außerhalb der Landwirtschaft - blockierten. Technik löst Probleme, aber nur solche, die ihr das sozialökonomische System zur Lösung vorlegt. Wenn die "falschen" Probleme artikuliert werden, so werden diese - nicht die "richtigen" - von der Technik bearbeitet. Das ist heute nicht anders als im 14. Jahrhundert.

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Vgl. Kuhn, D., Die Song-Dynastie (960-1279), Weinheim 1987. Vgl. Needham, Wissenschaftlicher Universalismus, 1. c.; derselbe, Science and Civilization in China, (bisher) 7 Bde., Cambridge 1954ff.; Pacey, A., Technology in World Civilization. A Thousand Year History, Cambridge/Mass. 1990.

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6. ZUSAMMENFASSUNG UND EINE AMBIVALENTE ANTWORT Die Dezimierung der europäschen Bevölkerung um mindestens ein Drittel infolge der Pest-Pandemie des 14. Jahrhunderts verschob das wirtschaftliche Schwergewicht vom Agrarbereich zur handwerklich-gewerblichen Produktion der Städte. Die säkulare Agrarkrise, die durch den langfristigen Verfall der relativen Preise landwirtschaftlicher Produkte hervorgerufen wurde, hatte weitreichende Folgen für die Technikentwicklung. Dem Agrarsektor ließ die Absatzkrise weder finanziellen Spielraum für wesentliche Verbesserungsinvestitionen, noch bestand Anreiz für produktivitätssteigernde Innovationen. Die geschwächte Kaufkraft des landwirtschaftlichen Sektors, d.h. fast 90 % der Gesamtbevölkerung, bedeutete, daß der Absatz gewerblicher Güter aus den Städten keine Wachstumsimpulse seitens der Konsumenten auf dem Lande erfuhr, sondern im Gegenteil permanent deprimiert wurde. Ohne die Aussicht auf steigende Mengennachfrage bestand auch keine Motivation, die handwerklich-gewerbliche Produktion zu rationalisieren, also Produktivitätssteigerungen anzustreben. Die Aussicht auf Marktexpansion beschränkte sich daher auf die gesamtwirtschaftlich relativ kleinen Segmente des (inner)städtischen Verbrauchs, insbesondere des Verbrauchs der einkommensstarken Oberschichten, und den Fernhandel. Kreislauftheoretisch betrachtet trat also - im Vergleich zum hohen Mittelalter der demographischen Wachstumsphase - einerseits eine gewisse Entkopplung von Agrarwirtschaft und Stadtwirtschaft ein, während andererseits die internen Kreisläufe der in Handelsverbindung stehenden Städte verstärkt wurden. Da Umsatzwachstum nicht durch Verbrauchsanstieg der breiten Bevölkerung errreicht werden konnte, sondern die Nachfragepotentiale bei den zahlenmäßig relativ kleinen Mittel- und Oberschichten zu finden waren, kam es darauf an, deren Bedarf durch neue Güter (Produktinnovationen) zu dekken. Dies erforderte selbstverständich Inventionen und Innovationen, und sie stellten sich auch in beachtlicher Zahl und vielleicht noch erstaunlicherer technischer Qualität im 14./15. Jahrhundert ein. Doch bedeutete diese marktbzw. nachfrageinduzierte Strukturverschiebung der Produktion und die damit verbundene Zielverlagerung bei der Technikgenese, daß eine grundsätzliche Richtungsänderung des technischen Entwicklungsprozesses eintrat. Der produktivitätsorientierte, landwirtschaftliche Innovationstrend des Mittelalters wurde abgebrochen. Die technischen und wirtschaftlichen Aktivitäten richteten sich nunmehr schwergewichtig auf anspruchsvolle, d.h. zugleich aufwendige bzw. teure Produktinnovationen: Mechanische Uhr und Feuerwaffe; nicht verbesserte Anbaumethoden, innovative Düngungstechnik oder der96

gleichen Fortschritte "bäuerlicher" Technik kennzeichneten die weitere sozialökonomisch-technische Evolution. Von Joseph Needham wird das 14. Jahrhundert als die entscheidende Phase charakterisiert, von der an die europäische Entwicklung - Wirtschaft, Technik, Wissenschaft - die bis dahin technisch überlegene chinesische Kultur zu überholen begann. Die Entwicklung technischer Fertigkeiten in den feinmechanischen Handwerken - vor allem in der der Uhren- und Waffenherstellung - , selbst wiederum Folge der wirtschaftlich bedingten Nachfrageverlagerungen auf diese Produktionsbereiche, bildete eine wesentliche Voraussetzung für die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts, wie Needham in Anlehnung an Edgar Zilsel hervorhebt. 73 Der durch die Pest bewirkte abrupte sozialökonomische Strukturwandel mit seinen vielfältigen materiellen, mentalen und weltanschaulichen Folgen unterbrach zwar den agrartechnischen Fortschritt, könnte aber gerade wegen der relativen Begünstigung der Stadtwirtschaft als eine wesentliche Ursache für den wirtschaftlich-technischen Aufstieg Europas zur Moderne verstanden werden: die moderne Welt als Kind der größten demographischen Katastrophe, die die vorindustrielle Welt erlebte. Die Antwort auf die in der Themenstellung enthaltene Frage fällt zwiespältig aus: Die produktivitätswirksame technische Evolution des Mittelalters wurde nicht fortgeführt - also Evolutionsbruch. Doch die Produktinnovationen der Übergangszeit zwischen 1350 und 1500 führten Technologie und Produktionstechniken des handwerklich-gewerblichen Sektors auf das hohe Niveau, das markant erst im Zuge der Industriellen Revolution übertroffen wurde. Die technischen Erfolge auf diesem Weg wurden von der Nachfrage vor allem der reichen Eliten und des Staates honoriert. Den Erfindern und Innovatoren boten sich Anreize und Mittel, um an Verbesserungs- und Folgeinnovationen zu arbeiten. Auf waffentechnischem Gebiet führte diese Entwicklung bereits in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zur militärischen Überlegenheit Europas gegenüber allen anderen Staaten - mit Aus73

"In der Geschichte der Beherrschung von Kraft war die Unruh die erste große Errungenschaft. Zur Zeit ihres Entstehens stellte die mechanische Uhr, die uns heute allen so vertraut ist, einen Uberragenden Triumpf menschlicher Erfindungsgabe dar: sie lieferte das vielleicht größte Werkzeug der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts, sie bildete die Handwerker aus, die für die Apparate moderner experimenteller Technik gebraucht wurden und ermöglichte ein philosophisches Modell für ein Weltbild, das auf der Grundlage der »Analogie des Mechanismus« entstand." Siehe Needham, J., Der Zeitbegriff im Orient, in: derselbe, Wissenschaftlicher Universalismus, 1. c., S. 204. Vgl. auch Zilsel, E., Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft, hrsg. v. W. Krohn, Frankfurt/M 1976.

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nähme des Osmanischen Reichs, das dank Technologie-Imports bereits 1453, beim Fall Konstantinopels, im Besitz der Feuerwaffe war. Der technische Fortschritt des Mittelalters fand in dem vorwiegend naturalwirtschaftlich strukturierten Agrarsektor statt und hierin bestand seine besondere Wohlstandsqualität, nämlich der breiten Bevölkerung zugute gekommen zu sein. Mit der späteren Dominanz der Städte bei der Technikentwicklung wurde diese in ein marktwirtschaftliches Umfeld integriert. Hier galten die Mechanismen des Ware-Geld-Systems, so daß in der weiteren Technikentwicklung der Tauschwert gegenüber dem Gebrauchswert zum entscheidenden Selektionskriterium wurde. Die mittelalterliche Entwicklung der landwirtschaftlichen "Technik des Volkes" brach ab, und von der frühen Neuzeit an dominierte eine "Technologie der Eliten" den Innovationsprozeß. Die landwirtschaftliche Technik wurde nicht nur von den breiten bäuerlichen Schichten beherrscht und angewandt, sondern kam ihnen in erheblichem Maße auch zugute, wie sich am mittelalterlichen Bevölkerungswachstums zeigte. Die städtische Produktion lag hingegen vorwiegend in Händen handwerklich-gewerblicher Experten, die technische Spitzenerzeugnisse für die ökonomischen und politischen Oberschichten herstellte. Der von der demographischen Katastrophe erzwungene Ortswechsel des technischen Fortschritts vom Acker in die Werkstatt stellte ihn auch in ein anderes soziales und kulturelles Umfeld. Selbst in den ästhetischen Feinheiten der technischen Artefakte spiegelte sich dieser Milieuwechsel wider: Pflugscharen wurde bis heute kein Zierat zugebilligt; doch Waffen mit Schrift und Bild wie Liebesobjekte zu schmücken, hatte schon immer Tradition, und auch Kanonen und Gewehre der frühen und späten Neuzeit zeugen davon.

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7. ANHANG: TECHNIK IN EUROPA WÄHREND DES MITTELALTERS UND IM 14./15. JAHRHUNDERT74 a) Mittelalter (700

-1350)

700 - 900 Dreifelderwirtschaft (um 750; erwähnt 763 St. Gallen); erhöht die nutzbare Anbaufläche gegenüber der Zweifelderwirtschaft um ein Drittel Wassermühle (Böhmen 718) Sense im Karolingerreich (um 800) Baumwolle in Sizilien bekannt (um 800) unterschlächtige Wasserräder (um 800) Ziegelstreichen mittels Holzform (beschrieben von Rhabanus Maurus, 830) Kurbel mit Pleuel (850) Verbreitung des Steigbügels (850) Takelage für Segeln gegen den Wind (um 850); verbreitete Nutzung erst mit der Kogge(1206) Kummet löst das Jochgeschirr ab (um 900) Verbreitung gegärbten Klingenstahls (um 900)

900-1000 Hufeisen (900) Ausbreitung der Armbrust (950) Abakus von Gebbert von Aurillac (940 - 1003) eingeführt Wohnburgen des Adels (um 1000) Bau von Galeeren (Italien um 1000) Daumenwelle für Hin- und Herbewegung (um 1000) 74

Alle Basisinnovationen des Mittelalters sowie auch etliche der beginnenden Neuzeit waren keine europäischen Erstinnovationen, sondern wurden in den meisten Fällen schon sehr viel früher in China realisiert. In der Tabelle werden hierzu jedoch keine Hinweise gegeben. Detaillierte Informationen finden sich am vollständigsten in den Arbeiten von Joseph Needham.

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1000-1100 Hammerwerke zur Erzzerkleinerung, Eisenhämmer (um 1010) Heckruder an Segelschiffen (1050) Alkoholdestillation aus Wein (um 1050) Domesday-Book verzeichnet 5624 Wassermühlen in England (1086) vierrädriger schwerer Pflug mit Radvorgestell, Messer, Schar und Streichbrett (um 1050) zweigliedriger Dreschflegel (um 1050) Egge (1077/83) Bogensichel mit glatter Schneide (um 1100) Beschreibung der Kunsthandwerke (u.a. Glasmalerei, Glockenguß, Metallbearbeitung, Orgelbau) von Theophilus Presbyter, Schedula diversarum artium (um 1100)

1100-1200 Windmühle erwähnt (1105 in Frankreich; 1143 in England) Verbesserung der Brückenmühle (12. Jh.) und der Gezeitenmühle (1120/25) Papierverwendung im Kloster Cluny (1120) Systematik der Mechanik durch Hugo von Sankt Viktor; artes mecanicae: Schmieden, Weben, Schiffahrt, Ackerbau, Jagd, Heilkunst, Schauspielkunst, (1130) Gerbmühle (1138) Papiermühle bei Valencia (?) (1144) nasse Alkoholdestillation (1150) Zuckerrohranbau auf Sizilien (um 1150) Züchtung schwerer Landpferde (um 1150) Steinschleudermaschinen statt antiker Torsionsgeschütze (um 1150) Zuckerrohrmühle (1160) Hortus Deliciarum der Herrad von Landsperg (= Herrad von Hohenburg) (um 1160) Zuckermühle (1176)

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Alaunwerke in Volterra (1192) Schleifinühle (1195)

1200-1300 Schubkarre (13. Jh.) Stücköfen mit wassergetriebenem Gebläse (um 1200) Trittwebstuhl (um 1200) Ausbreitung der Bockwindmühle (Zisterzienser um 1200) Verbreitung der arabischen Ziffern (seit 1200) Magnetnadelgebrauch, Kompaß (um 1200) Erwähnung der Kogge (1206) Bauhüttenbuch des Villard de Honnecourt (1235); wasserbetriebene Säge mit automatischem Vorschub von V. de Honnecourt beschrieben (um 1240) Roger Bacon beschreibt Schießpulverherstellung (1242) Steinkohlenverwendung in England belegt (1245) Äquatorium (Gerät zur Darstellung der Epizyklen) von Companus von Novara beschrieben (um 1250) Segelschiffe ohne zusätzliche Ruder (1250) Handspinnrad (um 1250) Einsatz von Kanonen durch die Mauren (?) (Sevilla 1247) Beschreibung der Schwefel- und Salpetersäureherstellung (um 1250) Verbreitung des seit der karolingischen Zeit bekannten Kachelofens (1250) Steinschleudern mit Gegengewichten (um 1250) Seidenzwirnmaschine (Italien 1272) Erfindung konvexer Brillengläser (R. Bacon 1286) Schlaguhr auf der Westminsterhall (noch ohne Zifferblatt?) (1288) Verbreitung von Gewichtsräderuhren (um 1290)

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1300- 1350 industrielle Brillenfertigung (Vendig um 1300) Kommerzieller Fischfang der Hanse in der Ostsee (1300) Hochofen im Siegerland (1311) Eisgenguß (1311) Kettenanscheren in der Weberei (1320) erste Abbildung einer Feuerwaffe (Walter von Milimete, Oxford, 1326) erste astronomische Uhr (Richard von Walluigford 1327-1330) Gewehrlauf mit Handlunte (1330) Radunruhe (1330) Einsatz von Geschützen (Crözy 1346) erste große Turmuhr mit Spindelhemmung und Waagbalken (Ganggenauigkeit ca. 1 %) von Jacopo De Dondi (um 1344) Holzdrehbank (1347) "Buch der Natur" des Konrad von Megenberg (1349/50) Seigerhütten (Silbergewinnung in Deutschland, 1350) oberschlächtiges Wasserrad (1350) Bau von Schleusen und Kanälen für die Flußschiffahrt (um 1350) Ausbreitung aufwendiger Turmuhren (ab 1350) Türmeruhren ( = kleinere Wanduhren mit Weckvorrichtung) (Mitte 14. Jh.)

b) Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit /1350 - 1500 1350-1400 Ziehen von Stahldraht mit Wasserkraft belegt (1351) astronomische Monumentaluhr des Straßburger Münsters (1352) Astrarium (astronomische Uhr) von Giovanni De Dondi in Padua (13481364) Hand- und Faustrohre (= schloßlose Donnerbüchsen) (1364) Einsatz von Kanonen bei der Belagerung von Einbeck (1365) Verbreitung der Barchentweberei in Schwaben (1368) 102

Aussaat von Nadelbäumen (Nürnberg, 1368) Stabringgeschütz = Vorderladerkanone aus zusammengeschweißten Eisendauben mit Stabilisierung durch Eisenringe (1370) Hohlgußkanonen (Breslau 1372) doppeltorige Kammerschleuse (Vreeswijk bei Utrecht 1373) Lafette bekannt (um 1380) Schießgewehrherstellung (Augsburg 1381) "Dulle Griet" von Gent = schmiedeeisernes Geschütz von 26 t und 4,68 m Länge (1382) in der Schlacht von Beverhoudsveld bei Gent 1383 siegt das zahlenmäßig stark unterlegene Heer des Genter Volksführers, Phillip van Artefelde (1340— 1382) dank der Ribeaudequins (= Orgelgeschütze mit mehreren gebündelten Läufen) gegen Louis de Mael, Graf von Flandern schriftliche Urkunde über Gußeisen (Frankfurt 1390) deutsche Papiermühle (?) (Nürnberg 1390)

1400-1500 Verbreitung des Holzschnitts (um 1400) Majolika = zinnglasierte Töpferware (Italien um 1400) Bellifortis von Konrad Kyeser = Darstellung u.a. von Feuerwaffen, Handgranate, Belagerungsmaschinen, Pumpen, Wasserleitungen, Raketen, Warmlufballon (1405) Erwähnung eines Ziegeldachs (Nürnberg 1407) Papier- und Baumwollindustrie in Ungarn (1411) Wasserwerke (Augsburg 1412) Seidenzwirnmühle in Köln (1412) "Faule Grete" = Geschütz mit 24pfÜndigen Geschossen (Brandenburg 1414) Deutsches Feuerwerksbuch = Informationsschrift für Büchsenmacher (1420 oder schon 1380) hussitischer Kampfwagen (1422) von Jan Zizka initiiert Brandrakete (M. Miethen, 1427) gekörntes Schießpulver (1429) Windbüchse (Nürnberg 1430) wassergetriebene Bohrmaschinen für die Röhrenherstellung (1430) Edelsteinschleifmaschinen (1430) 103

Kurbel und Kurbelstange (1430) älteste erhaltene Uhr mit Spiralfederantrieb (1430) maschinentechnische Handschriften von Mariano Taccola: De ingeneis (um 1432); De rebus militaribus (1449) gußeiserne Kanonen im Lehmguß (Siegerland 1445) ältester datierbarer Kupferstich (1446) bewegliche Letter für den Buchdruck (Gutenberg 1448) Karavelle = hochseegängiges Segelschiff mit geringem Tiefgang (1450) Ausbreitung der gegossenen Kanonenkugeln (statt geschmiedeter) (1450) Luntenschloß für die Zündung des Gewehrs (um 1450) Produktion von Federzuguhren (1450) Kehrrad = Fördermaschine im Bergbau (1450/1500 vermutlich zuerst in Kremnica/Slowakei) 42zeilige Gutenberg-Bibel (1455) Gewehrkolben (1470) De re militari von Roberto Valturio = Beschreibung antiken und neueren Kriegsgeräts (1472) Mittelalterliches Hausbuch beschreibt u.a. verschiedene Militärtechniken und waffentechnische Produktionsverfahren (1475-1485) Leonardo da Vinci legt Ludovico Sforza ein Bewerbungsschreiben vor, in dem er militärische Techniken beschreibt (1480); technische Skizzenbücher da Vincis (bis 1500) = Codices Madrid (1965 wiedergefunden) Ausbreitung des Flügelspinnrads, das das Garn beim Spinnen aufwickelt (um 1480) gezogener Gewehrlauf (C. Zoller in Wien 1480) Mathias Roriczer, Von der Fialen Gerechtigkeit (1486) (= Abhandlung zur Architektur der Kathedralen) erster Hochofen in England (1490) gußeiserne Öfen (Elsaß 1490) Erste Entdeckungsreise Kolumbus (1492); Mais mit nach Europa gebracht (1493) erstes Trockendock (England 1495) Entdeckung des Seeweges nach Ostindien (1498) "Bergbüchlein" von Ulrich Rülein von Calw = erste gedruckte Darstellung der Bergbautechnik (1500)

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Technischer Fortschritt und Innovatoren im deutschen Bergbau vor der Industrialisierung VON WERNER KROKER

DIE AUSGANGSLAGE Jeglicher Versuch, den technischen Fortschritt im Bergbau seit dem Beginn der Neuzeit nachzuvollziehen, muß mit Georgius Agricola, dem "sächsischen Humanisten und Forscher von europäischer Bedeutung" (Hans Prescher) einsetzen, mit seinen "Zwölf Büchern vom Berg- und Hüttenwesen", die zunächst in lateinischer Sprache im Jahre 1556 unter dem Titel "De re metallica libri XII" in Basel gedruckt erschienen sind. In den Büchern V und VI, bei denen es sich zutreffender um Kapitel handelt, hat er darin eine Bestandsaufnahme zur Situation der Bergbautechnik im Sächsischen und Böhmischen Erzgebirge, mithin in zwei der wichtigsten deutschsprachigen Bergbaurevieren, geliefert. Das Werk dient als singulare wie fundamentale historische Quelle, zumal sein ausführlicher beschreibender Text anhand von insgesamt 292 Holzschnitten erläutert worden ist. Dennoch bewegt sich sein Informationsgehalt zu einem wesentlichen Teil nur im Theoretischen. Nicht alle der darin enthaltenen Informationen lassen sich uneingeschränkt mit der seinerzeitigen bergbaulichen Praxis gleichsetzen, was mitunter von Historikern übersehen worden ist1. Darüber hinaus sei angemerkt, daß die aufwendige Anfertigung der Kupfer das Erscheinen des Buches bis ein Jahr nach dem Tod seines Verfassers verzögerte und daß sie zudem nicht sämtlich derart korrekt gehalten sind, um eventuell

Dazu vgl. Suhling, Lothar, Bergbau und Hüttenwesen in Mitteleuropa zur Agricola-Zeit, in: Georg Agricola: Vom Berg- und Hüttenwesen, München 1994 (= dtvreprint), S. 570-584, hier S. 579.

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als Konstruktionszeichnung dienen zu können, weil sie teilweise vom Kupferstecher falsch verstanden wurden2. Der unmittelbaren Umsetzung in die Praxis widersprach zudem, daß in dem Werk mit seiner streng lehrbuchartig-systematischen Gliederung nicht selten die "Gesamtbeschreibung eines realen komplexen Produktionsablaufs" eine sekundäre Bedeutung hatte3. Das Werk war "eher ein gelehrtes Buch über das Montanwesen, dazu bestimmt, der wissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit des Renaissancezeitalters Einblick in dieses wenig bekannte Gebiet zu geben, als ein technisches Handbuch für die montanistische Betriebspraxis"4. Außerdem sollte generell seine Breitenwirkung nicht zu hoch angesetzt werden, weil sich weder die lateinische Erstausgabe, noch die ein Jahr später erschienene erste deutsche Ausgabe als verlegerischer Erfolg erwiesen hatte5. Sowohl Autor als auch Verleger hatten offensichtlich vielmehr die gelehrte Fachwelt und die fürstlichen Bibliotheken als Käufer ins Auge gefaßt, auch wenn Philipp Bech im Vorwort zur ersten deutschen Ausgabe von 1557 meinte: "Es können dann alle Leser und besonders die, welche im Bergund Hüttenwesen beschäftigt sind, wie Bergmeister, Bergrichter, Einfahrer, Schachter, Scheider, Schmelzer, Silberbrenner, Probierer, Berggeschworene und andere, daraus entnehmen, welchen Nutzen sie davon haben, wenn sie diese herrlichen und trefflichen Bücher ... mit Fleiß und Ernst lesen werden."6 Aber trotz der tatsächlichen Einschränkungen kann Agrícolas Hauptwerk mit Fug und Recht als "das umfassendste und von seiner Syste-

Zu den fehlerhaften zeichnerischen Darstellungen vgl. neuerdings Kessler-Slotta, Elisabeth, Die Illustrationen in Agrícolas "De re metallica". Eine Wertung aus kunsthistorischer Sicht, in: Der Anschnitt 46,1994, S. 55-65. Suhling, Lothar, Bergbau und Hüttenwesen in Mitteleuropa zur Agricola-Zeit, 1994, S. 582. Bartels, Christoph, Vom frühneuzeitlichen Montangewerbe zur Bergbauindustrie. Erzbergbau im Oberharz 1635-1866, Bochum 1992 (= Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum. 54), S. 280. Dazu und ausführlich zu den verschiedenen Ausgaben vgl. Prescher, Hans, Georgius Agrícola und sein Hauptwerk "De re metallica", in: Der Anschnitt 46, 1994, S. 43-54; vgl. ferner die eher provokanten Anmerkungen bei Bodenheimer, Werner, Der Primat des Deutschen. Studien zu Agrícolas 'De re metallica' und 'Vom Bergwerck', in: Börsenblatt des deutschen Buchhandels 160, 1993, S. A 193-A 213, bes. S. 198-201. Zitiert nach Georg Agrícola: Vom Berg- und Hüttenwesen, München 1994 (= dtv-reprint), S. 562.

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matik her vorbildlichste Werk der bergbau- und hüttenkundlichen Literatur der frühen Neuzeit" bezeichnet werden7.

INNOVATIVE LEISTUNGEN TROTZ GENERELLER STAGNATION Obwohl sich bei einem Überblick über die Entwicklung seit "dem" Agricola bis in das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts "das Bild einer weitgehenden Stagnation auf technischem Gebiet, vor allem im Maschinenbau", abzeichnet8, läßt sich - nicht nur in Deutschland - am Beginn des 19. Jahrhunderts generell eine beachtliche bergbauliche Produktionssteigerung erkennen, die jedoch nicht durch den Einsatz neuer maschineller Arbeitsmethoden erzielt wurde. Ihre Ursachen lagen - besonders im Hinblick auf die Daten aus dem relativ jungen Steinkohlenbergbau - "vor allem bei der Neueinstellung von Arbeitskräften und der Verlängerung der Arbeitszeit"9. Dennoch hat das Wirken einzelner Personen auch im Zeitraum zwischen Renaissance und beginnendem Industriezeitalter wiederholt technische Innovationen zur Folge gehabt. Auch wenn sie, verglichen mit der späteren Entwicklung, als eher punktuell zu bezeichnen sind, haben sie auf die Produktivität steigernd gewirkt. Zur Charakterisierung und als Beleg für diese Feststellung sei im folgenden eine Reihe von Beispielen genannt, mit denen im wesentlichen zugleich die Kernbereiche bergbaulicher Technik umrissen werden können. Von grundlegender Bedeutung für das Vermessungswesen schlechthin, das nicht nur den Betrieb eines Bergwerks, sondern schon seine Planung betraf, war etwa die Erfindung des kardanisch aufgehängten Kompasses durch den Altenberger Markscheider Balthasar Rößler (1605-1673) im Jahre 1633. Zusammen mit dem dazu erforderlichen Hängezeug blieb dieser Kompaß bis zur Einführung des Theodoliten im 19. Jahrhundert das wichtigste Suhling, Lothar, Bergbau und Hüttenwesen in Mitteleuropa zur Agricola-Zeit, 1994, S. 582. Baumgärtel, Hans, Die Technik im Bergbau, in: Bergakademie Freiberg. Festschrift zu ihrer Zweihundertjahrfeier am 13. November 1965, Leipzig 1965, S. 38-42, hier S. 38. Wächtler, Eberhard, Die Grundzüge des technischen Fortschritts im Bergbau und Hüttenwesen zwischen 1766 und 1871, in: Bergakademie Freiberg. Festschrift zu ihrer Zweihundertjahrfeier am 13. November 1965, Leipzig 1965, S. 96-101, hier S. 97.

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Arbeitsgerät bei der Grubenvermessung 10 . Das Aufsuchen von Lagerstätten wurde ein knappes Jahrhundert später durch neue Bohrverfahren erleichtert, insbesondere durch das "stoßende Bohren" von Johann Christian Lehmann (1675-1739). Es setzte sich in vielen Revieren durch und kehrte dann im 19. Jahrhundert als "englisches Bohrverfahren" mit steifem Eisengestänge nach Deutschland zurück 11 und liefert somit einen der vielen konkreten Hinweise auf den intensiven, länderübergreifenden Technologietransfer, wie er für die Entwicklung der Montantechnik schon seit der frühen Neuzeit charakteristisch ist. Für die Gewinnung der Erze war die Einführung des Firstenbaus als langfrontartigem Abbauverfahren von Bedeutung, was im Oberharz schon im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts praktiziert wurde und damit offensichtlich eher als im sächsischen Metallerzbergbau 12 . Als Schlüsselinnovation, wohl die einzige nicht nur im deutschen Bergbau in dieser Epoche, kann die Einführung der Schießarbeit, das Sprengen mit Hilfe von Schwarzpulver, bezeichnet werden 13 . Ausgehend von Italien und vermittelt über einen breit gefächerten Personenkreis, gelangte die Erfindung in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts über die Slowakei und Böhmen in den Harz und setzte sich von dort aus in andere Länder durch. Sie bedeutete "einen wesentlichen Schritt zur Mechanisierung der Gewinnung", indem sie im Oberharz noch im 17. Jahrhundert die herkömmliche Arbeit mit Schlägel und Eisen abzulösen begann 14 , was generell allerdings erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts der Fall war, als Dampf, Elektrizität und Druckluft die entscheidenden Energieträger wurden. 10

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Vgl. z. B. Troitzsch, Ulrich, Technischer Wandel in Staat und Gesellschaft zwischen 1600 und 1750, in: Akos Paulinyi/Ulrich Troitzsch (Hrsg.): Mechanisierung und Maschinisierung 1600 bis 1840, Berlin 1991 (= Propyläen-Technikgeschichte), S. 11-267, hier S. 65. Conrad, Hans Günter, Einflüsse des niederungarischen Bergbaus im 18. und 19. Jahrhundert auf den deutschen Bergbau, in: Technikgeschichte 37, 1970, S. 310322, hierS. 301-306. Vgl. Bartels, Christoph, Vom frühneuzeitlichen Montangewerbe zur Bergbauindustrie. Erzbergbau im Oberharz 1635-1866, 1992, S. 309 und Baumgärtel, Hans, Die Technik im Bergbau, 1965, S. 39. Ludwig, Karl-Heinz, Die Innovation des bergmännischen Pulversprengens. Schio 1574, Schemnitz 1627 und die historische Forschung, in: Der Anschnitt 38, 1986, S. 117-122; Suhling, Lothar, Aufschließen, Gewinnen und Fördern. Geschichte des Bergbaus, Reinbek 1983, S. 178 ff.; sehr ausführlich neuerdings bei Bartels, Christoph, Vom frühneuzeitlichen Montangewerbe zur Bergbauindustrie, 1992, S. 170-186. Ebd., S. 280.

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Innovationen solcher Art brachten wesentliche Fortschritte für das Aufsuchen der Lagerstätten, die Vermessung der Grubenfelder wie der Grubenbaue, für den Abbau bzw. die Gewinnung der Erze und den Streckenvortrieb ebenso wie für die Förderung, die Wasserhaltung und die Bewetterung als den wichtigsten Produktionsbereichen im Bergbau. Im Zuge dieser Entwicklung erwies es sich als dringend, die einschlägigen, in Agrícolas Kompendium vorgestellten Maschinen, die sich im praktischen Betrieb prinzipiell bewähren konnten, konstruktiv zu verbessern. Im Mittelpunkt stand das Ziel, die technischen Anlagen mit größeren Kapazitäten 15 auszustatten, d.h. ihren Wirkungsgrad zu erhöhen. Das galt beispielsweise auch für die Kehrräder, die mit Hilfe des Wassers zur Förderung der Erze aus den Schächten zum Einsatz gelangten. Allerdings handelte es sich dabei im allgemeinen lediglich um graduelle quantitative Verbesserungen, die zwar zu einer Produktivitätssteigerung führten, denen aber entsprechend der historiographischen Begriffsdiskussion ein unmittelbarer qualitativer Innovationscharakter abgesprochen werden muß. Es handelte sich nicht um Prozesse, die "neue Elemente oder Verfahren in ein wirtschaftliches System" einbrachten 16 . In diesem Zusammenhang darf der ökonomische Hintergrund der bergbaulichen Tätigkeiten, auf dem solche innovativen Bestrebungen Fuß faßten, nicht unerwähnt bleiben. Sie vollzogen sich in einer Epoche, deren Beginn von einem wirtschaftlichen Niedergang geprägt war, nicht zuletzt als Ergebnis der aus den Kolonien in der Neuen Welt nach Europa herangeführten Mengen an Edelmetallen. Diese bislang ungewohnte Konkurrenzsituation zwang zum Aufsuchen neuer Lagerstätten, zum Erschließen nicht mehr nur relativ oberflächennaher Minerale und zu einer betrieblichen Produktivitätssteigerung insgesamt. Dadurch, daß sich als Folge die Gruben auch in Horizonte unterhalb der Talsohle erstreckten, vergrößerten sich die Probleme mit der Ableitung des Grundwassers, die nicht mehr ausschließlich mit Handarbeit bewältigt werden konnten. "Der Zwang zur Maschinisierung machte ... Kapitalinvestitionen in einer Größenordnung notwendig, die in ihrer Konsequenz einen Wandel in den Produktionsverhältnissen mit weitreichenden sozialen und ökonomischen 15

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Baumgärtel, Hans, Vom Bergbüchlein zur Bergakademie. Zur Entstehung der Bergbauwissenschaften zwischen 1500 und 1765/1770, Leipzig 1965, S. 9. Weber, Wolfhard, Innovationen im frühindustriellen deutschen Bergbau und Hüttenwesen. Friedrich Anton von Heynitz, Göttingen 1976 (= Studien zu Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft im Neunzehnten Jahrhundert. 6), S. 1923, bes. S. 21.

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Folgen erzwangen", hat Lothar Suhling zu dieser Entwicklung festgestellt17. Die ökonomischen Sachzwänge beeinflußten auch die Unternehmensstrukturen, die wiederum das notwendige innovative Klima bestimmten. Die nunmehr benötigten Kapitalmengen führten zu einer weitgehenden Abtrennung von Einzelpersonen, die bislang ein Bergwerk im Rahmen eines grundherrliches Lehens eigenständig betrieben hatten. Während etwa im wenig innovativen Eisenerzbergbau der Oberpfalz genossenschaftliche Zusammenschlüsse die Folge waren, wurde im Edelmetallbergbau "der Zusammenhang zwischen Produktivitätssteigerung und betrieblicher Organisation bzw. Konzentration noch deutlicher"18. Für die Organisationsstruktur dieser ökonomisch weitaus bedeutenderen Bergbausparte war ausschlaggebend, daß die Gewinnung und Nutzung der Minerale grundsätzlich als landesherrliches Regal galten. Auf dieser Basis entwickelte sich schon seit dem 14./15. Jahrhundert das Prinzip der staatlichen Direktion heraus: Der Landesherr als Grundherr trat gewissermaßen als Generalunternehmer auf, der Konzessionen zur Gewinnung der Bodenschätze erteilte. In den Händen seiner streng hierarchisch gegliederten Beamtenschaft lag die Leitung der Grubenbetriebe sowohl in wirtschaftlicher als auch technischer Hinsicht. Die Gewerken als Eigentümer der Bergwerksanteile besaßen dagegen nur das Recht, Ausbeute aus eventuell anfallenden Gewinnen zu ziehen, und sie waren - was ebenso häufig vorkam - bei Verlusten verpflichtet, ihren Anteilen gemäß Zubuße zu leisten19. Die profitorientierten, strategischen Entscheidungen wurden von den Staatsbeamten getroffen, und entsprechend fielen auch Maßnahmen, die einen technischen Fortschritt bewirken konnten, in deren Kompetenzbereich. Demzufolge traten die Bergwerksbesitzer nur sehr bedingt, eher in Ausnahmefällen als Innovatoren auf. Sie als die "Manager" der Gruben zu bezeichnen 20 , läßt sich zumindest mit heutigen Vorstellungen und nach Jürgen 17 18

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Suhling, Lothar, Bergbau und Hüttenwesen in Mitteleuropa zur Agricola-Zeit, 1994, S. 575. Kellenbenz, Hermann, Technik und Wirtschaft im Zeitalter der Wissenschaftlichen Revolution, in: Sechzehntes und siebzehntes Jahrhundert, hrsg. v. C. M. Cipolla/K. Borchardt, Stuttgart/New York 1978 (= Europäische Wirtschaftsgeschichte. 5), S. 113-169, hier S. 158 f., dort auch beeindruckende Zahlen über die explosionsartige Kostensteigerung bei der maschinellen Ausstattung. Kroker, Evelyn, Bergverwaltung, in: Kurt G.A. Gesenich u.a. (Hrsg.): Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 3: Das Deutsche Reich bis zum Ende der Monarchie, Stuttgart 1984, S. 514-526, hier S. 516-519. Redlich, Fritz, Europäische Aristokratie und wirtschaftliche Entwicklung, in: ders: Der Unternehmer, Göttingen 1964, S. 280-298, hier S. 292.

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Kockas Ausführungen über die angestellten leitenden Mitarbeiter eines Unternehmens 21 nicht in Einklang bringen, und sie hatten auch keinesfalls "genausoviel" zu sagen wie die Bergbeamten, wie Fritz Redlich meinte 22 . Dagegen ist dem Nestor der historischen Unternehmerforschung darin zuzustimmen, daß sich die Beamtenschaft in dieser ersten, bis etwa 1800 währenden Periode, der "Zeit des Merkantilismus oder langsamen Wachstums", überwiegend aus der Aristokratie rekrutierte 23 .

TECHNISCHE FORTSCHRITTE IM 18. JAHRHUNDERT Innovationsorganisation durch F. A. v. Heynitz Versteht man unter einer Innovation "an idea, practise, or object perceived as new by an individual or other unit of adoption" 24 , und wendet man diese Definition auf den technischen Fortschritt im deutschen Bergwesen an, dann ist an allererster Stelle Friedrich Anton v. Heynitz (1725-1802) zu nennen. Nach naturwissenschaftlichen und kameralistischen Studien sowie einer Ausbildung beim Berg- und HUttenamt in Blankenburg (Harz) war er im Laufe seines langen Wirkens in der Bergverwaltung der wichtigsten deutschen Staaten in leitender Position tätig. Heynitz' überaus engagiertes und erfolgreiches Wirken berechtigt ohne weiteres dazu, das Thema "Innovationen im frühindustriellen Bergbau und Hüttenwesen" anhand seiner Person exemplarisch zu untersuchen 25 . Er bietet sowohl die günstige Gelegenheit, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts insgesamt nur erst vereinzelt auftretenden Innovationen im Sinne Otto Hintzes zu personalisieren 26 , ebenso entspricht solch ein Vorgehen auch dem neueren Forschungsansatz der Technikgeschichtsschreibung im "Mutterland

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Kocka, Jürgen, Unternehmer in der deutschen Industrialisierung, Göttingen 1975, S. 14. Redlich, Fritz, Das Unternehmertum in den Anfangsstadien der Industrialisierung, in: ders., Der Unternehmer, S. 299-349, hier S. 316. Ebd., S. 314. Rogers, Everett M., Diffusion of Innovations, 3.Aufl., New York/London 1983, S. 35. Vgl. Weber, Wolfhard, Innovationen im frühindustriellen deutschen Bergbau und Hüttenwesen, 1976, als Bochumer Habilitationsschrift. Ebd., S. 35.

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der Industrialisierung". Gerade weil die umfangreichen Abhandlungen über die "großen britischen" Ingenieure am Ende des letzten Jahrhunderts - ebenso wie übrigens später auch in Deutschland - durchaus auch aus chauvinistischen Motiven heraus verfaßt wurden, hat Angus R. Buchanan jüngst die Forderung erhoben: "Through the assimilation of biographical scholarship about inventors and engineers, the history of technology thus acquires a human dimension which is lacking if it concentrates too narrowly on the making and doing of things." 27 Solche Überlegungen treffen sich darüber hinaus mit dem von Frank R. Pfetsch herausgearbeiteten Schema der Grundfragen im Innovationsprozeß 28 : Wer innovierte für wen, was, wie und wozu? Friedrich Anton v. Heynitz trat zunächst 1747 als Bergassessor in braunschweigische Dienste, zwei Jahre später wurde er Bergrat. In dieser ersten Epoche seines Wirkens konnte er im Harz einen nachhaltigen Einfluß auf die erfolgreiche Durchsetzung der Wassersäulenmaschine als einer wichtigen Innovation ausüben: In ihrem Wirkungsprinzip ähneln sie den Dampfmaschinen, wobei allerdings nicht Dampf, sondern der auf einen beweglichen Kolben wirkende Wasserdruck in kinetische Energie umgewandelt wird. Da mit solchen Maschinen Wasser mit Hilfe von Wasser gepumpt werden konnte, waren sie für die Wasserhaltung nicht nur der Oberharzer Gruben wichtig, und entsprechend wurden in verschiedenen Ländern verstärkte Anstrengungen unternommen. In Schweden war es Christopher Polhem (1661-1751), der zunächst mit seiner auf dem Prinzip komprimierter Luft arbeitenden Siphonmaschine experimentierte, und im seinerzeitigen niederungarischen, d.h. slowakischen, Schemnitz war es vor allem Joseph Karl Hell (geb. 1713). Im Oberharz gelang es dem Wolfenbütteler Artilleriefähnrich Georg Winterschmidt (1722-1779), das Steuerungsproblem zu lösen, so daß zwischen 1748 und 1763 insgesamt 16 Maschinen seiner Konstruktion gebaut und - entgegen der bisherigen Forschungsauffassung durchaus erfolgreich eingesetzt werden konnten 29 . Heynitz verstand sich bei dieser Entwicklung als der Mentor der Innovation. Nicht nur, daß er Winterschmidt entsprechend förderte, sondern er fungierte zugleich als eine der zentralen Mittelspersonen im gesamten Kom27

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Verf. dankt R. A. Buchanan, Bath, für die Überlassung seines Vortragsmanuskriptes "Theoretical Aspects of Engineering Biography" für die ICOTHEC-Tagung in Zaragossa 1993. Pfetsch, Frank R., Innovation im 15./16. und im 19. Jahrhundert als technikgeschichtliches Problem, in: Technikgeschichte 45,1978, S. 115-128, hier S. 119. Vgl. auch die neueren Forschungsergebnisse bei Bartels, Christoph, 1992, S. 360369.

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munikationsprozeß sowohl in Richtung Schemnitz, wohin er 1749 und 1751 selbst gereist war, als auch in Richtung Schweden, wo er schon 1747 Polhem aufgesucht hatte. Bereits in dieser frühen Zeit zeigten sich sein starkes Interesse an maschinentechnischen Fragen und seine Bereitschaft, damit verbundene Probleme im Rahmen von Informations- und Kontaktreisen zu lösen zu versuchen 30 . Heynitz war es auch, der sich sogar um das Marketing für diese Innovation bemühte, als sein Amtsnachfolger nach England reiste, nachdem die Winterschmidtschen Wassersäulenmaschinen erfolgreich arbeiteten 31 .

Fortschritte im bayerischen Salinenwesen Nach den erfolgreichen Problemlösungen im Oberharz wurden beispielsweise u.a. in Sachsen erhebliche Anstrengen zur Weiterentwicklung der Wassersäulenmaschinen unternommen 32 , und entscheidende Verbesserungen gelangen Georg Friedrich Reichenbach (1771-1826) in Bayern. Sie bezogen sich auf technische Fortschritte in einer Bergbausparte und in einem Wirtschaftsraum, die beide - vielleicht nicht zuletzt wegen der innovativen Wirksamkeit Heynitz' für die übrigen deutschen Regionen - in der wirtschafitsund technikgeschichtlichen Historiographie eher ausgespart bleiben 33 . Dies erscheint als um so unverständlicher, als die wirtschaftliche Bedeutung der Salzproduktion für das Kurfürstentum Bayern unbestritten ist 34 . 1771 im badischen Durlach geboren, erlangte Reichenbach einen internationalen Ruf durch Präzisionsinstrumente, die er in seinem Münchener

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Generell vgl. Kroker, Werner, Wege zur Verbreitung technologischer Kenntnisse zwischen England und Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Berlin 1971 (= Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte. 19), S. 128 ff. Weber, Wolfhard, Innovationen im frühindustriellen deutschen Bergbau und Hüttenwesen, 1976, S. 103. Arnold, Gerhard, Bilder aus der Geschichte der Kraftmaschinen, München/Berlin 1968, S. 56. Eine Ausnahme bildet nach wie vor Schremmer, Eckart, Technischer Fortschritt an der Schwelle zur Industrialisierung. Ein innovativer Durchbruch mit Verfahrenstechnologie bei den alpenländischen Salinen, München 1980. Wie stark das sächsische und das preußische Bergwesen mit der Edelmetall- oder als jüngerer Sparte dann der Steinkohlengewinnung dominieren, zeigt schon Serlo 1937, in dem man vergeblich nach dem Namen Reichenbachs sucht. Das kleine, durchaus nützliche Nachschlagewerk ist nicht nur in Berlin verlegt worden, sondern sein Verfasser war Oberbergamtsdirektor in Bonn. Vgl. Serlo, Walter, Männer des Bergbaus, Berlin 1937.

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Institut verfertigte, während er gleichzeitig als Bergbeamter im bayerischen Staatsdienst stand 35 . 1807 erhielt er den Auftrag, den weiteren Ausbau der Saline Reichenhall zu betreiben. Insbesondere ging es um die Errichtung einer neuen Leitung für den Transport der flüssigen Salzsole zur Versiedung in Traunstein; anschließend galt es, zusätzlich eine ganz neue Leitung nach Berchtesgaden anzulegen. Da teilweise sehr schwierige Gebirgsverhältnisse zu überwinden waren, um österreichisches Territorium zu umgehen, und nur Wasser als ausreichende Energiequelle zur Verfügung stand, entschied er sich für Wassersäulenmaschinen, mit deren Hilfe die Sole in mehreren Pumpstationen gehoben werden sollte. Noch im selben Jahr reiste er nach Schemnitz, um die dort in Betrieb befindliche Hellsehe Maschine zu studieren, die ihm aber nur als Anregimg für weitere eigene Entwicklungen diente. Er konzentrierte sich vielmehr auf die Winterschmidtsche Maschine, die er so abwandelte, daß sie nur noch aus einem, allerdings doppelt wirkenden Zylinder bestand. Damit vollendete er das System, indem er eine Art Hochdruckdampfmaschine schuf, bei der jeder Hub als Arbeitshub genutzt werden konnte. Bei der "großen Riesenwasserleitung", wie er sie selbst bezeichnete 36 , konnten sie das flüssige Salz bis zu mehrere hundert Meter hoch heben. Daß sie durchaus äußerst robust gebaut waren und teilweise mehr als anderthalb Jahrhunderte lang ununterbrochen arbeiteten, sollte nicht unerwähnt bleiben ebenso wie die Tatsache, daß die Reichenbachsche Konstruktionsweise 1824 in den Oberharz zurückkehrte 37 . Reichenbach hatte zwischen 1791 und 1793 mit Hilfe eines bayerischen Stipendiums eine längere Zeit in England verbracht, wo er u.a. bei Boulton & Watt in Soho bei Birmingham mehr oder weniger legal den Bau von Dampfmaschinen erkundete. Als Ingenieur bei mehreren Eisenhütten angestellt, baute er selbständig eine Gebläsemaschine 38 . Als er 1807 die Leitung des bayerischen Salinenwesens erhielt, löste er einen badischen Landsmann ab, der eine ähnliche berufliche Ausbildung erfahren hatte: Johann Sebastian Clais (1742-1809) 39 .

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Vgl. ausführlich noch immer Dyck, Walter, Georg v. Reichenbach, München 1912; Matschoß, Conrad, Große Ingenieure, München/Berlin 1941, S. 121-132. Ebd., S. 129. Bartels, Christoph, Vom frühneuzeitlichen Montangewerbe zur Bergbauindustrie, 1992, S. 431. Matschoß, Conrad, Große Ingenieure, 1941, S. 124. Zur Biographie vgl. neuerdings Gamper-Schlund, Gertraud/Gamper-Schlund, Rudolf, Johann Sebastian Clais (1742-1809). Ein vielseitiger Unternehmer der

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1742 in Hausen geboren, erlernte Clais das Uhrmacherhandwerk, ehe er mit finanzieller Unterstützung durch den Markgrafen von Baden zweimal nach England ging, wo er auch nach Soho reiste, um mit James Watt in Verbindung zu treten, und in Sheffield machte er die Bekanntschaft von Benjamin Huntsman (1704-1776), dem Erfinder des Gußstahls. Nachdem auf der Insel aus dem "wandernden Uhrmacher ... ein versierter Techniker" geworden war 40 , bemühte er sich mit den dort erworbenen Kenntnissen um Verbesserungen u.a. bei verschiedenen Gruben und Eisenwerken im südlichen Baden und in der Schweiz. Seine Erfolge bei der Leitung der Salinen im Waadtland brachten ihm 1782 den Ruf als Salinenoberkommissar von Reichenhall und Traunstein ein. Die dortigen Salzwerke, seit langem eine der wichtigsten Einnahmequellen des Staates, verschlangen mittlerweile Unmengen an immer knapper werdendem Brennmaterial und bedurften dringend der Erneuerung, die Clais in den folgenden zwei Jahrzehnten mit großem technischen Sachverstand bewerkstelligte. Er verstand es sogar, sich zusätzlich unternehmerisch zu betätigen, indem er sich mit beachtlichem geschäftlichen Erfolg auch in den Salzhandel in die Schweiz einschaltete, die wegen der Käseproduktion der wichtigste Abnehmer des bayerischen Salzes war. Er erneuerte die Sudhäuser und die Sudpfannen, er führte zahlreiche andere Verbesserungen ein und organisierte selbst die Salztransporte neu 41 . Alexander v. Humboldt (1769-1859) bezeichnete Clais, der nach seiner bayerischen Zeit auch verschiedene Salinen in Lothringen entscheidend modernisierte, als den Ersten "unter allen theoretischen und praktischen Halurgen" 42 . Realistischer dürfte allerdings die Beurteilung durch Eckart Schremmer sein: "Das Investitionspaket blieb in seinen Einzelheiten durchaus im Rahmen des damals technisch Bekannten. Es wurden keine Experimente gemacht, das technische Risiko blieb insgesamt gering. Nicht die einzelne große Erfindung ... brachte den Durchbruch, sondern die Verfahrenstechnologie, die sich aus dem Zusammenfügen einer Vielzahl von (meist) bereits anderweitig verstreut angewandten kleinen Neuerungen ergab. Sie

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industriellen Frühzeit, Meilen 1990 (= Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik. 52). Ebd., S. 17; vgl. auch Braun, Hans-Joachim, Technologische Beziehungen zwischen Deutschland und England von der Mitte des 17. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Düsseldorf 1974, S. 21 und 138. Gamper-Schlund, Gertraud/Gamper-Schlund, Rudolf, Johann Sebastian Clais (1742-1809), 1990, S. 52 ff. Zit. nach ebd., S. 7.

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erscheinen für sich allein eher unscheinbar. Erst ihre Zusammenfassung zu einem einheitlichen Ganzen und die sorgfältige Abstimmung aller Einzelkomponenten bewirkten den durchschlagenden Erfolg der Investitionen."43 Sowohl Reichenbach als auch Clais wurden wegen ihrer Verdienste um das bayerische Salinenwesen in den Adelsstand erhoben, also erst nachdem sie besondere innovatorische Leistungen erbracht hatten. Beide - vor allem aber Clais, dessen unternehmerische Komponente auch anhand seiner Beteiligung an einer Vitriolfabrik in Winterthur besonders deutlich wird sind daher nicht mit den "aristokratischen Unternehmern" zu verwechseln, die Fritz Redlich im Auge hatte und die Uberhaupt erst aufgrund ihrer sozialen Stellung in leitende Beamtenpositionen gelangt waren, um sich dann solche Sachverständigen heranzuziehen, wie sie sich beispielsweise in Reichenbach und Clais fanden 44 .

BERGMÄNNISCHES AUSBILDUNGSWESEN Solche individuellen Leistungen von Innovatoren, die maßgeblich technische Fortschritte in Einzelbereichen des Bergbaus bewirkt haben, lassen sich im Innovationsfluß der vorindustriellen Zeit immer wieder nachweisen. Sie erhellen "das persönliche Element in der wirtschaftlichen Entwicklung, insbesondere, wie es sich zu einer Zeit auswirkte, als es noch keine Zeitschriften für Handel und Technik, keine Wirtschafts- und Technischen Hochschulen und kaum schulmäßigen technischen Unterricht auf der mittleren und höheren Stufe gab, in einer Zeit, in der die Führung in der Industrie noch nicht auf einige wenige beschränkt war, die Kapital, Bildung und soziales Ansehen mitbrachten." 45 Das bei Redlich angesprochene Problem der noch nicht vorhandenen Technischen Lehranstalten führt wiederum zu Friedrich Anton v. Heynitz als entscheidendem Innovator: 1765, ein Jahr nach seinem Wechsel vom Harz nach Dresden als Generalbergkommissar und oberster Leiter des Berg-, Hütten- und Forstwesens in Kursachsen, war auf sein maßgebliches Betreiben

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Schremmer, Eckart, Technischer Fortschritt an der Schwelle zur Industrialisierung, 1980, S. 66. Redlich, Fritz, Das Unternehmertum in den Anfangsstadien der Industrialisierung, 1964, S. 323. Ders., Europäische Aristokratie und wirtschaftliche Entwicklung, 1964, S. 275.

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hin die Bergakademie in Freiberg gegründet worden. Er setzte damit eine Basisinnovation durch, auch wenn es sich dabei nicht um eine tatsächliche Erfindung eines neuen Schultyps, sondern um eine sich im Verlaufe von Generationen abzeichnende Entwicklung handelte 46 . Ob es tatsächlich seine "Lieblingsschöpfung" war, wie es in dem Beitrag über Heynitz in der "Neuen Deutschen Biographie" formuliert worden ist, sei dahingestellt. Die dort prägnant herausgearbeiteten Leistungen auch unter Würdigung der späteren Schaffensperiode, der Berliner Zeit, in der er zum wirklichen Geheimen Etats-, Kriegs- und dirigierenden Minister, Vizepräsident und Oberberghauptmann beim Generaldirektorium des preußischen Bergwerks- und Hüttendepartements berufen worden war, seien hier auszugsweise wiedergegeben: Heynitz hat als Organisator, Techniker, Verwaltungsbeamter und Förderer der Wissenschaft und Kunst überragende Leistungen vollbracht. Seine tiefgreifenden Reformen waren gekennzeichnet durch die Neuorganisation oder die Einrichtung der einschlägigen Behörden, insbesondere der Regionalbehörden wie Oberbergämter und Bergämter, die Berufung kompetenter, von ihm selbst vorgebildeter Bergbaufachleute als Leiter der Behörden, die systematische Erkundung von Lagerstätten, die Verbesserung alter und Gründung neuer staatlicher Betriebe, die Unterstützung neuer Privatbetriebe, die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse und das Schaffen günstigerer ökonomischer Rahmenbedingungen für den Verkauf der Bergwerksprodukte 47 . Zur Gründung der Freiberger Hochschule, der ersten auf der Welt, wenngleich zur selben Zeit anderenorts, beispielsweise in Schemnitz 48 , ähnliche Maßnahmen in die Wege geleitet wurden, hatten vielfältige Überlegungen geführt, letztlich Gedanken, wie sie schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts von den Kameralisten über die technologische Bildung schlechthin geäußert worden waren. In Freiberg war es beispielsweise Jacob Leupold (1674-1727), der sich für eine verbesserte Ausbildung von Maschinenbauern ausgesprochen hatte 49 . Bei den langwierigen Verhandlungen in der Gründungsphase der Freiberger Ausbildungsstätte, die bald positive 46

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Weber, Wolfhard, Innovationen im frühindustriellen deutschen Bergbau und Hüttenwesen, 1976, S. 155 f. Schellhas, Walter, Friedrich Anton v. Heynitz, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 8, Berlin 1969, S. 96-98. Baumgärtel, Hans, Vom Bergbüchlein zur Bergakademie, 1965, S. 144 ff. Troitzsch, Ulrich, Ansätze technologischen Denkens bei den Kameralisten des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin 1966 (= Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte. 5), S. 109 ff.

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Auswirkungen auf den Bildungsgrad der mittleren Bergbeamtenschaft in Sachsen brachte und sich einen hervorragenden Ruf im Ausland erwarb 50 , hatte Heynitz in seinem Jugendfreund Friedrich Wilhelm v. Oppel (17201769) einen engagierten Mitstreiter, der ebenfalls "von der sich verdichtenden Erkenntnis der Notwendigkeit" 51 einer solchen Einrichtung überzeugt war. Der Oberberghauptmann hatte sich zuvor auch auf dem Gebiet des bergmännischen Vermessungswesens mit Erfolg betätigt und mit seiner 1749 erschienenen "Anleitung zur Markscheidekunst" 52 einen wichtigen Schritt auf dem Wege zur Verwissenschaftlichung dieser Disziplin vollzogen. Generell läßt sich sagen, daß gerade die Markscheider bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein die "Träger des umfassendsten bergbaulichen Wissens" waren 53 , und auch Heynitz hatte sich in seinen jungen Jahren einer markscheiderischen Ausbildung unterzogen. Mit dem technisch aufwendiger und zugleich diffiziler gewordenen Bergbaubetrieb hatte sich der Aufgabenbereich der Markscheider entscheidend erweitert. Es reichte nicht mehr aus, daß von Fall zu Fall die erforderlichen Längen und Linien vermessen wurden, die Daten mußten auch auf Plänen und Karten, den Grubenrissen, bildlich und übersichtlich, vor allem auch auf Dauer festgehalten werden. Gerade dieses Umsetzen der Meßergebnisse in die Zeichenebene stellte hohe Anforderungen, besonders hinsichtlich des abstrakten Denkens in mathematischen Kategorien. Fortschritte in bezug auf solche Fertigkeiten stellten sich erst am Ende des 18. Jahrhunderts mit der systematischen Ausbildung von Fachkräften ein. Bis dahin war das Markscheidewesen eher eine geheimgehaltene "Kunst" geblieben. Geeignete Kräfte, die sich aus verschiedenen Berufen rekrutierten, wanderten anfangs von einem Territorium zum anderen, um ihr Wissen anzubringen und es auch günstig zu vermarkten. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts bildeten sich parallel dazu spezifische Tradierungsformen heraus, bei denen die Fertigkeiten in einem engen, persönlichen Verhältais auf ausgewählte Personen übertragen wurden. Solche individuell geprägten Schüler-LehrerVerhältnisse lassen sich zwar anhand der Oberbergamtsakten in Clausthal50 51

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Vgl. die biographischen Skizzen bei Schiffner, Carl, Aus dem Leben alter Freiberger Bergstudenten, 3 Bde., Freiberg 1935-40. Weber, Wolfhard, Innovationen im frühindustriellen deutschen Bergbau und Hüttenwesen. Friedrich Anton von Heynitz, Göttingen 1976 (= Studien zu Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft im Neunzehnten Jahrhundert. 6), S. 154. Oppel, Friedrich Wilhelm v., Anleitung zur Markscheidekunst, nach ihren Anfangsgründen und Ausübungen kürzlich entworfen, Dresden 1749. Baumgärtel, Hans, Vom Bergbüchlein zur Bergakademie, 1965, S. 10.

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Zellerfeld verschiedentlich herausarbeiten 54 , insgesamt ergibt sich jedoch der Eindruck, daß sie keineswegs institutionalisiert waren, sondern eher nur sporadisch zustandekamen.

FORTSCHRITTE IM RUHRBERGBAU Die für die direkte praktische Umsetzung ohne Zweifel wirksamste Schaffensperiode Friedrich Anton v. Heynitz' war seine Zeit in den Diensten der preußischen Montanverwaltung, als er für die Entwicklung in Schlesien, in der späteren Provinz Sachsen und in Westfalen verantwortlich war. Dabei erfreute sich - neben dem oberschlesischen Hüttenwesen - die wirtschaftlich im Aufbruch begriffene Steinkohlengewinnung an der Ruhr der wohl intensivsten wie aufwendigsten Fürsorge des Ministers. Das wohl charakteristischste Kennzeichen für seine Maßnahmen war eine gezielte "Kaderpolitik" (Wolfhard Weber), wobei - nunmehr anders als in Sachsen - das fachliche Können weit stärker im Vordergrund stand als die adlige Abstammung, vor allem wenn es um das Heranziehen von geeigneten Personen für mittlere Leitungspositionen ging. Solche Kriterien wurden schon dann angewandt, wenn es um die Auswahl von Stipendiaten für Erkundungsreisen in das Ausland ging: "Hatte er in Braunschweig und Sachsen an der Kavalierstour junger Adliger, wenn auch mit technologischen Informationen angereichert, festgehalten, so ging er in Berlin zu einer Kombination aus einem gesellschaftlich legitimierten, etwas fachlich vorgebildeten Adligen und einem meist jungen, bürgerlichen Fachmann über, um für wichtige Vorhaben eine effektive Form der Kenntnisvermittlung zu erreichen." 55 Auch für die verantwortlichen Minister in Preußen galt England mit seiner führenden Rolle im Industrialisierungsprozeß schlechthin als das wichtigste Ziel solcher Reisen. Der deutliche Vorsprung Englands löste in vielen Ländern des Kontinents eine Reaktion aus, die man als "englische Herausforderung" bezeichnen kann, und diese Herausforderung weckte aus ökonomischen Gründen den Willen, den englischen Vorsprung durch den Erwerb derselben oder gleichwertiger technologischer Kenntnisse aufzuho-

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Ausführlich bei Kroker, Werner, Aspekte zur Entwicklung des Markscheidwesens am Oberharz, in: Technikgeschichte 39,1972, S. 280-301. Weber, Wolfhard, Innovationen im frühindustriellen deutschen Bergbau und Hüttenwesen, 1976, S. 222.

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len 56 . Entsprechende Unternehmungen dorthin erwiesen sich als um so notwendiger, wenn es sich um Belange angewandter bergbaulicher Techniken handeln sollte, denn die dort angewendeten Verfahren waren ortsgebunden, sie ließen sich nicht ohne weiteres übertragen, und das Abwerben von Spezialisten stieß auf strenge Sanktionen seitens der Londoner Regierung 57 . Beispielhaft aus einer Vielzahl solcher Erkundungsreisenden im Sinne eines Technologietransfers, die letztlich nichts anderes waren als Versuche der Industriespionage, seien hier Friedrich Wilhelm v. Reden (1752-1815), Karl vom Stein (1757-1831) und Friedrich August Alexander Eversmann (17591837) genannt. 1786 bzw. 1787 reisten sowohl Reden, der Neffe Heynitz' und sein späterer Nachfolger als Leiter des preußischen Bergbaus, als auch Stein nach England, wo sich Eversmann bereits 1783/84 auf Veranlassung des Ministers mit eindeutigen Aufträgen nicht nur in bezug auf den Bergbau und das Hüttenwesen, sondern auch im Hinblick auf das Fabrikenwesen ganz allgemein aufgehalten hatte 58 . Zuvor schon hatte der "junge, bürgerliche Fachmann" im Jahre 1780 Heynitz bei dessen Inspektionsreise durch die Grafschaft Mark im Westen Preußens begleitet, bei der auch die Steinkohlengruben einer kritischen Bestandsaufnahme unterzogen wurden. 1782 erhielt der Beamtensohn 59 aus Brachwitz bei Halle (Saale) die Anstellung als Märkischer Fabrikenkommissar, und in dieser Eigenschaft entwickelte er sich zu einem "technologischen Konsolenten" (Wolfhard Weber) Steins, der zur selben Zeit Oberbergrat und zwei Jahre später Direktor des Märkischen Oberbergamtes in Wetter (Ruhr) wurde. Nachdem er sich in England fast zu intensiv und zu auffällig den Dampfmaschinen bei Boulton & Watt gewidmet hatte 60 , so daß er dann allerdings um so erfolgreicher zum Bau der ersten in Preußen arbeitenden

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Kroker, Werner, Wege zur Verbreitung technologischer Kenntnisse zwischen England und Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, 1971, S. 173; vgl. ebd., S. 128 ff. Ebd., S. 91-99. Ebd., S. 154 ff. Zur Biographie vgl. Breil, Hans, Friedrich August Alexander Eversmann und die industriell-technologische Entwicklung vornehmlich in Preußen von 1780 bis zum Ausgang der napoleonischen Ära, Diss. rer. pol. Hamburg 1977 [ms.], S. 1120. Zur Englandreise vgl. Breil, Hans, Friedrich August Alexander Eversmann und die industriell-technologische Entwicklung vornehmlich in Preußen von 1780 bis zum Ausgang der napoleonischen Ära, 1977, S. 78-88.

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Maschine beitragen konnte 61 , galt eines seiner Hauptaugenmerke zunächst der Verbesserung des Transportwesens im Ruhrbergbau. Zu diesem Problem hatte Heynitz schon in einem Erlaß vom November 1780, dem Ergebnis seiner damaligen Bereisung, Verbesserungen angeordnet, und Reden empfahl drei Jahre später ausdrücklich, dabei von englischen Vorbildern Gebrauch zu machen 62 . Eversmann löste das Problem auf überraschend schnelle Weise, indem er an der Jahreswende 1785/86 bei der Ausarbeitung entsprechender Pläne auf seine Beobachtungen in englischen Revieren zurückgriff: Von mehreren Gruben im Süden Bochums aus ließ er einen neuen Kohlen-Abfuhrweg zur Ruhr hin anlegen, aber nicht mehr auf konventionelle Weise, sondern mit eisernen Schienen versehen, einen sog. englischen Kohlenweg 63 . Der Aufwand, den er für die Anwendung dieser Innovation betrieben hatte, war beachtlich: Eigens für diesen Zweck hatte er bei der Vorläuferin der Gutehoffnungshütte in Sterkrade einen Temperofen zum "Abglühen" des Gußeisens für die Schienenherstellung errichten lassen. Solche Öfen hatte er in England kennengelernt und wohl auch eingehend untersucht, und nach Anfertigung der Schienen wurde der Ofen wieder stillgelegt64. Mit dem 1878 in Betrieb genommenen Schienenweg durch das Rauendahl hatte Eversmann die erste, wenn auch nur kurze Eisenbahnstrecke im Ruhrbergbau geschaffen. Die Schienen erlaubten einen im wahrsten Sinne des Wortes reibungsloseren Transport der Kohlen, da auf ihnen die Förderwagen wesentlich leichter geschoben werden konnten. Allerdings wäre die Annahme verfehlt, diese Innovation hätte danach unverzüglich auch bei anderen Gruben an der Ruhr Nachahmung gefunden.

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Dazu vgl. Breil, Hans, Friedrich August Alexander Eversmann und die industriell-technologische Entwicklung vornehmlich in Preußen von 1780 bis zum Ausgang der napoleonischen Ära, 1977, S. 95-100. Zu den frühen Maßnahmen, den Kernbereich des Ruhrkohlenbergbaus verkehrlich zu erschließen, vgl. Kroker, Werner, Bergbau und Verkehr im Wittener Süden vor der Industrialisierung, in: Jahrbuch des Vereins für Orts- und Heimatkunde in der Grafschaft Mark zu Witten, Witten 1994, S. 111-187, dort auch die Quellenbelege. Breil, Hans, Friedrich August Alexander Eversmann und die industriell-technologische Entwicklung vornehmlich in Preußen von 1780 bis zum Ausgang der napoleonischen Ära, 1977, S. 103-107; vgl. auch Wilsdorf, Helmut, Die Einführung eiserner Schienenwege im Ruhrbergbau, in: Der Anschnitt 9, 1957, H. 5, S. 2930. Für Hinweis auf Akten des Oberbergamtes Dortmund danke ich Frau Christiane Todrowski M.A., der Leiterin des Haniel-Archivs, Duisburg.

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Der weitere Verlauf der Entwicklung zeigt vielmehr, daß bis dahin noch ein sehr langer Zeitraum verging, und diese Feststellung ist für die generelle Frage nach der Einführung, Nutzung, Anwendung einer Innovation, dem "institutionell-sozialen Zusammenhang dieses Neuen" wichtig 65 . Sicherlich bestimmten individuelle Gegebenheiten - etwa die Beschaffenheit des Geländes und der Topographie ebenso wie das Transportaufkommen und die Verfügbarkeit über die benötigten Grundstücke - solche Entscheidungen. Im Grunde genommen ist es nicht verständlich, weshalb es etwa selbst im fast benachbarten Revier südlich von Witten noch Jahrzehnte dauerte, bis dort ein ähnlicher Transportweg angelegt wurde, obwohl im Prinzip die gleichen Voraussetzungen vorlagen. Da bei der nur kurzen Entfernung zwischen den beiden Reviere ein reibungsloser Kommunikationsfluß vorausgesetzt werden kann, mutet es um so unverständlicher an, daß von den innovativen Entscheidungsträgern - soweit aus der reichlichen Aktenüberlieferung ersichtlich - eine solche Lösung zuvor nicht einmal diskutiert wurde. Dort im Muttental, einer der Keimzellen des Ruhrkohlenbergbaus, waren noch am Beginn des 19. Jahrhunderts die Gewerken sehr intensiv und teilweise sogar heftig damit beschäftigt, einen neuen, aber lediglich befestigten Weg für den Kohlentransport anzulegen. Als Bauzeit für den 1,6 km langen Weg waren nicht weniger als drei Jahre geplant. Daß dabei Geländeunebenheiten mit Hilfe von Bohlen, Querbauen und sogar kleinen Überbrükkungen ausgeglichen werden sollten, wurde offenbar von den Beteiligten als ungewöhnlich fortschrittlich empfunden. Nicht anders wäre es zu erklären, daß solche eigentlichen Selbstverständlichkeiten einen hohen Stellenwert bei den Vertragsverhandlungen einnahmen. Verglichen mit dem alten Weg, der teilweise in das neue Netz einbezogen werden sollte, stellte er allerdings durchaus eine qualitative Verbesserung dar. Letztlich befolgte man damit aber nur Anweisungen, die schon zwei Jahrzehnte vorher von der Bergverwaltung als dringlich erteilt worden waren. Wie durchdrungen die beteiligten Gewerken von dem Gedanken des möglichen Fortschritts waren, den sie im Begriff waren zu bewirken, ergibt sich schon daraus, daß am 2. Februar 1804 die Kirchenglocken die Versammlung ankündigten, auf der die Arbeiten öffentlich vergeben werden sollten. Verfolgt man die umfangreichen Verhandlungen, so stellt sich der Eindruck ein, daß das Projekt für die Berkwerksbesitzer eine durchaus aufwendige

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Pfetsch, Frank R., Innovation im 15./16. und im 19. Jahrhundert als technikgeschichtliches Problem, S. 118; vgl. auch Rogers, Everett M., Diffusion of Innovations, 1983, bes. S. 197 ff.

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Maßnahme darstellte. Man bezweifelte offenbar nicht, eine Infrastrukturmaßnahme zu realisieren, die den aktuellen technischen Stand der Zechenverbindungswege widerspiegelte.

INNOVATIVE UNTERNEHMER UND DAS DIREKTIONSPRINZIP Im Verlauf der Verhandlungen profilierte sich eine Persönlichkeit, die sich als wohlausgestatteter und einflußreicher Grundbesitzer zum Sprecher sämtlicher beteiligter Gewerken aufschwang und als "Entrepreneur", gewissermaßen als Generalunternehmer, die Geschäfte besorgte: der Freiherr Levin v. Elverfeldt (1762-1830). Die Grundlage der Elverfeldtschen Bergbauaktivitäten war ein außergewöhnlich großer Grubenbesitz, der aber eine erhebliche Kapitalmenge band. Zusätzliche Anstrengungen, die Geschäfte möglichst gewinnbringend zu verwalten, waren daher angezeigt. In Anbetracht dieser Situation war es nur konsequent, daß die Elverfeldts, wenn sich eine günstige Perspektive abzeichnete, den unmittelbaren Tätigkeitsbereich der Gewerken, der sich unter dem Direktionsprinzip im wesentlichen im Aufschließen von Grubenfeldern und der Produktion von Kohlen bestand, verließen und auch sich daraus ableitende zusätzliche Geschäftsfelder belegten. In diesem Bestreben wurden sie durchaus zu Anwendern von Innovationen, die in einem fest umgrenzten Bereich, in ihrer direkten Einflußsphäre, zum technischen Fortschritt beitrugen. Daß man beispielsweise das Angebot der preußischen Regierung in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts aufgegriffen hatte und im Zuge der Schiffbarmachung der Ruhr auch Bauherr von Schleusen geworden war, ist in diesem Sinne zu verstehen. Der Gemeinschaftliche Schiebeweg von 1804 bot dazu eine weitere Chance, die man ebenso nutzte wie ein Vierteljahrhundert später, als es um ein bedeutenderes Verkehrsprojekt im Muttental ging 66 . Legt man die strenge Elle der technikhistorischen Periodisierung an, so wurde dieses Vorhaben erst nach der frühindustriellen Zeit realisiert, kurz bevor die erste Dampfeisenbahn in Deutschland gebaut wurde, - sicherlich ein deutlicher Beweis für die fließenden Grenzen solcher Periodisierungsversuche, wenn sie mit dem tatsächlichen Wirksamwerden von Innovationen verglichen werden. 66

Vgl. Anm. 62 sowie auch Kroker, Werner, Ruhrbergbau und Verkehr vor der Industrialisierung, in: Der Anschnitt 47, 1995, S. 26-43, bes. S. 35-40.

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Wiederum auf die konkrete Situation "vor Ort" bezogen, ist dem Vorhaben dennoch nicht ein innovativer Grundgedanke abzusprechen. Wie die Protokolle der langwierigen Verhandlungen ergeben, hatten die Gewerken ursprünglich immer noch einen herkömmlichen Kohlen-Abfuhrweg geplant, obwohl Friedrich Harkort (1793-1880), der zumindest indirekt diesem Revier relativ eng verbunden war, längst den Bau von Eisenbahnen proklamiert hatte. Erst im Laufe des Jahres 1829 ließ Ludwig Gisbert v. Elverfeldt (17881855) verlautbaren, daß er nicht mehr zur Fortsetzung dieses Gemeinschaftsvorhabens bereit sei, sondern daß er vielmehr beabsichtige, eine mit Schienen versehene Eisenbahnlinie zu schaffen. Hier hatten ganz offensichtlich handfeste übergeordnete wirtschaftliche Überlegungen zur Anbindung des Ruhrkohlenreviers an den Bergischen Raum den Ausschlag gegeben, die über die lokalen Interessen weit hinausgingen. Hier deutet sich die beginnende Industrialisierung auch insofern an, als Überlegungen zu Innovationen führten, die nicht mehr in der Interessenssphäre der unmittelbar Betroffenen lagen. Partner Elverfeldts bei diesem Projekt war Carl Berger (1794-1871), der später in Witten den Grundstein für ein großes Stahlunternehmen legte, indem er nach englischem Vorbild Tiegelgußstahl herstellte. Durch väterliches Erbe verfügte er gleichfalls über einen beachtlichen Bergwerksbesitz. Mit seinem unternehmerischen Horizont, der den der ortsansässigen Gewerken weit überragte, hatte er wohl nicht lange gezögert, solch ein großes Vorhaben in die Wege zu leiten. Mit Projekten dieser Art, die der Verbesserung der verkehrlichen Infrastruktur im sich industrialisierenden Steinkohlenbergbau dienten, befanden sich die Bergwerksbesitzer im vollen Einvernehmen mit den Bestrebungen der staatlichen Bergverwaltung, den Kohlenabsatz als wirtschaftsfördernde Maßnahme zu steigern. Bei einer solchen Kongruenz der Interessen kam es folglich nicht zu Kollisionen in bezug auf prinzipielle Zuständigkeitsfragen zwischen Unternehmern und Behörden unter dem Direktionsprinzip. Die Gewerken leisteten gerade auf diesem Sektor immerhin beachtliche Investitionen, die im direkten Einklang mit politischen Zielvorgaben standen. Die alltägliche Geschäftspraxis, innerhalb deren Rahmenbedingungen solche Entscheidungen von den Gewerken getroffen wurden, sah freilich ganz anders aus, wie die Auseinandersetzung zwischen Berger und Elverfeldt als den gemeinsamen Besitzern einer Zeche im Muttental einerseits und dem Märkischen Bergamt in Bochum andererseits zeigt. Aus eher nichtigem Anlaß, weil der von den Gewerken angestellte Grubensteiger Seile bei einem anderen Hersteller gekauft hatte als vom Revierbeamten angeordnet, kam es 1835 zu einem erbitterten Streit, bei dem der Beamte eine zentrale Frage 124

stellte, die er nur als rhetorisch verstanden haben dürfte: "Wer ihn zu befehlen habe, er oder der Herr von Elverfeldt, und künftig habe er überhaupt nur seinen Befehlen zu gehorchen". Elverfeldt und Berger, die nicht bereit waren, "solche Eingriffe in unsre Eigenthumsrechte von den Revierbeamten ferner gut zu heißen", drohten im Laufe der Auseinandersetzungen damit, "daß wir uns dabei nicht beruhigen werden, sondern unsern gehorsamsten Antrag bis zur höchsten Behörde befördern werden." Der vom Direktionsprinzip abgesteckte Rahmen für innovative Entscheidungen, die letztlich nur von den lenkenden Staatsbeamten getroffen worden und durchaus dem technischen Fortschritt zugute gekommen waren, erwies sich durch den unvermindert einsetzenden Industrialisierungsprozeß zu diesem Zeitpunkt bereits als zu eng. Es sollte aber noch Jahrzehnte dauern, ehe auf der Grundlage wirtschaftsliberaler Gesetzgebung die Entscheidung für den weiteren technischen Fortschritt im deutschen Bergbau den direkt betroffenen Innovatoren überlassen wurde.

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Mikroelektronik, die verspätete Basisinnovation VON WALTER KAISER

1. ERFINDUNG UND FRÜHE VERWENDUNG DES TRANSISTORS Eine der wichtigsten Fähigkeiten der in der Gestaltung von Technik handelnden Menschen ist es, frühzeitig Grenzen bestehender Technik vorauszusehen und Möglichkeiten zu ihrer Überwindung zu erahnen.1 Der 2. Weltkrieg erlebte eine ganze Reihe von Erfindungen, die, obwohl sie in eine Zeit fielen, in der die alte Technik fast noch unangefochten "gültig" war, doch längerfristig zur Überwindung bestehender Grenzen führten. Jet- und Raketentriebwerke sind prominente Beispiele dafür, wie überlappend mit bereits hochentwickelter Technik kommende Entwicklungen in Luft- und Raumfahrt vorweggenommen wurden. Bestechend mit Blick auf Organisation und Struktur einer auf Innovation zielenden Forschung ist jedoch die Entdeckung des Transistoreffekts in den Bell Laboratories von AT&T (American Telephone & Telegraph Company). Wichtigste Voraussetzung war, daß man in den Bell Laboratories ein ausgeprägtes Interesse für die grundlegenden physikalischen Eigenschaften des Festkörpers hatte. Offenbar gab es aber in den Forschungslabors von AT&T bereits zur Blütezeit der Technik der Elektronenröhren außerdem eine erstaunlich konkrete Vorstellung davon, daß mit einem Festkörperbauelement die Grenzen der Röhren-Verstärker zu überwinden sein sollten, Grenzen, die mit dem hohen Stromverbrauch, mit der Größe und mit der mechanischen Empfindlichkeit der Röhre zu tun haben.2 1 2

Vgl. dazu George Wise: Science and Technology, in: Osiris, 2nd Ser., 1 (1985), S. 229-246. Vgl. M. D. Fagen, Ed.: A History of Engineering and Science in the Bell System, National Service in War and Peace (1925-1975), Bell Telephone Laboratories, 1978, S. 621-626; Lillian Hoddeson: The Discovery of the Point-Contact Transistor, in: HSPS, 12/1 (1981), S. 41-76 sowie F. M. Smits, Ed.: A History of Engineering and Science in the Bell System, Electronics Technology (1925-1975), AT&T Bell Laboratories 1985, S. 1-100.

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Zwar gab es seit der Mitte der zwanziger Jahre durchaus im industriellen Maßstab hergestellte Halbleiterbauelemente, etwa die auf Selen und Kupfer-(I)-Oxid basierenden Gleichrichter.3 Seit den vierziger Jahren waren als Detektoren für Mikrowellenradar zudem Silizium- und Germanium-Gleichrichter eingeführt worden. 4 Die Entwicklung von Halbleiter-Verstärkern litt aber zunächst unter der allzu einfachen Vorstellung, in Analogie zur Dreielektroden-Verstärkerröhre (Triode) eine Art Halbleiter-Triode realisieren zu können. Die Idee war, in die für den Gleichrichtereffekt entscheidende Raumladungszone eines Festkörpergleichrichters zusätzlich ein Steuergitter einzubringen. In funktionsfähige Bauelemente waren solche Vorstellungen unter den gegebenen technologischen Voraussetzungen noch nicht zu überführen. 5 1947 gelang es jedoch John Bardeen und Walter Brattain in Gestalt eines Punktkontakt- oder Spitzentransistors in den Bell Laboratories einen ersten Festkörper-Verstärker zu entwickeln.6 Zwei Elektroden aus Gold, die als Emitter und Kollektor fungierten, wurden in sehr geringem Abstand auf einen kleinen Block aus Germanium gepreßt. Bei positiver Polung der Emitter-Elektrode wurden positive Ladungsträger injiziert und somit die Leitfähigkeit in dem zunächst allein durch negative Ladungsträger charakterisierten Halbleiter Germanium deutlich vergrößert. Kleine Schwankungen einer Steuerspannung am Emitter konnten damit kräftige Schwankungen im Kollektorstrom bewirken. William Shockleys Idee eines Feldeffekttransistors, die die Gruppe Bardeen, Brattain und Shockley eigentlich geleitet hatte, war durch ältere Patente geschützt und konnte trotz fortgesetzter Forschungsarbeit bei Bell erst 1958 durch Stanislaus Teszner, der einer Tochter der General Electric in Frankreich angehörte, in einen kommerziellen GermaniumFeldeffekttransistor umgesetzt werden. Die ersten auf Silizium aufbauenden 3

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6

Vgl. Ernst Presser: Selen als Gleichrichtermaterial, in: Funkbastler, 1925, Heft 44, S. 558f. und L. O. Grondahl, P. H. Geiger: A New Electronic Rectifier, in: Transactions of the American Institute of Electrical Engineers, Vol. 46 (1927), S. 357-366. Vgl. Helmut Schubert: Industrielaboratorien für Wissenschaftstransfer. Aufbau und Entwicklung der Siemensforschung bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs anhand von Beispielen aus der Halbleiterforschung, in: Centaurus, Vol. 30 (1987), S. 245-292. Vgl. Ernest Braun & Stuart Macdonald: Revolution in miniature. The history and impact of semiconductor electronics, second edition, Cambridge, London, New York 1982, S. 37. Vgl. M. D. Fagen (1978), S. 621-626; Lillian Hoddeson (1981); F. M. Smits (1985), S. 1-100, insbes. S. 1-20.

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Junction-Feldeffekttransistoren (JFETs) wurden 1960 von Crystalonics, einer späteren Firma der Teledyne Inc., in Cambridge (Massachusetts) produziert.7 Die vorausschauende Forschungsplanung und die liberale Lizenzpolitik der Bell Laboratories wurde durch die unmittelbare Aufnahme des Transistors eher enttäuscht. Die Fertigungsprobleme, die mit dem ursprünglichen Konzept des Spitzentransistors zu tun hatten, erlaubten es anfänglich nicht, ein Bauelement mit gleichmäßigen elektrischen Eigenschaften, mit hoher Betriebssicherheit und mit einem vernünftigen Preis zu produzieren. Obwohl etwa bei der Radio Corporation of America (RCA) in Rundfunkempfängern und in ähnlichem Gerät8 die Verwendung von raumsparenden Transistoren demonstriert wurde, und obwohl der Transistor in Hörgeräten eingesetzt wurde, konnte er sich auf dem zivilen Elektronikmarkt zunächst nicht durchsetzen.9 Wie andere weit vorausschauende Entwicklungen mußte auch der Transistor sich fast zwangsläufig noch in einem sehr unvollkommenen Zustand präsentieren. Mit den technologisch ursprünglich leichter zu beherrschenden Germaniumtransistoren geriet man bei hohen Leistungen und bei hohen Temperaturen an klare Grenzen. Für Verstärker im UKW-Bereich war der Transistor anfänglich zu langsam und noch in den frühen sechziger Jahren war er den Röhren, mit denen man bis in den Frequenzbereich von 100 Gigahertz gelangte, bei hohen Frequenzen generell unterlegen.10 Gerhard Mensch, der in der Konjunkturkrise von 1973/74 die "Überwindung der Depression" durch Innovationen analysierte, argumentierte insofern typisch vereinfachend, wenn er im Vergleich mit der Holographie dem Transistor eine besonders kurze Innovationszeit zuschrieb, er habe durch das Einbrechen in eine "etablierte" Technik "seinen natürlichen Markt im Handumdrehen" erobert und die "Radioröhre zu einem Ding der Vergangenheit" gemacht.11

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Vgl. [Electronics (Hg.)]: An Age of Innovation, The World of Electronics 19302000 by the Editors of Electronics, New York 1981, S. 76f.; P. R. Morris: A History of the World Semiconductor Industry, London 1990, S. 43; Alfonso Hernán Molina: The Social Basis of the Microelectronic Revolution, Edinburgh 1989, S. 59, Figure 17. Vgl. Electronics (1981), S. 70. Vgl. ebenda, S. 74-76. Vgl. Karl Seiler: Physik und Technik der Halbleiter, Stuttgart 1964, S. 143; F. M. Smits (1985), S. 35. Vgl. Gerhard Mensch: Das technologische Patt. Innovationen überwinden die Depression, Frankfurt a. M. 1975, S. 201.

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2. DER Z W A N G ZUR MINIATURISIERUNG Von rascher Durchsetzung des Transistors kann man allenfalls mit Blick auf die militärischen Anwender sprechen. Hier hatte schon die Entwicklung der Elektronik im 2. Weltkrieg, etwa beim raumsparenden Einbau der Elektronik von Radarsystemen in Kampfflugzeugen oder bei der Entwicklung von kleinen Annäherungszündern für Granaten, eine kräftige Entwicklung der Röhren in Richtung Miniaturisierung eingeleitet.12 Die Argumente, die für den Transistor sprachen, wie geringes Volumen und geringer Stromverbrauch, waren deshalb so überragend, daß es aus der Sicht der militärischen Verwender vollkommen vertretbar war, Bauelemente mit den geforderten elektrischen Eigenschaften mit hohem Aufwand zu selektieren und umgekehrt auch die hohen Preise für diese ausgesuchten Produkte zu bezahlen.13 Eine gewisse Verbesserung der Ausbeute erbrachte hier ab 1950 bis 1952 die Abkehr vom Spitzentransistor und die Einführung der Flächentransistoren, bei denen die den Transistoreffekt hervorrufenden p(ositiv)- und n(egativ)-leitenden Schichten in übersichtlicherer und technologisch besser reproduzierbarer Weise aneinandergefügt waren.14 Solche leitenden Schichten mit positiven und negativen beweglichen Ladungsträgern ließen sich durch gezielte Verunreinigung (Dotieren) sehr reiner Halbleitermaterialien durch Fremdatome erzeugen. Das Einbringen der Dotierstoffe in den Halbleiter wurde zunächst durch einfaches Legieren, seit Mitte der fünfziger Jahre durch das Eindiffundieren von Fremdatomen (aus der Gasphase heraus) realisiert; seit 1960 konnten einkristalline, dotierte Halbleiterschichten (ebenfalls aus der Gasphase heraus) auf einer zweiten Halbleiterschicht zum Aufwachsen gebracht werden (Gasphasen-Epitaxie). Seit Mitte der sechziger Jahre wurden diese Methoden durch das Ionen-Implantationsverfahren, bei dem die Fremdatome in ionisierter, elektrisch geladener Form in den Festkörper eingebracht werden, ergänzt.15 Weitere Miniaturisierung bedeutete zunächst nur die Verkleinerung von Bauelementen, das Zusammenführen von Transistoren und von anderen Bauelementen auf einem isolierenden Trägermaterial und die Verbindung dieser "diskreten" Bauelemente durch Verdrahtung oder durch die metallischen Leiterbahnen einer gedruckten Schaltung. Mit dieser Modul-Technik

12 13 14 15

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

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Electronics (1981), S. 52 und 58. Ernest Braun, Stuart Macdonald (1982), S. 70ff. ebenda, S. 54f. P. R. Morris (1990), S. 64-71.

waren natürlich einer weiteren Miniaturisierung enge Grenzen gesetzt. In gewissem Umfang konnte sich bis etwa 1960 die Technik der Elektronenröhren sogar behaupten.16 Aber der Zwang zur Miniaturisierung hatte sich am Ende der fünfziger Jahre eher noch einmal verstärkt. Mit dem Start des ersten Satelliten Sputnik I am 4. Oktober 1957 hatte die sowjetische Raketentechnik bei den Trägerraketen zum ersten Mal einen sichtbaren Vorsprung vor den USA gewonnen. Eine Kompensation der Schwäche der Trägerraketen schien zunächst nur bei der Elektronik der Steuerung möglich.17 Vor allem übte auch der Aufstieg der industriell produzierten Rechner, die sich um 1955 trotz einer ausgeprägten militärischen Vorgeschichte in einen rein kommerziellen Raum hinein entwickelten, einen beachtlichen Sog in Richtung miniaturisierter und stromsparender elektronischer Bauteile aus. So wurden IBMRechner um 1960 schon in beachtlichen Stückzahlen gebaut. Der meistverkaufte Computer der ersten Generation, der Universalrechner IBM 650, erreichte eine Zahl von etwa 1 800, der Nachfolger IBM 1401 wurde bereits über 15 000 mal gebaut, die Rechner des IBM System 360 erreichten schließlich Stückzahlen von etwa 24 000.18 Allerdings hatte dieser Markt noch lange nicht die spätere Bedeutung. So hatte IBM, der sich als führender Hersteller kommerzieller Rechner herauskristallisierte, im Jahre 1963 erst 1,2 Milliarden Dollar Umsatz; 1986 war der Umsatz auf nahezu 50 Milliarden Dollar hochgeschnellt, 1990 sogar auf 70 Milliarden Dollar.19

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Vgl. Ernest Braun, Stuart Macdonald (1982), S. 49f.; Michael Eckert, Helmut Schubert: Kristalle, Elektronen, Transistoren. Von der Gelehrtenstube zur Industrieforschung, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 182 und 186. Vgl. Herbert J. Pichler: Die Mondlandung, Wien, München, Zürich 1969, S. 232f.; Rudolf Lindner, Bertram Wohak, Holger Zeltwanger: Planen, Entscheiden, Herrschen. Vom Rechnen zur elektronischen Datenverarbeitung, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 134f. und S. 138-142; Rolf Kreibich: Die Wissenschaftsgesellschaft, Von Galilei zur High-Tech-Revolution, Frankfurt a. M. 1986, S. 294f. Vgl. James W. Cortada: Historical Dictionary of Data Processing, 3 Bände, Organizations, Biographies, Technology, New York und Westport 1987, Technology, S. 199, S. 206 und S. 217. 1991 war der Umsatz von IBM allerdings auf 65 Milliarden Dollar gefallen. Vgl. dazu Kenneth Flamm: Creating the Computer. Government, Industry, and High Technology, Washington, D. C.: The Brookings Institution, 1988, S. 102; Gunhild Lütge, Erika Martens: Signal aus Sindelfingen, in: Die Zeit vom 3.7.1992, (Nr. 28), S. 23.

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3. DER INTEGRIERTE SCHALTKREIS ALS ANTWORT AUF DIE SICH SELBST HEMMENDE INNOVATION DES TRANSISTORS Trotzdem stellte der Bau von Rechnern in der Größenordnung von mehreren Zehntausend gerade um 1960 eine erhebliche Herausforderung für die Halbleitertechnik dar. In der Produktion von Halbleiter-Bauelementen war nämlich die etwas groteske Situation entstanden, daß die notwendigen lithographischen Vorgänge, sowie die Ätz- und Diffusionsprozesse bereits mehrfach auf einem zusammenhängenden einkristallinen Halbleitermaterial, dem Wafer, durchgeführt wurden.20 Die so nebeneinander hergestellten Bauelemente wurden zunächst mechanisch voneinander getrennt, anschließend aber in zunehmend komplizierteren Strukturen mit Hilfe von Drähten oder durch die Leiterbahnen von gedruckten Schaltungen wieder mühsam miteinander verknüpft.21 Wie groß der Bedarf an Bauelementen war, wie sehr man aber umgekehrt mit der Verdrahtung diskreter Bauelemente an die Grenze des in der Produktion Machbaren geriet, zeigt ein Blick auf den 1960 von Control Data eingeführten Computer CD 1604, der etwa 100 000 Dioden und 25 000 Transistoren enthielt.22 Um 1962 existierten bereits Computer, die aus 200 000 diskreten Bauelementen aufgebaut waren, wobei gleichzeitig bei zukünftigen Systemen eine Zahl um zehn Millionen Bauelemente erwartet wurde.23 Die Fortschritte der Festkörperphysik und der Halbleitertechnologie konnten also nur noch begrenzt in entsprechendes technisch-wirtschaftliches Kapital, etwa in der Computertechnik, umgemünzt werden. Überhaupt hatte die Festkörperphysik wegen der Dominanz der technologischen, produktionstechnischen Probleme und wegen der wachsenden Komplexität der technischen Anwendimg manches von ihrer stimulierenden Wirkung in der Halbleitertechnik eingebüßt. So konnte die von Leo Esaki 1958 bei Sony entwickelte Tunneldiode, die eine direkte Überführung des quantentheoretischen Tunneleffekts in ein Bauelement darstellte, die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen.24 Das Aufbrechen dieser Selbstblockade der Technik und den entscheidenden Schritt von einer Art angewandter Festkörperphysik hin zu einer nun 20 21 22 23 24

Vgl. Karl Seiler (1964), S. 90f. Vgl. Ernest Braun, Stuart Macdonald (1982), S. 88. Vgl. Electronics (1981), S. 81. Vgl. Ernest Braun, Stuart Macdonald (1982), S. 99. Vgl. Electronics (1981), S. 77. - Der quantentheoretische Tunneleffekt beschreibt die Überwindung eines sogenannten Potentialwalles durch einzelne Teilchen, deren Energie unterhalb der Höhe des Potentialwalles liegt, als Durchtunnelung.

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deutlich ingenieurwissenschaftlich geprägten Halbleitertechnik stellte insofern die Idee des integrierten Schaltkreises dar. Hinter dem Begriff "Integrierter Schaltkreis" stand das Konzept, in einem kontinuierlichen Prozeß die unterschiedlichen Halbleiterbauelemente und die sie verbindenden Leiterbahnen einer Schaltung - in situ - im Substrat des Wafers aufzubauen. 25 Entwickelt wurde der erste integrierte Schaltkreis 1958 von Jack Kilby, der, nachdem er bereits bei der Entwicklung von transistorisierten Verstärkern für Hörgeräte Erfahrungen gesammelt hatte, in einer neuen Position bei Texas Instruments sich generell mit Fragen der Miniaturisierung auseinandersetzen sollte. Texas Instruments in Dallas produzierte seit 1952 Punktund Flächentransistoren und hatte sich ab 1954 insbesondere als erster Hersteller der im Vergleich zu Germanium-Transistoren sehr viel robusteren Silizium-Transistoren einen Namen gemacht. Herausragende Bedeutung hatten die bei hohen Temperaturen und bei großen Stromstärken widerstandsfähigeren Silizium-Transistoren wiederum für die militärische Anwendung. In Forschung und Entwicklung behielt das physikalisch sehr gut bekannte und leichter handhabbare Germanium als "Schulstoff" der Halbleiterphysik 26 allerdings seine Bedeutung, nicht zuletzt auch in der Erfindungsphase der integrierten Schaltung. Nachdem Kilby zunächst mit diskreten Silizium-Bauelementen unterschiedlicher technologischer Herkunft 27 grundsätzlich die Realisierung von Transistoren, Widerständen und Kondensatoren in reinen Halbleitermaterialien zeigen konnte, gelang es seiner Gruppe schrittweise, diese unterschiedlichen Bauelemente im Substrat einkristalliner Germaniumwafer zu erzeugen. Die Bauelemente mußten anschließend zum Teil noch mit Hilfe feiner Golddrähte im Sinne einer Oszillator-Schaltung28

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Vgl. dazu und zum Folgenden: Electronics (1981), S. 81-85 und pass.; Ernest Braun, Stuart Macdonald (1982), S. 88-104; P.R. Morris (1990), S. 45-51. Dabei war das Germanium als "Schulstoff' wiederum an die Stelle der von Robert W. Pohl in Göttingen seit den 30er Jahren bearbeiteten Alkalihalogenide getreten. Vgl. dazu Karl Seiler (1964), S. 3; Jürgen Teichmann: Zur Geschichte der Festkörperphysik, Farbzentrenforschung bis 1940, Stuttgart 1988. Vgl. Jack S. Kilby: Invention of the Integrated Circuit, in: IEEE Transactions on Electronic Devices, Volume ED-23, No. 7, July 1976, S. 648-654, hier S. 650. Es handelte sich um einen Oszillator (einen Stromkreis zur Erzeugung elektrischer Schwingungen), bei dem der Transistor als aktives Bauelement so in ein RC-Netzwerk (bestehend aus Widerständen und Kondensatoren) eingebunden war, daß die beiden - auf den Transistor und auf das RC-Netzwerk zurückzuführenden - Phasenverschiebungen in der Summe gerade den Wert Null ergaben.

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oder einer auf die Digitaltechnik verweisenden Flip-Flop-Schaltung29 verbunden werden. Anfang 1959 konnte Texas Instruments einen ersten integrierten Schaltkreis, eine Flip-Flop-Schaltung, in einer - bis auf einige leitende Verbindungen - monolithisch hergestellten Version vorstellen. Festkörperwiderstände, Kondensatoren und die durch erhabene Strukturen gekennzeichneten Mesa-Transistoren waren nun gleichzeitig mit Hilfe von Photoätz- und Diffusions-Verfahren im Halbleiter Germanium erzeugt worden. Die ersten integrierten Schaltkreise von Texas Instruments waren jedoch mit Blick auf Isolation und Verdrahtung der Bauelemente schwierig in der Herstellung und unbefriedigend in der Nutzung der Leistung der einzelnen Bauelemente. Der eigentliche Durchbruch wurde dann wenig später von Robert N . Noyce bei Fairchild Semiconductor in Mountain View (California) erzielt. Unter Benutzung der dort von Jean Hoerni eingeführten PlanarTechnologie zur Herstellung von Transistoren, bei der die flachen, unterschiedlich dotierten Schichtstrukturen in den Halbleiter hineinragen, gelang es Noyce in Silizium-Scheiben durch Diffusionsprozesse Widerstände und Transistoren zu erzeugen. Die in Silizium eingebetteten Bauelemente waren durch (in Sperrichtung geschaltete) pn-Übergänge voneinander isoliert und durch eine Siliziumdioxidschicht abgedeckt. Mit Hilfe von aufgedämpftem Metall, das durch Masken auf die Oberfläche der Isolierschicht gebracht wurde und das durch Bohrungen in der Isolierschicht hindurchtrat, konnten die Bauelemente der Schaltung leitend verbunden werden. Damit zeichnete sich für Fairchild, aber nicht nur für Fairchild, denn Texas Instruments hatte (aufgrund vermeintlich eigener Prioritätsansprüche 3 0 ) das Aufdampfen von metallisch leitenden Verbindungen übernommen, der Weg in die forcierte Weiterentwicklung integrierter Schaltkreise ab. Die sprachlich fast etwas hilflosen und teilweise nur aus der Retrospektive verständlichen Bezeichnungen SSI ( = Small Scale Integration), MSI ( = Medium Scale Integration), LSI ( = Large Scale Integration) und V L S I ( = Very Large Scale Integration) können kaum etwas von der lawinenartigen Entwicklung hin zur stetigen Verkleinerung der Bauelemente und hin zur stän-

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Diese als Phasenschieber-Oszillator ("phase-shift oscillator") bezeichnete Schaltung war ein typisches Demonstrationsobjekt für lineare Stromkreise. Die Flip-Flop-Schaltung ist eine bistabile Kippschaltung, die z.B. als Speicherelement nutzbar ist. Vgl. Ernest Braun, Stuart Macdonald (1982), S. 89.

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digen Vergrößerung der Packungsdichte im Substrat des Halbleiters andeuten. Die in Zahlen auszudrückenden Integrationsdichten haben tatsächlich eine rasante Entwicklung erlebt: 1964 wurden auf 1/2 cm2 Chipfläche 10 Transistoren und einige weitere Bauelemente integriert. Der Durchbruch zu sehr hohen Integrationsdichten gelang dann ab Mitte der sechziger Jahre mit den auf der MOS (Metal Oxide Semiconductor)-Technologie beruhenden MOS-Feldeffekttransistoren.31 Im Gegensatz zu den bipolaren Transistoren, bei denen ein Übergang zwischen p(ositiv) und n(egativ) leitenden Halbleiterschichten zur Steuerung von Strömen dient, wird im unipolaren Feldeffekttransistor über ein elektrisches Feld der Strom eines einzigen Ladungsträgers gesteuert. Bei gleichbleibenden Fertigungskosten enthielt ein Chip 1970 bereits 100 Transistoren und zusätzliche Bauelemente, 1975 integrierte man 1000 Transistoren auf einem Chip, 1980 waren es 50 000 und 1985 bereits eine Million. Sind mehr als 100 000 Funktionen auf einem Chip zusammengefaßt, spricht man von VLSI-Technik.32 Auf einem 64 Megabit-Speicherchip, einem dynamischen Schreib-Lese-Speicher, von dem IBM und Siemens im Dezember 1991 ein erstes gemeinsam entwickeltes Labormuster vorgestellt haben, werden um 140 Millionen Transistoren integriert. Extrapolationen für das Jahr 2000 prognostizieren in einer optimistischen Version sogar die Giga-Scale-Integration, also die Vereinigung von einer Milliarde Bauelemente auf einem einzigen Chip. Diese spektakulären Zahlen gelten allerdings nur für die sehr gleichförmig strukturierten Speicherchips. Bei den komplexeren, unregelmäßig strukturierten ASICs (Application Specific Integrated Circuits) und bei Mikroprozessoren werden heute (1995) in der Größenordnung von 500 000 bis etwa vier Millionen Transistoren auf einem Chip integriert.33 Der wachsenden Integration entspricht die stetige Verfeinerung der Struktu-

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Vgl. Electronics (1981), S. 86; Einest Braun, Stuart Macdonald (1982), S. 102104; Egon Hörbst, Martin Nett, Heinz Schwärtzel: VENUS, Entwurf von VLSISchaltungen, Berlin Heidelberg, New York 1986, S. 67; P. R. Morris (1990), S. 44-45. Vgl. Ernest Braun, Stuart Macdonald (1982), 105-120; Walter Ameling: Mit dem Computer ins 3. Jahrtausend, in: Alma Mater Aquensis, Berichte aus dem Leben der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, Bd. XXIV, 1987/1988, S. 70-94, hier S. 81; P. R. Morris (1990), S. 152. Mitteilungen Bernhard Walke und Thomas Bemmerl, RWTH Aachen; Georg Färber: Wechselwirkung zwischen Mikroelektronik und Informationstechnik, in: Blickpunkt Magazin, Digital-Kienzle, Nr.15, 1991, S. 17-21, hier S. 17.

