Unterlassungszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen: Unter besonderer Berücksichtigung von Compliance-Systemen [1 ed.] 9783428543014, 9783428143016

Timo Schrott untersucht in dieser Publikation ein Zurechnungsproblem, das in der strafrechtlichen Aufarbeitung des Einst

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German Pages 334 Year 2014

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Unterlassungszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen: Unter besonderer Berücksichtigung von Compliance-Systemen [1 ed.]
 9783428543014, 9783428143016

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Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 248

Unterlassungszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen Unter besonderer Berücksichtigung von Compliance-Systemen

Von

Timo Schrott

Duncker & Humblot · Berlin

TIMO SCHROTT

Unterlassungszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg

Herausgegeben von Dr. Dres. h. c. Friedrich-Christian Schroeder em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg

und Dr. Andreas Hoyer ord. Prof. der Rechte an der Universität Kiel

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 248

Unterlassungszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen Unter besonderer Berücksichtigung von Compliance-Systemen

Von

Timo Schrott

Duncker & Humblot · Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Ulrich Schroth, München Die Juristische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München hat diese Arbeit im Jahre 2013 als Dissertation angenommen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 978-3-428-14301-6 (Print) ISBN 978-3-428-54301-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-84301-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern Heidi und Max und meiner Schwester Hannah

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2013 von der Juristischen Fakultät der Universität München als Dissertation angenommen. Mein herzlicher Dank gilt Professor Dr. Ulrich Schroth, der mich bei der Themenfindung maßgeblich unterstützte, mich zu einer rechtsphilosophischen Annäherung an das untersuchte Zurechnungsproblem ermutigte und mir bei der Ausarbeitung meiner Gedanken alle erdenklichen Freiheiten gewährte. Besonders ehrt mich die Bereitschaft von Professor Dr. Dr. h. c. mult. Claus Roxin, sich als Zweitgutachter meiner Arbeit zur Verfügung zu stellen. Eine große Hilfe in der Frühphase war Professor Dr. Johannes Kaspar, dem ich für die Lektüre und Beurteilung eines ersten Entwurfs und einige klärende Gespräche zu großem Dank verpflichtet bin. Dank gebührt auch Oberstaatsanwältin Renate Wimmer, die mir Compliance-Systeme als praktisches Anwendungsfeld meiner Überlegungen aufzeigte. Entscheidenden Anteil an der Fertigstellung der vorliegenden Arbeit hat schließlich meine Schwester Hannah, die in wochenlanger Arbeit die gesamte Arbeit Korrektur las und mit ihrer Genauigkeit und sprachlichen Expertise das Manuskript von einigen juristischen Stilblüten befreite. Für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe Strafrechtliche Abhandlungen – Neue Folge danke ich herzlich den Herausgebern Professor Dr. Dr. h. c. FriedrichChristian Schroeder und Professor Dr. Andreas Hoyer. Berlin, im Januar 2014

Timo Schrott

Inhaltsverzeichnis A. Erfolgszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen als Belastungsprobe empirischer Kausalitätsfeststellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

I. Praktische Annäherung an das Problem: Der Eissporthallen-Fall . . . . . . . . . .

20

II. Begriffsklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

III. Untersuchungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

IV. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

V. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen zur Kausalität der Unterlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

I. Die Kausalität und ihre Feststellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

1. Die Feststellung der Kausalität in der wissenschaftstheoretischen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

a) Empirischer Skeptizismus Humes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

aa) Einordnung der Untersuchung über den menschlichen Verstand . . .

31

bb) Singuläre Kausalsätze als Produkt intuitiver Erfahrung, Unergründbarkeit allgemeiner Kausalgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

(1) Kausalrelation als Grundlage menschlicher Erkenntnis . . . . . .

32

(2) Erfahrung als einzige Grundlage unserer Vorstellung von Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

(3) Logische Unzulänglichkeit singulärer Kausalsätze . . . . . . . . . .

34

(4) Intuitionsbasierte Gewohnheit als Triebfeder unserer Vorstellung von Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

(5) Kausalität als notwendige Verknüpfung? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

(6) Zusammenfassung und Definition der Ursache . . . . . . . . . . . . .

36

cc) Humes Kausalitätstheorie in der wissenschaftstheoretischen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

dd) Eigene Bewertung: Abhängigkeit singulärer Kausalsätze von ihrem kausalgesetzlichen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

b) Die Kausalität als Kategorie des Verstandes nach Kant . . . . . . . . . . . . .

44

aa) Einordnung der Kritik der reinen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

bb) Kausalrelation als Verstandesbegriff a priori . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

(1) Erkenntnistheoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

(2) Erste Analogie: Beharrlichkeit der Substanz . . . . . . . . . . . . . . .

46

(3) Zweite Analogie: Zeitfolge nach dem Gesetz der Kausalität . .

46

10

Inhaltsverzeichnis cc) Kants Kausalitätstheorie in der wissenschaftstheoretischen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

dd) Eigene Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

(1) Erweiterung der bipolaren Erkenntnistheorie Humes um das Konzept der Erscheinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

(2) Kausalprinzip als Bindeglied zwischen Vorstellung und Objektwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

(3) Kausaltheorie als Forschungsauftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

(4) Lehren aus der Kausalitätstheorie Kants für die Formulierung singulärer Kausalsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

c) Aktuelle Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

aa) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

bb) Subsumtionstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

(1) Popper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

(2) Hempel-Oppenheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

(3) Stegmüller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

cc) Aktionistisches Konzept van Wrights . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

dd) Eigene Stellungnahme: Methodischer Pluralismus in der aktuellen wissenschaftstheoretischen Kausalitätsdiskussion . . . . . . . . . . .

75

d) Ergebnis der wissenschaftstheoretischen Betrachtung: Methodischer Pluralismus der wissenschaftstheoretischen Diskussion als Impuls für die strafrechtliche Problemlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

aa) Entwicklungslinien der wissenschaftstheoretischen Diskussion . .

77

bb) Zum Verhältnis von Wissenschaftstheorie und Strafrechtsdogmatik

78

(1) Stimmen aus der strafrechtlichen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

(2) Stellungnahme: Berücksichtigung extradisziplinärer Erkenntnisse im Rahmen strafrechtsautonomer Begriffsbildung . . . . .

80

cc) Lehren aus der wissenschaftstheoretischen Betrachtung für die weitere Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

2. Funktion, Struktur und Gehalt der strafrechtlichen Kausalitätsprüfung . .

84

a) Funktion der Kausalitätsfeststellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

b) Grundstruktur der strafrechtlichen Kausalitätsprüfung . . . . . . . . . . . . . .

85

aa) Wissenschaftstheoretischer Anknüpfungspunkt: Gleichheit aller Bedingungen nach John Stuart Mill . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

bb) Äquivalenz- und Bedingungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

cc) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

c) Materieller Gehalt der strafrechtlichen Kausalitätsprüfung . . . . . . . . . .

88

aa) Conditio-Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

bb) Kritik an Conditio-Formel und Modifikationen . . . . . . . . . . . . . . . .

88

cc) Formel von der gesetzmäßigen Bedingung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Inhaltsverzeichnis dd) Eigene Stellungnahme: Conditio-Formel und Formel von der gesetzmäßigen Bedingung im System der strafrechtlichen Kausalitätsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Logische Ausdifferenzierung der Formel von der gesetzmäßigen Bedingung durch Puppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Wissenschaftstheoretischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Puppe: Formel von der gesetzmäßigen Mindestbedingung . . . ff) Eigene Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Aktueller Stand in Literatur und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . (2) Chancen und Grenzen wissenschaftslogischer Betrachtungen . . (3) Formel von der gesetzmäßigen Bedingung im Kontext der Trennung von Zurechnung und Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Vorzüge und Grenzen der Orientierung der strafrechtlichen Kausalitätsprüfung an Gesetzmäßigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis der Untersuchung der wissenschaftstheoretischen und strafrechtsdogmatischen Grundstrukturen der Kausalitätsprüfung . . . . . . . II. Die Erfolgszurechnung im Bereich der Unterlassungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . 1. Struktur der Zurechnung bei den Unterlassungsdelikten . . . . . . . . . . . . . . . a) Unterlassung als gesetzmäßige negative Bedingung . . . . . . . . . . . . . . . . b) Hypothetische Kausalität der Unterlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ex nihilo nihil fit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Eigene Bewertung: Unterlassungskausalität als funktional-normorientierte Zurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zur Zulassung von Negativbedingungen als Ursachen im strafrechtlichen Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zur Funktion einer hypothetischen Kausalitätsprüfung . . . . . . . . . . cc) Integration funktional-normorientierter Gesichtspunkte als struktureller Unterschied zur Begehungskausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Materieller Gehalt der Zurechnung bei den Unterlassungsdelikten: Lösungskonzepte bei Zweifeln über hypothetische Erfolgsverhinderung . . . a) Vermeidbarkeitstheorie und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Risikoverminderungslehre und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Weiterentwicklungen der Risikoverminderungslehre . . . . . . . . . . . . . . . aa) Destabilisierung eines Gefahrenherdes (Gimbernat) . . . . . . . . . . . . bb) Nachweisbar risikovermindernde Modifizierung des Kausalverlaufs (Roxin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zurechnungsbegrenzende Risikoverminderungslehre (Greco) . . . . dd) Systematisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

91 92 92 93 95 99 99 99 101 102 103 104 104 105 106 107 107 109 109 111 112 113 113 114 115 117 118 120 121 123 123

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Inhaltsverzeichnis aa) Die Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zu den Ausdifferenzierungen der Risikoverminderungslehre . . . . cc) Gesetzgeberische Vorgaben und Gestaltungsspielräume bei der Vermeidbarkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis der Erfolgszurechnung im Bereich der Unterlassungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

C. Erfolgszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen: Diskussion in Literatur und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Zurechnungsproblem und seine Praxisrelevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Lösung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendung der Vermeidbarkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Abszess-Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Lederspray-Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Blutbank-Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bremsen-Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Eissporthallen-Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Normative Zurechnung bei Gremienentscheidungen: Politbüro-Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung und Systematisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kritik in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Denklogische Unmöglichkeit der Beweisführung über hypothetisches Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Irrelevanz hypothetischer Schadensverläufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Keine Entlastung mit fiktiver Pflichtverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Überprüfung und eigene Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Unmöglichkeit der Beweiserhebung über hypothetisches Verhalten . . a) Beweisrechtliches Legitimationsdefizit der Vermeidbarkeitstheorie . . aa) Zur denklogischen Unmöglichkeit der Beweisführung über hypothetisches Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Legitimationsdefizit der Beweiserhebung über hypothetisches Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesicherte Tatsachenbasis als Legitimation hypothetischer Beweisführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ausgleich des Legitimationsdefizits durch erhöhte Anforderungen an beweisrechtliches Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Anwendungsbeispiel: Beweisführung über hypothetische Einwilligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Scheitern eines streng empirischen Kausalitätsbeweises aufgrund der Formbarkeit der Hypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

124 125 128 130 130 130 132 132 133 133 134 136 138 139 141 144 147 150 151 153 155 158 159 159 159 160 161 163 163 164 166

Inhaltsverzeichnis aa) Ausgangssituation bei drittvermittelten Rettungsgeschehen . . . . . . bb) Formbarkeit der Hypothese in der Fallstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Potenzierung der Unsicherheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Abkehr vom „Reinheitsgebot für die Hypothesenbildung“ . . . . . . . . . . e) Konsequenz: Rechtsunsicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Zusammenfassung: Vermeidbarkeitstheorie als nur scheinbar empirische Kausalitätsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zum Verbot der Berücksichtigung hypothetischer Schadensverläufe . . . . a) Relevanz des hypothetischen Eingreifens Dritter für die Erfolgszurechnung bei Begehungs- und Unterlassungsdelikten . . . . . . . . . . . . . b) Überprüfung der Lösung des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Unzulässigkeit der Entlastung mit der hypothetischen Pflichtverletzung eines Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begründung durch Prämisse der Normbefolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Prämisse der Normbefolgung in Rechtsprechung und Literatur . . (1) Ursprünge bei Puppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Weiterentwicklung durch Jakobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Übernahme durch Frister, Lindemann, Sofos . . . . . . . . . . . . . . . (4) Anwendung durch den BGH bei Gremienkausalität . . . . . . . . . (5) Kindhäuser: „Fundamentalprinzip strafrechtlicher Erfolgszurechnung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Zwischenergebnis: Die Prämisse und das Problem ihrer Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Anwendbarkeit bei drittvermittelten Rettungsgeschehen . . . . . . . . (1) BGH: Feststellung der Unanwendbarkeit ohne Begründung . . (2) Greco: Unanwendbarkeit aufgrund normativ relevanter Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Puppe, Jakobs, Kahrs: Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Eigene Stellungnahme: Potenzial und Grenzen der Prämisse der Normbefolgung als normativer Erwartung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Verfehlte Anwendung durch den BGH zur Legitimierung einer zurechnungsbegründenden Fiktion im Politbüro-Fall . . . (2) Potenzial der Prämisse der Normbefolgung für die Strukturierung und Lösung des Zurechnungsproblems . . . . . . . . . . . . . . . b) Kriminalpolitische Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Erschwerte Verantwortungszuschreibung bei arbeitsteiliger Gefahrenüberwachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gesetzesbindung kriminalpolitisch-teleologischer Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Strafrechtstheoretische Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Rechtsgutslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 166 167 170 171 172 174 175 176 178 181 182 182 182 182 184 184 185 186 186 186 187 188 189 189 191 193 194 195 196 197

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Inhaltsverzeichnis bb) Normgeltungsorientierter Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Rechtsgüterschutz durch Formalisierung sozialer Kontrolle . . . . . d) Fazit: Die Berechtigung der Kritik und die Schwierigkeit ihrer systemgerechten Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Alternative Lösungsansätze in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kahlo: Zurechnung wegen Zerstörung einer Rettungschance . . . . . . . . . . . a) These Kahlos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zurechnung durch Versagung der Entlastungsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . a) Lindemann, Frister, Jakobs: Irrelevanz des hypothetisch pflichtwidrigen Verhaltens des Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Philipps: Gleichwertiger Geltungsanspruch der Verbotsnorm bei Arbeitsteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zurechnung durch normative Vermutung pflichtgemäßen Verhaltens . . . . a) Puppe: Vermutung des pflichtgemäßen Verhaltens des Dritten . . . . . . . b) Bosch: Einschränkung bei Nachweis fehlender Abwendungsmöglichkeit ex post . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ast: Normative Vermutung als Grundlage für Zurechnung über § 25 I Alt. 2 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Kudlich, Altenhain: Relevanz hierarchischer Über- und Unterordnungsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. „Kontrafaktische“ Zurechnung durch Fiktion pflichtgemäßen Verhaltens a) Sofos: Annahme kontrafaktischer Normkonformität . . . . . . . . . . . . . . . b) Kahrs: Pflichtbezogenes Vermeidbarkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Gebotsnorm als beweisrechtlich relevanter Orientierungsfaktor . . . . . . . . a) Der Ansatz von Greco . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Normative Ansätze: Isolierung der Pflichtverletzung des Erstgaranten . . a) Roxin: Zurechnung durch normative Betrachtung der Kausalverläufe b) Gimbernat: Destabilisierung eines Gefahrenherdes als Zurechnungsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Stübinger: Normative Relevanz von Informationen als Zurechnungskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Kernprobleme der alternativen Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Systematisierung der Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zweifelsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ausgangssituation: Rechtsfrage oder tatsächliche Frage? . . . . . . . . bb) Ansatz von Philipps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Vermeintlich eindeutige Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Beweisschwierigkeiten bei nachträglichen Prognosen . . . . . . .

199 200 205 207 207 208 208 208 209 210 211 213 213 216 217 218 219 219 221 224 224 224 227 228 230 232 234 234 236 237 238 238 239

Inhaltsverzeichnis

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(3) „Normative Lage“ bei Arbeitsteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Versuch einer Weiterentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Empirische Entscheidungsregel und strukturelles Beweisproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Vorschlag einer Streitverlagerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zurechnungsstruktur der Verletzungsdelikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Struktur einer systemgerechten Zurechnung des Verletzungserfolgs bei drittvermittelten Rettungsgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die gesetzlichen Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Funktionale Interpretation des Verletzungserfolgs . . . . . . . . . . (3) Eigene Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bewertung der Alternativlösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis: Durchbrechung der Zurechnungsstrukturen durch Vermutung, Fiktion und Ausblendung empirischer Anhaltspunkte . . . . VI. Ergebnis Teil C. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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D. Entwicklung eines eigenen Zurechnungsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Versuch der Lösung über bekannte dogmatische Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Lösung als Fall alternativer Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fiktionslösungen als Konstruktion alternativer Kausalität . . . . . . . . . . . b) BGH: keine alternative Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Eigene Ansicht: alternative Kausalität als Überbedingung bei identischer Erfolgswirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Fazit: keine Lösung als Fall alternativer Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zurechnung über die Figur der fahrlässigen Mittäterschaft . . . . . . . . . . . . . a) Keine Verletzung einer Handlungspflicht bei fehlender Information des Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Keine identische Handlungspflicht bei Kenntnis des Dritten . . . . . . . . . c) Fazit: keine Zurechnung über die Figur der fahrlässigen Mittäterschaft 3. Zusammenfassung des Erkenntnisstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grundstruktur des Zurechnungsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ineinandergreifen von empirischer Betrachtung und normativer Zurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Normative Verantwortungszuschreibung und ihre empirische Überprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gefahrendiagnose als Verantwortungsbereich des Erstgaranten . . . . . . . . . 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ausgestaltung des Zurechnungsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kriterien der normativen Verantwortungszuschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . a) Überlegenes Fachwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kenntnis des Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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261 263 264 265 267 270 271 271 272 274 275 277 278 278 278 279

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Inhaltsverzeichnis c) Gestaltungsfunktion des Erstgaranten im spezialisierten Gefahrenabwehrsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Hierarchische Über-/Unterordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Modifizierter Inhalt der empirischen Vermeidbarkeitsprüfung . . . . . . . . . . a) Konzentration der Hypothesenbildung auf unmittelbares Tatgeschehen b) Kontrollfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Überprüfung des Zurechnungsmodells anhand der höchstrichterlichen Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abszess-Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lederspray-Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Blutbank-Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bremsen-Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Eissporthallen-Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

E. Anwendung des Lösungskonzepts auf ausgewählte Zurechnungsprobleme im Rahmen von Compliance-Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zurechnungsprobleme als unbearbeitete Thematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Untersuchungsgegenstand: Drittvermitteltes Rettungsgeschehen im Compliance-System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grundannahmen zu Garantenstellung und sonstigen Strafbarkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Garantenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vorsatz/Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Delikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Täterschaft/Teilnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Fallkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Leitender Compliance Officer meldet nicht an Unternehmensführung . . 2. Dezentraler Compliance Officer meldet nicht an leitenden Compliance Officer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Anwendung des Lösungsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Normative Verantwortungszuschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kriterium Fachwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kriterium Kenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kriterium Gestaltungsfunktion des Erstgaranten im Gefahrenabwehrsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Kriterium hierarchische Über-/Unterordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

282 283 284 285 285 288 289 289 290 291 292 293 294 295 296 297 297 297 298 299 300 302 303 304 304 305 306 307 308 308 308 309 310 312

Inhaltsverzeichnis e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Empirische Vermeidbarkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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F. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . 318 I. Ergebnisse der Untersuchung in Thesenform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 II. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331

A. Erfolgszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen als Belastungsprobe empirischer Kausalitätsfeststellung „Der menschliche Verstand vermag die Gesamtheit der Ursachen der Erscheinungen nicht zu begreifen. Aber das Bedürfnis, nach diesen Ursachen zu forschen, liegt in der Seele des Menschen. Da nun der menschliche Verstand in die zahllose Menge und mannigfaltige Verschlingung der die Erscheinungen begleitenden Umstände, von denen ein jeder, für sich betrachtet, als Ursache erscheinen kann, einzudringen nicht imstande ist, so greift er nach dem erstbesten, verständlichsten Moment, das mit einer Erscheinung in Berührung steht, und sagt: das ist die Ursache.“ 1

Mit diesen Worten beschreibt Lew Tolstoi in seinem Epos Krieg und Frieden den Versuch der Geschichtswissenschaften, mit der Kategorie der Kausalität Ordnung in das Weltgeschehen zu bringen. Die Beschäftigung mit der Kategorie der Kausalität lässt sich in einer ersten Annäherung beschreiben als Beschäftigung mit der Frage, ob sich zwei Gegebenheiten gedanklich so miteinander verknüpfen lassen, dass ein Ereignis (Ursache) das andere Ereignis (Wirkung) hervorgebracht hat. Hierauf folgt der Versuch, diesen kausalen Zusammenhang möglichst präzise zu beschreiben. Diese Fragen nach Existenz und Wesen des Kausalzusammenhangs werden als grundlegendes philosophisches und wissenschaftstheoretisches Problem seit den frühesten Anfängen antiker Philosophie diskutiert. Am Beginn dieser im Kern strafrechtlichen Untersuchung steht das Zitat Tolstois, weil es deutlich macht, dass sich die Kausalitätsdiskussion auf zwei unterschiedliche Ebenen erstreckt. Zieht Tolstoi die wissenschaftspessimistische Bilanz, dass der Mensch „in die zahllose Menge und mannigfaltige Verschlingung der die Erscheinungen begleitenden Umstände [. . .] einzudringen nicht imstande ist“, so bezieht er sich auf die allgemeine philosophisch-wissenschaftstheoretische Metaebene der Kausalitätsdiskussion, an deren vorläufigem Endpunkt die Erkenntnis steht, dass es „die“ Lösung des Kausalitätsproblems nicht geben kann, weil es bereits „das“ Kausalitätsproblem als universelles nicht gibt. Wohl kann der Mensch sich jedoch mit einzelnen Aspekten dieses Problems befassen und etwa untersuchen, ob es ein allgemeines Kausalprinzip gibt, dem die Natur folgt, oder wie sich ein singuläres Ereignis kausal erklären lässt. 1

Tolstoi, 2007 (1869), Band 2, 1709.

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A. Belastungsprobe empirischer Kausalitätsfeststellung

Beschreibt Tolstoi nun, wie der Mensch „nach dem erstbesten, verständlichsten Moment, das mit einer Erscheinung in Berührung steht,“ greift „und sagt: das ist die Ursache“, so bezieht er sich auf die zweite Ebene der Kausalitätsdiskussion: Die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen formulieren Prämissen, sie definieren einen konkreten Bezugsrahmen, innerhalb dessen die disziplinspezifischen Kausalitätsprobleme diskutiert werden. So wird „das“ Kausalitätsproblem überhaupt erst fassbar. Auch die Rechtswissenschaft ist eine solche Teildisziplin. Doch selbst innerhalb dieser Teildisziplin verfolgt der Rechtsanwender mit der Feststellung von Kausalzusammenhängen unterschiedliche Ziele. Im Strafrecht ergibt sich aus dem grund- und strafgesetzlichen Bezugsrahmen, dass für bestimmte Deliktsgruppen ein spezifischer Zusammenhang zwischen dem Verhalten des Täters und dem Eintritt eines tatbestandlichen Erfolgs bestehen muss. Der Strafrechtler beschäftigt sich mit dem Problem der Kausalität, weil er dem Täter diesen tatbestandlichen Erfolg zurechnen und ihn so für die Verletzung fremder Rechtsgüter strafrechtlich verantwortlich machen will. Die Strafrechtswissenschaft ist hierbei bemüht, nicht das „erstbeste“ Ereignis zur Ursache zur erklären, sondern Kriterien zu erarbeiten, die das Täterverhalten neben anderen Erfolgsbedingungen als den normativ maßgeblichen Verursachungsbeitrag identifizieren. Die Suche nach solchen Kriterien in einer problematischen Konstellation ist Gegenstand dieser Untersuchung. Ob diese Suche ebenso zum Scheitern verurteilt ist, wie es Tolstoi den Bemühungen der Geschichtswissenschaften attestiert, wird sich zeigen.

I. Praktische Annäherung an das Problem: Der Eissporthallen-Fall Die strafrechtliche Kausalitäts- und Zurechnungsdiskussion ist in ständiger Entwicklung begriffen. In jüngerer Zeit virulent wurde etwa die Frage, ob ein produkthaftungsbegründender Kausalitätszusammenhang in Fällen konstruierbar ist, in denen der biologisch-chemische Prozess, der die konkreten Gesundheitsschäden hervorruft, nicht genau beschrieben werden kann.2 Kontrovers diskutiert wurde auch, ob und wie sich die Kausalität des Abstimmungsverhaltens Einzelner in einem mehrköpfigen Entscheidungsgremium konstruieren lässt, wenn eine pflichtgemäße Stimmabgabe in einer Mehrheitsentscheidung am Abstimmungsergebnis nichts geändert hätte.3 In einer viel beachteten Monographie aus dem Jahr 2 Vgl. das Urteil des BGH im Lederspray-Fall, BGHSt 37, 106; zum Kausalitätsproblem vgl. etwa NK/Puppe, vor §§ 13 ff. Rn. 83 ff. sowie dies. (2000), 33 ff. 3 Auch dieses Problem stellte sich im Lederspray-Fall, BGHSt 37, 106. Eine monographische Bearbeitung des Themas liefert Knauer, Die Kollegialentscheidung im Strafrecht, 2001.

I. Praktische Annäherung an das Problem

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20024 geht Haas der Frage nach, ob sich der Abbruch fremder Rettungsbemühungen mit dem Erfolgseintritt in einen kausalen Zusammenhang bringen lässt. Das hier untersuchte Zurechnungsproblem entsteht in einer Gemengelage zurechnungsdogmatischer Herausforderungen.5 Es handelt sich zunächst um einen Fall der Unterlassungskausalität, an deren Feststellung andere Anforderungen zu stellen sind als an die Prüfung der Kausalität aktiven Tuns. Es handelt sich darüber hinaus um einen Fall psychisch vermittelter Kausalität. Begreift man den Kausalzusammenhang als durch allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten vermittelt, stellt die Konstruktion eines solchen Zusammenhangs den Rechtsanwender vor besondere Herausforderungen, wo allgemeine Gesetze, nach denen der Mensch sein Handeln ausrichtet, nicht formulierbar sind. Es handelt sich schließlich um einen Fall der Verkettung von tatsächlich begangenen und hypothetisch gebliebenen Pflichtverletzungen, der zu einer Auseinandersetzung mit der Frage zwingt, ob der Täter den Erfolg zurechenbar verursacht hat, wenn der gleiche Erfolg bei pflichtgemäßem Handeln womöglich aufgrund der Pflichtverletzung eines anderen eingetreten wäre. Diese Probleme waren jeweils für sich betrachtet Gegenstand intensiver Diskussion. Die weitere Untersuchung wird zeigen, dass ihre Kombination Wechselwirkungen erzeugt, die unser empirisch-gesetzmäßigkeitsgeprägtes Kausalitätsverständnis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit bringen. Wie in diesem Grenzbereich der Empirie eine effektive, rechtskonforme und vorhersehbare Erfolgszurechnung gelingen kann, gilt es im Folgenden zu untersuchen. Eine praktische Annäherung an das Zurechnungsproblem ermöglicht ein Blick auf die strafrechtliche Aufarbeitung des Einsturzes der Bad Reichenhaller Eissporthalle. Am Nachmittag des 2. Januar 2006 stürzte die Dachkonstruktion der Eissporthalle in Bad Reichenhall unter einer ungewöhnlich hohen Schneelast ein – sechs Minuten bevor das zu diesem Zeitpunkt stattfindende Publikums-Eislaufen beendet und die Halle für Schneeräumarbeiten auf dem Dach gesperrt werden sollte. Unter den Trümmern starben 15 Menschen, hierunter 12 Kinder. 34 weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Dem Unglück folgte der Versuch einer strafrechtlichen Aufarbeitung. Der Projektleiter des mit der Bauplanung betrauten Architekturbüros, der Bauleiter und Statiker für das Dachtragwerk sowie ein Gutachter, der der Dachkonstruktion 4

Haas, Kausalität und Rechtsverletzung, 2002. Ganz in diesem Sinne auch Ast, ZStW 124, 612 (659), der darauf hinweist, dass durch die Verknüpfung einzelner Zurechnungsprobleme eine „erstaunliche Komplexität“ entsteht. 5

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A. Belastungsprobe empirischer Kausalitätsfeststellung

2003 einen guten Gesamtzustand bescheinigt hatte, wurden wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. Ersterer wurde rechtskräftig freigesprochen, der Bauleiter wegen fahrlässiger Tötung zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Der Gutachter wurde zunächst vom LG Traunstein freigesprochen. Die Revisionen von Staatsanwaltschaft und Nebenklage gegen dieses Urteil hatten Erfolg, der BGH hob den Schuldspruch mit Urteil vom 12.1.2010 auf und verwies die Sache an das LG zur Neuverhandlung zurück. Am 27.10.2011 sprach das LG Traunstein den Angeklagten erneut frei. Gegen dieses Urteil legte die Staatsanwaltschaft zunächst erneut Revision ein. Mit Rücknahme der Revision wurde der Freispruch des Gutachters knapp sechs Jahre nach dem Einsturz der Eissporthalle schließlich rechtskräftig. Die lange Verfahrensdauer lässt sich zunächst auf den verzweifelten Versuch der Angehörigen der oft noch minderjährigen Opfer zurückführen, einen „Schuldigen“ für ihren persönlichen Verlust zu finden. Im Fall des Gutachters steht hinter der langen Prozessdauer jedoch vor allem ein rechtliches Problem. Zu klären war die Frage, ob der Gutachter durch seine nicht durchgeführte genauere Untersuchung der Dachkonstruktion und die hieraus resultierende positive Aussage zum allgemeinen Zustand der Konstruktion kausal wurde für den späteren Einsturz der Halle und den Tod der Hallenbesucher. Diesbezügliche Zweifel gehen zurück auf die Tatsache, dass die zuständige Baubehörde in der Vergangenheit mehrfach auf Sanierungsbedarf anmahnende Gutachten nicht reagiert hatte, es also zumindest denkbar erschien, dass ein pflichtgemäßer Hinweis des Gutachters ignoriert worden wäre und es damit unabhängig vom Handeln des Gutachters zu dem Unglück gekommen wäre. Hierbei handelt es sich um einen Anwendungsfall des in dieser Arbeit untersuchten Zurechnungsproblems. Die Zurechnung der Tötungs- und Verletzungserfolge zu dem Fehlverhalten des Gutachters wird durch eine bereits abstrakt dargestellte Gemengelage zurechnungsdogmatischer Herausforderungen erschwert. Vorgeworfen wurde dem Gutachter, eine pflichtgemäße Untersuchung des Hallendachs unterlassen zu haben. Um die Kausalität dieser Unterlassung für den Erfolgseintritt festzustellen, wird in der Strafrechtswissenschaft überwiegend darauf abgestellt, ob der Erfolg bei hypothetisch pflichtgemäßem Verhalten vermeidbar gewesen wäre. Prüft man jedoch diese hypothetische Erfolgsvermeidbarkeit, so gilt es sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie die Baubehörde auf ein pflichtgemäßes Gutachten reagiert hätte, denn ihre Mitwirkung war zur Verhinderung des tatbestandlichen Erfolgs zwingend erforderlich. Hierbei handelt es sich um ein Problem psychisch vermittelter Kausalität: Anhand welcher Kriterien lässt sich bestimmen, wie eine psychische Einwirkung auf die Baubehörde in Gestalt eines Warnhinweises deren Verhalten beeinflusst hätte?

II. Begriffsklärungen

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Gelangt man nun im Rahmen dieser Konstruktion der hypothetischen Reaktion der Baubehörde zu dem Ergebnis, dass sich diese einer pflichtgemäßen Mitwirkung an der Verhinderung des Erfolgseintritts verweigert hätte, so tritt am Ende der Prüfung ein Problem zutage, dass sich aus der Verkettung einer tatsächlichen und einer hypothetischen Unterlassung pflichtgemäßen Handelns ergibt. Es erscheint mit der Rechtsintuition des Rechtsanwenders schwer verträglich, dass der Gutachter von strafrechtlicher Haftung allein deshalb frei bleiben soll, weil im Fall seiner hypothetischen Pflichterfüllung die Baubehörde möglicherweise ihrerseits pflichtwidrig gehandelt hätte. Diese an einem praktischen Beispiel veranschaulichte Konstellation, in der sich drei zurechnungsdogmatische Problemkomplexe vereinen, lässt sich als drittvermitteltes Rettungsgeschehen6 bezeichnen.

II. Begriffsklärungen Eine einheitliche Terminologie hat sich hier bislang nicht durchgesetzt.7 Da die im Folgenden verwendeten Begriffe bislang kaum verbreitet sind, bedarf es einiger begrifflicher Klarstellungen. Gegenstand der Untersuchung sind im Ausgangspunkt Fallkonstellationen, in denen der tatbestandliche Erfolg bereits vorbedingt ist und ein Garant i. S. v. § 13 I StGB zu dessen Verhinderung tätig werden müsste. Diese Konstellation lässt sich als Rettungsgeschehen bezeichnen. Zunächst handelt es sich hierbei um die Grundkonstellation der Unterlassungsdelikte. Was die Kausalitätsprüfung in der hier untersuchten Konstellation im Vergleich zum Grundfall der Unterlassungsstrafbarkeit verkompliziert ist die Tatsache, dass es sich um „drittvermittelte“ Rettungsgeschehen handelt. Das Rettungsgeschehen ist insofern drittvermittelt, als außer dem garantenpflichtigen Unterlassungstäter (im Folgenden: Erstgarant) und dem Opfer noch ein Dritter beteiligt ist, der dem Erstgaranten zeitlich nachgeschaltet tätig werden müsste, um die Rechtsgutsverletzung zu verhindern. Dem Erstgaranten ist die Erfolgsabwendung nur im Zusammenspiel mit diesem ihm in seiner Pflichtenstellung nachfolgenden Dritten möglich. Im Idealfall erkennt der Erstgarant die Gefahr, informiert den Dritten und setzt so einen rettenden Kausalverlauf in Gang. Der Dritte vermittelt den rettenden Kausalverlauf weiter, indem er zur Erfolgsvermeidung geeignete Maßnahmen ergreift, sodass eine Verletzung des bedrohten Rechtsguts ausbleibt. 6 Diese Bezeichnung stammt von Kahlo, GA 1987, 66. Kahrs, NStZ 2011, 14 sowie bereits grundlegend ders. (1968), 81 spricht von „gestaffelten Vermeidepflichten“. Ranft, JZ 1987, 859 (863) spricht von „gestuftem Unterlassen mehrerer Garanten“. Roxin, FS Achenbach, 409 (421 ff.) problematisiert die Konstellation unter dem Stichwort der „Unterlassung erfolgsabwendender psychischer Einwirkungen auf Dritte“. 7 Vgl. zu den unterschiedlichen Begrifflichkeiten Fn. 6.

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A. Belastungsprobe empirischer Kausalitätsfeststellung

Zur Veranschaulichung sei diese Terminologie auf den Eissporthallen-Fall angewendet. Der tatbestandliche Erfolg war vorbedingt, der das Rechtsgut bedrohende Kausalverlauf ohne das Zutun der Beteiligten in Gang gesetzt: Die Leimverbindungen in der Dachkonstruktion waren porös und brüchig geworden, ohne Einschreiten der Baubehörde drohte die Dachkonstruktion einzustürzen. Den Gutachter traf als Erstgaranten die Pflicht, die baulichen Mängel an der Dachkonstruktion durch sorgfältige Untersuchung zu erkennen und die Baubehörde als Dritten hierüber zu informieren. Diese wiederum musste zwingend tätig werden, um eine Verletzung von Besuchern zu verhindern. Denkbare pflichtgemäße Reaktionen wären etwa eine Sperrung der Eishalle oder die Veranlassung häufigerer Schneeräumarbeiten gewesen. Nur durch pflichtgemäßes Zusammenwirken von Erstgarant (Gutachter) und Drittem (Baubehörde) war die Verhinderung des vorbedingten tatbestandlichen Erfolgs (einsturzbedingter Tod von Besuchern) möglich. Ein solches pflichtgemäßes Zusammenwirken wäre der Idealfall. Die Strafrechtswissenschaft beschäftigt sich jedoch per definitionem mit pathologischen Sachverhalten. Die im Verlauf der Arbeit untersuchten Fälle erweisen sich als pathologisch in zweierlei Hinsicht. Zum einen verletzt der Erstgarant seine Pflicht zur Einschaltung des Dritten, sodass dieser mangels konkreter Informationen über die Existenz einer Gefahrenquelle überhaupt nicht die Gelegenheit erhält, seiner Pflicht zur Neutralisierung der Gefahr nachzukommen. Zum anderen bestehen Zweifel an der hypothetisch pflichtgemäßen Reaktion des Dritten. Im Zusammenspiel dieser beiden pathologischen Elemente entsteht das hier untersuchte Zurechnungsproblem: Selbst wenn der Gutachter die Schäden pflichtgemäß angezeigt hätte, hätte die Baubehörde möglicherweise nicht reagiert. Kann aber der Erfolg dem Gutachter zugerechnet werden, obwohl die Halle vielleicht unabhängig von seinem Fehlverhalten eingestürzt wäre? Oder scheitert eine Erfolgszurechnung, obwohl der Gutachter seine Garantenpflicht verletzte und der Baubehörde so die Möglichkeit nahm, den Einsturz zu verhindern?

III. Untersuchungsbedarf In Rechtsprechung und Literatur besteht ein grundlegender Dissens, wie diese Zurechnungsfrage zu beantworten ist. Die Rechtsprechung stellt maßgeblich auf die Vermeidbarkeit des Erfolgs bei hypothetisch pflichtgemäßem Verhalten des Erstgaranten ab und prüft diese anhand der tatsächlichen Gegebenheiten des Einzelfalls. Sind keinerlei Anzeichen für eine hypothetische Pflichtverletzung des Dritten ersichtlich, wird in der Rechtsprechungspraxis von dessen Pflichterfüllung ausgegangen, eine Zurechnung des Erfolgs zum Erstgaranten gelingt. War der Dritte in der Vergangenheit durch Nachlässigkeiten aufgefallen, versucht die Rechtsprechung zu klären, ob es im konkreten Fall erneut zu einer solchen Pflichtverletzung gekommen wäre, und

IV. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands

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verneint in der Regel die Kausalität des Erstgaranten für den Verletzungserfolg unter Hinweis auf den Zweifelsgrundsatz. Diese Lösung wirft Fragen auf: Kann es aus Gesichtspunkten der Rechtssicherheit und der Vorhersehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen für eine strafrechtliche Zurechnung auf hypothetische Gedankenspiele dahingehend ankommen, wie eine bestimmte Person auf einen hypothetischen Warnhinweis reagiert hätte, zu dem es faktisch nicht gekommen war? Soll sich ein pflichtwidrig Unterlassender mit der fiktiven Pflichtverletzung eines Dritten von strafrechtlicher Haftung befreien können? Soll die arbeitsteilige Organisation der Überwachung von Gefahrenherden die Zurechnung tatbestandlicher Erfolge verhindern, wo bei einem einzelnen Zuständigen dessen strafrechtliche Verantwortlichkeit unproblematisch anzunehmen wäre? Der überwiegende Teil des strafrechtlichen Schrifttums favorisiert eine diametral entgegengesetzte Lösung. Die Autoren sprechen der hypothetisch pflichtwidrigen Reaktion des Dritten jede Relevanz für die Zurechnungsentscheidung ab, vermuten seine hypothetische Pflichterfüllung und rechnen dem Erstgaranten den Erfolgseintritt zu. Auch diese Lösung wirft Fragen auf: Wie verträgt sich eine so weitgehende Normativierung der Zurechnungsentscheidung mit der gesetzessystematischen Unterscheidung zwischen Verletzungs- und Gefährdungsdelikten? Lässt sich die zurechnungsbegründende Vermutung mit dem Zweifelsgrundsatz vereinbaren? Umfassend wurde das Zurechnungsproblem bei drittvermittelten Rettungsgeschehen in der Strafrechtswissenschaft bislang nicht bearbeitet. Etwa 15 Autoren haben bislang ausführlicher Stellung genommen, dem Umfang der Publikationsformen8 geschuldet findet sich hierunter jedoch keine vollumfängliche Abhandlung. Auch in den Monographien von Kahlo9 und Sofos10 wird das Problem nur als Teilbereich umfassenderer Fragestellungen behandelt. Die vorliegende Arbeit stellt einen Versuch dar, diese Lücke zu schließen und das Zurechnungsproblem vollumfänglich aufzubereiten und zu lösen.

IV. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands Untersucht wird ein Zurechnungsproblem bei drittvermittelten Rettungsgeschehen: Anhand welcher Kriterien ist die strafrechtliche Erfolgszurechnung vorzunehmen, wenn ein Garant seine Pflicht nicht erfüllt, einen zur Erfolgsvermei8 Es handelt sich überwiegend um Festschriftenbeiträge und Aufsätze in Fachzeitschriften. 9 Kahlo, Das Problem des Pflichtwidrigkeitszusammenhanges bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1990. 10 Sofos, Mehrfachkausalität beim Tun und Unterlassen, 1999.

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A. Belastungsprobe empirischer Kausalitätsfeststellung

dung zwingend erforderlichen Dritten über die Existenz und den Umfang eines Gefahrenherdes zu informieren und dieser Dritte folglich untätig bleibt, wobei konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Dritte selbst bei pflichtgemäßer Information möglicherweise pflichtwidrig untätig geblieben wäre. Dieses Problem wird vollumfänglich diskutiert. Das Meinungsspektrum in Literatur und Rechtsprechung wird umfassend abgebildet und analysiert, Möglichkeiten der Lösung des Zurechnungsproblems mit anerkannten dogmatischen Figuren wie der fahrlässigen Mittäterschaft ausgelotet, eine eigene Zurechnungslösung entwickelt. Wie bereits angedeutet entspringt das Zurechnungsproblem in seiner Komplexität11 den Wechselwirkungen, die seine einzelnen Teilprobleme untereinander erzeugen. Die einzelnen Problemkomplexe – Unterlassungskausalität, psychisch vermittelte Kausalität, Zurechnungsrelevanz hypothetisch pflichtwidrigen Verhaltens anderer – waren jeweils für sich genommen bereits Gegenstand eingehender wissenschaftlicher Untersuchung. Nur in der Kombination, in der sie bei drittvermittelten Rettungsgeschehen zutage treten, besteht Untersuchungsbedarf. Die einzelnen Teilprobleme werden daher nur soweit behandelt, wie sie für Analyse und Lösung des Zurechnungsproblems bei drittvermittelten Rettungsgeschehen Bedeutung haben. Die Beschränkung auf das dargestellte Zurechnungsproblem bei drittvermittelten Rettungsgeschehen bringt eine deliktssystematische Begrenzung der Untersuchung auf Fälle einer zumeist fahrlässig verwirklichten Unterlassungsstrafbarkeit mit sich. Setzen zwei Begehungstäter nacheinander zwei voneinander unabhängige rechtlich missbilligte Risiken, so kann anhand einer Analyse der Risikoverläufe entschieden werden, ob sich trotz Eingreifen des Nachfolgenden noch das ursprünglich gesetzte Risiko verwirklicht, oder der zweite Risikoverlauf das zuerst in Gang gesetzte Risiko verdrängt. Das hier untersuchte Zurechnungsproblem hingegen entsteht dann, wenn der Erstgarant seine Mitwirkung zur Neutralisierung eines bereits vorbedingten Gefahrenherdes garantenpflichtwidrig verweigert und es unklar bleibt, ob der Dritte sich pflichtwidrig verhalten hätte. Dann stellt sich die Frage, wie sich diese potenzielle Pflichtverletzung auf die allein in Rede stehende Strafbarkeit des Erstgaranten auswirkt. Das Problem entsteht also nur bei der arbeitsteiligen Überwachung von Gefahren, die bereits ohne Zutun der Beteiligten bestehen. Der Schadenseintritt ist vorbedingt, der Täter setzt keine neue Bedingung für den Erfolgseintritt, er versäumt es, diesen durch pflichtgemäßes Handeln abzuwenden. Wer hier nicht eingreift 11

Vgl. hierzu Ast, ZStW 124, 612 (659).

V. Gang der Untersuchung

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und es so garantenpflichtwidrig versäumt, einen rettenden Kausalverlauf in Gang zu bringen, zieht eben jenen Unrechtsvorwurf auf sich, den der Gesetzgeber in § 13 I StGB negativ umschrieben formuliert. Neben dieser dogmatisch bedingten Beschränkung auf Fälle der Unterlassungsstrafbarkeit ist das Thema rechtstatsächlich weitgehend auf den Bereich der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit begrenzt. In der Rechtswirklichkeit wird sich der strafrechtliche Vorwurf, bei arbeitsteiliger Überwachung von Gefahrenherden die Information einer zur Gefahrenabwehr befähigten Instanz unterlassen zu haben, zumeist auf fahrlässiges Verhalten beziehen. Alle in dieser Arbeit untersuchten höchstrichterlich entschiedenen Fälle hatten solche Fahrlässigkeitsvorwürfe zum Gegenstand. Auch entsteht das Zurechnungsproblem im Fahrlässigkeitsbereich in verschärfter Form, da hier bei Scheitern einer Zurechnung keine Versuchsstrafbarkeit in Betracht kommt, der Unterlassende also freizusprechen ist. Zwingend ist diese Einschränkung auf fahrlässiges Verhalten jedoch nicht, das Zurechnungsproblem kann sich ebenso im Vorsatzbereich stellen.

V. Gang der Untersuchung Zuletzt noch zum Gang der Untersuchung, die sich grob in drei Schritte aufgliedert. Im folgenden Teil B. der Arbeit werden wissenschaftstheoretische und rechtsdogmatische Grundfragen zur Kausalität geklärt. Die wissenschaftstheoretische Untersuchung soll zum einen eine begrifflich und inhaltlich präzise strafrechtsdogmatische Untersuchung ermöglichen. Das juristische Kausalitätsverständnis entwickelte sich zwar nicht in Analogie zur wissenschaftstheoretischen Diskussion, aber doch in intensiver Auseinandersetzung mit wissenschaftstheoretischen Thesen und lässt sich daher nicht losgelöst von dieser untersuchen. Die wissenschaftstheoretische Untersuchung erfolgt zum anderen mit dem Ziel, den Horizont für die Lösung des Zurechnungsproblems zu erweitern. Eine bereits angedeutete These dieser Arbeit lautet dahingehend, dass unser empirisch geprägter Kausalitätsbegriff und mit ihm die herrschende Methodik der Kausalitätsfeststellung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen an ihre Leistungsgrenzen stoßen. Auf der Suche nach einer Lösung des Zurechnungsproblems wird der Versuch unternommen, sich eine bereits angesprochene Besonderheit der Kausalitätsdiskussion zunutze zu machen: Diese Diskussion erstreckt sich auf zwei Ebenen. Auch auf der Metaebene der wissenschaftstheoretischen Diskussion wird das Problem erörtert, wie in empirischen Grenzbereichen Ereignisse kausal erklärt werden können. Diese Diskussion wird im wissenschaftstheoretischen Teil dieser Arbeit analysiert und auf mögliche Impulse für die folgende strafrechtsdogmatische Untersuchung überprüft.

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A. Belastungsprobe empirischer Kausalitätsfeststellung

Auf Grundlage des wissenschaftstheoretischen und rechtsdogmatischen Fundaments wird in Teil C. das Zurechnungsproblem bei drittvermittelten Rettungsgeschehen in Auseinandersetzung mit den von Rechtsprechung und Literatur bereiteten Lösungsvorschlägen umfassend dargestellt und analysiert. Diese Analyse bildet wiederum die Grundlage für die Entwicklung eines eigenen Lösungskonzepts in Teil D. In Teil E. schließlich wird dieses Lösungskonzept auf ausgewählte Zurechnungsprobleme im Rahmen von Compliance-Systemen angewendet. Dies geschieht aus zwei Gründen: Einerseits bietet die arbeitsteilige Gefahrenüberwachung im Rahmen von Compliance-Systemen eine Gelegenheit, das entwickelte Lösungskonzept auf seine Praktikabilität zu überprüfen. Andererseits kann hierdurch möglicherweise die sehr auf die Begründbarkeit einer Garantenstellung fokussierte Compliance-Diskussion für die im Rahmen von Compliance-Systemen auftretenden Zurechnungsprobleme sensibilisiert werden.

B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen zur Kausalität der Unterlassung Im folgenden Teil B. werden wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen zur Kausalität im Allgemeinen (unter I.) und zur Kausalität der Unterlassung im Besonderen (unter II.) geklärt. Der Kausalitätsbegriff wird zunächst als Kategorie der Philosophie und der Wissenschaftstheorie (unter I.1.) und anschließend als Modus strafrechtlicher Erfolgszurechnung (unter I.2.) untersucht. Sodann wird die Brücke zur Prüfung der Unterlassungskausalität in der aktuellen Rechtsdogmatik geschlagen. Besonderes Augenmerk wird hierbei auf die Problematik der Feststellung der Unterlassungskausalität bei Zweifeln über die hypothetische Erfolgsverhinderung gelegt, da hier das Problem der Erfolgszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen dogmatisch zu verorten ist.

I. Die Kausalität und ihre Feststellung 1. Die Feststellung der Kausalität in der wissenschaftstheoretischen Diskussion Die Auseinandersetzung mit der wissenschaftstheoretischen Kausalitätsdiskussion erfolgt aus zwei Gründen. Zum einen setzt die Untersuchung strafrechtsdogmatischer Kausalitätsprobleme eine Rekapitulation der wissenschaftstheoretischen Kausalitätsdiskussion voraus. Der Kausalitätsbegriff wurde vom historischen Strafgesetzgeber nicht definiert, sondern – einer Prämisse gleich – vorausgesetzt und der Entwicklung und Ausdifferenzierung durch Rechtsprechung und Lehre anheimgestellt. Zur Überprüfung und Ausgestaltung solcher Prämissen ist es angezeigt, den Blick über das positive Recht hinaus zu heben.1 Eine philosophische Perspektive bietet sich zur Untersuchung von strafrechtlichen Kausalitätsproblemen an, weil sich der strafrechtsdogmatische Kausalitätsbegriff in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung von wissenschaftstheoretischen Erkenntnissen entwickelte. Zum anderen kann die wissenschaftstheoretische Diskussion – das Bewusstsein um die straf- und grundgesetzlichen Limitationen bei der Lösungssuche vo1 Vgl. zur Aufgabe der Rechtsphilosophie, dem positiven Recht vorgelagerte Prämissen zu überprüfen Hörnle, FS Humboldt-Universität, 1265 (1268).

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

rausgesetzt – als Ideengeber für alternative Lösungsansätze dienen, da sich das Problem kausaler Erklärung in empirischen Grenzbereichen auf wissenschaftstheoretischer Ebene ebenso stellt wie im Strafrecht. Eine umfassende Darstellung der wissenschaftstheoretischen Kausalitätsdiskussion ist im Rahmen dieser Arbeit weder möglich noch erforderlich. Viele strafrechtliche Arbeiten auch aus jüngerer Zeit2 haben diese Diskussion in Ausschnitten nachgezeichnet. Auch hier erfolgt die wissenschaftstheoretische Untersuchung in Rückbezug auf das zu lösende Zurechnungsproblem. Sie verfolgt insbesondere das Ziel, neue Perspektiven auf die Kausalitätsfeststellung an den Grenzen empirischer Nachweisbarkeit aufzuzeigen. Ausgehend von den grundlegenden Thesen von David Hume und Immanuel Kant wird die aktuelle wissenschaftstheoretische Diskussion nachvollzogen und auf Erkenntnisse für die vorliegende Arbeit hin untersucht. Das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung gehört seit der Antike zu den meistbearbeiteten Themen der Philosophie.3 In der frühen antiken Philosophie wurde Kausalität als immanente gedacht. Nach dieser etwa von Aristoteles gelehrten Konzeption besteht jede Ursache in ihrer Wirkung weiter und wohnt ihr – gleichsam als „seelische Kausalität“ – inne. Platon verstand Kausalität als transzendente, nach der die Ursache von ihrer Wirkung getrennt fortbesteht und diese überragt und übersteigt. Transzendente Ursache im Sinne Platons war die rein geistige Seele, die als nicht zum Körper gehörende, transzendente Ursache wirkte. Auch die dritte mögliche Form der Kausalität findet sich bereits in den Lehren der altgriechischen Philosophie. Die Atomisten lehrten Kausalität als transitive. Nach dieser Vorstellung gibt die Ursache ihre „Seinskraft“ an die Wirkung weiter, wobei die Ursache ganz oder teilweise vergeht. Vermöge ihrer gewonnenen „Seinskraft“ kann die Wirkung wiederum ihrerseits zur Ursache werden, die Kraft an eine neue Wirkung weitergeben und selbst vergehen. Aus dieser Ansicht gingen etwa die Lehren Epikurs hervor. In der Neuzeit wurde das transitive Verständnis der Kausalität in den physikalischen und naturphilosophischen Forschungen Galileis durch die Formulierung der mechanischen Bewegungsgesetze erneuert und aufgrund der empirisch immer wieder belegten Gültigkeit dieser schließlich herrschend. Das transitive Kausalitätsverständnis wurde von Descartes, Leibniz und Newton naturphilosophisch weiter ausgebaut, durch die Begriffe des Impulses und der Energie angereichert und allmählich auf den Gesamtbereich der Physik ausgedehnt. Diesen Siegeszug ermöglichte der Umstand, dass das transitive Kausalitätsverständnis die unentwegt neu entdeckten physikalischen Gesetzmäßigkeiten, wie etwa das Äquiva-

2 Vgl. etwa die Rekapitulation der Kausaltheorie John Stuart Mills sowie David Humes durch Haas (2002), 149 ff. sowie 159 ff. 3 Vgl. Baumgartner (2011), 1263.

I. Die Kausalität und ihre Feststellung

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lenzverhältnis von mechanischer Energie und Wärmeenergie, am besten erklären konnte. Bis in die neueste Zeit hinein wurde das transitive Kausalitätsverständnis disziplinübergreifend zu einem mit dogmatischer Überzeugung vertretenen Grundsatz, bis zuletzt Forschungen der Mikrophysik ihr Ansehen mit Ergebnissen erschütterten, die die Existenz nichtkausaler Systeme nahelegten.4 Verstanden als naturphilosophische Hilfshypothese, kann ein transitives Kausalitätsverständnis auch heute noch zumindest rechtlichen Beurteilungen als Ausgangspunkt dienen, zumal es bei der rechtlichen Beurteilung von Sachverhalten weniger auf die Struktur der Kausalrelation als vielmehr auf die kausale Erklärung einzelner Wirkungen ankommt. Unsere ausdifferenzierte Vorstellung von Kausalität als Grundlage strafrechtlicher Zurechnung findet ihre Wurzeln in der wissenschaftstheoretischen Diskussion des 18. Jahrhunderts. Die grundlegenden Untersuchungen von Hume und Kant prägen die Diskussion bis heute.5 In dem Bestreben, den folgenden rechtlichen Untersuchungen eine fundierte und terminologisch präzise Vorstellung von Kausalität zugrunde zu legen, werden diese richtungsweisenden Überlegungen in ihren maßgeblichen Strukturen nachvollzogen und auf konkrete Erkenntnisse für die vorliegende Arbeit hin überprüft. a) Empirischer Skeptizismus Humes Zunächst werden die Überlegungen von David Hume zur Kausalität dargestellt und analysiert. Nach der Untersuchung des Primärtexts, Humes Ausführungen zur Kausalität in seiner Untersuchung über den menschlichen Verstand, wird dieser in die wissenschaftstheoretische Diskussion eingeordnet, abschließend erfolgt eine eigene Stellungnahme. aa) Einordnung der Untersuchung über den menschlichen Verstand David Humes Überzeugungen lassen sich der philosophischen Strömung des Skeptizismus zuordnen6, welche den Zweifel zur philosophischen Maxime erhebt und die Möglichkeit einer gesicherten Erkenntnis von Wahrheit und Wirklichkeit infrage stellt. Seine Untersuchung über den menschlichen Verstand (1758) lässt sich zurückführen auf den Misserfolg, den er mit seinem unter hohen Erwartungen publizierten Werk Traktat über die menschliche Natur (1739/40) erlitt. Unter dem Eindruck dieses Misserfolgs überarbeitete Hume den ersten Teil des Traktats und veröffentlichte ihn später unter dem Titel Untersuchung über den mensch4

Vgl. zum Ganzen von Brandenstein (1973), 780–784. Vgl. Schöpf (1973), 791. 6 Dahingehend etwa Kühn (2003), S. XV; Maiwald (1980), 47; Kulenkampff (1993), S. XI. 5

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

lichen Verstand.7 Insbesondere seine erkenntnistheoretisch motivierten Überlegungen zur Kausalität haben ihre Relevanz für die philosophische Kausalitätsdiskussion bis heute nicht verloren.8 bb) Singuläre Kausalsätze als Produkt intuitiver Erfahrung, Unergründbarkeit allgemeiner Kausalgesetze (1) Kausalrelation als Grundlage menschlicher Erkenntnis Hume unterzieht im vierten Abschnitt9 seiner Untersuchung über den menschlichen Verstand die „Verstandestätigkeit“ einer kritischen Betrachtung. Seiner Erkenntnistheorie folgend führt ihn diese Betrachtung zu einer grundlegenden Untersuchung der Kausalität, was seine Ausführungen für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit interessant macht. Nach Humes Erkenntnistheorie ist unser gesamtes Denken auf innere und äußere Eindrücke der realen Objektwelt zurückzuführen. Es gibt also eine „wahre“, unverfälschte Objektwelt. Evidente Wahrheit können nur solche Gegebenheiten für sich beanspruchen, die wir sinnlich wahrnehmen oder die wir uns durch Anstrengung unseres Gedächtnisses vergegenwärtigen können. Indes akzeptieren wir in unserem Denken auch solche Gegebenheiten, die dieses unmittelbare sensuelle Qualitätskriterium nicht erfüllen. Hume stellt sich daher die Frage, auf welche Überlegungen wir die Überzeugung von Tatsachen stützen, die weder Gegenstand unserer unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung sind, noch durch Anstrengung unseres Gedächtnisses verifiziert werden können. Welches Prinzip ist also Grundlage menschlicher Erkenntnis? Einleitend erfolgen terminologische Klarstellungen: Bezugsobjekte menschlichen Denkens sind Vorstellungen und Tatsachen. Vorstellungen in diesem Sinn sind nach Hume nur Behauptungen von unverrückbarer Gewissheit. Eine solche findet sich nur im Rahmen rein denklogischer Evidenz, Beispiele sind bewiesene Sätze der Geometrie oder Algebra – etwa dass dreimal fünf gleich der Hälfte von dreißig ist. Diese Sätze sind durch die reine Geistestätigkeit zu entdecken und von der realen Objektwelt völlig unabhängig.10 Tatsachen im Sinne Humes sind nicht in gleichem Umfang als gewiss verbürgt. Das Gegenteil einer Tatsache bleibt immer möglich. Die Evidenz nicht unmittelbar wahrnehmbarer oder erinnerbarer Tatsachen gründet sich nach Humes erkenntnistheoretischem Ansatz auf unsere Vorstellung von Ursache und Wir7

Vgl. hierzu Kulenkampff (1993), S. XIII f.; Kühn (2003), S. IX f. Vgl. Schöpf (1973), 791. 9 „Skeptische Zweifel in betreff der Verstandestätigkeiten“, Hume 1993 (1758), 35 ff. 10 Hume 1993 (1758), 35. 8

I. Die Kausalität und ihre Feststellung

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kung. Nach seinen Kriterien der empiristischen Wissenschaft ist die Wahrheit einer Tatsache nur nachweisbar durch Erinnerung, unmittelbare Wahrnehmung oder Rückbezug dieser Tatsache auf eine andere Tatsache, die selbst der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung bzw. dem Gedächtnis unterliegt. Eine Tatsache kann nur dann das Prädikat der Wahrheit für sich beanspruchen, wenn sie selbst Objekt eines Primäreindruckes ist oder sich durch kausale Schlussfolgerungen auf einen solchen Primäreindruck zurückführen lässt.11 Der Kausalitätsschluss fungiert erkenntnistheoretisch also als notwendiges Bindeglied zwischen verifizierten Primäreindrücken und verifizierbaren Erkenntnissen, die über Erinnerung und sinnliche Wahrnehmung hinausgehen. Unsere Überzeugung von einer Tatsache entsteht, indem wir sie durch kausale Verknüpfung in unsere Wirklichkeit einbinden. Betreten wir eine wüste Insel und finden auf dieser eine Taschenuhr, so erlangen wir unsere Überzeugung von der Tatsache, dass irgendwann Menschen auf dieser Insel gewesen sein müssen, indem wir schließen, dass nur durch den Aufenthalt eines Menschen die Uhr auf die Insel gekommen sein kann. Humes erstes Zwischenergebnis lautet also: Unsere Vorstellung von Ursache und Wirkung ist die Grundlage menschlicher Erkenntnis. Die Existenz einer Verknüpfung zwischen einem Gegenstand und dessen Wirkung legt Hume seinen erkenntnistheoretischen Überlegungen zugrunde. (2) Erfahrung als einzige Grundlage unserer Vorstellung von Kausalität Hume wendet sich nun der Frage zu, welche die Grundlage unserer Vorstellung von Kausalrelationen als Grundprinzip unserer Erkenntnis ist. Unsere Vorstellung von Kausalzusammenhängen entsteht nach Hume nicht durch die Vernunft, sondern ausschließlich durch tatsächliche Anschauung und hieraus gewonnene Erfahrung. „Gesetzt den Fall, Adam hätte anfänglich durchaus vollkommene Vernunftkräfte besessen, so hätte er doch aus der Flüssigkeit und Durchsichtigkeit des Wassers nicht herleiten können, daß es ihn ersticken, noch aus der Helligkeit und Wärme des Feuers, daß es ihn verzehren würde.“ 12

Was für den einzelnen Gegenstand gilt, lässt sich nach Hume auf Wirkbeziehungen generell übertragen. So wie sich ohne Erfahrung die Wirkung, die ein bestimmter Gegenstand auf seine Umwelt haben wird, nicht vorhersagen lasse, so lasse sich ganz allgemein keine Verknüpfung von Ursache und Wirkung formulieren, die es ausschlösse, dass dieselbe Ursache nicht vielleicht eine andere als 11 12

Hume 1993 (1758), 58 f. Hume 1993 (1758), 37.

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

die vermutete Wirkung habe.13 Hume streift die Frage, ob nicht doch allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten formulierbar sind, die uns die Feststellung kausaler Beziehungen ermöglichen. Er nennt in diesem Kontext Elastizität, Schwerkraft, Kohäsion der Teile. Diesen Gedankengang bricht er jedoch ab. Letztlich seien auch dies nur Phänomene, die wiederum auf grundlegenderen Zusammenhängen beruhten, welche zu ergründen der menschliche Verstand nicht befähigt sei. Das für die Formulierung eines allgemeinen Kausalgesetzes notwendige, von Erfahrungen gänzlich unabhängige, abstrakt-generelle Verständnis kausaler Verknüpfungen setzt nach Hume die Kenntnis absolut elementarer Grundkräfte und -prinzipien voraus, die der Mensch infolge seiner begrenzten geistigen Kapazitäten nicht erlangen kann. Hume leugnet nicht die Existenz kausaler Verknüpfungen. Er stellt jedoch fest, dass unser Verstand es uns nicht erlaubt, unsere Vorstellung von Kausalität auf allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen. Diese Vorstellung beruhe vielmehr ausschließlich auf Erfahrungswerten. (3) Logische Unzulänglichkeit singulärer Kausalsätze Nun formuliert Hume seinen zentralen „skeptische[n] Zweifel in betreff der Verstandestätigkeiten“: Unser erfahrungsbasierter Kausalitätsschluss beruht auf keiner Verstandestätigkeit und ist logisch angreifbar.14 Zentrales Objekt seiner Skepsis ist die Kenntnis derjenigen Gesetze, auf die kausale Verknüpfungen zurückgehen. Diese sind für Hume dem menschlichen Verständnis gänzlich entzogen. Ohne diese Kenntnis fehlt nach seiner Ansicht jedoch das logische „Mittelglied“, das den Schluss von in der Vergangenheit erfahrenen Kausalzusammenhängen auf ähnliche Relationen unter ähnlichen Rahmenbedingungen in der Zukunft zu einem logisch zwingenden macht.15 „Die zwei Sätze sind weit davon entfernt, dasselbe auszusagen: ich habe gefunden, dass ein solcher Gegenstand immer von einer solchen Wirkung begleitet worden ist, und: ich sehe voraus, daß andere Gegenstände, die in der Erscheinung gleichartig sind, von gleichartigen Wirkungen begleitet sein werden.“ 16

Die Tatsache, dass in einer (großen) Zahl bisher beobachteter Fälle aus bestimmten Umständen eine bestimmte Wirkung hervorgegangen ist, schließt nicht aus, dass in Zukunft eine andersartige Wirkung entsteht. Aus dieser – theoretischen – Möglichkeit ergibt sich die logische Unzulänglichkeit unserer lediglich auf Erfahrungen basierenden Kausalitätsschlüsse. Die ausschließlich durch statis-

13 14 15 16

Hume 1993 (1758), 39 f. Hume 1993 (1758), 43. Hume 1993 (1758), 45. Hume 1993 (1758), 45.

I. Die Kausalität und ihre Feststellung

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tische Erfahrung fundierte Prämisse trägt einen logisch zwingenden Kausalitätsschluss nicht. Humes Erkenntnis ist indes keine Absage an die Existenz kausaler Zusammenhänge. „Ich will gern zugeben, daß der eine Satz mit Recht aus dem anderen abgeleitet werden kann; ich weiß sogar, daß er immer so abgeleitet wird.“ 17

Er betont an anderer Stelle sogar die existenzielle Bedeutung unserer Kausalitätsschlüsse für eine sinnstiftende Erfahrung unserer Umwelt und die menschliche Existenz insgesamt.18 Sein Zwischenergebnis lautet vielmehr, dass unsere erfahrungsbasierte Vorstellung von Kausalität keiner Verstandestätigkeit entspringt und sich daher auch keine logisch zwingenden, notwendigen Kausalzusammenhänge formulieren lassen. (4) Intuitionsbasierte Gewohnheit als Triebfeder unserer Vorstellung von Kausalität Nachdem Hume festgestellt hat, dass nicht der Verstand unsere Vorstellung von kausalen Zusammenhängen formt, wendet er sich der Frage zu, worauf diese stattdessen zurückzuführen ist. Antwort auf diese Frage findet er im Prinzip der Gewohnheit.19 Das Prinzip der Gewohnheit beschreibt Hume als aus wiederholten Handlungen intuitiv hervorgehende Neigung, diese Handlungen weiterhin auszuführen. Die Fähigkeit, aus gleichförmigen Erfahrungen auf kausale Zusammenhänge zu schließen und unsere Wahrnehmung und Interaktion auf diese Zusammenhänge auszurichten, geht also nicht auf logische Schlussfolgerungen zurück, sondern auf eine intuitiv-psychologische Neigung, unser Verhalten an gleichförmig ablaufende Prozesse anzupassen. „Anläßlich des beständigen Zusammenhangs zweier Gegenstände, z. B. Hitze und Flamme, Gewicht und Masse, werden wir allein durch Gewohnheit bestimmt, das eine beim Auftreten des anderen zu erwarten.“ 20

Dieses Prinzip der Gewohnheit ist nach Hume das „letzte(n) aufweisbare(n) Prinzip all unserer Erfahrungsschlüsse“. Unsere für den Erkenntnisgewinn so zentralen Ableitungen aus Erfahrungen seien Wirkungen der Gewohnheit, nicht der Vernunft. Er bezeichnet die Gewohnheit als „die große Führerin im menschlichen Leben.“ 21

17 18 19 20 21

Hume 1993 (1758), 45. Hume 1993 (1758), 68. Hume 1993 (1758), 55. Hume 1993 (1758), 55. Hume 1993 (1758), 57.

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

(5) Kausalität als notwendige Verknüpfung? Nachdem er der Grundlage unserer Vorstellung von Kausalität nachgegangen ist, wendet sich Hume schließlich der Frage zu, ob wir Kausalität als notwendige Verknüpfung dergestalt begreifen können, dass aus einem Gegenstand eine Wirkung nicht nur gleichsam zufällig hervorgegangen ist, sondern vielmehr nur in dieser konkreten Form aus ihm hervorgehen konnte. Nach Hume können wir zwar Zusammenhänge zwischen Ereignissen erkennen, nicht jedoch den Grund dieser Zusammenhänge. Die Kraft, die eine Wirkung aus einer Ursache hervorbringt, ist für unseren Verstand nicht erfassbar, weshalb die beobachteten Zusammenhänge niemals notwendiger Art sind. Die Dinge erscheinen uns „zusammenhängend, aber nie verknüpft.“ 22 Und doch bildet sich in unserer Vorstellung eine solche Verknüpfung. Diese entspringt jedoch lediglich der Häufung beobachteter Gegenstand-Wirkungs-Beziehungen. Behaupten wir, eine bestimmte Ursache sei mit einer bestimmten Wirkung verknüpft, so meinen wir damit nur, dass in unserem Denken die beiden Gegenstände eine Verknüpfung eingegangen sind, nicht jedoch, dass diese tatsächlich notwendig miteinander verknüpft sind. Eine notwendige Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung wird uns nur durch erfahrungsbedingte Konditionierung suggeriert, tatsächlich erfassen können wir sie nicht. (6) Zusammenfassung und Definition der Ursache Die Untersuchung des Primärtextes abschließend werden Humes zentrale Thesen zusammengefasst und seine Definitionen der Ursache zitiert. Nach Humes Erkenntnistheorie ist jede geistige Vorstellung einem (primären) sinnlichen Eindruck nachgebildet. Erkenntnis über Wahrnehmung und Erinnerung hinaus ist nur durch kausale Rückbeziehung auf solche Primäreindrücke möglich. Nehmen wir einen Gegenstand (eine Flamme) zum ersten Mal wahr, so können wir über dessen Wirkung auf die Umwelt nichts aussagen, da der Mensch die von ihm ausgehenden Wirkkräfte nicht erfahrungsunabhängig erkennen kann. Nur durch gleichförmige Erfahrungen (Hitze) bildet sich eine gewohnheitsmäßige Verknüpfung im Denken. An dieser intuitiv gewonnenen Vorstellung einer logisch nicht ableitbaren Kausalität richten wir unser Handeln und unsere Wahrnehmung der Welt aus. Ursache ist nach Hume damit „ein(en) Gegenstand, dem ein anderer folgt, wobei allen Gegenständen, die dem ersten gleichartig sind, Gegenstände folgen, die dem zweiten gleichartig sind.“, oder

22

Hume 1993 (1758), 90.

I. Die Kausalität und ihre Feststellung

37

„ein(en) Gegenstand, dem ein anderer folgt, und dessen Erscheinung stets das Denken zu jenem andern führt.“ 23

Kausalzusammenhänge beruhen auf menschlich unergründbaren Wirkkräften. Unsere Vorstellung von Kausalität beruht auf intuitiven Gewohnheitsschlüssen. cc) Humes Kausalitätstheorie in der wissenschaftstheoretischen Diskussion Nach der Darstellung der Kausalitätstheorie Humes soll diese in die wissenschaftstheoretische Diskussion eingeordnet werden. Kulenkampff setzt sich in den einleitenden Worten zu seiner Ausgabe der Untersuchung über den menschlichen Verstand24 kritisch mit Humes Erkenntnisund Kausalitätstheorie auseinander. Zentral setzt seine Kritik an Humes streng empiristischer Erkenntnistheorie an. Die These, es gäbe eine Klasse primärer, elementarer Wahrnehmungen, durch die wir unmittelbar mit der „realen“ Objektwelt verbunden sind, und auf die wir rekurrieren können (und müssen), wenn wir die Welt begreifen wollen, wie sie tatsächlich ist, ist seiner Ansicht nach nicht haltbar. Das „unschuldige Auge“ gebe es nicht, das „Gegebene“ sei tatsächlich als ein „Genommenes“ anzusehen. Die trennscharfe Abgrenzung lebhafter Primäreindrücke von davon abgeleiteten, abgeschwächten Abbildvorstellungen lasse sich nicht durchführen. Die bei Hume als primär herausgestellten Eindrücke und die nachrangigen Vorstellungen stünden in ihrer erkenntnistheoretischen Wertigkeit tatsächlich zueinander in einem Verhältnis der Gleichordnung. Dies entziehe Humes Erkenntnistheorie die konstruktive Grundlage.25 Kulenkampff sucht dennoch, den empiristischen Ansatz Humes erkenntnistheoretisch fruchtbar zu machen, indem er diesen nicht als unangreifbares Dogma der Erkenntnisgewinnung, sondern als Ausgangspunkt und Fundament philosophischer Erkenntnissuche begreift. Die empirische Erfahrung ist bei ihm nicht die einzig verlässliche und damit verwertbare Erkenntnisquelle, jedoch bildet sie in Form von Erinnerung und Wahrnehmung dasjenige Fundament an Erfahrung, auf das weitergehende Wissens- und Erkenntnisansprüche gestützt werden müssen. „Wo man sich nicht einmal darüber verständigen kann, was man sieht, hört, fühlt oder gesehen, gehört und gefühlt hat, da scheint von vornherein jeder Versuch aussichtslos, sich über Sachverhalte zu verständigen, die jenseits des Bereichs dieser Erfahrungen liegen.“ 26

23 24 25 26

Hume 1993 (1758), 93. Kulenkampff (1993), S. VII ff. Vgl. hierzu Kulenkampff (1993), S. XV f. Kulenkampff (1993), S. XVI.

38

B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

Die Erkenntnissuche geht von der sinnlichen Erfahrung aus und bleibt ihr verpflichtet. Diese Verpflichtung besteht jedoch nicht im Sinne einer zwingenden Ableitung durch lückenlose Kausalketten, vielmehr dient die Erfahrung bei Kulenkampff als Ausgangspunkt der Gedankenführung. Ausgehend von dieser erkenntnistheoretischen Kritik formuliert Kulenkampff sodann Einwände gegen die Kausalitätstheorie Humes. Dessen These, der durch den menschlichen Verstand erfassbare Zusammenhang zwischen Gegenstand und Wirkung sei niemals ein notwendiger, weil er nur durch ein aus der Gewohnheit gewonnenes, intuitives Gefühl, nicht aber durch logische Ableitung gewonnen werde, bleibt nach Kulenkampff an der Oberfläche des Problems. Hume übergehe die Fragestellung, ob die immer gleichen Zusammenhänge, aus denen sich – unbestritten nicht nur durch bewusst-logische Deduktion, sondern auch durch intuitive „Konditionierung“ – Überzeugungen über kausale Zusammenhänge bilden, allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten unterliegen.27 Gerade nach der Existenz solcher Naturgesetze zu forschen sei Aufgabe desjenigen, der die Kausalität als notwendige Verknüpfung zweier Ereignisse denken wolle. Kulenkampff wendet sich gegen die Kapitulation Humes vor der Frage, welche „geheimen Kräfte“ 28 Ursache und Wirkung miteinander verknüpfen, und benennt als solche die Naturgesetze.29 Lauener betont in seinem systematisierenden Vergleich der Lehren Humes und Kants die logische Konsequenz der Argumentation Humes. Dessen Kausalitätstheorie sei die konsequente Anwendung empiristisch-sensualistischer Wissenschaftstheorie auf die Frage des Zusammenhangs zwischen Ursache und Wirkung und auf dieser Basis unanfechtbar.30 Müsse jede Vorstellung zwingend von einer Sinneswahrnehmung herrühren, so erfordere es der logisch zwingende Nachweis eines Kausalzusammenhangs, einen sinnlichen Eindruck der Wirkkraft eines Gegenstandes zu finden, was freilich unmöglich sei.31 Da dieses Problem auf Grundlage eines dogmatisch verstandenen Empirismus unlösbar bleibe, müsse Hume sich damit begnügen, die psychologischen Grundlagen unseres „Kausalitätsglauben[s]“ 32 zu erforschen. In der Sache stimmt Lauener ganz mit Kulenkampff überein, wenn er Humes Skeptizismus nicht am Beweisgang, sondern nur am dogmatischen Grundsatz für widerlegbar erachtet, an jener

27

Vgl. hierzu Kulenkampff (1993), S. XXII f. So bisweilen die mystisch anmutende Terminologie Humes, vgl. etwa Hume 1993 (1758), 44. 29 Kulenkampff (1993), S. XXIII. 30 Vgl. Lauener (1969), 122. 31 Vgl. Lauener (1969), 112. 32 Vgl. Lauener (1969), 110. Lauener entlehnt diesen Terminus von Hume, der mit diesem zum Ausdruck bringt, dass eben nicht der Verstand, sondern nur die Intuition unserem Kausalitätsverständnis zugrunde liegt, vgl. etwa Hume 1993 (1758), 59. 28

I. Die Kausalität und ihre Feststellung

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Prämisse, dass jede Vorstellung von einem unmittelbaren Sinneseindruck herstamme.33 Konkret wendet sich auch Lauener gegen Humes psychologische Herleitung des Kausalitätsbegriffs. Diese unterliege letztlich einem Zirkelschluss. Die Annahme, die Erfahrung mehrerer gleichförmiger Erfahrungen verursache den intuitiven Kausalitätsglauben, setze mit dem Kausalprinzip eben jenen Grundsatz voraus, den sie zu erklären versuche.34 Darüber hinaus stellt auch Lauener fest, dass Hume für weitergehende Erkenntnisse sein empiristisches Gedankengebäude hätte verlassen müssen. „Die Erkenntnisgesetze können nicht aus der Empirie abgezogen werden, was Hume einwandfrei bewiesen hatte; nur durfte er nach seiner Einsicht nicht bei dem alten, sensualistischen Grundsatz verharren, denn, wenn er weiter gesucht hätte, hätte er neue Ausblicke gewonnen.“ 35

Maiwald widmet der Theorie Humes in seiner Monographie Kausalität und Strafrecht einige Anmerkungen.36 Da das „Mittelglied“ 37, das einen logisch zwingenden Induktionsschluss ermöglichen würde, in der Objektwelt nicht auffindbar sei und Hume es nach seinen erkenntnistheoretischen Überzeugungen nur empirisch suchen könne, müsse er dieses Verbindungsstück in den Naturbeobachter selbst verlegen. Die Erklärung unter Verwendung der psychologischen Kategorie der Gewohnheit sei allerdings methodisch unzulänglich und letztlich nichts anderes als Resignation. Hume hätte das Scheitern des Empirismus erkennen und die Frage stellen müssen: „Besteht sie [die Gewohnheit, Anm. d. Verf.] zu Recht oder zu Unrecht?“ 38 Stegmüller bespricht Humes Kausalitätslehre in seinem wissenschaftstheoretischen Werk Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie.39 Für die Analyse seiner Gedanken unerlässlich sind einige terminologische Klarstellungen, die auch für die philosophische Diskussion der Kausalität insgesamt von Bedeutung sind. Stegmüller unterscheidet drei Ebenen der Kausalitätsdiskussion. Auf unterster Abstraktionsebene finden sich singuläre Kausalsätze, die das Bestehen eines spezifischen kausalen Zusammenhangs in einer konkreten Situation zum Gegenstand haben – so etwa die Bemerkung: „die Ernte wurde vernichtet, weil es vier Wochen unaufhörlich regnete“.40 Auf einer höheren Abstraktionsebene werden Kausalgesetze41 formuliert, also allgemeine 33 34 35 36 37 38 39 40 41

Lauener (1969), 112. Lauener (1969), 122. Lauener (1969), 122. Maiwald (1980), 47–49. Vgl. hierzu oben S. 34. Maiwald (1980), 49. Stegmüller (1983), 511–517. Stegmüller (1983), 503. Zu diesem Begriff Stegmüller (1983), 503 f., sowie Maiwald (1980), 10.

40

B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

gesetzmäßige Zusammenhänge, die eine Vielzahl singulärer Kausalsätze erfassen können – so etwa der Satz, dass ein losgelassener Gegenstand aufgrund der Erdgravitation in Richtung der Erdoberfläche fallen wird. Auf höchster Abstraktionsebene lässt sich das Kausalprinzip formulieren, die universell gültige Behauptung also, dass jedes Ereignis eine Ursache hat.42 Stegmüller erkennt in Hume den ersten Philosophen, der die Existenz einer spezifischen kausalen Notwendigkeit geleugnet hat. Bis dahin waren Kausalbeziehungen immer als notwendige gedacht worden in dem Sinn, dass auf ein Ereignis dessen kausale Wirkung nicht nur tatsächlich folgte, sondern mit Notwendigkeit aus diesem folgen musste. Hume wende sich nun gegen die Vorstellung, ein singulärer Kausalsatz könne eine Notwendigkeit des beobachteten Zusammenhangs begründen. Er erkenne, dass die Kausalbehauptung nicht isoliert für den konkreten Einzelfall festgestellt werden könne und damit eine Relation besonderer Art sei. Während andere Relationen allein durch Betrachtung des konkreten Einzelfalls mit Gewissheit bestimmt werden können (z. B. die Betrachtung: „Gegenstand A ist größer als Gegenstand B“), sei jede singuläre Kausalbehauptung für sich genommen gerade nicht verifizierbar, sie setze vielmehr die Existenz eines abstrakten (Kausal-)Gesetzes voraus, unter welches der Einzelfall subsumiert werden kann.43 Zu dieser Deutung gelangt Stegmüller, indem er Humes erster Definition44 entnimmt, dass in einem singulären Kausalsatz immer eine allgemeine Regularitätsaussage implizit enthalten ist. Da jedoch mit allgemeinen Regularitäten letztlich nur in rudimentärer Form von Naturgesetzen gesprochen wird, gelangt Stegmüller zu der Interpretation: „Wo ein individueller Kausalzusammenhang festgestellt wird, da wird behauptet, daß eine spezielle Ereignisfolge unter ein (hypothetisch angenommenes) allgemeines Naturgesetz subsumiert werden könne.“ 45

Hume relativiert also den Aussagegehalt singulärer Kausalsätze zugunsten genereller Kausalgesetze, welche zu erkennen er freilich nicht imstande war. Der singuläre Kausalsatz lässt nicht über die Tatsache des beobachteten Zusammenhangs hinaus auf eine Notwendigkeit dieses Zusammenhangs schließen, er impliziert jedoch, dass es ein allgemeines Kausalgesetz gibt, unter welches dieser Kausalsatz subsumiert werden kann.46

42

Vgl. hierzu Stegmüller (1983), 504; Maiwald (1980), 10. Vgl. Stegmüller (1983), 511–513; Wright, Iowa Law Review 73, 1001 (1019). Ähnlich urteilt auch Lauener, wenn er Hume das Verdienst zuspricht, „als erster den synthetischen Charakter der Kausalurteile hervorgehoben zu haben“, indem er zeigte, dass singuläre Kausalsätze logisch nicht zwingend sind, „weil der Begriff eines Dinges niemals das Dasein eines andern impliziert“, vgl. Lauener (1969), 112. 44 Vgl. oben S. 36. 45 Stegmüller (1983), 513. 46 Stegmüller (1983), 513. 43

I. Die Kausalität und ihre Feststellung

41

Stegmüller geht über die Betrachtungen Humes hinaus, der sich auf die Analyse singulärer Kausalsätze beschränkt hatte,47 und argumentiert, dass auch auf Ebene der allgemeinen Kausalgesetze das Attribut der Notwendigkeit des beschriebenen Zusammenhangs verfehlt sei. Um Stegmüllers Argumentation zu verdeutlichen, sei ein Beispiel gebildet: Physiker A beschreibt das Gesetz, dass ein im Gravitationsfeld der Erde losgelassener Gegenstand in Richtung der Erdoberfläche fallen wird. Physiker B beschreibt das gleiche Gesetz und versieht es mit dem Zusatz: „und dies gilt mit Notwendigkeit“.

Wird nun im Experiment ein Apfel im Gravitationsfeld der Erde losgelassen, liegen also die Voraussetzungen des Gesetzes vor, so wird B prognostizieren, dass der Apfel in Richtung der Erdoberfläche fallen wird, da die Voraussetzungen seines Gesetzes erfüllt sind und mit Notwendigkeit zu diesem Ergebnis führen. Indes wird Physiker A genau dasselbe prognostizieren, auch wenn er für diese Prognose keine Notwendigkeit beansprucht, sondern schlicht, weil er die Richtigkeit seiner Konditionalaussage annimmt. Stegmüller schließt aus dieser Betrachtung, dass die Notwendigkeitsbehauptung zum kognitiven Inhalt eines Kausalgesetzes nichts beiträgt und somit – ebenso wie auf der Ebene singulärer Kausalsätze – ein überflüssiger, bezogen auf singuläre Kausalsätze sogar irreführender Zusatz ist.48 Stegmüller stimmt Hume in seiner Absage an die Vorstellung singulärer Kausalsätze als notwendige Verknüpfungen zu und weitet diese auf die Ebene der allgemeinen Kausalgesetze aus. Kritik an Humes Überlegungen übt Stegmüller in methodischer und terminologischer Hinsicht. Zum einen finde sich bei Hume keine methodisch trennscharfe Unterscheidung zwischen der logischen Analyse singulärer Kausalsätze und deren psychologischer Erklärung.49 Zum anderen leiden Humes Überlegungen an einer terminologischen Ungenauigkeit, namentlich an der Verwendung der alltagssprachlichen Ursache-Wirkungs-Terminologie50, aufgrund derer Hume in seinem Streben nach einer Definition der Ursache letztlich scheitern müsse. „Es ist ein hoffnungsloses Unterfangen, bei alltäglichen Wendungen anzuknüpfen und, ohne den Boden der direkten Interpretation dieser Wendungen zu verlassen, aus ihnen mehr an Präzision herausholen zu wollen, als tatsächlich in ihnen steckt.“ 51

Beauchamp/Rosenberg beschäftigen sich in ihrer Monographie Hume and Causation ausschließlich mit Humes Kausalitätstheorie. Sie zeigen, dass Humes

47

Vgl. Stegmüller (1983), 511, 514. Vgl. zum Ganzen Stegmüller (1983), 514. 49 Stegmüller (1983), 516; ebenso Koriath (1988), 20 f. 50 Zur Ungenauigkeit dieser Terminologie vgl. Stegmüller (1983), 506–510; Schöpf (1973), 794. 51 Stegmüller (1983), 516. 48

42

B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

Definitionen der Ursache52 einen Zusammenhang schaffen zwischen singulären Kausalbehauptungen und allgemeineren, gesetzähnlichen Aussagen. Humes Skepsis bezüglich objektiv wahrnehmbarer kausaler Beziehungen zwischen Gegenständen und seine Interpretation singulärer Kausalätze als rein subjektive, intuitive Verknüpfungen führe ihn letztlich zu der Erkenntnis, dass singuläre Kausalsätze von der Geltung allgemeiner Kausalgesetze abhängen. Hume gehe also von der Existenz von Kausalgesetzen aus, unter die sich singuläre Kausalbehauptungen subsumieren lassen.53 Als solche benenne Hume die Naturgesetze, die er allerdings im philosophischen Kontext des empirischen Skeptizismus nicht näher ergründen könne.54 Humes Verlagerung des Blickwinkels von der Ebene singulärer Kausalsätze auf die Ebene allgemeiner Kausalgesetze beschreiben Beauchamp/Rosenberg als wesentliche Veränderung in der philosophischen Diskussion. „Hume’s theory represents a profound and in some ways permanent shift in the history of philosophy, in which causal laws replaced causal instances as the real locus of controversy about the causal relation.“ 55

dd) Eigene Bewertung: Abhängigkeit singulärer Kausalsätze von ihrem kausalgesetzlichen Kontext Humes Überlegungen zur Kausalität gehen von einem erkenntnistheoretischen Konzept aus, nach dem Erkenntnisse nicht genuin durch den Verstand erzeugt, sondern nur durch lückenlose Beweisführung aus der unmittelbar wahrnehmbaren Objektwelt gewonnen werden können. Als zentrales Element für eine sinnstiftende Erfahrung der Welt, als lex artis dieser Beweisführung erkennt Hume unsere Vorstellung von Kausalität. Er unterzieht singuläre Kausalsätze einer kritischen Betrachtung und kommt zu dem Schluss, dass diese für sich genommen keine logische Notwendigkeit zu beschreiben in der Lage sind. Vielmehr liegen den Kausalzusammenhängen der Objektwelt gesetzmäßige Zusammenhänge zugrunde, deren Ergründung Hume nicht für menschenmöglich hält. Versucht man, die Überlegungen Humes zu würdigen, so ist es entscheidend, sich den begrenzten Gegenstand seiner Untersuchungen zu vergegenwärtigen. Hume beschäftigt sich mit der kausalen Erklärung konkreter Wirkzusammenhänge und mit dem Begriff der (Einzel-)Ursache. Er überprüft die logische Stich-

52

Vgl. oben S. 37. Beauchamp/Rosenberg (1981), 83 f. 54 Ausführlich zu Humes Versuch der Spezifizierung von Kausalgesetzen in seinem „Traktat über den menschlichen Verstand“ Beauchamp/Rosenberg (1981), 23 ff. Kulenkampff (1993), S. XXIII (Fn. 20) entnimmt Humes Ausführungen über Kausalgesetze keinen größeren Erkenntnisgewinn. 55 Beauchamp/Rosenberg (1981), 80. 53

I. Die Kausalität und ihre Feststellung

43

haltigkeit singulärer Kausalsätze und verneint diese. Verdeutlicht man sich diesen begrenzten Fokus, so ist Laueners Vorwurf der Zirkelschlüssigkeit seiner Argumentation56 zu entkräften. Lauener wirft Hume vor, seiner psychologischen Erklärung der Entstehung singulärer Kausalsätze mit dem Kausalprinzip den Grundsatz zugrunde zu legen, den sie eigentlich erklären soll. Indes war nicht das Kausalprinzip insgesamt, sondern lediglich die Entstehung und logische Aussagekraft singulärer Kausalsätze Gegenstand von Humes Überlegungen, denen er mithin das Kausalprinzip zugrunde legen konnte, ohne sich dem Vorwurf der Zirkelschlüssigkeit auszusetzen. Sein Konzept stellt also – behält man den gewählten Untersuchungsgegenstand im Blick – eine scharfsinnige Kritik der Überzeugungskraft singulärer Kausalsätze dar.57 Wie bereits gezeigt wurde, setzt die Kritik an Humes Überlegungen an anderer Stelle an, nämlich an Humes erkenntnistheoretisch bedingter Kapitulation vor der Untersuchung der Kausalgesetze. Hume hätte, so wird kritisiert, nicht in seinem empiristischen Erkenntnisrahmen verharren dürfen und ergründen müssen, welche Gesetzmäßigkeiten unserer intuitiven Formulierung singulärer Kausalsätze zugrunde liegen.58 So berechtigt diese Kritik aus dem heutigen Blickwinkel auch sein mag, so sehr sollte man bemüht sein, diesen Aspekt nicht über Gebühr hervorzuheben. Die Forderung des Abschieds von seinem empiristisch geprägten Weltbild als logische, sich geradezu aufdrängende Folge seiner Überlegungen trägt der überragenden Bedeutung empiristischer Anschauungen in der Zeit Humes nicht angemessen Rechnung. Besonders hervorgehoben werden sollte vielmehr die der analytischen Feinsinnigkeit Humes geschuldete Erkenntnis, dass jeder singuläre Kausalsatz immer in einem abstrakteren Kontext gedacht werden muss, um eine logische Aussagekraft für sich zu beanspruchen. Eine sinnstiftende Diskussion kausaler Probleme kann nur auf mehreren Abstraktionsebenen stattfinden. Singuläre Kausalsätze beziehen ihre logische Rechtfertigung aus ihrem Rückbezug auf allgemeine Regularitätsaussagen – insbesondere Kausalgesetze. Die Feststellung dieses jedem singulären Kausalsatz implizit innewohnenden Rückbezugs hat der Analyse Humes heute die Bezeichnung „Regularitätstheorie“ eingebracht.59 Humes skeptische Analyse singulärer Kausalsätze bereitete langfristig den Weg für die folgende terminologische Weiterentwicklung der Kausalitätsdiskussion und verlagerte den Fokus späterer philosophischer Be56

Vgl. hierzu oben S. 39. Zustimmung erfährt Hume in diesem Punkt von Stegmüller (1983), 512 f. Die logisch konsequente Argumentation Humes würdigt auch Lauener (1969), 112. 58 Nach Lauener (1969), 122 hätte Hume „nicht bei dem alten, sensualistischen Grundsatz verharren [dürfen], denn, wenn er weiter gesucht hätte, hätte er neue Ausblicke gewonnen.“ Maiwald (1980), 49 ist erstaunt darüber, dass Hume „aus dem an sich deutlich zum Ausdruck gebrachten Scheitern der Philosophie des Empirismus keinerlei Konsequenzen gezogen, und daß er die Grundlagen seines Philosophierens nicht angezweifelt hat“. 59 Vgl. etwa Koriath (1988), 3. 57

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

trachtungen auf die Beschreibung allgemeiner Kausalgesetze. Kurzfristig zwang Humes Ansatz, die menschliche Vorstellung von Kausalität sei das Produkt in der Objektwelt beobachteter Phänomene, Kant zu Überlegungen über Kausalität und das Verhältnis von Objekt und Vernunft, die ihn zu einer abweichenden Meinung führten. b) Die Kausalität als Kategorie des Verstandes nach Kant Den zweiten zentralen Beitrag zur wegbereitenden philosophischen Kausalitätsdiskussion des 18. Jahrhunderts liefert Immanuel Kant. Durch die Überlegungen Humes angeregt60, setzte sich Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft kritisch mit dem empiristischen Ansatz Humes auseinander. Die folgende Darstellung folgt der gleichen Struktur wie bereits die Darstellung der Lehren Humes. aa) Einordnung der Kritik der reinen Vernunft Kants Kritik der reinen Vernunft ist das vielleicht bedeutendste philosophische Werk deutscher Sprache. Die Kritik führt philosophische Entwicklungslinien zusammen, die bis in die Antike zurückreichen, und hat die weitere Entwicklung der Philosophie bis in die Gegenwart nachhaltig beeinflusst.61 Im Kern handelt es sich um eine erkenntnistheoretische Abhandlung. Kant greift die antagonistischen Lehren des Apriorismus und des Empirismus auf, widerlegt sie als Extrempositionen und begründet ein wechselbezügliches System empirischen und nichtempirischen Wissens. Demnach hat jedes Wissen nicht-empirische Bedingungen, die rationale Erfahrung überhaupt erst ermöglichen.62 Die Erkenntnis richte sich nicht nach den Gegenständen, sondern umgekehrt. Wir können die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Wirklichkeit a priori – also in reiner Verstandestätigkeit, unabhängig von empirischer Erfahrung – erkennen, weil wir sie jeder Wahrnehmung implizit zugrunde legen. Das erkennende Subjekt wird so zum Gesetzgeber der Natur.63 bb) Kausalrelation als Verstandesbegriff a priori Die folgende Analyse des Primärtexts – Kants Überlegungen zur Kausalität in seiner Kritik der reinen Vernunft – wird mit einer kurzen Skizze der erkenntnistheoretischen Grundlagen eingeleitet. Anschließend wird das Kernstück seiner Kausalitätstheorie untersucht – die zweite Analogie der Erfahrung.