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ren der Bauelemente und Leiterbahnen.34 So weisen heute Fertigungsmuster von Mikroprozessoren Strukturbreiten von nur noch 0,5 n (0,5-10"6 m) auf. Die kleinsten Strukturen des 64 Megabit-Speicherchips, dessen Auslieferung begonnen hat, besitzen eine Größenordnung von 0,35 (x. Im Labor erzeugte Strukturen von Logikschaltungen sind bereits bei Ausdehnungen von 0,20 \i angelangt35, wobei man bis zum Ende unseres Jahrzehnts 0,1 |i erreichen will. Zu den genannten Integrationsdichten, zu den räumlichen Strukturen, die nur noch mit Hilfe des Mikroskops erkennbar sind, kommen heute Schaltzeiten, die unterhalb von 10"9 Sekunden liegen.36 Mit konventionellen Entwurfsmethoden können solche höchstintegrierten Schaltkreise nicht mehr entwickelt werden. Aber auch die seither durchgeführten Integrationsschritte wären ohne die Nutzung von Rechnern kaum mehr zu bewältigen gewesen. Bereits die Schaltkreise des 1957 von Sperry Rand für die amerikanische National Security Agency gebauten Computers "Bogart" wurden mit Hilfe eines Computers entworfen.37 Spezielle Programme zur Berechnung von Schaltkreisen standen seit 1965 zur Verfügung. Die weitere Entwicklung dieser Programme wurde aber im wesentlichen durch die Rechengeschwindigkeit und durch die Speicherkapazität der verfügbaren Computer bestimmt. Die größten jeweils verfügbaren Systeme reichten gerade aus, die wachsende Komplexität der Komponenten der nächsten Generation zu entwerfen.38 Und nicht umsonst gehörten Design und Simulation von integrierten Schaltkreisen zu den Förderungsschwerpunkten der amerikanischen Defense Advanced Research Projects Agency, insbesondere innerhalb des am MIT (Massachusetts Institute of Technology) angesiedelten Projekts M A C (Machine-Aided Cognition and Multiple-Access Computer).39 Die Entwicklung von Mikroprozessoren ist heute ebenfalls ohne Computerunterstützung nicht mehr möglich. So zeigte etwa die Entwicklung des seit 1984 verfügbaren 32 Bit-Prozessors Motorola 68020 mit seinen etwa 250 000 Transistoren, daß ein in konventioneller Technik realisierter Versuchsaufbau mit einem Volumen von zwei Kubikmetern und einer Ge-

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Vgl. zum Folgenden: Georg Färber (1991), S. 17-21. Vgl. mikroelektronik+mikrosystemtechnik, 8. Jg., 1/1994, S. 48f. und 55. Vgl. zum Beispiel Egon Hörbst, Martin Nett, Heinz Schwärtzel (1986), S. 69. Vgl. Kenneth Flamm (1988), S. 108f. Vgl. Walter E. Proebster (Hg.): Datentechnik im Wandel, 75 Jahre IBM Deutschland, Berlin und Heidelberg 1986, S. 175. Vgl. Kenneth Flamm: Targeting the Computer. Government Support und International Competition, Washington D. C.: The Brookings Institution, 1987, S. 68-70.

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schwindigkeit, die nur 10% der geplanten Geschwindigkeit erreichte, keine sinnvolle Methode in der Erprobung eines Entwurfs mehr sein konnte. Um die Entwicklungszeiten zu verkürzen, werden deshalb heute vom Schaltungsentwurf, über die Simulation der Funktionen bis hin zur Steuerung der Herstellungschritte leistungsfähige Rechner eingesetzt.40 Der Verzicht auf solche Versuchsaufbauten in diskreter Technik konnte natürlich nicht kostenlos sein. So erforderte bei IBM 1986 die Simulation einer Sekunde Echtzeit eines Rechnersystems 1500 Stunden Laufzeit auf einem Großrechner.41

4. DER MARKT DER MIKROELEKTRONIK Wie beim Transistor ging auch beim integrierten Schaltkreis das Interesse zunächst fast ausschließlich von der militärischen Verwendung aus.42 1961 lieferte Texas Instruments der amerikanischen Air Force einen Kleincomputer, der gegenüber dem Vorgängermodell nur noch etwa 1/50 an Gewicht und 1/150 an Volumen aufwies, bei der 14fachen Zahl von Komponenten. 43 Frühe integrierte Schaltkreise der Bell Laboratories waren für das Raketen-System Nike X bestimmt.44 Wie überhaupt von der Situation der amerikanischen Raketentechnik ein enormer Druck ausging, für die Steuerung von Raketen in großem Umfang elektronische Bauteile einzusetzen. Diese Elektronik mußte die Forderung erfüllen, möglichst leicht zu sein, wenig Raum zu benötigen und einen geringen Stromverbrauch zu haben. Bei den militärischen Interkontinentalraketen rührte diese Forderung daher, daß man den verwundbar erscheinenden großen Steuerungscomputer einer stationären Leitstelle, wie er noch bei der Atlas Rakete Verwendung fand, durch eine mobile Leitstelle und durch einen in der Rakete mitgeführten Bordcomputer ersetzen wollte. 1962 erhielt Texas Instruments im Zuge des Programms zur Schließung der (von John F. Kennedy beschworenen) Raketenlücke gegenüber der UdSSR den Auftrag, für die Umrüstung der Interkontinentalrakete Minuteman eine Gruppe von 22 speziellen integrierten Schalt-

40 41 42 43

44

Vgl. Georg Färber (1991), S. 19 und 21. Vgl. Walter E. Proebster (1986), S. 68f. Vgl. Ernest Braun, Stuart Macdonald (1982), S. 70, 80 und 98. Vgl. ebenda, S. 100; Electronics (1981), S. 84; Michael Eckert, Helmut Schubert (1986), S. 200. Vgl. F. M. Smits, Ed. (1985), S. 106-109.

137

kreisen zu entwerfen und herzustellen.45 Herstellerin des vollständigen Bordrechners war die Teilfirma Autonetics der North American Aviation. Anstelle einer Bodenleitstelle wurde die Minuteman II dann mit Hilfe dieses kompakten, auf integrierten Schaltungen aufgebauten Bordrechners und mit Hilfe einer kleinen mobilen Bodenleitstelle gesteuert.46 In der zivilen Raumfahrt entstand der Zwang zur Miniaturisierung der Elektronik dadurch, daß man den wachsenden Anforderungen an die Technik der Radar-Entfernungsmessung47, an die Fernübertragung großer Datenmengen48 und an die Datenverarbeitung wegen der lang anhaltenden Schwäche der amerikanischen Raketentechnik bei den zur Verfügung stehenden Nutzlasten nur unter Schwierigkeiten begegnen konnte.49 Schon RaumfahrtProjekte der frühen sechziger Jahre, wie etwa das der ersten aktiven Nachrichtensatelliten Telstar I und Telstar II, konnten wegen der begrenzten Nutzlasten der verfügbaren Thor-Delta Trägerraketen nur mit Hilfe (derzeit noch diskreter) Halbleiterbauelemente realisiert werden.50 Selbst im Mondlande-Programm "Apollo", mit dem vergleichsweise ökonomischen LunarOrbit-Rendezvous-Verfahren und unter Verwendung der Saturn-5 Rakete, blieb es bei der Forderung, mit Raum und Gewicht äußerst sparsam umzugehen, wobei diese Forderung allerdings von den zunehmend verfügbaren integrierten Schaltkreisen besonders gut erfüllt werden konnte. So fertigte Philco-Ford Microelectronics für das Lincoln Laboratory des MIT (Massachusetts Institute of Technology) integrierte Schaltkreise für einen Computer im Rahmen des Apollo-Programms.51 Fairchild erhielt den Hauptauftrag der N A S A für den Steuerungscomputer des Appollo-Raumschiffs.52 Dagegen drangen die Festkörperelektronik und insbesondere die integrierten Schaltungen in den USA erst Ende der sechziger Jahre langsam in konsumnahe Produkte vor. Fairchild demonstrierte 1966 mit einem weitgehend transistorisierten Großbild-Fernsehgerät die Möglichkeiten der Halbleitertechnik. Die Radio Corporation of America (RCA) setzte ebenfalls 1966

45 46 47 48

49 50 51 52

Vgl. Electronics (1981), S. 85; Jack Kilby (1976), S. 653. Vgl. Rudolf Lindner, Bertram Wohak, Holger Zeltwanger (1984), S. 141f. Vgl. Herbert Pichler (1969), S. 126, 249 und 287. Vgl. IEEE Spectrum: 25th Anniversary, 1988; hier: Among the Classics. Salient Events, Inventions, Discoveries, Successes, and Triumphs of Man over Matter in this Exciting Quarter Century, S. 76-115, hier: Moonlander, S. 76-82. Vgl. Herbert Pichler (1969), S. 125ff„ 232f. und 249. Vgl. F. M. Smits, Ed. (1985), S. 71-76. Vgl. Electronics (1981), S. 77. Vgl. Alfonso Hernán Molina (1989), S. 58.

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einen integrierten Schaltkreis im Tonteil eines Farbfernsehgerätes ein. Integrierte Schaltkreise steuerten zudem den ersten implantierbaren Herzschrittmacher der Medtronic Inc. in Minneapolis im Jahr 1967 sowie den von Walter L. Engl und Gerhard Weil an der RWTH Aachen entwickelten und im Februar 1968 auf der International Solid-State Circuits Conference in Philadelphia vorgestellten, in puncto Leistungsaufnahme und Frequenzstabilität optimierten Herzschrittmacher. Wenngleich diese Anwendung integrierter Schaltkreise in der Medizin nur einen begrenzten Markt betrafen, so bedeuteten sie doch einen weiteren wichtigen Hinweis auf eine Nutzung außerhalb des militärischen Bereichs und außerhalb der dem Investitionsgüterbereich zugehörigen großen Rechner. 53 Der Weg in die Massenproduktion der "Consumer Electronics" wurde aber nicht in den USA, sondern in Europa und in Japan zuerst beschritten. Schwerpunkt waren hier zunächst die relativ billigen Germanium-Bauelemente. Anders als in den USA spielte die Militärtechnik mit ihrer Bevorzugung der Silizium-Technologie in Europa und in Japan keine entscheidende Rolle als Abnehmerin von Bauelementen der Mikroelektronik. Eine charakteristische Folge des Einstiegs in die Massenproduktion war es wiederum, daß in Japan 1968 bereits 90 % der hergestellten Transistorradios in den Export gingen. 54 Die auffällig lange Innovationsphase des integrierten Schaltkreises und die außerordentlich komplexe Feinstruktur des gesamten Innovationsprozesses im Bereich der Mikroelektronik 55 haben jedoch nicht nur mit dem zunächst eingeschränkten Markt, sondern zudem mit gewichtigen innertechnischen Hemmnissen zu tun. Wie der Transistor hatte der integrierte Schalt-

53

54

55

Vgl. Electronics (1981), S. 129, 131 und 137; Walter L. Engl und Gerhard Weil: An Integrated Pacemaker, in: International Solid-State Circuits Conference in Philadelphia (USA) 1968, Digest of Technical Papers, S. 58f.; Gerhard Weil: Integrierte Herzschrittmacher, Diss. Dr.-Ing., Fak. für Elektrotechnik, RWTH Aachen 1968; Gerhard Weil: Schaltkreistechnik integrierter Herzschrittmacher, in: Elektronik-Anzeiger, 1. Jg., Nr. 1/2, 1969, S. 25-28; vgl. wegen der Nutzung von ICs als Detektoren für frequenzmodulierte Schwingungen in der UKW-Radiotechnik und in der Fernsehtechnik auch Willibald Henne: Empfänger-Elektronik, Heidelberg 1974, S. 180-184. Vgl. Ernest Braun, Stuart Macdonald (1982), S. 170; vgl. dazu auch P. R. Morris (1990), S. 88. Vgl. dazu auch P. R. Morris (1990), S. 86, Abb. 6.4, außerdem Jost Halfmann: Die Entstehung der Mikroelektronik. Zur Produktion technischen Fortschritts, Frankfurt a. M.; New York 1984, S. 125, Abb. II-2, III-3, S. 150.

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kreis mit den Problemen einer sicher steuerbaren Produktion zu kämpfen. 56 Erst nach einer Entwicklungsdauer von acht Jahren beherrschte man ab 1968 die 200 photographischen, chemisch-physikalischen und metallurgischen Prozeßschritte der Halbleitertechnologie in reproduzierbarer Weise. Nur durch vielfältige Prozeßinnovationen konnte also der Weg in die kommerzielle Anwendung der Integrierten Schaltkreise endgültig freigemacht werden. In dieses Bild paßt das Verhalten von IBM. Mit Ferrit-Kernspeicher und mit einer in "Solid Logic Technology", einer Kombination von gedruckten Schaltungen und diskreten Halbleiterbauelementen, ausgeführten Logik, waren die ersten Modelle der seit 1964 hergestellten Rechner des IBM Systems 360 noch deutlich unterhalb der bereits durch die Verfügbarkeit integrierter Schaltkreise markierten technischen Grenze geblieben. 1968 traf IBM die Entscheidung, nach der erstmaligen Verwendung integrierter (von Texas Instruments gefertigter 57 ) Logik-Schaltkreise im Computer IBM 360/85 künftig auch bei Hauptspeichern auf die Technik des integrierten Schaltkreises zu setzen. Den vollständigen Übergang zur monolithischen Halbleitertechnik brachte dann das 1970 angekündigte Modell 145 des neuen Systems IBM 370, bei dem Logik und Hauptspeicher aus integrierten Schaltkreisen aufgebaut waren. 58

5. DIE AUSSTRAHLUNG DER MIKROELEKTRONIK IN DIE TELEKOMMUNIKATION Wesentliche Entwicklungstendenzen auf der ingenieurwissenschaftlichen Ebene in der Nachrichtentechnik seit Ende der dreißiger Jahre waren der Übergang von der analogen Übertragung zur digitalen Übertragung und später das Schließen der digitalen Lücke in der Vermittlungstechnik. Nach militärischen Vorläuferentwicklungen wurde eine wichtige technische Voraussetzung für die digitale Übertragung im zivilen Bereich 1962 von den Bell Laboratories geschaffen, nämlich die Übertragungstechnik nach dem sogenannten Pulscodemodulations-Zeitmultiplex-Verfahren. Pulscodemodulation 56 57 58

Vgl. Emerson W. Pugh, Lyle H. Johnson, John H. Palmer: IBM's 360 and Early 370 Systems, Cambridge, Mass.; London 1991, S. 442. Vgl. Emerson W. Pugh, Lyle H. Johnson, John H. Palmer (1991), S. 440. Vgl. Walter E. Proebster (1986), S. 37; Emerson W. Pugh, Lyle H. Johnson, John H. Palmer (1991), S. 424-442 und 469-475; vgl. wegen der allgemeinen Entwicklung auch Jost Halfmann (1984), S. 157.

140

bedeutet, daß ein analoges Tonsignal, wie es etwa von einem Mikrophon geliefert wird, in gleichen zeitlichen Abständen und mit hoher Frequenz größer oder gleich der doppelten Maximalfrequenz des Signals - abgetastet wird. Die bei jeder Abtastung gewonnenen Zahlenwerte für die Amplitude des Signals werden mit Hilfe binärer Zahlen kodiert und schließlich als Folge von binären Impulsen übertragen. Zeitmultiplexen bedeutet, daß bei der Mehrfachübertragimg von Nachrichten jedem einzelnen Nachrichtenkanal immer nur für eine begrenzte Zeitdauer der volle Übertragungsweg offensteht, er also innerhalb dieses kleinen Zeitfensters den verschlüsselten Zahlenwert für die Amplitude des Tonsignals übermitteln muß. Ähnlich wie die digitale Übertragungstechnik zeigte auch die digitale Vermittlungstechnik eine überraschend lange Innovationsphase, zumal die digitale Vermittlungstechnik erst Ende der siebziger Jahre mit Blick auf zukünftige diensteintegrierende digitale Netze auf breiter Front in die zivile Anwendung eindrang. Einmal kam hier zum Tragen, daß die ausgedehnten zivilen Kommunikationsnetze sehr viel komplexer als die relativ begrenzten militärischen Netze waren. Zum anderen zeigte sich hier erneut, wie stark Forschung und Entwicklung durch militärische Interessen gefördert und vielfach auch gelenkt werden. Schließlich wird hinter der charakteristisch gestuften Realisierung der digitalen Technik die Geschichte der Halbleitertechnik erkennbar. Zunächst waren die teuren Halbleiterelemente oft nur rentabel, weil sie den speziellen Forderungen der militärischen Verwendung entgegenkamen. Mit der breiten Verfügbarkeit hochintegrierter, schneller Schaltkreise, mit der wachsenden Kapazität von Speichermedien und mit der raschen Leistungssteigerung von Mikroprozessoren wurde dann seit 1980 eine kräftige industrielle Entwicklung einheitlicher digitaler Übertragungsund Vermittlungstechniken eingeleitet. Mit einer radikalen politischen Entscheidung gab die Deutsche Bundespost 1979 das bereits mit hohem Aufwand eingeführte Elektronische Wählsystem (EWS) auf und entschied sich entsprechend der Tendenzen in der internationalen Telekommunikation - für die Einführung der digitalen Vermittlungstechnik.59

Vgl. Robert J. Chapuis, und Amos E. Joel, Jr.: Electronics, Computers and Telephone Switching, A book of technological history as Volume 2: 1960-1985 of "100 years of telephone switching", Amsterdam; New York; Oxford 1990, S. 215.

141

6. DAS EINDRINGEN DER MIKROELEKTRONIK IN DIE AUTOMATISIERUNGSTECHNIKEN DER PRODUKTION Das Ausstrahlen der Mikroelektronik auf die Entwicklung der elektronischen Datenverarbeitung, umgekehrt der ungeheure Sog, den dann die elektronische Datenverarbeitung in ihrer industriellen Dimension auf die Entwicklung der integrierten Schaltkreise ausgeübt hat, zeigte bereits einen wichtigen Wechselwirkungsprozeß in der Entwicklung der Hochtechnologie seit den siebziger Jahren. Dabei ging es nicht nur um eine wechselseitige Steigerung der Produktionszahlen, sondern - in Gestalt computergestützter Entwurfs- und Simulationsverfahren - um die in einem tiefreichenden Rückkopplungsprozeß ablaufende Parallelentwicklung von Mikroelektronik und Datenverarbeitung. Die Informationstechniken und die Kommunikationstechniken begannen spätestens nachdem sie in Gestalt digitaler Übertragungs- und Vermittlungstechniken technologisch niveaugleich geworden waren, regelrecht zu verschmelzen. Aber auch die Seite der Produktionstechnik war seit den 70er Jahren geradezu durchdrungen von Elementen der Mikroelektronik und der elektronischen Datenverarbeitung. Und anders als in der Frühindustrialisierung, als etwa fortgeschrittene Maschinen für den Fabrikbetrieb zunächst in überkommener handwerklicher Produktionsweise gefertigt wurden, erreichte nun die Produktionstechnik, insbesondere auch die Fertigungstechnik, ein Niveau, das dem der übrigen Hochtechnologie vollständig entsprach. Dies zeigte sich besonders in der breiten Nutzung von Informationstechnologien in der Computerindustrie selbst. 60 Rechner, beziehungsweise Mikroprozessoren, dienen heute aber ganz allgemein im Sinne von CAD-Verfahren (Computer Aided Design) zur Konstruktion und Simulation geometrisch und funktionell anspruchsvoller Produkte. In der Fertigung steuern Mikroprozessoren CNC-Werkzeug-Maschinen (Computerized Numerical Control), wobei hier die flexible Serienfertigung bis hinab zu kleinsten Stückzahlen entscheidend ist. Rechner helfen bei Großaufträgen mit knappen Zeitplänen Betriebsdaten (Zeitdaten, Fertigungsdaten, Qualitätsdaten) zu erfassen. Schließlich zeichnet sich in Ansätzen ab, Konstruktion, Entwicklung, Arbeitsvorbereitung und Fertigung mit Hilfe von Rechnern und aufgrund von Datenbanken mit technischen und betrieblichen Inhalten im CIM-Verfahren (Computer Integrated Manufacturing) zusammenzufassen. Während jedoch bei den computerunterstützten Verfahren von CAD bis CIM heute noch eine deutli60

Vgl. Walter E. Proebster (1986), S. 217ff.

142

che Lücke zwischen dem Stand der Technik und der tatsächlichen betrieblichen Nutzung besteht, ist seit den sechziger Jahren bei der Steuerung von Werkzeugmaschinen und bei der Steuerung komplexer industrieller Prozesse die Verwendung von Mikroelektronik und elektronischer Datenverarbeitung Realität. Ihre Herkunft aus der Fertigungstechnik der amerikanischen Luftfahrtindustrie, die durch die elektronischen Steuerungen verursachten hohen Kosten sowie die anhaltenden Probleme bei der Programmierung und bei der Bedienung standen anfänglich einer raschen Einführung der NC-Maschinen (von Numerical Control) als universelle Werkzeugmaschinen entgegen.61 Charakteristisch war hier, daß 1955 auf der Werkzeugmaschinenausstellung der "National Machine Tool Builders Association" in Chicago gerade erste praktische Anwendungen numerischer Steuerungen für Werkzeugmaschinen erkennbar waren. 1960 hatte sich die Situation jedoch grundlegend gewandelt. Unübersehbar beherrschten nun die numerisch gesteuerten Maschinen das Bild der Ausstellung in Chicago. 35 (der insgesamt 152) Aussteller zeigten bereits 69 numerisch gesteuerte Maschinen: Bohrmaschinen, Drehmaschinen, Fräsmaschinen, Schleifmaschinen und Positionierungstische. In Europa mußte die Ausstellung von Chicago 1960 als ein Signal verstanden werden, sich nun ebenfalls ernsthaft mit der Technik der NC-Maschinen zu befassen. Sowohl auf der Seite der Hersteller, als auch auf der Seite der industriellen Anwender blieben die USA jedoch führend. So spezialisierten sich etwa General Electric und Bendix Aviation Corporation auf den Bau von numerischen Steuerungen, wobei diese Steuerungen zunächst in der robusten Relaistechnik realisiert wurden. Das Wechselspiel von höheren Vorschubgeschwindigkeiten, stärkeren Antriebsmotoren, besserer Ausnutzung hochwertiger Werkzeuge und konstruktiver Weiterentwicklung der gesamten Maschinen machte in den USA die NC-Maschinen bald so attraktiv, daß sie Anfang der sechziger Jahre in Stückzahlen von mehreren Tausend im industriellen Einsatz waren. Ein

61

Vgl. hierzu und zum Folgenden Günter Spur: Vom Wandel der industriellen Welt durch Werkzeugmaschinen, Eine kulturgeschichtliche Betrachtung der Fertigungstechnik, Herausgegeben vom Verein Deutscher Werkzeugmaschinenfabriken e.V. zu seinem 100jährigen Bestehen, München und Wien 1991, S. 511-573. - Vgl. zu der These, nicht technische und wirtschaftliche Motive seien für die Durchsetzung der NC-Maschinen entscheidend gewesen, sondern die Absicht des Managements, die Facharbeiter zu degradieren: David F. Noble: Maschinenstürmer, oder Die komplizierten Beziehungen der Menschen zu ihren Maschinen [1985], Berlin 1986, 98-132.

143

Schwerpunkt der Verwendung war aber nach wie vor die Flugzeugindustrie und allgemein die Rüstungsproduktion. In der Bundesrepublik blieb die Entwicklung von NC-Werkzeugmaschinen durch die vom Markt der Nachkriegszeit ausgehende Forderung nach Großserienproduktion und durch die entsprechende Nachfrage nach konventionellen Werkzeugmaschinen deutlich zurück. Ab Mitte der fünfziger Jahre wurden jedoch an der RWTH Aachen und an der TH Darmstadt erste numerisch gesteuerte Werkzeugmaschinen entwickelt. Auf der Hannover-Messe von 1960 präsentierte dann eine ganze Reihe deutscher Hersteller von Werkzeugmaschinen numerisch gesteuerte Maschinen, wobei jedoch die Zahlen noch deutlich hinter der Ausstellung in Chicago im selben Jahr zurückblieben. Von Bedeutung war aber besonders eine Walzenkalibrier-Drehmaschine der Waldrich GmbH in Siegen. Sie war einmal mit einer von der AEG in Berlin entwickelten Bahnsteuerung ausgestattet. Bahnsteuerung bedeutet, daß das Werkzeug nicht mehr nur von Eingriffspunkt zu Eingriffspunkt vorrückte (Punktsteuerung) oder, im Eingriff bleibend, parallel zur Werkstück-Achse geradlinig bewegt - "verfahren" - wurde (Streckensteuerung), sondern entlang beliebiger Kurven und im Eingriff bleibend auf seiner Bahn geführt wurde. Dieses aufwendige Bahnsteuerungsverfahren war mit Blick auf die Herstellung von Flugzeug-Integralteilen schon zu Beginn der Entwicklung am MIT (Massachusetts Institute of Technology) ausgearbeitet worden. Allerdings wurde bei der NC-Drehmaschine der Waldrich GmbH das Steuerungsgerät mit seinem Digital-Analog-Umsetzer schon in Transistor-Technik realisiert. Damit deutete sich bei der Steuerung industrieller NC-Maschinen ein rascher und direkter Übergang von der elektromechanischen RelaisTechnik zur elektronischen Halbleitertechnik an, also eine Entwicklung, die den in der Computertechnik entscheidenden, im Maschinenbau aber problematischen Zwischenschritt der Röhrentechnik übersprang. Die für die Ausstrahlung der Mikroelektronik in die Datentechnik und in die Kommunikationstechniken zu beobachtende Tendenz, nämlich die Reaktion auf Leistungssteigerung und Preisrückgang von Bauelementen, bestimmte auch die Verwendung der Mikroelektronik bei der weiteren Automatisierung der Produktionsprozesse. So wurden seit Ende der sechziger Jahre in England und in den USA erste Werkzeugmaschinen mit Rechnerdirektsteuerung, die sogenannten DNC-Maschinen (von Direct Numerical Control), entwickelt. Bei den NC-Maschinen wurde der Rechner lediglich dazu benutzt, Programme für komplizierte Geometrien von Werkstücken und für bestimmte technologische Randbedingungen (Drehzahlen, Werkzeuge) zu erstellen.

144

Die Programme wurden auf Zwischenträger, etwa auf das Speichermedium des Lochstreifens, übertragen. Erst mit Hilfe solcher Lochstreifen wurde dann die numerische Steuerung der Maschine in Gang gesetzt. Beim DNCVerfahren wurden die Rechner dagegen nicht nur zur Programmerstellung, sondern auch zur direkten Eingabe des Bearbeitungsprogramms an die numerische Steuerung herangezogen. Ein besonderer wirtschaftlicher Anreiz war dabei, den Rechner als zentrales, aus der Fertigungshalle herausgenommenes und insofern besser geschütztes Steuerungsinstrument für mehrere Fertigungseinheiten einzusetzen. Typische DNC-Rechner Anfang der siebziger Jahre erlaubten so den Anschluß von etwa zehn bis weit über hundert Maschinen, wobei allerdings die ausgeführten Anschlüsse die Zahl zwanzig nicht überschritten. Vor allem blieb die wirtschaftliche Bedeutung gering. Wegen der hohen Kosten und wegen des typischen Nachhinkens der Programm-Entwicklung konnten sich die DNC-Maschinen zunächst in der industriellen Anwendung nicht durchsetzen. Erst die weitere Verbesserung der Rechnertechnik, zunächst in Gestalt leistungsfähiger Minicomputer, insbesondere aber durch die Verfügbarkeit der ersten industriell verwendbaren Mikroprozessoren im Jahr 1975, brachte dann für die neuen durch interne Mikroprozessoren gesteuerten CNC-Maschinen (von Computerized Numerical Control) den Durchbruch. Seit 1971/1972 hatte sich die Integrationsdichte in der Halbleitertechnik soweit erhöht, daß es möglich geworden war, sämtliche Bauelemente und Leiterbahnen für die komplexen Schaltkreise eines Rechners auf einem Chip zu vereinigen. Da die Mikroprozessoren der internen CNC-Steuerungen seit Anfang der achtziger Jahre mit einer Wortbreite von 32 Bit 62 die Leistungsfähigkeit großer externer Rechner erreicht hatten, wurde es prinzipiell möglich, die Programmierung der Steuerung mit Hilfe neuer Programmiersysteme in einem interaktiven Dialog zwischen Rechner und Bedienungspersonal im Werkstattbetrieb durchzuführen und die einzelnen Maschinen durch automatische Fördersysteme für Werkstücke und durch automatische Werkzeugwechsel in vollständigen Fertigungszellen zu integrieren. Dabei konnte durch die verbesserte Meßtechnik die Fertigungsgenauigkeit verbessert, der Verschleiß von Maschine und Werkzeug reduziert und trotzdem die Arbeitsgeschwindigkeit gesteigert werden.

62

Mit der in "Bit" gemessenen "Wortbreite" wird die Anzahl der kleinsten Einheiten der Information angegeben, die gleichzeitig vom Prozessor verarbeitet werden können.

145

Die durch die Mikroelektronik induzierte Beschleunigung der Automatisierung ist aber kein hinreichendes Argument für die Erklärung von Fortschritt und wirtschaftlichem Erfolg. Sehr deutlich haben amerikanische Untersuchungen der seit den siebziger Jahren sprunghaft gestiegenen Produktivität der japanischen Automobilindustrie gezeigt 63 , daß es nicht allein die Fertigungstechnik war, die die hohe Produktivität bestimmte, sondern vornehmlich die Art und Weise, wie die Produktion organisiert wurde und wie die Arbeitnehmer in der Produktion geführt wurden. Demnach waren es nicht nur der höhere Automatisierungsgrad, die stärkere Nutzung von Rechnern und die Berücksichtigung der Fertigungsprobleme in der Konstruktionsphase, sondern die bessere Qualitätssicherung, die größere Einsatzflexibilität der Arbeiter, die geringeren Fehlzeiten und besonders der höhere Nutzungsgrad der Maschinen und Anlagen, die als wesentliche Faktoren zur Erhöhung der Produktivität beigetragen haben. Selbst die Verwendung der in der Öffentlichkeit immer als besonders spektakulär empfundenen Industrie-Roboter, die vorwiegend in der Automobilindustrie und hier insbesondere beim Punktschweißen, Entgraten und Beschichten im Karosserierohbau verwandt werden, zeigte weniger zahlenmäßige Unterschiede 64 als eine andere Einbettung in das Produktionsmanagement. Während im Westen die an sich sehr flexiblen Roboter oft auf unwirtschaftliche Weise während der Laufzeit eines Automodells als Einzweckanlage genutzt wurden, schöpften die japanischen Hersteller seit Anfang der achtziger Jahre die Möglichkeiten der speicherprogrammierbaren Roboter zwar nicht vollständig, aber doch bedeutend besser aus als die westlichen Konkurrenten.

63

64

Vgl. Ulrich Jürgens, Thomas Malsch und Knuth Dohse: Moderne Zeiten in der Automobilfabrik, Strategien der Produktionsmodernisierung im Länder- und Konzernvergleich, Berlin; Heidelberg 1989, S. 33-45. Vgl. ebenda, S. 52. Allerdings ist bei solchen zahlenmäßigen Vergleichen wegen unterschiedlicher Achsenzahlen Vorsicht geboten! Vgl. außerdem als Reaktion der deutschen Autoindustrie: [IBM]: Produktionsanlagen am Bildschirm entworfen, CAD/CAM-Unterstützung für den Industrieroboter-Einsatz, in: IBM Nachrichten, 41. Jg. (1991), Heft 304, S. 24-30.

146

7. SILICON VALLEY, ODER EIN NEUER TYP VON UNTERNEHMEN Wie schon einzelne Firmennamen angedeutet haben, trug die auf der Halbleitertechnik beruhende Mikroelektronik zur Entstehung einer neuen Industriestruktur in den USA bei. Die Grundlagenforschung und die Anfangsentwicklung der Halbleitertechnik wurden zwar noch von den großen Elektrokonzernen und den traditionellen Herstellern von Elektronenröhren getragen. Die Großindustrie konnte aber nicht verhindern, daß durch die Abwanderung von Mitarbeitern technisches Wissen in neugegründete Firmen, in "Spin-Offs" 65 , überging, und daß diese jungen Firmen sich ihren Teil der staatlichen Förderungsmittel und des verfügbaren privaten Kapitals sicherten. So war es zunächst der Raum New York und Boston mit seiner Konzentration von technischem Wissen, technischer Infrastruktur und Venture-Kapital, der die Gründung der ersten spezialisierten Halbleiterfirmen erlebte. Mit Shockleys 1955 in der Nachbarschaft von Stanford gegründetem Transistor-Labor in Palo Alto, einem Spin-Off der Bell Laboratories, deutete sich jedoch eine Verlagerung des Schwerpunkts an die Westküste an. Vor allem die Meßtechnik-Firma Fairchild, deren neues Engagement in der Halbleitertechnik 1957 durch die Abwanderung führender Mitarbeiter aus Shockleys Labor zustande gekommen war, löste eine regelrechte Gründungswelle aus. Die neuen Halbleiterfirmen siedelten sich vielfach auf engstem Raum im Santa Clara County südlich von San Francisco an, und in Anspielung auf den führenden Grundstoff der Halbleitertechnik, das Silizium (engl. Silicon), erhielt diese mit Hightech-Firmen schließlich regelrecht übersäte Region den Namen Silicon Valley. 66 Dabei wird die Entstehung des Silicon Valley weniger mit der Ausstrahlung der festkörperphysikalischen Grundlagenforschung an den renommierten Universitäten von Stanford und Berkeley begründet, als mit der landschaftlichen Attraktivität der Bay Area, mit den Vorteilen eines ReinluftGebiets, mit der Präsenz von Zulieferern, mit der Verfügbarkeit von RisikoKapital in San Francisco und nicht zuletzt mit der Mobilität der in der Halbleitertechnik tätigen Menschen. Die zunehmend technologisch, von der Produktion geprägten Probleme der Festkörperelektronik67 konnte offenbar innerhalb dieser sich zugleich verdichtenden und innovativ bleibenden indu-

65 66 67

Alfonso Hernán Molina (1989), S. 59, Figure 17. Vgl. P. R. Morris (1990), S. 72-94. Vgl. ebenda, S. 86-91; Ernest Braun, Stuart Macdonald (1982), S. 128.

147

striellen Umgebung besonders gut gelöst werden, also ohne ein unmittelbares Zusammenwirken mit den großen Universitäten. Die Tatsache, daß von den 1976 bestehenden 25 Firmen 24 wenigstens einen Gründer auf Fairchild zurückführen, zeigt die innovative Kraft dieses Herstellers. Zum anderen deutet sich hier an, daß die in Gestalt fortgesetzter "Zellteilungen" ablaufenden Neugründungen mit einer enorm hohen Fluktuation unter den kreativen Mitarbeitern einhergingen. Der berufliche Weg von Robert Noyce, der von Shockley Transistor kam, zu Fairchild wechselte und schließlich Mitgründer von Intel (Integrated Electronics) wurde, ist ein typisches Beispiel. Die anfängliche Goldgräberstimmung ist aber heute verflogen. Ein großer Teil der ursprünglichen Firmen hat seine Selbständigkeit wieder verloren. Dies hat mit den hausgemachten ökologischen Problemen, die von den metallurgisch-chemischen Halbleiterprozessen ausgehen, zu tun, auch mit dem Schrumpfen des militärischen Marktes. Außerdem entwickelten sich entgegen dem allgemeinen Trend zur Bildung von "skill-clusters" - geographisch isolierte Firmen, wie Texas Instruments in Dallas und Motorola in Phoenix (Arizona) durchaus erfolgreich. Hinzu kamen die Entstehung einer Halbleitertechnologie in Ländern außerhalb der USA, die rasch wachsende Produktivität der japanischen und koreanischen Chip-Hersteller und der zumindest teilweise - von dieser Konkurrenzsituation ausgehende Preisverfall. 68 Allenfalls die von Robert Noyce mitgegründete Firma Intel besitzt heute als weltgrößter Hersteller von Mikroprozessoren (insbesondere für Personal Computer) eine herausragende Position. Wie andere amerikanische Hersteller, etwa Motorola und Zilog, ist jedoch auch Intel seit Mitte der achtziger Jahre in zahlreichen amerikanisch-japanischen Kooperationen eingebunden. 69 Die Entwicklung von integrierten Schaltungen mit zunehmender Dichte der auf einem Chip vereinigten Bauelemente und Funktionen hatte es ermöglicht, seit Mitte der sechziger Jahre zunächst Speicher und dann auch ganze Rechnereinheiten und die zugehörigen Steuerwerke auf einem einzigen Chip unterzubringen. Intel, seit 1968 in Palo Alto ansässig, eröffnete diese Entwicklung mit der Produktion eines Speicherchips, wenig später gefolgt von dem weltweit ersten Mikroprozessor Intel 4004 mit einer Wortbreite von 4 Bit. Entworfen wurde dieser Software-programmierbare Mikro68

69

148

Vgl. Ernest Braun, Stuart Macdonald (1982), S. 155ff., 169 und 171; Jost Halfmann (1984), S. 155f. Vgl. Alfonso Hernán Molina (1989), S. 137.

Prozessor samt seiner Einbettung in dynamische Speicher von Marcian E. (Ted) Hoff. Unter der Bezeichnung "mikroprogrammierbarer Computer auf einem Chip"70 wurde der Prozessor am 15. November 1971 vorgestellt. Die vollständige Chip-Familie erhielt die Kurzbezeichnung MCS-4. Bereits im April 1972 folgte der zeitlich überlappend entwickelte 8 Bit-Mikroprozessor 8008. Den Standard im Bereich der Mikroprozessoren setzte Ted Hoff dann 1973 mit dem Prozessor 8080, einem 8 Bit-Rechner, der Mitte der siebziger Jahre Eingang in die ersten "Heimcomputer" fand. Auch hier wurde durch neue Firmen, entstanden zum Teil durch Abwanderung von Intel-Mitarbeitern, seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre eine Lawine in der Entwicklung der Leistung losgetreten. Intels Position wurde dadurch aber nicht gefährdet. Dem 8080 folgten seit 1978 die 16 BitProzessoren 8086 und 80286, 1981 führte Intel den 32 Bit-Prozessor 8036 ein. Machte der 1984 eingeführte Mikroprozessor 80386 noch 1987 bei der Vorstellung des neuen IBM Personal Computer System/2 das Modell 80 zum "Flaggschiff' der Reihe, repräsentiert der Prozessor 80486 heute (1995) den Mindeststandard in der Ausstattung von PCs. Und obwohl die Abstimmung von Prozessorleistung, Rechnerarchitektur, Betriebssystem und Anwendungsprogrammen noch keinesfalls optimal ist, haben sowohl Intel als auch die konkurrierenden Firmen bereits die nächste Generation von Mikroprozessoren auf dem PC-Markt plaziert. Mit der Verwendung dieser auf hochintegrierten Schaltkreisen beruhenden Mikroprozessoren sind heutige Personal Computer jedenfalls in ihrer Leistung mit den vor etwa zehn Jahren benutzten Rechnern der mittleren Datentechnik vergleichbar.71 Unterstützt wurde diese Entwicklung durch die seit Mitte der achtziger Jahre deutlich verbesserten Speicherkapazitäten der Festplatten, durch die Bereitstellung von Halbleiter-Arbeitsspeichern in der Größenordnung einiger Megabit seit 1990 und durch das Eindringen der Compact Disk als Speichermedium.

8. ENTWICKLUNGSPHASEN DER HALBLEITERINDUSTRIE Die rein technische Entwicklung und die Erwartungshaltung der Industrie suggeriert einen unaufhaltsamen Aufschwung der als "Schlüsseltech70

Der zusammenfassende Begriff "Mikroprozessor" wurde erst seit 1972 benutzt. Vgl. Ernest Braun, Stuart Macdonald (1982), S. 108.

71

Vgl. ebenda, S. 106-113; c't, magazin für Computertechnik, Juni 1987, S. 28.

149

nologie" apostrophierten Mikroelektronik.72 Wirtschaftlich war der in Gestalt von Leistungsdaten beschreibbare Fortschritt der Mikroelektronik jedoch keinesfalls eine reine Erfolgsgeschichte, auch nicht bei den "Siegern" USA und Japan. Auf die innertechnischen Hemmungen und auf die Zwänge, durch Prozeßinnovationen und durch Verbesserungen im Design den technischwirtschaftlichen Erfolg der Innovation "Transistor" zu sichern, wurde bereits hingewiesen, insbesondere auf den Übergang von den diskreten Bauelementen zum integrierten Schaltkreis. Obwohl rascher und unauffälliger vollzogen, gehört der Übergang vom speziellen Einzweck-Chip zum universellen programmierbaren Mikroprozessor ebenfalls in diesen Zusammenhang, auch die Ablösung der extrem aufwendig gewordenen "Handarbeit" beim Design von Chips durch rechnergestützte Verfahren.73 Jost Halfmann74 hat zudem drei charakteristische Phasen der quantitativen Entwicklung der Halbleiterindustrie unterschieden, nämlich die Reifungsphase der Halbleiterindustrie (1948-1960) bis etwa zur Entwicklung der ersten integrierten Schaltkreise, dann die Depressionsphase (1960-1963), gekennzeichnet durch den Rückgang der militärischen Aufträge, durch Rezessionserscheinungen, internationale Konkurrenz, Preisverfall sowie durch den "Stau" der noch nicht am Markt durchgesetzten integrierten Schaltkreise75 und schließlich, seit der Beherrschung der Technologie und der Markteinführung der integrierten Schaltkreise, die Normalisierungsphase mit ihrem kontinuierlichen Anstieg der verkauften Halbleiterbauelemente um jährlich 25%, unterbrochen allerdings von Rezessionen in den Jahren 1966/67,1969/70 und 1975/76. Kehrt man wieder zur Technik der Großrechner zurück, so kann man als Folge der wachsenden Bedeutung der kommerziellen Datentechnik und auch als Reaktion auf das fatale Ende des Vietnam-Kriegs feststellen, daß die Ausgaben für die militärische Rechnertechnik in den USA in den siebziger Jahren stark abnahmen. In den achtziger Jahren, vollends nach der Propagierung des SDI-Programms (Strategie Defense Initiative), kehrte sich jedoch dieser Trend zum Teil wieder um. Das erklärte Ziel war, die militärische Stärke der USA zu erhalten und gleichzeitig die amerikanischen Mikroelektronik- und Rechner-Hersteller - nun im Wettbewerb mit Japan - wieder in eine führende Position auf den kommerziellen Märkten zu bringen. Pro-

72 73 74 75

Vgl. [Siemens AG]: Zum Thema Mikroelektronik. Wirtschaft, Arbeitswelt, Anwendung, Firmenschrift Nr. A19100-F1-A6-V3, 37 Seiten, S. 1 und pass. Vgl. Ernest Braun, Stuart Macdonald (1982), S. 108f. und 119f. Vgl. Jost Halfmann (1984), S. 155-156 und ff., Abb. S. 157. Vgl. Ernest Braun, Stuart Macdonald (1982), S. 87.

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gramme zur Entwicklung sehr schneller, höchstintegrierter Schaltkreise, ein "strategisches" Rechner-Programm (aufbauend auf Galliumarsenid-Chips und gezielt auf Parallelverarbeitung) und ein Programm zur Entwicklung der computergestützten Produktion sollten dieser Doppelstrategie dienen. 76 Im Rahmen des SDI-Programms zum Aufbau eines im Weltraum stationierten Defensivsystem, das auch Atomraketen zerstören sollte, wurden neben der enormen Fortentwicklung der Radar- und Lasertechnik eben auch Technologiesprünge in der Datenverarbeitung geplant. Gefordert waren hier Computer, die in einer Sekunde eine Billion (10 12 ) Rechenoperationen durchführen 77 , wobei um 1990 die erreichten Rechengeschwindigkeiten bei etwa 108 Additionen in einer Sekunde lagen. Zum Hintergrund der mit dem amerikanischen SDI-Programm verbundenen forschungspolitischen Initiativen gehört das Gleichziehen der großen japanischen Hersteller mit IBM. Dies läßt sich zu einem gewissen Teil auf einen singulären Transfer von technischem Wissen nach Japan zurückführen. Gene M. Amdahl, Leiter des Entwicklungsteams des ersten kommerziell bedeutenden Universalrechners IBM 704, hatte 1970 IBM verlassen, um in einer eigenen Firma, aufbauend auf der Architektur der Serien IBM 360 und 370 leistungsfähigere und zugleich preisgünstigere Rechner zu bauen. Als Amdahl in finanzielle Schwierigkeiten geriet, sah er sich gezwungen, einen Teil seiner Firma an Fujitsu zu verkaufen und im Gegenzug Fujitsu technisches Wissen zugänglich zu machen. 78 Dabei übernahm Fujitsu nicht nur kontinuierlich technisches Wissen, sondern vor allem auch das unternehmerische Konzept Gene Amdahls, nämlich beim Bau IBM-kompatibler Rechner in offensiver Weise technologisch fortgeschrittene Komponenten zu verwenden, um damit das Preis-Leistungs-Verhältnis neuer Rechner von IBM rasch wieder zu überbieten. Hinzu kam - und dies sollte für die Entwicklung bis heute immer bedeutender werden - ein durch das Ministry of International Trade and Industry (MITI) in den Jahren 1976 bis 1979 gefördertes, mit Staats- und Industriemitteta ausgestattetes Forschungsprogramm im Bereich der Halbleitertechnik. Mit Hilfe dieses Forschungsprogramms gelang es Fujitsu, Hitachi, Mitsubishi, Nippon Electric und Toshiba, sich die in vielen Einzelschritten ablaufenden technologischen Prozesse anzueignen, die zur Herstellung höchstintegrierter Schaltkreise, der VLSI-Technik (Very Large Scale Integration), erforderlich sind. Mit diesem VLSI-Programm, zu 76 77 78

Vgl. Alfonso Hernán Molina (1989), S. 70ff. Vgl. Rolf Kreibich (1986), S. 740. Vgl. Kenneth Flamm (1988), S. 195.

151

dem auch die Entwicklung hochauflösender lithographischer Verfahren und Elektronenstrahlschreib-Verfahren zählte, wurden die japanischen Halbleiterhersteller in die Lage versetzt, besonders bei den sogenannten dynamischen RAM-Chips (von Random Access Memory, d.h. Schreib-LeseSpeicher für die Zentraleinheit des Rechners), auch in den USA einen bedeutenden Marktanteil zu erringen. Was die Front der technischen Entwicklung angeht, so hat die japanische Halbleitertechnik aus dem Rückstand von einem Jahr, den sie bei RAM-Chips bis etwa 1975 hatte, bereits 1982 einen Vorsprung von einem Jahr gemacht.79 Das VLSI-Programm legte damit den Grundstein für die herausragende Rolle, die die japanische Computerindustrie auf dem Markt der IBM-kompatiblen Rechner heute spielt. Nach den USA nimmt sie den zweiten Platz ein. Aus der Sicht der frühen neunziger Jahre erschien es also zweifelhaft, ob die in den USA gesetzten industriepolitischen Ziele des SDI-Programms erreicht werden können. Blickte man auf die Verluste von IBM 1991 und 1992, auf die weltweite Flaute im Rechnergeschäft und auf den Preisverfall in den Bereichen Personal Computer und Unterhaltungselektronik, mußte man insgesamt die Jahre 1991 bis 1993 den mageren Jahren der Mikroelektronik hinzufügen. Die seit 1990 zu beobachtenden strategischen Kooperationen, etwa die von IBM und Siemens bei der Entwicklung des 64 MegabitSpeicherchips, oder die 1992 vereinbarte Kooperation von IBM, Siemens und Toshiba bei der Entwicklung des 256 Megabit-Speicherchips, deuteten ebenfalls auf die - möglicherweise nun globalen - Wachstumsgrenzen der Mikroelektronik hin. Obwohl hier Subventionen eine bedeutende Rolle spielen, war jedoch die Entscheidung von Siemens, den erst Mitte 1992 verkündeten Verzicht auf eine eigene Produktion des 64 Megabit-Speicherchips zu widerrufen und in Dresden eine Chip-Fabrik zu bauen, ein Hinweis auf das steigende Selbstbewußtsein in Europa und auf eine erneute Besserung der Großwetterlage in der Mikroelektronik. Neueste Trendanalysen des VDE (Verband Deutscher Elektrotechniker) zur Hannover Messe 1994 prognostizieren in der Tat weltweit ein weiteres Anwachsen des Verbrauchs von 77,4 Milliarden Dollar im Jahr 1993 auf rund 160 Milliarden Dollar im Jahr 2000, wobei die Halbleiterindustrie der USA aus der wieder erkämpften Führungs-

79

Vgl. Alfonso Hernán Molina (1989), S. 91.

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Position heraus ins Rennen um die Marktanteile geht 8 0 , aber auch Siemens nach vielen Jahren wieder schwarze Zahlen im Halbleiterbereich schreibt. 81

80

81

Vgl. [VDE]: VDE stellt neue Trendanalyse Mikroelektronik vor. USA größter Produzent, in: twv, Mitteilungen Technisch Wissenschaftlicher Vereine Aachen, 22. Jg., Nr. 9, September 1994, S. lf. Dietmar H. Lampartner: Bausteine für den Profit: in: Die Zeit, Nr. 33, 11. August 1995, S. 16. 153

"Theuerster Onkel!" Rudolf und Gustav Böcking in Briefen an Carl Friedrich Stumm 1 8 3 2 - 1835 Zum Qualifikationserwerb der frühindustriellen Unternehmerschaft VON TONI PIERENKEMPER

In den nachfolgenden Ausführungen möchte ich mich insbesondere auf drei Themenkomplexe konzentrieren. Erstens möchte ich die Bedeutung der Familie Böcking insgesamt und der beiden von mir besonders hervorgehobenen Familienmitglieder Rudolf (1810- 1871) und Gustav (1812- 1893) im Umfeld der sudwestdeutschen Eisenindustrie im Hunsrück und an der Saar charakterisieren. Danach möchte ich zweitens auf das Studium der beiden als eine Form der Vorbildung für unternehmerische Aufgaben im frühen 19. Jahrhundert und dabei insbesondere auf die Studienplanung der Brüder, die in enger Abstimmung mit der Familie erfolgte, eingehen. Schließlich möchte ich dann drittens "Reisen" als eine Möglichkeit der Informationsgewinnung von industriellen Unternehmern akzentuieren und dabei einige Reisen der benannten beiden Personen in den Jahren 1832 bis 1835 nach Oberschlesien besonders betrachten. Ich möchte der Frage nachgehen, in welcher Weise die Briefe, die sie während dieser Reisen an ihren Onkel, den saarländischen Eisenindustriellen Carl Friedrich Stumm, geschrieben haben, mit zum Technologietransfer zwischen Oberschlesien und der Saarregion beigetragen haben.

I. Die Familien Böcking und Stumm waren im 19. Jahrhundert auf zweierlei Weise eng miteinander verbunden, durch verschiedentliche Heirat

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untereinander sowie durch zahlreiche gemeinsame Geschäftsprojekte. Beide Familien lassen sich weit bis ins 16. bzw. 17. Jahrhundert zurückverfolgen. Sie waren im südwestdeutschen Raum ansässig und beider Vorfahren arbeiteten dort zunächst als Schmiede.1 Eine erste familiäre Verbindung beider Familien ergibt sich jedoch erst Anfang des 19. Jahrhunderts durch die Heirat Heinrich Böckings (1785-1862) mit Charlotte Henriette Stumm ( 1 7 9 5 1832), der Tochter des Hüttenbesitzers Friedrich Philipp Stumm (1751 — 1835) auf Abentheuerhütte im Fürstentum Birkenfeld im Jahre 1809. Dieser Heinrich Böcking2 war bei seiner Verheiratung ganze vierundzwanzig Jahre und sicher nicht in den glänzendsten Vermögensverhältnissen, weshalb es ein wenig verwunderlich bleibt, daß der doch wesentlich vermögendere Schwiegervater seine gerade vierzehn Jahre alte Tochter jenem zur Frau gab. Heinrich Böcking entstammte einem Handels- und Bankhaus in Trabach an der Mosel, das sein Vater Adolf (1751 - 1800)3 dort betrieben hatte, ehe er nach verschiedenen Ortswechseln in der französischen Zeit sich in Saarbrücken niederließ. Sein plötzlicher Tod im Jahre 1800 führte zum Zusammenbruch des Unternehmens in Trabach, so daß die Vermögensverhältnisse der Familie, auch nach Aussagen seines Sohnes Heinrich, Ausgang

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2

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Als Urahn der Familie Böcking gilt Ludwig Böcking, der als Schmied an der Wende zum 17. Jahrhundert einen Eisenhammer bei Simmern vom Wildgrafen von Dhaun gepachtet hatte, der 1664 nach dem Tode seines Enkels Jakob Sebastian an den Grafen zurückfiel. Die Familie Stumm führt ihre Herkunft auf den Schmied Hans Stumm (gest. 1688) zurück, der ebenfalls als Schmied im Hunsrück tätig war. Zur Geschichte der beiden Familien vgl. ausführlich HERBERT W. BÖCKING, Abentheuer. Beiträge zur Geschichte des Ortes und seiner Eisenhütte (Mitteilungen des Vereins für Heimatkunde im Landkreis Birkenfeld) 1961, S. 74-93 (Stumm) und S. 108-114 (Böcking) sowie diverse Beiträge in der ADB, NDB, den Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsbiographien und verschiedene Arbeiten von Fritz Hellwig, auf die noch zurückzukommen sein wird. Zur Geschichte vgl. auch Westdeutsche Ahnentafel I, hgg. von Hans Carl Scheibler u. Karl Wülfrath, Weimar 1939, S. 469 u. 505 sowie D.A. FÜRST, Deutsche Industriekapitäne an der Saar und ihre Versippung, in: Mitteilungen der Westdeutschen Gesellschaft für Familienkunde v. 8.8.1935; siehe auch: EDUARD BÖCKING, Das Geschlechter Register der Familie Böcking, Köln 1894. Umfassend zu diesem FRITZ HELLWIG, Heinrich Böcking, in: Saarländische Lebensbilder, Bd. 2, Saarbrücken 1984, S. 117-159 und DERS., Heinrich Böcking 1785-1862, in: Deutscher Westen - Deutsches Reich, Saarpfälzische Lebensbilder, Kaiserslautern 1938, S. 119-131; sowie DERS., Böcking, Heinrich, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 2, Berlin 1955, S. 369-370. Zu Adolf Böcking: HERMANN VAN HAM, Adolf Böcking, in: RheinischWestfälische Wirtschaftsbiographien, Bd. IV Münster 1941, S. 1-22; DERS., Böcking, Adolf, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 2, Berlin 1955, S. 368.

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der 90er Jahre sehr beschränkt waren, zumal der Vater vierzehn Kinder hinterließ, von denen Heinrich, im Jahr 1800 ganze fünfzehn Jahre alt, das vierte war, und noch zehn jüngere Geschwister versorgt werden mußten. Von Reichtum kann in der Familie Böcking unter diesen Umständen wohl kaum gesprochen werden. Die Mutter zog nach dem Tode des Gatten daher notgedrungen mit den jüngeren Geschwistern zu Verwandten nach Köln-Mülheim, Heinrich kam zum Onkel Friedrich von Scheibler, einem Bruder der Mutter, nach Iserlohn. Dieser hatte dort Jahre zuvor in das Handelshaus Rupe eingeheiratet und vermittelte seinem Neffen in diesem Geschäft eine kaufmännische Lehre, die er dort innerhalb der nächsten vier Jahre absolvierte. Die Lehre wurde ergänzt durch den Besuch der Abendschule, um offensichtliche Lücken seiner Bildung zu schließen. Mit neunzehn Jahren wechselte er nach Amsterdam in das Handelshaus Goedhard Cappel & Söhne, mit dem er mütterlicherseits ebenfalls verwandtschaftlich verbunden war. 1807 verließ er das Handelshaus in leitender Stellung und machte sich selbständig. Dieser Schritt in die Selbständigkeit erwies sich jedoch bald als Fehlschlag; Heinrich Böcking kehrte nach Saarbrücken zurück, um im Umfeld der früheren Geschäftspartner seines Vaters eine Chance für gedeihlichere Geschäfte zu suchen. Alles in allem war Böcking zu diesem Zeitpunkt sicher kein erfolgreicher Geschäftsmann und attraktiver Heiratskandidat für die Schönen und Reichen der Saar. In Saarbrücken kam er nun mit der Familie Stumm in engeren Kontakt, insbesondere mit der des Friedrich Philipp Stumm (1751 - 1835), der gerade 1806 durch den Kauf des Neunkirchener Eisenwerks mit der Standortverlegung der Firma Gebr. Stumm vom Hunsrück an die Saar begonnen hatte. Dieser hatte in seiner Jugend gemeinsam mit Adolf Böcking, Heinrichs Vater, das Gymnasium in Trabach besucht, so daß persönliche Kontakte zwischen beiden Familien bereits bestanden und auch Geschäftsbeziehungen Stumms mit dem Trabacher Handelshaus der Böckings gepflegt worden waren. Friedrich Philipp Stumm gab nun seine Tochter Charlotte Henriette dem Heinrich Böcking zur Frau und beschäftigte seinen Schwiegersohn daraufhin zunächst im Neunkirchener Eisenwerk. Diese Tätigkeit schien den jungen Mann jedoch nicht zu begeistern. Er mußte viel umherreisen, vermutlich war er als Handelsreisender für das Stummsche Unternehmen unterwegs, 4 und ließ sich erst 1811, nach der Geburt seines Sohnes Rudolf, end-

Das Unternehmen lieferte seinerzeit vielfältige Produkte in die Niederlande, die Böcking ja aus seiner vorherigen Tätigkeit gut kannte. Zu den Führungspersön-

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gültig in Saarbrücken nieder, wo er sich vorzugsweise volkswirtschaftlichen Studien, der Mineralogie und der Altertumskunde widmete, vermutlich unterstützt durch seinen Schwiegervater, denn von geschäftlichen Erfolgen aus dieser Zeit ist nichts zu vermelden. Erst 1815 tritt er in das Licht der Öffentlichkeit, bezeichnenderweise jedoch nicht als Unternehmer oder Industrieller, sondern als Patriot und Politiker. Er war nämlich wesentlich daran beteiligt, daß in der Revision des 1. Pariser Friedens, nach dem die Saar bei Frankreich hätte verbleiben sollen, das Saargebiet schließlich Preußen zugesprochen wurde. In dieser unruhigen Zeit war Böcking sogar kurzfristig im Jahre 1814 mit nur neunundzwanzig Jahren Bürgermeister von Saarbrücken,5 ernannt durch die zwischenzeitliche preußische Besatzung in der Stadt. Nach Rückkehr der Franzosen und während der Neuverhandlungen zum 2. Pariser Frieden wurde er dann als Abgesandter der Saarbrücker Bürgerschaft nach Paris geschickt, um dort für einen Anschluß der Saar an Preußen zu werben, was ja auch geschah, wobei der persönliche Anteil Böckings an dieser Entscheidung jedoch schwer zu bewerten ist. Die hohe Politik der Kabinette und Dynastien spielte dabei zweifellos ebenso eine Rolle wie die Bemühungen anderer Patrioten.6 Für die Entwicklung der Saarregion blieb Heinrich Böcking in der Folgezeit weiterhin von großer Bedeutung, da er nun im Zusammenhang mit der Eingliederung des Landes nach Preußen die Übernahme der landesherrlichen Saarkohlengruben durch den preußischen Staat vorantrieb. An dieser Neuordnung war er entscheidend beteiligt7, wenn auch die Leitung des neu

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7

lichkeiten des jungen Unternehmens vgl. HANNS KLEIN, Zur Geschichte der leitenden Angestellten des Eisenhüttenunternehmens der Gebr. Stumm während der Frühindustrialisierung, insbes. zu Dr. h.c. Carl Lichtenberger (1796-1833), Oberbuchhalter und Amateurastronom, in: Zwischen Saar und Mosel, Festschrift zum 65. Geburtstag von Hans-Walter Herrmann, Saarbrücken 1995, S. 313-350. Vgl. dazu auch HANNS KLEIN, Kurzbiographien der Bürgermeister (Alt-) Saarbrückens, St. Johann, Malstatt-Burbach und der Großstadt Saarbrücken, in: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend, 19,1971, S. 510 ff., insbes. S. 515/16. Zu einer Einschätzung der Rolle Böckings vgl. FRITZ HELLWIG, Heinrich Böcking, in: Saarländische Lebensbilder, S. 132/33 und DERS., Heinrich Böcking 1785-1862, in: Deutscher Westen, S. 128-130. Zunächst wurde Heinrich Böcking bei der amtlichen Besitzergreifung des Landes durch Preußen am 30. November 1815 mit kommissarischen Funktionen in der allgemeinen Verwaltung (u.a. General-Steuereinnehmer) betraut und zugleich als General-Bergkassierer eingesetzt. Bei Gründung des Bergamtes bleibt er dort zunächst als Assessor tätig und wird als Rendant Leiter des Finanzwesens, 1830 wird er dort Bergrat und 1844 bei seinem Ausscheiden aus dem Dienst dann gar

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eingerichteten königlichen Bergamtes zu Saarbrücken dem Bergbauexperten Leopold Sello8 zufiel, unter dem Böcking in den folgenden Jahren als Assessor, Bergrat und Oberbergrat tätig war. Eine ganz bemerkenswerte Situation in der so traditionsbewußten preußischen Bergbauverwaltung, die über ein sehr langwieriges und formalisiertes Ausbildungswesen verfügte und in der ein exklusives Standesbewußtsein vorherrschte,9 so daß ein Außenseiter wie Böcking, ohne jede formale Qualifikation, dort in der Regel keine Chance des Zugangs hatte. Allein sein persönliches Verhältnis zum preußischen Monarchen und zu vielen anderen hochrangigen Beamten sowie seine patriotischen Verdienste vermögen diese außergewöhnliche Sonderbehandlung zu erklären. Mit seiner Tätigkeit im Staatsbergbau geriet Böcking natürlich sehr bald in einen Interessengegensatz zu der Privatindustrie an der Saar: den Hüttenbesitzern war der Erwerb eigener Kohlengruben verwehrt und die Preispolitik des Staatsbergbaus blieb stark von fiskalischen Interessen geprägt.10 In den 1840er Jahren finden wir Heinrich Böcking nochmals an vorderster Front der wirtschaftspolitischen Initiativen, nachdem er schon 1833, vor Gründung des Zollvereins, in ähnlicher Weise in Berlin aktiv gewesen war. Als Vertreter der Interessen der westdeutschen Eisenindustrie war er entscheidend am Zustandekommen des zollvereinsweiten Schutzzolls auf Eisen von 1844 beteiligt.11 Als Vertreter der Eisenindustriellen nutzte er

8

Oberbergrat. Vgl. FRITZ HELLWIG, Heinrich Böcking, in: Saarländische Lebensbilder. Zu Leopold Sello gibt es eine ausführliche Literatur vgl. JÜRGEN KILTZ, Leopold Sello - Direktor des Bergamtes Saarbrücken von 1816 bis 1857, in: Saarbrücker Hefte 58,1986,

S. 4 3 - 9 2 ;

SIGRID VEAUTHIER, L e o p o l d

Sello,

in: P.

Neumann

(Hg.), Saarländische Lebensbilder, Bd. 3, Saarbrücken 1986, S. 87-118 und DIES., Leopold Sello (1785-1874). Erster Preußischer Bergamtsdirektor an der Saar, in: D e r A n s c h n i t t , 4 5 , 1 9 9 3 , S. 1 0 1 - 1 1 0 . 9

10

11

Dieses ist später genauestens rechtlich geregelt worden, vgl. Vorschriften vom 21. Dezember 1863 über die Befähigung zu den technischen Ämtern in der Berg-, Hütten- und Salinenverwaltung, in: Zeitschrift für das Berg-, Hütten- und Salinenwesen, 12. Bd., 1864, S. 297-308. Zur Bedeutung der preußischen Bergassessoren vgl. BERND FAULENBACH, Die preußischen Bergassessoren im Ruhrbergbau, in: Mentalitäten und Lebensverhältnisse. Beispiele aus der Sozialgeschichte der Neuzeit. Rudolf Vierhaus zum 60. Geburtstag, Göttingen 1982, S. 225-242. Dazu RALF BANKEN, Die Industrialisierung der Saarregion 1815-1915 (Dissertation, Frankfurt a.M. 1996). HEINRICH BEST, Interessenpolitik und nationale Integration 18848/49. Handelspolitische Konflikte im frühindustriellen Deutschland, Göttingen 1980, S. 91-101 und RUDOLF BOCH, Grenzenloses Wachstum? Das rheinisch-westfälische Wirt-

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bereits in den Zollvereinsverhandlungen 1833 seine guten Beziehungen zum preußischen Hof, hielt sich zu diesem Zweck überwiegend in Berlin auf, pflegte auch danach intensiven Kontakt mit Friedrich List12 und betrieb zahlreiche Aktivitäten zur organisatorischen Repräsentation und Zusammenfassung der Eisenindustriellen wie der deutschen Industriellen insgesamt. Eine schlagkräftige Organisation kam letztlich in dieser frühen Phase noch nicht zusammen, ein Schutzzoll auf Eisen wurde jedoch 1844 eingeführt. Neben Heinrich Böcking , der weniger als Industrieller denn als Politiker, Patriot und Beamter in das Licht der Öffentlichkeit getreten ist13, bleibt als weiteres bedeutendes Familienmitglied sein Enkel Rudolf Böcking (1843 - 1918) zu nennen, dem Neubegründer der Halberger Hütte in Saarbrücken. Damit etabliert sich die Familie nun auch endgültig im Kreis der Hüttenindustriellen an der Saar.14 Hier schließt sich der Kreis, der mit der Heirat von Heinrich Böcking und Charlotte Henriette Stumm ein gutes halbes Jahrhundert zuvor geöffnet worden war. Bis zum Beginn des Jahrhunderts hatten die Stumms nämlich im Hunsrück drei unabhängige Hüttenkomplexe betrieben und dort in gut einhundert Jahren, beginnend mit der Gründung des Birkenfelder Hammers 1715 durch Johann Nicolaus Stumm (1699- 1743), zum fast alles beherrschenden Hüttenmeistergeschlecht aufsteigen können.15 U.a. betrieben sie dort am Ende des 18. Jahrhunderts die Gräfenbacher Hütte am Soonwald im späteren Regierungsbezirk Koblenz, die Abentheuer-Hütte im Fürstentum Birkenfeld und die Asbacher Hütte an der Südflanke des Idarwaldes im späteren Regierungsbezirk Trier.16 Seit 1783 wurden diese

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schaftsbürgertum und seine Industrialisierungsdebatte 1814-1857, Göttingen 1991, S. 165-66. FRITZ HELLWIG, Heinrich Böckings Briefe an Friedrich List 1843/44, in: Westmärkische Abhandlungen zur Landes- und Volksforschung, Bd. 5, Kaiserslautern 1941/42, S. 225-246. Zu Friedrich List vgl. auch Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 18, S. 761-776. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß Heinrich Böcking 1831 erneut zum Bürgermeister von Saarbrücken gewählt wurde und dieses Amt bis 1838 bekleidete. Eine Bewerbung um das Amt des Landrats scheiterte 1837. HERMANN VAN HAM, Rudolf Böcking, in: Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsbiographien, Bd. I, Münster 1932, S. 298-317. GERT FISCHER, Wirtschaftliche Strukturen am Vorabend der Industrialisierung. Der Regierungsbezirk Trier 1820-1850. Köln 1990, S. 422-427; HANS EUGEN BÜHLER, Die Eisenindustrie im Hunsrück und im nördlichen Saarland im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Mitteilungen des Vereins für Heimatkunde im Landkreis Birkenfeld, 37, 1974, S. 15-29. Zum Erwerb und Betrieb der einzelnen Hütten vgl. HERBERT W. BÖCKING, Abentheuer, S. 77-95. Zur Abentheuer Hütte insbesondere auch EDUARD

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Hütten, furnierend als Gebr. Stumm, von Friedrich Philipp Stumm (1751 183S) geleitet. Dieser erkannte bald, daß die Hütten im Hunsrück langfristig keine Chance mehr hatten, da die Erzlager zu erschöpfen drohten, die Beschaffung des Kohleholzes immer schwieriger wurde und der Transport von Rohmaterialien und Produkten völlig unzureichend funktionierte. Er entschied sich deshalb 1802 für einen Umzug nach Saarbrücken und erwarb dort 1806 vom französischen Staat die Eisenwerke Neunkirchen, Halberg und Fischbach, später kamen noch Dillingen und Geislautern hinzu.17 Die Hunsrücker Hütten wurden weiterhin durch seinen Bruder Ferdinand betrieben, auch wenn dieser zeitweilig in Saarbrücken lebte. Heinrich Böckings Ehe mit der Tochter des größten Eisenhüttenbesitzers der Region konnte offenbar nicht auf große Reichtümer begründet werden, weshalb der Schwiegervater nach dem frühen Tod von Charlotte Henriette 1832 zumindest für seine drei Enkelsöhne Rudolf, Gustav und Eduard Vorsorge treffen wollte und den dreien kurz vor seinem Tode 1835 die Hunsrücker Hütten verkaufte und aufs Erbe anrechnen ließ; weitere Erben waren nicht vorhanden.18 Wegen ihres jugendlichen Alters konnten die drei Böckings jedoch nicht unmittelbar in die Leitung der Hütten eintreten, so daß auch ihr Onkel Carl Friedrich bis zu seinem Tode 1839 in der Geschäftsleitung verblieb, ehe sie dann selber die Firma Gebr. Böcking führten. Die Gebrüder Böcking mußten sich zunächst noch auf ihre unternehmerischen Aufgaben vorbereiten. Die schwierige Lage ihrer zukünftig zu betreibenden Werke hatte sich jedoch in der Zwischenzeit nicht verbessert. BÖCKING, Notizen über die Besitz- und wirtschaftlichen Verhältnisse der Abentheuerhatte (bei Birkenfeld a.d. Nahe) aus den daselbst vorhandenen Akten zusammengestellt, Mühlheim a. Rh., 1909. Zu den drei Hütten insgesamt vgl. auch HERMANN-JOSEF BRAUN, Das Eisenhüttenwesen des Hunsrück. 15. bis Ende des 18. Jahrhundert, Trier 1991, S. 71-79,111-117,131-156. 17

HERBERT W . BÖCKING, Abentheuer, S. 9 0 - 9 5 .

18

Im Nachlaß Böcking (LHA Koblenz Bestand 700, 130) findet sich der Kaufvertrag vom 17.10.1835 (Nr. 606) zwischen den Familien Stumm und Böcking über den Übergang der Hunsrücker Hütten. Demnach verkauft Friedrich Phillip Stumm / 6 seiner Anteile zum Wert von 20.000 Thalern, fällig in fünf gleichen Jahresraten. Dqs restliche Sechstel gehörte bereits seinem Sohn Carl Friedrich Stumm, doch auch dieser stimmte darin überein, seinen Anteil an die Böckings zu übertragen und den Kaufpreis von 4.000 Thalern in fünf gleichen Jahresraten ab 1843 (bis 1847) zu erhalten. Carl Friedrich Stumm behält sich für vier weitere Jahre jedoch noch die Leitung der Hunsrückerhütten als allein unterschriftsberechtigter G e s c h ä f t s f ü h r e r v o r (Nr. 6 0 8 ) ; HERMANN JOSEF BRAUN, D a s E i s e n h ü t t e n w e s e n

des Hunsrück. 15. bis Ende 18. Jahrhundert, Trier 1991, S. 71-79, 111-117, 131156.

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Die angewandte Holzkohlentechnologie blieb veraltet,19 die Rohstoffprobleme hatten sich eher verschärft20. Mit dem steigendem Massenverbrauch von Eisen, insbesondere für Eisenbahnschienen, verloren die altertümlichen Werke gänzlich ihre Konkurrenzfähigkeit. Eine Reorganisation, auch in Form einer durchaus erwogenenen Aktiengesellschaft, wurde auf Anraten von Ferdinand von Steinbeis,21 der über dieses Projekt ein förmliches Gutachten erstellte, nicht weiter verfolgt. Seit 1865/67 liegen die vormals Böckingschen Werke im Hunsrück praktisch still;22 erst Mitte der 1870er Jahre wurden sie schließlich liquidiert. Nun tat Rudolf Böcking den entscheidenden Schritt, er erwarb 1868 das Halberger Werk der Firma Gebr. Stumm in Brebach und verlegte die Eisenproduktion von den Hunsrücker Hütten Asbach, Gräfenbach und Abentheuer an die Saar. Das ehemalige Stummsche Halberger Werk war zu dieser Zeit nur ein kleines veraltetes Schmiede-Hammerwerk ohne Hochofen mit lediglich 35 Arbeitern. Für die geplante Eisenherstellung und -Verarbeitung war daher ein gänzlicher Neuaufbau vonnöten. Dieser wurde von Rudolf Böcking jun. organisiert und durchgeführt obwohl seine beiden Onkel Eduard (1814- 1894) und Gustav (1812- 1893) ebenfalls Teilhaber waren, nachdem sein Vater Rudolf sen. (1810 - 1871) kurz nach der Neugründung verstorben war. Seine Schwester Ida Böcking heiratete 1862 Carl Ferdinand, den späteren "König" Stumm, dessen Mutter ebenfalls bereits eine Böcking gewesen war, eine Nichte Heinrichs nämlich.23 Die Familienbande waren 19

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21 22 23

Obwohl man auch hier schon zeitig mit neuen Verfahren experimentierte. Wie noch zu zeigen sein wird, wurde schon früh der Holzkohle des Hochofens z.B. Koks beigemischt, die Gichtgase wurden zur Wärmegewinnung genutzt und der Hochofen war mit einem Gebläse versehen. Vgl. HERBERT W. BÖCKING, Abentheuer, passim. Die verfügbaren Erze waren minderwertig und mußten gemischt bzw. für den Guß dann mit anderem Roheisen versetzt werden. Die eigenen Gruben waren unergiebig, die Asbacher Hütte betrieb 1848 z.B. 24 im Tagebau betriebene Erzgruben sowie zwei Untertagebaue mit zwei Stollen und einem Schacht, auf denen insgesamt nur 18 Arbeiter tätig waren. Vgl. GERT FISCHER, Wirtschaftliche Strukturen, S. 425. StA Ludwigsburg PL 702. Nachlaß Dr. Ferdinand von Steinbeis, Nr. 5. HERMANN VAN HAM, Rudolf Böcking, S. 304. Ihr Bruder Carl Bernhard Böcking, Neffe von Heinrich Böcking, übernimmt nach dem plötzlichen Tode von Carl Friedrich Stumm (1802-1848) die Leitung des Neunkirchener Eisenwerkes und führt dieses lange Jahre weiter, von 1852 an dann gemeinsam mit Carl Ferdinand Stumm bis 1871, als dieser alleiniger Geschäftsführer wird. Fünfviertel Jahrhundert Neunkirchener Eisenwerk und Gebrüder Stumm, Mannheim 1935, S. 27-33. Zu Carl Ferdinand Stumm ausführlich

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also eng geknüpft, und auch die geschäftlichen Beziehungen zwischen den Familien wurden zunehmend enger. Rudolf Böcking war auf diese große Aufgabe bestens vorbereitet. Geboren 1843 in Asbach, war er von Kind auf mit dem Eisenhüttenwesen vertraut und zeigte schon früh technisches Interesse und Begabung. Nach dem Besuch der Hüttenschule in Asbach wechselte er auf eine technische Schule nach Kaiserslautern, absolvierte dort 1859 die Reifeprüfung und studierte anschließend bis Frühjahr 1862 am Polytechnikum in Karlsruhe. Danach machte er eine Studienreise nach England, besuchte dort zahlreiche Hüttenwerke und erforschte dabei besonders im Auftrag seines Schwagers Carl Ferdinand Stumm die Fabrikation von Weißblech, die dieser in der Dillinger Hütte ebenfalls betrieb. Nach der Rückkehr Rudolfs aus England 1863 arbeitete er unter der Leitung seines Vaters Gustav ein Jahr auf der Asbacher Hütte und ging dann für ein weiteres Jahr als Volontär nach Seraing zu John Cockerill. Nach seiner Rückkehr betrieb er mit den reichlich gewonnenen Erfahrungen die planvolle Verlegung der Böckingschen Eisenhütten an die Saar.24 Die Halberger Hütte sollte als Großgießerei aufgebaut werden, insbesondere um Rohre zu gießen. Dies war schon seit 1852 in Asbach erfolgreich betrieben worden, wo man u.a. für den Aufbau einer Kanalisation in Karlsruhe und Zürich entsprechende Rohre geliefert hatte. Es gelang, eine große Zahl der Facharbeiter aus dem Hunsrück mit nach Brebach an die Saar zu bringen. So konnte die Produktion dort schon bald beginnen. Am 1. April 1869 ging der erste Kupolofen in Betrieb und am 13. August des gleichen Jahres der erste Hochofen.25 Der Rohrguß wurde zum Schwerpunkt der Produktion und die Firma erlangte darin Weltruf. Als eine Spezialität des Unternehmens entwickelte sich das direkte Gießen aus dem Hochofen ohne ein nochmaliges Umschmelzen des Roheisens im Kupolofen, mit einer entsprechenden Brennstoff- und Kostenersparnis. Die Gründerkrise traf das Unternehmen schwer, weil es bis dahin niemals in der Lage gewesen war, ausrei-

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FRITZ HELLWIG, Carl Ferdinand von Stumm-Halberg, Heidelberg 1936, DERS., Carl Ferdinand Freiherr von Stumm-Halberg, in: Peter Neumann (Hg.), Saarländische Lebensbilder, Bd. 3, Saarbrücken 1986, S. 153-195. Zu diesem Schritt hatte auch Heinrich Böcking schon früher geraten, ohne jedoch direkten Ginfluß auf die Geschäftsführung und Entscheidungen seiner Söhne bzw. seines Enkel nehmen zu können, vgl. FRITZ HELLWIG, Heinrich Böcking, in: Saarländische Lebensbilder, S. 140. FRITZ KLOEVEKORN, 200 Jahre Halberger Hütte 1756-1956, Saarbrücken 1956, S. 5 0 - 7 4 .

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chende Finanzmittel als Reserven zu erwirtschaften. Die Gründung und der Ausbau waren weitestgehend mit Fremdmitteln erfolgt, weil das Kapital der Hunsrückhütten mit ihrer Aufgabe weitgehend verloren gegangen war und die wenigen Jahre der guten Konjunktur seit 1869 nicht ausgereicht hatten, einen genügenden Kapitalstock zu erwirtschaften. In dieser Situation kaufte der Schwager Carl Ferdinand Stumm 1875 das Werk zurück und beließ Rudolf Böcking nur eine Beteiligung.26 Dieser führte das Werk bis 1908 erfolgreich weiter.

II Wo finden aber nun die von uns näher zu untersuchenden Brüder Rudolf und Gustav Böcking ihren Platz im Geflecht familiärer und geschäftlicher Beziehungen der beiden Familien? Bei den Söhnen Heinrich Böckings handelt es sich offenbar um Angehörige einer Zwischengeneration: zwischen den politisch begabten, vielfältig interessierten Autodidakten des frühen Wirtschaftsbürgertums, wie der Vater oder auch der Onkel Carl Friedrich Stumm, und den planvoll ausgebildeten, technisch versierten Industriellen der Hochindustrialisierungsphase, für die Rudolf Böcking jun. oder auch Carl Ferdinand Stumm stehen können.27 In den drei genannten Generationen spiegelt sich möglicherweise idealtypisch der Übergang des deutschen Unternehmertums schlechthin von einem noch in den vorindustriellen Bezügen 26

27

Im Archiv der Halberger Hütte findet sich der entsprechende Kaufvertrag zwischen den Geschäftsinhabern der Kommanditgesellschaft Gebr. Böcking (Gustav Adolf, Eduard Carl, Rudolf Carl Eduard, Eduard Siegesmund, alle aus Saarbrükken, und Hugo Friedrich Constantin, Gutsbesitzer in Württemberg) und den beiden neuen Geschäftsinhabern der KG Rudolf Böcking & Co (bestehend aus Rudolf Böcking und Carl Ferdinand Stumm). Der Kaufpreis betrug 90.000 Mark zuzüglich 90.000 Mark für die Bergbaukonzessionen der Firma in Lothringen. Der dritte Sohn Heinrich Böckings, Eduard Carl, übernahm zwar zunächst ebenfalls die Hunsrückhütten mit, verlegte seine Interessen aber später nach Mühlheim a. Rh., wo er seit 1876 ein Walzwerk in enger Zusammenarbeit mit dem Kabelwerk Feiten & Guilleaume betrieb. Später wurde das Walzwerk dem größeren Unternehmen eingegliedert. Ausführlich dazu: HANS POHL, Die Errichtung des Walzwerkes E. Böcking & Co. in Mühlheim a. Rh. (1876) und seine Übernahme durch die Firma Feiten & Guilleaume Carlswerk AG (1912). Ein Beitrag zur Geschichte der rheinischen Walzdrahtindustrie, in: JÜRGEN SCHNEIDER (Hg.), Wirtschaftskräfte und Wirtschaftswege III. Auf dem Weg zur Industrialisierung. Festschrift ftir Hermann Kellenbenz, Stuttgart 1978, S. 529-547.

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verhafteten Typus, geprägt durch Großkaufleute, Bankiers, Fabrikherren und Verleger, hin zum Typus des modernen Großindustriellen. Eine zielgerichtete Aus- und Vorbildung der Zwischengeneration, die in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts ihre Berufsausbildung erhielt, im Hinblick auf die Anforderungen der großindustriellen Produktionsweise war noch nicht möglich. Einerseits befanden sich ja die neuen Technologien erst nur bei wenigen Pionierunternehmern in der Erprobung und andererseits waren entsprechende technische Bildungsanstalten noch im Aufbau begriffen.28 Auf welche Aufgaben und in welcher Weise sollten sich die jungen Böckings in den 1830er Jahren, nachdem wohl feststand, daß sie die Hunsrücker Hütten der Stumms übernehmen würden, auf ihre zukünftige Unternehmeraufgabe vorbereiten? Die Werke im Hunsrück entsprachen zwar noch den technologischen Anforderungen der Zeit, doch die Produktionsbedingungen an den abgelegenen Standorten verschlechterten sich dramatisch. Die Asbacher Hütte, die von Rudolf Böcking sen. übernommen werden sollte, verfügte 1819 über ganze 65 Arbeiter, die 8.170 Ztr. Roheisen herstellten. Sie war um 1700 im rheingräflichen Amt Wildenburg begründet worden und verhüttete zunächst die lokalen Eisenerze. Doch schon bald war sie gezwungen, den Erzbezug weiter auszudehnen. Seit 1775 versorgte sie sich aus dem 24 km entfernt gelegenen Panzweiler.29 Auch die Versorgung mit Brennmaterial blieb ein Dauerproblem. Angesichts dramatisch steigender Holzkohlepreise im 18. Jahrhundert wurde 1749 sogar erwogen, die Asbacher Hütte zu verlegen - vermutlich dienten diese Überlegungen aber nur als Druckmittel gegenüber dem Landesherrn, um eine langfristige Bezugssicherheit mit Holz durchzusetzen.30 Zwar ließ sich bis 1840 ein kontinuierliches Wachstum des Unternehmens beobachten, so daß in diesem Jahr eine Roheisenproduktion von 3.559 Ztr. und eine Gußeisenproduktion von 15.670 Ztr. (davon 8.839 Ztr. ebenfalls aus dem eigenen Hochofen) mit 171 Arbeitern zu verzeichnen war, doch von da ab gingen Beschäftigung und Produktion kontinuierlich 28

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Die Anfänge des technischen Hochschulwesen in Deutschland finden sich in den 1820er Jahren. Vgl. dazu HERMANN VON LAER, Industrialisierung und Qualität der Arbeit. Eine bildungsökonomische Untersuchung für das 19. Jahrhundert, New York 1977, S. 310-325, und auch PETER LUNDGREEN, Techniker in Preußen während der frühen Industrialisierung, Berlin 1975, insbes. S. 41-84. Zur Erzversorgung der Hütte vgl. HERMANN-JOSEF BRAUN, Das Eisenhüttenwesen, S. 71 u. 72; allgemein dazu auch HANS POHL, Das Eisengewerbe in der Eifel und im Hunsrück, in: Hermann Kellenbenz (Hg.), Schwerpunkte der Eisengewinnung und Verarbeitung in Europa 1500-1650, S. 147-171, Köln 1974, S. 148/49 u. 156-58. HERMANN-JOSEF BRAUN, D a s E i s e n h ü t t e n w e s e n , S. 116.

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bergab, bis sie in den 1860er Jahren praktisch zum Erliegen kam. 31 Zwar wurden einige technische Verbesserungen am Hochofen und in der Gießerei vorgenommen (Heißluftgebläse für den Holzkohlenhochofen, Beimischungen von Koks, 1840 die Inbetriebnahme eines Kupolofens zur Verbesserung der Qualität des Roheisen für Gießereizwecke), doch die technisch zukunftsweisende Einführung des Puddelverfahrens unterblieb, weil dafür kein Bedarf bestand, da man ja nur Gußwaren und keine Stabeisenprodukte herstellte. Für eine derartige Weiterverarbeitung des Roheisens fehlten eben die Voraussetzungen, insbesondere Steinkohlen, Erze und Transportmöglichkeiten. Auf der Abentheuer-Hütte, die 1764 von den Stumms erworben worden war, 32 hatte schon am Ende des 18. Jahrhunderts die Beschaffung des nötigen Kohlenholzes große Schwierigkeiten bereitet, und die Zufuhr des Eisenerzes blieb gleichfalls schwierig. 33 Dort waren bis zum Bau eines eigenen Hochofens im Jahre 1766 Roheisen der Asbacher und Gräfenbacher Hütte sowie weitere Zukäufe aus dem rechtsrheinischen Gebiet verarbeitet worden, was wegen der schwierigen Transportverhältnisse jedoch zunehmend unattraktiver wurde. Der eigene Hochofen brachte dann endlich den lang ersehnten Aufschwung: Die Produktion konnte von 1776/77 bis 1865/67 verzehnfacht werden. Der Erzbezug mußte jedoch auch hier in seinem Radius immer weiter ausgedehnt werden. Die ergiebigsten Gruben, Otzenhausen und Schwarzenbach, befanden sich ca. 10 km entfernt im "Ausland", und andere Bezugsquellen befanden sich noch weiter entfernt. Immer wieder mußten neue Erzkonzessionen erworben werden, aber dennoch blieben dauernde Zukäufe von Erz nötig. 34 Ein weiteres großes Problem der traditionellen Hütten war deren diskontinuierliche Produktion. Die Abentheuer-Hütte begann z.B. 1774/75 ihre fünfte Hochofenkampagne, nachdem sie zuvor zwei Jahre lang stillgelegen war. Die Hüttenreise dauerte 38 Wochen, und es

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Produktions- und Beschäftigungsdaten bei GERT FISCHER, Wirtschaftliche Strukturen, S. 426. Zur Vorgeschichte der Hütte vgl. ausführlich WALTER PETTO, Zur Geschichte der Eisenhuttenindustrie im Schwarzwälder Hochwald und ihrer Unternehmerfamilien von ihren Anfängen bis 1870, in: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 1 7 / 1 8 , 1 9 6 9 / 7 0 , S. 1 1 2 - 1 7 0 , S. 1 1 2 - 1 7 0 , i n s b e s . , S. 1 2 5 f f . u n d JOHANN KLEIN.

Die Montanindustrie im Hunsrück. Eine sozialgeschichtliche Studie, Saarbrücken 1 9 7 1 ( S e l b s t v e r l a g ) , S. 6 3 - 6 5 . 3 3

HERBERT W . BÖCKING, A b e n t h e u e r , S. 8 0 - 9 5 .

34

Eine genaue Darstellung der Erzversorgung der Abentheuer-Hütte findet sich bei HERMANN-JOSEF BRAUN, D a s E i s e n h ü t t e n w e s e n , S. 7 7 - 7 9 .

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folgte wiederum ein Jahr ohne Roheisenproduktion. In den 27 Rechnungsjahren zwischen 1774 und 1799 war der Hochofen im Durchschnitt nur 26 Wochen, d.h. genau die Hälfte des Jahres in Betrieb. Da es sich bei der Abentheuer-Hütte um eine der größten Hütten des Hunsrück handelte, lag die Betriebszeit sogar noch über dem Durchschnitt der übrigen Hütten. Im Jahresdurchschnitt wurden auf Abentheuerhütte zwischen 1772/73 und 1799/1800 etwa 4.500 Ztr. Roheisen gewonnen. Ein Drahtzug wurde 1780 errichtet, 1782 ein Polierhammer zur Herstellung von Kanonenkugeln. Eine Steinkohlengrube 1789 erworben und in Stollenbau betrieben. Der Neuaufbau der Abentheuer-Hütte durch Johann Heinrich Stumm war bei dessen Tod 1783 abgeschlossen, und das Unternehmen konnte zunächst rentabel arbeiten. Doch immer wieder kam es zu Stillegungen des Hochofens, weil Eisenstein (Erze) und/oder Kohlen (Holz) fehlten. Zum Teil umfaßten diese Stillegungsphasen mehrere Jahre, und die Hütte wurde nur wegen der Hoffnung auf bessere Zeiten weiterbetrieben. Diese ließen gelegentlich jedoch lange auf sich warten. In Gräfenbach, der dritten Hütte, die von den Gebr. Stumm betrieben wurde, lag die Produktion zwischen 1805 und 1808 bei gut 5.000 Ztr. jährlich, etwa genauso hoch wie in Abentheuer. Auch diese Hütte litt unter ähnlichen Problemen wie ihre Schwesterhütte. Schon 1765 wurde auch dort über Holzmangel geklagt, und die Erzversorgung und die Stetigkeit des Betriebes machten ebenfalls Sorgen.35 Die Erschöpfung der Erzlagerstätten und die Verknappung des Holzes trugen entscheidend zum Niedergang der Hunsrückhütten bei. 36 Friedrich Philipp Stumm, der spätere Schwiegervater von Heinrich Böcking, betrieb alle Hütten seines Vaters zunächst als Gebr. Stumm für sich und seine drei Brüder weiter. Ihr Gesamtwert wurde 1783 anläßlich der Vermögensübertragung an die Erben auf 108.000 fl. veranschlagt, einschließlich des ausgedehnten Grundbesitzes. Friedrich Philipp, der 1751 in Asbach geboren wurde, besuchte das Gymnasium in Trabach, erlernte den Kaufmannsberuf in Köln, ging 1780/81 nach Nancy, u.a. um die französische Sprache zu erlernen, und ließ sich nach dem Tod des Vaters 1793 in Abentheuer nieder. Während der Wirren der Koalitionskriege und der französischen Besatzung lieferte er offenbar umfangreiches Material an die französische Armee. Der Umsatz der Hütte wurde zwischen 1790 und 1800 mengenmäßig um etwa 50 v.H. und wertmäßig um 100 v.H. gesteigert: Am Krieg wurde offensichtlich 35 36

HERMANN-JOSEF BRAUN, D a s E i s e n h ü t t e n w e s e n , S. 93. JOHANNES KLEIN, D i e Montanindustrie, S. 7 0 .

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außerordentlich gut verdient. 1800 machte er eine Forderung in Höhe von 135.440,40 Livres gegenüber der französischen Republik gelten, als "An die République geliefert, durch Requisitionen und Plünderung eingebüßt an Heu, Hafer, Wein, Kleider, Möbel, Sättel."37 Offenbar ist ihm dafür eine stattliche Entschädigung gezahlt worden, die dann für den Kauf der Neunkirchener Hütte verwendet werden konnte, die Stumm nicht direkt vom französischen Staat erwarb, sondern von der französischen Ehrenlegion, und diese hatte die Hütte vom Staat als Dotation erhalten.38 Nach 1815 verschlechtert sich die Lage im Hunsrück kontinuierlich, insbesondere die Abentheuer-Hütte, die sich nun im zu Oldenburg gehörenden Fürstentum Birkenfeld wiederfand, litt unter der umliegenden, nun preußischen Konkurrenz. Die Lage wurde immer schwieriger, so daß der Entschluß zur gänzlichen Übersiedelung an die Saar und die Idee, die Hunsrücker Hütten den Enkeln Böcking zu überlassen, heranreifte.39 Nun traten die jungen Böckings auf den Plan, sie sollten, so gut es in der damaligen Zeit ging, für ihre neue Aufgabe ausgebildet und vorbereitet werden. Darüber gibt ein ausgedehnter Briefwechsel zwischen Rudolf und Gustav Böcking, die sich zum Studium in Berlin aufhielten und von dort zudem zahlreiche Studienreisen unternahmen, einerseits, und ihrem Onkel Carl Friedrich Stumm in Saarbrücken andererseits Auskunft.40

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HERBERT W . BÖCKING, Abentheuer, S. 93.

Fünfviertel Jahrhundert, S. 11-12 und W. PAEGE, Die geschichtliche Entwicklung der Eisenindustrie im Saargebiet, insbesondere seit Anfang des 19. Jahrhunderts, Diss. Köln 1921/22, S. 53. Zu diesem Entschluß hatte sicher beigetragen, daß Carl Friedrich Stumm nach einer Englandreise offenbar die Rückständigkeit der Hunsrückwerke erkannt hatte und einen neuen Anfang mit der modernen "englischen" Steinkohlentechnologie an der Saar suchte. Sein Vater Friedrich Philip teilte diese Einschätzung nicht unbedingt und willigte 1835 nur zögernd in eine Trennung der Hunsrücker und Saarländischen Werke ein. Dies wird in einem Brief Adolf Krämers, dem Betreiber der Quinter-Hütte und späterem Miteigentümer der St. Ingberter Eisenwerks an seinen Freund Carl Friedrich Stumm vom 21. Sept. 1834 deutlich (LASb, Nachlaß Stumm, Briefe). Auch der 1835 noch fehlende Erbe - Carl Ferdinand Stumm wurde ja erst 1836 geboren - mag diesen Entschluß gefördert haben und die jungen Böckings als mögliche Nachfolger in Betracht gekommen haben lassen. Es handelt sich um achtzehn Briefe von Rudolf Böcking, die zwischen dem 10. Februar 1832 und dem 1. November 1835 verfaßt wurden, und um eine gleiche Anzahl von Briefen von Gustav Böcking, zwischen dem 6. April 1832 und dem 22. Dezember 1835 geschrieben.

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Das Studium der beiden Brüder Rudolf und Gustav Böcking wurde von ihrem Onkel Carl Friedrich Stumm nicht nur finanziert, wie zahlreiche Hinweise auf erhaltene Wechsel zeigen, sondern von diesem auch sorgfältig geplant und genau kontrolliert. Am 10. Februar 1833 berichtete Rudolf Böcking aus Berlin, wo er im Herbst 1832 ein Studium an der Universität begonnen hatte.: "Mit dem Studium geht es seinen alten Gang fort. Da sich das Semester ziemlich zu seinem Ende neigt, so werde ich Dir sobald ein neuer Catalog [Vorlesungsverzeichnis vom Sommersemester] herauskommt, Dir ihn mitteilen u. Dich bitten, mir zu bestimmen, welche Collegien ich im Sommersemester hören soll."41 Daneben berichtet der Neffe auch von Aktivitäten, die er im Interesse der Stummschen Eisenwerke an der Saar in Berlin verfolgt hatte. Er fragt an, ob er die Kopien, die er von den Maschinen der Königlichen Eisengießerei erhalten habe, kopieren solle; darüber hinaus kündigt er Zeichnungen von eisernen Treppen an, die er direkt zur Asbacher Hütte schicken werde. Einen Monat später, am 10. März 1833, sendet Rudolf dem Onkel das angekündigte Vorlesungsverzeichnis und geht auf die einzelnen ins Auge gefaßten Veranstaltungen detailliert ein. Experimentalchemie bei Mitscherlich 42 und Mineralogie und Geognosie bei Weiß43 stehen auf dem Pro41 42

Die Briefe befinden sich im Landesarchiv Saarbrücken (LASb), Nachlaß Stumm, Briefe. Eilhard Mitscherlich war ein seinerzeit hoch berühmter Chemiker, geb. am 7. Januar 1794 in Neuende/Friesland. Er besuchte die Provinzialschule in Jever. Von dort wechselte er 1811 an die Universität Heidelberg, um Geschichte und orientalische Sprachen zu studieren. 1813 ging er nach Paris an die "Ecole des langues Orientale" und plante von dort eine Reise nach Persien, die jedoch wegen des Zusammenbruchs des französischen Kaiserreichs nicht zustandekam. Um dennoch in den Orient reisen zu können, schien es ihm nützlich, Medizin zu studieren, um vielleicht als Arzt eine entsprechende Reisemöglichkeit zu finden. 1814 begann er daraufhin in Göttingen ein Medizinstudium, wurde jedoch dabei von der Chemie derart gefesselt, daß er sein Sprachstudium aufgab und 1818 nach Berlin wechselte. Dort machte er bedeutende Entdeckungen, arbeitete auch zwei Jahre bei Berzelius in Stockholm und wurde schließlich zum Ordinarius in Berlin berufen. 1826 heiratete er Laura Amanda Meier (1803-1881), Tochter eines reichen Großkaufmannes aus Königsberg. Er starb am 28.8.1863 hochgeehrt in Berlin. Ausführlich dazu KARL PETERS, Eilhard Mitscherlich und sein Geschlecht, Jever 1951, vgl. auch MAX LENZ, Geschichte der Königlichen Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin, Bd. 1, Halle a.d.S. 1910, S. 339 und PETER LUNDGREEN, Techniker in Preußen während der frühen Industrialisierung. Ausbildung und Berufsfeld einer entstehenden sozialen Gruppe, Berlin 1975, S. 168; WILHELM TREUE u . GEBHARD HILDEBRANDT ( H g . ) , B e r l i n i s c h e L e b e n s b i l d e r . N a t u r w i s s e n -

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gramm, Mathematik wird im Privatunterricht studiert, Technologie soll bei Hermbstädt 44 belegt werden, auch Zeichnen wird mit einem besonderen Zeichenlehrer geübt und ein geschichtliches Kolleg soll zur Allgemeinbildung, Erbauung oder aus heimlicher Neigung ebenfalls belegt werden, wenn auch Zeitmangel letzteres als Wunsch zu verbleiben lassen droht. Insgesamt gilt: "ob es jedoch nützlich i s t . . . kannst Du besser beurteilen als ich und ich sehe deshalb hierüber Deiner gütigen Entscheidung entgegen. Es hängt hierbei auch viel davon ab, wieviel Vorlesungen Du im übrigen für gut findest, daß ich höre". Es wird ganz klar, wer hier das Sagen hatte und für die Zusammenstellung des Studienplans verantwortlich war, nicht der Neffe vor Ort, sondern der Onkel im fernen Saarbrücken. Übrigens wurden auch weitere Pflichten nicht vernachlässigt. Von den benannten Treppenzeichnungen der Königlichen Eisengießerei berichtet Rudolf, daß er sie trotz seiner Bemühungen bei Oberbergrat Krigar 45 immer noch nicht erhalten habe. Für die Osterferien wird eine kleine Erholungsreise ins Auge gefaßt, nicht ohne die Reise-

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schaftler, Berlin 1967, S. 12ff. (Hans-Werner Schütt). Auch Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. S. 22, S. 15-22. Christian Samuel Weiß, geb. 26.2.1780 in Leipzig, als Geologe und Mineraloge Nachfolger von Karstens an der Berliner Universität. Davor (1803) war er Privatdozent in Leipzig, seit 1808 Professor der Physik an selbiger Universität. Weiß hatte auf weiten Reisen in den Alpen seine Kenntnisse der Geologie entscheidend erweitert. Seit 1810 lehrte er als Professor der Mineralogie in Berlin. Er starb am 1.10.1856 in Eger. MAX LENZ, Geschichte, Bd. 2, Halle a.d. S. 1918. Sigismund Hermbstädt, geb. 14.4.1760 in Erfurt, vertrat die technologische Chemie. Er war 1784 nach Berlin gekommen und leitete dort die Schwanenapotheke. Bald aber ging er auf ausgedehnte Studienreisen in die verschiedenen Bergbaugebiete Deutschlands. 1787 zurückgekehrt, gab er seit 1788 ein "Magazin für Technologie" heraus und publizierte zahlreiche Schriften, in denen er zur Verarbeitung der technologischen Erkenntnisse seiner Zeit beitrug. 1790 wurde er Hofapotheker. 1794 Mitglied des Ober-Collegium-Medicum, 1795 Professor an einer chirurgischen Militärakademie, die 1811 zu einer Medizinisch-chirurgischen Militärakademie umgewandelt wurde. Seit 1810, d.h. seit ihrer Gründung, bekleidete er die Professur für Technologie an der Berliner Universität. Er starb 1833. WILHELM TREUE u . GERHARD HILDEBRANDT ( H g . ) , B e r l i n i s c h e L e b e n s b i l d e r . N a -

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turwissenschaftler, S. 10-11 (Hans-Werner Schütt), siehe auch PETER LUNDGREEN, Techniker, S. 25; vgl. auch Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 12, S. 190-192. Oberbergrat Krigar hatte 1814-1824 in England das Berg-Hütten- und Fabrikwesen studiert. Vgl. MARTIN SCHUMACHER, Auslandsreisen, S. 17. Er war zu dieser Zeit der Leiter der Staatlichen Eisengießerei in Berlin.

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route so zu planen, daß damit ein Besuch der wenige Meilen entfernten Neustadter Hüttenwerke verbunden werden kann. Auch wird kurz auf die Verhältnisse auf der Neunkirchener Hütte daheim eingegangen und u.a. darauf verwiesen, daß der Bruder Gustav "wegen des Erwärmen des Windes bei Hochöfen" wohl schon das Nötigste mitgeteilt habe. Am 1. April 1833 bestätigt Rudolf einen zuvor erhaltenen Brief des Onkels und bedankt sich "fiir Deine gütige Mitteilung hinsichtlich meiner Studien im Sommersemester". Chemie werde nach Rücksprache mit dem Onkel im kommenden Semester das Hauptstudium ausmachen, drei Kollegien werden zu besuchen sein, dazu Mathematik und Zeichnen nebenbei im Privatunterricht zu üben. Wie lange noch zu studieren sei und ob er im kommenden Herbst nach Hause zurück kommen werden, überlasse er "ganz Deiner gütigen wohlmeinenden Absichten, indem Du am Besten zu beurteilen weißt, was für mich das zweckdienlichste ist" Im gleichen Brief gibt Rudolf auch der Freude Ausdruck, daß er noch einige Zeit mit seinem Bruder Gustav in Berlin studieren werde, da dieser im Sommer ebenfalls dort sein Studium aufnehmen soll. Gustav schreibt seinem Onkel dann nach seiner Ankunft aus Berlin mit Datum 9. Mai 1833 von seinen Studienplanungen. Eine Vorlesung bei Lehmus 46 in Mathematik kann aus organisatorischen Gründen nicht begonnen werden, doch wurde ihm als Ersatz ein Dr. Ringleb empfohlen. Ganz wie sein Bruder Rudolf, hört auch Gustav Geognosie und Mineralogie bei Weiß und Chemie bei Mitscherlich. Physik würde er auch noch gerne hören, doch Zeitmangel und Überschneidungen mit den übrigen Veranstaltungen hindern ihn daran, so daß Gustav den Studienschwerpunkt des Sommersemester in die Mathematik zu legen beabsichtigt. Er schlußfolgert: "Ich glaube, daß ich mit diesen Collegien hinlänglich beschäftigt sein werde, u. hoffe, daß Du mit der Wahl derselben zufrieden sein wirst. Solltest Du etwas darin auszusetzen haben, so bitte ich Dich, es mir zu schreiben. Zugleich wollte ich Dich fragen, ob Du es vielleicht für nützlich hieltest,

Daniel Christian Lehmus, geb. 3.7.1780 in Soest/Westfalen, Sohn eines Gymnasialdirektors. Studium der Mathematik in Jena und Erlangen. 1813 Habilitation in Berlin, las dort dann als Privatdozent und erteilte Privatunterricht. Seit 1814 war er als Mathematiklehrer im Hauptbergwerks-Eleven-Institut in Berlin tätig, 1826 zunächst Lehrer, dann ab 1827 Professor an der kombinierten Artillerie- und Ingenieurschule dortselbst. Er starb am 18.1.1863. MAX LENZ, Geschichte, Bd. 1, S. 239-241; vgl. auch Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 18, S. 147-148.