60 61 62 63

Vgl. hierzu das Zitat bei Kulenkampff (1993), S. VII. Mohr/Willascheck (1998), 5. Vgl. Mohr/Willascheck (1998), 6 f. Vgl. Mohr/Willascheck (1998), 18.

I. Die Kausalität und ihre Feststellung

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(1) Erkenntnistheoretische Grundlagen Ähnlich wie Hume schreibt auch Kant64 der Vorstellung von Kausalität eine entscheidende Rolle im menschlichen Erkenntnisprozess zu. Seine Überlegungen zur Kausalität erfolgen im Rahmen seiner Untersuchung des menschlichen Erkenntnisprozesses und müssen in diesem Kontext interpretiert werden. Die folgende Analyse seiner Thesen zur Kausalität ist daher immer zugleich erkenntnistheoretischer Natur. Ihr vorgeschaltet erfolgen zunächst einige Bemerkungen über Kants erkenntnistheoretische Grundlagen. Wie Hume legt auch Kant seinen Überlegungen ein duales Erkenntnissystem zugrunde. Sinnliche Vorstellungen bezeichnet er als „Anschauungen“, apriorische Vorstellungen sind „Begriffe“. Nur die Synthese beider Elemente ermöglicht Erkenntnis bzw. „Erfahrung“.65 Letztere definiert Kant als empirische Erkenntnis, als eine Synthese, durch die der Verstand die Vielfalt der Erscheinungen ordnet und so ein rationales Verständnis ermöglicht, das über die bloße Anschauung oder Empfindung hinausgeht.66 Diese Synthese vollziehe sich zunächst dadurch, dass wir sinnliche Eindrücke nicht lediglich passiv aufnehmen, sondern die Eindrücke zu einer einheitlichen Anschauung verarbeiten. Darüber hinaus werden die einzelnen Wahrnehmungen untereinander so verbunden, dass ein einheitliches Bild einer objektiven Erfahrungswirklichkeit entstehe. Kant formuliert nun drei Analogien der Erfahrung, anhand derer der Verstand aus schlichten Wahrnehmungen eine einheitliche Erfahrung im beschriebenen Sinne synthetisiert.67 Zentral für das Verständnis von Kants Erkenntnistheorie ist sein Konzept von der Zeitlichkeit der Erfahrung. Alles rationale Verstehen beruht nach Kant auf der Einordnung von Erscheinungen in die Zeit. Indem wir unsere Wahrnehmungen in eine zeitliche Abfolge bringen, können wir ihre Bedeutung, ihre Voraussetzungen und Konsequenzen ermitteln. Die Regeln, nach denen wir unsere Wahrnehmungen zu Erfahrungen synthetisieren, müssen also auf einem Verständnis zeitlicher Dimensionen beruhen. Die drei Modi der Zeit seien Beharrlichkeit, Folge und Zugleichsein.68 Diesen drei Modi ordnet Kant seine drei Analogien zu. Zentral ist für die vorliegende Untersuchung die zweite Analogie, die sich auf die Folge der Zeit bezieht. Da die Gedankenführung in der zweiten Analogie auf den Befunden der ersten Analogie aufbaut, soll zunächst die erste Analogie kurz skizziert werden.

64 Kants Auseinandersetzung mit dem Problem der Kausalität erfolgt innerhalb seiner Kritik der reinen Vernunft in seinen Analogien der Erfahrung, Kant 1998 (1787), 216 ff. (B 218 ff.). 65 Vgl. Kant 1998 (1787), 216 (B 218 f.). 66 Kant 1998 (1787), 216 (B 218). 67 Kant 1998 (1787), 217 (B 219). 68 Kant 1998 (1787), 217 (B 219).

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

(2) Erste Analogie: Beharrlichkeit der Substanz69 In der ersten Analogie identifiziert Kant die Substanz der Dinge als wahrnehmbares Bezugsobjekt, welches uns die Einordnung der Erscheinungen in den – selbst nicht wahrnehmbaren – Lauf der Zeit ermöglicht. Nach Kants Konzept der Zeitlichkeit aller Erfahrung ermöglicht nur die Einordnung der Erscheinungen in den Lauf der Zeit rationale Erfahrung. Die Zeit als solche kann jedoch nicht wahrgenommen werden. Daher müsse es etwas Wahrnehmbares geben, das anstelle der nicht wahrnehmbaren Zeit die Rolle eines empirischen Bezugssystems übernehme, relativ zu dem alle Erscheinungen nach der Zeit geordnet werden können.70 Da die Zeit selbst unveränderlich fortexistiere und das gesuchte wahrnehmbare Substitut die Funktion der Zeit als Bezugssystem übernehmen solle, müsse auch dieses wahrnehmbare Bezugsobjekt als Konstante unveränderlich fortbestehen. Dieses Bezugsobjekt findet Kant in der Substanz, der unveränderbaren Grundlage aller realen Existenz. Die Substanz der Dinge bleibe unverrückbar gleich und alle Veränderung sei nur eine Zustandsveränderung der immer gleichbleibenden Substanz. So lasse sich etwa das Gewicht von Rauch bestimmen, indem man vom Gewicht des Holzes das Gewicht der übrig gebliebenen Asche abziehe, da „die Materie (Substanz) nicht vergehe, sondern nur die Form derselben eine Abänderung erleide.“ 71 Damit sei die Unveränderlichkeit der Substanz der Erscheinungen die Grundlage unserer Vorstellung von der Zeit und deshalb Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung. Um die Erscheinungen in eine sinnvolle – also nicht lediglich vom Zufall abhängige, irrationale – Reihenfolge bringen zu können, bedürfe es eines materiellen Kriteriums, anhand dessen wir eine Erscheinung zeitlich vor oder nach der anderen einordnen und so eine zwingende Reihenfolge unserer Wahrnehmungen bestimmen. Dieses materielle Kriterium erforscht Kant in seiner zweiten Analogie. (3) Zweite Analogie: Zeitfolge nach dem Gesetz der Kausalität72 In der zweiten Analogie identifiziert Kant das Kausalprinzip als diejenige Kategorie des Verstandes, die uns die zwingende zeitliche Anordnung der Erscheinungen und somit die rationale Erfahrung selbst ermöglicht. Nehme der Mensch eine Veränderung wahr, so verknüpfe er zwei Wahrnehmungen (zwei unterschiedliche Zustände, z. B. intakte Scheune/ausgebrannte Scheune) in der Zeit. Diese Verknüpfung sei nicht bloßes Produkt sinnlicher 69 70 71 72

Vgl. Kant 1998 (1787), 220–225 (B 224–232). Vgl. Kant 1998 (1787), 220 (B 225). Kant 1998 (1787), 223 (B 228). Kant 1998 (1787), 226–242 (B 232–256).

I. Die Kausalität und ihre Feststellung

47

Wahrnehmung, sondern Synthese des Verstandes, die den inneren Sinn der Veränderung in Ansehung des Zeitverhältnisses bestimme.73 Da die Zeit als solche nicht wahrnehmbar sei, also nicht durch bloße Anschauung des einzelnen Objekts bestimmt werden könne, könnte der Verstand die beiden Wahrnehmungen entweder dergestalt verknüpfen, dass Zustand B auf Zustand A folgte, oder umgekehrt. Die Wahrnehmung einer objektiven Veränderung setze zwar voraus, dass wir verschiedene Zustände nacheinander wahrnehmen, umgekehrt bedeute jedoch nicht jede sukzessive Wahrnehmung von Zuständen, dass die beiden wahrgenommenen Zustände auch objektiv aufeinandergefolgt seien. Vielmehr können sie auch gleichzeitig nebeneinander bestanden haben und lediglich subjektiv nacheinander wahrgenommen worden sein. Durch die bloße Anschauung der beiden Zustände bleibe ihr objektives Verhältnis zueinander also unbestimmt. Um dieses Verhältnis als bestimmt zu erkennen und so das Unbestimmtheitsproblem zu lösen, müsse das Verhältnis der beiden Zustände so gedacht werden, dass notwendig Zustand B auf Zustand A folgte. Die Begrifflichkeit dieser synthetischen Verstandesoperation ist nach Kant nun diejenige von Ursache und Wirkung. Unsere Vorstellung von Kausalität ermögliche es, Wahrnehmungen durch eine Synthese des Verstandes zeitlich zu ordnen und so sinnstiftend zu erfahren. Kant beschreibt das Kausalprinzip („daß die vorige Zeit die nachfolgende notwendig bestimmt“ 74) als formale Bedingung aller Wahrnehmungen, als unentbehrliches Prinzip empirischer Vorstellungen. „Zu aller Erfahrung und deren Möglichkeit gehört Verstand, und das erste, was er dazu tut, ist nicht: daß er die Vorstellung der Gegenstände deutlich macht, sondern daß er die Vorstellung eines Gegenstandes überhaupt möglich macht.“ 75

Dies ermögliche der Verstand, indem er die subjektiven Wahrnehmungen in den Zeitablauf einordne. Er ordne unter Anwendung unserer Vorstellung von Ursache und Wirkung jedem Ereignis als Folge seiner Ursachen seinen zeitlichen Platz zu. Diese Einordnung muss nach Kant in Relation zu vorhergehenden, verursachenden Erscheinungen erfolgen und kann nicht hiervon losgelöst als Einordnung in die „absolute“ Zeit erfolgen, da der Lauf der Zeit nur anhand seiner Phänomene (der Ereignisse) nachvollzogen werden kann. Aufgrund dieser ordnenden Wirkung ist unser Kausalitätsverständnis „die Bedingung der objektiven Gültigkeit unserer empirischen Urteile, in Ansehung der Reihe der Wahrnehmungen, mithin der empirischen Wahrheit derselben, und also der Erfahrung.“ 76 Kant entwickelt also das Problem der objektiven Unbestimmtheit der Wahrnehmungssynthese und formuliert eine Lösungsthese: Das Kausalprinzip ermög73 74 75 76

Kant 1998 (1787), 226 (B 233). Kant 1998 (1787), 234 (B 244). Kant 1998 (1787), 234 (B 244). Kant 1998 (1787), 236 (B 247).

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

licht die eindeutige Einordnung der Wahrnehmungen in der Zeit. In unserer Vorstellung folgen demnach die Erscheinungen nach dem Gesetz der Kausalität aufeinander. Aufgeworfen ist mit diesem Befund jedoch die zentrale erkenntnistheoretische Frage: Wann kann von einer subjektiv in meiner Vorstellung wahrgenommenen Veränderung behauptet werden, dass ihr eine tatsächliche, objektive Zustandsveränderung zugrunde liegt? Zur Beantwortung dieser Frage gilt es zunächst zu klären, was nach Kant das Objekt menschlicher Erfahrung ist, was man also überhaupt als objektiven Zustand begreifen kann. Anschließend wird herausgearbeitet, unter welchen Voraussetzungen eine subjektive Folge von Vorstellungen als Wahrnehmung einer objektiven Zustandsveränderung angesehen werden kann. Kant wendet sich zunächst der Frage zu, was das Objekt menschlicher Erfahrung ist. Gegenstand unserer Erfahrung seien einerseits nicht unsere Vorstellungen der Dinge – Kant sucht gerade den von diesen subjektiven Vorstellungen verschiedenen Gegenstand. Dieser finde sich jedoch auch nicht umgekehrt in den „Dingen an sich“, da unser Verstand uns einen „ungefilterten“ Zugriff auf die Realität verwehre, wir also nicht erkennen, wie die Dinge an sich beschaffen sind.77 Kant versucht alsdann, den Gegenstand unserer Erfahrung vom Gegenstand unserer Vorstellungen abzuleiten. Letzterer ist für Kant etwas, das unsere Wahrnehmungen in eine feste Ordnung zwingt. Die Einheit unserer Vorstellungen wiederum, die wir auf das Objekt, den Erfahrungsgegenstand, zurückführen, sei nur eine formale Einheit, durch Synthese des Verstandes erzeugt. Was wir als Objekt unserer Erfahrung anerkennen, sei also letztlich nur eine synthetische Einheit, die wir kraft unseres Verstandes, gewissen Regeln folgend, selbst geschaffen haben.78 In Abgrenzung zum Bereich des Denkbaren (Vorstellungen) einerseits und zu den Dingen an sich andererseits verwendet Kant für das Objekt unserer Erfahrung, den Bereich des Erfahrbaren, den Begriff der Erscheinung. Hat Kant also das Objekt der Erfahrung definiert, kann er sich der Frage zuwenden, unter welchen Voraussetzungen eine subjektive Folge von Vorstellungen als Wahrnehmung einer objektiven Zustandsveränderung angesehen werden kann. Antwort auf diese Frage erhofft er sich, indem er unsere Wahrnehmung von Veränderungen untersucht und nach einer für derartige Veränderungen charakteristischen Regel forscht. Hierfür untersucht Kant zwei verschiedene Wahrnehmungssituationen: die Betrachtung eines Hauses und die Betrachtung eines stromabwärts treibenden Schiffes. Bei der statischen Betrachtung des Hauses sei die Abfolge der Wahrnehmungen (etwa von der Spitze bis zum Boden, von rechts nach links) nicht vorbestimmt. Bei der Beobachtung des Schiffes hingegen sei die Ordnung in der

77 78

Kant 1998 (1787), 227 f. (B 234 f.). Kant 1998 (1787), 228 (B 236).

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Abfolge der Wahrnehmung vorbestimmt. Die Wahrnehmung des Schiffes an einem Punkt unterhalb des Betrachters folge immer auf die Wahrnehmung desselben oberhalb des Betrachters, und nicht umgekehrt. Diese zwingende Abfolge der Wahrnehmung finde sich immer und überall dort, wo etwas geschehe, wo es sich also nicht nur um ein statisches Bild handle. Sie zwinge die geistige Wahrnehmung in ein objektives Abfolgeschema. Die Reihenfolge, in der wir (subjektiv) die Erscheinungen ordnen, folge einer objektiven Regel.79 In dieser Regel findet Kant das Charakteristikum objektiver Zustandsveränderungen. Zwingt uns also eine objektiv erkennbare Anwendungsbedingung (im Beispiel die Wahrnehmungssituation am Fluss) eine Regel auf, nach der zwei Wahrnehmungen nur in einer bestimmten Reihenfolge verarbeitet werden können, so rechtfertigt diese Regel nach Kant den Schluss, dass die Wahrnehmungen nicht nur in unserer Vorstellung, sondern tatsächlich aufeinanderfolgen. Erfahrung sei demnach allein unter der Bedingung der Geltung des Kausalprinzips möglich, das der subjektiven Synthese der Wahrnehmungen objektive Gültigkeit verleihe.80 Mithilfe des Kausalprinzips synthetisieren wir subjektiv unsere Wahrnehmungen zu Vorstellungen, darüber hinaus können wir durch seine Anwendung unter der Anwendungsbedingung eines nicht-statischen Vorganges die Wahrnehmung einer Veränderung auch als objektiv-faktische Zustandsveränderung begreifen. Diesen Ausführungen folgend setzt sich Kant mit einer prominent von Hume vertretenen Gegenposition auseinander. Nach Hume entstand erst durch die Beobachtung zahlreicher analoger Erscheinungen die Vermutung einer Regelmäßigkeit der Abfolgen, wodurch die Ableitung der Begriffe von Ursache und Wirkung aus der empirischen Anschauung möglich wurde.81 Hiernach käme dem Begriff der Ursache keine Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit zu, er beruhte dann lediglich auf Induktion und wäre kein Verstandesbegriff a priori. Nach Kant verhält es sich jedoch mit dem Begriff der Ursächlichkeit wie mit anderen reinen Vorstellungen a priori (z. B. Raum und Zeit) dergestalt, dass wir diese Begriffe nur aus unserer Erfahrung ableiten konnten, weil wir sie unserer Erfahrung bereits zugrunde gelegt hatten, weil unsere Verwendung dieses geistigen Instrumentariums die Erfahrung der Begriffe überhaupt erst ermöglichte. Kant räumt ein, dass eine logisch klare Vorstellung von dem Begriff der Ursache nur dann möglich ist, wenn wir davon in der Erfahrung Gebrauch gemacht haben. Aber unsere Vorstellung von der Kausalitätsbeziehung war doch Voraussetzung jeder sinnstiftenden geistigen Ordnung von Wahrnehmungen in der Zeit und deshalb apriorische Voraussetzung für diese Erfahrung selbst.82 79 80 81 82

Kant 1998 (1787), 229 (B 237 f.). Kant 1998 (1787), 230 f. (B 238–240). Vgl. hierzu bereits oben S. 36. Kant 1998 (1787), 232 (B 241 f.).

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

cc) Kants Kausalitätstheorie in der wissenschaftstheoretischen Diskussion Nach der Untersuchung des Primärtexts soll eine Analyse der hierauf bezogenen wissenschaftstheoretischen Diskussion eine Interpretation mit Blick auf den in dieser Arbeit verfolgten Untersuchungsgegenstand ermöglichen. Maiwald betont die Wechselbezüglichkeit der beiden Bedingungen der Erkenntnis, wie Kant sie formuliert. Erkenntnis sei nur in einer Verbindung beider Bedingungen möglich. Ohne die sinnliche Anschauung wäre der apriorische Begriff ein Gedanke ohne Bezugsgegenstand. Umgekehrt können wir den Gegenstand der Anschauung schon gar nicht rational erfahren, ohne Begriffe als Prämissen unserer Wahrnehmung. „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ 83

Empirik und Logik stünden in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Im Verhältnis dieser beiden Dimensionen der Erkenntnis betont Kant jedoch nach der Interpretation Maiwalds diejenige des apriorischen Begriffs und vollzieht so eine Wendung im Verhältnis von Anschauung und Erkenntnis. Demnach richte sich nicht die Anschauung nach der Beschaffenheit der Gegenstände, sondern das Objekt unserer Anschauung werde konturiert und definiert durch die Prämissen unserer Wahrnehmung. Folgerichtig sei das Kausalitätsprinzip nach Kant eine Kategorie des Verstandes, eine gedankliche Konstruktion, mit der der Verstand sinnstiftendes Erfahren erst ermögliche. „Das erkennende Subjekt schafft sich seine Gegenstandswelt, indem es Zufälligkeit und subjektives Belieben eliminiert und so mittels des Kausalprinzips die „blinde“ Anschauung sehend macht.“ 84 Diesem Verständnis wohne – wie bei Hume – kein dynamisches Moment inne, Kausalität sei kein Wirkungszusammenhang, mittels dessen ein früheres Ereignis ein späteres hervorbringt. Nach Maiwald ergibt sich aus den Thesen Kants – die Zeitfolge zwischen zwei Ereignissen sei das einzige empirische Kriterium des Kausalzusammenhangs und die Kausalität sei lediglich das Ordnungsprinzip, das der Geist an die Erscheinung heranträgt – dass die Kausalität bei Kant keine Struktur der objektiven Wirklichkeit ist. Vielmehr wohne sie lediglich dem Betrachter inne, ihre Existenz setze also immer ein denkendes Subjekt voraus. Sie sei subjektives Ordnungsprinzip, nicht objektives Strukturprinzip.85 Die von Maiwald angedeutete Kritik an dieser Konzeption wendet sich gegen dieses umfassend subjektivierende Verständnis von Kausalität. Kant habe in objektiver Hinsicht nur das temporale Ele-

83

Kant 1998 (1787), B 75. Maiwald (1980), 51. 85 Vgl. Maiwald (1980), 51; auch Sachta (1975), 67 konstatiert eine „Verlagerung des Schwerpunkts der Problematik vom Erkenntnisobjekt auf das Erkenntnissubjekt“. 84

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ment der Kausalität im Auge und berücksichtige nicht hinreichend, in welcher Form die Kausalität auch als Struktur der objektiven Wirklichkeit existiere.86 Lauener versucht – dem Programm seines systematisierenden Vergleichs der Lehren Humes und Kants87 folgend – den erkenntnistheoretischen Ansatz Kants als Gegenkonzeption zu den Lehren Humes zu begreifen. Demnach versuchen Hume und Kant von je einem „Pol“ der Erkenntnis auszugehen, ersterer vom sinnlich Gegebenen, letzterer von der verstandesmäßig-formalen Seite.88 Hume überantworte die Herstellung der Zusammenhänge in der Erfahrung ganz der Einbildungskraft, Kant schreibe die Erzeugung der Kategorien dem Verstand zu. Kant konstruiere so einen subjektivierten Zugriff des Menschen auf die Wirklichkeit. Der Verstand richte sich nicht nach der Objektwelt, die als solche für ein Vernunftwesen gar nicht wahrnehmbar sei. Vielmehr richten sich die Dinge nach dem Verstand und damit nach dem Kausalprinzip, der Verstand synthetisiere sie unter Verwendung seiner apriorischen Kategorien zu Erscheinungen. Die konstituierende Rolle, die Kant dem Verstand im Erkenntnisprozess zuweise, habe zur Folge, dass sich sinnliche wie geistige Wahrnehmung nur auf Erscheinungen beziehen, niemals jedoch auf Dinge an sich.89 Unsere Wahrnehmung sei daher nach der Konzeption Kants immer eine durch die Verstandeskategorien vorstrukturierte, niemals eine primäre, unverfälschte. Kant konnte also Hume darin beipflichten, dass es nicht Gegenstand möglicher Erkenntnis sei, ob Kausalzusammenhänge auch in der reinen Objektwelt vorkommen. Er postuliere nicht die Existenz eines notwendigen Zusammenhangs in der Objektwelt, dieser bleibe vielmehr unnachweisbar. Grund hierfür sei jedoch nicht – wie bei Hume – die Beschränktheit des menschlichen Verstandes, sondern der Verstand selbst, der einen „unverfälschten“ Zugriff auf die Objektwelt verhindere. Wolle man die Lehren Humes und Kants in ein Verhältnis zueinander setzen, so widerlegt Kant nach Lauener nicht die Lehren Humes, vielmehr knüpft er an dessen Widerlegung isolierter singulärer Kausalsätze an, um dessen Standpunkt anschließend zu überwinden und einen neuen Weg aufzuzeigen.90 Im Ausgangspunkt teile Kant die Skepsis Humes bezüglich singulärer Kausalbeziehungen. Die Wirkung einer empirischen Ursache können wir nicht a priori, sondern nur aufgrund der Erfahrung kennen. Kant lasse sich nun von diesem Negativbefund zu weiteren Überlegungen anregen, forsche mit seiner transzendentalen Methode nach den Bedingungen dieser Erfahrung und stoße auf das Kausalprinzip. Seine

86 87 88 89 90

Maiwald (1980), 51. Vgl. hierzu bereits oben S. 38. Lauener (1969), 214. Lauener (1969), 116. Lauener (1969), 122.

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

Erkenntnisse gewinne Kant aus einem Perspektivwechsel, den Hume durch seine Betrachtungen angestoßen hatte.91 Thöle verdeutlicht in seiner Kommentierung der Analogien der Erfahrung, dass Kant auf verschiedenen Ebenen der Kausalitätsdiskussion argumentiert. So gelingt es, Übereinstimmungen und Widersprüche der Lehren Kants und Humes klar herauszuarbeiten. In seiner zweiten Analogie formuliere Kant das allgemeine Kausalprinzip und untersuche dessen Funktion im Erkenntnisprozess. Das Kausalprinzip sei von einzelnen, nur empirisch erkennbaren Kausalgesetzen zu unterscheiden.92 Es sage lediglich aus, dass jede Veränderung auf eine Ursache zurückgehe, von der jene gesetzmäßig abhänge. Was die Ursache einer konkreten Veränderung sei und welches Kausalgesetz im Einzelfall wirke, könne hingegen auch nach Kant nur durch Erfahrung erkannt werden.93 Kant stimme also mit Hume darin überein, dass notwendige Zusammenhänge weder durch Vernunft noch durch Wahrnehmung entdeckt werden können. Er ziehe daraus jedoch nicht Humes skeptische Konsequenz, wonach die objektive Notwendigkeit, die im Begriff der Kausalität gedacht wird, „angedichtet“ und bloßer Schein sei. Kant versuche vielmehr zu zeigen, dass wir die Geltung notwendiger, gesetzmäßiger Verknüpfungen in der Erfahrungswelt voraussetzen müssen, wenn wir auf der Grundlage unserer Wahrnehmungen objektive Veränderungen erkennen wollen. Thöle zeigt in seiner Kommentierung argumentative Schwächen Kants bei dessen Versuch auf, das Kausalprinzip als Voraussetzung der Erkenntnis herzuleiten. Kant argumentiert hier, durch die bloße Wahrnehmung sei das objektive Verhältnis der Erscheinungen zueinander in der Zeit unbestimmt, die Erkenntnis objektiver Veränderungen sei daher nur möglich, indem wir alle Veränderungen dem Kausalprinzip unterwerfen.94 Kants ersten Schritt, die These von der objektiven Unbestimmtheit der Wahrnehmungssynthese, kritisiert Thöle als unplausible und unnötig starke Behauptung. Mit einem Beispiel versucht er diese Behauptung ad absurdum zu führen: Tritt ein Mensch aus dem Haus, und trifft darauf ein vom Dach fallender Ziegel seinen Kopf, so sei die Abfolge seiner Wahrnehmungen objektiv bestimmt und nicht subjektiv durch dessen Willkür, die sonst wohl die Abfolge der Wahrnehmungen umgekehrt haben würde – und den Ziegel vom Dach hätte fallen lassen, bevor er das Haus verlassen hätte.95 Thöle selbst zeigt jedoch, dass diese in ihrer 91 Zur Ermöglichung eines Perspektivwechsels durch die Arbeiten Humes vgl. bereits oben S. 43. 92 Vgl. zu dieser Unterscheidung bereits oben S. 39. 93 Thöle (1998), 281. 94 Kant 1998 (1787), 226 f. (B 233 f.). 95 Vgl. Thöle (1998), 283; Thöle entlehnt dieses Beispiel von Arthur Schopenhauer, der sich mit dem Beispiel in seiner Schrift „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom

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Allgemeinheit zu weit gehende These nicht die gesamte Argumentation Kants beeinträchtigt. Die These müsse lediglich in einen schwächeren, für den Argumentationsgang dennoch ausreichenden Satz umgewandelt werden: Aus der bloßen Abfolge der Wahrnehmungen könne nicht automatisch auf das Vorliegen einer objektiven Abfolge geschlossen werden, da auch die Möglichkeit bestehe, dass objektiv gleichzeitige Zustände nur subjektiv nacheinander wahrgenommen werden.96 Nachdem Kant das Unbestimmtheitsproblem konturiert hat, forscht er nach dessen Lösung und stößt auf das Kausalprinzip, das allein uns als apriorische Kategorie objektive Veränderungen erkennen lassen soll. Auch diesen Gedanken unterzieht Thöle einer kritischen Betrachtung. Um das Unbestimmtheitsproblem zu lösen, müsse Kant herausarbeiten, was die Wahrnehmungsfolge objektiv aufeinanderfolgender Zustände von der Wahrnehmungsfolge tatsächlich gleichzeitig bestehender Zustände unterscheide. Nach Kant liege dieser Unterschied in der Tatsache, dass die Reihenfolge der Wahrnehmungen im ersten Fall festgelegt sei, während die einzelnen Zustände im zweiten Fall auch in umgekehrter Reihenfolge hätten wahrgenommen werden können. Hieraus schließe Kant, dass einer Wahrnehmungsfolge dann eine tatsächliche objektive Veränderung zugrunde liege, wenn die wahrgenommenen Zustände notwendig aufeinanderfolgten, also kausal bedingt seien. Thöle weist darauf hin, dass hierin von manchen Interpreten ein gravierender Fehlschluss gesehen wurde. Denn aus dem Umstand, dass die Wahrnehmungen nicht in umgekehrter Reihenfolge hätten auftreten können, folge nicht, dass die Abfolge der wahrgenommenen Zustände notwendig bestimmt sei. Auch wenn die objektiven Ereignisse zufällig aufeinanderfolgten, wäre die Abfolge der Wahrnehmungen festgelegt.97 Thöle weist jedoch auf eine andere Interpretationsmöglichkeit hin, nach der ein solcher Fehlschluss nicht vorliegt. Diese Interpretation führt eine zusätzliche Prämisse ein, um den Schluss einer Kausalverknüpfung der objektiven Zustände zu rechtfertigen. Besteht demnach die Gewissheit, dass ein bestimmter Zustand B98 nur nach einem Zustand A eintreten kann, so kann aus dem Auftreten der zureichenden Grunde“ – so Thöle – über Kants These von der objektiven Unbestimmtheit der Wahrnehmungssynthese lustig machte. 96 Vgl. hierzu Thöle (1998), 283. 97 Vgl. Thöle (1998), 284. 98 Für die Darstellung der Interpretation Thöles wird dessen Abkürzungssystem übernommen, das Kants Unterscheidung zwischen objektiven Zuständen und deren subjektiver Wahrnehmung berücksichtigt: Die objektiven Zustände werden durch Großbuchstaben bezeichnet, die entsprechenden Wahrnehmungen durch Kleinbuchstaben. (AB) bedeutet dementsprechend, dass Zustand A objektiv dem Zustand B vorausgeht. (ab) bedeutet, dass die Wahrnehmung von A der Wahrnehmung von B vorausgeht. Vgl. Thöle (1998), 282.

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entsprechenden Wahrnehmungen a und b geschlossen werden, dass die objektive Veränderung (AB) vorliegt. Dies wiederum setzt voraus, dass die objektiven Zustände untereinander in gesetzmäßigen Beziehungen stehen, aus denen sich ihr Zeitverhältnis ableiten lässt.99 Um den Unterschied zwischen den beiden Deutungen zu betonen, seien sie formelhaft verkürzt dargestellt. Erste Deutung: Weil die Wahrnehmungen a b nicht anders herum möglich sind, muss Zustand A Zustand B notwendig bedingen. Zweite Deutung: Wenn ich weiß, dass Zustand B nur nach Zustand A eintreten kann, kann ich bei Auftreten der Wahrnehmungen a und b schließen, dass Veränderung AB vorliegt.

Während die erste Deutung unzulässig von der vorgegebenen Reihenfolge der Wahrnehmungen auf eine kausale Verknüpfung der objektiven Zustände schließe, leite die zweite Deutung diese Folge nur unter Zuhilfenahme der zusätzlichen Erkenntnis „B kann immer nur nach A eintreten“ ab. Versucht man, dem Gedanken Kants diese zweite Deutung zugrunde zu legen, so zeigt Thöle ein Folgeproblem auf, das sich durch die Einführung der zusätzlichen Prämisse förmlich aufdrängt. Denn die Annahme der Geltung des Kausalprinzips allein reiche nun nicht mehr aus, um das Unbestimmtheitsproblem zu lösen. Hierzu genüge es nicht, zu wissen, dass jede Veränderung eine Ursache besitze. Um die zusätzlich eingeführte Prämisse, dass Zustand B nur nach Zustand A eintreten könne, zu rechtfertigen, müsse darüber hinaus das für den gegebenen Fall einschlägige empirische Kausalgesetz bekannt sein. Kausalgesetze können jedoch nur auf der Grundlage beobachteter Regularitäten objektiver Zustände bestimmt werden – dies räumt Kant selbst ein.100 Damit werde das ganze Verfahren zirkulär: Die Erkenntnis, dass sich etwa ein Schiff tatsächlich vorwärts bewegt habe, setzte neben dem Vorliegen eines bestimmten Ursacheereignisses ein empirisches Kausalgesetz voraus, aus dem sich ergebe, dass sich das Schiff bei Vorliegen dieses Ursacheereignisses vorwärts bewegen müsse. Andererseits könne man aber dieses empirische Kausalgesetz nur erkennen, indem man feststelle, dass sich in allen Fällen, in denen das betreffende Ursacheereignis vorliegt, Schiffe tatsächlich vorwärts bewegen.101 Nach Thöle liefert Kant daher keinen hinreichenden Beweis für seine These, ohne die Anwendung des Kausalprinzips sei menschliche Erkenntnis nicht möglich. „Man wird kaum behaupten können, dass Kant seine Analogien wirklich mit ,genugtuenden Beweisen‘ versehen hat. [. . .] es ist eher zweifelhaft, daß ohne die extrem

99

Thöle (1998), 285. Vgl. Kant 1998 (1787), 246 (B 263). 101 Vgl. hierzu Thöle (1998), 285. 100

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starken Behauptungen, die Kant in den Analogien aufstellt, objektive Erfahrungserkenntnis nicht möglich ist.“ 102

Ungeachtet seiner Kritik an der Argumentation Kants würdigt Thöle dessen Leistung, mit dem Problem objektiver Zeitbestimmung ein grundlegendes erkenntnistheoretisches Problem in die philosophische Diskussion eingeführt zu haben. Er stimmt mit ihm darin überein, dass für diese die bloße Wahrnehmung nicht ausreicht. Auch Kants These, nach der für die objektive Zeitbestimmung gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen den Erscheinungen erforderlich sind, pflichtet Thöle bei. Er zeigt sich jedoch skeptisch, ob sich über diese Gesetzmäßigkeiten a priori etwas aussagen lässt.103 Stegmüller weist darauf hin, dass vielfach vermeintliche Gegensätze der Auffassungen von Kausalität bei Hume und Kant herausgestellt werden, wo vielmehr die Gegensätzlichkeit der Problemstellungen betont werden sollte, denen sich die beiden Denker widmen.104 Während sich Hume in seiner Gedankenführung auf die Ebene der singulären Kausalsätze konzentriere und den Begriff der Ursache untersuche105, gehe es Kant um die Herleitung des allgemeinen Kausalprinzips. Nach Stegmüller schließen sich die meisten Wissenschaftstheoretiker heute der Position Humes an. Grund hierfür sei das Scheitern aller Versuche, das Kausalprinzip a priori zu begründen, und mehr noch die Tatsache, dass dieses Prinzip nach dem heutigen Stand der Forschung mit größter Wahrscheinlichkeit falsch sei. Wie bereits Thöle bemängelt auch Stegmüller die Unzulänglichkeit der Argumentation Kants, die bei der Herleitung der Kausalkategorie besonders deutlich zutage trete.106 Schöpf wendet sich gegen die trennscharfe Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes Kants und Humes bei Stegmüller. Nach Schöpf wollte Kant nicht das Kausalprinzip als Regel zur Erklärung der Wirklichkeit, sondern als Regel unserer Erkenntnis erarbeiten. Seine Regel behaupte „keine metaphysische Wahrheit, sondern eine transzendentallogische“.107 Berücksichtige man nun, dass kausale Verknüpfung auch nach Kant nicht aus reiner Vernunft begreifbar sei, sondern nur in der Erfahrung nachvollzogen werden kann, so fungiere sein Kausalprinzip als regulative Idee für den Forschungsprozess und lasse sich somit nicht klar von seiner Realisierung in einzelnen Kausalgesetzen abgrenzen.108

102 103 104 105 106 107 108

Thöle (1998), 294. Vgl. zum Ganzen Thöle (1998), 294. Stegmüller (1983), 517. Ganz in diesem Sinn auch Koriath (1988), 23. Vgl. hierzu bereits oben S. 42. Stegmüller (1983), 517. von Brandenstein (1973), 797. von Brandenstein (1973), 797.

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dd) Eigene Bewertung Nach der Untersuchung des Primärtexts und einer Analyse der philosophischen Diskussion wird der Versuch einer eigenständigen Bewertung der Kausalitätstheorie Kants unternommen. Nach einer Analyse seines Konzepts der Erscheinung als Gegenstand der Erfahrung und darauf aufbauenden Überlegungen zur Funktion des Kausalprinzips in der kantischen Erkenntnistheorie soll schließlich überprüft werden, ob die Thesen Kants mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit einer gewinnbringenden Interpretation zugänglich gemacht werden können. (1) Erweiterung der bipolaren Erkenntnistheorie Humes um das Konzept der Erscheinung Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Formulierung singulärer Kausalsätze an den Grenzen empirischer Beweisführung. Die kausale Erklärung bestimmter Sachverhalte erfordert einen unmittelbaren Zugriff auf die Wirklichkeit. Während jedoch Hume von der Möglichkeit eines solchen unmittelbaren Zugriffs ausgeht, denkt das Subjekt nach Kant anhand apriorischer Kategorien: Jede Wahrnehmung ist bereits Produkt einer synthetischen Verstandesoperation. Einen unmittelbaren Zugriff auf die Objektwelt kann es nach dieser Konzeption nicht geben. Daher muss sich Kant fragen, was Gegenstand menschlicher Erfahrung ist, wenn der Mensch auf die Dinge an sich, die Objektwelt, keinen Zugriff hat. Antwort auf diese Frage findet er in seinem Konzept der Erscheinung. So erweitert Kant die bipolare Erkenntnistheorie Humes – Objektwelt einerseits und erkennendes Subjekt andererseits – um ein drittes Element. Der Begriff der Erscheinung ist zwischen dem „Schein“ – also einer subjektiven Sicht, der „apprehendierten Vorstellung“ – und der „Wirklichkeit“ – also der unverfälschten Objektwelt, den „Dingen an sich“ – anzusiedeln. Beschrieben wird der primäre Zugriff des Menschen auf seine Umwelt, der allerdings durch die Verstandeskategorien bereits synthetisiert und daher kein unmittelbarer mehr ist. Sind also nicht die „Dinge an sich“ Gegenstand menschlicher Erfahrung, sondern nur die Erscheinungen als Produkt rationaler Synthese, so ergeben sich in Anbetracht des hier verfolgten Ziels, Kants Überlegungen für die Formulierung singulärer Kausalsätze nutzbar zu machen, zwei Fragen: Zunächst ist zu klären, in welchem Zusammenhang die Erscheinungen mit der Objektwelt stehen. Hierauf aufbauend stellt sich die Frage, wie kausale Verknüpfungen in der Objektwelt identifiziert werden können. (2) Kausalprinzip als Bindeglied zwischen Vorstellung und Objektwelt Zunächst sei die Betrachtung also auf die Frage gerichtet, welcher Zusammenhang nach Kants Konzept zwischen den Erscheinungen als Gegenstand der Er-

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fahrung und den „Dingen an sich“, der Objektwelt, besteht. Am Anfang dieser Betrachtung steht ein skeptischer Befund Kants: „Die Vorstellungen der Teile folgen auf einander. Ob sie sich auch im Gegenstande folgen, ist ein zweiter Punkt der Reflexion, der in dem ersteren nicht enthalten ist. [. . .] wie Dinge an sich selbst (ohne Rücksicht auf Vorstellungen, dadurch sie uns affizieren) sein mögen, ist gänzlich außer unsrer Erkenntnissphäre.“ 109

Indessen bleibt es nicht bei dieser Resignation. Vielmehr erkennt Kant, dass unserer Wahrnehmung bei nicht-statischem Geschehen eine bestimmte Reihenfolge der Wahrnehmungen aufgezwungen wird. Indem wir diese Wahrnehmungen dem Kausalprinzip unterwerfen, synchronisieren wir unsere Vorstellungen mit der Objektwelt, können die Wahrnehmung einer Veränderung also auch als objektiv-faktische Zustandsveränderung begreifen. So fungiert das Kausalprinzip, das wir als ordnendes Schema an nicht-statische Wahrnehmungen herantragen, als Bindeglied zwischen subjektiver Vorstellung und Objektwelt. (3) Kausaltheorie als Forschungsauftrag Auch bei Kant ist also ein Zugriff auf objektive Zustandsveränderungen möglich, allerdings nur vermittelt durch die apriorische Verstandeskategorie der Kausalität. Damit ist jedoch noch nichts ausgesagt über die Existenz, Beschaffenheit und Feststellung kausaler Verknüpfungen in der Objektwelt. Es schließt sich daher die zweite Frage an, wie nach Kant kausale Verknüpfungen in der Objektwelt identifiziert werden können. Hume untersucht die logische Struktur solcher singulärer Kausalsätze auf der untersten Abstraktionsebene der Kausalitätsdiskussion. Seine Erkenntnistheorie ist jedoch streng an die Anschauung und die Objektwelt gebunden. Hume kann nicht nach Kausalgesetzen forschen und seine Betrachtungen so auf die zweite Abstraktionsebene der Kausalitätsdiskussion ausweiten, da diese nach seinem Konzept die menschliche Erkenntnis übersteigen. Sein Erkenntniskonzept ist untrennbar mit der Objektwelt und der unverfälschten Anschauung verbunden, der Zugang zu höheren Abstraktionsebenen bleibt verwehrt. Aus diesem Grund ist ihm die Verifizierung singulärer Kausalsätze unmöglich. Auch Kant gibt auf die Frage, wie kausale Verknüpfungen in der Objektwelt identifiziert werden können, keine Antwort – dies jedoch aus gänzlich anderen Gründen. Die kausale Erklärung im Einzelfall und die Kausalgesetze, anhand derer eine solche vorgenommen werden kann, sind nicht Gegenstand seiner transzendentalen Forschungsmethode. Deren Fokus liegt in der Erforschung der Wahrnehmung der Dinge mittels apriorischer Kategorien, und nicht in der Erforschung der Dinge selbst. Kants Zugriff auf das Kausalitätsproblem ist ein funktionaler. 109

Kant 1998 (1787), 227 f. (B 234 f.).

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

Er fragt nicht: „Was bedeutet Kausalität?“, sondern: „Was leistet die Vorstellung von Kausalität in unserem Erkenntnisprozess?“. Kant forscht auf der Ebene des Kausalprinzips, das er weniger im Sinne einer Wirklichkeitsstruktur, als vielmehr im Sinne einer Wissensstruktur versteht. Seine Erkenntnistheorie ist von der ordnenden Tätigkeit des Verstandes geprägt. Durch sein Konzept der Erscheinung, des apriorisch synthetisierenden Verstandes bleibt es Kant verwehrt, nach den Kausalgesetzen zu forschen oder die Struktur singulärer Kausalsätze zu untersuchen. Sein Erkenntniskonzept ist untrennbar mit den Kategorien des Verstandes verbunden. Er gibt zwar den Auftrag, nach Kausalgesetzen zu forschen, er selbst kann diesen jedoch nicht ausführen. Wo unmittelbarer Zugang zur Objektwelt verneint wird, kann die empirische Forschung nie volle Gültigkeit beanspruchen. Letztlich bleibt Kant wie schon Hume in der Rigidität seiner erkenntnistheoretischen Überzeugungen gefangen. Dies hindert ihn indes nicht daran, die Forschung nach Kausalgesetzen anzuregen, um so die Kausalitätsdiskussion weiterzuentwickeln: „[. . .] die empirischen (Gesetze) können nur vermittelst der Erfahrung, und zwar zufolge jener ursprünglichen Gesetze, nach welchen selbst Erfahrung allererst möglich wird, stattfinden, und gefunden werden.“ 110

Dieser Auftrag soll Anlass für den Versuch sein, Kants Thesen – wenn schon nicht in ihrem Wortlaut, so wenigstens den ihr zugrunde liegenden Wertungen entsprechend – für das hier untersuchte Problem der Formulierung singulärer Kausalsätze an den Grenzen empirischer Beweisführung fruchtbar zu machen. (4) Lehren aus der Kausalitätstheorie Kants für die Formulierung singulärer Kausalsätze Erfolg versprechend erscheint eine Interpretation der Kausalitätstheorie Kants, die seine Thesen als Reaktion auf Hume versteht und so der empirischen Anschauung ihren Platz im Erkenntnisprozess zugesteht. Dieser relativierende Ansatz hatte bei der Beurteilung der Thesen Humes zu der Erkenntnis geführt, dass seine skeptischen Zweifel in engem Kontext zu der Betrachtung singulärer Kausalsätze gesehen werden müssen. So stellen seine Thesen keine allgemeine Absage an die rationale Erfassbarkeit von Kausalzusammenhängen dar, sondern offenbaren vielmehr die Kausalrelation als Relation besonderer Art. Ebenso muss man Kants Theorie nicht als Absage an die Existenz kausaler Zusammenhänge in der Objektwelt begreifen, sondern sie vielmehr im Kontext und als (ausdrückliche!) Reaktion auf die Objektivierung des Kausalitätsbegriffs im Empirismus begreifen. Legt man Kants Überzeugung von der Wechselbezüglichkeit von Objektwelt und Intellekt zugrunde, so kann man seine Ausführungen zur Kausalität 110

Kant 1998 (1787), 246 (B 263).

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als besondere Betonung der Verstandestätigkeit bei der Feststellung kausaler Zusammenhänge in Abgrenzung zur objektivierenden Ansicht des Empirismus verstehen. Diese Interpretation gesteht der empirischen Anschauung ihren Platz im Erkenntnisprozess zu. Zwar beschäftigt sich Kant in seinem transzendentallogischen Anliegen mit Erkenntnisprozessen, die über die Grenzen der Erfahrung hinausgehen, besser: diesen vorstehen, jedoch ist er sich bewusst, dass Erkenntnis nicht ohne Erfahrung gelingen kann. Die Kategorien des Verstandes gehen zwar der Erfahrung voraus, sind jedoch letztlich nur dazu bestimmt, die Erfahrungserkenntnis möglich zu machen. Wie Hume erkennt also auch Kant die zentrale Bedeutung der empirischen Erfahrung für den Erkenntnisprozess. Kant leugnet auch nicht die Kausalität in der Objektwelt, jedoch deckt er die Ambivalenz des Prozesses der Feststellung kausaler Verknüpfungen auf. Diese Feststellung gelingt nur im notwendigen Zusammenspiel von Empirik und Logik, von Anschauung und Verstandestätigkeit. Kant bereichert die Kausalitätsdiskussion durch seine Arbeit, indem er das Kausalprinzip als fundamental ordnendes Schema begreift, das wir unserer Wahrnehmung von Veränderungen zugrunde legen. Zentral beschäftigt er sich also damit, unter welchen Prämissen wir Veränderungen wahrnehmen und verarbeiten. Weniger ist seine Arbeit als vollständige Unterwerfung aller Dinge unter den Verstand des Menschen zu sehen, der – um das spöttische Beispiel Schopenhauers aufzugreifen – mit seiner bloßen Verstandestätigkeit den Dachziegel vom Dach stürzen lässt, bevor er selbst aus dem Haus tritt. Vielmehr lautet seine Botschaft: Wenn wir eine Erscheinung als kausal für einen Zustand bezeichnen, dann beschreiben wir nicht lediglich als unabhängig beurteilende Instanz, sondern wir erklären unsere Umwelt, und wir tun dies auf der Grundlage eines rationalen Prozesses. So erweitert Kant die Formulierung singulärer Kausalsätze um eine zweite Dimension. Kausales Erklären bedeutet nicht nur Beobachten, es bedeutet auch Beurteilen. Damit ebnet Kant den Weg für Versuche, jenseits empirisch verifizierbarer Gesetzmäßigkeiten, also etwa in Fällen psychischer Beeinflussung, nach Kausalzusammenhängen zu suchen. c) Aktuelle Diskussion Die Untersuchung der wissenschaftstheoretischen Grundlagen unseres Kausalitätsverständnisses abschließend wird ein Blick auf die jüngere wissenschaftstheoretische Diskussion der Kausalitätsproblematik geworfen. Die Darstellung kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Ihr Ziel ist es, die Korrektur und Präzisierung der analysierten frühen Diskussion des 18. Jahrhunderts nachzuzeichnen sowie einen Dualismus zwischen naturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Ansätzen kausaler Erklärung zu entwickeln, der sich bis in die aktuelle strafrechtliche Kausalitätsdiskussion verfolgen lässt und daher für die folgenden Untersuchungen von großer Relevanz ist.

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

Einen Überblick verschafft zunächst eine strukturierende Darstellung der verschiedenen wissenschaftstheoretischen Ansätze des 20. und 21. Jahrhunderts. Die anschließend besprochenen Ansätze kausaler Erklärung lassen sich – in dem Bewusstsein der Unschärfe einer solchen pauschalisierenden Gegenüberstellung im Detail – zwei gegensätzlichen wissenschaftstheoretischen Traditionen zuordnen. Auf der einen Seite steht eine aus positivistischen Ansätzen von Auguste Comte und John Stuart Mill hervorgegangene Tradition, welche die exakten Naturwissenschaften als methodologisches Ideal postuliert und die kausale Erklärung durch Subsumtion von Sachverhalten unter Naturgesetze vornimmt.111 Als Vertreter dieser Tradition werden Karl Popper, Carl G. Hempel/Paul Oppenheim sowie Wolfgang Stegmüller besprochen. Auf der anderen Seite steht eine verglichen mit den positivistischen Ansätzen heterogene Tradition antipositivistischer Wissenschaftstheorie. Anhänger dieser Wissenschaftstradition verteidigen im Sinne der hermeneutischen Philosophie in explizitem Gegensatz zur positivistischen Vorstellung von der Einheit der Wissenschaft den sui-generis-Charakter der geisteswissenschaftlichen Methodik. Sie setzen dem positivistischen Streben nach Generalisierung und Abstraktion das Ziel der Untersuchung individueller Zusammenhänge entgegen und versuchen, den praktischen Syllogismus als Pendant zum subsumtionstheoretischen Gesetzesschema der Naturwissenschaften für die Sozialwissenschaften fruchtbar zu machen.112 Als Vertreter dieser letztgenannten Tradition wird Georg Henrik van Wright besprochen, der sich unter dem Blickwinkel hermeneutischer Philosophie insbesondere mit der kausalen Erklärung menschlicher Handlungen auseinandersetzt. aa) Überblick Baumgartner geht in seinem Überblick über die aktuelle wissenschaftstheoretische Kausalitätsdiskussion113 zunächst auf die Anforderungen ein, die an ein Konzept zur Erklärung kausaler Zusammenhänge zu stellen sind, bevor er sich mit den wesentlichen theoretischen Strömungen beschäftigt, zwischen denen sich die Diskussion des aktuellen und des vergangenen Jahrhunderts bewegt. Eine philosophische Analyse der Kausalrelation zielt nach seinem Verständnis auf die Bereitstellung von hinreichenden und notwendigen Bedingungen für das Vorliegen eines kausalen Prozesses ab. Es soll nach Wahrheitsbedingungen geforscht werden für Sätze wie: „a verursacht b“, oder „A ist kausal relevant für B“. Da Kausalbehauptungen in wissenschaftstheoretischem wie alltagssprachlichem Kontext oft vorkommen, müsse die Suche nach diesen Wahrheitsbedingungen 111

Vgl. van Wright (1991), 18. Vgl. van Wright (1991), 18 f., 39. Als Vertreter nennt er Johann Gustav Droysen, Max Weber u. a.; vgl. auch Bernsmann, ARSP 1982, 536 (540). 113 Baumgartner (2011), 1263 ff. 112

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nicht im luftleeren Raum stattfinden. Allgemein akzeptierte vor-theoretische Kausalurteile stünden als Prüfsteine für die Ergebnisse dieser Suche zur Verfügung. Problematisch sei allerdings, dass sich diese vor-theoretischen Kausalurteile nicht in ein konsistentes System von Anforderungen tatsächlicher Art bringen lassen, auf die sich theoretische Überlegungen zur Kausalität projizieren lassen könnten. Daher könne es nicht Ziel wissenschaftstheoretischer Überlegungen sein, alle vor-theoretischen Kausalurteile abzubilden. Ein in diesem Verfahren gefundenes Ergebnis müsste zwangsläufig in sich widersprüchlich, oder aber bis zur Konturlosigkeit abstrahiert sein. Vielmehr müsse das Ergebnis einer maximal großen Teilmenge konsistenter, vor-theoretischer Kausalurteile gerecht werden. Die Analyse des Verursachungsbegriffs verlange also eine subtile Abwägung zwischen Rücksichtnahme auf vor-theoretische kausale Intuitionen und theoretischen Konsistenzansprüchen.114 Jede Kausalitätstheorie muss nach Baumgartner zwei Charakteristika der Kausalrelation gerecht werden. Zum einen sei die Kausalbeziehung nicht symmetrisch. Ursachen stünden mit ihren Wirkungen in einem anderen Verhältnis als letztere zu ersteren. Sie führen Wirkungen herbei, letztere bringen jedoch nicht ihre Ursachen hervor. Zum anderen seien kausale Abhängigkeiten irreflexiv, kein Ereignis verursacht sich also selbst. Die Nicht-Symmetrie der Kausalbeziehung werde meist durch das Erfordernis einer zeitlichen Abfolge von Ursache und Wirkung erreicht, die Irreflexivität werde durch die Forderung verwirklicht, dass Ursache und Wirkung zwei voneinander unterschiedene Entitäten sein müssen.115 Generell bewegen sich alle Kausalitätstheorien in einem Spannungsfeld zwischen den Prinzipien des Kausalprinzips sowie des Determinismusprinzips. Ersteres besagt in seiner starken Form116, dass alle Ereignisse eine Ursache haben. Letzteres besagt, dass bei gleichen Ursachentypen die gleichen Wirkungstypen hervorgerufen werden. Im Einzelnen unterscheidet Baumgartner zwischen verschiedenen Traditionen der wissenschaftstheoretischen Kausalitätsdiskussion des 20. und 21. Jahrhunderts. Zu nennen sind zunächst sogenannte Regularitätstheorien, die auf die Lehren David Humes und John Stuart Mills zurückgehen. Nach diesen ist die Kausalrelation keine ontologische Größe. Nur die einzelnen Variablen der Kausalrelation existieren, Ursache und Wirkung werden jedoch nicht durch ein real existierendes „Kausalband“ zusammengehalten. Die Forschung konzentriert sich im Wesentlichen auf die Feststellung von kausaler Relevanz, sie sucht also Aussagen 114

Vgl. zum Vorstehenden Baumgartner (2011), 1264 f. Baumgartner (2011), 1266. 116 In seiner schwachen Form besagt das Kausalprinzip lediglich, dass jede Wirkung eine Ursache hat. Es gilt damit bereits aus begrifflichen Gründen und bringt inhaltlich keinen Erkenntnisgewinn; vgl. hierzu auch Schöpf (1973), 796. 115

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über generelle Kausalität117 zu treffen, nicht jedoch singuläre Kausalbeziehungen118 nachzuweisen. Zentral stützt sie sich hierbei auf die Analyse empirisch festgestellter Regularitäten. In ihrer Grundform erklären die Regularitätstheorien ein Ereignis A als kausal relevant für ein Ereignis B, wenn bei sonst gleichen Umständen A als hinreichend für B festgestellt wurde. Diese Formel weist nach Baumgartner erhebliche Schwächen auf, da sie für sich in Anspruch nimmt, die eine Ursache eines Ereignisses identifizieren zu können, obwohl neben einem als Ursache möglicherweise besonders naheliegenden Faktor auch alle statischen oder zeitlich weiter zurückliegenden Faktoren Ursachen des Ereignisses sind.119 Einzelne Faktoren seien nie für sich genommen hinreichend für andere Faktoren. Darüber hinaus sei das Kriterium der sonst gleichen Bedingungen (Ceteris-paribus-Formel) reichlich unscharf und setze selbst bereits eine Beurteilung unter Kausalitätsgesichtspunkten voraus – Vergleichssituationen erfüllen die Ceterisparibus-Klausel nämlich nur dann, wenn sie in kausaler Hinsicht gleich sind.120 Die Formel wurde daher von anderen Regularitätstheoretikern dergestalt präzisiert, dass die Ursache A als Teil einer minimal hinreichenden Bedingung ihrer Wirkung B definiert wird, wobei A und B koinzident und voneinander verschieden sein müssen. Problematisch sei hier jedoch der Begriff der Koinzidenz. Welche räumlich-zeitliche Nähe zu fordern ist, bleibe ungewiss. Baumgartner sieht den Begriff der Koinzidenz nur im Hinblick auf die jeweilige Kausalbeziehung präzisierbar, wodurch wiederum Zirkularität droht.121 Kontrafaktische Theorien teilen mit den Regularitätstheorien eine Skepsis bezüglich der Kausalbeziehung als ontologische Größe. Anders als diese bewegen sie sich jedoch auf der Ebene singulärer Kausalsätze und bedienen sich hierbei der Formulierung kontrafaktischer Abhängigkeiten. Kontrafaktische Kausalsätze werden im Konjunktiv formuliert, negieren einen tatsächlich eingetretenen Vorgang a und bejahen Kausalität, wenn ohne a auch b ausgeblieben wäre. Kontrafaktische Ansätze erfreuen sich anhaltender Popularität, da sie entscheidende Elemente eines vor-theoretischen Verursachungsbegriffs – wie etwa die Subsumtion von Ursachen und Wirkungen unter das Kausalprinzip – unmittelbar abbilden. Dennoch offenbaren auch die kontrafaktischen Ansätze Schwächen. So kritisiert Baumgartner die verwendeten hypothetischen Betrachtungen als rein spekulativ und aufgrund ihrer Irrealität einer empirischen Veri- bzw. Falsifizierung nicht zugänglich. Darüber hinaus versagen kontrafaktische Ansätze bei überdetermi-

117 Beispiel einer solchen These genereller Kausalität wäre etwa der Satz: Seebeben verursachen Tsunamis. 118 Eine singuläre Kausalbeziehung behauptet der Satz: Ein Seebeben im Indischen Ozean verursachte am 26.12.2004 einen Tsunami. 119 Vgl. auch Stegmüller (1983), 506, hierzu unten S. 68. 120 Vgl. zum Ganzen Baumgartner (2011), 1268. 121 Baumgartner (2011), 1269.

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nierten Wirkungen122 sowie in Fällen sogenannter präemptiver Verursachung, in denen eine unmittelbare Reserveursache auch bei Ausfall der Primärbedingung das eingetretene Ereignis herbeigeführt hätte.123 Probabilistische Theorien können mit Blick auf die in der Quantenmechanik entdeckten indeterministischen Prozesse eine große wissenschaftstheoretische Plausibilität für sich beanspruchen. Wie die regularitätsbasierten Ansätze verneinen sie die ontologische Existenz der Kausalitätsrelation. Sie untersuchen generelle kausale Relevanz und führen kausale Abhängigkeiten nicht auf universelle Regularitäten, sondern auf probabilistische Abhängigkeiten zurück. So negieren sie das Determinismusprinzip zugunsten eines starken Kausalprinzips. Nach einer Grundformel probabilistischer Kausalität ist A kausal relevant für B, wenn beide Instanzen positiv korreliert sind und es kein C gibt, das A von B abschirmt. A wird genau dann von B abgeschirmt, wenn A bei Auftreten von C irrelevant wird für die Wahrscheinlichkeit von B. Die Probleme probabilistischer Ansätze hängen nach Baumgartner mit der grundlegenden Weichenstellung zusammen, das Urteil über kausale Relevanz auf statistische Wahrscheinlichkeiten zu gründen. Zunächst seien Fälle denkbar, in denen eine Ursache die Wahrscheinlichkeit des Eintritts ihrer Wirkung verringere. Werde etwa ein mit idealer Geschwindigkeit und Zielrichtung geschlagener Golfball in seiner Flugbahn von einer starken Windböe erfasst und weit über das Loch hinausgetragen, wo er gegen einen Ast pralle, auf dem Green lande und langsam in das Loch rolle, so sei die Windböe unbestreitbar (Mit-)Ursache des Einlochens, obwohl sie die Wahrscheinlichkeit des Eintritts dieses Ereignisses drastisch reduziert hatte.124 Eine weitere Fehlerquelle für probabilistische Kausalitätsurteile stellen paradoxe Häufigkeitsverteilungen dar, in denen zwei Instanzen A und B ab einer bestimmten Anzahl von Testfällen positiv korreliert sind, während sie bei einer geringeren Anzahl an Testfällen negativ korreliert waren.125 Als letzten Ansatz kategorisiert Baumgartner die Transferenztheorie. Dieser Ansatz bildet die vor-theoretisch weit verbreitete Vorstellung ab, dass jede Ursache aktiv auf ihre Wirkung Einfluss nehme. Er beschäftigt sich ausschließlich mit der Analyse singulärer Kausalsätze und versucht diese durch die Identifizierung von Transferprozessen bei Beobachtung des konkreten Einzelfalles, unabhängig von empirisch feststellbaren Häufigkeiten, zu verifizieren. Demnach ist eine 122 Baumgartner nennt als Beispiel die Hinrichtung eines Verbrechers durch ein Erschießungskommando, wobei mehrere Kugeln gleichzeitig das Herz treffen. Das Ergebnis einer kontrafaktischen Betrachtung, den Tod des Verbrechers nicht kausal erklären zu können, bezeichnet Baumgartner als „inakzeptable Konsequenz“, vgl. Baumgartner (2011), 1270. 123 Vgl. zum Ganzen Baumgartner (2011), 1269–1271. 124 Baumgartner (2011), 1272 formuliert dieses Beispiel als Weiterentwicklung eines ursprünglich von D. A. Rosen (1978), 607 f. gebildeten Falls. 125 Baumgartner (2011), 1271 f.

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Kausalbeziehung zwischen zwei Ereignissen zu bejahen, wenn eine Übertragung von Energie vom ersten zum zweiten Ereignis feststellbar ist. Problematisch ist dieser Ansatz nach Baumgartner in zweifacher Hinsicht. Zum einen seien Kausalbeziehungen auch ohne Übertragung von Energie zu beobachten. So werde etwa anerkanntermaßen ein Grippevirus als Ursache von Fieberschüben bezeichnet, auch wenn hierbei keinerlei Energieübertragung von den Viren auf den Körper stattfinde. Auch könnten sämtliche soziohistorische Entwicklungsprozesse wie etwa die Entstehung der französischen Revolution kausaltheoretisch nicht interpretiert werden, würde man das Aufspüren von Energieübertragungen hierfür verlangen.126 Baumgartner schließt seine Untersuchung mit der Feststellung, dass eine theoretische Analyse von Kausalzusammenhängen mit deutlich mehr Schwierigkeiten verbunden ist, als es unser oft problemloser alltäglicher Umgang mit Kausalurteilen zunächst vermuten lässt. Im Idealfall sollte sie zahlreichen vor-theoretischen Intuitionen, naturwissenschaftlichen Entwicklungen und generell allen fachspezifischen Anforderungen gerecht werden, die verschiedene Disziplinen für ihre jeweiligen Forschungsgebiete aufstellen. Gehe man jedoch mit diesem Maßstab auf die Suche nach der einen Formel kausaler Erklärung, so bleibe nur festzustellen: „Einen gehaltvollen Ursachenbegriff, der all diesen Bedingungen Rechnung trägt, kann es nicht geben.“ 127 Nach Baumgartner muss daher jede philosophische Betrachtung von Kausalitätsproblemen einen konkreten Untersuchungsgegenstand formulieren und sich so durch eine pragmatische, nicht weiter begründbare Entscheidung128 den Untersuchungsrahmen abstecken, den sie sodann in einer präzisen und konsistenten Analyse mit Inhalten füllt.129 Durch eine solche pragmatisch motivierte Weichenstellung werde das Kausalitätsproblem überhaupt erst fassbar. Die dargestellten Hauptströmungen bilden insofern das „Fahrwasser“, in dem die weitere Analyse verlaufen kann. bb) Subsumtionstheorien Nach dieser Groborientierung sollen Vertreter der beiden oben skizzierten Lager zu Wort kommen, in die sich die neuere wissenschaftstheoretische Kausalitätsdiskussion aufspalten lässt. Die bis heute weitaus populärere Tradition ist hierbei aus positivistischen Ansätzen unter anderem von David Hume, Auguste Comte und John Stuart Mill hervorgegangen. Sie ist der naturwissenschaftlichen 126

Baumgartner (2011), 1272 f. Baumgartner (2011), 1273. 128 Vgl. hierzu auch van Wright (1991), 40 f., nach dem die Gegensätzlichkeit der Ansichten in der Wissenschaftstheorie „verankert (sind) in der Wahl von Prämissen, von Grundbegriffen für die gesamte Argumentation. Diese Wahl [. . .] ist ,existenziell‘. Es ist die Wahl eines Standpunktes, der sich nicht weiter begründen lässt“. 129 Baumgartner (2011), 1273 f. 127

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Forschungsmethode und ihrem zentralen Fokus auf Gesetzmäßigkeiten verpflichtet und kann schlagwortartig als Subsumtionstheorie130 bezeichnet werden. Viel diskutiert ist insbesondere das Schema wissenschaftlicher Erklärung von Hempel/Oppenheim131, Anspruch auf die Urheberschaft dieser Form der kausalen Erklärung erhebt auch Popper.132 Wenn auch nach van Wright das in Rede stehende Erklärungsschema in einer allgemeinen Form weder genuin aus der Feder Hempels noch Poppers stammt, sondern seit den Tagen John Stuart Mills ein „philosophischer Gemeinplatz“ 133 war, so sei dennoch in chronologischer Folge134 eine kurze Skizze der kausalen Erklärung nach Popper an den Anfang der Betrachtung subsumptionstheoretischer Ansätze gestellt. (1) Popper Popper wendet sich auf der höchsten Abstraktionsebene der Kausalitätsdiskussion gegen die Geltung des Kausalprinzips in seiner starken Form135. Metaphysischen Sätzen wohnt nach seiner Überzeugung kein wissenschaftstheoretischer Mehrwert inne. In Überwindung der Beschränkungen der streng positivistischen Methoden Humes will Popper empirisch-wissenschaftliche Sätze nicht durch ihre positive empirische Verifizierung gewinnen, da eine solche zwangsläufig scheitern muss.136 Er will vielmehr als empirisch-wissenschaftliche Sätze alle Sätze anerkennen, die prinzipiell falsifizierbar sind, jedoch (bisher) nicht falsifiziert wurden und daher als anerkannt oder akzeptiert bezeichnet werden können.137 Da das Kausalprinzip nicht falsifizierbar sei, sei es als „metaphysisch“ aus dem methodischen Instrumentarium wissenschaftlicher Erkenntnissuche auszuschließen.138 Auf der Ebene singulärer Kausalsätze erfordert die kausale Erklärung eines Vorgangs nach Popper die deduktive Ableitung eines Satzes, der diesen Vorgang beschreibt, aus Gesetzen und Randbedingungen.139 Demnach enthält jede kausale Erklärung zwei Elemente. Sie bestehe zum einen aus allgemeinen Sätzen, insbesondere Naturgesetzen, wobei kausale Gesetzmäßigkeiten nicht falsifizierte, aber 130

Dieser Terminus ist entlehnt von van Wright (1991), 24. Hierzu sogleich unten S. 66. 132 Vgl. hierzu van Wright (1991), Anm. 35 zu Kapitel I m. N. 133 Van Wright (1991), Anm. 35 zu Kapitel I. 134 Poppers „Logik der Forschung“ datiert in Erstauflage auf das Jahr 1935, während Hempel seinen Aufsatz „The Function of General Laws in History“ 1942 im Journal of Philosophy veröffentlichte. 135 Vgl. hierzu oben S. 61. 136 Popper (2005), 16 f. 137 Popper (2005), 17. 138 Popper (2005), 38. 139 Popper (2005), 36. 131

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grundsätzlich falsifizierbare, in der Wissenschaft anerkannte Hypothesen seien. Sie bestehe zum anderen aus besonderen Sätzen, den konkreten Randbedingungen der kausalen Erklärung. Das aus den allgemeinen Sätzen mithilfe der Randbedingungen abgeleitete Ergebnis nennt Popper Prognose, wobei dieser Begriff nicht in dem heute geläufigen, ausschließlich zukunftsorientierten Sinn zu verstehen ist.140 Vielmehr werden die Begriffe Prognose und Erklärung bei ihm synonym verwendet, da die Erklärung eines abgelaufenen Vorgangs für ihn nichts weiter ist als die Aussage, dass zum Zeitpunkt des Beginns dieses Vorgangs dessen präzise Voraussage möglich gewesen wäre. Kausale Erklärung bedeutet für Popper also Ableitung eines Ereignisses aus seinen experimentellen Rahmenbedingungen unter Anwendung einschlägiger Gesetzmäßigkeiten. (2) Hempel-Oppenheim Das Schema wissenschaftlicher Erklärung von Hempel/Oppenheim weist eine ähnliche Struktur auf, zeichnet sich jedoch durch einige formale und begriffliche Präzisierungen sowie eine differenziertere Begründung aus. Hempel/Oppenheim gewinnen die Struktur ihres Modells aus der Beobachtung der Methode eines Naturwissenschaftlers, der ein empirisches Phänomen zu erklären versucht. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist eine Versuchsbeschreibung141: Ein Quecksilberthermometer wird schnell in heißes Wasser getaucht. Hempel/Oppenheim analysieren nun, wie ein Naturwissenschaftler das Phänomen kausal erklärt, dass der Pegel der Quecksilbersäule beim Eintauchen zunächst kurz abfällt, um anschließend rapide anzusteigen. Der Temperaturanstieg erfasst zunächst nur das Glasgehäuse des Thermometers, das Volumen der Quecksilberröhre dehnt sich aus – der Quecksilberpegel sinkt. Sobald die Wärme das Quecksilber erreicht, dehnt sich dieses aus, und zwar mit einem erheblich höheren Ausdehnungskoeffizienten als das Glasgehäuse – der Quecksilberpegel steigt rapide an. Strukturell bestehe diese Erklärung aus zwei Typen von Erklärungssätzen. Sie bestehe zum einen aus Antecedensbedingungen – aus Sätzen, welche die Rahmenbedingungen des zu erklärenden Ereignisses bestimmen. Im vorliegenden Beispiel sind diese Rahmenbedingungen die Charakteristika der Versuchsanordnung, also das Tauchen einer mit Quecksilber gefüllten Glasröhre in heißes Wasser. Die Erklärung bestehe zum anderen aus Gesetzmäßigkeiten, im vorliegenden Fall sind solche die Ausdehnung von Glas und Quecksilber bei Erwärmung sowie ein signifikant höherer Ausdehnungskoeffizient bei letzterem. Mithilfe dieser beiden Typen von Erklärungssätzen könne das Ergebnis der Beobachtung, das kurzfristige Sinken und der darauffolgende rapide Anstieg des Quecksilbers, kausal erklärt werden. 140 141

Vgl. Popper (2005), Fn. 3 zu Kapitel III. Hempel/Oppenheim (1948), 135.

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„Thus, the event under discussion is explained by subsuming it under general laws, i. e., by showing that it occurred in accordance with those laws, by virtue of the realization of certain specified antecedent conditions.“ 142

Aus dieser Beobachtung versuchen Hempel/Oppenheim nun, eine allgemeine Struktur kausaler Erklärungen zu entwickeln. Eine wissenschaftliche Erklärung bestehe aus zwei wesentlichen Bestandteilen – aus dem Explanandum als dem Satz, der das zu erklärende Phänomen beschreibt, sowie aus dem Explanans, der Klasse von Sätzen also, die zur Erklärung herangezogen werden. Letzteres unterteile sich in die beiden genannten Unterkategorien der Antecedensbedingungen und der Gesetzmäßigkeiten.143 Seien bestimmte logische und empirische Qualitätskriterien144 erfüllt, so lasse sich aus dem Explanans durch logische Deduktion das Explanandum kausal erklären. Graphisch lässt sich diese Struktur in folgendem deduktiv-nomologischen Schema darstellen145: A1, A2, . . ., An

Antecedensbedingungen Explanans

G1, G2, . . ., Gn Gesetzmäßigkeiten _____________________________________ E zu erklärendes Ereignis

Explanandum

(3) Stegmüller Auch Stegmüller legt seiner Theorie der kausalen Erklärung die Subsumtionstheorie zugrunde. Seine Überlegungen stellen eine Weiterentwicklung des deduktiv-nomologischen Schemas von Hempel/Oppenheim in zweierlei Hinsicht dar. Zum einen verdichtet Stegmüller die subsumtionstheoretischen Ansätze zu einer konkreten Definition der Ursache. Zum anderen versucht er zu klären, welche qualitativen Kriterien an die Gesetzmäßigkeiten zu stellen sind, die eine kausale Erklärung von einer allgemein wissenschaftlichen Erklärung unterscheiden. Wie vor ihm bereits Popper und Hempel/Oppenheim geht auch Stegmüller in seiner Herleitung einer Definition der Ursache von alltäglichen Kausalurteilen aus. Er untersucht singuläre Kausalsätze, wie sie in der Alltagssprache gebraucht werden. Hierbei wird deutlich, dass diese keinesfalls logisch zwingend sind. Es handle sich vielmehr um verkürzte und vereinfachte Kausalbehauptungen, die in

142

Hempel/Oppenheim (1948), 136. Hempel/Oppenheim (1948), 136 f. 144 Logische Qualitätskriterien sind die logische Ableitbarkeit des Explanandums aus den Informationen des Explanans, die Existenz mindestens einer Gesetzmäßigkeit sowie einer empirisch überprüfbaren Antecedensbedingung im Explanans. In empirischer Hinsicht müssen alle Elemente des Explanans wahr sein. Vgl. hierzu Hempel/Oppenheim (1948), 137 f. 145 Vgl. Hempel/Oppenheim (1948), 138. 143

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ihrer Struktur maßgeblich von ihrem situativen Kontext abhängen.146 Von subjektiven, theoretischen oder praktischen Interessen geleitet, stelle der Mensch eine Bedingung heraus und nenne sie „die“ Ursache des fraglichen Ereignisses.147 Zumeist werde hierbei auf sich gerade ändernde, dem Ereignis unmittelbar vorhergehende Bedingungen zurückgegriffen. Insbesondere im hier untersuchten juristischen Kontext erscheinen diese Bedingungen als die relevanten.148 Die Intention hinter der Kausalbehauptung bestimmt nach Stegmüller also maßgeblich darüber, welche Anforderungen an das Verhältnis zwischen Bedingung und Ereignis gestellt werden. Sehe man in dem Ereignis E ein erstrebenswertes Ziel, das als Resultat menschlichen Handelns gesehen werde, so werde der Begriff der Ursache meist im Sinne einer hinreichenden Bedingung verstanden, als Mindestvoraussetzung, die der Handelnde erfüllen müsse, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Gehe es um die Beseitigung von Zuständen, die nur bei Vorliegen einer notwendigen Bedingung eintreten, so werde in aller Regel diese spezielle notwendige Bedingung als Ursache bezeichnet. Begebe man sich auf die Suche nach der bislang unbekannten Ursache eines Ereignisses, so werde man die Erfüllung aller gewöhnlich bei solchen Ereignissen vorliegenden Umstände zugrunde legen. Hiervon ausgehend werde man nach dem Umstand suchen, bei dessen Verwirklichung es zu dem Ereignis kommen müsse, weil er das Schlussstück einer hinreichenden Bedingung bilde, ohne welches das Ereignis nicht eingetreten wäre.149 Die terminologische Unbestimmtheit alltäglicher Kausalbehauptungen führe dazu, dass je nach Intention für ein Ereignis verschiedene Ursachen benannt werden können. In jedem Fall zeichnen sich vor-theoretisch formulierte Kausalbehauptungen durch ein Bemühen aus, die eine Ursache oder jedenfalls einen eng umgrenzten Bedingungskomplex als für ein Ereignis kausal relevant zu identifizieren. Indessen muss nach Stegmüller eine logisch präzise Definition sowohl die sich ändernden als auch die konstanten Bedingungen eines Ereignisses umfassen. In einer ersten Annäherung sei Ursache eines Ereignisses E demnach die „Gesamtheit der Antecedensbedingungen, auf Grund deren E deduktiv-nomologisch erklärbar ist“.150 A sei (Teil-)Ursache von E, wenn aus den Bedingungen A, A1, . . ., An und den Kausalgesetzen G1, . . ., Gk das Ereignis E deduktiv erschlossen werden könne.151

146 So auch Schöpf (1973), 794: Die Frage nach der Ursache eines Ereignisses „erweist sich alltagssprachlich als relativ auf pragmatische Kontexte.“ 147 Vgl. hierzu auch den oben (S. 19) zitierten Ausspruch von Tolstoi, 2007 (1869), Band 2, 1709. 148 Stegmüller (1983), 508. 149 Vgl. zum Ganzen Stegmüller (1983), 508 f. 150 Stegmüller (1983), 506 f. 151 Stegmüller (1983), 510.

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Stegmüller wählt für sein Modell kausaler Erklärung also die Struktur einer deduktiv-nomologischen Erklärung und versucht durch die ausschließliche Verwendung von Kausalgesetzen anstatt von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten im Explanans den spezifischen Anforderungen der kausalen Erklärung gegenüber der allgemeinen wissenschaftlichen Erklärung Rechnung zu tragen. Auf Humes Überlegungen aufbauend legt Stegmüller dar, dass es sich bei der Kausalrelation um eine Relation besonderer Art handelt, da singuläre Kausalbehauptungen nicht durch die bloße Anschauung, sondern nur in Zusammenhang mit ihnen zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten verifiziert werden können.152 Hume ist nach Stegmüller allerdings die Verwendung der alltäglichen UrsacheWirkungs-Kausalität vorzuwerfen, an der sein Versuch der Definition der Ursache scheitern musste.153 Um diese Ungenauigkeiten zu eliminieren und so zu einem belastbaren singulären Kausalsatz zu gelangen, dürfen die zur Verifizierung der Kausalbehauptung verwendeten Gesetzmäßigkeiten nur Kausalgesetze sein. Es seien zahlreiche Versuche unternommen worden, die Merkmale dieser Kausalgesetze positiv und abschließend zu bestimmen. Es müsse sich etwa um deterministische Gesetzmäßigkeiten handeln, darstellbar in Gestalt stetiger mathematischer Funktionen. In zeitlicher Hinsicht müsse es sich um Ablaufgesetze handeln, inhaltlich dürfen sie sich nur auf Nahwirkungen beziehen etc.154 Ein derartig spezieller Begriff würde jedoch bereits auf die Erkenntnisse der klassischen Physik nur in sehr begrenztem Umfang und unter Berücksichtigung aktueller Forschungsergebnisse überhaupt nicht mehr anwendbar sein. Stegmüller plädiert daher dafür, nur einige zentrale Charakteristika als Qualitätskriterien eines Kausalgesetzes zu bestimmen und so den Begriff des Kausalgesetzes gerade soweit zu erweitern, dass ein als vernünftig empfundener Begriff der kausalen Erklärung möglich wird. Unter diesen Prämissen definiert Stegmüller als Ursache des Ereignisses E „die Totalität der Antecedensbedingungen einer adäquaten kausalen Erklärung von E“, wobei kausale Erklärung „eine deduktiv-nomologische Erklärung (ist), für die mindestens ein deterministisches, quantitatives Ablaufgesetz155 benötigt wird und deren Antecedensereignis nicht später ist als das Explanandumereignis.“ 156

Der Begriff der Erklärung ist in diesem Kontext nicht effektiv zu verstehen. Stegmüller versucht mit seiner Definition den hinter einem singulären Kausalsatz stehenden Sinn aufzuzeigen. Dieses Vorhaben ist von der Begründbarkeit eines solchen Satzes zu unterscheiden. Dem Sinn nach sei ein singulärer Kausal152 153 154 155

Vgl. hierzu bereits oben S. 40. Vgl. hierzu bereits oben S. 41. Stegmüller (1983), 533. Zustimmend in Bezug auf diese drei Kriterien des Kausalgesetzes Schöpf (1973),

795. 156

Stegmüller (1983), 535.

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satz keine Erklärung, sondern eine Erklärbarkeitsbehauptung. Seine Begründung könne nur durch effektive Angabe geeigneter Kausalgesetze erfolgen. Sei eine solche Begründung jedoch noch nicht (umfassend) möglich, so bleibe hiervon die Sinnhaftigkeit des Kausalsatzes unberührt. „Dafür, daß man heute mit Recht die Tatsache A als Ursache für die Tatsache E bezeichnet, ist es nicht erforderlich, daß heute auch die Gesetze bekannt sind, die zusammen mit A als Prämissen die Ableitung von E gestatten.“ 157

Die von Hume herausgearbeitete Einzigartigkeit der Kausalrelation158 ist in diese Definition eingearbeitet, da zu den Prämissen jeder kausalen Erklärung neben den Antecedensbedingungen auch kausale Gesetzmäßigkeiten gehören. Werden auf der Grundlage von Stegmüllers Definition singuläre Kausalsätze formuliert, so ist die Verwendung des bestimmten Artikels, also die Rede von „der“ Ursache, unzulässig. Grund hierfür ist die bereits erläuterte159, durch den alltäglichen Sprachgebrauch vernachlässigte Vielzahl von Antecedensbedingungen eines jeden Ereignisses. Stegmüller selbst schlägt für seine Definition die Bezeichnung eines semantischen Ursachenbegriffs vor. Er sieht zwar die Möglichkeit, diesem durch die Integrierung pragmatischer Überlegungen eine schärfere Kontur zu verleihen, um so dem alltäglichen Bedürfnis der Benennung konkreter, singulärer, in der Regel nicht-statischer Ursachen Genüge tun zu können. Dies könne etwa geschehen, indem man unveränderlich-statische „Grundbedingungen“ ausschließe und nur solche Antecedensbedingungen als Ursachen ansehe, die einer aktiven menschlichen Beeinflussung zugänglich seien.160 Stegmüller gesteht diesem Ansatz eine gewisse Plausibilität zu, indes führt er nach seiner Überzeugung zu begrifflichen Problemen. So sei nicht immer eindeutig bestimmbar, bei welchen Umständen es sich um statische Bedingungen handle und wann man von „unabhängigen Veränderlichen“ sprechen könne. So würde man intuitiv bei einem Pendelschwung die Pendellänge als „unabhängige Veränderliche“ betrachten und im Zusammenspiel mit einer entsprechenden Gesetzmäßigkeit als eine Ursache der Periode des Pendels beschreiben. Indes lasse sich die Periode ebenso leicht verändern, indem man einfach die Pendellänge verändere.161 Aus diesem Grund verwirft Stegmüller diese Versuche einer pragmatischen Konkretisierung, da sie der Definition der Ursache ihre begriffliche Präzision rauben und so sein Ziel konterkarieren, die Ungenauigkeit alltäglicher Kausalbehauptungen zu überwinden. In der nach Baumgartner erforderlichen subtilen Ab-

157 158 159 160 161

Stegmüller (1983), 535. Stegmüller (1983), 511–513; hierzu bereits oben S. 40. Vgl. oben S. 62. Vgl. Stegmüller (1983), 537 f. Vgl. Stegmüller (1983), 538.

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wägung zwischen Rücksichtnahme auf vor-theoretische kausale Intuitionen und theoretischen Konsistenzansprüchen bei der Definition kausaler Abhängigkeiten162 entscheidet sich Stegmüller zugunsten letztgenannter Konsistenzansprüche. cc) Aktionistisches Konzept van Wrights Nachdem die in der neueren wissenschaftstheoretischen Kausalitätsdiskussion vorherrschenden deduktiv-nomologischen Erklärungsansätze in ihrer Entwicklung skizziert wurden, soll nun – dem eingangs angedeuteten Dualismus163 Kontur verleihend – mit Georg Henrik van Wright ein herausragender Denker zur Sprache kommen, der sich um eine Erweiterung dieser auf (kausalen) Gesetzmäßigkeiten basierenden Ansätze im Kontext sozialwissenschaftlicher Untersuchungen bemüht. Die potenzielle Relevanz dieser Betrachtung für die vorliegende Arbeit wird deutlich, wenn man bedenkt, dass im Rahmen strafrechtlicher Sanktionierung tatbestandliche Erfolge dem hierfür verantwortlichen Täter zugeschrieben werden sollen und also diese Erfolge durch Handlungen oder zumindest in engem Kontext mit solchen Handlungen164 kausal erklärt werden sollen. Das Ziel dieser Arbeit ist es, die kausale Erklärung tatbestandlicher Erfolge in solchen Konstellationen einer kritischen Würdigung zu unterziehen, in denen eine streng naturgesetzliche Kausalerklärung in Begründungsnöte gerät. Daher empfiehlt sich die Untersuchung gerade solcher wissenschaftstheoretischer Ansätze, die sich über die Prüfung kausalgesetzlicher Faktoren hinaus mit der Frage beschäftigen, welche Rolle die menschliche Handlung in der kausalen Erklärung von Ereignissen spielt.165 Einen solchen Ansatz bringt van Wright in die Diskussion ein.166 Auf die Notwendigkeit der Formulierung nicht-verifizierbarer Prämissen bei der Entwicklung kausaltheoretischer Konzepte wurde bereits hingewiesen.167 Van Wright legt sich in seiner Untersuchung von Kausalität und kausaler Erklärung auf einen mit der Idee von Handlungen, im wissenschaftlichen Kontext also mit der Idee von Experimenten verknüpften Ursachenbegriff fest. Dieser sei „geradezu ein Prototyp für die Idee der Ursache in philosophischen Diskussionen über ein universelles Kausalprinzip“ und dergleichen elementare Fragestellungen mehr.168 162

Vgl. hierzu oben S. 61. Vgl. oben S. 59. 164 Unterlassung als Abwesenheit einer gebotenen Handlung. 165 Auch Koriath (1988), 105 sowie Kindhäuser, GA 1982, 477 (489–491) erkennen die Relevanz der Untersuchungen van Wrights für die strafrechtliche Kausalitätsdiskussion. 166 Vgl. zur Kausalitätstheorie van Wrights eingehend Koriath (1988), 80 ff. 167 Vgl. oben S. 64. 168 Vgl. van Wright (1991), 44. 163

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Diesem Ursachenbegriff folgend entwickelt van Wright ein aktionistisches Kausalitätskonzept169 – ein Konzept also, bei dem unsere Vorstellung von Handlungen für die kausale Erklärung von Ereignissen eine entscheidende Rolle spielt. Seine These lautet: Weder Kausalität selbst noch die Unterschiede zwischen gesetzmäßigen Verknüpfungen und akzidentieller Gleichförmigkeit in der Natur können wir verstehen, ohne auf Vorstellungen von dem Vollzug einer Handlung und von einem intendierten Eingriff in den Naturverlauf zurückzugreifen.170 Aus einer rein passiven Beobachtung von Abfolgen können wir gesetzmäßige Verknüpfungen nicht erschließen, wir müssen hierfür vielmehr aktiv in die untersuchten Systeme eingreifen.171 Indem wir ein abgeschlossenes System aktiv immer wieder in einen bestimmten Anfangszustand versetzen und die darauffolgenden Veränderungen beobachten und analysieren, können wir zufällige Abfolgen aus unserer Betrachtung eliminieren und kausale Zusammenhänge isolieren.172 Die experimentelle Erprobung von Kausalzusammenhängen sei somit die Schnittstelle zwischen Handlung und kausaler Erklärung. Um die Gedankenführung van Wrights zu illustrieren, sei ein von ihm entlehntes Beispiel173 angeführt. Unter der Prämisse, dass die Außentemperatur unter der Raumtemperatur liegt, führt das Öffnen eines Fensters zum Absinken der Raumtemperatur. Durch das Öffnen des Fensters bringen wir ein System in einen bestimmten Anfangszustand und setzen eine Ursache, aus der dann Wirkungen (Abfallen der Temperatur, Gasaustausch) hervorgehen, die wir analysieren können. So ist die Handlung zentrale Voraussetzung für kausale Erklärung. In seiner Analyse bemüht sich van Wright um eine differenzierte Terminologie, um begriffliche Unschärfen zu vermeiden. So müsse differenziert werden zwischen dem „Tun“ und dem „Herbeiführen“ von etwas. Indem wir gewisse Dinge tun, führen wir andere herbei. Durch das Öffnen eines Fensters führen wir ein Absinken der Raumtemperatur herbei. Ersteres sei Ergebnis unserer Handlung und Ursache, letzteres sei die Folge unserer Handlung und die zur Ursache gehörige Wirkung.174 Nach van Wrights Konzept ist das Ergebnis der Handlung – also das Öffnen des Fensters – von der Handlung selbst nicht zu unterscheiden. Man kann nicht etwa behaupten, das Öffnen des Fensters sei durch eine bestimmte Handlung verursacht worden.175 Vielmehr sei das Ergebnis Teil der Handlung selbst, die Hand169

Begriff entlehnt von Koriath (1988), 78. Van Wright (1991), 68. 171 Van Wright (1991), 66 f. 172 Vgl. van Wright (1991), 67. 173 Vgl. van Wright (1991), 69. 174 Van Wright (1991), 69. 175 „Es ist [. . .] ein schwerer Fehler, wenn man die Handlung selbst für eine Ursache ihres Ergebnisses hält“, van Wright (1991), 70. 170

I. Die Kausalität und ihre Feststellung

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lung und ihr Ergebnis ein innerer logischer, kein äußerer kausaler Zusammenhang. Das Öffnen sei intendierter Endpunkt einer in einzelne Bewegungen zerlegbaren und daher bis zur tatsächlichen Öffnung mit dem Handlungsergebnis verbundenen Handlung. Da die Handlungsintention nach van Wright zentrales Element der Handlung ist, ist auch das Handlungsergebnis logisch mit ihr verbunden. Berücksichtigt man diese terminologischen Klarstellungen, so lässt sich präzise formulieren, dass unsere Handlung die Ursache setzt, aus der die Wirkung hervorgeht.176 Weder sind wir selbst die Ursache der Wirkung (Absinken der Raumtemperatur), noch bewirken wir kausal eine Ursache (Öffnen des Fensters), die wiederum eigenständig die Wirkung hervorbringt. Nach van Wright schaffen wir also durch Handlungen den Ausgangszustand eines kausalen Systems (zwei räumliche Systeme mit unterschiedlicher Lufttemperatur, Möglichkeit des Gasaustausches), aus dem die Wirkung hervorgeht (Angleichung der Lufttemperatur). Seine These einer zentralen Rolle von Handlungen im Prozess der kausalen Erklärung umsetzend, formuliert van Wright seine Definition der Ursache: „p ist eine Ursache relativ auf q und q ist eine Wirkung relativ auf p dann und nur dann, wenn wir dadurch, dass wir p tun, q herbeiführen könnten, oder dadurch, dass wir p unterdrücken, q beseitigen oder am Zustandekommen hindern könnten. Im ersten Fall ist der Ursache-Faktor eine hinreichende, im zweiten Fall ist er eine notwendige Bedingung des Wirkungs-Faktors.“ 177

Van Wright formuliert selbst zwei naheliegende Einwände gegen seine Definition der Ursache. Nach einem ersten möglichen Gegenargument ist seine Definition ungeeignet für die kausale Erklärung von Phänomenen, die nicht durch menschliche Handlungen hervorgebracht oder unterdrückt werden können. Ein zweites mögliches Gegenargument sieht eine durch experimentelle Handlungen nachgewiesene Kausalität nur als Unterform einer allgemeinen Kausalität, die unabhängig von solchen Experimenten besteht. Wenn q immer aus p folgt, so gilt dies selbstverständlich auch dann, wenn q durch eine Handlung herbeigeführt wird. Demnach beruhe unsere Vorstellung von Kausalität nicht auf unseren Handlungen, vielmehr ermögliche sie erst zielgerichtete experimentelle Zustandsveränderungen.178 Das erste Gegenargument lässt sich illustrieren, indem man von der allgemein akzeptierten Prämisse ausgeht, dass ein Erdbeben einer bestimmten Stärke hinreichende Bedingung für den Einsturz einer Mauer ist. Nach van Wrights Defini176

Vgl. van Wright (1991), 72. Van Wright (1991), 72. 178 Vgl. zum Ganzen van Wright (1991), 72 f. Ausführlich zum Ganzen auch Koriath (1988), 91 ff. 177

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

tion wäre das Erdbeben jedoch nur dann eine Ursache des Einsturzes, wenn wir es herbeiführen oder unterdrücken könnten und dementsprechend die Mauer einstürzte oder nicht einstürzte – was freilich nicht gelingen kann. Van Wright versucht nun dieses Argument zu entkräften, indem er darauf hinweist, dass Naturphänomene komplexe Vorgänge sind, die in einzelne Bestandteile und ihre jeweiligen kausalen Verknüpfungen zerlegbar sind. Diese Bestandteile seien wiederum menschlich manipulierbar und erfüllen so das Kausalitätskriterium. Dementsprechend könnte durch menschliche Handlungen ein bestimmter vertikaler sowie horizontaler Druck auf eine Mauer ausgeübt werden, unter dem die Mauer dann zusammenbräche.179 Das zweite Gegenargument versucht er zu entkräften, indem er zeigt, dass eine experimentell festgestellte gesetzmäßige Verknüpfung keine Teilmenge einer allgemein existenten Verknüpfung ist, sondern vielmehr ein „Mehr“ ist, da sie die Formulierung irrealer Konditionalsätze erlaubt. Sie enthalte über die passive Behauptung „immer wenn p, dann q“ auch die kontrafaktische Annahme, dass selbst bei Gelegenheiten, in denen p nicht gegeben war, p von q begleitet worden wäre, wenn p vorgelegen hätte. „Was die Verknüpfung als gesetzmäßige auszeichnet, ist die Tatsache, dass sie ein Grund für irreale Konditionalsätze ist.“ 180 Letztlich scheinen beide Gegenargumente auf einer Fehlinterpretation zu beruhen, nach der mit van Wright nur von Kausalität gesprochen werden kann, wo diese im handlungsbasierten „Feldversuch“ festgestellt wurde. Van Wright thematisiert diese mögliche Fehlinterpretation und nimmt hierbei wichtige Klarstellungen vor. In seiner ersten Klarstellung nimmt er implizit Bezug auf das zweite Gegenargument. Die Frage, welcher der Begriffe von Handlung und Kausalität der wissenschaftstheoretisch elementarere ist, kann seiner Meinung nach nicht entschieden werden. Seine Position sei anfechtbar mit der Behauptung, der Begriff der Handlung könne ohne eine Vorstellung von Kausalität nicht begriffen werden.181 Diese Anfechtbarkeit kann er jedoch in Kauf nehmen, handelt es sich doch um eine jener wissenschaftstheoretischen Elementarprämissen, die ihrerseits keiner Begründung mehr zugänglich sind.182 Die zweite Klarstellung lässt sich dem ersten Gegenargument zuordnen. Seine Definition der Ursache sei keine Absage an die Existenz kausaler Verknüpfungen unabhängig von menschlichem Handeln. Für ihr Verständnis sei jedoch die Vorstellung von einer Handlung erforderlich.183 179

Van Wright (1991), 72. Van Wright (1991), 73, Hervorhebung im Original. 181 Van Wright (1991), 75. 182 Vgl. van Wright (1991), 40 f. sowie oben S. 64. 183 Kritisch zu dieser Rechtfertigung Meixner (2001), 485. Er wirft van Wright vor, den Fehler der Vermischung von ontischen und epistemischen Aspekten, den dieser seinen Kritikern vorwirft, auch selbst zu begehen. 180

I. Die Kausalität und ihre Feststellung

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„Kausalität gibt es im ganzen Universum – auch in räumlichen und zeitlichen Regionen, die dem Menschen für immer unzugänglich sind. Ursachen tun ihre Arbeit, wenn immer sie eintreten; ob sie ,einfach eintreten‘ oder ob wir ,sie eintreten lassen‘, ist für ihre Natur als Ursachen akzidentell. Aber eine Relation zwischen Ereignissen als kausal ansehen heißt, sie unter dem Aspekt einer (möglichen) Handlung ansehen. [. . .] Denn daß p die Ursache von q ist, bedeutet – und genau dies versuchte ich klarzumachen –, daß ich q herbeiführen könnte, wenn ich p tun könnte.“ 184

dd) Eigene Stellungnahme: Methodischer Pluralismus in der aktuellen wissenschaftstheoretischen Kausalitätsdiskussion Ein Ziel der Untersuchung der aktuellen wissenschaftstheoretischen Kausalitätsdiskussion war es, deren Korrektur und Präzisierung der frühen Kausalitätsdiskussion des 18. Jahrhunderts nachzuzeichnen. Insbesondere Humes Ansatz wurde zum Gegenstand ertragreicher Weiterentwicklungsbemühungen. Zentral war dessen Identifizierung der Kausalbeziehung als Relation besonderer Art, die nur im Kontext eines abstrakten Bezugssystems gedacht werden kann. Dieser Gedanke schlägt sich in dem von Popper, Hempel/Oppenheim und Stegmüller verwendeten Schema nieder, nach dem aus bestimmten Antecedensbedingungen unter Rekurs auf (kausale) Gesetzmäßigkeiten das zu erklärende Ereignis abgeleitet wird. So lieferte Hume das theoretische Fundament für die Subsumtionstheorien. Für die Beantwortung der Frage, welche Gesetzmäßigkeiten für eine kausale Erklärung herangezogen werden können, ließen sich Humes Überlegungen nicht heranziehen. Folgerichtig verlagerte sich der Forschungsschwerpunkt auf die Definition kausaler Gesetze. Popper versuchte die methodische Sackgasse, in die Hume gelangt war, durch die Vermeidung induktiver Beweisführung zu umgehen und schlug als Qualitätskriterium von Kausalgesetzen nicht deren Verifizierung, sondern deren prinzipielle, bislang jedoch nicht gelungene Falsifizierbarkeit vor. Stegmüller versuchte aus einer Vielzahl denkbarer Qualitätskriterien einige zentrale herauszufiltern, um einerseits den Begriff des Kausalgesetzes nicht zu verwässern, andererseits jedoch einen möglichst großen Teil der vor-theoretisch formulierten Kausalurteile abbilden zu können. Letztlich bestand der entscheidende Schritt bei der Weiterentwicklung des Ansatzes Humes darin, sich von einem empiristischen Wissenschaftsverständnis nicht die Möglichkeit der Forschung nach Kausalgesetzen auf der zweiten Abstraktionsebene der Kausalitätsdiskussion verwehren zu lassen, sondern erst das Kausalprinzip auf der höchsten Ebene der Kausalitätsdiskussion als metaphysisches Prinzip aus der wissenschaftlichen Betrachtung auszuschließen.185 So wurde der empiristische Ansatz Humes von seinen „methodischen Ketten“ befreit und in Form der Subsumtionstheorie in ihren verschiedenen Spielarten weiterentwickelt. 184 185

Van Wright (1991), 75. So etwa Popper (2005), 38.

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

Betrachtet man die gegenwärtig diskutierten wissenschaftstheoretischen Konzepte, so findet die Subsumtionstheorie großen Anklang. Sie kann eine große Plausibilität für sich beanspruchen. Sie erklärt, wieso wir – sinnlich nicht erkennbare – kausale Verknüpfungen in unserer Umwelt identifizieren und unser Handeln darauf ausrichten können, selbst wenn wir den betreffenden Wirkzusammenhang noch nie selbst erfahren haben. Diese Transferleistung gelingt, weil wir von der Geltung von Gesetzmäßigkeiten ausgehen, die uns bei Vorliegen entsprechender Rahmenbedingungen die kausale Erklärung bestimmter Abläufe ermöglichen. Prämisse und Anwendbarkeitsvoraussetzung dieser Subsumtionstheorien ist die Erklärbarkeit der untersuchten Zusammenhänge durch anerkannte Kausalgesetze. Weite Teile derjenigen Prozesse, die wir in den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen kausal zu erklären versuchen, erfüllen diese Anwendbarkeitsvoraussetzung. Auch im Rahmen strafrechtlicher Sanktionierung überwiegen Fälle, in denen der zu führende Kausalitätsbeweis unter Rückgriff auf naturwissenschaftlichgesetzmäßige Zusammenhänge gelingt. Es gibt jedoch Bereiche, in denen die Anwendungsvoraussetzung der Erklärbarkeit eines Ereignisses durch Kausalgesetze nicht erfüllt ist. Für die Beurteilung der Frage etwa, ob die Handlung einer Person durch bestimmte Rahmenbedingungen verursacht wurde, kann kein allgemein anerkanntes Kausalgesetz formuliert werden. Nimmt die Subsumtionstheorie in der gegenwärtigen Diskussion auch einen prominenten Platz ein, so gilt es dennoch sich vor Augen zu führen, dass auch sie kein Allheilmittel aller Probleme kausaler Erklärung darstellt. An dieser Stelle lohnt ein Blick zurück auf Baumgartners Analyse der unterschiedlichen Kausalitätskonzepte186. Diese zeigt uns, dass jede Kausaltheorie nur in der Lage ist, einen bestimmten, begrenzten Teil vor-theoretischer Kausalurteile abzubilden. So haben etwa kontrafaktische Theorien und transferenztheoretische Konzepte den Vorzug, viele vor-theoretische kausale Intuitionen abbilden zu können. Probabilistische Ansätze können die Identifizierung nicht-kausaler Zusammenhänge in der Quantenmechanik erklären, während Regularitätstheorien die Unterschiede der Kausalrelation zu anderen Relationen treffend veranschaulichen. Wie Baumgartner zeigt, ist jedoch jede dieser Theorien auf vielfältige Weise angreifbar. Es gibt keine Kausalitätstheorie, die auf der einen Seite die wissenschaftstheoretischen Probleme auf den einzelnen Abstraktionsebenen der Kausalitätsdiskussion konsistent löst und auf der anderen Seite in der Lage ist, die gesamte Bandbreite kausaler Phänomene der Wirklichkeit in einer gehaltvollen kausalen Erklärung zu umspannen. Die Tatsache, dass der Anwendungsbereich der Subsumtionstheorien nicht umfassend ist, bedeutet nach den bisherigen Erkenntnissen keine Widerlegung dieser Theorien. Dennoch gilt es mit Blick auf die von Baumgartner aufgezeigte Relativität jeder Kausalitätstheorie nicht den Blick für mögliche Alternativen zu ver186

Vgl. hierzu oben S. 60 ff.

I. Die Kausalität und ihre Feststellung

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schließen, wenn in einer bestimmten Konstellation die Möglichkeit einer kausalen Erklärung durch Kausalgesetze nicht gegeben ist. Van Wright zeigt exemplarisch auf, wie die kausale Erklärung aus veränderter Perspektive erfolgen kann. Er beurteilt singuläre Kausalsätze ausgehend von der menschlichen Handlung. Kausal ist A für B dann, wenn ich durch Erzeugung bzw. Unterdrückung von A B herbeiführen bzw. verhindern könnte. Der naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit setzt van Wright sein intentionalistisches Konzept der Handlung entgegen. An die Stelle nomologischer Deduktion tritt ein kontrafaktischer Schluss. Neben die Kausalitätsfeststellung aus naturwissenschaftlicher Perspektive tritt eine geisteswissenschaftliche Betrachtung. Deutlich wird ein methodischer Pluralismus in der aktuellen wissenschaftstheoretischen Kausalitätsdiskussion. Betrachtet man den Ansatz van Wrights in Kontrast zur vorherrschenden Subsumtionstheorie, so wird ein Dualismus zwischen gesetzmäßiger und kontrafaktischer Kausalitätsfeststellung deutlich, der sich in der folgenden Analyse der strafrechtlichen Kausalitätsdiskussion wiederfinden wird.187 d) Ergebnis der wissenschaftstheoretischen Betrachtung: Methodischer Pluralismus der wissenschaftstheoretischen Diskussion als Impuls für die strafrechtliche Problemlösung In den folgenden, die wissenschaftstheoretische Kausalitätsdiskussion abschließenden Bemerkungen soll versucht werden, aus dieser Kausalitätsdiskussion Impulse für die folgende rechtsdogmatische Untersuchung zu gewinnen. Vorgegangen wird in drei Schritten. Zunächst werden die zentralen Entwicklungslinien der soeben analysierten wissenschaftstheoretischen Kausalitätsdiskussion zusammengefasst. Anschließend wird die Frage aufgeworfen, ob wissenschaftstheoretische Erkenntnisse überhaupt für die Lösung rechtsdogmatische Probleme fruchtbar gemacht werden können. Schließlich werden – aufbauend auf den aus diesen Überlegungen gewonnenen Befunden – für die folgende rechtsdogmatische Untersuchung verwertbare Erkenntnisse aus der wissenschaftstheoretischen Betrachtung formuliert. aa) Entwicklungslinien der wissenschaftstheoretischen Diskussion Die frühe erkenntnistheoretische Diskussion um Hume und Kant konzentrierte sich darauf, Funktion und Funktionsweise des Kausalzusammenhangs im Erkenntnisprozess zu bestimmen. Im Hinblick auf ersteren Untersuchungsgegenstand stimmen Hume und Kant überein, indem sie die zentrale, konstituierende Rolle unserer Vorstellung von Kausalität im Erkenntnisprozess betonen. Im Hinblick auf letzteren Untersuchungsgegenstand, die Frage also, wie kausale Zu187

Hierzu sogleich S. 84 ff.

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

sammenhänge Erkenntnis ermöglichen, unterscheiden sich die Ansätze. Hume begreift die Kausalität als objektives Strukturelement. Der nach Erkenntnis Strebende ist passiver Rezipient, dessen Aufgabe darin besteht, anhand der im wissenschaftlichen Versuch oder der Alltagsbeobachtung zutage tretenden „Symptome“ des selbst unergründlichen Kausalzusammenhangs kausale Vermutungen anzustellen, um an diesen Vermutungen sein Handeln auszurichten. Bei Kant trägt das Erkenntnissubjekt kraft seiner Vernunft seine Vorstellung von Kausalität als ordnendes Raster an seine visuellen Eindrücke heran und verarbeitet sie so zu Erfahrungen. Aus heutiger Perspektive charakteristisch für beide Ansätze ist ihr enger erkenntnisdogmatischer Rahmen. Hume bleibt aufgrund seines streng empiristischen Wissenschaftsverständnisses die Verifizierung in der Objektwelt beobachteter Regularitäten durch die Formulierung von Kausalgesetzen auf der zweiten Ebene der Kausalitätsdiskussion verwehrt. Kant kann aufgrund des primären Zugriffs des Verstandes auf alle Sinneseindrücke seine Vorstellung von Kausalität nicht als reale Struktur der Wirklichkeit verifizieren. In der folgenden wissenschaftstheoretischen Diskussion wurde der Versuch unternommen, diesen eng gezogenen erkenntnistheoretischen Rahmen zu erweitern. Gegenstand der Arbeiten waren weniger Funktion und Funktionsweise der Kausalitätsrelation im Erkenntnisprozess, als vielmehr ihre Struktur und ihr Aussagegehalt. Wie dargelegt lassen sich diese Versuche kategorisieren in dem empiristischen Wissenschaftsideal verbundene Ansätze (Subsumtionstheorie) und solche Ansätze, die auf andere Begründungsansätze jedenfalls dort zurückgreifen, wo mit Gesetzmäßigkeiten argumentierende Ansätze an Grenzen stoßen (aktionistische Betrachtung van Wrights). bb) Zum Verhältnis von Wissenschaftstheorie und Strafrechtsdogmatik Soll hier versucht werden, Erkenntnisse aus der wissenschaftstheoretischen Kausalitätsdiskussion für die vorliegend zu untersuchende rechtliche Problematik fruchtbar zu machen, so muss zunächst geklärt werden, ob wissenschaftstheoretische Erkenntnisse überhaupt in irgendeiner Form zur Lösung rechtsdogmatischer Probleme beitragen können. Erforderlich sind also Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaftstheorie und Strafrechtsdogmatik. (1) Stimmen aus der strafrechtlichen Literatur Gerade die strafrechtliche Kausalitätsdiskussion ist ein Bereich, in dem solche Überlegungen relevant werden, zeigt sich doch die in der Literatur überwiegend vertretene Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung188 durch ihr Abstellen auf verifizierte (Natur-)Gesetzmäßigkeiten offen für extradisziplinäre Erkenntnisse. 188

Hierzu sogleich näher S. 91.

I. Die Kausalität und ihre Feststellung

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Diskutiert wurde das Verhältnis von Wissenschaftstheorie und Strafrechtsdogmatik bislang vorwiegend in der Auseinandersetzung um Existenz und Struktur der psychisch vermittelten Kausalität.189 Hier geht es um die Frage, ob von kausaler Verursachung auch dort gesprochen werden kann, wo sich der vom Täter beabsichtigte Erfolg nur in Gestalt der Erzeugung einer bestimmten inneren Motivationslage eines anderen realisiert, nicht aber in Gestalt einer Veränderung in der Außenwelt.190 Bernsmann leitet in diesem Zusammenhang aus dem extradisziplinären Bezug der in der Literatur herrschenden Kausalitätsfeststellung nach der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung eine Pflicht des Strafrechtlers ab, die strafrechtliche Kausalitätsfeststellung in einen wissenschaftsphilosophischen Zusammenhang zu stellen.191 Einerseits drohe sonst die Gefahr, die Rechtswissenschaft gegenüber anderen Disziplinen unnötig zu isolieren, anderseits ließe man die Möglichkeit ungenutzt, mithilfe anderer Disziplinen die (Strafrechts-)Wirklichkeit adäquater und möglicherweise sogar strafrechtsfunktionaler erfassbar zu machen.192 Diesem Befund folgend versucht Bernsmann, der im Bereich der psychisch vermittelten Kausalität an ihre Grenzen stoßenden Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung ein intentionalistischen Strömungen der Wissenschaftstheorie entlehntes, non-kausales Verursachungsschema gegenüberzustellen. Ein Blick in die Wissenschaftsphilosophie könne in diesem Bereich „dem Recht [. . .] Möglichkeiten und Grenzen zugleich zeigen“.193 Schulz vertritt insoweit eine Gegenposition, als er der Verwendung extradisziplinärer Erkenntnisse für die strafrechtliche Erfolgszurechnung skeptisch gegenübersteht. Ziel strafrechtlicher Kausalitätsfeststellung sei die Zurechnung tatbestandlicher Erfolge, während sich der Wissenschaftstheoretiker mit kausaler Erklärung befasse. „Doch stellen sie [die Kausalitätsfragen, Anm. d. Verf.] sich dem Juristen anders als dem Wissenschaftstheoretiker oder Naturwissenschaftler [. . .]. Den Juristen interessiert vorrangig nicht, wie ein Erfolg zu erklären ist, sondern, ob er zugerechnet werden kann.“ 194

Beide Elemente miteinander zu verquicken sei aufgrund der Unterschiedlichkeit der Fragestellungen nicht plausibel. Daher wendet sich Schulz einerseits gegen eine unveränderte Implementierung nomologischer Deduktionsverfahren, wie 189 Vgl. zu diesem Problemkreis aus neuester Zeit etwa Roxin, FS Achenbach, 409 (410 ff.). 190 Vgl. Bernsmann, ARSP 1982, 536 (537). 191 Bernsmann, ARSP 1982, 536 (538). 192 Bernsmann, ARSP 1982, 536 (543). 193 Bernsmann, ARSP 1982, 536 (554). 194 Schulz, FS Lackner, 39 (40). Zu den unterschiedlichen Perspektiven, aus denen Wissenschaftstheoretiker und Juristen das Kausalitätsproblem betrachten, vgl. auch Puppe, ZStW 92, 863 (864 f.).

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

sie in der Formel von der gesetzmäßigen Bedingung zum Ausdruck kommt. Diese eignen sich zwar zur Feststellung von Kausalbeziehungen in den systematischen, auf Erkenntnisgewinn zielenden Wissenschaften, verlieren ihre Aussagekraft jedoch bei Erfahrungssätzen, wie sie in der rechtlichen Feststellung kausaler Beziehungen verwendet werden. Letztere stehen nach Schulz nämlich nur in einem „eher lockeren“ Zusammenhang zu den systematischen empirischen Wissenschaften, was die Stichhaltigkeit der Ableitung entscheidend schmälere.195 Andererseits wendet sich Schulz auch gegen intentionalistische Ansätze wie denjenigen von Bernsmann. Dessen hermeneutischer Versuch, die Handlung eines „Beeinflussten“ auf einen Einflussnehmer zurückzuführen, führe ohne empirisch fassbare Handlungsbeeinflussung ins Leere.196 Hilgendorf vertritt bezogen auf die beiden erstgenannten Auffassungen eine vermittelnde Position. Wissenschaftstheoretische und juristische Begriffsbildung stünden zueinander nicht in einem Gegensatz. Ihre Diskrepanzen beruhen lediglich darauf, dass erstere bemüht sei, disziplinübergreifende, allgemeingültige Begriffe zu prägen, während letztere gehalten sei, ihre Begriffe und Kategorien an den Vorgaben der Spezialdisziplin der Rechtswissenschaft auszurichten.197 In diesem Prozess können wissenschaftstheoretische Erkenntnisse nach Hilgendorf jedoch gewinnbringend eingesetzt werden. Auch Roxin beschäftigt sich in einem aktuellen Festschriftbeitrag kurz mit dem Verhältnis von Wissenschaftstheorie und Strafrechtsdogmatik. Er geht im Kontext der psychisch vermittelten Kausalität der Frage nach, ob die strafrechtliche Kausalität als universaler oder juristischer Begriff zu verstehen ist.198 Diese Frage beantwortet er klar zugunsten der zweiten Alternative. Zum einen seien alle im Strafrecht verwendeten Begriffe an den Zwecken des Strafrechts orientiert auszulegen. Zum anderen könne man keinen universalen Kausalitätsbegriff in die Strafrechtswissenschaft einführen, da ein allgemein anerkannter wissenschaftstheoretischer Kausalbegriff nicht existiere. Bezogen auf das Problem psychischer Kausalität jedenfalls sei das verbreitet anerkannte Schema von Hempel/ Oppenheim für die strafrechtliche Problemlösung ungeeignet.199 (2) Stellungnahme: Berücksichtigung extradisziplinärer Erkenntnisse im Rahmen strafrechtsautonomer Begriffsbildung Dieser kurze Einblick in die Diskussion zum Verhältnis von Wissenschaftstheorie und Strafrechtsdogmatik offenbart zwei gegensätzliche Befunde. Einer195 196 197 198 199

Vgl. hierzu Schulz, FS Lackner, 39 (49). Schulz, FS Lackner, 39 (48). Hilgendorf, Jura 1995, 514 (516). Roxin, FS Achenbach, 409 (410 f.). Vgl. zum Ganzen Roxin, FS Achenbach, 409 (410 f.).

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seits besteht ein weitgehend konsentiertes Bedürfnis, die strafrechtliche Begriffsbildung an den besonderen Anforderungen rechtswissenschaftlicher Fragestellungen auszurichten und daher von universalen Ansätzen abzugrenzen. Andererseits werden Versuche deutlich, extradisziplinäre Erkenntnisse zur Lösung strafrechtsdogmatischer Fragestellungen heranzuziehen. Gewinnbringende Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaftstheorie und Strafrechtsdogmatik setzen die Formulierung einer präzisen Fragestellung voraus. Roxin erfüllt diese Anforderung. Er fragt: „Ist die Kausalität als universaler oder als juristischer Begriff zu verstehen?“ 200 Was Roxin als Antwort auf diese Frage zugunsten einer genuin juristischen Begriffsbildung vorträgt, ist nicht angreifbar. Völlig richtig bemerkt er, was auch die vorliegende Untersuchung gezeigt hat: Es gibt keinen wissenschaftstheoretisch etablierten Kausalitätsbegriff.201 Ebenso einwandfrei konstatiert er das Erfordernis einer strafrechtsautonomen Kausalitätsbegriffsbildung, die sich aus der zwingend notwendigen Orientierung der Strafrechtsdogmatik an Wortlaut und Telos des Strafgesetzbuchs ergibt. Die Frage, ob die Strafrechtswissenschaft einen eigenständigen Kausalitätsbegriff bilden muss, kann also mit Gewissheit bejaht werden. Hierdurch ist jedoch noch nichts darüber gesagt, wie diese Begriffsbildung zu erfolgen hat. Erst an diesem Punkt setzt die hier eingangs gestellte Frage an: Können wissenschaftstheoretische Erkenntnisse in die juristische Begriffs- und Kategorienbildung in irgendeiner Form einfließen? Diese Frage entzieht sich einer ähnlich eindeutigen Antwort. Freilich müssen die strafgesetzlichen Wertungen und Grundstrukturen bei der inhaltlichen Ausfüllung des juristischen Kausalitätsbegriffs beachtet werden. In der wissenschaftstheoretischen Terminologie handelt es sich bei diesen gesetzlichen Vorgaben um die den Untersuchungsgegenstand konkretisierenden Prämissen, die nötig sind, um das Kausalitätsproblem fassbar und in den wissenschaftlichen Teildisziplinen lösbar zu machen. Ist die Beachtung der strafgesetzlichen Wertungen jedoch sichergestellt, so können wissenschaftstheoretische Erkenntnisse für die strafrechtliche Begriffsbildung fruchtbar gemacht werden, ohne mit den gesetzlichen Anforderungen an die strafrechtliche Erfolgszurechnung in Konflikt zu geraten. Dies kann auf zwei Ebenen geschehen. Zunächst auf der „Mikroebene“ der konkreten Lösung von Sachfragen. So wurde bereits darauf hingewiesen, dass etwa bei der Kausalitätsfeststellung nach der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung auf naturwissenschaftlich gesicherte Gesetzmäßigkeiten zurückgegriffen wird. Darüber hinaus können wissenschaftstheoretische Erkenntnisse jedoch auch auf der „Makroebene“ herangezogen werden, also im Bereich der zur Lösung juristischer Probleme herangezogenen Methoden. Dies kann im vorliegenden Kontext etwa dadurch geschehen, dass das

200 201

Roxin, FS Achenbach, 409 (410). Vgl. hierzu bereits oben S. 76.

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

aus der wissenschaftstheoretischen Untersuchung gewonnene Wissen um die Komplexität und Vielschichtigkeit des Kausalitätsproblems Anstoß geben kann, innerhalb des strafgesetzlich abgesteckten Rahmens den Blick zu öffnen für Lösungsansätze, die über die Grenzen der bisherigen dogmatischen Auseinandersetzung hinausgehen. Stellt man die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsdogmatik also nicht im Sinne eines Ausschlussverhältnisses, sondern fragt man nach einem möglichen Ergänzungsverhältnis, so wird deutlich, dass wissenschaftstheoretische Erkenntnisse zur Lösung strafrechtlicher Probleme beitragen können. Zwar geht eine Pflicht des Einbezugs extradisziplinärer Erkenntnisse, wie Bernsmann sie formuliert, zu weit. Unmittelbar verpflichtet ist die Strafrechtswissenschaft nur den gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben. Dennoch schließt die Notwendigkeit einer strafrechtsautonomen Begriffsund Kategorienbildung die Berücksichtigung extradisziplinärer Erkenntnisse in diesem Prozess nicht aus. In der Sache lässt sich dies exemplarisch bei Hilgendorf beobachten, der sich zwar entscheiden für eine autonom juristische Begriffsbildung ausspricht202, zur Ausfüllung dieser Begriffe jedoch mit dem deduktivnomologischen Schema von Hempel/Oppenheim wissenschaftstheoretische Erkenntnisse heranzieht.203 cc) Lehren aus der wissenschaftstheoretischen Betrachtung für die weitere Untersuchung Auf dem Befund der Möglichkeit einer ergänzenden Heranziehung wissenschaftstheoretischer Erkenntnisse im Rahmen der juristischen Begriffsbildung aufbauend soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, Erkenntnisse aus der wissenschaftstheoretischen Kausalitätsdiskussion für die Lösung des vorliegenden strafrechtlichen Problems der Erfolgszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen fruchtbar zu machen. Die Einwände gegen diese Vorgehensweise liegen nahe. Die wissenschaftstheoretische Kausalitätsdiskussion formuliere nur allgemeine, insbesondere den systematischen Naturwissenschaften angepasste Sätze, für die strafrechtliche Problemlösung seien diese nicht verwendbar. Hier müssten gesetzgeberische Wertungen beachtet und das gewachsene dogmatische System der Strafrechtswissenschaft gewahrt bleiben. Zudem existiere ein konsentierter und damit für die Strafrechtswissenschaft adaptierbarer Kausalitätsbegriff in der wissenschaftstheoretischen Diskussion überhaupt nicht.

202 „Die juristische Kausalität ist grundsätzlich ein Rechtsbegriff und daher nach den Bedürfnissen der Rechtswissenschaft zu gestalten“, Hilgendorf, Jura 1995, 514 (516). 203 Hilgendorf, Jura 1995, 514 (516 ff.).

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Nach den vorstehenden Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaftstheorie und Strafrechtsdogmatik204 ist hiergegen zu erwidern: Die Tatsache, dass die wissenschaftstheoretische Diskussion vornehmlich in Problemstellungen der systematischen Naturwissenschaften ihren Ursprung nahm, spricht nicht gegen die Verwertung ihrer Erkenntnisse in der Rechtswissenschaft. Schließlich machte Engisch bei der Entwicklung seiner keineswegs als systemfremd gegeißelten, sondern vielmehr heute in der Literatur herrschenden Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung deutliche Anleihen bei den deduktiv-nomologischen Ansätzen der Wissenschaftstheorie. Auch trägt der Einwand nicht, eine Berücksichtigung wissenschaftstheoretischer Erkenntnisse verkenne die genuin strafrechtliche Funktion, welche der Kausalitätsbegriff im strafrechtlichen Kontext zu erfüllen habe. Vielmehr ist sich die wissenschaftstheoretische Diskussion genau dieses Problems bewusst. Sie relativiert selbst ihren Geltungsanspruch und hütet sich davor, den wissenschaftlichen Teildisziplinen ihre Kausalitätsprüfung diktieren zu wollen. Diesen bleibt es vielmehr überantwortet, die Prämissen ihrer Begriffsbildung zu wählen und so das Kausalitätsproblem erst fassbar zu machen.205 Nach einer Verteidigung der Berücksichtigung wissenschaftstheoretischer Erkenntnisse für die vorliegende Untersuchung in negativer Hinsicht bleibt zu untersuchen, wie diese Berücksichtigung positiv erfolgen kann. Die Ansätze hermeneutischer Strömungen in der Wissenschaftstheorie im Bereich der kausalen Erklärung menschlicher Handlungen zeigen: Scheitert ein herrschendes Kausalitätsverständnis wie die Subsumtionstheorie bei der Beurteilung eines Phänomens an seinen eigenen Prämissen, so kann sich die Suche nach einer alternativen Lösung als lohnend erweisen. Ihre Legitimation schöpft diese Suche insbesondere aus der Erkenntnis, dass Patentlösungen der Komplexität des Kausalitätsproblems nicht gerecht werden. Zwar ist es richtig, dass Gesetzmäßigkeiten als „Vehikel“ für die Mehrzahl unserer Kausalitätsschlüsse strukturell unentbehrlich sind. Aus der Perspektive eines dem naturwissenschaftlichen Forschungsideal verpflichteten Denkers mag es daher durchaus konsequent sein, das Vorliegen kausaler Zusammenhänge dort zu verneinen, wo sich kausale Gesetzmäßigkeiten nicht formulieren lassen. Jedoch formuliert die Strafrechtswissenschaft einen eigenständigen Kausalitätsbegriff, der dem gesetzgeberisch formulierten Ziel der Zurechenbarkeit tatbestandlicher Erfolge verpflichtet ist. Zwingende Aufgabe dieser Zurechnung ist es insbesondere, Kriterien zu entwickeln, die das Täterhandeln als die maßgebliche unter vielen Ursachen des Erfolgseintritts identifizieren können. Das Erfordernis einer naturgesetzlichen Determiniertheit der Vorgänge lässt sich hingegen nicht ohne Weiteres aus den gesetzlichen Vorgaben herleiten. Die strafrechtliche Zurechnung lässt sich daher nicht von vornherein für alle Konstellationen ablehnen, in denen Kausalität vermit204 205

Vgl. soeben S. 78 ff. Vgl. hierzu bereits oben S. 64.

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

telnde Naturgesetze nicht benannt werden können. Hier dienen die wissenschaftstheoretischen Arbeiten van Wrights u. a. als Anreiz, in Weiterentwicklung der strafrechtlichen Zurechnungsinstrumente nach alternativen Lösungsansätzen zu suchen. Die Wissenschaftstheorie bietet das theoretische Fundament, das Engisch und viele ihm nachfolgende Rechtswissenschaftler zur herrschenden Theorie von der gesetzmäßigen Bedingung ausgebaut haben.206 Sie erhebt jedoch keinen Absolutheitsanspruch, sondern weist darauf hin, dass jede wissenschaftliche Teildisziplin ihre Anforderungen an die Feststellung kausaler Zusammenhänge selbst formulieren muss. Und sie zeigt, dass in Bereichen, in denen eine vorherrschende Lehre mit Begründungsschwierigkeiten zu kämpfen hat, keine Denkverbote die Suche nach alternativen Lösungen verhindern sollten, ja dass eine solche Suche der Komplexität der Kausalitätsproblematik sogar gerechter wird, als das Verharren in bewährten dogmatischen Strukturen. So wie es in der wissenschaftstheoretischen Debatte keine Patentlösung gibt, sollte man auch im Strafrecht nicht den Blick für andere methodische Ansätze der Kausalitätsfeststellung verschließen, die sich im Rahmen der gesetzlichen „Prämissen“ strafrechtlicher Erfolgszurechnung bewegen. So verstanden ist die wissenschaftstheoretische Diskussion für die vorliegende Untersuchung kein sachfremder Irrweg, sondern ein Impuls, im Rahmen der strafgesetzlichen Vorgaben nach neuen Lösungen dort zu suchen, wo das unvermeidliche Fehlen einer Kausalitätstheorie, die alle Sachprobleme umfassend abbildet, eine solche Suche erforderlich macht. 2. Funktion, Struktur und Gehalt der strafrechtlichen Kausalitätsprüfung Auf die Erkenntnisse der wissenschaftstheoretischen Kausalitätsdiskussion aufbauend wurden Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten Weichen für die Entwicklung einer genuin strafrechtlichen Kausalitätsprüfung gestellt.207 Diese Grundentscheidungen in Gestalt der Äquivalenz- bzw. Bedingungstheorie208 haben ihre Relevanz bis heute bewahrt. Zentrales Anliegen der strafrechtlichen Kausalitätsdiskussion war und ist die Formulierung einer allgemeingültigen Regel, die den kausalen Rückbezug eines singulären Ereignisses (Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs im konkreten Fall) auf ein bestimmtes menschliches Verhalten (Tathandlung) durch Subsumtion unter eben diese Regel ermöglicht.

206

Näher hierzu sogleich S. 91 ff. Als Beginn der strafrechtlichen Kausalitätsdiskussion werden die Arbeiten von Julius Glaser (1858) und hierauf aufbauend Maximilian van Buri (1873) genannt, vgl. etwa Jescheck/Weigend, AT, 28 II 2; Roxin, AT I, 11/8. 208 Zur Terminologie vgl. sogleich unten S. 86. 207

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a) Funktion der Kausalitätsfeststellung Wie die vorangegangenen wissenschaftstheoretischen Überlegungen gezeigt haben, sind die wissenschaftlichen Teildisziplinen gehalten, ihren Kausalitätsbegriff ausgehend von den mit seiner Einführung verbundenen, disziplinspezifischen Zwecksetzungen zu formulieren. Zweck der strafrechtlichen Kausalitätsprüfung ist – allgemein formuliert – die Erfüllung der strafgesetzlichen Vorgaben.209 Genauer formuliert ist im Rahmen der Verletzungsdelikte schon nach dem objektiven Tatbestand eine besondere Beziehung zwischen dem Täterverhalten und dem Erfolgseintritt erforderlich, damit dem Täter der Erfolg als Ergebnis seiner Handlung zugerechnet werden kann.210 Spricht nun etwa § 222 StGB davon, dass der Tod eines Menschen durch Fahrlässigkeit „verursacht“ worden sein muss, so wird deutlich, dass das Gesetz diese besondere Beziehung als Kausalzusammenhang begreift. Hintergrund des gesetzgeberisch postulierten Kausalitätserfordernisses ist das Ziel des Strafrechts, Rechtsgüter durch Sanktionierung ihrer Verletzung zu schützen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden darf, wer nicht zu einer solchen Rechtsgutsverletzung beigetragen hat. Das Erfordernis der Kausalität des Täterverhaltens für den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs lässt sich also unmittelbar aus Wortlaut und Zweck strafrechtlicher Sanktionierung ableiten.211 b) Grundstruktur der strafrechtlichen Kausalitätsprüfung aa) Wissenschaftstheoretischer Anknüpfungspunkt: Gleichheit aller Bedingungen nach John Stuart Mill Wissenschaftstheoretischer Anknüpfungspunkt für die Entwicklung des strafrechtlichen Kausalitätsbegriffs waren die Lehren John Stuart Mills.212 Dieser definierte den Begriff der Ursache in Weiterentwicklung des regularitätstheoretischen Ansatzes Humes wie folgt: „Die Ursache ist [. . .], im philosophischen Sinne, der Inbegriff der Bedingungen, [. . .] die Gesamtheit der Eventualitäten jeder Art, bei deren Verwirklichung das Consequens unvermeidlich folgt.“ 213 209 Vgl. Roxin, FS Achenbach, 409 (410), der die zweckorientierte Auslegung der strafrechtlichen Begriffe fordert. Dieser sekundären Auslegung vorgeschaltet muss auch die primäre Begriffsbildung zweckorientiert erfolgen. 210 Jescheck/Weigend, AT, 28 I 1; S/S/Lenckner/Eisele, vor § 13 Rn. 71. 211 Vgl. zum Ganzen Jescheck/Weigend, AT, 28 I 1. 212 Vgl. Koriath (1988), 25. 213 J. St. Mill 1968 (1843), Kap. 5, § 3, S. 21 f.; „The cause, [. . .] philosophically speaking, is the sum total of the conditions, [. . .] the whole of the contingencies of every description, which being realized, the consequent invariably follows“, J. St. Mill

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Zentral für die strafrechtliche Rezeption der Theorie J. St. Mills ist sein Abstellen auf die Gesamtheit der Antecedensbedingungen. Er hebt hervor, dass ein Ereignis nie durch eine einzelne Bedingung, sondern immer nur durch die Summe positiver wie negativer, statischer wie nicht-statischer Bedingungen hervorgebracht wird.214 Das alltagssprachliche Herausgreifen einer Einzelbedingung ist nach seiner Konzeption zwar naheliegend, jedoch logisch nicht gerechtfertigt. Die letzte nicht-statische Bedingung, die das Ereignis letztlich herbeiführt, verbinde nur dem Anschein nach eine unmittelbarere, engere Beziehung mit letzterem. Tatsächlich seien alle Bedingungen gleich unentbehrlich für den Eintritt des Ereignisses und daher die Angabe der Ursache unvollständig, solange nicht alle Bedingungen in ihr aufgenommen seien.215 bb) Äquivalenz- und Bedingungstheorie Auf diese Erkenntnis aufbauend, sie jedoch im gleichen Atemzug wieder durchbrechend, wurde das heute konsentierte Grundgerüst der strafrechtlichen Kausalitätsprüfung216 errichtet. Es firmiert unter den Bezeichnungen „Äquivalenz-“ oder „Bedingungstheorie“. Diese Bezeichnungen werden von vielen Autoren synonym gebraucht217, mitunter finden sich auch Differenzierungen.218 Im Folgenden wird versucht, den unterschiedlichen Gehalt beider Begriffe herauszuarbeiten. Zwar sind die zu erwartenden Erkenntnisse rein terminologischer Art, jedoch darf an dieser Stelle an Stegmüller erinnert werden, der gerade in der Kausalitätsdiskussion ein Höchstmaß an begrifflicher Präzision einfordert.219 Dem Gedanken J. St. Mills folgend wird für die strafrechtliche Kausalitätsprüfung unter den zahlreichen Bedingungen, die insgesamt für den Erfolgseintritt relevant sind, keine Auswahl „besonders relevanter“ Bedingungen getroffen.220 Diese Betrachtung der Bedingungen im Verhältnis der Gleichordnung prägte den Begriff der Äquivalenztheorie. 2006 (1843), Kap. 5, § 3, S. 332. J. St. Mill bezeichnete das Gesetz der Ursächlichkeit als „Grundpfeiler der induktiven Wissenschaft“, vgl. hierzu Jacobs (1965), 26. 214 J. St. Mill 1968 (1843), Kap. 5, § 3, S. 15 f. 215 J. St. Mill 1968 (1843), Kap. 5, § 3, S. 16. 216 Von diesem konsentierten Grundgerüst zu unterscheiden ist die keineswegs einhellig beantwortete Frage der materiellen Ausgestaltung der Kausalitätsprüfung; hierzu sogleich S. 88 ff. 217 Vgl. etwa Koriath (1988), 111; MüKo/Freund, vor §§ 13 ff. Rn. 333; Jescheck/ Weigend, AT, 28 II 1; Roxin, AT I, 11/6. 218 Differenzierend etwa Jakobs, AT, 7/7; Honoré, ZStW 69, 463 (470 f.). 219 Stegmüller (1983), 506 ff., 515 f. 220 Sog. individualisierende Kausaltheorien, die eine solche Vorauswahl nach verschiedenen juristischen Bewertungsmaßstäben vornehmen wollten, haben sich historisch nicht durchgesetzt und werden heute nicht mehr vertreten; vgl. hierzu Roxin, AT I, 11/7 m. N.

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Zugleich bricht die strafrechtliche Kausallehre jedoch insofern mit den Überzeugungen J. St. Mills, als sie dessen Feststellung übergeht, die Angabe einer Ursache sei so lange unvollständig, als nicht alle im Einzelfall wirksamen statischen und nicht-statischen, positiven wie negativen Bedingungen in ihr aufgeführt seien. Vielmehr geht die strafrechtliche Kausallehre davon aus, dass jede einzelne Bedingung des Erfolgs bereits für sich genommen potenzielle Ursache des strafrechtlichen Erfolgs ist. Dieser Bruch erfolgt mit gutem Grund: Während im wissenschaftstheoretischen Kontext die logischen Vorzüge einer möglichst umfassenden Formulierung der Ursache offenkundig sind, kommt es für die Zwecke des Strafrechts gerade darauf an, eine ganz bestimmte Bedingung, nämlich die Tathandlung, herauszugreifen und auf einen hinreichenden Zurechnungszusammenhang mit dem Erfolgseintritt zu untersuchen.221 Dieser zweite gedankliche Schritt, prinzipiell jede einzelne der nach der Äquivalenztheorie in einem Gleichordnungsverhältnis zueinander stehenden Bedingungen bereits für sich genommen als Ursache im strafrechtlichen Sinn zu betrachten, ist Inhalt der Bedingungstheorie.222 So formuliert lässt sich also der Äquivalenz- und der Bedingungstheorie ein jeweils eigenständiger Sinngehalt zuschreiben. Vieles spricht daher dafür, die beiden Begriffe aus Gründen terminologischer Genauigkeit nicht synonym zu verwenden. cc) Zusammenfassung Die Äquivalenztheorie und die Bedingungstheorie beschreiben zwei unterschiedliche gedankliche Operationen und Grundentscheidungen, auf denen die strafrechtliche Kausalitätsprüfung aufbaut. Es gibt eine Vielzahl von Bedingungen für den Eintritt eines tatbestandlichen Erfolgs, die in einem Gleichordnungsverhältnis zueinander stehen, jedoch alle jeweils für sich genommen potenzielle Ursachen des Erfolgseintritts im Rechtssinn sind. In Thesen formuliert lautet das so konstruierte, allgemein konsentierte Grundgerüst strafrechtlicher Kausalitätsfeststellung: I.

Alle Erfolgsbedingungen sind gleichrangig (Äquivalenztheorie).

II. Jede Einzelbedingung ist potenzielle Ursache im strafrechtlichen Sinn (Bedingungstheorie).

Geklärt ist damit jedoch noch nicht, in welchem Verhältnis zum Erfolgseintritt ein vorangegangenes Ereignis bzw. ein vorangegangener Zustand stehen muss, um als dessen Bedingung bezeichnet werden zu können. Das Grundgerüst bedarf also einer inhaltlichen Ausgestaltung.

221 222

Vgl. Jescheck/Weigend, AT, 28 II 1. In diesem Sinn etwa Honoré, ZStW 69, 463 (471).

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c) Materieller Gehalt der strafrechtlichen Kausalitätsprüfung aa) Conditio-Formel Die Rechtsprechung und mit ihr ein Teil der Lehre fordern zwischen Tathandlung und Erfolgseintritt einen Zusammenhang dergestalt, dass die Tathandlung nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele (Conditio-sine-qua-non-Formel).223 In einem kontrafaktischen Verfahren wird also geprüft, ob die Tathandlung eine notwendige Bedingung des Erfolgseintritts war.224 Zu den oben dargestellten Thesen kommt demnach eine dritte These hinzu: III. Eine Handlung ist eine Bedingung, wenn sie eine conditio sine qua non ist (Conditio-Formel).

bb) Kritik an Conditio-Formel und Modifikationen Die Conditio-Formel wird im Schrifttum bereits seit über 80 Jahren grundlegend kritisiert. Die erste bedeutende und in ihren Thesen bis heute aktuelle Kritik stammt aus der Feder Karl Engischs. In seiner Monografie Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände legt er dar, dass die Beantwortung der durch das kontrafaktische Eliminationsverfahren aufgeworfenen Frage die Kenntnis eines kausalen Zusammenhangs zwischen Handlung und Erfolg voraussetzt.225 Diesen Kritikpunkt bezeichnet Maiwald aus heutiger Perspektive als „Allgemeingut des strafrechtlichen Schrifttums“ 226: Die Conditio-Formel setzt bereits voraus, was durch sie erst ermittelt werden soll.227 Ein weiterer Kritikpunkt Engischs ist das Versagen der Conditio-Formel in Fällen, in denen eine Ersatzursache zur Erfolgsverursachung bereitstand.228 Diese Kritik lässt sich auf Fälle der alternativen Kausalität ausdehnen, in denen mindestens eine weitere, für den Erfolgseintritt ausreichende Bedingung wirksam wurde.229 Ist mindestens eine weitere für den Erfolgseintritt hinreichende Bedingung vorhanden – gleichgültig ob sie tatsächlich wirksam wurde (alternative Kausalität) oder nicht (hypothetische Kausalität) –, so kommt die Conditio-Formel in ihrer Grund-

223 St. Rspr. des BGH, vgl. nur BGHSt 1, 332; 49, 3; aus dem Schrifttum vgl. etwa LK/Walter, vor § 13 Rn. 73 f.; Greco, ZIS 2011, 674 (686). 224 Puppe spricht daher auch von der „Formel der notwendigen Bedingung“, vgl. etwa Puppe, ZStW 92, 863. 225 Vgl. Engisch (1931), 18. 226 Maiwald (1980), 5. 227 Roxin, AT I, 11/12; vgl. darüber hinaus nur Koriath (1988), 113; Jescheck/Weigend, AT, 28 II 4; Jakobs, AT,7/9; Puppe, GA 2010, 551 m.w. N. 228 Engisch (1931), 15 f. 229 Vgl. Puppe, GA 2010, 563 (569).

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form230 zu dem logisch231 wie normativ absurden Ergebnis, dass der Erfolg ohne Ursache eingetreten ist.232 Diese Schwächen der Conditio-Formel haben zu ihrer schrittweisen Modifikation geführt. Diese Modifikationen betrafen zum einen den Inhalt der Formel selbst, zum anderen ihre Anwendung. Um ihren Fehler bei der Behandlung hypothetischer Ursachen zu korrigieren, wurde schon früh eine inhaltliche Korrektur dahingehend vorgeschlagen, bei der Beurteilung des hypothetischen Sachverhalts auf den Erfolg in seiner konkreten Gestalt abzustellen. Wie Puppe233 bemerkt, zeigte Engisch selbst234 der damals herrschenden Meinung diese Korrekturmöglichkeit auf, indem er der damals im Entstehen begriffenen Lehre vom Erfolg in seiner konkreten Gestalt zu einem Durchbruch verhalf.235 Der Gedanke hinter der Modifikation leuchtet ein: Je genauer ein Erfolg beschrieben wird, desto weniger Ersatzursachen kommen für ihn infrage.236 Hierdurch gewann die Formel ihre heute von der Rechtsprechung angewandte Form. Spendel schlug zur Lösung des Problems der Conditio-Formel bei der Behandlung von hypothetischen Ursachen eine Modifikation vor, die nicht den Inhalt, sondern die Anwendung der Conditio-Formel betraf. Er sprach sich dafür aus, nach Hinwegdenken der Tathandlung nur noch die tatsächlich verwirklichten Umstände zu berücksichtigen, von weiteren hypothetischen Überlegungen wie der Berücksichtigung hypothetischer Ursachen also abzusehen.237 Eine weitere Modifikation in der Anwendung der Conditio-Formel wurde entwickelt, um ihr widersinniges Ergebnis bei der Behandlung von Fällen alternativer Kausalität zu korrigieren. Hier helfen die Lehre vom Erfolg in seiner konkreten Gestalt und die Modifikation Spendels nicht weiter, da der Erfolg bei Hinwegdenken der zweiten hinreichenden Bedingung in identischer Gestalt eingetreten wäre und diese zweite Bedingung tatsächlich im Erfolg wirksam wurde, mithin nicht als hypothetisch unberücksichtigt bleiben kann. Auf Traeger geht der Gedanke zurück, in diesen Fällen beide alternative Bedingungen als Ursachen zu

230 In ihrer Grundform besagt die Conditio-Formel, dass der Täter für den Erfolg kausal wurde, wenn die Tathandlung nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele. 231 Vgl. Baumgartner (2011), 1270; vgl. hierzu bereits oben S. 62 (Fn. 122). 232 Auch in diesem Kritikpunkt der Grundform der Conditio-Formel herrscht allgemeiner Konsens. Beispielhaft seien Roxin, AT I, 11/13 und Jescheck/Weigend, AT, 28 II 4 genannt. 233 Puppe, GA 2010, 551 (552 f.). 234 Engisch (1931), 11 ff. 235 Vgl. Samson (1972), 30. 236 Vgl. Puppe, ZStW 92, 863 (870). 237 Vgl. Spendel (1948), 38.

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begreifen, wenn sie zwar alternativ, nicht aber kumulativ hinweggedacht werden können, ohne dass der tatbestandliche Erfolg entfiele.238 Diese Modifikationen zogen weitere Kritik nach sich. Engisch argumentierte, der Ansatz Spendels, hypothetische Betrachtungen im Rahmen der hypothetischen Betrachtung mit Ausnahme des Hinwegdenkens der Tathandlung nicht zuzulassen, laufe letztlich auf eine Preisgabe der Conditio-Formel hinaus.239 Gegen das Abstellen auf den Erfolg in seiner konkreten Gestalt zur Ausblendung von Ersatzursachen wendet Engisch ein, es seien Fälle denkbar, in denen bei Eintritt der Ersatzursache der Erfolg in exakt gleicher Weise zu exakt gleicher Zeit eingetreten wäre.240 Puppe argumentiert, es lassen sich keine allgemeinen Regeln darüber aufstellen, was im Einzelfall zum Erfolg in seiner konkreten Gestalt gehöre und was nicht.241 Gegen die von Traeger entwickelte Alternativenformel242 wendet Puppe ein, ihre Anwendung setze bereits die Gewissheit voraus, dass es sich um einen Fall alternativer (und nicht etwa kumulativer) Kausalität handelt. Diese Gewissheit sei nicht immer intuitiv zu gewinnen, der Versuch sei in der Praxis bis hin zu höchstrichterlich entschiedenen Fällen schon mehrfach gescheitert.243 Aufgrund der dargestellten Kritik haben sich zahlreiche namhafte Autoren von der Conditio-Formel distanziert244 – jedenfalls soweit sie als Formel zur Kausalitätsfeststellung245 herangezogen wird. Die Rechtsprechung hält demgegenüber – unter Berücksichtigung der im Schrifttum ausgearbeiteten Korrekturen – unbeirrbar an ihr fest.246

238

Traeger (1904), 47 f. Vgl. Engisch (1965), 130 f. (Fn. 288); ihm zustimmend etwa Roxin, AT I, 11/14; Arth. Kaufmann, FS Eb. Schmidt, 200 (209); Jescheck/Weigend, AT, 28 II 4. 240 Vgl. seinen „Scharfrichter-Fall“, Engisch (1931), 15 f.; ebenso etwa S/S/Lenckner/Eisele, vor § 13 Rn. 74. 241 Puppe, GA 2010, 551 (558). Sie bezeichnet das Kriterium des Erfolgs in seiner konkreten Gestalt als „Unbegriff“, vgl. Puppe, a. a. O., S. 560. 242 Zu diesem Begriff vgl. Puppe, GA 2010, 551 (553). 243 Puppe, GA 2010, 551 (554) m. N.; ähnlich Jescheck/Weigend, AT, 28 II 4. 244 So beispielsweise Roxin, AT I, 11/12 ff.; Jescheck/Weigend, AT, 28 II 4; Puppe, GA 2010, 551 (551 ff.); Arth. Kaufmann, FS Eb. Schmidt, 200 (208 ff.); Jakobs, AT, 7/ 8 ff.; S/S/Lenckner/Eisele, vor § 13 Rn. 74. 245 Einige Autoren sprechen sich dafür aus, die Conditio-Formel nicht als selbständige Kausalitätsformel, sondern als methodisches Hilfsmittel zur Prüfung der gesetzmäßigen Verknüpfung von Handlung und Erfolg zu benutzen, so etwa Hilgendorf, NStZ 1994, 561 (564); Lackner/Kühl, vor § 13 Rn. 10; skeptisch auch diesbezüglich S/S/ Lenckner/Eisele, vor § 13 Rn. 74 f. Frisch, FS Gössel, 51 (60 ff.) versteht die ConditioFormel nicht als Handlungsanweisung zur Tatsachenfeststellung, sondern als „normativdefinitorische Aussage zur Kausalität im Rechtssinne“, vgl. Frisch, a. a. O. S. 68. Kritisch hierzu Puppe, GA 2010, 551 (560 Fn. 48). 246 Vgl. nur BGHSt 1, 332; 49, 3. Weitere Nachweise bei S/S/Lenckner/Eisele, vor § 13 Rn. 73. 239

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cc) Formel von der gesetzmäßigen Bedingung Engisch schließt aus seiner kritischen Analyse der Conditio-Formel, dass diese über den Kausalzusammenhang, den sie festzustellen vorgibt, inhaltlich nichts aussagt. Da es sich bei dem gesuchten Zusammenhang zwischen Handlung und Erfolg um eine Kategorie der dinglichen Außenwelt handelt, orientiert er sich an einem naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachenbegriff. In Anlehnung an den regularitätstheoretischen Ansatz Humes ist für Engisch das maßgebliche, den Kausalzusammenhang vermittelnde Kriterium eine (natur-)gesetzmäßige Regel, die Handlung und Erfolg miteinander verbindet.247 Die heute geläufigste Fassung der Formel von der gesetzmäßigen Bedingung geht auf Jescheck zurück. Das Vorliegen eines Kausalzusammenhangs richte sich danach, „ob sich an eine Handlung zeitlich nachfolgende Veränderungen in der Außenwelt angeschlossen haben, die mit der Handlung nach den uns bekannten Naturgesetzen notwendig verbunden waren und sich als tatbestandsmäßiger Erfolg darstellen“.248 dd) Eigene Stellungnahme: Conditio-Formel und Formel von der gesetzmäßigen Bedingung im System der strafrechtlichen Kausalitätsprüfung Bei dem Versuch, die Conditio-Formel und die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung in das dogmatische System der strafrechtlichen Kausalitätsprüfung einzuordnen, sind erneut249 terminologische Differenzen zu überwinden. Koriath etwa versteht Conditio-Formel und Bedingungstheorie synonym und bezeichnet die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung daher – mit einiger Unsicherheit250 – als Modifikation der Bedingungstheorie.251 Maiwald hingegen versteht Conditio-Formel und Äquivalenztheorie synonym und begreift die Formel der gesetzmäßigen Bedingung daher als Gegenentwurf zur Äquivalenztheorie.252 Nach dem hier vertretenen Verständnis der Struktur der strafrechtlichen Kausalitätsprüfung gehen diese beiden Kategorisierungen fehl. Äquivalenztheorie und Bedingungstheorie treffen dogmatische Grundentscheidungen der strafrechtlichen Kausalitätsprüfung, die oben bereits in Thesenform dargestellt wurden.253 Sie lassen jedoch die Frage nach den inhaltlichen Kriterien dieser Prüfung unbeantwortet.254 Die Conditio-Formel stellt einen Versuch dar, innerhalb des durch Äquiva247

Vgl. Engisch (1931), 20 f. Jescheck/Weigend, AT, 28 II 4. 249 Vgl. zur teilweise synonymen, teilweise alternativen Verwendung der Begriffe der Äquivalenz- und Bedingungstheorie bereits oben S. 86. 250 Vgl. Koriath (1988), 113 (Fn. 36). 251 Koriath (1988), 113. 252 Vgl. Maiwald (1980), 5 f. 253 Vgl. oben S. 87. 254 Vgl. hierzu bereits oben S. 87. 248

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lenz- und Bedingungstheorie abgesteckten Rahmens inhaltliche Kriterien für die Kausalitätsprüfung zu formulieren. Da die Conditio-Formel einerseits und die Äquivalenz- und Bedingungstheorie anderseits unterschiedliche Funktionen erfüllen, sollten sie schon begrifflich klar voneinander unterschieden werden. Die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung ist demnach weder Modifikation der Bedingungstheorie noch Gegenentwurf zur Äquivalenztheorie. Sie ist vielmehr Gegenentwurf zur inhaltlichen Ausgestaltung der durch Äquivalenz- und Bedingungstheorie grob vorgezeichneten Kausalitätsprüfung durch die Conditio-Formel.255 Beide Formeln greifen auf die Grundentscheidungen von Äquivalenzund Bedingungstheorie zurück und unterwerfen sich ihren Regeln. Bei der inhaltlichen Ausgestaltung dieser Regeln gehen sie sodann unterschiedliche Wege. Die Conditio-Formel unternimmt diese Ausgestaltung durch einen kontrafaktischen Schluss, die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung greift hierfür auf Gesetzmäßigkeiten zurück. Diesem Verständnis folgend lässt sich also alternativ zu der durch die Conditio-Formel ausgefüllten These III256 folgende These III’ formulieren: III.’ Eine Handlung ist eine Bedingung, wenn sich an sie zeitlich nachfolgende Veränderungen in der Außenwelt angeschlossen haben, die mit der Handlung und untereinander durch eine gesetzmäßige Beziehung verbunden waren und sich als tatbestandsmäßiger Erfolg darstellen (Formel von der gesetzmäßigen Bedingung).

ee) Logische Ausdifferenzierung der Formel von der gesetzmäßigen Bedingung durch Puppe Ingeborg Puppe hat sich besonders intensiv um eine Weiterentwicklung der strafrechtlichen Kausalitätsdogmatik bemüht. Ausgehend von den Lehren Engischs unternahm sie unter Rückgriff auf wissenschaftstheoretische Erkenntnisse eine logische Ausdifferenzierung der Formel von der gesetzmäßigen Bedingung. Diese Ausdifferenzierung soll im Folgenden in ihren wesentlichen Grundzügen nachvollzogen werden. (1) Ausgangspunkt Rechtsdogmatischer Ausgangspunkt ihrer Weiterentwicklungsbemühungen sind die Lehren Engischs. Puppe teilt mit Engisch dessen Kritik der ConditioFormel und legt ihren Überlegungen seine Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung zugrunde – ihr Ziel ist also nicht die Formulierung einer gänzlich neuen 255 Hierfür spricht die Aussage Engischs, die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung liege der „korrekt verstandenen Bedingungstheorie“ zugrunde, Engisch (1931), 20. Im Ergebnis wie hier HK-GS/Heinrich, vor § 13 Rn. 45. 256 Vgl. oben S. 88.

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Kausalitätstheorie.257 Jedoch muss eine präzise und sachgerechte Kausalitätsprüfung nach ihrer Überzeugung über die Formel Engischs hinausgehen. Der Rückgriff auf Gesetzmäßigkeiten lasse sich auch im Rahmen der Conditio-Formel bewerkstelligen.258 Diese sei jedoch mit ihrem Verständnis der Kausalität als notwendige Bedingung logisch falsch.259 Diesen grundlegenden Fehler versucht Puppe zu korrigieren. Die Lehre Engischs bedürfe hierfür einer Präzisierung, da auch seine Formel nicht kläre, wie die Beziehung zwischen Einzelursache und Erfolg logisch zu bestimmen sei.260 Sie gebe nur den Hinweis, dass man zur Feststellung dieser Beziehung auf Gesetzmäßigkeiten zurückgreifen müsse. Ziel der Überlegungen Puppes ist eine definitionsmethodisch einwandfreie Begriffsbestimmung der Einzelursache auf Grundlage der Formel von der gesetzmäßigen Bedingung, sowie die Formulierung eines korrekten Verfahrens zu deren Bestimmung.261 Das so gefundene Ergebnis soll – so ihre Zielsetzung – die Defizite der Conditio-Formel überwinden und intuitiven, vor-theoretischen Kausalitätsurteilen in weiterem Umfang entsprechen, als dies die Conditio-Formel zu leisten vermag.262 (2) Wissenschaftstheoretischer Hintergrund Vorarbeit auf dem Gebiet der logischen Präzisierung singulärer Kausalsätze leistet u. a. Honoré in seiner bereits 1957 veröffentlichten Untersuchung. Instrumente seiner Untersuchung sind die Begriffe der hinreichenden sowie der notwendigen Bedingung. Ein Ereignis a ist hinreichende Bedingung eines Erfolges b, wenn bei Vorliegen von a das als Erfolg bezeichnete Ereignis b stets eintritt. Die logische Beziehung zwischen hinreichender Bedingung und Erfolg folgt also der Struktur „immer wenn (. . .), dann (. . .)“. Demgegenüber ist ein Ereignis x dann notwendige Bedingung des Erfolgs y, wenn der Erfolg ohne das Vorhandensein von x nicht eintreten kann. Der logische Zusammenhang bei der notwendigen Bedingung folgt also der Struktur „nur wenn (. . .), dann (. . .)“.263 Unter Verwendung dieses Instrumentariums definiert Honoré die Ursache als notwendigen Bestandteil einer hinreichenden Bedingung: „So ist in Wirklichkeit der grundlegende Begriff (des Kausalzusammenhangs, Anm. d. Verf.) nicht der einer notwendigen Bedingung, sondern der eines notwendigen Gliedes eines ausreichenden Bedingungskomplexes.“ 264

257 258 259 260 261 262 263 264

Vgl. hierzu Puppe, ZStW 92, 863 (864). Puppe, GA 2010, 551 (552). NK/Puppe, vor §§ 13 ff. Rn. 91. Vgl. hierzu NK/Puppe, vor §§ 13 ff. Rn. 102. NK/Puppe, vor §§ 13 ff. Rn. 80. Puppe, ZStW 92, 863 (864). Vgl. zum Ganzen Samson, FS Rudolphi, 259 (260 f.). Honoré, ZStW 69, 463 (466 f.).

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Allerdings spricht er sich gegen die Äquivalenztheorie aus, will also bereits im Rahmen der Kausalitätsprüfung eine von Zurechnungsgesichtspunkten geleitete Vorauswahl treffen.265 Darüber hinaus muss nach dem Konzept Honorés die Frage, ob ein Ereignis notwendiger Bestandteil eines hinreichenden Bedingungskomplexes ist, mit dem gleichen kontrafaktischen Verfahren beantwortet werden, mit dem im Rahmen der Conditio-Formel die Kausalität geprüft wird.266 Der Sprachphilosoph Mackie untersuchte 1965 die logische Struktur alltäglich gebrauchter singulärer Kausalsätze.267 Seine Definition entspricht dem Konzept Honorés, er analysiert das Problem jedoch aus der veränderten Perspektive eines Sprachphilosophen und kleidet seine Ergebnisse in das prägnante und dank Stegmüller268 auch in der deutschen Wissenschaftstheorie geläufige Akronym der INUS-Bedingung269. Mackies Konzept erfreut sich auch in der deutschen Strafrechtsforschung beachtlicher Beliebtheit.270 Er entwickelt seine Vorstellung von der logischen Struktur alltäglicher singulärer Kausalsätze anhand eines Beispiels: Ein Haus brennt nieder, nachdem ein Kurzschluss in einem seiner Räume aufgetreten war. Welcher logischen Struktur folgt nun die Feststellung der Ursächlichkeit des Kurzschlusses für den Brand? Der Kurzschluss sei einerseits keine notwendige Bedingung des Brandes, da dieser auch durch eine achtlos weggeworfene Zigarette, eine niedergebrannte Kerze usw. hätte ausgelöst werden können. Er sei andererseits keine hinreichende Bedingung, da eine Vielzahl weiterer Umstände hinzukommen musste, damit das Haus Feuer fangen konnte – beispielsweise mussten sich brennbare Materialien dort befinden, wo der Kurzschluss aufgetreten war. Mit Sicherheit könne man jedoch von der Existenz einer Gesamtheit von Bedingungen ausgehen, die in ihrem Zusammenspiel für den Brand hinreichend waren. Mit gleicher Sicherheit sei der Kurzschluss notwendiger Bestandteil dieser komplexen Gesamtbedingung. Ursache ist nach Mackie daher ein nicht hinreichender, doch notwendiger Bestandteil einer nicht notwendigen, doch hinreichenden Bedingung des Erfolgs271: „[. . .] the [. . .] cause is [. . .] an insufficient but necessary part of a condition which is itself unnecessary but sufficient for the result.“ 272

265

Honoré, ZStW 69, 463 (469 ff.). Honoré, ZStW 69, 463 (466). 267 Vgl. zur Theorie Mackies auch Koriath (1988), 32 ff. 268 Stegmüller (1983), 584 ff.; vgl. zur Verbreitung der Theorie Mackies im deutschsprachigen Raum durch Stegmüller auch Puppe, GA 2010, 551 (556). 269 Die Bezeichnung setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der sie konstituierenden Begriffe zusammen: Insufficient but Necessary part of an Unnecessary but Sufficient condition. 270 So Puppe, GA 2010, 551 (556); Samson, FS Rudolphi, 259 (260), beide m. N. 271 Vgl. zum Ganzen Mackie, American Philosophical Quarterly 2, 245. 272 Mackie, American Philosophical Quarterly 2, 245. 266

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In der wissenschaftstheoretischen Tradition versucht sich Mackie als Sprachphilosoph von Hume abzugrenzen, indem er zwischen der sprachlichen und der wissenschaftlich-empirischen Perspektive der Kausalitätsfeststellung unterscheidet. Während regulatorische Sätze für die Begründung eines singulären Kausalsatzes erforderlich seien, lasse sich aus semantischer Perspektive ein Ereignis als kausal bestimmt interpretieren, ohne dass man die entsprechenden Gesetzmäßigkeiten kennen müsse.273 Ähnlich wie Mackie versuchte auch R. W. Wright 1988, die Ursache als notwendigen Bestandteil einer hinreichenden Bedingung zu definieren. Erneut akronymisch verkürzt definiert sein NESS-Test274: „[. . .] a particular condition was a cause of [. . .] a specific result if and only if it was a necessary element of a set of antecedent actual conditions that was sufficient for the occurrence of the result.“ 275

Im Gegensatz zu Mackie reiht sich Wright wiederum explizit in die auf Hume zurückgehende Tradition regulatorischer Ansätze ein. Er legt seinen Überlegungen die Annahme zugrunde, dass singuläre Kausalsätze stets auf Gesetzmäßigkeiten basieren.276 Auch wenn Puppe die Überlegungen R. W. Wrights in ihre späteren Veröffentlichungen einbezieht277, sind diese doch nicht zum wissenschaftstheoretischen Hintergrund ihres Konzepts im eigentlichen Sinn zu zählen, da Puppe ihre grundlegenden Thesen bereits 1980278 und damit acht Jahre vor R. W. Wright veröffentlichte. (3) Puppe: Formel von der gesetzmäßigen Mindestbedingung279 Aus dem Fundus der skizzierten wissenschaftstheoretischen Arbeiten konnte Puppe bei ihrem Versuch der logischen Präzisierung der Formel von der gesetzmäßigen Bedingung schöpfen. Ähnlich wie Mackie untersucht sie zunächst die logische Grundstruktur der Kausalbeziehung. Aus den Schwierigkeiten der Conditio-Formel in Fällen der Doppel- oder Mehrfachkausalität280 sowie beim Bereitstehen von Ersatzursachen281 entgegen einer so empfundenen eindeutigen Intuition schließt Puppe, 273 Mackie, American Philosophical Quarterly 2, 245 (262); vgl. auch Koriath (1988), 33 f. 274 Necessary Element of a Sufficient Set. 275 R. W. Wright, Iowa Law Review 73, 1001 (1019). 276 R. W. Wright a. a. O. 277 Vgl. etwa Puppe, GA 2010, 551 (555). 278 Puppe, ZStW 92, 863. 279 Zu dieser Bezeichnung Puppe, GA 2010, 551 (569). 280 NK/Puppe, vor §§ 13 ff. Rn. 91. 281 Puppe, ZStW 92, 863 (868).

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dass die logische Struktur der Kausalitätsbeziehung keine notwendige Beziehung zwischen Ursache und Wirkung sei, wie dies die Conditio-Formel annehme. Das Verständnis der Ursache als notwendige Bedingung bezeichnet Puppe als „Kardinalfehler“ der Conditio-Formel.282 Die Täterhandlung müsse auch keine hinreichende Bedingung des Erfolgs sein, da ein einzelnes Ereignis niemals für sich genommen hinreichende Bedingung eines anderen Ereignisses sein könne, sondern hierfür stets eine Komplexe mehrerer Einzelbedingungen erforderlich sei.283 Auch könnten so kausal irrelevante Beiträge des „Täters“ fälschlicherweise berücksichtigt werden, da bei Zufügen eines kausal irrelevanten Ereignisses zu einer hinreichenden Bedingung der dadurch entstehende Bedingungskomplex immer noch ein hinreichender wäre.284 Strukturell vermittelt werde der Kausalzusammenhang durch ein Kausalgesetz, eine abstrakte Regel also, nach der bestimmte Arten von Konstellationen hinreichend (oder notwendig) dafür sind, dass andere Konstellationen eintreten.285 Unter diese Regel sei dann der Einzelfall genauso zu subsumieren wie die tatsächlichen Gegebenheiten unter den Tatbestand bei Anwendung einer abstrakten Rechtsnorm. Puppe untersucht nun die logische Struktur dieser Subsumtion. Das Kausalgesetz gebe einen Komplex einzelner Antecedensbedingungen an, die insgesamt eine hinreichende Bedingung des Erfolgs darstellten. Basis der Kausalitätsfeststellung sei also eine hinreichende Bedingung. Es müsse nun bestimmt werden, wie das Täterhandeln als einzelne Bedingung aus diesem Bedingungskomplex isoliert werden könne und welche logische Beziehung zwischen diesem Handeln und dem Erfolg bestehen müsse.286 Diese Bestimmung leisten die Anhänger der Theorie der gesetzmäßigen Bedingung nach Puppe nicht, sie sprechen nur statt von einer notwendigen von einer gesetzmäßigen Bedingung.287 Um zu verhindern, dass überflüssige, beliebige Sachverhalte die hinreichende Erfolgsbedingung unschlüssig machen, dürfe nicht jeder wahre Sachverhalt, der Teil einer hinreichenden Bedingung ist, als Ursache im strafrechtlichen Sinn gelten, sondern nur ein Sachverhalt, der notwendiger Teil dieser Bedingung sei.288 Nach Puppe ist die Ursache im strafrechtlichen Sinn daher notwendiger Bestandteil einer nach allgemeinen empirischen Gesetzen hinreichenden und wahren Bedingung.289 Die hinreichende Bedingung rekurriere hierbei stets auf einen allgemeinen, nicht auf den Einzelfall gemünzten Gesetzes- oder 282 283 284 285 286 287 288 289

NK/Puppe, vor §§ 13 ff. Rn. 91. Puppe, ZStW 92, 863 (865). Puppe, ZStW 92, 863 (867). NK/Puppe, vor §§ 13 ff. Rn. 82. NK/Puppe, vor §§ 13 ff. Rn. 90. NK/Puppe, vor §§ 13 ff. Rn. 102. Puppe, ZStW 92, 863 (875 f.). NK/Puppe, vor §§ 13 ff. Rn. 102; Puppe (2006), 191 (201).

I. Die Kausalität und ihre Feststellung

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Erfahrungssatz der Form „immer wenn (. . .), dann (. . .)“.290 Ob ein Sachverhalt notwendiger Bestandteil dieser Bedingung ist, lässt sich nach Puppe klären, indem man ihn aus der (abstrakt gesetzmäßigen) hinreichenden Bedingung streicht und überprüft, ob diese dann immer noch schlüssig ist. Dieses Vorgehen sei ein wesentlicher Unterschied zu den zuvor vorgeschlagenen Verfahren von Honoré und R. W. Wright. Diese prüfen die logische Notwendigkeit der präsumtiven Ursache auf tatsächlicher Ebene. Sie fragen, ob der Erfolg bei Ausbleiben der präsumtiven Ursache entfallen wäre, wenden also das gleiche kontrafaktische Verfahren an, dessen sich auch die Conditio-Formel bedient.291 Puppe hingegen formuliert ihre hinreichende Bedingung abstrakt und fragt, ob ohne die präsumtive Ursache ihre abstrakt-logische Schlüssigkeit erhalten bleibt oder nicht. Die Notwendigkeit wird nicht auf den Einzelfall bezogen, sondern auf der Abstraktionsebene des Kausalgesetzes.292 Nach der Darstellung des Grundkonzepts sei noch ein kurzer Blick auf die Lösung der klassischen Kausalitätsprobleme geworfen, in der sich nach Puppe die Überlegenheit ihres Konzepts gegenüber der Conditio-Formel zeigen soll. Die Gefahr, dass beliebige Sachverhalte bei der Formulierung der abstrakt hinreichenden Bedingung berücksichtigt werden und so zu Ursachen erklärt werden, wird nach Puppe durch die Überprüfung der Schlüssigkeit der abstrakt hinreichenden Bedingung nach Hinwegdenken des jeweiligen Sachverhalts gebannt. Hierdurch wird jedoch lediglich verhindert, dass Nichtursachen zu Ursachen erklärt werden. Es besteht weiterhin die Gefahr, intuitiv erkannte Ursachen als Nichtursachen zu qualifizieren. Bei alternativer und bei hypothetischer Kausalität enthält die hinreichende Bedingung mehrere gegeneinander austauschbare Elemente. Die hinreichende Bedingung bliebe auch ohne eines dieser Elemente schlüssig, da hierfür die alternative Ursache bzw. die Reserveursache ausreicht. Zur Veranschaulichung sei ein Fallbeispiel293 der alternativen Kausalität gebildet: A gibt einem Getränk 450 mg Strychnin bei. B gibt in das gleiche Getränk 350 mg Strychnin. C trinkt das Getränk und stirbt.

Es lässt sich die abstrakt hinreichende Erfolgsbedingung formulieren: Wenn ein Mensch 800 mg Strychnin zu sich nimmt, stirbt er. 290

NK/Puppe, vor §§ 13 ff. Rn. 103. Puppe, GA 2010, 551 (555). 292 Puppe, ZStW 92, 863 (876). Samson, FS Rudolphi, 259 (260, 265 f.) hingegen sieht zwischen Puppes Verfahren und dem Test von Mackie nur einen terminologischen, jedoch keinen inhaltlichen Unterschied. Wolle man nach dem Verfahren von Mackie feststellen, ob der Erfolg ohne die präsumtive Ursache ausgeblieben wäre, so müsse man nach dessen Hinwegdenken nach einem Kausalgesetz suchen, das den Erfolg nur mithilfe der verbliebenen Elemente erklärt. Dieser gedankliche Schritt sei jedoch genau derjenige, den auch Puppe vollziehe. 293 Der Giftfall ist ein klassisches Lehrbeispiel alternativer Kausalität. Vgl. nur Puppe, ZStW 92, 863 (876 f.); Roxin, AT I, 11/25. 291

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

Denkt man sich nun den Beitrag des A hinweg und überprüft die Schlüssigkeit der gesetzmäßigen hinreichenden Bedingung, so ergibt sich der Satz: Wenn ein Mensch 350 mg Strychnin zu sich nimmt, stirbt er.

Berücksichtigt man nun, dass die letale Dosis von Strychnin bei 50–300 mg liegt294, so ist die hinreichende Bedingung immer noch schlüssig. Somit wäre in diesen Fällen die intuitiv erkannte Ursache kein notwendiger Bestandteil der hinreichenden Bedingung und daher keine Ursache.295 Daher muss die hinreichende Bedingung immer als hinreichende Mindestbedingung formuliert werden, sie darf mithin nur solche Elemente enthalten, die für den Erfolgseintritt gerade ausreichen.296 In dem gebildeten Fallbeispiel würde also die hinreichende Mindestbedingung lauten: Wenn ein Mensch 50–300 mg Strychnin zu sich nimmt, stirbt er.

Für diese hinreichende Mindestbedingung sind die Handlungen des A und des B jeweils notwendig, da ihre Notwendigkeit auf der Abstraktionsebene des Kausalgesetzes überprüft wird und so alternative Ursachen ausgeblendet bleiben.297 Durch dieses Verfahren lässt sich das Problem der alternativen Kausalität lösen. Da Puppe die Ursache als notwendigen Bestandteil einer hinreichenden Mindestbedingung definiert, werden in ihrem Verfahren alle minimal hinreichenden Bedingungskomplexe gleichwertig behandelt.298 Dies macht die Entwicklung eines Verfahrens notwendig, mit dem bei mehreren hinreichenden Bedingungskomplexen solche ausgeschieden werden, die nicht im Erfolg wirksam wurden.299 Angesprochen sind Fälle hypothetischer Kausalität, in denen eine Reserveursache bereitstand oder die Wirkung einer Bedingung durch eine nachfolgende Bedingung verdrängt wurde (überholende Kausalität). Puppe will bloße Reserveursachen identifizieren, indem sie jedes Zwischenstadium, jeden notwendigen Bestandteil der Kausalkette, die den Erfolg mit der vermeintlichen Ursache verbindet, auf seine Wahrheit überprüft.300 Werde etwa ein Vergifteter vor Eintritt der Giftwirkung erschossen, so erkenne man am Fehlen den Vergiftungsprozess vollständig symptomatisch beschreibender tödlicher Wirkungen, dass die Vergiftung bloße Reserveursache war.

294

So Greco, ZIS 2011, 674 (686) m. N. Vgl. Puppe, GA 2010, 551 (556). 296 NK/Puppe, vor §§ 13 ff. Rn. 103; in diesem Sinn auch schon Honoré, ZStW 69, 463 (467). 297 So auch die Darstellung der Lehre Puppes bei Greco, ZIS 2011, 674 (684 f.). 298 Hierzu Puppe, ZIS 2012, 267 (267 f.). 299 Vgl. Puppe, ZStW 92, 863 (888). 300 NK/Puppe, vor §§ 13 ff. Rn. 101. 295

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ff) Eigene Bewertung In der folgenden eigenständigen Bewertung des Gehalts der strafrechtlichen Kausalitätsprüfung wird zunächst der aktuelle Stand der strafrechtlichen Literatur und Rechtsprechung in Thesenform zusammengefasst. Es folgen Überlegungen zu Chancen und Grenzen wissenschaftslogischer Ausdifferenzierungen, wie insbesondere Puppe sie in die strafrechtliche Diskussion eingeführt hat. Abschließend wird die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung im Kontext der Trennung von Zurechnungs- und Kausalitätsfragen interpretiert und der Versuch unternommen, aus dieser Interpretation Denkanstöße für die Erfolgszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen zu gewinnen. (1) Aktueller Stand in Literatur und Rechtsprechung Der nunmehr wohl überwiegende Teil der rechtswissenschaftlichen Literatur füllt die Vorgaben der Äquivalenz- und Bedingungstheorie inhaltlich im Sinne der von Engisch entwickelten Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung. Die Kausalitätsprüfung folgt dementsprechend nachstehendem Muster: I.

Alle Erfolgsbedingungen sind gleichrangig (Äquivalenztheorie).

II. Jede Einzelbedingung ist potenzielle Ursache im strafrechtlichen Sinn (Bedingungstheorie). III.’ Eine Handlung ist eine Bedingung, wenn sich an sie zeitlich nachfolgende Veränderungen in der Außenwelt angeschlossen haben, die mit der Handlung und untereinander durch eine gesetzmäßige Beziehung verbunden waren und sich als tatbestandsmäßiger Erfolg darstellen (Formel von der gesetzmäßigen Bedingung).

Die Rechtsprechung wendet zur inhaltlichen Ausgestaltung die Conditio-Formel an, wobei sie sich einigen in der Literatur vorgeschlagenen inhaltlichen wie anwendungsbezogenen Modifikationen angeschlossen hat. Die Kausalitätsprüfung der Rechtsprechung folgt folgendem Muster: I.

Alle Erfolgsbedingungen sind gleichrangig (Äquivalenztheorie).

II. Jede Einzelbedingung ist potenzielle Ursache im strafrechtlichen Sinn (Bedingungstheorie). III. Eine Handlung ist eine Bedingung, wenn sie eine Conditio sine qua non ist (Conditio-Formel).

(2) Chancen und Grenzen wissenschaftslogischer Betrachtungen Puppe hat eine wissenschaftslogische Perspektive auf die Kausalitätsproblematik in der strafrechtlichen Diskussion fest verankert. Auch wenn sie nach wie vor eine fehlende Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit den Versuchen moniert,

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung logisch zu präzisieren301, müssen sich doch die strafrechtsdogmatischen Lösungsansätze vermehrt einer wissenschaftslogischen Überprüfung stellen. Die hieraus resultierende inhaltliche Auseinandersetzung hat die Strafrechtswissenschaft ganz im Sinne des oben formulierten, verhalten optimistischen Befundes über die Verwertbarkeit wissenschaftstheoretischer Erkenntnisse in der strafrechtsdogmatischen Diskussion302 bereichert und wird dies weiterhin tun. Konkret stellt die wissenschaftslogische Ausdifferenzierung der Formel von der gesetzmäßigen Bedingung durch Puppes „Formel von der gesetzmäßigen Mindestbedingung“ ein scharfsinniges und ausdifferenziertes Konzept dar. Im Detail wurde hier schon vieles erschöpfend diskutiert. Hier soll der Blick auf einen strukturellen Bruch in Puppes Konzept gelenkt werden, der an der Überlegenheit303 ihrer Lösung zweifeln lässt. Es ist ein verdienstvoller Ansatz, angesichts des „Flickenteppichs“ der Conditio-Formel den Kausalzusammenhang in seiner Grundstruktur nicht als notwendigen, sondern als hinreichenden Bedingungszusammenhang zu begreifen, um so zu einer schlüssigen und homogenen Kausalitätsprüfung zu gelangen. Jedoch kommt auch Puppe ohne Verfeinerungen ihres Konzepts nicht aus, die in der Summe viel von der erstrebten Homogenität wieder preisgeben. Ihre Grundentscheidung, die Kausalrelation als hinreichendes Bedingungsverhältnis zu begreifen, liefert eine elegante und logisch begründete Alternative zu der ergebnisorientiert-instinktiven Anwendungsmodifikation der Conditio-Formel in Fällen alternativer Kausalität. Um hier zwei intuitiv als kausal erkannte Sachverhalte jeweils für sich genommen als kausal bezeichnen zu können, wird die Betrachtung auf die Abstraktionsebene einer abstrakt-gesetzesmäßig formulierten Mindestbedingung gehoben.304 Um hingegen bei hypothetischer Kausalität eine Reserveursache nicht aufgrund dieser streng abstrakt-logischen Betrachtung zur Ursache erklären zu müssen, wird wiederum auf tatsächlicher Ebene nach dem Umstand gesucht, der sie als hypothetische Ursache entlarvt.305

301

Vgl. Puppe, GA 2010, 551 (557). Vgl. hierzu oben S. 80. 303 Vgl. Puppe, GA 2010, 551 (556). 304 Kindhäuser, GA 2012, 134 (140) äußert sich kritisch zu diesem Vorgehen: Man könne „den Nachweis der kausalen Relevanz eines Umstandes nicht sachgemäß führen, indem man – wie Puppe – genau die Tatsache, die dem fraglichen Umstand die kausale Relevanz nimmt, aus der Kausalerklärung streicht“. Siehe hierzu die Replik Puppe, ZIS 2012, 267 (268). 305 Hierzu Greco, ZIS 2011, 674 (686), der kritisch anmerkt, die Subsumtion unter allgemeine Kausalgesetze zur Ausscheidung von Reserveursachen sei bei einer Anreicherung dieser Gesetze mit tatsächlichen Umständen „eine bloß scheinbare“. 302

I. Die Kausalität und ihre Feststellung

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Die Kausalitätsprüfung weist eine gegensätzliche Struktur auf, je nach dem, ob ein Fall alternativer oder hypothetischer Kausalität vorliegt: In Fällen alternativer Kausalität vermeidet Puppe kontraintuitive Ergebnisse durch eine Verlagerung auf eine höhere Abstraktionsebene, um bei hypothetischer Kausalität die Schwächen einer abstrakten Betrachtung durch die systematische Überprüfung der konkreten Einzelelemente der kausalen Erklärung zu umgehen. Den Vorzug, den eine abstrakt-logische Betrachtung in Fällen alternativer Kausalität für sich beanspruchen kann, verliert sie bei hypothetischer Kausalität wieder. Es ist eben die spezifische Stärke einer abstrakt-logischen Betrachtung, bei anderen hinreichenden Bedingungskomplexen ihre Schlüssigkeit zu bewahren, ebenso wie es ihre spezifische Schwäche ist, aus diesen Komplexen konkret nicht wirksam gewordene Bedingungen nicht herausfiltern zu können. (3) Formel von der gesetzmäßigen Bedingung im Kontext der Trennung von Zurechnung und Kausalität Vergegenwärtigt man sich die allseits geäußerte, grundlegende Kritik an der Conditio-Formel, so drängt sich die Frage auf, warum insbesondere die Rechtsprechung sich zur Kausalitätsprüfung ihrer so unbeirrbar bedient. Für diese Beharrlichkeit könnte man etwa mit Greco einen in der Kausalitätsdogmatik sachgerechten Konservativismus anführen306, Puppe folgend schiere Bequemlichkeit attestieren307 oder sich auf Arthur Kaufmann berufen, der den Einfluss des neukantianischen Begriffs von Kausalität als rein logischer Denkform als Wurzel dieses tradierten Übels vermutet.308 Maiwald ebnet den Weg für einen anderen Ansatz der Motivsuche, indem er darauf hinweist, dass die Conditio-Formel historisch betrachtet in der Tradition der Zurechnungslehren steht.309 Sie versucht, die bereits thematisierte Aufgabe der Zurechnung tatbestandlicher Erfolge310 „aus einem Guss“ durch einen kontrafaktischen Schluss zu erfüllen. Erst durch die Arbeit von Engisch und seine streng naturgesetzliche Betrachtung wird das Bemühen um Trennung von Kausalitätsprüfung und normativer Zurechnung deutlich.311 Die strafrechtliche Zurechnung im weiteren Sinn entwickelt diejenige duale Struktur, die ihr die heute herrschende Lehre zuschreibt: Zunächst wird geprüft, ob der Täter den Erfolg kausal verursacht hat, bevor in einem zweiten Schritt dieser Befund über das haftungsbeschränkende normative Korrektiv der objektiven Zurechenbarkeit über306 307 308 309 310 311

Greco, ZIS 2011, 674 (679, 686). Puppe, GA 2004, 129 (142). Vgl. Arth. Kaufmann, FS Eb. Schmidt, 200 (209). Vgl. Maiwald (1980), 7. Vgl. hierzu oben S. 85. Vgl. hierzu Maiwald (1980), 8.

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

prüft wird.312 Die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung mit ihrer Untersuchung des Kausalzusammenhangs losgelöst von Zurechnungsfragen ist nach diesem Verständnis Mittel und Resultat der Bemühungen um die Trennung von Kausalität und objektiver Zurechnung. Vor diesem Hintergrund lässt sich das Festhalten der Rechtsprechung an der Conditio-Formel vielleicht auch mit ihrer Zurückhaltung erklären, Kausalitätsfragen und Zurechnungsfragen strikt voneinander zu trennen.313 (4) Vorzüge und Grenzen der Orientierung der strafrechtlichen Kausalitätsprüfung an Gesetzmäßigkeiten Die Kausalrelation ist in ihrer Grundstruktur eine Ableitung anhand gesetzmäßiger Regeln. Diese wissenschaftstheoretische Erkenntnis haben Engisch und die ihm folgenden Vertreter der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung sachgerecht in die strafrechtliche Dogmatik überführt. Die Conditio-Formel hat demgegenüber die Schwäche, dass sie den Gehalt ihrer kontrafaktischen Betrachtung nicht preisgibt bzw. es dem Rechtsanwender überlässt, nach welchen Kriterien er die Kausalitätsprüfung durchführen will. Dieser Nachteil gereicht ihr wiederum überall dort zum Vorteil, wo die kausale Erklärung anhand von Naturgesetzen nicht ohne Weiteres durchführbar erscheint, etwa bei psychisch vermittelter Kausalität oder im Bereich der Unterlassungsdelikte. Es macht jedenfalls Sinn, Naturkausalität von Fragen rechtlicher Zurechnung im engeren Sinn dort zu unterscheiden, wo diese Unterscheidung gelingt, wo also Naturkausalität feststellbar ist. Daher ist in diesen Bereichen die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung unbedingt vorzugswürdig. Beharrt man auf der Anwendung der Conditio-Formel, so ist jedenfalls die kontrafaktische Betrachtung anhand von Gesetzmäßigkeiten durchzuführen. Nicht alle Fälle strafrechtlich relevanter Erfolgseintritte lassen sich jedoch mühelos anhand solcher Gesetzmäßigkeiten beurteilen. Es eröffnet sich an dieser Stelle eine ganz ähnliche Problemkonstellation, wie sie sich schon im Rahmen der wissenschaftstheoretischen Untersuchung gezeigt hat. Einerseits strebt jede Kausaltheorie nach einem möglichst umfassenden Anwendungsbereich. Mit diesem Streben korrespondiert ein allgemeines Interesse an einer homogenen Kausalitätsprüfung. Andererseits ist keine Kausalitätstheorie formulierbar, die ihre Praxistauglichkeit durch eine möglichst konkrete Formulierung des Kausalzu312 Vgl. nur S/S/Lenckner/Eisele, vor § 13 Rn. 73, 91; MüKo/Freund, vor §§ 13 ff. Rn. 351; Roxin, AT I, 11/1 f.; Jescheck/Weigend, AT, 28 I 1, 2. 313 Der BGH vollzieht die Trennung der Feststellung von Kausalität und objektiver Zurechnung nach wie vor weder terminologisch noch inhaltlich sauber. Den Pflichtwidrigkeitszusammenhang beschreibt das Gericht als „rechtliche(n) Ursachenzusammenhang“, vgl. BGHSt 33, 61 (amtlicher Leitsatz).

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sammenhangs gewährleisten muss und dennoch alle Problemfälle konsistent und zufriedenstellend löst. Dies gilt in gesteigertem Maß für die Kausaltheorie einer komplexen sozialwissenschaftlichen Disziplin wie der Rechtswissenschaft, deren Gegenstand kein idealtypischer Versuchsraum mit kontrollierten, konstanten Bedingungen, sondern das Zusammenleben vernunftgesteuerter Individuen ist. In der Wissenschaftstheorie bildeten sich gegenüber der herrschenden naturwissenschaftlich-gesetzmäßigen Betrachtung alternative Ansätze, um im Grenzbereich gesetzmäßiger Determinierung sachgerechtere Ergebnisse zu erzielen. Ebenso ist es auch in der Strafrechtsdogmatik nicht ausgeschlossen, dass in bestimmten Fällen neben der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung alternative Ansätze mit flexibleren inhaltlichen Strukturen sachgerechtere Lösungen ermöglichen. Lässt sich etwa die psychische Beeinflussung eines anderen naturgesetzmäßig kausal erklären? Kann ein tatbestandlicher Erfolg unter Anwendung von Naturgesetzen kausal auf eine Unterlassung zurückgeführt werden? Wenn ja, gilt dies auch noch, wenn in diesem Kausalzusammenhang ein Dritter zwischengeschaltet ist? Die naturgesetzliche Determinierung dieser Konstellationen lässt sich jedenfalls nicht so intuitiv bejahen, wie dies in „unproblematischen“ Fällen der Begehungsdelikte möglich ist. In diesen Fällen könnte eine Annäherung von Kausalitäts- und Zurechnungsgesichtspunkten eine sachgerechtere Zurechnung tatbestandlicher Erfolge ermöglichen. In der hier untersuchten Konstellation drittvermittelter Rettungsgeschehen überschneiden sich die eben aufgeworfenen Fragen. Nach einer kurzen Zusammenfassung der Ergebnisse der Untersuchung der strafrechtlichen Kausalitätsprüfung werden daher die für diese Konstellation wesentlichen dogmatischen Strukturen im Bereich der Unterlassungsdogmatik dargestellt. d) Zusammenfassung Schon nach dem Wortlaut des StGB ist zwischen der Handlung des Täters und dem Erfolg eine besondere Beziehung erforderlich, damit der tatbestandliche Erfolg dem Täter zugerechnet werden kann. Funktion der strafrechtlichen Kausalitätsprüfung ist es, diese Beziehung im Einzelfall festzustellen. Die Grundstruktur der strafrechtlichen Kausalitätsprüfung geben die Äquivalenz- und Bedingungstheorie vor. Beiden Theorien kommt nach dem hier vertretenen Verständnis eine jeweils eigenständige Funktion bei der Formulierung der Grundprämissen für die strafrechtliche Kausalitätsprüfung zu. Die so vorgegebene Grundstruktur wird durch die von der Rechtsprechung angewandte Conditio-Formel in einem kontrafaktischen Verfahren inhaltlich ausgefüllt. Die große Schwäche dieses Verfahrens ist, dass die Conditio-Formel dabei letztlich keine inhaltlichen Kriterien für die kontrafaktische Prüfung formuliert.

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

Alternativ zur Conditio-Formel wendet die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung ein auf wissenschaftstheoretischen Vorarbeiten aufbauendes Deduktionsverfahren an, bei dem aus Antecedensbedingungen des Einzelfalls unter Verwendung von Naturgesetzen der Erfolg kausal erklärt wird. Dieses Verfahren stößt dort an seine Grenzen, wo tatbestandliche Erfolge keiner gesetzmäßigen Determinierung unterliegen. 3. Zwischenergebnis der Untersuchung der wissenschaftstheoretischen und strafrechtsdogmatischen Grundstrukturen der Kausalitätsprüfung Die Untersuchung der Grundlagen der wissenschaftstheoretischen Kausalitätsfeststellung erfolgte mit dem Ziel, neue Perspektiven auf die Kausalitätsfeststellung an den Grenzen der empirischen Nachweisbarkeit aufzuzeigen. Die wissenschaftstheoretische Diskussion zeigt, dass in Bereichen, in denen eine vorherrschende Lehre mit Begründungsschwierigkeiten zu kämpfen hat, keine Denkverbote die Suche nach alternativen Lösungen verhindern sollten, dass eine solche Suche der Komplexität der Kausalitätsproblematik sogar gerechter wird, als das Verharren in bekannten dogmatischen Strukturen. So verstanden ist die wissenschaftstheoretische Diskussion für die vorliegende Untersuchung kein sachfremder Irrweg, sondern ein Impuls, im Rahmen der strafgesetzlichen Vorgaben nach neuen Lösungen dort zu suchen, wo das unvermeidliche Fehlen einer Kausalitätstheorie, die alle Sachprobleme umfassend löst, eine solche Suche erforderlich macht. Die hieran anschließende Untersuchung der rechtsdogmatischen Grundlagen der strafrechtlichen Kausalitätsfeststellung erfolgte mit dem Ziel, Funktion, Struktur und Gehalt dieser Kausalitätsfeststellung herauszuarbeiten. Hierbei zeigte sich, dass Äquivalenz- und Bedingungstheorie einen strukturellen Rahmen für die Kausalitätsprüfung vorgeben, der durch die Conditio-Formel in einem kontrafaktischen, wertungsorientiert modifizierbaren Verfahren, durch die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung in einem auf wissenschaftstheoretischen Vorarbeiten aufbauendem Deduktionsverfahren inhaltlich ausgestaltet wird.