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wenn ich wieder einen engl. Sprachlehrer annähme oder ob ich dieses verschieben oder ganz lassen soll." Präzise Studienvorgaben betreffen auch die folgenden Semester, wovon ein Brief von Gustav vom 3. August 1833 zu berichten weiß, in dem zunächst eine Auskunft erbeten wird, ob der Bruder noch im kommenden Wintersemester in Berlin verbleiben soll und dann auf die eigene Studienplanung eingegangen wird. Angewandte Mathematik und Baukunst, vermittelt wiederum durch einen Privatlehrer, soll im Zentrum des Studiums von Gustav stehen. Darüber hinaus werden Vorlesungen in Physik und in Dampfmaschinenlehre durch Siepfahl erwogen, die möglicherweise auch erst im kommenden Sommersemester belegt werden können. Für das nächste Semester werden von Rudolf ebenfalls detaillierte Planungen vorgelegt. Mathematik soll für ihn im Mittelpunkt stehen, "weil es im Sommersemester nicht ganz nach Wunsch damit gegangen ist." Kameralchemie von Hermbstädt und Experimentalphysik von Mitscherlich werden ebenfalls erwogen, oder auch Metallurgische Chemie von Hermbstädt, Chemische Fabrikenkunde von Wuttig oder Dampfmaschinenlehre von Kupsal. "Zu einem geschichtlichen Colleg besonders über die der neueren Zeit hätte ich größte Lust." Dieser heimlichen Liebe nachzugehen war Gustav Böcking erneut jedoch aus Zeitgründen verwehrt. Insgesamt sind die fachlichen Erwartungen der beiden Brüder an ihren Berliner Aufenthalt hoch, jedoch sehen sie auch Einschränkungen. Gustav schreibt (3.8.1833) u.a.: "Dagegen glaube ich aber auch, daß man in wissenschaftlicher Hinsicht nirgends so viel vereinigt findet wie hier, nur schade, daß gerade für unser Fach so wenig Rücksicht genommen ist, u. gerade die Orte, wie die Bauakademie u. Gewerbeschule, wo noch das Interessanteste für uns vorkommt, einem nicht zugänglich sind." Alles blieb unter dem Vorbehalt der Zustimmung des Onkels im fernen Saarbrücken gestellt, und auch jetzt stellte sich die Frage: "In Deinem nächsten Brief wirst Du wohl die Güte haben mir zu sagen, ob Du darüber mit mir einverstanden bist." Über das Leben der beiden Brüder in Berlin erfährt man in den Briefen wenig. "Was die hiesigen Vergnügen anbetrifft, so sind diese, außer dem Theater, nicht weit her", weiß Gustav (3.8.1833) zu berichten, und er trauert an gleicher Stelle den heimischen Jagdvergnügen nach. Gleiches fmdet sich im Schreiben seines Bruders vom 3. August 1833. Selbst die gesellschaftlichen Kontakte sind auf die Pflege wichtiger Beziehungen und den Erwerb nützlicher Informationen gerichtet. Besuche beim Oberbergrat Karl von De-

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chen47 werden mehrmals erwähnt. Mit diesem stand der Onkel Carl Friedrich ebenfalls in direkter Korrespondenz, und auch auf diese Weise vermochte er seine beiden Neffen zu kontrollieren. Dechen berichtet nämlich in verschiedenen Schreiben an Carl Friedrich Stumm. "Von Ihren Neffen höre ich hier viel Gutes..." (20.4.1833) "Ihre Neffen sehe ich nur bisweilen ... die Gelegenheit zum Unterricht in der Chemie ist hier sehr gut... Das solide Betragen der Kinder Böcking bürgt dafür, daß sie die angebotene Gelegenheit gewiß gut benutzen ..." (10.7.1833) Nicht nur Lebensführung und Ernsthaftigkeit im Studium werden dabei kommentiert, sondern auch die Auswahl des Lehrstoffes von dieser hohen Persönlichkeit mit Rat begleitet. Auch die übrigen Kontakte hatten offenbar engen fachlichen und beruflichen Bezug. Rudolf nahm auf Geheiß seines Onkels näheren Kontakt zum Oberbergrat Karstens48 auf, um an Informationen über das Schmelzen von Eisenerzen mit rohen Steinkohlen, wie es in Schlesien betrieben wurde, zu kommen. Er berichtet dann an seinen Onkel mit Brief vom 1. April 1833: "H. Karsten rät Dir in Neunkirchen einstweilen einen Versuch mit dem Schmelzen mit rohen Steinkohlen zu machen, indem derselbe ohne Zweifel gut ausfallen würde, nur solltest Du Dir zu diesem ersten Versuch der Königsgrube [im Saarrevier, T.P.] Steinkohlen aussuchen lassen, die nicht backen, indem sonst der Gang des Ofens leicht durch das Zusammenbacken derselben leiden könnte. In Schlesien wurden bislang alle Versuche mit nicht-backenden Steinkohlen angestellt. Ein starkes Gebläse muß übrigens hierbei angewendet werden."

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Ernst Heinrich Karl von Dechen, Geognost, geb. am 25. März 1800 in Berlin, Studium der Bergwissenschaften ebendort, dann praktische Tätigkeit im Steinkohlenbergbau, 1824 Bergassessor in Berlin, später in Bonn, 1831 Oberbergrat im Ministerium des Inneren in Berlin, 1834-1841 a.o. Professor an der Universität Berlin, seit 1841 Berghauptmann und Direktor des Oberbergamtes Bonn, 1864 als Wirklicher Geheimer Rat aus dem Staatsdienst ausgeschieden, zahlreiche wichtige Fachpublikationen, hohe Orden. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 5, S. 629-631. Johann Bernhard Karstens, Mineraloge, geb. am 26. November 1782 in Biltzow, 1804 Referendar am Oberbergamt in Breslau, 1805 dort Assessor, 1810 als Bergrat und ab 1811 als Oberbergrat in Schlesien tätig, 1819 Oberbergrat im Ministerium des Inneren in Berlin, Handbuch der Eisenhüttenkunde, Halle 1816 als wichtigstes Werk, Herausgeber des "Archiv für Metallurgie" (z.T. mit von Dechen), später umbenannt in "Karstens Archiv", gest. 22. August 1853 in Berlin. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 15, S. 427-430.

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Einige weitere Einzelheiten über die Oberschlesische Eisenindustrie werden mitgeteilt, so über die außerordentliche Eignung des mit Steinkohlen gewonnenen Roheisens zum Eisenguß, über die Verwendimg von Kupolöfen, aber auch Neuigkeiten über die Verhandlungen zum Zollverein in Berlin. Erstaunlicherweise erwähnen sie mit keinem Wort ihren Vater Heinrich, der zur gleichen Zeit in derselben Angelegenheit (Zollfrage) ebenfalls in Berlin anwesend war. Insbesondere im Brief von Rudolf vom 3. April 1833, in dem er sowohl Nachrichten und Grüße von Dechens, Karstens und sogar von Oeynhausens49 übermittelt, wahrlich eine illustere Schar von Fachleuten, mit denen Kontakt zu haben für einen dreiundzwanzigjährigen Studenten ganz außerordentlich gewesen sein dürfte, geht dieser auf die Zollfrage ein.

III. Auf eine Anregung von Dechens50 geht vermutlich auch eine Studienreise der Brüder Böcking nach Oberschlesien zurück, die beide im Spätsommer und Herbst 1833 nach dort unternahmen. Dechen schreibt an Carl Friedrich Stumm (10.7.33) "Vor Rückkehr nach Saarbrücken meine ich beide nach Oberschlesien gehen zu lassen..." Gustav Böcking greift diese Idee offenbar begeistert bereits in seinem Brief vom 3. August 1833 auf und plant eine zweimonatige Reise, die "noch etwas weiter" als bis nach Schlesien ausgedehnt und zunächst über die Sächsische Schweiz nach Prag und Wien führen soll, ehe sie über das Riesengebirge und Brieg nach Schlesien zielt. Der Vorbehalt der Zustimmung des Onkels über Studienplan und Reiseroute bedingt die ergebenste Anfrage:

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50

Karl von Oeynhausen, Geologe, geb. am 4. Februar 1795 in Grevenburg, 1817 Bergreferendar in Tarnowitz, 1824 Oberbergamtskassierer ebendort, 1829 Oberbergrat in Dortmund, 1830 in Halle, 1834 in Bonn, 1841 Geheimer Bergrat und vortragender Rat im Finanzministerium, 1847 Berghauptmann und Direktor des schlesischen Oberbergamtes in Brieg, 1855 Berghauptmann der Provinz Westfalen, 1864 Ruhestand auf Gut Grevenburg, am 1. Februar 1862 dort verstorben, zahlreiche Publikationen (z. T. mit von Dechen). Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 25, S. 31-33. Dechen selbst hatte bereits 1826 und 1827 gemeinsam mit seinem damaligen Bergassessorkollegen Oeynhausen Studienreisen nach England unternommen, vgl. dazu MARTIN SCHUMACHER, Auslandsreisen deutscher Unternehmer 17501851 unter besonderer Berücksichtigung von Rheinland und Westfalen, Köln 1 9 6 8 , S . 17.

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"Wenn Du die Zeit hättest, wäre es uns sehr angenehm noch vor September einen Brief von Dir zu erhalten, worin Du uns Deine Ansicht wegen unserer Collegien, so wie unseren Reiseplan mitteilst; und uns zugleich eine Anleitung gäbest, wie unsere Reise in Schlesien uns von größtem Nutzen sein könnte." Zum Glück für unsere Reisenden blieb ein solcher, vermutlich strenger, Brief aus - im Gegenteil, in einer Randbemerkung auf dem Brief vermerkt der Onkel sein ausdrückliches Einverständnis. So konnte die geplante Reise in dem Sinne unternommen werden, wie sie geplant war: mehr als Vergnügungs- denn als Studienreise. Gustav Böcking hat nämlich während dieser Reise ein Tagebuch verfaßt, das es zuläßt, die genaue Reiseroute und die Aktivitäten der Reisenden nachzuzeichnen, und darin ist von fachlichen Erkundungen kaum die Rede, wohl aber von anderen Reisefreuden der jungen Männer.51 Die Tagebucheintragungen zeugen von "der unbeschwerten Freude dieser Postkutschenreise". In Prag verbrachte man drei Tage, zehn in Wien und nur am Ende besuchte man die oberschlesische Berg- und Hüttenindustrie. Immer wieder wird von Besichtigungen von Kirchen, Klöstern und Museen berichtet; täglich besuchte man die Oper oder Konzerte, ein technisches Interesse spiegelte sich in den Tagebüchern nur wenig. Die technischen Erkenntnisse der Erkundungen wurden dem Onkel erst in langen Briefen aus Oberschlesien bzw. nach Rückkehr aus Berlin berichtet. "Reisen" nahm insgesamt für den Qualifikationserwerb der frühindustriellen Unternehmer und den Technologietransfer dieser Zeit eine bedeutende Stellung ein.52 In einer ersten Phase waren es im späten 18. und frühen 51 Tagebuch einer Reise über Dresden, die sächs. Schweiz, Töplitz, Prag, Wien, Brunn, Troppau und durch Schlesien v. 29ten August bis zum 29ten Oktober v.G. Böcking (56 Bl.), in: Familienarchiv Böcking, Abentheuerhütte. 52 Dazu ausführlich MARTIN SCHUMACHER, Auslandsreisen deutscher Unternehmer, S. 268-273, hier S. 269. Zur Bedeutung von Reisen für den Technologietransfer siehe allgemein: WILHELM TREUE, Eine preußische "technologische" Reise in die besetzten Gebiete im Jahre 1814, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 28, 1935, S. 15-40; WERNER KROKER, Wege zur Verbreitung

technologischer Kenntnisse zwischen England und Deutschland in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, Berlin 1971; HANS-JOACHIM BRAUN, Technologische Beziehungen zwischen England und Deutschland von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Düsseldorf, 1974; WOLFHARD WEBER, Industriespionage als technologischer Transfer in der deutschen Frühindustrialisierung, in: Technikgeschichte, 42, 1975, S. 287-305, DERS., Probleme des Technologietransfers im Europa des 18. Jahrhunderts, in: ULRICH TROITSCH (Hg.), Technologischer Wandel im 18. Jahrhundert, Wolfenbüttel 1981, S. 189-218; HANSJOACHIM BRAUN, German Entrepreneur and Technicians in England in the Eigh-

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19. Jahrhundert vor allem preußische Staatsbeamte, die vornehmlich England, das "Musterland des industriellen und kommerziellen Fortschritts", besuchten.53 Die englische Hüttenindustrie54 wurde dabei zu einem bevorzugten Objekt der Neugier der deutschen Reisenden: Carl Friedrich Stumm war 1829 bereits in England gewesen und weitere Hüttenindustrielle lassen sich finden, so Eberhard Hoesch (1823) und Jacob Mayer (1838), und auch Heinrich Böcking besuchte im Herbst 1839 die Insel. Andere Industrielle wandten nun aber darüber hinaus auch ihr Interesse der aufstrebenden Eisenindustrie in Belgien und Frankreich zu, so etwa Franz Haniel, Friedrich Harkort, Wilhelm Lueg und die Gebrüder Remy. Auch Carl Friedrich Stumm unternahm in den 40er Jahren erneut Reisen nach England und Belgien sowie ins benachbarte Rheinland und nach Lothringen, vornehmlich, um Walzwerkanlagen zu besichtigen. Gerade die Einführung des Puddelverfahrens in Deutschland während der 1820er und 1830er Jahre verdankt seinen Erfolg den Erkundungsreisen Friedrich Harkorts, Christian und Friedrich Remys, Eberhard Hoeschs und anderen, die z.T. schon Ende des 18. Jahrhunderts erste praktische Erfahrungen im Ausland machten und von dort jahrzehntelang ihre Fachkräfte rekrutierten.55 Das Problem der aktiven Industriellen war, daß sie wegen der geschäftlichen Verpflichtungen in ihren Betrieben nur sehr wenig Zeit für derartige Studienreisen aufwenden konnten und auch mit zunehmendem Alter den Strapazen, Beschwernissen und Gefahren dieser Reisen immer weniger gewachsen waren. Was lag also näher, als ausgedehnte Studienreisen im Rahmen der Vorbereitung auf den Beruf in jungen Jahren zu unternehmen und "fortschrittliche Produktionsmethoden in unmittelbarer Anschauung"

teens Century, in: "Der curieuse Passagier". Deutsche Englandreisende des 18. Jahrhunderts als Vermittler kultureller und technologischer Anregungen, Heidelberg 1983, S. 63-74. 53 Vgl. dazu WILLIAM O. HENDERSON, England und die Industrialisierung Europas, in: Zeitschrift fllr die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 108, 1952, S. 264-294. 54 HANS-JÜRGEN TEUTEBERG, Der Ausbau der englischen Binnen- und Küstenschifffahrt während der Frühindustrialisierung im Spiegel zeitgenössischer Reiseberichte, in: Technikgeschichte, Bd. 34 (1967), Nr. 2, S. 115-145 kann auch auf zahlreiche Reisende mit Interesse an Verkehrsinnovationen hinweisen, so z.B. auf S. 129/30 und 137. 55 MARTIN SCHUMACHER, Auslandsreisen deutscher Unternehmer, S. 45-46 und S. 227-229. Zur Einfuhrung des Puddelverfahrens vgl. LUDWIG BECK, Die Einführung des Flammofenfrischens in Deutschland durch Heinrich Wilhelm Remy & Co auf dem Rasselstein bei Neuwied, in: CONRAD MATSCHOB (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Technik und Industrie, Jahrbuch des VDI 3, 1911, S. 86-130. 176

kennenzulernen. Daß man dabei die Annehmlichkeiten einer Bildungs- und Vergnügungsreise mit den Anstrengungen einer Studienreise verbinden konnte, zeigen uns die jungen Böckings, die nun allerdings nicht mehr England zum Ziel ihrer Erkundungen machten, sondern näher gelegene Anschauungsobjekte fanden. Die Wahl des Reiseziels spiegelte nicht nur den Grad der fachlichen Kompetenz der Reisenden und deren Interessen, sondern läßt zugleich auch Rückschlüsse auf den Entwicklungsstand der gewählten Region zu. Oberschlesien galt an der Wende zum 19. Jahrhundert bei vielen Zeitgenossen als eine der fortschrittlichsten europäischen Bergbau- und Hüttenregionen, die selbst mittlerweile von zahlreichen Ausländern aus Gründen der Informationsgewinnung über neuere technologische Verfahren besucht wurde und die von ihren Erfahrungen dort ausführlich zu berichten wußten. 56 Im 18. Jahrhundert bildete Oberschlesien im Gegensatz zu England und Italien noch kein bevorzugtes Ziel für Bildungsreisen, und auch mit Beginn einer Reisetätigkeit nach Oberschlesien am Ende des Jahrhunderts waren es weniger allgemeine Bildung, sondern technische Kenntnisse, die man dort zu gewinnen und vertiefen suchte. Ende der 1820er Jahre wurde die Region vom Berg- und Hüttenfachmann Christian Fürchtegott Hollunder (1791 -1829) gar als "preußisches England" bezeichnete.57 Was lag also näher für die Gebrüder Böcking, als gerade diese Region zum Ziel ihrer Studienreise zu machen? Hier wird von den Böckings an eine längere Tradition der technischen Bildung und des Technologietransfers angeknüpft, die den Zeitgenossen weitgehend geläufig war. In Oberschlesien hatte sich, gestützt auf die Initiativen preußischer Beamter im frühen 19. Jahrhundert, die erste deutsche schwerindustrielle Industrieregion entwickeln können.58 Trotz aller Fortschritte in Oberschlesien muß jedoch festgehalten werden, daß zumindest bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein technologischer Rückstand gegenüber England weiter fort-

56

Vgl.

dazu

HANSWALTER DOBBELMANN,

VOLKER HUSBERG und

WOLFHARD

WEBER, "Das preußische England...". Berichte über die industriellen und sozialen Zustände in Oberschlesien zwischen 1780 und 1876, Wiesbaden 1993. 57

58

CHRISTIAN FORCHTEGOTT HOLLUNDER, B e r g - und Hüttenmännischer W e g w e i s e r

durch Oberschlesien. Ein Handbuch, 2 Bde., Berlin 1828. Das Zitat findet sich aufS. 53. WILLIAM O. HENDERSON, The State and the Industrial Revolution in Prussia 17401870, Liverpool 1958 und KONRAD FUCHS, Vom Dirigismus zum Liberalismus. Die Entwicklung Oberschlesiens als preußisches Berg- und Hüttenrevier, Wiesbaden 1970.

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bestand und auch danach andere deutsche Industrieregionen eher an der Spitze des Fortschritts marschierten. 59 In den Briefen eines reisenden Engländers um 1780 wird aus Oberschlesien berichtet, daß dieses größtenteils von sumpfigen Wäldern bedeckt sei, aus denen gelegentlich Flecken und Dörfer ausgehauen seien, wo man unter den unsauberen Einwohnern nackende Kinder spielen fände. 60 Für das Bewußtsein der Bevölkerung gelte noch: "... besser leibeigen und faul, als frei und arbeitsam!" Die Edelleute unterschieden sich in ihrer "Roheit" kaum vom Volk, Ausnahmen bildeten lediglich die Fürsten Pleß und Grafen Colonna. Die Ressourcen des Landes werden von den Adeligen in rückständigen Formen genutzt, durch Holzverkauf, Holzverkohlung und Eisengewinnung 61 . Diese sicher nicht ganz unvoreingenommene Zustandsbeschreibung, die sich jedoch aus ähnlichen Überlieferungen abrunden läßt, liegt gerade ein halbes Jahrhundert zurück, als sich die Gebrüder Böcking nach Oberschlesien auf den Weg machen. England wäre sicher auch für sie als Anschauungsobjekt immer noch attraktiver gewesen, doch war von Berlin aus Oberschlesien billiger und schneller zu erreichen, und für ihren Wissensstand reichten die dort zu erwartenden Erkenntnisse und Erfahrungen wohl auch noch vollends aus. Es war vor allem die Zinkindustrie, die im frühen 19. Jahrhundert der schwerindustriellen Expansion einen Weg gebahnt hatte. Angeregt durch eine Englandreise entwickelte Johann Christian Ruhberg (ca. 1 7 4 5 - 1807) um 1800 hier ein Verfahren zur metallischen Gewinnung von Zink. Daran schloß sich ein förmlicher "Zinkboom" an, der wegen der großen Nachfrage nach Steinkohle für die Region zu einem wichtigen Entwicklungsimpuls

60 61

TONI PIERENKEMPER, Das Wachstum der oberschlesischen Eisenindustrie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts - Entwicklungsmodell oder Spielwiese der Bürokratie? in: DERS. (Hg.) Industriegeschichte Oberschlesiens im 19. Jahrhundert, Wiesbaden 1992, S. 77-106. HANSWALTER DOBBELMANN u.a., "Das preußische England...", S. 7 weitere Hinweise auf S. 8-10. DAVID S. LANDES, Der entfesselte Prometheus. Technologischer Wandel und industrielle Entwicklung in Westeuropa von 1750 bis zur Gegenwart, Köln 1973, S. 174 charakterisiert die adeligen Grundbesitzer in Oberschlesien dadurch, daß "... deren Horizont so begrenzt war, daß sie ihren Besitz nach alter Tradition nur landwirtschaftlich nutzten. Für sie bedeutete Kohle und Eisen eine Art Schatztruhe, eine unerwartete Vermehrung ihres durch Landanbau und Viehzucht erworbenen Vermögens". Eine moderne, aktive Nutzung der Ressourcen lag offenbar außerhalb ihrer Vorstellungswelt.

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wurde. 62 1828 folgte dem Boom wegen des Auftretens weiterer Konkurrenten am internationalen Markt sehr bald schon wieder eine schwere Krise. Doch die dann rasch einsetzende verstärkte Nachfrage nach Eisenprodukten vermochte den frühen Entwicklungsimpuls weiterzutragen und schließlich den Aufbau der Schwerindustrie in Oberschlesien zu vollenden. Um 1840 erschienen die Produktionsanlagen der Eisenindustrie aus belgischer Sicht allerdings weiterhin als rückständig, wovon Jean Charles Philipe Delvaux de Fenffe anläßlich zweier Reisen nach Oberschlesien zwischen 1840 und 1843 zu berichten weiß. 63 Gemessen am Maßstab der fortgeschrittenen englischen und belgischen Eisenhütten waren die oberschlesischen Anlagen nach seinem Urteil auf internationalen Märkten nicht konkurrenzfähig, eine Modernisierung schien dringend geboten. Und dieses Urteil wurde auch von deutschen Reisenden bestätigt, so z.B. durch den späteren Berghauptmann August Hyssen während einer Studienreise, die diesen als 21 jähriger Bergreferendar 1845 nach Oberschlesien führte. 64 Wie stellte sich nun das Bild über den Zustand der oberschlesischen Eisenwerke ein Jahrzehnt früher nun unseren Reisenden dar? Noch auf der Reise selbst gibt Gustav Böcking in einem Brief vom 14. Oktober 1833 aus Königshütte dem Onkel einen ersten ausführlichen Bericht. "Auf den Rybniker Werken hielten wir uns drei Tage auf und sahen die dortigen Frischfeuer, das Puddlingswerk, das Stabeisenwalzwerk und das Grob- und Blecheisenwalzwerk. Das Puddlingswerk ist sehr mangelhaft eingerichtet und die Maschinen äußerst schlecht." Es folgt eine ausführliche Begründung dieses Urteils. Der Puddelofen erscheint als zu lang geraten, die Schienenwalzen waren durch den Hüttenmeister Paul selbst konstruiert, jedoch noch nicht praktisch erprobt, die Resultate also noch ungewiß. Von Rybnik ging die Reise dann zur Königlichen Hütte nach Gleiwitz. Dort hielten sich die Brüder zehn Tage lang auf und wurden ebenso wie in Rybnik durch alle Beamten zuvorkommend behandelt. Sie erhielten Einsicht in alle Notizen und Zeichnungen. In Gleiwitz bemühten sich beide vor allem, "... Notizen über den Hochofenbetrieb mit rohen Steinkohlen zu sammeln." Offenbar waren die Erfolge dieses Verfahrens bislang äußerst bescheiden geblieben, Oberinspektor Schulze hatte keinen günstigen Erfolg zu berichten, während der Hüttenmeister Naglo bessere Ergebnisse gehabt ha-

6 2 63

64

KONRAD FUCHS, V o m D i r i g i s m u s z u m Liberalismus, S. 9 7 ff. V g l . HANSWALTER DOBBELMANN u.a., "Das preußische England...", S. 2 1 0 .

Ebd., S. 232-252.

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ben will. Aus dem Kampagnebuch eines viertägigen Versuches mit 170 Tonnen Steinkohle gehen die verschiedenen Schwierigkeiten hervor. Es kam zu Stockungen im Durchgang des Hochofens, bedeutende Teile der Erze bleiben in ungeschmolzenem Zustand in der Schlacke haften, der Prozeß wurde verzögert, und man erhielt weniger Roheisen. Nach etwa zwölf Stunden und dem erneuten Zusatz von Koks ereignete sich sogar eine Explosion: Eine fast haushohe Feuersäule schlug mehrfach aus der Gicht. Trotz gegenteiliger Behauptungen des Hüttenmeisters Naglo scheinen die Erfolge mit dem Erschmelzen von Roheisen unter Verwendung von Rohkohle äußerst gering. Die Kohlen entfalten offenbar nicht an der richtigen Stelle des Schmelzprozesses ihre Wirkung, ein großer Teil verbrennt schon beim Herabsinken in der Gicht. Etwa acht Wochen vor ihrer Ankunft in Königshütte war ein erneuter Versuch unternommen worden, anstelle von Koks rohe Steinkohlen im Hochofen zu verwenden. Dabei wurden insgesamt 12 Gichten hintereinander mit rohen Steinkohlen eingesetzt und die Ergebnisse schienen, obwohl der Niedergang der Schichten nicht leicht zu verfolgen war, weitaus besser: Das Eisen erschien "hitziger und garer", d. h. wohl, mit einer höheren Schmelztemperatur und geringerem Kohlenstoffgehalt versehen. Gustav Böcking kommt hinsichtlich des Hochofenwerkes in Gleiwitz insgesamt zu einer eher positiven Bewertung. "Der Hochofenbetrieb ist hier großartig, 3 Öfen sind immer in Betrieb, diese werden zu gleicher Zeit (alle 6 Stunden) ausgearbeitet und zu gleicher Zeit abgestochen, und produzieren jährlich ca. 8000 Ztr...." Doch gilt dieses Urteil nicht für alle Anlagen. "In Malapane, bei dem dortigen Holzkohlenhochofen soll jetzt ein Versuch gemacht werden mit warmer Luft zu hütten, wobei die Luft aus der Gicht erwärmt werden soll... doch wird erst in vier Wochen angeblasen." Trotz dieser zukunftsweisenden Experimente gilt doch insgesamt: "Die Hüttenwerke in Schlesien im ganzen schlecht und mangelhaft eingerichtet und schlecht verwaltet. Puddlingshütten werden jetzt sehr viele in Schlesien gebaut, die aber zum Teil sehr mangelhaft sind." Rudolf Böcking ergänzt diesen Bericht seines Bruders nach ihrer Rückkehr nach Berlin mit einem ausführlichen Schreiben vom 3. November 1833. Er bezieht sich dabei nochmals auf den genannten Brief des Bruders aus Königshütte, in dem alles bis dahin Beobachtenswerte bereits mitgeteilt sei. Von Königshütte aus waren sie dann nach Tarnowitz und Friedrichshütte gereist, wo jedoch wenig Interessantes zu finden gewesen war. In die Friedrichsgrube waren sie mit Obereinfahrer von Camall eingefahren. Von Tarnowitz aus ging die Reise nach Malapane weiter. Dort fanden sie viel Interes180

santes und Lehrreiches vor, allerdings konnten sie nur zwei Tage dort verweilen, weil sie zu Beginn der Vorlesungen wieder in Berlin sein wollten. Als besonders bemerkenswert schien ihnen erstens ein "... Schöpfherd, woraus alles Eisen, das hier zur Gießerei verwandt wurde, zur jeder Stunde geschöpft werden kann. In Neunkirchen mögte ein solcher Schöpfherd auch von großem Nutzen sein, indem man alsdann zu jeder Tageszeit ohne die geringsten Umstände gießen könnte ... Eine Zeichnimg und Beschreibung dieses Schöpfherdes fmdest Du in Karstens Archiv von 1832. Zwei ähnliche Schöpfherde sahen wir noch auf dem Renard'schen Werke Kolonowsk..." darüber hinaus zweitens "Die Vorrichtung mit warmer Luft zu blasen [jedoch kann] ich Dir heute noch nichts über die Resultate, sondern nur über die ungefährige Einrichtung etwas sagen". Dann folgt eine genaue Beschreibung der Gebläseanlage und der Vorrichtungen zur Erwärmung der Gebläseluft. Auch wird davon berichtet, daß es Versuche gegeben hat, mit rohem Holz zu hütten. Die Ergebnisse waren nicht sehr erfolgreich, doch sollen diese Versuche im kommenden Winter wiederholt werden. Kurz vor Ankunft der Brüder Böcking in Malapane waren dort auch Versuche unternommen worden, das mit rohen Steinkohlen gewonnene Roheisen der Königshütte zu frischen. Dabei zeigte sich, daß diese Frischversuche "... sehr ungünstig ausgefallen sind. Das Eisen, welches man darin fabrizierte war höchst faulbrüchig und die Stäbe brachen oft, wenn man von einem Ende darauf schlug, an einem anderen durch. Dabei brauchte man mehr Zeit und Brennmaterial als beim gewöhnlichen Roheisen und die Lieferung war schlechter." Er berichtet dann weiter von den Hammerwerken in Malapane, von den Dampfmaschinen auf den Hochofenwerken u. ä. und resümiert: "Im Allgemeinen sind die Privatwerke in Schlesien noch sehr weit zurück, indem die Besitzer größtenteils keine Huttenleute sind und alles ihren Pächtern überlassen müssen. Dabei haben sie alle große Waldungen und betreiben größtenteils die Hütten nur um ihr Holz unterzubringen. Sie rechnen dann auch nicht, wieviel sie auf ihrer Hütte jährlich gewonnen haben, sondern zu wie viel sie das Klafter Holz untergebracht hätten." Auch berichten sie vom Zusammentreffen mit einem Engländer, einem "höchst eingebildeten Menschen und großen Schwätzer", der angeblich die Quinter-Hütte (für Kraemer) gebaut habe und auch dem Onkel vergeblich 181

ein Angebot gemacht haben soll. "Er legt hier gerade dem Grafen Renard ein Puddlingswerk an! Derselbe soll jedoch nicht sehr mit ihm zufrieden sein." Insgesamt haben die Gebrüder Böcking in Oberschlesien neben den staatlichen Eisenwerken nach Auskunft Rudolfs etwa zehn bis zwölf Privatwerke besichtigt. Die Eisenpreise sind hier insgesamt deutlich geringer als im Rheinland, weil die Rohstoffe ebenfalls deutlich billiger sind. "Zu wünschen wäre, daß man bei uns die rohen Materialien auch so billig haben könnte und zwar ganz besonders die Steinkohlen. Wegen der Konkurrenz der Privatsteinkohlengruben muß das Bergamt die Kosten den Hütten billig verabfolgen. Dem ungeachtet kaufen selbst einige königliche Hütten ihre Steinkohlen von Privatgruben." In einem weiteren Brief aus Berlin an den Onkel vom 22. Dezember 1833 geht Rudolf nochmals auf die Reise nach Oberschlesien ein. Er korrigiert darin einige Fehler der Zeichnung, die sie von der Vorrichtung zum Blasen mit erwärmter Luft in Malapane angefertigt hatten. Aus der Rückschau konstatiert er insgesamt: "Was unsere Reise betrifft, so sahen wir gleich in Schlesien ein, daß unsere Zeit zu kurz war. Wir hatten uns nicht die richtige Vorstellung von dieser Reise gemacht, sonst würden wir unbedingt die Reise nach Wien aufgegeben haben. Doch da der Fehler einmal gemacht war, so suchten wir ihn dadurch wieder gut zu machen, daß wir keinen Augenblick verstreichen ließen indem wir uns am Tage auf den Hütten selbst umsahen, und uns verschiedene Notizen mitteilen ließen, die wir dann an den damals schon ziemlich langen Abenden fleißig ausarbeiteten; und so viel als möglich von verschiedenen Gegenständen Zeichnungen auf Ölpapier machten." Für das nächste Frühjahr wurde daher eine Reise nach Schlesien geplant, die Rudolf nach Ende seiner Kollegien im April 1834 antreten sollte und nach deren Reiseroute dieser in seinem Brief vom 16. März 1834 fragt. Allerdings schlägt er, auch nach Rücksprache mit von Dechen und Karsten, eine Besichtigung der Hüttenwerke in Westfalen vor. Dies, weil die Zeit für eine ausgedehnte Reise nach Oberschlesien zu knapp erscheint, Rudolf es auch nach Saarbrücken zurückzieht sowie auch mit Rücksicht auf seine angegriffene Gesundheit. Er schreibt jedoch: "Wenn Du es daher für gut hältst, daß ich nochmals nach Schlesien gehe, so bitte ich, mich es wissen zu lassen und mir auch gleich die Zeit zu bestimmen bis wann Du wünscht, daß ich in Saarbrücken eintreffen solle, wonach ich mich mit dem größten Vergnügen richten werde. Meiner Ansicht nach wird es gut sein, wenn ich mich hauptsächlich auf Gleiwitz beschränke, sodann noch einige Tage in Malapane, wo mit warmer Luft geblasen wird 182

und in Rybnik, wo jetzt mit Holz gepuddelt und Schienen gewalzt werden, zubringe." Und einige Absätze weiter berichtet er: "Nach einem heute aus Rybnik erhaltenen Briefe, sind die ersten Versuche Schienen zu walzen daselbst verunglückt. Nächstens soll jedoch ein neuer Versuch gemacht werden, auf dessen Resultat ich sehr gespannt bin." Etwa drei Wochen später, am 6. April 1834 schreibt dann Rudolf an den Onkel. "Nach reiflichen Erwägungen des Inhalts Deines lieben Briefes vom 26. schien es mir in allen Hinsichten für mich am zweckdienlichsten, die Reise nach Schlesien aufzugeben und die mir in Deinem lieben Briefe gütig vorgeschlagene Reiseroute anzutreten." Nach Rücksprache mit Herrn von Dechen soll es zunächst über Halle nach Eisleben gehen, um dort die Hüttenwerke, bei denen es sich allerdings nicht um Eisenhütten handelt, zu besichtigen. Eisenhütten sollen dann im Harz studiert werden, wo sich zahlreiche derartige Einrichtungen befinden.65 Dann soll es nach Kassel und die in der Umgebimg gelegenen Eisenwerke gehen, danach zu den Nassauischen Eisenhütten und ins Siegerland. Am 3. Mai 1834 berichtete Rudolf dann bereits aus Blechhütte bei Thale über einen Besuch in der Hütte Mägdesprung66 und die dort erzielten Ergebnisse bei der Gewinnung von Roheisen, über das Frischen von Stabeisen, über Gießen und Walzen. Seine Reise endet in Bad Ems, um die angegriffene Gesundheit zu festigen. Von dort berichtete er über seine Langeweile, geht auf Mißhelligkeiten zwischen dem Onkel und dem Vater Heinrich Böcking ein, hält Kontakt mit dem Bruder Gustav, der sich gegenwärtig in Venedig aufhielt. Aber auch hier betrieb er weiterhin technologische Erkundigungen, so durch einen Besuch auf der nahe gelegenen Saynerhütte. Seine Kur zieht sich noch länger hin, doch plant Rudolf bereits weiter:

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Die Hütten im Harz zählten im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zu den "großartigsten Hüttenwerken Deutschlands", vgl. CHRISTIAN ZIMMERMANN, Das Harzgebirge in besonderer Beziehung auf Natur- und Gewerbekunde geschildert, 2. Teil, Darmstadt 1834, S. 90. Auch hier werden nahezu alle technischen Neuerungen des frühen 19. Jahrhunderts erprobt, z.B. auch das Heißwindblasen, vgl. dazu MICHAEL MENDE, Aus der Blüte des Harzes und des Weserberglandes im 19. Jahrhundert, in: KARL-HEINRICH KAUFHOLD (Hg.), Bergbau und Hüttenwesen im und am Harz, Hannover 1992, S. 56-94, hier: S. 64-72. Die Hütte Mägdesprung im Anhaltischen erlebte gerade in den 1830er und 1840er Jahren ihre Blütezeit, u.a. durch Verbesserungen der Frischmethode und Angliederung einer Maschinenfabrik, vgl. MICHAEL MENDE, Aus der Blüte, S. 62-74.

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"Nach Beendigung der Kur werde ich ohne Zeitverlust danach nach Hause reisen. Deinem Wunsche zufolge werden ich mich dann, wenn ich mich in Saarbrücken etwas ausgeruht habe, mit Vergnügen nach dem Hunsrücke begeben." Dies tut er dann auch Mitte August, nicht jedoch, ohne auf der Heimreise noch den Rasselstein zu besuchen und von einem Besuch bei der Niverner Hütte zu berichten. Am 18. September meldet Rudolf dann seine glückliche Ankunft auf der Asbacher Hütte; im Oktober besucht er dort auch die Hütten in Gräfenbach und Abentheuer, von denen er in Briefen vom 22. Oktober und 20. November berichtet. In diesen Briefen wird deutlich, daß während dieser Zeit zahlreiche technologische Neuerungen an der Saar und im Hunsrück erprobt werden. In Neunkirchen wurden Versuche mit Heißwindblasen für den Januar 1835 geplant und für die Gräfenbacher-Hütte fragt Rudolf beim Onkel an, ob man dort möglicherweise mit Saarbrücker Koks hütten könne. Doch die Gesundheit Rudolfs war offenbar ernsthaft angegriffen, so daß er im Sommer 1835 von einer Erholungsreise aus der Schweiz schrieb. Doch im Herbst ist er wieder zurück und berichtet von der Asbacherhütte, wo ebenfalls Versuche mit dem Blasen des Hochofens mit heißem Wind gemacht wurden, gleiches wird in Gräfenbach beabsichtigt. Der Bruder Gustav war noch ein weiteres Semester in Berlin geblieben. Er fragte im Sommer an, ob der Onkel wünscht, daß er im Herbst nach Hause kommen soll. "... oder gibst Du mir noch ein halbes Jahr Urlaub? Es wäre mir angenehm, wenn ich noch einige Zeit auf anderen Hütten bleiben könnte, besonders in Schlesien den Koks-Hochofen-Betrieb und zugleich das Blasen mit erwärmter Luft kennen zu lernen, welches in Malapane so gut ausgefallen sein soll, daß man nun beabsichtigt, es auch versuchsweise bei einem Koks-Hochofen anzuwenden." Diese Reise trat Gustav dann am 14. August 1834 an und reiste Uber Waldenburg nach Malapane. Aus Gleiwitz berichtete er mit Datum vom 9. November von den Erfahrungen in Malapane, wo sich insbesondere Hüttenmeister Wachler als sehr zugänglich erwies und gerne über alles Auskunft gab. Die Versuche des Blasens mit warmem Wind, von denen schon im letzten Jahr berichtet wurde, haben zu glänzenden Ergebnissen geführt. "Man ist übrigens so für das Blasen mit erwärmter Luft in Schlesien eingenommen, daß man bald keinen Ofen mehr fmden wird, wo mit kalter Luft geblasen wird, auch hat die Erfahrung in Malapane gezeigt, daß das Eisen zum Verfrischen wo nicht besser, doch wenigstens nicht schlechter ist." 184

Neben der Ersparnis von Rohstoffen (1/4 an Holzkohlen und 1/3 an Kalk) und einer entsprechenden Reduzierung der Selbstkosten wird auch das Erz besser ausgeschmolzen und ergibt ein heißeres und flüssigeres Roheisen. Die Walzversuche in Rybnik wurden fortgesetzt, waren aber noch nicht zur vollen Zufriedenheit gelungen. Im Dezember 1834 berichtete er vom Hochofenwerk Gleiwitz, daß der hiesige Ofen ohne Störungen arbeitet, was Gustav bedauerte, weil er nur bei "einem schlechten Gang des Ofens die Schwierigkeiten des Betriebes kennenlernen ..." könne. Auch berichtete er von Versuchen mit der Verkokung von Steinkohle "in langen offenen Meilern" und von einem neuen Kupolofen. In der Formerei beabsichtigte Gustav sogar selbst eine Zeit mitzuarbeiten. Danach plante er, erneut nach KönigshUtte zu gehen und bei den drei dort dauernd in Betrieb stehenden Hochöfen mit ihren nicht seltenen Störungen Erfahrungen zu sammeln; zudem könne er dort zugleich die Grube mit befahren. In Rybnik gelangen die Schienen im neuen Walzwerk inzwischen auch recht gut, doch die Walzen selbst brachen an den Kanten häufig aus. In Königshütte sei geplant, demnächst auch mit heißer Luft zu blasen, der Apparat zur Erzeugung der Druckluft in Malapane sei hingegen schon wieder undicht und bewähre sich also insgesamt schlecht. Am 19. Januar 1835 berichtete er dann von Verbesserungen am Gebläseapparat für den Kupolofen in Gleiwitz und vermutet, daß wegen der Unzweckmäßigkeit des Apparates in Malapane diese Verbesserungen in der nächsten, der dritten Kampagne, auch dort berücksichtigt werden. Diese Verbesserungen teilte er seinem Onkel im Detail mit Zeichnungen versehen ebenfalls mit. Im März 1835 (29.3) berichtete Gustav nochmals aus Königshütte, wo er die drei Hochöfen inspizierte. Dort habe der Hüttenmeister Naglo inzwischen allen Arbeitern verboten, mit Fremden zu sprechen. Trinkgelder halfen jedoch weiter und so erfuhr er, daß die Öfen immer noch schlecht gehen und sogar häufig beinahe einfroren. Dagegen hörte er von den guten Erfolgen in den Saarländischen Hochöfen, über die sein Onkel im letzen Brief berichtete. Offenbar war an der Saar der Anschluß an die oberschlesischen Technologien mittlerweile nicht nur hergestellt, sondern man war dort inzwischen schon weiter fortgeschritten. Die Rückreise von Oberschlesien nach Hause wurde über Tarnowitz, Rybnik, Wien, Salzburg, München und Stuttgart geplant und wegen der durch das viele Arbeiten im Winter geschwächten Gesundheit wurde ein Abstecher nach Wien als kleine Vergnügungsreise mit eingebaut. Von dieser Reise, mit Datum 8. August 1835, berichtet Gustav, daß er auch Hütten in Österreich, insbesondere in der berühmten Steiermark, besuchte. Doch 185

konnte er dort im Vergleich zu Schlesien weit weniger lernen, immerhin genoß er "... die Annehmlichkeit, die schönsten Gegenden Österreichs kennen zu lernen." Schließlich gelangte auch er, wie sein Bruder, auf die Hunsrücker Hütten und meldet in einem Brief aus Asbacherhütte vom 22. Dezember 1835 an seinen Onkel von den Vorhaben der Gebrüder Puricelli, [auf der Rheinböller Hütte] auch im Hunsrück einen Koksofen zu errichten. Ursache dafür war der in allen Hunsrückhütten feststellbare empfindliche Mangel an Brennmaterial. Von der Asbacherhütte selbst blieb zu berichten, daß der Ofen hier wie auch auf der Gräfenbacher Hütte gut gehe. Mit dem Anlassen heißen Windes zum Blasen des Hochofens in Asbach müsse aber noch gewartet werden, da der verantwortliche Techniker, ein Herr Meyer, nicht gesund sei. Das Heißblasen hielt also auch auf den Kokshochöfen des Hunsrück ihren Einzug, und selbst hier wurde die Errichtung von Kokshochöfen bereits erwogen.

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Über die Forschungs- und Technologiepolitik der Europäischen Union VON GÜNTER SCHUSTER

I. DER LANGE MARSCH: DIE SCHRITTWEISE ENTWICKLUNG EINER GEMEINSAMEN FORSCHUNGS- UND TECHNOLOGIEPOLITIK VON 1957-1987 Der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war keine Forschungs- und Technologiepolitik in die Wiege gelegt. Der EGKS '-Vertrag von 1951 und der EWG2-Vertrag von 1957 erlaubten nur einige marginale Forschungsaktivitäten auf dem Gebiet von Kohle und Stahl sowie auf dem der Landwirtschaft. Die großen Mitgliedstaaten der EWG standen - vor allem in den 50er und 60er Jahren - einer gemeinschaftlichen Forschungs- und Technologiepolitik ablehnend bzw. gleichgültig gegenüber. Das ist durchaus verständlich, verfolgten doch die Mitgliedstaaten mit ihren nationalen Forschungs- und Technologiepolitiken bei der internationalen Zusammenarbeit in der Regel sehr unterschiedliche Ziele. Diese Zielsetzungen sind mit anderen politischen Bereichen, wie z.B. der Außen- oder Wirtschaftspolitik, koordiniert bzw. abgestimmt. Dabei sind bisweilen Interessengegensätze zwischen einzelnen Staaten unvermeidlich. Die großen nationalen Forschungs- und Technologieprogramme und die großen nationalen Forschungsanlagen waren und sind der Stolz der Mitgliedstaaten. Wenn es dennoch, Schritt für Schritt, zum Aufbau einer gemeinschaftlichen Forschungs- und Technologiepolitik gekommen ist, so ist das darauf zurückzuführen, daß sich gemeinsame Anstrengungen im Rahmen der

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EGKS: Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EWG: Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

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EG 3 als notwendig erwiesen, um den technischen Vorsprung von großen außereuropäischen Industriestaaten aufzuholen, um Abhängigkeiten zu vermeiden und um die internationale Wettbewerbsfähigkeit von wichtigen Industriesektoren zu sichern. Ein erstes Beispiel ist der EURATOM-Vertrag (EAG 4 -Vertrag) von 1957. Die Motivation für den Abschluß dieses Vertrages war die Befürchtung, daß infolge der Suez-Krise Ende der 50er Jahre die Ölversorgung der Länder der EG gefährdet werden könnte. Öl war schon damals zu 50 % die Grundlage für den gesamten Energieverbrauch. Man hoffte, durch die Entwicklung der friedlichen Nutzung der Kernenergie auf Gemeinschaftsebene rechtzeitig eine neue Energiequelle zur Verfügung zu haben. Gleichzeitig galt es, einen technologischen Rückstand gegenüber den Amerikanern aufzuholen, die auf diesem Gebiet bereits beachtliche Fortschritte erzielt hatten. Dieses Ziel sollte durch die Bündelung der Kräfte und ein koordiniertes Vorgehen der - damals sechs Mitgliedstaaten - verwirklicht werden. Sie gründeten 1957 die Europäische Atomgemeinschaft in der Absicht, durch die Zusammenarbeit die Entstehung und das beschleunigte Wachstum einer eigenständigen europäischen Kernindustrie zu fördern. Geplant war u.a. die Entwicklung einer europäischen Reaktorlinie, die mit Schwerwasserkühlung und organischer Moderierung arbeiten sollte. Der EAG-Vertrag gab der Kernforschung einen breiten Raum. Bereits Mitte der 60er Jahre stellte sich heraus, daß die ehrgeizigen Ziele von EURATOM sowohl aus politischen, wie aber auch aus technischen Gründen, nicht zu verwirklichen waren. Deutschland, Frankreich und Italien gaben ihren nationalen Kernenergieprogrammen Priorität. Es gelang nicht, EURATOM mit den nationalen Politiken zu vereinbaren. EURATOM und die von EURATOM geschaffene Gemeinsame Kernforschungsstelle (vier Forschungszentren) gerieten in eine mehrjährige tiefe Krise. Die Zukunft von Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten im Rahmen der EG war damals grundsätzlich in Frage gestellt. Wie ging es weiter? Ende der 60er Jahre rüttelte Jean-Jacques S E R V A N - S C H R E I B E R mit seinem Bestseller "Die amerikanische Herausforderung" 5 die Europäer wach. Man erkannte, daß der Rückstand der westeuropäischen Länder gegenüber den USA auf dem Gebiet der »Modemen Technologien«, vor allem auf dem Kommunikations- und

EG: Europäische Gemeinschaft EAG: Europäische Atomgemeinschaft SERVAN-SCHREIBER, Jean-Jacques, Die amerikanische Herausforderung, Hamburg

1968.

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Elektroniksektor, bedrohlich groß geworden war. Dies führte dazu, daß die sechs Mitgliedstaaten der EG in Brüssel - unter Beteiligung der Kommission der EG - Beratungen führten, ob und wie man durch mehr Kooperation bei der Forschung diesen Rückstand aufholen könne? Da sich zu dieser Zeit vor allem Frankreich noch sträubte, nichtnuklearen Forschungsaktivitäten im Rahmen der EG zuzustimmen, kam es zu einer Art Kompromißlösung, nämlich zu der Zwischenregierungs-Zusammenarbeitsvereinbarung COST 6 , an der sich alle demokratischen westeuropäischen Länder beteiligen konnten. Die Leitung von COST lag in den Händen eines Ausschusses von »Hohen Beamten« der beteiligten Staaten, das Sekretariat wurde von den Diensten des Ministerrats mit Unterstützung der Dienste der Kommission wahrgenommen. Dadurch war die COST-Zusammenarbeit an die EG angebunden. Über COST konnten sich die westeuropäischen Staaten, neben den eigenständigen COST-Programmen, auch an den Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten der EG beteiligen. So war COST eine Brücke zu den Nichtmitgliedstaaten, vor allem zu dem Vereinigten Königreich. Die Programme von COST dienten der Koordinierung von bereits bestehenden Aktivitäten nationaler Forschergruppen zu gemeinsam ausgewählten dispersen Themen aus dem Bereich der angewandten Forschung. Dies geschah durch die sogenannten »Konzertierten Aktionen«. Die Konzeption einer Gesamtstrategie für die EG im Aufhol- oder Nachholprozeß wurde von COST nicht angestrebt. COST war - und ist auch heute noch - nützlich, reichte aber in keiner Weise als Antwort auf die oben angesprochene Herausforderung aus. Die Kommission der EG erarbeitete Anfang der 70er Jahre einen Vorschlag für eine gemeinschaftliche Wissenschafts- und Technologiepolitik aus, die Beiträge zu vier Zielen leisten sollte: - die langfristige Sicherung wichtiger Ressourcen, - eine international wettbewerbsfähige Industrie, - die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bürger, - der Schutz von Umwelt und Natur. 1974 kam es dann nach langwierigen Verhandlungen in Brüssel zu einem »Durchbruch«, wobei die Ölkrise im Jahr 1973 letzte noch bestehende Bedenken bei einigen Regierungen beseitigen half. Der Ministerrat nahm eine auf Artikel 235 EWG-Vertrag gegründete - die Mitgliedstaaten nicht COST: Coopération Européen dans le Domain de la Recherche Scientifique et Technique

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rechtlich bindende - Ratsentschließung an "Über die Koordinierung der einzelstaatlichen Politiken und die Definition von Aktionen von gemeinschaftlichem Interesse im Bereich von Wissenschaft und Technologie". Damit war der erste Schritt auf dem Weg zu einer gemeinsamen Forschungs- und Technologiepolitik7 getan. Neue nichtnukleare Programme, so z.B. zur Förderung der Entwicklung von alternativen Energiequellen, wurden vom Ministerrat verabschiedet. Sie hielten sich aber alle noch in einem verhältnismäßig bescheidenen finanziellen Rahmen von etwa 1 % des EGHaushalts. Den größten Teil der damals zur Verfügung stehenden Finanzmittel erhielten die vier Forschungsanstalten der in eine Gemeinsame Forschungsstelle umgewandelten Gemeinsamen Kernforschungsstelle, die nun auch im nichtnuklearen Bereich tätig werden konnte und zwei erfolgreiche Programme von EURATOM, nämlich die Arbeiten zur Verwirklichung der Kernfusion und ihrer Nutzung zur Energieerzeugung sowie das Strahlenschutzprogramm. Wieder ergab sich recht bald die Notwendigkeit für die Mitgliedstaaten der EG zum Handeln, um einen neuen technischen Rückstand aufzuholen. Anfang der 80er Jahre zeigte es sich, daß die europäischen Länder auf dem Gebiet der sogenannten Hochtechnologien, vor allem der Mikroelektronik, der Informations- und Kommunikationstechnologien sowie der Biotechnologie im Vergleich mit den USA und nun auch mit Japan soweit zurücklagen, daß die Industrien der Mitgliedstaaten der EG auf diesen Gebieten ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren drohten. Eine Verstärkung der gemeinsamen Forschungsbemühungen schien geboten. In enger Zusammenarbeit zwischen Vertretern europäischer Industriefirmen und der Kommission der EG wurde das 5-Jahresprogramm ESPRIT8 erarbeitet und im Jahre 1984 vom Ministerrat verabschiedet. Im Haushalt der EG wurden dafür 750 Mio. ECU (1,5 Mrd. DM) bereitgestellt, zu denen noch einmal 750 Mio. ECU von den Industriefirmen kamen, so daß für ESPRIT drei Mrd. DM für fünf Jahre zur Verfügung standen. Dies war ein Durchbruch in eine neue Größenordnung für die finanzielle Ausstattung von EG-Forschungsprogrammen.

Vgl. Gemeinsame Politik für Wissenschaft und Technologie, Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Beilage 3/77. ESPRIT: European Strategie Programm for Research in Information Technologies

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ESPRIT fördert die Zusammenarbeit auf den Gebieten der Mikroelektronik und der Informationstechnologien und ist auf langfristige vorwettbewerbliche Zielsetzungen ausgerichtet. Dem Programm ESPRIT folgten die Programme RACE9 und BRITE10, beide mit größeren Finanzmitteln ausgestattet. RACE fördert die Entwicklung neuer Kommunikationssysteme, vor allem der integrierten Breitbandkommunikation, und BRITE zielt auf die verstärkte Nutzung moderner Technologien in den europäischen Industriefirmen. Durch die Erfolge dieser - und auch anderer - Forschungsprogramme der EG, durch den fortbestehenden Konkurrenzdruck gegenüber den USA und Japan und durch ein für die europäische Zusammenarbeit freundliches Klima kam es schließlich Mitte 1987 dazu, daß bei der ersten Revision des EWG-Vertrags im Zusammenhang mit der Verabschiedung der EINHEITLICHEN EUROPÄISCHEN AKTE eine gemeinsame Forschungs- und Technologiepolitik der EG in den EWG-Vertrag aufgenommen wurde. 30 Jahre nach Unterzeichnung der Gründungsverträge gab es nun eine im EWGVertrag etablierte eigenständige Forschungs- und Technologiepolitik11 der EG. Der revidierte Vertrag legte fest, daß die gemeinschaftliche Forschungs* und Technologiepolitik die wissenschaftlich-technischen Grundlagen der europäischen Industrie stärken sowie die Entwicklung ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit fördern sollte. Diese Zielsetzung schloß die Förderung einer effizienten Grundlagenforschung auf hohem Niveau ein, deren Ergebnisse neue Ideen und Zukunftsentwicklungen in der Wirtschaft initiieren sollten. Auf Vorschlag der Kommission verabschiedete der Ministerrat zu diesem Zweck ein gut dotiertes Mobilitätsprogramm »Humankapital und Mobilität«, das die transnationale wissenschaftliche Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Grundlagenforschung verbessern und zu einer gesteigerten Nutzung des intellektuellen Potentials innerhalb der EG beitragen sollte. Dieses Programm stieß auf eine große Resonanz. Der revidierte EWG-Vertrag legt fest, daß alle Programme der EG-Forschungs- und Technologiepolitik in einem fünfjährigen Rahmenprogramm zusammengefaßt werden, das die Ziele, die Grundzüge der geplanten Aktionen und den finan9 10 11

RACE: Research and Development in Advanced Communications Technology for Europe BRITE: Basic Research for Industrial Technologies for Europe Vgl. STREMMEL, Jörg, Die Forschungs- und Technologiepolitik der Europäischen Gemeinschaft, Aachen 1988, S. 172 und KRKAU-RICHTER, VON SCHWERIN, For-

schungs- und Technologieförderung der EG, 2. Aufl.,Brüssel 1990, S. 184.

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ziellen Gesamtrahmen sowie die Verteilung auf die Programme festlegt. Das Rahmenprogramm kann bei Bedarf - bei der Entwicklung einer neuen Lage - angepaßt oder ergänzt werden. Hierzu bedarf es aber jeweils eines neuen Ministerratsbeschlusses. Mit dem Rahmenprogramm steht der EG ein Instrument mittelfristiger Planung ihrer Forschungsaktivitäten sowie ihrer Finanzierung zur Verfügung. Die EG12-Forschungs- und Technologieprogramme sind im vorwettbewerblichen Bereich angesiedelt: Forschung mit EG-Mitteln soll nicht zu Marktvorteilen fllr Firmen oder Produkte führen, sondern Ergebnisse erzielen, auf die weitere Entwicklungen für die Marktreife aufbauen können und so indirekt die Chancen der Industrie verbessern.

II. DER VERTRAG VON MAASTRICHT13 UND DAS VIERTE RAHMENPROGRAMM Mit dem Vertrag von Maastricht, der im November 1993 in Kraft trat, beginnt eine neue Phase für die gemeinschaftliche Forschungs- und Technologiepolitik. Sie erhält ein verstärktes Gewicht und eine erweiterte Aufgabenstellung. Der Vertrag betont den horizontalen Charakter der gemeinschaftlichen Forschungs- und Technologiepolitik: Die Forschungsaktivitäten wirken in viele Gemeinschaftspolitiken hinein und tragen zu ihrer Gestaltung mit bei. Zusätzlich zu dem allgemeinen Ziel der Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrien kann nun Forschung aufgegriffen werden, die zum Erreichen der Ziele anderer EU14-Politiken notwendig ist. Dazu gehören z.B. die Gesundheits- und die Verkehrspolitik (neue Verkehrsmittel!). Der Vertrag betont ferner die Aufgabe der Koordinierung der einzelstaatlichen Forschungspolitiken untereinander und mit der der EU. Im Vertragstext heißt es: "Die Mitgliedstaaten koordinieren untereinander in Verbindung mit der Kommission die auf einzelstaatlicher Ebene durchgeführten

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14

EG: Europäische Gemeinschaft Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der EU (Hrsg.), Die Europäische Union, Luxemburg 1992 und Europa-Union (Hrsg.), Europäische Gemeinschaft Europäische Union, Bonn 1993. EU: Europäische Union

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Politiken und Programme. Die Kommission kann in engem Kontakt mit den Mitgliedstaaten alle Initiativen ergreifen, die dieser Koordinierung förderlich sind." Z.Zt. ist noch das dritte Fünfjahres-Rahmenprogramm 1990-1994 in Kraft. Für dieses Programm standen etwa 6,5 Mrd. ECU zur Verfügung, die zu nahezu 100 % ausgegeben bzw. bewilligt sind. Die Kommission hat Anfang 1993 den Vorschlag für ein neues viertes Rahmenprogramm für die Jahre 1994-1998 dem Ministerrat vorgeschlagen, das im »gleitenden Verfahren« das dritte Rahmenprogramm ablösen soll. Das vierte Rahmenprogramm entspricht den Maßgaben des Vertrages von Maastricht. Der Vorschlag wird nach den neuen im Maastricht-Vertrag festgelegten Bestimmungen entschieden, worauf ich noch zurückkommen werde. Das vierte Rahmenprogramm gliedert sich in vier Aktionsbereiche: 1) Durchführung von Programmen für Forschung, technologische Entwicklung und Demonstration 2) Förderung der Zusammenarbeit mit Drittländern und internationalen Organisationen 3) Verbreitung und Auswertung der Ergebnisse der Tätigkeiten der Forschungs- und Technologiepolitik 4) Förderung der Ausbildung und der Mobilität der Forscher in der Gemeinschaft Da der erste Aktionsbereich alle Forschungs-Entwicklungs- und Demonstrationsprogramme umfaßt, ist er inhaltlich und der finanziellen Ausstattung nach der gewichtigste. Für ihn sollen rund 87 % der verfügbaren Mittel eingesetzt werden. Die restlichen 13 % stehen für die Aktionsbereiche 2 (4 %), 3 (2,5 %) und 4 (6,5 %) zur Verfügung. So ist das vierte Rahmenprogramm hinsichtlich der Aufteilung der Finanzmittel auf die vier Bereiche sehr ungleichgewichtig. Die Forschungs-Entwicklungs- und Demonstrationsprogramme in Bereich 1 sind die Informations- und Kommunikationstechnologien, worin u.a. die »Nachfolger« der Programme ESPRIT und RACE enthalten sind: - Die industriellen Technologien - Umwelt - Biowissenschaften und -technologien - Nichtnukleare Energietechnologien - Nukleare Sicherheit - Thermonukleare Fusion - Europäische Verkehrspolitik

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- Gesellschaftspolitik und Schwerpunktforschung (Technologiebewertung, Bildungsforschung und Integrationsforschung) Der Bereich 2 umfaßt die Zusammenarbeit mit anderen europäischen Organisationen (u.a. mit EUREKA15 und COST), mit mittel- und osteuropäischen Ländern, mit außereuropäischen Industrienationen und mit den Entwicklungsländern. Der Aktionsbereich 3 zielt auf die technische Unterstützung der Industrie in Form einer Infrastruktur durch die Entwicklung eines Netzes fllr die Verbreitung und Optimierung der Forschungsergebnisse, durch die Herstellung von Kontakten zwischen Forschungseinrichtungen, insbesondere zu den Aspekten Forschungskommunikation und Forschungsmanagement sowie und durch die Förderung der Entwicklung von Technologie- und Wissenschaftsparks, von Innovationen und von Technologietransfer. Einen besonderen Schwerpunkt im Bereich 3 bilden die KMU16, für die ein auf sie zugeschnittenes Gesamtpaket von Maßnahmen entwickelt werden soll. Der Aktionsbereich 4 dient der Förderung der Ausbildung und der Mobilität von Nachwuchsforschern, der Bildung innergemeinschaftlicher wissenschaftlicher Netze als Schwerpunkte europäischer Zusammenarbeit, der Förderung der Zusammenarbeit von Industrie und Hochschulen sowie der Schaffung von Anreizen für die Europäische Wissenschaft (u.a. Wissenschaftspreise). Ferner kann die Kommission finanzielle Mittel aus allen vier Bereichen für Studien und Sondierungsmaßnahmen sowie für Programmbewertungen einsetzen. Der Ministerrat hat in zweiter Lesung beschlossen, für das Rahmenprogramm 12 Mrd. ECU zu bewilligen, zu denen im weiteren Verlauf eine vom Ministerrat zu gegebener Zeit freizugebende Reserve von 1 Mrd. ECU treten kann. Das EP 17 war mit dem Betrag von 12 Mrd. ECU nicht einverstanden und schlug eine Erhöhung um 0,4 Mrd. ECU vor. Am 21.03.94 haben sich der Ministerrat und das Europäische Parlament in einem Vermittlungsausschuß geeinigt: Für das vierte Rahmenprogramm werden 12,3 Mrd. ECU bewilligt, zu denen noch eine Reserve von 0,7 Mrd. ECU treten kann, Uber die 1996 - je nach Bedarf und der Wirtschaftslage der EU - entschieden werden soll.

15 16 17

EUREKA: European Research Coordination Agency KMU: Kleine und mittlere Unternehmen EP: Europäisches Parlament

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Vergleicht man den Betrag von rund 6,5 Mrd. ECU für das dritte Rahmenprogramm mit dem Betrag von 12 Mrd. ECU für das vierte Rahmenprogramm, so ist man zunächst über die große Steigerung überrascht. Die beiden Zahlen sind aber nicht direkt vergleichbar, weil nach den Bestimmungen des Vertrages von Maastricht nun alle Forschungs-Entwicklungs- und Demonstrationsprogramme der EU im Rahmenprogramm enthalten sind, was beim dritten Rahmenprogramm noch nicht der Fall war. Immerhin ergibt sich eine beachtliche Steigerung der Mittel für die Forschungs- und Technologiepolitik der EU, was dem Willen der Staats- und Regierungschefs entspricht, die einen Anteil der FTE18-Ausgaben von etwa 6 % am EU-Haushalt anstreben. Bisher sind rund 4 % erreicht. Die vier Aktionsbereiche des vierten Rahmenprogramms werden nun - im Rahmen der bewilligten Finanzmittel - durch sogenannte »Spezifische Programme« implementiert, für die die Kommission, nach Verabschiedung des Rahmenprogramms, Vorschläge vorlegt. Auf Bereich 1 werden etwa 13 Spezifische Programme entfallen und auf die drei anderen Bereiche je eins bis zwei, so daß insgesamt Vorschläge für bis zu 20 Spezifische Programme zu erwarten sind.

Die Gemeinsame Forschungsstelle im vierten Rahmenprogramm Die Gemeinsame Forschungsstelle wurde 1988 neu strukturiert und in den vier Forschungsanlagen (Ispra, Karlsruhe, Mol und Petten) wurden folgende acht relativ unabhängige Forschungsinstitute geschaffen: - Das Institut für die Entwicklung von fortgeschrittenen Werkstoffen - Das Institut für Umweltforschung - Das Institut für Informatik und Systemanalyse - Das Institut für nukleare und nichtnukleare Sicherheit - Das Institut für Fernerkundung mit Hilfe von Satelliten - Das Institut für Transurane - Das Institut für Referenzmaterialien, Normen und Standards - Das Institut für prospektive Studien Die Gemeinsame Forschungsstelle soll schwerpunktmäßig auf Gebieten tätig werden, bei denen sie durch die Erstellung von objektiven und unabhängigen Gutachten zu der Gestaltung von Gemeinschaftspolitiken, wie z.B. der Umweltpolitik, beitragen kann. Die Finanzmittel für die GemeinsaFTE: Forschung und technologische Entwicklung

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me Forschungsstelle sind im vierten Rahmenprogramm enthalten. Es wird aber angestrebt, daß die Gemeinsame Forschungsstelle durch Auftragsforschung Eigenmittel erwirbt, die den Anteil aus dem Haushalt der EU verringern. An dieser Stelle möchte ich zwei Programme aus den EU-Bildungsaktivitäten erwähnen, die nicht zum Rahmenprogramm gehören, aber im engen Zusammenhang mit den Zielen der Forschungs- und Technologiepolitik stehen: Dies sind die Programme COMETT19 und ERASMUS20. Sie sollen zur Verbesserung der Ausbildungsqualität im Hochschulbereich beitragen. COMETT fördert die Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und Wirtschaft bei der Ausbildung im Technologiebereich. Das Programm ERASMUS ermöglicht den Studentenaustausch innerhalb der Mitgliedstaaten der EU. Beide Programme waren sehr erfolgreich, fanden großes Interesse in den Mitgliedstaaten und eine breite Resonanz bei den Studenten.

III. ENTSCHEIDUNGSPROZESSE, MODALITÄTEN UND VERFAHREN Alle Programme, das Rahmenprogramm wie die Spezifischen Programme werden - wie bisher - vom Rat auf Vorschlag der Kommission beschlossen. Die sich daran anschließende Beteiligung des Europäischen Parlaments ist durch den Vertrag von Maastricht komplizierter geworden: Das Rahmenprogramm muß vom Ministerrat einstimmig beschlossen werden, allerdings hat das Europäische Parlament nun ein Mitentscheidungsrecht. Dieses Recht beinhaltet einen Zwang zur Einigung zwischen Rat und Parlament. Nach zwei vorgeschriebenen Lesungen wird bei fortbestehendem Dissens ein Vermittlungsausschuß tätig, was dann eine dritte Lesung erforderlich macht. Die Vorschläge der Kommisssion für die Spezifischen Programme werden vom Ministerrat und Parlament im »Kooperationsverfahren« verabschiedet, das bis zu zwei Lesungen vorsieht. Bei Zustimmung des Parlaments zum Ergebnis der ersten Lesung des Rates kann dieser nun mit qualifizierter Mehrheit entscheiden. Lehnt das Parlament den vom Ministerrat zugeleiteten

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COMETT: Community Programme in Education and Training for Technology ERASMUS: European Community Action Scheme for the Mobility of University Students

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»Gemeinsamen Standpunkt« ab, so muß der Rat in einer zweiten Lesung mit Einstimmigkeit entscheiden. Es bleibt abzuwarten, ob diese Entscheidungsprozesse zu großen Verzögerungen führen, die sich auf das Tätigwerden der Kommission negativ auswirken können. Im Entscheidimgsprozeß arbeiten beratend einige wichtige Ausschüsse mit. Hier ist zunächst der Ausschuß für Wissenschaft und Technologie (AWFT) zu nennen, der besser unter dem Kürzel CREST21 bekannt ist. Dieses Gremium berät die Kommission und den Ministerrat. Dem Ausschuß gehören hohe Beamte der Forschungs-, Wirtschafts- bzw. Industrieministerien der Mitgliedstaaten an. Der AWFT hat u.a. die Aufgabe, bei der Koordinierung der nationalen Forschungspolitiken untereinander und mit der EU führend mitzuwirken. Ferner konsultiert die Kommission den CODEST22-Ausschuß, der mit führenden und einflußreichen Wissenschaftlern aus den 12 Ländern besetzt ist, sowie den IRDAC23-Ausschuß, dem führende Industrievertreter der Mitgliedsstaaten angehören. Der Ministerrat ist seinerseits verpflichtet, den Wirtschafts- und Sozialausschuß (WSA) der EU anzuhören. Die Verantwortung für die Umsetzung des Rahmenprogramms liegt bei der Kommission. Für die Durchführung der Forschungsaktionen stehen ihr drei Förderformen oder Modalitäten zur Verfügung: 1) Die eigenständige Gemeinschaftsforschung, die in der gemeinschaftseigenen Gemeinsamen Forschungsstelle durchgeführt und aus dem Gemeinschaftshaushalt und den von der GFS24 eingeworbenen Mitteln fi: nanziert wird. 2) Die Vertragsforschung: Der größte Teil der gemeinschaftlichen Programme und Projekte wird auf dem Vertragsweg von Forschern und Ingenieuren aus den Laboratorien der 12 Mitgliedstaaten (öffentlichen wie privaten) verwirklicht. Die EU beteiligt sich in der Regel mit 50 % an den Programmen, die andere Hälfte muß von den jeweiligen nationalen Partnern getragen werden. Bei der Vertragsforschung entspricht das Verhältnis der Kommission zu den Forschergruppen bzw. den Forschern dem zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer. Forschergruppen oder Forscher bewerben sich bei der Kommission um die Vergabe eines Auftrags im Rahmen eines 21 22 23 24

CREST: Comité de la Recherche Scientifique et Technique CODEST: Comité de Developement Européen de la Science et de la Technologie IRDAC: Industrial Research and Development Advisory Committee GFS: Gemeinsame Forschungsstelle

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Forschungsprogramms entsprechend den Regeln und Finanzierungsmodalitäten, die die Kommission im offiziellen Amtsblatt der EU festgelegt hat. Die Forschungsarbeiten werden dann gemäß einem mit der Kommission ausgehandelten Vertrag durchgeführt, in dem auch die Urheberrechte und die spätere Verwendung der Ergebnisse sowie meßbare Erfolgskriterien festgelegt sind. 3) Die Koordinierung von Forschungsaktivitäten auf Gemeinschaftsebene durch die sogenannte »Konzertierte Aktion«: Hierbei wird der Programminhalt auf Gemeinschaftsebene mit den Partnern gemeinsam festgelegt. Die verschiedenen Forschungstätigkeiten der Konzertierten Aktion werden von den Mitgliedstaaten »eingebracht«, von ihnen voll finanziert und verantwortlich durchgeführt. Die Kommission organisiert und finanziert die Koordinierung (u.a. Veranstaltungen und Reisen) sowie den Kenntnisaustausch. Die Konzertierte Aktion bietet die Möglichkeit, mit geringem Einsatz von Gemeinschaftsmitteln eine wirksame Koordinierung und Zusammenarbeit zu sichern. Zusätzlich zu diesen Förderformen (Modalitäten) stellt die Kommission innerhalb des Rahmenprogramms auch Mittel zur Verfügung für die Evaluierung der Programmergebnisse, für ihre Veröffentlichung und für die Planung zukünftiger Aktivitäten.

Antragstellung und Antragsbewertung Nach jedem Ministerratsbeschluß für ein neues Programm wird im Amtsblatt der EU umgehend eine Ausschreibung zur Einreichung von Projektvorschlägen veröffentlicht. Interessenten müssen dann ein Informationspaket bei der Kommission anfordern, das den Arbeitsplan, Bewerbungsbedingungen und die Antragsformulare enthält. Die Anträge müssen bis zu einem verbindlichen Abgabetermin bei der Kommission eingegangen sein. Der Zeitraum beträgt meist drei Monate. Wer diese Frist, dieses Zeitfenster, verpaßt, muß mit einer weiteren Bewerbung bis zur nächsten Ausschreibung warten, die in der Regel frühestens nach einem Jahr erfolgt. Auf den »fahrenden Zug« kann man nicht mehr aufspringen. Zur Auswahl beruft die Kommission Expertenausschüsse (meist pro Mitgliedsland je einen Experten), deren Mitglieder wegen ihrer wissenschaftlichen bzw. technischen Kompetenz von den Regierungen oder von im Regierungsauftrag handelnden wissenschaftlich-technischen Organisationen vorgeschlagen werden. Die Experten erhalten die eingegangenen Bewerbun200

gen zur Begutachtung, allerdings ohne daß der Einsender zu identifizieren ist. Sie bewerten die Vorschläge nach von der Kommission aufgestellten Kriterien auf ihren wissenschaftlich-technischen Gehalt und ihren Neuheitswert und stellen danach eine Rangliste auf. Aufgrund dieser Liste entscheidet dann die Kommission, die dabei aus Grtlnden der Kohäsion darauf achten muß, daß auch kleinere Länder berücksichtigt werden, was aber nicht zu einer Qualitätsminderung führen darf. Die Kommission tritt mit den ausgewählten Bewerbern in Vertragsverhandlungen und erteilt schließlich den Bewilligungsbescheid. Oft sind die für die Programme zur Verfügung stehenden Finanzmittel stark überzeichnet und es kann nur ein Teil der Vorschläge angenommen werden. Die geringen Erfolgsquoten beeinträchtigen natürlich die Motivation von potentiellen Antragstellern. Für die Ablehnung von Vorschlägen kommen nach meiner Erfahrung drei Gründe infrage: 1) Es kommt vor, daß ein an sich guter Vorschlag nicht den von der Ausschreibung geforderten Bedingungen entspricht. 2) Ein an sich guter Vorschlag kommt zunächst auf eine Warteliste, weil zu viele andere noch bessere Vorschläge da sind. Für diesen Bewerber besteht eine kleine Chance doch noch berücksichtigt zu werden. 3) Es handelt sich um einen »schwachen« Vorschlag, der von den Experten abgelehnt wurde. Endlich sei noch ein Wort zu dem sogenannten »juste retour« gesagt. Für die von der EU im Rahmen der Forschungs- und Technologiepolitik nach Deutschland zurückfließenden Mittel gibt es keine Quote, auf die man sich berufen könnte. Die Erfahrung zeigt aber, daß der Rückfluß, gemittelt über einen längeren Zeitraum und über alle Programme, in etwa proportional zur »Beitragsquote« des betreffenden Landes ist. Es sind die kleineren Länder, die zuweilen etwas besser abschneiden.

IV. PROBLEME BEI DER BETEILIGUNG DEUTSCHER WISSENSCHAFTLER AN DEN FORSCHUNGSPROGRAMMEN DER EU Wie bereits gesagt, beträgt die Frist für die Abgabe der Bewerbung nach der Ausschreibung im Amtsblatt in der Regel drei Monate. Eine Dreimonatsfrist erscheint auf den ersten Blick durchaus angemessen. Jedoch ist es für einen Bewerber, der sich nicht schon durch Vorinformationen während 201

des Prozesses der Erarbeitung des betreifenden Programms durch die Dienste der Kommission auf die Bewerbung vorbereiten konnte, zumeist sehr schwer, diese Frist einzuhalten, vor allem dann, wenn die Voraussetzung für die Beteiligung an dem Programm die Zusammenarbeit mit mindestens einem Partner aus einem anderen EU-Land ist. Die Suche nach einem geeigneten und interessierten Partner erfordert in der Regel eine längere Zeitspanne und auch einen gewissen finanziellen Spielraum. Nach Abgabe seines Antrages tritt für den Bewerber bis zur endgültigen Entscheidung durch die Kommission eine längere Wartefrist ein; oft sind Rückfragen zu beantworten. In diesem Zeitraum muß der Bewerber Personal und Infrastruktur für das in seinem Hause in den meisten Fällen bereits begonnene Projekt vorhalten, was insbesondere für Universitätsinstitute oft schwierig ist und Hilfe seitens der Verwaltung erfordert. Zugleich ist in einer Zeit knapper werdender finanzieller Ressourcen für die nationalen Aktivitäten und angesichts der ganz beachtlichen Mittel für die EU-Forschungs- und Entwicklungsprogramme eine stärkere Beteiligung deutscher Wissenschaftler an den EU-Programmen sehr erwünscht. Um hierbei zu helfen, haben sich die deutschen Wissenschaftsorganisationen (DFG25, MPG26, DAAD27, KMK28, HRK29, AGF30, FhG31, SV 32 ) zusammengetan und eine »Koordinierungsstelle EU der Wissenschaftsorganisationen«, kurz KOWI33 genannt, geschaffen, mit je einem Büro in BrUssel und Bonn. Die Aufgabe der Koordinierungsstelle ist, die wissenschaftliche Zusammenarbeit in Europa zu unterstützen und zu fördern. Um die Beteiligung deutscher Wissenschaftler an den Programmen der EU zu verbessern, nimmt sie eine Mittlerfunktion zwischen den Wissenschaftsorganisationen, Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen der Bundesrepublik und der Europäischen Kommission wahr. Dabei hält sie enge Kontakte mit den zuständigen Stellen des Bundes und der Länder.

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DFG: Deutsche Forschungsgemeinschaft MPG: Max-Planck-Gesellschaft 27 DAAD: Deutscher Akademischer Austauschdienst 28 KMK: Kultusministerkonferenz 29 HRK: Hochschulrektorenkonferenz 3 ® AGF: Arbeitsgemeinschaft der Großforschungseinrichtungen 31 FhG: Fraunhofer-Gesellschaft 32 SV: Stifterverband für die deutsche Wissenschaft 33 KOWI, Godesberger Allee 127 D - 53175 Bonn, Rue du Trône 98, B - 1050 Brüssel. 26

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Sie hat ihre Arbeit am 01.04.1991 aufgenommen und wird vom »Verein zur Förderung europäischer und internationaler wissenschaftlicher Zusammenarbeit e.V.« getragen, der von der DFG als Hilfseinrichtung der Forschung finanziert wird. Die Koordinierungsstelle ist eine Serviceeinrichtung, deren Arbeitsschwerpunkte darin bestehen, die schnelle und effiziente Vermittlung von spezifischen Informationen über die Inhalte und Möglichkeiten der EU-Forschungsprogramme zu gewährleisten, der deutschen Wissenschaft eine Anlaufstelle in Brüssel anzubieten, die mit der notwendigen Infrastruktur ausgestattet ist. Dort können sich deutsche Wissenschaftler mit ihren europäischen Kollegen und mit Vertretern der zuständigen Stellen der Europäischen Kommission treffen, um bei der Vorbereitung, der Begleitung und Bewertung von EU-Forschungsprogrammen mitzuwirken.

V. DIE WESTEUROPÄISCHE FORSCHUNGS- UND TECHNOLOGIELANDSCHAFT UND DIE EUROPÄISCHE UNION Westeuropa besitzt heute eine reich gegliederte »Forschungslandschaft« mit zahlreichen internationalen Forschungsorganisationen, -instituten und -laboratorien auf den Gebieten der Grundlagenforschung und der technologischen Entwicklung. Es steht mit seinen Forschungsstätten und mit den Forschungsergebnissen in vielen Gebieten an erster Stelle und kann sich im Vergleich mit den USA, Japan und Russland durchaus sehen lassen. Welche Verbindungen bestehen zwischen den größeren internationalen Forschungsorganisationen und der Europäischen Union?

EUREKA, COST und die EU

EUREKA war 1985 als eine europäische Alternative zum SDI-Programm der USA auf französische und deutsche Initiative hin beschlossen worden und sollte europäischen Unternehmen eine andere als die durch das SDI-Programm der Amerikaner gebotene Möglichkeit bieten, im Hochtechnologiebereich zusammenzuarbeiten. Zugleich sollte es den damals bestehenden Druck der USA auf eine europäische Beteiligung an dem militärischen SDI-Programm entlasten. 34

SDI: Strategie Defense Initiative

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Ziel der europäischen Technologieinitiative EUREKA ist die Stärkung der Wirtschaft und die Verbesserung der Lebensbedingungen in Westeuropa durch technologische Zusammenarbeit in grenzüberschreitenden Kooperationsprojekten, vorgeschlagen aus der Eigeninitiative der beteiligten Unternehmen und durchgeführt in der Eigenverantwortung der beteiligten Industriefirmen und Forschungsorganisationen aus den jeweiligen am Projekt teilnehmenden Staaten. Letztlich ist das Ziel von EUREKA eine engere Zusammenarbeit der Wirtschaft der westeuropäischen Staaten, um im internationalen Technologiewettbewerb Schritt zu halten. EUREKA war nicht unter dem Dach der EU anzusiedeln, weil ein konzeptioneller Unterschied zu den EU-Programmen besteht: Die EUForschung bleibt im vorwettbewerblichen Bereich, während EUREKA-Projekte auf die Entwicklung von industriellen Produkten zielen. EUREKA ist kein Forschungsprogramm mit einheitlichen thematischen Festlegungen. EUREKA-Projekte werden adhoc von mindestens zwei Partnern aus verschiedenen Ländern vorgeschlagen und von der Ministerversammlung aller an EUREKA beteiligten Länder genehmigt. Es stellte sich sehr bald heraus, daß es bei den EUREKA-Projekten zu Überschneidungen mit EU-Forschungsprogrammen kam, weil es auch EUREKA-Projekte im vor- und außerwettbewerblichen Bereich gab. Um Doppelarbeiten und Überschneidungen zu vermeiden, wurde eine Zusammenarbeit mit der EU verabredet. Die EU beteiligt sich im Rahmen von EUREKA an Projekten, die inhaltlich eine Verbindung zu EU-Vorhaben besitzen. Ein Vertreter der Kommission ist Mitglied des Sekretariats von EUREKA in Brüssel. EUREKA bot den Vorteil, zwanglos alle westeuropäischen Länder und nach 1989 alle europäischen Länder - einbeziehen zu können. Heute hat EUREKA bereits 22 Mitglieder. Dies sind alle EU-Staaten, sechs EFTA35Staaten, Ungarn, die Türkei und Russland. Bis Ende 1993 sind rund 700 Projekte mit einem Finanzvolumen von rund 27 Mrd. DM und mit etwa 3400 beteiligten Unternehmen und Forschungseinrichtungen vereinbart worden. Der überwiegende Teil der rund 200 deutschen Projektbeiträge (etwa 4 Mrd. DM) wird aus Eigenmitteln der beteiligten Organisationen finanziert. Eine finanziell große Beteiligung der EU gibt es beim EUREKAProjekt JESSI36, das in enger Beziehung zum EU-Programm ESPRIT steht. JESSI hat das Ziel, die europäischen Industriefirmen in die Lage zu verset35 36

EFTA: European Free Trade Agreement JESSI: Joint European Submicron Silicon Initiative

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zen, den gesamten Entwurfsprozeß für Mikrochip-Komponenten in eigener Regie durchzuführen, sowie höchstleistungsfähige elektronische Bauelemente zu entwickeln und in Großserie zu fertigen. JESSI ist eine erfolgreiche Bündelung europäischer Ressourcen in der Mikroelektronik und nach anfänglichen Schwierigkeiten auf gutem Wege, in der Zukunft die Konkurrenzfähigkeit der beteiligten Industriefinnen gegenüber den Konkurrenten in Japan und den USA zu sichern. Die COST-Zusammenarbeit habe ich bereits erwähnt. Heute sind 22 Länder an COST beteiligt. In enger Anlehnung an die EU bietet COST den Rahmen für eine flexible Verabredung von Zusammenarbeit mit relativ kurzen Entscheidungsverfahren und einer sehr kostengünstigen Struktur. Wegen seiner spezifischen Rolle und manch erfolgreich abgeschlossener Programme wird die Existenz von COST - auch neben dem großen Bruder EUREKA nicht infrage gestellt.

Die Europäische Wissenschaftsstiftung und die EU Der Anstoß zur Gründimg einer Europäischen Wissenschaftsstiftung (ESF 37 ) kam im Jahre 1971 sowohl von den drei großen Forschungsorganisationen SRC 38 , London, CNRS 39 , Paris und der MPG, München, als auch von der Europäischen Kommission. Nach längeren Vorbereitungsarbeiten, an denen auch die Kommission beteiligt war, wurde dann 1974 die Europäische Wissenschaftsstiftung als eine regierungsunabhängige Organisation mit Sitz in Straßburg gegründet, die allen westeuropäischen Ländern offensteht. Die ESF ist eine internationale Organisation zur Förderung von Zusammenarbeit in allen Wissenschaftsbereichen, Natur- wie Geisteswissenschaften. Mitglieder sind über 50 Forschungsorganisationen und Akademien europäischer Länder. Man kann die ESF als die Selbstverwaltungsorganisation der Wissenschaft in Westeuropa betrachten. Die Finanzmittel werden von den beteiligten Organisationen bereitgestellt. Die ESF besteht jetzt 20 Jahre und hat sich sehr erfolgreich um das Zustandekommen von europäischer Kooperation und grenzüberschreitender Mobilität bemüht. Eine Verbindung zur Europäischen Kommission wurde von Beginn an durch die Teilnahme eines Vertre-

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ESF: European Science Foundation SRC: Science Research Council CNRS: Centre National de la Recherche Scientifique

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ters der Kommission mit beratender Stimme in der Generalversammlung und in dem Lenkungsausschuß der ESF hergestellt. Als die ESF gegründet wurde, hatte die EU noch keine Aktivitäten im Grundlagenforschungsbereich. Als sich dies in den 80er Jahren änderte, wurde zwischen der ESF und der Kommission ein Rahmenvertrag abgeschlossen, der es der Kommission administrativ ermöglichte, sich an den Aktivitäten der ESF zu beteiligen. Die ESF ist für die Kommission ein wichtiger Partner bei der Koordinierung von Forschungsaktivitäten und bei der Verwirklichung eines »Europa der Forscher«.

Die Europäische Weltraumagentur (ESA40) und die EU Die ESA ist die bei weitem größte und auch bedeutendste »spezialisierte« Forschungsorganisation in Westeuropa. Ihre Aufgabe liegt in der Erforschimg und in der zivilen Nutzung des Weltraums. Keine westeuropäische Nation verfügt über genügend Ressourcen, um eine eigene Weltraumforschung zu betreiben. Nur durch Zusammenarbeit konnte Westeuropa mit Erfolg den Anschluß an die USA und Russland gewinnen. Die ESA, die 1972 aus der Vereinigung von ESRO41 und ELDO 42 hervorging, hat trotz mancher Krisen und Rückschläge, insbesondere durch die Entwicklung der Baureihe der ARIANE-Raketen und ihrer erfolgreichen Einsätze weltweit Anerkennung gefunden. Dieser Erfolg ist vor allem dem energischen und konstanten Bemühen Frankreichs um die Verwirklichimg einer eigenständigen, unabhängigen europäischen Weltraumforschung und -nutzung zu danken. Nach Vollendung des Binnenmarktes stellte sich für die EU die Frage ihrer Beziehungen zur ESA neu, weil Weltraumpolitik für den großen Binnenmarkt mehr als eine nur forschungs- und technologiepolitische Komponente hat. Sie hat heute mehr und mehr auch außen-, handels- und industriepolitische Bezüge. So tritt die ESA in Wechselwirkung mit Politiken der EU. Daher haben die ESA und die EU 1989 beschlossen, ihre bis dahin sehr losen Kontakte zu verstärken und haben hierzu fünf ständige Arbeitsgruppen eingerichtet, die einen enge-

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" ESA: European Space Agency ESRO: European Space Research Organization 42 ELDO: European Launcher Development Organization

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ren Kontakt sicherstellen und eventuelle Koordinierungsmaßnahmen bzw. Kooperationen vorschlagen können.43

Die großen spezialisierten Forschungsanlagen und -laboratorien und die EU In Westeuropa gibt es etwa 200 spezialisierte nationale bzw. internationale Forschungsanlagen und -laboratorien, die z.T. mit großen Maschinen ausgestattet sind, so z.B. CERN44, DESY45, EMBL46, und ILL47. Die meisten hatten bis Anfang der 80er Jahre kaum Berührung mit der EU. Als das Programm »Human Capital und Mobility« im dritten Rahmenprogramm beschlossen wurde, hatte die EU die Möglichkeit, Nachwuchsforschern die Gelegenheit zu geben, dort - befristet - zu arbeiten und an den Forschungsprogrammen teilzunehmen. Mit dem EMBL wurde zu diesem Zweck eine Vereinbarung abgeschlossen. Diese Öffnung der Aktivitäten der EU liegt einerseits im besonderen Interesse der Forscher der kleineren Mitgliedstaaten, die nicht am Betrieb der betreffenden Großanlage beteiligt sind und andererseits im Interesse der Betreiber der großen Maschinen, weil dadurch der Auslastungsgrad erhöht werden kann.

VI. DIE EU IM VERGLEICH MIT DEN USA UND JAPAN Folgt man den Statistiken, so investiert die EU weniger in den Bereichen Forschung und technologische Entwicklung (FTE) als die USA und Japan. Nimmt man alle FTE-Aufwendungen zusammen (öffentliche und private, zivile wie militärische), so betragen die Ausgaben für FTE im Jahre 1991 in der EU etwa 208 Mrd. DM, in den USA rund 250 Mrd. DM und in Japan etwa 155 Mrd. DM. Dies entspricht in der EU einem Wert von 2,1 % 43

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Vgl. CONTZEN, Jean-Pierre, Europäische Raumfahrt, Aktionsfeld für die Europäische Gemeinschaft, in: Raumfahrt zum Nutzen Europas, hrsg. v. Wolfgang Steinborn und Ingrid Sprengelmeier-Schnock, Karlsruhe 1993, S. 9-13. CERN: Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire DESY: Deutsches Elektronen-Synchrotron EMBL: Europäisches Molekularbiologie-Laboratorium ILL: Institut Max-von-Laue-Paul-Langevin

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des Bruttosozialprodukts, in den USA von 2,9-3 % und in Japan von etwa 2,8-2,9 % (wobei der Wert für Deutschland bei 2,7-2,8 % liegt). Die EU verfügt über rund 700.000 Forscher und Ingenieure (5/1000 Arbeitnehmer), die USA über 950.000 (9/1000 Arbeitnehmer) und Japan über 450.000 (8/1000 Arbeitnehmer). Solche Zahlen müssen mit Vorsicht zur Kenntnis genommen werden. Wichtiger als die absoluten Zahlen sind die Effizienz der Verwendung der Mittel, das Ausbildungsniveau und die Kreativität der Forscher und Ingenieure sowie ihre Anpassungsfähigkeit. Aber insgesamt sollen die Zahlen zum Nachdenken und Handeln anregen und sie haben es wohl getan, wie wir beim Vertrag von Maastricht gesehen haben.

VII. AUSBLICK Nach einer relativ raschen erheblichen Erhöhung der für die gemeinsame Forschungs- und Technologiepolitik verfügbaren Mittel in den Jahren von 1985 bis 1994 muß nun wohl eine Phase der Konsolidierung beginnen, in der die Gestaltungsmöglichkeiten des mit etwa 4,5 Mrd. DM pro Jahr dotierten Haushalts effizient genutzt werden. Für die kommenden fünf Jahre zeichnen sich aus heutiger Sicht vor allem vier Probleme bzw. Schwerpunkte ab: Für alle Antragsteller und die beteiligten Forscher sind die Schwerfälligkeit und Aufwendigkeit der Verfahren sowie die langen Fristen bis zur endgültigen Entscheidung bzw. dem Bewilligungsbescheid eine Hürde und Bürde. Man muß zwar für die Verfahren der EU Verständnis haben, handelt es sich doch um eine Zusammenarbeit, bei der 12 Partner (und ab 1995 möglicherweise bis zu 16) beteiligt sind, die sorgfältig darauf achten, daß ihr Interesse jeweils gewahrt bleibt. Die Kommission sollte keine Mühe scheuen, um neue Wege zu finden, die Vereinfachungen im Antrags- und Bewilligungsprozeß erlauben. In diesem Sinne prüft man in Brüssel seit einiger Zeit die Möglichkeit einer sogenannten Dezentralisation der EU-Forschungsförderung. Dabei sollen bestimmte Aufgaben bei der Durchführung von Forschungsaktivitäten von der Kommission an Dritte übertragen werden. Man denkt u.a. an die Hilfestellung Dritter bei der Projektvorbereitung, der Projektdurchführung sowie bei der Projektbewertung. Allerdings kann die Kommission bei einem solchen Verfahren keine Hoheitsrechte abgeben oder übertragen. 1993 hat sich die Kommission einen externen Bericht über die

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Möglichkeiten einer Dezentralisierung erstellen lassen, bisher aber noch keine Vorschläge auf den Tisch gelegt. Ein zweiter Schwerpunkt betrifft die Koordinierungstätigkeit innerhalb der EU: Wie bereits gesagt, sollen nach Art. 130h des Vertrags von Maastricht die EU und die Mitgliedstaaten ihre Tätigkeit auf dem Gebiet der Forschung und der technologischen Entwicklung koordinieren, um die Kohärenz der einzelstaatlichen Politiken und der Politik der EU sicherzustellen. Die Kommission muß nun in enger Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten hierzu Initiativen ergreifen und Vorschläge machen. Dies ist eine sehr schwierige und sehr delikate Aufgabe. Immer noch gilt, was ich eingangs ausgeführt habe: Im Prinzip sind - vor allem die größeren Mitgliedstaaten nur wenig an einer Koordinierung interessiert. Es gibt größere Interessengegensätze und unterschiedliche nationale Zielsetzungen; überdies will man sich von Brüssel nicht »hineinreden« lassen. Der Europäischen Union ist hier ein pragmatisches und vorsichtiges Vorgehen zu empfehlen. Den dritten Schwerpunkt bildet die verstärkte Förderung der Beteiligung der sogenannten kleinen und mitteleren Betriebe (KMU) an den FTEProgrammen der EU. Man erwägt die Einführung von speziell auf die KMU zugeschnittenen Programmen. So wäre es schon eine große Erleichterung, wenn die Ausschreibungsunterlagen vereinfacht und eine bessere Informationen der KMU erreicht werden könnte. Es ist geplant, eine Infrastruktur auf EU-Ebene zu schaffen, die speziell auf die Bedürfnisse der KMU zugeschnitten ist. Erwähnen möchte ich in diesem Zusammenhang das Business-CooperationNetwork (BC-Net), in dem rund 600 Unternehmensberater aus der EU, der EFTA, der kanadischen Handelskammer Ottawa sowie des marokkanischen Bankenverbandes in Casablanca angeschlossen sind. Das BC-Net ermöglicht es kooperationswilligen KMU schnell und vertraulich, Partner in anderen Ländern zu finden. Einen weiteren Schwerpunkt sehe ich in der Vervollkommnung der sogenannten Erfolgskontrolle und der Bewertung der Programme (Evaluation) sowie der Technologiebewertung. Die Kommission hat früh damit begonnen, sowohl das Rahmenprogramm wie auch viele Spezifische Programme nach Abschluß durch unabhängige Gutachter bewerten zu lassen, insbesondere ob die gesetzten Ziele erreicht wurden und die Organisation dem Gegenstand der Forschung adäquat war. Dafür wurden in den vergangenen Jahren größere finanzielle Mittel verwendet.

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Auf diesem Gebiet soll ein kritischer Erfahrungsaustausch mit den Mitgliedsländern geführt werden, u.a. auch, wie man die Unabhängigkeit der Bewertungsgremien besser sicherstellt. Bei der weiteren Entwicklung der Forschungs- und Technologiepolitik der EU mit allen ihren Erfolgen und ihren Schwierigkeiten muß man immer im Auge behalten, daß die EU - auch nach Vollendung des Binnenmarktes - im Gegensatz zu den USA und Japan eine multikulturelle Vielstaatengemeinschaft mit neun (und bald bis zu 12) Sprachen ist und bleiben wird. Dies ist ein großer Reichtum und eine Herausforderung zugleich.

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Der Beitrag Schumpeters zur Erklärung von Stabilität und Instabilität der sozio-ökonomischen Entwicklung: Dargestellt an der Wirtschaftsgeschichte der DDR VON MARGRIT GRABAS

EINLEITUNG Im Mittelpunkt der nachfolgenden Ausführungen stehen Gedanken zur methodologischen Verwertung des Werks von Joseph A. Schumpeter für die Analyse der sozio-ökonomischen Wandlungsprozesse der DDR. Dabei sei ein Zitat von Siegfried Lenz vorangestellt, das die Verfasserin bei dem Versuch begleitet hat, mögliche Ursachen für die wechselvolle Wirtschaftsgeschichte Ostdeutschlands zwischen 1945 und 1989 zu finden: "Die gehüteten Befunde sind zerfallen, die Spuren gelöscht. Die Vergangenheit hat zurückbekommen, was ihr gehört und was sie uns nur vorübergehend lieh. Schon aber regt sich das Gedächtnis, schon sucht und sammelt Erinnerung in der unsicheren Stille des Niemandslands."1 Als Siegfried Lenz diese Zeilen in seinem 1978 veröffentlichten Buch "Heimatmuseum" schrieb, hatte er zwar die deutsche Geschichte im Blick, wohl kaum aber die folgenschweren Ereignisse und Prozesse des Jahres 1989, als die DDR begann, sich als Staat aufzulösen. Und doch scheint Lenz die Zukunft visionär vorweggenommen zu haben: Die Vergangenheit hat zurückbekommen, was ihr gehört und was sie nur vorübergehend lieh - der vor einem halben Jahrhundert begonnene Versuch des damaligen sowjetischen Herrschaftssystems, einen Teil Deutschlands aus der gesamtdeutschen Geschichte herauszulösen und damit dem westeuropäischen Modernisierunsprozeß zu entziehen, ist gescheitert. Die DDR - als Staatengebilde

Vgl. S. Lenz, Heimatmuseum, Hamburg 1978.

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ganz das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges - gibt es nicht mehr.2 Nach 40 Jahren ist sie unter dem Einfluß vielfältiger und wechselseitig miteinander verbundener Faktoren zusammengebrochen3 und ihre Gesellschaft ist spätestens seit dem 3. Oktober 1990 wieder integraler Bestandteil einer gesamtdeutschen Geschichte. Aber wir dürfen uns nicht täuschen - diese gesamtdeutsche Geschichte ist keine Fortsetzung der bundesrepublikanischen Geschichte: 1989 war nicht nur das Ende der DDR; 1989 war zugleich der Anfang der dritten deutschen Republik, deren Zukunft ganz entscheidend durch die Herausforderung des Zusammenfalls von Weltmarktrezession und Vereinigungsprozeß geprägt sein wird.4 Tagtäglich erfahren wir alle auf die eine oder andere Weise, daß es die DDR als Staat zwar nicht mehr gibt, ihre "Spuren" hingegen nicht zu löschen sind, und zwar nicht nur in Form maroder Betriebe, veralteter Maschinenanlagen, zerstörter Umwelt und heruntergekommener Städte und Gemeinden. Wichtiger noch scheinen die Spuren zu sein, die das Zentralverwaltungssystem in den Menschen hinterlassen hat und deren sozialpsychologische Folgewirkungen bis heute unklar sind.5 Aber auch hier dürfen wir uns nicht täuschen: Die DDR erschöpft sich nicht allein in ihrem Scheitern.6 Sie war mehr als eine Verdichtung von Irrtümern und Irrwegen, von objektiven 2

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Vgl. stellvertretend zu dieser Problematik T. Garton Ash, Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, München/Wien 1993 sowie W. Zapf, Modernisierung, Wohlfahrtsentwicklung und Transformation, Berlin 1994. Aus der Vielzahl der in der Zwischenzeit zu dieser Problematik erschienenen Literatur vgl. vor allem Th. Blanke/R. Erd (Hrsg.), DDR. Ein Staat vergeht, Frankfurt/M. 1990; H. Joas/M. Kohli (Hrsg.), Der Zusammenbruch der DDR. Soziologische Analysen, Frankfurt/M. 1993; H. Kaelble/J. Kocka/H. Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR Stuttgart 1994; G.-J. Glaeßner, Vom "realen Sozialismus" zur Selbstbestimmung. Ursachen und Konsequenzen der Systemkrise der DDR in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1-2 (1990) sowie R. Reißig/G.-J. Glaeßner (Hrsg.), Das Ende eines Experiments. Umbruch in der DDR und deutsche Einheit, Berlin 1991. In diesem Sinne ähnlich auch K. Borchardt, in: R. Spree, Spezialist für Komplexität - Knut Borchardt im Gespräch, in: Ifo Studien, 38 (1992), 2, S. 113ff. Vgl. H. Bude, Das Ende einer tragischen Gesellschaft, in: H. Joas/M. Kohli (1993), S. 279. Ansonsten zur Sozialisation in der DDR stellvertretend W. Gumpel, Alltag im Sozialismus, Köln 1992 sowie S. Meuschel, Legitimation und Parteienherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945-1989, Frankfurt/M. 1992. So auch J. Kocka in seinen einleitenden Bemerkungen: Die Geschichte der DDR als Forschungsproblem, in: J. Kocka (Hrsg.), Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993, S. 11 sowie G. Ambrosius, Wirtschaftlicher Strukturwandel und Technikentwicklung, in: A. Schildt/A. Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 123.

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Zwangslagen und nicht genutzten Handlungsspielräumen. Der ostdeutsche Staat gehörte - will man den Statistiken Glauben schenken - immerhin bis zum Ende der 60er Jahre zu den zehn fuhrenden Industriestaaten der Welt und seine 40jährige und temporär relativ stabile Existenz dürfte sich nicht allein auf sowjetische Panzer zurückführen lassen.7 So richtig es für die Analyse der untergegangenen DDR denn auch ist, ihren Hauptstrukturdefekt - nämlich das systembedingte Demokratiedefizit 8 - immer im Auge zu behalten, so falsch wäre es, ihre Geschichte auf ihre Daseinsform als Staat und damit primär auf politische Faktoren zu beschränken. So schreibt z.B. Gustav Seibt: "Die DDR war ganz Staat und so wenig wie möglich Gesellschaft. ... Sie war, als Ergebnis eines politischen Entschlusses, als Regime ohne nationale und traditionale Grundlage, noch künstlicher als die anderen Diktaturen des sowjetischen Blocks: ein Artefakt, ein Willensakt, nicht Herkommen, sondern reine, nämlich gemachte, nicht gewachsene Geschichte."9 Derartige, aus dem Zusammenbruch des ostdeutschen Staates abgeleitete und auf die analytische Trennung von Staat und Gesellschaft abhebende Pauschalisierungen, nähren nicht nur die Bildung von Legenden; sie gehen auch an der Realität vorbei. Einerseits hat - worauf Jürgen Kocka vor kurzem verwiesen hat - die "mehr als 40 Jahre getrennte Geschichte unter entgegengesetzten Systembedingungen nicht ausgereicht (...), die kollektiven Identitäten beider deutschen Bevölkerungen" grundsätzlich zu separieren. 10 War der Staat der DDR aus machtpolitischen Strategien des sowjetischen Herrschaftsbereichs tatsächlich weitgehend geschichtslos und vor allem ohne demokratische Legitimation am Ende der 40er Jahre aus dem Boden ge-

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In diesem Zusammenhang scheint mir insbesondere die noch aufzuarbeitende Rolle der (linken) Intellektuellen von Bedeutung zu sein, die während der 50er und 60er Jahre erheblich zur innergesellschaftlichen Stabilisierung der DDR beigetragen haben. Ansonsten vgl. J. Huinink/K.U. Mayer, Lebensverläufe im Wandel der DDRGesellschaft, in: H. Joas/M. Kohli (1993), vor allem S. 163 sowie H. Weber, DDR. Grundriß der Geschichte 1945-1990, Hannover 1991, S. 115ff. Aus der Sicht eines "Insiders" der Parteielite so vor kurzem auch G. Schabowski, Abschied von der Utopie. Die DDR - das deutsche Fiasko des Marxismus, Stuttgart 1994, insbesondere Kap. VI. Vgl. G. Seibt, Wer mit dem Meißel schreibt, hat keine Handschrift, in: FAZ vom 1.6.93, S.LI. Vgl. J. Kocka, Revolution und Nation 1989. Zur historischen Einordnung der gegenwärtigen Ereignisse, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, XIX (1990), S. 493.

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stampft worden, 1 1 so war es ungeachtet dessen niemals gelungen, die ostdeutsche Gesellschaft von ihren Wurzeln abzuschneiden. 12 Die historisch akkumulierten Bestände der einzelnen gesellschaftlichen Subbereiche - also von Kultur, Herrschaft und vor allem von Wirtschaft - haben stets in die neue Geschichte hineingewirkt, 13 bis sie sich in Wechselwirkung mit den nach 1945 neu hinzugetretenen historischen Entwicklungen 1989 und 1990 schließlich zu einem der entscheidenden Dynamisierungsfaktoren des Vereinigungsprozesses entfalten sollten. 1 4 Andererseits aber waren der Systemgegensatz und die daraus resultierenden kulturellen, mentalen und sozioökonomischen Folgeprozesse wiederum so stark, daß heute - fünf Jahre nach dem Fall der Mauer - nach wie vor zwei deutsche Gesellschaften existieren, 1 5 die aufgrund ihrer eigenen Erfahrungswelten Ansprüche bei der Gestaltung des Transformationsprozesses anmelden: Die Westdeutschen mit dem Anspruch auf unbedingte Kompetenz bei dem Übergang von der Planzur Marktwirtschaft; die Ostdeutschen hingegen mit dem immer selbstbewußter formulierten Anspruch auf Bewahrung eines Teils ihrer eigenständi11

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Zur Gründungsgeschichte der DDR vgl. stellvertretend M. Broszat/H. Weber (Hrsg.), SBZ-Handbuch, München 1990 sowie Ch. Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung-Deutsche Geschichte 1945-1955, Göttingen 1982. Vgl. W. Venohr, Die Roten Preußen. Aufstieg und Fall der DDR, Frankfurt/Berlin 1992. Mit Beginn der 80er Jahre trug die SED dem Fortwirken gesamtdeutscher Traditionen in der DDR sogar offiziell Rechnung: Im Zusammenhang mit der Martin-Luther-Ehrung von 1983 wurde das neue Geschichtsverständnis der Partei unter der Losung "Erbe und Tradition" vorgestellt. Vgl. hierzu ausführlich U. Neuhäußer-Wespy, Erbe und Tradition in der DDR. Zum gewandelten Geschichtsbild der SED, in: A. Fischer/G. Heydemann (Hrsg.), Geschichtsbild in der DDR, Berlin 1988. So schon 1976 Knut Borchardt in seinem Vergleich der deutsch-deutschen Wirtschaftsgeschichte zwischen 1950 und 1970. Vgl. K. Borchardt, Wirtschaftliches Wachstum und Wechsellagen 1914-1970, in: H. Aubin/W. Zorn (Hrsg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 725. Stellvertretend für neuere Analysen vgl. P. Hübner, Die Zukunft war gestern: Soziale und mentale Trends in der DDR-Industriearbeiterschaft, in: H. Kaelble/J. Kocka/H. Zwahr (1994). Zum Verlauf des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses vgl. u.a. H. Joas/M. Kohli (1993); G.-J. Glaeßner (Hrsg.), Der lange Weg zur Einheit. Studien zum Transformationsprozeß in Ostdeutschland, Berlin 1993 sowie Ch. Luft, Zwischen WEnde und Ende. Eindrücke, Erlebnisse, Erfahrungen eines Mitglieds der ModrowRegierung, Berlin 1992. In diesem Sinne auch R. Reißig, Das Scheitern der DDR und des realsozialistischen Systems - Einige Ursachen und Folgen, in: H. Joas/M. Kohli (1993), S. 62 sowie H. Kaelble, Die Gesellschaft der DDR im internationalen Vergleich, in: H. Kaelble/J. Kocka/M. Zwahr (1994), S. 573.

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gen Geschichte. 16 Und so beginnt sich, je weiter wir uns von der weltgeschichtlichen Zäsur des Jahres 1989 entfernen, im Sinne von Siegfried Lenz Gedächtnis zu regen und Erinnerung zu sammeln, nicht immer freilich objektiv, dafür um so öfter mit verklärter Nostalgie - die einen mit triumphierendem Blick auf die Erfolge der Sozialen Marktwirtschaft; 17 die anderen voller Stolz, 40 Jahre unter ungleich schwierigeren Bedingungen derart überstanden zu haben, daß sie fähig waren, zum ersten Mal in der deutschen Geschichte erfolgreich eine sogenannte Revolution "von unten" durchgeführt zu haben. 18 Hier, genau an dieser Stelle, liegt die Herausforderung und Verantwortung von Wissenschaft: Soll der Legendenbildung kein Vorschub geleistet werden und soll Geschichte im Interesse von Gegenwart und Zukunft nicht im "Niemandsland" verbleiben, so gilt es, die deutsch-deutsche Nachkriegsvergangenheit differenziert und vorurteilsfrei aufzuarbeiten. Hierfür aber brauchen wir methodologische Konzepte, um nicht im Dschungel der Einzelinformationen zu ersticken und im Netz subjektiver Befangenheit verstrickt zu werden. 19 In diesem Zusammenhang scheint es mir besonders relevant zu sein, dem derzeitigen historiographischen Trend einer Vernachlässigung bzw. Unterschätzung der Rolle der Gesellschaft als Dynamisierungsfaktor der DDR-Geschichte entgegenzuwirken: 20 Trotz der Dominanz des SED-Staates und der daraus resultierenden Deformation vorhandener gesellschaftlicher Modernisierungspotentiale21 war die ostdeutsche Gesell-

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Vgl. hierzu die Rede von Friedrich Schorlemmer am 10. Okt. 93 in der Frankfurter Paulskirche anläßlich des an ihn verliehenen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, hrsg. von der Buchhändler-Vereinigung GmbH, Frankfurt/M. 1993. Vgl. kritisch hierzu W. Abelshauser, Aufschwung Ost: Das Wirtschaftswunder der fünfziger Jahre taugt nicht als Modell für die neuen Bundesländer, in: DIE ZEIT vom 19.3.93. Vgl. ähnlich J.Kocka (1990), S. 497. Vgl. zu dieser Problematik J. Kocka, Von der Verantwortung der Zeithistoriker. Das Interesse an der Geschichte der DDR ist - auch - Munition der Tagespolitik, in: Frankfurter Rundschau vom 3.5.94, S. 10 sowie derselbe (1990), S. 12-16. Stellvertretend für diesen Trend H.J. Maaz, Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der D D R Berlin 1990 sowie S. Meuschel (1992). Besonders prononciert F. Adler, Einige Grundzüge der Sozialstruktur der D D R in: G. Wagner (Hrsg.), Lebenslagen im Wandel - Basisdaten und -analysen der Entwicklung in Ostdeutschland, Frankfurt/M. 1991. Detlef Pollack beschreibt diesen Prozeß als "Gegenläufigkeit von funktionaler Differenzierung und politisch induzierter Homogenisierung", die zu "Modernisierungsverzügen in allen Teilen der Gesellschaft" geführt hätte. Vgl. D. Pollack, Religion und gesellschaftlicher Wandel, in: H. Joas/M. Kohli (1993), S. 247/8. Vgl. in diesem

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schaft nämlich zu keinem Zeitpunkt "gleichsam stillgelegt".22 Im Gegenteil sie war es, die ungeachtet aller ordnungspolitischen Eingriffe des Staates in den Ablauf sozio-ökonomischer und kultureller Entwicklungen sowohl zur Systemstabilisierung als ebenso zur Systemdestabilisierung und schließlich zur Systemüberwindung beigetragen hat. Vor dem Hintergrund dieser einleitenden Bemerkungen geht es im Folgenden um eine Analyse der dynamischen Wechselwirkung von Staat und Wirtschaft der ehemaligen DDR, die mit Hilfe der Erkenntnisse von Joseph A. Schumpeter transparent gemacht werden soll. Ausgehend von der großen Bedeutung wirtschaftlicher Entwicklungsprozesse für den Wandel von modernen Gesellschaften einerseits,23 der strukturellen InefFizienz von Zentralverwaltungssystemen andererseits,24 wird die These vertreten, daß Etablierung, Entwicklung und Untergang des ostdeutschen Staates nur im Kontext mit den im Zeitablauf nicht konstant gebliebenen Stabilitätsbedingungen innerhalb der Volkswirtschaft bzw. auf dem Weltmarkt erklärt werden können. Konnten die infolge des zwischen 1945 und 1948 installierten Zentralverwaltungssystems sowjetischen Typs latent immer vorhanden gewesenen Steuerungsdefizite der gesellschaftlichen Entwicklung der DDR durch ihre historische Einbettung in den Europäischen Nachkriegsboom bis Ende der 60er Jahre abgeschwächt werden, so gelangten sie mit Wirksamwerden der Umstrukturierung des Weltmarktes seit den beiden Ölpreisschocks von 1973/79 zu ihrer vollen Entfaltung. Die daraus sich entwickelten Krisenpotentiale bildeten während der 80er Jahre einen entscheidenden Bestimmungsfaktor der innenpolitischen Destabilisierung der DDR, der im Zusammenwirken mit einer Reihe weiterer, vor allem exogener Faktoren, zum Zusammenbruch des ostdeutschen Staates geführt hat. Diese These bedarf einer umfassenden empirischen Überprüfung, die im vorgegebenen Rahmen nicht geleistet werden kann. Vielmehr wird das

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Sinne bereits seinen früheren Aufsatz, Das Ende einer Organisationsgesellschaft, in: Zeitschrift für Soziologie, 19 (1990), S. 4. So S. Meuschel, Überlegungen zu einer Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft, 19 (1993), S. 6. Vgl. hierzu B. Lutz, Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine neue Interpretation industrieller und kapitalistischer Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts, Frankfiirt/M./New York 1984 sowie H.-U. Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975. Stellvertretend aus der Fülle ordnungspolitischer Analysen G. Gutmann, Produktivkräfte und Wirtschaftsordnung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 33 (1990) sowie U. Jens (Hrsg.), Der Umbau - von der Kommando- zur Öko-sozialen Marktwirtschaft, Baden-Baden 1991.

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Ziel verfolgt, unter Rückgriff auf wichtige konjunktur- und wachstumstheoretische Ergebnisse von Schumpeter methodologische Überlegungen für die sich nach 1989 neu orientierende wirtschafts- und sozialhistorische DDRForschung zur Diskussion zu stellen. Darüber hinaus ist es die Intention der Verfasserin, angesichts der weltweiten sozio-ökonomischen Problemkonstellationen als Resultat eines Zusammenfalls von mittelfristigem und säkularem Strukturwandel, ganz im Sinne des genannten Nationalökonomen, die Notwendigkeit einer Endogenisierung sozialer und institutioneller Faktoren in die ökonomische Theorie zu unterstreichen. Zu diesem Zwecke soll zunächst, in einem ersten Teil, der Beitrag Schumpeters zur Erklärung gesellschaftlicher Wandlungsprozesse25 skizziert werden. In einem zweiten Teil wird ein durch Schumpeter, aber auch durch North 26 inspirierter Modellansatz vorgestellt, der von der Verfasserin zur Analyse von Stabilität und Instabilität der Wirtschafts- und Sozialgeschichte moderner Industriegesellschaften entwickelt worden ist. In einem dritten Teil schließlich geht es um die methodologische Verwertung dieses Modellansatzes für die Erklärung der sozio-ökonomischen Entwicklungsdynamik der DDR, die ihren vorläufigen Niederschlag in der Formulierung eines Hypothesensamples findet.

SCHUMPETERS BEITRAG ZUR ERKLÄRUNG VON STABILITÄT UND INSTABILITÄT Schon 1984 veröffentlichte Herbert Giersch einen Aufsatz mit dem Titel: "The Age of Schumpeter"27 und meinte damit die auslaufenden 25 Jahre des 20. Jahrhunderts. Parallel dazu stellte Wolfgang F. Stolper die

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Zur allgemeinen Würdigung Schumpeters vgl. E. Schneider, Joseph A. Schumpeter. Leben und Werte eines großen Sozialökonomen, Tübingen 1970; M. Augello, Joseph Alois Schumpeter: A Reference Guide, Berlin 1990 sowie M. Timmermann (Hrsg.), Die ökonomischen Lehren von Marx, Keynes und Schumpeter, Stuttgart/ Berlin/Köln/Mainz 1987. Vgl. D.C. North, Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen 1992 sowie ders., Theorie des institutionellen Wandels, Tübingen 1982. Vgl. H. Giersch, The Age of Schumpeter, in: American Economic Review, Papers and Proceedings, 74 (1984).

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Behauptung auf, Schumpeter werde der Ökonom der 90er Jahre sein.28 Seitdem ebbt die Auseinandersetzung mit dem Werk von Schumpeter nicht ab, 29 die bereits im Zusammenhang mit dem ersten Ölpreisschock von 1973 eine faszinierende Renaissance erlebte30 und Ausdruck eines wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Paradigmenwechsels darstellt.31 Hintergrund bilden die tiefgreifenden und bis heute nicht abgeschlossenen Strukturveränderungen auf dem Weltmarkt,32 die zu einer Erschütterung des während der 50er und 60er Jahre dominierenden statischen Denkens in makroökonomischen Gleichgewichtsmodellen geführt haben.33 Ging man während dieses Zeitraumes im allgemeinen von der Annahme eines kontinuierlichen Wachstums aus und interpretierte man Diskontinuitäten primär als Resultat von exogen verursachten Störungen, so erlangt mit Anhalten der Umbruchprozesse in den Industriegesellschaften statt dessen die wissenschaftliche Schwerpunktsetzung auf bisher vernachlässigte sozio-ökonomische Ungleichgewichts-, Knappheits- sowie Konfliktsituationen eine immer größere Bedeutung. Eng verbunden damit ist die Frage nach der Antriebsmotorik der wirtschaftlichen Entwicklung, die ganz offensichtlich allein mit Hilfe einer nachfrageorientierten, vor allem Beschäftigung stabilisierenden keynesianischen 28

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Vgl. W.F. Stolper, Schumpeter: Der politische Ökonom für die neunziger Jahre? Schumpeter versus Keynes oder Schumpeter und Keynes?, in: D. Bös/H.-D. Stolper (Hrsg.), Schumpeter oder Keynes? Zur Wirtschaftspolitik der neunziger Jahre, Berlin/Heidelberg/New York 1984, S. 36. Stellvertretend H. Hanusch/U. Cantner, Thesen zur Systemtransformation als Schumpeterianischen Prozeß, in: G. Kleinhenz (Hrsg.), Sozialpolitik im vereinten Deutschland, II, Berlin 1992; K.O.W. Müller, Joseph A. Schumpeter - Ökonom der neunziger Jahre, Berlin/Bielefeld/München 1990 sowie W.F. Stolper, The theoretical bases of economic policy: the Schumpeterian perspective, in: Journal of Evolutionary Economies, 1 (1991). Wegweisend das Buch von G. Mensch, Das technologische Patt. Innovationen überwinden die Depression, Frankfurt/M. 1977. Ansonsten vgl. u.a. A. Kleinknecht, Überlegungen zur Renaissance der "langen Wellen" der Konjunktur, in: W.H. Schröder/R. Spree, Historische Konjunkturforschung, Stuttgart 1980. Im Sinne von T.S. Kuhn, The Structure of Scientific Révolutions, Chicago 1970. Vgl. hierzu allgemein K. Borchardt, Zäsuren in der wirtschaftlichen Entwicklung, in: M. Broszat (Hrsg.), Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, München 1990 sowie W. Zapf, Innovationschancen der westeuropäischen Gesellschaften, in: J. Berger (Hrsg.), Die Moderne - Kontinuitäten und Zäsuren, Göttingen 1986. Vgl. u.a. B. Lutz (1984); K. Borchardt (1990); J. Kromphardt, Konjunkturtheorie heute: Ein Überblick, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 109 (1989) sowie O. Landmann, Die Stabilisierungspolitik im Spannungsfeld von Gleichgewichts- und Ungleichgewichtstheorie, in: Kyklos, 35 (1982), 1.

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Wirtschaftspolitik nicht am Leben erhalten werden kann.34 Genau diese Frage nach den Bestimmungsgründen von sozio-ökonomischer Entwicklung, nach ihren Determinanten und Triebkräften, stand aber im Zentrum von Schumpeters Lebenswerk.35 Ähnlich wie Karl Marx hatte Joseph A. Schumpeter das Ziel verfolgt, einen inneren Bewegungsmechanismus marktwirtschaftlicher Entwicklung zu bestimmen.36 Doch während Marx hierbei in einem ideologisch geprägten Geschichtsdeterminismus gefangen blieb,37 war für Schumpeter die Geschichte stets offen und die jeweils anzuwendende Wirtschaftspolitik zur Dynamisierung von Entwicklung insofern letztlich zufallsbestimmt.38 "Ich wünsche nie" - so Schumpeter selbst - "Abschließendes zu sagen."39 Ungeachtet dieser hier zum Ausdruck kommenden Neigung, sich nicht festlegen zu wollen, besaß Schumpeter dennoch eine klare Vorstellung vom Wesen und Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung, die er in zahlreichen Aufsätzen, vor allem aber in seinem Frühwerk "Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung" von 191140 sowie in der 1939 erschienenen zweibändigen Abhandlung "Konjunkturzyklen"41 transparent gemacht hat. Sozio-ökonomische Entwicklung war für Schumpeter in strikter Abgrenzung zur Neoklassik tatsächlich niemals nur Wachstum, d.h. das kontinuierliche, gleichgewichtige Ausgestalten einer gegebenen Produktionsfunktion. Entwicklung war für ihn stets Veränderung, Wandel, damit aber notwendigerweise zugleich auch "Zerstörung" von Strukturen, und zwar dann, wenn diese drohen, Entwicklung zu blockieren. Diese "schöpferische Zerstörung" zur 34 35

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Vgl. hierzu bereits W.F. Stolper (1984). Vgl. ebenda. Des weiteren R. Spree, Lange Wellen wirtschaftlicher Entwicklung in der Neuzeit, in: Historische Sozialforschung, Supplement/Beiheft 4 (1991), vor allem Kapitel 7. Vgl. zum Vergleich beider Ökonomen J. Kromphardt, Wachstum und Konjunktur. Grundlagen ihrer theoretischen Analyse und wirtschaftspolitischen Steuerung, 2. Aufl., Göttingen 1977, Kapitel VI. Vgl. stellvertretend hierzu J. Kocka, Karl Marx und Max Weber im Vergleich, in: H.-U. Wehler (Hrsg.), Geschichte und Ökonomie, Köln 1973. Interessant in diesem Zusammenhang ist der von Schumpeter vorgenommene Vergleich seiner eigenen Auffassungen mit denen von Marx. Vgl. J.A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Vorwort zur japanischen Ausgabe, 6. Aufl., Berlin 1964. Vgl. W.F. Stolper (1984), S. 26. Zit. nach G. Eisermann, Joseph Schumpeter als Soziologe, in: Kyklos, 17 (1965), S. 306. Vgl. J.A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, (1911), 6. Aufl. Berlin 1964. Vgl. ders., Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische Analyse des kapitalistischen Prozesses (1939), Bd. 1,2, Göttingen 1961.

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Durchsetzung von Innovationen - oder, wie Schumpeter es formulierte, "neuer Kombinationen der vorhandenen wirtschaftlichen Möglichkeiten" 42 würde durch unternehmerische Aktivität erfolgen, d.h. der Pionierunternehmer ist Schumpeter zufolge die eigentliche Kraft, die den Wandel vorantreibt. Schumpeter schreibt: "Wie die Durchsetzung neuer Kombinationen Form und Inhalt der Entwicklung ist, so ist das Tun des Führers ihre treibende Kraft ..., und wir meinen, daß hier graduelle Unterschiede der Persönlichkeiten ... zu wesentlichen Erklärungsmomenten des Geschehens werden." 43 Dennoch betrachtete Schumpeter den Unternehmer rein funktional, d.h. jemand ist nur so lange Unternehmer, wie er neue Kombinationen durchsetzt; ansonsten ist er Wirt oder Manager. 44 Diese "neuen Kombinationen" bzw. Innovationen, durchgesetzt durch das Talent einzelner Unternehmerpersönlichkeiten, treten nach Meinung Schumpeters - und dies ist für seine Vorstellung von Entwicklung entscheidend - im Zeitablauf nicht gleichmäßig verteilt auf, sondern schubartig. 45 Da durch Innovationen die jeweilig vorherrschende Produktionsfunktion zerstört, dadurch aber ein schmerzhafter volkswirtschaftlicher Anpassungsprozeß in Gang gesetzt werden würde, bewege sich wirtschaftliche Entwicklung demzufolge diskontinuierlich bzw. - wie er 1939 konkretisierte - in Form von Konjunkturzyklen: "Konjunkturzyklen analysieren heißt" - so Schumpeter bereits in seinem Vorwort zu seinem zweibändigen Werk - "nicht mehr und nicht weniger, als den Wirtschaftsprozeß des kapitalistischen Zeitalters analysieren. (...) Konjunkturzyklen können nicht, wie beispielsweise die Rachenmandeln, abgetrennt und gesondert behandelt werden, sondern so wie der Herzschlag gehören sie zum eigentlichen Wesen des Organismus, der sie hervorbringt." 46 Die Betrachtung der wirtschaftlichen Entwicklung in ihrer Einheit von Konjunktur und Wachstum ist bei Schumpeter allerdings nicht gleichbedeutend mit einer daraus ableitbaren strikten Periodizität von Krisen. Schon 1936, im Rahmen seines berühmt gewordenen Vortrages "Kann der Kapitalismus überleben?", betonte er: "Im Grunde könnte sich jene wellenartige Bewegung, die das wirtschaftliche Leben bestimmt, ständig unvermindert 42 43 44 45

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Vgl. J.A. Schumpeter (1964), S. 158. J.A. Schumpeter (1964), S. 162, Fußnote 1. Vgl. hierzu R. Spree (1991), S. 61. Schumpeter entwickelt diese Auffassungen insbesondere in Kapitel IV seiner "Konjunkturzyklen", S. 139ff. Ansonsten bereits in seiner "Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung" sowie vor allem in seinem Buch "Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie" (1942), Bern 1950. Vgl. Anm. 41, S. 5.

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fortsetzen, ohne daß es zu Zusammenbrüchen kommt, die wir als Krisen bezeichnen. Die Summe der Phänomene, die wir üblicherweise mit diesem Begriff umschreiben, verdankt ihre Existenz zufälligen Umständen. Es kann dazu kommen oder nicht und manchmal werden Krisen vermieden, obwohl es gewichtigere Krisengründe gibt als in anderen Fällen, in denen tatsächlich eine Krise ausbricht. Aber in bestimmten Phasen eines Zyklus' ist das Auftreten solcher Fälle sehr wahrscheinlich. In ähnlicher Weise ist das, was wir eine Revolution nennen, nichts anderes als ein Zusammenbruch von Organisation und Moral." 47 Die Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs einer großen Krise wächst nach Schumpeter nun in dem Maße, wie verschiedenartig verursachte Schwankungsformen der Entwicklung aufeinanderprallen. Schumpeter hat in Abhängigkeit unterschiedlich strukturierter Innovationen, die zu jeweils unterschiedlich intensiven Änderungen der Produktionsfunktion führen können, auf der Grundlage der damaligen konjunkturtheoretischen Diskussion ein sogenanntes Drei-Zyklen-Schema entwickelt. 48 Demnach würden sich simultan bewegende Schwankungen von unterschiedlicher Länge gegenseitig überlagern, die in ihrer Summe erst die eigentliche, d.h. beobachtbare Geschäftsaktivität hervorbringen. Der Kondratieff, als übergeordneter Zyklus, würde aus sechs Juglars und jeder Juglar wiederum aus drei Kitchins bestehen, wobei Schumpeter die einzelnen Kondratieffwellen als ganz spezielle industrielle Revolution charakterisierte. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß Schumpeter den Innovationsbegriff keineswegs - wie heute meist üblich - auf die Einführung neuer Technologien verengt hat. Für ihn spielte die "Schaffung neuer Organisationen" oder die "Erschließung neuer Absatzmärkte und Bezugsquellen" für den Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung ebenfalls eine große Rolle. 49 So weit in aller Kürze die wichtigsten Aspekte der Entwicklungstheorie von Schumpeter. Obwohl seine Analysen in der Zwischenzeit zum Teil mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegen und sie im Schatten der glanzvollen Nachkriegsprosperität bis zum Beginn der 70er Jahre sogar fast in

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Vgl. J.A. Schumpeter, Kann der Kapitalismus überleben?, (1936), wieder abgedruckt in: H. Matis/D. Stiefel (Hrsg.), Ist der Kapitalismus noch zu retten? 50 Jahre Joseph A. Schumpeter: "Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie", Wien 1993, S. 37/8. Zusammenfassend hierzu M. Grabas, Konjunktur und Wachstum in Deutschland von 1895 bis 1914, Berlin 1992, S. 73ff. Vgl. J.A. Schumpeter (1964), S. 159.

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Vergessenheit geraten wären,50 haben sie - wie die weltweiten sozio-ökonomischen Umbruchsprozesse zeigen - nichts an Aktualität eingebüßt. Dennoch scheint die gegenwärtige, außerordentlich vehemente SchumpeterRenaissance in erster Linie Symbolcharakter zu besitzen. Diente Keynes mit seiner staatlichen Kreditschöpfiingstheorie51 dazu, nach dem Schock von Weltwirtschaftskrise und Weltkrieg die Fundamente der Marktwirtschaft durch die Aufwertung sozialer Komponenten zu retten, so geht es derzeit darum, mit Hilfe von Schumpeters Gedanken zur Antriebsmotorik der Entwicklung den durch eine schwächer gewordene sozio-ökonomische Gestaltungseffizienz destabilisierten Sozialstaat52 mit systemkonformen Mitteln aus der Krise hinauszuführen. Dabei hat Schumpeter durchaus nicht immer befriedigende Erklärungsmuster gegeben. So wurde von ihm z.B. die Abfolge von Stabilität und Instabilität zwar als gesetzmäßig unterstellt; der Mechanismus der Erzeugung von Wachstumsschwankungen blieb jedoch weitgehend ungeklärt. Vor allem blieb offen, warum und wann Inventionen zu Innovationen werden und inwiefern Innovationen tatsächlich durch ihre Ausbreitung Auf- und Abschwünge der Entwicklung bestimmen.53 Ungeachtet dessen, oder vielleicht auch gerade deshalb, finden heute die unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen bei Schumpeter Anregungen - angefangen bei den Ökonomen54 und Soziologen,55 bis hin zu den Politologen56 und

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" Zur Schwerpunktverlagerung des wirtschaftswissenschaftlichen Denkens während der 50er und 60er Jahre vgl. K. Borchardt, Wandlungen des Konjunkturphänomens in den letzten 100 Jahren, in: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Jg. 1976, Heft 1, München 1976, S. 9. 51 Vgl. zur Entwicklung der Keynes'schen Lehre in Deutschland G. Bombach/H.J. Ramser/M. Timmermann/W. Wittmann, Der Keynesianismus, Bd. I-IV, Berlin/ Heidelberg/New York 1976. 52 Stellvertretend zur Krise des Sozialstaats J. Berger (1986); B. Lutz (1984) sowie P. Flora, Krisenbewältigung oder Krisenerzeugung. Der Wohlfahrtsstaat in historischer Perspektive in: W.J. Mommsen (Hrsg.), Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates in Großbritannien und Deutschland, 1850-1950, Stattgart 1982, vor allem S. 367. 53 In diesem Sinne kritisch auch R. Spree (1991), S. 63. 54 Vgl. die in diesem Text angegebene Literatur, vor allem Anmerkungen 27-29. 55 Stellvertretend W. Zapf (1994) sowie G. Eisermann (1965). 56 Vgl. z.B. V. Bornschier u.a. (Hrsg.), Diskontinuität des sozialen Wandels. Entwicklung als Abfolge von Gesellschaftsmodellen und kulturellen Deutungsmustem, Frankfurt/M. 1990. R.D. Coe/C.K. Wilbier, Capitalism and Democracy: Schumpeter Revisited, Notre Dame 1985 sowie A. Oakley, Schumpeter's theory of capitalist motion: a critical exposition and reassessment, Elgar 1990.

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Historikern57 sowie Futurologen.58 Selbst innerhalb einer jeweiligen Wissenschaftsdisziplin können verschiedenartige Modellvorstellungen oder sogar Denkschulen anhand von Schumpeter untermauert werden. Dies gilt insbesondere für die Wirtschaftswissenschaft, der es um die Erarbeitung strukturpolitischer Konzepte fllr die Gestaltung der 90er Jahre geht. So betonen beispielsweise Angebotstheoretiker, die eine Neustrukturierung des Spannungsverhältnisses von privater Wirtschaft und staatlichem Interventionismus fordern, vor allem Schumpeters "Pionierunternehmer" und seine Innovationsproblematik.59 Nachfragetheoretiker wiederum, die trotz der auch von ihnen gesehenen Notwendigkeit einer Deregulierung der Wirtschaft die Bedeutung des Staates bei der Überwindung der strukturellen Stagnation hervorheben, können darauf verweisen, daß Schumpeter, so sehr er auch die Triebkraft der Entwicklung auf der Angebotsseite erblickte, dennoch ein "strikter Gegner einer Deflationspolitik" gewesen war.60 Konjunkturtheoretiker hingegen, die von der Ungleichgewichtigkeit des Wachstums ausgehen, damit aber von der Normalität der gegenwärtigen Umstrukturierungsprobleme, stützen sich primär auf Schumpeters Aussagen zur Zyklizität der sozio-ökonomischen Entwicklung.61 Und schließlich finden auch Vertreter der Neuen Institutionenökonomik in Schumpeters Untersuchungen Bausteine ihrer Modellansätze, mit denen sie auf die Notwendigkeit eines institutionellen Wandels aufmerksam machen können.62 Diese nicht selten zur Einseitigkeit der Betrachtung führende Tendenz, aus Schumpeters Werk lediglich "Teilbeiträge

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Wegweisend H. Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1975. Vgl. des weiteren u.a. Hj. Siegenthaler, Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Die Ungleichmäßigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen Handelns und sozialen Lernens, Tübingen 1993 sowie M. Grabas (1992). Vgl. z.B. R. Kreibich, Fazit einer Debatte, in: M. Jänicke (Hrsg.), Vor uns die goldenen neunziger Jahre? Langzeitprognosen auf dem Prüfstand, München/Zürich 1992. Vgl. z.B. J.R. Meyer, Deregulierung und die Wiedergeburt des Unternehmers, in: D. Bös/H.-D. Stolper (1984) sowie H. Giersch, Marktwirtschaftliche Perspektiven für Europa. Licht im Tunnel, DüsseldorfTWien/New York/Moskau 1993. Stellvertretend W.F. Stolper (1984), S. 28. Vgl. z.B. A. Kleinknecht, Innovation Patterns in Crisis and Prosperity: Schumpeters Cycle Reconsidered, London 1987 sowie M. Neumann, Zukunftsperspektiven im Wandel: Lange Wellen in Wirtschaft und Politik, Tübingen 1990. Vgl. aber auch R.G. King/Ch.J. Plosser/S. Rebelo, Production, Growth and Business Cycles, in: Journal of Monetary Economics, 21 (1988). Vgl. hierzu den Beitrag von M. Neumann, Schumpeter und Keynes: Zwei komplementäre Perspektiven, in: D. Bös/H.-D. Stolper (1984).

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zu Teilbereichen" der Gesellschaft herauszugreifen, 63 resultiert aus der Tatsache, daß Schumpeter keine in sich geschlossene und formalisierbare Theorie der Entwicklung hinterlassen hat. 64 Dies war wohl auch kaum seine Absicht; immerhin vertrat er die Auffassung, daß es für die Gestaltung der evolutorischen Entwicklung kein Allgemeinkonzept gibt. Insofern sollten wir seine Einzelergebnisse und -aussagen nicht als Dogmen bzw. Orthodoxien verwerten, sondern - worauf auch Wilhelm Krelle hinweist - als "Anregungen, Denkanstöße und Hypothesen." 65 Allerdings scheint es wichtig, hierbei seine an die Nachwelt hinterlassene Botschaft niemals aus den Augen zu verlieren, nämlich daß moderne Industriegesellschaften ihre Antriebsdynamik aus einer sozio-kulturell bestimmten und durch politische und andere Faktoren beeinflußten Ungleichgewichtigkeit ihrer ökonomischen Entwicklung erhalten. In diesem Sinne sei im Folgenden ein durch Joseph A. Schumpeter inspirierter Modellansatz vorgestellt, mit dem der langfristige dynamische Wandel der euro-atlantischen Gesellschaften seit dem Ende des 18. Jahrhunderts transparent gemacht werden kann.

DER WECHSEL VON PROSPERITÄT UND STAGNATION ALS BEWEGUNGSMUSTER SOZIO-ÖKONOMISCHER ENTWICKLUNG Der hier vertretene Ansatz läßt sich von der Notwendigkeit leiten, die bei Schumpeter ins Zentrum gerückte Innovations-Unternehmer-Problematik durch eine stärkere Berücksichtigung von Diffusionsprozessen zu relativieren. 66 Denn - so vor kurzem auch Hansjörg Siegenthaler - erst die der Innovation sich anschließende Diffusion kann Charakter und Verlauf der sozio-ökonomischen Entwicklung erklären. 67 Während Siegenthaler hierbei 63

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Vgl. J. Osterhammel, Joseph A. Schumpeter und das Nicht-Ökonomische in der Ökonomie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 39 (1987), S. 42. Vgl. zu dieser Problematik W. Krelle, Keynes und Schumpeter: Unterschiedliche Ansätze, in: D. Bös/H.-D. Stolper(1984). W. Kreile, Keynes und Schumpeter: Unterschiedliche Ansätze, in: D. Bös/H.-D. Stolper (1984), S. 72. In erster Annäherung ist dieser Ansatz von der Verfasserin bereits im Zusammenhang mit der wirtschaftshistorischen Analyse des Deutschen Kaiserreichs entwickelt worden. Vgl. M. Grabas (1992), S. 78. Vgl. Hj. Siegenthaler (1993), S. 72. Ansonsten vgl. R. Spree (1991), Kapitel 8, der die Diffusionsforschung der letzten Jahre kritisch würdigt.

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nun vor allem der Mikroebene des individuellen Handelns und hierbei wiederum der subjektiven Erwartungshaltung der Akteure die primäre Bedeutung ftlr die Abfolge von Stabilitäts- bzw. Instabilitätsperioden der Entwicklung beimißt,68 heben die folgenden Überlegungen statt dessen primär auf die objektiven Bedingungen ab, unter denen Innovationen hervorgebracht und dann verbreitet werden. Dabei wird von der Erkenntnis ausgegangen, daß die in einer Volkswirtschaft wirkenden Regelmechanismen durch komplexe, keineswegs nur ökonomisch strukturierte Bedingungskonstellationen bestimmt sind, die trotz ihrer relativen Konstanz einer permanenten qualitativen Veränderung unterliegen.69 Vor allem der Wandel der Institutionen besitzt in diesem Kontext einen besonderen Stellenwert. Ausgehend von dieser Prämisse, die wesentlich durch die Untersuchungen von Douglas C. North bekräftigt ist70 sowie in Abhängigkeit der Erkenntnisse Schumpeters zur Ungleichgewichtigkeit der sozio-ökonomischen Entwicklung, sollen die empirisch nachweisbaren längerfristigen Schwankungen des industriellmarktwirtschaftlichen Wachstums des 19. und 20. Jahrhunderts als Prosperitäts- und Stagnationsperioden bezeichnet werden. Diese bisher regelmäßig einander ablösenden Trendperioden sind hinsichtlich ihrer Länge dem klassischen Konjunkturzyklus übergeordnet und durch jeweils unterschiedlich strukturierte gesamtgesellschaftliche Faktorenkonstellationen bestimmt. Unter einer Prosperitätskonstellation wird dabei die Einheit von Schumpeterschem Innovationsschub und Diffusionskonglomerat verstanden. Während der Innovationsschub das Angebotspotential einer Volkswirtschaft repräsentiert, vereinigen sich im Difiusionskonglomerat all jene ökonomischen und außerökonomischen Faktoren, die die Ausbreitung von Innovationen durch die Konstituierung relativ stabiler, längerfristig wirkender Nachfrageverhältnisse ermöglichen. Mit dieser Definition soll darauf aufmerksam gemacht werden, daß die Forcierung des technischen Fortschritts allein nicht ausrei-

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Vgl. in diesem Kontext auch frühere Arbeiten des Autors, wie z.B. Hj. Siegenthaler, Ansätze zur Interpretation des Zusammenhangs von langfristigen Wachstumsschwankungen und sozio-politischem Strukturwandel, in: W.H. Schröder/R. Spree (1980). Ganz im Sinne übrigens von Schumpeter, der ökonomische Prozeßabläufe nie monistisch bestimmt betrachtet hat. Vgl. hierzu J. Osterhammel (1987), S. 56. Vgl. Anmerkung 26. Ansonsten zur Bedeutung des institutionellen Wandels in der Geschichte auch W. Fischer, Was heißt und und zu welchem Ende studiert man Wirtschafts- und Sozialgeschichte?, in: H. Maier-Leibnitz (Hrsg.), Zeugen des Wissens, Mainz 1986, S. 659/60.

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chend ist, Wachstumsdynamik zu stimulieren.71 Technologische Wandlungsprozesse sind immer nur eine notwendige, nicht jedoch hinreichende Bedingung für das Ingangsetzen langanhaltender Aufschwungperioden. Innovationen können nur dann die prinzipiell in ihnen intendierten Dynamisierungseffekte freisetzen, wenn sie volkswirtschaftlich breit nachgefragt, gesellschaftlich gewollt und vor allem institutionell abgesichert sind. Das Diffusionskonglomerat, das seine Antriebskraft aus dem Ineinandergreifen unterschiedlicher Veränderungsfaktoren der Gesellschaft bezieht, ist weder im Zeitablauf konstant, noch kann man es auf lange Sicht prognostizieren. Auf der anderen Seite weist seine Struktur über einen gewissen Zeitraum hinweg eine relative Stabilität auf, so daß man es in seinen wichtigsten Strukturparametern erkennen und steuern kann. Dabei wird davon ausgegangen, daß innerhalb des Diffusionskonglomerats einerseits die Bevölkerungsentwicklung und die damit verbundenen Bedürfiiis- und Bewußtseinsveränderungen eine Schlüsselrolle einnehmen, andererseits aber Umfang sowie Art und Weise des Energie- und Rohstoffverbrauchs einer Volkswirtschaft.72 So wichtig also der technologische Modernisierungsprozeß innerhalb der gesellschaftlichen Entwicklung auch sein mag; letztlich entscheidet erst die Ausreifung eines Diffusionskonglomerats darüber, ob eine Häufung von Basisinnovationen epocheprägende Wachstumseffekte erzielen kann oder nicht. Oder anders formuliert: Erst der Zusammenfall von Diffusionskonglomerat und Innovationsschub macht eine Prosperitätskonstellation aus. Die Steuerungskraft einer so verstandenen Prosperitätskonstellation verliert nun in dem Maße an Dynamik, wie die Struktur des Diffusionskonglomerats durch die permanente Veränderung ihrer Faktoren im Laufe der Zeit an Stabilität verliert. Auch hierbei spielen Veränderungen innerhalb der Bevölkerungsentwicklung, vor allem der mit dem Generationenwechsel eng verbundene Wandel in den Wertevorstellungen, eine zentrale Rolle, aber ebenso Veränderungen in den Zugriffsmöglichkeiten zum volkswirtschaftli71

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Ähnlich auch G. Hardach, der neben der Innovationsanalyse vor allem auf die Notwendigkeit einer Analyse der Diffusionsbedingungen aufmerksam macht, in: Lange Wellen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik?, in: D. Petzina/G. v. Roon (1981), S. 209. Zur Rolle der Bevölkerungsentwicklung im Ablauf von sozio-ökonomischer Prosperität und Stagnation vgl. stellvertretend J. Svennilson, Growth and Stagnation in the European Economy, Genf 1954; zur Rolle des Energie- und Rohstoffverbrauchs insbesondere W.W. Rostow, The World Economy. History and Prospect, London 1978. Vgl. in diesem Kontext aber auch das sehr anregende Buch von R. Sieferle, Der unterirdische Wald. Industrielle Revolution und Energiekrise, München 1982.

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chen Energie- und Rohstoffpotential, die zu einer Eskalation von Verteilungskonflikten und machtpolitischen Auseinandersetzungen führen können.73 Die Destabilisierung der gesellschaftlichen Nachfrageverhältnisse, letztlich verursacht durch die Eigendynamik der vorausgegangenen Wachstumsexpansion, beschleunigt nun auf diese Weise zugleich das Aufbrechen von strukturellen Ungleichgewichten innerhalb der Volkswirtschaft bzw. auf dem Weltmarkt, die direkt an den diskontinuierlichen Diffusionsverlauf bahnbrechender Innovationen gebunden sind. Dann ist der Zeitpunkt gekommen, daß sich eine Prosperitätskonstellation erschöpft hat und in eine Stagnationskonstellation umzuschlagen beginnt.74 Außenwirtschaftlich tritt er oft als Wechsel in der Handels- und Zollpolitik in Erscheinung; binnenwirtschaftlich hingegen als Wechsel im Investitionsmuster: Anstelle von Erweiterungsinvestitionen dominieren Rationalisierungsinvestitionen.75 Sie sollen helfen, die in der Zwischenzeit verschlechterten Rentabilitätsbedingungen der Unternehmen und Haushalte als Folge der sich veränderten Preisund Kostenrelationen zu kompensieren. Damit aber wird strukturelle Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig verlangsamtem Wachstum zum Erscheinungsbild der Stagnationsperiode: Infolge der durch die Rationalisierung freigesetzten und aufgrund fehlender Expansionsräume nicht sofort wieder einsetzbaren Arbeitskräfte kommt es zu einem wachstumsblockierenden volkswirtschaftlichen Nachfrageausfall, der durch seine Wirkungsdimension zu einer Umorientierung sozio-ökonomischer Handlungen und damit letztlich von Institutionen führt. Die Initialzündung für den Wechsel von Trendperioden erfolgt in der Regel über historisch singulare, also nicht prognostizierbare Ereignisse, die als exogene Schocks den endogenen Mechanismus marktwirtschaftlicher Kreisläufe in die eine oder andere Richtung akzelerieren.76 Hinsichtlich der Herausbildung einer Stagnationskonstellation läßt sich daraus folgern, daß eine bereits in Ansätzen vorhandene sozio-ökonomische Labilität der 73

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Vgl. hierzu u.a. W.L. Bühl, Sozialer Wandel im Ungleichgewicht, Stuttgart 1990; W. Zapf (1994) sowie Hj. Siegenthaler, Vertrauen, Erwartungen und Kapitalbildung im Rhythmus von Struktuiperioden wirtschaftlicher Entwicklung: Ein Beitrag zur theoriegeleiteten Konjunkturgeschichte, in: G. Bombach (Hrsg.), Perspektiven der Konjunkturforschung, Tübingen 1984. Vgl. ähnlich auch V. Bomschier, Westliche Gesellschaft im Wandel, Frankfurt/M./New York 1988. Vgl. hinsichtlich des Übergangs zu Rationalisierungsinvestitionen z.B. A. Kleinknecht, Long Waves. Depression and Innovation, in: De Economist, 1934 (1986), 1. Zur Bedeutung "exogener Schocks" fllr die Gestaltung der wirtschaftlichen Entwicklung vgl. J. Kromphardt (1989), S. 178.

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Gesellschaft infolge dieser Schockwirkungen verstärkt wird. Ihre Überwindung erfolgt über die Durchsetzung neuer Strukturparameter des Diffusionskonglomerats, um auf der Grundlage neuer und institutionell abgesicherter Nachfragekonstellationen eine effizientere, d.h. Entwicklung dynamisierende Ausschöpfung des gesellschaftlichen Innovationspotentials zu ermöglichen. Die daraus resultierende neue Steuerungskapazität der Gesellschaft bildet so gesehen die Voraussetzung einer neuen Periode sozio-ökonomischen Wandels.77 Im Folgenden soll nun versucht werden, den hier unterstellten Erklärungswert des Wechsels von Prosperität und Stagnation für die Analyse der sozio-ökonomischen Wandlungsprozesse der ehemaligen DDR methodologisch zu verwerten. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, daß industrielle Planwirtschaftssysteme eine spezifische Erscheinungsform der sich seit dem Ende des IS. Jahrhunderts herausgebildeten Industriegesellschaften darstellen und insofern - trotz ihrer planwirtschaftlichen Gegensteuerungsversuche und trotz Fehlens eines Schumpeterschen Pionierunternehmers ebenso wie Marktwirtschaften Schwankungen der Entwicklung unterworfen sind: Zum einen auf Grund ihrer Weltmarktintegration, zum anderen aber und in erster Linie auf Grund ihrer wirtschaftspolitischen Ausrichtung auf die Steigerung des wirtschaftlichen Wachstums und damit auf die Gestaltung von Investitions- und Innovationsprozessen.78

HYPOTHESEN ZUR KRISENHAFTEN MODERNISIERUNG DER SOZIO-ÖKONOMISCHEN ENTWICKLUNG DER DDR IM WECHSELSPIEL VON STABILITÄT UND INSTABILITÄT 1993 bekannte Rolf Reißig, was heute nur noch wenige hören wollen: "Die DDR ist lange Zeit im Osten und im Westen, mehrheitlich auch bei ihren scharfen Kritikern, als relativ stabil und in Grenzen sogar als entwicklungsfähig wahrgenommen worden."79 Angesichts der fortschreitenden tiefgreifenden Transformationskrise der ostdeutschen Wirtschaft, deren Ausmaß

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Vgl. hierzu ähnlich B. Lutz (1984), S. 62. So vor kurzem auch G. Schabowski (1994), S. 15. Ansonsten vgl. K.P. Hensel, Grundformen der Wirtschaftsordnung. Marktwirtschaft - Zentralverwaltungswirtschaft, München 1972 sowie G. Gutmann (1990). Vgl. R. Reißig (1993), S. 49.

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selbst den Ausprägungsgrad der Großen Depression der frühen dreißiger Jahre übertrifft und historisch einmalig ist, 80 und vor allem angesichts der in der Zwischenzeit erfolgten empirischen Bestandsaufnahme der ökonomischen Leistungsfähigkeit der DDR am Ende der 80er Jahre, 81 wirkt die damals bei vielen vorhandene Stabilitätsvorstellung des zweiten deutschen Staates tatsächlich absurd. Man weiß heute, daß die ostdeutsche Volkswirtschaft 1989 auf Grund ihres niedrigen Produktivitätsniveaus und der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit ihrer Produkte bereits zum zweiten Mal unmittelbar vor dem Zahlungsbankrott gestanden hat 82 und sie ohne Wiedervereinigung einer sozio-ökonomischen Katastrophe mit nicht absehbaren sozialen Folgen entgegengegangen wäre. 83 1 991 hat das Statistische Bundesamt unter Heranziehung neuer Quellen eine erste Berechnung vorgelegt, wonach 1990 die Wirtschaftsleistung je Einwohner in der früheren DDR bei knapp einem Drittel deijenigen im Westen lag. Damit stand die DDR im internationalen Vergleich - anders als bis dahin vermutet - lediglich auf der Entwicklungsstufe von Portugal und Griechenland. 84 Und doch dürfte der vor und unmittelbar nach dem Fall der Mauer weitverbreitete Optimismus hinsichtlich einer schnellen Überwindung der wirtschaftlichen Probleme im anderen Teil Deutschlands 85 nicht allein mit der ungenügenden Quellenlage erklärbar sein. Auch dürfte die im Zuge der Entspannungspolitik entstandene

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Vgl. G. u. H.-W. Sinn, Kaltstart. Volkswirtschaftliche Aspekte der deutschen Vereinigung, Tübingen 1992, S. 30/1. Vgl. stellvertretend die Bestandsaufnahme der DDR, hrsg. vom Institut der deutschen Wirtschaft, in: IW-Trends, 17 (1990), 2; B. Görzig, Produktion und Produktionsfaktoren für Ostdeutschland. Kennziffern 1980-1991, DIW, 135 (1992) sowie insbesondere die FS-Analysen der Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen aus den Jahren 1990 und 1991. Vgl. zu dieser Problematik J. Roesler, Der Einfluß der Außenwirtschaft auf die Beziehungen DDR-BRD während der 80er Jahre, in: Deutschland Archiv, 26 (1993), 2 sowie H.-H. Hertie, Der Weg in den Bankrott der DDR-Wirtschaft, in: Deutschland Archiv, 25 (1992), 2. So der letzte Wirtschaftsminister der DDR G. Mittag in einem Spiegel-Interview vom August 1991, zit. in: W. Venohr (1992), S. 319. Ansonsten zu dieser Problematik stellvertretend H.-H. Hertie, Staatsbankrott. Der ökonomische Untergang des SED-Staates, in: Deutschland-Archiv, 25 (1992), 10, vor allem S. 1023. Zit. nach J. Hacker, Deutsche Irrtümer, Frankfurt/M. 1992, S. 448. Vgl. zu dieser Problematik W. Fischer, Politische versus ökonomische Vernunft: Wirtschafts- und währungspolitische Entscheidungen im deutschen Einigungsprozeß, in: J. Kocka/H.-J. Puhle/K. Tenfelde (Hrsg.), Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag, München 1994.

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ideologisch bedingte Wahrnehmungsverzerrung breiter Kreise gerade der westlichen Öffentlichkeit kaum ausreichen, um das nicht selten realitätsferne Bild über die DDR 86 zu erklären. Vielmehr scheint die in der Forschung vielfach geäußerte Verblüffung über den "rapiden Ruin" der ostdeutschen Industriewirtschaft 87 bzw. über das "rasche Verschwinden" der DDR von der politischen Landkarte 88 mithin darin zu wurzeln, daß die Planwirtschaft ja tatsächlich über einen langen Zeitraum relativ stabil funktioniert hat: Immerhin war sie - trotz aller anfänglichen Untergangsprognosen und objektiven Zwangslagen - nicht schon während der 50er Jahre kollabiert, 89 sondern hat sich nach der Grenzabschließung 1961 sogar noch derart stabilisiert, daß sie einerseits den gesamten Ostblock mit Maschinen und Ausrüstungen versorgen konnte, 90 andererseits aber der ostdeutschen Bevölkerung einen relativ hohen Lebensstandard gesichert hat. 91 Erst während der 70er und noch mehr während der 80er Jahre begann diese, von vielen anscheinend als unveränderlich betrachtete relative Stabilität brüchig zu werden, 92 ohne allerdings in ausreichendem Maße von der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen worden zu sein. 93 Ungeachtet nun dieser hier kurz angedeuteten Problematik der sich im Zeitablauf offensichtlich veränderten Stabilitätsbedingungen und -mechanismen der ehemaligen DDR neigt die gegenwärtige Forschung dazu, abermals, wenngleich in umgekehrter Richtung, die Wirklichkeit zu verzerren: Ausgehend von dem wirtschaftlichen Desaster, durch das die ostdeutschen Bundes86 87

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Vgl. hierzu ausführlich J. Hacker (1992). So Ch.S. Maier, Literatur, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 39 (1991), S. 495. S. R. Reißig (1993), S. 49. Vgl. hierzu J. Nawrocki, Das geplante Wunder: Leben und Arbeiten im anderen Teil Deutschlands, Hamburg 1967. Vgl. zur Außenhandelsentwicklung M. Haendke-Hoppe, Außenwirtschaftsreform und Außenwirtschaftssysteme, in: FS-Analysen, 5 (1985) sowie G. Schneider, Wirtschaftswunder DDR. Anspruch und Realität, Köln 1990, S. 33ff. Vgl. stellvertretend B. Schönfelder, Sozialpolitik in den sozialistischen Ländern, München 1987 sowie H. Weber (1991). Vgl. stellvertretend H. Maier, Innovation oder Stagnation. Bedingungen der Wirtschaftsreform in den sozialistischen Ländern, Köln 1987 sowie G. Gutmann, Die DDR-Wirtschaft am Beginn der 80er Jahre - Fortschritt durch Intensivierung? In: FS-Analysen, 8 (1981). So faßt z.B. noch 1986 ein Team des "ZEIT"-Magazins Reiseeindrücke durch die DDR mit den Worten zusammen: "DDR 1986... Es herrscht Bewegung statt Stagnation. (...) Vor allem aber wirkt das Land bunter, seine Menschen sind fröhlicher geworden..." Zit. nach J. Hacker (1992), S. 432.

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länder bei Eintritt in die Währungs- und Sozialunion vom Juni 1990 gekennzeichnet waren, wird eine in die Vergangenheit zurückprojizierte gleichbleibende Ineffizienz der gesellschaftlichen Steuerungskapazität der DDR unterstellt, die aus den ordnungspolitischen Prämissen des Zentralverwaltungssystems abgeleitet wird. 94 Die hierin zum Ausdruck kommende Vernachlässigung der dynamischen Wechselwirkungen zwischen Staat und Wirtschaft, zwischen Wirtschaftspolitik und Wachstumsdynamik, führt nicht nur zu einer Fehlinterpretation von Geschichte; sie birgt zugleich die Gefahr in sich, die allgemein für die Gestaltung von sozio-ökonomischen Wandlungsprozessen relevanten Determinanten, Folgewirkungen und Triebkräfte, damit aber zugleich etwaig vorhandene Bewegungsmuster von Entwicklung zu verdecken. Weder läßt sich, wie im wissenschaftlichen Diskurs gegenwärtig beobachtbar, die Geschichte der DDR unter sozialhistorischem Aspekt auf Machtmonopolisierung, Nivellierung und Entdifferenzierung reduzieren, Prozesse, die als das "Bermudadreieck" des Realsozialismus bezeichnet werden, 95 noch war die wirtschaftshistorische Entwicklung des ostdeutschen Staates durchgängig instabil, innovationsschwach und stagnativ. 96 Und ebensowenig werden wir der schließlich in den Zusammenbruch mündenden Entwicklungsdynamik der ostdeutschen Gesellschaft gerecht, wollten wir sie lediglich als Anhängsel des Sowjetimperiums, also als politisches Phänomen, begreifen. 97 Vielmehr stellt sie das Resultat eines zutiefst widersprüchlichen und durch das Spannungsverhältnis von Staat und Gesellschaft geprägten Modemisie-

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So z.B. bei G. Gutmann (1990), S. 14ff; H. Zwahr, Kontinuitätsbruch und mangelnde Lebensfähigkeit. Das Scheitern der DDR, in: H. Kaelble/J. Kocka/H. Zwahr (1994), S. 555; W. Merkel/St. Wahl, Das geplünderte Deutschland. Die wirtschaftliche Entwicklung im östlichen Teil Deutschlands von 1949 bis 1989, Bonn 1991, S. 11 oder auch bei H. Ganßmann, Die nichtbeabsichtigten Folgen einer Wirtschaftsplanung, in: H. Joas/M. Kohli (1993), S. 172ff. 95 Vgl. in diesem Sinne u.a. F. Adler (1991) sowie vor allem S. Meuschel (1993) bzw. dies., Revolution in der DDR. Versuch einer sozialwissenschaftlichen Interpretation, in: H. Joas/M. Kohli (1993). Kritisch hingegen J. Kocka, Eine durchherrschte Gesellschaft, in: H. Kaelble/J. Kocka/H. Zwahr (1994), S. 550 sowie D. Pollack (1993), S. 262. 9< " In diesem Sinne ähnlich auch M. Lötsch, Der Sozialismus - eine Stände- oder eine Klassengesellschaft?, in: H. Joas/M. Kohli (1993), S. 121. Ansonsten zum Wechsel von Stabilität und Instabilität der wirtschaftlichen Entwicklung u.a. J. Roesler, Einholen wollen und Aufholen müssen. Zum Innovationsverlauf bei numerischen Steuerungen im Werkzeugmaschinenbau der DDR vor dem Hintergrund der bundesrepublikanischen Geschichte, in: J. Kocka (1993) sowie H. Maier (1987). 97 So z.B. H. Zwahr (1994), S. 554.

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rungsprozesses dar, dessen Antriebskraft entscheidend aus dem Wechselspiel von sozio-ökonomischer Stabilität und Instabilität gespeist wurde. Diese Aussage soll im Folgenden anhand eines Hypothesensamples konkretisiert werden. Es basiert zum einen auf der historischen Erkenntnis, daß - wie Knut Borchardt es formuliert - auch "der radikalste politischmilitärisch-wirtschaftliche Einschnitt (...) nur einen kleinen Teil derjenigen Bestände (verändert), die zuvor in einer Gesellschaft akkumuliert worden sind. Immer wirkt das einmal Akkumulierte in die neue Zeit hinüber, wirkt Geschichte fort. Indem diese Bestände weiterwirken, erleichtern sie einerseits die Überwindung der Brüche im System der Stromgrößen, aber sie schränken durch ihre Existenz andererseits auch die Beweglichkeit historischer Prozesse ein".98 Zum anderen basiert das Hypothesensample auf dem weiter oben vorgestellten Modellansatz zur sozio-ökonomischen Entwicklung, der als Einheit von Schumpeterschem Innovationsschub und Diffusionskonglomerat präzisiert und für die Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung Ostdeutschlands nach 1945 methodologisch verwertet worden ist. Schließlich basiert es auf ersten Ergebnissen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur wirtschaftshistorischen Aufarbeitung der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte geförderten Projekts, die ergänzend in die eigenen Untersuchungen eingeflossen sind." Daraus folgt eine Periodisierung der Wirtschaftsgeschichte der DDR, die entgegen der allgemein üblichen Praxis erstens sich nicht primär an wirtschaftspolitischen Zäsuren orientiert,100 sondern die jeweiligen organisatorisch-institutionellen Veränderungen des Zentralverwaltungssystems, wie z.B. die Einführung des "Neuen Kurses" vom Juni 1953, die Reformaktivität des "Neuen Ökonomischen Systems" zwischen 1963 und 1968/71 oder die

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Vgl. K. Borchardt, Die Bundesrepublik Deutschland in den säkularen Trends der wirtschaftlichen Entwicklung, in: Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik. Studien zur Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1982. Das Projekt, an dem zahlreiche Wissenschaftler aus den neuen und den alten Bundesländern teilnehmen, läuft unter dem Thema: "Wirtschaftliche Strukturveränderungen, Innovationen und Regionaler Wandel in Deutschland nach 1945". Vgl. z.B. H. Schäfer, Ploetz. Wirtschaftsgeschichte der deutschsprachigen Länder vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, Freiburg/Würzburg 1989; P. Christ/R. Neubauer, Kolonie im eigenen Land. Die Treuhand, Bonn und die Wirtschaftskatastrophe der fünf neuen Bundesländer, Reinbek 1993; D. Cornelsen, Die Wirtschaft der DDR in der Honecker-Ära, in: G.-J. Glaeßner (Hrsg.), Die DDR in der Ära Honecker, Opladen 1988 sowie R. Concilius, Die Wirtschaftsetappen in der SBZ/DDR in: Deutsche Studien, Vierteljahreshefte 84, (1982).

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Kombinatsreform von 1978/81, in ihrer Wechselwirkung mit der endogenen Veränderungsdynamik des wirtschaftlichen Wachstums als Eckpfeiler der Entwicklung hervorhebt. Zweitens aber erfordert das hier zur Anwendung kommende Analysekonzept, die Wirtschaftsgeschichte der DDR nicht bei einer "Stunde Null" im Jahre 1945 beginnen zu lassen,101 sondern sie in den europäischen säkularen Modernisierungsprozeß des 20. Jahrhunderts einzubetten.102 Die Vorkriegszeit bildet unter sozio-ökonomischem Aspekt aufgrund des unterstellten Entwicklungszusammenhangs von längerfristig wirkenden Stagnations- und Prosperitätsperioden insofern den Ausgangspunkt für die Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung der DDR. Hypothese 1: Die 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts waren durch einen wachstumsabschwächenden, durch die Folgen des Ersten Weltkrieges geprägten tiefgreifenden weltweiten Strukturwandel gekennzeichnet, 103 der wichtige Voraussetzungen filr die Herausbildung einer neuen internationalen Prosperitätsperiode entwickelt hat: 104 Auf der Angebotsseite dominierte ein riesiges Potential an technologischen Innovationen; besonders wichtig waren die Entwicklung der Kunstfaser (Nylon, Perlon), die Entwicklung von Radio und Fernsehen, die industrielle Fertigung des Automobils sowie die Entwicklung der modernen Luftfahrt, einschließlich der Raketentechnik.105 Nicht weniger wichtig waren aber auch wirtschaftspolitische Paradigmenwechsel in Richtung des Ausbaus des modernen Interventionsstaates106 sowie der partielle Übergang zur fordistisch-tayloristisch organi101

Dies gilt im übrigen ebenso für die Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik. Zur Relativierung des Jahres 1945 als einer "gleichsam totalen Zäsur" filr die gesamtdeutsche Geschichte vgl. auch K. Borchardt (1982), S. 149. 102 H. Kaelble hat diesen Weg vor kurzem zur Aufarbeitung der Sozialgeschichte der DDR beschritten. Vgl. seinen Aufsatz: Die Gesellschaft der DDR im internationalen Vergleich, in: H. Kaelble/H. Kocka, H. Zwahr (1994). 103 y g | allgemein m diesem Untersuchungszeitraum D.H. Aldcroft, Die zwanziger Jahre: von Versailles zur Wall Street 1919-1929, München 1978 (= W. Fischer (Hrsg.): Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert, Bd.3) sowie D. Petzina, Die deutsche Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit, Wiesbaden 1977. 104 Vgl. G. Mensch (1977) sowie B. Lutz (1984). 105 Ygj j R a d i o s Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt/M. 1989 sowie R. Berthold u.a. (Hrsg.), Produktivkräfte in Deutschland 1917/18 bis 1945, Berlin 1987. Vgl. auch W. Mühlfriedel, Zur technischen Entwicklung in der Industrie in den 50er Jahren, in: A. Schildt/A. Sywottek (1993), S. 155. 106 y g j u a Q Ambrosius, Die Durchsetzung der sozialen Marktwirtschaft in Westdeutschland 1945-1949, Stuttgart 1977 sowie D. Petzina (Hrsg.), Ordnungspolitische Weichenstellungen nach dem Zweiten Weltkrieg, Berlin 1991.

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sierten Massenproduktion. 107 Auf der Nachfrageseite, und hier vor allem in Europa, dominierte ein jahrzehntelanger Konsum- und Handelsstau als Folge fehlender Massenkaufkraft bei gleichzeitigem Drang, die Modernisierungsdiskrepanz zu Amerika abzubauen. 108 Hypothese 2: Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hat die gegen Ende der dreißiger Jahre, insbesondere in Deutschland 1 0 9 latent vorhandene neue Prosperitätskonstellation zunächst durch die Erfordernisse der Rüstungswirtschaft und die damit verbundene Fehllenkung herausgebildeter Modernisierungskräfte in ihrer vollen Entfaltung blockiert, 1 1 0 dann aber infolge der nach 1948/52 einsetzenden, institutionell abgefederten Rekonstruktionsdynamik enorm verstärkt: 111 zum einen wurden durch die erforderlichen Aufbauleistungen der zerstörten Betriebe und Städte auf der Grundlage neustrukturierter ordnungspolitischer Rahmenbedingungen die bis

107 Ygj Anmerkung 105. Des weiteren aber auch G. Ambrosius (1993); U. Voskamp/E. Wittke, "Fordismus" in einem Land. Das Produktionsmodell der DDR, in: Sowi, 19 (1990), 3 sowie W. König, Konstruieren und Fertigen im deutschen Maschinenbau unter dem Einfluß der Rationalisierungsbewegung. Ergebnisse und Thesen für eine Neuinterpretation des "Taylorismus", in: Technikgeschichte, 56 (1989). 108 vgl u a D. Petzina (1977); B. Lutz (1984); D.J.K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt/M. 1987 sowie J. Radkau, "Wirtschaftswunder" ohne technologische Innovation? Technische Modernität in den 50er Jahren, in: A. Schildt/A. Sywottek (1993). 109

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Schon in den dreißiger Jahren tauchte hinsichtlich der Charakterisierung der deutschen Wirtschaft der Begriff des "Wirtschaftswunders" auf. Vgl. H.E. Priester, Das deutsche Wirtschaftswunder, Amsterdam 1936. Ansonsten vgl. z.B. R.J. Oveiy, War and Economy in the Third Reich, Oxford 1994; ders., The Nazi Economic Recovery 1932-1938, London 1982. Zu den bis 1944 herausgebildeten Modernisierungspotentialen in Deutschland vgl. ergänzend zu Anmerkung 105 W. Abelshauser, Neuanfang oder Wiederaufbau? Zu den wirtschaftlichen und sozialen Ausgangsbedingungen der westdeutschen Wirtschaft nach dem 2. Weltkrieg, in: Technikgeschichte, 53 (1986). Vgl. aber auch M. Melzer, Anlagevermögen, Produktion und Beschäftigung der Industrie im Gebiet der DDR von 1936 bis 1976 sowie Schätzung des künftigen Anlagepotentials, Berlin 1980. Vgl. stellvertretend für die Vielzahl der Analysen zum Nachkriegswirtschaftswachstum vor allem H.van der Wee, Der gebremste Wohlstand. Wiederaufbau, Wachstum, Strukturwandel 1945-1980, München 1984 (= W. Fischer (Hrsg.): Geschichte der Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert, Bd. 6) sowie Ch. Buchheim, Die Wiedereingliederung Westdeutschlands in die Weltwirtschaft 1945-1958, München 1990. W. Mühlfnedel/K. Wießner, Die Geschichte der Industrie der DDR, Berlin 1989 sowie L. Baar, Zur ökonomischen Strategie und Investitionslenkung in der Industrie der DDR in den fünfziger und sechziger Jahren, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 2 (1983).

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1944 akkumulierten Wachstumspotentiale erruptiv freigesetzt; zum anderen aber kam es angesichts der kriegsbedingten Desintegration der Gesellschaften sowie angesichts des globalen Ost-West-Gegensatzes zum Durchbruch einer wachstumsstimulierenden neuen Qualität der Weltmarktintegration. Der daraus resultierende und dabei zu einer relativen Nivellierung der europäischen Volkswirtschaften führende kräftige Wachstumsschub der 50er und 60er Jahre 112 - verschiedentlich auch einfach als Boom bezeichnet 113 - wird damit nicht primär als "Rekonstruktionsperiode" charakterisiert, 114 sondern als eine durch die beiden Weltkriege verformte Aufschwungperiode der langfristigen ungleichgewichtigen sozio-ökonomischen Entwicklung. Hypothese 3: Die Wirtschaftsgeschichte der DDR läßt sich unter Einbeziehung der gesamtdeutschen Modernisierungsbestände und soziokulturellen Erfahrungswelten 115 nur als eine auf die Bundesrepublik bezogene Geschichte analysieren. 116 Die Teilung Deutschlands und die damit einhergegangene jeweils unterschiedliche Einbindung der beiden Teilstaaten in die politischen Weltsysteme führte zur Herausbildung einer ostdeutschen und einer westdeutschen Prosperitätskonstellation, die als politisch bedingte Modifizierungen der bis 1944 entwickelten Wachstumsvoraussetzungen charakterisiert werden können. Dabei kam es infolge der Teilung vor allem zu einer nachfragerelevanten Neustrukturierung des Diffusionskonglomerats, damit aber zu einer unterschiedlichen Ausschöpfung des gemeinsamen historischen Fortschrittspotentials. Während die Bundesrepublik infolge ihrer

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Für Westeuropa vgl. G. Ambrosius, Wirtschaftswachstum und Konvergenz der Industriestrukturen in Westeuropa, in: H. Kaelble (Hrsg.), Der Boom 1948-1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa, Opladen 1992. Vgl. ebenda. Auf S. 12 ihrer Ginleitung zu dem vorstehend aufgeführten Buch heben G. Ambrosius und H. Kaelble dabei hervor, daß die Nachkriegsprosperität keineswegs auf Westeuropa beschränkt blieb, sondern alle europäischen Länder erfaßt hat. So prononciert vor allem W. Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945-1980, Frankfurt/M. 1983, S. 94ff. Vgl. neben dem in die neue Geschichte hineinwirkenden akkumulierten Innovations- und Fähigkeitspotential z.B. auch Traditionen der Arbeitsethik und -disziplin, wie sie u.a. analysiert worden sind von J. Campbell, Joy in Work. The National Debate, 1800-1945, Princeton 1989. Zur Problematik des Fortwirkens von gesamtdeutschen Traditionen unter techniksoziologischem Aspekt vgl. J. Radkau, Revoltierten die Produktivkräfte gegen den real existierenden Sozialismus? In: Zeitschrift für die Sozialgeschichte des 21. Jahrhunderts, 4 (1990) und zum Fortwirken sozialpsychologischer Traditionen P. Hübner (1994). In diesem Sinne für die Sozialgeschichte auch J. Kocka (1993), S. 15.

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Einbindung in das westliche Weltmarktsystem durch die Teilung Deutschlands zusätzliche Dynamisierungsimpulse erhielt, 1 1 7 gestaltete sich die damalige Option der Alliierten für die zur Autarkisierung gezwungene D D R in jeder Beziehung als Nachteil. Von besonderer Relevanz erwiesen sich hierbei die aus der Teilung resultierende ungleiche Wirtschaftsstruktur,118 die ungleiche Verteilung der Reparationslast,11 ^ die unterschiedliche Ausformung der Außenhandelsbeziehungen120 sowie die unterschiedlichen ordnungspoli121 tischen Grundlagen. Letzterem Aspekt kommt für die Erklärung des unterschiedlichen Verlaufs der wirtschaftlichen Entwicklung in den beiden Teilstaaten ein besonderer Stellenwert zu: Bildete die im Westteil Deutschlands mit Unterstützung der Westalliierten geschaffene Ordnung der Freien Marktwirtschaft eine grundlegende institutionelle Voraussetzung für die rasche Ausbreitung akkumulierter Fortschrittsbestände, 122 so bewirkte das durch die UdSSR östlich der Elbe zementierte Zentralverwaltungssystem aufgrund seines normintegrativen Charakters und seiner wirtschaftspoliti-

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Vgl. in diesem Zusammenhang vor allem das kostenlose Humankapital, das der westdeutschen Wirtschaft infolge der permanenten Abwanderung von Arbeitskräften aus Ostdeutschland bis zum Mauerbau zur Verfügung stand. Hierzu W. Abelshauser (1983), S. 95ff. Grundlegend hierzu nach wie vor G. Leptin, Deutsche Wirtschaft nach 1945: Ein Ost-West-Vergleich, Opladen 1980 sowie H. Winkel, Die Wirtschaft im geteilten Deutschland 1945-1970, Wiesbaden 1974. Vgl. aber auch M. Melzer (1980); H. Barthel, Die wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen der DDR, Berlin 1979 sowie M. Matschke, Die industrielle Entwicklung in der SBZ 1945-1948, Berlin 1988. Vgl. am aktuellsten hierzu R. Karisch, Allein bezahlt? Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR 1945-1953, Berlin 1993. Vgl. G. Leptin (1980); Ch. Buchheim (1990) sowie W. Matschke, Die wirtschaftliche Entwicklung in der SBZ: Vorgeschichte - Weichenstellungen - Bestimmungsfaktoren, in: A. Fischer (Hrsg.), Studien zur Geschichte der SBZ/ DDR, Berlin 1993. Vgl. H. Hamel (Hrsg.), BRD-DDR. Die Wirtschaftssysteme, München 1983; K.P. Hensel (1972); G. Leptin (1980) sowie W. Zank, Wirtschaft und Arbeit in Ostdeutschland 1945-1949. Probleme des Wiederaufbaus in der SBZ, München 1987. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Wirtschafts- und Währungsreform von 1948 hervorzuheben, deren große Bedeutung für die Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik allerdings nur unter Berücksichtigung der langfristigen endogenen Wachstumsdynamik erklärbar und insofern zu relativieren ist. Zur Diskussion um das Jahr "1948" als Zäsur der westdeutschen Wirtschaft vgl. W. Abelshauser (1986); Ch. Buchheim, Währungsreform 1948 in Westdeutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 36 (1988) sowie A. Ritsehl, Die Währungsreform von 1948 und der Wiederaufstieg der westdeutschen Industrie, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 33 (1985).

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sehen Ausrichtung auf die Stalinsche Schwerindustrialisierung eine Blockierung bzw. Fehllenkung vorhandener Modernisierungspotentiale.123 Hypothese 4: Ungeachtet der aus der Installierung des Zentralverwaltungssystems resultierenden strukturellen Steuerungsdefizite der sozio-ökonomischen Entwicklung kam es in der DDR seit der zweiten Hälfte der 50er Jahre, ausgelöst durch den "Lernschock" des 17. Juni 1953, 124 zu einer relativen Konsolidierung der ostdeutschen Industriewirtschaft, die nach dem Mauerbau von 1961 zunächst gefestigt werden konnte.125 Ursache hierfür bildete der permanente, durch die Übertragung des sowjetischen Schwerindustrialisierungsmodells entstandene und in Form von sozio-ökonomischen Ungleichgewichts-, Knappheits- und Konfliktsituationen in Erscheinung tretende Reibungsprozeß zwischen Staat und Gesellschaft, der eine partielle Rückkehr Ostdeutschlands auf den nach dem Krieg verlassenen Modernisierungstrend erzwungen hat. 126 Hierbei dürften die unter Ulbricht seit 1953/55 erfolgten institutionellen Flexibilisierungen der ordnungspolitischen Systemstrukturen nachfragerelevant auf eine bessere Ausschöpfung des historischen Innovations- und Fähigkeitspotentials gewirkt haben, so daß die Volkswirt-

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Vgl. die unter Anmerkung 118 angegebene Literatur. Speziell zur Bedeutung der Stalinschen Schwerindustrialisierung in Osteuropa und der DDR während der 50er Jahre vgl. des weiteren P. Gey/J. Kosta/W. Quaisser, Sozialismus und (Schwer-)Industrialisierung, Frankfurt/New York 1985; F. Hoffinann/M. Laschke, Einige Fragen der Erforschung der sozialistischen Industrialisierung, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 4 (1977) sowie E. Birke/R. Neumann (Hrsg.), Die Sowjetisierung Ost-Mitteleuropas, Frankfurt/Berlin 1959. Zur zentralistischen Regulierung der akkumulierten Fortschrittsbestände vgl. W. Mtlhlfriedel, Die Anfänge der zentralstaatlichen Planung der wissenschaftlich-technischen Arbeit in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Jahrbuch fllr Wirtschaftsgeschichte, 2 (1990). Dieser Ausdruck stammt von M. Jänicke in seinem Aufsatz: Krise und Entwicklung in der DDR - Der 17. Juni 1953 und seine Folgen, in: H. Elsenhans/M. Jänicke (Hrsg.), Innere Systemkrisen der Gegenwart. Ein Studienbuch zur Zeitgeschichte, Reinbek 1975, S. 148. Ansonsten zur sozio-ökonomischen Bedeutung des "17. Juni" vgl. stellvertretend Ch. Buchheim, Wirtschaftliche Hintergründe des Arbeiteraufstandes vom 17. Juni 1953 für die DDR in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 38 (1990) sowie K. Ewers, Zu einigen langfristigen Auswirkungen des Arbeiteraufstandes am 17. Juni 1953 für die DDR in: J. Spittmann-Rühle/G. Helwig (Hrsg.), Die DDR vor den Herausforderungen der 80er Jahre. Sechzehnte Tagung zum Stand der DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland 24. bis 27. Mai 1983, Köln 1983 (Edition Deutschland Archiv). Vgl. stellvertretend H. Weber (1991); W. Merkel/St. Wahl (1991); W. Mühlfriedel/ K. Wießner (1989); G.-J. Glaeßner (1989) sowie W. Venohr (1992). Neben der unter Anmerkung 125 angegebenen Literatur vgl. M. Jänicke (1975); L. Baar (1983) sowie J. Roesler (1993).

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schalt der DDR bereits gegen Ende der 50er Jahre Platz 9 der Weltindustrieproduktion beanspruchen und innerhalb des Ostblocks eine führende Position einnehmen konnte.127 Besondere Relevanz scheinen in diesem Zusammenhang zum einen die auf die Förderung der mittelstandischen Industrie orientierte Etablierung halbstaatlicher Betriebe (1956-1972), 128 zum anderen aber das auf eine Dezentralisierung des Lenkungssystems ausgerichtete Reformexperiment des "Neuen Ökonomischen Systems" (1963-1968/71) 129 besessen zu haben. Während das System halbstaatlicher Betriebe, das im Verlaufe der 60er Jahre immer weiter ausgebaut wurde, einen nicht unerheblichen Beitrag zur Stabilisierung des Konsumgüter- und Zulieferbereichs leistete, bewirkte das "NÖS" mit seinen partiellen Liberalisierungsprozessen eine für die Geschichte der DDR einmalig gebliebene Freisetzung und Dynamisierung von Kreativität und Innovativität.130 Dies vor allem deshalb, weil das "NÖS" aufgrund seiner Einbettung in das gesellschaftsübergreifende Konzept der sogenannten wissenschaftlich-technischen Revolution mit einer Forcierung von Bildimg, Kultur und Wissenschaft verbunden war, die ihrerseits zu einer modernisierungsrelevanten Ausdifferenzierung der ostdeutschen Gesellschaft geführt hat.131

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Vgl. G. Schneider (1990) sowie H. Weber (1991). 128 Ygj hierzu K. Ohms, Die Verstaatlichung. Das Ende halbstaatlicher und privater Betriebe 1972 in Berlin, in: J. Cerny (Hrsg.), Brüche, Krisen, Wendepunkte: Neubefragung von DDR-Geschichte, Leipzig/Jena/Berlin 1990 sowie A. Aslund, Private Enterprise in Eastern Europe, London 1985. 129 Vgl. stellvertretend H. Hamel/H. Leipold, Wirtschaftsreformen in der DDR. Ursachen und Wirkungen. Nr. 10 der Arbeitshefte zum Systemvergleich der Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme, Marburg 1987; J.G. Krol, Die Wirtschaftsreform in der DDR und ihre Ursachen, Tübingen 1972 sowie G. Leptin, Das "Neue ökonomische System" Mitteldeutschlands, in: K.C. Thalheim, Wirtschaftsreformen in Osteuropa, Köln 1968. 130 Die bereits während der 60er Jahre heiß geführte Diskussion hinsichtlich der Bedeutung des Reformexperiments "NÖS" für die langfristige Entwicklung der DDR ist nach dem Zusammenbruch von 1989 erneut aufgeflammt und dürfte noch nicht abgeschlossen sein. Hierbei geht es vor allem um die generelle Möglichkeit einer Synthese von Markt und Plan, also um den sogenannten "Dritten Weg". Vgl. stellvertretend für eine positive Sichtweise vor allem J. Roesler, Zur Wirtschaftsreform der DDR in den 60er Jahren, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 38 (1990), 11 sowie ders., Zwischen Plan und Markt: die Wirtschaftsreform in der DDR zwischen 1963 und 1970, Berlin 1991. 131 Vgl. hinsichtlich der Ausdifferenzierungsprozesse auf kulturellem Gebiet z.B. K. Wischnewski, Verbotene Filme. Aufbruch und Absturz: Der DEFA-Spielfilm zwischen 1961 und 1966, in: J. Cerny (1990) sowie G. Agde (Hrsg.), Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED, Berlin 1991. Vgl. zur Modernisierung in Bildung und

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Hypothese 5: Die institutionell-organisatorischen Veränderungen innerhalb der ostdeutschen Planwirtschaft, vor allem während der Reformperiode des "NÖS" zwischen 1963 und 1968, haben zwar dazu beigetragen, im Rahmen der gegebenen, d.h. die Weltmarktentwicklung der beiden Nachkriegsjahrzehnte prägenden Produktionsfunktion die vorhandenen Wachstumspotentiale besser auszuschöpfen.132 Auch haben sie im Zusammenwirken mit dem Modernisierungsschub in Bildung, Kultur und Wissenschaft eine durchgreifende Sowjetisierung des Landes verhindert,133 so daß sich in der DDR eine moderne Industriegesellschaft entwickeln konnte, in der unter sozio-ökonomischem Aspekt auf der Grundlage von Deagrarisierung, rapider Industrialisierung sowie zunehmender Tertiärisierung die Weichen für einen säkularen Strukturwandlungsprozeß in Richtung einer Dienstleistungsgesellschaft geebnet worden sind.134 Doch haben die Flexibilisierungen des rigiden Zentralverwaltungsmechanismus zugleich die Gefahr einer Abkoppelung vom sowjetischen Machtimperium heraufbeschworen: Zum einen war durch das Reformexperiment ein Emanzipationsprozeß der ostdeutschen Gesellschaft in Gang gesetzt worden, der durch seine tendenzielle Ausrichtung auf Demokratisierungsansprtlche die Systemgrundlagen aufzuweichen begann. Zum anderen aber war mit der Dezentralisierung der ökonomischen Lenkungsstrukturen bei gleichzeitiger Beibehaltung der sozialistischen Eigentumsverhältnisse eine strukturelle Inkonsistenz der Wirtschaftsordnung geschaffen, die eine nur durch den Übergang zur Marktwirtschaft überwindbare prinzipielle Schwächung der sozio-ökonomischen Steuerungskapazität der ostdeutschen Volkswirtschaft beinhaltete. Die daraus resultierenden Probleme offenbarten in dem Moment ihre machtpolitische Brisanz, als die mit Hilfe des "NÖS" ermöglichte temporäre Stabilität der Wirtschaft aufgrund einer weltweiten Destabilisierung der internationalen Produktionsfunktion

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Wissenschaft während der 60er Jahre H. Maier (1987) sowie G. Hellwig (Hrsg.), Schule in der DDR, Köln 1988. Allgemein zur Bedeutung der internationalen Produktionsfunktion für die volkswirtschaftliche Entwicklung eines bestimmten Landes vgl. H. Hanusch/U. Cantner (1992). Nicht zuletzt deshalb, weil W. Ulbricht im Zusammenhang mit den temporären Erfolgen seiner Reformpolitik eine Emanzipierung der DDR gegenüber dem Herrschaftseinfluß der UdSSR angestrebt hat. Vgl. stellvertretend P. Przybylski, Tatort Politbüro, Bd. 2: Honecker, Mittag und Schalck-Golodkowski, Berlin 1992, S. 2036. Vgl. H. Kaelble (1994) sowie R. Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands: Ein Studienbuch zur Entwicklung im geteilten und vereinten Deutschland, Opladen 1992.

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nicht mehr zu sichern war und eigentlich eine konsequente Weiterführung der eingeleiteten Liberalisierungsprozesse zum Zwecke einer Anpassung an die veränderten Datenkonstellationen erforderlich gewesen wäre.135 Dieser Zeitpunkt war während des letzten Drittels der 60er Jahre erreicht. Hypothese 6: Die in unterschiedlicher Weise zur Systemfestigung führende Nachkriegsprosperität der deutsch-deutschen Wirtschaftsgeschichte begann sich gegen Ende der 60er Jahre sowohl für die Bundesrepublik als auch für die DDR zu destabilisieren,136 um mit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise von 1973/79137 in eine Stagnationsperiode umzuschlagen. Die dabei auftretenden strukturellen Probleme, die in beiden Volkswirtschaften wesentlich an das Auslaufen der wachstumstragenden Innovationen der Zwischenkriegszeit,138 an veränderte Zugriffsmöglichkeiten zu den Energie- und Rohstoffressourcen139 sowie an gewandelte Sozialmilieus und Lebensansprüche140 gebunden waren, induzierten aufgrund ihrer gesellschaftlichen Destabilisierungseffekte in beiden Teilstaaten Prozesse, die auf eine jeweilige Herrschaftssicherung der Systeme abzielten. Unter Berücksichtigung der damaligen weltpolitischen Konstellation einer Aufrechterhaltung des OstWest-Gegensatzes bedeutet das, daß trotz ähnlicher wirtschafts- und sozialhistorischer Wandlungsprozesse die damit verbundenen Folgewirkungen grundverschieden ausfallen mußten: In der Bundesrepublik kam es infolge der vielfältigen innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen seit 1966/68

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Vgl. hierzu die wirtschaftshistorischen Analysen von A. Steiner, Abkehr vom NÖS. Die wirtschaftspolitischen Entscheidungen 1967/68 - Ausgangspunkt der Krisenprozesse 1969/70?, in: J. Cerny (1990) sowie von R. Schwärzel, Beginn einer Strukturkrise? Investitionspolitik und wissenschaftlich-technischer Fortschritt, in: ebenda. 136 Für die Bundesrepublik vgl. W. Abelshauser (1983), für die DDR K.C. Thalheim (Hrsg.), Wachstumsprobleme in den osteuropäischen Volkswirtschaften, Bd. 1 Berlin 1968 und Bd. 2 Berlin 1970. 137 Vgl. allgemein zur Weltwirtschaftskrise von 1973/79 H. van der Wee (1984) sowie F.W. Scharpf, Sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa. Das "Modell Deutschland" im Vergleich, Frankfurt/M. 1987. 138 Ygj stellvertretend H. Maier (1987) sowie J. Huber, Die verlorene Unschuld der Ökologie. Neue Technologien und superindustrielle Entwicklung, Frankfurt/M. 1986. 139 y g j stellvertretend K. Borchardt (1990) sowie M. Tietzel (Hrsg.), Die Energiekrise: Fünf Jahre danach, Bonn 1978. 140 y g j stellvertretend W. Zapf, Zum Verhältnis von sozialstrukturellem Wandel und politischem Wandel: Die Bundesrepublik 1949-1989, in: B. Blanke/H. Wollmann (Hrsg.), Die alte Bundesrepublik. Kontinuität und Wandel, Opladen 1991 sowie H. Timmermann: Sozialstruktur und sozialer Wandel in der DDR, Saarbrücken 1989.

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zu einer Festigung der Konkurrenzdemokratie141; in der DDR jedoch im Zusammenhang mit der Reformbewegung in Osteuropa und einer Versorgungskrise während der Jahre 1969/70142 zu einer Reorganisation des Zentralverwaltungssystems. Diese Reorganisation des Zentralverwaltungssystems, die mit einer herrschaftsstabilisierenden Instrumentalisierung der Sozialpolitik gekoppelt war, fand ihren Ausdruck in dem 1971 vollzogenen machtpolitischen Wechsel von der Ulbricht- zur Honecker-Regierung, der die volle, dabei feudal-absolutistische Züge tragende Entfaltung der Kommandowirtschaft nach sich zog. 143 Hypothese 7: Mit der machtpolitischen Entscheidung zur Rezentralisierung der Wirtschaftsordnung, einschließlich der 1972 eingeleiteten und durch die Kombinatsreform von 1978/81 vollendeten völligen Liquidierung des Mittelstandes sowie einer finanziell nicht abgedeckten Sozialpolitik,144 waren die Weichen für die politische Systemüberwindung gestellt. Erst jetzt, nachdem die historischen Bestände an gesellschaftlichem Reichtum weitgehend ausgeschöpft waren 145 und eine lernunfähige Herrschaftsclique die uneingeschränkte Macht ausübte, trat der wachstumsrelevante Stellenwert der ordnungspolitischen Grundlagen mit ganzer Wucht in Erscheinung: Die auf eine Konservierung der sozio-ökonomischen Strukturen ausgerichteten institutionellen Bedingungen der Zentralverwaltungswirtschaft haben nicht nur Nachfrage und Ausreifung eines qualitativ neuartigen Innovationspotentials blockiert und dadurch eine adäquate Anpassung an die international verän141

Vgl. W. Abelshauser (1983) sowie W. Weidenfeld/H. Zimmermann, DeutschlandHandbuch. Eine doppelte Bilanz 1949-1989, München 1989. 142 y g j ^ machtpolitischen Instrumentalisierung der damaligen Versorgungskrise G. Naumann/E. Trümpier, Von Ulbricht zu Honecker: 1970 - ein Krisenjahr der DDR, Berlin 1990. 143 Vgl. zu dieser Problematik P. Przybylski (1992); H. Weber (1991) sowie G. Schabowski, Der Absturz, Berlin 1991. 144 Zur Rezentralisierung der Wirtschaftsordnung seit 1971 vgl. H. Weber (1991); D. Cornelsen (1988); M. Melzer, Probleme und voraussichtliche Entwicklung der Industrie in der DDR, in: Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung, 3/4 (1980) sowie M. Melzer/A. Scherzinger/C. Schwartau, in: ebenda, 4 (1979). Zur Instrumentalisierung der Sozialpolitik vgl. ergänzend J. Frerich/M. Frey (Hrsg.), Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Bd. 2: Sozialpolitik in der DDR, München 1993. 145 R. Karisch bringt hierfür ein interessantes Beispiel aus dem Bereich der photochemischen Industrie - nämlich die deutsch-deutsche Nutzung des Agfa-Films während der 50er und 60er Jahre: Zwischen Partnerschaft und Konkurrenz. Das Spannungsfeld in den Beziehungen zwischen der VEB Filmfabrik Wolfen und der Agfa AG Leverkusen, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 36 (1991) 4.

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derte Produktionsfunktion verhindert. 146 Sie haben zugleich infolge der durch sie ermöglichten extensiven Überforderung scheinbar machterhaltender volkswirtschaftlicher Bereiche zu einer die Reproduktion der Gesellschaft gefährdenden Vergeudung knapper Güter und Leistungen geführt. 1 4 7 Die daraus resultierenden und wesentlich durch die energiepolitischen Auswirkungen der beiden Ölpreisschocks von 1973 und 1979 verstärkten Steuerungsdefizite 1 4 8 bei dem notwendigen Übergang zu einem Rationalisierungswachstum 1 4 9 kumulierten während der 80er Jahre zu einer gesamtgesellschaftlichen Stagnationskonstellation, die mindestens durch 4 Krisenprozesse gekennzeichnet war: Erstens durch eine umfassende Innovationskrise als Ausdruck einer zurückgestauten Kreativität; 150 zweitens durch eine die Lebensgrundlagen zerstörende Umweltkrise als Ausdruck des nicht bewältigten Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur; 151 drittens durch eine zur Zahlungsunfähigkeit 146 Ygj stellvertretend H. u. S. Maier, Vom innerdeutschen Handel zur deutsch-deutschen Wirtschafts-und Währungsgemeinschaft, Köln 1990; H. Maier, Die Innovationsträgheit der Planwirtschaft in der DDR - Ursachen und Folgen, in: Deutschland Archiv, 26 (1993), 2 sowie F. Klinger, Die Krise des Fortschritts in der DDR. Innovationsprobleme und Mikroelektronik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 3 (1987). 147

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Dies wird z.B. deutlich in der Analyse von R. Schwärzet, Zum ökonomischen Vorfeld der Herbstereignisse 1989 in der DDR - Zur wirtschaftlichen Entwicklung der 70er und 80er Jahre, in: Deutsche Studien, Vierteljahreshefte (1990). Vgl. des weiteren P. Przybylski (1992), vor allem Kap. 2, S. 172-187. Zu den aus den beiden Ölpreisschocks von 1973 und 1979 der ostdeutschen Wirtschaft entstandenen Problemen vgl. stellvertretend J. Roesler (1993); J. Bethgenhagen, Energiewirtschaft der DDR vor schweren Aufgaben, in: DIW-Wochenberichte, 5 (1981) sowie N. Danos, Energiekrise und Wirtschaftsbeziehungen im RGW, New York 1988. Dabei hatte die ostdeutsche Wirtschaftsführung die Notwendigkeit eines Wechsels im Investitionsmuster bereits seit den 60er Jahren erkannt. Im Unterschied zu dem Reformexperiment "NÖS", das immerhin eine den ökonomischen Herausforderungen entsprechende Flexibilisierung des Planungsmechanismus angestrebt hat, waren die Intensivierungsanstrengungen der 80er Jahre in Abhängigkeit der vollzogenen Reorganisation des Zentralverwaltungssystems jedoch von vornherein zum Scheitern verurteilt. Vgl. hierzu R. Deppe/D. Heß, Sozialistische Rationalisierung: Leistungspolitik und Arbeitsgestaltung in der DDR Frankfurt/M. 1980; D. Cornelsen, Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsentwicklung der DDR in der Honecker-Ära, in: FS-Analysen, 1 (1989) sowie H. Maier (1987). Vgl. F. Klinger (1987). Stellvertretend zur Zerstörung der Umwelt, vor allem seit dem zweiten Ölpreisschock von 1979, vgl. P. Wienserski, Ökologische Probleme und Kritik an der Industriegesellschaft in der DDR heute, Köln 1988 sowie W. Grunby, Eine Bestandsaufnahme der DDR-Umweltprobleme, in: Deutschland Archiv, 22 (1989), 1.

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führende Finanzkrise des Staates als Ausdruck fehlender Produktivität der Volkswirtschaft; 152 viertens schließlich durch eine in die Maueröffhung mündende politische Vertrauenskrise als Ausdruck der Demokratieunfähigkeit des SED-Regimes. 153 Das auf diese Weise in seinen Grundfesten erschütterte System war prinzipiell dafür reif, um die von ihm erzeugten "Modernisierungsblockaden" in "Abwärtsspiralen" zu verwandeln. 154 Die konkret-historische Gestaltung dieses Prozesses hing allerdings von der Wechselwirkung zwischen gesellschaftlicher Willensbildung und innen- sowie außenpolitischer Entwicklung ab, wobei den Folgewirkungen des Machtantritts Gorbatschows im Jahre 1985 eine besondere Bedeutung zukommt. Hypothese 8: Der rasche Niedergang der ostdeutschen Wirtschaft nach dem Fall der Mauer im Herbst 1989 läßt sich insofern als das Resultat des Zusammenwirkens von längerfristigen Strukturdefekten des Zentralverwaltungssystems der DDR, von mittelfristigen Destabilisierungstendenzen des wirtschaftlichen Wachstums sowie von kurzfristigen politischen Ereignissen erklären. Die gegenwärtige Transformation der einstigen Plan- in eine Marktwirtschaft kann so gesehen im Sinne von Joseph A. Schumpeter als ein auf Modernisierung orientierter Prozeß der "schöpferischen Zerstörung" interpretiert werden. Er akzeleriert als Folge des Zusammenbruchs des Sowjetimperiums all jene sozio-ökonomischen Strukturumwandlungen, die sich spätestens seit den 70er Jahren als Modernisierungserfordernis der Gesellschaft gestellt hatten, jedoch von der damaligen Kommandowirtschaft auf-

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Vgl. u.a. H.-H. Hertie (1992) sowie H.E. Haase, Finanzpolitik vor der Öffnung, in: FS-Analysen, 2 (1990). In diesem Zusammenhang spielt vor allem die in drei Schüben erfolgte Ausreisewelle der 80er Jahre eine entscheidende Rolle: Einerseits war sie Ausdruck nicht mehr funktionierender Integrationsmechanismen, andererseits aber hat sie aufgrund ihrer sozio-ökonomischen Wirkungsdimension den Destabilisierungsprozeß der DDR beschleunigt. Vgl. hierzu die empirischen Befunde von H. Wendt, Die deutsch-deutschen Wanderungen. Bilanz einer 40jährigen Geschichte von Flucht und Ausreise, in: Deutschland Archiv, 23 (1990) 1. Ansonsten stellvertretend H. Zwahr, Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR, Göttingen 1993. So der Titel eines Aufsatzes von U. Voskamp/E. Wittke, Aus Modernisierungsblockaden werden Abwärtsspiralen - Zur Reorganisation von Betrieben und Kombinaten der ehemaligen DDR, in: Berliner Jahrbuch für Soziologie, 1 (1991). 243

grund ihrer Unflexibilität und Innovationsfeindlichkeit nicht bewältigt worden sind. 155 Hypothese 9: Obwohl die westdeutsche Wirtschaft im Verlaufe der wachstumsschwachen 70er und 80er Jahre notwendige Modernisierungen ihrer Kapazitäten vorgenommen hat und sie zugleich - im Wechselspiel mit der internationalen Konkurrenz - auf die Entfaltung eines neuen Innovationspotentials verweisen kann, 156 ist die Herausbildung einer neuen, auf eine Ökologisierung der wirtschaftlichen Entwicklung ausgerichteten Steuerungskapazität bis heute nicht abgeschlossen.157 Es ist durchaus denkbar, daß der Zusammenbruch des Ostblocks bzw. der damit verbundene deutsch-deutsche Vereinigungsprozeß mit seinen riesigen Problemen den Handlungsdruck der Gesellschaft derart erhöhen wird, daß es endlich zum Abbau von entwicklungshemmenden Bürokratisierungsfesseln, damit aber zu einer Neustrukturierung der sozialen Marktwirtschaft kommen könnte.158

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Zum ausgebliebenen Strukturwandel, vor allem seit den 70er Jahren, vgl. hinsichtlich des volkswirtschaftlichen Sektorengeflechts R. Geißler (1992), S. 117/118. Hinsichtlich der Konservierung traditioneller Industriestrukturen vgl. R. Schneider, Die Entwicklung der regionalen Wirtschaftsstruktur Ostdeutschlands unter besonderer Berücksichtigung der Verkehrsintegration, in: FS-Analysen, 1 (1991). Vgl. H. Maier (1987) sowie J. Huber (1986). Ausdruck der derzeitigen Such- und Lernprozesse ist die Diskussion um Regulierung und Deregulierung, damit aber um eine Neubestimmung des Spannungsverhältnisses von Staat und Wirtschaft. Vgl. hierzu stellvertretend J.D. Dönges, Deregulierung am Arbeitsmarkt und Beschäftigung, Tübingen 1992. Im Sinne eines exogenen Schocks. Vgl. die Ausführungen weiter oben im Teil 2.

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Werner von Siemens als internationaler Unternehmer1 VON WILFRIED FELDENKIRCHEN

Werner SIEMENS - seit 1888 Werner von SIEMENS - lebte in einer Zeit, die von umwälzenden Veränderungen in allen Lebensbereichen geprägt war. Die Rahmenbedingungen der damaligen Zeit haben einerseits die Voraussetzungen für das Wachstum des Unternehmens SIEMENS & HALSKE geschaffen und sind andererseits in ihrer Gestaltung durch die Arbeiten von Werner von SIEMENS und die wirtschaftlichen Aktivitäten des von ihm gegründeten Unternehmens entscheidend beeinflußt worden. Die Veränderungen im Verkehrs- und Nachrichtenwesen, die die Bezeichnung des 19. Jahrhunderts als Jahrhundert der Kommunikationsrevolution gerechtfertigt erscheinen lassen, sind zu den Voraussetzungen und Folgen des bis dahin nie erreichten Wachstums der deutschen Volkswirtschaft wie auch der Weltwirtschaft zu zählen, eine Entwicklung, die sich darin ausdrückte, daß die Verkehrsdienstleistungen der deutschen Post- und Telegraphenanstalten im Zeitraum 1850 bis 1913 um das Fünfzigfache stiegen.2 In den Jugendjahren von Werner SIEMENS setzte in Deutschland der Prozeß der Industrialisierung ein, der sich um die Jahrhundertmitte beschleunigte und dazu führte, daß Deutschland innerhalb weniger Jahrzehnte von einem noch weitgehend agrarisch geprägten, wirtschaftlich weit hinter den westeuropäischen Nachbarstaaten zurückgebliebenen Land zu einer der führenden Industrienationen der Welt wurde.3 In ihren Anfängen wurde die 1 2

3

Durch Anmerkungen ergänzte Fassung des beim Symposium gehaltenen Vortrags. Der Vortragsstil wurde beibehalten. Vgl. BORCHARDT, Knut, Die industrielle Revolution in Deutschland, München 1977, S. 187; KOCKA, Jürgen, Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847-1914. Zum Verhältnis von Kapitalismus und Bürokratie in der deutschen Industrialisierung (Industrielle Welt 11), Stuttgart 1969, S. 45. Vgl. BORCHARDT, Knut, Die industrielle Revolution; HENNING, Friedrich-Wilhelm, Die Industrialisierung in Deutschland, 1800 - 1914, Paderborn 1989.