II. Die Erfolgszurechnung im Bereich der Unterlassungsdelikte Nachdem die wissenschaftstheoretischen und strafrechtsdogmatischen Grundlagen der Kausalitätsfeststellung untersucht wurden, wird im Folgenden der Fokus der Betrachtung auf die Kausalität der Unterlassung gelenkt. Die Untersuchung der Erfolgszurechnung im Bereich der Unterlassungsdelikte erfolgt in zwei Schritten. In einem ersten Schritt wird die der Unterlassungszurechnung zugrunde liegende Struktur herausgearbeitet. Im Wesentlichen stehen sich hier zwei Posi-

II. Die Erfolgszurechnung im Bereich der Unterlassungsdelikte

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tionen gegenüber. Während eine Ansicht davon ausgeht, eine Unterlassung könne selbst nichts hervorbringen, bringt eine andere Ansicht unter der Prämisse der Existenz von Negativbedingungen die Unterlassung wie auch die aktive Begehung in einen gesetzmäßigen Zusammenhang mit dem tatbestandlichen Erfolg. Diese beiden Positionen beruhen letztlich auf zwei unterschiedlichen philosophischen Vorstellungen von Kausalität. Die Auseinandersetzung ist nicht von sachlichen Argumenten, sondern von nicht weiter begründbaren, elementaren Prämissen geprägt. Sie kann daher auch nicht argumentativ aufgelöst werden. Diese Erkenntnis steht am Ende eines Streits um die Kausalität der Unterlassung, der von v. Liszt/Schmidt mit dem oft zitierten Negativprädikat belegt wurde, er sei „einer der unfruchtbarsten, welche die Strafrechtswissenschaft je geführt hat“ 314. Da über die Struktur der Unterlassungskausalität in der Sache heute nicht mehr diskutiert wird, soll diese Auseinandersetzung in der gebotenen Kürze abgehandelt werden. Ganz ausgeblendet wird die Streitfrage jedoch nicht. Mit ihrer Darstellung und Bewertung ist die Hoffnung verknüpft, Erkenntnisse über die strukturellen Unterschiede der Erfolgszurechnung bei Begehungs- und Unterlassungsdelikten zu gewinnen, die für den weiteren Verlauf der Arbeit von Bedeutung sind. Nach diesen strukturellen Überlegungen konzentriert sich die Untersuchung in einem zweiten Schritt auf den materiellen Gehalt der Unterlassungszurechnung. Im Rahmen der Auseinandersetzung um die Erfolgszurechnung bei Zweifeln über die hypothetische Erfolgsvermeidung wird das Spannungsfeld zwischen Vermeidbarkeitstheorie und Risikoverminderungslehre aufgezeigt, in dem sich auch die Lösungsmodelle zu der in dieser Arbeit untersuchten Konstellation bewegen werden. 1. Struktur der Zurechnung bei den Unterlassungsdelikten Der Grund für das formaldogmatische Problem der strafrechtlichen Beurteilung der Unterlassungskausalität liegt auf der Hand. Während für die Zurechnung des tatbestandlichen Erfolgs im Bereich der Begehungsdelikte an ein aktives Tun des Täters angeknüpft werden kann, fehlt es im Bereich der Unterlassungsdelikte an einer solchen aktiven Veränderung der Außenwelt. Die intensiven Bemühungen, dennoch eine positiv wirkende Kausalität der Unterlassung nachzuweisen, dürfen als gescheitert bezeichnet werden.315 Während heute ein Teil der Literatur die Unterlassung nicht als Wirkkraft, sondern als Negativbedingung in einen naturgesetzlichen Zusammenhang mit dem Erfolgseintritt bringt, behilft sich ein anderer Teil der Literatur und mit ihm die Rechtsprechung mit einer Zurechnung, die auf das Vorliegen einer ontologischen Kausalität im engeren Sinn verzichtet. 314 315

Vgl. v. Liszt/Schmidt (1932), 171. So auch Roxin, AT II, 31/38.

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

a) Unterlassung als gesetzmäßige negative Bedingung Auf die Abhängigkeit der Auseinandersetzung um die Existenz einer positiv begründbaren Kausalität der Unterlassung von nicht weiter begründbaren Grundannahmen wurde bereits hingewiesen.316 Die entscheidende Prämisse derjenigen Autoren, die die Kausalität der Unterlassung unproblematisch bejahen, ist die Anerkennung negativer Bedingungen im Rahmen der kausalen Erklärung. Stützen kann sich diese Prämisse auf die Arbeiten J. St. Mills, der die Ursache als den „Inbegriff der Bedingungen, positiver und negativer zusammengenommen“ beschreibt, „bei deren Verwirklichung das Consequens unvermeidlich folgt“ 317. In der strafrechtlichen Kausalitätsdiskussion integriert Engisch negative Bedingungen noch implizit – durch logische Umkehrung seiner Formel von der gesetzmäßigen Bedingung: „[. . .] wenn ein positives Tun [. . .] geeignet ist, den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs abzuwenden [. . .], so bestehen gesetzmäßige Beziehungen zwischen ihm und dem Nichteintritt des betreffenden Erfolges. Daraus ergibt sich schon durch logische Umkehrung, daß auch zwischen der Unterlassung eines Tuns und dem späteren Eintritt des Erfolges gesetzmäßige Beziehungen bestehen, daß also die Formel der gesetzmäßigen Bedingung die Kausalität der Unterlassung ohne Weiteres deckt.“ 318

Puppe beruft sich auf Grundlage ihrer Lehre von der gesetzmäßigen Mindestbedingung bereits ausdrücklich auf die Zulassung negativer Bedingungen für die kausale Erklärung. Negationen seien um der Allgemeingültigkeit der Kausalbeziehung willen in die Kausalerklärung zu integrieren.319 Die diesbezügliche Skepsis der Rechtswissenschaftler sei letztlich nur auf eine intuitive Vorstellung von Kausalität als Wirkkraft zurückzuführen.320 Eine Unterlassung sei notwendiger Bestandteil einer nach allgemeinen Gesetzen hinreichenden Mindestbedingung des Erfolgs und damit kausal für diesen, „wenn das negierte Tun nach Erfahrungsregeln möglich und eine störende Bedingung des Kausalverlaufs zum Erfolg gewesen wäre“.321 Dem Verständnis der Unterlassung als real kausale, weil mit dem tatbestandlichen Erfolg als negative Bedingung gesetzmäßig verbundene Verursachung haben sich viele Autoren angeschlossen.322 316

Vgl. soeben S. 105. J. St. Mill 1968 (1843), Kap. 5, § 3, S. 21 f.; vgl. hierzu bereits oben S. 85. 318 Engisch (1931), 30. 319 Puppe, ZStW 92, 863 (895). 320 Puppe, ZStW 92, 863 (896); zum Verständnis der Kausalität als Wirkkraft kritisch auch Roxin, AT II, 31/42. 321 NK/Puppe, vor §§ 13 ff. Rn. 117; grundlegend hierzu Puppe, ZStW 92, 863 (899 ff.). 322 Vgl. nur Spendel, JZ 1973, 137 (139); ders., FS Herzberg, 247 (249); Hilgendorf, NStZ 1994, 561 (564); Roxin, AT II, 31/42. 317

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b) Hypothetische Kausalität der Unterlassung Andere Autoren und mit ihnen die Rechtsprechung323 erkennen zwar an, dass die Unterlassung in einem ontologisch-naturalistischen Sinn nichts bewirkt, sie verwehren sich jedoch dagegen, diese ontologische Wertung unbesehen in die strafrechtliche Beurteilung einfließen zu lassen, also die Kausalität der Unterlassung zu verneinen. Geprüft wird vielmehr die hypothetische324 bzw. Quasi-Kausalität325 der Unterlassung. So erkennen etwa Jescheck/Weigend das Fehlen eines realen Bewirkens im Bereich der Unterlassungsdelikte an. Jedoch sei der naturwissenschaftliche Kausalbegriff für die juristische Betrachtungsweise nicht maßgebend und damit jedenfalls die hypothetische Kausalität der Unterlassung feststellbar.326 Das Fehlen eines realen Bewirkens hindert also einen Teil der Literatur und die Rechtsprechung nicht an der Prüfung der Kausalität der Unterlassung. Die hypothetische Kausalität der Unterlassung wird bejaht, wenn der Unterlassungstäter den Erfolg hätte vermeiden können327, bzw. in Modifikation der Conditio-Formel, wenn die unterlassene Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der tatsächlich eingetretene Erfolg entfiele.328 c) Ex nihilo nihil fit Schließlich schließen einige Autoren aus der geschilderten ontologischen Betrachtung konsequent, dass von einer Kausalität der Unterlassung schlechthin nicht gesprochen werden könne („ex nihilo nihil fit“ 329) und verlagern den Schwerpunkt der Betrachtung auf die Frage der Zurechenbarkeit der Rechtsgutsverletzung. Arthur Kaufmann argumentiert, die Annahme der Kausalität der Unterlassung beruhe auf einem neukantianischen, Kausalität als rein logisches Phänomen betrachtenden Kausalitätsbegriff 330. Ein bloß gedachter Ablauf werde betrachtet 323 Vgl. aus der Rechtsprechung des BGH etwa BGHSt 48, 77 (93): „Ein Unterlassen, also ein Nichtgeschehen kann – ontologisch – nicht Ursache eines Erfolges sein“. 324 Vgl. Jescheck/Weigend, AT, 28 I 2; Maiwald (1980), 79. 325 So etwa MüKo/Freund, § 13 Rn. 213. 326 Vgl. Jescheck/Weigend, AT, 28 I 2, 59 II 2, 3. 327 So Jescheck/Weigend, AT, 28 I 2; MüKo/Freund, § 13 Rn. 213; BGHSt 6, 1 (2); 37, 106 (126); 48, 77 (93). 328 Vgl. S/S/Stree/Bosch, § 13 Rn. 61; vgl. auch LK/Weigend, § 13 Rn. 70; BGHSt 48, 77 (93); BGH NStZ 1985, 26 (27). 329 Wörtlich: „Aus dem Nichts entsteht nichts“; vgl. zu diesem geflügelten Wort etwa Jescheck/Weigend, AT, 59 III 3. 330 In diesem Kausalitätsbegriff liegt nach Ansicht Arth. Kaufmanns auch die Popularität der Conditio-Formel begründet, vgl. hierzu bereits oben S. 101.

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

und auf Grundlage dieser Betrachtung die Unterlassung als kausal oder nicht kausal für den Erfolg bezeichnet. Diese Prüfung im hypothetischen Kontext könne jedoch keine Kausalzusammenhänge offenbaren. Im Bereich der Begehungsdelikte habe sich längst die richtige Erkenntnis durchgesetzt, dass im Rahmen der Kausalitätsprüfung niemals nach hypothetischen, sondern nur nach realen Zusammenhängen gefragt werden dürfe.331 In allen Fällen strafrechtlich relevanter Unterlassung sei der Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs kausale Folge eines realen, tatsächlichen, positiven Geschehens, nicht aber der Unterlassung selbst.332 Der Tod eines Schwimmers an einem beaufsichtigten Badestrand wird nach dem Verständnis Arthur Kaufmanns etwa verursacht durch starken Wellengang, Ermüdungserscheinungen, mangelhafte Schwimmkenntnisse oder Unterströmungen, die hierauf irgendwann eintretende Inhalation von Wasser in die Lunge und das hierauf folgende Ausbleiben der Sauerstoffversorgung des Gehirns, nicht hingegen durch die Tatsache, dass der Schwimmer eventuell gerettet worden wäre, wenn der diensthabende Rettungsschwimmer seinen Pflichten nachgekommen wäre.333 Diese letztere, hypothetische Betrachtung habe vielmehr mit Kausalität nichts zu tun. „Nicht der kausale Vorgang als solcher [. . .] macht das Wesen der Unterlassung aus, sondern erst der Umstand, daß der Täter diesen Kausalvorgang hätte beherrschen (und also verhindern) können.“ 334

Dieser Umstand betreffe jedoch nicht die Kausalität, sondern die strafrechtliche Haftung überhaupt. Ähnlich geht auch Jakobs von dem Befund aus, die Unterlassung als solche sei nicht kausal.335 Feststellbar sei lediglich eine hypothetische Kausalität der Unterlassung.336 Was Jakobs jedoch von den soeben besprochenen Vertretern der hypothetischen Kausalität der Unterlassung unterscheidet, ist, dass er es nicht bei einer terminologischen Modifikation belässt. Jakobs leitet vielmehr aus der fehlenden naturalistischen Kausalität im Bereich der Unterlassung eine Umkehr des Verhältnisses von Kausalität und objektiver Zurechnung ab: „Die Prinzipien der Zurechnung entscheiden, ob und wie weit Kausalität erforderlich ist.“ 337

331

Arth. Kaufmann, FS Eb. Schmidt, 200 (213). Arth. Kaufmann, FS Eb. Schmidt, 200 (213 f.). 333 Beispiel des Verfassers. Arth. Kaufmann selbst wählt zur Illustration seines Gedankengangs das Beispiel eines Kindes, das von seiner Mutter nicht ernährt wird, vgl. Arth. Kaufmann, FS Eb. Schmidt, 200 (213 f.). 334 Arth. Kaufmann, FS Eb. Schmidt, 200 (214); vgl. auch Arth. Kaufmann/Hassemer, JuS 1964, 151 (152). 335 Jakobs, AT, 7/26, 29/15. 336 Jakobs, AT, 29/15. 337 Jakobs, AT, 29/15. 332

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Und bald darauf heißt es: „Im Ergebnis verspricht die Bildung eines Systems, in dem auch die Unterlassung als kausal bezeichnet werden kann, [. . .] keinen Gewinn, sondern nur terminologische Wirrnis. Problematisch ist nicht das Fehlen derjenigen Kausalität bei der Unterlassung, die Kennzeichen der Handlung ist, sondern die Zurechnung [. . .] vermeidbarer Erfolge.“ 338

d) Eigene Bewertung: Unterlassungskausalität als funktional-normorientierte Zurechnung Dem eben in seinen Grundzügen dargestellten Streit wird heute keine große Bedeutung mehr beigemessen. Die Rechtsprechung befasst sich mit dem Thema nicht und spricht mal von „Ursächlichkeit“ der Unterlassung339, während an anderer Stelle die Unterlassung als „quasi-ursächlich“ 340 bezeichnet wird. Dennoch wird der Versuch unternommen, aus der Diskussion um die Struktur der Erfolgszurechnung bei den Unterlassungsdelikten Erkenntnisse für die weitere Untersuchung zu gewinnen. Die Betrachtung konzentriert sich hierbei auf zwei Fragen, nämlich (1) Sollten Negativbedingungen als Ursachen im strafrechtlichen Sinn anerkannt werden? (2) Welche Funktion kann eine hypothetische Kausalitätsprüfung im Bereich der Unterlassungszurechnung erfüllen?

Es handelt sich hierbei um philosophisch aufgeladene Fragestellungen, die sich einer gänzlich befriedigenden argumentativen Aufarbeitung entziehen, deren Beantwortung jedoch Erkenntnisse über die strukturellen Unterschiede zwischen der Kausalität der Begehung und der Kausalität der Unterlassung verspricht. Diese Erkenntnisse werden abschließend unter cc) formuliert. aa) Zur Zulassung von Negativbedingungen als Ursachen im strafrechtlichen Sinn Wie soeben dargestellt341 sprechen sich u. a. Engisch, Puppe und Roxin für die Zulassung von Negativbedingungen als Ursachen im strafrechtlichen Sinn aus. Diese Entscheidung ermöglicht es, Unterlassungen als vollwertig und regulär kausale Bedingungen zu verstehen. Heute weitgehend unumstritten ist die Erkenntnis, dass Negativbedingungen im Rahmen der wissenschaftstheoretischen kausalen Erklärung Berücksichtigung 338

Jakobs, AT, 29/18. So im Rahmen der Lederspray-Entscheidung, BGHSt 37, 106 (126). 340 So im Rahmen der Politbüro-Entscheidung, BGHSt 48, 77 (92). Diese terminologischen Ungenauigkeiten erkennt Greco, ZIS 2011, 674 (Fn. 4). 341 Vgl. soeben S. 106. 339

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finden müssen. Fraglich ist jedoch, ob diese Erkenntnis auf den strafrechtlichen Kontext übertragen werden sollte. Stree/Bosch sprechen sich gegen die Berücksichtigung negativer Bedingungen im Rahmen der strafrechtlichen Kausalitätsprüfung aus. Diese sei nicht zielführend, da aus der Unzahl negativer Bedingungen nur die durch eine Garantenpflicht normativ aufgewerteten Bedingungen für die strafrechtliche Zurechnung relevant seien.342 Diese Begründung ist zumindest missverständlich formuliert. Mit dem Argument, eine Kausalitätsprüfung sei abzulehnen, da sie eine Vielzahl von potenziellen Ursachen hervorbringe, unter denen dann erst die normativ relevanten bestimmt werden müssten, ließe sich auch die absolut herrschende Bedingungs- und Äquivalenztheorie zu Fall bringen – was freilich auch Stree/Bosch nicht versuchen wollen. Problematisch an der Zulassung negativer Bedingungen ist weniger die Überlastung der Kausalitätsprüfung mit einer Unzahl negativer Bedingungen. Vielmehr würden hierdurch die strukturellen Unterschiede zwischen der Erfolgszurechnung im Bereich der Begehungsdelikte und im Bereich der Unterlassungsdelikte verwischt. Die Struktur der Erfolgszurechnung ist bei aktiver Veränderung der Außenwelt durch den Täter eine andere als bei seinem Untätigbleiben. Besonders deutlich wird dies bei Jakobs, wenn er im Rahmen seiner Kritik der Berücksichtigung negativer Bedingungen ausführt: „Ungeachtet des Umstands, daß im Sinn der Logik das Fehlen von etwas Folgen haben kann (im Sinn von „Folgerungen zulassen“, nicht von „Erfolg haben“), hat in derjenigen Wirklichkeit, in der die Folgen des Strafrechts belegen sind, dasjenige, was nicht ist, auch keine Folgen (im Sinn von „Erfolg“). Vielmehr ist das Fehlen von Hindernissen immer schon in der Aussage mitbedacht, ein Erfolg sei durch ein Ereignis hinreichend bedingt; das Fehlen ist also nicht weitere Bedingung neben dem Ereignis. Durch die Anerkennung von nur-negierenden Bedingungen würde jedes Bedingtsein doppelt gezählt: als hinreichende Bedingung eines Ereignisses und als fehlende Hinderung.“ 343

Die Zulassung negativer Bedingungen geht auf Erkenntnisse der Wissenschaftstheorie zurück. In diesem Kontext wird die Totalität aller Antecedensbedingungen als Ursache angesehen344, während es das Ziel strafrechtlicher Zurechnung ist, Einzelursachen zu identifizieren.345 Mit diesem Zweck der straf-

342 S/S/Stree/Bosch, § 13 Rn. 61; auch Maiwald (1980), 78 f., hält die Integration negativer Bedingungen in die strafrechtliche Kausalitätsprüfung nicht für sinnvoll, ohne dies allerdings zu begründen. Schließlich finde ja auch im Bereich der Unterlassungsdelikte eine Kausalitätsprüfung in Gestalt einer hypothetischen Prüfung statt, sodass die Nichtberücksichtigung negativer Bedingungen im Ergebnis folgenlos bleibe. 343 Jakobs, AT, 7/25. 344 Vgl. hierzu etwa die Definition der Ursache bei Stegmüller (1983), 535; vgl. hierzu bereits ausführlich oben S. 67 ff. (69). 345 Vgl. hierzu Jescheck/Weigend, AT, 28 I 1, sowie oben S. 87.

II. Die Erfolgszurechnung im Bereich der Unterlassungsdelikte

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rechtlichen Kausalitätsfeststellung verträgt sich die Idee einer „Doppelbedingtheit“ nicht. Negativbedingungen sind daher im Rahmen der strafrechtlichen Kausalitätsprüfung als solche nicht zuzulassen. Damit kann die Unterlassung nicht im engeren Sinn als kausal betrachtet werden. Die Frage ist nun, ob eine hypothetische Kausalitätsprüfung, wie sie die Rechtsprechung und ein großer Teil der Literatur vornimmt, sachgerecht ist, oder ob auf die Zurechnungskategorie der Kausalität im Bereich der Unterlassungsdelikte gänzlich verzichtet werden sollte. bb) Zur Funktion einer hypothetischen Kausalitätsprüfung Arthur Kaufmann vertritt die Auffassung, hypothetische Betrachtungen müssten als Versuch der Feststellung kausaler Beziehungen scheitern. Die Frage, ob der Erfolg bei pflichtgemäßem Handeln hätte verhindert werden können, sei keine Frage der Kausalität, sondern ganz allgemein eine Frage der strafrechtlichen Haftung.346 Andererseits besteht im Ergebnis Einigkeit darüber, dass eine Strafbarkeit nach einem unechten Unterlassungsdelikt die Feststellung voraussetzt, dass der Erfolg nicht völlig unabhängig von der Unterlassung des Täters eingetreten ist. Das hypothetisch pflichtgemäße Verhalten des Täters muss also auf den Ablauf der Geschehnisse Einfluss gehabt haben. Dass nun Arthur Kaufmann diese Feststellung nicht als Element der Kausalitätsfeststellung, sondern allgemeiner als Haftungsvoraussetzung begreift, stellt keine belanglose Aufbauvariante dar. Ob aber diese hypothetische Prüfung den Kausalitätszusammenhang oder eine Haftungsvoraussetzung zum Gegenstand hat, hängt damit zusammen, wie streng ontologisch man den Ursachenbegriff fasst. Die Frage, ob und in welchem Ausmaß man den Begriff der Ursache über ontologische Realitäten hinaus erweitert, ist eine rechtsphilosophische Prämisse, die sich letztlich nicht auf ihre Richtigkeit überprüfen lässt. Jedenfalls muss sich im Bereich der Verletzungsdelikte das deliktische Verhalten des Täters im tatbestandlichen Erfolg ausgewirkt haben. Dieses Erfordernis stellt die Grundvoraussetzung dar, die eine strafrechtliche Zurechnung erfüllen muss. Und auch wenn sich die Prüfung der Vermeidbarkeit des Erfolgs auf einen hypothetischen Zusammenhang bezieht, dient sie doch gerade der Herstellung dieses Zurechnungszusammenhangs. Es spricht daher vieles dafür, die hypothetische Betrachtung im Bereich der Unterlassungsstrafbarkeit als Prüfung eines hypothetischen Kausalzusammenhangs zu systematisieren.

346

Arth. Kaufmann, FS Eb. Schmidt, 200 (215).

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cc) Integration funktional-normorientierter Gesichtspunkte als struktureller Unterschied zur Begehungskausalität Auch wenn also Arthur Kaufmanns Zuordnung der Vermeidbarkeitsprüfung als allgemeine Haftungsvoraussetzung hier nicht gefolgt wird, so offenbart seine Vorstellung eines streng ontologischen Ursachenbegriffs doch eine entscheidende strukturelle Besonderheit der Unterlassungszurechnung. In Fällen der Unterlassungskausalität ist immer eine unmittelbare, naturgesetzlich bestimmbare Ursache (Ertrinken, Unterernährung etc.) vorhanden, mit deren Hilfe sich der tatbestandliche Erfolg kausal erklären lässt. Wie Philipps darlegt, reicht jedoch diese rein kausale Betrachtung in Fällen pflichtwidrigen Unterlassens nicht aus, um den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs befriedigend zu erklären.347 Verhungert ein Kleinkind, so lautet die entscheidende Frage nicht, wodurch dieser Hungertod konkret bewirkt wurde, sondern wie es „möglich“ war, dass er bewirkt wurde.348 Sind die Erhaltensbedingungen für das Rechtsgut nicht positiv, und gibt es eine Rechtsvorschrift, die Erfolge wie den konkret eingetretenen verhindern soll, so muss die kausale Betrachtung des Geschehens um funktionale Aspekte erweitert werden, um zu einer befriedigenden Lösung zu kommen.349 Im Bereich des Strafrechts wird der Versuch unternommen, die unmittelbare Ursache funktional kraft eines strafrechtlich flankierten Gebots auf menschliches Verhalten zurückzuführen. Konkret geschieht dies, indem das gebotsgemäße Verhalten des Unterlassenden identifiziert und der hypothetischen Betrachtung zugrunde gelegt wird. Die Frage der hypothetischen Erfolgsvermeidung setzt die Bestimmung des konkret normgemäßen Verhaltens – und damit eine normative Wertung voraus. Diese normative Wertung ist der Ausgangspunkt der hypothetischen Kausalitätsprüfung. Die Kritik Arthur Kaufmanns an der hypothetischen Kausalitätsfeststellung im Bereich der Unterlassungskausalität führt zu folgender Erkenntnis: Prüft man Kausalität in einem hypothetischen Kontext, so bewegt man sich dogmatisch in einem Grenzbereich zwischen Kausalitätsfeststellung und allgemeiner Haftungsbegründung. Strukturell wird bei dieser Kausalitätsprüfung der Erfolg unter Zuhilfenahme einer funktionalen Betrachtung des gebotsgemäßen Verhaltens des Unterlassenden zugerechnet. Aufgrund dieses Einflusses funktional-normativer Wertungen kann eine Trennung von ontologisch-naturalistischer Kausalität und normativer Zurechnung im Bereich der Unterlassungsdelikte nicht mehr so trennscharf erfolgen, wie dies noch im Bereich der Begehungsdelikte gelingt.350 In der Offenbarung dieses strukturellen Unterschieds in der Kausalitätsprüfung von Be347 348 349 350

Vgl. Philipps (1974), 103. Ebenso Kahrs (1968), 26. Vgl. hierzu auch Schroth (1998), 95 f. Vgl. hierzu oben S. 101.

II. Die Erfolgszurechnung im Bereich der Unterlassungsdelikte

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gehung und Unterlassung zeigt sich der Mehrwert des „unfruchtbaren“ Streits um die Kausalität der Unterlassung. e) Zusammenfassung Die wissenschaftstheoretisch hergeleitete Zulassung negativer Bedingungen ist mit dem Ziel strafrechtlicher Zurechnung, einen tatbestandlichen Erfolg auf eine konkrete Ursache zurückzuführen, nur schwer vereinbar und daher abzulehnen. Die Prüfung eines hypothetischen Kausalzusammenhangs kann den erforderlichen Zusammenhang zwischen deliktischem Verhalten und tatbestandlichem Erfolg herstellen, wenn hierbei die strukturellen Unterschiede zur Begehungskausalität beachtet werden. 2. Materieller Gehalt der Zurechnung bei den Unterlassungsdelikten: Lösungskonzepte bei Zweifeln über hypothetische Erfolgsverhinderung Während der soeben behandelte Streit vorwiegend rechtsphilosophischer und rechtsterminologischer Natur war, hat die im Folgenden dargestellte Auseinandersetzung über die inhaltliche Ausgestaltung der Kausalitätsfeststellung im Bereich der Unterlassungsdelikte erhebliche praktische Bedeutung. Auch die Lösungskonzepte zur Problematik der Erfolgszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen bewegen sich im Spannungsfeld dieser Diskussion. Konkret geht es um die Frage, welche inhaltlichen Anforderungen an die Feststellung der Kausalität der Unterlassung bei Zweifeln über die Erfolgsverhinderung bei hypothetisch garantenpflichtgemäßem Handeln zu stellen sind. Denn einerseits besteht im Ergebnis Einigkeit darüber, dass einer Unterlassung dann keine strafrechtliche Relevanz zukommt, wenn auch bei gebotenem Handeln der Erfolg mit Sicherheit nicht hätte verhindert werden können.351 Andererseits wird ein zweifelsfrei vermeidbarer Erfolg dem Unterlassungstäter einhellig zugerechnet.352 Kontrovers diskutiert wird jedoch die Zurechnungsfrage bei Zweifeln über die hypothetische Erfolgsvermeidung. In dieser Frage stehen sich Vertreter der Vermeidbarkeitstheorie und Befürworter der Risikoverminderungslehre gegenüber. Die Darstellung dieser beiden Positionen wird um drei Zurechnungskonzepte ergänzt, die sich als dem Risikoverminderungsgedanken nahestehende Zwischenlösungen systematisieren lassen und deren Analyse wichtige Erkenntnisse für die weitere Untersuchung verspricht. 351 Überwiegend wird bei sicher voraussehbarer Erfolglosigkeit der Rettungsbemühung bereits eine strafrechtlich relevante Handlungspflicht verneint, vgl. etwa BGH NStZ 2000, 414 (415); S/S/Stree/Bosch, vor § 13 Rn. 149; Lackner/Kühl, vor § 13 Rn. 5; Otto, AT, 9/98. 352 Vgl. etwa SK/Rudolphi, vor § 13 Rn. 15.

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a) Vermeidbarkeitstheorie und Kritik Die Rechtsprechung und mit ihr die herrschende Meinung in der Literatur bejahen die Kausalität der Unterlassung auf Grundlage einer hypothetischen Prüfung dann, wenn bei Vornahme der gebotenen Handlung i. S. d. § 13 StGB der tatbestandliche Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden worden wäre.353 Die Formulierung der „an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit“ stellt hierbei keine Abweichung von dem allgemein in der strafgerichtlichen Beweisaufnahme erforderlichen Beweismaß nach oben oder nach unten dar.354 Sie ist lediglich dem hypothetischen Charakter der Kausalitätsfeststellung geschuldet und bildet nichts weiter ab als das generelle Erfordernis der richterlichen Überzeugung.355 Gelangt das Gericht im Rahmen seiner Beweisführung nicht zur Überzeugung von der hypothetischen Erfolgsvermeidung, so scheidet nach dem Zweifelsgrundsatz356 mangels Kausalität der Unterlassung eine Bestrafung wegen vollendeten Delikts, im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte eine Bestrafung überhaupt aus.357 Da die Lösung der Rechtsprechung die tatrichterliche Überzeugung von der hypothetischen Vermeidbarkeit des Erfolgs voraussetzt, firmiert sie unter dem Begriff der Vermeidbarkeitstheorie. Als zentrales Argument gegen die Vermeidbarkeitstheorie wird auf kriminalpolitischer Ebene von Stratenwerth vorgebracht, sie entbinde den Normadressaten von seinem Handlungsgebot, wenn der Rettungsversuch nicht mit Sicherheit gelingen würde.358 Inakzeptable Konsequenz dieser Lösung sei, dass „die strafrechtliche Haftung umso eher ausgeschlossen ist, je größer die Gefahr war, in der sich das bedrohte Rechtsgut ohnehin befunden hat“ 359. Nach Puppe ist die Vermeidbarkeitstheorie darüber hinaus bei nicht vollständig determinierten Prozessen als Grundlage der Erfolgszurechnung ungeeignet, da hier eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit nie nachzuweisen sei und damit eine Erfolgszurechnung pauschal ausscheide.360 Otto schließlich argumentiert, die Vermeidbar353 Aus der Rechtsprechung etwa RGSt 73, 372 (374); BGHSt 6, 1 (2); 14, 282 (284); 37, 106 (126); 48, 77 (93); 52, 159 (164); BGH NJW 2010, 1087 (1091 Rn. 67); aus dem Schrifttum S/S/Stree/Bosch, § 13 Rn. 61; LK/Weigend, § 13 Rn. 72; Jescheck/ Weigend, AT, 59 III 4; Schroth (2010b), 144 Fn. 70; ders. (1998), 96. 354 So etwa der BGH im Lederspray-Fall, BGHSt 37, 106 (127). Kritik an dieser „Floskel“ übt Gimbernat, ZStW 111, 307 (321 f.). Die Frage der hypothetischen Erfolgsvermeidung könne man nicht mit einem eindeutigen „Ja“ beantworten. 355 So bereits RGSt 73, 372 (374); neuerdings im Eissporthallen-Urteil BGH NJW 2010, 1087 (1091 Rn. 67); ebenso LK/Weigend, § 13 Rn. 72; Jescheck/Weigend, AT, 59 III 4. 356 Vgl. etwa BGH NJW 2010, 1087 (1091 Rn. 63). 357 Hierzu Otto, AT, 9/100; vgl. auch Schroth (2010b), 144 Fn. 70. 358 Vgl. Stratenwerth, FS Gallas, 227 (239). 359 Stratenwerth/Kuhlen, AT, 8/36. 360 So insb. Puppe, GA 2010, 551 (565); zur analogen Kritik im Bereich des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs bei den Begehungsdelikten vgl. etwa Stratenwerth, FS Gallas, 227 (233 ff.).

II. Die Erfolgszurechnung im Bereich der Unterlassungsdelikte

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keitstheorie führe im Fahrlässigkeitsbereich zu Wertungswidersprüchen zwischen der Erfolgszurechnung bei den Begehungs- und Unterlassungsdelikten. Während die nachweisbare aktive Erhöhung eines bereits existierenden Risikos den „Erfolg in seiner konkreten Gestalt“ beeinflusse und damit eine Zurechnung ermögliche, bleibe im Unterlassungsbereich ein hypothetisch risikominderndes Verhalten unberücksichtigt. Dies sei unrichtig, da bei Einbezug des zum Erfolg führenden Kausalverlaufs in den tatbestandlichen Erfolg ein in seiner Eintrittswahrscheinlichkeit etwa um 90% verringerter Erfolg ein anderer sei als derjenige, der ohne diese Risikoverringerung eintrat. Wer dies bestreite, wende für die Bestimmung des „Erfolgs in seiner konkreten Gestalt“ im Bereich der Begehungs- und Unterlassungsstrafbarkeit unterschiedliche Kriterien an und setze so in sachfremder Weise unterschiedliche Haftungsrahmen fest.361 b) Risikoverminderungslehre und Kritik Eine in der Literatur vertretene Mindermeinung lässt es aufgrund der genannten Kritikpunkte für die Feststellung der Kausalität der Unterlassung genügen, dass die gebotene Handlung das Risiko des Erfolgseintritts vermindert hätte.362 Den Versuch einer dogmatischen Begründung der Risikoverminderungslehre unternimmt Rudolphi. Er geht in seiner Argumentation von einer aus dem Erfordernis eines umfassenden Rechtsgüterschutzes abgeleiteten Pflicht des Garanten aus, jede Rettungschance wahrzunehmen. Durch die gebotene Risikominderung wäre der nachfolgende Kausalverlauf weniger gefährlich und damit ein anderer geworden. Damit sei die Kausalität zwischen der hypothetischen Gefahrminderung und dem Erfolgseintritt als Realisierung der pflichtwidrig nicht verringerten und damit rechtswidrigen Gefahr gegeben.363 Die Risikoverminderungslehre baut in der Sache auf den Zurechnungsstrukturen der im Bereich der Begehungsstrafbarkeit maßgeblich von Roxin364 entwickelten Risikoerhöhungslehre auf. Nach der Risikoerhöhungslehre ist der Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen Sorgfaltspflichtverletzung und Erfolgseintritt auch dann gegeben und somit der tatbestandliche Erfolg auch dann objektiv zurechenbar, wenn zwar nicht ausgeschlossen werden kann, dass ohne das – unbestritten kausale – Handeln des Täters der Erfolg gleichwohl eingetreten wäre, dieses Handeln jedoch das Risiko des Erfolgseintritts erhöht hat.365

361

Vgl. zum Ganzen Otto, AT, 9/100 f. Stratenwerth/Kuhlen, AT, 13/52 ff.; Otto, AT, 9/98 ff.; SK/Rudolphi, vor § 13 Rn. 16 ff.; zurückhaltender in der Folgeauflage SK/Rudolphi/Stein, vor § 13 Rn. 32. 363 Vgl. SK/Rudolphi, vor § 13 Rn. 16 ff. 364 Grundlegend Roxin, ZStW 74, 411. 365 Vertreter der Risikoerhöhungslehre – zum Teil in weiter ausdifferenzierten Formen – sind etwa Schünemann, StV 1985, 229 (230 f.); Jescheck/Weigend, AT, 55 II 2 b 362

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

Da die Risikoerhöhungslehre im Bereich der Begehungsdelikte und die Risikoverminderungslehre im Bereich der Unterlassungsdelikte auf dem gleichen risikobewertenden Ansatz aufbauen366, verlaufen auch die Argumentationsstränge teilweise parallel.367 Zum einen bedienen sich die Anhänger der Risikoverminderungslehre ganz ähnlicher Argumente, wie sie schon für die Bestimmung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs durch Anwendung der Risikoerhöhungslehre vorgebracht wurden. Die von Stratenwerth angemahnte Gefahr einer Preisgabe von Rechtsgütern gerade dort, wo die Gefahr für das Rechtsgut besonders hoch ist, formuliert schon Roxin im Kontext der Risikoerhöhungslehre.368 Zum anderen sieht sich die Risikoverminderungslehre ganz ähnlichen Argumenten ausgesetzt, wie sie schon gegen die Risikoerhöhungslehre vorgebracht wurden. Bereits die Diskussion im Rahmen der Begehungsdelikte wurde geprägt durch den Kritikpunkt, die Risikoerhöhungslehre verzichte auf die Realisierung der Pflichtverletzung im tatbestandlichen Erfolg, konstruiere so eine systemwidrige Gefährdungshaftung und verstoße gegen den Zweifelsgrundsatz.369 Analog wird gegen die Risikoverminderungslehre eingewendet, sie bewirke eine Umdeutung von Verletzungsdelikten in Gefährdungsdelikte mit objektiver Strafbarkeitsbedingung, indem sie auf das Erfordernis eines Kausalzusammenhangs zwischen Unterlassung und Erfolg verzichte und für die Feststellung der Unterlassungskausalität einen Zusammenhang zwischen Unterlassung und Verringerung des Erfolgseintrittsrisikos genügen lasse.370 Verbleibende Zweifel an der Kausalität der Unterlassung würden gegen den Unterlassenden verwendet und so ein Verstoß gegen den Zweifelsgrundsatz begründet.371 Während nun einige Autoren der risikoorientierten Betrachtung bei der Feststellung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs und der Unterlassungskausalität gleichermaßen eine Absage erteilen372, versagen andere der Risikovermindeaa; Lackner/Kühl, § 15 Rn. 44; Stratenwerth/Kuhlen, AT, 8/36 f.; Gimbernat, ZStW 111, 307 (316, 319 f.). 366 Vgl. zur sachlichen Fundierung der Risikoverminderungslehre in den Grundsätzen der Risikoerhöhungslehre Schünemann, StV 1985, 229 (230). 367 Greco, ZIS 2011, 674 (675) formuliert: „Hier stehen sich [. . .] zwei Parteien gegenüber, die sich bereits bei der Frage des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs beim Begehungsdelikt begegneten.“ 368 Vgl. Roxin, ZStW 74, 411 (422) sowie ders., AT I, 11/91. 369 Vgl. SK/Samson, Anh. zu § 16 Rn. 26–27a; Jakobs, AT, 7/99–103. 370 Vgl. NK/Wohlers, § 13 Rn. 15; Jakobs, AT, 29/20; Schünemann, StV 1985, 229 (233); LK/Walter, vor § 13 Rn. 86; kritisch auch S/S/Stree/Bosch, § 13 Rn. 63; MüKo/ Freund, § 13 Rn. 223; Gimbernat, ZStW 111, 307 (323). 371 Schünemann, StV 1985, 229 (232); Jakobs, AT, 29/20; NK/Wohlers, § 13 Rn. 15; LK/Weigend, § 13 Rn. 72; Gimbernat, ZStW 111, 307 (323); weitere Nachweise bei Greco, ZIS 2011, 674 (678 Fn. 44). 372 Jakobs, AT, 29/20; MüKo/Freund, § 13 Rn. 223; Maiwald, FS Küper, 329 (344 f.).

II. Die Erfolgszurechnung im Bereich der Unterlassungsdelikte

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rungslehre die Gefolgschaft, obwohl die Risikoerhöhungslehre noch als dem Zurechnungskonzept der Rechtsprechung vorzugswürdig angesehen wurde373. Getragen wird diese ablehnende Haltung von einem Argument, das sich spezifisch gegen die Risikobetrachtung im Bereich der Unterlassungszurechnung richtet und auf einer unterschiedlichen dogmatischen Verortung des Risikoerhöhungsgedankens bei Begehungs- und Unterlassungszurechnung fußt. Während bei den Begehungsdelikten der Risikoerhöhungsgedanke bei feststehender Kausalität im Rahmen des normativ zurechnungskorrigierenden Zusammenhangs zwischen Pflichtverletzung und Erfolgseintritt (Pflichtwidrigkeitszusammenhang) relevant werde, werde er im Bereich der Unterlassungsdelikte bereits bei der vorgeschalteten, zurechnungsbegründenden Kausalitätsprüfung instrumentalisiert. Im Bereich der Unterlassungsdelikte verzichte die Risikoerhöhungstheorie auf einen Kausalzusammenhang, ersetze die Quasikausalität durch die unterlassene Risikominderung und wirke so gegenüber der Kausalhaftung strafbarkeitsausdehnend, während sie bei den Begehungsdelikten neben die Kausalitätsfeststellung trete und so strafbarkeitseinschränkend wirke.374 Aufgrund dieser Überlegungen stellt etwa Schünemann einen Verstoß der Risikoverminderungslehre gegen den Zweifelsgrundsatz und das Analogieverbot aus Art. 103 II GG fest375, dem man nach seiner Überzeugung im Bereich der Begehungsdelikte noch durch eine normative Reformulierung der Risikoerhöhungslehre zu entgehen vermag.376 c) Weiterentwicklungen der Risikoverminderungslehre Neben der Vermeidbarkeitstheorie und der Risikoverminderungslehre gibt es noch eine Reihe von Zwischenlösungen bei Zweifeln über die hypothetische Erfolgsvermeidung im Bereich der Unterlassungszurechnung, die hier nicht umfassend thematisiert werden können.377 Vorgestellt werden sollen drei Konzepte, die für die weitere Untersuchung von besonderem Interesse sind. Im vorliegenden Kontext besonders relevant sind diese Konzepte, weil ihre jeweiligen Urheber zu der Konstellation drittvermittelter Rettungsgeschehen ein Zurechnungskonzept vorgelegt haben, das auf ihren Überlegungen zur Unterlassungszurechnung ba-

373 So Schünemann, StV 1985, 229 (232 ff.); Lackner/Kühl, vor § 13 Rn. 14a; Jescheck/Weigend, AT, 59 III 4; Gimbernat, ZStW 111, 307 (323). Auch Roxin, AT II, 31/ 46 ff. wendet sich gegen eine unbesehene Anwendung der von ihm begründeten Risikoerhöhungslehre auf die Feststellung der Unterlassungskausalität. 374 Vgl. Schünemann, StV 1985, 229 (232); ders., GA 1985, 341 (357 f.); ders., JA 1975, 647 (655); ebenso etwa Kuhlen, NStZ 1990, 566 (569 Fn. 61); vgl. auch Jescheck/Weigend, AT, 59 III 4. 375 Schünemann, StV 1985, 229 (232). 376 Vgl. hierzu grundlegend Schünemann, JA 1975, 647 (651 ff.). 377 Ausführlicher Nachweis bei Greco, ZIS 2011, 674 (675 Fn. 9).

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

siert, oder weil ihre Ansätze im Verlauf der Arbeit zur Entwicklung eines eigenen Lösungskonzepts herangezogen werden. Die Konzepte von Gimbernat, Roxin und Greco werden hierbei als Weiterentwicklungen der Risikoverminderungslehre kategorisiert. Während diese Zuordnung bei Greco noch unproblematisch ist378, siedelt Roxin seine Lösung zwischen Vermeidbarkeitstheorie und Risikoverminderungslehre an379, Gimbernat distanziert sich sogar deutlich von Letzterer380. Auch wenn Zuordnungen wie die hier vorgenommene der Vielschichtigkeit der Lösungen nicht immer vollständig gerecht werden, so lassen sich alle drei Konzepte doch als konstruktive Reaktionen auf die gegen die Risikoverminderungslehre geäußerte Kritik begreifen.381 aa) Destabilisierung eines Gefahrenherdes (Gimbernat) Gimbernat verwirft zum einen die Vermeidbarkeitstheorie. Zunächst sei nicht einzusehen, warum sich die herrschende Meinung bei der Unterlassungszurechnung mit Wahrscheinlichkeiten begnüge, wo sie bei den Erfolgsdelikten absolute Sicherheit fordere. Darüber hinaus könne eine hypothetische Betrachtung selbst dieses abgesenkte Maß an Gewissheit nicht gewährleisten. Jedoch sei auch die Risikoverminderungslehre zur materiellen Ausgestaltung der Unterlassungszurechnung ungeeignet, da sie gegen den Zweifelsgrundsatz verstoße und eine systemfremde Kategorie von Gefährdungsdelikten schaffe. In der Sache seien beide Lösungen aufgrund der „laxen“ Handhabung des Kriteriums der „an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit“ durch die Rechtsprechung nicht weit voneinander entfernt.382 Ausgehend von einem Vergleich mit der Erfolgszurechnung bei den fahrlässigen Begehungsdelikten entwickelt Gimbernat nun seine eigene Lösung. Prägend für seine ausdrücklich auf Roxins Risikoerhöhungslehre aufbauende Lösung im Bereich der fahrlässigen Begehungsdelikte ist eine Betrachtung des „Kausalzusammenhangs“ in zwei Phasen. Schlage ein zunächst erlaubtes Risiko aufgrund der Verletzung einer Sorgfaltspflicht in ein unerlaubtes Risiko um383, so sei es 378 Grecos Konzept baut ausdrücklich auf der Risikoverminderungslehre auf, vgl. Greco, ZIS 2011, 674 (681). 379 Vgl. Roxin, AT II, 31/54 ff.; wie hier den Ansatz Roxins der Risikoverminderungslehre zuordnend Greco, ZIS 2011, 674 (680 Fn. 56). 380 Gimbernat, ZStW 111, 307 (323). 381 Aus einem ganz ähnlichen konstruktiven Prozess sind im Bereich der Begehungsdelikte Präzisierungen und Korrekturen der Risikoerhöhungslehre hervorgegangen, die diese heute als der Lösung der Rechtsprechung an Zahl und Bedeutung ihrer Vertreter ebenbürtig erscheinen lassen. Zur Bedeutung dieser Diskussion als „Musterexerzierfeld von juristisch-dogmatischer Forschung und Lehre“ bereits Schünemann, JA 1975, 647 (654). 382 Vgl. zum Ganzen Gimbernat, ZStW 111, 307 (321 f.). 383 In der Terminologie Gimbernats: Destabilisierung eines Gefahrenherdes.

II. Die Erfolgszurechnung im Bereich der Unterlassungsdelikte

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ebenso unmöglich wie unsachgemäß, genau zu bestimmen, ob der eingetretene tatbestandliche Erfolg Resultat des erlaubten Risikos oder der Sorgfaltspflichtverletzung sei. Man dürfe das verwirklichte Risiko nicht in einen erlaubten und einen unerlaubten Teil aufspalten und hinsichtlich der Gefahrverwirklichung getrennt betrachten.384 Vielmehr setze die Erfolgszurechnung lediglich voraus, dass (1) der Erfolg mit Sicherheit durch einen Gefahrenherd verursacht worden ist, der (2) sich mit Sicherheit aufgrund einer fahrlässigen Handlung von einem erlaubten in einen unerlaubten verwandelt hat.385

Da eine Überschreitung des erlaubten Risikos durch Unterlassen ebenso möglich sei wie durch aktives Tun, und der Gesetzgeber dem Garanten i. S. v. § 13 StGB die normative Pflicht auferlegt habe, eine solche Überschreitung zu verhindern, sei die Destabilisierung eines Gefahrenherds durch aktives Tun und durch Unterlassen funktional gleichwertig. Die Erfolgszurechnung im Bereich der fahrlässigen Unterlassungsdelikte setze daher analog zum Ergebnis bei den fahrlässigen Begehungsdelikten voraus, dass (1) der Erfolg mit Sicherheit durch einen unerlaubten Gefahrenherd verursacht worden ist, der (2) sich mit Sicherheit aufgrund der Unterlassung von einem erlaubten in einen unerlaubten verwandelt hat.386

Punkt (2) setzt hierbei die sichere Feststellung voraus, dass bei gebotenem Handeln der Gefahrenherd die Grenzen des erlaubten Risikos nicht überschritten hätte. Nach dem Konzept Gimbernats muss also aus dem tatsächlich durch die tatbestandliche Unterlassung geschaffenen unerlaubten Risiko der tatbestandliche Erfolg hervorgegangen sein. Tatsächlich durch die Unterlassung geschaffen sei das Risiko, wenn es prinzipiell vom Täter beeinflussbar und bis auf das Maß eines erlaubten Risikos reduzierbar gewesen sei. Sei auf dieser Grundlage aus dem unerlaubten Risiko ein tatbestandlicher Erfolg hervorgegangen, so bleibe die Möglichkeit, dass der Erfolg möglicherweise ungeachtet der risikoverringernden Maßnahme eingetreten wäre, unbeachtlich. Gänzlich kann auch Gimbernat nicht auf eine hypothetische Betrachtung verzichten. Gegenüber der Vermeidbarkeitstheorie, die ihre hypothetische Betrachtung auf den gesamten Kausalverlauf von der tatbestandlichen Unterlassung bis zum Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs erstreckt, schränkt er jedoch die hypothetische Betrachtung ein: Sie erstreckt sich bei ihm nur noch auf den Zusammenhang zwischen der tatbestandlichen Unterlassung und der Schaffung eines unerlaubten Risikos. Wo die Vermeidbarkeitstheorie hypothetische Erfolgsver384 385 386

Gimbernat, ZStW 111, 307 (318 f.) unter Verweis auf Roxin, AT I, 11/90. Gimbernat, ZStW 111, 307 (324). Gimbernat, ZStW 111, 307 (326).

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

meidung fordert, lässt Gimbernat für die Zurechnung des Erfolgs eine hypothetische Reduzierung des Risikos auf ein erlaubtes Maß genügen. Lässt sich diese hypothetische Risikoreduzierung nachweisen, so hindert eine denkbare Unzulänglichkeit der hypothetischen Rettungshandlung zur Vermeidung des Erfolgs die Zurechnung nicht, wenn aus dem die Zurechnung vermittelnden Gefahrenherd der tatbestandliche Erfolg hervorgeht. bb) Nachweisbar risikovermindernde Modifizierung des Kausalverlaufs (Roxin) „Im Ergebnis und zum guten Teil auch in der Begründung“ 387 entspricht Roxins Lösung dem Ansatz Gimbernats. Entscheidendes Kriterium für die Lösung der Zurechnungsfrage bei Zweifeln über die hypothetische Erfolgsvermeidung ist nach Roxin die positive Nachweisbarkeit der hypothetischen Risikominderung ex post.388 Der tatbestandliche Erfolg sei dem Unterlassungstäter zurechenbar, wenn die gebotene Handlung das Risiko des Erfolgseintritts nachweisbar reduziert hätte. Denn sei nicht nachweisbar, ob das gebotene Verhalten den Kausalverlauf überhaupt beeinflusst, das Opfer überhaupt erreicht hätte, so liefe eine Zurechnung unter Missachtung des gesetzlich etwa in § 222 StGB verankerten Kausalitätserfordernisses auf eine systemfremde Umdeutung der Verletzungsdelikte und einen Verstoß gegen den Zweifelsgrundsatz hinaus.389 Bei ex post nachweisbarer hypothetischer Risikominderung hingegen wäre der Kausalverlauf durch die gebotene Handlung beeinflusst gewesen, die Kausalität der Unterlassung sei daher in diesem Fall nicht zweifelhaft, der Erfolg ohne Weiteres zurechenbar. Die verbleibende Möglichkeit des Erfolgseintritts sei ein erlaubtes Restrisiko, das die Zurechnung des real verwirklichten unerlaubten Risikos nicht ausschließen könne.390 Als Basis der Erfolgszurechnung stellt Roxin also auf eine risikoverringernde Modifizierung des Kausalverlaufs ab. Eine ganz ähnliche Konstruktion findet sich auch bei Rudolphi. Werde „der ursprüngliche das Rechtsgut bedrohende Kausalprozeß durch Ausschaltung bestimmter – wenn auch nicht aller – seine Gefährlichkeit begründender Umstände so modifiziert, daß er jetzt weniger gefährlich und damit nicht mehr der gleiche“ sei, so heißt es bei Rudolphi, dann sei „die Kausalität zwischen der gebotenen Gefahrminderung und dem konkreten Erfolgseintritt gegeben“.391 387

Roxin, GA 2009, 73 (77). Roxin, AT II, 31/54. 389 Roxin, AT II, 31/59 f. 390 Roxin, AT II, 31/55. 391 SK/Rudolphi, vor § 13 Rn. 16a. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Otto, AT, 9/ 101, der für die Kausalitätsprüfung wie im Bereich der Begehungsdelikte auf den Er388

II. Die Erfolgszurechnung im Bereich der Unterlassungsdelikte

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Nach dem Verständnis Roxins stehen Vermeidbarkeitstheorie und Risikoverminderungslehre nicht in einem Ausschluss-, sondern in einem Ergänzungsverhältnis. Die Erkenntnis, dass die Nachweisbarkeit der hypothetischen Risikominderung für die Erfolgszurechnung notwendig ist, sei ein Verdienst der Vermeidbarkeitstheorie. Die Erkenntnis, dass sie für die Erfolgszurechnung auch hinreichend ist, sei der Risikoverminderungslehre zu verdanken.392 cc) Zurechnungsbegrenzende Risikoverminderungslehre (Greco) In einem neueren Aufsatz skizziert Greco393 eine Variante der Risikoverminderungslehre, die als Reaktion auf den gängigen Kritikpunkt der „Kausalitätsersetzung“ durch den Risikoverminderungsgedanken gesehen werden und daher als zurechnungsbegrenzende Risikoverminderungslehre bezeichnet werden kann. Greco stellt zunächst die kriminalpolitische Sachrichtigkeit der Risikoverminderungslehre fest, da im Bereich der fast ausschließlich als Erfolgsdelikte konzipierten Fahrlässigkeitsdelikte die Vermeidbarkeitstheorie etwa bei Unterlassungen im Rahmen medizinischer Heilbehandlungen oft einer Straffreistellung gleichkomme. Ihre dogmatische Begründung leitet er aus einer Überlegung zur Funktion des Erfolgsunrechts im Unrechtsbegriff her. Der Erfolgseintritt legitimiere die strafgesetzliche Sanktion. Trete er völlig unabhängig von der tatbestandlichen Unterlassung ein, so sei eine Bestrafung des Täters nicht legitimierbar. Hätte jedoch die gebotene Handlung die Rettungschancen für das bedrohte Rechtsgut verbessert, und trete der tatbestandliche Erfolg ein, so zeige sich, dass die Rechtsordnung gute Gründe hatte, das tatbestandliche Handeln zu verbieten. Schon in Fällen der hypothetischen Risikoverminderung des gebotenen Handelns könne daher der tatbestandliche Erfolg seine sanktionslegitimierende Wirkung entfalten.394 Die Gegenargumente der Umdeutung von Erfolgsdelikten in Gefährdungsdelikte sowie des Verstoßes gegen den Zweifelsgrundsatz weist Greco als zirkelhaft zurück. Ob die Vermeidbarkeit des Erfolgs zur Struktur der Verletzungsdelikte gehöre, sei gerade die Streitfrage, die Kritik an der Risikoverminderungslehre, sie verzichte auf das Kriterium der Vermeidbarkeit, greife damit als petitio principii nicht durch.395 Einen Verstoß gegen den Zweifelsgrundsatz könne ebenfalls

folg in seiner konkreten Gestalt abstellen und in diese Betrachtung den Kausalverlauf als Teil des Erfolgs in seiner konkreten Gestalt integrieren will. 392 Roxin, AT II, 31/61. 393 Greco, ZIS 2011, 674 (680 f.). 394 Vgl. zum Ganzen Greco, ZIS 2011, 674 (678). 395 Greco, ZIS 2011, 674 (678); vgl. zu diesem Gegenargument im Rahmen der Diskussion um die Risikoerhöhungslehre bereits Schünemann, JA 1975, 647 (653); ders., StV 1985, 229 (230).

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

nur rügen, wer von der Vermeidbarkeit des Erfolgs als im Prozess zu beweisende Tatsache ausgehe. Letzterer Zirkelschluss basiere zudem auf einer falschen Anwendung des Zweifelsgrundsatzes. Dieser sei prozessrechtlicher Natur und könne zur Beantwortung materiell-rechtlicher Fragen wie der vorliegenden nicht herangezogen werden.396 Ernst zu nehmen ist nach Greco jedoch die Kritik, die der Risikoverminderungslehre aus dem Lager der Befürworter der Risikoerhöhungslehre entgegenschlägt.397 Um dem gängigen Einwand zu begegnen, bei einer Anwendung des Risikoerhöhungsgedankens im Unterlassungsbereich würden Kausalität und objektive Zurechnung vermengt, wodurch die Risikoverminderungslehre faktisch kausalitätsersetzend wirke, versucht Greco Kausalitätsprüfung und objektive Zurechnung zu trennen, indem er im Rahmen der Kausalitätsprüfung auf den Erfolg in seiner konkreten Gestalt abstellt. Da dieser Versuch mit dem Argument kritisiert wurde, durch ein solches Vorgehen könne man willkürlich Kausalitäten konstruieren398, überträgt Greco ein Konzept von Erb399 auf die Feststellung der Unterlassungskausalität und lässt nur genaue Orts- und Zeitangaben für die Konkretisierung des Erfolgs zu.400 Kausalität sei demnach schon dann zu bejahen, wenn bei gebotenem Handeln der Erfolg nicht zu dem konkreten Zeitpunkt an dem konkreten Ort eingetreten wäre. Als zusätzlicher Risikofilter fungiere dann auf Zurechnungsebene die Risikoverminderungslehre. Nach diesem Konzept vollzieht sich die Unterlassungszurechnung in zwei Stufen: 1. Kausalität der Unterlassung: Wäre bei pflichtgemäßem Handeln der Erfolg zum Zeitpunkt x am Ort y ausgeblieben? 2. Objektive Zurechenbarkeit des Erfolgs: Hätte das pflichtgemäße Handeln des Täters das Risiko des Erfolgseintritts verringert?

So konstruiert Greco eine Variante der Risikoverminderungslehre, die wie die Risikoerhöhungslehre im Bereich aktiven Tuns zurechnungsbegrenzend wirkt. Greco bejaht die Kausalität der Unterlassung in allen Fällen, in denen das gebotene Handeln den Erfolgseintritt zum konkreten Zeitpunkt am konkreten Ort verhindert hätte – mit anderen Worten immer dann, wenn die gebotene Rettungshandlung das Opfer in seiner bedrohten Lage erreicht hätte. Unsicherheiten darüber, ob die gebotene Handlung das Opfer überhaupt erreicht hätte, lassen den Kausalzusammenhang entfallen, solche, die die Eignung der Rettungshandlung 396

Vgl. zum Ganzen Greco, ZIS 2011, 674 (678 f.). Greco, ZIS 2011, 674 (679); hierzu bereits oben S. 116. 398 Vgl. hierzu etwa Puppe, ZStW 92, 863 (872 ff.) in der Diskussion im Bereich der Begehungsdelikte, die sich nicht nur gegen die Figur des „Erfolgs in seiner konkreten Gestalt“ selbst, sondern auch gegen jeden Versuch der weiteren Präzisierung dieser Figur wendet; vgl. auch dies., GA 2010, 551 (558 f.). 399 Vgl. Erb, JuS 1994, 449 (452), der seine Kriterien zur Erfolgskonkretisierung im Rahmen der Begehungsdelikte entwickelt. 400 Greco, ZIS 2011, 674 (680). 397

II. Die Erfolgszurechnung im Bereich der Unterlassungsdelikte

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nach Erreichen des Opfers infrage stellen, lassen den Kausalzusammenhang – sofern ihnen risikoverringernde Wirkung zukommt – nicht entfallen. Dies soll an einem einfachen Beispiel demonstriert werden: Der Vater eines beim Spielen am Flussufer ins Wasser gefallenen und in Stromschnellen geratenen Kindes versäumt es, dieses durch Zuwerfen eines Rettungsrings vor dem Tod durch Ertrinken zu bewahren.

Hätte nun der Ring das Kind erreicht, wäre jedoch das Kind möglicherweise trotz des Rettungsrings kurz darauf den Stromschnellen zum Opfer gefallen, so ist nach dem Konzept Grecos der Erfolg zurechenbar. Der Ring hätte das Kind erreicht und damit seinen Tod zum Zeitpunkt x auf einer bestimmten Höhe des Flusslaufs verhindert (Kausalität), darüber hinaus hätte er das Todesrisiko reduziert (objektive Zurechnung). Ist hingegen bereits unklar, ob der Ring das Kind überhaupt erreicht hätte, so ist die Kausalität der Unterlassung zu verneinen. dd) Systematisierung Die drei vorgestellten Konzepte basieren auf der gleichen rechtstechnischen Umsetzung des Risikoverminderungsgedankens, nur in ihrer dogmatischen Umsetzung unterscheiden sie sich. Gimbernat, Roxin und Greco gründen ihre Zurechnungskonzepte auf zwei Voraussetzungen. Die Zurechnung ist zu bejahen, wenn die gebotene Rettungshandlung nachweisbar das bedrohte Opfer erreicht und das Risiko des Erfolgseintritts verringert hätte. Rechtstechnisch umgesetzt werden diese Prämissen durch eine Begrenzung der hypothetischen Betrachtung auf das erste „Zurechnungsstadium“ – den Zusammenhang zwischen hypothetischer Handlung und Risikoverringerung. In ihren dogmatischen Ansätzen unterscheiden sich die Lösungen. Greco isoliert die Kausalitätsprüfung durch Abstellen auf den Erfolg in seiner konkreten Gestalt und begegnet so dem Vorwurf der Kausalitätsersetzung. Roxin lässt eine gefahrmindernde Modifizierung des Kausalverlaufs für die Bejahung der Kausalität genügen. Gimbernat greift auf eine Konstruktion der Zurechnungsvermittlung durch den unerlaubt begründeten Gefahrenherd zurück. Alle drei Konzepte erweitern einerseits die Zurechnung gegenüber der Vermeidbarkeitstheorie, da sie die mögliche Unzulänglichkeit einer hypothetischen, gefahrvermindernden Rettungsbemühung nicht dem Täter zugutekommen lassen. Alle drei Konzepte schränken andererseits die Zurechnung gegenüber der Risikoverminderungslehre ein, indem sie fordern, dass sich die gebotene Handlung nachweisbar risikomindernd ausgewirkt hätte. d) Stellungnahme Wird im Folgenden zur Diskussion der Unterlassungszurechnung bei Zweifeln über die hypothetische Erfolgsvermeidung Stellung genommen, so wird hier-

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

durch gleichzeitig der argumentative Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen sich die Lösung der Zurechnungsproblematik bei drittvermittelten Rettungsgeschehen bewegen wird. aa) Die Ausgangssituation Überprüft man die Kritik an der Vermeidbarkeitstheorie auf ihre Stichhaltigkeit, so ist zunächst das von Stratenwerth vorgebrachte Argument401 zu entkräften, sie entbinde den Normadressaten von seinem Handlungsgebot, wenn der Rettungsversuch nicht mit Sicherheit gelingen würde. Denn wie Frisch402 und Greco403 richtig feststellen, beziehen sich Vermeidbarkeitstheorie und Risikoverminderungslehre als Zurechnungslehren auf den Erfolgsunwert und ziehen bei Verneinung des Zurechnungszusammenhangs den Handlungsunwert nicht in Zweifel – was sich schon an der verbleibenden Möglichkeit der Versuchsstrafbarkeit bei Vorsatzdelikten zeigt. Daher ist aus normtheoretischen Gründen der Einwand Stratenwerths für die Frage der Erfolgszurechnung irrelevant. Wenn Otto kritisiert404, die Vermeidbarkeitstheorie führe im Fahrlässigkeitsbereich zu Wertungswidersprüchen zwischen der Erfolgszurechnung bei den Begehungs- und Unterlassungsdelikten, so ist ihm zu entgegnen, dass sich die Unterlassungszurechnung aufgrund ihrer fehlenden ontologischen Basis strukturell von der Zurechnung im Bereich der Begehungsdelikte unterscheidet.405 Aus diesem Grund begründen die Berücksichtigung einer sich im tatbestandlichen Erfolg nachweisbar realisierenden Risikoerhöhung einerseits, die Nichtberücksichtigung einer potenziellen Risikoverminderung andererseits nicht per se einen Wertungswiderspruch. Puppe406 spricht der Vermeidbarkeitstheorie ihre Eignung als Grundlage der Erfolgszurechnung bei nicht vollständig determinierten Prozessen ab und streift damit den nach der hier vertretenen Ansicht zentralen Kritikpunkt an der Vermeidbarkeitstheorie. In Teilbereichen der strafgerichtlichen Praxis treten Zurechnungsprobleme in struktureller Form auf. Die Eignung des Kriteriums der hypothetischen Erfolgsvermeidung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird zum einen zweifelhaft in Fällen, in denen die Komplexität des zum Erfolg führenden Kausalverlaufs die Konstruktion des hypothetischen Geschehens erschwert. Seine Eignung ist zum anderen dann Bedenken ausgesetzt, wenn sich – etwa bei der 401 402 403 404 405 406

Vgl. oben S. 114. Frisch (1988), 540 f. Greco, ZIS 2011, 674 (676). Vgl. oben S. 114. Vgl. hierzu bereits oben S. 112. Vgl. oben S. 114.

II. Die Erfolgszurechnung im Bereich der Unterlassungsdelikte

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Beurteilung hypothetischen Verhaltens Dritter innerhalb der Kausalhypothese – die Konstruktion des hypothetischen Vermeidungsgeschehens zusehends von ihren empirischen Grundlagen entfernt.407 In diesen Fällen entsteht ein kriminalpolitisches Bedürfnis nach alternativen Zurechnungsmodalitäten, die wiederum einen Konflikt mit den dogmatischen Strukturen des Strafrechtssystems heraufbeschwören. Die Risikoverminderungslehre als Reaktion auf das angesprochene kriminalpolitische Bedürfnis stellt die namensgebende Prämisse der Vermeidbarkeitstheorie infrage, die hypothetische Vermeidbarkeit des Erfolgs gehöre zum Wesen der Unterlassungszurechnung. Ihre kriminalpolitische Sinnhaftigkeit steht nach der hier vertretenen Auffassung in den angesprochenen Konstellationen außer Frage. Ebenso klar ist jedoch, dass alleine ein kriminalpolitisches Regelungsbedürfnis kein Zurechnungskonzept legitimieren kann. Es gilt vielmehr, ein solches Konzept an den zwingenden strafgesetzlichen und grundgesetzlichen Vorgaben auszurichten. Dies erfordert eine Einpassung in die strafrechtliche Dogmatik und eine normative Begründung. Beides gelang den Vertretern der Risikoerhöhungslehre im Bereich der Begehungsdelikte in einem lange währenden Entwicklungsprozess.408 Für die Risikoverminderungslehre im Bereich der Unterlassungsdelikte befindet sich dieser Entwicklungsprozess noch in einem Frühstadium.409 Problematisch ist hier, dass das Fehlen einer streng ontologischen Kausalität dem Risikoerhöhungsgedanken das Fundament einer gesicherten Kausalitätsfeststellung entzieht. Dies führt zu einem Legitimationsdefizit, das von den Gegnern der Risikoverminderungslehre zu Recht moniert wird, das jedoch zu beheben die dargestellten Ansätze von Gimbernat, Roxin und Greco wichtige Schritte unternommen haben. bb) Zu den Ausdifferenzierungen der Risikoverminderungslehre Greco konzipiert durch Ausrichtung der Kausalitätsprüfung auf den Erfolg in seiner konkreten Gestalt eine zurechnungsbegrenzende Variante der Risikoverminderungslehre und versucht so, dem Gegenargument der Kausalitätsersetzung die Grundlage zu entziehen. Ein Vorzug dieser Lösung ist, dass sie einen gewissen Gleichlauf der Zurechnung bei Begehungs- und Unterlassungsdelikten ermöglicht und gleichzeitig die Risikoverminderungslehre durch ein an diesem Gleichlauf orientiertes Kriterium eingrenzt. Ersatzursachen werden durch Abstellen auf den Erfolg in seiner konkreten Gestalt erst auf Ebene der objektiven Zurechnung relevant und dort mit dem Risikoverminderungsgedanken ausgeschieden. 407

Ähnlich zu diesen beiden Punkten bereits Schünemann, StV 1985, 229 (233). Vgl. zum Frühstadium dieses Prozesses ausführlich Schünemann, JA 1975, 647 (648 ff.). 409 So auch Gimbernat, ZStW 111, 307. 408

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

Greco wendet sich damit gegen eine Ansicht, die im Bereich der Unterlassungsdelikte auf den Erfolg in seiner abstrakten, im gesetzlichen Tatbestand formulierten Form abstellen will. Diese Gegenansicht argumentiert, nur die Verwendung eines abstrakten Erfolgsbegriffs verhindere eine ausufernde Unterlassungszurechnung in Fällen, in denen die Gefahrabwendungsmaßnahme selbst mit (geringeren) Risiken behaftet sei.410 Mit Greco will ein Teil der Literatur für die Prüfung der Unterlassungskausalität auf den Erfolg in seiner konkreten Gestalt abstellen, um das Problem des Erfolgseintritts trotz hypothetisch pflichtgemäßen Handelns von der Kausalitätsfeststellung getrennt auf Ebene der objektiven Zurechnung behandeln zu können.411 Die Rechtsprechung beurteilt die Frage uneinheitlich. Während der BGH im „Fenstersturz-Fall“ auf die Verhinderung des Erfolgs in seiner abstrakt-tatbestandlichen Form abstellt412, lässt er im Bereich medizinischer Heilbehandlungen teilweise eine nicht ganz unerhebliche Verzögerung des tatbestandlichen Erfolgs genügen, legt seinen Feststellungen implizit eine konkrete Erfolgsbetrachtung zugrunde413 und nähert sich so mit Rücksicht auf die genannten, kriminalpolitisch widersinnigen, strukturellen Beweisprobleme im Bereich medizinischer Heilbehandlungen im Ergebnis der Risikoverminderungslehre an414. Die Frage, ob man bei der Prüfung der Unterlassungskausalität eine Erfolgskonkretisierung vornehmen oder auf den Erfolg in seiner tatbestandlich-abstrakten Form abstellen sollte, hängt nach der hier vertretenen Ansicht von der Beantwortung einer vorgeschalteten Frage ab: Will man als Grundlage der Unterlassungszurechnung eine der Begehungskausalität entsprechende, ontologische Kausalität der Unterlassung konstruieren, oder gibt man sich mit der Erkenntnis zufrieden, dass eine solche ontologische Kausalität im Unterlassungsbereich

410 So etwa Geilen, JZ 1973, 320 (321 f.). Auch MüKo/Freund, § 13 Rn. 214 ff. trägt dieses Argument vor, Freund favorisiert jedoch eine Lösung auf Zurechnungsebene. Für eine abstrakte Bestimmung des Erfolgs auf Kausalitätsebene spricht sich Gropp, AT, 11/75 aus. 411 So etwa SK/Rudolphi, vor § 13 Rn. 16a; Otto, AT, 9/101. 412 BGH JZ 1973, 173: Ein Familienvater war mit seinen beiden kleinen Kindern im oberen Geschoss eines Wohnhauses von einem Brand eingeschlossen worden und stand vor der Alternative, seine Kinder aus dem Fenster knapp 7 Meter in die Tiefe zu werfen, wo sich drei Männer auffangbereit postiert hatten, oder die Kinder den Flammen zu überlassen. Der BGH stellte nicht darauf ab, ob der Tod der Kinder in den Flammen vermeidbar war, sondern ob der tatbestandliche Erfolg ihres Todes überhaupt vermeidbar war. Vgl. hierzu Geilen, JZ 1973, 320 (321 f.). 413 So etwa im „Peritonitis-Fall“, BGH NStZ 1981, 218 (219): „Bei einem chirurgischen Eingriff an diesem Tag hätte die Patientin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um einen Tag überlebt“; kritisch hierzu Roxin, AT I, 11/101 sowie ders., AT II, 31/49. 414 So bereits Roxin, AT II, 31/49.

II. Die Erfolgszurechnung im Bereich der Unterlassungsdelikte

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nicht feststellbar ist, und stützt die Unterlassungszurechnung von vornherein auf eine normative Grundlage? Den erfolgskonkretisierenden Ansätzen liegt der Versuch zugrunde, die Unterlassungskausalität wie bei der Begehung als ontologische Größe zu begreifen. Beantwortet man die vorgelagerte Frage daher im erstgenannten Sinn, so wird mit der von Greco vorgeschlagenen Konkretisierung des Erfolgs durch Orts- und Zeitangaben in konstruktiv eleganter Weise das Problem der Relevanz hypothetisch risikovermindernder Handlungen auf Ebene der objektiven Zurechnung verortet und so der Vorwurf der „Kausalitätsersetzung“ entkräftet. Wie im Rahmen der Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Unterlassungskausalität bereits ausgeführt, ist die vorgelagerte Frage nach der hier vertretenen Ansicht im letztgenannten Sinn zu beantworten. Es bestehen strukturelle Unterschiede zwischen der Begehungs- und der Unterlassungskausalität, die nicht durch eine erfolgskonkretisierende Kausalitätsprüfung hinwegkonstruiert werden sollten. Begreift man die Unterlassungszurechnung als normativ geprägte, funktionale Zurechnung, die zuvorderst durch ein normatives Handlungsgebot vermittelt wird415, so ist zu fragen, ob der Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs normativ als Resultat der Verletzung dieses Handlungsgebots betrachtet werden kann. Die Frage, ob durch pflichtgemäßes Handeln der Erfolg zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort ausgeblieben wäre, ist dann für die Frage der Erfolgszurechnung irrelevant. Es erscheint dann sachfremd, im ontologische Realitäten entbehrenden Unterlassungsbereich die Kausalität von Unterlassungen wegen Erfolgsvermeidung an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten zu konstruieren, anstatt sich sogleich damit zu befassen, ob das Handlungsgebot des § 13 I StGB im konkreten Fall sinnvoll war, weil eine Bewahrung des Rechtsguts vor Schaden möglich war. Eine Abtrennung der Kausalitätsfrage durch Isolierung des Erfolgs mithilfe von Orts- und Zeitangaben wird der Normgebundenheit der Unterlassungszurechnung nicht gerecht. Hält man die Konstruktion einer ontologischen Kausalität der Unterlassung für zwingend erforderlich, so bietet das Abstellen auf den Erfolg in seiner konkreten Gestalt den Anhängern der Risikoverminderungslehre eine elegante Möglichkeit, dem Vorwurf der Kausalitätsersetzung zu begegnen. Tut man dies nicht, ist diesen Ansätzen mit Schünemann zu entgegnen, dass der Zweck der Rettungspflicht „nicht auf Veränderung der Begleitumstände, sondern auf Verhinderung des Erfolgseintritts zielt“ 416. Lehnt man den Versuch Grecos ab, das Problem nicht als Kausalitätsproblem im engeren Sinne zu fassen und so aus der „Schusslinie“ der Gegner der Risikoverminderungslehre zu nehmen, so steht man noch immer vor dem zentralen Problem, dass eine Unterlassungszurechnung, die auf eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit der hypothetischen Erfolgsvermeidung 415 416

Vgl. hierzu ausführlich oben S. 112. Schünemann, StV 1985, 229 (232 f.).

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

verzichtet, jedenfalls auf der Grundlage eines ontologischen Kausalitätsverständnisses an einem Legitimationsdefizit leidet. Gimbernat und Roxin haben wichtige Schritte zur Behebung dieses Defizits unternommen. Ihre Modelle einer normativ orientierten Betrachtung des Kausalverlaufs bzw. der Vermittlung des Zurechnungszusammenhangs durch den unerlaubt begründeten Gefahrenherd liefern Anhaltspunkte dafür, wo eine Problemlösung als Alternative zum Kriterium der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit dogmatisch ansetzen kann. Es erscheint jedoch noch eine weitergehende dogmatische Verankerung und normative Begründung dieser Ansätze erforderlich, um sie gegen die gewichtigen Argumente der Anhänger der Vermeidbarkeitstheorie verteidigen zu können. cc) Gesetzgeberische Vorgaben und Gestaltungsspielräume bei der Vermeidbarkeitsprüfung Welcher materielle Gehalt der Unterlassungszurechnung ist nun also der weiteren Untersuchung zugrunde zu legen? Den Ausgangspunkt bilden die gesetzgeberischen Vorgaben. Das Strafgesetzbuch geht von der Kausalität des Täterverhaltens für den Erfolgseintritt417 als Mindestvoraussetzung aus, um Verletzungsdelikte von bloßen Gefährdungsdelikten zu unterscheiden. Aktiv verursacht der Unterlassungstäter nichts, strukturell muss es bei der Kausalitätsfeststellung daher um Vermeidbarkeit gehen. Die Vermeidbarkeit des Erfolgs bei hypothetisch pflichtgemäßem Handeln ist empirisch festzustellen. Diesen Vorgaben wird die Vermeidbarkeitstheorie mit ihrer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit gerecht, da sie hohe Anforderungen an den gerichtlichen Kausalitätsnachweis stellt. Jedoch sind die gesetzlichen Vorgaben rudimentär und die zu beurteilenden Fallkonstellationen vielfältig. Insoweit lautet eine These dieser Arbeit, dass es Konstellationen gibt, in denen eine streng empirische Feststellung der hypothetischen Vermeidbarkeit des Erfolgs mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht rechtssicher und vorhersehbar durchführbar ist und dass in diesen Konstellationen normative Überlegungen ergänzend zur Beurteilung der Vermeidbarkeit herangezogen werden können, ohne eine systemfremde Gefährdungshaftung dort zu begründen, wo das Gesetz nur eine Strafbarkeit wegen der Verletzung des Tatobjekts vorsieht. Im Medizinstrafrecht etwa sind die Heilungschancen bei hypothetischer Vornahme der gebotenen Heilmaßnahme oft nicht mit ausreichender Sicherheit prognostizierbar. Hier nähert sich der BGH kriminalpolitisch motiviert der Risikoverminderungslehre an, indem er eine nicht ganz unerhebliche Lebensverlängerung bei Vornahme der gebotenen Handlung ausreichen lässt. 417 Vgl. etwa § 222 StGB: „Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe [. . .] bestraft.“

II. Die Erfolgszurechnung im Bereich der Unterlassungsdelikte

129

Die Reaktion von Vertretern der Vermeidbarkeitstheorie auf Versuche, normative Wertungen in die Vermeidbarkeitsprüfung einfließen zu lassen, ist vorhersehbar. Wird das Kriterium der Erfolgsvermeidung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zum Dogma erhoben, so lassen sich alle Lösungsversuche jenseits dieses Kriteriums als systemfremd verwerfen. Zuzugeben ist, dass es eines erhöhten Begründungsaufwands bedarf, wenn sich eine Zurechnungslösung von der streng empirischen Kausalitätsbestimmung entfernt, da ein Konflikt mit dem Zweifelsgrundsatz und den deliktssystematischen Vorgaben des Strafgesetzbuchs droht. Möglicherweise können jedoch diese erhöhten Begründungsanforderungen durch den Nachweis erfüllt werden, dass in bestimmten Konstellationen der streng empirische Ansatz der Vermeidbarkeitstheorie aufgrund eines Mangels an verfügbaren empirischen Daten keine vorhersehbare und rechtssichere Zurechnung ermöglicht. Ist die streng empirische Vermeidbarkeitsprüfung in solchen Konstellationen strukturellen Bedenken ausgesetzt, so ermöglichen es nach der hier vertretenen Auffassung die rudimentären gesetzlichen Vorgaben, nach dogmatischen Alternativen zu suchen, um normative Wertungen einfließen zu lassen. Anknüpfungspunkt könnte eine Ergänzung der Vermeidbarkeitsprüfung durch normative Kriterien sein, wo ein Mangel an empirischem Entscheidungsmaterial die Beweiserhebung destabilisiert. Die Risiken eines solchen Vorgehens liegen auf der Hand. Die empirische Vermeidbarkeitsbetrachtung darf durch normative Überlegungen lediglich ergänzt, nicht aber ersetzt werden, will man eine systemfremde, normativ begründete Gefährdungshaftung verhindern. Darüber hinaus gilt es eine Zersplitterung der Kausalitätsdogmatik zu verhindern. Dies kann nur geschehen, indem man nur dort auf das Kriterium der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit verzichtet und normative Wertungen zur Interpretation der Vermeidbarkeit ergänzend heranzieht, wo ein Mangel an empirischem Entscheidungsmaterial eine solche Stabilisierung der Vermeidbarkeitsprüfung zwingend erforderlich macht. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Kriterium der Erfolgsvermeidung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den materiellen Gehalt der Unterlassungszurechnung nicht als alternativloser Modus systemgerechter Zurechnung verstanden werden sollte. Das Kriterium ist dort berechtigt, wo keine strukturellen empirischen Nachweisprobleme bestehen. In Ausnahmekonstellationen, in denen eine zuverlässig prognostizierbare, auf ausreichend empirisches Entscheidungsmaterial zurückführbare Vermeidbarkeitshypothese nicht gelingt, belässt das positive Recht dem Rechtsanwender Gestaltungsspielräume. Im weiteren Verlauf dieser Untersuchung wird der Versuch unternommen, diese Gestaltungsspielräume zu nutzen, um eine systemgerechte Lösung für das Zurechnungsproblem bei drittvermittelten Rettungsgeschehen zu finden.

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B. Wissenschaftstheoretische und strafrechtsdogmatische Grundfragen

e) Zwischenergebnis Bei der Frage des materiellen Gehalts der Unterlassungszurechnung ist grundsätzlich der Vermeidbarkeitstheorie zu folgen. Ihr liegt die richtige Überlegung zugrunde, dass eine Zurechnung nicht erfolgen darf, wenn der Erfolg unabhängig von der Unterlassung des Täters eingetreten ist. In Fallgestaltungen, in denen sich aufgrund struktureller Beweisprobleme die Frage der hypothetischen Erfolgsvermeidung einer gesicherten Erkenntnisgewinnung entzieht, belässt das Strafgesetzbuch dem Rechtsanwender bei der Ausgestaltung des Zurechnungszusammenhangs Spielräume. Diese könnten genutzt werden, um die defizitäre Beweisgrundlage in solchen Fällen durch normative Wertungen zu stützen, ohne auf das zentrale Zurechnungskriterium der hypothetischen Erfolgsvermeidbarkeit zu verzichten. 3. Zwischenergebnis der Erfolgszurechnung im Bereich der Unterlassungsdelikte Die Untersuchung der Unterlassungszurechnung hat ihre strukturellen Unterschiede zur Zurechnung bei den Begehungsdelikten offenbart. Die Unterlassungszurechnung hat keinen ontologisch-naturalistischen Charakter, sie beschreibt vielmehr einen funktional-normativen Zusammenhang, sie wird durch ein strafbewehrtes Handlungsgebot vermittelt. Die Problematik der Zurechnung bei Zweifeln über die hypothetische Erfolgsvermeidung ist in kriminalpolitischer Hinsicht mit derjenigen im Rahmen des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs der Begehungsdelikte identisch. Dogmatisch verschärft sich das Problem bei der Unterlassungszurechnung, weil die ontologische Kausalität als Zurechnungsfundament entfällt. Da die Unterlassungszurechnung normativ geprägt ist, besteht nach der hier vertretenen Auffassung die Möglichkeit, dieses Legitimationsdefizit zumindest punktuell bei strukturellen Beweisproblemen durch eine Ergänzung der Vermeidbarkeitsprüfung um normative Kriterien auszugleichen. Ob dies in Fällen drittvermittelter Rettungsgeschehen gelingt, wird die weitere Untersuchung zeigen.

III. Ergebnis Die Untersuchung der wissenschaftstheoretischen und strafrechtsdogmatischen Grundlagen der Kausalitätsfeststellung im allgemeinen und hierauf aufbauend die Analyse der Erfolgszurechnung bei den Unterlassungsdelikten erfolgten mit dem Ziel, eine philosophisch und dogmatisch fundierte Grundlage für die in dieser Arbeit untersuchte Kausalitätsproblematik zu schaffen. Gleichzeitig sollten die argumentativen Rahmenbedingungen für die Diskussion der Erfolgszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen vorgezeichnet und den allgemeinen

III. Ergebnis

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Zurechnungsprinzipien Impulse für die nachfolgende Untersuchung entnommen werden. Die wissenschaftstheoretische Untersuchung hat zum einen gezeigt, dass die Komplexität des Problems kausaler Erklärung die Begründung einer universell gültigen Zurechnungslehre verhindert. Sie hat zum anderen gezeigt, dass in Bereichen, in denen eine vorherrschende Kausallehre mit Begründungsschwierigkeiten zu kämpfen hat, keine Denkverbote die Suche nach alternativen Lösungen verhindern sollten, dass eine solche Suche vielmehr der Komplexität der Kausalitätsproblematik eher gerecht wird, als das Verharren in bewährten dogmatischen Strukturen. Dem erstgenannten Ergebnis der wissenschaftstheoretischen Untersuchung entsprechend wurden strukturelle Unterschiede zwischen Begehungs- und Unterlassungszurechnung festgestellt. Dem zweitgenannten Ergebnis entsprechend wurde deutlich, wie die strukturellen Besonderheiten der Unterlassungszurechnung einer punktuell anwendbaren, alternativen Zurechnungslösung in problematischen Fallgestaltungen wie der vorliegend untersuchten den Weg ebnen könnten. Dieser Weg soll in den folgenden Teilen dieser Arbeit beschritten werden.

C. Erfolgszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen: Diskussion in Literatur und Rechtsprechung Nach der Untersuchung der rechtsphilosophischen und dogmatischen Grundlagen der Unterlassungszurechnung wird im folgenden Teil C. der Arbeit die Diskussion des Problems der Erfolgszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen in Literatur und Rechtsprechung nachvollzogen und analysiert. Nach einer kurzen Einführung in die Problematik (I.) werden die Lösung der Rechtsprechung (II.) und die hieran in der Literatur geübte Kritik (III.) vorgestellt. Die Kritikpunkte werden kritisch hinterfragt und um eigene Überlegungen ergänzt (IV.), bevor abschließend die in der Literatur entwickelten alternativen Lösungskonzepte vorgestellt und diskutiert werden (V.).

I. Das Zurechnungsproblem und seine Praxisrelevanz Das Zurechnungsproblem bei drittvermittelten Rettungsgeschehen lässt sich konzentrieren auf folgende Frage: Anhand welcher Kriterien ist die strafrechtliche Erfolgszurechnung vorzunehmen, wenn ein Garant i. S. v. § 13 I StGB es unterlässt, einen zur Erfolgsvermeidung zwingend erforderlichen Dritten über die Existenz und den Umfang eines Gefahrenherdes zu informieren und dieser Dritte folglich untätig bleibt, wobei konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass er auch bei pflichtgemäßer Information möglicherweise pflichtwidrig untätig geblieben wäre.1 Im Anschluss an das Urteil des BGH im Eissporthallen-Fall vom 12.1.2010 setzte eine lebhafte Diskussion um die genauen Modalitäten der Erfolgszurechnung in dieser Konstellation ein, die im Folgenden nachvollzogen und analysiert wird. In der Rechtspraxis wird das hier untersuchte Zurechnungsproblem zunehmend relevant, da es überall dort auftreten kann, wo arbeitsteilig Gefahrenherde überwacht werden und eine solche arbeitsteilige Organisation von Überwachungspflichten immer häufiger auftritt. Ein Blick auf die höchstrichterlich entschiedenen Fälle erlaubt eine beispielhafte Aufzählung von Praxisschwerpunkten, die jedoch keineswegs abschließend ist. Die bisher vom BGH entschiedenen Fälle spielten sich im Rahmen vertikaler wie horizontaler Arbeitsteilung etwa in 1

Vgl. hierzu bereits oben S. 25.

II. Die Lösung der Rechtsprechung

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der medizinischen Versorgung2, im Baugewerbe3 und in sonstigen gefahrträchtigen Gewerben wie etwa einem Speditionsunternehmen4 ab. Ein branchenübergreifendes Anwendungsfeld findet sich darüber hinaus im Zusammenspiel unternehmensinterner Kontrollinstanzen, wenn das Unternehmen etwa durch drohende Rechtsverstöße5 oder das Inverkehrbringen gesundheitsgefährdender Produkte6 zur „Gefahrenquelle“ wird. Versäumt es der leitende Compliance Officer garantenpflichtwidrig, die Gefahrenquelle zu erkennen und an die Unternehmensleitung zu melden, war die Unternehmensleitung wiederum in der Vergangenheit durch Nachlässigkeiten aufgefallen, so stellt sich auch im Rahmen von Compliance-Systemen das hier untersuchte Zurechnungsproblem. In Teil E. dieser Arbeit wird die Erfolgszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen im Rahmen von Compliance-Systemen untersucht. Vielleicht kann hierdurch die sehr auf die Begründbarkeit einer Garantenstellung des Compliance Officers konzentrierte Diskussion für die im Rahmen von Compliance-Systemen auftretenden Zurechnungsprobleme sensibilisiert werden.

II. Die Lösung der Rechtsprechung Im Folgenden wird der Lösungsweg nachvollzogen, den die Rechtsprechung in der Frage der Zurechenbarkeit des tatbestandlichen Erfolgs bei drittvermittelten Rettungsgeschehen verfolgt (1.). Hierbei werden bereits kritische Stimmen aus der Literatur berücksichtigt, die dann unter III.7 systematisiert werden. Die Lösung der Rechtsprechung wird in Kontrast gestellt zu einem normativen Zurechnungsansatz, den der BGH seinen Entscheidungen zur Kausalität von Gremienentscheidungen zugrunde gelegt hat (2.). Sodann werden die Ergebnisse der Betrachtung zusammengefasst und systematisiert (3.). 1. Anwendung der Vermeidbarkeitstheorie Für die Erfolgszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen greift der BGH – wie generell im Bereich der Unterlassungsstrafbarkeit – auf die Vermeidbarkeitstheorie8 zurück. Angewendet auf die vorliegend untersuchte Konstellation ist die Kausalität des Erstgaranten dann zu bejahen, wenn der Dritte bei pflicht2 So im Abszess-Fall, BGH NStZ 1986, 217, sowie im Blutbank-Fall, BGH NJW 2000, 2754. Alle hier zitierten Entscheidungen werden sogleich ausführlich besprochen. 3 So der Eissporthallen-Fall, BGH NJW 2010, 1087. 4 Vgl. den Bremsenfall, BGHSt 52, 159. 5 Vgl. hierzu BGHSt 54, 44 („Berliner Stadtreinigungsbetriebe“). 6 So etwa im Lederspray-Fall, BGHSt 37, 106. 7 Vgl. unten S. 150 ff. 8 Vgl. hierzu bereits oben S. 114.

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

gemäßer Information durch den Erstgaranten pflichtgemäß reagiert hätte und der Erfolg so mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden worden wäre. Die Formel der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit soll hierbei keine Abstufung nach Wahrscheinlichkeiten ermöglichen, sie ist vielmehr der begrenzten Erkenntnismöglichkeit im hypothetischen Bereich geschuldet und stellt letztlich nur eine Umschreibung des in § 261 StPO normierten Erfordernisses der Bildung richterlicher Überzeugung dar.9 Der Tatrichter muss demnach zu der Überzeugung kommen, dass der Dritte auf Grundlage der hypothetischen Information durch den Erstgaranten seinerseits pflichtgemäß gehandelt hätte und der Erfolg so vermieden worden wäre. Bei der Anwendung der Vermeidbarkeitstheorie geht die Rechtsprechungspraxis in unproblematischen Fällen ohne nähere Prüfung von (hypothetisch) pflichtgemäßem Verhalten des Dritten aus.10 War dieser in der Vergangenheit durch Nachlässigkeiten aufgefallen, so legt der BGH strenge Maßstäbe an die Bildung der richterlichen Überzeugung, dass der Dritte diesmal pflichtgemäß gehandelt hätte (der Erfolg also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert worden wäre).11 Der Erstgarant ist dann mangels Kausalität seiner Unterlassung für den Erfolg nach dem Zweifelsgrundsatz freizusprechen. Die unbesehene Anwendung der Vermeidbarkeitstheorie durch den BGH in Fällen drittvermittelter Rettungsgeschehen hat in der Literatur anhaltende Kritik erfahren. Auf die problematischen und vieldiskutierten Entscheidungen des BGH in Fällen drittvermittelter Rettungsgeschehen wird im Folgenden umfassend eingegangen. a) Abszess-Fall 12 In einem Beschluss aus dem Jahr 1985 hatte sich der BGH mit dem Tod einer 18-jährigen Patientin zu befassen, die sich 1978 einer Blinddarm-Operation unterzogen hatte. Nach dem Eingriff hatte sich bei der Patientin als post-operative Komplikation ein von ärztlicher Seite unerkannt gebliebener subphrenischer Abszess13 gebildet, an dessen Folgen die Patientin zwölf Tage nach der Operation verstarb. Das LG Kassel hatte den diensthabenden Stationsarzt, den ihm vorgesetzten Oberarzt sowie einen Arzt im Bereitschaftsdienst wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen verurteilt. Aus Perspektive der vorliegenden Untersuchung ist nur die strafrechtliche Bewertung des Verhaltens des Stationsarztes von Interesse. 9

Vgl. hierzu bereits oben S. 114. So etwa das LG Kassel als Instanzgericht im Abszess-Fall; vgl. hierzu die Kritik des BGH, BGH NStZ 1986, 217 (217 f.); vgl. auch Puppe, AT, 30/15. 11 So auch Puppe, AT, 30/15. 12 BGH NStZ 1986, 217. 13 Eiterherd unter dem Zwerchfell, vgl. Kahlo, GA 1987, 66 (67). 10

II. Die Lösung der Rechtsprechung

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Es handelt sich um ein drittvermitteltes Rettungsgeschehen, da dem Stationsarzt aufgrund seiner mangelnden Diagnosefähigkeiten die Erfolgsabwendung nur durch Information des Oberarztes möglich war. Dem Stationsarzt, dessen Fachkenntnisse für eine zutreffende Diagnose nicht ausreichten, wurde vorgeworfen, den ihm vorgesetzten Oberarzt nicht über die von ihm festgestellten, sich über einen Zeitraum von fünf Tagen (Montag bis Freitag) mehrenden Entzündungssymptome14 unterrichtet zu haben. Der Oberarzt war zwar seinerseits bei einer Visite am Samstagmorgen untätig geblieben und hatte bei einer erneuten Visite am Sonntag umfangreiche Untersuchungen erst für den darauf folgenden Montag angeordnet, obwohl die Patientin ihm gegenüber über Schmerzen geklagt hatte. Bei Beurteilung der Frage, ob bei pflichtgemäßem Handeln des Stationsarztes der Oberarzt seinerseits pflichtgemäß reagiert und so den Todeseintritt verhindert hätte, führte das LG jedoch die Untätigkeit des Oberarztes nicht auf eine generelle Pflichtvergessenheit zurück, sondern erklärte sein Verhalten mit dem Hinweis, dass am Wochenende aufgrund des eingeschränkten Wochenenddienstes in Labor und Röntgenabteilung die „Neigung, diagnostische Maßnahmen zu verschieben, [. . .] besonders groß“ gewesen sei.15 Das LG kam daher zu der Überzeugung, dass der Oberarzt auf einen Hinweis des Stationsarztes unter der Woche mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit diagnostische Maßnahmen angeordnet hätte, um einen subphrenischen Abszess zumindest differentialdiagnostisch auszuschließen. Da so der Tod der Patientin letztlich verhindert worden wäre, bejahte das LG die Kausalität der Unterlassung des Stationsarztes und verurteilte ihn wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen. Der BGH hob dieses Urteil aufgrund durchgreifender Rechtsmängel in der Beweiswürdigung auf. Da die „Wochenendbedingtheit“ der Nachlässigkeit des Oberarztes nicht hinreichend nachgewiesen sei, hätte das LG die für den Angeklagten günstigere Möglichkeit in Betracht ziehen müssen, dass die Nachlässigkeit des Oberarztes genereller, „wochenendunabhängiger“ Natur gewesen sei. Schließlich habe dieser bei seiner samstäglichen Visite auch auf Diagnosemethoden verzichtet, die ohne Labor- oder Röntgenbefunde durchführbar gewesen wären. Damit sei nicht auszuschließen, dass der Oberarzt auch auf einen pflichtgemäßen Hinweis des Stationsarztes unter der Woche nicht reagiert hätte. Dann bliebe für die Annahme der Erfolgsverhinderung bei pflichtgemäßem Handeln mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein Raum und die Kausalität der Unterlassung des Stationsarztes sei zu verneinen.16 Ranft pflichtet dem BGH in seiner Argumentation bei. Die Garantenpflicht des Stationsarztes sei darauf gerichtet gewesen, den Oberarzt zu pflichtgemäßem 14 Fieberschübe, Leukozytose, erhöhte Pulsfrequenz, Rücken-, Flanken- und Schulterschmerzen, BGH NStZ 1986, 217. 15 Zitiert nach BGH NStZ 1986, 217. 16 BGH NStZ 1986, 217 (218).