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Industrialisierung vor allem durch den Eisenbahnbau und die rasch steigende Produktion im Maschinenbau sowie in der Schwerindustrie getragen. Die am Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende, auch als "zweite Industrialisierung" bezeichnete Entwicklungsphase wurde jedoch schon durch die zunehmende Nutzbarmachung der Elektrizität und die Vermarktung neu entwickelter chemischer Produkte geprägt. Wenn auch der Produktionswert und die Zahl der Beschäftigten in diesen "neuen" Industriezweigen Elektrotechnik und Chemie bis zum Ersten Weltkrieg im Vergleich zu den "alten" Industrien noch gering blieb, - vor dem Ersten Weltkrieg lag der Anteil aller in Elektroindustrie und Elektroinstallation Beschäftigten trotz der erheblichen Zunahme seit den 1890er Jahren nur bei etwa 1,3 % der in Handwerk und Industrie Beschäftigten - deuteten die überdurchschnittlich hohen Wachstumsraten und die erkennbaren Entwicklungsmöglichkeiten schon die zukünftige Rolle dieser Industrien an, die in ihrer Entwicklung vor allem durch den technischen Fortschritt bestimmt wurden. 4 Immer wieder wurden der Elektrizität zusätzliche Anwendungsmöglichkeiten erschlossen, so daß die Elektrotechnik heute unmittelbar oder mittelbar mit allen Bereichen des Lebens verbunden ist und die Wachstumselastizität des Weltelektromarktes gegenüber der Zunahme des weltweiten Sozialprodukts eine bis heute steigende Tendenz hat. Die Anfänge der Elektroindustrie waren identisch mit der Entwicklung der Schwachstromtechnik, wie man damals die Nachrichtentechnik in Abgrenzung zur Starkstrom-(Energie-)technik nannte. Die ersten Produkte der zunächst noch handwerklich-manufakturmäßig organisierten Schwachstromindustrie waren der Telegraphenapparat, die Freileitung und das Kabel für den Nachrichtenweitverkehr. Der Amerikaner Samuel MORSE baute 1837 den ersten, eine zickzackförmige Schrift hervorbringenden Telegraphenapparat, da weder die bestehenden optischen Systeme noch der Zeigertelegraph von WHEATSTONE dem mit der entstehenden Weltwirtschaft rasch zunehmenden Informations- und Kommunikationsbedarf genügen konnten. Werner SIEMENS hat hier mit der Weiterentwicklung des WHEATSTONEschen Telegraphen zum Zeigertelegraphen die Voraussetzungen für eine umfassende Vermarktung geschaffen. 5 Er gehört in die Reihe der überragenden Persön4

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Vgl. HENNIGER, Gerd, Elektrifizierung in Preußen. Ein Beitrag zur Geschichte der Elektrifizierung der Industrie 1890-1914, Diss. (Ost-)Berlin 1988; SAWALL, Edmund, Die Unternehmenskonzentration in der Elektroindustrie. Stand, Motive und Organisationsformen, Diss. Karlruhe 1963. Der von Werner von Siemens erfundene Zeigertelegraph, der nicht mehr im Sinne eines Uhrwerkes arbeitete, sondern durch den Wagner-Neefschen Hammer einen

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lichkeiten, die dafür verantwortlich waren, daß die Elektrotechnik6 sich aus dem Stadium der experimentellen Beschäftigung zur Elektroindustrie entwickeln konnte. Die Persönlichkeit Werner von SIEMENS (1816 - 1892) und das von ihm im Jahr 1847 gegründete Unternehmen SIEMENS & Halske, die Keimzelle der heutigen SIEMENS AG, haben schon früh die Aufmerksamkeit von Biographen, Wirtschafts- und Technikhistorikern auf sich gezogen. 7 Die bisherigen Arbeiten über Werner von SIEMENS haben vor allem seine überragende Bedeutung für die technische Entwicklung der Elektroindustrie hervorgehoben, eine Betrachtungsweise, die wegen seiner bahnbrechenden Erfindungen und Entwicklungen beispielsweise beim Zeigertelegraphen und beim dynamoelektrischen Prinzip, um nur die wichtigsten, mit der heutigen Mikroelektronik in ihren Wirkungen durchaus vergleichbaren zu nennen, durchaus gerechtfertigt erscheint. Wegen dieser hervorragenden Leistungen auf dem Gebiet der Technik ist jedoch seine unternehmerische Bedeutung etwas in den Hintergrund getreten, obwohl er damals der jungen Wissenschaft Elektrotechnik nicht nur durch seine Erfindungen wichtige Impulse gegeben, sondern auch als Unternehmer die Entwicklung der Elektroindustrie entscheidend gefördert hat. Werner von SIEMENS war trotz seines starken technischen Interesses bis in seine letzten Jahre bemüht, rentable und prestigebringende Unternehmungen zu übernehmen, die durchaus nicht nur aus der Fabrikation, sondern auch aus Installation und Betrieb bestanden. 8 Ich möchte mich daher in meinen Ausführungen schwerpunktmäßig mit sei-

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8

selbsttätig gesteuerten Synchronlauf zwischen Sender und Empfänger hatte, war eine grundsätzlich neue Lösung der Nachrichtenübertragung auf elektrischem Wege. Der Begriff Elektrotechnik, durch den zum Ausdruck gebracht werden sollte, daß es sich um die technische Anwendung der Elektrizitätslehre handelte, wurde von Werner Siemens bei der Gründung des "Elektrotechnischen Vereins" im Jahr 1879 geprägt. Vgl. EHRENBERG, Richard, Die Unternehmungen der Brüder Siemens. Bd. 1. Bis zum Jahre 1870, Jena 1906; MATSCHOSS, Conrad, Werner von Siemens. Ein kurzgefaßtes Lebensbild nebst einer Auswahl seiner Briefe, 2 Bde., Berlin 1916; SIEMENS, Georg, Der Weg der Elektrotechnik. Geschichte des Hauses Siemens, 2 Bde., 2. Aufl., München 1961; WEIHER, Sigfrid von, Werner von Siemens. Ein Leben für Wissenschaft, Technik und Wirtschaft, Göttingen 1966; ders./GOETZELER, Herbert, Weg und Wirken der Siemenswerke im Fortschritt der Elektrotechnik 1 8 4 7 - 1980, 3. Aufl., Berlin/München 1981. KOCKA, Jürgen, Siemens und der aufhaltsame Aufstieg der AEG, in: Tradition, 17. Jg. ( 1 9 7 2 ) , S. 10.

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ner unternehmerischen Bedeutung befassen, die in der Literatur hinter seinen Leistungen auf dem Gebiet der Technik zurückgetreten ist.

I Werner SIEMENS wurde am 13. Dezember 1816 als eines von 14 Kindern des Gutspächters Christian Ferdinand SIEMENS und dessen Frau Eleonore geboren. Nach der Herkunft der Eltern und dem im Elternhause herrschenden liberal-protestantischen Geist müßte man Werners Elternhaus dem gehobenen Bildungsbürgertum zuordnen. Damit nicht in Einklang stand die schlechte wirtschaftliche Lage der Familie, die von der anhaltenden Agrarkrise der 1820er Jahre noch verschlimmert wurde und die eine den bürgerlichen Ambitionen entsprechende formale Schulbildung der Kinder erschwerte. Werner verließ bereits 1834 und ohne formalen Abschluß das Gymnasium, um sich beim preußischen Militär zu bewerben und sich über den Eintritt in die preußische Armee Zugang zu einer ingenieurwissenschaftlichen Ausbildung zu verschaffen. Obwohl seine altsprachliche Schulbildung ihn nicht gerade für eine Laufbahn empfahl, die für die Eingangsprüfung gute Kenntnisse in Mathematik, Physik, Geographie und Französisch voraussetzte, gelang es ihm doch, mit Glück und einer intensiven dreimonatigen Vorbereitung den Anforderungen mehr als gerecht zu werden. Die Ausbildung an der Militärakademie, die eine Mittelstellung zwischen Gewerbeschulen und wissenschaftlichen Hochschulen einnahm, sicherte ihm in Wissenschaft und Theorie einen beträchtlichen Vorsprung vor dem Gros der lediglich empirisch-praktisch ausgebildeten Techniker und schuf eine solide Grundlage für seine Arbeiten, die er nach seiner Versetzung nach Berlin vor allem auf elektrotechnischem Gebiet intensivierte und nunmehr systematisch vorantrieb.

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Genealogie der Familie SIEMENS Arnold

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Von seiner Herkunft her ist Werner SIEMENS nicht typisch für die Unternehmerschaft seiner Zeit. Die weitaus meisten Gründer hatten einen kaufmännischen Hintergrund oder stammten aus Familien mit handwerklichgewerblicher Tradition. Allerdings weist Jürgen KOCKA darauf hin, daß es nahezu keinen Berufsstand gab, aus dem nicht wenigstens einige Unternehmer hervorgingen.9 Wenngleich Werner SIEMENS wenig konkrete Erfahrungen in der Leitung von Unternehmen sammeln konnte und auch Uber kein Kapital verfügte, so ist für seine spätere Karriere seine überdurchschnittlich gute Ausbildung von Bedeutung gewesen. Nach seiner erfolgreichen, zur Erteilung eines Patents führenden Arbeit am Zeigertelegraphen gründete der damals noch in militärischen Diensten stehende Werner SIEMENS mit dem Mechaniker Johann Georg HALSKE im Jahre 1847 die "Telegraphen-Bauanstalt von SIEMENS & HALSKE". Das

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Vgl. KOCKA, Jürgen, Siemens und der aufhaltsame Aufstieg der AEG, in: Tradition, 17. Jg. (1972), S. 10.

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Kapital der Firma betrug etwa 6.800 Taler, die Werners Vetter Georg SIEMENS als erste Zahlung einer auf 10.000 Taler veranschlagten, wegen des Geschäftserfolgs aber nicht in vollem Umfang erfolgten stillen Beteiligung bereitstellte. 10 SIEMENS & HALSKE hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte aus einer kleinen feinmechanischen Werkstätte, die mechanische Läutewerke für Eisenbahnen, Wassermesser, Drahtisolierungen mit Guttapercha, vor allem aber elektrische Telegraphen herstellte, zu einem führenden, schon bald nach der Gründung international operierenden, weltweit zu den größten Elektrofirmen zählenden Unternehmen entwickelt. Die Firma, deren Gründung auf die Abdeckung einer nicht unmittelbar marktbestimmten und nicht der allgemeinen Konjunkturentwicklung unterworfenen Nachfrage zielte, war bis in die 1880er Jahre in Deutschland eindeutig führend, da keiner der Konkurrenten nach Größe, Kapitalausstattung, Differenziertheit der Produktion, technischem Wissen, Erfahrung und Qualifikation an SIEMENS & HALSKE herankam. 11 Die schnelle, unbürokratische Gründung eines Unternehmens und seine Finanzierung mit der Hilfe von wohlhabenden Verwandten sind typische Erscheinungen der frühen Industrialisierungsphase. Weniger typisch ist jedoch, daß die erfolgreiche Unternehmensgründung während der politischen und konjunkturellen Krise am Ende der 1840er Jahre erfolgte, eine Tatsache, die recht deutlich zeigt, daß die neu entstehende Telegraphenindustrie von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zunächst weitgehend unabhängig arbeiten konnte. Die handwerkliche Fertigung der Telegraphenapparate verlangte darüber hinaus keinen großen Kapitaleinsatz.12 Die Kehrseite dieser weitgehenden Unabhängigkeit von gesamtwirtschaftlichen Bedingungen war die Abhängigkeit von wenigen Auftraggebern: der Militärverwaltung, wenig später den Verwaltungen der Staatstelegraphen und der Eisenbahnen. 13 Für die Telegraphen-Bauanstalt wurde dieser Nachteil in der ersten Zeit jedoch dadurch ausgeglichen, daß sie nahezu eine Monopolstellung als

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11 12

13

Vgl. Gesellschaftsvertrag vom 1. Oktober 1847, SAA (Siemens Archiv Akte) 21/ Li 53. Vgl. KOCKA, Jürgen, Siemens, S. 125. Alle Geräte wurden einzeln von gelernten Arbeitern hergestellt; erst 1863 wurde für die serienmäßige Fertigung von Einzelteilen eine erste Dampfmaschine angeschafft; vgl. KOCKA, Jürgen, Unternehmensverwaltung, S. 63. Vgl. PESCHKE, Hans-Peter, Elektroindustrie und Staatsverwaltung am Beispiel Siemens 1847-1914. (Europäische Hochschulschriften 154), Frankfurt/Bern 1981.

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Anbieter hatte und von den hervorragenden Kontakten ihres Gründers profitieren konnte. Schon vor der Firmengründung stand Werner SIEMENS in aussichtsreichen Verhandlungen mit der preußischen Telegraphenkommission, der Anhaltischen Bahn und dem russischen Gesandten. Bei ihrer Gründung hatte die Telegraphen-Bauanstalt daher einige Aufträge fast sicher; das finanzielle Risiko schien gering. Die gute Zusammenarbeit mit der preußischen Telegraphenverwaltung hielt jedoch nicht lange an. Schon im Sommer 1849 kam es zu ersten Schwierigkeiten, die auf Störungen im Leitungsverkehr zurückzuführen waren und die schließlich 1851 dazu führten, daß die preußische Telegraphenverwaltung keine weiteren Aufträge an SIEMENS & HALSKE erteilte. Das junge Unternehmen geriet dadurch in eine erste existentielle Krise, die nur durch die zielbewußte Erschließung ausländischer Märkte gemeistert werden konnte, auf denen die von den SLEMENS-Brüdern Carl und Wilhelm geleiteten Geschäfte zeitweise ertragreicher verliefen als die Unternehmungen des Stammhauses. Man darf jedoch den Bruch mit der preußischen Telegraphenverwaltung nicht als ursächlich für die starke internationale Orientierung des Unternehmens ansehen. Die internationale Ausrichtung hat ihre Ursache zum Teil sicher in den Besonderheiten der noch jungen Elektroindustrie um die Mitte des vorigen Jahrhunderts. Schon aus Gründen der Patentsicherung war die Elektroindustrie ebenso wie die chemische Industrie an einem frühzeitigen Auftreten im Ausland interessiert. Zum anderen Teil ist die Wurzel für das Auslandsengagement in den Persönlichkeiten der Brüder SIEMENS, in ihren Anschauungen und politischen Überzeugungen zu suchen. Die fehlenden preußischen Aufträge verschärften allerdings den Zwang, um des wirtschaftlichen Überlebens willen im Ausland auch wirklich erfolgreich zu sein. Vor allem das Rußlandgeschäft hat Anfang der 1850er Jahre für einen e r n e u t e n A u f s c h w u n g g e s o r g t , als SIEMENS & HALSKE i m J a h r 1851 d e n

Auftrag für die Errichtung des russischen Telegraphennetzes erhielt. Im Jahr 1852 installierte die Telegraphen-Bauanstalt eine Telegraphenlinie, die von Riga nach Bolderaa reichte; es folgte im selben Jahr der Bau der unterirdischen Telegraphenlinie von St. Petersburg nach Oranienbaum und 1853 verlegte SIEMENS das erste unterseeische Telegraphenkabel der Welt, das Oranie n b a u m m i t K r o n s t a d t v e r b a n d . D i e v o n SIEMENS & HALSKE in R u ß l a n d e r -

richteten Telegraphenlinien erreichten eine Länge von insgesamt 9.000 Werst. 14 Durch die Gewinne aus dem russischen Geschäft akkumulierte sich das Geschäftsvermögen derart, daß es 1855 rund 246.000 Taler betrug, also 14

Eine Werst entspricht etwas mehr als einem Kilometer.

251

seit der Bilanz vom 31.12.1850 um rund 207.000 Taler angestiegen war. Die Überwachung und Leitung der Telegrapheninstallationen oblag seit 1853 dem erst 24jährigen jüngeren Bruder von Werner SIEMENS, Carl, der sich in Rußland durch seine Fähigkeit, schnell und kompetent Problemlösungen zu erarbeiten, hervorragend bewährte. Im Jahr 1855 wurde das russische Geschäft in eine Zweigniederlassung umgewandelt, die jedoch selbständig und mit eigenem Vermögen von Carl SIEMENS geführt wurde. Als mit dem Ende des Krimkrieges die gute Kriegskonjunktur für SIEMENS & HALSKE beendet wurde - aufgrund der desolaten Lage der russischen Staatsfinanzen wurden keine weiteren Aufträge mehr vergeben - sicherten die 1855 mit einer Laufzeit von 12 Jahren abgeschlossenen Wartungsverträge für die von SIEMENS & HALSKE gebauten Linien bis weit in die sechziger Jahre kontinuierliche Einnahmen. Für die Überwachung der Telegraphenlinien richtete die russische Filiale eine kleine Werkstatt in St. Petersburg und drei Ingenieurbüros in Petersburg, Kiew und Odessa ein, die innerhalb bestimmter geographischer Bezirke für den Bau und die Remonte der Linien zuständig waren. Durch die Erfindung des sogenannten Tartarengalvanometers von Werner SIEMENS, der die genaue Lokalisierung und schnelle Beseitigung von Störungen möglich machte und den Wartungsaufwand erheblich reduzierte, entwickelten sich die Remonte-Erträge zu einer wichtigen Einnahmequelle.15 Art und Umfang der Aufträge waren in den Anfangsjahren der Telegraphen-Bauanstalt von SIEMENS & HALSKE großen Schwankungen unterworfen. Bei großen Aufträgen kam man mit der Fertigung von Telegraphenapparaten und Zubehör kaum nach, während zwischenzeitlich Unterbeschäftigung die Existenz der Firma immer wieder in Frage stellte. Dieses grundsätzliche Problem konnte nicht gelöst werden, so lange das Unternehmen ausschließlich oder doch vorwiegend in der Telegraphenbranche tätig war. SIEMENS & HALSKE versuchte dem durch eine frühzeitige Diversifizierung zu begegnen. So begann das Berliner Werk z. B. nach dem Wegfall der russischen Aufträge Ende der 1850er Jahre die Fertigung von Wassermessern für den englischen Markt, die Wilhelm SIEMENS federführend entwickelt und für

15

Vgl. KIRCHNER, Walther, Deutsche Industrie und die Industrialisierung Rußlands 1815-1914; St. Katharinen 1986, S. 47f.; WEIHER, Sigfrid von, Carl von Siemens, ein deutscher Unternehmer in Rußland und England, in: Tradition, 1. Jg. (1956), S. 13-25, FELDENKIRCHEN, Wilfried, Werner von Siemens - Erfinder und internationaler Unternehmer, Berlin/München 1992, S. 66.

252

sich patentiert hatte. 16 Auf diese Art und Weise gelang es dem Unternehmen, auch in auftragsschwachen Zeiten seinen Stamm von qualifizierten Facharbeitern zu halten und weiter zu beschäftigen. So wurden in Berlin nach der ersten Expansion bis zur Mitte der 1860er Jahre nahezu konstant ca. 150 Mitarbeiter beschäftigt, von denen nur wenige ungelernte Hilfsarbeiter wa-

Belegschaft und Umsatz Siemens & Halske 1848 -1870 400

1200 Belegschaft

350

1000

300

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Neben dem russischen Geschäft wurde das Engagement in England zur zweiten wichtigen Stütze der Telegraphen-Bauanstalt. Hier gelang Wilhelm SIEMENS, der sich später naturalisieren und Charles William SIEMENS nennen ließ, mit der Herstellung und Legung telegraphischer Seekabel der schwierige Durchbruch auf dem hochentwickelten englischen Telegraphen-

16

"

Vgl. POLE, William, Wilhelm Siemens (deutsche Ausgabe von "Life of Sir William Siemens", 1888), Berlin 1890. Vgl. KOCKA, Jürgen, Unternehmensverwaltung, S. 67.

253

Markt, auf dem private Betreibergesellschaften miteinander konkurrierten. 18 Die 1858 in ein selbständiges Geschäft umgewandelte Londoner Niederlassung arbeitete aufgrund der guten Kontakte von Wilhelm SIEMENS ZU Ingenieurkreisen und staatlichen Stellen vor allem im Kabelgeschäft erfolgreich, so daß man sich 1863 zum Bau einer eigenen Kabelfabrik bei Woolwich entschloß, um von der Qualität und den Preisen der Zulieferer unabhängig zu sein. 1865 wurde das Londoner Geschäft neu geordnet und nach dem Ausscheiden Georg HALSKES unter dem Namen SIEMENS Brothers fortgeführt. Höhepunkte der Geschäftstätigkeit waren der Bau der sogenannten IndoLinie, die London mit Kalkutta verband, sowie die Verlegung großer transatlantischer Seekabel mit dem von Werner und Wilhelm SIEMENS konstruierten Kabeldampfer "Faraday". 1883 eröffnete SIEMENS & HALSKE in Österreich eine Wiener Filiale mit eigener Produktion. Versuche, Niederlassungen in Belgien und Frankreich einzurichten, scheiterten, nicht zuletzt auch aus politischen Gründen. Die Gründung einer Niederlassung in Amerika war das letzte Vorhaben Werner von SIEMENS vor seinem Tode. In seinem Todesjahr 1892 gründeten SIEMENS & HALSKE, Berlin, gemeinsam mit zwei amerikanischen Partnern, die SIEMENS & HALSKE Electric Co. of America, ein Unternehmen, das sich auf die Fabrikation von Dynamomaschinen, Eisenbahnmotoren und deren Zubehör konzentrierte, das aber von Beginn an innerhalb der Unternehmensleitung äußerst umstritten war und von dem sich SIEMENS & HALSKE bereits wenige Jahre nach der Gründung distanzierte. 19 Die amerikanische SLEMENS-Gesellschaft hatte mit zahlreichen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen, die innerhalb der ersten beiden Jahre nach der Gründung eine zweimalige Kapitalerhöhung erforderten. Im August des Jahres 1894 wurden die Chicagoer Fabrikationsstätten der SIEMENS & HALSKE Electric Co. durch einen Brand zerstört, der große finanzielle Verluste verursachte und zweifellos mit ausschlaggebend für das Scheitern der Gesellschaft war. Zudem war die Bereitschaft von SIEMENS & HALSKE, weiteres Kapital in diese risikoreiche Unternehmung, die durch die große Ent-

18

19

y g l . WEIHER, Sigfrid von, Die englischen Siemens-Werke und das SiemensÜberseegeschäft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 38), Berlin 1990, S. 38f.; KIEVE, Jeffrey, The Electric Telegraph. A Social and Economic History, Newton 1973, S. 77f. Zu den Anfängen des Amerikageschäfts vgl. FELDENKIRCHEN, Wilfried, Die Anfänge des Amerikageschäfts von Siemens, in: Wirtschaft - Gesellschaft - Unternehmen. Festschrift für Hans Pohl, hg. v. Wilfried Feldenkirchen/Frauke Schönert-Röhlk/Günter Schulz, Stuttgart 1995, S. 876-913.

254

femung der unmittelbaren Kontrolle durch das Berliner Stammhaus entzogen war, zu investieren, äußerst gering. Unterschiedliche Vorstellungen über die Art der Geschäftsführung - das flexible amerikanische Management stieß häufig auf den Widerstand der eher schwerfälligen Berliner Verwaltung trugen zu dem Mißerfolg der amerikanischen Unternehmung bei. 1895 ging die unternehmerische G e s c h ä f t s f ü h r u n g von SIEMENS & HALSKE in d e n U S A

zu Ende - noch bis 1998 blieb eine Minoritätsbeteiligung ohne unternehmerischen Einfluß auf die Geschäftsführung bestehen. Nur wenige Unternehmer sind damals mit solcher Bestimmtheit ins Ausland gegangen wie Werner von SIEMENS und seine Brüder. Werner äußerte sich dazu in einem Brief an seinen Bruder Wilhelm: "Da wir von hier (Berlin) aus nicht fremde, ferne Anlagen mit Vorteil ausführen können, so haben wir in Rußland, England und Wien Etablissements gründen müssen, die mit Hilfe unseres telegraphischen Vorsprungs, unterstützt durch unsere Fabrikation und unser Kapital, wie auch unsere persönliche Mitwirkung, wo es nötig, Unternehmungen machen und unsere hiesige Tätigkeit verwerten konnten." 20 Die Beziehungen zwischen dem Berliner Stammhaus, vertreten durch Werner SIEMENS und den ausländischen Filialen in Rußland und England, in der Anfangszeit repräsentiert durch die Brüder Carl und Wilhelm, waren trotz der Erfolge nicht frei von Spannungen. Unterschiedliche unternehmenspolitische Vorstellungen der Brüder führten zeitweise zu heftigen Auseinandersetzungen, die darin gipfelten, daß sowohl Wilhelm als auch Carl dem Bruder unprofessionelles Management vorwarfen; sie litten unter der nach ihrer Meinung wenig flexiblen Arbeitsweise des Berliner Werks und der patriarchalischen Haltung ihres Bruders. Werner von SIEMENS konnte dennoch seine unternehmenspolitischen Vorstellungen von einem Gesamtgeschäft unter Berliner Leitung bis 1880 durchsetzen und seinen Führungsanspruch gegenüber den Brüdern geltend machen. Bestimmender Faktor des unternehmenspolitischen Handelns von Werner SIEMENS war die Orientierung an der Familie und die von ihm empfundene Verpflichtung, für seine nächsten Angehörigen - zunächst für seine Geschwister und später für seine Kinder - sorgen zu müssen. Aus diesem Selbstverständnis wird sein stark familien- und personenbezogener Unternehmensstil sowie sein Bemühen, die Familienmitglieder in ein gemeinsames Unternehmen einzubinden, verständlich. In diesem Sinne schrieb er als 71jähriger an seinen Bruder Carl: 20

Werner an Wilhelm, 13.5.1863, SAA WP Briefe.

255

"... Gewiß habe ich auch nach Gewinn und Reichtum gestrebt, doch wesentlich nicht, um sie zu genießen, als um die Mittel zur Ausführung anderer Pläne und Unternehmungen zu gewinnen und um durch den Erfolg die Anerkennung für die Richtigkeit meiner Handlungen und die Nützlichkeit meiner Arbeit zu erhalten. So habe ich für die Gründung eines Weltgeschäftes ä la FUGGER von Jugend an geschwärmt, welches nicht nur mir, sondern auch meinen Nachkommen Macht und Ansehen in der Welt gäbe und die Mittel, auch meine Geschwister und nähere Angehörige in höhere Lebensregionen zu erheben... Ich sehe im Geschäft erst in zweiter Linie ein Geldeswert-Objekt, es ist für mich mehr ein Reich, welches ich gegründet habe, und welches ich meinen Nachkommen ungeschmälert überlassen möchte, um in ihm weiter zu schaffen." 21 Der Führungsstil von Werner SIEMENS ist in der Literatur gelegentlich als "liberaler Patriarchalismus" bezeichnet worden; 22 treffender wäre meiner Meinung nach der Ausdruck "fürsorgerischer Patriarchalismus" - denn seine fürsorgerische Grundhaltung verband sich mit unternehmenspolitischen Erwägungen. Die hierarchische Firmenstruktur durfte nicht angetastet werden und unbedingte Loyalität sowie strikte Einhaltung des Arbeitsfriedens bildeten die Voraussetzungen für ein - wie Werner SIEMENS es formulierte freudiges, selbsttätiges Zusammenwirken aller Mitarbeiter zur Förderung ihrer Interessen. 23 Seine unternehmerische Haltung war von der Überzeugung geprägt, daß die sozialen Probleme auf der Basis des Zugeständnisses gelöst werden müßten, da alle in einem Unternehmen tätigen Personen voneinander lebten. Sein gesunder Egoismus ließ ihn in den Verhandlungen mit den Arbeitern immer wieder einen Weg finden, einerseits ihren legitimen Anspruch zu erfüllen, andererseits alles abzulehnen, was nach seiner Meinung die Firma und damit die Erwerbsmöglichkeiten der Arbeiter ruinieren könnte.

II

Im Jahr 1866 gelang Werner SIEMENS seine für die Elektrotechnik wohl bedeutendste Leistung, als er auf Arbeiten FARADAYS aufbauend das dynamoelektrische Prinzip entdeckte und damit der Durchbruch in der Aus21 22 23

Werner an Carl, Charlottenburg, 25.12.1887, SAA WP Briefe. KOCKA, Jürgen, Unternehmensverwaltung, S. 233. SIEMENS, Werner von: Lebenserinnerungen, 18. Aufl., München 1986, S. 283.

256

nutzung der Elektrizität zur Kraftversorgung gelang. Bei seinen Arbeiten an der Dynamomaschine kamen Werner SIEMENS seine Erfahrungen mit dem Doppel-T-Anker zugute, den er 1856 entwickelt hatte, als er wegen der Verlängerung und Zunahme der Telegraphenstrecken nach Möglichkeiten gesucht hatte, die für den Betrieb notwendigen teuren Batterien durch andere Stromquellen zu ersetzen. Wenn auch der Prototyp der ersten von Werner SIEMENS gebauten, mit dem Doppel-T-Anker ausgestatteten Dynamomaschine mit einer Leistung von maximal 50 W nur ein Experimentiergerät war, das bestenfalls Meßergebnisse lieferte, haben die schnell erreichten Verbesserungen dieser Basisinnovation innerhalb weniger Jahre die Grundlage für die bald darauf einsetzende Entwicklung der Starkstromtechnik geschaffen, mit deren Hilfe elektrische Energie in großen Mengen wirtschaftlich erzeugt und verteilt werden konnte. Der Bericht, den Werner SIEMENS der Berliner Akademie der Wissenschaften am 17. Januar 1867 mit dem Titel "Über die Umwandlung von Arbeitskraft in elektrischen Strom ohne Anwendung permanenter Magnete" vorlegte, charakterisiert ihn nicht nur als Wissenschaftler, der den von ihm beobachteten Erscheinungen auf den Grund zu gehen versuchte, sondern auch als Ingenieur und vorausschauenden Unternehmer, der aus den Erfahrungen mit der von ihm konstruierten Versuchsmaschine die Voraussage ableitete: "...Der Technik sind gegenwärtig die Mittel gegeben, elektrische Ströme von unbegrenzter Stärke auf billige und bequeme Weise überall da zu erzeugen, wo Arbeitskraft disponibel ist. Diese Tatsache wird auf mehreren Gebieten derselben von erheblicher Bedeutung sein."24 Noch genauer hatte er seine Erwartungen an die von ihm vorgestellte Erfindung in einem Brief an seinen Bruder Wilhelm in England am 4. Dezember 1866 umrissen: "...Die Effekte müssen bei richtiger Konstruktion kolossal werden. Die Sache ist sehr ausbildungsfähig und kann eine neue Ära des Elektromagnetismus anbahnen... Magnetelektrizität wird hierdurch sehr billig werden, und es können nun Licht, Galvanometallurgie usw., selbst kleine elektromagnetische Maschinen, die ihre Kraft von großen erhalten, möglich und nützlich werden."25

24

25

SIEMENS, Werner von: Wissenschaftliche Abhandlungen und Vorträge. 2. Aufl., Berlin 1889, S. 208-210. S A A W P Briefe.

257

Werner SIEMENS hat damals die wesentlichen Anwendungsgebiete der Starkstromtechnik erkannt und bereits jene Bereiche genannt, die bei seinem Tode verbreitet waren. Ich will nur ein Beispiel dafür geben, wie schnell die Entwicklung verlief. 1881 wurde in Berlin bereits die erste Straßenbahn der Welt von SIEMENS & HALSKE gebaut und in Betrieb genommen. Im Jahre 1892 baute allein die Firma SIEMENS & HALSKE 1.000 Dynamomaschinen im Jahr, setzte fast 20 Millionen Mark um, und das Haus SIEMENS beschäftigte weltweit 6.500 Personen, davon 4.775 in Deutschland.

Belegschaft Haus Siemens 1848- 1913

Die eben zitierten Ausführungen von Werner SIEMENS über seine Erwartungen an die Dynamomaschine zeigen auch, daß die Vielzahl von Veröffentlichungen, die vor allem seine überragende Bedeutung für die technische Entwicklung der Elektroindustrie hervorheben, nur eine Seite seiner Arbeit beleuchten. Es sollte hervorgehoben werden, daß er damals der jungen Elektrotechnik nicht nur durch seine Erfindungen wichtige Impulse gegeben, 258

sondern ihre Entwicklung auch als Unternehmer entscheidend gefördert hat, wenn er sich auch selbst immer als Wissenschaftler und Erfinder sehen wollte und dem Beruf des Kaufmanns, den "Geldleuten", wie er sie nannte, weder große Neigung noch besondere Wertschätzung entgegenbrachte.26 Nicht zuletzt darin unterschied er sich aber von WHEATSTONE oder MORSE, daß er nicht nur Wissenschaftler oder Erfinder war, sondern die Synthese von Wissenschaft und Unternehmertum darstellte und die unternehmerische Grundlage für das bis heute bestehende Geschäftsverständnis des Hauses SIEMENS schuf, das ich mit der technisch-wirtschaftlichen Nutzung der Elektrizität im universalen Sinne umschreiben möchte und das, wie ich meine, die fast ausschließliche Beschränkung auf die Elektrotechnik und die Elektronik, die Betätigung als Universalist auf fast allen Gebieten des elektrotechnischen Spektrums und die Vertretung auf allen Regionalmärkten der Welt einschließt. Lassen Sie mich als Beispiele für die unternehmerische Tätigkeit von Werner SIEMENS noch auf seine Bemühungen um eine wirksame Patentgesetzgebung und auf eine Bemerkung in seinen Lebenserinnerungen hinweisen, die auch heute noch Gültigkeit besitzt: "...Wenn Europa seine dominierende Stellung in der Welt behaupten oder doch wenigstens Amerika ebenbürtig sein will, so wird es sich beizeiten auf diesen Kampf vorbereiten müssen. Es kann dies nur durch möglichste Wegräumung aller innereuropäischen Zollschranken geschehen, die das Absatzgebiet einschränken, die Fabrikation verteuern und die Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt verteuern. Ferner muß das Gefühl der Solidarität Europas den anderen Weltteilen gegenüber entwickelt und es müssen dadurch die innereuropäischen Macht- und Interessensfragen auf größere Ziele hingelenkt werden."27 Es schmälert nicht die überragende Bedeutung von Werner SIEMENS, wenn man feststellt, daß seine im höheren Alter zurückhaltende, vorsichtige und eher risikoscheu werdende Unternehmenspolitik das Aufkommen der

26

27

Werner von Siemens legte von Anfang an fest, daß die Firma in erster Linie Fabrikation, aber keine Unternehmertätigkeit betreiben wolle und begründete diesen Geschäftsgrundsatz in einem Brief an seinen Bruder Wilhelm am 11.11.1876: "Lieferungen bilden den soliden Boden des dauernden Geschäfts, während Unternehmungen nur bei besonders günstigen Chancen ersprießlich sind. Ein reines Unternehmergeschäft ist... daher immer nur vorübergehend in Blüte. Ein Fabrikations- und Lieferungsgeschäft kann Generationen überdauern, und das ist mehr mein Geschmack." SAA WP Briefe. SIEMENS, Werner von, Lebenserinnerungen, S. 209.

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Konkurrenz begünstigt und die Stellung von SIEMENS & HALSKE in den 1880er Jahren relativ geschwächt hat. Diese Entwicklung wurde dadurch beeinflußt, daß die Unternehmenspolitik von SIEMENS & HALSKE stärker am technischen als am betriebswirtschaftlichen Optimum sowie mit einer vorsichtigen Expansion nicht zuletzt an den Interessen und Möglichkeiten der Eigentümerfamilie orientiert war. Trotz seines technischen Vorsprungs war SIEMENS & HALSKE in den 1880er Jahren als Familienunternehmen mit einer relativ geringen Kapitalbasis gegenüber Aktiengesellschaften wie der AEG nicht mehr in allen Bereichen wettbewerbsfähig, da sich in der Elektroindustrie die seit ihren Anfängen bestehende Tendenz zum Großbetrieb wegen des hohen Kapitalbedarfs der Energietechnik noch verstärkte.28 Im internationalen Geschäft erwies sich die Abneigung von Werner SIEMENS gegen die Delegierung von Aufgaben und sein starkes Mißtrauen gegenüber allen, die nicht zur Familie gehörten, mehr und mehr als hinderlich. Erst im letzten Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende begann sich die Unternehmenspolitik von SIEMENS & HALSKE nicht zuletzt als Reaktion auf die veränderten Rahmenbedingungen der Industrie langsam zu wandeln. Ausdruck der Neuausrichtung des Unternehmens war die 1890 eingeleitete, 1897 unter maßgeblicher Mitwirkung der Deutschen Bank29 mit der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft abgeschlossene Veränderung der Rechtsform.

28 29

Vgl. KOCKA, Jürgen, Unternehmer, S. 91f.; POHL, Manfred: Emil Rathenau und die AEG, Berlin/Frankfurt 1988. Neben der Deutschen Bank war die Mitteldeutsche Credit-Bank von 1890 bis 1929, als die Fusion mit der Commerz- und Privatbank AG erfolgte, für S & H tätig. Vgl. SAA 11/Lh 504.

260

Umsatzentwicklung Siemens und AEG 1884-1913

o o o o o o o o o o o o o o o o o o s ^ o s o

Werner von SIEMENS schied im Jahr 1890 mit der Umwandlung des Unternehmens in eine Kommanditgesellschaft offiziell aus dem Geschäft aus, behielt jedoch weiter bestimmenden Einfluß; 30 nach seinem Tod 1892 stellten die nunmehr in der zweiten Unternehmergeneration verantwortlichen Söhne Wilhelm und Arnold unter der Oberleitung von Werners Bruder Carl die Weichen dafür, daß die gegenüber der Konkurrenz etwas zurückgefallene Firma SIEMENS & HALSKE rasch wieder aufholen konnte.

30

Vgl. Kommandit-Vertrag, Petersburg, 27.12.1889, Berlin 10.1.1890, SAA 21/ Li 53.

261

III

Entwicklung der Elektrotechnik und Entwicklung von SIEMENS standen von ihren Anfängen an in enger Wechselbeziehung. Grundlage war der störungsfreie Zeigertelegraph für die Nachrichtenübermittlung über weite Entfernungen, der als Vorläufer des späteren Fernschreibers die Basis für die Nachrichtentechnik sowie Fernschreib- und Signaltechnik bildete, die seit der Unternehmensgründung im Jahre 1847 Kerngebiete von SIEMENS sind. 1866 entdeckte Werner SIEMENS das dynamoelektrische Prinzip und damit konnte ein weiteres Kerngebiet des Unternehmens, die Erzeugung, Verteilung und Nutzung des sogenannten Starkstroms entwickelt werden. Als die offene Handelsgesellschaft "Telegraphen-Bau-Anstalt von SIEMENS & HALSKE" im Jahre 1890 zunächst in eine Kommanditgesellschaft, 1897 unter maßgeblicher Mitwirkung der Deutschen Bank und unter dem Druck einer zunehmend aggressiveren Konkurrenz in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde, waren die wesentlichen Schwerpunkte des Unternehmens in ihren Grundzügen vorhanden. Unter dem Leitbild, die Entwicklung der gesamten Elektrotechnik technologisch weltweit entscheidend zu bestimmen oder zumindest mitzubestimmen, war ein multinationales Unternehmen entstanden, das im Jahre 1914 bei einem Umsatz von 410 Mio. Mark 82.000 Mitarbeiter, davon 15 % im Ausland beschäftigte. Dennoch war die noch weitgehend im Familienbesitz befindliche, eher nach konservativen und stärker an den Interessen der Eigentümerfamilie orientierten Gesichtspunkten geführte Firma SIEMENS, die bei starkem absolutem Wachstum eine vergleichsweise vorsichtige, oft lediglich auf das Vorgehen der AEG reagierende Expansionspolitik betrieb, vor dem Ersten Weltkrieg in der Bilanzsumme von der AEG überholt worden. Seit der Gründung des Unternehmens SIEMENS & HALSKE sind fast 150 Jahre vergangen; während dieser Zeit haben umwälzende politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und technische Fortschritte und Veränderungen stattgefunden. Das von Werner SIEMENS und Georg HALSKE gegründete Unternehmen besteht noch heute in strukturell gewandelter Form. Die heutige SIEMENS AG tradiert - wie ich meine - mehr als nur den Namen des Firmengründers; ihre Unternehmenskultur basiert zu einem großen Teil auf den Grundsätzen von Werner von SIEMENS, der Identität, Inhalt und Zielsetzung des Unternehmens geprägt hat. Wenn ich als heutige Grundwerte des Unternehmens technischen Pioniergeist, unternehmerischen Wagemut, Verpflichtung gegenüber den Kunden, Streben nach Qualität und eine zeitgemäße Sozialpolitik nenne, so sind dies Aspekte, die sich weitgehend mit den mir we262

sentlich erscheinenden, in der langen Geschichte des Unternehmens kaum veränderten, auf Werner von SIEMENS zurückgehenden Kernelementen der Unternehmenskultur decken, die ich mit - langfristig angelegter Geschäfts- und Finanzpolitik - technischer Leistungsfähigkeit - Internationalität oder - in den Worten des Firmengründers -"Weltgeschäft i la FUGOER"

- Einheit des Hauses - und zeitgemäßer Sozialpolitik bezeichnen möchte. Die langjährige Unternehmenstradition ist heute ein wichtiger Bestandteil der Corporate Identity. Unternehmenskultur und Corporate Identity müssen gepflegt und den Zeiterfordernissen entsprechend angepaßt tradiert werden. Für die Unternehmenskultur des Hauses SIEMENS hat Werner von SIEMENS die Grundlagen geschaffen. Eine Beschäftigung mit dieser Persönlichkeit macht die Unternehmensphilosophie transparent und bietet - wie ich meine - Anlaß, über die heutigen Herausforderungen nachzudenken. Ein Blick in die Geschichte zeigt, daß die insgesamt so erfolgreiche Geschichte des Hauses SIEMENS keine ununterbrochene Aufwärtsentwicklung war, aber daß zeitweilige Schwierigkeiten nicht nur als Gefahr, sondern vor allem als Herausforderung und Chance gesehen werden sollten.

263

Unternehmer und technischer Fortschritt zu Beginn der Feinchemikalienindustrie VON INGUNN POSSEHL

DIE ENTSTEHUNG DER CHEMISCHEN INDUSTRIE IN DEUTSCHLAND Die deutsche chemische Industrie, die im Laufe des vorigen Jahrhunderts entstanden ist und sich innerhalb weniger Jahrzehnte zu einem der, wie es Wolfram Fischer genannt hat, "Prunkstücke der deutschen Industriewirtschaft vor 1914"1 entwickelt hat, hat im wesentlichen drei Wurzeln: Zum einen die deutsche Apotheke, die man geradezu als "Keimzelle"2 der deutschen Feinchemikalienindustrie bezeichnet hat; zum anderen die auf den Forschungen Justus Liebigs basierende Agrarchemie. Erinnert sei an sein 1840 erschienenes Werk "Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie", in dem er eine Theorie des Pflanzenstoffwechsels aufstellte. Diese führte zu der Erkenntnis, daß dem Ackerboden durch künstliche Düngung die Mineralstoffe zugesetzt werden müssen, die ihm durch den intensiven Anbau von Nutzpflanzen entzogen werden. Eine Folge dieser Einsichten war seit Mitte der 1850er Jahre eine "Gründungswelle in der Düngemittelin-

Wolfram Fischer, Bergbau, Industrie und Handwerk 1850 - 1914. In: Hermann Aubin u. Wolfgang Zorn (Hsg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 552. Georg Urdang, Die deutsche Apotheke als Keimzelle der deutschen pharmazeutischen Industrie. In: Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie, Die Vorträge der Hauptversammlung in Wien 14. bis 17. Mai 1931, Mittenwald, o. J. Der Terminus "pharmazeutische Industrie" ist hier, in der Frühzeit, mit Feinchemikalienindustrie gleichzusetzen und nicht im heutigen Sinne der Herstellung gebrauchsfertiger Medikamente, der sog. "Spezialitäten", zu verstehen. Diese gibt es erst seit etwa 1900, so daß man erst ab diesem Zeitpunkt von einer "pharmazeutischen Industrie" im heutigen Verständnis sprechen kann.

265

dustrie"3, die innerhalb zweier Jahrzehnte etwa einhundert Düngemittelfabriken entstehen ließ. Die dritte und jüngste Wurzel der Chemie-Industrie sind Farbstoffe; genauer gesagt, die aus Steinkohlenteer zu synthetisierenden Teer- oder Anilinfarbstoffe. Es begann 1856 in London, wo William Henry Perkin eigentlich nach einem Herstellverfahren für Chinin suchte, das damals das wirkungsvollste Fieber- und Malariaheilmittel war, und stattdessen einen violetten Farbstoff fand, den er sich patentieren ließ und sofort fabrikmäßig herstellte. Nach diesem Erfolg wurde Uberall in den damals existierenden chemischen Labors nach weiteren derartigen Farbstoffen gesucht, und man synthetisierte in rascher Folge eine breite Palette aller Farbtöne in den verschiedensten Nuancen. Sie fanden in der bis dahin beim Färben auf Naturprodukte angewiesenen Textilindustrie reißenden Absatz. Kurz darauf und fast gleichzeitig entstanden in Deutschland die Teerfarbenfabriken Bayer4 und Hoechst5, beide im Jahre 1863, und die Badische Anilin- und Sodafabrik, BASF6, im Jahre 1865. Obwohl der Aufbau der deutschen Teerfarbenindustrie gegenüber England und Frankreich mit zeitlicher Verzögerung eingesetzt hat, gelang es ihr innerhalb weniger Jahrzehnte, auf dem Weltmarkt eine fast monopolartige Position zu erringen7. Um 1900 stellte sie fast 90 Prozent aller weltweit synthetisierten Farbstoffe her, hinzu kamen weitere Produkte, wie etwa Arzneimittel, zu deren Fabrikation man bei Hoechst und Bayer in den 1880er Jahren überging, und in denen Deutschland auf dem Weltmarkt ebenfalls bald eine dominierende Stellung erlangte. Man hat den Gesamtumsatz der deutschen Chemie-Industrie für 1913 auf 2,4 Milliarden Mark geschätzt; damit lag sie in der Welt - vor den USA mit einem umgerechneten Umsatz von 1,5 Milliarden Mark - an erster Stelle8.

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Peter Borscheid, Naturwissenschaft, Staat und Industrie in Baden (1848 - 1914), Stuttgart 1976, S. 91. Gegründet als Offene Handelsgesellschaft "Friedr. Bayer et comp." in Elberfeld, heute: Bayer AG, Leverkusen. Vgl. dazu Erik Verg, Gottfried Plumpe, Heinz Schultheis, Meilensteine, 125 Jahre Bayer, hsg. Bayer AG, Leverkusen, 1988. Gegründet als Offene Handelsgesellschaft "Meister Lucius u. Co.", in Hoechst, heute: Hoechst AG, Frankfurt am Main. Vgl. dazu Anna Elisabeth Schreier, Manuela Wex, Chronik der Hoechst Aktiengesellschaft 1863 - 1988, Hoechst AG, Frankfurt am Main, 1990. Gegründet als Aktiengesellschaft "Badische Anilin- & Soda-Fabrik" in Ludwigshafen. Vgl. dazu 125 Jahre BASF, Stationen ihrer Geschichte 1865 - 1990. In: Chemie für die Zukunft, hsg. BASF AG, Ludwigshafen, 1990. Zu den Gründen für den schnellen Aufstieg vgl. Walter Wetzel, Naturwissenschaften und chemische Industrie in Deutschland, Frankfurt/Main, 1989. Wolfram Fischer (wie Anm. 1), S. 552 f.

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DIE FEINCHEMIKALIENINDUSTRIE Der spektakuläre Aufstieg der Farbenindustrie verstellt häufig den Blick auf die Tatsache, daß es neben und vor der Farbenindustrie bereits eine leistungsfähige Feinchemikalienindustrie gegeben hat. Auf die Umstände ihrer Entstehung soll im folgenden näher eingegangen werden. Unter Feinchemikalien versteht man besonders sorgfältig gereinigte Chemikalien, die in verhältnismäßig kleinen Mengen eingesetzt werden9. Im 19. Jahrhundert fanden sie überwiegend in Apotheken als Arzneimittelgrundstoffe Verwendung, dazu zunehmend in Laboratorien als Reagenzien und zu Synthesezwecken, ferner in der Lebensmittelindustrie als Färb-, Geschmacks- oder Konservierungsstoffe sowie in anderen Industriezweigen, beispielsweise in Brauereien, Brennereien, Zucker-, Glas- oder Seifenfabriken, als vielfältige Produktionshilfsmittel. Am Anfang der Feinchemikalienindustrie stand das, wie man es genannt hat, "Dreigestirn"10 Johann Daniel Riedel, Emanuel Merck und Ernst Schering. Die nachfolgenden Ausführungen konzentrieren sich auf Emanuel Merck, nicht nur, weil der Referentin die Unterlagen über ihn besonders vertraut sind, sondern auch, weil die Überlieferung bei Merck dichter ist als bei den beiden anderen Unternehmern. Es werden jedoch die Entwicklungen bei Riedel und Schering nicht ganz außer acht gelassen, da sie - sicher nicht zufällig - Parallelen aufweisen.

APOTHEKER EMANUEL MERCK Emanuel Merck11 wurde 1794 in Darmstadt geboren. Sein Vater Johann Anton Merck war in fünfter Generation Merck Inhaber der dortigen, 9

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Ihnen stehen gegenüber die Schwer-, Basis- oder Grundchemikalien, die in großtechnischem Maßstab hergestellt und weiterverarbeitet werden und von geringerem, sogenanntem technischen Reinheitsgrad sind. Zu ihnen gehören die klassischen Produkte Schwefelsäure, Soda, Chlor, ferner weitere Säuren (Salpetersäure, Salzsäure), Salze (Natriumsulfat, Ammoniumsulfat) und Laugen (Natronlauge, Kalilauge), sowie Ammoniak. Vgl. dazu Hermann Römpp, Chemie Lexikon, Stuttgart, 1966, S. 1995; Römpp Chemie Lexikon, hsg. Jürgen Falbe u. Manfred Regitz, Stuttgart, New York, 9 1992, S. 4079. [Alfred] Adlung u. [Georg] Urdang, Grundriß der Geschichte der deutschen Pharmazie, Berlin 1935, S. 163. Eigentlich Heinrich Emanuel Merck. Er bevorzugte jedoch zeitlebens seinen zweiten Vornamen, der auch in die Firmenbezeichnung E. Merck eingegangen ist.

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1654 gegründeten und 1668 in den Besitz von Friedrich Jacob Merck gelangten Engel-Apotheke. Die Mutter Emanuel Mercks, Adelheid, war eine Tochter des Kriegsrats Johann Heinrich Merck, der nicht nur in die Literaturgeschichte eingegangen ist - unter anderem als Freund und Förderer des jungen Goethe - , sondern auch ein geschätzter Kunstkenner war und überdies anerkannte mineralogische und paläontologische Forschungen betrieben hat. Ausgeprägte naturwissenschaftliche Neigungen und Kenntnisse finden sich auch bei Johann Anton Merck - dem Vater Emanuel Mercks also - , von dem es beispielsweise 1782 anläßlich seiner Ernennung zum Kammer- und Medizinalassessor in der landgräflichen Verwaltung hieß, er habe "sich von Jugend auf der Naturkunde und Chemie mit einer Lieblingsneigung gewidmet ... und ... sich in Erforschung der Natur-Produkten, besonders in der Mineralogie, nicht gemeine Kenntnisse erworben, die ihn ... in den Stand setzen könnten, in seinem Fach den Professor zu machen"12. Das Interesse an Naturwissenschaften hat er sicher an seinen Sohn Emanuel weitergegeben, wenn er auch dessen Lebensweg nicht lange begleiten konnte; er starb bereits 1805, als der junge Emanuel noch nicht elf Jahre alt war. Die Apotheke wurde daraufhin verpachtet und Emanuel Merck zusammen mit seinem Bruder von der Mutter in ein Internat nach Genf gegeben. Die Geschwister blieben dort bis zum Sommer 1809, und anschließend begann Emanuel Merck, der wahrscheinlich schon zu Lebzeiten des Vaters zu dessen Nachfolger bestimmt worden war, mit der Ausbildung zum Apotheker. Die Apothekerausbildung war damals noch nicht wissenschaftlich ausgerichtet. Sie verlief, wie seit Jahrhunderten, analog der Ausbildung zum Handwerker: Auf eine mehrjährige Lehrzeit in einer Apotheke folgte eine ebenfalls mehrjährige Tätigkeit als Gehilfe in meist verschiedenen Apotheken, und danach konnte eine Prüfung abgelegt werden, die zur selbständigen Führung einer Apotheke als Verwalter oder Inhaber berechtigte. Als Emanuel Merck 1809 begann, war das immer noch der übliche Ausbildungsweg; allerdings wurde er von weitsichtigeren Apothekern als nicht mehr zeitgemäß empfunden. Sie forderten fundiertere naturwissenschaftliche Kenntnisse für die Apotheker, die ihre Arzneimittel, im Gegensatz zu heute, selbst zubereiteten. Grundlage dafür waren nicht nur Stoffe aus dem Pflanzen-, Tier- und Mineralreich, sondern zunehmend auch chemische Substanzen, die in den

12

Zum folgenden vgl. Carl Löw, Heinrich Emanuel Merck, Darmstadt 1951; Ders., Die chemische Fabrik E. Merck Darmstadt, Darmstadt 1952; Ingunn Possehl, Modern aus Tradition, Geschichte der chemisch-pharmazeutischen Fabrik E. Merck Darmstadt, Darmstadt, 2 1994. Zitiert nach Löw 1951 (wie Anm. 11), S. 44.

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Apothekenlaboratorien selbst herzustellen waren. Die Reformbestrebungen galten deshalb einer besseren Ausbildung nicht nur in Botanik, Zoologie und Mineralogie, sondern insbesondere auch in Chemie und Physik. Wortführer war der Erfurter Apotheker Johann Bartholomäus Trommsdorff13, der nicht müde wurde, auch alle möglichen anderen Mißstände im damaligen Apothekenwesen anzuprangern. Er hat, neben einer Vielzahl weiterer Aktivitäten, seiner Apotheke im Jahre 1795 ein Ausbildungsinstitut angegliedert in der Absicht, "junge Leute zu brauchbaren Apothekern zu erziehen"14. Seine Schüler wurden in Theorie und Praxis gleichermaßen unterrichtet und im Laboratorium auch an wissenschaftlich-forschendes Arbeiten herangeführt. Die Ergebnisse publizierte Trommsdorff in dem von ihm herausgegebenen "Journal der Pharmacie für Ärzte und Apotheker", einer in der Fachwelt geschätzten Zeitschrift, mit der Trommsdorff praktisch den Grundstein für eine pharmazeutische Fachpresse gelegt hat. In dem Journal erschien 1811 auch eine erste kleinere Arbeit von Emanuel Merck, der ein Jahr zuvor, im April 1810, in das Institut von Trommsdorff eingetreten war. Die Arbeit - "Chemische Analyse des gemeinen Erdrauches" - befaßt sich mit einem pflanzenchemischen Thema und deutet damit schon in die Richtung von Emanuel Mercks späteren Aktivitäten. Er blieb insgesamt zwei Jahre bei Trommsdorff, arbeitete dann als Gehilfe in verschiedenen Apotheken und schloß im April 1815 ein einjähriges Studium an der Universität Berlin an. Geprägt wurde er dort insbesondere von Sigismund Friedrich Hermbstaedt, zu dessen Forschungsschwerpunkten die Pflanzenchemie gehörte, und von Martin Heinrich Klaproth, einem herausragenden Analytiker, der nicht weniger als sechs chemische Elemente entdeckt hat15. Einem weiteren Studium in Wien setzte der Tod des Pächters der väterlichen Engel-Apotheke ein Ende. Emanuel Merck kehrte nach Darmstadt zurück und übernahm, gerade zweiundzwanzig Jahre alt, im Herbst 1816 die Leitung der Apotheke, nachdem er die erforderlichen Prüfungen abgelegt und das Darmstädter Bürgerrecht erworben hatte. Zunächst mußte er sich darum kümmern, die Geschäfte, die unter dem Pächter stark zurückgegangen waren, "wieder einigermaßen zu heben"16, wie 13

14 15 16

Wolfgang Götz, Zu Leben und Werk von Johann Bartholomäus Trommsdorff (1770 - 1837). Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie, hsg. von Rudolf Schmitz, Bd. 16, Würzburg 1977. Zitiert nach ebd., S. 36. Zirkon, Uran, Titan, Strontium, Chrom und Cer. Vgl. dazu Georg Edmund Dann, Martin Heinrich Klaproth (1743 - 1817), Berlin 1958. Zitiert nach Löw 1951 (wie Anm. 11), S. 85.

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er selber festgestellt hat. Drei Jahre später, im August 1819, konnte er dann jedoch seinem ehemaligen Lehrer Trommsdorff in einem Brief mitteilen, seine Apotheke sei "nunmehr so weit eingerichtet", daß er sich "mit mehr Muße ... der Chemie widmen" könne17. Er meinte damit speziell die Pflanzenchemie, auf die sein Interesse ja schon während seiner Ausbildung hingelenkt worden war.

DIE ENTDECKUNG DER ALKALOIDE DURCH F. W. SERTÜRNER Die Phytochemie nahm zu der Zeit gerade einen starken Aufschwung, seit Friedrich Wilhelm Sertürner als Apothekergehilfe in Paderborn und Einbeck das Morphin als "Schlafmachendes Prinzip" im Opium erkannt und dessen alkalischen Charakter nachgewiesen hatte18. Mit dem Morphin hatte Sertürner eine ganz neue Klasse von Pflanzeninhaltsstoffen entdeckt, die Pflanzenbasen oder Alkaloide, das heißt: Stoffe mit alkali-ähnlichem Verhalten. Seine entscheidenden Veröffentlichungen erfolgten zwischen 1805 und 1817, wobei die Fachwelt jedoch erst 1817 die Bedeutung seiner Forschungen erkannte. Danach setzte schlagartig allenthalben, vor allem in Frankreich und Deutschland, eine intensive Suche nach weiteren ähnlichen Substanzen ein. Man prüfte zunächst die seit jeher arzneilich verwendeten Pflanzendrogen auf ihre eigentlichen Wirkstoffe und entdeckte in rascher Folge eine Vielzahl von Alkaloiden. Sie fanden sehr schnell Eingang in die amtlichen Arzneibücher und damit in den offiziellen Arzneischatz. Der Vorteil der Alkaloide gegenüber den traditionellen Pflanzenzubereitungen, den Extrakten und Tinkturen vor allem, lag in ihrer exakten Dosierbarkeit und, daraus resultierend, ihrer kalkulierbaren Wirksamkeit für den Kranken. Sertürner war zu seinen Opiumforschungen gerade durch die fatale Tatsache angeregt worden, daß das Opium - seit dem Altertum therapeutisch verwendet - in seiner Wirksamkeit stark variierte und somit gleich große Arzneigaben ganz unterschiedliche Wirkungen hervorrufen konnten, eine Tatsache, die uns heute erklärlich ist, da wir wissen, daß der Wirkstoffgehalt natürlich vorkommender Pflanzen stets große Schwankungsbreiten aufweist.

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Kopie im Firmenarchiv Merck, E I X d. Deutsche Apotheker-Biographie, hsg. Wolfgang-Hagen Hein u. Holm-Dietmar Schwarz, Stuttgart 1978, S. 623 ff.; F. W. Sertürner, Entdecker des Morphiums, Ausstellung zum 200. Geburtstag, Paderborn 1983.

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Mit der Aufnahme der Alkaloide in die Arzneibücher wurden den Apothekern auch Vorschriften zu ihrer Herstellung gegeben. Das war selbstverständlich; denn die Apotheker waren eigentlich verpflichtet, die zu Arzneimitteln verarbeiteten Wirkstoffe selber herzustellen. Mit der Selbstbereitung der Alkaloide, die besondere Kenntnisse, viel Erfahrung und Geschick erforderte, war ein Großteil von ihnen jedoch überfordert. Dazu kam, daß die Arzneibuchvorschriften für die ja gerade erst entdeckten Substanzen nicht ausgereift waren und man auch bei genauester Beachtung der Herstellungsanweisungen in der Regel unreine - und damit in ihrer Wirksamkeit auch wieder nicht gleichbleibende - Präparate erhielt.

AUFNAHME DER ALKALOIDFABRIKATION DURCH E. MERCK Hier nun setzten Emanuel Mercks Aktivitäten ein: Er erprobte immer wieder neue Methoden zur Isolierung und Reindarstellung der jeweils bekannten Alkaloide. Sein Hauptaugenmerk war zunächst auf das Morphin gerichtet, das zu der Zeit das einzig wirksame Mittel bei starken Schmerzzuständen war. Dem Morphin galten auch zwei Publikationen im Jahre 1826: In einem Aufsatz "Über die Bereitung des Morphiums"19 wies er nach, daß mit den bisherigen Darstellungsmethoden stets nicht reines Morphin, sondern ein wechselndes Gemisch von Morphin und Narcotin, einem weiteren Opiumalkaloid, gewonnen wurde. In der Abhandlung "Bemerkungen über Opium und dessen Bestandteile" 20 berichtete er ausführlich über die Ergebnisse seiner bisherigen qualitativen und quantitativen Opiumanalysen. Daß seine Untersuchungen sich jedoch nicht auf die Opiumalkaloide beschränkten, zeigte sich ein Jahr später, als er in einem "Pharmaceutisch-chemischen NovitätenCabinet" eine Sammlung von sechzehn Alkaloiden und Alkaloidsalzen zusammenstellte und in einem Begleitheft jeweils eigene Darstellungsmethoden angab21. Er wollte damit, wie er im Vorwort erläuterte, Ärzten und Apothekern "diese Classe von Heilmitteln immer mehr zur allgemeinen Kenntniss ... bringen" und sie "mit wenigen Kosten in den Stand setzen, Versuche damit

19

20

21

Magazin für Pharmacie, hsg. Ph. [Philipp] L. [Lorenz] Geiger, 13. Band, 1826, S. 142- 147. Magazin für Pharmacie, hsg. Ph. [Philipp] L. [Lorenz] Geiger, 15. Band, 1826, S. 147 - 1 6 9 . Original im Firmenarchiv Merck.

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anzustellen". Aus diesem Grunde habe er, wie er weiter ausführte, sich "bewogen gefunden, dieselben im Großen darzustellen". Diese Bemerkung macht klar, daß man spätestens das Jahr 1827 als Beginn einer fabrikatorischen - das heißt über den Bedarf in der eigenen Apotheke hinausgehenden - Tätigkeit Mercks ansehen kann, und deshalb gilt dieses Datum heute als GrUndungsdatum des Unternehmens. Die Herstellung "im Großen" muß man sich jedoch hinsichtlich der produzierten Mengen anfangs recht bescheiden vorstellen. Sie fand statt im Laboratorium der Engel-Apotheke in den für den normalen Apothekenbetrieb vorhandenen Apparaturen und Räumlichkeiten. Später wurde das Labor durch Um- und Anbauten sukzessive vergrößert. Erst ein gutes Jahrzehnt später, nach 1840, wurden Teile der Alkaloidproduktion auf ein außerhalb der Stadt gelegenes Gartengrundstück verlagert, womit die eigentliche Fabrik ihren Anfang nahm.

PRINZIPIEN: PRODUKTVIELFALT UND REINHEIT Emanuel Merck wurde damit zu einem Wegbereiter industrieller Alkaloidherstellung in Deutschland. Als er zu produzieren begann, wurde zwar das Alkaloid Chinin in Frankreich und auch anderwärts in Deutschland bereits fabrikatorisch hergestellt, Mercks Produktionsprogramm aber war, wie das "Novitäten-Cabinet" zeigt, von Anfang an breiter angelegt. Er war bestrebt, ständig die gesamte Palette der jeweils bekannten Alkaloide anzubieten. Dazu kamen bald die sonstigen arzneilich verwendeten Pflanzenstoffe und weitere organische und anorganische Substanzen, die in den Apotheken zur Arzneibereitung Verwendung fanden. Zur Verdeutlichung: Eine im Jahre 1860 - fünf Jahre nach dem Tode Emanuel Mercks - erschienene Preisliste führt mehr als 800 einzelne Positionen auf. Emanuel Merck war jedoch nicht nur auf Produktvielfalt bedacht, sondern ebenso darauf, in größtmöglicher Reinheit zu liefern. Daß ihm das gelang, ist beispielsweise einem offiziellen Bericht über die im Sommer 1842 in Mainz stattgefundene "Allgemeine Deutsche Industrie-Ausstellung" zu entnehmen, in dem es von seinen Alkaloiden heißt, daß sie "nach dem einstimmigen Urtheil Sachverständiger an Größe und Reinheit der Waare alles übertrafen, was bis jetzt aus anderen derartigen Fabriken geliefert worden

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ist" 22 . Wie sicher Emanuel Merck selbst sich der Qualität seiner Erzeugnisse war, können wir einem Schreiben an einen Kunden entnehmen, der sich offenbar darüber beschwert hatte, daß das von ihm bezogene Morphin durch Narcotin verunreinigt sei. Merck schrieb ihm: "Ich garantire Ihnen stets die Reinheit meiner Präparate und übernehme jeden Nachtheil der Ihnen aus einem verunreinigten Präparat entstehen sollte, weßhalb ich Sie bitte das fragliche Morphium durch einen compitenten Chemiker untersuchen zu lassen." 23 Diese für uns heute unvorstellbar weitgehende Garantie - mit der er sich ja zu unbeschränkter Produkthaftung verpflichtete - konnte er nur geben, weil er sich der Güte seiner Waren absolut sicher war. Das konnte er sein nicht nur wegen der von ihm selber erarbeiteten und laufend überwachten Herstellverfahren, sondern auch, weil er seinen analytischen Fähigkeiten und der daraus resultierenden Qualitätskontrolle vertraute. Er hat ja - wie vorhin dargelegt - bei einem der besten Analytiker seiner Zeit, bei Klaproth in Berlin, studiert. Wie fundiert seine analytischen Kenntnisse waren, zeigt auch das Ergebnis einer Preisaufgabe, die die Société de Pharmacie in Paris, das damals noch führend in der Alkaloidforschung war, im Jahre 1830 ausgeschrieben hatte. In der Aufgabe wurden eindeutige, in der Gerichtsmedizin verwendbare Nachweismethoden für die verschiedenen Alkaloide gesucht. Merck schickte eine Arbeit ein und wurde mit einer Goldmedaille ausgezeichnet. Den ursprünglich ausgesetzten Preis erkannte man ihm allerdings nicht zu, weil die beurteilende Kommission die Arbeit zwar gut fand, bei Überprüfung der Ergebnisse aber nicht zu denselben Resultaten kam wie er. Grund dafür war wohl kurioserweise die Tatsache, daß die von Merck verwendeten eigenen Substanzen wesentlich reiner waren als die Testsubstanzen der Kommission - wie Justus Liebig später herausfand 24 . Mercks analytische Fähigkeiten waren übrigens auch außerhalb der Apotheke geschätzt: Als Mitglied im hessischen Medizinal-Kolleg etwa hatte er sich als Lebensmittelanalytiker zu betätigen. So schrieb er beispielsweise im Dezember 1845 an seinen Sohn Georg: "Ich bin eben sehr

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Hektor Rößler, Ausführlicher Bericht über die von dem Gewerbverein für das Großherzogthum Hessen im Jahre 1842 veranstaltete Allgemeine deutsche Industrie-Ausstellung zu Mainz, Darmstadt 1843, S. 285. Firmenarchiv Merck, Bestand E. Annalen der Physik und Chemie, hsg. J. [Johann] C. [Christian] Poggendorff, 21. Band, 1831, S. 16.

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beschäftigt mit Untersuchungen über Commisbrod und Mehlsorten und muß nächste Woche die Biere von 30 Brauereien in Maynz untersuchen ..."25.

APOTHEKEN ALS ABSATZMÄRKTE Käufer der Merckschen Erzeugnisse waren hauptsächlich Apothekerkollegen, die die Produkte entweder direkt oder über Grossisten erwarben, daneben andere Fabrikanten, von denen umgekehrt auch Emanuel Merck Waren bezog. Die Handelsbeziehungen waren schon früh international ausgerichtet. Das ist in mehreren Geschäftsbüchern dokumentiert, die sich leider jedoch nicht in kontinuierlicher Folge, sondern nur in Einzelexemplaren erhalten haben. Ein Buch, das die Jahre 1840/41 umfaßt, führt außer zahlreichen Kunden in deutschen Städten auch solche in London, Lüttich, Utrecht, Rotterdam, Paris, Straßburg, Basel, Lausanne, Zürich, Triest, Prag und Sankt Petersburg auf. Der Bezug von Chemikalien als Arzneigrundstoffe durch Apotheker war nicht unumstritten. Ursprünglich waren die Apotheker verpflichtet, diese Substanzen fast ausnahmslos in ihren Laboratorien selbst herzustellen. Dieses Gebot entsprach jahrhundertealter Tradition; es war unerläßlich in den Zeiten, als die chemische Analytik noch wenig entwickelt war und es kaum Verfahren gab, Identität und Reinheit chemischer Substanzen eindeutig zu bestimmen. Da die Apotheker aber dennoch im Interesse einer ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung der Bevölkerung für die Güte der von ihnen hergestellten Medikamente verantwortlich waren, war deren Qualität und damit gleichzeitig eine gewisse Standardisierung nur gewährleistet, wenn in den Apotheken nach jeweils gleichen Herstellungsvorschriften gearbeitet wurde26. Es galt somit das Prinzip, die Qualität durch das Herstellungsverfahren zu garantieren. Die gesetzliche Grundlage dazu waren die amtlichen Arzneibücher - Dispensatorien, später Pharmakopoen - der einzelnen deutschen Staaten. Richtungweisend für die meisten von ihnen war im 19. Jahrhundert bis zur Reichsgründung die jeweils gültige preußische Pharmakopoe,

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Heinrich Emanuel Mercks Briefe an seinen Sohn Georg, hsg. F. [Fritz] Herrmann, Darmstadt 1936, S. 32. Erika Hickel, Arzneimittel-Standardisierung im 19. Jahrhundert in den Pharmakopoen Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten von Nordamerika, Stuttgart 1973, S. 104 ff.

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die ihnen entweder als Vorbild für eigene Arzneibücher diente oder gleich unverändert übernommen wurde. In Hessen-Darmstadt etwa ordnete der Landgraf im Jahre 1801 an, "daß statt eines eigenen Dispensatorii die Pharmacopoea Borussica wegen ihrer Vollständigkeit, grossen Vollkommenheit und anerkannten Vorzügen in den Fürstlichen Landen eingeführt werden solle" 27 . Konkret war hier die preußische Pharmakopoe von 1799 gemeint, die man als das erste deutsche Arzneibuch bezeichnet hat, das auf modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen basierte 28 . Es war noch ganz der Selbstbereitung von Arzneimittelgrundstoffen durch die Apotheker verpflichtet - ein Prinzip, von dem man in der Folgezeit in der Apothekenpraxis jedoch illegalerweise mehr und mehr abwich. Aus den Akten des zuständigen preußischen Ministeriums für Kultus, Unterricht und Medizinalwesen geht hervor, daß man diesem Problem dort über Jahrzehnte hinweg große Aufmerksamkeit geschenkt hat 29 . In einer Fülle von Eingaben, Stellungnahmen und ausführlichen Gutachten wurden immer wieder die Vor- und Nachteile erörtert, die sich für die Apotheker und die Allgemeinheit aus einer Lockerung des Selbstbereitungsgebotes zugunsten einer generellen oder wenigstens teilweisen Kauferlaubnis ergaben. Die Verfechter der Selbstbereitungspflicht wollten an ihr nicht nur aus Gründen der Qualitätssicherung festhalten, sondern auch aus didaktischen Erwägungen, da andernfalls in den Apotheken "Gehülfen und Lehrlinge gar keine Gelegenheit mehr finden würden, sich in der Anfertigung solcher Praeparate ... zu üben" 30 . Dagegen argumentierten die Befürworter einer Freigabe hauptsächlich damit, daß die Fabrikchemikalien nicht nur von besserer Qualität seien als die in den Apotheken gefertigten, sondern auch wesentlich billiger. Zur Frage der Qualität äußerte sich 1856 dezidiert ein Medizinalrat aus

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Zitiert nach Ute Rausch, Das Medizinal- und Apothekenwesen der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt und des Großherzogtums Hessen unter Berücksichtigung der Provinz Starkenburg (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte, Bd. 33), Darmstadt, Marburg 1978, S. 180. Adlung, Urdang (wie Anm. 10), S. 331; Georg Edmund Dann, Berlin als ein Zentrum chemischer und pharmazeutischer Forschung im 18. Jahrhundert. In: Pharmazeutische Zeitung, Jg. 112, 1967, S. 195. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GSTA PK), Berlin (ehemals: Zentrales Staatsarchiv Merseburg), Rep. 76, Abt. VIII. Vgl. dazu auch Hickel (wie Anm. 26), S. 204 ff. GSTA PK, Rep. 76 VIII A, Nr. 1711, fol. 70 (Gutachten der wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen, 28.2.1820). Vgl. dazu auch Ingunn Possehl, Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Aspekte des preußischen Apothekenwesens im 19. Jahrhundert, Teil II. In: Pharmazeutische Zeitung, 126 Jg., 1981, S. 1649 f.

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Danzig in einem vielseitigen Gutachten, in dem er feststellte, der Arzt am Krankenbett verlange "die vollständigste Kenntnis dessen, womit er auf den gesunden oder kranken Körper einzuwirken beabsichtigt. Auf diese aber muß er verzichten, so oft er chemische Präparate aus den Apotheken verordnet, welche auf Grund der in der Pharmacopoea enthaltenen Vorschriften ins Unbestimmte verunreinigt sein müssen. [Denn:] Eine jede Pharmacopoea, welche derartige Vorschriften enthält, hat den Bedürfnissen der Chemie seit vielen Jahren nicht mehr genügt" 31 . Damit berührte er den entscheidenden Punkt in der ganzen Diskussion: Die Fabriken waren nun, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in der Lage, Chemikalien in weitaus besserer Qualität zu produzieren, als es den mehrheitlich immer noch nicht wissenschaftlich ausgebildeten Apothekern mit ihren relativ bescheidenen Hilfsmitteln in ihren Apothekenlaboratorien möglich war. Die überwiegende Mehrheit der Apotheker hatte aus der für sie widersinnigen Situation, einerseits zwar vom Gesetz her zur Selbstherstellung verpflichtet zu sein, andererseits aber die Chemikalien in besserer Qualität und zu einem unter ihren Herstellkosten liegenden Preis beziehen zu können, schon längst stillweigend die Konsequenz gezogen, daß sie ihren Bedarf immer weniger auf die vom Arzneibuch geforderte Weise deckte. Der Gesetzgeber paßte sich dem an, indem er das Gebot zur Selbstbereitung, das in der preußischen Pharmakopoe von 1799 ja noch allgemein verbindlich war, sukzessive aufhob. In den späteren Arzneibüchern wurde zwischen solchen Substanzen unterschieden, die im Großhandel gekauft werden durften, und solchen - gekennzeichnet dadurch, daß für sie eine Herstellungsvorschrift angegeben war - , die entweder in der Apotheke selber herzustellen waren oder aus einer anderen inländischen Apotheke bezogen werden durften 32 . In der 7. - und letzten - preußischen Pharmacopoö von 1862 fielen dann schließlich alle Beschränkungen. Hier hieß es: "Die Apotheker dürfen zwar diejenigen chemischen ... Präparate, welche sie selbst zweckmäßig anzufertigen behindert sind, aus anderen Apotheken, chemischen Fabriken oder Drogenhandlungen entnehmen, sind aber für die Reinheit und Güte der angekauften Präparate unbedingt verantwortlich" 33 . Auf Reinheit und Güte der Kaufware konnten die Apotheker verpflichtet werden, da nun sowohl in der

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GSTA PK, Rep. 76 VIIIA, Nr. 1757, fol. 27. Wolfgang Schneider, Geschichte der pharmazeutischen Chemie, Weinheim 1972, S. 213. Zitiert nach Adlung-Urdang (wie Anm. 10), S. 171.

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qualitativen wie quantitativen Analytik verläßliche Methoden zur Verfügung standen34, mit denen sie die erworbenen Chemikalien prüfen konnten. Somit haben letztendlich Qualität und Preis trotz bis zum Schluß erhobener Gegenargumente den Ausschlag für die Fabriken gegeben. Diese profitierten von den sich lockernden gesetzlichen Bestimmungen, die sich umgekehrt gerade deshalb lockerten, weil Unternehmer wie Emanuel Merck hier Marktchancen erkannten und nutzten. Merck kam dabei zugute, daß mit den Alkaloiden eine ganz neue Wirkstoffgruppe in den Arzneischatz aufgenommen wurde, mit deren diffiziler Produktion der Großteil der Apotheker de facto überfordert war, während andererseits gerade diese stark wirkenden Substanzen besonders hohen Reinheitskriterien genügen mußten. Wie sehr Mercks Präparate diesen Anforderungen tatsächlich entsprachen, möge als eine Stimme unter vielen Friedrich Mohr35 belegen, ein wissenschaftlich vielseitiger Apotheker, der nachfolgenden Generationen von Naturwissenschaftlern vor allem durch die "Mohrsche Waage" zur Bestimmung des spezifischen Gewichtes ein Begriff geworden ist. Er äußerte sich folgendermaßen: "Ich würde auf einer Reise in einer kleinen Landstadt lieber Merck'sches Morphium, als das von einem Unbekannten selbst bereitete einnehmen wollen. So wie nun Niemand behindert ist, diejenigen Präparate, welche nach der Pharmacopoe zu kaufen erlaubt sind, selbst herzustellen, eben so wenig möchte ich durch eine Vorschrift der Pharmacopoe alle Apotheker genöthigt sehen, diejenigen Präparate selbst darzustellen, zu welchen sie keinen Beruf, Geschicklichkeit oder Erfahrung genug besitzen. Und dieser Fall dürfte mit dem Morphium und seinen Präparaten eingetreten sein"36.

KONTINUIERLICHES WACHSTUM BEI E. MERCK Die weithin anerkannte Qualität der Merckschen Alkaloide und anderen Feinchemikalien war die beste Werbung für das junge Unternehmen. Die Nachfrage wuchs ständig und hatte von Jahr zu Jahr Fabrikationsausweitungen zur Folge. Zwar haben sich keine fortlaufenden Zahlen über die Ge34

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Ingunn Possehl, Historischer Rückblick. In: Den Spuren auf der Spur, 100 Jahre Reagenzien garantierter Reinheit, hsg. E. Merck Darmstadt, Darmstadt 1988, S. 29. Deutsche Apotheker-Biographie (wie Anm. 18), S. 441 ff. Friedrich Mohr, Commentar zur Preußischen Pharmakopoe, 2. Band, Braunschweig 1849, S. 150.

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samtproduktion erhalten, aber einzelne Angaben belegen diese Entwicklung doch recht anschaulich: Die Menge des zu Morphin verarbeiteten Opiums stieg beispielsweise von 150 Pfund im Jahre 183237 auf 1668 Pfund im Jahre 184238. Von Tannin, einem aus Pflanzengallen gewonnenen Gerbstoffgemisch, wurden 1840 rund 3,5 kg und 1855 650 kg hergestellt. Zwischen 1841 und 1847 nahmen die produzierten Mengen von Salicin, einem aus Weidenblättern gewonnenen Fieber- und Rheumamittel, von 50 auf 262 kg zu, von Santonin, einem damals viel verwendeten Wurmmittel, von 6 auf 69 kg und von Strychnin, einem in der in Indien beheimateten Brechnuß enthaltenen Wirkstoff, von 19 auf 59 kg 39 . Als Emanuel Merck im Jahre 1855 starb, hinterließ er ein prosperierendes Unternehmen, das mit etwa fünfzig Beschäftigten - die erhaltenen Angaben sind nicht ganz eindeutig - mehrere Hundert Feinchemikalien in zum Teil mehreren Qualitätsstufen herstellte, und das nun endgültig Uber das Stadium des Apothekenlaboratoriums hinausgewachsen war. Die Fabrikation fand Uberwiegend auf dem außerhalb der Stadt gelegenen ehemaligen Gartengrundstück statt, wo entsprechende "Fabrikgebäulichkeiten"40 errichtet waren, während in den Gebäuden der Apotheke - neben dem stets beibehaltenen Apothekenbetrieb - die Lager für die Fertigwaren, die Magazine, und die für den kaufmännischen Betrieb zuständigen Kontore verblieben waren. Emanuel Merck hinterließ jedoch nicht nur eine florierende Fabrik und einen gutgehenden Apothekenbetrieb, er hat auch rechtzeitig und vorausschauend für den Fortbestand seines Lebenswerkes gesorgt, indem er seine drei Söhne zielgerichtet auf die Nachfolge vorbereitet hat: Der älteste, Carl, wurde zum Kaufmann, der mittlere, Georg, zum Apotheker und der jüngste, Wilhelm, zum Chemiker ausgebildet. Mit Carl und Georg schloß Emanuel Merck 1850 eine "Geschäftssozietät", in die er beide Söhne "als Associés mit gleichem Antheil an Gewinn und Verlust in ... Apotheke und Fabrik-Geschäft"41 aufnahm. Der 1833 geborene jüngste Sohn Wilhelm stand damals erst am Beginn seiner beruflichen Ausbildung. Er trat zehn Jahre später ebenfalls als gleichberechtigter Partner seiner Brüder in die Fir-

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Löw 1951 (wie Anm. 11), S. 152. Ebd., S. 158. Ebd., S. 159. Firmenarchiv Merck, EIX ld, Nr. 4. Ebd. Aus der "Geschäftssozietät" ging später die Offene Handelsgesellschaft E. Merck hervor; als solche wurde das Unternehmen geführt, bis es im Juli 1995 in eine Kommanditgesellschaft auf Aktien umgewandelt wurde.

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ma ein. Die Söhne und später auch deren Nachkommen haben Apotheke und Fabrik im Sinne Emanuel Mercks weitergeführt. Heute ist daraus ein international orientiertes Unternehmen geworden, das in Darmstadt knapp 8 000, weltweit 26 000 Mitarbeiter beschäftigt und einen Jahresumsatz von 5,7 Milliarden DM erzielt. Seine Stärken sind auch heute noch die vom Firmengründer etablierten Prinzipien der Produktvielfalt und Reinheit. Das Fabrikationsprogramm besteht nun, auf den Umsatz bezogen, je zur Hälfte aus pharmazeutischen Spezialpräparaten, also gebrauchsfertigen Arzneimitteln, und Chemie-Produkten. Diese - etwa 15 000 verschiedene Präparate - umfassen auch sogenannte High-Tech-Erzeugnisse wie hochreine Prozeßchemikalien, die in der Computerindustrie zur Herstellung von Chips verwendet werden, oder Flüssigkristalle, die wesentlicher Bestandteil moderner Anzeigenelemente etwa in Uhren, Taschenrechnern, Meßinstrumenten, Fernsehern oder Computern sind. Blickt man noch einmal zurück auf den Firmengründer Emanuel Merck, so läßt sich resümieren, daß er die von Joseph Alois Schumpeter aufgestellten Kriterien für einen dynamischen Unternehmer42 in dreifacher Weise erfüllt: Er schuf - substantiell und qualitativ - neue Produkte. Für diese entwickelte er neue Produktionsmethoden und erschloß neue Absatzmärkte in den im Umbruch begriffenen Apotheken seiner Zeit.

JOHANN DANIEL RIEDEL UND SEIN UNTERNEHMEN Vergleichbares läßt sich auch konstatieren für die beiden anderen Protagonisten der entstehenden Feinchemikalienindustrie, Riedel und Schering. Der 1786 geborene Johann Daniel Riedel43 war das fünfzehnte von insgesamt siebzehn Kindern eines Pfarrers in Rehna bei Schwerin. Er entschied sich, wie erstaunlich viele Pastorensöhne seiner Zeit44, für den Beruf des Apothekers und begann mit vierzehn Jahren eine fünfjährige Lehre in 42

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Vgl. dazu in diesem Buch den Beitrag von Kerstin Burmeister: Die Vorstellung Joseph Alois Schumpeters vom dynamischen Unternehmer. Der Autorin sei gedankt für die Vorab-Überlassung des Manuskripts. Vgl. zum Folgenden, wenn nichts anderes vermerkt, 150 Jahre Riedel-de Haön, Die Geschichte eines deutschen Unternehmens, Seelze-Hannover 1964; Wir schaffen Verbindungen, 175 Jahre Riedel-de Haön, 1814-1989, Seelze [1989]. Georg Edmund Dann, Der Bildungsgang des preußischen Apothekers im Wandel derZeit. In: Apotheker-Zeitung, 41. Jg., 1926, S. 1117.

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einer Apotheke in Ludwigslust bei Schwerin. Anschließend arbeitete er zwei Jahre lang in einer Schweriner Apotheke und ging dann nach Berlin, wo er in der Apotheke "Zum Weißen Schwan" von Valentin Rose zunächst als Rezeptar, später als Verwalter tätig war. Dort konnte er sich eingehend mit den wissenschaftlichen Grundlagen seines Berufes vertraut machen, was ihm zu seinem Bedauern während seiner Lehrzeit nicht möglich gewesen war. Berlin war damals ein Zentrum der sich etablierenden wissenschaftlichen Pharmazie 45 - weshalb ja auch Emanuel Merck 1815 zum Studium dorthin ging - , und wesentlichen Anteil daran hatte die Rosesche Apotheke, "in welcher sich mehr ausgezeichnete Chemiker als in irgendeiner anderen gebildet haben"46. Die Apotheke verdankte ihren Ruf Vater und Sohn Valentin Rose47 sowie Martin Heinrich Klaproth, der die Apotheke nach dem Tode Valentin Roses des Älteren zehn Jahre lang verwaltete, ehe er sich mehr und mehr der akademischen Lehre als Professor - zunächst an der Artillerieschule und später an der neugegründeten Universität - zuwandte. Als Riedel Ostern 1808 in der Apotheke begann, trat er somit in "Beziehungen zu den Berliner Größen auf dem Gebiete der Chemie ..., die auf seine Entwicklung in beruflicher Hinsicht von bedeutendem Einfluß waren"48. Hier muß er sich, auch wenn Einzelheiten dazu nicht überliefert zu sein scheinen, das erforderliche wissenschaftliche Rüstzeug geholt haben, um nach dem Erwerb einer eigenen Apotheke im Jahre 1814 in deren Labor in größerem Maßstab die Herstellung solcher Feinchemikalien aufzunehmen, die im preußischen Arzneibuch geführt wurden. Sein besonderes Interesse galt dem Chinin, aber er stellte, wie später Emanuel Merck, wohl alle Alkaloide her, dazu andere Pflanzenwirkstoffe und Chemikalien. Hohe Qualität und Produktvielfalt waren auch ihm wesentlich. Eine in seinem Todesjahr 1843 erschienene Preisliste führt mehr als 400, eine Preisliste des Folgejahres bereits mehr als 570 verschiede-

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Georg Edmund Dann, Johann Christian Carl Schräder, ein Berliner Apotheker aus dem Kreis um Klaproth. In: Apotheker-Zeitung, 41. Jg., 1926, S. 428. Zitiert nach Georg Edmund Dann, Die Familie Riedel. In: Pharmazeutische Zeitung, 71. Jg., 1926, S. 1136. Den Beruf des Chemikers mit eigenständigem Ausbildungsgang gab es noch nicht: Apotheker waren die Chemiker der damaligen Zeit. Vgl. dazu Bernard Henry Gustin, The Emergence of the German Chemical Profession 1790-1867, Soz.wiss. Diss. [Masch.], Chicago, Illinois, 1975, S. 38. Valentin Rose der Ältere 1736 - 1771. Valentin Rose der Jüngere 1762 - 1807. Vgl. dazu Deutsche Apotheker-Biographie (wie Anm. 18), S. 540 ff; Georg Edmund Dann, Deutsche Apothekerfamilien, Die Familie Rose. In: Pharmazeutische Zeitung, 71. Jg., 1926, S. 629 ff. Georg Edmund Dann (wie Anm. 46), S. 1136.

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ne Präparate49. Auch Johann Daniel Riedel hat den Fortbestand seines Lebenswerkes gesichert. Nachfolger wurde sein Sohn Gustav, der in der Roseschen Apotheke seine Lehre absolviert und bei Emanuel Merck in der EngelApotheke als Gehilfe gearbeitet und dabei auch die Merckschen Fabrikationsmethoden kennengelernt hat 50 . Gustav Riedel führte das väterliche Unternehmen in größere Dimensionen, indem er an die Apotheke angrenzende Grundstücke erwarb und dort Fabrikgebäude und Lagerhallen errichtete. Um 1860 beschäftigte er dreißig Mitarbeiter51. Unter seinen Söhnen wurde das Unternehmen 1905 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Heute firmiert es als Riedel-de Haön AG, gehört zum Konzern der Hoechst AG und hat seinen Sitz in Seelze bei Hannover. Es beschäftigt etwa 1 350 Mitarbeiter und erwirtschaftet einen Umsatz von knapp 350 Millionen DM pro Jahr52. Das Produktionsprogramm umfaßt eine breite Palette unterschiedlichster Chemikalien, einschießlich besonders reiner Produkte für die Computerindustrie, sowie einige wenige Arzneimittel.

ERNST SCHERING UND SEIN UNTERNEHMEN Jüngster im "Dreigestirn" der frühen Feinchemikalien-Industriellen war der 1824 in Prenzlau in der Uckermark geborene Ernst Schering53. Er vervollkommnete seine mit Lehre und Gehilfenzeit im üblichen Rahmen verlaufene Apothekerausbildung durch ein einjähriges Universitätsstudium in Berlin. Kurz danach, im Jahre 1851, kaufte er dort eine Apotheke, der er den hoffnungsvollen Namen "Grüne Apotheke" gab. In ihrem Labor begann er alsbald mit der Fabrikation von Feinchemikalien zur Arzneimittelherstellung und für eine Reihe technischer Zwecke, unter ihnen insbesondere Spezialchemikalien für die gerade aufkommende Photographie. Auch für Schering war Leitmotiv die größtmögliche Reinheit seiner Produkte, und auch er erreichte dieses Ziel durch Ausarbeitung eigener Herstellverfahren, indem er,

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150 Jahre Riedel-de Haön (wie Anm. 43), S. 30. 150 Jahre Riedel-de Haön (wie Anm. 43), S. 48/49: Faksimile des ihm von Emanuel Merck ausgestellten Zeugnisses. 5 ' Wir schaffen Verbindungen (wie Anm. 43), S. 12. 52 Telefonische Auskunft Riedel-de Hafin AG, Herr Jung, 24.07.1995. 53 Zum Folgenden vgl. B. [Bernhard] Lepsius, Fünzig Jahre Chemische Fabrik auf Actien (vorm. E. Schering) 1871 - 1921, o. O. [Berlin], o. J. [1921], 50

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wie einem Nachruf 54 zu entnehmen ist, "zunächst für eine beschränkte Zahl von Chemiealien die besten Darstellungsweisen auszuarbeiten bemüht war", was wiederum "das unscheinbare Laboratorium der Apotheke ... zur Geburtsstätte mustergiltiger Verfahren" werden ließ. Auf diese Weise zwang Schering, wie es in dem Nachruf weiter heißt, "allgemein die Technik der Herstellung der sogenannten feineren Chemiealien zu höherer Vollendung". Auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1855 wurde er erstmals für die Qualität seiner Erzeugnisse ausgezeichnet. Leider haben sich aus der Frühphase des Unternehmens keine Unterlagen, nicht einmal Preislisten, erhalten, so daß jegliche Detailinformationen fehlen. Nach 1860 wurden jedoch die Räumlichkeiten des mehrfach erweiterten Apothekenlabors wohl endgültig zu klein, und Schering verlegte seine Produktion auf ein einige Jahre zuvor erworbenes Gelände im Norden Berlins. Für den schnell wachsenden Betrieb reichte das Eigenkapital nicht aus, und so wandelte er das Unternehmen im Jahre 1871 in eine Aktiengesellschaft um. Ernst Schering leitete weiterhin die Fabrikbetriebe, bis er 1882 in den Aufsichtsrat wechselte. Die Belegschaft umfaßte zu dieser Zeit etwa zweihundert Personen. Als gegen Ende des Jahrhunderts die Ära der Arzneispezialitäten einsetzte, brachte auch Schering die ersten gebrauchsfertigen Arzneimittel auf den Markt. Heute konzentriert sich das Unternehmen ganz auf den Arzneimittelbereich und hat sich von allen übrigen Geschäftsfeldern, wie etwa dem Pflanzenschutz und den Industriechemikalien, getrennt. Es beschäftigt derzeit weltweit mehr als 18 000 Mitarbeiter und erzielt einen jährlichen Umsatz von knapp 4,7 Milliarden DM 55 . Bei den industriellen Aktivitäten von Riedel und Schering zeigt sich somit dasselbe Grundmuster wie bei Merck: Ausgehend von ihrer Apotheke und auf der Basis ihrer jeweiligen - wenn auch unterschiedlichen - pharmazeutischen Ausbildung erzeugten sie alle in größerem Maßstab und besserer Qualität solche Chemikalien, die bis dahin in den einzelnen Apotheken selbst hergestellt werden mußten. Sie fanden in ihren Apothekerkollegen dankbare Abnehmer und dadurch - beschleunigt durch eine immer weniger restriktive Gesetzgebung - neue und wachsende Absatzmärkte. Erfolgte die Produktion auch ursprünglich und noch lange im Labor der Ausgangsapotheken, so war sie doch zu der Zeit, als die ersten Teerfarbenfabriken entstanden, bei allen drei Unternehmen bereits in industrielle Dimensionen hineingewachsen.

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Zitiert nach Wilhelm Vershofen, Die Anfänge der chemisch-pharmazeutischen Industrie, Bd. II, Aulendorf 1952, S. 88. Telefonische Auskunft Schering AG, Herr Wlasich, 24.07.1995.

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Technischer Fortschritt und Unternehmerverhalten am Beispiel der württembergischen Kammgarnspinnerei Merkel & Wolf 1 8 3 0 - 1 8 7 0 VON GERT KOLLMER-V.OHEIMB-LOUP

Zu einem der völlig vernachlässigten Forschungsbereiche in der Unternehmensgeschichte gehört das Verhältnis des Unternehmers zu innovativen Betriebsmitteln. Von zentralem Interesse sind dabei das Informationsnetz, das die Investitionsprozesse überlagert und lenkt, sowie die Entscheidungsgründe für die Akzeptanz bzw. Nichtakzeptanz technischen Fortschritts. Im Nachfolgenden soll versucht werden, den Informations- und Meinungsbildungsprozeß, der über die Einführung technischer Innovationen entscheidet - soweit es die Quellenlage erlaubt - am Beispiel eines Unternehmens, der Kammgarnspinnerei Merkel & Wolf in Esslingen, darzustellen1. Damit sind eine Reihe zentraler Fragen verbunden: 1. Welche Motive bestimmten die Informationsbeschaffung technischer Innovationen? 2. Wurde eine aktive Informationsbeschaffung betrieben? 3. Mit welcher Intensität engagierte sich das Unternehmen in der Informationspolitik? 4. Welche Informationswege wurden gewählt? 5. Welche Akzeptanz wurde dem angebotenen technischen Fortschritt entgegengebracht, d. h. welche unternehmenspolitischen Überlegungen begründeten ein zustimmendes bzw. ablehnendes Entscheidungsverhalten? 6. Welche Kriterien bestimmten bei Akzeptanz alternativ angebotenen technischen Fortschritts die Wahl der Technik und des Herstellers?

Der Beitrag folgt der demnächst erscheinenden Habilitationsschrift von Gert Kollmer-v.Oheimb-Loup: Zollverein und Innovation. Die Reaktion württembergischer Textilindustrieller auf den Deutschen Zollverein - 1834 bis 1874.

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7. Wann ergriff das Unternehmen eigene Initiativen, um die angebotenen technischen Innovationen zu verbessern? Die Kammgarnspinnerei gehörte spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts, vergleichbar der Baumwollspinnerei, zu den Hightech-Branchen. Ihre Entwicklung vollzog sich dynamisch. Mit Schaffung des neuen Zollvereinsmarktes spezialisierte sich das Unternehmen auf Strickgarn in höherwertigen Qualitäten2. Ziel des Unternehmens im Beobachtungszeitraum war die Steigerung bzw. Fixierung des Ertrags. Um dieses Ziel zu erreichen, operierte die Geschäftsleitung in erster Linie mit der Strategie der Mengenanpassung3. Eng verbunden damit war die Investitionspolitik, mit der nicht nur die Produktivität, sondern auch die Produktqualität und die Rationalisierung des Produktionsprozesses gesteuert werden konnte. Der Beobachtungszeitraum setzt mit Gründung des Unternehmens im Jahre 1830 ein, als die meisten Maschinen für die Grundoperationen im mechanischen Spinnprozeß der Baumwollindustrie bereits zur Verfügung standen. In der Kammgarnspinnerei fehlte jedoch noch die Basiserfindung der Kämm-Maschine sowie Modifikationen technischen Fortschritts auf die speziellen Erfordernisse für Kammwollverarbeitung. In der Antriebstechnik standen Dampfmaschinen unterschiedlichster Leistung und Konstruktion zur Verfügung, der Wassermotorenbau hatte die erste Erprobungsphase erreicht. Die Betrachtung endet Anfang der 1870er Jahre, als Merkel & Wolf die erste vollautomatische Maschine, den Kammgarnselfactor, ankaufte. Das Unternehmen arbeitete seit seiner Gründung in der Spinnereiabteilung mit einem drei bis vier Jahre alten Maschinenbestand, den es aus der Verkaufsmasse der Wollspinnerei und -Weberei von G. C. Kessler erwarb4. Die Maschinen hatte Kessler in Frankreich gekauft5. Dies verwundert nicht, berücksichtigt man die guten Beziehungen Kesslers zu Frankreich, vornehmlich zu der Region Reims-Paris - immerhin war er von 1807 bis 1825 kaufmännischer Leiter des berühmten Champagner- und Bankhauses Clicquot-

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3 4

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Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg (zukünftig abgekürzt: WABW) B 44 Bü 137 S. 15 ff. Ebd. S. 71 ff. WABW B 44 Aktenbefund Bü 859 - 888 und 1121 - 1122. WABW B 44 Bü 137 S. 7. Vgl. dazu auch Einhundert Jahre Arbeit und Erfolg. Zum hundertjährigen Jubiläum der Firma Merkel & Kienlin GmbH Esslingen. O. O. (1930) S. 6. Ferner Arndt Kienlin: Marktbeziehungen einer Kammgarnspinnerei im Zeitraum von 100 Jahren (1830 - 1930). Diss. Nürnberg 1955. S. 67. WABW B 44 Aktenbefund Bü 659 - 661. Vgl. auch Kienlin (wie Anm. 4) S. 68.

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Pousardin 6 . Wie er selbst andeutete, war es nicht nur der ihm von der Witwe Clicquot gewährte Kredit zum Aufbau seines Unternehmens, sondern in erster Linie die hervorragende Qualität Pariser und Reimser Maschinen, die er in zahlreichen Wollfabriken der Champagne über viele Jahre beobachtete, die ihn veranlaßte, französische Maschinen, die zu den europäischen Spitzenprodukten gehörten, zu kaufen. Der Maschinenpark bestand fast ausschließlich aus Maschinen des Vor- und Feinspinnprozesses. Der zentrale Vorgang des Wollwaschens und des Kämmens der Wollvliese zum sogenannten Wollzug erfolgte - wie damals üblich - von Hand 7 . Somit konnten alle Arbeitsgänge bis zum Beginn des Vorspinnens nicht kontinuierlich ausgeführt werden. Neben größeren zeitlichen Unterbrechungen sowie längeren Transportzeiten mußte das Einspeisen des Kammzugs in die dem Kämmen nachgeschalteten mechanischen Maschinen von Hand erfolgen. Dagegen verkörperten die Maschinen der Vor- und Feinspinnerei damalige Hochtechnologie, denn Kessler entschied sich schon 1826 für das sogenannte französische Vorspinnsystem für die Verarbeitung kurzer Wollen, das aus verschiedenen, unmittelbar aufeinander abgestimmten und hintereinander geschalteten Streckmaschinen bestand. Mit Hilfe modernster ZufÜhrungs- und Speisevorrichtungen konnte der komplizierte Vorspinnprozeß teilweise kontinuierlich bewältigt werden 8 . Halbselfactoren als auch Seifactoren standen für den Feinspinnprozeß den Kammgarnspinnereien zu dieser Zeit nicht zur Verfügung. Sowohl Kessler als auch Merkel & Wolf lehnten es ab, die sehr produktiven lohneinsparenden mechanischen Waterframes nach englischer Bauart einzusetzen. Die darauf gesponnenen Garne erreichten nur eine grobe und ungleiche Qualität. Die Geschäftsleitung wollte ihr Produktionsprogramm nicht zugunsten der kostengünstigeren Maschinen ändern9. Die Jahresabschlüsse zeigen, daß die Gewinnspannen auch mit höheren Lohnkosten am Markt durchgesetzt werden konnten 10 . Mit dieser Erstausstattung arbeitete das Unternehmen bis zum Jahre 1835, als Johannes Merkel seine Vorstellung durchsetzte, die Weberei und Tuchfabrikation einzustellen und ausschließlich hochwertige Kammgarne,

" 7 8 9 10

Vgl. dazu Gabriele Woletz: Die Anfänge der württembergischen Textilindustrie: Die Firma Kessler, Hübler & Cie. Zulassungsarbeit im Fach Geschichte, Universität Stuttgart 1985. S. 25. WABW B 44 Aktenbefund Bü 583 und 602 - 604. WABW B 44 Aktenbefund Bü 659 - 661. WABW B 44 Aktenbefund Bü 408, 425 - 427. WABW B 44 Aktenbefund Bü 859 - 868.

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insbesondere Strick- und Stickgarne zu produzieren 11 . Mit dieser Produktspezialisierung startete Merkel & Wolf seine unternehmerische Offensive im Zollverein mit der Strategie der Mengenanpassung. Damit fiel auch die Entscheidung, ein eigenes Fabrikgebäude zu errichten 12 . Umfassende Investitionen technischer Innovationen wurden solange zurückgehalten, bis die neuen Räume im Jahre 1839 zur Vertilgung standen 13 . Neben der beschränkt vorhandenen Wasserkraft waren es auch die angemieteten Räume, die der Einführung technischer Neuerungen Grenzen setzten. Produktionssteigerungen wurden in diesen Jahren durch die Vergabe von Zuliefererverträgen erreicht 14 . Hervorzuheben ist, daß Merkel & Wolf bereits im Gründungsjahr bemüht war, intensive, vor allem schriftliche Kontakte zu französischen Spinnereibesitzern sowie Textilmaschinenagenten herzustellen, also bereits lange bevor Investitionen beabsichtigt waren. Im Vordergrund stand dabei der Erfahrungsaustausch über Vor- und Feinspinnmaschinen, speziell den Wollabgang, die Einspeisung, die Arbeitsweise verschiedener Streck- und Kammwalzsysteme, deren Regulierung und Pression sowie die Möglichkeit der Garndrehung 15 . Das Problem der Kammgarnspinnerei lag in den 1830er Jahren darin, die in der Baumwollindustrie bereits seit vielen Jahren erprobte fortschrittliche Technik für die Bedürfhisse der Kammgarnspinnerei umzusetzen. Von höchstem Interesse sind die Berichte des Pariser Maschinengroßhändlers Rapp, der Merkel von Kessler als zuverlässiger und kompetentester Fachmann auf dem europäischen Maschinenmarkt empfohlen wurde. Er vertrieb Textilmaschinen verschiedenster Provenienz und berichtete ausführlich über die Schwachstellen der einzelnen Konstruktionen. Nach seiner Meinung hatten die meisten den Fehler, nur unzureichend feine kurze Wollen spinnen zu können, was aber für die kontinentalen Kammgarnhersteller Voraussetzung gewesen wäre. Immer wieder verwies er darauf, daß die Kammwalzen bei den Vorspinnmaschinen fehlkonstruiert seien, da die Maschinenbauer die Behandlung der Wolle vor dem Spinnprozeß nicht ausreichend berücksichtigten. Merkel folgte Rapps Empfehlungen bei Einrichtung der neuen Fabrik, hatte er sich doch selbst mehrfach bei verschiedenen Spinnereien von den brieflichen Aussagen seines Pariser Agenten überzeugen kön-

11 12 13 14 15

Wie Anm. Wie Anm. WABW B Wie Anm. WABW B

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2 S. 40. 2 S. 36. 44 Aktenbefund Bü 492 und 494. 2 S. 8 f. und WABW B 44 Aktenbefund Bü 135. 44 Aktenbefund Bü 425 und 659 - 661.

nen. Die von Merkel & Wolf geforderte Qualität konnten nach Ansicht von Rapp nur französische Hersteller leisten. Auffällig ist, daß sich in dem Briefwechsel keine Hinweise auf die Einsparung von Arbeitskräften finden. Im Vordergrund steht die Produktqualität, die Leistungsfähigkeit und die Störunanfälligkeit der Maschinen 16 . Diese Kriterien scheinen in den 1830er Jahren mehr im Vordergrund betriebswirtschaftlicher Überlegungen gestanden zu haben, als die zur Einsparung von Arbeitskräften, die in der Kammgarnspinnerei zumeist aus ungelernten jugendlichen und weiblichen Hilfskräften mit geringer Entlohnung bestanden. Rapp empfahl ein Maschinensortiment, das er vor kurzem in geheimem Auftrag über das Frankfurter Bankhaus Rothschild verkaufte. Ein weiteres sei nach Leipzig zum größten deutschen Wollhändler geliefert worden, der die Fabrikation von Kammgarn beabsichtigte. Wie Merkel herausfand, hatte der Leipziger Kunde in England und Frankreich alle Spinnsysteme untersuchen und umfangreiche Versuchsreihen durchführen lassen. Nur die von Rapp empfohlenen französischen Maschinen entsprachen den gewünschten Anforderungen 17 . Mit den französischen Maschinen stand der Firma nun eine Spinntechnologie zur Verfügung, die sich durch flexible Streckung, Drehung und Pression sowie durch eine aufeinander abgestimmte Einspeisung und Vorverarbeitung des Wollgarns auszeichnete. Bemerkenswert ist, daß Merkel & Wolf an den von Hand getriebenen Mulejennies festhielt. Die seit 1825 laufenden Handspinnmaschinen wurden in der neuen Fabrik wieder installiert und durch Ankauf weiterer Mulejennies ähnlicher Bauart, jedoch mit höherer Spindelzahl, ergänzt 18 . Die lange Lebensdauer und die auf ihnen erzeugte Garnqualität gestattete es, diese Maschinen über Jahrzehnte zu fahren - einige waren noch in den 1860er Jahren im Einsatz 19 . Es scheint, als konzentrierte sich die Aufmerksamkeit für technische Weiterentwicklungen lange Zeit auf den Kämm- und Vorspinnbereich, wo die Grundlage für die Qualität des Endproduktes gelegt wurde. Der Ankauf von Halbselfactors, deren Wageneinfahrt mechanisch erfolgte, ist im Gegensatz zur Baumwollindustrie hier nicht nachzuweisen. Wichtig ist festzuhalten, daß das Unternehmen zur Verbesserung des Feinspinnprozesses keine technologisch ausgerichteten Aktivitäten unternahm. Eine teil- oder vollautomatisch arbeitende Maschine für die 16 17 18 19

WABW WABW WABW WABW

B 44 Aktenbefund Bü 425 und 660. B 44 Aktenbefund Bü 660. B 44 Aktenbefund Bü 135, 137 S. 40, 1100 und 1237. B 44 Aktenbefund Bü 135.

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Kammgarnfeinspinnerei besaß noch lange nicht die geforderte technische Ausreifung. Die 1840er Jahre waren gekennzeichnet von einer lebhaften Investitionstätigkeit, deren Ursache in einer stark anhaltenden Umsatzsteigerung von durchschnittlich 13 Prozent jährlich zu suchen ist 20 . Das Unternehmen erweiterte den Maschinenpark erheblich 21 . Weiterhin wurden die bewährten Informationskanäle genutzt. Zugleich wurden vermehrt zollvereinsländische Informanten bemüht. Interessant ist, daß das Unternehmen parallel zu den fast ausschließlich in Frankreich getätigten Investitionen schon während der 1830er Jahre auch intensive Kontakte nach Sachsen unterhielt 22 . Infolge ihrer expansionsorientierten Distributionspolitik konnte sich der Teilhaber Kienlin von der entstehenden und in zunehmendem Maße konkurrenzfähigeren sächsischen Textilmaschinenindustrie auf seinen zahlreichen Verkaufsreisen in die sächsischen und thüringischen Staaten über Funktionsweise und Tüchtigkeit der dort gebauten Maschinen selbst einen Eindruck verschaffen 23 . Trotzdem wurden in den 1840er Jahren infolge der überlegenen Technik über 80 Prozent aller Maschineninvestitionen bei Firmen aus Frankreich und Belgien in Auftrag gegeben 24 . Wie im Jahrzehnt zuvor erfolgte der Erfahrungsaustausch über die Entwicklung technischer Neuerungen überwiegend schriftlich. Stichproben ergaben, daß sich knapp 60 Prozent der nachweisbaren Schriftwechselkontakte von Johannes Merkel zwischen 1835 und 1860 auf technische Innovationen bezogen. Nur nach Filterung der zahlreichen Informationen und Empfehlungen wurden bei entschlossener Investitionsabsicht Reisen zu den Herstellerfirmen angestrebt. So wurden die Maschinenproduzenten Cockerill, Koechlin und Collier in den Kreis der Maschinenlieferanten aufgenommen 25 . Höchste Aufmerksamkeit verdienen die Informationspolitik und die Investitionsentscheide im Zusammenhang mit der Errichtung eines Gebäudes für die Wollkämmerei im Zuge des Fabrikneubaues im Jahre 1841. Das Esslinger Unternehmen erkundigte sich bei Cockerill und bei der Leipziger Firma Brauer über die Opeltsche Kämmaschine. 1840 hatte der Maschinenbauer Cockerill in Belgien ein Patent auf das System erhalten. Schließlich gelangte

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WABW WABW WABW WABW WABW WABW

288

B 44 Aktenbefund Bü 1121 - 1122. B 44 Aktenbefund Bü 135, 867 - 877 und 1100. B 44 Aktenbefund Bü 425 und 663. B 44 Aktenbefund Bü 425. B 44 Aktenbefund Bü 135 und 1100. B 44 Aktenbefund Bü 408 - 411, 425 - 429 und 659 - 688.

eine derartige Maschine auch nach Bradford, wo 1842 die Firma Preller ein englisches Patent auf das System erwarb. Der Merkeische Geschäftspartner Brauer lobte die Maschine, obwohl sie nicht ausreichend erprobt worden war. Nach Angaben Brauers bestand das Opeltsche Kämmsystem aus neun verschiedenen Maschinen. Der Nachteil war die nach wie vor notwendige Handarbeit und der zu geringe Ausstoß. Jede Maschine mußte von drei Personen bedient werden. Durch einen vertrauten Informanten veranlaßt, gab Merkel 1841 bei Collier in Paris Kämmaschinen in Auftrag, die gegenüber dem Opeltschen System leistungsstärker und etwas weniger personalintensiv waren26. Das von Collier angebotene Maschinensystem wurde zwar in seiner Grundkonzeption akzeptiert, soweit es jedoch möglich war, beteiligte sich der Auftraggeber selbst an der Konstruktion. Die Peigneusen wurden in genauer Abstimmung und teilweise nach genauen Vorgaben von Merkel & Wolf gefertigt, wobei das Unternehmen gleichzeitig mit anderen Maschinenbaufinnen in Augsburg und im Elsaß schriftlich Detailprobleme zu klären versuchte. Im Vordergrund stand dabei die Abstimmimg zwischen vor- und nachgeschalteten Maschinen27. Die Technik war zu teuer und die Gefahr war groß, daß der Produktionsprozeß durch häufige Unterbrechungen nicht mehr gewinnbringend ablief. Die Peigneuse ist im Beobachtungszeitraum die einzige Maschine, die Merkel & Wolf unmittelbar, nachdem sie angeboten wurde, ankaufte, wenn auch in modifizierter Form. Nach den Quellen liegt die Ursache dafür in der Strategie der Mengenanpassung. Dies wurde vor allem mit einer Erhöhung der Produktivität erreicht, die Peigneusen erbrachten ca. den dreifachen Output. Ferner produzierten sie im Vergleich zu handgekämmter Wolle eine bessere Qualität, was sich verkaufsfördernd auswirkte. Hinzu traten noch Lohneinsparungseffekte. Zwar waren alle Kämmaschinen der 1840er Jahre noch relativ personalintensiv, doch ersetzten billigere Hilfskräfte die teureren Handkämmer. Da solche mit Mengen-, Qualitäts- und Kostenvorteilen arbeitenden Maschinen gegen Ende der 1830er Jahre in einigen europäischen Fabriken eingesetzt wurden, konnte sich Merkel & Wolf unter der Prämisse des genannten Unternehmensziels einer solchen Investition nicht entziehen. Aus der Sicht englischer Geschäftspartner war die Kämmaschine von Collier auch noch zur Mitte der 1840er Jahre die beste ihrer Art auf dem europäischen Markt. Das Esslinger Unternehmen verfolgte

26 27

WABW B 44 Aktenbefund Bü 425 - 427 und 663. WABW B 44 Aktenbefund Bü 4 2 5 - 4 2 7 .

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die technische Entwicklung der Peigneusen auch weiterhin international sehr aufmerksam28. Der Entschluß, die Wollkämmerei mechanisch zu betreiben, brachte eine Reihe von Folgeinvestitionen mit sich. Dies veranschaulicht nochmals, welche unternehmensstrategische Bedeutung der Investition von Kämmaschinen zukam. Der Aufstieg des Unternehmens durch Gewinnung wichtiger Marktanteile im Zollvereinsgebiet und den angrenzenden Ländern steht in engem Zusammenhang mit der Investitionspolitik der 1840er Jahre. Die Einführung der Peigneusen erforderte zwei Investitionsmaßnahmen im nachgeschalteten Vorspinnbereich: Zum einen bedurfte es einer Umrüstung der vorhandenen Maschinen. Zum anderen wurden infolge des höheren Ausstoßes an gekämmter Wolle zusätzliche Vorspinnsortimente notwendig, die jedoch zuerst mit dem Hersteller auf die Kämmaschinen abgestimmt werden mußten. Nur so war es möglich, die von den Peigneusen feiner gekämmten Wollbänder mühelos weiterzuverarbeiten. Zugleich erreichten diese Maschinen eine Verfeinerung des Vorgespinstes. Die neuen Vorspinnsortimente enthielten zwei neue Maschinen, die sogenannte Vorspinnkrempel, die schmale Wollbänder bildete, und einen Entfilzer, der durch zusätzliche Streckwerke und Kammwalzen höhere Kapazitäten erzielte. Ferner umfaßten diese Sortimente fünf bis neun, statt wie bisher drei hintereinander geschaltete Streckmaschinen, womit eine beachtliche Qualitätsverbesserung des Vorgarns erreicht wurde29. Mit der Einführung neuer Spinnereimaschinentechnik wurden nicht nur aufeinander abgestimmte Maschinen erforderlich, sondern auch Erweiterungsinvestitionen im Bereich der Antriebstechnik. Für Maschinen, die mit Dampf arbeiteten, stand der Kostenfaktor Kohle mehr im Vordergrund des Investitionsentscheids als die Anschaffungs- und Lohnkosten30. Insbesondere die hohen Frachtraten - ein Eisenbahnnetz stand zu dieser Zeit noch nicht zur Verfügung - verteuerten die Betriebskosten. Der erste Einsatz von Dampf erfolgte 1842 im Zuge der Einrichtung der Wollfärberei und der mechanischen Wollkämmerei. Anhand mehrerer Angebote und zahlreicher Empfehlungen entschloß sich das Unternehmen für eine Dampfkesseleinrichtung der Firma Dollfuß aus Augsburg. Das Know-how dieser Firma bei der Wiederverwendung des kondensierten Dampfes und der Wasservorwärmung ermöglichte die sparsamste Lösung. Daß vorhandene Geschäftsbeziehungen für 28 29 30

WABW B 44 Aktenbefiind Bü 427 - 429, 677 und 681. WABW B 44 Aktenbefund Bü 135, 426 und 1100. WABW B 44 Aktenbefund Bü 33 - 34, 38,426 - 427, 664 und 676.

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weitere Aufträge nicht ausschlaggebend waren, zeigt der Ankauf weiterer Dampfkesselanlagen. Zuschläge erhielten Cockerill in Seraing und Piedboeuf in Aachen31. Piedboeuf zum Beispiel überzeugte mit einem im Verbrauch besonders sparsamen Cornwall-Kessel. Diese Kesselart mit ihrer Feuerung im Innern des Flammrohrs entsprach nicht dem neuesten technischen Stand. Dafür zeichneten sich die Cornwallkessel durch eine verhältnismäßig große Dampfproduktion und lange Lebensdauer aus32. Nach ähnlichen Kriterien erfolgte auch der Zuschlag für die Dampfmaschinen. Die Entscheidung für den Maschinenhersteller Cockerill wurde bestimmt durch die jahrzehntelange Erfahrung, die dieses Unternehmen im Bau von Dampfmaschinen besaß. Trotzdem reiste Johannes Merkel selbst nach Lüttich, um sich endgültige Klarheit über eine kostensparende Konstruktion zu verschaffen. Merkel & Wolf bestellte 1844 ein im europäischen Vergleich technisch ausgereiftes, jedoch völlig veraltetes, einfaches Modell. Das Unternehmen hätte bereits zu dieser Zeit eine Dampfmaschine nach dem Woolfschen System, d. h. eine zweizylindrische Expansionsmaschine, ankaufen können, wie sie vor allem schon in Belgien und Frankreich anzutreffen war 33 . Merkel & Wolf entschied sich jedoch zu diesem Zeitpunkt für das einfache, unkomplizierte System. Erst zehn Jahre später sollte eine komplexere Technik erworben werden34. Eine Empfehlung von Johannes Merkel an einen Augsburger Geschäftsfreund zeigt die Motive für die oft zögerliche Akzeptanz technischen Fortschritts: "Von einer Maschine mit liegendem Kolben werden wir unbedingt abraten, da sie sich in ganz kurzer Zeit unrund auslaufe, Druck verlieren und schnell unbrauchbar wird, wenn eine Maschine von zwei PS gut geht, so beweist dies gar nichts für eine größere."35 Größere Anstrengungen unternahm das Unternehmen auch bei der Erweiterung und effizienteren Ausnutzung der Wasserkraft. Die Geschäftsleitung bemühte sich seit 1845, bei mehreren Reisen ins Elsaß und nach Sachsen detaillierte Kenntnisse über den Bau von Turbinen zu erhalten. Die einfache Bauart und der hohe Ausnutzungseffekt lenkten die Aufmerksamkeit auf den Turbinenbau. Zudem sollte mit einer stärkeren Wasserkraft auch der Einsatz der Dampfmaschine niedrig gehalten werden. Ein intensiver Schrift31 32

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WABW B 44 Aktenbefund Bü 135, 426 - 427, 664, 666 und 1100. Karl Karmarsch und Friedrich Heeren: Technisches Wörterbuch oder Handbuch der Gewerbkunde in alphabetischer Ordnung. Bd. 1. Prag 2 1854. S. 485 f. Ebd. S. 474. WABW B 44 Aktenbefund Bü 684. Schreiben der Firma Merkel & Wolf an F. Merz in Augsburg, Esslingen, den 21. 2. 1844. WABW B 44 Bü 408.

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Wechsel mit der Firma Koechlin im Elsaß, sächsischen und Schweizer Geschäftsfreunden sowie Gespräche mit Konstrukteuren der wegen ihrer Lokomotiven berühmten Maschinenfabrik Esslingen gingen einer Auftragserteilung voraus. Wie schon oft liefen wichtige Informationsstränge über das elsässische Maschinenbauunternehmen Koechlin. Dort hatte der Werkmeister Jonval entscheidende Verbesserungen an der von Henschel in den 1830er Jahren entwickelten Axialturbine vorgenommen. Den Auftrag zum Bau einer Jonval-Turbine erhielt aber 1849 die Esslinger Maschinenfabrik, die bestrebt war, im allgemeinen Maschinenbau zu expandieren, um Konjunkturschwankungen im Eisenbahnbau aufzufangen36. Vorteile bot die unmittelbare räumliche Nähe sowie ein kostengünstiges Angebot37. Der entscheidende Grund für den Auftrag dürfte jedoch ein anderer gewesen sein: Josef Trick, der Chefkonstrukteur der Maschinenfabrik Esslingen, hatte bis 1841 bei Escher Wyss & Cie gearbeitet und sich dabei intensiv mit dem Bau von Wasserturbinen, für die das Unternehmen einen hervorragenden Ruf genoß, beschäftigt. Johannes Merkel und Josef Trick standen in gesellschaftlichem Kontakt, so wird in diesem Fall das persönliche Beziehungs- und Informationsgeflecht besonders evident. Es bildete die Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit38. Die 1850er Jahre zeigen eine interessante Veränderung: Bis Anfang des Jahrzehnts hatten potentielle Investoren Mühe, technische Innovationen aufzuspüren. Weiterführende Hinweise und Empfehlungen, die meist geheim, zumindest aber streng vertraulich behandelt wurden, lieferte ein nationales und internationales Beziehungsgeflecht von Geschäftsfreunden. Wer über solche Beziehungsgeflechte verfügte, konnte durch Einführung technischen Fortschritts nicht zu unterschätzende Wettbewerbsvorteile gewinnen, im nationalen und europäischen Vergleich seinen Technisierungsgrad bestimmen und wissen, mit welchem technischen Know-how die Konkurrenz produzierte, um gegebenenfalls entstehende Wettbewerbsnachteile durch Umrüstung seines Maschinenparks begegnen zu können. Erst in den 1850er 36

37 38

Volker Hentschel: Wirtschaftsgeschichte der Maschinenfabrik Esslingen AG 1846 - 1918. Eine historisch-betriebswirtschaftliche Analyse (Industrielle Welt 22). Stuttgart 1977. S. 52 f. WABW B 44 Aktenbefund 135 und 1100. Vgl. dazu Ludwig Keßler: Aus den Anfängen der Maschinenfabrik Esslingen. Emil Keßler sein Leben und Werk. O. O. 1938. Ferner Frieder Schmidt: Von der Mühle zur Fabrik. Die Geschichte der Papierherstellung in der württembergischen und badischen Frühindustrialisierung (Technik und Arbeit 6). Ubstadt-Weiher 1994. S. 468.

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Jahren wurde der Markt der Maschinenhersteller transparenter, wozu vermehrt einschlägige Publikationen sowie das Messe- und Ausstellungswesen beitrugen. Das Unternehmen unternahm in diesem Zeitraum ebenfalls große Anstrengungen, die technische Fortentwicklung des europäischen Kämmaschinenbaus durch intensive Recherchen genauestens zu verfolgen39. Seit der Entwicklung der Collierschen Maschinen zu Anfang der 1840er Jahre kamen zwischen 1849 und 1855 neue Systeme, vor allem von englischen, französischen, belgischen und sächsischen Herstellern auf den Markt40. Damit kannte Merkel die auf dem Markt verfügbare Technologie. Aber erst mit der Erweiterung der Fabrikanlage Mitte der 1850er Jahre erwog die Geschäftsleitung, das nunmehr 15 Jahre alte Kämmsystem dem technischen Stand der Zeit anzupassen. Englische Kämmproben fanden nicht die Zustimmung des Esslinger Unternehmens. Interessant erschien Merkel das Angebot der Firma Richard Hartmann in Chemnitz. Die dort entwickelten Kämmaschinen sollten anscheinend gröbste und feinste Wollen kämmen können41. Ludwig Kienlin und Johannes Merkel unternahmen 1853 eine Reise nach Sachsen, um selbst einen Eindruck von den Hartmannschen Maschinen zu gewinnen. Ein Kaufabschluß kam jedoch nicht zustande. Die Geschäftsleitung war der Ansicht, für ihre Bedürfnisse eine bessere Technik zu finden, wie es dann die elsässische Maschinenfabrik Schlumberger anbot. Deren Kämmaschine arbeitete nach dem von Heilmann entwickelten System und wurde 1849 zum ersten Mal auf den Markt gebracht. Das Heilmannsche System leistete im Gegensatz zu den vorangegangenen Maschinen das Reinkämmen der Wolle vollkommener und vor allem auch wirtschaftlicher42. Johannes Merkel hatte schon 1849 vermerkt, daß dieses Kämmsystem auf ihn großen Eindruck gemacht habe, jedoch solle erst einmal die Erfahrung zeigen, ob es sich in dauerndem Gebrauch auch bewährt. Erst nach der Aufstellung einer Probemaschine im Esslinger Unternehmen wurde der Auftrag 1856 erteilt. Ähnlich

39 40

41 42

WABW B 44 Aktenbefund Bü 428, 673, 677, 681 und 688. Karl Karmarsch: Handbuch der mechanischen Technologie. Bd. 2. Hannover 4 1867. S. 1311 ff. Otto Johannsen u. a.: Die Geschichte der Textil-Industrie. Leipzig, Stuttgart, Zürich 1932. S. 102 ff. WABW B 44 Aktenbefund Bü 671 - 672, 677 und 681. Schreiben von Merkel & Wolf an Schlumberger & Cie. in Guebwiller i. E., Esslingen, den 26. 12. 1856. WABW B 44 Bü 409. Vgl. dazu auch Johannsen (wie Anm. 40) S. 204 f. Ferner Peter Dudzik: Innovation und Investition. Technische Entwicklung und Unternehmerentscheide in der schweizerischen Baumwollspinnerei 1800 bis 1916. Zürich 1987. S.208 f.

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verlief der Ankauf von Lisseusen, die mit Hilfe von beheizten Dampfzylindern die Wolle glätteten und damit die Streckpassagen reduzierten. 1840 zum ersten Mal bei Solbrig in Chemnitz gebaut, um 1845 von mehreren europäischen Maschinenherstellern angeboten, wurden sie erst Anfang der 1850er Jahre in Esslingen eingesetzt 43 . Wie schon erwähnt, erfolgte die Anschaffung einer zweizylindrigen Expansions-Dampfmaschine mit 50 PS nach Woolfschem System erst zehn Jahre nach dem Ankauf einer technisch veralteten Balancierdampfmaschine 44 . Eigentlich wollte das Unternehmen auch nach direktem Anschluß an das Eisenbahnnetz keine weitere Dampfmaschine in Betrieb nehmen und "... wenn auch mit schwerem Geld, noch eine Wasserkraft zu acquirieren, was uns natürlich viel angenehmer wäre." 45 Die Meinung der Geschäftsleitung war deutlich: nicht die Anschaffungs-, sondern die Betriebskosten galten immer noch als zu hoch. Da eine Erweiterung der Wasserkonzession nicht gelang, fiel die Entscheidung für eine zweite Dampfmaschine. Von Anfang an stand fest, daß nur ein französisches oder belgisches Unternehmen den Auftrag erhalten sollte, da diese mit dem Bau des Woolfschen Systems die längste Erfahrung hatten. Koechlin erhielt den Zuschlag, weil ihre Maschine bei gleicher Solidität wie die Konkurrenz etwas weniger Kohle verbrauchte 46 . Unternahm die Geschäftsleitung bis Ende der 1850er Jahre nur sporadische Reisen, vor allem nach Reims und Paris, ins Elsaß, ins nordfranzösisch-belgische Industrierevier sowie nach Sachsen, so wurde mit Beginn der 1860er Jahre die Reisetätigkeit zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Informationsbeschaffung. Zwischen 1860 und 1870 unternahm Oskar Merkel elf Informationsreisen. Fast scheint es, als sei die Reiseroute genau festgelegt: Sachsen, die Schweiz, das Elsaß, die Gegend von Paris, Nordwestfrankreich, Belgien und das englische Kammwollzentrum. Während der vier bis sechs Wochen dauernden Reisen galt seine Aufmerksamkeit allen Bereichen, insbesondere der Produktion sowie der Absatz- und Preispolitik 47 . Die In43 44

45

46 47

Wie Anm. 37. Vgl. dazu auch Johannsen (wie Anm. 40) S. 129. Schreiben von Merkel & Wolf an M. Kuedewig in Koblenz, Esslingen, den 30. 6. 1854 und Schreiben von Merkel & Wolf an A. Koechlin u. Cie. in Mülhausen i. E , Esslingen, den 22. 3. 1854. WABW B 44 Bü 409. Ferner WABW B 44 Aktenbefund Bü 135. Schreiben von Merkel & Wolf an F. Merz in Augsburg, Esslingen, den 20. 1. 1851. WABW B 44 Bü 409. WABW B 44 Aktenbefiind Bü 684. WABW B 44 Aktenbefiind Bü 733 - 735 und 1100.

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tensivierung der Reisetätigkeit war keineswegs eine Generationenfrage, sondern die Folge der bereits Ende der 1850er Jahre zunehmenden Nachfrage auf den Weltwollmärkten nach überseeischer Wolle, bedingt durch Menge, Preis, Qualität und Gleichförmigkeit der Wollpartien 48 . Diese Verschiebung brachte auch den Markt für Maschinen der Kammgarnproduktion in Bewegung. Die langen Überseewollen erforderten eine andere Behandlung und eigens darauf abgestimmte Maschinensortimente. So benötigte das dafür konstruierte "englische System" für die ersten Streckpassagen vor dem Kämmen Nadelstabstrecken, Gill-Boxes genannt, ferner besondere Kämmaschinen und für den Streckprozeß des Vorgarns sogenannte Flyer 49 . Beschleunigt wurde die Verarbeitung langer Wollen noch durch die in hartem Preiswettbewerb zu kontinentalen Maschinenbaufirmen stehenden englischen Anbieter. Die Auswirkungen des amerikanischen Sezessionskriegs führten bei den unter Auftragsmangel leidenden englischen Textilmaschinenherstellern zu starken Preissenkungen 50 , was auch Merkel & Wolf veranlaßte, die Situation auszunutzen und bereits Anfang der 1860er Jahre Sortimente von englischen Firmen zu bestellen 51 . Das Unternehmen trug damit dem allgemeinen Trend vorausschauend Rechnung, gewann eine Vorlaufzeit, um den Umgang in der Verarbeitung langer Wollen zu erlernen, und war nun in der Lage, sowohl kontinentale als auch überseeische Wolle zu verspinnen. Diese Aktivitäten waren nicht durch die Überlegung ausgelöst worden, technischen Fortschritt einzukaufen, sondern wurden spätestens in den 1870er und 1880er Jahren in der Kammgarnspinnerei, wollte man wettbewerbsfähig bleiben, erzwungen. Mit der frühzeitigen Entscheidimg, zwei Produktionssysteme einzuführen, gelang dem Unternehmen durch niedrige Anschaffungskosten der Maschinen, Ausnutzung von Preisusancen auf den Weltwollmärkten zwischen Kurz- und Langhaarwolle sowie seiner größeren Produkt- und Qualitätsdiversifikation Wettbewerbsvorteile zu erreichen, wodurch über nahezu ein Jahrzehnt erhöhte Gewinne abgeschöpft werden konnten. Das verstärkte Interesse am englischen Maschinenmarkt hielt jedoch nur so lange vor, als der Ankauf englischer Maschinen deutliche finanzielle Vorteile erbrachte und bis die Produktionsabläufe für das Kämmen langer 48 49 50

51

Adolf Reichwein: Die Rohstoffwirtschaft der Erde. Jena 1928. S. 40. Johannsen (wie Anm. 40) S. 112 ff. Gerhard Adelmann: Das Geschäftsklima der deutschen Baumwollindustrie in der Zeit von 1850 bis 1914. In: Gerhard Adelmann. Vom Gewerbe zur Industrie im kontinentalen Nordwesteuropa. Gesammelte Aufsätze zur regionalen Wirtschaftsund Sozialgeschichte (ZUG Beiheft 38). Stuttgart 1986. S. 144. Wie Anm. 24.

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Wollen beherrscht wurden. Sobald die französischen Hersteller, die qualitativ bessere Maschinen lieferten, Sortimente für Langhaarwollen anboten, gingen bei Merkel & Wolf in den 1870er Jahren die englischen Aufträge am gesamten Investitionsvolumen von ca. 50 auf ca. 20 Prozent zurück52. Da es sich zu Beginn der 1860er Jahre abzeichnete, daß es der Stand der Technik nicht erlaubte, in naher Zukunft eine leistungsfähige Kämmaschine für lange und kurze Wollen zu konstruieren, entschloß sich Merkel & Wolf, zukünftig zwei Kämmaschinensysteme aufzustellen. Für die lange Wolle wurden die in England gefertigten und einfach konstruierten Nobelschen Maschinen gekauft53. Für die Verwendung kurzer Wolle entschloß sich die Firma zunächst einmal, Kämmversuche mit unterschiedlichen Fabrikaten durchzuführen, akzeptierte aber wie in den 1840er Jahren die angebotene Technik nur bedingt. Da Merkel & Wolf nach wie vor das Heilmannsche Kämmsystem für das tauglichste hielt, neigte das Unternehmen schon bald zu einer engeren Kooperation mit dem elsässischen Maschinenhersteller Schlumberger. Zum einen hatte die Esslinger Firma mit den 1856 gekauften Schlumbergerschen Peigneusen gute Erfahrungen gemacht. Zum anderen war Schlumberger bereit, Merkel & Wolf an der Weiterentwicklung ihrer Kämmaschine zu einem gewissen Grad mitwirken zu lassen. Dies führte dazu, daß bei Merkel & Wolf zwischen 1863 und 1871 Versuchsmaschinen aus Gebweiler liefen, um das von Schlumberger weiterentwickelte Heilmannsche Kammsystem zu verfeinern. Die umfangreichen Versuchsreihen zogen sich in die Länge; die Schwierigkeiten lagen in der Speisung der Kämmaschine. Dem Briefwechsel zufolge sind viele anhand der Praxis gewonnenen Vorschläge von Oskar Merkel und seinem technischen Personal in die Entwicklung eingeflossen54. 1871 waren die Versuchsreihen abgeschlossen und Anfang 1872 schrieb Oskar Merkel: "Die Sache ist noch Geheimnis und habe Schlumberger mein Ehrenwort geben müssen, niemand davon Mitteilung zu machen."55 Das Beispiel macht deutlich, daß bei der Investition der Peigneusen der Zeitfaktor keine Rolle spielte. Scheinbar bereitete es keine Schwierigkeiten, die alten Kämmaschinen über 15 Jahre auszufahren, ohne Wettbewerbsnachteile hinnehmen oder die Stellung eines Oligopolisten einbüßen zu müssen. Dies wird verständlich, weil die Schlumbergersche

52 53 54 55

Wie Anm. 24. Ebd. WABW B 44 Aktenbefund Bü 64. Schreiben von Oskar Merkel an Frau von Kessler in Esslingen, Esslingen, den 2. 2. 1872. WABW B 44 Bü 64.

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Maschine vor allem Rationalisierungs- und nur geringfügige Qualitätsvorteile erbrachte, so daß Merkel & Wolf mit den alten Maschinen noch weiterproduzieren konnte. Zudem strebten andere Oligopolisten eine ähnlich lange Nutzungsdauer an, Preisabsprachen sicherten zufriedenstellende Gewinnraten. Entscheidend für die Investition war, eine störunanfällige und auf den gesamten Produktionsprozeß annähernd optimal abgestimmte Maschine zu erhalten; die Anschaffungskosten waren während der acht Versuchsjahre nicht Gegenstand der Verhandlungen. Im Gegensatz zur Kämmaschine ist bei Merkel & Wolf gegenüber dem Hightech-Produkt Selfactor eine völlig andere Haltung zu beobachten. Nahezu 20 Jahre zögerte das Unternehmen mit dem Einsatz dieser in der Baumwollindustrie hochgelobten Maschine56. Die Geschäftsleitung wog sehr rational die gepriesenen Lohnkostenvorteile und den höheren Output des automatisch arbeitenden Selbstspinners gegenüber den Nachteilen ab: Hohe Anschaffungskosten, 20 Prozent höherer Energieverbrauch, fast untiberwindbare Schwierigkeiten bei der Abstimmung mit dem vorgeschalteten, bereits vorhandenen Maschinenpark, zudem galten die Seifactoren für feinere Qualitäten in der Kammgarnspinnerei bis in die 1860er Jahre als nicht genügend ausgereift. Entsprechend niedriger war auch der Rationalisierungsgrad. Dazu ein Beispiel: Während durch Einsatz des Selfactors in der württembergischen Baumwollspinnerei die Spindelzahl pro Arbeiter um ca. 14 Prozent erhöht werden konnte, betrug der Zuwachs in der Kammgarnspinnerei nur knapp sechs Prozent57. Somit erschien Merkel & Wolf die Anschaffung der Spinnautomaten weder unter ökonomischen noch unter qualitativen Gesichtspunkten interessant. Erst als eine weiterentwickelte Maschinengeneration auf den Markt kam, nahm das Unternehmen die Seifactoren in sein Investitionsprogramm auf. Es scheint, als hätte die Unternehmensleitung die technische Ausreifung des Selfactors abgewartet und ihn dann in ein umfassendes Investitionskonzept miteingearbeitet: Die Anschaffung von Selfactoren erforderte zum Teil neue Vorspinnmaschinen und größere Antriebsenergie. Die schon seit Anfang der 1860er Jahre angestrebte Erweiterung des Betriebes begann erst um die Mitte des Jahrzehnts, als die Geschäftsleitung bereits erprobten technischen Fortschritt einsetzen konnte, der sich sowohl produktionssteigernd als auch kostensenkend auswirkte58.

56 57 58

WABW B 44 Aktenbefund Bü 135, 703 und 1100. Kollmer-v.Oheimb-Loup (wie Anm. 1) Tabelle 45. WABW B 44 Aktenbefund Bü 505 - 514 und 690 - 708.

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Im Zuge der großangelegten betrieblichen Expansion wurde auch bei den Antriebskräften ein technisches Spitzenprodukt erworben. 1869 gab Merkel & Wolf zwei gekuppelte Ventildampfmaschinen mit einer Leistung von 140 PS bei der Winterthurer Maschinenfabrik Sulzer in Auftrag 59 . Die Entscheidung orientierte sich erneut an ökonomischen Gesichtspunkten. Oskar Merkel kam aufgrund seiner auf vielen Reisen nach England und Belgien gewonnenen Erfahrung zu dem Schluß, daß die Ventildampfmaschine einen wesentlich geringeren Kohleverbrauch und einen hohen Gleichförmigkeitsgrad des Maschinengangs aufwies sowie leicht zu regulieren war. Gerade die Kosten der teuren Kohle gegenüber der billigeren Wasserkraft veranlaßte das Unternehmen von jeher, Dampfkraft nur zögernd einzusetzen 60 . Der Auftrag ging an Sulzer, weil die eingeholten Informationen ergaben, daß die dortigen Ingenieure die größte Erfahrung mit dem Bau von Ventildampfmaschinen besaßen 61 . Fassen wir zusammen: Bereits seit ihrer Gründung bemühte sich die Firma Merkel & Wolf, ein weitverzweigtes Informationsnetz aufzubauen, um den Technologiemarkt für sich transparenter zu machen. Sie beobachtete neueste Technologien und deren Anwendung im Textilmaschinensektor und speicherte möglichst viele Informationen, auf die bei Bedarf - wie beim Ankauf der Vorspinnsortimente zu Anfang der 1840er Jahre - zurückgegriffen werden konnte. Durch einen kontinuierlichen Informationsfluß konnte das Unternehmen die technische Innovation sofort für sich nutzen und wie im Falle der Collierschen Peigneusen oder des "englischen Systems" Wettbewerbsvorteile gewinnen. Zugleich konnte Merkel & Wolf die eigene technologische Standortbestimmung vornehmen und eventuell vorhandene oder zu erwartende Wettbewerbsnachteile mit Hilfe technologischer Nachrüstung korrigieren. Darüber hinaus erhielt das Unternehmen viele Informationen über das Investitions- und damit über das Marktverhalten der Konkurrenz. Merkel & Wolf hat im gesamten Beobachtungszeitraum eine aktive Informationsbeschaffung betrieben und durch eigene Initiative und Kontakte technische Innovationen aufgespürt, Hintergründe, Vor- und Nachteile sondiert und somit eine Annäherung an eine vollkommene Information erreicht. Von grundlegender Bedeutung für eine Investitionsentscheidung ist die Intensität der Informationsgewinnung bzw. der Informationsgrad. Die Geschäftsleitung verfügte über ein ausgedehntes internationales, geschäftliches 59 60 61

WABW B 44 Aktenbefund Bü 697. WABW B 44 Aktenbefimd Bü 700. WABW B 44 Aktenbefund Bü 64.

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und gesellschaftliches Beziehungsgeflecht, wodurch die Gewinnung von Informationen jederzeit aktiviert werden konnte. Sie war bestrebt, die am Maschinenmarkt angebotenen alternativen Techniken in Erfahrung zu bringen, um diese anhand der Kriterien Störunanfälligkeit, erzeugte Produktqualität und Lohn- und Betriebskostenersparnis vergleichen zu können. Die Informationsbeschaffung erfolgte bis zu Beginn der 1860er Jahre überwiegend schriftlich. Bei diesem in der Regel sehr vertraulich behandelten Erfahrungs- und Informationsaustausch spielten der persönliche Kontakt und die Empfehlung Dritter eine wesentliche Rolle. So bildete sich bereits in den 1830er Jahren bei Merkel & Wolf ein internationales Beziehungsgeflecht zwischen Erfindern, Technikern, Maschinenherstellern, Händlern und Unternehmern. Bis 1860 sind nach Filterung der Informationen erst bei gesteigertem Interesse Reiseaktivitäten zu beobachten. Mit zunehmendem Angebot an Hochtechnologie und verstärkter Markttransparenz auf dem Maschinenbausektor gehörte ein jährlich festgelegtes Reiseprogramm zum festen Bestandteil der Informationspolitik. Wie das Beispiel Merkel & Wolf zeigt, ist die Akzeptanz technischen Fortschritts ein komplexes Phänomen. Die Colliersche Peigneuse war im Untersuchungszeitraum die einzige Maschine, die das Unternehmen unmittelbar nach ihrer Entwicklung, wenn auch mit Einschränkungen, akzeptierte und ankaufte. Dafür sind zwei Gründe auszumachen: Zum einen die zur Durchsetzung des Unternehmensziels gewählte Mengenstrategie, mit der eine Steigerung der Produktivität und Qualität korrespondierte, zum anderen die Entscheidung zur Errichtung einer neuen, eigenen Fabrikanlage. Das Unternehmen zeigte gegenüber allen anderen technischen Innovationen eine zögerlich-abwartende oder sogar ablehnende Haltung. Häufig wurde dann zu einem späteren Zeitpunkt die bis dahin oft schon veraltete Technologie erworben, deren Entwicklung über einen längeren Zeitraum verfolgt wurde, wie z. B. im Falle der Woolfschen Dampfmaschine oder der Jonval-Turbine. Andere technische Innovationen wie der Selfactor wurden über Jahrzehnte nicht akzeptiert. An diesem Beispiel wird besonders deutlich, daß das Unternehmen den hohen Kapitaleinsatz der gesamten Investionen ins Verhältnis zum Ertrag setzte. Spätestens seit den 1840er Jahren erfolgten Investitionen in den Produktionsbereichen meist in Sortimenten, da sie infolge der fortschreitenden Technologie oft nicht mehr umgerüstet werden konnten. Die Folgeinvestitionen bestanden auch in Baumaßnahmen und einer Vergrößerung der Antriebskräfte. So mußte bei Akzeptanz bestimmter Innovationen eine hohe Rentabilität erzielt werden können. Damit wird verständlich, daß die Einführung technischen Fortschritts oftmals nur im Rahmen einer unter-

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nehmenspolitischen Gesamtkonzeption Berücksichtigung fmden konnte, wozu kontinuierliche Informationen im langfristigen Zeitablauf wesentliche Impulse und Entscheidungskriterien lieferten: Merkel & Wolf koppelte die Einführung technischer Innovationen mit einer umfassenden Betriebsexpansion Anfang der 1840er, Mitte der 1850er und Ende der 1860er Jahre. In diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, daß bei Merkel & Wolf die seit den 1850er Jahren erreichte Marktposition eines Oligopolisten sich eher akzeptanzverzögernd auswirkte, da Gewinne durch Preisabsprachen geregelt wurden. So konnten durch lange Investitionsintervalle von 10 bis 15 Jahren mit geringem Kapitaleinsatz hohe Gewinne erwirtschaftet werden. Bei nahezu allen Investitionen ist zu beobachten, daß die Forderung nach der Erprobung und Bewährung sowie die erreichte Produktqualität, in manchen Fällen auch die Betriebskostenersparnis, im Vordergrund standen.

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Vernachlässigter Fortschritt? Schwankende Akzeptanz technischer Innovationen durch Unternehmer. VON HANSJOACHIM HENNING

Daß deutsche Unternehmer im sekundären Wirtschaftssektor gegenüber dem technischen Fortschritt, der ihnen als branchenspezifische Basis- und Verbesserungsinnovationen1 bekannt wurde, positiv eingestellt waren, läßt sich zunächst an der Existenz der Finnen und erst recht an ihrem geschäftlichen Erfolg ablesen, wie er immer wieder eindringlich beschrieben worden ist2. Gab es aber nicht auch Unternehmen, deren Eigentümer oder Leistungsebenen den technischen Fortschritt für ihre Betriebsstätten nur zögerlich oder auch letztlich für ihr Verbleiben im Markt zu spät akzeptierten - mit einem Wort: an ihm resp. an seiner mangelnden Akzeptanz scheiterten? Wenige Stimmen in der Forschung weisen darauf hin, daß technischer Fortschritt in einigen Branchen während der deutschen Industrialisierung vernachlässigt und die entsprechende Produktionsweise gegenüber den in Westeuropa bereits gebräuchlichen Methoden rückständig wurde3. Wenn auch dieser Abstand in der Regel aufgeholt werden konnte, gab es gleichwohl Anzeichen, daß Unternehmer im industriell-gewerblichen Sektor gescheitert sind4. Meist 1

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3 4

Die Begriffe nach Ralf SCHAUMANN, Technik und technischer Fortschritt im Industrialisierungsprozeß, dargestellt am Beispiel der Papier-, Zucker- und chemischen Industrie der nördlichen Rheinlande. Rheinisches Archiv Bd. 101, Bonn 1977, S. 27ff. So kennt die umfangreiche Geschichte der Industrialisierung in Deutschland von Lutz Graf SCHWERIN VON KORSIGK, Die große Zeit des Feuers, 3 Bde., Tübingen 1957ff., keine gescheiterten Firmen, und Walter G. HOFFMANN u.a., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 1965, enthält nicht einmal eine Konkursstatistik. Vgl. David S. LANDES, Der entfesselte Prometheus. Studienausgabe Köln 1973, S. 168, 170. Vgl. Dieter GESSNER, Frühindustrielle Unternehmer im Rhein-Main-Raum (17801865). - Großhandel und Handwerk als Träger der regionalen Industrialisierung. 301

bleibt aber nicht oder doch nicht hinreichend geklärt, ob und ggf. welche Rolle die Haltung der Unternehmer zum technischen Fortschritt beim Scheitern gespielt hat, wenn sie denn Uberhaupt aus dem möglichen Motivgemenge isoliert werden kann. Ihr nachzuspüren sei Aufgabe des folgenden Berichts. Er kann keine hinreichende Lösung anbieten; zu begrenzt sind die verfügbaren Vorarbeiten. In ihnen wird der Ursprung mit dem technischen Fortschritt eben nur im Zusammenhang mit mehreren Faktoren erörtert, die Unternehmen aus dem Markt ausscheiden ließen5. Auch ist die Quellenlage in der Regel nur für jene Unternehmen hinreichend dicht, die - allein oder schließlich fusioniert - über eine lange Zeit und über technische Umbrüche hinweg im Markt blieben; ein Umstand, der auf ihre Innovationsfähigkeit schließen läßt. Selbst ein Blick in die Konkursstatistik hilft nicht viel weiter. Er bestätigt, daß z.B. während zweier Jahrzehnte aufsteigender Konjunktur im sekundären Sektor als dem vom technischen Fortschritt am stärksten berührten Wirtschaftsbereich sich Firmen nicht im Markt halten konnten 6 . Da die Statistik aber nach zivilrechtlichen Aspekten gegliedert ist, können Gründe, die zum Zusammenbruch von Unternehmen führten 7 , nicht ohne ergänzende Quellen ermittelt werden. Gerade auf solche zusätzlichen, in der Regel qualitativen Informationen muß aber bei der erstrebten Aufhellung des Unternehmerverhaltens gegenüber dem technischen Fortschritt besonderer Wert gelegt werden, denn seine zögerliche Akzeptanz mag nicht nur in den ökonomischen Rahmenbedingungen, sondern auch in der Person des Unternehmers und seinen Unternehmenszielen begründet gewesen sein. Aussagen über Differenzierung und Gewichtung der personbezogenen Entscheidungsprozesse bei einem Unternehmer - mehrgliedrige Unternehmensleitungen

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ScrM 28, 1994, S. 121; Hubert KIESEWETTER, Europas Industrialisierung - Zufall oder Notwendigkeit? VSWG 80, 1993, S. 56. Vgl. z.B. Gerhard HAHN, Ursachen von Unternehmensmißerfolgen. Ergebnisse von Untersuchungen im rheinischen Industriebezirk. Köln 1958, Tab. IV. Statistische Jahrbücher des Deutschen Reiches 1891 - 1908, Berlin 1 8 9 2 - 1910; vgl. Anlage la. Vgl die intensive Diskussion dieser problematischen Quellenlage bei Friedhelm Gehrmann, Konkurse im Industrialisierungsprozeß Deutschlands 1810 - 1913. Diss. Münster 1973, S. 8, 79 passim. Wegen der begrenzten Aussagefähigkeit der Konkursstatistik zu strukturbedingten Unternehmenszusammenbrüchen, die Gehrmann eindringlich darlegt (S. 35), stellt er die Frage nach betriebswirtschaftlichen Ursachen und damit auch nach der Rezeption des technischen Fortschritts bewußt nicht (S. 24) und konzentriert sich auf die Mobilisierung volkswirtschaftlicher Daten.

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reagierten in der Regel auf Erfordernisse des technischen Fortschritts schneller8 - wären notwendig. Um sie zu gewinnen, werden zwei Wege als Skizze angeboten, auf denen man sich dem angestrebten Ziel wenigstens für Einzel- bzw. Familienunternehmen und Personengesellschaften nähern könnte. Zunächst seien einige Fälle unternehmerischen Scheiterns so beschrieben, daß unter technischem Fortschritt der Einsatz von Innovationen in ihren wichtigsten Formen und eine ablehnende Haltung gegen ihn bis hin zum Ausscheiden des Unternehmens aus dem Markt verstanden wird. Gesucht wird also nach Willensoder Fähigkeitsbarrieren, die eine Änderung der Faktorkombination zugunsten eines optimierten Betriebsergebnisses nicht entstehen ließen. Anschließend sei gefragt, ob nicht das Ausmaß der Diffusion, das für einige Branchen schon beispielhaft untersucht ist9, Hinweise auf die Gründe unternehmerischen Verhaltens gegenüber dem technischen Fortschritt enthält. Zeitlich konzentriert sich der zuletzt genannte Zugriff auf das 19. Jahrhundert, während einige der beschriebenen Fälle auch aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewählt wurden; sie sollen in annähernd chronologischer Reihenfolge, die freilich den Branchenzusammenhang berücksichtigt, vorgestellt werden. Ein Resümee soll fragen, ob im Konflikt zwischen herkömmlichen Verfahren und technischem Fortschritt eine zögerliche Akzeptanz des letzteren eventuell eine Rationalität eigener Art 10 besaß und nicht nur als Verharren in Rückständigkeit angesehen werden sollte.

I. Zwischen 1845 und 1855 verschwand das fast 130 Jahre alte führende Krefelder Seidenhaus von der Leyen - und mit ihm übrigens alle kleineren, aber ähnlich strukturierten Häuser - aus dem Markt; beide Firmen des Ge-

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9 10

Vgl. Hans-Jürgen TEUTEBERG, Westfälische Textilunternehmer in der Industrialisierung. Sozialer Status und betriebliches Verhalten im 19. Jahrhundert. Vortragsreihe der Gesellschaft fllr westfälische Wirtschaftsgeschichte Heft 24, Dortmund 1980, S. 53. TEUTEBERGS Hinweis auf Unternehmensmißerfolge füllt gerade zwei Sätze mit dem Hinweis auf die schwierige Quellenlage; vgl. ebd. S. 52. Vgl. Anm. 1. Vgl. Uta BETZOLD, Zur Rationalität der Verweigerung der Steinkohlenfeuerung in den westlichen preußischen Provinzen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. ScrM 17,1983; Heft 2, S. 46. 303

samthauses liquidierten11. Die Gründe für das Scheitern dieser traditionsreichen Firma, deren Inhaber zu den ökonomischen und politischen Meinungsführern ihrer Vaterstadt gezählt hatten, lagen nicht nur in der eingeführten Gewerbefreiheit und der mit ihr verbundenen Konkurrenz. Damit hatte das Haus von der Leyen zumindest in einem Teil seines Geschäftsbereichs schon länger leben müssen. Denn wohl war unter den geringen Spuren des preußischen Merkantilismus, die die westlichen Besitzungen dieses Staates erreicht hatten, die Produktion der Seidenstoffe in allen ihren Stufen monopolartig für von der Leyen geschützt worden, nicht aber der Absatz12. Ihn hatte sich das Unternehmen immer gegen zahlreiche Mitbewerber erkämpfen müssen; sogar in den preußischen Kernlanden waren die Krefelder Seidenwaren als ausländische Erzeugnisse behandelt worden13. Im Absatz hatte von der Leyen also schon früh die Konkurrenz kennengelernt. Diese Situation hatte sich unter der französischen Herrschaft nicht grundsätzlich geändert. Einen Aufschwung hatte das Unternehmen zwar nicht genommen, wohl aber hatte seine Stagnation auf einem hohen Niveau verharrt14; eine im Textilgewerbe jener Zeit nicht ungewöhnliche Situation, von der nur die Produktion von Baumwollgewebe ausgenommen war 15 . Der Verlust der Privilegien hatte das Haus keineswegs in Turbulenzen gebracht. Auch die Unternehmensstruktur war bis dahin den Absatzbedingungen angemessen. Als dezentralisierte Manufaktur16 blieben die Rohstofflieferungen sowie die Anfangs- und Endstufen der Produktion im Unternehmen zentralisiert, während die Zwischenstufen durch das Verlagssystem ausgeführt wurden. Da die von der Leyen den bei ihnen verlegten Zwischenmei-

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Vgl. Wilhelm KURSCHAT, Das Haus Friedrich & Heinrich von der Leyen in Krefeld. Frankfurt/Main 1933, S. 95. Vgl. Hans POHL, Unternehmerprofile in Seidengewerbe und Seidenhandel im 18. Jahrhundert. In: Marlene NIKOLAY-PANTER u.a. (Hrsg.), Geschichtliche Landeskunde der Rheinlande. Regionale Befunde und raumgreifende Perspektiven. Georg Droege zum Gedenken. Köln, Weimar, Wien 1994, S. 347. Vgl. Herbert KISCH, Preußischer Merkantilismus und der Aufstieg der Krefelder Seidenindustrie: Variationen über ein Thema des 18. Jahrhunderts. In: Krefelder Studien, Bd. 1, Krefeld 1973, S. 116.

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V g l . KURSCHAT a.a.O. S. 9 0 .

15

Vgl. Franfois-G. DREYFUS, Die deutsche Wirtschaft um 1815. In: Helmut BERDING u.a. (Hrsg.), Deutschland zwischen Revolution und Restauration. Königstein 1981, S. 370. Vgl. Karl Heinrich KAUFHOLD, Gewerbelandschaften in der frühen Neuzeit (1650-1800). In: Hans POHL (Hrsg.), Gewerbe- und Industrielandschaften vom Spätmittelalter bis ins 20. Jh., VSWG Beiheft 78, Stuttgart 1986, S. 154.

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Stern die Produktionsmittel wie z.B. die Webstühle bereitstellten17, band diese Unternehmensstruktur ein beträchtliches Kapital. Nur schwer waren Teile davon für Innovationen freizumachen, ohne den Produktionsablauf zu stören. Da außerdem das Haus von der Leyen aus patriarchalischer Haltung gegenüber den von ihm Abhängigen Wert darauf legte, diese in Lohn und Brot zu halten18, war es von der Kostenseite bei einer evtl. notwendigen Umstellung auf neue Produktionsstrukturen äußerst unbeweglich. Sich neu zu orientieren wäre durchaus erforderlich gewesen, da jüngere Unternehmen sich ab etwa 1820 nach den Leitgedanken der Arbeitsteilung auf einzelne Produktionsstufen zu spezialisieren begannen und unter Nutzung fortgeschrittener technischer Methoden kostengünstig produzieren konnten. Zu einer solchen durchgreifenden Wandlung fehlte aber in der Familie zu dieser Zeit offenbar der unternehmerische Leistungswille. Die Kenntnis der veränderten Absatzmärkte und der Modetrends ließ nach, und eine Rationalisierung im Unternehmen als elastische Reaktion auf die gewandelten Produktions- und Marktbedingungen wurde für nicht erforderlich gehalten19. Schließlich differenzierte sich innerhalb des Gesamthauses die Interessenlage: der inzwischen nobilitierte Zweig der Familie, Friedrich von der Leyen, wandte sich agrarischen Unternehmen zu, während der Zweig Conrad von der Leyen noch im Seidengeschäft verblieb, ohne ihm jedoch neue Impulse zu geben. Die produktionstechnische Organisation der Firma blieb auf dem Stand, den die Gründergeneration ihr gegeben hatte. Mit der daraus resultierenden hohen Kostenbelastung verlor die Firma ihre Innovations- und mittelfristig ihre Konkurrenzfähigkeit. Weitaus weniger detaillierte Informationen liegen über eine andere Form des Umgangs mit technischem Fortschritt vor, die sich ebenfalls während der gleichen Jahre und dann bis zur Jahrhundertwende wiederholt in der Textilbranche beobachten läßt. Mitte der 1840er Jahren hatten Viersener Seidenfabrikanten, bei denen sich hohe Erträge aus ihrer eigenen Branche angesammelt hatten, dieses Kapital nicht in das Seidengewerbe, sondern in die mechanisierte Baumwollspinnerei in Gladbach investiert20. Als 1847 die Aufnahmefähigkeit des deutschen Marktes für Baumwollgarne stark sank,

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19 20

V g l . KURSCHAT a.a.O. S. 9 4 . V g l . KURSCHAT a.a.O. S. 87.

Vgl. POHL, Unternehmensprofile a.a.O. S. 345; KURSCHAT a.a.O. S. 93f. Vgl. Jochem ULRICH, Soziale Entwicklungen im industriellen Umbruch: Die Anpassungskrise in der niederrheinischen Textilindustrie, dargestellt am Gebiet der heutigen Stadt Viersen 1 8 9 0 - 1 9 1 3 . Diss MS Duisburg 1984. S. 62f.

305

zogen sie ihr Kapital zurück und beteiligten sich nicht an dem technischen Innovationsschub, mit dem ihre Gladbacher Kollegen die Krise zu meistern suchten. Ähnlich verhielten sich zahlreiche Seidenfabrikanten am linken Niederrhein, als 1875/76 die ersten serienreifen mechanischen Webstühle hätten aufgestellt werden können. Mit Ausnahme einer Lobbericher Firma lehnten sie den Einsatz dieser technischen Innovation ab und ließen das wagemutige Unternehmen über Jahre hinweg zum führenden Samthersteller werden.21 Ein vergleichbares Verhalten demonstrierten Seidenfabrikanten im ländlichen Raum südlich und südwestlich Krefelds, als Anfang der 1890er Jahre die Stück- an die Stelle der Strangfärberei trat. Der mit dieser Innovation verbundene finanzielle Aufwand war hoch und das Verfahren technisch anspruchsvoll. Eben dies hinderte offenbar die genannten Seidenfabrikanten daran, das neue Verfahren einzuführen. Sie überließen dieses Wagnis den Krefelder Seidenveredlern22, die auf diese Weise für das Stückfärben auf Jahre hinaus fast ein Monopol erhielten. Nun schieden keineswegs alle diese investitions- und wagnisscheuen Unternehmen aus dem Markt aus. Aber daß sie den technischen Fortschritt vernachlässigten, schlug sich bei ihnen in höheren Produktionskosten nieder. Sie suchten sich dieses Kostendrucks wenigstens zum Teil durch eine restriktive Lohngestaltung zu entledigen und wurden dadurch für Streiks sehr anfällig23. Daneben war zu beobachten, daß sich alte, angesehene Firmen aus dem Markt zurückzogen, weil sie es nicht oder nicht mehr verstanden, mit dem Einsatz technischer Innovationen z.B. konjunkturellen Schwierigkeiten zu begegnen24. Sie fallierten nicht, sondern schlössen in offenkundiger Resignation ihre Betriebe oder suchten sie durch Fusionierung mit einem im Management leistungsfähigeren Unternehmen fortführen zu lassen. So übernahm z.B. 1905 die Elberfelder Firma Schniewind die Rheinische Seidenweberei AG vormals Schiffer & Harmers in Viersen, und zwei Jahre vorher hatte die Firma Kreuels und Better, die die mechanische Samtweberei im Kreis Viersen eingeführt hatte, ihre Tore geschlossen25. Aus diesem Anlaß hieß es in der "Viersener Volkszeitung": "... man kann es den reichen Inhabern nicht verdenken, daß sie der Opfer müde

21 22 23

2 4

25

Vgl. ULRICH a.a.O. S. 81, Anm.241. Vgl. ebd. S. 144, Anm. 412. Vgl. Hansjoachim HENNING, Die christlichen Gewerkschaften und die Arbeiterschaft im agrarischen Umfeld 1895 - 1914. Erscheint demnächst in RhVjb. V g l . ULRICH a . a . O . S. 1 8 0 , 3 2 2 .

Vgl. ebd. S. 322, Anm. 948.

306

geworden sind, die diese notleidende Industrie infolge der hohen Schutzzölle der Außenländer erforderte." 26 Die Beispiele zeigen, wie zurückhaltend die Seidenindustrie sich dem technischen Fortschritt näherte. Denkbar wäre es, daß solche Vorsicht den spezifischen Erfahrungen in der Seidenindustrie entsprach; diese Branche war sehr von der Mode abhängig und erlebte dadurch erhebliche konjunkturelle Schwankungen 27 . Da schien es nicht ratsam, umfangreiches Kapital in erst langfristig rentierlichen Investitionen festzulegen. Positionssicherung rangierte vor bahnbrechendem technischen Fortschritt28, und offenbar waren bei einem Luxusprodukt die Gewinne der Unternehmer auch bei alten Verfahren noch hoch genug, um sich ohne persönliche Einbußen aus dem Markt zurückziehen oder in eine Fusion retten zu können. Beide Motive bewogen wohl gerade ältere Unternehmen, mit geringer geistiger Wendigkeit dem technischen Fortschritt zu begegnen und damit gegen ihn Willensbarrieren aufzubauen. Gerade die Tatsache, daß sie die Ergebnisse innovativerer Unternehmen abwarteten, wies auf eine nur schwache Neigung hin, sich neuen Wagnissen zu stellen, solange die Betriebe noch hinreichend Gewinne abwarfen. Jedoch war diese Haltung nicht nur im Seidengewerbe zu finden; sie existierte auch in der Silberwarenbranche. Im württembergischen Geislingen hatte seit 1852 durch die Herstellung von silberplatierten oder kupferbronzierten Kaffee- und Teegeräten, Tafelgeräten, Beleuchtungsartikel und Kirchengeräten die Firma Straub & Schweizer, seit 1866 Straub & Sohn, eine beträchtliche Stellung am Markt gewonnen 29 . Die Produktpalette war ständig vergrößert worden und hatte sich über drei Jahrzehnte gut im In- und Ausland absetzen lassen. Dann brach der Absatz 1878/79 wohl als Spätfolge der Gründerkrise und als Reaktion auf die nunmehr am Schutzzoll orientierte deutsche Wirtschaftspolitik zusammen 30 , und das an sich hochrentable Un26 27

28

29

30

Viersener Volkszeitung Nr. 207 vom 11. September 1903. Vgl. z.B. den Bericht des Oberbürgermeisters von Krefeld an den Regierungspräsidenten in Düsseldorf vom 15. Mai 1908 über die Lage der Samt- und Seidenindustrie im Jahre 1907. Stadtarchiv Krefeld 4/116 fol. 39. Vgl. Jürgen BROCKSTEDT, Family Enterprise and the Rise of Large-Scale Enterprises in Germany (1871 - 1914). - Ownership and Management. In: Akio OKOCHI, Shigeaki YASUOKA (eds,), Family Business in the Era of Industrial Growth. Tokyo 1984, S. 260. Vgl. Volker HECHT, Die Württembergische Metallwarenfabrik, Geislingen/Steige, 1853 - 1945. - Eine historische Unternehmensanalyse. Diss. MS Hohenheim 1994, S. 17. V g l . ebd. S. 4 5 f .

307

ternehmen mußte sich in eine Fusion mit der 1871 gegründeten und in Esslingen produzierenden Silberbesteckfabrik A. Ritter & Co. flüchten. Nun erwies sich, daß Straub & Sohn in Zeiten guter Ertragslage den technischen Fortschritt in ihrer Branche völlig vernachlässigt hatten. Ihr Versilberungsverfahren war von der Galvanotechnik überholt, die Produktionsanlagen waren nicht erneuert worden; ein Anpassungsversuch kam zu spät31. Bei der Antriebsenergie hatte man an der preiswerten Wasserkraft festgehalten, die die Installation einer aufwendigen Dampfkesselanlage erübrigte. Offenbar konnte der in den Krisenjahren der deutschen Volkswirtschaft einsetzende Preisverfall infolge der schlechten technischen Ausstattung nicht durch sinkende Stückkosten aufgefangen werden, obwohl sich die Arbeiterschaft "mit geringem Verdienst begnügte". So blieb nur die Fusion mit einem technisch leistungsstärkeren Partner, aus der die heutige WMF hervorging. Auch in diesem Falle hatte eine Palette von Luxusprodukten, die auf eine stabile Käufergruppe traf, jahrelang eine günstige Erlössituation geschaffen, die technische Innovationen als Entlastung der Kostenseite nicht ins Blickfeld der Unternehmer treten ließ. Wie im Seidengeschäft hatten offenbar auch in diesem Falle eine Scheu vor technischem Fortschritt und nicht zuletzt die durch die einseitige Orientierung am Gewinn verminderte Einsicht in die Notwendigkeit, technische Innovationen einzuführen, das Unternehmen scheitern zu lassen. Eine solche Kurzsichtigkeit in der Bewertung des technischen Fortschritts war bis etwa 1914 in einer weiteren Branche zu beobachten, die zwar keine Luxuswaren, wohl aber eine Massenware für den Konsumbereich produzierte und deshalb ebenfalls auf einen stabilen Käuferstamm zählen konnte: in der Margarinefabrikation. Sie war - selbst ein Produkt naturwissenschaftlicher-technischer Innovation - seit 1874 in Deutschland gelegentlich als Klein- und höchstens als Mittelbetriebe entstanden32, bis nach 1890 niederländische Produzenten kapital- und leistungsstarke Firmen im westlichen Reichsgebiet gründeten, um den Zollschutz für Speisefette zu unterlaufen. Etwa ein Jahrzehnt nach der Konsolidierung dieser Firmen setzte ein Verdrängungsprozeß ein, dem viele Klein-, aber auch bisher am Markt erfolgreiche Mittelbetriebe zum Opfer fielen; sie wurden meist von Jürgens & Printzen in Goch und von van den Bergh in Kleve übernommen33. Etwa gleichzeitig orientierte sich die Margarineherstellung von tierischen auf pflanzliche 31

Vgl. HECHT a.a.O. S. 41,43f.

32

V g l . SCHWERIN v . KROSIGK a.a.O. B d . III, S. 313.

33

Vgl. ebd. S. 314, 316.

308

Rohstoffe um; noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges war dieser Prozeß abgeschlossen. Die erforderliche Umstellung des Produktionsablaufs wurde - wie Einzeluntersuchungen zeigen34 - zu technischer Innovation genutzt, die von der Neugestaltung der Misch- und Kühlaggregate bis in das Vorfeld einer teilautomatisierten Verpackung und eines breiten Vertriebsnetzes reichte. Es muß offen bleiben, ob die kleineren Produzenten diesem Innovationsprozeß nicht folgen konnten oder nicht folgen wollten. Da jedoch der Konzentrationsprozeß zwar schon vor dem technischen Innovationsschub einsetzte, aber erst nach der Umorientierung an Breite gewann, kann vermutet werden, daß kleinere Produzenten solange im Markt blieben, wie sie Gewinn erwirtschafteten und danach für das eigene Vermögen vorteilhafte Übernahmeangebote akzeptierten. Aus der Sicht der betroffenen Unternehmer war dies plausibel. Da sich Margarine in den städtischen Ballungszentren gut verkaufte, konnte sie bis zur Ertragsreife des technischen Fortschritts bei den großen Firmen durchaus noch mit Gewinn durch die alten Strukturen produziert und abgesetzt werden, ohne die Gewinne den Risiken des technischen Fortschritts auszusetzen. Gewinnorientierung und Risikoscheu konnten bei einem Massengut des unelastischen Bedarfs offenbar solange gut zusammengehen, wie der technische Fortschritt die Konkurrenz nicht übermächtig werden ließ. Wer dann im Markt scheiterte, mußte keineswegs mit seiner privaten Vermögensbildung gescheitert sein. Daß ein solcher Rückzug vor dem technischen Fortschritt für kleine und mittlere Produzenten keineswegs zwangsläufig war, zeigte sich in dem freien Verband deutscher Margarinefabrikanten, der zwischen 1925 und 1929 aus einer vergleichbaren Situation entstand und sich gegen die Marktgiganten wie van den Bergh oder Jürgens & Printzen behauptete35. Die Neigung, bei guter Ertragslage die Absatzchancen am Markt zu nutzen, ohne für die Aufnahme des technischen Fortschritts im eigenen Unternehmen wenigstens eine mittelfristige Strategie zu entwickeln, fand sich auch in anderen Bereichen der Lebensmittelindustrie. So hatte z.B. die Großbäckerei XOX in Kleve ihr Feingebäck bis weit in das Jahr 1930 hinein ungeschmälert verkaufen können; die Produktion mußte nicht einmal eingeschränkt werden. Durch die krisenhaft zugespitzte Wirtschaftslage in Deutschland während des Winters 1930/31 brach der Absatz schlagartig

34

Vgl. Hansjoachim HENNING, Die Stadt als Wirtschaftsraum. In: Ders. (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte der Stadt Kleve im 20. Jahrhundert. Klever Archiv 12, Kleve 1991, S. 158, 168.

35

V g l . SCHWERIN v . KROSIGK a.a.O. S. 3 1 7 .

309

zusammen. Die Besitzer wollten das Unternehmen aufgeben, da sie wegen der hohen Produktionskosten - sie hatten die mit Gas betriebenen Backöfen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg nicht erneuert - dem Markt über den Preis nicht entgegenkommen konnten. Erst der drastisch vorgetragene Rat eines Inspektors des Gewerbeaufsichtsamtes, endlich einmal energie- und damit kostensparende moderne Öfen einzusetzen, machte die Inhaber auf notwendig gewordene Innovationen aufmerksam. Sie folgten dem Rat36, und das Unternehmen blieb noch über drei Jahrzehnte im Markt. Bemerkenswert ist, daß in diesem Falle die Investition sogar erst von außen angestoßen werden mußte. Es spricht wohl kaum für unternehmerische Weitsicht, wenn die für Betriebssicherheit zuständige Behörde durch die von ihr geforderte Übernahme des technischen Fortschritts zugleich die Konkurrenzfähigkeit des Unternehmens wiederherstellte. Mit weitsichtigen unternehmerischen Entscheidungen fühlten sich die Inhaber offenbar überfordert. Wohl auch sahen sie sich ihrer enthoben, solange das Unternehmen mit den überkommenen Produktionsanlagen florierte. Willens- und Fähigkeitsbarrieren37 gegenüber dem technischen Fortschritt fielen hier zusammen. Ein völlig anderes Verhalten gegenüber dem technischen Fortschritt erwies sich an einem Unternehmen der Schuhindustrie in Kleve. Dort gründete Fritz Pannier, der zwischen 1897 und 1908 mit seinem Schwager Gustav Hoffmann gemeinsam eine Kinderschuhfabrik betrieben hatte, ein eigenes Unternehmen, das nicht lediglich kindgerechte, sondern dem orthopädischen Wachstum des Kinderfußes angemessene Schuhe produzieren sollte. Dieses Unternehmensziel entstand nicht so sehr aus dem Aufspüren einer Marktltlkke als vielmehr aus dem Interesse des Inhabers an den Fortschritten in der Orthopädie, über die er sich intensiv zu informieren suchte. Indem er die gewonnenen wissenschaftlichen Informationen in Produkte umsetzte, schuf er ohne Zweifel Innovationen und realisierte auf diese Weise technischen Fortschritt. Da aber andere technisch innovative Faktoren zur Produktivitätserhöhung vernachlässigt wurden - in der Produktion konnten nur für wenige Vorgänge Maschinen eingesetzt werden - , blieben die Stückkosten hoch und der Unternehmenserfolg sehr begrenzt. Zu Beginn der 1960er Jahre schied das Unternehmen aus dem Markt; nachdem ein Versuch, den Betrieb im Jahre 1934 in eine Region mit niedrigeren Löhnen zu verlagern, mit eige-

36 37

Vgl. HENNING, Wirtschaftsraum a.a.O. S. 176,189. Zu den Begriffen vgl. Klaus BROCKHOFF, Art. Technischer Fortschritt II: im Betrieb. HdWW 7, S. 585.

310

nen finanziellen Mitteln schon nicht mehr durchgeführt werden konnte und daher erfolglos geblieben war 38 . Es gab also jene Unternehmer, die den technischen Fortschritt entweder vernachlässigten oder seine Aufnahme verzögerten. Sie scheiterten in ihrer Funktion, indem sie - in der Regel mittelfristig - aus dem Markt ausschieden. Entweder hielten sie zu lange an der überkommenen Faktorkombination für die Produktivität ihrer Unternehmen fest und bemerkten nicht, daß der größtmögliche Output längst nicht mehr mit minimierbarem Input zu erreichen war, oder sie ließen sich durch die gute Ertragslage nach der alten Faktorkombination über die Notwendigkeit von Innovationen täuschen. Die einzelnen Beispiele zeigten, daß besonders bei der Produktion von Luxusoder Massenwaren für den kurzfristigen Konsum infolge guter Erlössituation sich Willens- und Fähigkeitsbarrieren gegen den technischen Fortschritt aufbauten. Präsentierten sich bis jetzt eher Einzelfälle, die sich aus den Sonderbedingungen der Produktion für einen langfristig abnahmefähigen Kundenstamm oder für eine kontinuierliche Bedarfsdeckung ergaben?

II. Ein solcher Verdacht könnte sich zumindest insofern regen, als Deutschland im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts den technologischen Vorsprung Englands und Belgiens aufgeholt hatte und eine solche Leistung nicht aus einer technologiefeindlichen Haltung resultieren konnte. Ein nur kurzer Blick in die Konkursstatistik bestätigt die Vermutung für die Dauer von zwei Jahrzehnten, für deren wirtschaftlichen Verlauf allerdings die aufsteigende Konjunktur zu berücksichtigen ist. Der Anteil der Unternehmensmißerfolge ging in jenen Branchen des sekundären Wirtschaftssektors, deren Produkte unmittelbar vom Industrialisierungsprozeß berührt wurden oder ihn als Vorprodukte begleiteten, stärker als im gesamten sekundären Sektor zurück und bildete im Vergleich mit den Konkursen in allen Sektoren nur noch eine Randerscheinung39. An Beispielen wird zu prüfen sein, wie Unternehmer in solchen Branchen dem technischen Fortschritt in einigen Produktionsabschnitten begegneten. Als solche Abschnitte bieten sich die Verwendung

38

39

Vgl. HENNING, Wirtschaftsraum a.a.O. S. 153, 177f. - Zum gesamten Vorgang siehe auch Heinz TODTMANN, Großes Werk für kleine Füße. o.O.o.J. (1958). Vgl. Anlage 1 b.

311

von Antriebsenergie und die Produktionssteigerung an, da sich in ihnen der Mechanisierungsprozeß mit seinem technischen Innovationsforderungen und ihren ökonomischen Folgen früh bemerkbar machen mußte. Die Suche soll in erster Linie den Basisinnovationen und nur in Ausnahmefällen den Verbesserungsinnovationen gelten, von denen ohnehin angenommen wird, daß sie nach 1860 eher unregelmäßig erfolgten und durch Konkurrenzsituationen oder durch Veränderungen im Preisgefüge induziert wurden40. Zu den Abschnitten, in denen nachhaltig an alten Verfahren festgehalten wurde, gehörte der Einsatz von Antriebsenergie. Obwohl etwa in der rheinischen Papierindustrie die Dampfkraft über Dampfkessel zum Heizen, aber auch zum Kochen von Lumpen und Leim verwendet wurde, konnte sie als Antriebsenergie für die inzwischen eingeführte Papiermaschine die Wasserkraft trotz deren saisonalen Unregelmäßigkeiten nicht ersetzen41. Gleiches läßt sich für die sächsische Baumwollindustrie bis etwa 1870 feststellen42, die wegen der beibehaltenen Antriebe über Wasserkraft auch die folgenden Produktionsstufen wenig oder gar nicht modernisierte. Auch in der Pulverindustrie wurden die Stampf-, Zerkleinerungs- und Mengwerke bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Wasserkraft angetrieben43, und genauso wurde mit den Poch-, Stanz-, Press- und Schleifwerken in der Silberwaren- und Kleineisenindustrie verfahren44. Der Grund dafür war für die Unternehmer überzeugend. Der Betrieb mit Wasserkraft war bedeutend kostengünstiger als der Einsatz der Dampfkraft, für deren Installation beträchtlicher Raum bereitgestellt werden mußte, deren Mechanik hohe Investitionskosten und deren Energieträger Transportkosten verursachten. Außerdem zwang die Antriebsart mit mineralischen Stoffen zu einer Rationalisierung der nachfolgenden Produktionsstufen, wenn die höhere Energie rentabel genutzt werden sollte. Dadurch steigerten sich die Investitionskosten erheblich, und in den Anfangsjahren der Industrialisierung konnten nur wenige Betriebe diese Kosten aufbringen. Meist wurden neue Antriebsarten und die mit ihnen verbundenen technischen Innovationen erst dann eingeführt, wenn - wie z.B. in der Eisenindustrie der Zwang zur Brennstoffersparnis45 - ökonomisch relevante Daten es erforderten.

40

41 42 43 44 45

Vgl. SCHAUMANN a.a.O. S. 221.

Vgl. SCHAUMANN a.a.O. S. 244,265. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

312

LANDES a.a.O. S. 162. SCHAUMANN a.a.O. S. 255. HECHT a.a.O. S. 16. LANDES a.a.O. S. 175.

Als solche Daten wurden Fähig- und Notwendigkeiten zur Produktionssteigerung angesehen; wie denn etwa in der rheinischen Zuckerindustrie die Dampfkraft parallel zur Mechanisierung eingeführt wurde46. Mit dem gleichen Ziel verwendete auch die Farbenindustrie die Dampfkraft zum Antrieb der Poch-, Sieb- und Mahlwerke, allerdings erst, nachdem die Dampfkraft ihre Anwendbarkeit ca. 20 Jahre lang in der Papierindustrie erwiesen hatte47. Derartige Kombination von Basis- und Verbesserungsinnovationen wurden - wie das Beispiel belegt - gegenüber der vorhandenen technischen Möglichkeit deutlich verzögert vorgenommen; für letzteres gilt dies sogar in erheblicher Breite. So benutzte etwa die Pappe- und Spezialpapierfabrikation im Regierungsbezirk Düsseldorf bis um 1860 statt der verfügbaren Papiermaschine noch Schöpfbütten, und selbst in der Papierindustrie um Düren und Bergisch Gladbach wurde die Papiermaschine erst 49 Jahre nach ihrer technischen Verfügbarkeit eingeführt48. Daneben wurden Produktionsvorgänge nur stufenweise dem technischen Fortschritt angepaßt, und anschließend verbreiteten sie sich noch erheblich. Das vorindustrielle Herstellungsverfahren für harte Feinseife konnte sich z.B. sprunghaft im Rheinland ausbreiten und sich bis etwa 1860 halten, nachdem um 1830 mit dem nach dem Leblanc'schen Verfahren dargestellten Soda dem überkommenen Produktionsablauf statt des teueren natürlichen Sodas ein neuer preiswerter synthetischer Rohstoff zugeführt worden war49. Der gleiche Vorgang spielte sich in der chemischen Industrie ab, als um 1860 das für die Bleiweißproduktion benötigte Kohlensäuregas endlich mit Koks statt mit Holzkohle hergestellt wurde50. Daß einmal bestehende Ausrüstungen lange beibehalten wurden, war auch in der Eisen- und in der Kammgarnproduktion zu erkennen51. Als mittlere Durchsetzungszeit für den Einsatz von Arbeitsmaschinen in der Papier-, Zuckerund chemischen Industrie der drei rheinischen Regierungsbezirke Düsseldorf, Köln und Aachen sind 51 Jahre, für den gleichen Wert bei Kraftmaschinen 81 Jahre berechnet worden52. Bis in deutschen Unternehmen der ersten beiden Drittel des 19. Jahrhunderts die Faktorkombinationen durch Aufnahme der Resultate des technischen Fortschritts geändert wurden, konnte es lange

46 47 48

49 50 51 52

Vgl. SCHAUMANN a.a.O. S. 246f. Vgl. ebd. S. 253. V g l . SCHAUMANN a.a.O. S. 2 5 8 .

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

ebd. S. 233f. ebd. S. 232f. LANDES a.a.O. S. 168,170. SCHAUMANN a.a.O. S. 289f.

313

dauern. Keineswegs bewegte sich die größere Zahl der Unternehmer an der Spitze des technischen Fortschritts.

III. Das beobachtete Verhalten spiegelt aber kaum eine generelle Ablehnung des technischen Fortschritts. Es mag sie - wie schon Einzelfälle zeigten - punktuell gegeben haben, und wieviele Unternehmer an einer solchen Einstellung in ihrer Unternehmerfunktion gescheitert sind und sie aufgegeben haben, ist bisher nicht bekannt. Immerhin wird man als gesichert ansehen können, daß die Mehrzahl der deutschen Unternehmer bis etwa 1870 den technischen Fortschritt zwar nicht vernachlässigte, ihn aber nur zögerlich rezepierte. Diese punktuelle Akzeptanz der Produkte des technischen Fortschritts könnte Gründe gehabt haben, die sich dem rückschauenden Betrachter als für die Unternehmensführung wenig zweckmäßig darstellen, den Zeitgenossen dagegen durchaus sinnvoll erschienen. Schon als intellektuelle Rezeption stellte die Information über den technischen Fortschritt an die ersten beiden in der Industrie tätigen Unternehmergenerationen beträchtliche Anforderungen. Die Unternehmer waren doch vielfach Praktiker, die an alten Verfahren gelernt und mit ihnen experimentiert hatten, auch wenn sie nicht alle Erfinder-Unternehmer geworden, sondern Anwender geblieben waren. Ihr berufliches Leistungswissen war im theoretischen Bereich eher wenig entwickelt53, und so mußte es ihnen nicht leicht fallen, Nutzen und Risiken einer technischen Neuheit für den eigenen Anwendungsbereich aus schriftlichen Darstellungen zu erkennen. Wie dringlich dieses Problem war, ließ sich aus den zahlreichen Publikationen ablesen, mit denen die staatliche Gewerbeförderung bemüht war, technisches Wissen zu verbreiten54. Fehlte die Einsicht in den technischen Wirkungsprozeß von Innovationen, blieb erst recht unklar, wie weit Produktionsablauf und Betriebsorganisation zu ändern waren. Spätestens an diesem Punkt planender Überlegungen kamen die Kosten ins Spiel, und deren Höhe mußte bei der in Regel knappen Kapitalausstattung

53 54

Vgl. Jürgen KOCKA, Unternehmer in der deutschen Industrialisierung. Göttingen 1975. S. 63f. Vgl. Ilja MIECK, Preußische Gewerbepolitik in Berlin 1806 - 1844. Berlin 1965, S. 36f.; Paul SIEBERTZ, Ferdinand v. Steinbeis. Ein Wegbereiter der Wirtschaft. Stuttgart 1952, S. 135f.

314

der deutschen Industrie in ihrer Frühphase und dem Zwang zu weitgehender Selbstfinanzierung besonders sorgfältig bedacht werden. Geschah dies, stellte sich nicht selten heraus, daß mit den bestehenden Anlagen durchaus noch gute Gewinne zu erwirtschaften waren, wenn z.B. der Einsatz menschlicher Arbeitskraft erhöht wurde und das Produkt sich der vom Markt geforderten Qualität anpaßte55. Wurden beide Voraussetzungen erfüllt, konnten quasi Pioniergewinne noch mit überkommenen Anlagen erzielt und so Zeit und Mittel für eine schrittweise, z.B. der Erleichterung und Beschleunigung einzelner Produktionsabschnitte dienenden Innovation oder für die technische Neuausrüstung eines ganzen Produktionsvorganges gewonnen werden. Die zögerliche Akzeptanz des technischen Fortschritts durch deutsche Unternehmer trug bis etwa 1S60 also eher einen den Rahmenbedingungen angemessenen experimentellen Charakter und besaß damit eine ihr eigentümliche Rationalität. Möglicherweise durch sie blieben für eine zuweilen lange strukturelle Übergangsphase Standorte erhalten, die bei einer sofortigen und umfassenden Innovation nicht mehr rentabel gewesen wären; als Beispiel aus der Eisenindustrie mag das Stahlwerk Isselburg genannt sein56. Diese Rationalität verhinderte vermutlich auch spektakuläre Zusammenbrüche, denn selbst wenn sich schließlich Unternehmer durch den technischen Fortschritt überfordert fühlten und sich aus ihrer Funktion zurückzogen, blieben die Produktionsstätten häufig im Markt, wenn sie von den anderen Unternehmen übernommen wurden. In der Zeit nach etwa 1860 wird man ein solches Verhalten gegenüber dem technischen Fortschritt nur noch in Ausnahmefällen erwarten können, und sie sind in den Einzelfällen als von Sonderinteressen veranlaßt dargestellt worden. Auch der Verzicht auf technischen Fortschritt mit seinen Konsequenzen konnte beobachtet werden. Wer aber im Markt bleiben wollte, konnte am technischen Fortschritt nicht vorübergehen, und selbst die von kleinen und mittleren Unternehmen angestrebte Positionssicherung57 erforderte - wenn auch zögerlich geleistete - Innovationen. Allerdings liefen solche Unternehmen Gefahr zu scheitern, wenn sie sich der Wachstumsgeschwindigkeit des Fortschritts in ihrer Branche nicht wenigstens anpaßten. Die Konzentration in der Margarinefabrikation, der nahezu alle EigentümerUnternehmen zum Opfer fielen, bot dafür ein gutes Beispiel. 55 56

57

Vgl. LANDES a.a.O. S. 162,170. Vgl. dazu den Nachruf auf den Sohn des Unternehmergründers, Johann Dignus Nering-Bögel in: Stahl und Eisen. 27. Jgg. Nr. 10, 1907, S. 364. Vgl. BROCKSTEDT a.a.O. S. 260.

315

Demgegenüber wandten sich Unternehmen mit mehrgliedrigen Vorständen schneller und umfassender dem technischen Fortschritt zu. Die andere industrielle Erfahrungswelt einer neuen Generation, ihr erheblich höheres theoretisches Leistungswissen58, das die Informationsaufnahme über den technischen Fortschritt effizienter gestaltete, ein Management mit systematisch gegliederten und dadurch spezialisierten Tätigkeitsbereichen59 und nicht zuletzt auch die positive Haltung des Kapitalmarkts60 gegenüber expansionswilligen Unternehmen erleichterten den Entscheidungsträgern den umfassenden Zugriff auf den technischen Fortschritt. Veränderte Rahmenbedingungen hatten gewandelte Rationalitäten geschaffen.

IV. Im Betrachtungszeitraum wird keineswegs von einem generellen Trend zur Vernachlässigung des technischen Fortschritts gesprochen werden können. Wie sollte auch sonst Deutschlands Weg in die Spitzengruppe der Industriestaaten zu erklären sein? Doch eingebettet in diese Entwicklung fanden sich Beispiele für Unternehmer, die für ihren Betrieb den technischen Fortschritt nicht oder nicht nachhaltig genug akzeptierten; infolgedessen schieden sie mittel- resp. langfristig aus dem Markt aus. Anscheinend resultierte dies nicht aus willentlicher Ablehnung des technischen Fortschritts; traditionelle Bindungen an Betriebsstrukturen oder der Verfolg von Sonderinteressen waren deutlicher zu erkennen. Dagegen wirkten sich Fähigkeitsbarrieren auf die Akzeptanz des technischen Fortschritts aus, wenn sich Unternehmen entweder von den Dimensionen seines Risikos oder von seiner Wachstumsgeschwindigkeit überfordert fühlten oder die Folgen eines vernachlässigten technischen Fortschritts für den Betrieb wegen anhaltenden Gewinns mit überkommenen Produktionsstrukturen nicht angemessen einschätzten. Neben diesen beobachteten Phänomenen, über deren Repräsentativität nichts ausgesagt werden kann, ist bis in die 1860er Jahre eine sehr langsame Diffusion des technischen Fortschritts registriert worden. Sie aus der Rückschau als Vernachlässigung des technischen Fortschritts zu werten,

58 59

60

Vgl. KOCKA a.a.O. S. 64. Vgl. BROCKSTEDT a.a.O. S. 2 5 9 .

Vgl. Karl Erich BORN, Geld und Banken im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 1977. S. 161f.

316

hieße übersehen, daß sich für ein solches Verhalten aus den zeitgenössischen Rahmenbedingungen eine eigene Rationalität ergab, die diese durchaus zögerliche Akzeptanz erklären hilft.

317

Anlage la: Die in den Jahren 1891 bis 1908 eröffneten Konkursverfahren nach ihrer Verteilung auf die Wirtschaftssektoren. gesamt

I. Sektor

II. Sektor

II. Sektor

7623

406

3885

3332

5,4

50,9

43,7

7684

473

4274

2937

in %

6,1

55,6

38,7

1895

6431

451

2799

3181

7,0

43,5

49,5

438

2646

3106

7,1

42,7

50,2

513

2649

3196

8,1

41,7

50,3

6737

429

2857

3451

6,4

42,4

51,3

7057

445

3060

3552

6,3

43,3

50,3

7712

565

3219

3764

7,3

41,7

48,8

588

4073

4758

6,2

43,2

50,5

541

3471

4426

6,4

41,1

52,5

441

3415

4320

5,4

41,8

52,8

381

3300

4255

4,8

41,6

53,6 3994

Jahr 1891 in % 1892

in% 1896

6190

in% 1897

6358

in% 1898 in % 1899 in% 1900 in % 1901

9419

in % 1902

8438

in % 1903

8176

in % 1904

7936

in %

313

3401

in%

4,1

44,1

51,8

1906

341

3356

4071

4,4

43,2

52,4

3530

4225

1905

7708 7768

in% 1907

8101

in % 1908 in %

9378

346 4,3

43,6

52,2

384

4020

4974

4,1

42,9

53,0

Quellen: Statistische Jahrbücher des Deutschen Reiches, 1891 bis 1908, Berlin 1892 - 1910. Für die Jahre 1893 - 1894 fehlen die Angaben, die eine Verteilung auf Sektoren und Branchen ermöglichen. 318

Anlage lb: Die in den Jahren 1891 bis 1908 eröffneten Konkursverfahren nach ihrer Verteilung auf ausgewählte Branchen des II. Sektors Jahr

II. Sektor davon

Bergbau Hütten

Metallverarb. Prod.

Textilindustrie

ehem. Industrie

Nahrung Genußmittel 681

1891

3885

83

376

182

24

in %

50,9

1,1

4,9

2,4

0,3

8,9

1892

4274

118

433

127

26

684

in %

55,6

1,5

5,6

1,6

0,3

8,9

1895

2799

104

393

110

19

636

in%

43,5

1,6

6,1

1,7

0,3

9,9

1896

2646

96

381

109

31

585

in %

42,7

1,5

6,2

1,7

0,5

9,4

1897

2649

70

359

145

21

572

in %

41,7

1,1

5,6

2,3

0,3

8,9

1898

2857

88

410

138

18

681

in%

42,4

1,3

6,1

2,0

0,3

10,1

1899

3060

122

432

130

6

612

in%

43,3

1,7

6,1

1,8

0,1

8,7

1900

3219

128

489

114

22

669

in%

41,7

1,7

6,3

1,5

0,3

8,7

1901

4073

237

679

153

33

770

in %

43,2

2,5

7,2

1,6

0,4

8,2

1902

3471

178

462

124

28

645

in %

41,1

2,1

5,5

1,5

0,3

7,6

1903

3415

160

549

108

26

698

in %

41,8

2,0

6,7

1,3

0,3

8,5

1904

3300

178

499

120

32

606

in %

41,6

2,2

6,3

1,5

0,4

7,6

1905

3401

169

564

132

37

681

in %

44,1

2,2

7,3

1,7

0,5

8,8

1906

3356

173

523

99

23

659

in%

43,2

2,2

6,7

1,2

0,3

8,5

1907

3530

201

535

105

26

789

in %

43,6

2,5

6,6

1,3

0,3

9,7

1908

4020

242

659

115

38

776

in %

42,9

2,6

7,0

1,2

0,4

8,3

Quelle:

wie Anlage la

319

Die Bugsirgesellschaft »Union« (1873 - 1914) Aufstieg und Niedergang einer bremischen Schlepp-und Fährreederei VON CHRISTIAN OSTERSEHLTE

Die Schleppschiffahrt prägt nicht nur das Erscheinungsbild eines Hafens mit, sondern sie bildet auch eine Art Scharnierfunktion zwischen der Hafenwirtschaft und der Seeschiffahrt. Beide Wirtschaftszweige können nicht auf die Dienste von Schleppern verzichten, da Seeschiffe in den räumlich beengten Fluß- und Hafenrevieren in der Regel nicht mehr selbständig manövrieren können und deshalb auf Bugsierhilfe angewiesen sind. Der Schiffstyp des Schleppers ist mit dem Entstehen der Dampfschifffahrt eng verbunden, denn bei den frühen maschinengetriebenen Wasserfahrzeugen handelte es sich in vielen Fällen um Schlepper, die bei Windstille manövrierunfähige Segelschiffe auf den Haken nahmen oder auch auf Kanälen Frachtkähne schleppten (z.B. der Dampfer »Charlotte Dundas« in Schottland 1803). 1 Als Einführung in die Schleppschiffahrt zu empfehlen ist ein vorzüglicher Aufsatz von Klaus-Peter Kiedel, Schlepper im Hafen und auf See, in: Deutsche Schiffahrt 2/82, S. 5ff. sowie die instruktive Schrift von M. K. Stammers, Tugs and Towage, Aylesbury 1989. Ein sehr stringentes, dennoch gedankenreiches und aufschlußreiches Buch mit Schwerpunkt in der aktuellen Technik, jedoch auch mit einem informativen historischen Abriß (S. 1 Iff.) ist die Arbeit von M. J. Gaston, Tugs and Towing. A worldwide survey of the vessels, techniques and development of the towage business, Sparkford 1991. Zur Technikgeschichte kann eine weitere britische Publikation empfohlen werden: P. N. Thomas, British Steam Tugs, Wolverhampton 1983. Leider fehlt im deutschsprachigen Bereich bisher eine vergleichbare Veröffentlichung. Erwähnenswert ist ferner eine Arbeit aus den Niederlanden, die sich mit einer nicht mehr existierenden Schlepperreederei in Delfzijl beschäftigt: Hans Beukema, Piet de Greef, Frater Smid, een vergeten rederij, Haarlem 1993. Eine vorzügliche deutschsprachige Publikation über eine namhafte Hamburger Bugsierreederei stammt von Maria Möring, 175 Jahre Petersen und Alpers. Die 321

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Freie Hansestadt Bremen nach der politischen w i e wirtschaftlichen Zäsur der napoleonischen Kriege Heimathafen zahlreicher Segelschiffe. Sie gehörten Handelshäusern, die sich im Familienbesitz befanden, sogenannten Kaufmannsreedereien. D i e Segler (in der Regel dreimastige Vollschiffe und Barken) verkehrten in der internationalen Trampfahrt, einige auch im Post- und Auswandererverkehr in die U S A . D o c h konnten alle diese Schiffe, die die bremische Flagge auf den Weltmeeren zeigten, ihren Heimathafen nicht anlaufen. Seit dem 17. Jahrhundert war die Unterweser (der ca. 6 0 km lange Flußabschnitt zwischen Bremen und dem Mündungstrichter der Weser) stark versandet und besaß eine maximale Tiefe von etwa zwei Metern. In der Wesermündung mußte deshalb das Handelsgut v o m Seeschiff auf gestakte oder getreidelte Leichter umgeschlagen und anschließend in die Packhäuser nach Bremen transportiert werden. A u s diesem Umstand heraus erwarb der bremische Bürgermeister Johann SMIDT 1827 ein Stück Land an der Wesermündung (dort, w o der mäandernde Fluß Geeste in die Weser mündet) und ließ ein künstliches Hafenbecken anlegen, die Keimzelle der heutigen Stadt Bremerhaven. 2

Geschichte eines hamburgischen Unternehmens der Seehafenwirtschaft (Bd. 31 der Veröffentlichungen der Wirtschaftsgeschichtlichen Forschungsstelle e.V.), Hamburg 1968. Vom Vf. sind bisher folgende größere Arbeiten zur Schleppschiffahrt erschienen: Christian Ostersehlte, Die staatliche Schleppschiffahrt in Bremen, in Bremisches Jahrbuch, Bd. 72, 1993, S. 117ff.; ders., Der Bugsierdienst der Handelskammer zu Lübeck, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde, Bd. 71, 1991, S. 221 ff. Wegen ihrer beschränkten Größe und des damit verbundenen überschaubaren Restaurierungsaufwandes findet man Schlepper des öfteren als fahrbare oder stationäre Museumsschiffe. In Deutschland sind die kleineren Dampfschlepper »Tiger«, »Claus D.«, und »Woltmann« in Hamburg sowie »Saturn« in Rostock zu erwähnen. Das Deutsche Schiffahrtsmuseum in Bremerhaven besitzt den Motorbergungsschlepper »Seefalke« (1924), den NDL-Voith-Schneider-Schlepper »Stier« (1954) sowie den aus Beton hergestellten kleinen Schlepper »Paul Rossel« (1920). Ferner sind zwei Fluß-Schaufelradschlepper zu erwähnen, die im Binnenland als Museumsschiffe erhalten sind: »Oskar Huber« in Duisburg und »Ruthof/Erseksanad« in Regensburg. Die niederländische Schleppschiffahrt besitzt international eine herausgehobene Bedeutung, u.a. wegen den international beachteten Aktivitäten der Bergungsreederei Smit-Tak. In Maassluis bei Rotterdam befindet sich ein Spezialmuseum zur Schleppschiffahrt, das Nationaal Sleepvaartmusum (eröffnet 1979). Zur allgemeinen Geschichte Bremens in jener Zeit, s. das Standardwerk von Herbert Schwarzwälder, Geschichte der Freien Hansestadt Bremen, Bd. 2, Von der Franzosenzeit bis zum Ersten Weltkrieg ( 1 8 1 0 - 1 9 1 8 ) , Bremen 1976. 322

Das erste Dampfschiff, die mit Schaufelrädern angetriebene »Die Weser«, verkehrte 1817 auf der Unterweser und beförderte Fahrgäste. Über die Anschaffung von Schleppern wurde zwar in der Folgezeit gelegentlich diskutiert, doch erst 1846 folgte die Indienststellung des Schaufelraddampfers »Marschall Vorwärts«, des ersten Schleppers auf der Unterweser. 1853 wurde dieses Fahrzeug von einer Reederei übernommen, die 1857 in den neugegründeten Norddeutschen Lloyd aufging. Diese Aktiengesellschaft, von dem »königlichen Kaufmann« und nachmaligen Reichstagsabgeordneten Hermann Henrich (H.H.) MEIER ( 1 8 0 9 - 1 8 9 8 ) gegründet, profilierte sich als-

bald in der PassagierschifFahrt in die USA und in andere überseeische Fahrtgebiete. Die prestigeträchtigen Liniendienste bildeten das Hauptgeschäft der Reederei, doch von Anfang an besaß der Lloyd eine eigene Schlepperflotte, die zunächst aus Schaufelraddampfern, später aus Schraubenschleppern bestand. Sie dienten vor allem dem Eigenbedarf der Reederei, denn sie verholten überwiegend Seeschiffe und Schleppleichter des Lloyd auf der Unterweser und innerhalb der bremischen Häfen. 3 Der Markt ließ jedoch auch einen zweiten, etwa gleichgroßen Mitbewerber im Schleppgeschäft zu. 1863 baute das Königreich Hannover auf dem Bremerhaven gegenüberliegenden Geesteufer den Konkurrenzhafen Geestemünde. Im gleichen Jahr gründete dort der Kapitän Friedrich Wilhelm Albert ROSENTHAL (1828 - 1882) mit den Schraubenschleppern (den ersten

ihrer Art auf der Unterweser) »Biene« und »Solide« einen Bugsierdienst.

Über die Schleppschiffahrt des NDL und den Beginn der Dampfschiffahrt auf der Weser s. das immer noch aktuelle Standardwerk von Hans Szymanski, Die Anfänge der Dampfschiffahrt in Niedersachsen und in den angrenzenden Gebieten von 1817 bis 1867, Hannover 1958, S. 89ff. Über die einzelnen Schlepper des NDL ist kürzlich eine Arbeit erschienen, die sich daneben mit einzelnen historischen Aspekten beschäftigt, Reinhard Schnake, Schlepper des Norddeutschen Lloyd/Hapag-Lloyd, Hamburg 1995. Vf. hat den Versuch unternommen, einzelne historische Aspekte zu beleuchten, s. Christian Ostersehlte, Die Schleppschiffahrt des Norddeutschen Lloyd im Spiegel dreier Schiffsbiographien, in: Das Logbuch 3/1993, S. 92ff., 4/1994, S. 139ff. Alles in allem bleibt eine gründliche Unternehmensgeschichte der Schlepp- und Leichterschiffahrt des NDL nach wie vor ein Desiderat. Eine derartige Untersuchung müßte auch die Flußfahrgast- und Bäderschiffahrt des NDL beinhalten, da alle diese Schiffahrtszweige beim NDL von der Abteilung Flußschiffahrt aus geführt wurden. Die wichtigsten Quellen für Forschungen in dieser Richtung wären die Veröffentlichungen des NDL (u.a. die Geschäftsberichte, die von 1857 - 1907 in einem Sammelband 1907 publiziert wurden), sowie ein Aktenbestand im Staatsarchiv Bremen (StAB) 7,2010, der die Schleppschiffahrt des NDL in den zwanziger und dreißiger Jahren umfaßt.

323

hatte in die Bremerhavener Schiffbauer- und Werftbesitzerfamieingeheiratet, beteiligte sich an der Verwaltung der in Bremerhaven 1833 gegründeten Werft4 und engagierte sich in der deutschen Polarforschung5. Soweit den Quellen zu entnehmen ist, hat es sich offenbar bei ROSENTHAL um eine für diese Zeit nicht atypische vielseitige Unternehmerpersönlichkeit gehandelt6. ROSENTHAL lie WENCKE

Ein Konsortium aus mehreren bremischen Segelschiffsreedern bildete 1872 eine Schleppschiffahrts-Aktiengesellschaft. Im November 1873 fusionierte diese mit dem Bugsierdienst ROSENTHALS. Entstanden war damit die Bugsirgesellschaft »Union« (so die zeitgenössische Schreibweise, die bis zur Auflösung des Unternehmens beibehalten wurde) mit Sitz in Bremen. Der Firmenname war für diese Zeit nicht außergewöhnlich, in diesem Fall dürfte es sich um einen Bezug zur Vereinigung der beiden Vorgängerfirmen gehandelt haben. Acht relativ moderne Schraubenschlepper (erbaut zwischen 1862 und 1871 auf Werften in Hamburg und in Schottland) hatte die Firma von ihren beiden Vorgängern übernommen. Sie hießen »Assecuradeur«, »Reform«, »Teil«, »Diana«, »Solide«, »Strom«, »Biene« und »Hercules«, Schiffsnamen, die z. T. für die Dampfschleppschiffahrt jener Zeit nicht untypisch waren (vor allem »Hercules« und »Biene«), außerdem die typische »corporate identity« einer damaligen Reederei widerspiegelten. In der Mentalität beeinflußt von der damals noch dominierenden Segelschiffahrt, wählte man häufig individuelle Schiffsnamen, die zwar gewissen Usancen (wie eben erwähnt) folgten, aber nur selten logisch miteinander verbunden waren. Erst gegen Ende des Jahrhunderts gingen die stärker rationalisierten DampfschifFahrtsreedereien dazu über, ihre Schiffe nach einem prägnanten, firmenspezifischen, somit unverwechselbaren Schema zu benennen. Mit ihren acht Schleppern (»Assecuradeur« und »Teil« waren mit ihren 500 PSi die beiden leistungsfähigsten Einheiten) engagierte sich die »Union« im Schleppgeschäft. Sie war als Aktiengesellschaft konstituiert worden, namhafte bremische Handelshäuser und Segelschiffsreeder (D.H. WÄTJEN u.a.) hielten die Aktienmajorität. ROSENTHAL wurde der erste Vorstandsvorsitzende der Gesellschaft (bis 1881) und dürfte die Reederei in jenen Jahren des Aufbaus und Aufschwungs entscheidend in ihren Zielset4

5 6

Dirk Peters, Der Schiffbau in Bremerhaven von der Stadtgründung (1827) bis zum Ersten Weltkrieg, Phil. Diss., Hannover 1981, S. 135ff. Christine Reinke-Kunze, Aufbruch in die weiße Wildnis. Die Geschichte der deutschen Polarforschung, Hamburg 1992, S. 23, 39f„ 144. Dr. Reinhart A. Krause vom Alfred-Wegener Institut für Polarforschung, Bremerhaven, beabsichtigt eine biographische Untersuchung über ROSENTHAL.