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

Handeln zu veranlassen. Die Möglichkeit hierzu sei jedoch nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellbar, sodass die Zurechenbarkeit des Erfolgs verneinen müsse, wer nicht der Risikoverminderungslehre das Wort reden wolle.17 Kahrs kritisiert die Entscheidung. Nach seiner Ansicht darf es bei der Beurteilung der Erfolgszurechnung nicht darauf ankommen, ob alle dem Stationsarzt nachfolgenden Ärzte und Hilfskräfte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit pflichtgemäß gehandelt hätten. Sonst sei die Haftung des Stationsarztes mangels Kausalität ausgeschlossen, die übrigen Beteiligten könnten nicht verantwortlich gemacht werden, da sie nicht hinzugezogen wurden.18 Nach Puppe lässt sich die Frage, wie sich der Oberarzt verhalten hätte, aufgrund der Indeterminiertheit menschlichen Verhaltens prinzipiell nicht beantworten. Selbst wenn jedoch eine verlässliche Aussage dahingehend getroffen werden könnte, dass der Oberarzt auf die Information durch den Stationsarzt nicht reagiert hätte, sei diese Erkenntnis für die Frage der Erfolgszurechnung unbeachtlich, da eine solche fiktive Pflichtverletzung den Erstgaranten nicht entlasten dürfe.19 b) Lederspray-Fall 20 Im Lederspray-Fall hatte es die Geschäftsführung eines Ledersprays produzierenden Unternehmens unterlassen, einen Produktionsstopp und eine Rückrufaktion zu veranlassen, obwohl ihr über einen Zeitraum von mehreren Monaten ab dem Spätherbst 1980 immer wieder Meldungen von zum Teil schwerwiegenden Gesundheitsschäden im Zusammenhang mit der Benutzung ihres Produkts zugegangen waren. Die Benutzung des Sprays hatte bei den Betroffenen zu Atembeschwerden, Husten, Übelkeit, Schüttelfrost und Fieber, in mehreren Fällen sogar zur Entstehung von lebensbedrohlichen Lungenödemen geführt. Das LG Mainz verurteilte die Mitglieder der Geschäftsführung im Januar 1989 wegen fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen. Die strafrechtliche Aufarbeitung des Geschehens wurde insbesondere erschwert durch die Tatsache, dass der die Gesundheitsschäden konkret hervorrufende Wirkstoff im Prozess nicht ermittelt werden konnte.21 Hier soll der Blick jedoch auf ein zweites Kausalitätsproblem gelenkt werden: Auch die Konstellation im Lederspray-Fall stellt sich als drittvermitteltes Rettungsgeschehen dar. Nach einer hypothetisch pflichtgemäßen Information der Geschäftsführung hätten die Einzelhändler ihrerseits den Rückruf befolgen und das Produkt aus dem 17

Vgl. zum Ganzen Ranft, JZ 1987, 859 (864). Kahrs, NStZ 2011, 14 (16). 19 Puppe (2000), 54; ebenso Kahlo, GA 1987, 66 (78); kritisch bezüglich der „Spekulationen des BGH“ im Abszess-Fall auch Roxin AT II, 31/64. 20 BGHSt 37, 106. 21 Vgl. zu diesem Problem etwa Puppe (2000), 33 ff. 18

II. Die Lösung der Rechtsprechung

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Verkehr ziehen müssen, um den tatbestandlichen Erfolg zu verhindern. Im Prozess war durch die Verteidigung geltend gemacht worden, es sei nicht nachweisbar, ob in den konkreten Einzelfällen, in denen es zu Gesundheitsschäden gekommen war, der jeweilige Einzelhändler den Rückruf umgehend und umfassend befolgt hätte. Der BGH verzichtete auf eine Stellungnahme in der Sache mit dem Hinweis, die Strafkammer habe den Ursachenzusammenhang zwischen hypothetisch pflichtgemäßem Rückruf und dessen Befolgung durch die Einzelhändler in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise dargelegt.22 Nach Kuhlen lässt der BGH die Beweiswürdigung des LG bezüglich der hypothetischen Beachtung des Rückrufs durch die Einzelhändler zu Recht unbeanstandet. Er weist jedoch darauf hin, dass es sich insoweit um einen relativ unproblematischen Fall handelt, als im tatrelevanten Unterlassungszeitpunkt, als der Unternehmensführung bereits Hinweise auf eine gesundheitsgefährdende Wirkung des Sprays vorlagen, das Produkt von den Einzelhändlern noch nicht an die Kunden ausgegeben worden war. In Fällen, in denen der Rückruf die einzelnen Endverbraucher erreichen müsste, da diese bereits im Besitz des gefährlichen Produkts sind, sei die Bejahung des Ursachenzusammenhangs wesentlich komplexer.23 Puppe stimmt dem BGH nur im Ergebnis, nicht aber in der Begründung zu. Das Gericht habe das Argument der Verteidigung, ein Rückruf wäre unter Umständen nicht berücksichtigt worden, zu Recht zurückgewiesen. Grund für dieses Ergebnis dürfe jedoch nicht die Billigung der hypothetischen Überlegungen des LG sein – über die hypothetische Entscheidung der Einzelhändler könne aufgrund der Indeterminiertheit menschlichen Verhaltens nur spekuliert, nicht jedoch forensisch stichfest Beweis erhoben werden.24 Das hypothetisch pflichtwidrige Verhalten der Einzelhändler sei vielmehr für die Erfolgszurechnung irrelevant, da eine Entlastung mit fiktiv pflichtwidrigem Verhalten eines anderen inakzeptabel sei.25 Kritisch äußert sich auch Roxin. Wie Puppe beruft er sich darauf, dass die hypothetische Reaktion der Einzelhändler nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen werden könne. Durch seine Berufung auf die Beweiserhebung der Tatsacheninstanz verschleiere der BGH, dass er die bloße Möglichkeit der Erfolgsverhinderung bei hypothetisch pflichtgemäßem Verhalten der Geschäftsführung zur Feststellung der Unterlassungskausalität ausreichen lasse.26

22 23 24 25 26

BGHSt 37, 106 (127 f.). Kuhlen, NStZ 1990, 566 (569); vgl. hierzu auch Bosch, FS Puppe, 373 (388). Puppe (2000), 52 f.; dies., JR 1992, 30 (31). Puppe (2000), 52 f.; dies., AT, 2/27 ff. Roxin, GA 2009, 73 (76); ders., FS Achenbach, 409 (424).

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

c) Blutbank-Fall 27 Im Blutbank-Fall verurteilte das LG Düsseldorf im Jahr 1999 die stellvertretende Direktorin eines Instituts, das Blutprodukte für medizinische Einrichtungen herstellte, wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen. Sie hatte es unterlassen, übergeordnete Behörden über hygienisch problematische Arbeitsschritte bei der Herstellung von Blutkonserven in ihrem Betrieb zu unterrichten, nachdem sie mit ihren im Jahr 1993 intern geäußerten Bedenken bei dem mitangeklagten geschäftsführenden Direktor kein Gehör gefunden hatte. Bei der Transfusion einiger aufgrund der unhygienischen Gewinnungsmethode bakteriell kontaminierter Konserven verstarben 1994 insgesamt fünf Patienten an einer Blutvergiftung und deren Komplikationen. Ein weiterer Patient konnte nach zweiwöchiger intensivmedizinischer Behandlung gerettet werden. Das LG war überzeugt, dass die übergeordneten Behörden im Fall ihrer Information aufgrund der fachlichen Expertise der Angeklagten einerseits und der Eindeutigkeit des Regelverstoßes andererseits pflichtgemäß reagiert, also die hygienisch riskanten Arbeitsgänge jedenfalls kurzfristig untersagt und so die späteren Zwischenfälle verhindert hätten. Auf Grundlage dieser Überzeugung bejahte das LG die Kausalität der Unterlassung der Direktorin. Der BGH hegte Zweifel an einer pflichtgemäßen Reaktion der Behörden und hob das Urteil auf. Seine Zweifel gründete der BGH zum einen auf die gespannte Haushaltslage der Universitätskliniken zum damaligen Zeitpunkt, die eine Nachbesserung der Ausrüstung des Instituts als Reaktion auf die Mängelanzeige zweifelhaft erscheinen ließe. Zum anderen hätte die Behörde bei dem – eingeweihten und getrennt abgeurteilten – geschäftsführenden Direktor Rücksprache gehalten, der aufgrund seiner fachlichen Kompetenz die Bedenken der Behörde wahrscheinlich zerstreut und so eine pflichtgemäße Reaktion verhindert hätte.28 Zusätzlich zu ihren bereits im Abszess-Fall sowie im Lederspray-Fall vorgebrachten Argumenten kritisiert Puppe im Blutbank-Fall, dass der BGH die Entlastung der Angeklagten unter dem Hinweis auf zwei fiktive Sorgfaltspflichtverletzungen ermöglicht. Dieser könne sich sowohl auf die pflichtwidrige Verteidigung der irregulären Praxis durch den Klinikdirektor gegenüber der Aufsichtsbehörde berufen, als auch auf die hierauf beruhende pflichtwidrige Duldung dieser Praxis durch die Aufsichtsbehörde.29 Unterstützung erfährt Puppe von Altenhain. Der Versuch der Beweiserhebung über das hypothetische Verhalten der Behörde sei sinnlos30, der Einwand eines fiktiv pflichtwidrigen Verhaltens der Aufsichtsbehörde unbeachtlich. Ein in hier27 28 29

BGH NJW 2000, 2754. BGH NJW 2000, 2754 (2757). Puppe, AT, 30/13.

II. Die Lösung der Rechtsprechung

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archischen Systemen Untergebener, dessen Sorgfaltspflichten einerseits aufgrund seines berechtigten Vertrauens in die Pflichterfüllung seines Vorgesetzten eingeschränkt seien, könne sich nicht andererseits bei eigener Pflichtverletzung darauf berufen, der Vorgesetzte hätte möglicherweise ebenso pflichtwidrig gehandelt. In beiden Fällen sei nur ein tatsächlicher Pflichtverstoß beachtlich. Dieser habe bei der Aufsichtsbehörde jedoch nicht vorgelegen.31 d) Bremsen-Fall 32 Im Bremsen-Fall verurteilte das LG Detmold 2008 den Leiter der firmeneigenen Kfz-Werkstatt eines Logistikunternehmens wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen. Nachdem er von einem Fahrer auf das unzulängliche Bremsverhalten eines Lkw aufmerksam gemacht worden war, hatte der Angeklagte bei einer Probefahrt am 19.6.2004 gravierende Bremsmängel an der Zugmaschine festgestellt, die er auf einen schadhaften Einsteller an den Vorderachsenbremsen zurückführte. Er unterließ es, nach der Probefahrt auch nur eine einfache Sichtkontrolle der Bremsen durchzuführen. Bei einer solchen Sichtkontrolle hätte er festgestellt, dass das mangelhafte Bremsverhalten nicht (nur) auf einen schadhaften Einsteller zurückzuführen war, sondern dass vielmehr die Beläge der Hinterachsenbremsen nahezu vollständig verschlissen waren. Dennoch war er der Überzeugung, dass das Fahrzeug vor Behebung der Mängel nicht mehr eingesetzt werden durfte, und teilte diese Einschätzung dem für die Fahrzeugdistribution zuständigen, in einem getrennten Verfahren abgeurteilten „Juniorchef“ des Unternehmens mit. Dieser setzte sich jedoch über die Warnung hinweg und gab den Lkw unter dem Hinweis frei, ein neuer Einsteller sei bereits bestellt und könne binnen Wochenfrist eingebaut werden, bis dahin solle der Lkw auch in seinem aktuellen Zustand weiter eingesetzt werden. Sechs Tage später geriet der Sattelschlepper aufgrund eines Totalversagens der Bremsen innerorts auf abschüssiger Straße außer Kontrolle und fuhr ungebremst in einen Supermarkt, wobei das Fahrzeug und der Supermarkt in Brand gerieten. Der Fahrer und zwei Passanten kamen hierbei ums Leben. Das LG sah die unterlassene Sichtprüfung der Hinterachsenbremsen und die damit unterbliebene Aufklärung des Firmenleiters über deren katastrophalen Zustand der gesamten Bremsanlage als kausal für den Erfolg an. Nach Überzeugung des Gerichts hätte die Kenntnis des wahren Ausmaßes der Schäden an den Bremsen zu einem eindringlicheren Warnhinweis geführt, der den Vorgesetzten dazu

30 Altenhain, NStZ 2001, 188 (191) fragt: „Wie stellt man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest, was eine Person getan hätte, wenn sie in eine Situation geraten wäre, die wegen der Untätigkeit des Garanten gerade nicht eintrat?“. 31 Vgl. zum Ganzen Altenhain, NStZ 2001, 188 (191). 32 BGHSt 52, 159.

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

veranlasst hätte, seine kaufmännischen Überlegungen hintanzustellen und das Fahrzeug aus dem Verkehr zu ziehen. Der BGH hatte Zweifel an der Vermeidbarkeit des Erfolgs und damit an der Kausalität der Unterlassung des Werkstattleiters und hob das Urteil auf. Dass sich der zaudernde Vorgesetzte bei vollumfänglicher Kenntnis des desolaten Zustands der Bremsen von seinen kaufmännischen Überlegungen hätte abbringen lassen und den Lkw aus dem Verkehr gezogen hätte, liege zwar nahe, sei jedoch nicht ausreichend nachgewiesen. In Anlehnung an die Vermeidbarkeitstheorie erfordert eine Bestrafung wegen vollendeten Delikts nach Freund, dass der Erfolg aus Ex-post-Perspektive praktisch sicher vermieden worden wäre.33 Dennoch spricht er sich im vorliegenden Fall für die Zurechenbarkeit des Erfolgs aus. Für die (Mit-)Verantwortlichkeit des Werkstattleiters sei es ausreichend, dass sein Vorgesetzter seine Entscheidung auf Grundlage fehlerhafter Informationen getroffen habe. Die Frage, wie er sich bei ordnungsgemäßer Information entschieden hätte, sei als hypothetische Betrachtung ohne Belang. Die Tat wäre dann auch eine andere gewesen, da er sich über zusätzliche Sicherheitsbedenken hätte hinwegsetzen müssen.34 Ganz im Sinne des letztgenannten Gedankens bejaht Puppe die Zurechenbarkeit des Erfolgs mit dem Argument, die Pflichtverletzung des Vorgesetzten wäre viel schwerwiegender gewesen, hätte er das Fahrzeug auch in vollumfänglicher Kenntnis der Bremsmängel auf die Straße geschickt. Durch seine Fehlinformation habe der Werkstattleiter eine Bedingung dafür gesetzt, dass sein Vorgesetzter durch eine geringere Sorgfaltspflichtverletzung ursächlich für den Erfolg wurde. Er habe seinem Vorgesetzten gleichsam einen Teil von dessen Sorgfaltspflichtverletzung abgenommen.35 Nach Bosch sind die Anforderungen überzogen, die der BGH im vorliegenden Fall an den Kausalnachweis stellt. Bei „innerpsychischen Zusammenhängen“ 36 ließe sich kaum jemals feststellen, wie der Einzelne in einer bestimmten Situation gehandelt hätte. Das hypothetisch pflichtwidrige Verhalten des Vorgesetzten auch bei umfassender Information sei unbeachtlich, da sich auch der fahrlässige Begehungstäter nicht mit der Pflichtverletzung eines anderen entlasten könne. Der BGH hätte danach fragen müssen, ob ein pflichtgemäß handelnder Vorgesetzter das Fahrzeug aus dem Verkehr gezogen hätte und auf Grundlage dieser Überlegung die Kausalität der Unterlassung des Werkstattleiters bejahen müssen.37 33 34 35 36

MüKo/Freund, § 13 Rn. 221. MüKo/Freund, § 13 Rn. 224. Zum Ganzen Puppe, AT, 30/18–21. Im vorliegenden Fall also die Frage, ob sich der Vorgesetzte hätte umstimmen las-

sen. 37

Zum Ganzen Bosch, JA 2008, 737 (739).

II. Die Lösung der Rechtsprechung

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Ganz ähnlich argumentiert Lindemann. Die unbesehene Anwendung der Vermeidbarkeitstheorie im vorliegenden Fall sei nicht sachgerecht, da sich menschliches Entscheidungsverhalten einer eindeutigen Prognose entziehe und dem Unterlassungstäter die Berufung auf hypothetisch rechtswidriges Verhalten des Dritten versagt bleiben müsse.38 Schließlich weist Kühl darauf hin, dass beide Unterlassungen39 zusammen betrachtet und dementsprechend im Rahmen der Kausalitätsprüfung auch beide hypothetisch pflichtgemäßen Handlungen in Rechnung gestellt werden müssen. Berücksichtigt man dies, so spricht seiner Ansicht nach auch bei schlichter Anwendung der Vermeidbarkeitstheorie einiges dafür, die hypothetische Erfolgsvermeidung und damit die Kausalität der Unterlassung des Werkstattleiters zu bejahen.40 e) Eissporthallen-Fall 41 Im Eissporthallen-Fall sprach das LG Traunstein einen als Baugutachter tätigen Ingenieur mit Urteil vom 18.11.200842 vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen frei. Im Januar 2006 waren die maroden Dachträger der Eissporthalle in Bad Reichenhall unter einer außergewöhnlich hohen Schneelast zusammengebrochen – sechs Minuten bevor das zu diesem Zeitpunkt stattfindende Publikums-Eislaufen beendet und die Halle für Schneeräumarbeiten auf dem Dach gesperrt werden sollte. Unter den Trümmern starben 15 Menschen, darunter zwölf Kinder. 34 weitere Personen wurden zum Teil schwer verletzt. Der Gutachter hatte drei Jahre vor dem Einsturz den Auftrag erhalten, den notwendigen finanziellen Aufwand für eine mögliche Sanierung der Halle zu ermitteln. Über seinen eigentlichen Prüfauftrag hinaus hatte er sich in seinem Gutachten positiv über den Gesamtzustand der Dachkonstruktion geäußert. Hierbei unterließ er es, eine pflichtgemäße „handnahe“ Untersuchung der Dachträger vorzunehmen. Stattdessen beschränkte er sich bei der Untersuchung der Dachträger auf einen Blick durch das Teleobjektiv einer Fotokamera. In den Dachträgern waren aufgrund einer für die Temperatur- und Feuchtigkeitsbelastungen einer Eissporthalle ungeeigneten Verleimung bereits zum damaligen Zeitpunkt deutliche Risse vorhanden, die die Stabilität der Konstruktion erheblich beeinträchtigten. Diese Schäden wären nach Überzeugung des Gerichts bei gebotener handnaher Untersuchung erkennbar gewesen. Das LG verneinte jedoch die Kausalität der Unterlassung für den Erfolgseintritt. Das Gericht argumentierte, die Stadt als zuständige Baubehörde hätte selbst bei zutreffender Begutachtung mit hoher 38 39 40 41 42

Lindemann, ZJS 2008, 404 (407 f.). Keine Sichtprüfung, deshalb kein umfänglicher Gefahrenhinweis. Kühl, NJW 2008, 1879 (1899). BGH NJW 2010, 1087. LG Traunstein vom 18.11.2008, Az: 2 KLs 200 JS 865/06.

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

Wahrscheinlichkeit nicht reagiert, wie auch in der Vergangenheit bereits mehrmals Handlungsbedarf signalisierende Gutachten unbeachtet geblieben waren. Die gegen dieses Urteil von Staatsanwaltschaft und Nebenklage eingelegte Revision hatte Erfolg. Der BGH hob den Schuldspruch Anfang 2010 auf und verwies die Sache zur Neuverhandlung an das LG zurück. Nach Ansicht des BGH hätte es Anzeichen für ein Handeln der Stadt gegeben, die das LG nicht ausreichend gewürdigt habe. Die vergangenen Gutachten hätten andere Untersuchungsgegenstände gehabt und seien daher als Vergleichsmaßstab von begrenzter Aussagekraft. Ein deutliches Alarmsignal des Gutachters hätte die Verantwortlichen vielleicht zum Handeln bewegt. Das LG hätte untersuchen müssen, ob die Stadtverwaltung weitere Gutachten in Auftrag gegeben, eine Sperrung der Halle oder zumindest eine regelmäßigere Schneeräumung auf dem Dach veranlasst hätte. Im Oktober 2011 sprach das LG Traunstein43 den Gutachter erneut frei. Im Gegensatz zu der ursprünglich entscheidenden Kammer des LG Traunstein und im Gegensatz zur Auffassung des BGH sah die in der Neuauflage des Prozesses entscheidende Strafkammer des LG Traunstein in den ungeprüften und nicht beauftragten falschen Behauptungen des Angeklagten ein aktives Tun44. Die Kausalität dieses aktiven Tuns sei eindeutig zu verneinen, da die Stadt bereits ohne die nicht in Auftrag gegebenen Ausführungen des Gutachters der Überzeugung gewesen sei, dass mit der Dachkonstruktion alles in Ordnung sei, sie also auch bei Hinwegdenken der positiven Äußerungen nichts zur Verhinderung des Unglücks unternommen hätte. Selbst bei Annahme einer tatbestandlichen Unterlassung scheide eine Strafbarkeit jedoch aus. Der Gutachter habe bereits keine Garantenpflicht innegehabt, da die Stadtverwaltung sich bezüglich der Dachträger nicht auf die Fachkunde des Gutachters verlassen habe, bei Erteilung des Auftrags vielmehr die Stabilität der Dachkonstruktion vorausgesetzt habe. Auch sei die Kausalität der Unterlassung zu verneinen, da die Stadtverwaltung nach Überzeugung des Gerichts mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht reagiert hätte. In Abarbeitung des durch den BGH erteilten Prüfungsauftrags kam das LG zu dem Ergebnis, dass der Weiterbetrieb der Halle unwirtschaftlich und damit nicht erwünscht gewesen sei, sodass auch keine zusätzlichen Kosten für weitere Untersuchungen bei einem gutachterlichen Warnhinweis aufgewendet worden wären. Bereits in der Vergangenheit seien der Stadtverwaltung gründlichere Untersuchungen angetragen worden, die diese jedoch abgelehnt habe. Auch konkrete Sicherungsmaßnahmen wie etwa eine Sperrung der Halle wären unterblieben, da die Stadt bereits in der Vergangenheit „selbst bei konkreten massiven Gefahren“ nichts unternommen habe. Auch eine regelmäßigere Schnee43

LG Traunstein vom 27.10.2011, Az: 6 KLs 200 JS 865/06 (3). Im weiteren Verlauf dieser Untersuchung wird im Eissporthallen-Fall mit dem BGH von einem Unterlassungsvorwurf ausgegangen. Eine parallele Bewertung des Falls als Begehungs- wie Unterlassungskonstellation liefert Ast, ZStW 124, 612. 44

II. Die Lösung der Rechtsprechung

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räumung wäre nicht angeordnet worden, da die Stadt selbst bei Warnhinweisen ihren Berechnungen eine zu hoch angesetzte maximale Gewichtsbelastbarkeit der Dachkonstruktion zugrunde gelegt hätte. Nach alldem wäre der Erfolg bei pflichtgemäßem Handeln des Gutachters nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben und der Gutachter selbst bei einem auf Unterlassen lautenden Tatvorwurf mangels Kausalität dieser Unterlassung freizusprechen gewesen. Die Staatsanwaltschaft hat ihre zunächst auch gegen dieses Urteil eingelegte Revision zurückgezogen, sodass mit der Rechtskraft des zweiten Freispruchs durch das LG Traunstein die strafrechtliche Aufarbeitung des Unglücks knapp sechs Jahre nach dem Unglück abgeschlossen wurde. Ungeachtet etwaiger dogmatischer Bedenken lagen nach Stübinger keine Mängel in der Beweiswürdigung des LG vor, die eine Aufhebung des Urteils rechtfertigen könnten. Das LG habe sich in seinem Urteil umfassend mit den für und gegen eine pflichtgemäße Reaktion der Stadtverwaltung sprechenden Tatsachen auseinandergesetzt. Es bleibe unklar, wieso der BGH die ausgebliebene Reaktion der Stadtverwaltung auf frühere Gutachten mit dem Hinweis unberücksichtigt lasse, diesen seien andere Untersuchungsgegenstände, allgemeinere Fragestellungen zugrunde gelegen. Die früheren Gutachten seien keineswegs pauschal geblieben, sie seien vielmehr ignoriert worden, obwohl sie konkrete, gefahrträchtige Mängel aufgedeckt hätten, die auch damals bereits sofortiges Tätigwerden der Verantwortlichen hätten auslösen müssen.45 Die Verantwortlichen in der Baubehörde seien bereits unabhängig von dem Tätigwerden des angeklagten Gutachters im Besitz der nötigen Informationen zur Baufälligkeit der Halle gewesen und hätten dennoch nichts unternommen, sodass das – unbestritten mangelhafte – Gutachten keine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen rechtfertigen könne.46 Ähnlich kritisch äußert sich Roxin über die Auseinandersetzung des BGH mit der instanzgerichtlichen Beweiswürdigung. Der BGH verkehre die tatrichterlichen Feststellungen vermutungsweise in ihr Gegenteil, um an seiner hergebrachten Kausalitätsformel festhalten zu können. Letztlich bleibe alles im Bereich der Vermutung: „Wie forensisch stringente Beweise für ein bestimmtes Verhalten der Stadt erbracht werden sollen, bleibt unklar.“ 47 Kahrs wendet sich gegen die vom LG Traunstein und dem BGH angewendeten Kriterien zur Kausalitätsfeststellung. Zentral geht er in seiner Kritik von dem 45

Stübinger, ZIS 2011, 602 (607 f.). Stübinger, ZIS 2011, 602 (615). 47 Roxin, FS Achenbach, 409 (427); ähnlich Kühl, NJW 2010, 1087 (1092 f.): „Die Beibehaltung der ,Vermeidbarkeitstheorie‘ [. . .] beantwortet die Frage [nach der hypothetischen Erfolgsvermeidung, Anm. d. Verf.] nicht“. 46

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

„Schutzzweck der Gutachterpflicht“ 48 aus. Dieser werde konterkariert, wenn der Gutachter mangels hypothetischer Erfolgsvermeidung durch die Stadtverwaltung nicht hafte, während letztere aufgrund der mangelhaften Information durch den Gutachter als Haftungssubjekt ausscheide. Der pflichtwidrig handelnde Gutachter durfte nicht meinen, dass seine Warnpflicht erlosch, weil die Stadt auf seine Warnung nicht reagiert hätte. Nach Puppe waren die Beweisanregungen des BGH von vornherein ungeeignet, einen forensisch tragfähigen Beweis der hypothetischen Erfolgsverhinderung durch die Baubehörde zu begründen. Dieser sei aufgrund der Indeterminiertheit menschlichen Verhaltens prinzipiell nicht zu führen.49 Daher müsse die Erfolgszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen auf andere dogmatische Grundlagen gestellt werden. Hierfür können nach Puppe Erkenntnisse aus der Politbüro-Entscheidung des BGH fruchtbar gemacht werden.50 2. Normative Zurechnung bei Gremienentscheidungen: Politbüro-Entscheidung51 In dieser Entscheidung musste sich der BGH mit der Kausalität der Unterlassung im Rahmen von Gremienentscheidungen auseinandersetzen. Es handelt sich insoweit um eine drittvermittelten Rettungsgeschehen ähnliche Konstellation, als es dem pflichtwidrig Unterlassenden auch hier nur im Zusammenwirken mit anderen möglich gewesen wäre, den tatbestandlichen Erfolg zu verhindern. Für die vorliegende Untersuchung ist die Entscheidung von besonderem Interesse, da der in dieser Entscheidung verfolgte normative Zurechnungsansatz in seinen Grundannahmen in Kontrast steht zur Lösung des BGH bei drittvermittelten Rettungsgeschehen. Im Politbüro-Fall hatte das LG Berlin mit Urteil vom 7.7.2000 ehemalige Mitglieder des Politbüros der SED in der DDR vom Vorwurf der gemeinschaftlichen Beihilfe zum Totschlag durch Unterlassen nach dem Strafrecht der DDR freigesprochen. Den Angeklagten war die Unterlassung vorgeworfen worden, nicht durch Anträge und Beschlüsse im Politbüro auf eine „Humanisierung“ des Grenzregimes hingewirkt zu haben, wodurch der Tod von vier Menschen verursacht worden sei. Diese waren in der Zeit zwischen 1984 und 1989 in der Sperrzone der innerdeutschen Grenze von Grenzposten als Staatsflüchtlinge erschossen worden. Nach Ansicht des LG bestand jedoch kein Kausalzusammenhang 48

Kahrs, NStZ 2011, 14 (18). Puppe, JR 2010, 353 (355 f.); ebenso Kudlich, JA 2010, 552 (554): „Ist für einen Verursacherzusammenhang erforderlich, dass auf die fehlende Handlung des Täters [. . .] dritte Personen [. . .] reagieren müssen, kann letztlich nie verbindlich festgestellt werden, ,wie jeder einzelne in einer bestimmten Situation gehandelt hätte‘ [. . .]“. 50 Puppe, JR 2010, 353 (357). 51 BGHSt 48, 77. 49

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zwischen dem unterlassenen Einschreiten gegen die Errichtung und Aufrechterhaltung der Grenzzone und den konkreten Tötungshandlungen der Grenzposten zur Unterbindung von Fluchtversuchen. Der BGH hob das Urteil auf und verwies die Sache an das LG Berlin zurück. Auf Grundlage der Feststellungen des angefochtenen Urteils ergebe sich nach dem bundesdeutschen StGB die Strafbarkeit der Angeklagten wegen Totschlags durch Unterlassen in mittelbarer Täterschaft.52 Die Kausalität der Unterlassungen begründete der BGH mit dem Hinweis, zur Beurteilung der Quasi-Kausalität der Unterlassungen sei es gerade nicht maßgeblich, ob der Erfolg ausgeblieben wäre, wenn der einzelne Angeklagte pflichtgemäß gehandelt hätte. Dann ließe sich die Kausalität jedes einzelnen Mitglieds des Politbüros mit der Überlegung ablehnen, dass es mit seinem pflichtgemäßen Anliegen überstimmt worden und der tatbestandliche Erfolg unabhängig von seinem Handeln eingetreten wäre. Vielmehr sei auf das parallele Unterlassen aller Mitglieder abzustellen. „Kann die zur Schadensabwendung erforderliche Maßnahme nur durch das Zusammenwirken mehrerer Beteiligter zustande kommen, so setzt jeder, der es trotz seiner Mitwirkungskompetenz unterläßt, seinen Beitrag dazu zu leisten, eine Ursache dafür, daß die Maßnahme unterbleibt; [. . .] sonst könnte sich jeder Garant allein durch den Hinweis auf die gleichartige und ebenso pflichtwidrige Untätigkeit gleichgeordneter Garanten von jeder strafrechtlicher Haftung freizeichnen.“ 53

Da die Erfolgszurechnung im Bereich der Unterlassungsdelikte einer normativen Grundstruktur folge, müsse ein solches Ergebnis verhindert werden. „Die Beurteilung der „Quasi-Kausalität“ des Unterlassens erfolgt allein nach normativen Kriterien. In diesem Zusammenhang ist rechtmäßiges Verhalten der parallelen Garanten zu unterstellen; denn das Recht hat von der Befolgung seiner Normen auszugehen.“ 54

Röckrath stimmt dem BGH im Ergebnis zu. Er untermauert die Annahme normgemäßen Verhaltens des BGH durch ein weiteres Argument. Diese Annahme sei nicht nur durch die allgemeine Pflicht zur Rechtstreue gerechtfertigt, sondern auch durch das Ziel der Schadensvermeidung. Die Handlungspflichten der einzelnen Beteiligten behielten ihren Sinn, solange pflichtgemäßes Verhalten der übrigen Beteiligten angenommen werden könne.55 Greco kritisiert die Terminologie des Urteils. Es sei unklar, was mit dem Begriff des parallelen Unterlassens gemeint sei.56 Er interpretiert den Begriff dahin52 Nach dem Strafrecht der DDR ist das Verhalten der Politbüro-Mitglieder strafbar als Beihilfe durch Unterlassen zum Mord, BGHSt 48, 77 (80, 99). 53 BGHSt 48, 77 (94). 54 BGHSt 48, 77 (95). 55 Röckrath, NStZ 2003, 641 (645). 56 Greco, ZIS 2011, 674 (682). Ganz in diesem Sinne auch Ranft, JZ 2003, 575 (584), der eine Erfolgszurechnung nur bei wechselseitiger Zurechnung der pflichtwidri-

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

gehend, dass das Gericht wohl von einem Fall kumulativer Kausalität ausgehe. Ein solcher liege aber nicht vor, da bei kumulativer Kausalität jede Einzelbedingung kausal im Sinne der Conditio-Formel sei, während es sich im Politbüro um einen Fall eines überbedingten Erfolgs handle, bei dem gerade nicht jede Stimme notwendige Bedingung der Beschlussfassung sei.57 Letztlich dränge sich der Verdacht auf, dass der BGH die Kausalität der Unterlassungen „mehr statuiert als begründet“ habe.58 Walter sieht in der Entscheidung die Fortbeschreitung eines bereits mit dem Lederspray-Urteil eingeschlagenen Wegs, die Kausalität der Unterlassung auch dann zu bejahen, wenn „die fragliche Handlung für sich genommen nichts bewirkt hätte, weil andere Handlungspflichtige untätig geblieben wären und eine Rettung nur im Zusammenwirken mit ihnen möglich gewesen sein würde.“ 59 Die Lösung des BGH, rechtmäßiges Verhalten der anderen Beteiligten zu unterstellen, sei zwar kriminalpolitisch richtig, jedoch dogmatisch unzutreffend. Eine Erfolgszurechnung komme nur bei Mittäterschaft in Betracht, im Übrigen könne im Vorsatzbereich auf eine Versuchsbestrafung, in entsprechend gelagerten Fällen auch auf § 138 oder § 323c StGB zurückgegriffen werden. Auch Knauer sieht in einer mittäterschaftlichen Zurechnung der Unterlassungen einen sachgerechteren Weg, den der BGH bereits in seiner Lederspray-Entscheidung eingeschlagen habe. Bei wechselseitiger Zurechnung der Tatbeiträge sei der Kausalitätsbeweis jeder einzelnen Pflichtverletzung entbehrlich.60 Letzterem Gesichtspunkt tritt Puppe entschieden entgegen. Mittäterschaft eigne sich nicht zur Begründung von Kausalität, sie setze diese vielmehr voraus. Daher tue der BGH recht daran, die Konstellation als Kausalitätsproblem zu begreifen.61 In Fällen, in denen die anderen Beteiligten ihre Pflichten tatsächlich verletzt hatten62, sei der vom BGH aufgegriffene Gedanke der Normbefolgung fehl am Platz: Habe sich ein anderer Beteiligter tatsächlich rechtswidrig verhalten, so könne dessen rechtmäßiges Verhalten nicht kontrafaktisch zulasten des Täters angenommen werden.63 In Fällen jedoch, in denen eine tatsächliche gen Unterlassungen über die Figur der Mittäterschaft gem. § 25 II StGB für möglich hält. Die Voraussetzungen der Mittäterschaft lagen nach Ranft im Politbüro-Fall vor. 57 Greco, ZIS 2011, 674 (682); ebenso zum Gremiumsbeschluss im Lederspray-Fall Puppe, JR 1992, 30 (32). Auch Ast, ZStW 124, 612 (650 f.) hält den Verweis auf Fälle kumulativer Kausalität in der Lederspray-Entscheidung für verfehlt. 58 Greco, ZIS 2011, 674 (682), der mit diesen Worten Roxin, AT II, 31/65 und dessen Kritik an der Kausalitätsprüfung des BGH im Lederspray-Urteil zitiert. 59 LK/Walter, vor § 13 Rn. 88. 60 Knauer, NJW 2003, 3101 (3103). 61 Puppe, AT, 30/4. 62 So geschehen im Lederspray-Fall, in dem ein einstimmiger Beschluss gegen einen Produktrückruf vorlag. Vgl. zum Fall oben S. 136. 63 Puppe, AT, 30/10.

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Pflichtverletzung der anderen Beteiligten nicht vorliege, komme die Überlegung des BGH zum Tragen. Dann müsse die Rechtsordnung bei hypothetischen Betrachtungen von der Befolgung ihrer Gebote ausgehen, dann sei zu unterstellen, dass die Beteiligten ihrer Pflicht hypothetisch nachgekommen wären und so den tatbestandlichen Erfolg verhindert hätten. So lasse sich im Politbüro-Fall die Kausalität der Mitglieder des Führungsgremiums bejahen.64 In seiner Argumentation leitet der BGH die Kausalität jeder einzelnen Unterlassung aus dem Gedanken her, das Recht habe von der Befolgung seiner Normen auszugehen. Wird im weiteren Verlauf die Rechtsprechung des BGH bei drittvermittelten Rettungsgeschehen einer kritischen Würdigung unterzogen, so gilt es zu klären, ob dieses Argument wirklich geeignet ist, die Kausalität der einzelnen Unterlassungsbeiträge bei überbedingten Erfolgen zu begründen und ob es möglicherweise auch herangezogen werden kann, um die hypothetische Pflichtverletzung des Dritten bei drittvermittelten Rettungsgeschehen zurechnungsbegründend außer Betracht zu lassen.65 3. Zusammenfassung und Systematisierung Allen unter 1. besprochenen Urteilen liegt die Konstellation eines drittvermittelten Rettungsgeschehens zugrunde. Im Abszess-Fall konnte der Stationsarzt den Erfolg nur durch Information des Oberarztes verhindern. Im Lederspray-Fall mussten die Einzelhändler einen Rückruf des Produzenten umgehend und umfassend befolgen, um Schaden bei den Verbrauchern abzuwenden. Eine pflichtgemäße Reaktion der Aufsichtsbehörde auf eine hypothetische Anzeige durch die Klinikdirektorin war im Blutbank-Fall erforderlich, um die unhygienischen Arbeitsvorgänge zu unterbinden und so die Transfusion bakteriell kontaminierter Blutprodukte zu verhindern. Im Bremsen-Fall hätte der Vorgesetzte den umfassenden Warnhinweis des Werkstattleiters umsetzen und den Sattelschlepper aus dem Verkehr ziehen müssen, um einen Unfall zu vermeiden. Und schließlich hätte im Eissporthallen-Fall die Baubehörde die Warnhinweise des Gutachters ernst nehmen und der Gefahrenlage entsprechend reagieren müssen, um Schaden von den Hallenbesuchern abzuwenden. In allen Fällen unterblieb der garantenpflichtgemäße, den rettenden Kausalverlauf in Gang setzende Hinweis des Erstgaranten an den Dritten. Der Dritte blieb auf dieser unzureichenden Informationsgrundlage untätig, der tatbestandliche Erfolg trat ein. In allen Fällen stellten konkrete Zweifel an der hypothetischen Pflichterfüllung des Dritten bei vollumfänglicher Information die hypothetische Erfolgsvermeidung und damit die Kausalität der Unterlassung des Erstgaranten für den tatbestandlichen Erfolg infrage. 64 65

Puppe, AT, 30/11. Hierzu ausführlich unten S. 189 ff.

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

Da es sich um Fälle der Unterlassungszurechnung handelt, wendet der BGH zur Feststellung der Kausalität des Erstgaranten in allen Entscheidungen die Vermeidbarkeitstheorie an. Das Gericht begreift die Erfolgszurechnung ausschließlich als empirisches Beweisproblem und fragt nach der hypothetischen Erfolgsvermeidung bei pflichtgemäßem Handeln des Erstgaranten. In einer Vielzahl unproblematischer Fälle legt die Gerichtspraxis der Beweiswürdigung die pflichtgemäße Reaktion des Dritten zugrunde und bejaht die Kausalität des Erstgaranten. In den hier vorgestellten Fällen gestaltet sich die Kausalitätsfeststellung jedoch insoweit schwieriger, als der den rettenden Kausalverlauf vermittelnde Dritte in der Vergangenheit durch Nachlässigkeiten aufgefallen war. Hier legt der BGH strenge Maßstäbe an die Bildung der richterlichen Überzeugung, dass der Dritte diesmal pflichtgemäß gehandelt hätte – der Erfolg also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert worden wäre. Gelingt diese Überzeugungsbildung nicht, so ist der Erstgarant mangels Kausalität seiner Unterlassung für den Erfolgseintritt nach dem Zweifelsgrundsatz freizusprechen. Bei einem Versuch der Systematisierung der Urteile zeigen sich die früheren Urteile des BGH als geprägt von dem Anliegen, das Problembewusstsein der Instanzgerichte zu schärfen. Darüber hinaus wird das Bemühen deutlich, die beweisrechtlichen Hürden für die Annahme der hypothetischen Erfolgsvermeidung durch den Dritten hoch zu legen. In diesem Sinne wurde die Beweiswürdigung der Instanzgerichte im Abszess-, Bremsen- und Blutbank-Fall moniert, die Schuldsprüche wurden aufgehoben. Im Lederspray-Fall kamen zu dem Problem der in das Rettungsgeschehen notwendig zwischengeschalteten Einzelhändler noch die Schwierigkeit des Nachweises der naturgesetzlichen Kausalität des Ledersprays für die aufgetretenen Lungenschäden, sowie das Problem der Gremienkausalität. In diesem Kontext ist der knapp gehaltene Verweis auf die rechtsfehlerfreie Beweiswürdigung der Vorinstanz zu sehen, die an der hypothetischen Erfolgsvermeidung keinen Zweifel hatte. Betrachtet man die früheren Urteile in ihrer Tendenz als Versuche einer Sensibilisierung der Tatsacheninstanz für das Problem drittvermittelter Kausalverläufe und sieht man in ihnen den Versuch, einer vorschnellen Überzeugung von der hypothetischen Erfolgsvermeidung durch den Dritten zu begegnen, so will sich das Urteil des BGH im Eissporthallen-Fall in dieses Bild nicht recht fügen. Das LG Traunstein konnte sich von einer hypothetischen Pflichterfüllung der Stadtverwaltung nicht überzeugen. Angesichts der dort herrschenden eklatanten Misswirtschaft erscheint dies ein Ergebnis der Beweiswürdigung zu sein, an dem angesichts des vom BGH vorgegebenen strengen Maßstabs der Überzeugungsbildung von der hypothetischen Pflichterfüllung des Dritten kein beweisrechtlicher Weg vorbeiführt. Umso bemerkenswerter mutet es an, dass der BGH hier wiederum die Beweiswürdigung moniert und das Urteil aufhebt. Wie aus den durch das LG geradezu gebetsmühlenartig wiederholten erheblichen Zweifeln an der

II. Die Lösung der Rechtsprechung

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hypothetisch pflichtgemäßen Reaktion der Stadtverwaltung66 anhand der Beweisanregungen des BGH die Überzeugung reifen soll, diese hätte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gehandelt, will nicht recht einleuchten. Forscht man nach den möglichen Motiven dieser Urteilsaufhebung, so lässt sie sich auf zweierlei Weise erklären. Entweder wollte der BGH um der Konfliktbewältigung willen den Sachverhalt bis in das letzte Detail aufgeklärt wissen, auch wenn der Weg zur Feststellung der Kausalität des Gutachters auf Grundlage der Vermeidbarkeitstheorie angesichts der Reaktionsunwilligkeit der Behörden versperrt scheint. Ein solches Versöhnungssignal an die Angehörigen und Betroffenen auf dem Rücken des Angeklagten wäre mit der Funktion des BGH als Revisionsinstanz unvereinbar. Und auch ein Tatsachengericht fungiert nicht als judikativer Untersuchungsausschuss, sondern muss den Sachverhalt lediglich soweit aufklären, wie er für die strafrechtliche Beurteilung relevant ist. Oder aber der BGH versucht mit seiner Entscheidung die Anforderungen an die Überzeugungsbildung hinsichtlich der hypothetischen Pflichterfüllung des Dritten etwas abzusenken.67 In jedem Fall lässt das Urteil die Instanzgerichte etwas ratlos zurück in der Frage, unter welchen Vorzeichen die Beweiserhebung und -würdigung in künftigen Fällen vorzunehmen ist. Die Darstellung der höchstrichterlichen Rechtsprechung unter 1. hat gezeigt, dass der BGH bei drittvermittelten Rettungsgeschehen und den hierbei nacheinander geschalteten Garantenpflichten die Zurechnungsfrage unter Anwendung der Vermeidbarkeitstheorie als reines Beweisproblem begreift. Bei Zweifeln an der hypothetischen Erfolgsvermeidung ist der Angeklagte nach dem Zweifelsgrundsatz freizusprechen. Die Systematisierung der Urteile hat einen Bruch in der Linie des BGH im Eissporthallen-Urteil offenbart. Die Lösung der drittvermittelten Rettungsgeschehen als reines Beweisproblem wurde unter 2. in Kontrast gestellt zu Fällen zeitlich zusammenfallender Garantenpflichten. In der Politbüro-Entscheidung sagt sich der BGH los von der Vermeidbarkeitstheorie und einer Behandlung der Konstellation als Beweisproblem. In diesen Fällen kommt es nach Überzeugung des Gerichts für die Beurteilung der Kausalität nicht darauf an, welche Wirkung das Verhalten gehabt hätte, das jedem einzelnen geboten war.68 Hier betont der BGH den normativen Charakter der Erfolgszurechnung bei Unterlassungen. Der so entworfene normative Charakter der Unterlassungszurechnung ist in den Entscheidungsgründen allerdings Schlagwort geblieben. Es bedarf eines größeren Begründungsaufwands und einer intensiveren dogmatischen Fundierung und Ausdifferenzierung, um ein Abwei-

66 LG Traunstein vom 18.11.2008, Az. 2 KLs 200 JS 865/06, juris-Rn. 303, 307, 310, 312, 331, 335, 342. 67 In diese Richtung auch Greco, ZIS 2011, 674 (689). 68 BGHSt 48, 77 (94).

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

chen von der Vermeidbarkeitstheorie im Sinne einer Bereichsausnahme69 zu legitimieren. Die Darstellung und Systematisierung der Urteile gibt das weitere Prüfprogramm vor. Die Lösung der Rechtsprechung ist in der Literatur auf Kritik gestoßen. Es zeichnet sich ab, dass die Anwendung der Vermeidbarkeitstheorie eine vorhersehbare, rechtssichere Beweiserhebung erschweren und im Fahrlässigkeitsbereich Haftungslücken begründen könnte. Mit letzterem Gesichtspunkt ist die Frage aufgeworfen, ob mit ihrer Anwendung eine sachgerechte Konfliktverarbeitung im Fahrlässigkeitsbereich ermöglicht wird. Unter Gesichtspunkten der Normgeltung erscheint es zweifelhaft, ob die Entlastung des pflichtwidrig handelnden Erstgaranten mit der hypothetischen Pflichtverletzung eines Dritten eine akzeptable Konsequenz ist. All dies sind Aspekte, die ein kurzer Blick in das strafrechtliche Schrifttum im Rahmen der Besprechung des jeweiligen Urteils offenbart hat. Ziel der unter III. folgenden Untersuchung ist es, diese Kritikpunkte zusammenzutragen und zu systematisieren, um sie nachfolgend einer kritischen Betrachtung zu unterziehen und so die Analyse der Rechtsprechung zu drittvermittelten Rettungsgeschehen abzuschließen. Hierbei gilt es auch zu untersuchen, ob der im Rahmen der Systematisierung der Urteile festgestellte Bruch auf einer Schwäche der Lösung der Rechtsprechung beruht.

III. Kritik in der Literatur Im Folgenden wird die Kritik der Literatur an der Lösung des BGH dargestellt, anschließend unter IV. überprüft und um eigene Überlegungen ergänzt. Die Kritik richtet sich gegen die Anwendung der Vermeidbarkeitstheorie und die mit ihr verbundene Frage, ob der Dritte bei hypothetisch pflichtgemäßem Verhalten des Erstgaranten seinerseits pflichtgemäß gehandelt und so den Erfolg abgewendet hätte. Sie konzentriert sich auf drei Gesichtspunkte. In beweisrechtlicher Hinsicht wird der Versuch des BGH für untauglich befunden, über die hypothetische Reaktion des Dritten auf der Grundlage hypothetisch pflichtgemäßer Information durch den Erstgaranten Beweis erheben zu wollen. Kritisch wird außerdem die Möglichkeit der Entlastung des Erstgaranten unter dem Hinweis auf die hypothetische Pflichtverletzung des Dritten gesehen, die sich als Konsequenz aus der unbesehenen Anwendung der Vermeidbarkeitstheorie ergibt. Diese Kritik erfolgt zum einen aus dem Blickwinkel der Irrelevanz hypothetischer Schadensverläufe, zum anderen aus dem Gedanken der Unzulässigkeit der Berufung auf pflichtwidriges Verhalten.

69 Nichts anderes stellt der Verzicht auf die hypothetische Erfolgsvermeidung bei pflichtgemäßem Handeln des einzelnen dar.

III. Kritik in der Literatur

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1. Denklogische Unmöglichkeit der Beweisführung über hypothetisches Verhalten In Anwendung der Vermeidbarkeitstheorie muss sich der BGH zur Feststellung der Unterlassungskausalität des Erstgaranten mit der Frage auseinandersetzen, ob der Erfolg bei pflichtgemäßem Handeln des Erstgaranten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben wäre. Bei drittvermittelten Rettungsgeschehen ist zur Erfolgsabwendung die pflichtgemäße Reaktion des Dritten auf die Information durch den Erstgaranten erforderlich. So ist im Prozess Beweis zu erheben über die Frage, ob der Dritte bei hypothetisch pflichtgemäßer Information durch den Erstgaranten seinerseits pflichtgemäß reagiert und den Erfolg abgewendet hätte. Diese Beweiserhebung über die hypothetische Reaktion des Dritten wird im strafrechtlichen Schrifttum kritisiert. Ausgangspunkt der Kritik ist regelmäßig die Überzeugung von der Indeterminiertheit menschlichen Verhaltens. Aufgrund der Willensfreiheit des Menschen, so wird argumentiert, könne dessen hypothetische Reaktion auf bestimmte Umstände niemals mit einer prozessrechtlich hinreichenden Gewissheit festgestellt werden. Schulmäßig exerziert Puppe diesen Gedankengang. Eine Kausalerklärung setze allgemeine Gesetze70 und damit einen determinierten Bereich voraus. Spiele das Handeln eines Dritten für die Erfolgszurechnung eine Rolle, so sei der Bereich gesetzmäßiger Determiniertheit verlassen. Unproblematisch sei dies in Fällen, in denen der Dritte tatsächlich gehandelt habe. Hier könne dessen ex ante indeterminiertes Verhalten ex post betrachtet und im Rahmen der Kausalbetrachtung als gegeben vorausgesetzt werden.71 Dieses Verfahren versage jedoch in Fällen, in denen der Täter seinen Beitrag zu einem nicht determinierten Rettungsereignis unterlassen habe. Hier komme das Verhalten des Dritten nur als irreales vor und könne daher nicht als gegeben vorausgesetzt werden. Für diese Fälle kommt Puppe zu dem Schluss, dass sich ein gesetzmäßigkeitsbasierter Kausalbeweis nicht führen lässt. „Ist [. . .] der rettende Verlauf, den der Täter [. . .] zu ermöglichen unterlassen hat, seinerseits nicht durch Gesetze determiniert, weil er in einem Verhalten des Opfers oder eines Dritten besteht, so können wir die Notwendigkeit des Täterverhaltens für die Erfolgserklärung aus prinzipiellen Gründen nicht feststellen.“ 72

So umschreibt Puppe das Zurechnungsproblem, das sich bei drittvermittelten Rettungsgeschehen stellt. In zahlreichen kritischen Anmerkungen hat sie ihren 70 Hierzu im wissenschaftstheoretischen Kontext bereits oben S. 42 ff., sowie aus strafrechtlicher Perspektive S. 102 f. 71 Puppe, ZStW 95, 287 (294 f.); ebenso Roxin, FS Achenbach, 409 (416). 72 Puppe, ZStW 95, 287 (296); NK/dies., vor § 13 Rn. 133; dies., AT, 30/15; dies., JR 2010, 353 (355 f.); grundlegend bereits dies., ZStW 92, 863 (906); zum Vorstehenden dies., ZStW 95, 287 (293 ff.).

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

Gedankengang konkret auf die Lösung des BGH bezogen.73 So etwa im Lederspray-Fall74: „Versucht man, das Problem nach der Wegdenk-Methode des BGH zu lösen, so ergibt sich die Frage, ob gerade derjenige Einzelhändler, bei dem der einzelne von dem Lungenödem betroffene Benutzer sein Lederspray gekauft hat, den Rückruf rechtzeitig erfahren und ihn dann auch prompt befolgt hätte, wenn er stattgefunden hätte. Diese Frage ist aus prinzipiellen Gründen nicht zu beantworten.“ 75

Das Argument der prinzipiellen Unmöglichkeit einer Beweiserhebung über das hypothetische Verhalten des Dritten wurde von zahlreichen Autoren aufgegriffen.76 So fragt etwa Altenhain rhetorisch: „Wie stellt man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest, was eine Person getan hätte, wenn sie in eine Situation geraten wäre, die wegen der Untätigkeit des Garanten gerade nicht eintrat?“ 77 Mangels allgemeingültiger Gesetze über menschliches Verhalten sei die Frage unbeantwortbar, wie sich ein Mensch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhalten hätte. Und auch bei Autoren, die eine Beweisführung im hypothetischen Bereich nicht kategorisch ausschließen, klingt Kritik an der Lösung des BGH an. Bosch etwa hält die Anforderungen des BGH an die Kausalitätsfeststellung bei innerpsychischen Zusammenhängen für überzogen. Bei psychisch vermittelten Kausalzusammenhängen lasse sich nachträglich kaum jemals feststellen, wie der Einzelne in einer bestimmten Situation gehandelt hätte.78 Roxin teilt zwar die These von der denklogischen Unmöglichkeit der Beweiserhebung über hypothetisches Verhalten nicht, dennoch unterliege die Reaktion des Dritten keiner naturgesetzlichen Determination, eine sichere Prognose sei unmöglich. Daher dürfe „die Strafbarkeit nicht von einem Umstand abhängig gemacht werden [. . .], der sich in den meisten Fällen einem gerichtlichen Beweis prinzipiell entzieht. Die richterliche Überzeugung kann eine fehlende Beweismöglichkeit nicht ersetzen.“ 79 Hält man aufgrund der Indeterminiertheit menschlichen Verhaltens die Feststellung der hypothetischen pflichtgemäßen Reaktion des Dritten mit einer prozessrechtlich hinreichenden Gewissheit für ausgeschlossen, so müsste der Erstgarant in allen Fällen drittvermittelter Rettungsgeschehen nach dem Zweifelsgrund-

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Vgl. zuletzt Puppe, NStZ 2012, 409 (410 ff.). Hierzu bereits oben S. 136 ff. 75 Puppe (2000), 50; vgl. zu diesem Kritikpunkt auch dies., AT, 30/15; dies., JR 1992, 30 (31); dies., JR 2010, 353 (355 f.). 76 Kudlich, JA 2010, 552 (554) im Kontext des Eissporthallen-Falls; Altenhain, NStZ 2001, 188 (190 f.) im Kontext des Blutbank-Falls; Lindemann, ZJS 2008, 404 (407 f.) im Kontext des Bremsen-Falls; Kahlo, GA 1987, 66 (77); Sofos (1999), 241 im Kontext des Abszess-Falls. 77 Altenhain, NStZ 2001, 188 (191). 78 Bosch, JA 2008, 737 (739); vgl. auch ders., FS Puppe, 373 (374 f.). 79 Roxin, FS Achenbach, 409 (428). 74

III. Kritik in der Literatur

153

satz freigesprochen werden – die Kausalität seiner Unterlassung wäre nicht feststellbar.80 Diese Konsequenz wird von den genannten Autoren einhellig abgelehnt und damit die Kausalitätsfeststellung mithilfe der Vermeidbarkeitstheorie für untauglich befunden. Der Rechtsprechung müssten sie auf Grundlage ihrer Prämissen eine für den Angeklagten folgenreiche Inkonsequenz vorwerfen: Wer ungeachtet der Indeterminiertheit menschlichen Verhaltens auf der Grundlage der Vermeidbarkeitstheorie zurechnet, müsste den Erstgaranten immer freisprechen. Der BGH teilt indessen die Indeterminiertheitsthese nicht. Er geht keineswegs davon aus, dass die richterliche Überzeugung von einer hypothetisch pflichtgemäßen Handlung des Dritten generell ausgeschlossen sei.81 Somit bleibt der Vorwurf der Inkonsequenz ein perspektivisch relativer. 2. Irrelevanz hypothetischer Schadensverläufe Über die rechtsphilosophisch beeinflusste Kritik an der Beweiserhebung im hypothetischen Bereich hinaus wirft die Beweisführung des BGH über die hypothetische Reaktion des Dritten normative und dogmatische Probleme auf. In der Literatur wird die Frage aufgeworfen, ob eine potenziell pflichtwidrige Reaktion des Dritten einen hypothetischen Schadensverlauf darstellt und als solcher für die Erfolgszurechnung überhaupt Relevanz beanspruchen kann. Darüber hinaus wird bezweifelt, ob pflichtwidriges Verhalten geeignet ist, dem Erstgaranten als Exkulpation zu dienen. Zunächst zu dem erstgenannten Problem: Kann eine potenziell pflichtwidrige Reaktion des Dritten als hypothetischer Schadensverlauf den Zurechnungszusammenhang zwischen Erfolgseintritt und Unterlassung des Erstgaranten unterbrechen? Nach der vom BGH angewendeten Vermeidbarkeitstheorie ist diese Frage eindeutig zu bejahen. Das Gericht hob im Abszess-, im Blutbank- und im Bremsen-Fall die erstinstanzlichen Urteile auf, da der Erfolg selbst bei pflichtgemäßer Information durch den Erstgaranten möglicherweise durch den ihm in seiner Pflichtenstellung nachgeschalteten Dritten verursacht worden wäre. Unter Hinweis auf das hypothetische Verhalten des Dritten wird der Zurechnungszusammenhang verneint. Jakobs geht in seiner Kritik zwar nicht auf die Rechtsprechung des BGH bei drittvermittelten Rettungsgeschehen ein, in der Sache jedoch spricht er sich gegen eine Berücksichtigung des hypothetischen Verhaltens des Dritten in der hier untersuchten Konstellation aus.

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Bosch, JA 2008, 737 (739); diesen zitiert Kudlich, JA 2010, 552 (554). Anderenfalls wären die Beweisanregungen des BGH im Eissporthallen-Fall, Anhaltspunkte für eine mögliche pflichtgemäße Reaktion der Baubehörde umfassender zu erörtern (BGH NJW 2010, 1087 (1091 f. Rn. 68 f.), von vornherein sinnlos. 81

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Irrelevanz von Hypothesen für die strafrechtliche Erfolgszurechnung. Es gehe bei der Erfolgszurechnung darum, den wirklich schädigenden Verlauf auszumachen. Das geltende Strafrecht stelle auf den Schadenseintritt ab, nicht auf die Zerstörung der „Bestandschance“ für das Rechtsgut. Als Beispiel beschreibt Jakobs die Zerstörung einer Getreideernte durch spielende Kinder, die aufgrund eines heraufziehenden Unwetters ohnehin dem Untergang geweiht ist. Die Kinder nehmen durch ihre Handlung dem Rechtsgut zwar nicht seine Bestandschance – diese sei aufgrund des nahenden Unwetters ohnehin verloren. Sie vernichten jedoch faktisch die Ernte und führen so den tatbestandlichen Erfolg herbei.82 Für die Erfolgszurechnung sei es daher irrelevant, ob der Erfolg bei pflichtgemäßem Verhalten des Täters aufgrund eines anderen Risikoverlaufs83 eingetreten wäre. Andernfalls würden sich Risiken gegenseitig blockieren und so zu widersinnigen Ergebnissen führen. Im berühmten Radfahrer-Fall84 müsse man etwa feststellen, der zu geringe Sicherheitsabstand habe sich nicht im Erfolg realisiert, da der Radfahrer betrunken gefahren sei, die Trunkenheit wiederum sei möglicherweise für den Erfolgseintritt irrelevant, da es aufgrund des zu geringen Seitenabstands ohnehin zu dem Unfall gekommen wäre. Ein solches Ergebnis sei jedoch nicht hinnehmbar, da eines der beiden Risiken den Tod verursacht haben müsse.85 Ausgehend von diesen Überlegungen zur Irrelevanz hypothetischer Risikobetrachtungen schlägt Jakobs die Brücke zur Erfolgszurechnung bei den Unterlassungsdelikten. Wie bei den Begehungsdelikten dürfe auch im Bereich der Unterlassungsdelikte die Frage der Risikoverwirklichung nicht unter Berücksichtigung hypothetischer Schadensverläufe beantwortet werden. Ist demnach „die Rettung des Opfers nur unmöglich, weil bei pflichtgemäßem Verhalten andere Personen den Erfolg zurechenbar durch einen Abbruch des rettenden Verlaufs nicht abwenden oder durch pflichtwidriges Nicht-Weiterleiten passiv nicht abgewendet hätten, so bleibt die Zurechnung bestehen“.86 Spricht Jakobs hier von „Zurechnung“, so bedeutet dies nicht, dass er die Kausalität des Unterlassenden bejahen

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Jakobs, AT, 7/74. Zur These Jakobs’, dass die Berücksichtigung von Hypothesen „nur innerhalb eines Risikos angebracht, aber bei der Konkurrenz mehrerer Risiken falsch“ sei, vgl. Jakobs, FS Lackner, 53 (56). 84 BGHSt 11, 1: Ein Lastwagenfahrer hatte beim Überholen eines Radfahrers den gebotenen Sicherheitsabstand nicht eingehalten. Der stark alkoholisierte Radfahrer erschrak während des Überholvorgangs und zog sein Rad nach links, wo er unter den Lastwagen geriet und getötet wurde. Die Beweisaufnahme ergab, dass sich der Unfall aufgrund der Alkoholisierung des Radfahrers wahrscheinlich auch bei Einhaltung des vorgeschriebenen Seitenabstands ereignet hätte. Vgl. hierzu Roxin, AT I, 11/88 ff. 85 Jakobs, AT, 7/75. 86 Jakobs, AT, 29/21–23. 83

III. Kritik in der Literatur

155

und erst die objektive Zurechenbarkeit des Erfolgs ausschließen möchte. Grund für diese Terminologie ist vielmehr sein Zurechnungskonzept im Bereich der Unterlassungsdelikte, das der Kausalitätsfeststellung keine eigenständige Bedeutung zumisst und deshalb alle Sachfragen als Zurechnungsprobleme diskutiert.87 Den Gedanken der Irrelevanz hypothetischer Schadensverläufe greift auch Freund auf. Bezogen auf den Bremsen-Fall88 spricht er dem Werkstattleiter eine Mitverantwortlichkeit für das erfolgsverursachende Geschehen unabhängig von der hypothetischen Reaktion des Vorgesetzten zu. Hierfür genüge es, dass letzterer seine Entscheidung, den gefahrenträchtigen Sattelschlepper pflichtwidrig nicht aus dem Verkehr zu ziehen, auf der Grundlage der unvollständigen Information durch den Werkstattleiter getroffen habe. „Die Frage, wie er bei ordnungsgemäßer Information entschieden hätte, ist als bloß hypothetische – wie sonst auch – dafür ohne Belang.“ 89 3. Keine Entlastung mit fiktiver Pflichtverletzung Der dritte Kritikpunkt betrifft die mit der Anwendung der Vermeidbarkeitstheorie verbundene Möglichkeit der Entlastung des Erstgaranten unter Berufung auf eine fiktive Pflichtverletzung des Dritten. In der Frage, inwieweit einem Unterlassungstäter die Berufung auf das ebenfalls pflichtwidrige Verhalten eines anderen als Entlastung dienen kann, nimmt der BGH zwei gegensätzliche Positionen ein. In der Politbüro-Entscheidung90 hatte sich das Gericht mit der Frage zu befassen, ob die Kausalität der Unterlassungen der einzelnen Gremienmitglieder entfällt, weil selbst bei pflichtgemäßem Handeln die jeweils anderen Mitglieder untätig geblieben wären und somit der Erfolg nicht hätte verhindert werden können. Diese Möglichkeit der Entlastung mit der (tatsächlich eingetretenen) pflichtwidrigen Unterlassung eines anderen verwehrte der BGH dem Angeklagten: Dieser könne „sich nicht damit entlasten, daß sein Bemühen, die gebotene Kollegialentscheidung herbeizuführen, erfolglos geblieben wäre, weil ihn die anderen Beteiligten im Streitfalle überstimmt hätten. Sonst könnte sich jeder Garant allein durch den Hinweis auf die gleichartige und ebenso pflichtwidrige Untätigkeit gleichgeordneter Garanten von jeder strafrechtlichen Haftung freizeichnen.“ 91 Ganz ähnlich, teilweise wortgleich hatte der 87 „Im Ergebnis verspricht die Bildung eines Systems, in dem auch die Unterlassung als kausal bezeichnet werden kann, [. . .] keinen Gewinn, sondern nur terminologische Wirrnis. Problematisch ist nicht das Fehlen derjenigen Kausalität bei der Unterlassung, die Kennzeichen der Handlung ist, sondern die Zurechnung [. . .] vermeidbarer Erfolge“, Jakobs, AT, 29/18. Hierzu bereits oben S. 109. 88 Vgl. oben S. 139 ff. 89 MüKo/Freund, § 13 Rn. 224. 90 Vgl. hierzu bereits oben S. 144 ff. 91 BGHSt 48, 77 (94).

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

BGH bereits im Lederspray-Fall92 argumentiert, in dem es ebenfalls um eine Gremienentscheidung ging. In beiden Urteilen beschränkt das Gericht seine Argumentation jedoch auf Fälle gleichrangiger, parallel unterlassender Garanten.93 Diese Beschränkung ermöglicht es dem BGH in den hier untersuchten Fällen, in denen die Beteiligten nicht gleichrangig und nicht gleichzeitig, sondern nacheinander geschaltet handeln bzw. handeln müssten, die Kausalität der Unterlassung des Erstgaranten allein nach Maßgabe der Vermeidbarkeitstheorie zu beurteilen. Unter Betonung der Unterschiede zwischen beiden Konstellationen94 verneint der BGH die Vermeidbarkeit des Erfolgs und damit die Kausalität der Unterlassung, wenn konkrete Zweifel an der hypothetisch pflichtgemäßen Reaktion des Dritten bestehen. Gelingt es nun der Verteidigung im Prozess, das Gericht davon zu überzeugen, dass es der Dritte im Falle der pflichtgemäßen Information durch den Erstgaranten möglicherweise seinerseits pflichtwidrig unterlassen hätte, den Erfolg abzuwenden, so ist der Erstgarant mangels Kausalität seiner Unterlassung nach dem Zweifelsgrundsatz freizusprechen. So ermöglicht das Gericht die Entlastung des pflichtwidrig unterlassenden Erstgaranten mit dem Hinweis auf eine mögliche Pflichtverletzung des Dritten. Diese Konsequenz wird in der Literatur vielfach kritisiert.95 So sieht etwa Puppe zwischen gleichzeitigen und nacheinander geschalteten Handlungspflichten keine relevanten Unterschiede96 und kommt in Anbetracht der Lösung des BGH in der Politbüro-Entscheidung zu dem Ergebnis, auch in letztgenannter Konstellation sei dem Unterlassungstäter die Exkulpation zu versagen: 92

BGHSt 37, 106 (131); vgl. hierzu oben S. 136 ff. Im Lederspray-Urteil spricht der BGH von der „gemeinsamen und gleichstufigen Verantwortung der Geschäftsführer“, es müsse verhindert werden, dass sich jeder mit dem Hinweis auf die „gleichartige“ Pflichtverletzung eines anderen entlaste. Im Politbüro-Urteil spricht der BGH von der „gleichartigen [. . .] Untätigkeit gleichgeordneter Garanten“; jeweils a. a. O. 94 Vgl. etwa das Urteil im Eissporthallen-Fall, BGH NJW 2010, 1087 (1091 Rn. 65): „Die [. . .] vorliegende Situation nacheinander erfolgter Unterlassungen ist nicht mit der auf gleicher Ebene angesiedelten Entscheidung von Kollektivorganen vergleichbar, nichts zu veranlassen [. . .], bzw. mit kollektivem Untätigbleiben der Mitglieder entsprechender Gremien“. Bereits zuvor im Blutbank-Fall stellte der BGH fest, es handle sich um eine andere Konstellation als im Lederspray-Fall: „Dort ging es um die gemeinsame und gleichstufige Verantwortung mehrerer Geschäftsführer [. . .]. So liegt es hier nicht. Das [. . .] unterlassene Handeln sollte nicht gemeinsam und in gleichstufiger Verantwortung [. . .] gefordert werden, sondern vielmehr durch sie (die Angeklagte, Anm. d. Verf.) allein“, BGH NJW 2000, 2754 (2757). 95 Roxin, FS Achenbach, 409 (428); Puppe, JR 2010, 353 (357) im Kontext des Eissporthallen-Falls; dies., AT, 30/15 im Kontext des Blutbank-Falls; Altenhain, NStZ 2001, 188 (191) im Kontext des Blutbank-Falls; Lindemann, ZJS 2008, 404 (408) im Kontext des Bremsen-Falls; Bosch, JA 2008, 737 (739) im Kontext des Bremsen-Falls; Sofos (1999), 234; Frister, AT, 22/22 (Fn. 37) im Kontext des Blutbank-Falls sowie des Bremsen-Falls. 96 Puppe, JR 2010, 353 (357). 93

III. Kritik in der Literatur

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„Der richtige Schluss (von der Lösung des BGH im Politbüro-Fall auf die Konstellation nacheinander geschalteter Garantenpflichten, Anm. d. Verf.) führt in die umgekehrte Richtung und ist ein argumentum a maiore ad minus. Kann sich ein Täter zu seiner Entlastung schon nicht darauf berufen, dass er den strafbaren Erfolg [. . .] nicht hätte verhindern können, weil andere ihre Garantenpflichten ebenfalls verletzt haben, so muss dies erst recht für den Fall gelten, dass die Pflichtverletzungen der anderen Garanten [. . .] in Wirklichkeit nicht geschehen sind, weil die Unterlassung des Täters gerade darin besteht, ihnen keine Gelegenheit zur Pflichtverfüllung gegeben zu haben.“ 97

Die Lösung des BGH laufe darauf hinaus, dass sich der Erstgarant „nicht mit einer wirklichen, sondern mit einer irrealen (fiktiven) Pflichtverletzung“ des Dritten entlasten könne.98 Die Unzulässigkeit einer solchen Entlastung habe der BGH in seiner Politbüro-Entscheidung jedoch selbst postuliert.99 Hier stellte das Gericht fest: „[. . .] das Recht hat von der Befolgung seiner Regeln auszugehen.“ 100 Roxin teilt die Kritik Puppes. Er sieht keinen vernünftigen Grund, warum das hypothetische Fehlverhalten des Dritten den pflichtwidrig unterlassenden Erstgaranten entlasten soll. Aufgrund dieser sinnwidrigen Konsequenz verwirft er die Vermeidbarkeitstheorie des BGH mit deutlichen Worten: „Eine derart verfehlte Konstruktion widerlegt die Theorie, auf die sie sich beruft.“ 101 Auch die Argumentation Fristers scheint von dem eben zitierten Ausspruch des BGH in der Politbüro-Entscheidung102 ihren Ausgang zu nehmen. Die Rechtsordnung sehe einen Entschluss zur Begehung einer rechtswidrigen Tat erst dann als existent an, wenn er betätigt worden sei. Hypothetisches rechtswidriges Verhalten sei daher bei der Beurteilung der Kausalität des Unterlassens nicht zu berücksichtigen.103 Diesen Ausführungen schließt sich Lindemann an.104 Bosch argumentiert, der Erstgarant dürfe sich nicht mit einer (hypothetischen) Pflichtverletzung des Dritten entlasten, weil sich auch der aktive Begehungstäter bei Fahrlässigkeit nicht mit dem pflichtwidrigen Verhalten Dritter entlasten könne.105 Nach Altenhain schließlich wird die Sachrichtigkeit der Versagung der Exkulpation in Fällen der hierarchischen Unterordnung des Erstgaranten106 gegenüber 97

Puppe, AT, 30/15; vgl. auch dies., NStZ 2012, 409 (411). Puppe, JR 2010, 353 (357); NK/dies., vor §§ 13 ff. Rn. 134. 99 Puppe, NStZ 2012, 409 (411). 100 BGHSt 48, 77 (95); vgl. bereits oben S. 145. 101 Roxin, FS Achenbach, 409 (428). 102 BGHSt 48, 77 (95); vgl. bereits oben S. 145. 103 Frister, AT, 22/22. 104 Lindemann, ZJS 2008, 404 (408). 105 Bosch, JA 2008, 737 (739). 106 Altenhain bezieht sich auf den Blutbank-Fall (vgl. oben S. 138 ff.) und das Verhältnis der stellvertretenden Klinikdirektorin zur Aufsichtsbehörde. 98

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

dem Dritten besonders deutlich. Hier seien die Sorgfaltspflichten des Erstgaranten eingeschränkt, er dürfe auf das sorgfaltsgemäße Verhalten des Vorgesetzten vertrauen. Damit könne er sich jedoch im Fall seiner eigenen Pflichtverletzung nicht gleichzeitig auf die hypothetische Pflichtverletzung des Dritten berufen.107 4. Offene Fragen Eine kurze Zusammenfassung der Kritik erfolgt auch mit dem Ziel, die Untersuchungsschwerpunkte für die sogleich folgende Stellungnahme herauszuarbeiten. Die beweisrechtliche Kritik am Versuch des BGH, die hypothetische Entscheidung des Dritten zu konstruieren, wurzelt teilweise in der philosophischen Überzeugung von der Indeterminiertheit menschlichen Verhaltens. Akzeptiert man diese Prämisse, erscheint die Argumentation konsequent. Ist menschliches Verhalten notwendig als keinerlei Gesetzmäßigkeiten unterliegend zu denken, so kann der Versuch, die hypothetische Entscheidung eines Menschen zu konstruieren, keine eindeutigen Ergebnisse hervorbringen. Bei der kritischen Würdigung dieses insbesondere von Puppe vorgebrachten Arguments geht es nicht um eine Entscheidung der Determinismus-Diskussion108 – hierzu ist eine rechtswissenschaftliche Untersuchung nicht berufen. Es gilt vielmehr zu hinterfragen, ob aus der Anerkennung der menschlichen Willensfreiheit zwingend eine konsequent indeterministische Ablehnung jeder Beweiserhebung über hypothetisches Verhalten folgen muss. Einige Autoren teilen die Prämisse der bereits denklogischen Unmöglichkeit der Beweisführung über hypothetisches Verhalten nicht, dennoch üben sie Kritik an der Beweisführung durch hypothetische Konstruktion. Hier gilt es zu untersuchen, ob sich diese Autoren eine logische Inkonsequenz vorwerfen lassen müssen, oder ob es tatsächlich gerechtfertigt ist, einerseits von der Möglichkeit der Beweiserhebung über hypothetisches Verhalten auszugehen, andererseits aber die Beweisführung des BGH mit Blick auf ihren hypothetischen Gegenstand zu kritisieren. Der zweite Kritikpunkt ist strafrechtsdogmatischer Natur. Insbesondere Jakobs argumentiert, die potenziell pflichtwidrige Reaktion des Dritten stelle einen hypothetischen Schadensverlauf dar, der – parallel zur Lösung bei den Begehungsdelikten – im Rahmen der Erfolgszurechnung außer Betracht bleiben müsse. Hier verdient die Frage eine vertiefte Auseinandersetzung, ob eine derartige Gleichschaltung von Begehungs- und Unterlassungszurechnung gerechtfertigt ist, ge-

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Altenhain, NStZ 2001, 188 (191). Die vollständige Indeterminiertheit jeder menschlichen Entscheidung ist nicht unbestritten. Vgl. hierzu den Hinweis von Greco, ZIS 2011, 674 (677). 108

IV. Überprüfung und eigene Kritik

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nauer: Ob es sich bei der Reaktion des Dritten tatsächlich um einen hypothetischen Schadensverlauf handelt, der mit demjenigen im Bereich der Begehungsdelikte vergleichbar und deswegen für die Erfolgszurechnung außer Betracht zu lassen ist. Der dritte Kritikpunkt stellt die Berücksichtigung der potenziell pflichtwidrigen Reaktion des Dritten unter dem Gesichtspunkt ihrer Pflichtwidrigkeit infrage. Zentral wird hierbei auf den vom BGH in der Lederspray- und der Politbüro-Entscheidung herangezogenen Gedanken der Normgeltung zurückgegriffen, nach dem das Recht von der Befolgung seiner Normen ausgehen muss. Hier drängen sich zwei Fragen auf. Zunächst gilt es herauszuarbeiten, ob dieses Normgeltungsargument überhaupt positiv-rechtlich begründbar ist. Hieran anschließen muss geklärt werden, ob das Normgeltungsargument geeignet ist, eine Erfolgszurechnung unter Ausblendung der Möglichkeit einer Pflichtverletzung des Dritten zu legitimieren.

IV. Überprüfung und eigene Kritik Die folgende Stellungnahme greift die soeben aufgeworfenen Fragen auf und hinterfragt die dargestellte Kritik der Literatur. Unberechtigte Kritikpunkte werden verworfen, berechtigte Kritik systematisiert und ausdifferenziert. So wird eine argumentative Grundlage für die weitere Untersuchung geschaffen. 1. Zur Unmöglichkeit der Beweiserhebung über hypothetisches Verhalten Der Reihenfolge der vorangegangenen Darstellung folgend wird zunächst zum Vorwurf der Unmöglichkeit einer Beweiserhebung über hypothetisches Verhalten Stellung genommen. Hierbei gilt es zu klären, ob aus der Anerkennung der menschlichen Willensfreiheit zwingend die Ablehnung jeder Beweiserhebung über hypothetisches Verhalten folgt, wie dies etwa Puppe vorträgt. Sollte diese Frage verneint werden, muss untersucht werden, in welchen Konstellationen eine solche Beweiserhebung gelingen kann. In einem letzten Schritt sind die so gewonnenen Erkenntnisse auf die Beweisführung des BGH bei drittvermittelten Rettungsgeschehen zu übertragen. a) Beweisrechtliches Legitimationsdefizit der Vermeidbarkeitstheorie Beschäftigt man sich mit der Frage, wie sich der Dritte verhalten hätte, wenn ihn der Erstgarant pflichtgemäß über Existenz und Ausmaß der Gefahrenquelle informiert hätte, so bewegt man sich im Bereich psychisch vermittelter Kausalität. Bevor zu der These Puppes Stellung genommen wird, ausgehend von einem indeterministischen Weltbild könne über hypothetisches Verhalten nicht Beweis

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

erhoben werden, erfolgt eine kurze Analyse des Verhältnisses von Indeterminismus und Feststellung psychisch vermittelter Kausalität. aa) Zur denklogischen Unmöglichkeit der Beweisführung über hypothetisches Verhalten Ausgehend von einem indeterministischen Menschenbild ließe sich argumentieren, dass menschlichen Entscheidungen keinerlei Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegen, dass man daher nie davon sprechen könne, eine psychische Einwirkung habe eine bestimmte Reaktion verursacht, wodurch in letzter Konsequenz die Feststellung psychisch vermittelter Kausalität generell unmöglich wäre. So weit gehen jedoch auch die Vertreter einer konsequenten Anwendung des Indeterminismusgedankens nicht. Bei den Begehungsdelikten bereitet die Feststellung psychisch vermittelter Kausalität auch aus indeterministischer Perspektive keine Probleme. Grund hierfür ist die Ex-post-Perspektive der gerichtlichen Beweisführung. Im Falle einer Anstiftung nach § 26 StGB hindert etwa die Indeterminiertheit des Verhaltens des Haupttäters ex ante nicht die Beweiserhebung über die Frage, ob aus Ex-post-Perspektive die Einwirkung durch den Anstifter bei ihm den Tatentschluss hervorgerufen hat.109 Problematisch wird die Feststellung psychisch vermittelter Kausalität jedoch bei drittvermittelten Rettungsgeschehen auf Grundlage der Vermeidbarkeitstheorie. Hier kann der Kausalzusammenhang nicht ex post untersucht werden, er ist vielmehr hypothetisch zu konstruieren. Erst an diesem Punkt tritt das von Puppe vorgetragene Problem auf. Ihrer Meinung nach muss eine solche hypothetische Konstruktion einer menschlichen Entscheidung an deren prinzipieller Indeterminiertheit scheitern. Ist nun Puppe zu folgen, wenn sie aus der Indeterminiertheit menschlichen Verhaltens die prinzipielle Unmöglichkeit der Beweisführung über hypothetisches Verhalten ableitet? Aus philosophischer Perspektive ist ihre Argumentation konsequent. Sie wird jedoch in ihrer Pauschalität der Vielfalt der in der Gerichtswirklichkeit zu beurteilenden Fallkonstellationen nicht gerecht. Rechtstatsächlich muss der Versuch der Beweiserhebung über die hypothetische Reaktion einer Person nicht zwangsläufig scheitern. Wenn Roxin etwa behauptet, man könne in vielen Fällen mit Sicherheit davon ausgehen, dass Eltern der Aufforderung nachkommen, ihr eigenes Kind zu retten110, so mag man ihm rechtsphilosophisch widersprechen, rechtstatsächlich muss man ihm zustimmen. Damit ist nicht gesagt, dass es keine Fälle geben kann, in denen diese Reaktion zweifelhaft erscheinen mag. Jedoch offenbart dieses Beispiel Zweifel an der faktischen Berechtigung der philoso109 110

Vgl. hierzu bereits oben S. 151. Roxin, FS Achenbach, 409 (428).

IV. Überprüfung und eigene Kritik

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phisch begründeten These von der denklogischen Unmöglichkeit der Beweiserhebung über hypothetisches Verhalten. Führt man sich zudem vor Augen, dass psychische Kausalzusammenhänge auch bei den Begehungsdelikten ex post unabhängig von allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten festgestellt werden, so ist diese Möglichkeit ungeachtet der Determinismus-Diskussion auch im Rahmen der hypothetischen Kausalitätsfeststellung der Unterlassungsdelikte nicht bereits denklogisch ausgeschlossen. Dies ist auch der Ausgangspunkt derjenigen Autoren, die – wie bereits dargestellt111 – eine so konsequente Umsetzung der Indeterminiertheitsthese, wie sie Puppe vertritt, ablehnen und dennoch Kritik an der hypothetischen Beweisführung des BGH üben. So formuliert etwa Bosch: „Dass ex ante ein psychischer Kausalverlauf nichtdeterminiert sein mag [. . .] schließt jedenfalls nicht grundsätzlich aus, darüber ex post Beweis zu erheben, auch wenn vielleicht [. . .] keine hundertprozentige Wahrscheinlichkeit des hypothetischen Ablaufs festgestellt werden kann.“ 112

Entgegen der von Puppe, Lindemann, Kudlich u. a.113 vertretenen Kritik versagt die Vermeidbarkeitstheorie des BGH also nicht schon denklogisch in Fällen drittvermittelter Rettungsgeschehen. bb) Legitimationsdefizit der Beweiserhebung über hypothetisches Verhalten Sowohl bei Roxin als auch bei Bosch klingt jedoch eine berechtigte Skepsis gegenüber einer solchen Beweisführung über hypothetisches Verhalten an. Bei Roxin heißt es etwa: „Etwas übertrieben scheint mir die These, dass niemals ein forensisch hinreichender Beweis darüber möglich ist, ob eine anzurufende Instanz sich zu Erfolgsabwendungsmaßnahmen entschlossen hätte. [. . .] Gleichwohl lässt sich in den meisten Fällen [. . .] nicht mit Sicherheit ermitteln, wie die anzurufende Person reagiert hätte.“ 114

Forscht man nach den Ursachen dieser intuitiven Skepsis, so gilt es sich ins Gedächtnis zu rufen, auf welcher Grundlage der Beweis psychisch vermittelter Kausalität in der Gerichtspraxis geführt wird. Die Gerichte greifen insbesondere auf Erkenntnisse der Befragung desjenigen zurück, der als Adressat der psychischen Einwirkungsbemühungen den Erfolg herbeigeführt hat, sowie auf die diese Einwirkungsbemühungen umgebenden Rahmenbedingungen.115 In Fällen, in denen über das hypothetische Verhalten einer Person Beweis erhoben werden soll, 111

Vgl. oben S. 152. Bosch, FS Puppe, 373 (382); ebenso Roxin, FS Achenbach, 409 (428). 113 Vgl. die Nachweise oben Fn. 75, 76. 114 Roxin, FS Achenbach, 409 (428). Bosch, FS Puppe, 373 (382) formuliert einschränkend, dass die Indeterminiertheit menschlichen Verhaltens eine dahingehende Beweisführung „jedenfalls nicht grundsätzlich“ ausschließe. 115 Vgl. Roxin, FS Achenbach, 409 (419). 112

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

ist jedoch der beweisrechtliche Wert der erstgenannten Befragung erheblich vermindert.116 In aller Regel wird es dem Befragten schwerfallen, seine eigene hypothetische Entscheidung in einer Situation zu konstruieren, in der er sich faktisch nie befand.117 Zusätzlich verliert diese Befragung an beweisrechtlicher Aussagekraft in Fällen drittvermittelter Rettungsgeschehen. Hier müsste der Dritte Stellung nehmen zu der Frage, ob er bei ordnungsgemäßer Information durch den Erstgaranten seinerseits den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs pflichtgemäß verhindert hätte. Um sich nicht in ein schlechtes Licht zu rücken, wird sich kaum jemals ein Zeuge selbst einer hypothetischen Pflichtverletzung bezichtigen. Als Anschauungsbeispiel sollen die Ausführungen des LG Traunstein in seinem ersten Urteil dienen. Hier nimmt das Gericht zur Glaubwürdigkeit der Aussagen der Leiterin der zuständigen Baubehörde (Zeugin S) sowie des damaligen Oberbürgermeisters (Zeuge H) zu der Frage Stellung, ob sie auf eine pflichtgemäße Information durch den angeklagten Gutachter hin die notwendigen Maßnahmen eingeleitet hätten: „Soweit die Zeugen H und S in ihren Vernehmungen angaben, dass sie natürlich alle Maßnahmen, welche vom Angeklagten S vorgeschlagen worden wären, getroffen und hierbei auch die möglichen Kosten keine Rolle gespielt hätten, so hält die Kammer diese Aussagen nicht für glaubwürdig. Diese Aussagen sind im Lichte der nachträglichen Ereignisse der Katastrophe vom 02.01.2006 zu sehen und erklären sich daraus, dass die Zeugen vor Gericht nicht eine eigene Mitschuld an dem Einsturz der Eishalle einräumen wollen, was aber der Fall wäre, wenn sie zugeben würden, dass ihnen tiefergehende Untersuchungen zu teuer oder aufwändig gewesen wären. Die oben angeführten Tatsachen sprechen eine andere Sprache und zeigen deutlich, dass der Stadt nicht an einer umfassenden Untersuchung der Eishalle gelegen war, sondern dass man nur möglichst überschlägig und oberflächig wissen wollte, welcher ungefähre Sanierungsbedarf erforderlich wäre, wobei dabei auch die Kosten gering gehalten werden sollten.“ 118

Der beweisrechtliche Wert dieser Aussage wird daher insbesondere bei vergangenen Pflichtverletzungen des Dritten bis zur Irrelevanz vermindert sein. Die Beweiserhebung über psychisch vermittelte Kausalzusammenhänge entbehrt einer naturgesetzlichen Grundlage. Bei dem Versuch, das hypothetische 116 Vgl. etwa Sowada, NStZ 2012, 1 (6), der im Kontext der hypothetischen Einwilligung auf die eingeschränkte beweisrechtliche Relevanz einer nachträglichen Befragung des Patienten bezüglich seiner eigenen hypothetischen Entscheidung im Falle sorgfaltsgemäßer Aufklärung hinweist. 117 Vgl. Puppe, NStZ 2012, 409 (411). Dies., AT, 2/29 formuliert im Kontext des Lederspray-Falls: „Selbst wenn man den Einzelhändler fragt, wie er sich in einem solchen Fall verhalten hätte, und wenn er sich um eine ehrliche Antwort bemühen würde, könnte er diese Frage nicht beantworten. Er könnte nur darüber spekulieren. Niemand von uns weiß, wie er sich in einer bestimmten schwierigen Situation verhalten würde, ehe er ihr wirklich ausgesetzt ist“. Selbst die Befragung des Einwirkungsadressaten in den oben genannten Fällen, in denen dieser tatsächlich gehandelt hat, sieht Puppe kritisch, vgl. NK/Puppe, vor §§ 13 ff. Rn. 132. 118 LG Traunstein vom 18.11.2008, Az. 2 KLs 200 JS 865/06, juris-Rn. 337.

IV. Überprüfung und eigene Kritik

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Verhalten einer Person beweisrechtlich zu würdigen, bricht zusätzlich – wie soeben dargelegt – ein wesentliches Beweismittel weg. In der Summe führen diese beiden Umstände dazu, dass der Versuch der Beweisführung über das hypothetische Verhalten einer Person an einem beweisrechtlichen Legitimationsdefizit leidet. Wie gesehen ist dieses Legitimationsdefizit entgegen der Ansicht Puppes nicht so tiefgreifend, dass der Versuch einer Beweisführung von vornherein sinnlos wäre. Sachgerechter ist eine enge Begrenzung dieser Beweisführung auf Fälle, in denen sich das Gericht anhand der verbleibenden beweisrechtlichen Möglichkeiten ein verlässliches Urteil über den hypothetischen, psychisch vermittelten Kausalzusammenhang bilden kann. So wird ein Mittelweg beschritten zwischen der bedenkenlosen Anwendung der Vermeidbarkeitstheorie durch die Rechtsprechung einerseits und der kategorischen Absage an eine Beweisführung über hypothetisches Verhalten andererseits. Will man diesen Mittelweg beschreiten, so setzt dies zwingend die Formulierung von Kriterien voraus, anhand derer bestimmt werden kann, in welchen Fällen die Beweisführung über hypothetisches Verhalten gelingen kann, und in welchen Konstellationen alternative Zurechnungskonzepte herangezogen werden müssen. Diesen Schritt sind jedoch auch diejenigen Autoren119 noch nicht gegangen, die in der Sache den hier entwickelten Mittelweg beschreiten. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, solche Kriterien zu entwickeln. Auf Grundlage dieser Ergebnisse kann dann beurteilt werden, ob die Beweisführung des BGH über die hypothetische Reaktion des Dritten Bestand haben kann. b) Gesicherte Tatsachenbasis als Legitimation hypothetischer Beweisführung Der soeben entwickelte Zwischenbefund lautet: Eine Beweisführung über hypothetisches Verhalten ist nicht bereits denklogisch unmöglich. Sie leidet jedoch an einem beweisrechtlichen Legitimationsdefizit und muss deshalb in engen Grenzen verlaufen, innerhalb derer es gelingt, dieses Defizit auszugleichen. Wo ist nun diese Grenze zu ziehen? aa) Ausgleich des Legitimationsdefizits durch erhöhte Anforderungen an beweisrechtliches Umfeld Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Frage sind die Ursachen des beweisrechtlichen Legitimationsdefizits bei der Beweisführung über hypothetisches Verhalten. Neben dem allgemeinen Problem der psychisch vermittelten Kausali119 Roxin, FS Achenbach, 409 (428); Bosch, FS Puppe, 373 (382); hierzu bereits oben S. 152.