324

zungen und ihrer Unternehmensmentalität geprägt haben. Seine Nachfolger im Amt entstammten Bremer Kaufmanns- und Reederfamilien und entwikkelten wenig neue Ideen, ihre Unternehmenspolitik verlief eher in eingefahrenen Bahnen. Trotz einer schwierigen Quellenlage kann man davon ausgehen, daß die Geschäftsentwicklung zunächst recht positiv verlief. 1879 und 1880 wurden der Radschlepper »Pilot« (vom NDL) und der Schraubendampfer »Neptun« erworben. Die Flotte der »Union« verholte Segelschiffe in der Wesermündung, nebenbei bugsierte sie Schuten für den Wasserbau in Bremerhaven (ein entsprechender Vertrag wurde 1873 geschlossen und bis 1896 immer wieder verlängert)7 und brach im Winter Eis auf der Unterweser8. Gelegentlich liefen die größeren Schlepper (vor allem »Assecuradeur« und »Teil«) zur Bergung oder zu längeren Schleppreisen (mit Segelschiffen als Anhang) aus9. Mit der Station Bremerhaven der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (gegründet in Kiel 1865 und mit Sitz in Bremen) arbeiteten Schlepper der »Union« sporadisch zusammen: Hin und wieder verholte ein Schleppdampfer das Ruderrettungsboot der Station auf die Einsatzposition, um die Kräfte der Bootsbesatzung zu schonen und für die eigentliche Rettung der Schiffbrüchigen aufzusparen. In den deutschen Flußmündungsrevieren war diese Form der Zusammenarbeit zwischen der Gesellschaft und Schleppdampfern nicht untypisch. Für die daran beteiligten Bugsierreedereien war damit wohl kaum ein Schlepplohn verbunden, sondern es handelte sich eher um eine Gefälligkeit für die Seenotretter10. In den achtziger Jahren begann die »Union« zu diversifizieren: 1884 übernahm die Firma zwei Fährdienste auf der Unterweser, zwischen Gee7

8

9

10

Die wichtigste Quelle Uber die geschäftliche Geschichte der »Union« ist die Handelsregisterakte StAB 4,75/5 U 32. Christian Ostersehlte, Das bremische Eisbrechwesen, in: Bremisches Jahrbuch, Bd. 67, 1989, S. 89ff. Im Kapitel 6. meines Buches über die »Union« (Erscheinungsjahr geplant 1996) sind einige Einsätze von Schleppern der »Union« aufgeführt, die ein zwar bruchstückhaftes, doch wohl repräsentatives Bild vom Arbeitsalltag der Flotte bieten. Die Berichte basieren auf der Strandamtsakte StAB 4,14/1 I.B.4 Vol. 2, auf den Jahresberichten der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffsbrüchiger, Bremen (1880/81 ff.), der Statistik des Deutschen Reiches, Berlin (1882ff.) sowie auf den Entscheidungen des Ober-Seeamts und der Seeämter des Deutschen Reiches, Hamburg (1888ff.). Im Kapitel 4.7. (Schlepper und Bergung) meiner Dissertation habe ich mich mit der Zusammenarbeit zwischen den Seenotrettern und Schleppfirmen beschäftigt, Christian Ostersehlte, Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, Bremerhaven und Hamburg 1990, S. 84ff.

325

stemünde und dem oldenburgischen Nordenham und etwas weiter stromaufwärts, zwischen Dedesdorf und Kleinensiel. Die Regierung des Großherzogtums Oldenburg hatte die dafür notwendigen Konzessionen erteilt. Eine eigens dafür erbaute Schaufelradfähre, die »Union« (1892 kam ein zweites, ähnliches Fährschiff hinzu) verband die beiden bedeutenderen Unterweserorte, während eine kleine Dampfbarkasse (mit angehängtem Fährprahm) die Fährlinie Dedesdorf - Kleinensiel bediente 11 . Ferner wurden zwei Schlepper der »Union« (»Diana« und »Reform«) 1888 zu Fischtrawlern umgerüstet und gingen (mit sehr mäßigem Erfolg) für einige Jahre auf Fang 12 . Der aufkommende Strukturwandel in der Seeschiffahrt im allgemeinen und auf der Unterweser im besonderen wurde der »Union« zum Verhängnis. Von 1887 - 1895 wurde die Unterweser durch die sogenannte Weserkorrektion (Bremen finanzierte allein die Kosten von 30 Millionen Mark) auf fünf Meter ausgebaggert. Seeschiffe konnten Bremen wieder anlaufen, deshalb wurden bis zum Ersten Weltkrieg vor den Toren der Stadt neue Hafenbecken (angefangen mit dem 1888 eingeweihten Freihafen) angelegt 13 . Gleichzeitig ging der Anteil der Segelschiffe auf der Unterweser (sie bildeten die Hauptkundschaft der »Union«) konstant zugunsten der Dampfschiffe zurück. Die traditionelle Kaufmannsreederei im Familienbesitz wich der modernen Aktiengesellschaft, die allein den Bau kapitalintensiver Frachtdampfer finanzieren konnte. In der bremischen Handelsflotte begannen 1891 die Dampfer, die Segelschiffe quantitativ zu überflügeln (118 Dampfschiffe mit 183.586 NRT Rauminhalt gegen 147 Segler mit 182.724 NRT Rauminhalt) 14 . Von dieser Entwicklung war auch die Schleppschiffahrt betroffen: Während auf einem herkömmlichen Segelschiff die Anforderung von Schleppdampfern im Ankunftshafen zu den Aufgaben des Kapitäns gehörte, schlössen die modernen, vornehmlich in der Linienfahrt engagierten Damp11

12

13

14

In den Kapiteln 3.1. und 3.2. meines Buches über die »Union« habe ich diese beiden Fährdienste beschrieben. Die wichtigsten Quellen sind zwei Akten im Staatsarchiv Oldenburg (StAOl) 19107,19108. Günther Rohdenburg, Hochseefischerei an der Unterweser. Wirtschaftliche Voraussetzungen, struktureller Wandel und technische Evolution im 19. Jahrhundert und bis zum Ersten Weltkrieg, (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der freien Hansestadt Bremen, Bd. 43), Bremen 1975, S. 83ff., 113, 121, 237. Anstatt einer ausführlichen Bibliographie, für die hier nicht der Ort ist, der instruktive Aufsatz von Hartmut Müller, Die Weserkorrektion, in: Volker Plagemann (Hrsg.), Übersee. Seefahrt und Seemacht im Deutschen Kaiserreich, München 1988, S. 61ff. Zahlen nach Walter Ried, Deutsche Segelschiffahrt seit 1470, München 1974, S. 225.

326

ferreedereien längerfristige Schleppverträge, oft unter Vermittlung

von

Agenturen, im jeweiligen Zielhafen 1 5 . Alle diese einschneidenden Veränderungen hatten auch für die Schleppschiffahrt auf der Unterweser Konsequenzen. Seit 1877 existierte in Bremen ein kleiner Bugsierbetrieb, dessen vier Dampfer Leichter und Schuten auf der Unterweser verholten 1 6 . Sein Eigner, der Kapitän Hermann WESTPHAL ( 1 8 4 3 - 1 9 1 4 ) , veräußerte im Sommer 1890 diesen eher unbedeutenden Schleppdienst an ein bremisches Kaufmannskonsortium. Dieses stand unter der Führung des Schiffahrtskaufmanns Johann Friedrich WESSELS ( 1 8 3 6 - 1 9 1 9 ) . WESSELS, ursprünglich gelernter Küper, war in den Kaufmannsstand aufgestiegen und wurde 1876 Abgeordneter in der bremischen Bürgerschaft. V o n 1891 bis 1918 übte er außerdem die Funktion eines Senators aus. WESSELS war eine sehr innovativ veranlagte Persönlichkeit. A n der Verwaltung der bremischen Pferde-Straßenbahn in Bremen (1888 - 1891) 1 7 wie auch an der Einführung eines staatlichen Eisbrecherdienstes auf der Unterweser ( 1 8 8 9 ) 1 8 war er beteiligt. Überdies bekleidete er von 1912 bis zu

15

Möring (wie Anm. 1), S. 69ff. Für die althergebrachte Form des Schleppgeschäfts folgender Beleg aus dem Tagebuch des Schiffsjungen Franz von Wahlde von der Elsflether Bark »Pallas« (22. Februar 1886): "Des Mittags kommt ein Dampfer auf uns zu von West uns auflaufend. 'John W. Taylor' London. Ein mächtiges Towboot, ein Schlepper erster Classe. 'Welches Schiff ist das? 'Pallas' 'Wohin?' 'London' 'Do you want a tow?' 'What's the price?' '40 Pfund' "No no, thank you!' 'All right' 'Good bye! Full spead ahead!' Der Dampfer geht voll Dampf voraus. Doch nicht ganz weit. Er dreht und läuft nach N.W. zurück, indem hier ein anderer Segler zu sehen ist. Unser Alte konnte ausmachen, daß es der 'Coriolanus' ist, ein Vollschiff, auch in Elsfleth beheimatet. Dieser ist nach Stockholm befrachtet. Deshalb gönnen wir dem Engländer den nutzlosen Weg. Bald ist er längsseite bei uns wieder angelangt. Er muß ja nach London zurück, muß jedenfalls ein großes Segelschiff heraus nach See schleppen, deshalb läßt er die Beute so leicht nicht fahren. Wie wir beim Caffee sitzen, hören wir sein Tuten. Er nimmt an ftlr 25 Pfund, uns nach London zu schleppen, wohlverstanden bis in d. Dock. East India Docks, frei von allen Brücken- und Bootsleutegeldem." Aus: Franz von Wahlde Uber seine Reise mit der Bark »Pallas« nach Südamerika, Mauritius, Indien und Java 1884 bis 1886, Bremerhaven und Hamburg 1989, S. 264. Nach diesen bzw. ähnlichen Kriterien hat sich auch bei der »Union« das alltägliche Schleppgeschäft abgespielt.

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Christian Ostersehlte, Die Schleppschiffahrt von Hermann Westphal - die Vorläuferin der heutigen URAG, in: Bremisches Jahrbuch, Bd. 70,1991, S. 177ff. Rolf Martens, Bremens öffentlicher Personennahverkehr im 19. Jahrhundert, in: Bremisches Jahrbuch, Bd. 54,1976, S. 69ff. S. Anm. 8.

17 18

327

seinem Tod den Vorsitz des Bremer Vereins fllr Luftfahrt19. Unter der Federführung von W E S S E L S , (der von 1890 bis 1919 dem Aufsichtsrat der neugebildeten Firma angehörte, bis 1899 als deren Vorsitzender), gründete das Konsortium nach der Übernahme der vier Schlepper von Kapitän W E S T P H A L im August 1890 die Schleppschiffahrtsgesellschaft »Unterweser« (SGUW) mit Sitz in Bremen. In einem Prospekt, der zur Gründung herausgegeben wurde, nahm man ausdrücklich auf die Unterweserkorrektion Bezug. Das neue Unternehmen war, wie die »Union«, als Aktiengesellschaft konstituiert worden und gewann schnell an Rückhalt und Anklang in der bremischen Kaufmannschaft. Zügig wurde der Fahrzeugbestand ausgebaut, der bereits 1893 acht Schleppdampfer und zehn antriebslose Leichter umfaßte20. Die rückwärtsgewandte Geschäftsleitung der »Union« war nicht mehr in der Lage, diesen Neuentwicklungen Rechnung zu tragen. Zwar hatte man noch 1890 zwei kleinere Schleppdampfer (»Lüne« und »Geeste«, jeweils 100 PSi) für den Hafenbugsierdienst in Dienst gestellt. Zwei Jahre später folgte die mit 250 PSi etwas leistungsfähigere »Solide« (Nachfolger des gleichnamigen, durch eine Havarie verlorengegangenen Fahrzeugs). Dieses größere Schiff, das auch bei Bergungseinsätzen Verwendung fand, war jedoch der letzte Schlepper, den die »Union« in Dienst stellte. 1892 ging die Ertragslage der Firma drastisch zurück, eine dynamische und wirksame Unternehmensstrategie konnte nicht mehr entwickelt werden. Vielmehr beklagte die Führung der »Union« in ihren Geschäftsberichten stereotyp den permanenten Niedergang der Segelschiffahrt, die immer noch als der wichtigste Kimdenkreis angesehen wurde. Währenddessen verdrängte die SGUW ihre ältere Konkurrenzfirma bis zur Jahrhundertwende aus dem Bugsiergeschäft. 1902 zog sich die »Union« völlig aus dem Schleppdienst zurück und überließ der SGUW das Feld. Drei Versuche der angeschlagenen Bugsierreederei, mit dem Konkurrenzunternehmen zu fusionieren, waren zwischen 1893 und 1898 gescheitert. Wegen des Niedergangs im Bugsiergeschäft wurden 1903 sämtliche Schlepper (bis auf die »Geeste« und »Solide«, die im Fährdienst Verwendung fanden) verkauft. Das ursprüngliche Grundkapital der Reederei

19

20

Eine gründliche Biographie über WESSELS bleibt ein Desiderat. Vgl. den Aufsatz über WESSELS von Fritz Peters in: Wilhelm LUhrs (Hrsg.), Bremische Biographie 1912 - 1919, Bremen 1969, S. 554f. Zum 75-jährigen und 100-jährigen Jubiläum veröffentlichte die URAG zwei Festschriften, Botho Koschwitz und Eckart Oestmann, 75 Jahre Unterweserceederei, Bremen 1965; Friedrich Jerchow, 100 Jahre Unterweserreederei, Bremen 1990.

328

von 642.000 Mark reduzierte man 1898 auf 500.000, 1903 auf 250.000 Mark 21 . Bei der SGUW verlief die Entwicklung in entgegengesetzter Richtung. 1896 entzog sie der »Union« den Vertrag mit dem Wasserbauamt in Bremerhaven. Außerdem engagierte sie sich im Bergungsgeschäft. 1900 nahm die SGUW den Schleppleichterverkehr in die Ostsee auf. Zugleich eröffnete man eine Linie auf dem 1899 eingeweihten Dortmund-Ems-Kanal. Wegen dieser umfangreichen Investitionen wurde das Grundkapital der SGUW 1899/1900 von 500.000 auf 2 Millionen Mark, 1900/1901 auf 2,5 Millionen Mark aufgestockt. Der NDL hatte bei der ersten Kapitalerhöhung allein 500.000 Mark gezeichnet22, ungeachtet der späteren heftigen Konkurrenz beider Finnen im Schleppgeschäft auf der Unterweser23. 1900 umfaßte der Schiffsbestand der SGUW 14 Schleppdampfer und 33 antriebslose Leichter. Der NDL hatte, bedingt durch die Unterweserkorrektion und den dadurch bedingten Strukturwandel, seine Flotte ebenfalls ausgebaut (1900: 12 Schlepper, 114 antriebslose Leichter)24. Von ihrer einst führenden Position im bremischen Bugsiergeschäft verdrängt, konzentrierte sich die »Union« nunmehr auf ihre beiden Fährverbindungen auf der Unterweser. Eine dritte Linie, konzessioniert von den preußischen Behörden in Stade, wurde innerhalb des Geestemünder Hafens von 1897 - 1901 betrieben, doch sie rentierte sich nicht25. Auch im Fährgeschäft häuften sich für die »Union« die Probleme. Während die Verbindung Geestemünde-Nordenham (ab 1905 führte sie in das näher gelegene oldenburgische Blexen) stets schwarze Zahlen auswies, kam die Linie Dedesdorf-Kleinensiel nicht aus ihrem Defizit heraus. Beiden Fährlinien war gemeinsam, daß sich die Beschwerden der Fährbenutzer über den schlechten Zustand der Fähren, die Inkompetenz des Personals und Mängel im Fahrplan häuften. Im Lauf der Jahre nahmen die Klagen noch an Schärfe zu, auch die Lokalpresse schaltete man ein. Der letzte (1898 - 1914) 21 22 23

24 25

Geschäftsberichte der »Union« finden sich ab 1896, Bilanzen schon ab 1888 in StAB 4,75/U32. Über die SGUW/URAG existiert eine Handelsregisterakte, StAB 4,75/5 U 69 II. Belege dafür vor allem aus den dreißiger Jahren finden sich in StAB 7,2010. Nach meinem bisherigen Eindruck begann der NDL nach dem Ersten Weltkrieg, auch Schiffe fremder Reedereien zu bugsieren. Bremen und seine Bauten, Bremen 1900, S. 684ff. Im Kapitel 3.3. meines Buches über die »Union« habe ich diesen Fährdienst beschrieben. Die wichtigste Quelle bildete eine Akte im Staatsarchiv Stade (StA Stade) Rep. 80 N Titel 81 Nr. 70.

329

Vorstandsvorsitzende der »Union« verstand es offenbar nicht, diese Probleme zu beseitigen. Vielmehr überwarf sich die Firma mit den Unternehmen im aufstrebenden Industriestandort Nordenham, die als potentielle Fährbenutzer zahlreiche Beschwerden, u.a. an die Handelskammer in Oldenburg, gerichtet hatten. Der Fährpachtvertrag zwischen der »Union« und Oldenburg lief 1911 aus und wurde von der Regierung des Großherzogtums einer von den Fähranliegem neugegründeten Firma übergeben. So war der »Union« die letzte Erwerbsgrundlage genommen. 1912 erfolgte deshalb der Beschluß, die Reederei aufzulösen. Im Sommer 1914 waren die entsprechenden Abwicklungen abgeschlossen und die »Union« wurde aus dem bremischen Handelsregister gestrichen26. Daß eine flexiblere Unternehmensstrategie eine derartig fatale Entwicklung verhindern konnte, beweist ein Gegenbeispiel aus derselben Branche: 1866 gründete in Hamburg der Reeder Bernhard WENCKE, übrigens ein angeheirateter Verwandter des »Union«-Mitbegründers ROSENTHAL (S.O.), die Vereinigte Bugsir- und Dampfschiffs-Gesellschaft. In den ersten Jahrzehnten ihrer Geschäftstätigkeit lebte die Firma, ähnlich wie die »Union« auf der Weser, von der Assistenz von Segelschiffen auf der Unterelbe. In den neunziger Jahren geriet - wiederum eine Parallele zur »Union« - das Unternehmen in eine Krise. 1898 erfolgte deshalb eine Fusion mit der LeichterGesellschaft zu Hamburg (gegründet 1889). Auf diese Weise gelang der Einstieg in das Geschäft mit Schleppleichtern, mit denen damals noch (vor der Einführung der Küstenmotorschiffe/Kümos) ein großer Teil des küstennahen Frachtverkehrs bewältigt wurde27. Nach dem Ersten Weltkrieg übernahm die Reederei eine weitere Schleppfirma und 1923 den 1886 gegründeten Nordischen Bergungsverein, der in der Nord- und Ostsee, aber auch im Mittelmeer vor dem Ersten Weltkrieg durch spektakuläre Bergungsaktionen von sich reden gemacht hatte28. So gelangte man in den Besitz von wertvollem Know-how im technisch schwierigen Schiffsbergungsgeschäft, das anschließend von einer marktführenden Position aus weiterbetrieben wurde. Noch heute besteht das Unternehmen als Bugsier-Reederei und Bergungs-

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S.Anm.7,11. Otto Matthies, Hamburgs Reederei 1814 - 1914, Hamburg 1924, S. 136ff. Vf. beabsichtigt, als ein sehr langfristig angelegtes Forschungsprojekt, eine Studie über den Nordischen Bergungsverein. Vorgesehen ist ein geschäftsgeschichtlicher Abriß, für den die Quellenlage aber weitaus schwieriger zu sein scheint, als bei der »Union«, außerdem soll ein Corpus Uber die Bergungseinsätze der Reederei erarbeitet werden. Die Arbeiten hierzu sind bisher über das Stadium des Sammeins ersten Materials nicht hinausgekommen.

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GmbH in Hamburg und zählt zu den führenden Bugsierfirmen an der deutschen Küste. Die ehemalige Konkurrenzfirma der »Union«, die SGUW, existiert noch heute als Unterweser Reederei GmbH (URAG) mit Sitz in Bremen. Von 1919/20 bis 1994 gehörte sie zum Geschäftsbereich der Metallgesellschaft (Frankfurt/Main). Die Interessen jenes Montankonzerns lagen weniger bei der Schleppschiffahrt, sondern wohl eher beim Transport von Erzen und anderen Massengütern, den die URAG von 1915 bis 1973 mit einer Flotte eigener Frachtschiffe betrieb. 1994 erfolgte der Verkauf der Firma an die Preussag in Hannover29. Heutzutage unterhält die URAG auf Unterweser und Jade (in letzterem Revier seit 1957) eine Flotte moderner Motorschlepper. Zum größten Teil sind diese mit dem Voith-Schneider-Antrieb ausgerüstet, der den Fahrzeugen eine im täglichen Bugsierdienst nützliche Wendigkeit verleiht. Der Geschäftspartner der URAG, mit dem sie in einem Schlepperpool (einer kartellähnlichen Arbeitsgemeinschaft, die mittlerweile in größeren Häfen und Flußrevieren international üblich ist) verbunden ist, ist die Firma Transport & Service, der ehemalige Schleppbetrieb des Norddeutschen Lloyd, der bis zu seinem Verkauf 1994 an ein Hamburg-Bremer Konsortium (bestehend aus der Bugsier-, Reederei- und Bergungs-GmbH, Hamburg und der URAG) zum Hapag-Lloyd-Konzern (Hamburg und Bremen) gehörte.

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Die URAG bringt einmal jahrlich eine Werkszeitschrift, »Der Anker«, heraus.

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»...zur persönlichen Befriedigung, wenn nicht gar aus Selbstsucht...« Wilhelm Merton und die »experimentelle Gewerbehygiene« VON HEIKE KNORTZ

Wilhelm Merton 1 ( 1 8 4 8 - 1 9 1 6 ) stammte väterlicherseits aus einer englischjüdischen Familie; noch sein Vater war in London aufgewachsen und erst 14 Jahre vor der Geburt Wilhelms, des achten von neun Kindern, in Frankfurt am Main ansässig geworden. Es dauerte bis 1855, als der seit 21 Jahren in Frankfurt lebende und mit einer ursprünglich aus Hannover stammenden Jüdin - Sara Amalia Cohen - verheiratete Vater mit englischer Staatsbürgerschaft das Bürgerrecht der Freien Stadt Frankfurt erwerben konnte. Wilhelm Merton selbst ehelichte 1877 im Alter von 29 Jahren die 18jährige, aus einer Bankiersfamilie stammende Henriette Caroline Emma Ladenburg und erwarb im Jahre 1900 die deutsche Staatsbürgerschaft. Aus der Ehe gingen vier

Vgl. hierzu und für das Folgende Achinger, Hans: "Wilhelm Merton in seiner Zeit." Frankfurt am Main, 1965; besonders S. 13-98 und S. 223-371. Achinger gilt nach wie vor als das Standardwerk zur Person Wilhelm Mertons, seiner geschäftlichen und sozialen Aktivitäten im weitesten Sinne. Die Quellen, soweit sie in Archiven der verschiedensten, von Merton gegründeten Institutionen aufbewahrt wurden, fielen dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer; über die verbliebenen, vor allem gedruckten Quellen gibt Achinger auf den Seiten 25f. Auskunft. Achinger selbst stützt seine Biographie vor allem auf persönliche Erinnerungen wie Briefe, Denkschriften und Niederschriften Wilhelm Mertons. (Künftig zitiert: Achinger, Merton in seiner Zeit). Vgl. hierzu auch Ratz, Ursula: Artikel "Wilhelm Merton", in: Neue Deutsche Biographie. Hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Band 16. Berlin, 1994. S. 184-187. (Künftig zitiert: NDB).

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Söhne und eine Tochter hervor, unter ihnen der 1881 geborene Richard Merton2. Der Großvater mütterlicherseits, Philipp Abraham Cohen, hatte 1850 eine "Handlung in Metallwaren, Wechsel, Kommission und Spedition" in das Handelsregister der Stadt Frankfurt eintragen lassen. Obgleich ursprünglich das Bankgeschäft überwog, vollzog sich schon unter dem Vater, Raphael (Ralph) Merton, der Wandel zu einer Metallhandelsfirma.3 Bis zum 25. Lebensjahr betätigte sich Wilhelm Merton "ohne dauerhafte geschäftliche Pflichten"4 unter anderem sowohl bei Ph. A. Cohen als auch bei seinem Bruder Henry in London. Dieser hatte dort seit 1862 mit Metallen gehandelt und schließlich die Metallhandelsfirma Henry R. Merton & Co. gegründet. Erst Mitte der 1860er Jahre kam es zwischen den beiden Häusern zur engeren, bis dahin nur sehr losen Zusammenarbeit. Wilhelm Merton hatte dem Vater schon zur Zeit der Gründerkrise 1872/73 zur Seite gestanden, 1876 schließlich trat Wilhelm endgültig als Teilhaber neben seinen Vater, der sich bald ganz aus den Geschäften zurückzog. In den Jahren 1881 bis 1883 erfolgte schrittweise die Gründung der Metallgesellschaft als Aktiengesellschaft und schließlich die Liquidation der Firma Ph. A. Cohen. Das Kapital der Metallgesellschaft wurde zu zwei Dritteln von Ralph und Wilhelm Merton gezeichnet, der Rest von Leo Ellinger, dem Teilhaber Wilhelm Mertons. Die Familien Merton und Ellinger waren somit schon in der zweiten Generation geschäftlich miteinander verbunden; schon Ralph Merton hatte mit Ellingers Vater, Philipp, als Teilhaber die von Philipp Abraham Cohen allein geführte Firma übernommen. Verschiedene Entwicklungen sollten bis zum Tode Wilhelm Mertons für die Metallgesellschaft bestimmend werden: durch den Aufstieg der Elek-

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Mit einem herzlichen Dankeschön für die Einladung zur Tagung an die Gastgeber, das Fürstenpaar zu Ysenburg und Büdingen, sei hier nur kurz angemerkt, daß die Großmutter der Fürstin in zweiter Ehe mit Richard Merton verheiratet war. Dies erklärt auch den seinerzeitigen stellvertretenden Vorstandsvorsitz des Fürsten Casimir-Johannes Ludwig Otto zu Sayn-Wittgenstein bei der Metallgesellschaft. Vgl. hierzu "Genealogisches Handbuch der Fürstlichen Häuser". Hauptbearbeiter Walter von Hueck. Fürstliche Häuser Band XIII. Limburg/Lahn, 1987. (=Genealogisches Handbuch des Adels, Bd. 90). S. 304-307.

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Vgl. Achinger, Merton in seiner Zeit, S. 17 und 27. Achinger, Merton in seiner Zeit, S. 20.

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troindustrie 5 , zumal in Deutschland, stieg der Bedarf an Nichteisenmetallen, vor allem an Kupfer, immens. Zeitgleich mit der steigenden Nachfrage aber führte die Erschließung großer und reichhaltiger überseeischer Erzvorräte zu einem steigenden Angebot, das von kapitalistisch geführten Großbetrieben 6 bedient wurde. Wilhelm Merton erkannte die Zeichen der Zeit und folgte mit der Diversifizierung des Programms der Metallgesellschaft den Tendenzen vor allem in der deutschen Industrie: der "Verwissenschaftlichung" 7 . Die Metallgesellschaft gestaltete sich so durch die Einrichtung metallurgischer Spezialabteilungen um die Jahrhundertwende zu einem modernen industriellen Dienstleistungszentrum, das infolge seines Handelsnetzes und seiner metallurgischen Dienste für Lieferanten wie für Abnehmer unentbehrlich wurde. 8 Wilhelm Merton selbst erklärte hierzu einige Jahre später: "Da wir Kupfer, Blei, Zink etc. nur nach Marken geführt hatten, ohne uns Rechenschaft davon zu geben, welche Bestandteile die einzelnen Sorten hatten, und warum sie sich für den einen oder anderen Zweck eignen oder nicht eignen, richtete ich ein Laboratorium ein, um selbständige Untersuchungen zu machen [...]. Dadurch wurde [...] eine bessere Pflege unserer industriellen Beziehungen [...] angebahnt." 9

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Vgl. hierzu Landes, David S.: "Der entfesselte Prometheus. Technologischer Wandel und industrielle Entwicklung in Westeuropa von 1750 bis zur Gegenwart." München, 1983. S. 265-272. Vgl. hierzu "Produktivkräfte in Deutschland 1870 bis 1917/18." Wissenschaftliche Redaktion: Hans-Heinrich Müller. Berlin (DDR), 1985. (=Geschichte der Produktivkräfte in Deutschland von 1800 bis 1945 in drei Bänden, Bd. 2). S. 100f., sowie: Achinger, Merton in seinerzeit, S. 42f. Vgl. hierzu gesamtes Kapitel "Wissenschaft - Technik - Industrie", in: König, Wolfgang; Wolfhard Weber: "Netzwerke, Stahl und Strom 1840 bis 1914". Berlin, 1990. (=Propyläen Technikgeschichte, Bd. 4). S. 402-413. (Künftig zitiert: König/Weber, Netzwerke, Stahl und Strom). "Das trifft natürlich auch auf die Metallgesellschaft von heute zu: sie versteht sich als rohstofforientierter Dienstleistungs- und Technologie-Konzern und bietet ihre Vermarktungs- und Finanzdienste vielen ausländischen Produzenten an." Rieger, Harald: "Die Metallgesellschaft - ein Fall des 'Effektenkapitalismus'?", in: "Dokumente und Schriften aus dem Historischen Archiv der Metallgesellschaft AG." Band 1: Die Liefmann/Merton-Kontroverse. Frankfurt/Main, 1992. S. 87113. S. 98. (Künftig zitiert: Liefmann/Merton-Kontroverse). Zitiert nach Achinger, Merton in seiner Zeit, S. 45. Zur dortigen Quellenangabe, dem Memorandum für Henry Oswalt, vgl. auch S. 26. 335

Am Schluß steht hier schließlich die Gründung der mit der Metallgesellschaft nicht nur durch gegenseitigen Aktienbesitz eng verbundenen Metallurgischen Gesellschaft, die aus der Verfahrensabteilung der Metallgesellschaft hervorging und die prozeßtechnische Neuerungen systematisch erforschen, zur Produktionsreife ausbilden und vertreiben sollte. War hiermit 1896 eine Trennung zwischen dem Handel mit Metallen einerseits und Forschung, Entwicklung und Vertrieb anwendungsorientierter Verfahren andererseits vollzogen worden, so erfolgte zehn Jahre später die Trennung der Bereiche FuE einschließlich der dazugehörigen Verkaufsabteilung von dem damit zusammenhängenden und hierfür notwendigen Finanzwesen durch die Gründimg der Berg- und Metallbank. Auch hier ging Wilhelm Merton also mit der Zeit: Rationalisierung durch Spezialisierung ist das Stichwort, Sicherung der Kapitalbasis die Intention gewesen, wenn auch 1910 Metallbank und Metallurgische Gesellschaft nach nur vier Jahren Tätigkeit in der Metallbank und Metallurgische Gesellschaft AG fusionierten. Der Vollständigkeit halber sei noch die Gründung der Schweizerischen Gesellschaft für Metallwerte genannt, die seit 1910 als Holdinggesellschaft fungierte. "Diese Stufe entsprach der Logik, die den Weg vom Familienunternehmen zur immer stärkeren Verflechtung und Beteiligung, aber auch zu immer stärkerer Inanspruchnahme des Kapitalmarktes bestimmt hatte." 10 Schon vor Wilhelm Mertons Eintritt bei Ph. A. Cohen war die Firma bemüht gewesen, die Beziehungen zu ihren wichtigsten Abnehmern durch langfristige Lieferverträge und hypothekarische Beteiligungen enger zu gestalten, was erstmals um das Jahr 1870 mit dem Heddernheimer Kupferwerk infolge des erheblichen Kupferbedarfes dieser Firma gelungen war. Unter der Metallgesellschaft traten Beteiligungen bei der Produktion bzw. Förderung der verschiedenen Rohstoffe in Europa, Australien, Mexiko und den USA hinzu.11 Als Höhepunkt dürfte hier die Gründimg der American Metal Company, Limited (Amco) im Jahr 1887 gelten, deren Gründungsgeschichte bis in die 1870er Jahren reicht. Seinerzeit hatte noch das New Yorker Bankhaus Ladenburg, Thalmann & Co. die Vertretung der Firma Ph. A. Cohen in

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Achinger, Merton in seiner Zeit, S. 70. Zur Metallurgischen Gesellschaft, der Berg- und Metallbank sowie deren Fusion und der Schweizerischen Gesellschaft für Metallwerte vgl. S. 53-66 und S. 70-74.

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Zu den unterschiedlichen nationalen und internationalen Beteiligungs- und Organisationsformen des Merton'schen Konzerns vgl. insgesamt Liefmann/MertonKontroverse.

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Amerika geführt, was schließlich in den 1880er Jahren zum Ausgangspunkt des im großen Stil betriebenen Geschäftes in den Vereinigten Staaten von Amerika wurde. Nach dem Rückzug von Ladenburg, Thalmann & Co. blieben hieran nur noch die Metallgesellschaft und die Henry R. Merton & Co. in London beteiligt.12 Trotz der inzwischen starken Ausrichtung auf anwendungsorientierte Industrieforschung blieb das Handelsgeschäft bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges der ertragreichste Geschäftsbereich der Metallgesellschaft. Der Weltkrieg sollte dann das stark auf internationalen Verbindungen aufgebaute Unternehmen schwer erschüttern. Die Enteignung der Amco, die nach dem Eintritt der Vereinigten Staaten von Amerika in den Krieg erfolgte, hat Wilhelm Merton, der am 15. Dezember 1916 starb, nicht mehr erlebt. Die Metallgesellschaft war also unter Wilhelm Merton ein Konzern geworden, der auf einem Markt mit schwankenden Preisen und qualitativ unsicherer Versorgung ein Angebot mit kalkulierbaren, weil stabilen - wenn auch höheren - Preisen bei gleichbleibender, aber diversifizierter Qualität organisierte. Eingeschlossen waren dabei Fracht- und Versicherungsleistungen, metallurgische Vorarbeiten, die Übernahme von Währungs- und anderen Risiken sowie Marktforschung und Markterschließung.13 Offensichtlich noch vor dem endgültigen Eintritt Wilhelm Mertons in die Firma seines Vaters waren ihm erstmals "gewerbehygienische Mißstände" in mit der Firma Ph. A. Cohen verbundenen australischen Blei-ZinkHütten aufgefallen.14 Indem die Metallgesellschaft durch eine Beteiligung an einer Silberblei-Hütte bei Antwerpen, der Usine de D£sargentation in Hoboken, neben dem Handel mit Blei auch in der Bleiverarbeitung eine führende Stellung in Europa erlangt hatte,15 konnte es Merton in der Folge auch nicht entgehen, "daß in den Blei erzeugenden und verarbeitenden Betrieben [sie!], mit denen seine Unternehmungen in mancher geschäftlichen Beziehung 12

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Zu den vielfältigen weltweiten Beteiligungen vgl. Achinger, Merton in seiner Zeit, S. 46-52. Vgl. Achinger, Merton in seiner Zeit, S. 96. Dies ergibt sich aus dem Artikel Arthur von Weinbergs in dem Kapitel "Wilhelm Merton als Bahnschaffer der Gewerbehygiene", in: "Wilhelm Merton und sein soziales Vermächtnis. Gedenkworte seiner Verehrer anläßlich der zehnten Wiederkehr seines Todestages". Herausgegeben im Auftrag der Frankfurter Gesellschaften des Instituts für Gemeinwohl vom Sozialen Museum, Frankfurt am Main. Frankfurt am Main, 1926. S. 41-45. S. 44. (Künftig zitiert: Merton und sein soziales Vermächtnis). Vgl. Achinger, Merton in seiner Zeit, S. 46.

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standen, die gewerbliche Bleivergiftung des Arbeiters und Angestellten ein gar nicht seltenes Vorkommnis bildete." 16 Hierauf muß er den Wissenschaftler und späteren Leiter des 1911 gegründeten Biologischen Instituts in Frankfurt am Main, den 1907 zum Professor berufenen Dr. med. Ferdinand Blum aus Frankfurt damit beauftragt haben, dieses Problem des Arbeitsschutzes zu untersuchen. Im Jahre 1900 erschienen dann die "Untersuchungen über Bleivergiftungen und ihre Verhütung in industriellen Betrieben. Ausgeführt im Auftrag der Metallurgischen Gesellschaft A.-G. von Dr. med. F. Blum Frankfurt a. M." 1 7 Weil in den australischen Hütten große Mengen wieder verwertbarer blei- und zinkhaltiger Rückstände anfielen, hatte Wilhelm Merton das Patent des US-Amerikaners John Price Wetherill erworben, der in den 1890er Jahren ein Verfahren zur Erzaufbereitung mittels Magnetscheidung entwickelt hatte und das es Merton nun ermöglichte, in Australien eine solche Aufbereitungsanlage zu bauen. 18 Der Sohn, Richard Merton, bemerkte später dazu: "Ich erinnere mich - ich glaube, ich war damals noch in der Oberklasse des hiesigen Gymnasiums - , daß mein Vater zu Hause erzählte, er habe die Anlage schließen lassen, weil ihm mitgeteilt worden war, daß der Staub, der bei dieser magnetischen Aufbereitung anfiel, bei den Arbeitern in sehr großem Umfang Bleierkrankungen hervorrief, eine Krankheit, die man wohl kannte, aber nicht wußte, wie man ihr begegnen konnte." 19 Auf internationaler, aber auch auf Reichsebene 20 war die Diskussion über Arbeitsphysiologie um die Jahrhundertwende bereits voll im Gange, die

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Artikel Ferdinand Blums in dem Kapitel "Wilhelm Merton als Bahnschaffer der Gewerbehygiene", in: Merton und sein soziales Vermächtnis, S. 41f. S. 41. Wegen dieses Erscheinungsjahres muß die zeitliche Einordnung der Vorgänge durch Dr. Richard Merton im Jahr 1958 als unrichtig gelten. Vgl. hierzu " 5 0 Jahre Deutsche Gesellschaft für Arbeitsschutz". Hrsg. von der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsschutz e.V. Frankfurt am Main, 1958. S. 4. (Künftig zitiert: Deutsche Gesellschaft für Arbeitsschutz).

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Vgl. hierzu "Metallgesellschaft AG. Die Umweltdienstleistungen des Konzerns." Frankfurt am Main, 1993. S. 13f., sowie: Deutsche Gesellschaft für Arbeitsschutz, S. 4. (Künftig zitiert: Umweltdienstleistungen des Konzerns).

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Deutsche Gesellschaft für Arbeitsschutz, S. 4. Zur Entwicklung auf Reichsebene vgl. Archiv der Metallgesellschaft AG, 160 (9). Protokoll der Sitzung des Grossen Rates des Institutes für Gewerbehygiene am 11. Dezember 1908 im Akademiegebäude, Jordanstrasse 17. (Künftig zitiert: Archiv MG).

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vor allem im Zusammenhang mit dem Taylorismus21 ihren Höhepunkt finden sollte. Ausgehend vom Verlangen nach maximaler betrieblicher Leistung rückte nun auch die Gesundheitsförderung bzw. die Erhaltung der Gesundheit des in der Industrie arbeitenden Menschen in den Blickpunkt des Interesses. So fand 1897 in Brüssel ein internationaler Kongreß mit dem Generalthema "Verbot von Bleiweiß für Anstriche und von Weißphosphor in der Zündholzindustrie" statt. Im Jahr 1900 schließlich wurde in Basel die Internationale Vereinigung für gesetzlichen Arbeitsschutz gegründet, wodurch die Notwendigkeit einer solchen Institution auch auf nationaler Ebene erkannt wurde.22 So hat der Regierungs- und Gewerberat, der spätere Geheime Oberregierungsrat und Ministerialrat im Reichsarbeitsministerium, Dr. Hermann Leymann nach eigenem Bekunden in einem Gespräch mit Wilhelm Merton den Gedanken entwickelt, "eine gewerbehygienische Zentralstelle zu schaffen, welche alle Erfahrungen und Vorschläge zu sammeln, zu prüfen und den beteiligten Kreisen zur Verfügung zu stellen hätte."23 In einer Druckschrift des Instituts für Gemeinwohl ist noch vor der Gründung einer entsprechenden Stelle dargelegt worden, "auch aus den Kreisen der Industrie [sei] auf der Konferenz der Zentralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen in Hagen vorgeschlagen worden, den Bestrebungen zur Verbesserung der hygienischen Verhältnisse in den chemischen und technischen Betrieben, welche Giftstoffe verarbeiten, einen Mittelpunkt zu geben und ein besonderes Institut für experimentelle Fabrikhygiene oder Gewerbehygiene zu schaffen". 24 Im Jahr 1908 wird dann das Institut für Gewerbehygiene gegründet, dessen Gegenstand laut Gesellschaftsvertrag "die wissenschaftliche und praktische Förderung der Gewerbehygiene, insbesondere durch Sammlung, Sichtung und Bearbeitung einschlägiger Materialien, durch gewerbehygieni-

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Vgl. hierzu den noch immer grundlegenden Aufsatz von Burchardt, Lothar: "Technischer Fortschritt und sozialer Wandel. Das Beispiel der TaylorismusRezeption", in: Deutsche Technikgeschichte. Vorträge vom 31. Historikertag am 24. September 1976 in Mannheim. Hrsg. v. Wilhelm Treue. Göttingen, 1977. S. 52-98. Vgl. Deutsche Gesellschaft für Arbeitsschutz, S. 9ff. Artikel Leymanns in dem Kapitel "Wilhelm Merton als BahnschafFer der Gewerbehygiene", in: Merton und sein soziales Vermächtnis, S. 42f. S. 42. Archiv MG, 160 (3). Druckschrift "Institut für Gewerbehygiene", verfaßt im Januar 1908.

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sehe und verwandte Versuche, Veröffentlichungen, Vorträge und Gutachten" 25 ist. Dieses "Institut für Gewerbehygiene, Gesellschaft mit beschränkter Haftung" mit Sitz in Frankfurt am Main ging aus dem "Institut für Gemeinwohl" und dem "Sozialen Museum" hervor. 26 Das Institut für Gemeinwohl war 1890 aus dem Anliegen Mertons heraus entstanden, "seine großen Geschäftsgewinne zu einem erheblichen Teil einem gemeinnützigen Unternehmen [zu]zuwenden" 27 . Es war der Anfang einer großangelegten und systematisch ausgebauten privaten Fürsorge, die mit der Zeit auch weit in sozialpolitische Belange eingriff. So stand das Institut für Gemeinwohl insgesamt 13 weiteren Gesellschaften, Instituten und Einrichtungen durch Gründungsakte nahe oder unterhielt diese sogar. Tätigkeitsgebiete waren die Armenpflege, das Arbeiterwohnungswesen, Kinder- und Jugendschutz, aber auch die Herausgabe der reichsweit bekannten "Blätter für Soziale Praxis". Es sei noch erwähnt, daß aus einer solchen Gesellschaft, der 1901 gegründeten "Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften", wiederum die Universität der Stadt Frankfurt hervorging. 28 Für Frankfurt am Main als Sitz des Instituts für Gewerbehygiene sprach eben auch diese, 1901 von Merton aus dem Bedürfnis nach einer systematischen Ausbildung von Industriekaufleuten heraus gegründete Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften, 29 "in deren Lehrplan schon seit Jahren Vorlesungen über Gewerbehygiene und Unfallverhütung aufgenommen" 30 waren. Das Soziale Museum wiederum war ursprünglich auch aus dem Institut für Gemeinwohl, nämlich als Auskunftstelle für Arbeiterangelegenheiten, hervorgegangen und mit erweitertem Arbeitsgebiet etabliert worden. 31 Das Soziale Museum kam als juristische Gründungsperson in Betracht, da dieses "durch seine reichhaltigen Sammlungen das Fabrikwesen betreffender Materialien, wie durch seine auf diesen 25 26

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Archiv MG, 160 (1). Gesellschaftsvertrag vom 4.2.1908. Vgl. Archiv MG, 160 (1). Notariatsprotokoll vom 4.2.1908 des Justizrates Dr. Adolph Fester über den Gesellschaftsvertrag vom 4.2.1908 zwischen Dr. Wilhelm Merton und Professor Dr. Philipp Stein als Geschäftsführer des Instituts für Gemeinwohl GmbH., sowie Dr. Ernst Calm und Prof. Dr. Ph. Stein als Vorstand des Vereins "Soziales Museum" e.V. Vgl. Achinger, Merton in seiner Zeit, S. 108. Vgl. Achinger, Merton in seiner Zeit, S. 108-121 und S. 320. Vgl. Achinger, Merton in seiner Zeit, S. 207. Archiv MG, 160 (3). Druckschrift "Institut für Gewerbehygiene", verfaßt im Januar 1908. Vgl. Achinger, Merton in seiner Zeit, S. 131-136 und S. 180-185.

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Gebieten fachlich ausgebildeten und erfahrenen Beamten die Tätigkeit des neuen Instituts ergänzen."32 Mit dem von Wilhelm Merton eingebrachten Stammkapital33 sollten zunächst die bei der Gründung anfallenden Kosten für Bibliothek und Archiv beglichen werden und als Rücklage für die Pension des Geschäftsführers dienen;34 später sollte der "Geschäftsbetrieb [...] so eingerichtet werden, daß die Einnahmen aus Aufträgen und Gutachten nicht nur die Ausgaben decken, sondern daß auch die Organisation ausgebaut und die Leistungen erweitert werden können. Für die Jahre der Entwickelung [sie!] soll durch Garantieen [sie!] und Beiträge die Aufbringung der Betriebskosten gesichert werden."35 Unter den Garantie-Zeichnern des Instituts für Gewerbehygiene sollten sich bald so namhafte, vornehmlich im Rhein-Main-Gebiet ansässige Firmen befinden wie die Chemische Fabrik Griesheim-Elektron, Griesheim a.M.; die Deutsche Gold- und Silber-Scheide-Anstalt, Frankfurt a.M.; Dyckerhoff & Söhne, Portland-Cementfabrik und Kalle & Co. A.G., beide Biebrich; die Farbwerke vorm. Meister, Lucius & Brüning, Hoechst a.M.; W. C. Heraeus, Platinschmelze, Hanau; natürlich auch die Merton'sche Metallbank & Metallurgische Gesellschaft A.G.; Leopold Cassella & Co. GmbH., Frankfurt; Phil. Holzmann & Co. GmbH., Frankfurt; aber auch die Badische Anilin- und Sodafabrik in Ludwigshafen. Zu den zahlenden Mitgliedern bzw. Unterstützern sollte bis 1918 auch der Verein zur Wahrung der Interessen der

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Archiv MG, 160 (3). Druckschrift "Institut fllr Gewerbehygiene", verfaßt im Januar 1908. Da aus dem Gesellschaftsvertrag des Institutes nicht hervorgeht, wer nun konkret das Stammkapital zur Verfügung stellte, beziehe ich mich hier auf Achinger, Merton in seiner Zeit, S. 138. Vgl. hierzu jedoch auch Archiv MG, 160 (1). Notariatsprotokoll vom 4.2.1908 des Justizrates Dr. Adolph Fester über den Gesellschaftsvertrag vom 4.2.1908 zwischen Dr. Wilhelm Merton und Professor Dr. Philipp Stein als Geschäftsführer des Instituts für Gemeinwohl GmbH., sowie Dr. Ernst Calm und Prof. Dr. Ph. Stein als Vorstand des Vereins "Soziales Museum" e.V. Vgl. Archiv MG, 160 (9). Protokoll der Sitzung des Grossen Rates des Institutes für Gewerbehygiene am 11. Dezember 1908 im Akademiegebäude, Jordanstrasse 17. Archiv MG, 160 (3). Druckschrift "Institut für Gewerbehygiene", verfaßt im Januar 1908.

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Chemischen Industrie Deutschlands in Berlin sowie der Verein Deutscher Bleifarbenfabrikanten in Köln-Ehrenfeld zählen.36 Als wissenschaftlicher Leiter stand dem Institut zunächst der Regierungs- und Gewerberat Dr. Hermann Leymann aus Wiesbaden vor, seit Juli 1908 der Gewerbeinspektor Dr. Richard Fischer,37 "ein gewerbehygienisch und gewerbe-technisch [sie!] ausgebildeter Fachmann [...], dem eine dem Geschäftsumfang entsprechende Anzahl von wissenschaftlichen und BüroHülfskräften [sie!] beigegeben ist. Laboratoriums- oder andere Versuche erfordernde Arbeiten soll[t]en Hochschul-Laboratorien oder hygienischen Instituten übertragen werden".38 Fischer ging mit dem 1. April 1909 in den staatlichen Gewerbeaufsichtsdienst zurück, ihm folgte im Institut für Gewerbehygiene der Syndikus Dr. Erich Francke als Geschäftsführer. Leymann als auch Fischer konnten jedoch für die weitere Mitarbeit im Institut gewonnen werden.39 Zur Überwachung der im Gesellschaftsvertrag festgelegten Geschäftsführung wählte ein "Großer Rat" aus seiner Mitte einen Verwaltungsausschuß; beiden Gremien stand Wilhelm Merton als erster Vorsitzender durch Wahl vor. 40 Der "Große Rat" wurde durch die Versammlung, welche sich wiederum aus "Vertretern der interessierten Kreise" zusammensetzte, gewählt. Unter letzteren befanden sich neben Wilhelm Merton zum Zeitpunkt der Gründung beispielsweise der Frankfurter Oberbürgermeister Dr. Franz Adickes, der schon oben erwähnte Professor Dr. med. Ferdinand Blum, ein Vertreter des Ministeriums für Handel und Gewerbe in Berlin, der Direktor

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Vgl. Archiv MG, 162 (1). Liste der 29 Garantie-Zeichner Deutschlands des Instituts für Gewerbehygiene 1909-1918. Vgl. Archiv MG, 160 (2). Entwurf eines Vertrages mit Dr. Fischer des Instituts für Gewerbehygiene. Archiv MG, 160 (3). Druckschrift "Institut für Gewerbehygiene", verfaßt im Januar 1908. Vgl. Archiv MG, 160 (6a). Geschäftsbericht des Instituts für Gewerbehygiene G.m.b.H., Frankfurt a.M. für das Jahr 1909. Vgl. Archiv MG, 160 (1) und (3). Notariatsprotokoll vom 4.2.1908 des Justizrates Dr. Adolph Fester über den Gesellschaftsvertrag vom 4.2.1908 zwischen Dr. Wilhelm Merton und Professor Dr. Philipp Stein als Geschäftsführer des Instituts für Gemeinwohl GmbH., sowie Dr. Ernst Calm und Prof. Dr. Ph. Stein als Vorstand des Vereins "Soziales Museum" e.V.; Druckschrift "Institut für Gewerbehygiene", verfaßt im Januar 1908, sowie: Achinger, Merton in seiner Zeit, S. 140. Vgl. auch Archiv MG, 160 (9). Protokoll der Sitzung des Grossen Rates des Institutes für Gewerbehygiene am 11. Dezember 1908 im Akademiegebäude, Jordanstrasse 17.

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des Kaiserlichen Gesundheitsamtes in Berlin sowie Dr. Fritz Roessler aus Frankfurt, Vorstandsmitglied der Degussa und Sohn eines der Gründer der Deutschen Gold- und Silber-Scheideanstalt.41 Nun hat es um die Jahrhundertwende durchaus schon eine staatliche Gewerbeaufsicht gegeben, die sich jedoch vor allem auf die Überprüfung der sozialpolitischen Maßnahmen zum Schutz der in Industrie und Handwerk Beschäftigten konzentrierte, also auf die Einhaltung der Vorschriften zur Arbeitsordnung und Arbeitszeit, zum gewerblichen Frauen, Jugend- und Kinderschutz, aber auch auf die Überwachung technischer Anlagen zur Vermeidung von Unfallgefahren.42 Abgesehen davon, daß Wilhelm Merton mit seiner Schöpfung der institutionalisierten, experimentellen Gewerbehygiene, die er als ein Konglomerat aus Arbeits- und Umweltschutz sowie freiwilliger technischer Selbstkontrolle und Überwachung der Gewerbe betrachtete, gedanklich weit Uber die rein technische Anlagenüberprüfung und über die Kontrolle der arbeitsrechtlichen Vorschriften hinaus ging, war es vor allem die schwierige Arbeitsweise der herkömmlichen Gewerbeaufsicht, die das Institut für Gewerbehygiene wünschenswert erscheinen ließ. Bis dahin wurde nämlich "die Notwendigkeit eines gesetzgeberischen Vorgehens dargetan durch Beobachtungen an Ort und Stelle, die, mögen sie noch so sorgfältig vorgenommen werden, immer an einer unvermeidlichen Oberflächlichkeit leiden werden; ferner durch das von den Krankenkassen verlangte Material, das nicht immer in verwendbarer Weise - Trugschlüsse völlig ausschließend - vorhanden oder nur mit Mühe zu beschaffen ist, und schließlich nach den Bekundungen befragter Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die sich aus leicht begreiflichen Gründen häufig zurückhaltend zeigen." "Das so gewonnene Material wird daher immer mehr oder weniger zuverlässig und lückenhaft bleiben, und es besteht die Befürchtung, daß es unter Umständen im Zusammenhang mit den rein experimentellen Versuchsergebnissen eines Hygienikers von verhängnisvoller Bedeutung werden kann, indem es zu Verfügungen oder Verordnungen führt, die schließlich den Kern der Sache doch nicht treffen, mehr oder weniger unwirksam bleiben, unnütze

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Vgl. Archiv MG, 160 (3). Druckschrift "Institut fllr Gewerbehygiene", verfaßt im Januar 1908, sowie: 160 (9). Protokoll der Sitzung des Grossen Rates des Institutes für Gewerbehygiene am 11. Dezember 1908 im Akademiegebäude, Jordanstrasse 17. Vgl. hierzu Treue, Wilhelm: Gesellschaft, Wirtschaft und Technik Deutschlands im 19. Jahrhundert. München, ^1986. (=Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 17 der Taschenbuchausgabe). S. 202ff. 343

Kosten verursachen und bei Arbeitgebern wie bei Arbeitnehmern das erforderliche Verständnis nicht finden."43 Neben dem Schutz der Arbeiter ging es Wilhelm Merton, hier ganz Unternehmer, auch um die Rentabilität und Effizienz der Betriebe. Dieser Aspekt der Gewerbehygiene wurde besonders dann hervorgehoben, wenn es um die gewünschte Zusammenarbeit mit der Industrie sowie um deren angestrebte finanzielle Unterstützung ging. Das sich im Archiv der Metallgesellschaft A G befindliche Schreiben "Die Industrie und das Institut für Gewerbehygiene in Frankfurt a/M.", das offensichtlich als Grundlage einer Werbekampagne dienen sollte, gibt diesbezüglich einen guten Einblick.44 Mit diesem Rundbrief sollte die Industrie von der Arbeit des Institutes überzeugt werden, das ja gleichzeitig von der Finanzierung durch die Industrie abhing. So wird zwar eingangs auf die "gemeinnützige Wirkung" des Instituts für Gewerbehygiene und auf die Interdependenz von gewinnerzielenden Betrieben und einer gesunden und zufriedenen Industriearbeiterschaft hingewiesen. Schließlich werden jedoch vor allem die sozialen Kosten aus technischen Folgelasten abstrakt und streng nach ökonomischen Gesichtspunkten auf das Betriebsergebnis angerechnet, wodurch die Ertragsfähigkeit industrieller Betriebe leide. "Derjenige Industrielle wird also den grössten [sie!] Gewinn ziehen, der neben der rein technischen und gewinnbringenden Seite seines Gewerbes auch den gesundheitlichen Fragen besonderes Augenmerk schenkt." Durch planmäßiges und systematisches Forschen solle schon vor der Errichtung von Fabriken, neuen Betriebseinrichtungen oder der Einrichtung neuer Arbeitsvorgänge auf von diesen ausgehende Gefahren aufmerksam gemacht und damit Fehlinvestitionen präventiv vermieden werden. "So sind schon kostspielige Neuanlagen kurz nach ihrer Inbetriebnahme auf Grund behördlicher Anordnung wieder stillgelegt worden, weil die im Interesse der Arbeiter und Anwohner getroffenen Vorkehrungen versagten, und hierdurch sind ungeheure Summen verloren gegangen." Außerdem solle bei "bereits im Betriebe befindlichen Anlagen durch eine geeignete Umwand-

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Archiv MG, 160 (3). Denkschrift und Arbeitsplan "Die Aufgaben des Instituts für Gewerbehygiene zu Frankfurt am Main", ohne Datum.

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Vgl. hierfür und für das Folgende Archiv MG, 160 (3). Schreiben, ohne Datum und Angabe des Verfassers. Vgl. aber auch Archiv MG, 160 (4). Schriftstück, offensichtlich der Entwurf eines Rundschreibens an die Industrie, ohne weitere Angaben. Hier werden die negativen Auswirkungen für die Industrie noch pointierter dargestellt und das finanzielle Anliegen explizit angesprochen.

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lung der technischen Einrichtungen" die mangelnde Gewerbehygiene nach Möglichkeit beseitigt werden. Trotz industriefreundlicher Formulierungen kommt auch hier Wilhelm Mertons Auffassung sehr stark zum Tragen, "daß das Gemeinwohl von der Wirtschaftsblüte nur profitieren" und "wirtschaftliches Handeln ohne Rücksicht auf ethische Grundsätze nicht vertreten werden könne". Für Merton "war die Lösung der Arbeiterfrage ein ebenso dringendes, ja für die Wirtschaftsgesellschaft entscheidendes Ziel wie alle anderen ihn bewegenden Aufgaben in und außerhalb [sie!] des eigenen Betriebes."45 Ziel der Arbeit des Instituts für Gewerbehygiene sollten schließlich komplexe technisch- und medizinisch-hygienische46 Problemlösungen sein, die sowohl die ökonomischen und technischen Bedürfhisse der Industrie als auch die wirtschaftlichen und physischen Bedürfhisse der Arbeitnehmer in jeweils höchstem Maße befriedigen sollten.47 Das als Dienstleistungsunternehmen fungierende Institut erstrebte die Verwirklichung dieses Ziels vor allem durch folgende, selbstgestellte Aufgaben: An erster Stelle stand der Aufbau eines Netzwerkes, das alle mit der Gewerbehygiene befaßten Stellen in Kontakt bringen und somit den unabdingbaren Informationsfluß ermöglichen konnte. Als betreffende Stellen kamen Industrie und staatliche sowie berufsgenossenschaftliche Behörden und Organe, aber auch wissenschaftliche und universitäre Institute in Betracht. Hiermit stand die "Sammlung und systematische Sichtung und Durcharbeitung der gesamten gewerbehygienischen Literatur, einschließlich der Jahresberichte der Gewerbeaufsichtsbeamten des In- und Auslandes, sowie die Sammlung von Beschreibungen, Zeichnungen, Photographien, Modellen und ähnlichen Darstellungen von bedeutsamen hygienischen Betriebseinrichtungen und Schutzvorkehrungen" eng in Zusammenhang. 45

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Achinger, Merton in seiner Zeit, S. 74. Auf dieser Grundlage entwickelte sich auch die lebhafte Diskussion über Wilhelm Merton als "Sozialpolitiker". Vgl. hierzu Marr, Heinz: "Person und Werk. Versuch einer Darstellung nach Dokumenten des Instituts für Gemeinwohl", in: Merton und sein soziales Vermächtnis, S. 73-93, sowie allgemeiner und breiter das Kapitel "Mertonische Maximen" bei Achinger, Merton in seiner Zeit, S. 75-87. Vgl. Archiv MG, 160 (9). Protokoll der Sitzung des Grossen Rates des Institutes für Gewerbehygiene am 11. Dezember 1908 im Akademiegebäude, Jordanstrasse 17. Vgl. hierzu und für das Folgende Archiv MG, 160 (3). Denkschrift und Arbeitsplan "Die Aufgaben des Instituts für Gewerbehygiene zu Frankfurt am Main", ohne Datum.

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Gleichzeitig sollten Konstruktionszeichnungen und Beschreibungen von in der Praxis bewährten Verfahren und Techniken zur Verhütung von Krankheits- und Unfallgefahren ebenso veröffentlicht werden wie durch das Institut gewonnene Forschungsergebnisse. Hierzu zählten die Ergebnisse der systematischen, auf Prävention gerichteten Forschung nach für Arbeiter und Anwohner unschädlichen Verfahrenstechniken. Schließlich war an die Ausarbeitung von hygienischen Gutachten, die "Ausarbeitung von Plänen, Ausfindigmachimg aller geeigneten Mittel für Unternehmer, Konstrukteure, Erfinder und Behörden, gebotenenfalls unter Mitwirkung eines physiologischen oder sonst in Frage kommenden rein wissenschaftlichen Instituts" gedacht, wodurch ja auch - wie bereits oben erwähnt - der Fortbestand des Institutes in finanzieller Hinsicht ermöglicht würde. Die Verbreitung der so gewonnenen und systematisch gebündelten gewerbehygienischen Kenntnisse sollte durch entsprechende Bildungsveranstaltungen und Vorträge, unter anderem an der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften, erfolgen. Soweit also zu den zur Gründung des Instituts für Gewerbehygiene führenden Motiven. In der geschilderten Form und mit den aufgeführten Zielen und Aufgaben bestand das Institut formal bis 1924 fort, obgleich es während der Kriegs- und Nachkriegsjahre, besonders noch einmal während der Zeit der Hyperinflation, seine Tätigkeit weitgehend einschränken mußte. "Um die Arbeit nicht völlig dem Erliegen preiszugeben, sollte sie beizeiten mit neuen Impulsen versehen und auf eine breitere Grundlage gestellt werden. So gründeten Freunde und Förderer des Instituts am 21. September 1922 in der Universität Leipzig die 'Deutsche Gesellschaft für Gewerbehygiene', deren Aufgaben als mit denen des Instituts identisch bezeichnet wurden."48 1924 wurde das Institut für Gewerbehygiene mit seinen Beständen in die Deutsche Gesellschaft für Gewerbehygiene überführt, die 1934 in Deutsche Gesellschaft für Arbeitsschutz umbenannt wurde49 und nach ihrer Wiederbe-

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Artikel "Deutsche Gesellschaft für Arbeitsschutz e.V.", in: Handbuch der deutschen Wissenschaftlichen Akademien und Gesellschaften einschließlich zahlreicher Vereine, Forschungsinstitute und Arbeitsgemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland. Hrsg. v. Friedrich Domay. Wiesbaden, 2 1977. S. 612-614. S. 613. (Künftig zitiert: Deutsche Gesellschaft für Arbeitsschutz). Vgl. Deutsche Gesellschaft für Arbeitsschutz, S. 14ff., sowie: Stein, Philipp: "Wilhelm Mertons Vermächtnis", in: Merton und sein soziales Vermächtnis, S. 921. S. 15f.

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gründung im Jahr 1948 als Deutsche Gesellschaft für Arbeitsschutz e . V . 5 0 mit Sitz in Frankfurt am Main firmierte. 51 50

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Diese "Deutsche Gesellschaft für Arbeitsschutz e.V." ist noch nachgewiesen in: Wissenschaftliche und kulturelle Institutionen der BRD. München, 1976; anschließend verlieren sich Hinweise bzw. Nachweise. Leymann stellte darüber hinausgehend fest, daß Mertons Interesse diesen "später zu der Gründung des 'Instituts für Arbeitspsychologie' [sie!] im Rahmen der Kaiser* Wilhelm-Gesellschaft' führte. Vgl. hierzu den Artikel Leymanns in dem Kapitel "Wilhelm Merton als Bahnschaffer der Gewerbehygiene", in: Merton und sein soziales Vermächtnis, S. 42f. S. 43. Achinger, Merton in seiner Zeit, S. 141f. und S. 320, greift diese Feststellung auf, ohne einen größeren strukturellen Zusammenhang herzustellen: "Die beneidenswerte Frische, mit der das Institut für Gewerbehygiene begonnen hatte, wurde von einer Zeit gefolgt, in der dieses ganze Feld mit einem dichten Geflecht von sozial-hygienischen Einrichtungen ausgefüllt wurde: Am 13. März 1913 genehmigte der Senat der Kaiser WilhelmGesellschaft zur Förderung der Wissenschaft [sie!] die Satzungen eines Kaiser Wilhelm-Instituts für Arbeitsphysiologie. Dieses Institut galt der Erforschung der Physiologie, Pathologie und Hygiene der geistigen und körperlichen Arbeit. [...] An der Gründung dieses Instituts hat das Institut fllr Gemeinwohl durch seine Vorschläge einen wichtigen Anteil." Tatsache ist, daß zu Beginn des Jahres 1911 die Gründung der "Kaiser-WilhelmGesellschaft zur Förderung der Wissenschaften" erfolgte. "Unter Mitwirkung des Reichskanzlers sowie des preuß. Kultusministers brachte eine Reihe dem Wirtschaftsleben nahestehender Männer u. Frauen ein größeres Kapital auf; zugleich verpflichtete man sich zur Leistung von Jahresbeiträgen." Artikel "Forschungsinstitute", in: Staatslexikon. Im Auftrag der Görres-Gesellschaft unter Mitwirkung zahlreicher Fachleute hrsg. v. Hermann Schäfer. Band 2. Freiburg i.Br., 5 1927. Sp. 74-89. Sp. 84. Unter diesem Aspekt ist es gut denkbar, daß sich Wilhelm Merton ideell und finanziell an der im Jahr 1913 erfolgten Gründung des "KaiserWilhlem-Instituts für Arbeitsphysiologie" in Berlin beteiligte, "das in erster Linie der Pflege der Physiologie, Pathologie und Hygiene der körperlichen und geistigen Arbeit gewidmet ist." Glum, F.: "Zehn Jahre Kaiser-Wilhlem-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften", in: Die Naturwissenschaften. Wochenschrift für die Fortschritte der Naturwissenschaften, der Medizin und der Technik. 9. Jg. 1921. S. 293-300. S. 295. Dies bestätigt der "2. Jahresbericht der KaiserWilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften." Berlin, 1913, wo sich auf S. 30 das "Institut für Gemeinwohl, G.m.b.H., Frankfurt a.M., Vertreter: Dr. h.c. Wilhelm Merton, Frankfurt a.M." auf der Liste der Mitglieder der KaiserWilhelm-Gesellschaft befindet. Nachfolger dieses Instituts der Kaiser-WilhelmGesellschaft wurde nach dem Zweiten Weltkrieg das "Max-Planck-Institut für Arbeitsphysiologie" in Dortmund, heute als "Institut für Arbeitsphysiologie an der Universität Dortmund" geführt. Vgl. hierzu "Handbuch der gesamten Ar-

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Wie aber sah nun die praktische Arbeit des von Wilhelm Merton gegründeten Instituts in seiner Blütezeit bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges aus? 5 2 In einem ersten Rechenschaftsbericht nach nur viereinhalb Monaten Tätigkeit des Institutes für Gewerbehygiene berichtete sein wissenschaftlicher Leiter Dr. Richard Fischer unter anderem über die Aufnahme "einer Untersuchung [...] über die Schädlichkeit der Chromverbindungen in allen Industriezweigen, w o sie zu irgendwelchen Zwecken Anwendimg finden. Wir haben des weiteren die einleitenden Schritte getan, um die Staubentwicklung an Gesteinsbohrmaschinen zu studieren und Mittel in Vorschlag zu bringen, wie man dieser Gefahr für die Arbeiter sicher begegnen kann. [...] Weiter hatten wir Arbeiten über die besonderen Gefahren der Hartbleiverarbeitung und über den Anilismus 5 3 in Betracht gezogen." 5 4 Aus dem Kreise des Großen Rates waren ferner Anregungen zu Untersuchungen über

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beitsmedizin." I. Band: "Arbeitsphysiologie." Hrsg. v. Gunther Lehmann. Berlin/München/Wien, 1961. S. 6; sowie "Taschenbuch des öffentlichen Lebens. Deutschland. 1994/95." 43. Jg. Hrsg. v. Prof. Dr. Albert Oecke. Bonn, 1994. S. 1094. Generell geben hierüber die Geschäfts- und Tätigkeitsberichte des Instituts für Gewerbehygiene Auskunft. Archiv MG, 160. Zu diesem Begriff vgl. die Erklärung in: "Handbuch der Praktischen Gewerbehygiene mit besonderer Berücksichtigung der Unfallverhütung." Hrsg. v. Dr. H. Albrecht. Berlin, 1896. Teil I, Abschnitt F, "Gesundheitsschädigung durch Einatmen gasförmiger Produkte", S. 119f. (Hervorhebungen im Original): "Anilin [...] wurde zuerst aus Indigo und wird jetzt durch Reduktion von Nitrobenzol fabrikmässig dargestellt, hauptsächlich zur Herstellung organischer Farbstoffe. In den Anilinfabriken sind nach Abschaffung des Arsenverfahrens [...] die Anilindämpfe selbst noch gefährlich. [ . . . ] - Ebenso gut wie es einen Saturnismus und Merkurialismus giebt, giebt [sie!] es auch einen Anilismus, der akut oder chronisch auftritt. Nach Grandhomme kann letzterer in zwei Formen auftreten: einmal wird der Befallene taumelig, müde, schwach, die Sprache ist erschwert, der Lippensaum blau, der Mann macht den Eindruck eines Trunkenen; in anderen Fällen fühlt der befallene Arbeiter nichts, nur werden seine Lippen blau. [...] Werden, z.B. beim Reinigen der Destillationskessel oder beim Begiessen [sie!] der Kleider mit Anilin Dämpfe in konzentrierter Form eingeatmet, so kann der Betroffene plötzlich bewusstlos niederstürzen. Lippen, Nase, Ohren sind dunkelblau, das Atmen verlangsamt sich, Zuckungen treten auf, und es kann der Tod erfolgen." Bei dem chronischen Anilismus "wiegen nach Hirt nervöse Störungen vor, die bis zu Störungen der Bewegungen sich steigern können". Archiv MG, 160 (9). Protokoll der Sitzung des Grossen Rates des Institutes für Gewerbehygiene am 11. Dezember 1908 im Akademiegebäude, Jordanstrasse 17.

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Bleiersatzmittel, die Säuregroßproduktion, die "Wirkung des Staubes der verschiedenen Steinarten in Steinbrüchen", über den Zusammenhang von Produktivität und Arbeitszeit sowie die "Einwirkung der pneumatischen Nietung auf den Organismus" gekommen.55 Vom Institut angeregte und veröffentlichte Untersuchungen blieben bis 1914 ein Hauptfeld der Betätigung. 56 Aufgrund der Ausstellung des Vereins deutscher Chemiker 1909 in Frankfurt am Main und der Internationalen Hygiene-Ausstellung 1911 in Dresden beschäftigte sich das Institut in den Jahren 1909/10 mit der Sammlung gewerblicher Staubarten und deren mikrophotographische Aufnahmen. 57 Die Zahl der internationalen Ausstellungen, zu denen das Institut einen Beitrag leistete, stieg schließlich bis 1913 beträchtlich.58 1910 war mit der Herausgabe der "Mitteilungen des Institutes für Gewerbehygiene zu Frankfurt a.M." als "Beiblatt zur Sozial-Technik, Zeitschrift für technische und wirtschaftliche Fragen der Industrie, Unfallverhütung, Gewerbehygiene, Arbeiterwohlfahrt, Gewerberecht" begonnen worden. Die Reaktion auf diese, einen Überblick über die technisch-gewerbehygienische Literatur vermittelnden Mitteilungen waren Forderungen des fachwissenschaftlichen Publikums nach einem Pendant über die medizinischgewerbehygienische Literatur. "Wir glaubten diesen Wünschen entsprechen zu sollen und geben seit 1. Oktober 1911 der 'Ärztlichen Sachverständigen Zeitung', Berlin, die 'Gewerbehygiene und Gewerbekrankheiten, Rundschau des Instituts für Gewerbehygiene zu Frankfurt a.M.', in monatlicher Folge bei." 59 Die Klage über die "Zersplitterung der gewerbehygienischen Literatur

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Vgl. Archiv MG, 160 (9). Protokoll der Sitzung des Grossen Rates des Institutes für Gewerbehygiene am 11. Dezember 1908 im Akademiegebäude, Jordanstrasse 17.

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Vgl. hierzu Archiv MG, 160 (5). Tätigkeitsberichte des Instituts filr Gewerbehygiene für die Jahre 191 lff.

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Vgl. Archiv MG, 160 (6) und (6a). Geschäftsbericht des Instituts für Gewerbehygiene G.m.b.H., Frankfurt a.M. für das Jahr 1909 bzw. 1910. Zur Tätigkeit im Zusammenhang mit der Internationalen Hygieneausstellung in Dresden vgl. auch Archiv MG, 160 (5). Tätigkeitsbericht des Instituts für Gewerbehygiene für das Jahr 1911.

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Vgl. Archiv MG, 160 (5). Tätigkeitsbericht des Instituts für Gewerbehygiene für das Jahr 1913. S. 4.

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Archiv MG, 160 (5). Tätigkeitsbericht des Instituts für Gewerbehygiene für das Jahr 1911. S. 4f. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung. Organ für die gesamte

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in einer Unzahl von Zeitschriften" und die mangelnde interdisziplinäre Berücksichtigung medizinischer und technischer Aspekte führte dann im folgenden Jahr zu dem Beschluß, die beiden Zeitschriften in einem ab 1. Januar 1913 erscheinenden "Zentralblatt für Gewerbehygiene mit besonderer Berücksichtigung der Unfallverhütungstechnik und Unfallheilkunde" zu integrieren. Dieses Zentralblatt sollte "den technisch vorgebildeten Leser nicht nur über alle technischen Neuerungen unterrichten, sondern [...] ihm auch die Ergebnisse der medizinischen Forschung auf dem Gebiet der Gewerbehygiene, dem Mediziner umgekehrt auch die Ansichten und Erfolge des Technikers nahebringen." 60 Hinsichtlich der regelmäßigen Publikationen sei noch auf die "Schriften des Instituts für Gewerbehygiene" verwiesen, die seit 1913 unter dem Titel "Schriften aus dem Gesamtgebiet der Gewerbehygiene, herausgegeben vom Institut für Gewerbehygiene zu Frankfurt a.M., Neue Folge" erschienen. 61 Neben einzelnen Vorträgen von Mitarbeitern des Instituts fand vom 25. September bis 7. Oktober 1911 erstmals eine groß angelegte Veranstaltungsreihe mit Exkursionen über "Unfallheilung und Gewerbekrankheiten" statt, die zur Zufriedenheit der Veranstalter von zahlreichen Besuchern aus dem In- und Ausland frequentiert wurde. Neben spezifischen Vorträgen zu Unfallheilung und Gewerbekrankheiten, wie "Röntgendiagnostik" oder "Schädliche Gase, ihre Bedeutung in der chemischen Industrie, ihre Pathologie und ihre Verhütung", wurden auch allgemeine Themen wie "Alkohol und Gewerbehygiene" behandelt. Die für Mediziner konzipierte Vortragsreihe war so stark von Gewerbeaufsichtsbeamten und leitendem technischen Betriebspersonal besucht worden, daß für die Zukunft interdisziplinär angelegte Veranstaltungen für Techniker und Ärzte erwogen wurden. 62 Im folgenden Jahr konnten für die konzeptionell veränderte, thematisch jedoch

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Sachverständigentätigkeit des praktischen Arztes sowie für praktische Hygiene und Unfall-Heilkunde. Berlin. 1. Jg. 1895. Archiv MG, 160 (5). Tätigkeitsbericht des Instituts für Gewerbehygiene für das Jahr 1912. S. 3f. sowie für das Jahr 1913, S. 3. Vgl. Archiv MG, 160 (5). Tätigkeitsbericht des Instituts für Gewerbehygiene für das Jahr 1913. S. 4. Anschließend wurden die Schriften von der Deutschen Gesellschaft für Gewerbehygiene, ab Heft 44 von der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsschutz in Frankfurt am Main herausgegeben. Vgl. Archiv MG, 160 (5). Tätigkeitsbericht des Instituts für Gewerbehygiene für das Jahr 1911. S.6ff.

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weitgehend identische Veranstaltung die Besucherzahlen um 121%, nämlich auf 135 Teilnehmer im Jahr 1912 gesteigert werden.63 Zur täglichen Routinearbeit war schließlich schnell die Bearbeitung von Anfragen nach staubaufsaugendem Fußbodenöl, nach Klärvorrichtungen für Fabrikabwässer, nach gesundheitlichen Schäden von Kupferstaub und Anilinfarbstoffen etc. sowie von Informationsdefiziten, beispielsweise hinsichtlich Chlor-Kali-Betrieben, geworden, worüber die monatlichen Geschäftsberichte der Jahre 1908-1912 Auskunft geben.64 "Einem Wunsche des Vereins deutscher Bleifabrikanten, uns an dem vom Verein unternommenen Vorgehen gegen die Petition der Internat. Vereinigung für gesetzl. Arbeitsschutz betr. Bleifarbenverbot beim Reichsamt des Innern zu beteiligen, konnte nicht entsprochen werden."65 Archiv und Bibliothek konnten in den knapp sechs Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges so ausgebaut werden, daß eine steigende Anzahl von Anfragen und der zunehmende Publikumsverkehr bewältigt wurden. "Die Besucher erbaten entweder Auskünfte, die ihnen aus dem in dem Archiv und der Bibliothek gesammelten Material gegeben wurden, oder sie wollten durch eine Führung durch die Sammlung einen Überblick über unser Arbeitsgebiet gewinnen. Führungen von Vereinen und Schulen fanden mehrmals statt. Darunter befanden sich Schüler der Kgl. Maschinenbauschule Frankfurt, der Verein von Freunden der Chemie und Physik, eine Studienkommission von Studenten der Technischen Hochschule St. Petersburg, der XVII. Fortbildungskursus für höhere Verwaltungsbeamte und der Frankfurter Holzarbeiterverband. " 66 Schon das Jahr 1912 jedoch war mit einem aus den Vorjahren kumulierten Defizit abgeschlossen worden, für das die ursprünglich für Honorare vorgesehene Rücklage in Anspruch genommen werden mußte. Der Tätigkeitsbericht schloß deshalb mit der Feststellung, daß "die Tilgung dieses Defizits, wie die erneute Einstellung der schon bewilligten, aber für andere Zwecke verbrauchten Rücklage unseren Etat für 1913 schwer [belasten] [...]. Die uns für 1913 zur Verfügung stehenden Mittel erlauben uns zwar die

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Vgl. Archiv MG, 160 (5). Tätigkeitsbericht des Instituts für Gewerbehygiene für das Jahr 1912. S. 5f. Vgl. Archiv MG, 160 (6). Monatliche Geschäftsberichte 1908-1912. Archiv MG, 160 (6). Geschäftsbericht des Instituts für Gewerbehygiene für Februar 1911 vom 2. März 1911. Archiv MG, 160 (5). Tätigkeitsbericht des Instituts für Gewerbehygiene für das Jahr 1913. S. 6f.

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Fortführung des Bestehenden, verbieten uns aber die Inangriffnahme neuer Aufgaben größeren Umfangs."67 Im folgenden Jahr hoffte man, das inzwischen verringerte Defizit auch in Zukunft mit durch das Institut erwirtschafteten Erträgen ausgleichen zu können.68 Im Folgenden soll nun besonders auf die "experimentelle" Forschung des Instituts für Gewerbehygiene eingegangen werden, ein Tätigkeitsfeld, dem das Institut seine Gründung verdankte und dem in der Retrospektive quantitativ wie auch qualitativ mithin das größte Gewicht zukam. Wegweisend sind hier die schon oben erwähnten "Untersuchungen über Bleivergiftungen und ihre Verhütung in industriellen Betrieben" geworden, die Ferdinand Blum im Auftrag der Metallurgischen Gesellschaft AG ausgeführt und 1900 veröffentlicht hat.69 Blum begann seine Darstellung mit den Worten: "Im Folgenden stelle ich dasjenige zusammen, was sich mir aus dem Studium der Litteratur [sie!], bei der Besichtigung von Bleibetrieben und aus eigenen Versuchen als zweckdienlich zur Vermeidung von Bleivergiftung, speciell auf Hütten und Aufbereitungsanstalten, ergeben hat".70 Blum stellt zunächst 20 Vorschläge zur Verbesserung des Arbeitsschutzes in der Bleierzverarbeitung und damit zur Vermeidung von Bleierkrankungen und -Vergiftungen dar, um diese dann ausführlich zu begründen. Diese Vorschläge erstrecken sich von Empfehlungen zur mehrmaligen Verabreichung "schleimiger Speisen" und dem Verbot "starker Alcoholica und saurer Speisen" über technische Verbesserungsvorschläge in den Betrieben: "Mantel oder Rauchfang und Exhaustor genügen erst dann vollkommen, wenn der Abzug so ausgiebig ist, dass bei jeder Arbeitsart der gewöhnliche Standort des Arbeiters von bleiischen Dämpfen und Staub nicht mehr erreicht wird. Es empfiehlt sich zur Kontrolle der diesbezüglichen Leistungsfähigkeit einen 67

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Archiv MG, 160 (5). Tätigkeitsbericht des Instituts für Gewerbehygiene für das Jahr 1912. S. 8. Vgl. hierzu auch Tätigkeitsbericht des Instituts für Gewerbehygiene für das Jahr 1911. S. 10. Vgl. Archiv MG, 160 (5). Tätigkeitsbericht des Instituts für Gewerbehygiene für das Jahr 1913. S. 8. "Untersuchungen über Bleivergiftungen und ihre Verhütung in industriellen Betrieben". Ausgeführt im Auftrag der Metallurgischen Gesellschaft A.-G. von Dr. med. F. Blum, nebst: 1. Zusammenfassung der Äusserungen verschiedener inund ausländischer Betriebsleiter. 2. Vorsichtsmassregeln für Arbeiter zur Verhütung der Bleikrankheit, aufgestellt von dem öffentlichen Gesundheitsamt in New South Wales (Australien). Frankfurt am Main, 1900. (Künftig zitiert: Blum, Untersuchungen über Bleivergiftungen). Blum, Untersuchungen über Bleivergiftungen, S. 3.

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mit einem Bleisammler beschickten und verstellbaren Apparat dem Abzugssystem anzuschliessen".71 Vorbildlich für die sich anschließende Forschung aber sollte Blums experimentelle Vorgehensweise werden. Als Beispiel mag hier das Problem der schwefeligen Säure in der Hüttenluft gelten. Blei wird noch heute mittels Röstreaktions- oder Röstreduktionsverfahren aus den Bleierzen gewonnen.72 Eines der wichtigsten Erze ist das Bleiglanz (PbS). Dieses sulfidische Erz wird zunächst durch den Röstvorgang in Bleioxid (PbO) überführt, wobei das in allen Hütten erzeugte, stechend riechende Schwefeldioxid (S0 2 ) entsteht. 2 PbS + 3 0 2 —> 2 PbO + 2 S0 2 Anschließend wird das Bleioxid mit Hilfe von Kohle (C) bzw. dem außerdem entstehenden Kohlenmonoxid (CO) zu metallischem Blei (Pb) reduziert. PbO + C —> Pb + CO PbO + CO —» Pb + C0 2 Das bei der "Röstarbeit" entstandene Schwefeldioxid wird von Wasser (H 2 0) begierig aufgenommen; die so entstandene Lösung ist die schwefelige Säure (H 2 S0 3 ). Das Wasser wiederum befindet sich durch die Aufbereitung der Erze in den Hütten. Durch das Zerkleinern der Erze entsteht erzhaltiger Staub, aber auch sogenanntes taubes Gestein, welches durch Auslesen, Waschen und Schlämmen abgesondert wird. S0 2 + H 2 0 - > H 2 S0 3 Blum stellte hierzu fest, daß es mit "der Filtration des abgesaugten Rauches [...] noch nicht sein Bewenden haben [darf]. Auch die schweflige Säure muss von der Hüttenatmosphäre ferngehalten werden, denn sie vermag auf indirektem Wege die Gefahr der Bleiintoxikation eher zu vermehren, als

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Blum, Untersuchungen über Bleivergiftungen, S. 3ff. Vgl. hierzu und ftlr das Folgende Holleman, Arnold Frederik; Nils Wiberg: "Lehrbuch der anorganischen Chemie". Berlin/New York, 1985. S. 801. Mehr ist über die Bleiverhüttung jedoch in der Auflage von 1964, S. 358 zu finden.

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zu vermindern. Zu dieser Anschauung, die im Gegensatze zu den bisherigen Angaben steht, bin ich durch [...] Versuche gekommen".73 Blum hatte hierzu im Labor die Reaktion von Salzsäure mit Bleioxid bei 35°C untersucht und festgestellt, daß Salzsäure bei Körpertemperatur mit dem Bleioxidgemisch eine Verbindung zum leicht löslichen Bleichlorid eingeht. Hieraus und aus analogen Versuchen mit Essig- und Milchsäure sowie Bleiglanz, die im Laboratorium der Metallurgischen Gesellschaft stattgefunden hatten, schloß er, daß die menschliche, aus Salz-, Milch-, Essig- und Buttersäure bestehende Magensäure unlösliche Bleiverbindungen löst und bindet.74 Blum stellte weiter fest, daß einem "Verdauungsgemisch" zugefügte verdünnte Schwefelsäure die schwächeren Säuren aus ihrer Bindung mit Eiweiß verdrängt und von daher selbst schwefelige Säure die "vorhandenen Gärungssäuren im Munde und Magen in Freiheit zu setzen und so indirekt eine grössere Löslichmachung der [...] Bleipräparate zu bewirken" im Stande sei.75 Aus diesem Ergebnis leitete er die Forderung ab, die bei der Bleigewinnung entstehende schwefelige Säure wegen der durch sie erhöhten Gefahr der Bleivergiftung für die Arbeiter zu beseitigen.76 Blum ging nun jedoch noch einen Schritt weiter und betrat damit ein Gebiet, das man heute wohl als anwendungsorientierte Industrieforschimg bezeichnen würde. "Bisher hat man die schweflige Säure aus der Atmosphäre ferngehalten, indem man sie entweder neutralisierte, oder zur Fabrikation von Schwefelsäure verwendete. - Für alle diejenigen Fälle, in denen es sich nur um kleinere, in dem Rauche enthaltene Mengen von S0 2 handelt, dürfte es sich empfehlen, durch Einschaltung von weitmaschigen, feuchtgehaltenen Kalk- oder Kreidelagern in das Kanalsystem die lästige und für die Apparatur nachteilige Säure zu entfernen. Entwickeln sich [...] grosse Quantitäten von schwefliger Säure, so wird man diese nicht nur entfernen, sondern auch nutzbar machen."77 Den Beweis, daß "ein Arbeiter nach Ablauf seiner akuten Bleivergiftung nicht nur noch nicht bleifrei geworden ist, sondern immer noch die

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Blum, Untersuchungen über Bleivergiftungen, S. 10, mit Verweis auf einen Artikel in der Zeitschrift ftlr Gewerbehygiene, Nr. 17, S. 269, in dem der Autor Wegener "die schweflige Säure für nützlich und ihre Ausnutzung zur Schwefelsäuregewinnung für einen hygienischen Fehler" bezeichnet hatte.

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Vgl. Blum, Untersuchungen über Bleivergiftungen, S. 10ff. Blum, Untersuchungen über Bleivergiftungen, S. 13. Vgl. Blum, Untersuchungen über Bleivergiftungen, S. 14. Blum, Untersuchungen über Bleivergiftungen, S. 14.

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Gefahr der Neuerkrankung in sich selbst herumträgt"78, erbrachte Blum anhand eines Tierversuchs. "Am 19. August 1899 brachte ich in Gelatinkapseln, die sich bei Körpertemperatur auflösen, eingeschlossen 1,5 g Bleijodid einem Hasen von 1,75 kg Gewicht unter die Haut und schloss [...] die kleine Wunde auf das sorgsamste durch Naht und Kollodiumüberzug".79 Blum untersuchte in den 20 Tagen bis zum Tode des Tieres regelmäßig Urin und Kot und analysierte anschließend das Bleigemisch an der Applikationsstelle. Die Untersuchungen ergaben, daß ein geringer Teil des Bleis mit den Fäkalien ausgeschieden wurde, daß aber - nach den Schlüssen Blums - das im Organismus verbleibende Blei gerade im Verdauungstrakt weitreichende Schäden anrichte. "Es besteht also gewissermassen ein Kreislauf des Bleies im Organismus dergestalt, dass Blei auf irgend einem Wege zunächst in das Körperinnere gelangt, dort sich mit Gewebebestandteilen umsetzt und hierauf allmählich als basisches Bleicarbonat niedergeschlagen wird, um dann durch die Schleimhaut hindurch in das Lumen des Verdauungsapparates transportiert zu werden; dort aber wird durch die Salzsäure des Magens oder die Verdauungssäfte des Dünndarms das Blei teilweise wiederum resorbierbar gemacht und gelangt in dieser gefährlicheren Gestalt von neuem in Blut oder Lymphe." 80 Bei einer solchen empirischen Vorgehensweise mußte Blum zwangsläufig auf das Problem fehlender bzw. ungenauer Statistiken stoßen. "Es ist nur dann zu hoffen, einen Ueberblick Uber die wahre Gefährlichkeit eines Bleibetriebes zu bekommen und die Gesundheitsgefährdung einzudämmen, wenn durch klare und eindeutige statistische Erhebungen festgelegt wird, bei welchen Arbeiten und in welcher Form sich Störungen des Wohlbefindens offenbaren." Auch aus diesem Mangel zog er kreative Schlüsse und forderte, "vom Arzte auszufüllende Fragebogen zusammenzustellen, die über den Gesundheitszustand des Arbeiters vor Eintritt in den Betrieb Rechenschaft verlangen. Der gleiche Fragebogen wäre dann stets am Schlüsse eines Jahres oder bei dazwischen kommenden Krankheiten auszufüllen."81 Er fügte einen von ihm entworfenen, systematischen Fragebogen bei, der eine standardisierte statistische Erfassung ermöglichen sollte. Die Ergebnisse der "Krankheits-

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Blum, Blum, Blum, Blum,

Untersuchungen Untersuchungen Untersuchungen Untersuchungen

über Bleivergiftungen, über Bleivergiftungen, über Bleivergiftungen, über Bleivergiftungen,

S. 25. S. 22f. S. 24. S. 19.

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statistik" sollten seiner Meinung nach "den Ausgangspunkt für hygienischprophylaktische Massnahmen [sie!] bilden".82 Wie dargelegt, stehen die Untersuchungen Blums in einem engen Zusammenhang mit der Gründung des Instituts für Gewerbehygiene. Blums Vorgehensweise und Ergebnisse dürften Wilhelm Merton letztlich vollends von der Notwendigkeit experimenteller Gewerbehygiene in Form anwendungsorientierter Industrieforschung überzeugt haben. Doch die Wirkung der Blum'schen Arbeit ging hierüber weit hinaus, seine Ergebnisse fanden Eingang und Bestätigung in Wissenschaft und Forschung. So bezog sich der Privatdozent Dr. Ludwig Teleky aus Wien in einem arbeitsmedizinischen Vortrag, den er in einer Sitzung des Großen Rates des Instituts für Gewerbehygiene im Mai 1912 hielt, auf Erkenntnisse Blums und verwies explizit auf dessen Untersuchungen,83 während Blum selbst seine Forschungen unter erweiterten Aspekten fortführte.84 In der Zwischenzeit waren die Forschungen über die seinerzeit "Bleigefahr" genannten gesundheitlichen Risiken in den Bleihutten und der bleiverarbeitenden Industrie nicht zuletzt auf Betreiben des Merton'schen Instituts für Gemeinwohl fortgeschritten. Noch vor Aufnahme eigener Tätigkeiten des Instituts für Gewerbehygiene stellte dieses Institut dem Internationalen Arbeitsamt finanzielle Mittel zur Veranstaltung eines internationalen "Preisausschreibens zur Bekämpfung der Bleigefahr" zur Verfügung. Unter den preisgekrönten, in deutscher Sprache verfaßten Arbeiten befindet sich die mehr als 200 Seiten umfassende des Diplom-Ingenieurs Richard Müller, die aus der arbeitstäglichen Praxis des Huttenverwalters resultierte und ganz bewußt praktischen Erfahrungen den Vorrang gab. So hat Müller "ganz besonders ausführlich die Frage behandelt, wie nach meiner Erfahrung Bleierkrankungen der Bleihüttenarbeiter zustande kommen. Dem mußten sich dann die allgemeinen Maßnahmen anschließen, die zur Verhütung von Bleierkrankungen zu ergreifen sind, worauf unter Schilderung der gesamten Bleierz82 83

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Vgl. Blum, Untersuchungen über Bleivergiftungen, S. 19ff. Teleky, Ludwig: "Die ärztliche Überwachung und Begutachtung der in Bleibetrieben beschäftigten Arbeiter", in: Protokoll der Sitzung des Grossen Rates des Institutes fllr Gewerbehygiene am 4. Mai 1912 nachmittags 4 Uhr im Hörsaal der Senkenbergischen Bibliothek, Viktoria-Allee 9. Berlin, 1912. S. 15-51. (Künftig zitiert: Teleky, Ärztliche Überwachung). Vgl. beispielsweise S. 15 und 39. Vgl. beispielsweise Blum, F., "Über das Schicksal des Bleis im Organismus, nebst Bemerkungen über die Therapie des Saturnismus und über die Vermeidung der Bleigefahr", in: Wiener Medizinische Wochenschrift, Nr. 13/1904, Sp. 537543.

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Verhüttung auf technische Einzelheiten eingegangen werden konnte." 85 Die weiteren deutschsprachigen Preisschriften "beschloß man in systematischer Bearbeitung der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und darin einzelne Teile der preisgekrönten und der angekauften Arbeiten wörtlich aufzunehmen." 86 Die so gewonnenen Ergebnisse wurden 1908 von Leymann veröffentlicht; sie geben Auskünfte über "Die Gesundheitsschädlichkeit der einzelnen Bleiverbindungen"; "Die Aufnahmewege des Bleis in den menschlichen Organismus"; "Die Pathologie der Bleivergiftung"; "Verhältnisse, welche das Auftreten von Bleierkrankungen befördern und unterstützen"; "Allgemeine Maßnahmen zur Bekämpfung der Bleigefahr"; "Bleierzbergwerke und Aufbereitungsanstalten"; "Chemische Verwendung von Blei in Bleifarbenwerken, Akkumulatorenfabriken und dergl."; "Keramische Industrie"; "Gewerbe der Maler, Anstreicher und Lackierer"; "Gewerbe, in denen Blei und Bleifabrikate in großem Maße zum Verbrauch gelangen, wie in Schriftgießereien und Buchdruckereien". Hieran schloß schließlich das Institut für Gewerbehygiene an und führte die so begonnenen Tätigkeiten weiter. 1911 wurde erstmals ein "Bleimerkblatt für Hüttenarbeiter" herausgegeben, das von der Industrie verstärkt nachgefragt und an die Arbeitnehmer weitergegeben wurde. 87 Das Informationsblatt klärte zunächst darüber auf, wie eine Bleivergiftung entsteht und informierte anschließend über Vorsichtsmaßregeln zur Verhütung einer Bleierkrankung. So hieß es dort: "Bleivergiftung erfolgt durch Aufnahme des Bleies in den Körper. Dies geschieht durch Einatmen des immer bleihaltigen Staubes und Rauches oder beim Essen und Trinken, beim Rauchen, Schnupfen und Kauen von Tabak, wenn Speisen oder Tabak mit schmutzigen Händen und schmutzigem Gesicht und Bart gegessen oder mit bleihaltigem Staub bedeckt in den Mund gebracht werden." Hieraus wurde dann der Schluß 85

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"Die Bekämpfung der Bleigefahr in Bleihütten" von Diplom-Ingenieur Richard Müller, Hüttenverwalter der Gesellschaft des Emser Blei- und Silberwerkes zu Ems. Von der internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz preisgekrönte Arbeit. Jena, 1908. Zum Zitat vgl. Vorwort, ohne Seitenzählung. Vgl. hierfür und für das Folgende "Die Bekämpfung der Bleigefahr in der Industrie". Im Auftrage des Internationalen Arbeitsamtes zu Basel herausgegeben von Dr. Leymann, Regierungs- und Gewerberat in Wiesbaden. Jena, 1908. Zu den zuvor gemachten Feststellungen vgl. das Vorwort, S. III und X, zu den folgenden das Inhaltsverzeichnis S. XI-XIV. (Künftig zitiert: Leymann, Bekämpfung der Bleigefahr). Vgl. Tätigkeitsbericht des Instituts für Gewerbehygiene für das Jahr 1911, S. 6, sowie: Umweltdienstleistungen des Konzerns, S. 14.

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gezogen: "Von der höchsten Wichtigkeit ist es, daß man vor den Pausen und nach der Arbeit Gesicht, Mund, Bart und Hände sorgsam reinigt. Man soll nie essen oder das Werk verlassen, bevor man die Arbeitskleider mit anderen vertauscht und sich gründlich gewaschen oder noch besser gebadet hat. Wer während der Arbeit trinkt, soll den Rand des Trinkgefäßes nicht mit schmutzigen Händen berühren. Besonderen Wert lege man auf regelmäßiges Zähneputzen und Mundspülen."88 Das Institut für Gewerbehygiene beschäftigte sich aber auch weiterhin mit experimentellen Forschungen. Noch bis in die zwanziger Jahre war es im Deutschen Reich usus, Anstriche mit dem sogenannten "Bleiweiß" vorzunehmen, während beispielsweise in der Schweiz seit 1904 ein Verbot der Bleiweißanstriche für öffentliche Gebäude bestand.89 Wegen dieser Problematik stellte das Institut "Versuche mit dem von der Maastr. Zinkwit Maatschappy, Liège, in den Handel gebrachten blanc de zinc plombeaux an, die in Gegenwart von zwei Vertretern der Firma, und dem Mitglied des Grossen Rats, Malermeister Stein ausgeführt wurden. Es wurden zwei Versuche unternommen, an einem Hause in Hochstadt und an einem Holzschuppen in Frankfurt a/M. Bei beiden wurde ein Teil mit Bleiweiss, der andere Teil mit blanc de zinc plombeaux gestrichen. Von Zeit zu Zeit sollen Ortsbesichtigungen vorgenommen werden, um die Dauereigenschaften der Farbe festzustellen. Es scheint, das [sie!] die neue Farbe dem Bleiweiss mindestens gleichkommt."90 Dieser Versuch stand in engem Zusammenhang mit den Bemühungen, das Bleiweiß durch eine ungefährlichere, von der Konsistenz her jedoch ebenso geeignete Farbe zu ersetzen. Dabei war man sich bewußt, daß sich eine solche Farbe nur am Markt durchsetzen konnte, wenn sie in Masse mit gleichbleibender Beschaffenheit, vor allem aber auch kostengünstiger produziert werden konnte und "die damit hergestellten Anstriche gegen Witterungseinflüsse und gegen die Einwirkung der Feuchtigkeit ebenso widerstandsfähig sind wie Bleiweissanstriche."91

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Auszüge aus dem "Bleimerkblatt für Hüttenarbeiter, herausgegeben vom Institut für Gewerbehygiene, Frankfurt am Main". Abgedruckt in: Umweltdienstleistungen des Konzerns, S. 14. Vgl. Leymann, Bekämpfung der Bleigefahr, S. III. Archiv MG, 160 (6). Maschinenschriftlicher Geschäftsbericht für die Monate Juli -Dezember 1912, vom 7. Januar 1913. Archiv MG, 161 (3). Schreiben Dr. Leymanns an das Institut für Gewerbehygiene vom 29. März 1913.

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Zur Beurteilung der neuen Farbe, des Zinkweiß, hatte eine Betriebsbesichtigung durch Mitarbeiter des Instituts bei der Maastrichter Zinkweiß Gesellschaft stattgefunden, da es vor allem auch um die Frage ging, ob die Herstellung der Farbe "keine besonderen Gesundheitsgefahren bietet" und ob "ihre Verwendung ohne Gefahren ist". Die Frage der Durchsetzungsfähigkeit der neuen Farbe am Markt, die Frage also, ob "Aussicht vorhanden ist, dass sie das Bleiweiss in erheblichem Umfange verdrängen wird", fand ebenfalls ausreichende Berücksichtigung.92 Der Geheime Regierungsrat Leymann, der das Institut durch seine Mitarbeit unterstützte, nahm ausführlich Stellung zu dem schriftlichen Bericht über die Besichtigung des Maastrichter Betriebes. Wie tief seine Analyse ging, soll sein hier vollständig übernommener Hinweis hinsichtlich des Produktionsverfahrens veranschaulichen. "Nach Ihren Berichten sind in den Werken der Maastrichter Gesellschaft keine besonderen Gesundheitsschädigungen der Arbeiter festgestellt, obgleich die Betriebseinrichtungen keineswegs auf der Höhe [der Zeit - d. Verf.] stehen. Ich würde aber empfehlen darüber noch weitere Untersuchungen anzustellen. Aus der Zusammensetzung der fertigen Farbe, die 4% Bleisulfat enthält, geht hervor, dass die Zinkerze stark bleihaltig sind. In den Erzen ist das Blei als Schwefelblei, also in einer ungefährlichen Form, enthalten. Dieses wird beim Erhitzen in Bleioxyd oder Bleisulfat umgewandelt. Letzteres ist flüchtig bei hoher Temperatur und geht voraussichtlich gleichzeitig mit dem Zinkoxid in die Kondensation. Wenn sich neben Bleisulfat auch Bleioxyd bildet, so wird dieses - wie es auch bei der Zinkgewinnung der Fall ist - in der Asche oder den Rückständen des Ofens bleiben. Somit könnten vielleicht die Ofenarbeiter durch die bleioxydhaltige Asche gefährdet werden. Es dürfte sich daher empfehlen die Asche chemisch auf Blei zu untersuchen und gleichzeitig die Ofenarbeiter durch einen erfahrenen Arzt auf die Anzeichen der Bleieinwirkung untersuchen zu lassen. - [...] Bleisulfat ist keineswegs harmlos. Es kommt also darauf an, ob eine Farbe mit einem Gehalt von höchstens 4% Bleisulfat noch Schädigungen verursachen kann. Am meisten würden die Leute, welche die Kondensationsvorrichtungen entleeren und die Farbe absacken, gefährdet

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Vgl. Archiv MG, 161 (3). Schreiben Dr. Leymanns an das Institut für Gewerbehygiene vom 29. März 1913. Archiv MG, 161 (3). Schreiben Dr. Leymanns an das Institut für Gewerbehygiene vom 29. März 1913.