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

tät, dass für menschliches Verhalten keine Gesetzmäßigkeiten formulierbar sind, beruht das Legitimationsdefizit vor allem auf der Tatsache, dass der Einwirkungsadressat der Einwirkungshandlung faktisch nicht ausgesetzt war und somit seine Befragung an Aussagekraft verliert. Hierdurch entfällt ein zentrales Beweismittel. Will man dennoch den Kausalitätsbeweis auf empirischer Grundlage führen, so muss dieses empirische „Minus“ ausgeglichen werden. Ausgerichtet an dieser Zielsetzung lässt sich die Voraussetzung für eine Legitimation der Beweisführung über hypothetisches Verhalten thesenhaft formulieren: Die übrigen beweisrechtlich verwertbaren Rahmenbedingungen müssen sich zu einer Tatsachenbasis von gesteigerter Aussagekraft verdichten und so ungeachtet des Wegfalls eines zentralen Beweismittels eine belastbare Entscheidungsgrundlage bilden. Das beweisrechtliche Legitimationsdefizit wird behoben durch erhöhte Anforderungen an das beweisrechtliche Umfeld. bb) Anwendungsbeispiel: Beweisführung über hypothetische Einwilligung Als Anwendungsbeispiel bietet sich die Beweiserhebung über die hypothetische Entscheidung des Patienten im Rahmen einer hypothetischen Einwilligung120 an. Bei ärztlichen Heileingriffen, die aufgrund eines Aufklärungsmangels nicht durch eine tatsächliche – je nach dogmatischer Konstruktion tatbestandsausschließende121 bzw. rechtfertigende122 – Einwilligung gedeckt sind, kommt eine hypothetische Einwilligung in Betracht. Hierbei ist im Prozess darüber Beweis zu erheben, ob der Patient bei ordnungsgemäßer Aufklärung eingewilligt hätte.123 Ein kurzer Überblick über die in diesem Bereich denkbaren Konstellationen soll die darauf folgende Argumentation veranschaulichen. In vielen Fällen wird sich eine hypothetische Einwilligung des Patienten förmlich aufdrängen. Angesprochen sind Fälle der alternativlosen Indikation des Eingriffs, bei denen der Aufklärungsmangel auf einem organisatorischen Versäumnis beruht und keinerlei Anzeichen für etwaige Vorbehalte des Patienten gegen die Person des behandeln120 Das Rechtsinstitut ist vereinzelt noch in seiner Existenz, insbesondere aber in seiner dogmatischen Verortung umstritten. Vgl. Schroth (2010b), 125 (132 f.). 121 Die tatbestandsausschließende Wirkung der Einwilligung vertreten u. a. Schroth (2010a), 21 (30 ff.) und Roxin, AT I, 13/12 ff. Schroth (a. a. O., S. 32) entwickelt diese dogmatische Konzeption auf der Grundlage seines liberalen Rechtsgutsverständnisses. Dienen unter dieser Prämisse Rechtsgüter zur freien Entfaltung des Einzelnen, so könne ein auf der autonomen Entscheidung des Rechtsgutsträgers beruhender Eingriff keine unrechtsbegründende Rechtsgutsverletzung sein. 122 Rechtfertigende Wirkung spricht der Einwilligung etwa die Rechtsprechung zu, vgl. BGHSt 17, 359 (360); ähnlich eine prominente Meinung in der Literatur, teils unter Aufgabe der Differenzierung zwischen tatbestandsausschließendem Einverständnis und rechtfertigender Einwilligung, vgl. NK/Paeffgen, vor §§ 32 ff. Rn. 156 m. N. 123 Vgl. etwa BGH StV 2004, 376.

IV. Überprüfung und eigene Kritik

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den Arztes vorliegen.124 Es sind jedoch auch Fälle denkbar, in denen das beweisrechtliche Umfeld klar gegen die Annahme einer hypothetischen Einwilligung spricht. Es sind dies Fälle gravierender Pflichtverletzungen des behandelnden Arztes etwa in Gestalt operativer Fehlleistungen, in denen die Aufklärung bewusst fehlerhaft oder irreführend durchgeführt wurde, um eine sichere Versagung der Einwilligung des Patienten in einen „fehlerkorrigierenden“ zweiten Eingriff durch den gleichen Arzt zu verhindern.125 Zwischen diesen beiden eindeutigen Fallgestaltungen angesiedelt sind Fälle denkbar, in denen keine eindeutige Entscheidung gefällt werden kann. Die Rechtsprechung geht in diesen Fällen nach Maßgabe des Zweifelsgrundsatzes von einer hypothetischen Einwilligung des Patienten aus.126 Nach diesem kurzen Überblick stellt sich nun die Frage: Ist der Versuch empirischer Beweiserhebung über die hypothetische Einwilligung des Patienten beweisrechtlich legitimierbar? In Anwendung der soeben entwickelten Kriterien müssten sich die beweisrechtlich verwertbaren Rahmenbedingungen in dieser Konstellation zu einer Tatsachenbasis von gesteigerter Aussagekraft verdichten und so ungeachtet der strukturellen Probleme der Beweisführung über hypothetisches Verhalten eine verlässliche Entscheidungsgrundlage bilden. Beurteilt ein Gericht die Frage, ob der Patient bei ordnungsgemäßer Aufklärung in den Eingriff eingewilligt hätte, so findet diese Beweisführung innerhalb eines vorgezeichneten beweisrechtlichen Rahmens statt. Diesen Rahmen bilden medizinische Erfahrungswerte und präzise, oft standardisierte und normierte Handlungsvorgaben. Diese geben Aufschluss etwa über die Frage, welchen Inhalt eine ordnungsgemäße Aufklärung konkret gehabt hätte, und ermöglichen eine eindeutige Vorstellung davon, welche Behandlungsalternativen dem Patienten zur Verfügung gestanden hätten. Darüber hinaus mag die Aussage des Patienten zwar nicht von der gleichen beweisrechtlichen Relevanz sein wie in den Fällen psychisch vermittelter Kausalität, in denen der Einwirkungsadressat der Einwirkungshandlung tatsächlich ausgesetzt war. Dennoch wird die Befragung des Patienten in einigen Fällen verwertbare Anhaltspunkte für dessen hypothetische Entscheidung geben.127 Die medizinische Indikation des in Rede stehenden Ein124

Vgl. Roxin, AT I, 13/127. Vgl. etwa den Fall BGH JR 2004, 469: Nachdem dem behandelnden Arzt bei einer Schulter-Operation eine Bohrerspitze im Schulterknochen des Patienten stecken geblieben war und eine sofortige Bergung scheiterte, beendete der Arzt den Eingriff, ohne den Fremdkörper zu entfernen. Unter Vorspiegelung einer anderweitigen Indikation brachte er den Patienten dazu, in einen erneuten Eingriff einzuwilligen. Im Rahmen dieses zweiten Eingriffs gelang es ihm, die Bohrerspitze zu entfernen. Vgl. hierzu die Anmerkung von Puppe, JR 2004, 469 (470), sowie Roxin, AT I, 13/131. 126 Vgl. etwa BGH NStZ 1996, 34 (35); kritisch hierzu und für eine Anwendung der Risikoerhöhungstheorie plädierend Roxin, AT I, 13/119 ff. 127 Nach Roxin, AT I, 13/127 „wird eine Befragung des Patienten in vielen Fällen zu eindeutigen und glaubhaften Ergebnissen führen“; a. A. Puppe, GA 2003, 764 (769), 125

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griffs, dessen Alternativen, der Grund des Aufklärungsdefekts und eine Befragung des Patienten zeichnen ein klares Bild von der hypothetischen Entscheidungssituation und liefern dem Richter so eine Tatsachenbasis von gesteigerter Aussagekraft, auf die er seine Entscheidungsfindung gründen kann.128 An diesem Ergebnis ändert auch der Umstand nichts, dass es Einzelfälle geben kann, in denen sich das Gericht keine positive Überzeugung der hypothetischen Entscheidung des Patienten für oder gegen den Eingriff bilden kann. Anhand der hier entwickelten Kriterien lässt sich die Beweisführung über eine hypothetische Einwilligung des Patienten legitimieren. In einem Zwischenfazit gilt es festzuhalten: Als Ausgleich für das bei der Beweisführung über hypothetisches Verhalten entstehende Legitimationsdefizit sind erhöhte Anforderungen an das beweisrechtliche Umfeld zu stellen. Gelingt der Rückbezug der Beweisführung auf eine verdichtete Tatsachengrundlage, so ist eine Beweisführung über hypothetisches Verhalten legitimierbar. Anhand dieser Maßgaben lässt sich die Beweisführung über eine hypothetische Einwilligung des Patienten legitimieren. c) Scheitern eines streng empirischen Kausalitätsbeweises aufgrund der Formbarkeit der Hypothese Auf Grundlage der soeben gewonnenen Erkenntnisse kann nun entschieden werden, ob die Beweisführung des BGH über das hypothetische Verhalten des Dritten legitimierbar ist, oder die diesbezüglich in der Literatur geäußerte Kritik ihre Berechtigung hat. aa) Ausgangssituation bei drittvermittelten Rettungsgeschehen Bei drittvermittelten Rettungsgeschehen verschärft sich das Legitimationsdefizit der Beweisführung über hypothetisches Verhalten gegenüber der Konstellation der hypothetischen Einwilligung. Zum einen verliert nämlich eine Befragung des Dritten – anders als die Befragung des Patienten – vollständig an beweisrechtlicher Relevanz, da sich dieser nicht selbst einer hypothetischen Pflichtverletzung bezichtigen wird.129 Zum anderen fehlt ein beweisrechtlicher Rahmen in Gestalt von hinreichend konkretisierten Erfahrungswerten und präzisen, oft standardisier-

nach der in Ermangelung menschliches Verhalten determinierender Gesetzmäßigkeiten die Frage nach der hypothetischen Einwilligung des Patienten sinnlos ist. In ihrem Aufsatz Puppe, NStZ 2012, 409 (411 f.) vertritt sie die Ansicht, der Patient könne „über diese Frage nur spekulieren“. 128 Roxin, AT I, 13/127 formuliert: „Oft legt [. . .] der situative Kontext bestimmte Annahmen zwingend nahe“. 129 Vgl. hierzu bereits oben S. 161.

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ten und normierten Handlungsvorgaben. Im Bereich der medizinischen Heilbehandlung haben sich solche Erfahrungswerte durch die Vielzahl ähnlicher Krankheitsverläufe und die jahrzehntelange Praxis der Heilbehandlung herausgebildet und können der Beweiserhebung zur Feststellung einer hypothetischen Einwilligung zugrunde gelegt werden. Das Fallspektrum bei drittvermittelten Rettungsgeschehen hingegen ist wesentlich heterogener, was schon ein Blick auf die dargestellten höchstrichterlichen Entscheidungen offenbart. bb) Formbarkeit der Hypothese in der Fallstudie In der Summe führen diese Faktoren zu einem Problem, das hier als Formbarkeit der Hypothese bezeichnet wird. Versucht das Tatsachengericht, die Kausalität der Unterlassung des Erstgaranten auf der Grundlage der Vermeidbarkeitstheorie festzustellen, so muss es prüfen, ob der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben wäre, wenn der Erstgarant den Dritten garantenpflichtgemäß informiert hätte. Die Beantwortung dieser hypothetischen Frage setzt eine Auseinandersetzung mit drei hintereinander geschalteten Variablen voraus. Anhand der besprochenen Urteile des BGH soll verdeutlicht werden, welche beweisrechtlichen Unzulänglichkeiten sich auf jeder Stufe dieser Kausalitätshypothese offenbaren, wie sich diese Unzulänglichkeiten wechselseitig potenzieren und letztlich dazu führen, dass der Versuch eines streng empirischen Kausalitätsbeweises scheitert. Zur Klärung der Frage nach der Vermeidbarkeit des Erfolgs wird das Gericht bei der garantenpflichtwidrigen Unterlassung des Erstgaranten ansetzen und sich mit der Frage auseinandersetzen, wie eindringlich der hypothetische Warnhinweis des Erstgaranten an den Dritten ausgefallen wäre. Denkt man sich diesen als technische Analyse der Gefährdungslage oder als eindringlichen Handlungsappell? Die Beurteilung dieser Variablen führt zu divergierenden Ansichten der Gerichte etwa im Eissporthallen-Fall130. Das LG Traunstein kam zu dem Schluss, auch ein pflichtgemäßes Verhalten des Gutachters hätte nicht zu einer Warnung vor akuter Einsturzgefahr geführt, die erkennbaren Schäden hätten hierzu nicht ausgereicht.131 Der BGH hingegen argumentiert, der Gutachter hätte „konkret auf Gefahr hindeutende Erscheinungen“ entdeckt, seine Hinweise wären „Alarmsignale“ gewesen, sein „Aufdecken konkreter auf eine mögliche Gefahrenlage hindeutender Schäden an der Tragkonstruktion“ hätte die Stadt vielleicht zum Handeln veranlasst.132

130 131 132

Vgl. oben S. 141 ff. LG Traunstein vom 18.11.2008, Az. 2 KLs 200 JS 865/06, juris-Rn. 309. BGH NJW 2010, 1087 (1091 Rn. 68).

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

Unklarheiten auf dieser ersten Stufe der Kausalitätshypothese bestehen auch im Blutbank-Fall133. Hier wurde nicht einmal der potenzielle Adressat eines Warnhinweises der stellvertretenden Direktorin näher spezifiziert.134 Als zweite Variable der Kausalitätshypothese muss sich das Gericht mit der Frage befassen, wie die vergangenen Pflichtverletzungen des Dritten zu bewerten sind, die an seiner Handlungsbereitschaft zweifeln lassen. Lassen also Gewicht und Umstände vergangener Pflichtverletzungen auf eine erneute hypothetische Pflichtverletzung im konkret zu beurteilenden Fall schließen? Das LG Traunstein schloss im Eissporthallen-Fall aus den vergangenen Nachlässigkeiten der Baubehörde auf ein Untätigbleiben auch im vorliegenden Fall: Da die Warnhinweise vergangener Gutachten ungehört verhallt waren, hätte die Behörde auch auf ein sorgfaltspflichtgemäßes Gutachten des Angeklagten nicht reagiert.135 Der BGH hingegen legt seinen Überlegungen den abweichenden Befund auf der ersten Stufe der Kausalitätshypothese zugrunde, geht also von der Möglichkeit eines eindringlichen Warnhinweises durch den Gutachter aus. Hieran anknüpfend relativiert das Gericht die vergangene Untätigkeit der Baubehörde und zieht eine pflichtgemäße Reaktion in Betracht. Die pflichtgemäße Untersuchung durch den Gutachter hätte zu einer Gefährdungssituation geführt, die mit derjenigen der früheren Gutachten nicht vergleichbar gewesen wäre. Während letztere nur einen schlechten Allgemeinzustand festgestellt hätten, wären bei pflichtgemäßer Untersuchung im zu entscheidenden Fall „konkret auf Gefahr hindeutende Erscheinungen“ entdeckt worden, die dann möglicherweise eine pflichtgemäße Reaktion der Behörde ungeachtet der vergangenen Nachlässigkeiten ausgelöst hätten.136 Zu einer anderen Einschätzung kommt wiederum das LG Traunstein: In seinem zweiten Urteil betont das Gericht die Relevanz der vergangenen Pflichtverletzungen, da die Stadt bereits durch die vergangenen Gutachten auf „konkrete[n] massive[n] Gefahren“ 137 hingewiesen worden sei und dennoch nichts unternommen habe. Auch im Abszess-Fall138 vertreten das Instanzgericht und der BGH auf der zweiten Stufe der Kausalitätshypothese unterschiedliche Auffassungen. Die Gerichte sind sich uneinig in der Frage, ob die vergangenen Pflichtverletzungen des Oberarztes „wochenendbedingt“ oder von grundsätzlicher, sich auf den Dienst 133

Vgl. oben S. 138 f. BGH NJW 2000, 2754 (2757) spricht pauschal von „eine(r) höhere(n) Behörde“, das LG Düsseldorf deutet „übergeordnete Stellen und Behörden“ als potenzielle Informationsadressaten an (zitiert nach BGH NJW 2000, 2754 [2755]). 135 LG Traunstein vom 18.11.2008, Az. 2 KLs 200 JS 865/06, juris-Rn. 310 ff., insb. juris-Rn. 311, 313. 136 BGH NJW 2010, 1087 (1091 Rn. 68). 137 LG Traunstein vom 27.10.2011, Az: 6 KLs 200 JS 865/06 (3), juris-Rn. 272 ff. 138 Vgl. oben S. 134 ff. 134

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unter der Woche erstreckender Natur waren. Das LG Kassel führte die Untätigkeit des Oberarztes bei einer Visite am Samstagmorgen nicht auf eine generelle Pflichtvergessenheit zurück, sondern erklärte sein Verhalten mit einer wochenendbedingten „Neigung, diagnostische Maßnahmen zu verschieben“ 139. Da der hypothetisch garantenpflichtgemäße Hinweis des Stationsarztes unter der Woche erfolgt wäre, maß das LG diesen vergangenen Nachlässigkeiten keine entscheidende Relevanz bei und ging von einer hypothetisch pflichtgemäßen Reaktion des Oberarztes aus. Der BGH hingegen sieht die „Wochenendbedingtheit“ der Nachlässigkeit des Oberarztes nicht als hinreichend nachgewiesen an, mangels an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der hypothetischen Erfolgsvermeidung sei der angeklagte Stationsarzt daher möglicherweise freizusprechen.140 Auf der dritten Stufe der Kausalitätshypothese muss sich das Gericht schließlich mit der Frage auseinandersetzen, wie die konkrete Reaktion des Dritten ausgefallen wäre, und ob diese zur Erfolgsverhinderung hinreichend gewesen wäre. Denkt man sich die bestmögliche, umfassendste Reaktion? Oder beanspruchen hier die vergangenen Nachlässigkeiten insofern eine gewisse Relevanz, als bei realistischer Betrachtung eine defizitäre Reaktion zugrunde gelegt werden muss? Im Eissporthallen-Fall ging das LG Traunstein auf Grundlage seiner Weichenstellungen auf den ersten beiden Ebenen der Kausalitätshypothese davon aus, dass die Verantwortlichen selbst bei pflichtgemäßer Untersuchung der Dachkonstruktion durch den Gutachter keine umfassenderen Untersuchungen angeordnet hätten.141 Der BGH hält eine umfassendere Würdigung möglicher Reaktionen für erforderlich. Möglicherweise hätte die Stadt weitere Gutachten in Auftrag gegeben, eine Sperrung der Halle oder zumindest eine regelmäßigere Schneeräumung auf dem Dach veranlasst.142 In seinem zweiten Urteil wiederum kommt das LG Traunstein zu dem Ergebnis, dass keine der drei vom BGH in Aussicht gestellten Maßnahmen im konkreten Fall getroffen worden wären.143 Anders als das LG Düsseldorf, das keine Bedenken hinsichtlich der erfolgsverhindernden Reaktion der übergeordneten Behörde auf die garantenpflichtgemäße Gefahrenanzeige durch die angeklagte stellvertretende Klinikdirektorin hatte, integriert der BGH im Blutbank-Fall das hypothetische Verhalten des bereits abgeurteilten leitenden Direktors. So konstruiert das Gericht das hypothetische Geschehen unter Verwendung einer zusätzlichen Variablen: Hätte die stellvertretende Direktorin Meldung an die (nicht näher spezifizierte!) Behörde gemacht, hätte diese den leitenden Direktor konsultiert, dieser hätte aufgrund seiner fachlichen Kompetenz die Bedenken der Behörde wahrscheinlich zerstreut und so 139 140 141 142 143

Zitiert nach BGH NStZ 1986, 217. BGH NStZ 1986, 217 (218). LG Traunstein vom 18.11.2008, Az. 2 KLs 200 JS 865/06, juris-Rn. 309, 335. Vgl. BGH NJW 2010, 1087 (1091 f. Rn. 68 f.). LG Traunstein vom 27.10.2011, Az: 6 KLs 200 JS 865/06 (3), juris-Rn. 270–282.

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eine pflichtgemäße Reaktion verhindert, wodurch die Unterlassung der stellvertretenden Direktorin nicht kausal für den Erfolg geworden wäre.144 cc) Potenzierung der Unsicherheiten Zwar ergeben die drei dargestellten Stufen der Kausalitätshypothese bereits jeweils isoliert betrachtet ein diffuses Bild der Beweisführung über das hypothetische Verhalten des Dritten. Dennoch offenbart sich der entscheidende Systemfehler erst in der Erkenntnis, dass die beweisrechtlichen Ergebnisse auf diesen drei Stufen untereinander verschränkt sind und sich die jeweils vorhandenen Unsicherheiten daher wechselseitig potenzieren. Jede Variation, jede unterschiedliche Wahl der beweisrechtlichen Perspektive verändert die Entscheidungsgrundlage auf den nachfolgenden Ebenen maßgeblich. Hieraus resultiert eine erhebliche Streubreite möglicher Ergebnisse. Das hypothetische Geschehen ist in den untersuchten Fällen eine vom Rechtsanwender je nach Ergebnispräferenz in weitem Umfang formbare Materie. Durch unterschiedliche Gewichtung und Ausgestaltung der einzelnen Variablen der Hypothese lässt sich in zweifelhaften Sachverhalten jedes Ergebnis begründen. Legt man auf der ersten Stufe einen lediglich technischen Hinweis des Erstgaranten zugrunde, so hätte der Dritte angesichts seiner vergangenen Pflichtverletzungen möglicherweise gar nicht reagiert, oder seine Reaktion wäre hinter dem zur Gefahrenabwehr Nötigen zurückgeblieben. Lässt man die hypothetische Warnung durch den Erstgaranten hingegen etwas eindringlicher ausfallen und zieht auf dieser Grundlage alle erdenklichen Reaktionen des Dritten hierauf in Betracht, so scheint sich bei Auswahl der verantwortungsbewusstesten dieser potenziellen Reaktionen die Kausalität des Erstgaranten nach der Vermeidbarkeitstheorie plötzlich förmlich aufzudrängen. Im Eissporthallen-Fall etwa intensiviert der BGH den Warnhinweis auf erster Stufe, relativiert damit die vergangenen Pflichtverletzungen der Behörde auf zweiter Stufe und zieht auf dritter Stufe alle denkbaren Reaktionsmöglichkeiten in Betracht. So eröffnet das Gericht auf der Grundlage der identischen Beweislage eine völlig andere Perspektive, als sie das LG Traunstein in seiner ersten Entscheidung vorgezeichnet hatte. Aufgrund der Formbarkeit der Kausalitätshypothese geht auch der denkbare Einwand fehl, die beweisrechtliche Wertlosigkeit der Aussage des Dritten hindere eine rechtssichere Beweiserhebung über seine Entscheidung nicht – schließlich gelinge die Beweiserhebung über die Verwirklichung subjektiver Tatbestandsmerkmale wie etwa der Mordmerkmale der zweiten Gruppe, auch wenn der Angeklagte von seinem Schweigerecht Gebrauch mache. Die Beweiserhebung müsse dann eben allein auf Grundlage der objektiven Indizien erfolgen.

144

Vgl. BGH NJW 2000, 2754 (2757).

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Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Konstellationen besteht darin, dass in letztgenannter Konstellation zumindest die Rahmenbedingungen der Täterhandlung objektiv feststehen und so einen auf objektiven Indizien beruhenden Beweis stützen können, während bei drittvermittelten Rettungsgeschehen die Entscheidung in einem erst zu konstruierenden hypothetischen Kontext beurteilt werden muss. Aufgrund der Unsicherheiten auf den ersten beiden Stufen der Kausalitätshypothese stehen nicht einmal die objektiven Rahmenbedingungen der Entscheidung des Dritten fest. Anders als bei Beweiserhebung über Beweggründe des Täters im tatsächlich verwirklichten Unrecht kann die mangelnde Verwertbarkeit der Aussage des Dritten bei drittvermittelten Rettungsgeschehen nicht durch ein ausschließliches Abstellen auf das beweisrechtliche Umfeld ausgeglichen werden. Anhand der vorangegangenen Untersuchung wird deutlich: In ihrer derzeitigen Form ist die hypothetische Beweisführung des BGH auf Grundlage der Vermeidbarkeitstheorie bei drittvermittelten Rettungsgeschehen erheblichen beweisrechtlichen Bedenken ausgesetzt. In dieser Erkenntnis findet auch die in der Literatur vorgetragene Kritik ihre Berechtigung. Zwar ist die Beweisführung des BGH über das hypothetisch erfolgsverhindernde Verhalten des Dritten nicht bereits denklogisch unmöglich. Jedoch entbehrt sie aufgrund der Unverwertbarkeit der Aussage des Dritten, aufgrund des Fehlens eines beweisrechtlichen Rahmens wie im Bereich der hypothetischen Einwilligung sowie aufgrund der Formbarkeit der Beweishypothese eben jener gesicherten Tatsachenbasis, die zur Legitimation der Beweisführung über hypothetisches Verhalten notwendig ist. Nach den hier entwickelten Grundsätzen ist der Versuch der Beweiserhebung auf Grundlage der Vermeidbarkeitstheorie bei drittvermittelten Rettungsgeschehen mithin nicht legitimierbar. Beschritten wird vielmehr eine Grauzone zwischen empirischer Beweiserhebung und wertender Spekulation. Die strafrechtliche Erfolgszurechnung erfordert verlässlichere Kriterien. d) Abkehr vom „Reinheitsgebot für die Hypothesenbildung“ Durch die umfassende Integration hypothetischer Überlegungen vollzieht der BGH notgedrungen eine Abkehr von den Qualitätskriterien für eine vorhersehbare, rechtssichere Hypothesenbildung, die das Gericht an anderer Stelle selbst entwickelt hat. Grundsätzlich ist sich die Rechtsprechung der Gefahren einer ausufernden Hypothesenbildung durchaus bewusst. Bei der Hypothesenbildung zur Beurteilung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs im Bereich der fahrlässigen Begehungsdelikte fühlt sie sich einem „Reinheitsgebot für die Hypothesenbildung“ 145 verpflichtet. Sie orientiert sich eng an der konkreten Tatsituation und will außer der 145

Vgl. hierzu Saliger, JZ 2004, 977 (979).

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

Ersetzung des pflichtwidrigen Täterverhaltens durch pflichtgemäßes Verhalten nichts weglassen, hinzudenken oder verändern.146 Auch in der Literatur herrscht eine berechtigte Skepsis gegenüber der übermäßigen Integration hypothetischer Überlegungen in die richterliche Überzeugungsbildung. Zutreffend weisen Eser/Sternberg-Lieben im Kontext der hypothetischen Einwilligung darauf hin, dass unsichere Spekulationen über Alternativverhalten zu vermeiden sind, bei denen nicht lediglich pflichtwidriges Verhalten durch fiktiv sorgfaltsgemäßes Verhalten ersetzt, sondern durch Hinzudenken der Entscheidung einer weiteren Person der Sachverhalt unzulässig verändert wird.147 Schatz argumentiert, der Austausch des pflichtwidrigen Verhalten des Täters durch pflichtgemäßes Verhalten führe zwangsläufig zu einer Verschiebung des Sachverhaltsrahmens, das pflichtwidrige Verhalten lasse sich nicht isoliert aus der Betrachtung streichen und ohne Modifikationen des beweisrechtlichen Umfelds durch das sorgfaltsgemäße Gegenstück ersetzen.148 Die Prüfung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs bei den Begehungsdelikten und die Prüfung der Unterlassungskausalität sind strukturell äquivalent.149 Dennoch wendet sich der BGH bei der Prüfung der Unterlassungskausalität in den hier untersuchten Fällen vom „Reinheitsgebot der Hypothesenbildung“ ab, indem er nach Belieben einzelne Variable der Kausalitätshypothese integriert und gewichtet, um das für sachgerecht befundene Ergebnis zu begründen. Nur durch Integration zusätzlicher hypothetischer Überlegungen über den Austausch des pflichtwidrigen Verhaltens des Erstgaranten hinaus kann das Gericht eine ausreichende Grundlage für die Beweiswürdigung konstruieren, um an dem Kriterium der Erfolgsvermeidbarkeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festhalten zu können. Während bei der Prüfung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs die Hypothese auf das unmittelbare Tatgeschehen konzentriert wird, werden bei drittvermittelten Rettungsgeschehen hypothetische Überlegungen in nicht vorhersehbarem Umfang integriert. Die Restriktionen, die dort aus gutem Grund formuliert wurden, werden hier notgedrungen verworfen, um den Mangel an empirischen Daten durch hypothetische Konstruktionen kompensieren zu können. e) Konsequenz: Rechtsunsicherheit Neben der Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit obliegt es dem BGH als Revisionsgericht, eine einheitliche und vorhersehbare Rechtsanwendung durch die Gerichte zu gewährleisten und so Rechtssicherheit zu schaffen. Dies gelingt 146 147 148 149

Vgl. etwa BGHSt 49, 1 (4); zustimmend etwa HK-GS/Duttge, § 15 StGB Rn. 47. S/S/Eser/Sternberg-Lieben, § 223 Rn. 40e. Vgl. Schatz, NStZ 2003, 581 (585). Vgl. hierzu Ast, ZStW 124, 612 (632).

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in den Fällen drittvermittelter Rettungsgeschehen aufgrund der Defizite an empirischem Beweismaterial und der hierdurch bedingten Integration hypothetischer Überlegungen in unvorhersehbarem Umfang nicht. Bestehen keine Anzeichen für eine hypothetische Pflichtverletzung des Dritten, so sind die Tatgerichte und der BGH bei der Bejahung der Kausalität des Erstgaranten auf einer Linie. Die Probleme beginnen, wenn das hypothetische Verhalten des Dritten Zweifel aufwirft. In diesem Bereich spielen sich alle dargestellten Urteile ab. Auch wenn die fünf Urteile keine statistisch aussagekräftige Bemessungsgrundlage bilden, lässt sich doch erkennen, wie schwer sich die Rechtsprechung mit einer stringenten Bewertung der Konstellation tut. Mit Ausnahme der Lederspray-Entscheidung folgen die ersten Urteile einem Schema. Die Tatsacheninstanz stellt zu geringe Anforderungen an die Feststellung pflichtgemäßen Verhaltens des Dritten, der BGH hebt den Schuldspruch auf und verweist zurück – so geschehen im Abszess-, Blutbank- und Bremsen-Fall. Im Eissporthallen-Fall legt das LG den scheinbar vom BGH gewiesenen strengen Prüfungsmaßstab an, was vom BGH jedoch wiederum mit einer Aufhebung des Urteils quittiert wird. Zweifellos gleichen sich die Sachverhaltskonstellationen nicht vollkommen, sodass unterschiedliche Judikate bei vergleichbaren Sachverhalten auch immer der Komplexität des Einzelfalles geschuldet sind. Gleichwohl fällt auf, dass der BGH bisher großen Begründungsaufwand betrieben hatte, entgegen der Beweiswürdigung der Tatsacheninstanz Zweifel am pflichtgemäßen Handeln des Dritten herauszustellen.150 Im jüngsten Urteil im Eissporthallen-Fall betreibt er – wiederum entgegen der vorinstanzlichen Beweiswürdigung – nicht minder großen Argumentationsaufwand in gegenteiliger Richtung und stellt pflichtgemäßes Handeln der Baubehörde in den Raum.151 Dies erschiene durchaus nachvollziehbar, würde die bloße Möglichkeit pflichtgemäßen Handelns bereits eine Zurechnung zum Erstgaranten ermöglichen und damit den Freispruch der Strafkammer infrage stellen. Wie das LG jedoch angesichts der lange währenden Sanierungsresistenz der Stadt zu der Überzeugung gelangen soll, die Behörde hätte gehandelt, bleibt völlig unklar.152 150 Verwiesen werden kann hier auf den Blutbank-Fall, vgl. oben S. 138 f.: Hätte die stellvertretende Direktorin Meldung an die Behörde gemacht, hätte diese den leitenden Direktor konsultiert, dieser hätte die Behörde aufgrund seiner Expertise vielleicht überzeugt, nicht einzuschreiten, wodurch die stellvertretende Direktorin nicht kausal für den Erfolg geworden wäre. Vgl. BGH NJW 2000, 2754 (2757). 151 Eine hinreichend deutliche gutachterliche Warnung vor einer konkreten Gefahrenlage wäre ein deutliches Alarmsignal gewesen, gepaart mit den Kenntnissen der Mitarbeiter der Baubehörde über das Alter der Halle und vergangene Warnhinweise hätten die Verantwortlichen womöglich doch reagiert. Vgl. BGH NJW 2010, 1087 (1091 Rn. 69). 152 So kam denn auch der erneute Freispruch des Gutachters durch das LG Traunstein wenig überraschend.

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

Diese Refokussierung der tatgerichtlichen Beweisführung in Richtung hypothetisch pflichtgemäßen Verhaltens des Dritten in einem jedenfalls nach bisheriger Rechtsprechung relativ eindeutig gelagerten Fall könnte auf eine Absenkung der Anforderungen an die Überzeugungsfindung hindeuten.153 Letztlich versucht der BGH durch eine „Feinsteuerung“ der Beweiserhebung in der Tatsacheninstanz zu wertungsgerechten Ergebnissen im Einzelfall zu kommen. Wie sich aus dieser Vorgehensweise eine vorhersehbare Beweiswürdigung in der Tatsacheninstanz in Fällen drittvermittelter Rettungsgeschehen ergeben soll, bleibt offen. Insgesamt hob der BGH vier von fünf Urteilen, in denen bei drittvermittelten Rettungsgeschehen das hypothetische Verhalten des Dritten Zweifel aufwarf, aufgrund rechtsfehlerhafter Beweiswürdigung auf. Ein statistischer Vergleich mit der generellen Erfolgsquote von Revisionen wäre freilich plakativ und unterbleibt aus diesem Grund. Es braucht jedoch diesen – zugegeben statistisch angreifbaren – Vergleich nicht, um auf die Schwierigkeiten der Tatgerichte mit der strafrechtlichen Aufarbeitung von Fallkonstellationen drittvermittelter Rettungsgeschehen aufmerksam zu machen, in deren Überzeugungsbildung der BGH fast schon regelmäßig „hineinregiert“. f) Zusammenfassung: Vermeidbarkeitstheorie als nur scheinbar empirische Kausalitätsbestimmung Die kritischen Überlegungen zum Versuch des BGH, die Kausalität der Unterlassung des Erstgaranten durch eine hypothetische Vermeidbarkeitsbetrachtung auf empirischer Grundlage festzustellen, haben ein allgemeines beweisrechtliches Legitimationsdefizit in Fällen psychisch vermittelter Kausalität offenbart. Bildlich gesprochen bedeutet der Begriff des Legitimationsdefizits in diesem Kontext, dass wesentliche Stützpfeiler forensischer Beweisführung wegbrechen, wodurch das gesamte Beweisgerüst ins Wanken gerät. Dieses Defizit tritt im „Normalfall“ psychisch vermittelter Kausalität – etwa beim Hervorrufen des Tatentschlusses durch den Anstifter – nur in abgeschwächter Form auf. Zwar sind ex ante keine allgemeinen Gesetze formulierbar, die das Verhalten einer Person vollständig determinieren, bei Ex-post-Betrachtung kann jedoch festgestellt werden, ob der Einwirkungsadressat faktisch aufgrund der Einwirkungshandlung tätig wurde oder nicht. Das Legitimationsdefizit verschärft sich, wenn über die psychische Beeinflussung zur Vornahme einer tatsächlich nicht vorgenommenen, hypothetisch gebliebenen Handlung Beweis erhoben werden soll. Das Problem stellt sich insbesondere, wenn der BGH im Rahmen der Unterlassungszurechnung nach der hypothetischen Vermeidbarkeit des Erfolgs bei pflichtgemäßem Handeln fragt. Hier ist die Aussage des hypothetischen Einwirkungsadressaten nicht in gleichem Maß verwertbar wie diejenige dessen, der der Einwirkungshandlung tatsächlich ausgesetzt war. Diese verringerte Verwertbarkeit der Aussage tritt als 153

In diesem Sinn auch Greco, ZIS 2011, 674 (689).

IV. Überprüfung und eigene Kritik

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zweites forensisches Defizit neben das Fehlen allgemeiner, menschliches Verhalten determinierender Gesetze. Als Ausgleich für dieses verschärfte Defizit bei hypothetischem Verhalten sind erhöhte Anforderungen an das beweisrechtliche Umfeld zu stellen. Gelingt der Rückbezug der Beweisführung auf eine verdichtete Tatsachengrundlage, so ist auch in diesen Fällen die Beweisführung legitimierbar. So kann etwa die Beweisführung über die Frage einer hypothetischen Einwilligung legitimiert werden. Hier ist auch die Aussage des Patienten noch – eingeschränkt – verwertbar. Bei drittvermittelten Rettungsgeschehen verschärft sich das beweisrechtliche Legitimationsdefizit abermals, da die Aussage des Dritten als Beweismittel im Regelfall jeder Relevanz beraubt ist und ein beweisrechtlicher Rahmen in Gestalt von Erfahrungswerten und präzisen, oft standardisierten und normierten Handlungsvorgaben fehlt. Bedeutet nun die Existenz dieses Legitimationsdefizits, dass wesentliche Stützpfeiler einer forensischen Beweisführung wegbrechen, so ist das Beweisgerüst zur Feststellung der Vermeidbarkeit des Erfolgs seiner Stabilität beraubt. Die hieraus resultierende Gefahr besteht nicht darin, dass der BGH seine Beurteilung der Vermeidbarkeit und damit der Kausalität der Unterlassung des Erstgaranten nicht mit tragfähigen Erwägungen untermauern könnte. Die Gefahr besteht vielmehr darin, dass bei einer gegensätzlichen Rechtsintuition und einer hierauf beruhenden Veränderung der Beurteilungsperspektive das gegenteilige Ergebnis durch abweichende Gewichtung der Variablen auf ebenso tragfähige Erwägungen gestützt werden könnte. Der BGH sagt sich notgedrungen von den eigens als Qualitätskriterien der Hypothesenbildung beim Pflichtwidrigkeitszusammenhang aufgestellten Leitlinien los und integriert in unvorhersehbarem Ausmaß hypothetische Überlegungen in die Vermeidbarkeitsbeurteilung. Konsequenz dieser Beweisführung ist eine zunehmende Verunsicherung der Instanzgerichte. Der BGH wird seiner Funktion als Rechtssicherheit und Einheitlichkeit der Rechtsanwendung stiftende Instanz nicht gerecht. In ihrer gegenwärtigen Form ist die Empirie der Kausalitätsfeststellung auf Grundlage der Vermeidbarkeitstheorie nur eine scheinbare, der Konnex zwischen den Basistatsachen und dem Ergebnis der Beweiserhebung ist aufgrund der Formbarkeit der Kausalitätshypothese aufgehoben. Der Versuch einer solchen Kausalitätsfeststellung ist seiner beweisrechtlichen Legitimation beraubt und geht damit fehl. Ziel einer Revision der Rechtsprechungslösung muss es sein, die Hypothesenbildung ähnlich der Prüfung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs enger an die Tatsachenbasis zu koppeln. 2. Zum Verbot der Berücksichtigung hypothetischer Schadensverläufe Nach dem Kritikpunkt der Unmöglichkeit einer Beweiserhebung über das hypothetische Verhalten des Dritten wird im Folgenden die These Jakobs’ einer kri-

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

tischen Betrachtung unterzogen, das Verhalten des Dritten müsse als hypothetischer Schadensverlauf bei der Kausalitätsbestimmung außer Betracht bleiben.154 a) Relevanz des hypothetischen Eingreifens Dritter für die Erfolgszurechnung bei Begehungs- und Unterlassungsdelikten Bei der Diskussion um die Relevanz oder Irrelevanz hypothetischer Schadensverläufe geht es um die Frage, inwieweit hypothetische Geschehensabläufe für die strafrechtliche Erfolgszurechnung von Bedeutung sind. Sie ist das Resultat des Vergleichs der tatsächlichen mit einer hypothetischen Sachlage, dessen sich die herrschende Meinung zur Feststellung von Kausalität und objektiver Zurechnung bedient. Relevant wird die Diskussion dementsprechend bei den Begehungsdelikten im Kontext der Kausalitätsfeststellung nach der Conditio-Formel sowie bei der Prüfung der objektiven Zurechnung unter dem Gesichtspunkt des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs. Der BGH wählt zur Feststellung der Kausalität mit der Conditio-Formel ein hypothetisches Prüfungsverfahren. Der Täter wurde kausal für den tatbestandlichen Erfolg, wenn der Erfolg bei Hinwegdenken der tatbestandlichen Handlung entfallen wäre. Im Rahmen dieser hypothetischen Betrachtung könnten grundsätzlich eine Vielzahl hypothetischer Geschehensabläufe berücksichtigt werden. Tatsächlich werden diese jedoch bei der Kausalitätsprüfung für irrelevant erklärt. Rechtstechnisch geschieht dies durch Abstellen auf den Erfolg in seiner konkreten Gestalt.155 In Fällen, in denen der hypothetische Schadensverlauf zum Eintritt eines absolut identischen Erfolgs geführt hätte156, schlug Spendel157 vor, nur die tatsächlich verwirklichten Umstände für die Kausalitätsprüfung zu berücksichtigen. Dem ist der BGH gefolgt.158 Die Vertreter der Formel von der gesetzmäßigen Bedingung erreichen das Ergebnis der Irrelevanz hypothetischer Schadensverläufe für die Kausalitätsfeststellung ohne jede Modifikation.159 Über 154

Vgl. oben S. 153 ff. BGHSt 10, 369 (370); vgl. Roxin, AT I, 11/24 sowie LK/Walter, vor § 13 Rn. 76 m.w. N.; kritisch zum Ausscheiden von Ersatzursachen durch Abstellen auf den Erfolg seiner konkreten Gestalt Engisch (1931), 15 ff. sowie Puppe, GA 2010, 551 (552 f.); vgl. zum Problem der Ausscheidung von Ersatzursachen auf Grundlage der ConditioFormel bereits oben S. 88 ff. 156 Vgl. die von Engisch (1931), 15 ff. gebildeten Fälle. 157 Spendel (1948), 38; kritisch hierzu etwa S/S/Lenckner/Eisele, vor § 13 Rn. 74. 158 Vgl. etwa BGHSt 2, 20 (24): „Eine Handlung kann auch dann nicht hinweggedacht werden, ohne dass der Erfolg entfiele, wenn die [. . .] Wahrscheinlichkeit besteht, dass ohne die Handlung des Täters ein anderer eine – in Wirklichkeit jedoch nicht geschehene – Handlung vorgenommen hätte, die ebenfalls den Erfolg herbeigeführt haben würde“; ebenso BGHSt 49, 1 (3 f.). 159 Hierzu Roxin, AT I, 11/24. 155

IV. Überprüfung und eigene Kritik

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die Irrelevanz hypothetischer Schadensverläufe für die Feststellung der Begehungskausalität herrscht ein allgemeiner Konsens.160 Auch die Feststellung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs im Rahmen der objektiven Zurechnung des Erfolgs161 erfolgt in der Rechtsprechung durch eine hypothetische Betrachtung. Demnach entfällt der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Fehlverhalten des Täters und dem tatbestandlichen Erfolg, wenn der gleiche Erfolg auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre.162 Auch in diesem Kontext schränkt der BGH die Berücksichtigung hypothetischer Schadensverläufe ein. Die hypothetische Betrachtung müsse sich eng an der konkreten Tatsituation orientieren. Lediglich die Pflichtverletzung des Angeklagten sei durch pflichtgemäßes Verhalten zu ersetzen, sonst dürfe nichts hinzugedacht oder weggelassen werden. Hypothetische Schadensverläufe seien nur relevant, wenn sie in der konkreten Tatsituation angelegt seien.163 Demnach sei insbesondere das Opferverhalten164 zu berücksichtigen, nicht jedoch die hypothetische Erfolgsverursachung durch einen Dritten165. Während also eine hypothetische Erfolgsverursachung durch das Opfer selbst den Zurechnungszusammenhang unterbrechen kann, ist die hypothetische Erfolgsverursachung durch einen Dritten für die Zurechnung irrelevant. Jakobs vertritt in der Frage der Berücksichtigung hypothetischer Schadensverläufe eine konsequent ablehnende Position.166 Er geht von dem Befund aus, dass das geltende Recht mit der Kategorie der Verletzungsdelikte die tatsächliche Verletzung des Rechtsguts, und nicht die Zerstörung von dessen Bestandschancen sanktioniert, und leitet hieraus die Irrelevanz hypothetischer Schadensverläufe im Bereich der Begehungsdelikte her.167 Er lehnt den hypothetischen Ansatz der Conditio-Formel zur Feststellung der Kausalität ab168 und verwehrt sich gegen die Berücksichtigung hypothetischer Schadensverläufe im Rahmen der Prüfung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs169. 160 Vgl. aus der Literatur etwa Arth. Kaufmann, FS Eb. Schmidt, 200 (207); Kindhäuser, GA 2012, 134 (143); S/S/Lenckner/Eisele, vor § 13 Rn. 80; NK/Puppe, vor §§ 13 ff. Rn. 94 ff.; MüKo/Freund, vor §§ 13 ff. Rn. 336; Frister, AT, 9/27 m.w. N. 161 Der BGH vollzieht die Trennung der Feststellung von Kausalität und objektiver Zurechnung nach wie vor weder terminologisch noch inhaltlich sauber. Den Pflichtwidrigkeitszusammenhang beschreibt das Gericht als „rechtliche(n) Ursachenzusammenhang“, vgl. BGHSt 33, 61 (amtlicher Leitsatz). 162 Vgl. BGHSt 33, 61 (63). 163 Vgl. zum Ganzen BGHSt 49, 1 (4). 164 So etwa im Radfahrerfall, BGHSt 11, 1; vgl. zum Sachverhalt oben Fn. 84. 165 Vgl. hierzu BGHSt 30, 228 (231 f.); zustimmend LK/Walter, vor § 13 Rn. 102, der täterunabhängige Ersatzkausalität (also auch Naturereignisse) generell für irrelevant erklärt. 166 Vgl. oben S. 153 f. 167 Jakobs, AT, 7/74. 168 Jakobs, AT, 7/11. 169 Jakobs, AT, 7/90.

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

Insbesondere die Relevanz hypothetischer Schadensverläufe bei der Prüfung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs ist nach wie vor umstritten. Wird der Betrachtung hypothetischer Schadensverläufe grundsätzliche Relevanz zugesprochen, so ist umstritten, anhand welcher Kriterien relevante von irrelevanten Umständen zu trennen sind.170 Wie ist nun das Problem der Relevanz hypothetischer Schadensverläufe im Bereich der Unterlassungszurechnung zu lösen? Relevant wird das Problem nach der Lösung des BGH bereits bei der Kausalitätsfeststellung. Fragt der BGH im Sinne der Vermeidbarkeitstheorie, ob der Erfolg bei hypothetisch pflichtgemäßem Handeln des Garanten vermieden worden wäre, so stellt er die gleiche Betrachtung an, die er bereits bei der Prüfung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs im Bereich der Begehungsdelikte unternimmt. Auch hier stellt sich die Frage, in welchem Umfang hypothetische Schadensverläufe berücksichtigt werden sollen. Jakobs überträgt seine Überzeugung von der generellen Irrelevanz von Hypothesen für die Erfolgszurechnung uneingeschränkt auf die Unterlassungsdelikte. Hätten demnach bei garantenpflichtgemäßem Handeln des Täters Dritte den Erfolg zurechenbar durch Abbruch oder pflichtwidriges Nicht-Weiterleiten des rettenden Verlaufs herbeigeführt, so bleiben diese Annahmen als hypothetische Schadensverläufe außer Betracht.171 Der BGH hingegen berücksichtigt bei der Feststellung der Unterlassungskausalität des Erstgaranten auf Grundlage der Vermeidbarkeitstheorie die hypothetische Pflichtverletzung des Dritten, oder um es mit den Worten Jakobs’ zu sagen: Das Gericht misst dem hypothetisch-pflichtwidrigen Nicht-Weiterleiten des rettenden Verlaufs durch den Dritten Relevanz für die Feststellung der Unterlassungskausalität des Erstgaranten bei.172 Hiervon ausgehend steht der Vorwurf einer inkonsequenten Anwendung des Grundsatzes der Irrelevanz hypothetischer Schadensverläufe durch den BGH im Raum: Während das Gericht das hypothetische Eingreifen Dritter bei den Begehungsdelikten als für den Pflichtwidrigkeitszusammenhang irrelevant einstufe, schreibe es diesem bei drittvermittelten Rettungsgeschehen eine zurechnungsausschließende Wirkung zu. b) Überprüfung der Lösung des BGH Warum wendet nun der BGH seine im Rahmen der Begehungsdelikte entwickelten Grundsätze der Irrelevanz des hypothetischen Eingreifens Dritter für die Erfolgszurechnung bei den Unterlassungsdelikten nicht an?

170 171 172

Vgl. hierzu Schatz, NStZ 2003, 581 (584 ff.). Jakobs, AT, 29/23. Vgl. hierzu oben S. 155 ff.

IV. Überprüfung und eigene Kritik

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Nach der hier vertretenen Auffassung beruht die partielle Nichtberücksichtigung hypothetischer Schadensverläufe auf dem richtigen Gedanken, dass vom Tatgeschehen und dem täterschaftlich gesetzten Risiko unabhängige, hypothetisch gebliebene Risiken nicht geeignet sind, den Zurechnungszusammenhang zu unterbrechen.173 Der Erfolg muss die Realisierung einer vom Täter verwirklichten Gefahr sein.174 Die hypothetische Erfolgsverursachung durch einen von dieser Ausgangsgefahr unabhängigen Schadensverlauf kann die Zurechenbarkeit des Erfolgs daher nicht in Zweifel ziehen, im unmittelbaren Tatgeschehen selbst angelegte hypothetische Schadensverläufe hingegen schon. Dieser Gedanke findet seinen Ausdruck im Versuch des BGH, durch das Kriterium des Opfer- bzw. Drittverhaltens relevante von irrelevanten hypothetischen Schadensverläufen zu unterscheiden. Bei den Unterlassungsdelikten ist dieses Kriterium jedoch verfehlt. Insofern wendet es der BGH zu Recht nicht an, wenn er die hypothetische Erfolgsverursachung durch den Dritten bei drittvermittelten Rettungsgeschehen nicht als hypothetischen Schadensverlauf außer Betracht lässt. Diese These bedarf der Begründung. Warum ist das Kriterium des Opfer- bzw. Drittverhaltens bei den Unterlassungsdelikten nicht geeignet, relevante von irrelevanten hypothetischen Schadensverläufen zu unterscheiden? Das Kriterium wurde für die Erfolgszurechnung bei den Begehungsdelikten entwickelt. Hier ist es geeignet, Fälle zu beschreiben, in denen völlig unabhängig vom täterschaftlich gesetzten Risiko ein Dritter nebentäterschaftlich ins Geschehen eingegriffen und den Erfolg verursacht hätte. Beispiel175: A fährt bei dichtem Nebel zu schnell, kann vor einer plötzlich auftauchenden Unfallstelle nicht mehr rechtzeitig bremsen und verletzt den in seinem Unfallwagen sitzenden B. Selbst wenn A mit angepasster Geschwindigkeit gefahren wäre und rechtzeitig abgebremst hätte, wäre der nachfolgende C, der ebenfalls mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr, mit dem Unfallwagen des B kollidiert und hätte diesen verletzt.

Das hypothetische Geschehen der Unfallverursachung durch C ist als hypothetischer Schadensverlauf unberücksichtigt zu lassen.

173 Diesen Gedanken zieht auch der BGH immer wieder heran, wenn er die Irrelevanz bestimmter hypothetischer Kausalverläufe für den Pflichtwidrigkeitszusammenhang begründet. So nimmt er bei einem Verkehrsunfall die Irrelevanz des hypothetischen Geschehens an, weil der Erfolg bei hypothetisch pflichtgemäßem Verhalten des Täters „nicht aufgrund desselben, sondern durch ein ganz anderes Unfallgeschehen herbeigeführt worden“ wäre, vgl. BGHSt 30, 228 (231). In einem anderen Urteil erklärt er eine hypothetische Erfolgsverursachung für irrelevant, die „einer völlig außerhalb des Tatgeschehens liegenden autonomen Willensbildung“ des Täters bedurft hätte, vgl. BGHSt 49, 1 (4). 174 Vgl. Roxin, AT I, 11/59. 175 Nach BGHSt 30, 228.

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

Im Rahmen der Unterlassungszurechnung liegt jedoch bei solchen Fällen „klassischer“ Nebentäterschaft kein hypothetischer Schadensverlauf vor. Beispiel: Bademeister B sieht, wie ein Kleinkind im Schwimmbad zu ertrinken droht, greift jedoch nicht ein. Zwei Minuten später erkennt sein Kollege K die gleiche Situation, greift jedoch auch nicht ein.

Hier stellt die Unterlassung des B keinen hypothetischen, sondern einen realen Schadensverlauf dar, der eine nebentäterschaftliche Haftung des K begründet.176 Vielmehr handelt es sich bei hypothetischer Erfolgsverursachung durch einen Dritten im Bereich der Unterlassungsdelikte um Fälle, in denen dieser Dritte in einen vom Täter hypothetisch in Gang gebrachten rettenden Verlauf eingegriffen hätte – entweder durch aktiven Abbruch oder passive Nicht-Weiterleitung des rettenden Verlaufs.177 Ausgangsfall: A unterlässt die Sicherung einer Baugrube durch Warnlampen. Ein Fußgänger stürzt in die Grube und verletzt sich. Die Warnlampen wären jedoch von Dritten entwendet worden, wenn A sie aufgestellt hätte.178

Hier fällt es schwerer, das hypothetische Eingreifen des Dritten als vom tatsächlichen Tatgeschehen und dem tatsächlich von A gesetzten Risiko völlig unabhängiges Risiko zu begreifen und daher als für die Erfolgszurechnung irrelevant zu bezeichnen. Die Diebe hätten kein völlig unabhängiges „Ersatzrisiko“ geschaffen, sondern in den von A in Gang gebrachten, rettenden Kausalverlauf eingegriffen. Gänzlich versagt das Kriterium der hypothetischen Drittverursachung zur Identifizierung irrelevanter hypothetischer Schadensverläufe bei drittvermittelten Rettungsgeschehen. Zur Veranschaulichung sei der Ausgangsfall so umgebildet, dass es sich nun um ein drittvermitteltes Rettungsgeschehen handelt. Abwandlung: A unterlässt es, dem Bauaufseher B Warnlampen zur Verfügung zu stellen. Es gibt jedoch konkrete Zweifel, ob dieser die Warnlampen tatsächlich angebracht hätte, wenn A sie ihm pflichtgemäß zur Verfügung gestellt hätte.

Hier handelt es sich bei der hypothetischen Pflichtverletzung durch B nicht um ein vom Tatgeschehen und dem von A täterschaftlich gesetzten Risiko völlig unabhängiges Risiko, welches als hypothetischer Schadensverlauf bei der Feststellung der Unterlassungskausalität des A unberücksichtigt bleiben müsste. Bei drittvermittelten Rettungsgeschehen ist die Zusammenarbeit des Erstgaranten und des Dritten erforderlich, um das bedrohte Rechtsgut vor Schaden zu bewah-

176 177 178

Vgl. hierzu auch Puppe, ZStW 92, 863 (906). Vgl. Jakobs, AT, 29/23. Vgl. OLG Hamm, NJW 1959, 1551.

IV. Überprüfung und eigene Kritik

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ren. Ebenso wie die nacheinander geschalteten Garantenpflichten sind – gleichsam als „Kehrseite der Medaille“ – die tatsächlich realisierte Pflichtverletzung des Erstgaranten und die hypothetische Pflichtverletzung des Dritten aus Perspektive des gefährdeten Rechtsguts miteinander verschränkt. Der Dritte ist hier kein „Ersatztäter“, der bereit gewesen wäre, an die Stelle des Täters zu treten. Er ist vielmehr dem Ersttäter nachgeschaltetes Glied der rettenden Kausalkette. Seine aktive Mithilfe ist zur Erfolgsverhinderung ebenso erforderlich wie diejenige des Ersttäters selbst. Sieht man in der These der Irrelevanz hypothetischer Schadensverläufe ein Instrument, um „täterfernen“ hypothetischen Risiken zurechnungsunterbrechende Wirkung abzusprechen, so stellt das hypothetische Handeln des Dritten keinen hypothetischen Schadensverlauf dar, der nach der These der Irrelevanz solcher Schadensverläufe unbeachtet bleiben müsste. Damit lässt sich dem BGH nicht vorwerfen, dass er die Reaktion des Dritten als hypothetischen Schadensverlauf außer Betracht lassen müsste. Mit diesem Ergebnis ist noch keine abschließende Entscheidung gefällt in der Frage, ob die hypothetische Pflichtverletzung des Dritten bei der Erfolgszurechnung berücksichtigt werden muss oder nicht. Jedenfalls aber kann ihre Nichtberücksichtigung nicht mit dem Argument der Irrelevanz hypothetischer Schadensverläufe begründet werden. 3. Zur Unzulässigkeit der Entlastung mit der hypothetischen Pflichtverletzung eines Dritten Die zentrale Kritik in der Literatur an der Berücksichtigung der hypothetischen Pflichtverletzung des Dritten erfolgt daher auch aus anderer Perspektive. Eine Reihe von Autoren kritisiert179 die durch Anwendung der Vermeidbarkeitstheorie ermöglichte Entlastung des Erstgaranten mit einer hypothetischen Pflichtverletzung des Dritten. Nach der Überzeugung von Roxin, Puppe, Jakobs und anderen ist eine solche Entlastungsmöglichkeit nicht hinnehmbar. Die Unzulässigkeit der Entlastung mit der hypothetischen Pflichtverletzung eines Dritten wird unterschiedlich begründet. Überwiegend wird eine von Puppe und Jakobs entwickelte, vom BGH im Politbüro-Fall übernommene Argumentationsfigur herangezogen, die sich als „Prämisse der Normbefolgung“ 180 bezeichnen lässt. Roxin und Philipps argumentieren kriminalpolitisch und auch unter strafrechstheoretischen Gesichtspunkten ist die Lösung des BGH problematisch. In einem Fazit wird die Lösung des BGH an der dargestellten Kritik gemessen.

179 180

Vgl. oben S. 155 ff. Begriffsvorschlag des Verfassers.

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

a) Begründung durch Prämisse der Normbefolgung Der Grundgedanke des von Puppe, Jakobs und anderen gewählten Begründungsansatzes ist einleuchtend: Um sich nicht einem Selbstwiderspruch preiszugeben, muss das Recht von der Befolgung seiner eigenen Regeln ausgehen (Prämisse der Normbefolgung). Daher könne die Erfolgszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen nicht an der hypothetisch gebliebenen Pflichtverletzung des Dritten scheitern. Um sie auf ihr Potenzial für die Lösung des Zurechnungsproblems überprüfen zu können, wird die bisher wenig erschlossene Prämisse der Normbefolgung zunächst in ihrer Entstehung, ihrem Gehalt und ihrer Anwendbarkeit auf die Konstellation eines drittvermittelten Rettungsgeschehens untersucht. aa) Prämisse der Normbefolgung in Rechtsprechung und Literatur Die hier als „Prämisse der Normbefolgung“ bezeichnete Forderung, bei der strafrechtlichen Erfolgszurechnung sei von der allseitigen Befolgung von Normen auszugehen, findet ihren Ursprung bei Puppe. Maßgeblich weiterentwickelt wurde sie von Jakobs in einem Aufsatz aus dem Jahr 1995. In dieser Form wurde sie von einigen Autoren übernommen. Auch der BGH machte sie sich in seiner Politbüro-Entscheidung zunutze, um seine Lösung des Gremienkausalitätsproblems argumentativ zu untermauern. (1) Ursprünge bei Puppe In einem erkenntnisreichen Aufsatz aus dem Jahr 1980 beschäftigt sich Puppe unter anderem mit der Erfolgszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen181. Da die hypothetische Reaktion des Dritten keinen Gesetzmäßigkeiten unterworfen sei, sei es „um der Effektivität der Normen willen“ sinnvoll, bei der Prüfung der Kausalität des Erstgaranten das normgemäße Verhalten des Dritten zu unterstellen.182 Drei Jahre später hält sie im gleichen Kontext fest, „[. . .] daß die Rechtsordnung von der Erfüllung ihrer Normen durch die Adressaten auszugehen hat, solange das Gegenteil nicht feststeht.“ 183 (2) Weiterentwicklung durch Jakobs Eine maßgebliche Weiterentwicklung erfährt die Prämisse in einem 1995 von Jakobs veröffentlichten Aufsatz. Jakobs bespricht in diesem Aufsatz das fünf 181 Ihre Terminologie ist eine andere, in der Sache handelt es sich aber genau um das in dieser Arbeit untersuchte Zurechnungsproblem. 182 Puppe, ZStW 92, 863 (907); vgl. zu ihrer Lösung im Einzelnen unten S. 213. 183 Puppe, ZStW 95, 287 (296).

IV. Überprüfung und eigene Kritik

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Jahre zuvor ergangene Urteil des BGH im Lederspray-Fall, wobei er sich auf das Problem der Kausalität einzelner Stimmen für das Zustandekommen eines Gremiumsbeschlusses konzentriert, der auch ohne die jeweilige Einzelstimme mit einfacher Mehrheit zustande gekommen wäre.184 Er setzt sich mit diesem Problem der Erfolgszurechnung bei überbedingten Erfolgen auseinander und zeigt an einem Beispiel, dass die Kategorisierung von Risiken in erlaubte und unerlaubte Risiken bei überbedingten Erfolgen von der Frage abhängt, ob man der Betrachtung die reale oder eine ideal normkonforme Welt zugrunde legt: Beispiel:185 Ein Lastenaufzug, dessen tatsächliche Maximalbelastbarkeit aufgrund angerosteter Tragseile nur noch die Hälfte der im Neuzustand zulässigen Solllast beträgt, wird mit der doppelten Solllast beladen und stürzt ab.

Legt man diesem Geschehen die reale Welt zugrunde, so Jakobs, so ist weder in der unterlassenen Wartung eines später massiv überbeladenen Aufzugs, noch in der Überbeladung eines nur noch begrenzt tragfähigen Aufzugs die Schaffung eines unerlaubten Risikos zu sehen. In einer normkonform gedachten Welt hingegen stellen sowohl die unterlassene Wartung als auch die Überbeladung unerlaubte Risiken dar.186 Jakobs löst das Problem durch sein Konzept des perfekten Normbruchs. Überall dort, wo ein perfekter Normbruch, also die Externalisierung eines unerlaubten Risikos aus dem Organisationsbereich des Handelnden, zum Eintritt eines tatbestandlichen Erfolgs geführt hat, ist dieser Normbruch für die Bewertung eines vom Täter gesetzten, andersartigen Risikos als real gegeben hinzunehmen – „keine Wunde heilt deshalb, weil sie nicht geschlagen werden durfte“ 187. In Fällen noch nicht realisierter oder hypothetisch gebliebener Risiken greife hingegen eine normative Erwartung, deren Wesenszug es gerade sei, „daß sie von einer Auswertung aller kognitiven Daten dahin, was wohl geschehen wird, zugunsten der Annahme entlastet, die Welt werde normkonform aussehen“ – „niemand darf Wunden deshalb schlagen, weil sie sonst ein anderer schlüge“ 188. „[. . .] die Welt ist zu nehmen, wie sie ist, aber bei der Berechnung ihrer zukünftigen Gestalt ist von allseits normkonformem Verhalten auszugehen [. . .].“ 189

Bei der Prüfung also, ob sich das vom Täter gesetzte Risiko verwirklicht hat, sind nur solche konkurrierenden Risiken zu berücksichtigen, die ihrerseits bereits real „in die Welt gesetzt“ wurden. In allen anderen Fällen greift nach Jakobs eine normative Erwartung allseits normkonformen Verhaltens. Anhand dieser Prämis184 185 186 187 188 189

Zum Sachverhalt bereits oben S. 136 f. Beispiel entlehnt von Jakobs, FS Miyazawa, 419 (422). Vgl. zum Ganzen Jakobs, FS Miyazawa, 419 (422 f.). Jakobs, FS Miyazawa, 419 (423). Jakobs, FS Miyazawa, 419 (423). Jakobs, FS Miyazawa, 419 (423).

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

se löst Jakobs seinen Beispielsfall: „Niemand darf also eine Reparatur der Seile mit der Begründung unterlassen, es werde sich doch jemand entschließen, eine Überlast einzuwerfen“.190 So leitet er beispielhaft das Verbot der Entlastung mit der hypothetischen Pflichtverletzung eines Dritten als Konsequenz der Prämisse der Normbefolgung her. (3) Übernahme durch Frister, Lindemann, Sofos Die Begründung des Verbots der Entlastungsmöglichkeit mit der Prämisse der Normbefolgung wurde in der Folgezeit von Frister191, Lindemann192 und Sofos193 übernommen. So formuliert etwa Sofos: „[. . .] das Recht darf von der Befolgung seiner eigenen Normen ausgehen, solange dem die Tatsachen nicht entgegenstehen. Der Erstgarant kann sich also nicht mit dem Hinweis darauf entlasten, daß der andere die Norm desavouiert hätte, scil. das Rechtsgut nicht zu retten war.“ 194

(4) Anwendung durch den BGH bei Gremienkausalität Diese Vorarbeiten macht sich der BGH für die Lösung des Zurechnungsproblems bei Gremienbeschlüssen zunutze. Während das Gericht seine Versagung einer wechselseitigen Entlastung von Gremienmitgliedern im Lederspray-Fall mehr rechtsintuitiv als argumentativ begründete195, stützt der BGH seine zwölf Jahre später im ähnlich gelagerten Politbüro-Fall ergangene Entscheidung auf die in der Zwischenzeit von Jakobs und Sofos „reanimierte“ Prämisse der Normbefolgung: „Die Beurteilung der „Quasi-Kausalität“ des Unterlassens erfolgt allein nach normativen Kriterien. In diesem Zusammenhang ist rechtmäßiges Verhalten der parallelen 190 Jakobs, FS Miyazawa, 419 (423). In konsequenter Anwendung seiner These, nach der nur im Zeitpunkt der den späteren Erfolg bereits perfekt bedingenden Externalisierung der Gefahr aus dem Organisationsbereich des Täters bereits existente parallele Risikoverläufe zurechnungsrelevant sein können, postuliert Jakobs die Irrelevanz des Einwerfens einer Überlast im Beispielsfall sogar dann, wenn diese tatsächlich stattgefunden hat: „[. . .] hat [. . .] einer der Verwalter [einer Gefahrenquelle, Anm. d.Verf.] seinen Fehler, also die hinreichende Erfolgsbedingung, bereits komplett etabliert, bevor der andere tätig wird oder werden muss, so verliert das Verlangen an den anderen, innerhalb desselben Risikos nicht eine weitere Bedingung zu setzen, seine Berechtigung [. . .]“. Das Einwerfen der Überlast trage in diesem Fall zum Erfolg nichts bei, „[. . .] denn der Absturz [. . .] war zum Zeitpunkt der Beladung bereits perfekt bedingt“, vgl. Jakobs (2012), 42. 191 Frister, AT, 22/22. 192 Lindemann, ZJS 2008, 404 (408). 193 Sofos (1999), 263. 194 Sofos (1999), 263. 195 BGHSt 37, 106 (132): „Daß dies nicht rechtens sein kann, liegt auf der Hand.“

IV. Überprüfung und eigene Kritik

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Garanten zu unterstellen; denn das Recht hat von der Befolgung seiner Regeln auszugehen.“ 196

Hierbei weitet der BGH die Prämisse der Normbefolgung inhaltlich zu einer zurechnungsbegründenden Fiktion aus. Während bei Jakobs der „perfekte Normbruch“, also die tatsächliche Pflichtverletzung, die normative Erwartung pflichtgemäßen Handelns erschüttert, unterstellt der BGH in den beiden Entscheidungen zur Gremienkausalität kontrafaktisch das rechtmäßige Verhalten der anderen Mitglieder des Gremiums – tatsächlich hatten sich diese in den zu entscheidenden Fällen ebenso rechtswidrig verhalten wie die jeweils Angeklagten selbst. (5) Kindhäuser: „Fundamentalprinzip strafrechtlicher Erfolgszurechnung“ Kindhäuser197 macht die Prämisse der Normbefolgung im Kontext der Erfolgszurechnung bei nebentäterschaftlich überbedingten Erfolgen fruchtbar. Nachdem er sich mit dem Problem alternativer Begehungskausalität auseinandergesetzt hat, wendet sich Kindhäuser der Prüfung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs in diesen Fällen zu und formuliert die Frage: Ist in einem Fall alternativer Begehungskausalität198 der Erfolg den beiden Nebentätern objektiv zurechenbar? Kindhäuser bewegt sich erkennbar auf von Jakobs geebnetem Boden, wenn er zur Feststellung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs fragt, „ob sich das Zurechnungskriterium der Vermeidbarkeit auf die Möglichkeit der Abwendung des Erfolges in der faktisch gegebenen Welt oder auf die Möglichkeit der Erfolgsabwendung in einer normativ geordneten Welt bezieht“.199 Nur letztere Alternative sei mit Blick auf die – bereits von Puppe angedeutete – Effektivität des durch Strafnormen verwirklichten Rechtsgüterschutzes eine akzeptable Lösung.200 Denn es sei widersinnig, den Rechtsgüterschutz dadurch zu unterlaufen, dass im Fall eines alternativen Normbruchs die Rechtsgutsschädigung von Rechts wegen erlaubt würde. Hiervon ausgehend abstrahiert Kindhäuser die Prämisse der Normbefolgung zu einem Fundamentalprinzip strafrechtlicher Erfolgszurechnung: „Von Verantwortung für einen verursachten Erfolg kann der Umstand entlasten, dass dieser Erfolg für den Verursacher auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten – sei es eigenes, sei es das Verhalten Dritter – nicht vermeidbar gewesen wäre. Auf rechtswidriges Alternativverhalten – sei es eigenes, sei es das eines Dritten – ist dagegen eine Berufung zum Zweck der eigenen Entlastung unzulässig.“ 201

196 197 198 199 200 201

BGHSt 48, 77 (95); vgl. bereits oben S. 145. Kindhäuser, GA 2012, 134 ff. Vgl. das Fallbeispiel oben S. 97. Kindhäuser, GA 2012, 134 (147). Vgl. auch Kindhäuser, LPK-StGB, vor § 13 Rn. 90. Kindhäuser, GA 2012, 134 (147).

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

(6) Zwischenergebnis: Die Prämisse und das Problem ihrer Anwendbarkeit Die Prämisse der Normbefolgung wurde von Puppe begründet, durch Jakobs weiterentwickelt und von Kindhäuser zum Fundamentalprinzip strafrechtlicher Zurechnung erhoben. Sie legt der Erfolgszurechnung eine normative Erwartung normgemäßen Verhaltens überall dort zugrunde, wo diese nicht durch tatsächlich rechtswidriges Verhalten enttäuscht wurde. Begründet wird sie mit der Effektivität des durch strafrechtliche Normen gewährleisteten Rechtsgüterschutzes, der leiden würde, wenn bei überbedingten Erfolgen eine strafrechtliche Haftung für das verwirklichte Erfolgsunrecht entfiele. Über die Reichweite ihrer Anwendbarkeit herrscht Uneinigkeit. Nur wenn sie auf die Konstellation eines drittvermittelten Rettungsgeschehens anwendbar ist, kann sie das von den Kritikern des BGH postulierte Verbot der Entlastung mit der hypothetischen Pflichtverletzung eines Dritten stützen. bb) Anwendbarkeit bei drittvermittelten Rettungsgeschehen Der BGH beschränkt die Anwendbarkeit der Prämisse der Normbefolgung strikt auf Fälle gleichgeordneter Unterlassungen bei Gremienbeschlüssen. Eine Begründung hierfür liefert Greco. Jakobs, Puppe und Kahrs argumentieren für eine Anwendbarkeit der Prämisse bei drittvermittelten Rettungsgeschehen. Dieses Meinungsspektrum bildet die Grundlage für eine eigene Stellungnahme. (1) BGH: Feststellung der Unanwendbarkeit ohne Begründung Während sich der BGH in der Politbüro-Entscheidung auf die Prämisse der Normbefolgung berief, um kontrafaktisch normgemäßes Verhalten der anderen Gremienmitglieder zu unterstellen und so die Unterlassungskausalität zu bejahen, verneint das Gericht bei drittvermittelten Rettungsgeschehen deren Anwendbarkeit, ohne diese Entscheidung zu begründen202. Kurios ist in diesem Zusammenhang, dass der BGH die Anwendung der Prämisse der Normbefolgung bei Gremienbeschlüssen unter Berufung auf eine These von Sofos untermauert, die dieser gerade in Bezug auf drittvermittelte Rettungsgeschehen aufgestellt hatte.203

202 Eine Begründung dieser Differenzierung vermisst auch Kudlich, JA 2010, 552 (554), wenn er den Hinweis des BGH, die zu Gremienentscheidungen entwickelten Grundsätze seien bei drittvermittelten Rettungsgeschehen nicht anwendbar, „etwas kryptisch[en]“ nennt. 203 BGHSt 48, 77 (95) zitiert den Ausspruch von Sofos (1999), 263, das Recht habe von der Befolgung seiner Normen auszugehen. Diesen tätigt Sofos, um zu begründen, dass bei drittvermittelten Rettungsgeschehen zur Feststellung der Kausalität des Erstgaranten das pflichtgemäße Handeln des Dritten zu unterstellen sei.

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Erstmals im Blutbank-Fall erklärt das Gericht die im Bereich der Gremienkausalität angewendete Prämisse der Normbefolgung für unanwendbar. Diese sei für Fälle parallel unterlassender Garanten entwickelt worden und auf Fälle nacheinander handlungsverpflichteter Garanten nicht anwendbar.204 Dieses Diktat ohne Begründung ist umso erstaunlicher, als die Aufhebung des Urteils des LG Düsseldorf gerade auf dieser durch den BGH postulierten Unanwendbarkeit beruht. Das LG Düsseldorf war von der Anwendbarkeit der im Politbüro-Urteil herangezogenen Prämisse der Normbefolgung ausgegangen und hatte der Angeklagten die Entlastung mit der hypothetischen Pflichtverletzung der Aufsichtsbehörde versagt. Auch im Eissporthallen-Fall, in dem die Bundesanwaltschaft die Anwendbarkeit der Prämisse der Normbefolgung vertreten hatte, sucht man eine Begründung der Differenzierung des BGH nach parallelen und zeitlich aufeinanderfolgend bestehenden Garantenpflichten vergeblich.205 Ohne Begründung beschränkt der BGH also einerseits den Anwendungsbereich der Prämisse der Normbefolgung, indem er sie nur bei Gremienentscheidungen heranzieht, andererseits weitet das Gericht sie in diesen Fällen inhaltlich zu einer zurechnungsbegründenden Fiktion aus, da nicht nur hypothetisches, sondern tatsächlich pflichtwidriges Verhalten unberücksichtigt bleiben soll. (2) Greco: Unanwendbarkeit aufgrund normativ relevanter Unterschiede Auf der Suche nach Argumenten gegen eine Übertragung der Prämisse der Normbefolgung auf drittvermittelte Rettungsgeschehen wird man bei Greco206 fündig. Dieser pflichtet dem BGH im Ergebnis bei, er macht normativ relevante Unterschiede zwischen den beiden Konstellationen aus. Zunächst sei bei gleichzeitig zu erfüllenden Pflichten die Zurechnung bei allen Beteiligten problematisch – es drohe insofern eine gegenseitige Entlastung. Bei nacheinander zu erfüllenden Pflichten werfe dagegen lediglich die Strafbarkeit des Erstgaranten Probleme auf. Wenn die Sorgfaltspflicht des Dritten in diesen Fällen überhaupt aktualisiert werde, so sei dessen Strafbarkeit nach allgemeinen Grundsätzen zu beurteilen. Da die Pflichtverletzung des Erstgaranten jedoch in 204 BGH NJW 2000, 2754 (2757): „Dabei verkennt die StrK, dass sich der vorliegende Sachverhalt von demjenigen, welcher der genannten Entscheidung (im Lederspray-Fall, Anm. d. Verf.) zugrunde lag, maßgeblich unterscheidet. Dort ging es um die gemeinsame und gleichstufige Verantwortung mehrerer Geschäftsführer [. . .]. So liegt es hier nicht.“ 205 BGH NJW 2010, 1087 (1091 Rn. 65): „Die [. . .] vorliegende Situation nacheinander erfolgter Unterlassungen ist nicht mit der auf gleicher Ebene angesiedelten Entscheidung von Kollektivorganen vergleichbar, nichts zu veranlassen.“ 206 Greco, ZIS 2011, 674 (689).

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der Regel darin bestehe, den Dritten nicht über die Gefahr einer Rechtsgutsverletzung informiert zu haben, werde in den meisten Fällen die Pflicht des Dritten gar nicht erst aktualisiert werden. Auf dieser Tatsache beruht der zweite Unterschied, den Greco ausmacht: Bei gleichzeitigen Unterlassungen habe es der Rechtsanwender mit mehreren wirklichen Pflichtverletzungen zu tun, bei nachgeschalteten Pflichten bleibe der Sorgfaltsverstoß des Dritten in der Regel hypothetisch. Einen letzten Unterschied gewinnt er aus einer intuitiven Betrachtung. Während es dem Rechtsanwender bei gleichzeitigen Pflichten klar sei, dass eine gegenseitige Entlastung „nicht rechtens sein kann“ 207, sei eine derart eindeutige Intuition bei nachgeschalteten Pflichten nicht feststellbar, das Problem müsse „blind dogmatisch“ gelöst werden. (3) Puppe, Jakobs, Kahrs: Anwendbarkeit Puppe erachtet die beiden Konstellationen für vergleichbar, weshalb sie für eine Anwendung der in der Politbüro-Entscheidung angewendeten Prämisse der Normbefolgung plädiert. Sie argumentiert ergebnisorientiert: Weil sich niemand zu seiner Entlastung darauf berufen könne, ein anderer habe seine Sorgfaltspflicht ebenfalls verletzt, müssten die für den Fall gleichzeitiger, tatsächlicher Pflichtverletzungen entwickelten Grundsätze ebenso bei nacheinander zu erfüllenden Pflichten gelten. Anders als der BGH zieht sie bei Betrachtung der beiden Konstellationen einen Erst-Recht-Schluss: Ist die tatsächliche Pflichtverletzung eines anderen für die Erfolgszurechnung irrelevant, so muss dies für eine fiktiv gebliebene Pflichtverletzung umso mehr gelten.208 Eine ganz ähnliche Sichtweise liegt den Ausführungen Jakobs’ zugrunde. Dieser entwickelt die Prämisse der Normbefolgung gerade für Fälle, in denen die Pflichtverletzung des Dritten hypothetisch geblieben ist, während er sie bei der gleichgeordneten tatsächlichen Pflichtverletzung mehrerer Garanten nicht anwendet – hier liegt ein „perfekter Normbruch“ vor, der für eine normative Erwartung keinen Raum lässt.209 Kahrs argumentiert insofern in die gleiche Richtung, als er die Ansicht des BGH verwirft, die beiden Konstellationen seien unterschiedlich zu beurteilen. Seiner Ansicht nach sieht der BGH den entscheidenden Unterschied zwischen beiden Konstellationen in der zeitlichen Staffelung der Garantenpflichten. Dem sei nicht zuzustimmen. Im Politbüro-Fall sei den Angeklagten vorgeworfen wor207 Hier zitiert Greco die rechtsintuitive Argumentation des BGH im Lederspray-Fall BGHSt 37, 106 (132); vgl. hierzu soeben S. 184. 208 Puppe, JR 2010, 353 (357). 209 Vgl. Jakobs, FS Miyazawa, 419 (423).

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den, sich nicht mit einer Initiative zur Humanisierung des Grenzregimes an das Gremium gewandt zu haben. Über diese Initiative wäre anschließend noch abzustimmen gewesen. Hier liege also bei tatsächlicher Betrachtung eine ähnliche zeitliche Staffelung vor wie etwa im Eissporthallen-Fall. Die Konstellationen seien daher gleich zu behandeln.210 cc) Eigene Stellungnahme: Potenzial und Grenzen der Prämisse der Normbefolgung als normativer Erwartung In der folgenden Stellungnahme sollen zunächst anhand ihrer verfehlten Anwendung durch den BGH im Politbüro-Fall die Grenzen der Prämisse der Normbefolgung als normativer Erwartung aufgezeigt werden. Anschließend wird sie auf ihr Potenzial für die Lösung des untersuchten Zurechnungsproblems überprüft. (1) Verfehlte Anwendung durch den BGH zur Legitimierung einer zurechnungsbegründenden Fiktion im Politbüro-Fall „Dass das Recht von einer Befolgung seiner Regeln auszugehen hat, ist eine normative Forderung, die nichts über die Realität einer Befolgung aussagt. Beweisfragen sind aber empirischer, nicht normativer Art.“ 211

Diese Feststellung von Roxin offenbart das Dilemma, in das eine Argumentation mit der Prämisse der Normbefolgung bei der Lösung von Zurechnungsproblemen führen muss. Birgt die Pflichtvergessenheit eines Normadressaten für einen anderen Normadressaten die Möglichkeit, mit der eigenen Nachlässigkeit ungestraft davonzukommen, so geraten das individuelle Gerechtigkeitsempfinden und das strafrechtliche Zurechnungssystem in Konflikt. Diesen Konflikt hat der BGH in seiner Politbüro-Entscheidung in argumentativ verfehlter Weise zugunsten ersterer aufgelöst. Das Urteil verdeutlicht dem Rechtsanwender, was die Prämisse der Normbefolgung nicht zu leisten vermag. Die Prämisse der Normbefolgung ist eine normative Erwartung. Der Anwendungsbereich einer normativen Erwartung muss spätestens dort enden, wo diese Erwartung tatsächlich enttäuscht wird. Ist ein tatbestandlicher Erfolg für einen Normadressaten nur vermeidbar, wenn ein anderer gefahrneutralisierend mitwirkt, und hat dieser seine Mitwirkung tatsächlich verweigert, so ist es für die Zurechnung des Erfolgs zu ersterem irrelevant, welche normativen Erwartungen gegenüber letzterem ursprünglich bestanden. Tatsächliche Pflichtverletzungen kann die Prämisse der Normbefolgung nie überwinden. In der Politbüro-Entscheidung wird sie jedoch genau zu einer solchen Überwindung tatsächlicher Pflichtverletzungen eingesetzt. Der BGH konstruiert die 210 211

Zum Ganzen Kahrs, NStZ 2011, 14 (15). Roxin, FS Achenbach, 409 (429).

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Kausalität der Unterlassung der einzelnen Mitglieder des Gremiums, indem er unter Verweis auf die Prämisse der Normbefolgung das tatsächlich rechtswidrige Verhalten der jeweils anderen Mitglieder kontrafaktisch als pflichtgemäß unterstellt.212 In Zusammenschau mit der Urteilsbegründung im parallel gelagerten Lederspray-Fall wird deutlich, dass der BGH bei der Begründung der Unterlassungskausalität im Rahmen von rechtswidrigen Gremienentscheidungen primär rechtsintuitiv vorgeht. Im Lederspray-Fall begründet das Gericht seine Lösung mit einem kriminalpolitischen Argument und dem Verweis, eine andere Lösung könne „nicht rechtens“ 213 sein. Im Politbüro-Fall reicht der BGH dann eine Begründung von Jakobs nach. Ohne Nennung von Gründen erklärt das Gericht seine Lösung dann im Rahmen von drittvermittelten Rettungsgeschehen für nicht anwendbar. Greco lässt die Frage nach den hinter diesen Entscheidungen stehenden rechtsintuitiven Beweggründen offen.214 Bei einer Durchsicht der entscheidenden Passagen in den Urteilsbegründungen lässt sich als Beweggrund vermuten, dass im allseits verwirklichten Unrecht keine gegenseitige Entlastung zugelassen werden soll. „Demgemäß muß jeder der Angeklagten für [. . .] die [. . .] Schadensfolgen strafrechtlich einstehen. Nur dieses Ergebnis wird der gemeinsamen und gleichstufigen Verantwortung der Geschäftsführer gerecht. Fiele es anders aus, so bedeutete dies, daß sich – von Fällen mittäterschaftlichen Unterlassens abgesehen – in einer GmbH mit mehreren Geschäftsführern jeder von seiner Haftung allein durch den Hinweis auf die gleichartige und ebenso pflichtwidrige Untätigkeit der anderen freizeichnen könnte. [. . .] Daß dies nicht rechtens sein kann, liegt auf der Hand.“215

Um eine Entscheidung in der Diskussion um die fahrlässige Mittäterschaft zu umgehen und dennoch die rechtsintuitiv und kriminalpolitisch erstrebte Zurechnung zu erreichen, argumentiert der BGH mit einem verfehlten Verweis auf die kumulative Begehungskausalität, mit allgemeinen kriminalpolitischen Überlegungen und „zaubert“ schließlich noch die Prämisse der Normbefolgung „aus dem Hut“ – zur Begründung einer Lösung, die sie – wie dargelegt – nach der hier vertretenen Meinung nicht begründen kann.216 Da die so auf „sandigem 212

Vgl. das Zitat oben S. 184, sowie bereits S. 145. Vgl. das Zitat oben S. 184. 214 Greco, ZIS 2011, 674 (689): „War es in den Fällen gleichzeitigen Unterlassens intuitiv klar, dass es ,nicht rechtens sein kann‘, dass sich alle entlasten, ist – aus welchen Gründen auch immer – eine vergleichbar starke Intuition (bei drittvermittelten Rettungsgeschehen, Anm. d. Verf.) wohl nicht mehr vorhanden.“ 215 BGHSt 37, 106 (132); vgl. die Formulierung im Politbüro-Fall, BGHSt 48, 77 (94): „Sonst könnte sich jeder Garant allein durch den Hinweis auf die gleichartige und ebenso pflichtwidrige Untätigkeit gleichgeordneter Garanten von jeder strafrechtlichen Haftung freizeichnen.“ 216 Kritisch zur Lösung des BGH im Lederspray-Fall auch Hilgendorf, NStZ 1994, 561 (563), der dem BGH vorwirft, einer eigentlichen Prüfung der Kausalität auszuwei213

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Grund“ konstruierte „Bereichsausnahme“ der Vermeidbarkeitstheorie für Fälle der Gremienkausalität nicht auf weitere Fälle erstreckbar ist, kehrt der BGH bei drittvermittelten Rettungsgeschehen zur bewährten Vermeidbarkeitstheorie zurück. Wie gesehen wird die Prämisse der Normbefolgung sinnentstellt verwendet, wenn man mit ihr tatsächlich begangene Pflichtverletzungen zurechnungsbegründend hinwegfingiert. Zur kontrafaktischen Begründung eines Zurechnungszusammenhangs ist die Prämisse der Normbefolgung nicht geeignet. (2) Potenzial der Prämisse der Normbefolgung für die Strukturierung und Lösung des Zurechnungsproblems Was kann nun die Prämisse der Normbefolgung zur Lösung des vorliegenden Zurechnungsproblems beitragen? Erstens formuliert sie einen Grundgedanken, der gerade aus seiner Einfachheit eine große argumentative Kraft schöpft: Warum sollte die Rechtsordnung in hypothetischen Kontexten von ihrer eigenen Missachtung ausgehen? Wenn Normadressaten sich tatsächlich normwidrig verhalten, so ist dies hinzunehmen und im Rahmen der strafrechtlichen Erfolgszurechnung zu berücksichtigen. Warum aber soll es dem Normadressaten zum Vorteil gereichen, dass ein anderer möglicherweise seinerseits pflichtwidrig gehandelt hätte. Die rechtsintuitive Anstößigkeit der Entlastung mit der hypothetischen Pflichtverletzung eines anderen lässt sich unter Rückgriff auf die Prämisse der Normbefolgung gut aufzeigen. Zweitens gelingt es mit ihrer Hilfe, die Sonderstellung drittvermittelter Rettungsgeschehen im Kontext der übrigen Zurechnungskonstellationen herauszuarbeiten. Wie gesehen sind drittvermittelte Rettungsgeschehen einerseits abzugrenzen von Fällen der Gremienkausalität. Aufgrund der tatsächlich verwirklichten Pflichtverletzungen der anderen Beteiligten kann die Prämisse der Normbefolgung hier zur Lösung nichts beitragen. Diese ist vielmehr in dogmatischen Figuren wie der (fahrlässigen) Mittäterschaft zu suchen. Bei drittvermittelten Rettungsgeschehen hingegen wird die Prämisse der Normbefolgung relevant, da die Pflichtverletzung des Dritten hier hypothetisch geblieben ist, die normative Erwartung also nicht tatsächlich enttäuscht wurde.

chen und „rein kriminalpolitisch“ zu argumentieren. Roxin, AT II, 31/65 resümiert, der BGH habe im Lederspray-Fall „Kausalität mehr statuiert als begründet“. Greco, ZIS 2011, 674 (682) hält insbesondere den Hinweis auf die kumulative Begehungskausalität im Lederspray- und Politbüro-Fall für verfehlt. LK/Walter, vor § 13 Rn. 88 hält die Lösung des BGH im Politbüro-Fall für kriminalpolitisch richtig, jedoch dogmatisch unzutreffend; vgl. zum Ganzen auch oben S. 144 ff.

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Andererseits macht die Prämisse der Normbefolgung deutlich, dass sich die Konstellation eines drittvermittelten Rettungsgeschehens von Fällen unterscheidet, in denen die Zweifel an der Vermeidbarkeit des Erfolgs auf naturwissenschaftliche Zusammenhänge zurückgehen. Während naturgesetzliche Unwägbarkeiten uneingeschränkt hinzunehmen sind, gibt uns die Prämisse der Normbefolgung bei Zweifeln über die hypothetische Erfolgsabwendung durch einen anderen Normadressaten Anlass zu Überlegungen, inwieweit diese hypothetische Normübertretung für die Erfolgszurechnung Relevanz beanspruchen kann. Einer solchen Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Fallkonstellationen verwehrt sich der BGH. Einerseits wendet das Gericht die Prämisse der Normbefolgung in Fällen der Gremienkausalität an, wo sie aufgrund der tatsächlich verwirklichten Pflichtverletzungen zur Lösung der Zurechnungsfrage nichts beitragen kann. Andererseits verkennt der BGH ihre Relevanz bei drittvermittelten Rettungsgeschehen, wenn er in diesen Fällen zur Vermeidbarkeitstheorie zurückkehrt und so die hypothetische Pflichtverletzung des Dritten wie eine naturgesetzliche, von normativen Überlegungen gänzlich unberührte Variable behandelt. Die Konstellation drittvermittelter Rettungsgeschehen ist anzusiedeln zwischen der von normativen Überlegungen geprägten Entscheidung des BGH zur Gremienkausalität, in der sich das Gericht unter dem Hinweis auf den angeblich ausschließlich normativen Charakter der Unterlassungszurechnung217 von der Vermeidbarkeitstheorie verabschiedet, und regulären Konstellationen der Unterlassungskausalität, in denen die Vermeidbarkeitstheorie ohne Modifizierung Anwendung finden kann. Drittens kann die Prämisse der Normbefolgung – mit Bedacht angewendet – in die Entwicklung einer alternativen Zurechnungslösung mit einfließen. Die Prämisse der Normbefolgung kann in der Konstellation drittvermittelter Rettungsgeschehen nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben, wie der BGH dies praktiziert. Bei seinen Entscheidungen zur Gremienkausalität wähnt sich das Gericht noch vor einem isoliert normativen Problem, hier lässt der BGH die Prämisse in seine Argumentation einfließen. Denn die Gremiumsentscheidung findet bildlich gesprochen im juristischen Reagenzglas statt, im luftleeren Versuchsraum, unter isolierten Bedingungen. Der Fokus der Betrachtung kann hier auf normativen Wertungen ruhen. Bestärkt durch die Intuition, eine gegenseitige Entlastung im allseitig verwirklichten Unrecht sei zu verhindern, setzt sich der BGH über die Vermeidbarkeitstheorie hinweg. Bei drittvermittelten Rettungsgeschehen hingegen bieten die nacheinander zu erfüllenden Pflichten Raum für empirische Überlegungen. Auch fehlt hier – wie Greco richtig bemerkt218 – eine vergleich217 218

Vgl. das Zitat oben S. 145. Vgl. hierzu oben S. 188.

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bar starke Intuition, denn es liegt kein allseitig, sondern nur einseitig (durch den Erstgaranten) tatsächlich verwirklichtes Unrecht vor. So kehrt der BGH zur Vermeidbarkeitstheorie zurück. Jedoch kann das Unterbleiben jeder argumentativen Auseinandersetzung mit der eigenen Linie in Fällen der Gremienkausalität als Unentschlossenheit des BGH gedeutet werden, wie er mit der Situation drittvermittelter Rettungsgeschehen umgehen soll. Das Gericht erkennt die Nähe zur Gremienkausalität, „schreckt“ jedoch in Anbetracht des Zweifelsgrundsatzes vor der Anwendung der in diesen Fällen angewandten Lösung „zurück“. Die Lösung des BGH in Fällen von Gremienkausalität ist verfehlt – ihre Übertragung auf die Konstellation drittvermittelter Rettungsgeschehen unterbleibt also zu Recht. Jedoch kann auch die Rückkehr zur Vermeidbarkeitstheorie das Zurechnungsproblem nicht zufriedenstellend lösen. Denn die Prämisse der Normbefolgung wird gerade in diesen Fällen relevant. Die rechtsintuitive Anstößigkeit ist bei drittvermittelten Rettungsgeschehen vergleichbar. Darüber hinaus scheitert ein streng empirischer Ansatz, der bei naturgesetzlich begründeten Zweifeln an der Vermeidbarkeit vorzugswürdig ist, an einem beweisrechtlichen Legitimationsdefizit. Einerseits kann die Prämisse der Normbefolgung also bei drittvermittelten Rettungsgeschehen nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben. Andererseits ist eine gewisse Zurückhaltung geboten bei dem Versuch, sie als normative Wertung in ein Zurechnungskonzept zu integrieren. Denn zur Feststellung der Unterlassungskausalität wird die Vermeidbarkeit des tatbestandlichen Erfolgs untersucht. Diese Frage nach der Vermeidbarkeit ist eine im Kern empirische. Lösungsansätze, die die Prämisse der Normbefolgung anführen, um eine ausschließlich normativ gestützte Vermutung oder gar Fiktion der pflichtgemäßen Reaktion des Dritten zu legitimieren, müssen daher kritisch überprüft werden.219 Die Prämisse der Normbefolgung kann zur Lösung des Zurechnungsproblems weder gänzlich außer Betracht gelassen werden, noch kann sie eine systemfremde, umfassende Normativierung der Unterlassungszurechnung legitimieren. Inwieweit sie in diesem Spannungsfeld zur Lösung des Zurechnungsproblems beitragen kann, wird die weitere Untersuchung zeigen. b) Kriminalpolitische Begründung Die Möglichkeit der Entlastung mit einer hypothetischen Pflichtverletzung eines anderen wird nicht nur aus der soeben diskutierten normativen Perspektive kritisiert. Roxin und Philipps begründen die Unzulässigkeit dieser Entlastungsmöglichkeit kriminalpolitisch.

219

Hierzu ausführlich unten S. 213 ff.

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aa) Erschwerte Verantwortungszuschreibung bei arbeitsteiliger Gefahrenüberwachung Roxin attestiert der Anwendung der Vermeidbarkeitstheorie durch die Rechtsprechung und der damit verbundenen Möglichkeit der Entlastung mit der fiktiven Pflichtverletzung eines anderen „kriminalpolitische[n] Sinnlosigkeit“.220 Für eine solche Entlastungsmöglichkeit gebe es keinen vernünftigen Grund. Sie motiviert Roxin zu einem vernichtenden Urteil: „Eine derart verfehlte Konstruktion widerlegt die Theorie, auf die sie sich beruft.“ Dieses Urteil ist zu sehen vor dem Hintergrund seines schon 1970221 formulierten Ideals einer Synthese von Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik. In einem teleologisch-kriminalpolitisch ausgerichteten Strafrechtssystem seien Widersprüche der aufgezeigten Art nicht akzeptabel. Ein solches „Auseinanderklaffen von dogmatischer Konstruktion und kriminalpolitischer Richtigkeit“ 222 muss nach Roxin zu einer Überprüfung der zugrunde liegenden dogmatischen Strukturen führen. In einer Monographie aus dem Jahr 1974 begründet auch Philipps seine Ablehnung der dargestellten Entlastungsmöglichkeit unter Rückgriff auf kriminalpolitische Überlegungen. Diese Entlastungsmöglichkeit hat nach Philipps das Potenzial, im Bereich arbeitsteiliger Gefahrenabwehr Verantwortungsstrukturen aufzulösen. Die Abwehr von Gefahren für Rechtsgüter könne einer einzelnen Person, ebenso jedoch mehreren Personen im Zusammenwirken überantwortet sein. Ließe man in diesem Kontext eine Entlastung mit der hypothetischen Pflichtverletzung eines anderen, chronisch pflichtvergessenen Mitarbeiters zu, „so würden sich mit zunehmender Spezialisierung und Arbeitsteilung die Verantwortungsstrukturen auflösen. Jede Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied, und hier würde es sogar genügen, daß das schwächste Glied vielleicht gerissen wäre.“ 223 Wie Philipps und Roxin richtig herausarbeiten, ist die Möglichkeit der Entlastung mit einer hypothetischen Pflichtverletzung eines anderen im Kontext arbeitsteiliger Gefahrenüberwachung kriminalpolitisch inakzeptabel. Dies offenbart auch ein systematisierender Blick auf die höchstrichterlich entschiedenen Fälle. In Gestalt individuellen wie kollektiven Fehlverhaltens war die Effektivität der zur Gefahrenabwehr eingerichteten internen Organisationsstrukturen in den jeweiligen privat- und öffentlich-rechtlichen Institutionen unterwandert worden. Das hierdurch freigesetzte Gefahrenpotenzial realisierte sich in zum Teil verhee220

Roxin, FS Achenbach, 409 (428); vgl. hierzu bereits oben S. 157. Die hier zitierte Passage ist der Zweitauflage aus dem Jahr 1973 entnommen. 222 Roxin (1973), 40. 223 Philipps (1974), 118; vgl. zu den Risiken arbeitsteiliger Gefahrenüberwachung auch Duttge, HRRS 2009, 145 (145 f.), der von der Gefahr einer „organisierten Unverantwortlichkeit“ warnt. 221

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rendem Ausmaß. Die von potenziellen und tatsächlichen Pflichtverletzungen unterwanderte, arbeitsteilige Organisationsstruktur verhinderte dann als solche eine eindeutige Verantwortungszuschreibung. So konnten der überforderte Arzt aufgrund der Wochenendträgheit seines Oberarztes, die zögerliche Klinikdirektorin aufgrund der Renitenz ihres Vorgesetzten, der oberflächlich inspizierende Werkstattleiter aufgrund der profitorientierten Risikobereitschaft seines Juniorchefs und der leichtfertige Gutachter aufgrund der Sanierungsresistenz der Baubehörde nicht strafrechtlich belangt werden. Hierbei hatten die strukturellen Unzulänglichkeiten oft einen wirtschaftlichen Hintergrund. Die Effektivität der Gefahrenabwehr fiel ökonomischen Rationalisierungsmaßnahmen224, Mittelknappheit225 und verantwortungslosen Einsparungsbemühungen226 zum Opfer. Steht nun das Strafrecht dort ratlos Spalier, wo die Effektivität der Gefahrenabwehr unter einer profitorientierten Ineffektivität interner Organisationsstrukturen und Kommunikationswege leidet, ist das kriminalpolitisch bedenklich. bb) Gesetzesbindung kriminalpolitisch-teleologischer Rechtsanwendung Indes können kriminalpolitische Befunde für sich genommen keine Strafe legitimieren. Das Gesetzlichkeitsprinzip gebietet es, diese Befunde nur dort in das Strafrecht einfließen zu lassen, wo sie im Rahmen des geltenden Rechts existieren können.227 „Das Strafrecht ist [. . .] die Form, in der kriminalpolitische Zielsetzungen in den Modus des rechtlichen Geltens überführt werden.“ 228

Diese systembildende Perspektive Roxins enthält zwei Aussagen. Zum einen löst sie den vermeintlichen Gegensatz zwischen Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik auf. Zum anderen macht sie deutlich, dass es einen Akt des „Überführens“ braucht, um kriminalpolitischen Intentionen zur Geltung zu verhelfen, rechtlich gelten kann nur, was seinerseits rechtens ist. Auch eine kriminalpolitisch-teleologische Rechtsanwendung ist an das geltende Recht gebunden. Die dargestellte kriminalpolitische Widersinnigkeit muss also aufgelöst werden in 224 Im Blutbank-Fall erfolgte die unhygienische Praxis des „Abquetschens“ mit dem Ziel, einmal ausgelieferte, jedoch nicht verwendete sog. „Rückläuferkonserven“ erneut ausgeben zu können (vgl. BGH NJW 2000, 2754). Die Aufsichtsbehörde hätte angesichts der angespannten Haushaltslage der Kliniken eine bessere Ausstattung der Klinik womöglich abgelehnt, vgl. BGH NJW 2000, 2754 (2757). 225 Im Eissporthallen-Fall war die Stadt Bad Reichenhall von vornherein nicht gewillt, in die Renovierung einer baufälligen, unrentablen Sporthalle zu investieren, vgl. LG Traunstein vom 18.11.2008, Az. 2 KLs 200 JS 865/06, juris-Rn. 270. 226 Im Bremsen-Fall war der Juniorchef aufgrund kaufmännischer Überlegungen nicht bereit, das offensichtlich schadhafte Fahrzeug aus dem Verkehr zu ziehen, vgl. BGHSt 52, 159 (165). 227 Vgl. etwa NK/Hassemer/Neumann, vor § 1 Rn. 93; Roxin, AT I, 7/80 f. 228 Roxin (1973), 40.

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einer dem geltenden Strafrechtssystem verpflichteten Lösung des Zurechnungsproblems bei drittvermittelten Rettungsgeschehen. Gelingt dies nicht, so kann sie „nur“ als Impuls für eine Lösung de lege ferenda dienen. c) Strafrechtstheoretische Begründung Auch in strafrechtstheoretischer Hinsicht ist die durch eine unbesehene Anwendung der Vermeidbarkeitstheorie geschaffene Entlastungsmöglichkeit eine bedenkliche Konsequenz. Vorangestellt sei ein vor-theoretischer Problemaufriss: Sieht man nun die Aufgabe des Strafrechts in der Sicherung eines freien und friedlichen Zusammenlebens229 oder in der Erhaltung der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung230 – die Exkulpation einer Normübertretung mit Blick auf die potenzielle Normübertretung eines anderen befremdet in jedem Fall. Fragt man nach der Zulässigkeit einer solchen Entlastung, so handelt es sich um keine Fragestellung aus dem Kernbereich der strafrechtstheoretischen Diskussion. Hier ist nicht das tatbestandlich geschützte Gut selbst231 Gegenstand von Legitimationsbedenken. Es stellt sich vielmehr ein Anschlussproblem. Fraglich ist, ob sich aus strafrechtstheoretischen Überlegungen Implikationen für die Zurechnung tatbestandlicher Erfolge ergeben können: Begibt sich ein Staat, der sich einer rechtsgüterschützenden oder normgeltungserhaltenden Straftätigkeit verschrieben hat, in einen systematischen Widerspruch, wenn Rechtsgutsverletzungen aufgrund einer Kumulation tatsächlicher und hypothetischer Normübertretungen ungeahndet bleiben? Diese Fragestellung bewegt sich an einer Schnittstelle von Strafrechtstheorie und Strafrechtsdogmatik. Ziel der folgenden Ausführungen ist es, diese Schnittstelle herauszuarbeiten, für das Problem der Entlastungsmöglichkeit aus strafrechtstheoretischer Perspektive zu sensibilisieren und aufzuzeigen, was eine solche Perspektive zur Lösung des in Rede stehenden Zurechnungsproblems beitragen kann. Dies geschieht aus der Perspektive zweier wesentlicher Strömungen in der Diskussion um die materielle Legitimation des Strafrechts232 – der Rechtsgutslehre sowie der von Jakobs geprägten normgeltungsorientierten Strafrechtskonzeption. Schließlich wird ein die Rechtsgutslehre ergänzendes Konzept von Hassemer/Neumann berücksichtigt. 229

Roxin, AT I, 2/7. Jakobs, AT, 2/1. 231 Klassisch in diesem Sinne ist etwa die Diskussion um die Legitimität der strafrechtlichen Sanktionierung von Verhaltensweisen, die keine personalen Rechtsgüter verletzen, sondern lediglich von der Allgemeinheit als lästig, beleidigend oder anstößig empfunden werden. In diesem Sinn umstritten sind etwa die Strafnormen der §§ 130, 166 ff., 183 ff. StGB. Vgl. hierzu umfassend Hörnle (2005). 232 Auch NK/Hassemer/Neumann, vor § 1 Rn. 108 sehen diese beiden Lager als wesentliche Gegenpositionen an. 230

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aa) Rechtsgutslehre Aus der verfassungsrechtlichen Prämisse, dass das Strafrecht den Bürgern ein freies und friedliches Zusammenleben unter Gewährleistung aller verbürgten Grundrechte sichern soll, lässt sich der Rechtsgüterschutz als Zweck der Strafe ableiten.233 Im Einzelnen ist hier vieles umstritten. Dies gilt bereits für den Begriff des Rechtsguts. Roxin definiert Rechtsgüter als „Gegebenheiten oder Zwecksetzungen [. . .], die für die freie Entfaltung des Einzelnen, die Verwirklichung seiner Grundrechte und das Funktionieren eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden staatlichen Systems notwendig sind.“ 234 Welchen Erkenntnisgewinn kann nun das Konzept eines rechtsgüterschützenden Strafrechts für die Diskussion von Zurechnungsproblemen bringen? Rechtsgüterschutz durch Strafe wird nicht bereits dadurch verwirklicht, dass bestimmte Rechtspositionen als Schutzgüter des Strafrechts postuliert werden. Erst die tatsächliche Sanktionierung der Verletzung dieser Schutzgüter verwirklicht dieses Ziel. Insofern sind Straftheorie und Rechtsanwendung miteinander verschränkt.235 Nach Frisch lassen sich so Prinzipien der Verantwortungszuschreibung als Zurechnungsfragen für die Bestimmung der Grenzen staatlichen Strafens fruchtbar machen. Schaffe der Gesetzgeber präzise neue Tatbestände, so müssen sich diese Tatbestände an den bisher dem Rechtsanwender überantworteten Zurechnungsentscheidungen messen lassen, soweit diese Entscheidungen von allgemeinen Prinzipien getragen seien.236 Bei vollverantwortlichem aktiven Eingreifen Dritter in einen vom Täter ausgelösten Kausalverlauf gebieten etwa die Prinzipien der Verantwortungszuschreibung in gewissen Fällen eine Unterbrechung der Zurechnung zum Ersttäter. Diese Wertung mache etwa eine gesetzgeberische Vorfeldkriminalisierung aus Legitimationsgesichtspunkten diskussionswürdig.237 „Die [. . .] Zurechnungslehre und ihre Einsichten erlangen so auch Bedeutung im Rahmen der Erwägungen zur Legitimation strafrechtlicher Pönalisierung.“ 238

Einschränkend weist Frisch darauf hin, dass die so gewonnenen Erkenntnisse nur in der Frage weiterhelfen, „ob und in welchen Grenzen Verhaltensweisen missbilligt werden können“. Ob die Sanktionierung dieser Verhaltensweisen mit den Mitteln des Strafrechts gerechtfertigt sei, sei damit noch nicht entschieden. Die Erkenntnisse ermöglichen jedoch eine Differenzierung, ob es sich bei den 233

Vgl. Roxin, AT I, 2/7. Roxin, AT I, 2/7. 235 Vgl. Frisch (2003), 225 f.; vgl. auch Jakobs (2012), 13: „[. . .] Strafe und Zurechnung beziehen sich aufeinander.“ 236 Frisch (2003), 226 f. 237 Vgl. Frisch (2003), 229. 238 Frisch (2003), 227. 234

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Legitimationsproblemen bestimmter Tatbestände um Fragen der „Verbietbarkeit“ oder der Pönalisierung im engeren Sinne handle. Insofern bereichern sie nach Frisch die strafrechtstheoretische Diskussion.239 Nach der hier vertretenen Auffassung lässt sich der gleiche anregende Effekt auch in entgegengesetzter Stoßrichtung erzielen. Auch die strafrechtsdogmatische Zurechnungsdiskussion kann von strafrechtstheoretischen Überlegungen profitieren. Ist es die Aufgabe des Strafrechts, durch die Sanktionierung von Rechtsgutsverletzungen die grundgesetzlich garantierten Freiheiten des Einzelnen zu sichern, so ist zur Verwirklichung dieser Aufgabe auch ein rechtmäßiges, effektives Zurechnungssystem erforderlich. Rechtmäßig ist ein Zurechnungssystem, das den grund- und strafgesetzlichen Vorgaben genügt und durch eine gesicherte dogmatische Struktur eine rechtssichere Sanktionierung von Rechtsgutsverletzungen gewährleistet. Effektiv ist ein Zurechnungssystem, das im Rahmen der grund- und strafgesetzlichen Vorgaben den Rechtsgüterschutz in der Vielfalt der Sachverhalte umfassend verwirklicht. Die vom BGH gewählte Zurechnungslösung ist bei drittvermittelten Rettungsgeschehen nicht geeignet, einen effektiven Schutz der bei arbeitsteiliger Gefahrenüberwachung bedrohten Rechtsgüter zu gewährleisten. Der streng empirische Ansatz des BGH leidet wie gesehen an einem beweisrechtlichen Legitimationsdefizit. Kann sich darüber hinaus der garantenpflichtwidrig Unterlassende unter Hinweis auf eine hypothetische Pflichtverletzung des Dritten exkulpieren, der selbst mangels Information durch den Erstgaranten als Haftungssubjekt ausscheidet, so läuft der Schutz der betroffenen Rechtsgüter Gefahr, preisgegeben zu werden.240 Kann ein Rechtsgut nur durch Zusammenwirken mehrerer Beteiligter geschützt werden, so stellt sein Schutz unsere Zurechnungsdogmatik vor eine besondere Herausforderung. Sein Schutzbedürfnis bleibt hiervon unberührt. Diesem Schutzbedürfnis wird die Zurechnungslösung des BGH nicht gerecht. Über diesen Überlegungen gilt es jedoch, das Erfordernis der Rechtmäßigkeit des strafrechtlichen Zurechnungssystems nicht aus den Augen zu verlieren. Nicht jeder Schaden an einem schützenswerten Rechtsgut ist auf das haftungsbegründende Verhalten eines anderen zurückführbar. Das Strafrecht darf Rechtsgüter nur dort schützen, wo eine Zurechnung der Rechtsgutsverletzung zu menschlichem Fehlverhalten möglich ist. Unter welchen Voraussetzungen eine solche Zurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen möglich ist, ist gerade der 239

Vgl. zum Vorstehenden Frisch (2003), 230. Hervorhebungen im Original. So argumentiert auch SK/Rudolphi, vor § 13 Rn. 16b: Um die strafgesetzlich bezweckte Effektivität des Rechtsgüterschutzes zu garantieren, müsse die Gelegenheit einer gegenseitigen Entlastung mehrerer Garanten verhindert werden – sowohl bei gleichzeitiger wie auch bei nachgeschalteter Fälligkeit ihrer Pflichten. 240

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Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Ist damit der Versuch, die Möglichkeit einer Entlastung mit der hypothetischen Pflichtverletzung eines anderen aus der strafrechtstheoretischen Perspektive der Rechtsgutslehre zu kritisieren, zirkelschlüssig und letztlich nutzlos? Nutzlos sind strafrechtstheoretische Überlegungen lediglich dann, wenn man sie in der Erwartung heranzieht, aus ihnen eine vollendete Lösung des Zurechnungsproblems ableiten zu können. Rechtsgutsorientierte Überlegungen geben keine Antwort auf die Frage, anhand welcher Kriterien eine systemgerechte Lösung der Zurechnungsproblematik bei drittvermittelten Rettungsgeschehen vorgenommen werden muss. Die gleichförmige Garantie von Rechtsgütern in Zwei- und Dreipersonenverhältnissen darf nicht durch einen Automatismus dahingehend verwirklicht werden, dass eine Zurechnung auch in Dreipersonenverhältnissen in jedem Fall gelingen muss. Die dogmatischen Bedenken gegen eine Abkehr von der unbesehenen Anwendung der Vermeidbarkeitstheorie liegen auf der Hand. Eine rechtsgutsbezogene Perspektive zeigt jedoch die Notwendigkeit auf, nach handhabbaren, systemgerechten Kriterien zu forschen, um in diesen Fällen über die Frage der Erfolgszurechnung entscheiden zu können. Es ist ein rechtstatsächliches Faktum, dass der Schutz von Rechtsgütern arbeitsteilig auf immer mehr Schultern verteilt wird. Hierfür muss die strafrechtliche Zurechnungsdogmatik im Sinne eben dieses Rechtsgüterschutzes eine angemessene Lösung bereithalten. Die soeben skizzierte Rückbesinnung auf den Rechtsgüterschutz als Aufgabe des Strafrechts kann hierbei als Anreiz und Orientierungspunkt dienen. bb) Normgeltungsorientierter Ansatz Möglicherweise lässt sich auch die alternativ zur Rechtsgutslehre entwickelte, normgeltungsorientierte Strafrechtskonzeption von Jakobs in diesem Sinne fruchtbar machen. In der Konzeption von Jakobs dient das Strafrecht nicht der Freiheitsgewährleistung durch Rechtsgüterschutz. Schutzgut des Strafrechts ist nach Jakobs nicht das Rechtssubjekt im gesellschaftlich-normativen System, sondern vielmehr dieses System selbst. Eine Rückkoppelung an das Rechtssubjekt erfolgt jedoch insofern, als dessen Erwartungen an die Funktionsfähigkeit dieses Systems eine wesentliche Bedeutung eingeräumt wird. Das Strafrecht erhalte die staatliche und gesellschaftliche Ordnung durch die Garantie von Normen. Werden die in Gesetzesform gegossenen Erwartungen der Rechtssubjekte in die Integrität dieser Ordnung in Form einer Normübertretung enttäuscht, so zeige die strafrechtliche Sanktion, dass die Erwartungen der Rechtssubjekte berechtigt sind und trotz ihrer Enttäuschung nicht preisgegeben werden müssen. Nach der Idee Jakobs’ ermöglicht das Strafrecht die Bewältigung des durch die Normübertretung hervorgerufenen Konflikts in einem gesamtgesellschaftlichen Sinn. Das vom Strafrecht

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zu schützende Gut sei somit die „Enttäuschungsfestigkeit der wesentlichen normativen Erwartungen“.241 Kann nun dieser strafrechtstheoretische Ansatz in die vorliegende Zurechnungsdiskussion mit einfließen? Dem Konzept Jakobs’ liegt insofern eine rechtspositivistische Grundhaltung zugrunde, als Verhaltensweisen sanktioniert werden sollen, die gegen die strafrechtlichen Normen in ihrem Regelungszusammenhang – bestehend aus der sozialen Wirklichkeit und ihrem (verfassungsrechtlich) normativen Kontext – verstoßen. Die Rechtsgutstheorie erfasse Güter völlig unabhängig vom Kontext ihrer Bedrohung und schere so „schädliches Walten der Natur“ und das strafrechtlich allein relevante zurechenbare Verhalten über einen Kamm.242 Ist aber strafwürdig nur der zurechenbare Normbruch, so liest Jakobs mit dieser Konzeption die „Zurechenbarkeit“ (im weitesten Sinn) der Gutsverletzung unmittelbar in die Bestimmung der Aufgabe des Strafrechts hinein. Führt man sich diesen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Norm und Strafe vor Augen, so kann ein solches Konzept in der Diskussion von Zurechnungsproblemen nichts beitragen. Die Zurechenbarkeit von Gutsverletzungen mag Aufschluss geben über die Legitimation der Sanktionierung dieser Verhaltensweisen.243 Die im Rahmen der eben erfolgten Diskussion aus Perspektive der Rechtsgutslehre unternommene Umkehrung dieser Beziehung im Sinne einer Bereicherung der Zurechnungsdiskussion durch strafrechtstheoretische Überlegungen ist im Rahmen der normgeltungsorientierten Konzeption von Jakobs hingegen fehl am Platz. cc) Rechtsgüterschutz durch Formalisierung sozialer Kontrolle Hassemer/Neumann bewegen sich zwar auf dem Boden der Rechtgutslehre, mahnen jedoch eine Konkretisierungsbedürftigkeit aller diskutierten Zielbestimmungen an.244 Diese Konkretisierung muss nach Hassemer/Neumann dahingehend erfolgen, dass Aufgabe des Strafrechts der subsidiäre Rechtsgüterschutz durch Formalisierung sozialer Kontrolle245 ist. 241 Vgl. zum Vorstehenden Jakobs, AT, 2/2; vgl. auch ders. (2004), 29 f. sowie ders. (2012), 13–15. 242 Jakobs, AT, 2/4. 243 In seinem „System der strafrechtlichen Zurechnung“ führt Jakobs ganz in diesem Sinne aus: „Strafrechtliche Zurechnung, so lautet die hier zu behandelnde These, hat die Funktion, den Fall zu bestimmen, in dem die Norm wegen des Verhaltens einer Person bestätigt und kognitiv untermauert werden muss. Das heißt mit anderen Worten, die Regeln der strafrechtlichen Zurechnung legen fest, wann ein Ereignis als Normwiderspruch [. . .] zu verstehen ist“, Jakobs (2012), 15 f. – und als solcher mit den Mitteln des Strafrechts zu bekämpfen ist (Anm. d. Verf.). 244 NK/Hassemer/Neumann, vor § 1 Rn. 149. 245 NK/Hassemer/Neumann, vor § 1 Rn. 195; vgl. zum Verständnis des Strafrechts als System sozialer Kontrolle bereits Neumann/Schroth (1980), 95.

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Strafrechtspflege ist nach ihrem Konzept als Teilbereich sozialer Kontrolle246 zu sehen, deren Funktion wiederum die Behauptung und Sicherung von Normen247 ist. Soziale Kontrolle sei in einem rechtsstaatlichen Kontext immer bis zu einem gewissen Grad formalisiert, d.h. voraussehbar und an Kriterien der Richtigkeit gebunden.248 Die Formalisierung der Bewältigung sozialer Konflikte distanziere die Konfliktparteien in emotional aufgeladenen Situationen, biete Orientierung in ungewohnter Lage und schütze den Schwächeren, indem sie Handlungsoptionen unabhängig von sozialer Macht verteile.249 Da sich nun das Strafrecht mit der Bewältigung der gravierendsten sozialen Konflikte befasse, müsse die strafrechtliche Konfliktbewältigung in höchstem Maße formalisiert erfolgen.250 Sieht man die Aufgabe des Strafrechts mit Hassemer/Neumann im Rechtsgüterschutz durch friedensstiftende, weil formalisierte Bewältigung sozialer Konflikte, und bedeutet Formalisierung Vorhersehbarkeit der Konfliktlösung sowie deren Rückbindung an Wertprinzipien, so ist die Lösung des BGH bei drittvermittelten Rettungsgeschehen unter zwei Gesichtspunkten problematisch. Zum einen bedeutet die Bewältigung eines strafrechtlich relevanten Sozialkonflikts für den Verletzten effektive Sanktionierung der Normübertretung. Diese wird durch die Möglichkeit der Entlastung mit der hypothetischen Pflichtverletzung eines Dritten infrage gestellt. Zum anderen entwerfen Hassemer/Neumann ein Bild der Konfliktbewältigung durch Vorhersehbarkeit, das durch den BGH im Eissporthallen-Fall verfremdet wird. Zunächst zum Erfordernis der effektiven Sanktionierung der Normübertretung zur friedensstiftenden strafrechtlichen Konfliktbewältigung: Inwiefern die geschilderte Entlastungsmöglichkeit mit den Erfordernissen eines effektiven Rechtsgüterschutzes kollidiert, wurde soeben ausgeführt.251 Hier soll der Fokus der Betrachtung auf der Beeinträchtigung einer für die Betroffenen friedensstiftenden Konfliktbewältigung liegen. Stellt man zu hohe Anforderungen an die Zurechnung tatbestandlicher Erfolge, so lassen die strafrechtlichen Normen keine angemessene Konfliktbewältigung mehr zu. Dies gilt insbesondere für die Erfolgszurechnung im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte, da hier die versuchte Tatbegehung nicht strafbar ist. Und es gilt in nochmals gesteigertem Maße bei arbeitsteiligen Pflichtverletzungen: Wenn 246

NK/Hassemer/Neumann, vor § 1 Rn. 156. NK/Hassemer/Neumann, vor § 1 Rn. 157; zur normstabilisierenden Funktion von Sanktionen bereits Neumann/Schroth (1980), 101–103. 248 NK/Hassemer/Neumann, vor § 1 Rn. 160. 249 NK/Hassemer/Neumann, vor § 1 Rn. 161–166. 250 NK/Hassemer/Neumann, vor § 1 Rn. 168. 251 Vgl. soeben S. 197 ff. 247

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nicht ein Einzelner, sondern mehrere arbeitsteilig zur Gefahrenabwehr Berufene ihre Pflichten – tatsächlich und/oder hypothetisch – verletzen, dann stößt eine Zurechnungslösung auf Akzeptanzprobleme, die in solchen Fällen keine angemessene Lösung bereithält. Alle höchstrichterlich entschiedenen Fälle drittvermittelter Rettungsgeschehen dienen nun als Beispiele dafür, wie die Strafrechtspflege in schwersten Konfliktsituationen bei Fehlverhalten innerhalb arbeitsteiliger Organisationsstrukturen um eine angemessene Erfolgszurechnung ringt. Im Eissporthallen-Fall mit einer Verfahrensdauer von knapp sechs Jahren wird die Schwierigkeit der Betroffenen besonders augenscheinlich, sich mit strafsystematisch bedingten Zurechnungsgrenzen innerhalb einer als solche empfundenen kollektiven Misswirtschaft abzufinden.252 Jedoch sind die Mängel in der gerichtlichen Aufarbeitung des Falls nur teilweise auf das hier diskutierte Zurechnungsproblem zurückzuführen. Hinzu kam das – nach Durchsicht der Entscheidungsgründe des zweiten Urteils des LG Traunstein253 nicht nachvollziehbare – Versäumnis der Anklagebehörde, einer im Raum stehenden strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Entscheidungsträger innerhalb der zuständigen Baubehörde nachzugehen. Darüber hinaus wird sich in hochgradig emotionalen Verfahren wie dem angesprochenen mit zwölf Todesopfern im Kindesalter die Nebenklägerschaft mit der strafgerichtlichen Aufarbeitung der Geschehnisse kaum jemals zufrieden geben können. Jedenfalls kann die Effektivität der Sanktionierung nicht alleiniger Maßstab für die Beurteilung strafrechtlicher Konfliktbewältigung sein. Das machen auch Hassemer/Neumann unmissverständlich klar. Diese Effektivität werde insbesondere im Interesse des Beschuldigten durch grundlegende Wertprinzipien gehemmt.254 Im Kontext der Zurechnung tatbestandlicher Erfolge im engeren Sinn werden hier insbesondere der Zweifelsgrundsatz und das über Art. 103 II GG abgesicherte Erfordernis der Kausalität des Täterhandelns für den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs im Rahmen der Deliktskategorie der Verletzungsdelikte relevant. Daher ergibt ein Blick aus der Perspektive der Effektivität der Konfliktbewältigung keine Erkenntnisse, die über das oben zum Erfordernis der effektiven Verwirklichung des Rechtsgüterschutzes Ausgeführte wesentlich hinausgehen. Wie bereits eingangs angedeutet, bleibt jedoch ein zweiter Gesichtspunkt, anhand dessen die Lösung der Rechtsprechung im Lichte der Strafrechtskonzeption 252 In einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 14.9.2011, S. 50 wird der Vater von zwei der zu Tode gekommenen Kinder mit den Worten zitiert: „Wir sind enttäuscht, was nach jahrelangen Ermittlungen und Verhandlungen herausgekommen ist. [. . .] Man hofft, dass man noch einen drankriegt, der schuld ist“. 253 In seinen Urteilsgründen zeichnet das LG Traunstein ein klares Bild von der auch von konkreten Hinweisen auf Gefahren unerschütterlichen Sanierungsresistenz der Baubehörde, vgl. LG Traunstein vom 27.10.2011, Az: 6 KLs 200 JS 865/06 (3), jurisRn. 268–282. 254 NK/Hassemer/Neumann, vor § 1 Rn. 177.

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von Hassemer/Neumann einer kritischen Betrachtung unterzogen werden muss. Die Formalisierung sozialer Kontrolle hat nach dieser Konzeption zentrale Bedeutung für die Behauptung von Normen. Diese Formalisierung vollzieht sich durch die Vorhersehbarkeit der strafrechtlichen Konfliktbewältigung sowie durch ihre Bindung an Wertprinzipien. Die strafrechtliche Konfliktbewältigung ist vorhersehbar, soweit ihre Voraussetzungen und Modalitäten, sowie ihre Folgen von vornherein öffentlich und eindeutig sind.255 Die Vorhersehbarkeit der Konfliktbewältigung ist auf allen Ebenen der Strafrechtspflege erforderlich. Sie bindet den Gesetzgeber, hinreichend bestimmte materielle Normen zu erlassen und ein klares Strafverfahrensrecht bereitzustellen.256 Sie setzt aber auch eine „gleichmäßige und nachprüfbare Entscheidungspraxis“ der Gerichte auf der Ebene der Rechtsanwendung voraus.257 Angewendet auf das vorliegende Zurechnungsproblem bedeutet das: Die Vorhersehbarkeit der Zurechnung tatbestandlicher Erfolge setzt nicht nur die Formulierung einer stimmigen Kausalitätstheorie voraus. Diese muss von der Strafgerichtsbarkeit auch einheitlich und vorhersehbar angewendet werden. Erforderlich wäre eine Zurechnungslösung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen, die aufgrund ihrer Vorhersehbarkeit eine friedensstiftende Konfliktlösung ermöglicht. Hierbei kommt dem BGH eine Schlüsselrolle zu: Er muss als Revisionsgericht auf eine einheitliche und vorhersehbare Rechtsanwendung hinwirken.258 Im bisherigen Verlauf dieser Untersuchung wurde bereits festgestellt, dass es dem BGH bislang nicht gelang, eine einheitliche Zurechnungspraxis der Instanzgerichte für das Problem der Erfolgszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen zu etablieren.259 In seinem Urteil im Eissporthallen-Fall verkehrt der BGH nun den von Hassemer/Neumann entworfenen Zusammenhang zwischen Vorhersehbarkeit und friedensstiftender Konfliktbewältigung im Ergebnis geradezu in sein Gegenteil. Während bei Hassemer/Neumann die Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendung zu einer für alle Beteiligten akzeptablen Konfliktbewältigung führt, sagt sich der BGH in diesem Urteil von der Vorhersehbarkeit der gerichtlichen Zurechnungspraxis los, um eine akzeptable Konfliktbewältigung zu ermöglichen. In dem angesprochenen Fall wäre der tatbestandliche Erfolg nach der durch den BGH angewendeten Vermeidbarkeitstheorie dem Gutachter nur dann zu255

NK/Hassemer/Neumann, vor § 1 Rn. 169. Vgl. NK/Hassemer/Neumann, vor § 1 Rn. 170–174. 257 NK/Hassemer/Neumann, vor § 1 Rn. 175. 258 Vgl. zu dieser Aufgabe KK/Kuckein, vor §§ 333–358 Rn. 2; ablehnend dagegen Roxin/Schünemann, StPO, 10/8–10, die den Zweck der Revision allein in der Gewährung eines „realistischen Rechtsschutzes“ sehen, der aufgrund des Zeitablaufs nur in einer Überprüfung der Rechtsfragen bestehen könne. 259 Vgl. hierzu bereits oben S. 172 ff. 256

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rechenbar, wenn bei garantenpflichtgemäßer Anfertigung des Gutachtens der Erfolg durch geeignete Maßnahmen der Baubehörde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden worden wäre. Den nach der bisherigen Rechtsprechung des BGH zur Überprüfung dieser Hypothese erforderlichen Beweisaufwand erbrachte das LG Traunstein in seiner ersten Entscheidung vollumfänglich. Das Gericht beschäftigte sich eingehend mit den in der Vergangenheit ergangenen Warnhinweisen, die von Seiten der Baubehörde allesamt ignoriert worden waren.260 Es stellte in Rechnung, dass ein sorgfaltsgemäß angefertigtes Gutachten des Angeklagten allenfalls weiteren Untersuchungsbedarf angezeigt hätte, nicht jedoch als Grundlage für Sofortmaßnahmen hätte dienen können.261 Auf Grundlage der so festgestellten Sanierungsresistenz kam das LG Traunstein zu dem Ergebnis, dass die Baubehörde nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit reagiert hätte, die Unterlassung des Gutachters mithin nicht kausal wurde für den tatbestandlichen Erfolg. Der BGH indessen fordert in der Begründung seiner Urteilsaufhebung weitergehende Beweiserhebungen.262 Wie jedoch das LG angesichts der offenkundigen Misswirtschaft in der Baubehörde zu der Überzeugung hätte gelangen sollen, dass diese pflichtgemäß reagiert hätte, bleibt offen.263 Nähme man trotz der Fülle von Indizien, die gegen ein hypothetisch pflichtgemäßes Handeln der Stadt sprechen, hier ein Handeln mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an, so ließen sich kaum noch Fälle denken, in denen eine solche hypothetische Erfolgsvermeidung zu verneinen wäre. Die vom BGH geforderten weiteren Untersuchungen mögen wünschenswert gewesen sein, um das Unglücksgeschehen noch umfassender zu durchleuchten. Erforderlich zur Beantwortung der Frage, ob die Unterlassung des Gutachters für den Erfolg kausal wurde, waren sie dagegen nicht. Motivation für die Beweisanregungen des BGH ist nach der hier vertretenen Auffassung nicht die Rüge einer rechtsfehlerhaften Anwendung der Vermeid-

260 Das Gericht weist neben zahlreichen undatierten, durch Zeugenaussagen belegten Warnhinweisen kritische Aussagen und Gutachten von Sachverständigen aus den Jahren 2001, 2002 und 2004 nach, die allesamt ignoriert worden waren, vgl. hierzu LG Traunstein vom 18.11.2008, Az. 2 KLs 200 JS 865/06, juris-Rn. 309–337; vgl. zur sorgfältigen, vom BGH zu unrecht als „lückenhaft“ gerügten Beweisführung des LG Traunstein auch Stübinger, ZIS 2011, 602 (607 f.): Soweit der BGH insofern eine Darstellungslücke im erstinstanzlichen Urteil geltend mache, offenbare er „lediglich die eigene mangelhafte Lektüre der Urteilsgründe“. 261 LG Traunstein vom 18.11.2008, Az. 2 KLs 200 JS 865/06, juris-Rn. 309. 262 BGH NJW 2010, 1087 (1091 f. Rn. 68 f.). 263 Ganz in diesem Sinn kommt das LG Traunstein in der Wiederauflage des Prozesses dann auch zu dem Ergebnis, dass die Stadt nicht etwa mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit pflichtgemäß regiert hätte, sondern im Gegenteil „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von Seiten der Stadtverwaltung nichts weiter unternommen worden wäre“, vgl. LG Traunstein vom 27.10.2011, Az: 6 KLs 200 JS 865/06 (3), juris-Rn. 269.

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barkeitstheorie durch das Instanzgericht. Motivation für die Urteilsaufhebung ist vielmehr das Bestreben des BGH, in dem tragischen Fall ein Höchstmaß an Aufklärung zu erzielen und so den durch den Einsturz der Halle verursachten sozialen Konflikt aufzuarbeiten. Die Aufgabe des BGH ist jedoch nicht diejenige eines „judikativen Untersuchungsausschusses“. In einer Serie von Urteilsaufhebungen264 bei drittvermittelten Rettungsgeschehen wird im EissporthallenFall ein weiteres Urteil gekippt, obwohl das LG Traunstein die zuvor höchstrichterlich präzisierten dogmatischen Vorgaben tadellos umgesetzt hatte. Zugunsten einer umfassenden Konfliktbewältigung wird so die Vorhersehbarkeit der strafgerichtlichen Zurechnung in dieser Fallkonstellation hintangestellt. So wird der von Hassemer/Neumann entworfene Zusammenhang zwischen Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendung und rechtsgutsschützender Konfliktbewältigung verfremdet. Sieht man mit Hassemer/Neumann in der Aufgabe des Strafrechts Rechtsgüterschutz durch formalisierte Aufarbeitung sozialer Konflikte, so erfordert diese formalisierte Aufarbeitung die Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendung auch in Zurechnungsfragen. Wenn der Konflikt bei drittvermittelten Rettungsgeschehen mit der Abarbeitung des im Rahmen der Vermeidbarkeitstheorie vorgesehenen Beweisprogramms nicht zufriedenstellend bewältigt werden kann, so sollte der BGH keine gerichtliche Aufklärungsarbeit in Fällen fordern, in denen sie nach der eigenen Lösung rechtlich nicht angezeigt ist. Man sollte vielmehr tiefer ansetzen und sich Gedanken darüber machen, ob es zu dieser Lösung erwägenswerte Alternativen gibt. d) Fazit: Die Berechtigung der Kritik und die Schwierigkeit ihrer systemgerechten Umsetzung Der vorangegangene Abschnitt befasste sich mit dem in der Literatur vorgebrachten Kritikpunkt der Unzulässigkeit einer Entlastung mit der fiktiven Pflichtverletzung eines Dritten. Dieser Kritikpunkt wurde aus normativer, kriminalpolitischer und strafrechtstheoretischer Perspektive beleuchtet. Die Untersuchung führte über eine bloße argumentative Aufarbeitung der Kritik hinaus. Die normativen, kriminalpolitischen und strafrechtstheoretischen Überlegungen wurden, soweit möglich, auf ihren Ertrag hinsichtlich einer alternativen Lösung des Zurechnungsproblems hin überprüft. Untersucht wurde zunächst die zur Begründung der Kritik u. a. von Jakobs und Puppe angeführte Prämisse der Normbefolgung. Diese bereichert die Diskussion in dreierlei Hinsicht. Erstens formuliert sie einen Grundgedanken, der aus seiner Einfachheit eine große argumentative Kraft schöpft: Warum sollte die Rechtsord-

264

Vgl. hierzu bereits oben S. 172 ff.

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

nung in hypothetischen Kontexten von ihrer eigenen Missachtung ausgehen? Zweitens gelingt es mit ihrer Hilfe, die Sonderstellung drittvermittelter Rettungsgeschehen im Kontext der übrigen Zurechnungskonstellationen herauszuarbeiten. Drittens kann die Prämisse in die Entwicklung einer alternativen Zurechnungslösung mit einfließen. Zwar kann sie keine systemfremde, umfassende Normativierung der Unterlassungszurechnung legitimieren – weder bei Gleichzeitigkeit der Handlungspflichten, wie vom BGH in seiner Gremien-Rechtsprechung ersonnen, noch bei drittvermittelten Rettungsgeschehen. Sie kann jedoch als normative Wertung in die empirische Feststellung der Vermeidbarkeit einfließen, weil letztere bei drittvermittelten Rettungsgeschehen unter einem beweisrechtlichen Legitimationsdefizit leidet. Daraufhin wurden die von Roxin und Philipps vorgebrachten kriminalpolitischen Argumente untersucht. Die Möglichkeit der Entlastung mit einer hypothetischen Pflichtverletzung eines anderen im Kontext arbeitsteiliger Gefahrenüberwachung ist kriminalpolitisch inakzeptabel. Gerade in dieser Konstellation, in der die Effektivität der Gefahrenabwehr unter einer oft profitorientierten Ineffektivität interner Organisationsstrukturen und Kommunikationswege leidet, muss die Strafrechtsdogmatik eine sachgerechte Zurechnungslösung bereitstellen. Schließlich wurde der Versuch unternommen, strafrechtstheoretische Überlegungen für die Beurteilung der Entlastungsmöglichkeit fruchtbar zu machen. Die Entlastungsmöglichkeit ist aus Perspektive der Effektivität des Rechtsgüterschutzes problematisch. Kann ein Rechtsgut nur durch Zusammenwirken mehrerer Beteiligter geschützt werden, so stellt sein Schutz unsere Zurechnungsdogmatik vor eine besondere Herausforderung. Sein Schutzbedürfnis bleibt hiervon unberührt. Diesem Schutzbedürfnis wird die Zurechnungslösung des BGH nicht gerecht. Auf Grundlage eines strafrechtstheoretischen Konzepts von Hassemer/Neumann wurde darüber hinaus gezeigt, dass die Zurechnungslösung des BGH keine friedensstiftende Bewältigung der auftretenden Sozialkonflikte ermöglicht. Wo dies offen zutage tritt, steuert der BGH auf revisionsrechtlich unzulässige Weise gegen und nimmt dabei Vorhersehbarkeitsdefizite in Kauf. Diese wiederum wirken sich negativ auf die Aufgabenbewältigung des Strafrechts aus, wie Hassemer/Neumann sie überzeugend entwerfen. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit der durch die Rechtsprechung ermöglichten Entlastungsmöglichkeit des Erstgaranten war ein Spannungsverhältnis allgegenwärtig. Einerseits besteht die gut begründbare Intuition, dass die unbesehene Anwendung der Vermeidbarkeitstheorie durch den BGH das Zurechnungsproblem bei drittvermittelten Rettungsgeschehen nicht sachgerecht lösen kann. Andererseits wurde die Notwendigkeit und Schwierigkeit einer systemgerechten Umsetzung dieser Intuition deutlich. Ob dieses Spannungsverhältnis de lege lata auflösbar ist, wird die weitere Untersuchung zeigen.

V. Alternative Lösungsansätze in der Literatur

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4. Zusammenfassung der Kritik Die Überprüfung der in der Literatur formulierten Kritik an der Zurechnungslösung des BGH hat gezeigt, dass die beweisrechtliche Kritik am Versuch des BGH, die Vermeidbarkeit des Erfolgs durch eine streng empirische Untersuchung der hypothetischen Reaktion des Dritten festzustellen, im Kern berechtigt ist. Aufgrund der Formbarkeit der Kausalitätshypothese gerät die streng empirische Feststellung der Vermeidbarkeit zum bloßen Etikett, die Empirie der Kausalitätsfeststellung auf Grundlage der Vermeidbarkeitstheorie ist nur eine scheinbare. Tatsächlich lässt sich aufgrund der fehlenden Rückführbarkeit der empirischen Beweiserhebung auf eine gesicherte Tatsachenbasis die Zurechnungsfrage beliebig entscheiden. Eine vorhersehbare und überprüfbare Lösung des Zurechnungsproblems ist durch die unbesehene Anwendung der Vermeidbarkeitstheorie nicht möglich. Der Kritikpunkt, der BGH müsse in Übereinstimmung mit seiner Lösung bei den Begehungsdelikten die hypothetische Pflichtverletzung des Dritten als hypothetischen Schadensverlauf außer Betracht lassen, ist nicht berechtigt. Es bestehen insofern signifikante Unterschiede zwischen der Konstellation bei den Begehungs- und den Unterlassungsdelikten. Bei drittvermittelten Rettungsgeschehen ist die hypothetische Pflichtverletzung des Dritten aus Perspektive des gefährdeten Rechtsguts dergestalt mit der tatsächlich realisierten Pflichtverletzung des Erstgaranten verschränkt, dass es sich bei ersterer nicht um ein „täterfernes“ hypothetisches Risiko handelt, das für die Beurteilung der Risikoverwirklichung außer Betracht bleiben könnte. Schließlich ist die in der Literatur monierte Möglichkeit der Entlastung des Erstgaranten unter Hinweis auf eine hypothetische Pflichtverletzung durch den Dritten normativ, kriminalpolitisch und strafrechtstheoretisch widersinnig. Ob diese Erkenntnis in ein systemgerechtes alternatives Zurechnungskonzept überführt werden kann, muss sich im Verlauf dieser Arbeit zeigen.

V. Alternative Lösungsansätze in der Literatur Der Versuch einer solchen alternativen Lösung wurde in der Literatur vielfach unternommen. Grob systematisierend lassen sich hierbei rechtsphilosophische, beweisrechtliche und normative Ansätze unterscheiden. Kahlo stützt seine Lösung auf eine rechtsphilosophisch begründete Neuinterpretation der Verletzungsdelikte. Überwiegend wird das Zurechnungsproblem unter Verwendung einer unterschiedlich begründeten Vermutung oder Fiktion pflichtgemäßen Verhaltens des Dritten gelöst. Greco vertritt eine beweisrechtliche Lösung, die strafrechtliche Gebotsnorm versteht er als rechtstatsächlichen Orientierungsfaktor. Roxin, Gimbernat und Stübinger wiederum verfolgen normative Ansätze.

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

1. Kahlo: Zurechnung wegen Zerstörung einer Rettungschance a) These Kahlos Das Lösungsmodell Kahlos gründet maßgeblich auf einem rechtsphilosophisch hergeleiteten, interpersonalen Rechtsgutsverständnis. Rechtsgüter seien keine gegenständlichen Objekte oder Gegebenheiten, sondern intersubjektive Beziehungswirklichkeiten.265 Das Strafrecht sanktioniere daher keine Gegenstands- sondern Verhältnisverletzungen.266 Im Bereich der Unterlassungsdelikte stehe der Gefährdete gegenüber einem rettungsverpflichteten Garanten in einem Abhängigkeitsverhältnis. Vor diesem Hintergrund gehören nach Kahlo nicht (erst) die körperliche Integrität und das Leben zum strafrechtlich geschützten Status quo des Bedrohten, sondern bereits die durch einen handlungsverpflichteten Garanten verkörperte Rettungschance. Der garantenpflichtwidrige Entzug dieser Rettungschance sei vernunftgesetzlich vermitteltes, kausales Bewirken im strafrechtlichen Sinn.267 Angewendet auf das Zurechnungsproblem bei drittvermittelten Rettungsgeschehen bedeutet dies: Unterlässt es der Erstgarant, durch garantenpflichtgemäße Information die Entscheidung des Dritten zu ermöglichen und so das Rettungsgeschehen einzuleiten, nimmt er dem Opfer seine Rettungschance und bewirkt so die Rechtsgutsverletzung, wenn sich der Erstgarant in konkreter Freiheit gegen die dem Opfer verbleibende Rettungsmöglichkeit entschieden hat und eine reale Rettungsmöglichkeit bestand.268 In Bezug auf letztere Voraussetzung unterscheidet Kahlo zwischen prinzipiell nicht aufklärbaren Zweifeln an der hypothetischen Entscheidung des Dritten und aufklärbaren Zweifeln hinsichtlich der Erfolgsvermeidungseignung der hypothetischen Reaktion des Dritten. Während erstere prinzipiell nicht aufklärbar und deshalb unbeachtlich seien269, komme letzteren zurechnungsausschließende Wirkung zu. b) Stellungnahme Die Lösung Kahlos wirft zwei grundsätzliche Probleme auf. Zunächst leitet er aus seinem interpersonalen Rechtsgutsverständnis eine Auslegung der Verletzungsdelikte als Verhältnisverletzungsdelikte ab, die sich von den gesetzgeberischen Vorstellungen deutlich entfernt haben dürfte. Es drängt sich der Verdacht auf, dass Kahlo auf elegante Weise bloße Gefährdungssachverhalte in die Deliktskategorie der Verletzungsdelikte „hineindefiniert“, da er das Verstreichenlassen einer Rettungschance als vollendete Rechtsgutsverletzung begreift. 265 266 267 268 269

Kahlo (2003), 27 f. Kahlo (2003), 36; vgl. auch ders. (1990), 261. Vgl. zum Vorstehenden Kahlo, GA 1987, 66 (71 f.). Kahlo, GA 1987, 66 (71–73). Kahlo, GA 1987, 66 (77).

V. Alternative Lösungsansätze in der Literatur

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Darüber hinaus bedarf auch seine These einer eingehenderen Betrachtung, aufgrund ihrer prinzipiellen Unaufklärbarkeit seien Zweifel an der hypothetischen Erfolgsvermeidung durch den Dritten für die Erfolgszurechnung unbeachtlich.270 Ob hier der Zweifelsgrundsatz tatsächlich nicht zur Anwendung kommen kann, erschließt sich jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Da die Fragen der richtigen Interpretation der Deliktskategorie der Verletzungsdelikte sowie der Anwendbarkeit des Zweifelsgrundsatzes auf die Feststellung der hypothetischen Erfolgsvermeidung durch den Dritten im Lauf der Auseinandersetzung mit den in der Literatur vorgeschlagenen Lösungen immer wieder relevant werden, werden diese Fragen am Ende dieses Kapitel erörtert.271 Neben diesen beiden grundsätzlichen Problemen wirft jedoch auch die konkrete Anwendung der Lösung Kahlos Fragen auf. Insbesondere das Zurechnungskriterium der freiheitlichen Entscheidung gegen die Eröffnung einer Rettungsmöglichkeit durch den Erstgaranten ist abzulehnen. Kahlo leitet dieses Erfordernis aus seiner Konzeption der Unterlassungskausalität als vernunftgesetzliches Bewirken her. „Nur weil und insoweit er zwischen echten Möglichkeiten wählt, kann der Garant [. . .] die Wirklichkeit des Opfers verändern.“272 Zwar versucht Kahlo am Beispiel des Abszess-Falles darzulegen, dass auch im Fahrlässigkeitsbereich bei bewusster Fahrlässigkeit eine solche Entscheidung vorliegen kann.273 Es ist jedoch fragwürdig, die Zurechnungsfrage letztlich an der oft nicht trennscharf zu führenden Unterscheidung zwischen bewusster und „einfacher“ Fahrlässigkeit festzumachen. Angesichts der gesetzgeberischen Entscheidung, nach der jedes Verletzungsdelikt unter den Voraussetzungen der §§ 13, 15 StGB auch durch fahrlässiges Unterlassen verwirklicht werden kann, werden hier Fragen der Einsicht des Täters in sein pflichtwidriges Handeln mit Fragen der objektiven Zurechenbarkeit von Verhaltensfolgen sachfremd verquickt. Es ist gerade das Charakteristikum der Fahrlässigkeitshaftung, tatbestandliche Erfolge auch ohne bewusste Entscheidungen des Täters zuzurechnen. 2. Zurechnung durch Versagung der Entlastungsmöglichkeit Lindemann, Frister, Jakobs und Philipps lösen das Zurechnungsproblem, indem sie den Entlastungseinwand des Erstgaranten als unzulässig zurückweisen. Bleibt dem Erstgaranten dieser Einwand verwehrt, so ist ihm der Erfolg ohne Weiteres zurechenbar. Während Lindemann, Frister und Jakobs in ihrer Begründung maßgeblich auf die Irrelevanz hypothetisch pflichtwidrigen Verhaltens ab270 271 272 273

Vgl. hierzu bereits oben S. 159 ff. Unten S. 234 ff. Kahlo, GA 1987, 66 (72). Vgl. Kahlo, GA 1987, 66 (73).

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

stellen, argumentiert Philipps mit der gleichwertigen Geltung der Verbotsnorm auch bei arbeitsteiliger Gefahrenüberwachung. a) Lindemann, Frister, Jakobs: Irrelevanz des hypothetisch pflichtwidrigen Verhaltens des Dritten Die Ansätze von Lindemann, Frister und Jakobs stehen nicht in expliziter Tradition der Lösung Puppes, in der Sache legen jedoch auch sie der Erfolgszurechnung eine pflichtgemäße Reaktion des Dritten zugrunde. Die Ansätze gleichen sich insofern, als sie die Erfolgszurechnung unter dem Hinweis auf die Irrelevanz hypothetisch pflichtwidrigen Verhaltens bejahen. Unterschiede bestehen insoweit, als Lindemann und Frister die Kausalität der Unterlassung mit der hypothetischen Betrachtung der modifizierten Conditio-Formel prüfen, während Jakobs – wie bereits untersucht274 – auf hypothetische Betrachtungen generell verzichten will. Lindemann spricht sich dafür aus, bei drittvermittelten Rettungsgeschehen stets von hypothetisch rechtmäßigem Verhalten des Dritten auszugehen. In seiner Begründung nimmt er Anleihen bei Puppe und Frister: Der empirische Beweis der hypothetischen Pflichterfüllung des Dritten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sei aufgrund der Indeterminiertheit menschlichen Entscheidungsverhaltens prinzipiell unmöglich.275 Weiterhin sei für die Erfolgszurechnung nur tatsächlich verwirklichtes, nicht jedoch hypothetisch gebliebenes rechtswidriges Verhalten relevant.276 Nach Jakobs darf die Frage der Risikoverwirklichung nicht unter Berücksichtigung hypothetischer Schadensverläufe beantwortet werden. Die Möglichkeit einer pflichtwidrigen Reaktion des Dritten ist demnach nicht geeignet, den Zurechnungszusammenhang zwischen der Unterlassung des Erstgaranten und dem Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs zu unterbrechen.277 Lindemann führt in seiner Begründung an, nur tatsächlich verwirklichten Normverstößen Dritter könne zurechnungsunterbrechende Wirkung zukommen. Jedoch hat die bisherige Untersuchung gezeigt, dass die Prüfung der Unterlassungskausalität nach der Vermeidbarkeitstheorie sich stets in einem hypothetischen Kontext vollzieht.278 Schließt man sich dieser hypothetischen Betrachtung an, so ist konsequenterweise nicht nur hypothetisch pflichtgemäßes, sondern auch

274

Vgl. hierzu oben S. 177 f. Lindemann verweist auf Puppe, AT, 30/12 ff., sowie auf Altenhain, NStZ 2001, 188 (191). 276 Hier nimmt Lindemann Bezug auf Frister, AT, 22/22. 277 Jakobs, AT, 29/21–23. 278 Vgl. hierzu oben S. 114 f. 275

V. Alternative Lösungsansätze in der Literatur

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hypothetisch pflichtwidriges Verhalten des Dritten in Rechnung zu stellen.279 Daher führt auch Lindemann zusätzlich das Argument an, eine Entlastung müsse dem Erstgaranten verwehrt bleiben. Es wurde jedoch bereits dargelegt, dass allein die Gefahr einer solchen Entlastung keine umfassende Ausblendung empirischer Zweifel an der Vermeidbarkeit des Erfolgs legitimieren kann.280 In der Auseinandersetzung mit Jakobs verfängt das Gegenargument der hypothetischen Grundstruktur der Unterlassungszurechnung nicht, da dieser einen konsequent jegliche hypothetische Betrachtung vermeidenden Ansatz verfolgt. In Auseinandersetzung mit der Kritik Jakobs’ an der Zurechnungslösung des BGH wurde jedoch bereits gezeigt, dass bei drittvermittelten Rettungsgeschehen die Mitwirkung des Dritten zur Erfolgsvermeidung ebenso erforderlich ist wie die garantenpflichtgemäße Handlung des Erstgaranten selbst. Aus diesem Grund kann die Reaktion des Dritten nicht als hypothetischer Schadensverlauf angesehen werden, der als solcher bei der Beurteilung der Unterlassungskausalität des Erstgaranten unberücksichtigt bleiben könnte.281 b) Philipps: Gleichwertiger Geltungsanspruch der Verbotsnorm bei Arbeitsteilung Auch Philipps spricht sich für eine Erfolgszurechnung durch Versagung der Entlastungsmöglichkeit des Dritten aus. In seiner Begründung stellt er maßgeblich darauf ab, dass der gleichwertige Geltungsanspruch der Verbotsnorm bei Arbeitsteilung einer solchen Entlastungsmöglichkeit entgegensteht. Philipps geht von einem dualistischen Zurechnungsmodell aus: Dem Kausalitätszusammenhang bei den Begehungsdelikten stehe ein irreal-prognostischer Zusammenhang bei den Unterlassungsdelikten gegenüber.282 Philipps spricht von einer Zurechnung durch „nachträgliche Prognose[n]“.283 In der Sache fragt auch er nach der Vermeidbarkeit des Erfolgs bei hypothetisch garantenpflichtgemäßem Handeln.284 Bei der Prüfung der Vermeidbarkeit in Konstellationen drittvermittelter Rettungsgeschehen sei dem Erstgaranten die Entlastung mit der hypothetischen Pflichtverletzung eines anderen zu versagen. Das gemeinsame Handeln des Erstgaranten und des Dritten müsse „an derselben Norm gemessen werden“.285 279 Ebenso Greco, ZIS 2011, 674 (690), der zutreffend darauf hinweist, „nicht nur die Entscheidung des Zweittäters, untätig zu bleiben, (sei) eine hypothetische. Auch seine Entscheidung zu handeln“ bleibe „eine bloße Möglichkeit“. 280 Vgl. hierzu oben S. 206. 281 Vgl. hierzu oben S. 181. 282 Philipps (1974), 126. 283 Vgl. etwa Philipps (1974), 117. 284 Vgl. Philipps (1974), 117. 285 Vgl. hierzu und zur im Folgenden dargestellten Argumentation Philipps (1974), 118.

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

Er begründet dies zum einen mit kriminalpolitischen Überlegungen. Eine solche Entlastungsmöglichkeit führe zur Auflösung von Verantwortungsstrukturen bei arbeitsteiliger Gefahrüberwachung. Gleichzeitig sei das Opfer uneingeschränkt schutzbedürftig, da es die arbeitsteilige Struktur der Gefahrenabwehr meist nicht erkennen und sich daher auch nicht auf deren spezifische Gefahren einstellen könne. Zum anderen begründet er die Versagung der Entlastungsmöglichkeit normativ. In Zweipersonenverhältnissen bleibe dem Täter der Hinweis auf eigenes hypothetisch rechtswidriges Verhalten verwehrt, da dieses Verhalten ja ebenso schuldhaft und daher haftungsbegründend gewesen wäre wie die tatsächlich verwirklichte Pflichtverletzung.286 Das gleiche müsse jedoch für Dreipersonenverhältnisse, also für die Konstellation arbeitsteiliger Gefahrenüberwachung gelten.287 Philipps erstreckt den Anwendungsbereich dieser Versagung der Entlastungsmöglichkeit auch auf Fälle, in denen feststeht, dass sich der Dritte ebenfalls pflichtwidrig verhalten hätte.288 Die kriminalpolitische Problematik der gegenseitigen Entlastung bei arbeitsteiliger Gefahrenüberwachung wurde bereits untersucht, diesbezüglich kann hier nach oben289 verwiesen werden. Die normative Begründung von Philipps erscheint insofern problematisch, als zwischen der Entlastung mit einer eigenen hypothetischen Pflichtverletzung und der Entlastung mit der hypothetischen Pflichtverletzung eines Dritten ein zurechnungsrelevanter Unterschied besteht: Während in ersterem Fall in beiden Szenarien290 ein identisches Haftungssubjekt vorliegt, kommen in letzterem Fall zunächst zwei Haftungssubjekte in Betracht, je nachdem, wie die „nachträgliche Prognose“ ausfällt. Auch im Ergebnis erscheint die Lösung von Philipps problematisch. Er spricht von „gemeinsame[m] Handeln“, das „an derselben Norm gemessen werden“ 286 Als Beispiel nennt Philipps die Schutzbehauptung eines mit der Wartung einer Maschine betrauten Mechanikers, selbst bei pflichtgemäßer Inspizierung der Maschine wäre der eingetretene Schaden nicht verhindert worden, da er nach seiner eigenen Einschätzung den Schaden ohnehin nicht sorgfältig repariert hätte, vgl. Philipps (1974), 118. 287 In Anschluss an das in Fn. 286 genannte Beispiel konstatiert Philipps: „Es wäre nun schlimm, wenn er (der Mechaniker, Anm. d. Verf.) sich bei einer Arbeitsteilung – er hat nur noch zu inspizieren, ein anderer dann die Reparaturen auszuführen – auf den Habitus des neuen Mitarbeiters berufen könnte, der ,schon öfter blau zur Arbeit gekommen ist‘“. 288 Vgl. Philipps (1974), 118 Fn. 156. 289 Siehe oben S. 194 ff. 290 Szenario 1: nachlässige Inspektion der Maschine; Szenario 2: pflichtgemäße Inspektion, nachlässige Reparatur.

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muss.291 Eine gegenseitige Entlastung sei nicht möglich, da sie auch dem nicht arbeitsteilig organisierten Einzeltäter verwehrt bliebe. Getragen von dem Bestreben, eine gleichwertige Haftung von Einzeltäter und arbeitsteilig organisiertem Täter zu erreichen, konstruiert Philipps faktisch einen „Haftungsverbund“ zwischen Erstgaranten und Drittem jenseits der Voraussetzungen einer (fahrlässigen) Mittäterschaft. 3. Zurechnung durch normative Vermutung pflichtgemäßen Verhaltens Überwiegend wird zur Lösung des Zurechnungsproblems eine normative Vermutung gebildet, nach der der Dritte den Erfolg pflichtgemäß verhindert hätte, wenn der Erstgarant ihm durch pflichtgemäße Information über den Gefahrenherd hierzu die Möglichkeit gegeben hätte. So wird die Quasi-Kausalität des Erstgaranten konstruiert und eine Zurechnung des Erfolgs ermöglicht. Hierbei variieren die Begründungsansätze. a) Puppe: Vermutung des pflichtgemäßen Verhaltens des Dritten Aus ihren Argumenten gegen die Zurechnungslösung der Rechtsprechung entwickelt Puppe einen eigenen Lösungsansatz. Die Frage des BGH, ob der Dritte bei garantenpflichtgemäßer Information durch den Erstgaranten den Erfolg abgewendet hätte, sei aufgrund der Indeterminiertheit menschlichen Verhaltens prinzipiell unbeantwortbar.292 Die normative Unzulässigkeit der Entlastung eines pflichtwidrig Unterlassenden mit der hypothetischen Pflichtverletzung eines anderen rechtfertige es nun, die naturgesetzlich unbeantwortbare Frage nach der hypothetischen Reaktion des Dritten mithilfe juristischer Gesetze zu beantworten.293 Puppe formuliert die Rechtsregel, dass andere Beteiligte ihre Pflichten erfüllen, solange sie sie nicht tatsächlich verletzt haben. Die pflichtgemäße Reaktion des Dritten sei also bei der Prüfung der Unterlassungskausalität des Erstgaranten zu unterstellen.294 Dies gelte auch für Fälle, in denen konkrete Anhaltspunkte eine hypothetische Pflichtverletzung des Dritten nahelegen.295 Ihre Grenze findet die Rechtsregel Puppes erst in Fällen, in denen auch der Dritte seine Pflicht tatsächlich verletzt hat. Rechtstechnisch handelt es sich also um eine widerlegbare Vermutung.

291

Philipps (1974), 118. Vgl. hierzu bereits oben, S. 151 (Nachweise in Fn. 72). 293 NK/Puppe, vor § 13 Rn. 134. 294 Puppe (2000), 49; NK/dies., vor § 13 Rn. 134 m.w. N.; jedenfalls für unproblematische Fälle zustimmend Kölbel, JuS 2006, 309 (310 Fn. 10). 295 Vgl. Puppe, AT, 2/36. 292

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

Dieses in seinen Grundzügen bereits 1980 publizierte Konzept296 findet bis heute bei einigen Autoren Zustimmung und dient als Ausgangspunkt für weiterführende Überlegungen.297 Kritisch äußern sich hingegen insbesondere Roxin und Greco. Zwar findet Roxin anerkennende Worte für Puppes Argumentation gegen die Zurechnungslösung der Rechtsprechung298, dennoch bereitet es ihm „Unbehagen“, dass in der Lösung Puppes „mit einer reinen Unterstellung gearbeitet wird“.299 Die normative Erwartung der Gebotsbefolgung sei nicht geeignet, die empirische Beweisfrage der hypothetischen Pflichterfüllung zu klären.300 Ähnlich zweifelt auch Greco „ob es zulässig ist, mit einer derart offenen Fiktion zu arbeiten“.301 Übereinstimmend mit Bosch302 argumentiert Greco, weder das Argument der Indeterminiertheit menschlichen Verhaltens, noch der von Puppe in ihren frühen Stellungnahmen vertretene Standpunkt, pflichtgemäßes Verhalten sei „um der Effektivität der Normen willen“ 303 zu unterstellen, könnten die „Fiktion“ legitimieren.304 Bosch, der seine eigene Lösung auf den Gedanken Puppes aufbaut305, nimmt Anstoß an der Reichweite der von Puppe entwickelten Vermutung. Diese greife selbst dann, wenn der Dritte im Prozess erkläre, ein Warnhinweis des Erstgaranten hätte ihn unter keinen Umständen zur Abwendung des Erfolgs bewegen können. Rechnet man in diesem Fall zu, so ergibt sich nach Bosch ein substanzieller Unterschied zur Behandlung psychisch vermittelter Kausalverläufe bei den Begehungsdelikten. Denn beispielsweise im Rahmen des § 263 StGB schließe die nachgewiesene Irrelevanz der Täuschungshandlung für die vermögensmindernde Verfügung des Opfers die Erfolgszurechnung aus. Eine solche unterschiedliche Behandlung psychisch vermittelter Kausalverläufe bei Tun und Unterlassen widerspreche dem Gleichstellungserfordernis des § 13 I StGB.306 Der Vergleich mit Fällen psychisch vermittelter Begehungskausalität von Bosch kann überzeugend begründen, warum das Aufrechterhalten einer zurech-

296

Vgl. einmal mehr den grundlegenden Aufsatz Puppe, ZStW 92, 863 (906 f.). Vgl. die Konzepte von Bosch, FS Puppe, 363 ff.; Kudlich, JA 2010, 552 (554); Altenhain, NStZ 2001, 188 (191); Lindemann, ZJS 2008, 404 (408); zu diesen Lösungsansätzen sogleich S. 216 ff. 298 Roxin, FS Achenbach, 409 (428). 299 Roxin, FS Achenbach, 409 (429). 300 Roxin, FS Achenbach, 409 (429). 301 Greco, ZIS 2011, 674 (690). 302 Bosch, FS Puppe, 373 (380 ff.). 303 Vgl. hierzu Puppe, ZStW 92, 863 (907). 304 Greco, ZIS 2011, 674 (690). 305 Vgl. hierzu sogleich S. 216. 306 Bosch, FS Puppe, 373 (379–383). 297

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nungsbegründenden Vermutung bei Überzeugung von der hypothetischen Pflichtverletzung des Dritten ex post zu weit geht. Im Übrigen kann dieser Vergleich jedoch zur Lösung des vorliegenden Zurechnungsproblems nichts beitragen, da sich das entscheidende Problem der Entlastung mit der hypothetischen Pflichtverletzung eines anderen bei den Begehungsdelikten nicht stellt. Greco, Roxin und Bosch ist in ihrer Kritik an der Lösung Puppes zuzustimmen. Diese Kritik wird durch die bisherigen Ergebnisse dieser Arbeit untermauert und ergänzt. Die in diesem Zusammenhang zentrale These der vorliegenden Untersuchung lautet: Isoliert normative Überlegungen zeigen die Schwächen der Rechtsprechungslösung auf, eine allein auf normative Überlegungen gestützte Lösung des Zurechnungsproblems ist jedoch ebenso wenig legitimierbar, wie die unter dem Feigenblatt strenger Empirie firmierende Lösung der Rechtsprechung. Im Einzelnen: Es wurde bereits aufgezeigt, dass das Argument nicht verfängt, eine Zurechnung nach Rechtsregeln sei schon aufgrund der Indeterminiertheit menschlichen Verhaltens unumgänglich. Dieser Gedankengang wird der Vielfalt der in der Gerichtswirklichkeit zu beurteilenden Fallkonstellationen nicht gerecht.307 Damit ist auch dem Argument die Grundlage entzogen, um der Effektivität der Normen willen sei rechtmäßiges Verhalten zu unterstellen, wenn man aufgrund der Indeterminiertheit des Dritten ohnehin schon mit einer Unterstellung arbeiten müsse.308 Unabhängig hiervon wurde bereits aufgezeigt, dass Gedanken der normgeltungswahrenden oder rechtsgüterschützenden Sanktionierungseffizienz nur unter dem Vorbehalt ihrer systemgerechten Umsetzung fruchtbar gemacht werden können.309 Gedanken der Sanktionierungseffizienz kommen daher auch in den aktuellen Publikationen Puppes nicht mehr zum Tragen.310 Puppe würde vielmehr entgegnen, seine maßgebliche Legitimation schöpfe ihr Modell aus der Unzulässigkeit der Entlastung mit der hypothetischen Pflichtverletzung eines anderen, wie sie auch der BGH in seiner Politbüro-Entscheidung postuliert habe.311 Indes kann der negative Befund, eine solche Entlastung sei unzulässig, nicht bereits als positive Lösung des Problems dienen. Die Integration normativer Wertungen kann zur Lösung des Zurechnungsproblems beitragen, jedoch nicht in Gestalt eines Zurechnungsautomatismus, wie Puppe ihn ent307

Vgl. hierzu bereits oben S. 160 f. So noch Puppe, ZStW 92, 863 (907): „Um der Effektivität der Normen willen ist es [. . .] sinnvoll, nicht das wahrscheinlichste Verhalten zu unterstellen, sondern das normgemäße, nachdem eine Unterstellung mangels kausalgesetzlicher Determiniertheit menschlicher Entscheidungen ohnehin notwendig geworden ist“. 309 Vgl. hierzu oben S. 196 ff. 310 Vgl. etwa ihre Argumentation in Puppe, GA 2010, 551 (568 f.); NK/Puppe, vor §§ 13 ff. Rn. 133 f. 311 Vgl. zu diesem Argument bereits oben S. 157 f. 308

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

wirft. Nimmt man eine Normativierung der Unterlassungszurechnung vor, so müssen die hierfür maßgeblichen Kriterien in ständiger Beachtung der systematischen Grenzen einer solchen Normativierung entwickelt werden. b) Bosch: Einschränkung bei Nachweis fehlender Abwendungsmöglichkeit ex post Bosch baut auf den Gedanken Puppes auf: Auch er spricht sich für die Anwendung einer Rechtsregel des pflichtgemäßen Verhaltens des Dritten aus.312 Die Unterlassungskausalität lasse sich nicht als naturalistische begründen, sondern nur durch eine hypothetische Vermeidbarkeitsprüfung feststellen. Da sich darüber hinaus bei psychisch vermittelten Kausalverläufen nicht alle Umstände313 aufklären ließen, es also hinsichtlich der Rettungsmöglichkeit keine absolute Gewissheit gebe, seien normative Kriterien der Kausalitätsprüfung zumindest dann zugrunde zu legen, wenn hierdurch der Unterlassungstäter nicht schlechter gestellt werde als der Begehungstäter.314 Auf Grundlage seiner soeben dargestellten Kritik der Reichweite der Vermutung bei Puppe schränkt er sodann den Anwendungsbereich dieser Vermutung ein. Die Frage, ob der Zweitgarant den Erfolg verhindert hätte, ist nach seiner Konzeption grundsätzlich dem Beweis ex post zugänglich. Hieraus ergibt sich für Bosch eine Einschränkung der von Puppe aufgestellten, umfassend normativierenden Zurechnungslösung: Stehe ex post fest, dass der Erstgarant auch durch pflichtgemäße Information des Dritten den Erfolg nicht hätte verhindern können, weil sich letzterer unter keinen Umständen zu pflichtgemäßem Handeln hätte bewegen lassen, so müsse die Kausalität des Erstgaranten verneint werden. Sonst drohe eine ungerechtfertigte Schlechterstellung des Unterlassungstäters.315 Bosch leitet aus der hypothetischen Struktur der Unterlassungskausalität sowie aus den Problemen einer streng empirischen Beweisführung bei psychisch vermittelter Kausalität die Möglichkeit einer Integration normativer Wertungen in die Prüfung der Unterlassungskausalität ab. So begründet er die Vermutung pflichtgemäßen Verhaltens. 312

Bosch, JA 2008, 737 (739); ders. (2002), 106 f.; S/S/Stree/ders., § 13 Rn. 62. Dennoch nimmt Bosch Abstand von der These Puppes, empirische Überlegungen seien aufgrund der Indeterminiertheit menschlichen Verhaltens von vornherein zum Scheitern verurteilt; vgl. hierzu bereits oben S. 161. 314 Vgl. Bosch (2002), 107. 315 Bosch, FS Puppe, 373 (382 f.); vgl. hierzu soeben S. 214; eine weitere Einschränkung betrifft Fälle, in denen die Zweifel an der hypothetischen Vermeidbarkeit des Erfolgs auf der Möglichkeit beruhen, dass das spätere Opfer bei pflichtgemäßem Handeln des Erstgaranten den Erfolg durch Verstoß gegen eine Selbstschutzobliegenheit selbst herbeigeführt hätte; da es sich bei dieser Konstellation nicht um ein drittvermitteltes Rettungsgeschehen handelt, ist diese Einschränkung für die vorliegende Untersuchung nicht relevant. 313

V. Alternative Lösungsansätze in der Literatur

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In der Begründung steht er den bisherigen Ergebnissen dieser Untersuchung nahe. Sie hat gezeigt, dass der Versuch einer streng empirischen Problemlösung an der Formbarkeit der Kausalitätshypothese scheitert und die hypothetische Betrachtung im Rahmen der Vermeidbarkeitstheorie Raum für normative Wertungen lässt. Ob die auch von Bosch favorisierte Vermutungslösung die richtige Konsequenz dieser Gedankenführung ist, wird sogleich zu entscheiden sein.316 Bosch schränkt die Anwendbarkeit der Vermutung pflichtgemäßen Verhaltens ein für den praktisch nicht besonders relevanten Fall der ex post positiv feststellbaren hypothetischen Pflichtverletzung des Dritten. Interessant ist diese Einschränkung jedoch insofern, als hier Bemühungen erkennbar werden, das Zurechnungsproblem nicht durch einen Zurechnungsautomatismus zu lösen. Bosch versucht vielmehr, die Zurechnung am Kriterium der normativen Gleichwertigkeit der Begehungs- und Unterlassungskausalität auszurichten. Es wurde bereits dargelegt, dass sich dieses Kriterium aufgrund der nur im Unterlassungsbereich bestehenden Gefahr der Entlastung mit der fiktiven Pflichtverletzung eines Dritten als Leitlinie nur eingeschränkt verwerten lässt. Dennoch erscheint ein Lösungsansatz aussichtsreich, der sich von einer faktisch unwiderlegbaren Vermutungslösung distanziert und sich um eine differenziertere Zurechnung bemüht. c) Ast: Normative Vermutung als Grundlage für Zurechnung über § 25 I Alt. 2 StGB Ast will auf Grundlage der normativen Vermutung zurechnen, wenn der Erstgarant über § 25 I Alt. 2 StGB für das Verhalten des Dritten verantwortlich gemacht werden kann. In Fällen, in denen nur das pflichtgemäße Handeln aller Beteiligter den tatbestandlichen Erfolg verhindern kann, ist nach Ast nicht anhand des normgemäßen Verhaltens Einzelner, sondern anhand des normgemäßen Verhaltens aller Beteiligter zu überprüfen, ob der Erfolg vermeidbar war. So lasse sich die Vermutung normgemäßen Verhaltens legitimieren.317 Allein der Befund, dass der Erfolg bei normgemäßem Verhalten aller Beteiligter ausgeblieben wäre, rechtfertige jedoch noch keine Erfolgszurechnung zum Verhalten des Erstgaranten. Auf Grundlage eines restriktiven Fahrlässigkeitstäterbegriffs setzt Ast vielmehr voraus, dass dem Unterlassenden das Verhalten der anderen Beteiligten zugerechnet werden kann. Bei Gremienbeschlüssen nimmt Ast eine Zurechnung über § 25 II StGB vor. Bei drittvermittelten Rettungsgeschehen schlägt er eine Zurechnung des Verhaltens des Dritten über § 25 I Alt. 2 StGB, also aufgrund fahrlässiger mittelbarer Täterschaft durch Unterlassen vor. Täterschafts- und damit zurechnungsbegründend setzt er eine gesteigerte Verant316 317

Vgl. unten S. 234 ff. Ast, ZStW 124, 612 (649).

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

wortlichkeit des Erstgaranten für den Erfolgseintritt im Vergleich zum Dritten voraus.318 Nach der hier vertretenen Ansicht erscheint es vorzugswürdig, die Erfolgszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen als Zurechnungsproblem im engeren Sinn zu lösen, anstatt auf § 25 I Alt. 2 StGB zurückzugreifen. Der Strafgesetzgeber hat dem Rechtsanwender bei der Ausgestaltung des Zurechnungszusammenhangs zwischen tatbestandlicher Unterlassung und Eintritt des Verletzungserfolgs Gestaltungsspielräume belassen, die zur Problemlösung genutzt werden können. Eine Lösung über § 25 I Alt. 2 StGB gerät nicht nur mit dem Einheitstäterbegriff in Konflikt, auch liegt der Konstruktion einer fahrlässigen mittelbaren Täterschaft durch Unterlassen eine entgrenzende Interpretation des § 25 I Alt. 2 StGB zugrunde, die mit dem Kriterium einer gesteigerten Verantwortlichkeit gegenüber dem Vordermann das Erfordernis der Tatherrschaft bis zur Konturlosigkeit abschwächt. d) Kudlich, Altenhain: Relevanz hierarchischer Über- und Unterordnungsverhältnisse In einer Anmerkung zum Urteil des BGH im Eissporthallen-Fall schließt sich Kudlich der Lösung Boschs an. Auch für Kudlich geht eine pauschale Vermutung pflichtgemäßen Handelns des Dritten zu weit. Differenzierungspotenzial sieht er in hierarchischen Über-/ bzw. Unterordnungsverhältnissen. Hierbei deutet er an, pflichtgemäßes Verhalten des Dritten könne insbesondere dann angenommen werden, wenn der Dritte dem Erstgaranten hierarchisch untergeordnet sei.319 Auch bei Altenhain finden sich Überlegungen zur Relevanz von Hierarchien für das Zurechnungsproblem bei drittvermittelten Rettungsgeschehen. Altenhain stellt auf ein normatives Charakteristikum hierarchischer Systeme ab, um für die Vermutung pflichtgemäßen Verhaltens eine zusätzliche Begründung vorzubringen: Ein hierarchisch Untergebener dürfe sich auf das sorgfaltspflichtgemäße Verhalten seines Vorgesetzen verlassen, insoweit sei seine eigene Sorgfaltspflicht begrenzt. Dann könne aber der Untergebene nicht gleichzeitig seine Pflichtverletzung mit dem Hinweis relativieren, sein Vorgesetzter hätte unter Umständen seine Pflicht ebenso verletzt.320 Altenhain moniert also, ein hierarchisch Untergebener könne sich nicht nach Bedarf bei eigener Pflichterfüllung oder -verletzung wahlweise auf die Pflichterfüllung oder -verletzung seines Vorgesetzten berufen. 318

Ast, ZStW 124, 612 (653 f.). So führt Kudlich, JA 2010, 552 (554) aus: „Ist für einen Verursacherzusammenhang erforderlich, dass auf die fehlende Handlung des Täters [. . .] dritte Personen (und dabei insbes. solche, die in keinem Unterordnungsverhältnis zum Täter stehen) reagieren müssen, kann letztlich nie verbindlich festgestellt werden, ,wie jeder einzelne in einer bestimmten Situation gehandelt hätte [. . .]‘“. 320 Vgl. zum Ganzen Altenhain, NStZ 2001, 188 (191). 319

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Kudlich und Altenhain versuchen auf unterschiedliche Weise, die Charakteristika hierarchischer Über- bzw. Unterordnungsverhältnisse in ihre Zurechnungslösung einfließen zu lassen. Für Kudlich spricht die faktische Durchsetzungsmacht des hierarchisch übergeordneten Erstgaranten für eine hypothetische Pflichterfüllung des Dritten. Altenhain gelangt in einer normativen Überlegung zu dem Ergebnis, dass als Kehrseite der entlastenden Begrenzung der Fahrlässigkeitshaftung auf den eigenen Verantwortungsbereich dem Erstgaranten die Berufung auf hypothetisch pflichtwidriges Verhalten des Vorgesetzten verwehrt bleiben muss. So unterschiedlich wie die Begründungsansätze sind auch die Ergebnisse: Bei Kudlich spricht eine hierarchische Überordnung des Erstgaranten für die Pflichterfüllung des Dritten. Bei Altenhain muss gerade bei hierarchischer Unterordnung des Erstgaranten von der hypothetischen Pflichterfüllung des Dritten ausgegangen werden. Lassen sich nun Überlegungen der hierarchischen Über- bzw. Unterordnung für die Lösung des Zurechnungsproblems fruchtbar machen? Der Vorschlag Altenhains ist insofern problematisch, als er in seinem Umkehrschluss unterschiedliche Stufen der Unrechtsbegründung miteinander vermengt. Es bedarf einer eingehenderen Begründung, inwiefern Überlegungen zur Reichweite der eigenen Sorgfaltspflichten bei der Zurechnung von Erfolgen in Fällen relevant werden, in denen die Sorgfaltspflichtverletzung des Täters außer Frage steht. Interessant an der Anregung Kudlichs ist, dass sich in seinem Ansatz empirische und normative Überlegungen verbinden lassen. Im Fall der hierarchischen Überordnung des Erstgaranten tritt neben die faktische Durchsetzungsmacht des Vorgesetzten ein arbeitsvertraglich festgelegtes Weisungsrecht. Somit spricht in dieser Konstellation in der Tat einiges für die hypothetische Pflichterfüllung des Dritten. 4. „Kontrafaktische“ Zurechnung durch Fiktion pflichtgemäßen Verhaltens Sofos und Kahrs gehen in ihrer Lösung noch einen Schritt weiter. Bei Gegenbeweis soll die Vermutung pflichtgemäßen Verhaltens zur Fiktion erstarken. a) Sofos: Annahme kontrafaktischer Normkonformität Sofos unterscheidet zwei Konstellationen drittvermittelter Rettungsgeschehen. Zunächst widmet er sich der bisher im Zentrum dieser Untersuchung stehenden Konstellation, in der der Dritte ohne Information durch den Erstgaranten keine Kenntnis von der Gefahr hat und deshalb keine eigene Pflichtverletzung begeht. Hier folgt seine Argumentation derjenigen Puppes. Auch Sofos will also aufgrund der Indeterminiertheit menschlichen Verhaltens, der Prämisse der Normbe-

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

folgung und der Unzulässigkeit der Entlastung mit der fiktiven Pflichtverletzung eines anderen die pflichtgemäße Reaktion des Dritten für die Kausalitätsprüfung unterstellen.321 Ihre Grenze finde diese Vermutung nicht bereits in Fällen, in denen alle Umstände gegen eine hypothetische Pflichterfüllung sprechen, sondern erst dort, wo dem Dritten die Abwehr der Gefahr rein naturgesetzlich nicht mehr möglich gewesen wäre.322 Als zweite Konstellation benennt Sofos Fälle, in denen der Dritte – entweder durch garantenpflichtwidrig unvollständige Information durch den Erstgaranten oder auf anderem Wege – Kenntnis von gefahrbegründenden Umständen erhält, und dennoch garantenpflichtwidrig untätig bleibt. So verhielt es sich etwa im Bremsen-Fall, in dem der Werkstattleiter den Juniorchef nach oberflächlicher Untersuchung der Bremsen über Schäden informierte, worauf dieser jedoch nicht reagierte. So verhielt es sich auch im Abszess-Fall, in dem der Oberarzt auch nach unterlassener Information durch den Stationsarzt bei einer selbständig durchgeführten Visite einige Tage später Entzündungssymptome feststellte, ohne jedoch hierauf rechtzeitig zu reagieren. Auch in diesen Konstellationen will Sofos – hier „kontrafaktisch“ – das pflichtgemäße Verhalten des Dritten unterstellen. Zur Lösung erstgenannter Konstellation gilt das oben zum Konzept Puppes Gesagte. Die Lösung der zweitgenannten Konstellation ist sowohl in ihrem Ergebnis als auch in ihrer Begründung verfehlt. Im Ergebnis haftet nach diesem Lösungsvorschlag bei drittvermittelten Rettungsgeschehen der pflichtwidrig unterlassende Erstgarant für alle Erfolge, deren Abwendung nicht schon naturgesetzlich unmöglich war. Anders formuliert: Der Erstgarant ist kausal für den Erfolg, wenn dieser bei pflichtgemäßem Handeln rein theoretisch hätte abgewendet werden können. Durch eine solche von den empirischen Gegebenheiten des Einzelfalls gänzlich losgelöste, isoliert normative Betrachtung wird die Deliktskategorie der Verletzungsdelikte jeglicher Kontur beraubt. In der Begründung ist zunächst der Begriff der Kontrafaktizität missverständlich gebraucht. Denn für die konkret relevante Frage der hypothetischen Vermeidbarkeit des Erfolgs durch pflichtgemäße Information durch den Erstgaranten gibt es kein „Faktum“, das durch eine Zurechnungslösung durchbrochen werden könnte: Die tatsächliche Pflichtverletzung des Dritten fand nicht auf Grundlage der pflichtgemäßen Information durch den Erstgaranten statt, sondern auf einer anderen Entscheidungsgrundlage und unter anderen Umständen. Im BremsenFall etwa hätte eine hypothetisch pflichtgemäße Information die eklatanten 321

Vgl. Sofos (1999), 235–244. Sofos (1999), 243; als Beispiel nennt Sofos die hypothetische Verständigung eines Arztes, der unter keinen Umständen rechtzeitig am Einsatzort eintreffen kann – etwa, weil er gefesselt ist oder sich an einem entlegenen Ort befindet. 322

V. Alternative Lösungsansätze in der Literatur

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Bremsschäden zutage gefördert und im Abszess-Fall hätte der Oberarzt bei pflichtgemäßer Information durch den Stationsarzt einige Tage früher und an einem Werktag, d.h. unter erheblich verbesserten Bedingungen für unverzügliche diagnostische Maßnahmen, von den Entzündungssymptomen erfahren. Über diese begriffliche Ungenauigkeit hinaus kann der Begründung auch inhaltlich nicht gefolgt werden. Sofos setzt die Konstellation des drittvermittelten Rettungsgeschehens gleich mit Fällen, in denen zwei zu identischen Handlungen verpflichtete Garanten parallel unterlassen.323 In beiden Konstellationen dürfe die Erfolgszurechnung nicht von der reinen Zufälligkeit abhängen, welcher Beteiligte sich zuerst zum Normbruch entschließe.324 Zweifelhaft ist zunächst die Prämisse, dass bei mehreren Beteiligten nicht der Zufall über die Erfolgszurechnung entscheiden dürfe. Geben etwa zwei Täter jeweils für sich genommen tödliche Schüsse auf das Opfer ab, lässt sich jedoch feststellen, dass der Schuss des A das Stammhirn traf und zum sofortigen Tod führte, sodass der Schuss des B ins Herz in Bezug auf das Leben des Opfers wirkungslos blieb, so ändert die „Zufälligkeit“ dieser Reihenfolge nichts daran, dass B nur wegen Versuchs bestraft werden kann.325 Aber auch die Gleichstellung der beiden Fallkonstellationen überzeugt nicht. Denn wie gesehen liegt hier gerade kein Fall schlicht parallelen Unterlassens vor. Vielmehr beeinflusst die Information des Erstgaranten die Entscheidungsgrundlage für den Dritten. Daher ist es hier verfehlt, wie Sofos zu argumentieren, bei mehreren Unterlassenden sei es rein zufällig, wer zuerst unterlasse, weshalb letztlich alle empirischen Zweifel an der hypothetischen Erfolgsvermeidung zugunsten einer normativen Fiktion außer Betracht zu lassen seien. b) Kahrs: Pflichtbezogenes Vermeidbarkeitsprinzip Im Ergebnis legt auch Kahrs der Erfolgszurechnung bei drittermittelten Rettungsgeschehen eine Fiktion hypothetisch pflichtgemäßen Verhaltens des Dritten zugrunde. Seine anlässlich des Urteils des BGH im Eissporthallen-Fall entwickelte Lösung326 geht auf eine Monographie327 zurück, die bereits 1968 unter anderem das hier untersuchte Zurechnungsproblem zum Gegenstand hatte. 323 Beispielhaft beschreibt Sofos einen Spaziergänger, der von einem umstürzenden Baum begraben wird. Zwei an der Unfallstelle anwesende Garanten bleiben untätig, wobei sie nur gemeinsam in der Lage gewesen wären, den Baum zu entfernen. Hierbei fasst einer der beiden Garanten den Entschluss, untätig zu blieben, kurz vor dem anderen. 324 Vgl. Sofos (1999), 259–261. 325 Beispiel des Verfassers; vgl. hierzu etwa Roxin, AT I, 11/25. 326 Kahrs, NStZ 2011, 14. 327 Kahrs, Das Vermeidbarkeitsprinzip und die conditio-sine-qua-non-Formel im Strafrecht (1968).

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

Kahrs bestreitet den universellen Geltungsanspruch naturwissenschaftlicher Kausalität als Grundlage für die strafrechtliche Erfolgszurechnung. Er entwickelt ein Zurechnungsmodell, das für Begehungs- und Unterlassungsdelikte einheitlich auf der Vermeidbarkeit des tatbestandlichen Erfolgs aufbaut: „Dem Täter wird ein Erfolg zugerechnet, wenn er ihn nicht vermieden hat, obwohl er ihn insgesamt vermeiden konnte und dazu verpflichtet war.“ 328

Eine Trennung von Kausalitätsproblemen und normativen Zurechnungsfragen im engeren Sinn, wie sie heute jedenfalls bei den Begehungsdelikten in der strafrechtlichen Literatur nahezu einhellig vertreten wird, kennt Kahrs nicht. Im Bereich der hier relevanten unechten Unterlassungsdelikte, einem Bereich also, in dem sich nach der in dieser Arbeit entwickelten These eine klare Trennung von empirischer Kausalitätsprüfung und normativer Zurechnung nicht durchhalten lässt329, rückt seine Zurechnungslösung in die Nähe der Vermeidbarkeitstheorie. Dies gilt jedenfalls für die Grundkonstellation des Einzeltäters. Um nun bei drittvermittelten Rettungsgeschehen eine Entlastung des Erstgaranten zu vermeiden, blendet Kahrs unter dem Schlagwort einer „Vermeidbarkeit im Rechtssinne“ das hypothetische Geschehen außerhalb des Verantwortungsbereichs des Erstgaranten aus. Die Vermeidbarkeitsprüfung müsse sich am Inhalt der Vermeidepflicht orientieren. Die Vermeidepflicht des Erstgaranten laute nicht darauf, den Erfolg insgesamt zu vermeiden, sondern lediglich durch Information des Dritten den ihm obliegenden Teil dazu beizutragen. Ob der Dritte diesen Beitrag mit dem Resultat der tatsächlichen Erfolgsvermeidung verarbeite oder nicht, betreffe ausschließlich dessen Rechtssphäre, nicht aber die Rechtssphäre des Erstgaranten. Zur Feststellung der Vermeidbarkeit wird daher isoliert der Verantwortungsbereich des Erstgaranten betrachtet und unter dem Begriff der „Festsetzung der Bezugsebene“ des Geschehens pflichtgemäßes Verhalten des Dritten unwiderlegbar fingiert.330 Vermeidbar ist nach dieser Konzeption jeder Erfolg, zu dessen Vermeidung der Täter einen Beitrag leisten konnte und musste.331 Kahrs begründet seine Lösung mit der Überlegung, dass die Vermeidepflicht überflüssig würde, wenn man eine Entlastung des Erstgaranten akzeptieren würde. Bereits die Ausgangsüberlegung überzeugt nicht, die zurechnungsrelevante Vermeidbarkeit unter Rückgriff auf Überlegungen zum Umfang der Pflichtenstellung der Beteiligten zu bestimmen. Mit diesem Ansatz lassen sich Handlungsund Erfolgsunrecht nicht mehr voneinander abgrenzen. Es erscheint systemgerechter, die „Vermeidepflicht“ für die Bestimmung des Handlungsunrechts heran328 329 330 331

Kahrs (1968), 41. Vgl. hierzu oben S. 109 ff., insb. S. 112 f. Vgl. hierzu auch Kahrs, NStZ 2011, 14 (18). Vgl. zum Ganzen Kahrs (1968), 75–77.