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Am 7. April 1913 schließlich beauftragte der Verwaltungsausschuß des Instituts für Gewerbehygiene in einer Sitzung die Geschäftsführung, "Schritte zu tun, um ein Verbot der Abgabe von Pulverbleiweiß aus den Fabriken zu bewirken. Zu diesem Zweck soll sie sich mit den Bleiweißfabrikanten und den Handwerkskammern in Verbindung setzen." In der gleichen Sitzung wurden ferner Vorgehensweisen beschlossen, die auf Braunsteinerkrankungen zielten; außerdem wurde die Auftragsvergabe einer wissenschaftlichen Arbeit beschlossen, die sich mit "durch gewisse ausländische Hölzer entstehenden Schädigungen" beschäftigen sollte, ferner war die Untersuchung technischer Eigenschaften einer neuerfimdenen "desinficierenden Anstrichfarbe" geplant.94 Schließlich hatte der Vorstand der Buchdrucker-Berufsgenossenschaft im Jahr 1913 beim Institut für Gewerbehygiene Informationen über Bleierkrankungen im Buchdruckergewerbe angefordert.95 Der hierdurch erkannte Mangel an brauchbaren Statistiken führte dazu, daß man einerseits Angaben der Arbeitnehmerverbände und der Betriebskrankenkassen des Buchdruckergewerbes zu sammeln und zu bearbeiten begann, gleichzeitig aber empirische Untersuchungen in Frankfurt am Main, Hamburg, Leipzig, München, Stuttgart und Berlin in Angriff nahm. "Um neues Material, das nicht nur auf die Anzahl, sondern auch auf die Schwere der Fälle Schlüsse erlauben soll, zu erhalten, schien der Weg gangbar, die vom Kassenarzt für bleikrank oder bleiverdächtig erklärten Buchdrucker in besonderen Untersuchungsstellen mit allen zu Gebote stehenden wissenschaftlichen Methoden untersuchen zu lassen. Natürlich war eine Beschränkung auf die Hauptdruckorte Deutschlands nötig. In diesen wurde der Versuch gemacht, möglichst im Anschluß an Bestehendes die Mitarbeit bekannter Fachärzte zu gewinnen, denen die zur Untersuchimg erforderlichen Einrichtungen zur Verfügung stehen." Die Untersuchungen sollten anhand eines standardisierten Fragebogens erfolgen, der starke Ähnlichkeiten mit dem seinerzeit von Blum skizzierten96 aufwies und der zu standardisierten Ergebnissen in Form einer detaillierten Statistik führen würde. "Wir hoffen, daß diese ärztlichen Untersuchungen Fingerzeige über die relative Gefährlichkeit der einzelnen Betriebsabteilungen in Buch-

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Vgl. Archiv MG, 160 (9). Protokoll der Sitzung des Verwaltungs-Ausschusses des Instituts für Gewerbehygiene am 7. April 1913. S. 2. Vgl. hierzu und für das Folgende Archiv MG, 160 (5). Tätigkeitsbericht des Instituts für Gewerbehygiene für das Jahr 1913. S. 6 und den Anhang für den Fragebogen. Vgl. oben, S. 355.

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druckereien geben, sodaß wir Ausgangspunkte zu weitergehenden technischen Untersuchungen bekommen." Mit ebensolcher Akribie beschäftigte sich das Institut für Gewerbehygiene mit anderen in der Industrie verarbeiteten Giften. So erschien 1912 in den Schriften des Instituts für Gewerbehygiene als zweiter Band der Reihe eine Untersuchung über gewerbliche Quecksilbervergiftungen.97 Nachdem der Autor die "klinischen Erscheinungen der Quecksilbervergiftung" und das "Vorkommen der Quecksilbervergiftungen in verschiedenen Gewerben" dargestellt hatte, widmete er sich ausführlich der Quecksilbergewinnung und -Verarbeitung in verschiedenen Gewerbebereichen, z.B. der Spiegelerzeugung, der Produktion von Glüh- und Röntgenlampen, der Barometer- und Thermometererzeugung etc. Als erster Band in den Schriften des Instituts war jedoch 1911 die lange angekündigte98 Arbeit über in der Chromatindustrie auftretende Gesundheitsschädigungen erschienen.99 Auch hier präsentiert sich dem Leser wieder ein abgerundetes Bild; die in vier Teile gegliederte Arbeit beschäftigt sich mit der "Technologie der Chromindustrien", mit allgemeinen, durch Chromverbindungen verursachte "Krankheits- und Vergiftungserscheinungen", sie stellt schließlich "neue Erhebungen über die Gesundheitsverhältnisse der mit Chromaten beschäftigen gewerblichen Arbeiter" anhand von Statistiken dar und beschäftigt sich am Schluß mit "Massnahmen zum Schutze der Arbeiter gegen die Einwirkung des Chromates". Die negative Bedeutung der Chromate für die Gesundheit schätzte man im Institut für Gewerbehygiene für so gewichtig ein, daß der durch die bis heute weitgehend gültige Klassifizierung der Bakterien weltweit bekannte Direktor des Hygienischen Instituts der Universität Würzburg, Professor Dr. Karl Bernhard Lehmann, in der Sitzung des Großen Rates im Jahre 1912 97

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"Die gewerbliche Quecksilbervergiftung. Dargestellt auf Grund von Untersuchungen in Österreich." Von Dr. Ludwig Teleky, Privatdozent für soziale Medizin an der Universität Wien. Berlin, 1912. (=Schriften des Institutes für Gewerbehygiene zu Frankfurt am Main). Vgl. hierzu Archiv MG, 160 (6a) und (5). Geschäftsbericht des Instituts für Gewerbehygiene G.m.b.H., Frankfurt a.M. für das Jahr 1909, sowie: Tätigkeitsbericht des Instituts für Gewerbehygiene für das Jahr 1911, S. 5. Vgl. hierzu und fllr das Folgende: "Die industrielle Herstellung und Verwendung der Chromverbindungen, die dabei entstehenden Gesundheitsgefahren ftlr die Arbeiter und die Massnahmen zu ihrer Bekämpfung". Von Dr. R. Fischer, Königlicher Gewerbeinspektor zu Berlin. Berlin, 1911. (=Schriften des Instituts für Gewerbehygiene zu Frankfurt am Main).

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einen Vortrag über "Studien an Tieren und in Fabriken über die Bedeutung der Chromate für die Gesundheit" hielt.100 Im Rahmen seiner experimentellen Vorgehensweise untersuchte und befragte er zunächst 133 Arbeiter einer älteren technischen Standards entsprechenden Chromatfabrik sowie einer neu errichteten Chromatgerberei. Hier achtete Lehmann besonders auf das äußerliche Erscheinungsbild der Arbeiter, Ekzeme, offene Geschwüre, Nasenerkrankungen, auf Beschwerden über innere Organe sowie die Beschaffenheit des Harns.101 Seine Ergebnisse stellte er - wenn möglich - repräsentativen Untersuchungen gegenüber, um diese wissenschaftlich abzusichern. "Es zeigten also 5% der Arbeiter [der älteren Chromatfabrik] schwachen Eiweissgehalt des Harns, 12,5% Eiweissspuren [sie!]. Leube fand bei 119 Soldaten in 16% kleine Eiweissspuren [sie!] im Harn, also ein Verhältnis wie bei unseren Arbeitern." Und hinsichtlich der Ergebnisse in der Chromatgerberei: "Es ergab sich also nur ein geringer Eiweissgehalt in dem Prozentsatz, wie ihn Leube für gesunde junge Soldaten festgestellt hat, d.h. ungefähr 16% der Untersuchten, und dabei wurden nur die Verdächtigen untersucht!"102 Seine an mehreren Hunden, Katzen und Kaninchen unternommenen Versuche sicherte er in gleicher Weise wissenschaftlich ab, wobei Lehmann seine Unsicherheit hinsichtlich der Übertragbarkeit von in Tierversuchen gewonnenen Ergebnissen auf den menschlichen Organismus zum Ausdruck brachte. Es sei angemerkt, daß sich der Vortrag im Lichte heutiger wissenschaftlicher Erkenntnis und modernen, auf Prävention, Ganzheitlichkeit und körperliche Unversehrtheit gerichteten Denkens teilweise erschreckend darstellt. Lehmann hatte bei 75% der untersuchten Arbeiter eine "Perforation der Nasenscheidewand" festgestellt, und da, "wo noch keine Perforation da war, gab es wenigstens Geschwüre." "Die meisten hatten Perforationen mit ausgeheilten Rändern die ganz reaktionslos waren, aber immerhin war auch eine ganze Reihe mit perforierten oder noch nicht perforierten unausgeheilten Geschwüren vorhanden, die namentlich bei kalter Witterung schmerzten und bluteten." Die sich hierauf beziehende Feststellung Lehmanns, die jedoch

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Lehmann, K. B.: "Studien an Tieren und in Fabriken über die Bedeutung der Chromate für die Gesundheit", in: Protokoll der Sitzung des Grossen Rates des Institutes für Gewerbehygiene am 4. Mai 1912 nachmittags 4 Uhr im Hörsaal der Senkenbergischen Bibliothek, Viktoria-Allee 9. Berlin, 1912. S. 7-14. (Künftig zitiert: Lehmann, Studien an Tieren). Zur Person Lehmanns vgl. Seeliger, Heinz: Artikel "Karl Bernhard Lehmann", in: NDB, Band 14, S. 71f. Vgl. Lehmann, Studien an Tieren, S. 8f. Lehmann, Studien an Tieren, S. 8 und 9f.

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exemplarischen Charakter besitzt, daß nämlich die Nasenerkrankung "ein durchaus unerwünschtes Leiden [sei], dessen Bekämpfung uns sehr angelegen sein muss, aber eine Erkrankimg, die nach allem was wir wissen für die Konstitution der Leute gleichgültig ist, und die von den Leuten bisher als erträgliches Leiden in den Kauf genommen wird",103 wurde von einem fachwissenschaftlichen Zuhörer mit den Worten untermauert: "Ich stimme mit Herrn Professor Lehmann überein, dass Nasenscheidewandperforationen im ganzen nicht gerade etwas schlimmes bedeuten."104 Dennoch rundete Lehmann seinen Vortrag mit Empfehlungen zur Vermeidung von gesundheitlichen Chromatschädigungen ab und schlug einen weitergehenden "Ersatz von Menschenarbeit durch automatische Apparaturen [vor,] die Gefahren beseitigen, die namentlich der Nase drohen." Er schloß mit dem Satz, die "Chromatnebel beim Eindampfen müssen und können abgeführt werden." 105 Daneben regte er indirekt zu weitergehenden Forschungen über "schwere eitrige Bronchitiden106" an, auf die er in seinen Tierversuchen aufmerksam geworden war, für die er aber bei seinen Untersuchungen an den in der Chromatindustrie beschäftigten Arbeitern keinen Hinweis gefunden hatte, "auf die aber die Statistik hinzuweisen scheint."107 Das wichtigste Ergebnis der Lehmann'schen Arbeit liegt jedoch in der hypothetischen Übertragung schon zuvor gesicherter wissenschaftlicher Ergebnisse auf industrielle Produktionsprozesse, experimentell abgesichert in Tierversuchen. Lehmann hatte nämlich seine "Aufgabe darin gesucht, einer Ätiologie108 der Chromerkrankungen nachzugehen, die die ältesten Forscher auf diesem Gebiete schon geahnt und gefühlt, aber noch nicht scharf erkannt haben. Der Dampf der Eindampfpfannen [in chromatverarbeitenden Industrien - d. Verf.] ist nicht reiner Wasserdampf, sondern ein gelblicher Nebel, da sich Chrompartikel zu den Wasserdämpfen gesellen. Die experimentellen Untersuchungen von Wutzdorff und Heise haben die ausserordentlich inter103 Ygj hierzu insgesamt Lehmann, Studien an Tieren, S. 9. 104

Diskussionsbeitrag zu Lehmann, Studien an Tieren, in: Protokoll der Sitzung des Grossen Rates des Institutes für Gewerbehygiene am 4. Mai 1912 nachmittags 4 Uhr im Hörsaal der Senkenbergischen Bibliothek, Viktoria-Allee 9. Berlin, 1912. S. 14. 105 Lehmann, Studium an Tieren, S. 13. 106 Bronchitiden, Plural von Bronchitis, der Entzündung der Bronchialschleimhäute. 107 y g j Lehmann, Studium an Tieren, S. 13 und S. 14 in einer Antwort auf die Frage des Diskussionsteilnehmers Dr. Ludwig Teleky. 108 Ätiologie ist die Gesamtheit der Faktoren, die zu einer Krankheit führen; als Lehre beschäftigt sie sich mit den Krankheitsursachen.

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essante und fundamentale Tatsache erbracht, dass in der Tat aus den eindampfenden starken Chromatiaugen Dampfbläschen aufsteigen, die von einem Chromatmantel umhüllt sind. Ich betone das stärker, weil ich Uberzeugt bin, dass in verschiedenen Industrien ähnliche zu wenig beachtete Ätiologien für Krankheiten vorkommen." 109 Lehmann wiederholte diesen Versuch anschließend mit Tieren, bei dem sich die verdampfende Chromatlösung durch das Zusammenwirken von hoher Oberflächenspannung und Kondensation nicht im unteren, sondern im oberen Luftbereich ansammelte. Hierauf war offensichtlich in der Gewerbehygiene noch nicht geachtet worden, denn Lehmann hatte in anderem Zusammenhang beobachtet, daß sich "in einem Raum, wo Akkumulatoren geladen werden und Wasserstoffbläschen mit Schwefelsäure-Membranen überzogen aufsteigen", gleiches mit Schwefelsäure vollzieht, so daß man es mit "gesenkten Augen [...] im Räume gut aushalten [kann], blickt man [jedoch] in die Höhe, so hat man empfindliches Augenbeissen." 110 Die ausführlich geschilderte und vom Institut für Gewerbehygiene vorangetriebene "experimentelle Gewerbehygiene", die weit in die angewandte Industrieforschung hineinreichte und als "integrierter Arbeits- und Umweltschutz" 111 bezeichnet werden kann, wurde schließlich durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges unterbrochen. Über die Fortführung dieser fruchtbaren Arbeit des Instituts für Gewerbehygiene äußerte sich Dr. Erich Francke noch im Kriegsjahr 1917 folgendermaßen: "Wie weit die bei Kriegsbeginn in Arbeit befindlichen grösseren Themen (z.B. Häufigkeit der Bleierkrankungen im Buchdruckergewerbe, Giftigkeit bleifreier Zinkfarben, Untersuchungen über Magenerkrankungen u.a.m.) weitergeführt werden können, hängt z.T. davon ab, ob die Stellen, die zum Teil namhafte Beträge für diese Arbeiten zugesagt hatten, geneigt sind, diese Zuschüsse weiterhin zu leisten." 112 Entspricht nun Wilhelm Merton, um abschließend zum Generalthema der Tagung, "Unternehmer und technischer Fortschritt", zurückzukehren, den Vorstellungen Joseph Alois Schumpeters vom "dynamischen Unternehmer" 113 ? Der Schumpeter'sche Unternehmer bewirkt durch die Einführung

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Lehmann, Studium an Tieren, S. 1 lf. Lehmann, Studium an Tieren, S. 12. Vgl. hierzu auch Umweltdienstleistungen des Konzerns, S. 14. Archiv MG, 160 (7). Schreiben Dr. E. Franckes vom 27. Oktober 1917. Vgl. für das Folgende den immer noch grundlegenden Aufsatz von Werner, Josua: "Das Verhältnis von Theorie und Geschichte bei Joseph A. Schumpeter", in:

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neuartiger Produktionsmethoden einen - wegen seines revolutionären Charakters von den Anhängern evolutionärer Vorstellungen kritisierten "ruckartigen" Wandel in den Produktionsverhältnissen. "Solange technische Änderungen bloß dazu bentltzt werden, um sich dem Wandel der Daten anzupassen, ohne daß gleichzeitig eine Änderung in den Produktionsfunktionen eintritt, solange liegt noch kein technischer Fortschritt vor." 114 Entscheidend ist die Unterscheidung zwischen der Erfindung, Invention, und der Einführung einer technischen Neuerung, Innovation. Für das Verständnis der anschließend von Schumpeter untersuchten Konjunkturschwankungen ist von Bedeutung, daß Innovationen unregelmäßig, dann aber in kumulierter Form in Erscheinung treten. "Zu Beginn einer Aufschwungphase werden nur wenige Unternehmer einer Branche bereit sein, die Risiken einer grundsätzlichen Neuerung zu tragen. Erweisen sich diese Neuerungen als erfolgreich, so werden die weniger risikofreudigen Unternehmer mit ähnlichen Projekten nachfolgen."115 Der schöpferische Unternehmer bringt dabei die Invention mittels Kreditschöpfung erst zur Anwendung, durch ihre Einführung in den Produktionsprozeß und die damit verbundene wirtschaftliche Nutzung wird sie gleichsam zur Innovation. "Die Durchsetzung von grundlegenden wirtschaftlichen Neuerungen umfaßt neben 1. der Auswertung von Erfindungen, welche die Einführung neuer Produktionsmethoden bedeutet, 2. die Herstellung neuer Güter, 3. die Erschließung neuer Absatzmärkte, 4. die Eroberung neuer Bezugsquellen und 5. die Durchführung grundlegender organisatorischer Neuerungen."116 Wilhelm Merton war in diesem Sinne durchaus ein innovativer Unternehmer. Als erfolgreicher Unternehmer machte er weniger durch eine bahnbrechende Erfindung oder deren erstmaligen Einsatz von sich reden, vielmehr vermochte er die einzelnen aktuellen wissenschaftlichen, betriebswirtschaftlichen und technischen Methoden in ihrer Bedeutung zu erkennen, sie

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Geschichte der Volkswirtschaftslehre. Hrsg. v. Antonio Montaner. Köln/Berlin, 1967. (=Neue Wissenschaftliche Bibliothek). S. 277-295, besonders S. 282-284. (Künftig zitiert: Werner, Verhältnis von Theorie und Geschichte). Zum gesamten theoretischen Ansatz Schumpeters verweise ich hier ferner auf den einleitenden Beitrag von Kerstin Burmeister: "Die Vorstellungen Joseph Alois Schumpeters vom dynamischen Unternehmer". S. 25-33. Werner, Verhältnis von Theorie und Geschichte, S. 282. Werner, Verhältnis von Theorie und Geschichte, S. 283. Werner, Verhältnis von Theorie und Geschichte, S. 283. 365

quasi in seiner Person zu bündeln, um sie dann in seinem Betrieb erfolgreich anzuwenden und somit umzusetzen. So machte sich Merton schon bald nach seinem Eintritt in den Betrieb seines Vaters den Kapitalmarkt zu nutze, indem er die Metallgesellschaft als Aktiengesellschaft gründete. Infolge der weiter steigenden finanziellen Anforderungen griff er auch in der Folge immer wieder auf die Mittel des Kapitalmarktes zurück. Er hatte erkannt, daß ein weltumspannendes Handelsnetz, vor neue technische und ökonomische Herausforderungen gestellt, nicht mehr mit den Mitteln eines klassischen Familienunternehmens geführt werden konnte. Innerbetrieblich setzte Merton durch diverse Umstrukturierungen eine Trennung der Bereiche Handel, Forschung und Entwicklung sowie Finanzwesen durch, was einer arbeitsorganisatorischen Spezialisierung und somit betriebswirtschaftlicher Rationalisierung gleich kam. Durch die analytische Begutachtung der vormals undifferenziert gehandelten Metalle wurde die Metallgesellschaft dem Bedürfnis der Industrie nach gleichmäßig beschaffenen, also standardisierten Stoffen gerecht. Im Ergebnis bedeutete dies systematische Erforschung der gehandelten Metalle, Entwicklung und Vertrieb von Verfahren, Produktdiversifizierung und Kundenorientierung. Der damit durchgesetzten anwendungsorientierten Industrieforschung kam die Verwissenschaftlichung zu Gute. Zunehmend wurden wissenschaftliche Erkenntnisse ökonomisch nutzbar gemacht oder resultierten umgekehrt Inventionen aus wirtschaftlichem Interesse und Antrieb. Das Prinzip der Wissenschaftlichkeit wurde ebenso systematisch im Bereich der durch Merton institutionalisierten experimentellen Gewerbehygiene angewandt. Nicht nur die Mitarbeiter des Instituts für Gewerbehygiene, sondern alle von Merton oder, nach dessen Gründung, vom Institut mit Aufgaben betrauten oder geförderten Personen gingen nach strengen wissenschaftlichen Kriterien an ihre Arbeit. Die Wissenschaftler formulierten aufgrund von Beobachtungen Hypothesen, überprüften diese im Labor oder anhand vorhandenen, repräsentativen Zahlenmaterials und kamen so zur Verifizierung - oder auch Falsifizierung - ihrer Hypothesen. Dem dabei empfundenen Mangel an verwertbaren Daten sollte durch den Aufbau einer Statistik begegnet werden - ein Vorgang übrigens, der an den Aufbau des statistischen Dienstes der Metallgesellschaft in Form eines 1893 erstmals erschienenen "Statistischen Jahrhefts der Metallgesellschaft"117 anschloß. Man bemühte sich deshalb um eine systemati117

Vgl. Achinger, Merton in seiner Zeit, S. 57 und 78ff.

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sehe Erfassung, um die Vergleichbarkeit der Daten zu garantieren, vor allem aber auch um Zugänglichkeit zu diesen und anderweitig zusammengetragenen Daten. Das Institut für Gewerbehygiene sollte von daher auch als Datenbank fungieren. Der integrierte Arbeits- und Umweltschutz 1 1 8 des Instituts für Gewerbehygiene erstreckte sich jedoch - Prophylaxe ist das Stichwort - auch auf das Gebiet der anwendungsorientierten Industrieforschung. Systematisch wurden deshalb im Experiment gewonnene Ergebnisse auf industrielle Verfahren übertragen und die erwarteten Wirkungen überprüft. Zu dem Institut für Gewerbehygiene selbst sei noch angemerkt, daß Merton auch mit dieser Gründung dem Geist der Zeit, durch "industrielle Selbsthilfe" gekennzeichnet, entsprach. So konstituierte sich beispielsweise um die Jahrhundertwende als Reaktion auf die Luftverschmutzung in Hamburg der "Verein für Feuerungsbetrieb und Rauchbekämpfung" aus indu-

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Daß dem Problem des Umweltschutzes, also der Wahrnehmung des Zielkonfliktes zwischen Ökonomie und Ökologie, auch um die Jahrhundertwende schon mehr Aufmerksamkeit zuteil wurde als bisher angenommen, zeigen Ergebnisse des sich innerhalb der Geschichtswissenschaft etablierenden Zweiges der "Umweltgeschichte". Im Lichte dieser Erkenntnisse war Wilhelm Merton also auch hinsichtlich des angestrebten "Umweltschutzes" kein Vorreiter, sondern ein 'Mitkämpfer an vorderster Front'. So stellt beispielsweise Ulrich Wengenroth fest: "Erstaunlicherweise wendet sich diese neue Naturbegeisterung jedoch nicht in eine massive Protestbewegung gegen die Industrie insgesamt oder das Konzept des technischen Fortschritts, wie wir es aus unserer jüngsten Erfahrung erwarten würden. Vielmehr gelingt es sogar wesentlichen Teilen der Industrie, diese Bedürfnisse aufzunehmen und sich selbst an die Spitze dieser Bewegung zu setzen." Und: "Zusammenfassend kann man für die Zeit zwischen der Jahrhundertwende und dem Zweiten Weltkrieg [...] sagen, daß sich die Hoffhungen auf eine Überwindung der Umweltprobleme mit einem industriellen Fortschrittsoptimismus verbanden. Eine bessere Kunstwelt schien herstellbar. Die Hindernisse auf dem Weg dorthin sahen die Zeitgenossen weniger in einer strukturellen Unfähigkeit der Industriewirtschaft als in den bis dahin beispiellosen politischen, wirtschaftlichen und schließlich kriegerischen Katastrophen". Wengenroth, Ulrich: "Das Verhältnis von Industrie und Umwelt seit der Industrialisierung", in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beiheft 69. Stuttgart, 1993. Industrie und Umwelt. Referate und Diskussionsbeiträge der 16. Öffentlichen Vortragsveranstaltung der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte am 15.5.1991 in Mannheim. Hrsg. v. Hans Pohl. S. 25-44. S. 37f. und 40f. Vgl. in diesem Kontext auch das im Folgenden genannte Beispiel des Hamburger "Vereins für Feuerungsbetrieb und Rauchbekämpfung". 367

striellen Kreisen, allerdings, um das Problem der Luftverschmutzung nicht staatlichen Stellen mit unvorhersehbaren gesetzlichen Konsequenzen überlassen zu müssen.119 Um nichts anderes als eine Selbstverwaltungseinrichtung der Wirtschaft schließlich handelte es sich auch bei den seit den 1860er Jahren entstandenen Dampfkessel-Überwachimgs-Vereinen, deren Überwachungsaufgaben sich bald erweiterten, und auf die die heutigen "Technischen Überwachungs-Vereine", abgekürzt TÜV, zurückgehen.120 Hinsichtlich des von Wilhelm Merton aufgebauten und in verschiedene Organe gegliederten "Informationswesens" innerhalb der Metallgesellschaft ist bemerkt worden, daß "sie alle [...] seinem Streben nach Klarheit, Information und Mehrung der Vernunft [entsprachen]; dies alles nicht nur auf seinen Konzern angewendet, sondern im Hinblick auf die allgemeinen Zustände, ja den Fortschritt überhaupt"121. Von dieser Beurteilung sollte Mertons soziales Engagement nicht ausgenommen werden. Die "Erhaltung des geschäftlichen Anstandes, ja der Geschäftsmoral" 122 , heute würden diese Eigenschaften als Berufsethos bezeichnet, gehörten zu den Merton'schen Maximen. Doch dies stellt Mertons Haltung und Leistung nur verkürzt, weil sein soziales Engagement ausklammernd, dar. Wilhelm Merton selbst hat sich zu den Beweggründen sozialer Tätigkeit allgemein so geäußert: "In ihrer reinsten Form entspringt sie [die Wohltätigkeit - d. Verf.] dem Mitleid und der Nächstenliebe; im Weiteren dem Gefühl für das allgemeine Wohl; sie erfolgt aus Gewohnheit; zur persönlichen Befriedigung, wenn nicht gar aus Selbstsucht; zumeist aber aus einer Mischung dieser verschiedenen Beweggründe. Auf diese gibt es eine Unzahl von Varianten. Der Eine spendet, weil er hinter anderen nicht zurückstehen will, ein Zweiter denkt dabei an sein Seelenheil. Manche erhoffen materielle Vorteile und nicht wenige streben nach Titeln, Orden und sonstiger Huld von Oben u.s.w. Vielen davon ist es aber gleichzeitig um das Wohl der Person oder um die Bestrebung selbst zu thun, für die sie wirken oder Opfer bringen."123 Merton selbst zählte zu jenen, denen es um das Wohl der Personen und die Sache selbst ging, gepaart mit einem "Gefühl für das allgemeine

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Vgl. hierzu insgesamt Lehnigk, Jens: "Luftverschmutzung um 1900: Der Fall Hamburg". Wissenschaftliche Hausarbeit zur Erlangung des akademischen Grades eines Magister Artium der Universität Hamburg. Hamburg [masch.], 1993. Vgl. hierzu König/Weber, Netzwerke, Stahl und Strom, S. 45f. Achinger, Merton in seiner Zeit, S. 79f. Achinger, Merton in seiner Zeit, S. 80. Zitiert nach Achinger, Merton in seiner Zeit, S. 112.

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Wohl". Wilhelm Merton fühlte sich - um es mit einer Kategorie Max Webers zu belegen - der Verantwortungsethik verpflichtet, und handelte in diesem Sinne durchaus "zur persönlichen Befriedigung, wenn nicht gar aus Selbstsucht", jedoch in einem introvertierten Sinne. Wilhelm Merton entspricht einer hochmotivierten, aktiven, dynamischen und kreativen Person, wie sie die Theorie der Leistungsmotivation kennt, einer Person, die sich Probleme selbst stellt und nicht abwartet, bis diese "von anderen vorgegeben" und an sie "herangetragen" werden. "Die Theorie der Leistungsmotivation leugnet dabei nicht den Einfluß materieller Anreize, beispielsweise in Form des Strebens, möglichst viel Geld oder Vermögen anzusammeln. Sie sieht jedoch das ursprüngliche und dominierende Motiv leistungsbezogenen Handelns in der Eroberung und Überprüfung der eigenen Tüchtigkeit."124 So konnte es geschehen, daß Merton, als im Oktober 1901 die Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften in Frankfurt feierlich eingeweiht und ihm der Kaiser-Wilhelm-Orden überreicht werden sollte, sich auf seine Gesundheit berufend in das Ferienhaus nach Tremezzo am Lago di Como in Italien zurückzog und der Familie, vor allem seiner Frau, den unerwünschten und lästigen Trubel überließ.125 Wie aus einem Brief des Frankfurter Oberbürgermeisters und Freundes126 Dr. Franz Adickes an Wilhelm Merton hervorgeht, hatte der mit seinem Fernbleiben sein Ziel jedenfalls voll erreicht: "Verehrtester Herr Merton! Gestern Abend erhielt ich die Trauernachricht, daß Sie am 21ten nicht hier sein können. Egoistisch, wie der Mensch ist, beginne ich mit dem Bekenntnis, daß mir damit die eigentliche herzliche Freude an der Sache genommen ist. Ich hatte nie anders denken können, als daß Sie den Mittelpunkt des ganzen Festes bildeten, dessen große Auffassung geistiger und finanzieller Verhältnisse allein die Gründung der Anstalt ermöglicht hat. Zu meinem Bedauern traf ich Ihre liebe Frau heute nicht, der ich alles dies klagen wollte."127

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Leipold, Helmut: "Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme im Vergleich. Grundzüge einer Theorie der Wirtschaftssysteme." Stuttgart, 5 1988. S. 42. Für das Vorhergehende vgl. S. 41. 125 Yg] hierzu Achinger, Merton in seiner Zeit, S. 225ff. 126 Zur durchaus ambivalenten Freundschaft Wilhelm Mertons und Dr. Franz Adikkes vgl. das gesamte Kapitel "Merton und Adickes" bei Achinger, Merton in seiner Zeit, S. 259-277. 127 Brief Adickes an Merton vom 14. Oktober 1901. Zitiert nach Achinger, Merton in seiner Zeit, S. 226. (Hervorhebung bei Achinger).

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Technischer Fortschritt als Leitfaden oder als Stolperdraht für Unternehmerentscheidungen VON HASSO FREIHERR VON FALKENHAUSEN

1. TECHNISCHER FORTSCHRITT ALS KONSTRUKTIVE UNRUHE Wie auch immer man den technischen Fortschritt definiert: Der Unternehmer sieht darin einen kreativen Unruheherd, die Hefe im Teig der Wirtschaft oder die Quelle für Signale über das Entstehen von neuen Chancen und Risiken. Einige Beispiele machen das deutlich: a) In der Bundesrepublik stiegen die Investitionen je Arbeitsplatz zwischen 1985 und 1990 im produzierenden Gewerbe für Verbrauchsgüter, Nahrungs- und Genußmittel real um über 10% pro Jahr1. Diese Investitionen führten zu Produktivitätsfortschritten und damit zu einer höheren Leistungsfähigkeit der Industrie. Die menschliche Arbeits- und Denkkraft wurde durch technische Einrichtungen verstärkt. Der erhöhte Bedarf an solchen »Verstärkern« führte zu neuen Märkten für neue Erzeugnisse, z.B. in Meß- und Regeltechnik, Automatisierung, Fördertechnik oder Verpackung. b) Die Ausstattung privater Haushalte (Haushaltstyp 3) mit technischen Gebrauchsgütern hat in den alten Bundesländern von 1988 bis 1993 wesentlich zugenommen2: • Mikrowellenherde von 13% auf 59% • Heimcomputer von 33% auf 60% Für den Haushalt ist mit diesen Geräten das Abwickeln der täglichen Arbeit bequemer geworden; tiefgekühlte Gerichte wurden attraktiver durch die Verkürzung der Aufbereitungszeit im Mikrowellenofen. Der Verbraucher hat in dieser Zeit offensichtlich seine Kaufbereitschaft für diese Erzeugnisse des

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Statistische Jahrbücher für die Bundesrepublik Deutschland 1985 bis 1994, hrsg. v. Statistischen Bundesamt, Wiesbaden 1985 bis 1994. Ebenda.

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technischen Fortschritts erhöht. Damit sind neue Märkte für Erzeugnisse entstanden, die Arbeiten im Haushalt bequemer machen und die technische Abwicklung (z.B. Kontoführung) vereinfachen. c) Höhere Investitionen für Ausbildung am Arbeitsplatz und zur Ausbildung oder Unterhaltung zu Hause wurden durch neuartige technische Güter auf dem Markt ausgelöst3: So stieg die Ausstattung privater Haushalte (Typ 3) mit Videokameras zwischen 1988 und 1993 (alte Bundesländer) von 5% auf 28%. Daraus ergaben sich neue Märkte für Erzeugnisse und Dienstleistungen, zur Unterhaltung wie zur Ausbildung: Abspielgeräte, Filme, Kassetten, Disketten. d) Bei technischen Gebrauchsgütern wie bei elektronischen Bauelementen sind die Lebenszyklen für ein Erzeugnis drastisch gesunken. Die Entwicklungskosten für ein neues Gebrauchsgut müssen heute nach zwei bis drei Jahren eingespielt sein. Damit wird die Intensität der Entwicklungstätigkeiten wesentlich erhöht; neue Märkte bilden sich für Anlagen zur Produktgestaltung, für Tests und zur Markterschließung wie für den raschen Informationsaustausch zwischen Entwickler, Produzent und Markt. Der technische Fortschritt verschiebt dabei die Grenzen des Machbaren und zwingt den Unternehmer, sich an die neuen wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen: • Das bessere Verständnis des Verbrauchers für technische Erzeugnisse verlangt, daß das Erzeugnis ohne Lesen der Bedienungsanleitung nutzbar ist. • Die Verkürzung des Lebenszyklus für neue Erzeugnisse zwingt Entwickler, Hersteller und Kunden zu einer neuen Form der Zusammenarbeit: Da für Marktforschung zu wenig Zeit bleibt, muß der Entwickler und Hersteller dem Kunden »von den Augen oder von den Händen ablesen«, was in Zukunft gebraucht wird. • Neue Arbeitsmittel wie Personal Computer und Kommunikationsgeräte erzwingen eine »schlanke« Organisation: Mehr Arbeitsvorgänge werden an einem Arbeitsplatz zusammengefaßt. Diese schlanke Organisation ist nicht ausschließlich eine Folge des Wettbewerbdrucks. Der Unternehmer muß bei diesen Veränderungen handeln und sieht deshalb den technischen Fortschritt mit anderen Augen als der Verbraucher: Der Unternehmer muß rechtzeitig einstellen und ausbilden; er muß investieren, verlagern oder schließen; er muß rechtzeitig neue Entwicklungsprojekte Statistische Jahrbücher filr die Bundesrepublik Deutschland 1985 bis 1994, hrsg. v. Statistischen Bundesamt, Wiesbaden 1985 bis 1994.

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anstoßen und aussichtslose Projekte abbrechen; und schließlich muß er rechtzeitig die Arbeit neu organisieren, um seine Produktivitätsziele zu erreichen. Der Unternehmer ist nicht Beobachter, sondern direkt betroffener Handelnder: • Als Agierender und Schrittmacher, wenn er den technischen Fortschritt begreift und nutzt • Als Reagierender, wenn ihn der technische Fortschritt überrascht Otfried Wagenbreth hat im BUdinger Symposium 19944 ausführlich über den technischen Fortschritt aus der Sicht des Historikers berichtet: er sah die technischen Entwicklungen unter der langfristigen Perspektive (Jahrhunderte oder Jahrzehnte) und beschrieb die gesellschaftlichen Konsequenzen. In diesem Vortrag wird der technische Fortschritt aus der langfristigen Sicht des Unternehmers behandelt: zehn Jahre in die Zukunft sind dabei sehr lang. Natürlich legt sich der Unternehmer mit Entscheidungen für den Bau einer Fabrik oder den Aufbau eines Servicenetzes auf mehr als zehn Jahre fest. Aber er trifft diese Entscheidungen mit dem Zutrauen auf die Fähigkeit und den Einfallsreichtum der eigenen Mannschaft: Die Rechnungen für die nächsten fünf Jahre sind aussagefähig; für die Zeit danach hat er das Zutrauen zu sich und seinen Mitarbeitern, auch unter geänderten Bedingungen mit der abgeschlossenen Investition wirtschaftlich arbeiten zu können.

2. LEITFADEN UND STOLPERDRAHT Der Einfachheit halber wird hier unter technischem Fortschritt die Entwicklung einer neuen technischen Konzeption und deren Verwirklichung zum Endprodukt mit der notwendigen Infrastruktur für Verkauf und Service verstanden. Dieses Verständnis schließt auch die Entwicklung neuer Fertigungsverfahren ein, die zur Herstellung neuer Produkte notwendig sind, im eigenen Unternehmen wie im Unternehmen des Kunden. Eine solche technische Konzeption ist das Ergebnis von schöpferischem Handeln des Unternehmers: • Durch Erkennen neuer technischer Möglichkeiten, die bei entsprechenden Stückzahlen auch für den Verbraucher vom Preis her attraktiv sind. Bei-

Vgl. dazu den Beitrag von Otfried WAGENBRETH in diesem Tagungsband.

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spiel: Wassertopf mit eingebautem Sensor, der die Heizspirale beim Erreichen von 100 Grad Celsius abschaltet. • Durch Anwenden bekannter Technologien in neuen Märkten. Beispiel: Die Technologie zur Faksimile-Übertragung existiert seit Jahrzehnten und wurde vor allem für die Bildübertragung zwischen Zeitungsredaktionen benutzt. Durch neue elektronische Bausteine (Chips, Mikroprozessoren) wurde diese Übertragungstechnik in größeren Stückzahlen für Industrieunternehmen, in sehr großen Stückzahlen schließlich für den Verbraucher erschwinglich. Der Durchbruch kam durch den Bedarf nach schriftlicher Kommunikation zwischen Büros in Japan: erprobte westliche schriftliche Telekommunikationsformen wie Telex und Teletext waren auf die Schriftzeichen der japanischen Sprache nur mit großer Mühe anwendbar. • Durch Erkennen von Märkten, die durch eine neue Infrastruktur entstehen. Beispiel: Geldausgabe-Automat durch die Scheckkarte. Während die Scheckkarte ursprünglich als Scheckgarantiekarte konzipiert war, wurde sie durch ihre Sicherheitsmerkmale gleichzeitig zum fälschungssicheren Ausweis für die Geldausgabe aus dem Automaten direkt an den Verbraucher rund um die Uhr. Zur Zeit wird sie allmählich zur »Zahlkarte an der Kasse« und macht dadurch das Formular des Euroschecks bei bestimmten Fällen überflüssig. • Durch Erkennen eines Bedarfs beim Endverbraucher, der durch Marktforschungsstudien nicht erfaßbar ist, weil der Verbraucher sich diesen Nutzen nicht vorstellen kann. Beispiel: Mikrowellenofen für den Haushalt. Dieses Gerät war ursprünglich für Hotels und Restaurants entwickelt worden, um Speisen für den Gast rasch heiß zu machen. Durch eine neue technische Konzeption für Großserien und durch Anpassung an den Bedarf des Verbrauchers zu Hause wurde das Gerät im Preis so drastisch reduziert, daß es für den Einsatz im Durchschnittshaushalt attraktiv wurde5. Eine technische Konzeption ist für den Unternehmer ein Leitfaden; dieser Leitfaden ist ähnlich wie der Ariadne-Faden, an dem sich Theseus beim Weg aus dem Labyrinth heraus orientieren konnte. Der Unternehmer braucht diesen Leitfaden, weil sich ihm täglich viele neue Möglichkeiten eröffnen, gleichsam wie für Theseus, der sich ohne Ariadne-Faden an jeder Weggabelung im Labyrinth hätte neu entscheiden müssen. Aber ein Unternehmer mit offenen Augen sieht täglich viele verschiedene Fäden, d.h. viele verschiedene technische Konzeptionen, die ihm jeweils einen besseren Weg zum Ziel suggerieren. So hat der Unternehmer John M. Vetteringham, P. Ranganath Nayak: Senkrechtstarter. Düsseldorf 1989. 374

immer wieder neu zu entscheiden, welchen Faden er ergreift und welchem er folgt. Während Theseus sich an einem Faden orientieren konnte, muß sich der Unternehmer zwischen mehreren Fäden entscheiden. Natürlich weiß er, daß auch mehrere Fäden zum erwünschten Ziel führen können. Diese Fäden sind Risiken und Chancen zugleich: • Die Fäden können lauter Stolperdrähte sein. Der Unternehmer ergreift den vermeintlich besten Faden, richtet sich auf das Ziel aus und geht zielsicher am gedachten Leitfaden entlang. Dabei stolpert er über die kreuz und quer gespannten übrigen Leitfäden, die er bei seiner Entscheidung übersehen hat oder die er nicht sehen will. • Die Fäden können Leitfäden sein, an denen er sich mit seiner technischen Konzeption sicher orientieren kann. Aber auch diese Leitfäden sind nicht jederzeit sichtbar und verschwinden zwischendurch immer wieder im Halbdunkel. Die technische Konzeption ist für den Unternehmer dabei die Orientierungshilfe, die ihn immer wieder von Markierungspunkt zu Markierungspunkt auf dem Weg zum Ausgang des Labyrinths leitet, ihn seinen Leitfaden immer wieder finden läßt, wobei er bewußt den übrigen Stolperdrähten ausweicht. Im folgenden wird über mehrere technische Konzeptionen berichtet: wo sie zum Stolperdraht wurden und wo sie dem Unternehmer ein erfolgreicher Leitfaden waren.

3. DIE TECHNISCHE KONZEPTION ALS STOLPERDRAHT Technische Visionen sind aufregend - und gefährlich. In der Wirtschaftsgeschichte gibt es zahllose Beispiele für überzeugende technische Ansätze, die schließlich zum Untergang von etablierten oder neu gegründeten Unternehmen führten. Vier Fälle sollen hier deutlich machen, wie eine technische Konzeption, gedacht als Leitlinie, schließlich für den Unternehmer zum Stolperdraht wurde und ihn in der weiteren Entwicklung behindert hat.

Perfektionierung einer etablierten Technik Ziel jedes Unternehmens ist der Ausbau seiner bestehenden Technik und die Perfektionierung von Erzeugnissen, die sich im Markt und bei Kun-

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den bewährt haben. Solche Entwicklungsrichtungen sind eine zuverlässige Basis für den weiteren Ausbau des Geschäfts - solange keine Diskontinuitäten eintreten. Ändert sich jedoch der Kundenbedarf schlagartig durch andere Erzeugnisse oder durch andere Arbeitsweisen des Kunden, kann ein Geschäft jäh zusammenbrechen. Das traf z.B. zu für die Herstellung von Zeichenmaschinen: Die Geräte wurden perfektioniert und mit Automaten zum Beschriften von Zeichnungen am Reißbrett versehen. Softwaresysteme für die Arbeit mit Computer Aided Design (CAD) änderten schlagartig die Arbeitsweise des Konstrukteurs und führten zu einem Schrumpfen des Marktes für Zeichenmaschinen auf weit unter ein Drittel innerhalb von wenigen Jahren. CAD bot dabei nicht nur die Übertragung des mechanischen Zeichnens auf Automaten (Plotter), sondern dazu auch noch den elektronischen Zugriff auf Teilebaukästen des Herstellers, so daß gleichzeitig die Teilevielfalt reduziert und die Kosten gesenkt wurden.

Unbeirrter Glaube an die Überlegenheit der bestehenden Technik Die Kreditkarte ist weltweit als Kredit- wie als Debitkarte (direkte Belastung des Kontos bei Abschluß der Transaktion an der Kasse) eingeführt. An Millionen von Terminals werden täglich mehrere Millionen von Transaktionen abgewickelt. Trotz intensiver Bemühungen um erhöhte Sicherheit entstehen erhebliche Verluste durch Kartenbetrug. Die Chipkarte hat auf dem französischen Markt gezeigt, daß sie den Kartenbetrug eindämmen kann. Ihr Einsatz führt zu einer völligen Neuorientierung beim Umgang mit der Karte. Der Markt in USA nimmt die Chancen noch nicht wahr, obwohl sie in europäischen Ländern bewiesen sind. Unternehmen in den USA haben erhebliche Beträge in die Chipkarte investiert; der Markt dort betrachtet dieses Produkt immer noch als eine Lösung, die ihr Problem sucht. Glaube an die elegante eigene Lösung Aufnahmekameras für Fernsehteams im Studio wie bei Außenaufnahmen wurden lange Zeit von eingeführten Herstellern wie Bosch, Philips, RCA und Thompson auf dem Weltmarkt angeboten. Japanische Hersteller kamen in den siebziger Jahren mit eigenen Kameras und boten in den achtziger Jahren tragbare Kameras mit eingebauter Magnetbandaufzeichnung an. Europäische Hersteller entwickelten eine elegantere und handlichere Lösung. 376

Da die japanischen Hersteller sich auf die große Erfahrung bei der Herstellung von ähnlichen Kameras für den Verbraucher stützen konnten, hatten sie einen Stückkosten- und Erfahrungsvorteil, gegen den europäische Hersteller nicht ankamen. Schließlich wurde die Entwicklung dieser Kameras in Europa eingestellt. Heute ist der Markt ganz in den Händen japanischer Hersteller. Hier erkannte man in Europa zu spät den Kostenvorteil aus der Großserienfertigung und den Vorsprung durch die Fertigung von Tausenden von Geräten mit hoher Zuverlässigkeit.

Überschätzung des Nutzens einer neuen Technik Die Wärmepumpe hat sich als technische Konzeption für die Heizung und die Warmwasserbereitung in Wohnhäusern sowohl technisch wie auch wirtschaftlich bewiesen. Da sie in unseren Breiten für strenge Winter nicht ausreicht, ist sie immer für die kalten Tage im tiefen Winter mit einer anderen Heizanlage zu verbinden. Technisch sind die Fragen der Regelung beider Geräte zusammen gelöst. Trotzdem nimmt der Markt diese kostengünstigen und zuverlässigen Heizgeräte nicht an. Hauseigentümer wie Heizungsbauer vertrauen der einfach zu durchschauenden Technik von öl- und Gasheizung mehr als der Kombination einer Wärmepumpe mit einer Öl- oder Gasheizung. Selbst Subventionen des Staates (durch entsprechende Abschreibungsmöglichkeiten) haben Hauseigentümer nicht davon überzeugt, diese neue Technik ins Haus einzubauen. Wärmepumpenhersteller in ganz Europa haben in Entwicklungs-, Fertigungs- und Servicekapazitäten investiert und mußten Ende der achtziger Jahre diese Kapazitäten wieder zurückfahren, weil der Verbraucher weder durch direkten Verkauf noch die Ingenieure im Heizungsbau von der technischen Konzeption überzeugt werden konnten. In jedem dieser Fälle haben erstklassige Entwickler ihr Bestes gegeben, um einem definierten Markt eine neue, elegante und günstigere Lösung anzubieten. In allen vier Fällen war die technische Leitlinie aus der Sicht der Unternehmers qualitativ klar erkennbar und abschätzbar. Aber es fehlte die realistische Einschätzung der Quantitäten: • Beim Zeichengerät fehlte das Verständnis für Diskontinuität im Markt. • Bei der traditionellen Magnetstreifenkarte wurde in den USA die Vitalität der traditionellen Technik in der laufenden Anpassung an neue Marktbedingungen unterschätzt. • Für die neue Fernsehkamera war der Kostenvorsprung des Wettbewerbers in Japan durch Großserienfertigung erheblich größer als erwartet. 377



Bei der Wärmepumpe war der Nutzenvorteil aus Sicht des Herstellers größer als aus der Sicht des Kunden. Das Problem für den Unternehmer lag also nicht in den Signalen, die er aus dem technischen Fortschritt im Markt wahrnimmt. Die Gründe für das Scheitern lagen in einer unrealistischen Einschätzung der Hürden, die auf dem Weg zum Ziel zu überwinden waren, um schließlich den in der Ferne sichtbaren oder zumindest in Umrissen erkennbaren Markt zu erreichen. Hürden ergaben sich durch Widerstände von außen, wie Wettbewerber und Patente, nicht verfügbare Materialien, Trägheit der Verkaufsorganisation oder mangelnde Beweglichkeit der Entwickler. Hürden ergaben sich aber auch durch die Perspektive: Aus der Froschperspektive des neuen Anbieters ist der Markt riesig, aus der Gipfelperspektive des Kunden mit der Übersicht über den gesamten Markt ist der Teilmarkt, der durch eine Neuerung entsteht, unerheblich. Letzteres kann sich ändern. Aber welche Ursache schließlich welche Wirkung auf dem Teilmarkt auslöst, ist zu Beginn des Prozesses unklar. So kann es dem Unternehmer mit der bestehenden technischen Konzeption passieren, daß er beharrlich seinem Leitfaden folgt. Er überwindet besessen Schwierigkeit Uber Schwierigkeit, beachtet genau die quer gespannten Stolperdrähte, und landet doch schließlich in einer Sackgasse im Labyrinth statt im Ausgang. Inzwischen hat der Wettbewerb den Markt bereits beliefert und seine Position gefestigt.

4. DIE TECHNISCHE KONZEPTION ALS LEITFADEN Drei Beispiele sollen deutlich machen, wie Unternehmer aus einer technischen Konzeption einen Leitfaden entwickelt haben, an dem sie sich auf dem Weg von der Produktidee bis hin zum Markterfolg haben orientieren können.

Automatisierung der Blechbearbeitung Als die Automatisierung in der spanenden Fertigung Zug um Zug zur Rationalisierung und zu verbesserter Qualität führten, wurden Bleche noch weitgehend von Hand bearbeitet, um Büromöbel, Schaltschränke oder Blechverkleidungen herzustellen. Ein Ingenieur entwickelte mit großer 378

Weitsicht eine technische Konzeption für das Bearbeiten von Blechen durch ein Verfahren, das der spanenden Fertigung ähnlich ist und das sich automatisieren läßt. Der Unternehmer sah beim Beginn dieser Entwicklung klar ein Licht am Ende des Tunnels, und er ist eindeutig dort angekommen: Das Unternehmen ist heute Weltmarktführer auf diesem Gebiet mit Fertigungsstätten in den wichtigsten Industriemärkten der Welt6.

Die Datenbank in der Westentasche Als sich die Plastikkarte mit dem codierten Magnetstreifen im Markt bewährt hatte, entwickelte ein Erfinder die Konzeption der Chipkarte: In die Plastikkarte wird ein Mikroprozessor eingebaut, der am Ort der Verwendung der Karte (Geldausgabeautomat, Kasse beim Warenhaus, Hotel, Restaurant) die Daten des Karteninhabers auf dem Chip (verschlüsselt gespeichert) vergleicht mit den Daten, die der Karteninhaber bei der Transaktion angibt (Pin-Nummer). Damit entfällt für einen großen Teil der Transaktionen die Herstellung einer direkten Verbindung zwischen dem Ort der Transaktion und einem Zentralrechner, um die Daten des Karteninhabers zu verifizieren. Aus dieser Idee hat sich inzwischen ein Weltmarkt entwickelt, in dem die klassische Magnetstreifenkarte allmählich durch die Chipkarte verdrängt wird. Widerstände gegen diese Entwicklung kamen von der etablierten Infrastruktur (Lesegerät für Karten mit Magnetstreifen); aber die größere Sicherheit gegen Fälschungen wie der Vorteil, persönliche Daten bei sich zu haben statt sie von einem Zentralrechner abrufen zu müssen, hat dieser technischen Konzeption zunächst in Europa zum Erfolg verholfen. Der wirkliche Durchbruch für das Erzeugnis kam durch den Einsatz als vorausbezahlte Telefonkarte; die Sicherheitsmerkmale des Chips sorgten für einen neuen, rasch wachsenden Markt in allen Teilen der Welt.

Zielmarkt Verbraucher, nicht Industriekunde Mehrere Beispiele in den letzten Jahren haben gezeigt, wie die technische Konzeption »Erzeugnisse für jeden Verbraucher« neue Märkte gemacht hat, z.B. • Walkman von Sony Unternehmer und Unternehmen sind dem Verfasser bekannt.

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Laserdrucker für den PC von Hewlett Packard und anderen In beiden Fällen wurde ein Produkt, das sich zu einem für den Verbraucher uninteressanten Preis in der Industrie bewährt hatte, neu konzipiert für den Verbrauchermarkt, wo ein Vielfaches des Volumens aufgenommen werden konnte. Damit wurden neue Märkte gemacht, die den Wettbewerb der erfolgreichen Firmen nicht gesehen hatten oder die sie sich nicht anzugehen hatten, weil sie an den immensen Kostenvorteil aus großen Stückzahlen nicht glaubten. In allen Fällen hat sich der Unternehmer nicht blind auf den Leitfaden verlassen können. Er hat den Leitfaden in die Zukunft gesponnen und ein Ziel definiert. Es war zunächst nur in Umrissen erkennbar, aber es war genügend genau, um beim Fortschreiten von Markierung zu Markierung das Ziel immer genauer ansteuern zu können. Damit wurde die Messung des Erfolgs beim Durchgang durch die Ziellinie immer genauer und der Weg zum Ziel immer klarer.

5. ORIENTIERUNG AM LEITFADEN Der Unternehmer braucht beim Weg von der technischen Konzeption zur Verwirklichung immer wieder Orientierungspunkte, um den Leitfaden nicht zu verlieren. Solche Orientierungspunkte sind zum Beispiel Zwischenberichte aus der technischen Entwicklung, von Messebesuchen und aus Kundengesprächen. Der Unternehmer sollte sich aber gleichzeitig mit dem Blick auf sein Ziel mehrere Fragen stellen, um bei der Suche nach dem nächsten Markierungspunkt am Leitfaden entlang auf dem richtigen Weg zu bleiben: 1. Kenne ich genau den meßbaren Nutzen meines Produkts für den Endverbraucher, z.B. erhöhte Produktivität, Zusatznutzen beim Gebrauch, Schutz vor Risiken? Antworten geben die Endverbraucher selbst im direkten Gespräch; Ergebnisse der Marktforschung können einen irreleiten. Zum Beispiel wäre der Hewlett Packard Taschenrechner HP 35 zu Anfang der siebziger Jahre nicht auf den Markt gekommen, hätte man allein den Ergebnissen der Marktforschung vertraut, die beim Verbraucher keinen Bedarf für ein Erzeugnis in dieser Preisklasse entdeckt hatten. Die

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Ingenieure und Naturwissenschaftler, die mit diesem Rechner den Rechenschieber ersetzten, waren dabei nicht gefragt worden7. Bin ich genügend kühn beim Einschätzen des Marktvolumens und damit bei der Vorhersage des zukünftigen Bedarfs? Hersteller von Großrechnern am Ende der fünfziger Jahre wie Hersteller von PCs zu Beginn der achtziger Jahre haben den Markt für ihre Erzeugnisse wesentlich unterschätzt und waren überrascht über den Bedarf, der sich durch den Einsatz ihrer Erzeugnisse für neue Aufgaben entwickelte. Sehe ich in der Fertigungstechnologie für dieses Produkt die Chance, im Lauf der nächsten Jahre ständig die Herstellkosten zu reduzieren und damit Märkte zu machen, in denen ich eine führende Position halten kann? Kosten für elektronische Produkte, wie z.B. PC oder Chipkarte sind im Lauf von zehn Jahren nominal auf weniger als ein Drittel der ursprünglich geplanten Kosten gefallen. Habe ich eine technische Konzeption, um ein neues Produkt aus Elementen wie aus einem Baukasten zusammenzusetzen? Ein Baukastensystem bietet Hersteller und Verkäufer die Möglichkeit, mit dem Kunden ständig in Kontakt zu bleiben und ihm Ergänzungen und damit neue Problemlösungen anzubieten. Beispiele dafür findet man bei Elektrowerkzeugen für den Hausgebrauch, bei Telefonanlagen und bei Robotern. Habe ich eine technische Konzeption, die einen Markt für Verbrauchsmaterialien schafft und damit Chancen für Kundenkontakte auf lange Sicht bietet? Hersteller von Kraftfahrzeugen und Diktiergeräten bleiben in Kontakt mit ihren Kunden über die Lebenszeit des Produkts durch den Ersatz von Verschleißteilen, durch Lieferung von Verbrauchsmaterialien und durch Instandsetzung. Dafür ist dann aber eine entsprechende Organisation zum Abdecken des Markts erforderlich. Habe ich eine technische Konzeption, die anderen Unternehmen die Chance gibt, Märkte für Ergänzungen und Dienstleistungen aufzubauen und damit indirekt meinen Markt zu erweitern? Systeme wie Bildschirmtext oder das Minitel in Frankreich haben neue Anbieter für Dienstleistungen im Markt entstehen lassen; dadurch wuchs der Bedarf für das ursprüngliche Produkt. Habe ich eine Arbeitsgruppe, die sich ausschließlich darum kümmert, das Produkt zum vorgesehenen Preis und zum geplanten Termin an den Markt zu bringen? Werden die notwendigen Führungsinstrumente benutzt Gespräch des Verfassers 1983 mit John Young, Präsident der Hewlett Packard Corporation, Palo Alto, CA, USA.

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und wird rechtzeitig Alarm geschlagen, wenn Terminverschiebungen drohen oder wenn die Kapazitäten nicht ausreichen? Jedes Unternehmen hat in seiner Geschichte Beispiele für neue Produkte, die mit großer Verspätung auf den Markt kamen und dann die Wettbewerber bereits in festen Positionen fanden. 8. Sind meine Mitarbeiter auf allen Ebenen und sind die Mitarbeiter meiner Marktorganisation genügend gut ausgebildet, um das neue Produkt im Markt systematisch zu unterstützen? Ein Teil des Mißerfolgs der Wärmepumpe für die Heizung und Warmwasserbereitung im Haushalt geht zurück auf das fehlende Verständnis für die Fähigkeit der Außenorganisation, Wärmepumpe und konventionelle Heizung durch eine Regelung zu verbinden und damit für den Heizungsbauer wie den Verbraucher leicht handhabbar zu machen.

6. ZUSAMMENFASSUNG Leitfaden und Stolperdraht sind ähnlich und haben doch so verschiedene Auswirkungen auf den Erfolg des Unternehmers. Eine plausible technische Konzeption ist noch keine Garantie für den Erfolg. Eine überzeugte Abwehrhaltung gegen den technischen Fortschritt ist aber auch kein zuverlässiges Mittel für das Erhalten der eigenen Existenz. Aus Erfahrungen mit Produkten und Dienstleistungen des technischen Fortschritts lassen sich drei Schlußfolgerungen ziehen: Erstens: Das intellektuelle und emotionale Engagement des Unternehmers für Markt und Endverbraucher ist mindestens so wichtig wie die Attraktivität der neuen Technik. Wer sich auf Marktforschung, Analysen, Untersuchungen, Aussagen, Presseberichte und »Bauernkalender-Regeln« verläßt, bleibt fern vom Markt. Er verpaßt die Chance für den Erfolg wie auch die Chance, einen drohenden Mißerfolg rechtzeitig abzuwenden. Die Orientierungspunkte am Leitfaden entlang findet man z.B. durch Handanlegen, Kundenbesuche, Projektsitzungen mit Mitarbeitern, direkte Betrachtungen der Wettbewerber und Messebesuche. Hier hat man die Chance, seine technische Vision mit den Erfahrungen der eigenen Organisation zu vergleichen und den Mut zum Durchziehen einer ungewöhnlichen Konzeption auf die Probe zu stellen. Friedrich Nietzsche wird das Zitat zugeschrieben: "Das Glück im Leben besteht darin, Mut zu haben zu dem, was man weiß." Wissen ist hier das Ergebnis von beobachteten Entwicklungen und selbst verarbeite-

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ten Erfahrungen, aus denen sich eine Orientierung für das eigene Handeln ableiten läßt. Erfolgreiche Unternehmer erleben diese Glücksmomente immer wieder. Sie ergeben sich auch aus dem rechtzeitigen Eingreifen, um einen Mißerfolg zu vermeiden. Sie ergeben sich aber nicht durch die ex-post Einsicht, daß man zwar nichts getan hat, mit seinen Warnungen vor dem Mißerfolg aber recht hatte. Zweitens: Der technische Fortschritt verschiebt die Grenzen des Machbaren. Wenn der Unternehmer den frei werdenden Raum innerhalb der neuen Grenzen nicht ausfüllt, machen es andere. Wer den Status Quo zum Schutz des eigenen Markts zementiert, steckt den Kopf in den Sand und verpaßt Chancen. Im Januar 1829 wurde folgender Brief an den Präsidenten der USA, Andrew Jackson, geschrieben8: "Sehr geehrter Herr Präsident! Das System der Wasserstraßen unseres Landes wird bedroht durch die zunehmende Nutzung eines neuen Verkehrsmittels, bekannt als "Eisenbahn". Die Bundesregierung muß die Kanäle aus folgenden Gründen erhalten: 1) Wenn Binnenschiffe ersetzt werden durch "Eisenbahnen", entsteht ein Heer von Arbeitslosen: Kapitäne, Köche, Steuerleute, Pferdeführer, Handwerker und Schleusenwärter werden ihres Lebensinhalts beraubt, ganz zu schweigen von den vielen Bauern, die zur Zeit ihr Geld mit dem Anbau von Futter für Treidelpferde verdienen. 2) Schiffswerften werden leiden und Hersteller von Leinen, Peitschen und Pferdegeschirr werden notleidend. 3) Binnenschiffe sind unbedingt notwendig für die Verteidigung der Vereinigten Staaten. Im Fall des erwarteten Konflikts mit England wäre der Erie-Kanal der einzige Nachschubweg für die lebenswichtige Versorgung unserer Truppen. Das ist in einem modernen Krieg unerläßlich. Aus den oben genannten Gründen sollte die Regierung eine Interstate Commerce Commission bilden, die die Bevölkerung der Vereinigten Staaten vor den Übeln der "Eisenbahn" schützt und die Kanäle für die Nachwelt erhält. Wie Sie, Mr. President, sicher wissen, werden Eisenbahnwagen mit der enormen Geschwindigkeit von 15 Meilen pro Stunde von "Lokomotiven" gezogen, die zum einen Leib und Leben der Passagiere gefährden, zum anderen tobend und schnaufend durch das Land fahren und dabei Ernten durch Feuer vernichten, Herden scheu machen und Frauen und Kinder erThe World Economy, London, September 1979. Übersetzung aus dem Englischen durch den Verfasser. 383

schrecken. Der allmächtige Gott hat sicher nie beabsichtigt, daß Menschen mit solch halsbrecherischer Geschwindigkeit reisen." Unterschrift: Martin van Buren, Governor des Staates New York (später Präsident der USA) 31. Januar 1829 Drittens: Der technische Fortschritt allein bringt nicht automatisch den Erfolg. Das Angebot des technischen Fortschritts ist wie ein Steinbruch zu sehen, aus dem man die Bausteine heraussuchen kann, um daraus ein »Haus« für die Zukunft zu bauen. Dafür braucht man eine Konzeption, eine Idee, die einen bei den ersten Entwurfszeichnungen für das Haus beflügelt, einen leitet bei der Auswahl der Bausteine und einem hilft, die Bausteine schließlich richtig zusammenzusetzen. Und diese Idee schafft dann die Brücke zwischen Hersteller und Verbraucher. Man kann sogar dem Verbraucher im Gewerbe wie im Haushalt zeigen, daß man bei ihm einen Bedarf entdeckt hat, den er noch gar nicht kennt. Und es ist diese Idee, diese Konzeption, die den Unternehmer auszeichnet, der den technischen Fortschritt nutzt und dadurch antreibt. Max Planck hat das einmal so formuliert: "Erst die Idee macht den Experimentator zum Physiker, den Chronisten zum Historiker, den Handschriftenexperten zum Philologen." Für die technische Konzeption des Unternehmers läßt sich dieses Zitat ergänzen: "Erst die Idee macht den Technologen zum Unternehmer."

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Unternehmer und Innovation in der Bauindustrie VON OTMAR FRANZ

Joseph A. Schumpeter behauptete, er habe sich in seiner Jugend drei Ziele gesetzt: der beste Liebhaber von Wien, der beste Reiter von Österreich und der beste Nationalökonom der Welt zu werden. Leider habe er nur zwei der drei Ziele erreicht, erzählte er seinen Studenten in Harvard, werde aber niemand verraten, welche. Ich habe mir heute nur ein Ziel gesetzt: Ich möchte Ihnen zeigen, daß in der Bauwirtschaft Innovationen und Unternehmertum zusammengehören, obwohl manche glauben, in den letzten 3000 Jahren habe sich in diesem Wirtschaftszweig wenig Grundlegendes gewandelt. Innovationen im Bau, d.h. die Verwirklichung neuer technologischer Konzepte, neuer Produkte, Verfahren und Organisationsformen haben in den vergangenen Jahrtausenden, vor allem aber seit der industriellen Revolution unsere Lebenswelt zunehmend verändert. Der Begriff der Innovation ist für Joseph A. Schumpeter mit dem Begriff des Unternehmers eng verbunden. Schumpeter beschreibt in seinem Hauptwerk "Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung"1 den Unternehmer als selbständig agierendes Wirtschaftssubjekt, welches mit der Durchsetzung einer neuen Kombination von Produktionsfaktoren - der Innovation - zum entscheidenden Träger der wirtschaftlichen Entwicklung in einer Volkswirtschaft wird. Er ist die eigentliche Antriebsfeder zur wirtschaftlichen Entwicklung. Der Unternehmer bricht nach Schumpeter aus eingefahrenen Bahnen aus und ersetzt im Prozeß der schöpferischen Zerstörung, d.h. im Prozeß der ständigen Veränderung durch innovatives Handeln Altes durch Neues. Der Unternehmer fügt sich nach Schumpeter nicht in das Bild stagnierender Routine. Nur wer neue Kombinationen durchsetzt, ist Unternehmer. SCHUMPETER, Joseph Alois, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, 5. Aufl., Berlin 1952, S. 99-139.

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Er verliert sein Unternehmertum, wenn er die geschaffene Unternehmung nur kreislaufförmig weiterbetreibt. Kennzeichen des Unternehmers ist das innovative Handeln. Wer nicht mehr innovativ ist, ist kein Unternehmer mehr.2 Schumpeters Betrachtung des Unternehmers ist eng gefaßt. Nach Schumpeter ist der Unternehmer eine individuell agierende, einzelne Person. Dieses Bild entspricht dem Unternehmertyp früherer industrieller Phasen, als einzelne Unternehmer wie Ford, Zeiss, Bosch, Thyssen, Siemens oder Krupp durch ihre Innovationen große Unternehmen aufbauten und führten. Bei der zunehmenden Komplexität unserer Welt ist ein Unternehmen heute aber nicht mehr von einem Unternehmer allein zu leiten. Ein Vorstand, in dem unterschiedlicher Sachverstand und Spezialkenntnisse vertreten sind, ersetzt auch in der Bauindustrie den Einzelunternehmer, ohne daß dies den Schumpeterschen Thesen Abbruch täte. Über die Notwendigkeit von Innovationen wird zur Zeit vor allem in Verbindung mit der Automobil- und der Elektroindustrie diskutiert. Beiträge von Konrad Seitz3 oder Peter Glotz4 verbinden mit der Innovationsfreude am Beispiel der Chipproduktion das industrielle Überleben unseres Landes. Die Bauindustrie bleibt dabei erstaunlicherweise meist unerwähnt, obwohl es keine Industrie gibt, deren Wurzeln älter sind als die der Bauindustrie, eine Industrie, deren Innovationsfreude weithin unterschätzt wird. Manche denken beim ältesten Gewerbe an etwas ganz anderes. Adam und Eva waren jedoch mangels anderer Möglichkeiten monogam, gebaut haben sie aber nach der Vertreibung aus dem Paradies. Die ersten Zivilisationen der Ägypter, Babylonier und Sumerer entwickelten bereits zwischen dem dritten und zweiten Jahrtausend vor Chr. noch heute beeindruckende Fähigkeiten des Bauens. Wie neu sind im Vergleich dazu die 100 Jahre alte Automobilindustrie oder die 30 Jahre alte Computerindustrie.

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Vgl. SCHUMPETER, Joseph Alois, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, 5. Aufl., Berlin 1952, S. 99-139. Vgl. SEITZ, Konrad, die japanisch-amerikanische Herausforderung. Deutschlands Hochtechnologien - Industrien kämpfen ums Überleben, München 1990. Vgl. GLOTZ, Peter, SÜBMUTH, Rita, SPÄTH, Lothar, Die planlosen Eliten. Versäumen wir Deutschen die Zukunft?, München 1992.

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I. INNOVATIVE BAUUNTERNEHMER IN DER GESCHICHTE Baumeister treten meist hinter ihren Bauwerken zurück. So ist es kein Wunder, daß der Ruhm an bedeutenden Bauwerken - wie Heinz-Otto Lamprecht5 in seinem Opus Caementitium ausführt - Göttern, Kaisern, Politikern und Feldherren gebührte. Und auch heute sind Bauherren und Architekten vielfach bekannter als die Bauunternehmer, ohne deren Innovationen viele herausragende Bauwerke nicht entstehen könnten. Sicher waren viele große Baumeister und Planer der letzten Jahrhunderte nicht Bauunternehmer wie wir sie uns heute vorstellen. Dennoch sind sie im Sinne von Schumpeter Erneuerer, Innovatoren, die damit unternehmerisch tätig waren, so z.B. der Baumeister Daidalos, der am Hofe des König Minos von Kreta tätig war. Baumeister Theodoros hat im 6. Jahrhundert vor Chr. den Tempel zu Ephesus - eines der sieben Weltwunder - gebaut, die erste bekannte schwimmende Gründung. Wegen Erdbebengefahr wurde der Tempel auf sumpfigem Boden errichtet, der zunächst mit Holzbohlen und Schaffellen gefüttert wurde. Der begnadete Baumeister Eupalinos von Megara schuf in der 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. die berühmte Wasserleitung von Samos. Durch den Burgberg wurde der noch heute begehbare mehr als 1000 m lange Tunnel von beiden Seiten gleichzeitig vorgetrieben, ein innovatives Meisterwerk bewunderungswürdiger Vermessungsarbeit. Hippodamos von Milet, der geistige Vater der Firma STRABAG, hat im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnimg erstmalig ein rechtwinkliges Straßenraster für Städte entwickelt. Von Hippodamus, dem großen Innovator der Städtebaukunst, stammt das in Ionien entwickelte System des Stadtplanes mit gleichförmigen Baublöcken zwischen rechtwinklig sich kreuzenden Straßen. Für Piräus, Sybaris und Rhodos schuf er entsprechende Pläne. Nach dem Hippodamischen System wurde u.a. Milet nach der Zerstörung von 497 wiederaufgebaut. Deinokrates, der große Baumeister aus Makedonien, der, am Hofe Alexander des Großen beschäftigt, am Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. den Plan der Stadt Alexandria entwickelte, ist vor allem durch den Neubau des Tempels von Ephesus in die Geschichte eingegangen. Der von Theodoros gebaute Tempel war von dem Brandstifter Herostrates zerstört worden. Das Gebälk für den Tempelneubau wurde über eine schiefe Ebene aus SandsäkLAMPRECHT, Heinz-Otto, Opus Caementitium. Bautechnik der Römer, 3. Aufl., Düsseldorf 1987.

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ken auf die Säulen gezogen und langsam abgesenkt, indem man einen Teil der Säcke entleerte. In der Reihe ausgewählter innovativer großer Baumeister darf Sostratos von Knidos nicht fehlen, der im 3. Jh. v. Chr. in innovativer Bauweise den Leuchtturm von Pharos vor Alexandria, eines der sieben Weltwunder, errichtete. Archimedes aus Syrakus hat mit seinem Hebelgesetz, seinen Arbeiten zur Statik, dem archimedischen Prinzip, der archimedischen Schraube, der Wasserschnecke oder seinem berühmten mit Wasserdruck betriebenen Planetarium viel zur Innovation der Bauwirtschaft beigetragen. Der große römische Baumeister Marcus Vitruvius Pollio hat im 1. Jahrhundert v. Chr. nicht nur große innovative Bauwerke im Wasserbau in Italien hinterlassen, sondern auch sein Augustus gewidmetes zehnbändiges Werk "De architectura libri decem", eine Fundgrube für innovatives Bauen im Altertum. Schließlich sei als letzter innovativer Baumeister der vorchristlichen Zeit der 63 v. Chr. geborene Marcus Vipsanius Agrippa erwähnt, der zusammen mit seinem congenialen Baumeister Lucius Cocceius den großen Straßentunnel bei Pozzuoli, einen Vorgänger des neuerdings so lebhaft diskutierten Ruhrgebietstunnels baute. Dieser 1000 m lange, zweispurige Straßentunnel, mit 6 Öffnungen bis zu 30 m tief für Licht und Luft, war eine Innovation, die für die Baugeschichte wichtiger war als die 130 Wasserkastelle, 700 Zisternen und 500 Springbrunnen, die im Rahmen seines noch heute vorbildlichen Abwassertechnikprogramms gebaut wurden. Die Liebe von Marcus Vipsanius Agrippa, dem Tribun und späteren Mitregenten von Kaiser Augustus gehörte - wie überliefert wird - nicht seiner Frau, der Kaisertochter Julia, sondern seinen Wasserbauten, seinem gewaltigen Straßenbauprogramm, dem milliarium aureum in Rom, und dem Vermessungswesen. Wer glaubt, die Innovationen im Bau wären mit der Zeitenwende zu Ende gegangen, irrt. Aus der Fülle der innovativen Baumeister der letzten zwei Jahrtausende seien nur einige erwähnt. Sextus Julius Frontinus (40-103 n. Chr.) gilt als Vater der Feldvermessimg. Dem innovativen Brückenbauer Apollodorus von Damaskus (um 60-125) verdanken wir die 102-105 gebaute Donaubrücke bei Drobenta und die Trajans-Thermen. Um 130 läßt Kaiser Hadrian in Rom das Pantheon erbauen. Bei der 43,5 m weit gespannten Kuppel handelt es sich um eine Spannweite, die erst 1500 Jahre später wieder erreicht wurde.

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Isidoras von Milet und Anthemios von Tralleis erbauten 532-37 die Hagia Sophia-Kuppel zwar nur mit 31 m Spannweite, aber nach einem innovativen Verfahren auf viel leichterem Unterbau als beim Pantheon. Meister Odo von Metz, der 805 in Aachen die Pfalzkapelle Karls des Großen vollendete, Gauzon von Boume und Ezelo von Lüttich, die von 1088-1131 die dritte Abteikirche von Cluny mit einem 11 m weit gespannten Tonnengewölbe bauten, Villarde de Honnecourt aus der Picardie, dem wir das einzige erhalten gebliebene illustrierte BauhUttenbuch der Gotik (ca. 1235) verdanken, die Baumeister des Kölner Doms Meister Gerhard (t 1279), Meister Arnold (f 1308), sein Sohn Johannes (f 1331) und Meister Konrad Kuyn (f 1469) ebenso wie die Erbauer des Straßburger Münsters Erwin von Steinbach (f 1318), Ulrich von Enzingen (1419) und Johann Hütz (t 1449) setzten im mittelalterlichen Kirchenbau mit vielerlei Innovationen neue Maßstäbe. Bei Leonardo da Vinci steht heute seine Malkunst im Vordergrund. Es sollte aber nicht vergessen werden, daß seine großartigen Entwürfe für Festungsanlagen und eine zweigeschossige Stadt, die das Problem der Kanalisation innovativ löste, oder Zentralbauentwürfe für Palast- und Gartenanlagen in ihrer Systematik der Baukunst neue Wege wiesen. Leider ist es nicht möglich, im Rahmen dieses kurzen Referats alle oder auch nur die wichtigsten innovativen Baumeister der letzten Jahrhunderte zu behandeln. Erwähnt seien aber der osmanische Bauunternehmer Sinan, der 1554-60 für die 56 km lange Kirkcezme-Wasserleitung nach Istanbul verantwortlich war, und Sebastian le Pretre de Vauban, der 1671-83 Dünkirchen mit vielen Innovationen im Tiefbauwesen zu einer uneinnehmbaren Küstenfestung ausbauen ließ. Die von ihm projektierte 42 Fuß breite Schleuse, die den Innenhafen abschloß, war ein Meisterwerk der Ingenieurbaukunst. In den letzten zwei Jahrhunderten haben neue Baumaterialien und Maschinen und die Fortentwicklung der Baustatik neue Innovationsschübe ermöglicht. 1787 schlägt Louis Alexandre de Cessart Wege- und Straßenwalzen aus Eisen vor, 1801 setzt John Rennie d. Ä. beim Bau des Londondocks erstmals Dampfmaschinen zum Antrieb von Baumaschinen ein. Eine Fülle innovativer Ideen brachte Benoit Paul Emil Clapeyron (1799-1864) in die Bauindustrie ein, der u.a. durch den Clapeyronschen Dreimomentensatz für den durchlaufenden Balken, den er erstmals für die neue Seinebrücke bei Asnteres 1849 aufstellte, noch heute jedem Bauingenieur bekannt ist. Die von dem Bauunternehmer John A. Roebling erbaute BrooklynBrücke mit einer Spannweite von 486 m zwischen den Pfeilern galt im 19. Jahrhundert auf dem amerikanischen Kontinent als das bedeutendste Bau389

werk und wurde bei der Einweihung 1883 als achtes Weltwunder gefeiert. Aus Deutschland sei noch der Unternehmer Eduard Züblin genannt, der auf der Innovation des Eisenbetons ein europaweit agierendes Bauunternehmen aufbaute, das noch heute zu den großen Bauunternehmen zählt.

II. UNTERNEHMER UND INNOVATION IN DER BAUINDUSTRIE DER GEGENWART In der Bautechnik in diesem Jahrhundert hat sich bestätigt, daß Forschung und Entwicklung ebenso Voraussetzung für den Fortschritt sind wie Innovationsgeist und konstruktive Phantasie der Unternehmer. Grundlagenforschung der Hochschulen, die Umsetzung von neuen Erkenntnissen aus den Naturwissenschaften, aus Elektronik und Maschinenbau, aus Flug- und Raumfahrt und aus der Materialkunde, Laser und Sensortechnik, Mikroelektronik, Mechatronics, Hydraulik oder Glasfasertechnologie werden vom Bauunternehmer genutzt, um Bauleistungen sicherer, wirtschaftlicher und umweltschonender zu erbringen. Diese Entwicklungen haben der Bauindustrie im 20. Jahrhundert neue Dimensionen erschlossen. Mit neuen Fertigungs- und Absenkverfahren unter Einsatz von speziellen Kunststoffgeweben werden im Küstenschutz Gefahren für die Küstenbewohner gebannt und der Bestand des Wattenmeeres gesichert. Neue schallschluckende Fahrbahnbeläge, Lärmschutzwände oder Lärmschutztunnel vermindern den Verkehrslärm. Mit Computerhilfe wird die Umweltverträglichkeit neuer Straßen geprüft, neue Verkehrslösungen werden geschaffen. Unwiederbringliche Kulturdenkmäler werden mit neuen Methoden geschützt. Moderne Bautechnik ermöglicht Serienfertigung und schnelle maßgerechte Montage. Schumpeter teilt die Formen möglicher Innovationen in 5 Gruppen ein: Die Produktinnovation, die Prozeßinnovation, die innovative Rohstofferschließung, die Erschließung neuer Absatzmärkte und schließlich innovative Organisationsformen. Für die deutschen Bauunternehmen waren und sind diese fünf Innovationsansätze eine Selbstverständlichkeit. Ich möchte dafür nur je ein Beispiel der STRABAG AG aus den letzten drei Jahren geben, wobei es ohne Schwierigkeiten möglich wäre, aus den anderen Bauunternehmen ähnliche oder noch bessere Beispiele heranzuziehen. Als Produktinnovation sei die 1993 fertiggestellte innovative Auditeststrecke erwähnt, in der die im Staudammbau entwickelte Asphaltwasser390

bautechnik einen neuen Einsatz im Dienste der Sicherheit gefunden hat. Das CAD-System STRAKON, eine Entwicklung der STRABAG-Tochter Dicad für das computergestützte Konstruieren im Bau und KAPPA, die computergesteuerte Produktionssteuerung im Bau, sind Beispiele für Prozeßinnovationen, ohne die Bauunternehmen aus Kosten-, Qualitäts- oder Zeitgründen nicht wettbewerbsfähig wären. Für innovative Rohstofferschließung sei das in den letzten Jahren schnell vorangetriebene Baustoffrecycling genannt, das mit sprunghaften Wachstumsraten heute bereits ein 100 %iges Recyceln von Asphalt und ein hohes Recycling von Bauschutt ermöglicht und damit Rohstoffereserven und Deponieraum schont. STRABAG hat mit den in den letzten 3 Jahren aufgebauten Baustoff-Recyclinganlagen eine neue "Rohstoffquelle" geschaffen. So hat das Unternehmen die Berliner Mauer recycelt und zu Straßenbaumaterial verarbeitet. Zur Erschließung neuer Absatzmärkte gibt es wohl kaum ein besseres Beispiel, als die außerordentlich schnelle Erschließung des Baumarktes in den neuen Bundesländern, eine Chance, die kaum eine andere Branche so schnell und konsequent ergriffen hat. Nach drei Jahren erwirtschaften die zehn großen deutschen Baukonzerne bereits durchschnittlich 1/5 ihres Umsatzes in den neuen Bundesländern. Die STRABAG AG hat 1993 mit 160 operativen Einheiten, die in 3 Jahren in den neuen Bundesländern aufgebaut wurden, eine Leistung von 1,5 Mrd DM, d.h. 30 % ihrer gesamten Leistung erbracht. Das Wachstum der STRABAG durch Produktinnovationen, Prozeßinnovationen, innovative Rohstofferschließung und die Erschließung neuer Absatzmärkte wurde durch eine neue dezentrale Organisationsstruktur, die im letzten Jahr eingeführt wurde, abgesichert und erleichtert. Gewiß bestaunen wir die großen innovativen Bauwerke des Altertums. Einige der sieben Weltwunder habe ich erwähnt, aber zu bewundern ist vor allem, daß sie ohne moderne Technik errichtet wurden. Jens Friedmann6 hat in der FAZ Ende letzten Jahres sieben Wunder der modernen Bauwelt vorgestellt, u.a. das Metro Rail System in Los Angeles, den Kanaltunnel zwischen England und Frankreich und das GMMR Projekt, den Great Manmade River in Libyen - Projekte, die von der nicht nachlassenden Innovationsfreude der Bauindustrie zeugen und die dazu bei-

Vgl. FRIEDMANN, Jens, Sieben Wunder der modernen - immer größer, immer höher, in: FAZ vom 23.12.1993.

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tragen, die Versorgung und die Mobilität von hunderttausenden von Menschen zu verbessern. Volker Hahn weist in seinem Buch "Bauen in der Sackgasse?" darauf hin, daß die letzten vier Jahrzehnte Veränderungen in der Bautechnik mit sich gebracht haben, "die so tiefgreifend sind, wie die Atomspaltung oder die Gentechnik, wenn sie auch der Gesellschaft nicht als ebenso spektakulär bewußt geworden sind"7. In der Wirkung stehen diese Entwicklungen - so Hahn - allen anderen, welche die Welt in diesem Jahrhundert veränderten, nicht nach. "Ihre Bedeutung ist nicht geringer als die Entwicklung der Luftund der Raumfahrt oder der Einfluß der Datenverarbeitung"8. Wenn im alten Rom ein Obelisk aufgestellt werden sollte, mußten Hunderte von Arbeitern und Pferden dies wochenlang vorbereiten, heute erledigt es ein Kranwagen in wenigen Stunden. Noch in den 50er Jahren wurde ein Tunnelquerschnitt in mehreren Phasen mit einem durchschnittlichen Tagesfortschritt von wenigen Metern gebohrt. Heute bohren lasergeftlhrte Tunnelbohrmaschinen den gesamten Querschnitt in einem Arbeitsgang mit Tagesfortschritten bis zu über 60 m. Zusammenfassend meint Hahn, daß sich die Leistung der Bauindustrie in den letzten 30 Jahren mehr als verachtfacht hat. Wie groß die Innovation im Bau gerade in den vergangenen Jahren war, wurde bei der Übernahme der Baubetriebe in den neuen Bundesländern überdeutlich. Kaum jemand wußte, daß hier die Arbeitsproduktivität so viel geringer als in der alten Bundesrepublik war.9

III. AUSBLICK Die dritte industrielle Revolution, der Übergang zur Informationsgesellschaft wird für die Bauwirtschaft neue Herausforderungen und neue Chancen bringen. Mikroelektronik und Automatisierung werden für die künftige Bautechnik vor allem in der Bau- und Baustoffmaschinentechnik noch größere Bedeutung erlangen. Vielleicht ist es kein Zufall, daß Konrad Zuse, der Vater der Computertechnik, Bauingenieur war.

7 8 9

HAHN, Volker, Bauen in der Sackgasse? Überlegungen für einen Neubeginn, Stuttgart 1992, S. 12. Ebenda. Vgl. ebenda, S. 14.

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Mit der zunehmenden Technisierung wird es immer notwendiger, daß sich der Bauunternehmer auch mit den Folgen seines Tuns auseinandersetzt. Früher war der Grad der Veränderung der Landschaft durch die menschliche Arbeitskraft begrenzt. Heute kann die Bauindustrie mit Maschinenkraft ganze Regionen und Städte völlig umgestalten. Die Technikfolgeabschätzung gehört zum innovativen Unternehmertum. Wenn es der Bauindustrie weiter gelingt, dynamische, innovative und kreative Menschen an sich zu binden, kann man an diesen faszinierenden Industriezweig noch große Erwartungen stellen. Auch in der Zukunft wird für die Bauindustrie der Markt im Vordergrund stehen. Kein vernünftiger Bauunternehmer wird Brücken, Straßen, Kläranlagen, für die kein Bedarf ist, auf Halde produzieren. Ein innovatives Bauunternehmen wird immer neue Produkte und Prozesse entwickeln, um einen Beitrag zur Befriedigung wichtigster Grundbedürfnisse der Menschen zu leisten. Dazu gehört der Bau einer optimalen modernen Infrastruktur durch Straßen, Schienennetze, Brücken, Tunnel, Flugplätze, Häfen und Kanäle. Nur so kann optimale Mobilität für Reisen aber auch die Sicherstellung der Versorgung mit einer Vielfalt von Nahrungsmitteln und anderer Produkte aus aller Welt zu günstigsten Preisen gewährleistet werden. Dazu gehört der Bau von Häusern und Wohnungen, um energiesparend und bequem mit ausreichendem Platz wohnen zu können, aber auch der Bau von modernen Verwaltungs- und Bürogebäuden und Fabriken, um gesunde Arbeitsplätze zu haben. Mit dem Bau moderner Universitäten, Schulen und Ausbildungszentren werden optimale Ausbildungsvoraussetzungen geschaffen. Messe- und Kongresszentren, Fernmeldetürme, Druckzentren, Gebäude für Rundfunk und Fernsehen tragen zur Kommunikation bei. Moderne Kraftwerke und Leitungssysteme sichern die Energieversorgung. Nicht zu vergessen sind Philharmonien, Museen und Schauspielhäuser, in denen vielen Menschen Kunst nahegebracht werden kann. Sportstätten bieten ein größeres Freizeitangebot. Der Zeit entsprechende Hospitäler, Altenwohnungen und Pflegeheime müssen gebaut werden, wenn wir auch im Alter würdig leben wollen. Und nicht zuletzt ist der Umweltmarkt unermeßlich groß. Menschen wollen eine gesunde Umwelt. Dazu sind bessere Luft, sauberes Wasser, ausreichende Abfallentsorgung, Deponiebau und Recyclinganlagen unerläßlich. Hightech freaks wie Konrad Seitz oder der McKinsey-Chef Henzler ziehen durch die Lande, um ihre Thesen von den großartigen Fortschritten der Japaner, denen man nacheifern soll, für teures Geld zu verkaufen. Gewiß sind viele Leistungen der Japaner erstaunlich. Wenn man aber nur vier Wochen lang in einer japanischen Durchschnittswohnung von 8 m 2 lebt, wenn

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man täglich je drei Stunden wie in eine Ölsardinendose eingepreßt stehend zur Arbeit und zurück fährt, die Luit in Tokyo einatmet und einige Zeit an einem Durchschnittsausbildungs- oder -arbeitsplatz in Japan tätig ist, fragt man sich, in wieweit Superchips und japanische Lebensgewohnheiten, wie lange Arbeits- und geringe Urlaubszeiten wirklich zum persönlichen Wohlbefinden der Menschen beitragen. Wie für viele andere Industriezweige werden auch in Zukunft für die deutsche Bauindustrie Unternehmer und Innovation untrennbar zusammengehören.

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PERSONENREGISTER

A Adickes, Franz: 342,369 Agricola, Georgius: 15,105ff., 109 Agrippa, Marcus Vipsanius: 388 Alexander der Große: 387 Amdahl, Gene M.: 151 Anthemios von Tralleis: 389 Apollodorus von Damaskus: 388 Archimedes aus Syrakus: 388 Arkwright, Sir Richard: 74 Arnold (Meister): 389 Artefelde, Phillip van: 103 Augustus, röm. Kaiser: 388 B Bacon, Roger: 101 Bardeen, John: 128 Bech, Philipp: 106 Benz, Carl Friedrich: 57 Berg, Carl Theodor: 56 Berger, Carl: 124f. Bergius, Friedrich: 62 Blum, Ferdinand: 338, 342, 352-356, 360 Böcking, Adolf: 156f„ 187 Böcking, Adolf Heinrich: 187 Böcking, Bernhard: 187 Böcking, Carl Bernhard: 187 Böcking, Eduard: 161f. Böcking, Eduard Carl: 164, 187 Böcking, Eduard Siegesmund: 187 Böcking, Georg: 187

Böcking, Gustav: 16, 155, 161f., 164, 168f„ 171f.,174f„ 179f., 183ff.,187 Böcking, Gustav Adolf: 187 Böcking, Heinrich: 156-164,167,176, 183,187 Böcking, Heinrich Rudolf: 157,162, 165 Böcking, Ida: 162 Böcking, Ida-Charlotte: 187 Böcking, Jacob Sebastian: 187 Böcking, Johann Adam: 187 Böcking, Ludwig: 187 Böcking, Marie-Luise: 187 Böcking, Rudolf: 155,160-164,168174, 180, 182ff. 187 Böcking, Rudolf Carl Eduard: 164 Borchard, Knut: 232 Bosch, Robert: 386 Brandis, Tilo: 56 Brattain, Walter: 128 Brentano, Lujo: 51 Buchanan, Angus R.: 112 Bücher, Karl: 51 Buren, Martin van: 384 C Caro, Heinrich: 56 Caras-Wilson, E. M.: 94 Chandler, Alfred D.: 47f. Ciáis, Johann Sebastian: 114ff. Clapeyron, Benoítt Paul Emil: 389 Cockerill, John: 163 Cohén, Phillipp Abraham: 334

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Cohen, Sara Amalia: 333 Colonna, Graf Philipp von: 178 Companus von Novara: 101 Corliss, George Henry: 37 D Daidalos: 387 Daimler, Gottlieb: 57 Dechen, Ernst Heinrich Karl von: 172ff., 182f. De Dondi, Giovanni: 93,102 De Dondi, Jacopo: 102 Deinokrates: 387 Delvaux de Fenffe, Jean Charles Philipe: 179 Denecke, Ludwig: 56 Diesel, Rudolf: 56, 62 E Ellinger, Leo: 334 Ellinger, Philipp: 334 Elverfeld, Freiherr Levin von: 123 Elverfeld, Ludwig Gisbert von: 124f. Engl, Walter: 139 Erwin von Steinbach: 389 Esaki, Leo: 132 Eupalinos von Megara: 387 Eversmann, Friedrich August Alexander: 120f. Eyll, Klara van: 53 Ezelo von Lüttich: 389 F Faraday, Michael: 256 Feldenkirchen, Wilfried: 62 Fischer, Richard: 342, 348 Fischer, Wolfram: 265 Ford, Henry: 386 Francke, Erich: 342, 364 Friedmann, Jens: 391 Fugger, Jakob II.: 94

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G Gebbert von Aurillac: 99 Gerhard (Meister): 389 Gienanth, Barbara: 187 Giersch, Herbert: 217 Gimpel, Jean: 94,104 Glotz, Peter: 386 Goethe, Johann Wolfgang von: 34, 268 Gorbatschow, Michail: 243 Gutenberg, Johannes: 94,104 H Hadrian, röm Kaiser: 388 Hahn, Volker: 392 Halfmann, Jost: 150 Halske, Johann Georg: 249, 254, 262 Haniel, Franz: 176 Hargraves (auch fälschlich Hargreaves), James: 74 Harkort, Friedrich: 57,124 Heilmann, Josua: 293,296 Heinrich von Herford: 69 Hell, Joseph Karl: 112, 114 Henckel von Donnersmarck, Guido: 62 Hermbstädt, Sigismund Friedrich: 170, 172, 269 Herostrates: 387 Herrad von Landsperg (= Herrad von Hohenburg): 100 Heynitz, Friedrich Anton von: 15, l l l f f . , 116-121 Hildebrand, Bruno: 51 Hintze, Otto: 111 Hippodamos von Milet: 387 Hoerni, Jean: 134 Hoesch, Eberhard: 176 Hoff, Marcian E. (Ted): 149 Hofimann, Gustav: 310 Hollunder, Christian Fürchtegott: 177 Honecker, Erich: 241 Hütz, Johann: 389 Hugo von Sankt Viktor: 100 Humboldt, Alexander von: 115 Huntsman, Benjamin: 115 Hyssen, August: 179

I Isidoros von Milet: 389 J Jackson, Andrew: 383 Jaeger, Hans: 47 Jellinek, Emil: 57 K Karsten, Karl Johann Bernhard: 173f., 181f. Kennedy, John F.: 137 Kessler, G. C.: 284ff. Keynes, John Maynard: 222 Kienlin, Ludwig: 288,293 Kilby, Jack: 133 Klaproth, Martin Heinrich: 269,273, 280 Kocka, Jürgen: 47f., 110f„ 213,249 Koepe, Friedrich: 48 Kolumbus, Christoph: 104 König, Wolfgang: 49, 75 Konrad von Megenberg: 69, 102 Krämer, Adolf: 168 Krelle, Wilhelm: 224 Krigar, Heinrich Friedrich: 170 Krupp, Alfred: 61, 386 Kuyn, Konrad (Meister): 389 Kyeser, Konrad: 103 L Ladenburg, Henriette Caroline Emma: 333 Lamprecht, Heinz-Otto: 387 Langen, Eugen: 64 Lehmann, Johann Christian: 108 Lehmann, Karl Bernhard: 361-365 Lehmus, Daniel Christian: 171 Lenz, Siegfried: 211, 215 Leonardo da Vinci: 104, 389 Leupold, Jacob: 117 Leymann, Hermann: 339, 342, 357, 359

Lichtenberger, Carl: 158 Liebig, Justus Freiherr von: 265,273 List, Friedrich: 160 Louis Alexandre de Cessart: 389 Louis de Mael: 103 Lucius Cocceius: 388 Lueg, Wilhelm: 176 M Marx, Karl: 219,23 März, Eduard: 30 Matschoß, Conrad: 57 Maybach, Wilhelm: 57 Mayer, Jacob: 176 Meier, Hermann Henrich: 323 Mensch, Gerhard: 129 Merck, Adelheid: 268 Merck, Carl: 278 Merck, Emanuel: 19, 267ff., 271-274, 277-282 Merck, Friedrich Jacob: 268 Merck, Georg: 273,278 Merck, Johann Anton: 267f. Merck, Johann Heinrich: 268 Merck, Wilhelm: 278 Merkel, Johannes: 285-289, 291ff. Merkel, Oskar: 294,296,298 Merton, Henry R.: 334 Merton, Raphael (Ralph): 334 Merton, Richard: 334, 338 Merton, Wilhelm: 20, 338-345, 348, 356, 364-369 Mitscherlich, Eilhard: 171 Mohr, Friedrich: 277 Mommsen, Wolfgang J.: 56 Morse, Samuel: 246,259 Müller, Richard: 356 N Needham, Joseph: 15, 68, 78, 88, 97 Nietzsche, Friedrich: 36,382 North, Douglas C.: 225 Noyce, Robert N.: 134,148

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o Odo von Metz (Meister): 389 Oeynhausen, Karl von: 174 Oppel, Friedrich Wilhelm von: 118

Rtllein von Calw, Ulrich: 104 Rtlrup, Reinhard: 46 Ruhberg, Johann Christian: 178 S

P Pannier, Fritz: 310 Perkin, William Henry: 266 Petrarca, Francesco: 69 Pfetsch, Frank R.: 50,112 Planck, Max: 384 Pohl, Manfred: 62 Polhem, Christopher: 112f. Pollio, Marcus Vitruvius: 388 Presbyter, Theophilus: 100 Prescher, Hans: 105 R Rasch, Manfred: 62 Rathenau, Emil: 62 Reden, Friedrich Wilhelm von: 120 Redlich, Fritz: 47f„ 111, 116 Reichenbach, Georg Friedrich: 113f., 116 Reißig, Rolf: 228 Remy, Christian: 176 Remy, Friedrich: 176 Rennie, John, der Ältere: 389 Reuß, Hans-Jürgen: 62 Rhabanus Maurus: 99 Richard von Wallingford: 102 Riedel, Gustav: 281 Riedel, Johann Daniel: 19, 267, 279-282 Roebling, John A.: 389 Roessler, Fritz: 343 Roessler, Heinrich: 56 Roriczer, Mathias: 104 Roscher, Wilhelm: 51 Rose, Valentin, der Ältere: 280 Rose, Valentin, der Jüngere: 280 Rosenthal, Friedrich Wilhelm Albert: 323, 330 Rößler, Balthasar: 107 Roth, Eugen: 33 398

Scheibler, Friedrich von: 157 Schering, Ernst: 19, 267, 279, 28If. Schmookler, Jacob: 73,75, 88 Schremmer, Eckard: 115 Schumpeter, Joseph Alois: 13,17, 2331, 47f., 73, 75, 211, 216-225, 228, 232, 243, 279, 364f, 385ff„ 390 Schwärzel, Renate: 53 Sebastian le Prêtre de Vauban: 389 Seibt, Gustav: 213 Seitz, Konrad: 386, 393 Sello, Leopold: 159 Sertürner, Friedrich Wilhelm: 270 Servan-Schreiber, Jean Jacques: 190 Sextus Julius Frontinus: 388 Sforza, Ludovico: 104 Shockleys, William: 128,147f. Siegenthaler, Hansjörg: 224 Siemens, Alexander: 249 Siemens, Ananias: 249 Siemens, Arnold: 249, 261 Siemens, Carl Wilhelm (Sir Charles William): 249, 253ff, 257 Siemens, Carl von: 249,25lf., 255f., 261 Siemens, Carl-Friedrich: 249 Siemens, Christian Ferdinand: 5f. Siemens, Eleonore: 248 Siemens, Friedrich: 249 Siemens, Georg: 249f. Siemens, Johann Georg: 249 Siemens, Walter: 249 Siemens, Werner Hermann: 249 Siemens, Werner von: 18, 56, 62,245252, 254-263, 386 Siemens, Wilhelm: 249, 261 Smidt, Johann: 322 Sostratos von Knidos: 388 Stahlschmidt, Rainer: 46 Stein, Karl vom: 120 Steinbeis, Ferdinand von: 162 Stolper, Wolfgang F.: 217

Stromer, Wolfgang von: 70, 94 Stumm, Carl Ferdinand: 162ff„ 168,187 Stumm, Carl Friedrich: 16, 155, 161, 164, 168f., 173f., 176,187 Stumm, Carl: 187 Stumm, Charlotte Henriette: 156f., 160f., 189 Stumm, Christian: 187 Stumm, Ferdinand: 161,187 Stumm, Friedrich Philipp: 156f., 161, 167f. 187 Stumm, Hans: 187 Stumm, Johann Friedrich: 187 Stumm, Johann Heinrich: 167,187 Stumm, Johann Michael: 187 Stumm, Johann Nicolaus: 160,187 Suhling, Lothar: 110

W Wagenbreth, Otfried: 373 Walter von Milimete: 102 Watt, James: 115,120 Weber, Wolfhard: 46,119f. Weil, Gerhard: 139 Weiß, Christian Samuel: 169ff. Wencke, Bernhard: 330 Wengenroth, Ulrich: 60f., 70 Wessels, Johann Friedrich: 327f. Westphal, Hermann: 327f. Wetherhill, John Price: 338 Wheatstone,Charles: 246, 259 White jr., Lynn: 70 Winterschmidt, Georg: 112ff. Wohlauf, Gabriele: 46 Wuttig, Johann Christian Friedrich: 172

T Z Taccola, Mariano: 104 Teleky, Ludwig: 356 Teszner, Stanislaus: 128 Theodoros: 387 Thurzo, Johann: 94 Thyssen, August: 386 Trajan, röm. Kaiser: 388 Trick, Josef: 292 Troitzsch, Ulrich: 46, 59 Trommsdorff, Johann Bartholomäus: 269f.

Zeiss, Carl: 386 Zeppelin, Ferdinand Graf von: 56 Zilsel, Edgar: 97 Zizka, Jan: 103 Züblin, Eduard: 390

U Ulbricht, Walter: 237, 241 Ulrich von Enzingen: 389 V Valturio, Roberto: 104 Villard de Honnecourt: 101, 389 von der Leyen, Conrad: 305 von der Leyen, Friedrich: 305

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