V. Alternative Lösungsansätze in der Literatur

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zuziehen, während das Erfolgsunrecht nicht unter Missachtung aller außerhalb des Verantwortungsbereichs des Täters liegenden Umstände bestimmt werden kann. Darüber hinaus ist es argumentativ problematisch, wenn Kahrs gerade mit der Beschränkung der Pflichten des Erstgaranten auf seinen eigenen Verantwortungsbereich dessen umfassende Haftung für das folgende Geschehen begründet. Am schwersten wiegt aber folgender Einwand: Mit seiner Konstruktion einer „Vermeidbarkeit im Rechtssinne“ höhlt Kahrs den deskriptiven Bedeutungskern des Begriffs der Vermeidbarkeit aus. Eine solche begriffliche Entfremdung ist inakzeptabel in einer wissenschaftlichen Disziplin, deren einziges wissenschaftliches Substrat die Sprache ist und die auf einen Bestand allgemein konsentierter Bedeutungsfundamente angewiesen ist, um in einen sinnstiftenden Diskurs einzutreten. Nach der hier vertretenen Auffassung lässt sich die Beurteilung der Vermeidbarkeit eines Ereignisses nicht vollständig von empirischen Überlegungen lösen, ohne den Wortsinn aufzugeben. Zwar kann und soll der strafrechtliche Vermeidbarkeitsbegriff gewiss kein „außerrechtlicher“ sein.332 Der Begriff ist durchaus offen für normative Wertungen. Im Rahmen dieser Untersuchung wurde auch bereits festgestellt, dass die empirische Überprüfung der Vermeidbarkeit bei drittvermittelten Rettungsgeschehen nur eingeschränkt möglich ist.333 Eine normativierende Interpretation des Begriffs der Vermeidbarkeit darf sich jedoch nicht gänzlich von dessen deskriptivem Bedeutungskern lösen.334 Genau eine solche Interpretation unternimmt jedoch Kahrs, wenn er einen faktisch unvermeidbaren Erfolg (ausdrücklich) für vermeidbar erklärt, wenn der Täter den Versuch hätte unternehmen sollen, diesen zu vermeiden: „Es ist unerheblich, daß der erste Helfer den Erfolg mangels fehlerfreier Mitwirkung des zweiten Helfers faktisch nicht vermeiden konnte, weil bereits eine am Inhalt der Vermeidepflicht ausgerichtete Vermeidbarkeit, eine Vermeidbarkeit im Rechtssinne, die Erfolgszurechnung begründet.“ 335

Letztlich gibt es bei einer solchen Interpretation überhaupt keinen Anknüpfungspunkt mehr für die Prüfung der Vermeidbarkeit, wenn der Begriff aus seinem Bedeutungszusammenhang mit dem tatbestandlichen Erfolg herausgelöst wird. 332

Insofern ist Kahrs (1968), 77 Recht zu geben. Vgl. hierzu oben S. 166 ff. 334 Ganz ähnlich zur entgrenzend normativierenden Interpretation des Begriffs der Arglosigkeit durch BGHSt 48, 207 Saliger, JZ 2012, 723 (724 f.): Auch Saliger wendet sich gegen eine normativ- kontrafaktische Interpretation eines im Kern deskriptiven Begriffs. Eine solche sei „sprachwidrig“ und überschreite die Grenzen normativer Auslegung. Eine konsensfähige Grenze normativer Auslegung sei ihr Fiktionsgehalt. 335 Kahrs (1968), 85. 333

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

Man mag die Vermeidbarkeit des Erfolgseintritts als Zurechnungskriterium gänzlich verwerfen. Akzeptiert man sie jedoch – und eine solche Akzeptanz liegt dieser Untersuchung zugrunde – so lässt sich der Begriff nicht über die soeben gezogene Grenze hinaus normativieren. 5. Gebotsnorm als beweisrechtlich relevanter Orientierungsfaktor Greco versucht in seinem auf Beweisebene angesiedelten Lösungsansatz, die Schwächen der Vermutungslösungen zu überwinden. a) Der Ansatz von Greco Greco legt seiner Lösung seine kausalitätslimitierende Risikominderungslehre336 zugrunde. Auch diese stößt jedoch auf der Ebene der Kausalität für den Erfolg in seiner durch Ort und Zeit konkretisierten Gestalt sowie für die Beantwortung der Frage nach der Risikominderung auf Zurechnungsebene auf das Problem, dass das hypothetische Verhalten des Dritten ungewiss bleibt. Wie Roxin337 lehnt auch Greco es ab, mit einer konstruierten Vermutung zu arbeiten, wie Puppe und ihre Anhänger dies tun. Durchaus nachvollziehbar äußert er zudem Bedenken, die für das Strafrecht so fundamentale Kausalitätslehre ohne zwingenden Grund abzuändern.338 Um den „richtigen Kern“ der Argumentation Puppes herauszuschälen und in eine systemgerechte Lösung einzufügen, setzt Greco auf der Ebene der Beweiserhebung an. Für die Feststellung der Kausalität sowie der Risikominderung dürfe hiernach von pflichtgemäßem Verhalten des Dritten ausgegangen werden. Das Recht sieht er als tatsächlich beachteten Orientierungsfaktor, das pflichtgemäße Verhalten des Dritten wird auf dieser Grundlage zur Erfahrungsregel. Diese Regel komme jedoch nur zur Anwendung, solange keine Anhaltspunkte an der hypothetischen Pflichtbefolgung durch den Dritten zweifeln ließen. Eine genauere Ausdifferenzierung dieser „Anhaltspunkte“ nimmt Greco nicht vor. Er stellt jedoch eine Orientierung an der Kasuistik der Ausnahmen vom Vertrauensgrundsatz in den Raum. Lägen nun solche Anhaltspunkte vor, so dürfe die Pflichterfüllung nicht einfach unterstellt werden. Über dessen hypothetisches Verhalten sei dann umfassend Beweis zu erheben.339 b) Stellungnahme Im Ausgangspunkt ist Greco damit nah an der Lösung der Rechtsprechung. Auch der BGH nimmt eine umfassende Beweiserhebung vor, wenn Zweifel an 336 337 338 339

Vgl. hierzu bereits oben S. 121 ff. Roxin, FS Achenbach, 409 (429), hierzu sogleich S. 228. Greco, ZIS 2011, 674 (679). Vgl. zum Ganzen Greco, ZIS 2011, 674 (691).

V. Alternative Lösungsansätze in der Literatur

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der hypothetisch pflichtgemäßen Reaktion des Dritten bestehen. Indes geht seine Lösung in zweierlei Hinsicht über die Zurechnungslösung des BGH hinaus. Zum einen liefert sein Konzept eine einleuchtende Begründung für die bisweilen intuitiv anmutende Praxis des BGH, in unproblematischen Fällen die Frage des pflichtgemäßen Handelns des Dritten nicht näher zu thematisieren. Das Recht ist nach seiner Konzeption ein tatsächlich beachteter Orientierungsfaktor. Hiervon ausgehend darf der Beweiserhebung nach Greco grundsätzlich eine empirische Erfahrungsregel zugrunde gelegt werden, wonach sich der Dritte pflichtgemäß verhalten hätte.340 Er verzichtet auf eine Unterstellung pflichtgemäßen Verhaltens, stattdessen wird der Gebotscharakter der Rechtsordnung zum Orientierungspunkt für die gerichtliche Beweiserhebung. Zum anderen bewirkt Greco aufgrund der Reichweite seiner Erfahrungsregel eine erhebliche Erleichterung des Kausalitätsbeweises. Zwar soll seine Erfahrungsregel nur dann zum Einsatz kommen, wenn keine konkreten Anhaltspunkte die hypothetisch pflichtgemäße Reaktion des Dritten infrage stellen. Jedoch stellt Greco im Ergebnis hohe Anforderungen an das Vorliegen dieser „besondere(n) Anhaltspunkte“, die seine Erfahrungsregel erschüttern können. Unter dem Hinweis, man habe es mit dem Erfolgsunwert zu tun, beurteilt Greco nämlich das Gewicht der gegen eine hypothetische Pflichterfüllung sprechenden Anhaltspunkte nicht mit Blick auf die im Zeitpunkt der hypothetischen Entscheidung ex ante erkennbare Gefahrenlage, sondern im Kontext einer umfassenden Analyse der ex post tatsächlich festgestellten Gefahrenlage. Er schwächt die Anhaltspunkte, die für eine hypothetische Pflichtverletzung des Dritten und damit gegen die Anwendung seiner Erfahrungsregel sprechen, angesichts der ex post verwirklichten Gefahr ab. So konstatiert er etwa für den Eissporthallen-Fall, im Angesicht der konkreten Lebensgefahr hätte die Baubehörde trotz vergangener Nachlässigkeiten reagiert. Auch im Bremsen-Fall wäre der Spediteur bei einer Konfrontation mit der drohenden Katastrophe von seinem risikofreudigen Gewinnstreben abgerückt. Dieser konnte, so Greco, die Gefahren nicht voll überblicken. „Es ist nicht anzunehmen, dass er den umfangreichen Personen- und Sachschaden leichtsinnig in Kauf genommen hätte, so dass auch hier die Erfolgszurechnung zu bejahen wäre.“ In einer abschließenden Fallstudie bejaht Greco die Unterlassungszurechnung im Abszess-, Blutbank-, Bremsen- und Eissporthallen-Fall.341 So setzt Greco im Ergebnis eine Erleichterung des Beweises der Vermeidbarkeit um, die er in der Urteilsbegründung des BGH im Eissporthallen-Fall angedeutet sieht.342 Greco greift auf alle ex post festgestellten Gefahrenbefunde zurück und wägt auf dieser Grundlage ab, ob aus dem vergangenen Fehlverhalten des Dritten kon340 341 342

Vgl. zum Ganzen Greco, ZIS 2011, 674 (691). Vgl. zum Ganzen Greco, ZIS 2011, 674 (691). Vgl. hierzu Greco, ZIS 2011, 674 (689).

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

krete Anhaltspunkte gegen eine hypothetisch pflichtgemäße Handlung des Dritten abgeleitet werden können. Je gravierender die ex post erkennbare Gefahrenlage, desto unbedeutender erscheinen die tatsächlich gegen eine pflichtgemäße Reaktion sprechenden Anhaltspunkte. Durch diese Integration der Ex-post-Perspektive in die Beurteilung der hypothetischen Reaktion des Dritten entsteht jedoch ein Zerrbild, das auch durch einen Hinweis auf die Sachgerechtigkeit der Integration von ex post gewonnenen Erkenntnissen zur Beurteilung der Erfolgszurechnung nicht korrigiert werden kann. Die Berücksichtigung ex post feststellbarer Tatsachen bei der Beurteilung der Erfolgszurechnung macht zweifellos immer dann Sinn, wenn danach gefragt wird, ob sich durch pflichtgemäßes Verhalten ein empirisch fassbares Risiko nachweisbar verringert hätte.343 Die Berücksichtigung aller ex post feststellbaren Umstände ist jedoch dann sachfremd, wenn die Risikorealisierung durch das hypothetische Verhalten einer Person vermittelt wird und sich die Frage stellt, ob diese Person gefahrneutralisierend eingegriffen hätte. Während im erstgenannten Fall die Integration der ex post feststellbaren Umstände die Risikobetrachtung mit empirischen Erkenntnissen unterlegt und legitimiert, wird im zweitgenannten Fall die Irrealität der Betrachtung verstärkt: Man beurteilt nicht nur die hypothetische Entscheidung einer Person, man legt dieser Beurteilung auch noch einen Kenntnisstand zugrunde, den die Person in ihrer hypothetischen Entscheidungssituation überhaupt nicht haben konnte. Im Eissporthallen-Fall etwa sind nach der Lösung Grecos die durch die Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden nachträglich zutage geförderten katastrophalen Sicherheitsmängel an der Dachkonstruktion zu berücksichtigen. Relevant werden sie bei der Frage, ob die vergangenen Verfehlungen der Baubehörde auch angesichts dieser katastrophalen Mängel eine pflichtgemäße Reaktion der Behörde infrage stellen. Hierzu führt nun Greco aus: „Die bisherige Untätigkeit der Behörde widerlegt die Erfahrungsregel noch nicht, denn mit einer konkreten Lebensgefahr war sie bisher noch nicht konfrontiert worden.“ 344 Mit einer solchen konkreten Lebensgefahr wäre sie jedoch auch bei Erstellung eines pflichtgemäßen Gutachtens nicht konfrontiert worden. Das LG Traunstein führt in der Neuauflage des Prozesses hierzu aus, in einem pflichtgemäßen Gutachten des Angeklagten hätten „keinerlei konkrete Gefährdungen“ 345 festgestellt werden können. Die Integration der erst ex post umfassend erkennbaren Gefahrenlage führt damit zur Konstruktion einer irrealen Entscheidungssituation. Schwächt man mit Blick 343 Beispiel: Für die Beurteilung der Kausalität einer unterlassenen Organtransplantation für den Tod des Patienten ist ex post festzustellen, ob eine Transplantation das Leben des Patienten (zunächst) tatsächlich gerettet hätte, Beispiel entlehnt von Roxin, AT II, 31/56; vgl. hierzu Roxin, AT I 11/94 ff., sowie im Kontext der Unterlassungszurechnung Roxin, AT II, 31/54–58. 344 Greco, ZIS 2011, 674 (691). 345 LG Traunstein vom 27.10.2011, Az: 6 KLs 200 JS 865/06 (3), juris-Rn. 272.

V. Alternative Lösungsansätze in der Literatur

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auf diese irreale Entscheidungssituation die tatsächlich vorhandenen Anhaltspunkte gegen eine pflichtgemäße Reaktion ab, so ist man in der Sache nicht so weit von einer Unterstellung einer pflichtgemäßen Reaktion entfernt, wie es zunächst den Anschein haben mag. Aus diesem Grund muss die Schwere der ex post festgestellten Rechtsgutverletzungen bei der Frage, ob Anhaltspunkte für ein pflichtwidriges Handeln des Dritten vorlagen, außen vor bleiben. Berücksichtigt man dies, so bleibt es dabei, dass mit Ausnahme des Lederspray-Falls in allen vom BGH entschiedenen Fällen tatsächliche Anhaltspunkte gegen ein pflichtgemäßes Handeln des Dritten vorlagen. Dann dürfte die Erfahrungsregel Grecos nicht zur Anwendung kommen. Über das hypothetische Verhalten des Dritten wäre umfassend Beweis zu erheben. Die Angeklagten wären nach dem Zweifelsgrundsatz freizusprechen. Einen Gewinn in der Sache bringt die Erfahrungsregel Grecos nach der hier vertretenen Ansicht nur dann, wenn sich nicht lediglich ex post, sondern bereits im Zeitpunkt der hypothetischen Entscheidung des Dritten ex ante die Gefahren derart aufgedrängt hätten, dass die Anhaltspunkte für eine Pflichtverletzung in den Hintergrund treten und die Erfahrungsregel zur Anwendung kommen kann. Dies kann für den Abszess-Fall angenommen werden. In allen anderen Fällen liefert der Ansatz Grecos eine einleuchtende dogmatische Erklärung für die Vorgehensweise des BGH bei der Beweiserhebung. Er führt jedoch aufgrund der aufgezeigten Unzulässigkeit der Berücksichtigung von erst ex post gewonnenen Erkenntnissen nicht zu anderen Ergebnissen. 6. Normative Ansätze: Isolierung der Pflichtverletzung des Erstgaranten Die im Folgenden diskutierten Lösungsansätze von Roxin, Gimbernat und Stübinger sind in ihrer Begründung weniger homogen als die bisher in Gruppen dargestellten Konzepte. Dennoch lässt sich ihre zusammenhängende Darstellung rechtfertigen. Allen drei Ansätzen liegt eine klare Trennung der Verantwortungsbereiche des Erstgaranten und des Dritten zugrunde, auf deren Grundlage die Pflichtverletzung des Erstgaranten zurechnungsbegründend isoliert wird. Roxin erreicht diese Isolierung, indem er den hypothetischen Kausalverlauf für die Prüfung der Risikoverwirklichung ausblendet. Gimbernat fasst alle nicht im Verantwortungsbereich des Erstgaranten liegenden Risiken zu einer Zurechnungseinheit zusammen, die unter dem Begriff des „Gefahrenherds“ die Zurechnung des Erfolgs zur Pflichtverletzung des Erstgaranten vermittelt. Stübinger wiederum grenzt den Verantwortungsbereich des Erstgaranten ab vom Verantwortungsbereich des Dritten. Als Folge haftet der Erstgarant nur für fehlerhafte Informationen von normativer Relevanz.

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

a) Roxin: Zurechnung durch normative Betrachtung der Kausalverläufe Wie Greco verwirft auch Roxin die Vermutungslösung Puppes. Diese arbeite mit einer „reinen Unterstellung“, eine normative Erwartung sei zur Beantwortung empirischer Beweisfragen ungeeignet.346 Gleichwohl spricht sich Roxin gegen eine Beweiserhebung über die hypothetische Reaktion des Dritten aus. Zum einen sollte die „Strafbarkeit nicht von einem Umstand abhängig gemacht werden [. . .], der sich in den meisten Fällen einem gerichtlichen Beweis prinzipiell entzieht“.347 Zum anderen sei die hypothetische Erfolgsverursachung durch den Dritten nicht geeignet, die Kausalität der Unterlassung des Erstgaranten infrage zu stellen. In diesem Fall wäre der Erstgarant entlastet, der Dritte wäre für die Rechtsgutsverletzung haftbar. Der tatsächlich verwirklichte und der hypothetische Kausalverlauf seien daher normativ nicht vergleichbar und zur Beurteilung der „effektiv risikomindernde(n) Beeinflussung des Kausalverlaufs“ 348 durch das hypothetisch pflichtgemäße Handeln des Erstgaranten nicht wechselseitig austauschbar.349 Wird mit dieser Argumentation der hypothetische Kausalverlauf gleichsam „ausgeblendet“, so ist die Unterlassung des Erstgaranten Bedingung der Untätigkeit des Dritten, diese Untätigkeit ist wiederum Bedingung des Erfolgseintritts, sodass die Kausalität der Unterlassung des Erstgaranten als „Bedingung der Bedingung“ zu bejahen ist.350 Im Ergebnis sieht sich Roxin351 damit bei Kahlo: Zweifel hinsichtlich der Frage, ob der Dritte pflichtgemäß reagiert hätte, bleiben im Rahmen der Erfolgszurechnung außer Betracht, lediglich Zweifel an der Erfolgsvermeidungseignung der hypothetischen Reaktion schließen die Zurechnung aus. Mit dieser Begründung der Kausalität des Erstgaranten stimmt Roxin im Ansatz mit Rudolphi überein.352 Rudolphi begründet die Kausalität des Unterlassungstäters unabhängig von der hier diskutierten Fallkonstellation mit dem Gedanken, dass ein hypothetisch risikoverringernder Eingriff den Kausalprozess dergestalt modifiziert hätte, dass dieser „weniger gefährlich und damit nicht mehr der gleiche“ sei.353 Der Gedanke, dass ein hypothetischer Schadensverlauf mit einem anderen Haftungssubjekt die Zurechnung nicht ausschließen kann, findet

346

Roxin, FS Achenbach, 409 (429). Roxin, FS Achenbach, 409 (428). 348 Vgl. zu diesem Kriterium Roxin, AT II, 31/57, sowie bereits ausführlich oben S. 120 f. 349 Vgl. hierzu Roxin, AT II, 31/64. 350 Roxin, FS Achenbach, 409 (431). 351 Roxin, FS Achenbach, 409 (432). 352 Vgl. hierzu bereits oben S. 120. 353 SK/Rudolphi, vor § 13 Rn. 16a. 347

V. Alternative Lösungsansätze in der Literatur

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sich auch bei Kahrs, wenn dieser die Rechtssphären von Erstgaranten und Drittem voneinander abgrenzt und die These aufstellt, eventuelle Pflichtverletzungen des Dritten beträfen die Rechtssphäre des Erstgaranten nicht.354 Letztlich lässt sich die Argumentation Roxins auf den allgemeinen Gedanken zurückführen, dass drittzurechenbares hypothetisches Verhalten die Erfolgszurechnung nicht ausschließen soll. Es wurde jedoch im Rahmen dieser Untersuchung bereits gezeigt, dass dieser These in ihrer Pauschalität nicht zu folgen ist. Im Ausgangspunkt kann ein hypothetisch-alternativer Kausalverlauf den Zurechnungszusammenhang nicht unterbrechen, wenn es sich um einen von der tatsächlich geschaffenen Ausgangsgefahr völlig unabhängigen Schadensverlauf handelt.355 So argumentiert Roxin, wenn er von der hypothetischen Pflichtverletzung durch den Dritten als der „Tat eines anderen“ spricht, auf die es „angesichts des realen Geschehens“ nicht ankomme.356 Im Gegensatz zu diesem Befund ergab die weitere Untersuchung jedoch für den vorliegenden Fall, dass die hypothetische Pflichtverletzung des Dritten gerade keinen von der tatsächlich durch den Erstgaranten geschaffenen Ausgangsgefahr völlig unabhängigen Schadensverlauf darstellt.357 Ob nun der Erstgarant den Dritten pflichtwidrig nicht informiert oder letzterer trotz pflichtgemäßer Information untätig bleibt – es handelt sich um den identischen rettenden Kausalverlauf, der pflichtwidrig unterbrochen wird und so die Rechtsgutsverletzung nicht verhindern kann. Ein den vom Erstgaranten in Gang gebrachten rettenden Kausalverlauf notwendig vermittelnder Beteiligter kann für die Frage der Erfolgszurechnung nicht einem unbeteiligten Nebentäter gleichgestellt werden. Das hypothetische Verhalten des Dritten stellt keinen für die Unterlassungszurechnung irrelevanten hypothetischen Schadensverlauf dar und kann daher nicht aus der Betrachtung ausgeblendet werden, wie Roxin dies vorschlägt.358 Der Zurechnungszusammenhang zwischen der Unterlassung des Erstgaranten und dem Erfolgseintritt ist aufgrund der Unsicherheit über das hypothetische Verhalten des Dritten unterbrochen. Ob die unterlassene Information durch den Erstgaranten eine Bedingung der Untätigkeit des Dritten ist, bleibt offen. Damit ist die Unterlassung des Erstgaranten keine „Bedingung der Bedingung“. Die Unterlassungskausalität des Erstgaranten lässt sich auf dem von Roxin beschrittenen Weg nicht begründen.

354

Vgl. hierzu bereits oben S. 222. Vgl. hierzu oben S. 178 ff. 356 Roxin, FS Achenbach, 409 (431). 357 Siehe oben S. 180. 358 Auch Greco, ZIS 2011, 674 (690) wendet sich gegen diese These Roxins. Er stellt fest, dass jede Entscheidung des Dritten – die pflichtgemäßes Entscheidung zum Tätigwerden wie die pflichtwidrige Entscheidung zum Untätigbleiben – hypothetisch bleibt, es mithin keinen reellen Kausalverlauf gibt, der einen hypothetischen verdrängen könnte. 355

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

b) Gimbernat: Destabilisierung eines Gefahrenherdes als Zurechnungsgrundlage Nach dem Kausalitätskonzept von Gimbernat muss aus einem garantenpflichtwidrig destabilisierten Gefahrenherd der tatbestandliche Erfolg kausal hervorgehen. Die Erfolgszurechnung im Bereich der fahrlässigen Unterlassungsdelikte setzt nach dieser Lösung zweierlei voraus: (1) Der Erfolg wurde mit Sicherheit durch einen unerlaubten Gefahrenherd verursacht. (2) Der Gefahrenherd hat sich mit Sicherheit aufgrund der Unterlassung von einem erlaubten in einen unerlaubten verwandelt.359

Punkt (2) setzt hierbei die sichere Feststellung voraus, dass sich der Gefahrenherd bei Vornahme der gebotenen Handlung innerhalb des erlaubten Risikos gehalten hätte. Versucht man die zweistufige Lösung Gimbernats auf die Konstellation eines drittvermittelten Rettungsgeschehens anzuwenden, so ist in einem ersten Schritt normativ festzustellen, dass sich ein erlaubter Gefahrenherd mit Sicherheit aufgrund der Unterlassung des Erstgaranten in einen unerlaubten Gefahrenherd verwandelt hat. Hierbei handelt es sich in der Sache um nichts anderes als die Feststellung der Garantenpflichtverletzung: Rechtlich missbilligt wird ein Gefahrenherd, der garantenpflichtwidrig nicht in seinem rechtmäßig-stabilisierten Zustand gehalten wird. Darüber hinaus hätte der Gefahrenherd bei pflichtgemäßem Verhalten mit Sicherheit im Rahmen des erlaubten Risikos bleiben müssen. Diese zusätzliche Voraussetzung ist bei drittvermittelten Rettungsgeschehen immer dann erfüllt, wenn der garantenpflichtgemäße Hinweis des Erstgaranten den Dritten erreicht hätte.360 Dann wäre die Gefahr den zuständigen Stellen bekannt gewesen, der Gefahrenherd wäre – jedenfalls aus Perspektive des Erstgaranten – wieder auf ein rechtmäßiges Risikoniveau zurückgeführt worden. Mit diesem ersten Schritt endet nun die hypothetische Betrachtung. Eine hypothetische Erfolgsverursachung durch den Dritten wird durch die Wahl des Ausgangspunktes für den zweiten Zurechnungsschritt ausgeblendet. In diesem zweiten, empirischen Schritt ist zu prüfen, ob der Erfolg mit Sicherheit durch den unerlaubten Gefahrenherd verursacht wurde. Anknüpfungspunkt für die Zurechnungsprüfung ist nun nicht mehr die Pflichtverletzung des Erstgaranten, sondern der Gefahrenherd. Auf Grundlage des normativen „Destabilisierungsbefundes“ im ersten Zurechnungsschritt wird ein aus dem Gefahrenherd hervorgegangener Erfolg dem Erstgaranten zugerechnet, auch wenn es sich bei diesem Gefahrenherd letztlich um ein „Sammelbecken“ verschiedener Risikofak-

359 360

Vgl. zum Ganzen bereits oben S. 118 ff. So interpretiert auch Roxin, GA 2009, 73 (76) die Ausführungen Gimbernats.

V. Alternative Lösungsansätze in der Literatur

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toren handeln kann, aus dem die Pflichtverletzung des Erstgaranten nicht eindeutig als der letztlich ausschlaggebende Faktor isolierbar ist. Am Eissporthallen-Fall illustriert361 basiert die Zurechnung auf dem normativen Urteil, dass der Gefahrenherd der renovierungsbedürftigen Eissporthalle durch das sorgfaltspflichtwidrige Gutachten destabilisiert wurde. Aus diesem Gefahrenherd ging letztlich auch der tatbestandliche Erfolg hervor. Jedoch gründete sich das Risikopotenzial dieses Gefahrenherdes nicht allein auf das mangelhafte Gutachten. Ein weiterer Risikofaktor war etwa die Reaktionsunwilligkeit der Baubehörde. Die Frage aber, ob nun das Gutachten der entscheidende „Tropfen“ war, der bildlich gesprochen das „Sammelbecken“ zum Überlaufen brachte und den tatbestandlichen Erfolg verursachte, oder vielmehr die unabhängig vom Ergebnis dieses Gutachtens bestehende Sanierungsresistenz der Baubehörde den Ausschlag gab, wird als hypothetisch, unbeantwortbar und daher irrelevant zurückgewiesen.362 Die Zurechnung erfolgt nicht durch den Versuch einer – notwendigerweise hypothetische Betrachtungen einschließenden – Vermeidbarkeitsprüfung, sie wird stattdessen durch einen als „Sammelbecken“ verschiedener Risikofaktoren dienenden, als Gefahrenherd umschriebenen Risikokomplex vermittelt. Auf konstruktiv anderem Weg kann Gimbernat wie auch Roxin die hypothetische Erfolgsverursachung durch den Dritten im Rahmen der Erfolgszurechnung ausblenden. Zwar wendet sich Gimbernat ausdrücklich gegen die Risikoverminderungslehre und vermeidet es, in seiner Lösung von Risiken und deren Erhöhung oder Verminderung zu sprechen. Stattdessen fordert er für alle Feststellungen innerhalb seiner Lösung, dass sie „mit Sicherheit“ 363, „tatsächlich“ 364 getroffen werden müssen. Da jedoch der Gefahrenherd die Zurechnung vermittelt, wird auf die Prüfung verzichtet, ob der Beitrag des Täters das Risikopotenzial des Gefahrenherds entscheidend beeinflusst hat oder für die Risikoverwirklichung möglicherweise irrelevant war. Damit wird aber das zentrale Zurechnungskriterium der Vermeidbarkeit aufgegeben. 361 Anwendungsbeispiel des Verfassers; wie erwähnt, entwickelt Gimbernat seine Lösung für die Unterlassungskausalität allgemein und geht auf Sonderkonstellationen wie die vorliegend untersuchte nicht ein. 362 Vgl. Gimbernat, ZStW 111, 307 (326). 363 Vgl. Gimbernat, ZStW 111, 307 (324): „[. . .] muß der Erfolg beim fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikt mit Sicherheit von einem Gefahrenherd hervorgebracht worden sein, der sich ebenfalls mit Sicherheit aufgrund einer fahrlässigen Unterlassung von einem erlaubten in einen rechtswidrigen umgewandelt hat“. Hervorhebungen im Original. 364 Gimbernat, ZStW 111, 307 (326): „[. . .] muß bei dem fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikt nicht danach gefragt werden [. . .], ob die ausgebliebene Handlung den Erfolg verhindert hatte, sondern nur danach, ob das Nichttreffen einer Vorbeugungsmaßnahme die tatsächliche Überschreitung des erlaubten Risikos durch den Gefahrenherd ermöglicht hat (weil sich mit Sicherheit sagen läßt, daß sich der Gefahrenherd bei Anwendung der Sorgfaltsmaßnahme innerhalb des erlaubten Risikos gehalten hätte) und ob dieser bereits verbotene Gefahrenherd seinerseits den Erfolg tatsächlich verursacht hat“ (Hervorhebungen im Original).

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

c) Stübinger: Normative Relevanz von Informationen als Zurechnungskriterium Stübinger betont die Normgebundenheit der strafrechtlichen Zurechnung und führt auf dieser Grundlage die normative Relevanz der Information als Kriterium für die Kausalitätsfeststellung bei Informationsprozessen ein. Während es nach Stübinger bei der naturwissenschaftlichen Kausalanalyse um die Erklärung eines normgemäßen, natürlichen Verlaufs geht, wird bei der strafrechtlichen Zurechnung ein normwidriges Ereignis auf menschliches Fehlverhalten zurückgeführt. So lässt sich eine Umkehrung der Zurechnungsperspektive begründen: Anstatt vom Verhalten des Täters auszugehen und das Geschehen bis zum Erfolgseintritt nachzukonstruieren, ist vielmehr vom Eintritt der Rechtsgutsverletzung auszugehen und von diesem Endpunkt zurückschreitend nach menschlichem Fehlverhalten zu suchen. Dieser Perspektivwechsel führt dazu, dass im Mittelpunkt der Zurechnungsüberlegungen nicht eine hypothetische Konstruktion der weiteren Entwicklungen im Fall pflichtgemäßen Verhaltens des Erstgaranten – mit allen hiermit verbundenen Unsicherheiten – steht, sondern der Blick auf die Untätigkeit des Dritten als letzter möglicher Anknüpfungspunkt für einen strafrechtlichen Vorwurf und deren mögliche Ursachen.365 Die Frage, ob eine unzureichende Information durch den Erstgaranten die Untätigkeit des Dritten verursacht hat, ist nach Stübinger nicht in einer quasi-empirischen Hypothese zu beantworten. Für die strafrechtliche Zurechnung gehe es nicht um die Frage, wie die Welt wäre, wenn das pflichtwidrige Verhalten hinweggedacht würde. Entscheidend sei vielmehr, dass die Welt anders sein sollte, als sie durch die fehlerhafte Information des Erstgaranten geworden ist. Das Sollen spiele bei der Handlungszurechnung eine entscheidende Rolle.366 Dies hat eine konkrete Konsequenz: Eine mangelhafte Information durch den Erstgaranten kann nach Stübinger die Unterlassung des Dritten nur dann verursachen, wenn sich der Dritte in seiner Entscheidungsfindung auf diese Information verlassen durfte.367 Dem Erstgaranten dürfe eine Rechtsgutsverletzung dann nicht zugerechnet werden, wenn der Dritte es „besser hätte wissen müssen“. In solchen Fällen hätte es im Verantwortungsbereich des Dritten gelegen, unabhängig von einer Information durch den Erstgaranten die richtige Entscheidung zu treffen. Kausal für eine Entscheidung wird eine Information also nur dann, wenn der Informationsempfänger sie unter Berücksichtigung seines eigenen Verantwortungsbereichs, seiner Kompetenzen und anderweitig verfügbaren Informationen bei seiner Entscheidungsfindung berücksichtigen durfte.368 365 366 367 368

Vgl. zum Ganzen Stübinger, ZIS 2011, 602 (613 f.). Stübinger, ZIS 2011, 602 (614). Stübinger, ZIS 2011, 602 (614 f.). Stübinger, ZIS 2011, 602 (615).

V. Alternative Lösungsansätze in der Literatur

233

Stübinger wendet diese Grundsätze auf den Eissporthallen-Fall an. Anknüpfungspunkt für die Zurechnungsüberlegungen sei nicht die Pflichtverletzung des Gutachters und die Frage, wie sich das Geschehen bei dessen hypothetischer Pflichterfüllung weiterentwickelt hätte, sondern die Untätigkeit der Baubehörde als letzter möglicher Anknüpfungspunkt für einen strafrechtlichen Vorwurf. Bei der Frage, ob das mangelhafte Gutachten eine Ursache für diese Untätigkeit war oder ob sie vielmehr dem Verantwortungsbereich der Baubehörde zuzuschreiben ist, sei nun entscheidend, ob sich die Baubehörde auf das Gutachten verlassen durfte. Im Eissporthallen-Fall verfügte jedoch die Baubehörde über ausreichend Sachkunde und kannte die begrenzte Aussagekraft des Gutachtens, weil die zuständigen Beamten um den begrenzten Prüfumfang und die unzureichende Informationsbasis des Gutachtens wussten. Zudem verwaltete die Baubehörde selbst die Informationen zur Statik der Dachkonstruktion, hatte also insofern ein Informationsmonopol inne. Damit durfte die Stadt ihre Entscheidungen nicht von dem Inhalt des Gutachtens abhängig machen, die Untätigkeit der Baubehörde wurde damit nicht durch das mangelhafte Gutachten verursacht.369 Das zentrale Kriterium Stübingers zur Feststellung der Kausalität fehlerhafter Informationen für die Unterlassung eines Dritten könnte man als „normative Relevanz“ 370 dieser Informationen bezeichnen. Entscheidend für die Kausalität ist, ob der Dritte diese unter Berücksichtigung normativer Wertungen verwerten durfte oder nicht. Für die Konstellation des Eissporthallen-Falls, in dessen Kontext Stübinger seine Lösung entwickelt, bedeutet dies: Eine fehlerhafte Information wird nicht kausal für eine hierauf folgende garantenpflichtwidrige Unterlassung, wenn diese Information nicht normativ relevant war, weil der Dritte bereits selbst über eine dem Informanten überlegene Entscheidungsgrundlage verfügte. Da Stübinger die Entwicklung seiner Lösung nah an den Eissporthallen-Fall anlehnt, bleibt es etwas im Unklaren, ob seine Gedanken verallgemeinerbar sind. Man könnte die negative These Stübingers, eine Erfolgszurechnung müsse scheitern, wenn es der Dritte hätte besser wissen müssen, auch positiv formulieren: Die fehlerhafte Information durch den Erstgaranten ist immer dann kausal für den Erfolg, wenn der Dritte diese unter Berücksichtigung normativer Kriterien wie einem bestehenden Informationsgefälle, der konkreten Kompetenzverteilung usw. hätte berücksichtigen müssen. Dann stellt sich jedoch die Frage, wie Fälle zu beurteilen sind, in denen sich der Informationsempfänger nach den Kriterien Stübingers auf die Information verlassen durfte, eine pflichtgemäße, korrekte Information jedoch gleichwohl ignoriert hätte, sodass der Erfolg auch in diesem Fall eingetreten wäre. Nimmt man seine These ernst, dass für die Erfolgszurechnung keine hypothetische Alternativbetrachtung maßgeblich ist, sondern die normative Relevanz der Information, so müsste Stübinger auch in diesem Fall 369 370

Vgl. zum Ganzen Stübinger, ZIS 2011, 602 (614 f.). Formulierung des Verfassers.

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

die Kausalität der fehlerhaften Information annehmen. Dahin geht auch eine Andeutung Stübingers, nach der „nicht nur die Annahme des Informationsgehalts, sondern auch dessen Ablehnung durch die Information gleichermaßen ,verursacht‘“ 371 werde, da die Information jedenfalls die Entscheidungsgrundlage verändere. Mit dieser Lösung würde Stübinger sich vom Zurechnungskriterium der Vermeidbarkeit lossagen. Auch bleibt offen, ob Stübingers Überlegungen in Fällen fruchtbar gemacht werden können, in denen es zwischen Erstgaranten und Drittem zu keinerlei Informationsfluss gekommen ist.372 Auch wenn Stübinger – freilich auch dem zwangsläufig begrenzten Umfang seiner Untersuchung geschuldet – einige Frage offen lässt, so erscheint sein Ansatz doch in einem entscheidenden Punkt vielversprechend. Stübinger versucht konkrete, auf die Konstellation gefahrenüberwachender Informationsprozesse anwendbare Zurechnungskriterien zu entwickeln. Im Einzelnen spricht er die Verteilung von Kompetenzen, Sachkunde und Erkenntnisvorsprüngen unter den Beteiligten an. 7. Kernprobleme der alternativen Lösungsansätze Ausgehend von einer kurzen Systematisierung der Ansätze werden diese an den dogmatischen und systematischen Grundentscheidungen des Strafgesetzbuchs gemessen. Da alle Ansätze über die zurückhaltende Zurechnungsformel der hypothetischen Erfolgsvermeidung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hinausgehen, ist die Vereinbarkeit der Konzepte mit dem Zweifelsgrundsatz infrage gestellt. Darüber hinaus gilt es zu klären, ob die zum Teil erheblich zurechnungserweiternden Lösungen den Mindestanforderungen an den Zurechnungszusammenhang im Bereich der Verletzungsdelikte genügen. a) Systematisierung der Ansätze Dem auf einer rechtsphilosophisch begründeten Unterlassungskausalität basierenden Ansatz Kahlos liegt ein Rechtsgutsverständnis zugrunde, das die Verletzungsdelikte nahe an die Gefährdungsdelikte „herandefiniert“. Der Zweifelsgrundsatz wird schlicht für unanwendbar erklärt. Die meisten Autoren versuchen, ihr Unbehagen mit der Entlastung mit hypothetisch rechtswidrigem Verhalten unmittelbar in ein auf Verhinderung dieser Entlastungsmöglichkeit zugeschnittenes Zurechnungskonzept umzumünzen. Was Lindemann, Frister, Jakobs und Philipps negativ durch Versagung der Entlastungsmöglichkeit erreichen, bewirken Puppe, Bosch, Kudlich und Altenhain 371

Stübinger, ZIS 2011, 602 (614). So etwa im Blutbank-Fall: Hier fand keinerlei Kommunikation zwischen der stellvertretenden Klinikdirektorin und der Aufsichtsbehörde statt. 372

V. Alternative Lösungsansätze in der Literatur

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positiv durch Vermutung der pflichtgemäßen Reaktion des Dritten. Auch wenn isoliert normative Überlegungen die Schwächen der Rechtsprechungslösung aufzeigen können, so ist dennoch eine allein auf normative Überlegungen gestützte Lösung des Zurechnungsproblems problematisch. Soweit die alternativen Lösungskonzepte auf eine empirisch gestützte Vermeidbarkeitsfeststellung verzichten, droht die Grenze zwischen der Sanktionierung von Rechtsgutsverletzungen und der Sanktionierung bloßer Rechtsgutsgefährdungen zu verschwimmen. Dies gilt in gesteigertem Maße für Vermutungslösungen im Sinne eines Zurechnungsautomatismus, wie sie etwa Puppe entwirft. Nimmt man eine Normativierung der Unterlassungszurechnung vor, so müssen die hierfür maßgeblichen Kriterien unter Beachtung der systematischen Grenzen einer solchen Normativierung entwickelt werden. Interessante Schritte in diese Richtung gehen Bosch mit seiner Ausrichtung der Zurechnung am Kriterium der normativen Gleichwertigkeit der Begehungs- und Unterlassungskausalität sowie Kudlich und Altenhain, die Charakteristika hierarchischer Über- bzw. Unterordnungsverhältnisse in ihre Zurechnungslösung einfließen lassen. Sofos und Kahrs gehen in ihren Ansätzen über die Formulierung von Vermutungen hinaus. Sie „wappnen“ ihre Konstruktion pflichtgemäßen Verhaltens des Dritten gegen den empirischen Gegenbeweis, gestalten diese also als Fiktion aus. Durch eine solche von den empirischen Gegebenheiten des Einzelfalls gänzlich losgelöste, isoliert normative Betrachtung wird jedoch die Deliktskategorie der Verletzungsdelikte jeglicher Kontur beraubt. Kahrs überschreitet darüber hinaus mit seiner Konstruktion einer „Vermeidbarkeit im Rechtssinne“ die Grenzen einer normativierenden Interpretation des Begriffs der Vermeidbarkeit. Greco siedelt seine Lösung auf Beweisebene an und stellt so die erforderliche Rückbeziehung der Zurechnungsüberlegungen auf die empirischen Gegebenheiten des Einzelfalls sicher. Durch Abstellen auf die ex post erkennbare Gefahrenlage erreicht er gegenüber der Lösung des BGH eine erhebliche Erleichterung des Kausalitätsbeweises. Hierdurch konstruiert Greco jedoch eine irreale Entscheidungssituation, um so die tatsächlich vorhandenen Anhaltspunkte gegen eine pflichtgemäße Reaktion abzuschwächen. Damit ist seine Vorgehensweise im Ergebnis nicht so weit von der Unterstellung einer pflichtgemäßen Reaktion entfernt, wie es zunächst den Anschein haben mag. Roxin, Gimbernat und Stübinger gründen ihre Lösungen auf einer Abgrenzung der Verantwortungsbereiche von Erstgaranten und Drittem. Inwieweit die normative Betrachtung der Kausalverläufe von Roxin, der Rückgriff Gimbernats auf einen zurechnungsvermittelnden Risikokomplex (Gefahrenherd) und der Ansatz Stübingers, die normative Relevanz der Information zum entscheidenden Zurechnungskriterium zu erklären, die Mindestanforderungen des im Bereich der Verletzungsdelikte unabdingbaren Zurechnungszusammenhangs wahren, wird sogleich zu klären sein.

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

In einer Gesamtschau bereitet es allen Autoren Schwierigkeiten, die einhellige Kritik der Entlastung mit der hypothetischen Pflichtverletzung eines anderen in ein systemgerechtes Zurechnungskonzept einfließen zu lassen. Die Entlastungsmöglichkeit wird teils schlicht versagt, teils durch eine entgegengesetzte Vermutung verhindert. Andere Autoren versuchen sie durch normative oder beweisrechtliche Überlegungen einzuschränken. Hierbei sind Konflikte mit dem Zweifelsgrundsatz und der Zurechnungsstruktur der Verletzungsdelikte umso augenscheinlicher, je mehr sich die Ansätze von den empirischen Gegebenheiten des Einzelfalls lossagen. Im Rahmen dieser Untersuchung wurde die These formuliert, dass ein normativ begründetes Unbehagen für sich genommen noch keine Zurechnungslösung legitimiert, die sich von empirischen Feststellungen entfernt.373 Diese These soll begründet werden, wenn im Folgenden die Konfliktlage zwischen der normativ und kriminalpolitisch begründbaren Zurechnungserweiterung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen einerseits und den strafrechtssystematischen und -dogmatischen Bedenken gegen eine solche Erweiterung andererseits diskutiert werden. b) Zweifelsgrundsatz Aus dem Schuldprinzip i.V. m. § 261 StPO ergibt sich, dass eine Verurteilung die Überzeugung des Gerichts von der Schuld des Angeklagten voraussetzt.374 Kann das Gericht diese Überzeugung nicht gewinnen und Zweifel am Vorliegen bestimmter strafbarkeitsbegründender Tatsachen nicht überwinden, so hat es nach dem Zweifelsgrundsatz die dem Angeklagten günstigere Sachverhaltsalternative zugrunde zu legen375, es muss die dem Angeklagten günstigste Rechtsfolge eintreten.376 Handelt es sich bei verbleibenden Zweifeln hinsichtlich der Vermeidbarkeit des Erfolgs um Unsicherheiten im Bereich des Tatsächlichen, so müsste der Erstgarant mangels Kausalität seiner Unterlassung für den Erfolg nach dem Zweifelsgrundsatz freigesprochen werden. Kann den in der Literatur entwickelten alternativen Lösungsansätzen vor diesem Hintergrund der Vorwurf gemacht werden, dass sie gegen den Zweifelsgrundsatz verstoßen, indem sie auf das Kriterium der Erfolgsvermeidbarkeit mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit verzichten?

373

Vgl. oben S. 215. Vgl. Roxin/Schünemann, StPO, 45/56. 375 Vgl. etwa Löwe/Rosenberg/Kühne, Einleitung Abschnitt I. Rn. 48; Roxin/Schünemann, StPO, 45/56; Löwe/Rosenberg/Sander, § 261 Rn. 103; aus der Rechtsprechung BGH NStZ 2000, 498 (499). 376 Meyer-Goßner, StPO, § 261 Rn. 26. 374

V. Alternative Lösungsansätze in der Literatur

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aa) Ausgangssituation: Rechtsfrage oder tatsächliche Frage? In der vorliegend untersuchten Konstellation gilt es zu beurteilen, ob es sich bei der Unsicherheit, ob der Dritte einen pflichtgemäßen Hinweis durch den Erstgaranten seinerseits pflichtgemäß beachtet und dementsprechend reagiert hätte, um Zweifel im Bereich des Tatsächlichen handelt. Die Frage der Anwendbarkeit des Zweifelsgrundsatzes auf hypothetische Betrachtungen bei psychisch vermittelten Kausalverläufen ist seit langem Exerzierfeld eines festgefahrenen Streits. Die herrschende Meinung ordnet Unsicherheiten hinsichtlich der hypothetischen Erfolgsvermeidung bei garantenpflichtgemäßem Handeln generell dem Bereich des Tatsächlichen zu, sie wendet daher den Zweifelsgrundsatz an und verneint die Kausalität der Unterlassung.377 Teilweise wird die Anwendbarkeit des Zweifelsgrundsatzes kategorisch abgelehnt, wenn zur Feststellung der Vermeidbarkeit des Erfolgs die hypothetische Reaktion eines Dritten beurteilt werden muss. Gestützt wird diese Ablehnung im Wesentlichen auf zwei Argumente. Zum einen entziehe sich das hypothetische Verhalten einer Person generell dem gerichtlichen Beweis, sodass die Anwendung einer Beweisregel zur Problemlösung nicht geeignet sei.378 Zum anderen handle es sich bei der Diskussion um die Relevanz hypothetischer Sachverhalte für die Erfolgszurechnung nicht um eine tatsächliche, sondern um eine materiellrechtliche Frage, auf die der Zweifelsgrundsatz keine Anwendung finde.379 In dieser Streitfrage ist keine Bewegung erkennbar. Den jeweiligen Lagern liegen gegensätzliche Grundvorstellungen darüber zugrunde, in welchem Ausmaß der Rechtsanwender wertend auf seine Umwelt zugreifen kann, wo er hingegen die gegebenen sachlogischen Realitäten akzeptieren und seinen Überlegungen als gegeben zugrunde legen muss.380 So konfrontieren sich „Normativisten“ und „ontologisch“ orientierte Autoren381 mit ihren gegensätzlichen Ansichten, eine fruchtbare Auseinandersetzung findet nicht statt. Die im Folgenden zu begründende These dieser Untersuchung lautet: Unsicherheiten hinsichtlich der Erfolgsvermeidbarkeit bei drittvermittelten Rettungsgeschehen sind weder Zweifel im Bereich des Tatsächlichen, noch handelt es sich um eine reine Rechtsfrage. Als Konsequenz dieser Erkenntnis wird daher für eine Streitverlagerung plädiert. Der folgende Versuch, eine neue Perspektive auf den

377 Vgl. etwa BGH NJW 2010, 1087 (1091 Rn. 63); LK/Weigend, § 13 Rn. 72 m.w. N. 378 NK/Puppe, vor § 13 Rn. 133; dies., AT, 30/16. 379 So etwa Kahlo, GA 1987, 66 (76); Greco, ZIS 2011, 674 (678 f.). 380 Vgl. zu diesem Gegensatzpaar Saliger, JZ 2012, 723 (724). 381 Vgl. zu den Begriffen Philipps (1974), 126.

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

festgefahrenen Streit zu erschließen, ist angeregt durch Überlegungen von Philipps in seiner Monographie Der Handlungsspielraum aus dem Jahr 1974. bb) Ansatz von Philipps Philipps problematisiert die Erfolgszurechnung bei Zweifeln über die hypothetische Vermeidbarkeit des Erfolgs unter dem Stichwort „Kausalität der Normwidrigkeit“. Allerdings beschränken sich seine Ausführungen nicht auf den Pflichtwidrigkeitszusammenhang im Sinne der heutigen Lehre von der objektiven Zurechnung. Im Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner Monographie wurden vielmehr die hinter diesem Begriff stehenden Sachprobleme noch sowohl im Rahmen der tatbestandlichen Zurechnung als auch im Rahmen der Rechtswidrigkeit sowie der Schuld diskutiert.382 Philipps selbst nimmt die Erfolgszurechnung bei aktiver Begehung auf der Grundlage einer wissenschaftstheoretisch-deduktiven Kausalanalyse vor, während er bei den Unterlassungsdelikten anhand einer „nachträgliche(n) Prognose[n]“ zurechnet.383 Bei letzterer fragt er, ob der Erfolg bei pflichtgemäßem Handeln vermeidbar gewesen wäre. Er wählt für seine Zurechnungslösung bei den Unterlassungsdelikten den gleichen Ausgangspunkt wie die heute herrschende Vermeidbarkeitstheorie, sodass seine Überlegungen bei Zweifeln an der Vermeidbarkeit in der vorliegenden Diskussion nach wie vor relevant sind. (1) Vermeintlich eindeutige Ausgangssituation Philipps zeichnet in der Frage der Erfolgszurechnung bei Zweifeln über die hypothetische Vermeidbarkeit des Erfolgs zunächst ein klares Bild. Zur Überwindung solcher Zweifel werde versucht, das Problem bereits im Bereich des materiellen Rechts „abzufangen“, um so die Anwendbarkeit des Zweifelsgrundsatzes zu umgehen. Dies geschehe durch Einführung neuer Begriffe, die eine empirische Feststellung der Vermeidbarkeit für abdingbar erklären.384 Ein solches Vorgehen hat auch die soeben vorgenommene Analyse der alternativen Lösungskonzepte offenbart. Die Einführung neuer Begriffe (Gefahrenherd, Vermeidbarkeit im Rechtssinn, reale Rettungschance) wird vorgeschlagen, um eine Zurechnung trotz empirischer Zweifel an der Vermeidbarkeit zu begründen. Indes zeichnet Philipps insofern ein im Ausgangspunkt klares Bild, als er solchen Ansätzen einen Verstoß gegen den Zweifelsgrundsatz zum Vorwurf macht:

382 383 384

Vgl. hierzu die Analyse des Streitstands Philipps (1974), 113. Vgl. Philipps (1974), 119. Philipps (1974), 115.

V. Alternative Lösungsansätze in der Literatur

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„Keine derartige Konstruktion [. . .] vermag [. . .] an dieser einfachen Überlegung vorbeizuführen: Wenn auf Bestrafung des Täters erkannt werden soll, obwohl sich bei besserer Aufklärung, als sie faktisch möglich ist, ein Sachverhalt ergeben könnte, bei dem der Täter freizusprechen wäre, dann ist die Beweislast vom Gericht auf den Täter verlagert, und dann liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz in dubio pro reo vor.“ 385

Mit dieser eindeutigen Stellungnahme hat es jedoch nicht sein Bewenden. Schon im nächsten Satz gibt Philipps zu bedenken: „Aber gerade, weil diese Alternative so einfach und deutlich scheint, verdienen die Gründe, die der Tendenz, sich ihr zu entziehen, zugrundeliegen mögen, besondere Aufmerksamkeit.“ 386

(2) Beweisschwierigkeiten bei nachträglichen Prognosen Als Grund, sich der scheinbar so eindeutigen Anwendung des Zweifelsgrundsatzes unter Umständen doch zu verwehren, führt Philipps eine strukturelle Besonderheit der Unterlassungszurechnung an. Diese ist nach seiner Ansicht anhand einer nachträglichen Prognose vorzunehmen. Als solche bezeichnet er das Vorgehen, zur Feststellung der Vermeidbarkeit danach zu fragen, ob der Täter bei pflichtgemäßem Handeln den Erfolg verhindert hätte. Solche nachträglichen Prognosen seien nun strukturell unsicherer als kausale Erklärungen.387 „Man kann nicht ohne weiteres erwarten, daß eine Handlung, die unter den Bedingungen der Lebenswelt in der Ungewißheit ihres Ausgangs vorgenommen wird, sich nachträglich unter forensischen Bedingungen völlig erhellen lässt.“ 388

Beispielhaft nennt Philipps die riskante, fahrlässig misslungene Entschärfung einer Bombe, bei der sich im Nachhinein die Vermeidbarkeit des Erfolgs bei pflichtgemäßem Handeln kaum nachweisen lasse, da das Objekt forensischer Beweisführung schlicht zerstört sei. Strukturelle Beweisprobleme stellen also nach Philipps die Anwendbarkeit des Zweifelsgrundsatzes infrage, wenn – etwa im Bereich der Unterlassungszurechnung – nachträglich irreale Sachverhalte beurteilt werden. (3) „Normative Lage“ bei Arbeitsteilung Neben diesen Beweisschwierigkeiten sprechen nach Philipps normative, letztlich kriminalpolitische Überlegungen gegen eine Anwendung des Zweifelsgrund385

Philipps (1974), 116. Philipps (1974), 116. 387 Kausale Erklärungen umschreibt er in diesem Sinne als nachträgliche Prognosen, die den Vorteil haben, dass ihr Ergebnis tatsächlich eingetreten sei, vgl. Philipps (1974), 116. 388 Philipps (1974), 116. 386

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

satzes in bestimmten Konstellationen.389 Insbesondere bei arbeitsteiligem Verhalten sei den Beteiligten die Berufung auf hypothetisch pflichtwidriges Verhalten anderer zu verwehren, da sich ansonsten die Verantwortungsstrukturen auflösen würden.390 Bei drittvermittelten Rettungsgeschehen als Konstellation arbeitsteiliger Gefahrüberwachung spricht sich Philipps daher gegen die Anwendung des Zweifelsgrundsatzes aus. Nach Philipps spricht also gegen die ursprünglich als alternativlos empfundene Anwendbarkeit des Zweifelsgrundsatzes, dass ein zwangsläufig irreal-prognostisches Zurechnungsverfahren bereits strukturell anfälliger für Unsicherheiten ist. In arbeitsteiligen Konstellationen wie der vorliegend untersuchten spräche zudem das normative Argument der drohenden Auflösung von Verantwortungsstrukturen gegen eine Anwendung des Zweifelsgrundsatzes. cc) Versuch einer Weiterentwicklung Die Überlegungen Philipps’ zur Anwendbarkeit des Zweifelsgrundsatzes bei irreal-prognostischen Zurechnungsverfahren werfen die Frage auf, in welchem Umfang Philipps den Zweifelsgrundsatz für die Erfolgszurechnung außer Betracht lassen will. Man wird ihn wohl dahingehend verstehen müssen, dass dies nicht alle Fälle hypothetischer Betrachtungen betrifft, sondern lediglich solche Konstellationen, in denen neben Beweisschwierigkeiten normative Gründe gegen eine Anwendung sprechen – wie Philipps dies etwa für den Bereich arbeitsteiligen Verhaltens feststellt. Auch wenn man seinen Überlegungen dieses restriktive Verständnis zugrunde legt, erscheint seine Argumentation angreifbar. Im Ansatz überzeugt sein Gedanke, strukturelle Beweisprobleme könnten gegen eine Anwendbarkeit des Zweifelsgrundsatzes sprechen. Hingegen können die von Philipps zusätzlich angestellten normativen Überlegungen seine Argumentation nicht stützen. Denn in der Frage der Anwendbarkeit des Zweifelsgrundsatzes darf es keine Rolle spielen, ob die Berücksichtigung von Zweifeln normativ oder kriminalpolitisch erwünscht ist oder nicht. (1) Empirische Entscheidungsregel und strukturelles Beweisproblem Lässt man demgemäß kriminalpolitische Erwägungen außer Betracht, so erfordert eine mit strukturellen Beweisproblemen begründete Unanwendbarkeit des Zweifelsgrundsatzes bei drittvermittelten Rettungsgeschehen weiteren Begründungsaufwand. Der Hinweis auf eine erschwerte Beweisführung im hypothetischen Bereich ist hierfür nicht ausreichend. 389 390

Vgl. Philipps (1974), 116. Vgl. hierzu bereits ausführlich oben S. 211 ff.

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Puppe liefert einen zusätzlichen Begründungsansatz. Für sie kommen die Unwägbarkeiten der Beweisführung im Bereich psychisch vermittelter Kausalität erschwerend hinzu. Aufgrund der Indeterminiertheit menschlichen Verhaltens sei die Frage nach der hypothetischen Entscheidung einer Person sinnlos, der Zweifelsgrundsatz daher nicht anwendbar.391 Der hier verfolgte Begründungsansatz gleicht in seiner Struktur der Argumentation Puppes, versucht jedoch, ohne das Indeterminismus-Argument392 auszukommen. Zunächst sei die Argumentationslinie in Thesenform vorweggenommen. Der Zweifelsgrundsatz ist eine auf empirische Zweifel zugeschnittene Entscheidungsregel. Seine Anwendbarkeit setzt deshalb voraus, dass das zugrundeliegende rechtliche Problem durch einen ausschließlich empirischen Zugriff lösbar sein muss. Bei strukturellen Beweisproblemen, die sich einer ausschließlich empirisch begründeten Lösung entziehen, findet der Zweifelsgrundsatz keine Anwendung. Bei drittvermittelten Rettungsgeschehen erfordert die Erfolgszurechnung die Feststellung psychisch vermittelter Kausalität in einem hypothetischen Kontext. In dieser Gemengelage scheitert eine streng empirische Zurechnungslösung, der Zweifelsgrundsatz kommt daher nicht zur Anwendung. Im Einzelnen: Der Zweifelsgrundsatz zwingt den Strafrichter, seinem Urteil in einer Beweisfrage die für den Täter günstigste Sachlage zugrunde zu legen, wenn er sich vom Vorliegen bestimmter tatsächlicher Umstände keine den Anforderungen des § 261 StPO genügende Überzeugung bilden kann. Kann eine Frage aber nicht durch einen streng empirischen Zugriff auf das tatsächliche Geschehen, sondern nur unter Rückgriff auf materiellrechtliche Erwägungen geklärt werden, so kann der Zweifelsgrundsatz als eine auf empirische Zweifel zugeschnittene Entscheidungsregel zur Frage nach der richtigen Rechtsanwendung nichts beitragen. In diesen Fällen bleibt er lediglich als Wertung dahingehend relevant, auf der Suche nach einer materiellrechtlichen Problemlösung die tatsächlichen Gegebenheiten nicht aus den Augen zu verlieren. Ein streng empirischer Zugriff auf das vorliegend untersuchte Zurechnungsproblem scheitert aufgrund der Kombination der Beweiserhebung im hypothetischen Kontext und der Beweiserhebung über psychisch vermittelte Zusammenhänge. Psychisch vermittelte Zurechnungszusammenhänge sind für sich genommen empirisch überprüfbar. Neben den Begleitumständen kann der Einwirkungsadressat zu seiner Handlungsmotivation befragt werden.393

391 392 393

NK/Puppe, vor § 13 Rn. 133; dies., AT, 30/16. Hierzu kritisch bereits oben S. 160 ff. Vgl. hierzu oben S. 161.

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

Auch die Beweisführung im hypothetischen Bereich unterliegt für sich genommen einem streng empirischen Zugriff. Zwar besteht eine strukturelle Ähnlichkeit394 der Hypothese mit der Prognose, auf die der Zweifelsgrundsatz nach herrschender Meinung keine Anwendung findet395, da zukünftige Sachverhalte keine Tatsachen sind.396 Bei beiden handelt es sich um Überlegungen im Modus des Irrealis. Die Irrealität gründet sich bei der Prognoseentscheidung auf die Ausrichtung der Betrachtung auf die Zukunft, bei der Hypothese auf die Konstruktion einer fiktiven Situation in der Vergangenheit. Während aber die Prognose aufgrund ihrer Ausrichtung auf die Zukunft eines verlässlichen beweisrechtlichen Umfelds entbehrt, kann sich die hypothetische Konstruktion eines alternativen Verlaufs an realen, vergangenen Ereignissen orientieren und so eine empirische Richtigkeitsgewähr für sich beanspruchen. Dies gilt etwa für die Unterlassungszurechnung im Zweipersonenverhältnis oder für die Feststellung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs im Bereich der fahrlässigen Begehungsdelikte. Bei drittvermittelten Rettungsgeschehen handelt es sich um eine Kombination aus einer Beweisführung im hypothetischen Bereich und einer Beweisführung über psychisch vermittelte Zurechnungszusammenhänge. Selbst in dieser Kombination lässt sich die Möglichkeit eines streng empirischen Zugriffs grundsätzlich noch begründen, wie ein Blick auf die Rechtsfigur der hypothetischen Einwilligung397 zeigt. Entgegen einem Teil der Lehre398 wollen der BGH 399 und ein Teil des Schrifttums400 die Frage der Einwilligung bei hypothetisch ordnungsgemäßer Aufklärung als rein empirisches Problem behandeln, der Zweifelsgrundsatz kommt nach dieser Ansicht zur Anwendung. Für den Bereich der hypothetischen Einwilligung scheint dies auch gut begründbar, stecken hier doch empirische Entscheidungskriterien wie die medizinische Indikation des Eingriffs und dessen Alternativlosigkeit einen verlässlichen Entscheidungsrahmen ab. Auch können

394 Eine solche Ähnlichkeit nimmt offensichtlich auch Philipps (1974), S. 119 an, wenn er die hypothetische Betrachtung zur Feststellung der Unterlassungskausalität als „nachträgliche Prognose“ bezeichnet; auch HK-GS/Heinrich, vor § 13 Rn. 69 attestiert der Erfolgszurechnung bei den Unterlassungsdelikten das Wesen einer zukunftsgerichteten Prognose. 395 Vgl. Löwe/Rosenberg/Sander, § 261 Rn. 106. 396 Vgl. hierzu nur die allgemeine Meinung zu § 263 StGB, etwa S/S/Cramer/Perron, § 263 Rn. 8 m.w. N. 397 Vgl. hierzu bereits oben S. 164 ff. 398 Die Anwendbarkeit des Zweifelsgrundsatzes ablehnend Puppe, GA 2003, 764 (769) unter Hinweis auf die Indeterminiertheit menschlichen Verhaltens; ablehnend auch NK/Paeffgen, vor §§ 32 ff. Rn. 168a: Die Anwendung des Zweifelsgrundsatzes zur Beurteilung einer hypothetischen Einwilligung sei „zutiefst fragwürdig“, da dieser nur in Bezug auf Tatsachen, nicht aber in Bezug auf Mutmaßungen anwendbar sei. 399 Vgl. BGH NStZ-RR 2004, 16 (17); BGH NStZ 1996, 34 (35). 400 Vgl. etwa Ulsenheimer (2008), Rn. 132b; im Sinne des BGH wohl auch Schroth (2010a), 33 (Fn. 36).

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hier die Einlassungen des Patienten in der Frage einer hypothetischen Einwilligung bei ordnungsgemäßer Aufklärung verwertet werden.401 Genau dieses wesentliche empirische Entscheidungskriterium fällt bei drittvermittelten Rettungsgeschehen jedoch weg: Die Aussage des Dritten als Adressat der hypothetischen Information durch den Erstgaranten ist nicht mehr verwertbar, da immer eine Selbstbezichtigung im Raum steht, wenn der Dritte über seine hypothetische Reaktion auf einen Warnhinweis spekulieren soll.402 Dieser Erkenntnis verschließt sich auch die Rechtsprechung nicht.403 Um dieses Defizit auszugleichen, sagt sich der BGH von den Qualitätskriterien einer vorhersehbaren Hypothesenbildung los, die er sich bei der strukturell identischen Fragestellung für die Prüfung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs bei den fahrlässigen Begehungsdelikten selbst auferlegt hat.404 Bis auf den Austausch des unmittelbar schädigenden Verhaltens durch pflichtgemäßes Verhalten dürfe dort „von der konkreten Tatsituation nichts weggelassen, ihr nichts hinzugedacht und an ihr nichts verändert werden.“ 405 Eine solche Restriktion der hypothetischen Betrachtung gelingt bei den fahrlässigen Begehungsdelikten, da das tatsächlich verwirklichte Unrecht verlässliche Daten zur Beurteilung der Hypothese liefert. Im „Massenkarambolage-Fall“ 406 etwa ließ sich anhand empirisch verifizierbarer Untersuchungen von Bremsspuren, Fahrgeschwindigkeiten und Entfernungen ermitteln, ob bei pflichtgemäßem Fahrverhalten und damit rechtzeitigem Abbremsen des Angeklagten an der Unfallstelle die nachfolgenden Fahrzeuge mit dem zuvor verunfallten Fahrzeug kollidiert wären und der tatbestandliche Erfolg damit gleichwohl eingetreten wäre. Bei drittvermittelten Rettungsgeschehen als Konstellation psychisch vermittelter Unterlassungskausalität dagegen reichen die in der „konkreten Tatsituation“ unmittelbar angelegten Anhaltspunkte zur Beurteilung der hypothetischen Erfolgsvermeidung nicht aus. Um diesen Mangel an empirischem Material auszu401

Vgl. hierzu Roxin, AT I, 13/127. Vgl. hierzu bereits oben S. 161. 403 Vgl. hierzu die Ausführungen des LG Traunstein, LG Traunstein vom 18.11. 2008, Az. 2 KLs 200 JS 865/06, juris-Rn. 337. 404 Vgl. hierzu bereits oben S. 171. 405 BGHSt 49, 1 (4). 406 BGHSt 30, 228: Ein im Nebel verunfallter Pkw war auf der Überholspur einer Autobahn auf dem Dach zum liegen gekommen. Der in seinem Pkw nachfolgende Angeklagte fuhr angesichts der schlechten Sichtverhältnisse zu schnell und kollidierte mit dem Unfallfahrzeug, hierbei wurde der Fahrer des Unfallfahrzeugs verletzt. Kurze Zeit kollidierte ein weiterer nachfolgender Pkw mit den Unfallwägen. Der BGH musste sich mit der Frage auseinandersetzen, ob der Pflichtwidrigkeitszusammenhang entfiel, weil bei pflichtgemäßem Abbremsen des Angeklagten der nachfolgende Pkw den Schaden gleichermaßen verurteilt hätte. Der BGH verneinte diese Frage, da außer dem hypothetisch pflichtgemäßen Verhalten des Angeklagten nichts hinzugedacht werden dürfe und der nachfolgende Pkw daher zur Beurteilung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs außer Betracht bleiben müsse. 402

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

gleichen, spekuliert die Rechtsprechung über die Intensität der hypothetischen Warnung des Erstgaranten, schwächt die vergangenen Pflichtverletzungen des Dritten ab oder integriert das hypothetische Handeln weiterer Personen in die Zurechnungshypothese, um sich ein Bild von der Vermeidbarkeit des Erfolgs zu machen.407 So wendet sich der BGH aufgrund der defizitären Tatsachenbasis wertenden Betrachtungen zu. Diese Absage an das „Reinheitsgebot der Hypothesenbildung“ 408 macht deutlich, dass bei drittvermittelten Rettungsgeschehen nicht genügend empirisches Material zur Verfügung steht, um die Vermeidbarkeit des Erfolgs streng empirisch zu beurteilen. Ist aber der Zurechnungszusammenhang zwischen der Unterlassung des Erstgaranten und dem Erfolgseintritt durch einen streng empirischen Zugriff nicht mehr verlässlich feststellbar, dann liegt das Problem auf einer höheren Abstraktionsebene. Es geht nicht mehr um die Bewertung von tatsächlichen Zweifeln im Einzelfall, sondern um die Auslegung des Vermeidbarkeitsbegriffs. In dieser Rechtsfrage ist der Zweifelsgrundsatz nicht anwendbar. (2) Vorschlag einer Streitverlagerung Konzentriert man die Betrachtung auf die einzelnen Umstände der konkreten Tatsituation, so ergibt sich in der vorliegend untersuchten Konstellation der Beweisführung über das hypothetische Verhalten einer Person oft kein eindeutiges Bild. Ohne größeren Begründungsaufwand lässt sich mit dieser konkreten Betrachtung der Zweifelsgrundsatz in Stellung bringen, um alle Versuche zu unterbinden, jenseits einer „an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit“ zuzurechnen. Mit einem nur unwesentlich größeren Begründungsaufwand lässt sich das Problem auf der Metaebene der materiellen Rechtsanwendung ansiedeln, der Zweifelsgrundsatz wird durch diesen Perspektivwechsel für unanwendbar erklärt. Nach der hier vertretenen Ansicht ist das vorliegende Zurechnungsproblem letztlich ein Problem der richtigen Auslegung des Vermeidbarkeitsbegriffs. Die Frage ist, wie eine systemgerechte Vermeidbarkeitsprüfung strukturiert werden kann in einer Konstellation, die sich einer streng empirischen Untersuchung entzieht. Hierbei ist der Zweifelsgrundsatz als empirische Entscheidungsregel nicht anwendbar. Als Wertung bleibt er gleichwohl relevant. Die Frage der Vermeidbarkeit kann niemals eine reine Rechtsfrage sein, dahin gehende Ansätze laufen auf eine entgrenzend normativierende Erfolgszurechnung hinaus. Fragt man aber nach der Struktur einer systemgerechten Vermeidbarkeitsprüfung, so gilt es letztlich zu entscheiden, welche Voraussetzungen an den Zurech407 408

Zu dieser ausufernden Hypothesenbildung vgl. bereits oben S. 167 ff. So Saliger, JZ 2004, 977 (979).

V. Alternative Lösungsansätze in der Literatur

245

nungszusammenhang bei den fahrlässigen Unterlassungsdelikten in dem hier untersuchten Grenzbereich der Empirie zu stellen sind, wie dieser Zurechnungszusammenhang beschaffen sein muss, der die Verletzungsdelikte von bloßen Gefährdungsdelikten unterscheidet. Ein von einem ontologischen Zugriff auf die Rechtswirklichkeit geprägter Jurist wird sich von den vorstehenden Überlegungen ohnehin nicht restlos davon überzeugen lassen, dass der Zweifelsgrundsatz auf die Frage der Erfolgsvermeidbarkeit vorliegend nicht zur Anwendung kommen kann. Grund hierfür sind gegensätzliche Grundpositionen in der Frage, inwieweit der Zugriff des Rechtsanwenders auf die Wirklichkeit ein streng empirischer sein muss bzw. ein normativer sein darf.409 Vielleicht wird sich der kritische Leser aber dem soeben entwickelten Gedanken anschließen können, dass das eigentliche Problem in der richtigen Ausgestaltung der zurechnungsvermittelnden Vermeidbarkeitsprüfung liegt. Auf dieser Ebene steht einer Problemlösung auch ein ungleich größeres Differenzierungspotenzial zur Verfügung, als in der festgefahrenen Diskussion um die Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit des Zweifelsgrundsatzes. Insofern können die vorangegangenen Überlegungen auch als Plädoyer für eine Streitverlagerung verstanden werden. c) Zurechnungsstruktur der Verletzungsdelikte Dementsprechend wendet sich die Untersuchung im Folgenden der Frage zu, welche Anforderungen an eine die Struktur der Verletzungsdelikte wahrende Zurechnungslösung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen zu stellen sind. Sind diese Anforderungen definiert, gilt es zu klären, ob die untersuchten Lösungsansätze diese Kriterien erfüllen. Diesbezüglich hat das Verständnis des Zweifelsgrundsatzes als Wertung für die Problemlösung schon Bedenken aufkommen lassen. Neben dieser kritischen Perspektive auf die alternativen Zurechnungsmodelle dienen die Überlegungen der in Teil D. folgenden Entwicklung eines eigenen Lösungsvorschlags. aa) Struktur einer systemgerechten Zurechnung des Verletzungserfolgs bei drittvermittelten Rettungsgeschehen Das Problem der Erfolgszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen stellt sich im Rahmen der Körperverletzungs- und Tötungsdelikte und damit im Kernbereich der Verletzungsdelikte. Während bei den Gefährdungsdelikten410 die 409

Vgl. hierzu soeben S. 237. Zu unterscheiden ist hier zwischen konkreten Gefährdungsdelikten (z. B. § 315c StGB) und abstrakten Gefährdungsdelikten (z. B. § 306 StGB). Während erstere eine tatsächliche Gefährdung des Tatobjekts voraussetzen, reicht bei letzteren die typische Gefährlichkeit des Verhaltens für eine Pönalisierung aus, ohne dass es im zu beurteilen410

246

C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

Tat nur eine mehr oder weniger intensive Bedrohung des Tatobjekts darstellt, setzt die Bestrafung des Täters bei den Verletzungsdelikten die tatsächliche Verletzung des Tatobjekts411 voraus. Eine systemgerechte Lösung müsste in der vorliegenden Konstellation sicherstellen, dass eine Bestrafung nur unter dieser Voraussetzung der tatsächlichen Verletzung des Tatobjekts gerade durch das Täterverhalten erfolgt. Die Unterscheidung zwischen einer bloßen Gefährdung und einer tatsächlichen Verletzung des Tatobjekts fällt immer dann leicht, wenn der Verletzungserfolg nicht eintritt. In solchen Fällen kann – wenn überhaupt – nur eine Gefährdung vorliegen. Eine Bestrafung nach vollendetem Verletzungsdelikt scheidet aus. Die hier diskutierten Fälle machen dem Rechtsanwender die Entscheidung ungleich schwerer. In allen im Rahmen dieser Untersuchung analysierten Fällen ist eine tatsächliche Verletzung des Tatobjekts eingetreten. Fraglich ist hier, ob gerade das Verhalten des Täters zu der Verletzung geführt hat. Diese Frage drängt sich auf, weil Zweifel an der hypothetisch pflichtgemäßen Reaktion des Dritten und damit andere risikoträchtige Faktoren vorlagen, die mit dem Täterverhalten hinsichtlich der tatsächlichen Verletzung des Tatobjekts möglicherweise konkurrieren. In diesen Fällen verkompliziert sich die Beurteilung, ob im Täterverhalten eine nach vollendetem Delikt strafbare Verletzung oder lediglich eine im Bereich der Fahrlässigkeit straflose Gefährdung des Tatobjekts vorliegt. Zu entscheiden ist, welche Kriterien der Zusammenhang zwischen dem Täterverhalten und dem Erfolgseintritt in der vorliegenden Konstellation erfüllen muss, damit ersteres neben anderen Risikofaktoren als das tatsächlich verletzende Element identifiziert werden kann. Insbesondere gilt es die These der herrschenden Meinung zu überprüfen, dass nur eine empirische Vermeidbarkeitsprüfung mit dem Ergebnis einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit der Erfolgsvermeidung einen tauglichen Zurechnungszusammenhang im Rahmen der Verletzungsdelikte vermitteln kann. (1) Die gesetzlichen Vorgaben Ausgangspunkt der Überlegungen sind die Vorgaben des Strafgesetzbuchs. Aus den rudimentären Vorgaben zur Zurechnung des Verletzungserfolgs bei den vorsätzlichen Begehungsdelikten, den fahrlässigen Begehungsdelikten sowie bei den fahrlässigen Unterlassungsdelikten wird eine Grundvoraussetzung entwickelt, die erfüllt sein muss, um bei drittvermittelten Rettungsgeschehen eine Bestrafung auf Grundlage eines Verletzungsdelikts zu legitimieren. den Sachverhalt zu einer reellen Gefährdung des Tatobjekts gekommen sein muss. Vgl. hierzu Schroth, BT, 32; Roxin, AT I, 10/124. 411 Vgl. etwa Schroth, BT, 32; Roxin, AT I, 10/123; SSW/Kudlich, vor §§ 13 ff. Rn. 25.

V. Alternative Lösungsansätze in der Literatur

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Das Gesetz hält sich in Fragen der Erfolgszurechnung generell bedeckt. Auch im Zuge größerer Reformbemühungen wurden die Modalitäten der Erfolgszurechnung Literatur und Rechtsprechung zur genaueren Ausarbeitung anheimgestellt.412 Für die vorsätzlichen Begehungsdelikte ist etwa in § 212 I StGB formuliert: „Wer einen Menschen tötet, [. . .] wird [. . .] mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.“ Hieraus wurde als Grundvoraussetzung der Erfolgszurechnung bei den vorsätzlichen Begehungsdelikten die naturgesetzliche Verursachung des Verletzungserfolgs abgeleitet. Die Ergebnisse dieser naturgesetzlichen Kausalanalyse werden eingeschränkt in Fällen, in denen diese Ergebnisse mit dem strafrechtlichen Wertungssystem unvereinbar sind. So entfällt die Zurechnung eines kausal verursachten Erfolgs etwa dann, wenn der Täter mit seiner Handlung kein rechtlich missbilligtes Risiko geschaffen hat.413 Die Frage, ob und in welchem Umfang das naturgesetzliche Kausalurteil einer wertenden Korrektur bedarf, wenn der Verletzungserfolg möglicherweise auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre, ist umstritten. Diesbezüglich schweigt sich das Gesetz bei den Vorsatztaten aus. Im Bereich der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit hingegen lässt sich dem Wortlaut die Grundwertung entnehmen, dass bei fehlendem Pflichtwidrigkeitszusammenhang die Erfolgszurechnung entfallen soll. Denn kongruent zu § 212 I StGB hätte der Gesetzgeber in § 222 StGB formulieren können: „Wer fahrlässig einen Menschen tötet, wird [. . .] bestraft.“ Stattdessen heißt es in § 222 StGB: „Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird [. . .] bestraft.“ Der wertende Rechtsbegriff der Fahrlässigkeit ersetzt die deskriptive Tathandlung als Ausgangspunkt des Zurechnungsurteils. Muss der Erfolg aber gerade durch die Fahrlässigkeit verursacht worden sein, so spricht sich das Gesetz gegen eine Zurechnung des Verletzungserfolgs aus, wenn dieser auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre.414 Bei den Unterlassungsdelikten wird die Frage der Vermeidbarkeit des Erfolgs bei pflichtgemäßem Handeln zum zentralen Zurechnungskriterium. Während sie sich bei den Begehungsdelikten als Wertung an die Feststellung der naturgesetzlichen Verursachung anschließt, vermittelt sie bei den Unterlassungsdelikten in Ermangelung einer solchen naturgesetzlichen Verursachung den Zurechnungszusammenhang insgesamt.

412

Vgl. Kahrs (1968), 28 f.; ebenso Haas (2002), 144. Beispiel: Schickt A den B bei Gewitter in den Wald in der Hoffnung, dieser möge von einem herunterfallenden Ast erschlagen werden und bewahrheitet sich diese Hoffnung, so entfällt trotz kausaler Verursachung des Verletzungserfolgs die Erfolgszurechnung, da das Verhalten des A keine rechtlich erhebliche Tötungsgefahr schafft. Vgl. Roxin, AT I, 11/44, 47. 414 Vgl. hierzu etwa die ebenfalls eng am Gesetzeswortlaut des § 222 StGB orientierte Kommentierung MüKo/Hardtung, § 222 Rn. 7 f., 34 f. 413

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

Die Vermeidbarkeit des Erfolgs als zentrales Zurechnungskriterium bei den Unterlassungsdelikten lässt sich abstrakt begründen, etwa mit dem Hinweis, dass die Vermeidbarkeit des unerwünschten Erfolgs Legitimationsgrund der entsprechenden Verhaltensnorm sei.415 Sie lässt sich jedoch auch im Gesetz nachweisen. § 13 I StGB normiert: „Wer es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist [. . .] nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands durch ein Tun entspricht.“ Der naturgesetzlichen Verursachung eines Verletzungserfolgs entspricht ein Unterlassen aber nur dann, wenn der Erfolgseintritt bei pflichtgemäßem Handeln vermeidbar war. Und rechtlich einstehen muss der Normadressat nur für das Ausbleiben eines Verletzungserfolgs, wenn er diesen Erfolg verhindern konnte. Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit einem Zurechnungsproblem bei den fahrlässigen Unterlassungsdelikten. Hier offenbart ein Blick auf die gesetzlichen Vorgaben die Vermeidbarkeit des Erfolgs bei pflichtgemäßem Handeln als zentrales Zurechnungskriterium. In der Frage, ob und inwieweit die Feststellung der Vermeidbarkeit normativen Wertungen zugänglich ist, ist der Gesetzeswortlaut wenig ergiebig. Das Strafgesetzbuch gibt dem Rechtsanwender die Deliktskategorien der Verletzungs- und Gefährdungsdelikte vor. Die Aufgabe, die Zurechnungsstruktur der Verletzungsdelikte dieser Kategorisierung entsprechend auszugestalten, überlässt der Strafgesetzgeber bewusst dem wissenschaftlichen Diskurs. Eine Analyse des Gesetzeswortlauts hat ergeben, dass bei den hier relevanten fahrlässigen Unterlassungsdelikten rechtliche Wertungen größeren Einfluss auf die Zurechnungsentscheidungen ausüben können als bei den vorsätzlichen Begehungsdelikten. Hier ersetzt der wertende Rechtsbegriff der Fahrlässigkeit die deskriptive Tathandlung als Ausgangspunkt des Zurechnungsurteils. Hier vermittelt das Vermeidbarkeitsurteil in Ermangelung einer aktiven, naturgesetzlichen Verursachung den Zurechnungszusammenhang insgesamt. Umso erstaunlicher ist es, mit welcher Selbstverständlichkeit die herrschende Meinung das Erfordernis der streng empirisch festzustellenden Vermeidbarkeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zur einzig gesetzeskonformen Ausgestaltung der Verletzungsdelikte erklärt. Diese Ansicht markiert das vorläufige Ergebnis einer langen Diskussion, dieses Ergebnis lässt sich indes auf die konkretisierungsbedürftigen systematischen Anlagen des Gesetzes nicht so unmittelbar und alternativlos zurückführen, wie es gemeinhin erklärt wird.416

415

Vgl. hierzu MüKo/Freund, § 13 Rn. 218. Gegen das Argument, alle anderen Lösungen als diejenige der herrschenden Meinung führten zu einer systemwidrigen Umdeutung der Verletzungsdelikte, auch Greco, ZIS 2011, 674 (678), Frisch (1988), 540 sowie BeckOK/Kudlich, § 15 Rn. 54.1. 416

V. Alternative Lösungsansätze in der Literatur

249

Nach der hier vertretenen Auffassung verwehrt es ein Blick auf den Wortlaut des Gesetzes dem Rechtsanwender nicht ohne Weiteres, zur Feststellung der Vermeidbarkeit des Erfolgs ergänzend normative Überlegungen anzustellen. Ein Blick auf den Gesetzeswortlaut reicht mithin nicht aus, um die Anforderungen an den Zurechnungszusammenhang zwischen tatbestandlicher Unterlassung und Eintritt des Verletzungserfolgs in der vorliegend untersuchten Konstellation eindeutig zu klären. Die Befunde der am Gesetzeswortlaut orientierten Auslegung ergänzend wird daher im Folgenden ein teleologischer Ansatz gewählt. Möglicherweise lässt sich aus dem Zweck des Verletzungserfordernisses ableiten, ob und wieweit normative Betrachtungen bei der Feststellung der Vermeidbarkeit zulässig sind. (2) Funktionale Interpretation des Verletzungserfolgs Nach Frisch kann eine systemgerechte Erfolgszurechnung nur unter Rückbesinnung auf die Funktion des Verletzungserfordernisses gelingen.417 Bei den Verletzungsdelikten konzentriert der Strafgesetzgeber die Sanktionierung auf besonders folgenreiches Fehlverhalten. Es liegt daher nahe, der Interpretation des Verletzungserfolgs und des Zurechnungszusammenhangs, der ihn auf das täterschaftliche Verhalten zurückführt, den Zweck dieses verschärften Strafeinsatzes zugrunde zu legen.418 Diesen Grundannahmen folgend wird zunächst der Zweck des Verletzungserfordernisses definiert. Sodann werden Rückschlüsse auf die Kriterien einer systemgerechten Erfolgszurechnung bei den Verletzungsdelikten gezogen. Mit Jescheck schreibt Krümpelmann dem Verletzungserfordernis eine „pflichtenstiftende und haftungsbegrenzende Funktion“ 419 zu. Einerseits können nur mit Blick auf die Situation des Verletzten im Fahrlässigkeitsbereich die konkreten Verhaltenspflichten des Sorgfaltsverpflichteten bestimmt werden. Andererseits komme dem Verletzungserfordernis eine „limitative Funktion“ zu. Während das Strafrecht beim Versuch oder dem Gefährdungsdelikt an Vorstadien der Erfolgsverwirklichung anknüpfe, sei für eine Strafbarkeit aus vollendetem Verletzungsdelikt mehr erforderlich. Habe der Täter „Glück“, weil sein sorgfaltswidriges Verhalten nicht zu einer Verletzung führt, so werde er nicht bestraft. So limitiert das Verletzungserfordernis die Strafbarkeit.420 Der Täter wird privilegiert, wenn keine Rechtsgutsverletzung eintrat oder der eingetretene Schaden nicht auf das Täterverhalten zurückführbar ist.

417

Frisch (1988), 511 f. Frisch (1988), 516. 419 Krümpelmann, FS Jescheck, 313 (316). 420 Vgl. zum Ganzen Krümpelmann, FS Jescheck, 313 (314–316) sowie Jescheck/ Weigend, AT, 55 II 1. 418

250

C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

Über dieses Verständnis einer faktischen Unrechtslimitation hinausgehend versucht Frisch, den Zweck des Verletzungserfordernisses aus straftheoretischen Überlegungen abzuleiten. Nach Frisch könnte die verschärfte Sanktionierung bei tatsächlicher Verletzung nur dann mit dem bloßen Hinweis auf einen in diesen Fällen gesteigerten Unrechtsgehalt begründet werden, wenn ausschließlicher Zweck der Strafe Ausgleich und Vergeltung von Unrecht wäre.421 Er versucht daher, den Zweck des Verletzungserfordernisses aus dem Zweck der Strafe abzuleiten. Demnach diene das Erfordernis einer tatsächlichen Verletzung des Tatobjekts dazu, die strafrechtliche Sanktionierung auf Fälle einer – durch den Eintritt des Verletzungserfolgs manifestierten – besonders intensiven Störung des Rechtsfriedens und Infragestellung der Normgeltung zu konzentrieren.422 Eine dergestalt gesteigert rechtsfriedensstörende Wirkung komme dem Verhalten des Täters nur zu, wenn sich im Taterfolg das konkret vom Täter gesetzte Risiko verwirkliche, wenn der Erfolg also bei pflichtgemäßem Verhalten sicher ausgeblieben wäre. Dies belege auch die Tatsache, dass sich die mehr dem Rechtsgefühl und dem Ergebnis als dem theoretischen Konstrukt verpflichtete Rechtsprechung der Risikoerhöhungslehre beharrlich verweigere.423 Auch wenn man mit Frisch den Zweck des Verletzungserfordernisses in der Sanktionierung einer besonders intensiven Störung des Rechtsfriedens sieht, ist demnach grundsätzlich die Vermeidbarkeit des Erfolgs mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für eine Zurechnung des Verletzungserfolgs erforderlich. Fraglich ist jedoch, ob dieser Grundsatz uneingeschränkt auf das vorliegend untersuchte Zurechnungsproblem anwendbar ist. Denn zum einen ist die hypothetische Vermeidbarkeitsbetrachtung der herrschenden Meinung hier erheblichen beweisrechtlichen Zweifeln ausgesetzt. Zum anderen liegen die Unsicherheiten hinsichtlich der hypothetischen Erfolgsvermeidung gerade in einem alternativen Rechtsbruch einer anderen Person begründet. In dieser Konstellation stellt die Verletzung der eigenen Garantenpflicht unter Berufung auf die hypothetische Pflichtverletzung eines anderen bei tatsächlich eingetretenem Verletzungserfolg eine vergleichbar gravierende Erschütterung des Rechtsfriedens dar, wie sie bei absoluter Sicherheit der hypothetischen Erfolgsvermeidung im determinierten Zweipersonenverhältnis vorliegt. Hierfür spricht auch die von Frisch argumentativ ins Feld geführte Intuition der Rechtsprechung. Am Beispiel des Urteils im Eissporthallen-Fall wurde gezeigt, dass die revisionsrechtlich nicht angezeigten Beweisanregungen des BGH hier dem Bemühen um eine Rechtsfrieden stiftende 421 Frisch (1988), 515; ähnlich sieht Freund (1992), 128 f. den Grund des Verletzungserfordernisses in dem bei tatsächlicher Verletzung erhöhten Reaktionsbedürfnis, um den eingetretenen Normgeltungsschaden zu beheben. 422 Vgl. Frisch (1988), 516–518. 423 Frisch (1988), 545.

V. Alternative Lösungsansätze in der Literatur

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Konfliktbewältigung geschuldet sind, welche durch die konsequente Anwendung der Vermeidbarkeitstheorie nicht gewährleistet ist.424 Interpretiert man den Verletzungserfolg also funktional als objektives Unrechtsmerkmal, das die strafrechtliche Sanktionierung auf besonders gravierende Störungen des Rechtsfriedens konzentrieren soll, können in der vorliegenden Konstellation andere Zurechnungskriterien als die hypothetisch festgestellte Vermeidbarkeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit herangezogen werden, solange eine klare Zuschreibung des haftungsbegründenden Geschehens zum Verantwortungsbereich des Erstgaranten gelingt und so eine „Zufallshaftung“ vermieden wird. Der Verletzungserfolg ist dann in eingeschränkterem Umfang als bei den Begehungsdelikten faktische Unrechtslimitation, weil die hypothetische Erfolgszurechnung bei den fahrlässigen Unterlassungsdelikten im Dreipersonenverhältnis für Faktizität weniger Raum lässt als die Begehungszurechnung. Zusätzlich ist der Verletzungserfolg Index intensiver Rechtsfriedensstörung und als solcher vorliegend durch einen Zurechnungszusammenhang vermittelbar, der über den Versuch einer streng empirischen Vermeidbarkeitsprüfung hinausgeht. Auf diesen Gedanken aufbauend versucht der folgende Entwurf der Zurechnungsstruktur der Verletzungsdelikte bei drittvermittelten Rettungsgeschehen, die durch den Strafgesetzgeber belassenen Gestaltungsspielräume zu nutzen. Auf dieser Grundlage wird sodann der gegenüber den alternativen Lösungsvorschlägen erhobene Vorwurf der Umdeutung von Verletzungsdelikten in Gefährdungsdelikte geprüft, bevor in Teil D. – auf dieser Prüfung aufbauend – ein eigener Lösungsvorschlag entwickelt wird. (3) Eigene Konzeption Welche Anforderungen sind also bei drittvermittelten Rettungsgeschehen an den Zurechnungszusammenhang zwischen der Unterlassung des Erstgaranten und dem Eintritt des tatbestandlichen Verletzungserfolgs zu stellen, damit dieser den gesetzlich vorgegebenen Deliktscharakter der Verletzungsdelikte wahrt? Aus den gesetzlichen Vorgaben ergibt sich zwingend, dass es sich bei der Zurechnung des Verletzungserfolgs um eine im Kern empirische Feststellung handelt. Das Verhalten des Täters muss sich faktisch, empirisch nachweisbar im Verletzungserfolg niedergeschlagen haben. Von diesem empirischen Kern der Erfolgszurechnung darf auch bei den fahrlässigen Unterlassungsdelikten, auch bei psychisch vermittelter Kausalität im Dreipersonenverhältnis nicht abgerückt werden. Nur so lässt sich eine ausschließlich normativ begründete „Zufallshaftung“ vermeiden. Die nachweisbare Feststellung, dass der Eintritt des Verletzungserfolgs für den Täter auch bei Beachtung aller relevanten Sorgfaltspflichten fak424

Vgl. oben S. 204 f.

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

tisch nicht vermeidbar war, muss in der Frage der Erfolgszurechnung das zurechnungsausschließende „letzte Wort“ bleiben. Angesichts der rudimentären gesetzlichen Vorgaben zur Ausgestaltung des Zurechnungszusammenhangs ist es legitim, zur Konkretisierung dieses Zusammenhangs nach dem Zweck der verschärften425 Sanktionierung bei Eintritt eines Verletzungserfolgs zu fragen. Dieser Zweck besteht ebenso wenig im bloßen Ausgleich gesteigerten Unrechts, wie der Strafausspruch selbst keine bloße Unrechtsvergeltung ist. Der Verletzungserfolg lässt sich über seine Funktion als faktische Unrechtslimitation hinaus als Konzentration der Sanktionierung auf in gesteigertem Maße rechtsfriedensstörendes Verhalten begreifen. Ein so erweitertes funktionales Verständnis des Verletzungserfordernisses ermöglicht es bei drittvermittelten Rettungsgeschehen, die defizitäre empirische Kausalitätshypothese mit Kriterien normativer Verantwortungszuschreibung zu stützen, ohne dass durch die bloße Abweichung von der Feststellung der Erfolgsvermeidbarkeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die häufig monierte Durchbrechung der Struktur der Verletzungsdelikte vollzogen wird. Insofern dient die Verschärfung der rechtsfriedensstörenden Konfliktlage durch die drohende Entlastung mit der hypothetischen Pflichtverletzung des Dritten als „Einfallstor“ für normative Wertungen. Eine so legitimierte Normativierung der Erfolgszurechnung darf nur mit dem Ziel erfolgen, die Zurechnung zum Verantwortungsbereich des Täters zu konkretisieren, wo sie streng empirisch misslingt. Ihr kommt dann eine Hilfsfunktion für die empirische Zurechnung zu. Dagegen durchbricht eine normativierende Zurechnungslösung die Struktur der Verletzungsdelikte, wenn sie sich pauschal über empirische Betrachtungen hinwegsetzt und den Erfolg unabhängig von der Frage seiner Vermeidbarkeit durch den Erstgaranten zurechnet. Jüngst hat Saliger426 die Kontrafaktizität oder Fiktionalität als konsensfähige Grenze normativer Auslegung definiert. Werde das Opfer eines Tötungsdelikts als arglos bezeichnet, wo es keine Argwohn verspürte, werde ein Vermögensschaden festgestellt, wo der Verfügende faktisch reicher geworden sei, so werde der deskriptive Bedeutungskern der Tatbestandsmerkmale und Rechtsbegriffe einer beliebigen Fiktion anheimgestellt.427 Ähnlich argumentiert Schroth, wenn er den möglichen Wortsinn unter dem Aspekt der Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendung und dem hierauf gegründeten Vertrauen des Normunterworfenen als aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitete Auslegungsgrenze definiert.428 425 Diese Verschärfung ist im Vergleich zur Versuchsstrafbarkeit (hier: Möglichkeit fakultativer Strafmilderung gem. § 23 II StGB) und zum generell niedrigeren Strafrahmen abstrakter Gefährdungsdelikte zu sehen. 426 Saliger, JZ 2012, 723. 427 Saliger, JZ 2012, 723 (728). 428 Schroth (1983), 113.

V. Alternative Lösungsansätze in der Literatur

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Wo verläuft nun vorliegend die Grenze normativierender Auslegung? Einen unmittelbaren Anknüpfungspunkt für die Auslegung – etwa im Sinne einer Definition des Kausalitätsbegriffs – gibt es im Gesetzeswortlaut nicht. Nimmt man als Anknüpfungspunkt den Begriff der „Verursachung“ und definiert als Auslegungsgrenze das allgemein-sprachgebräuchlich Mögliche, so ist etwa im Eissporthallen-Fall die Aussage „der Gutachter hat durch sein unrichtiges Gutachten den Einsturz der Halle verursacht“ wohl mit dem allgemeinen Sprachsinn vereinbar. Indes ist eine solche Grenzziehung in zweierlei Hinsicht zu unpräzise. Zum einen wird der sehr allgemein gewählte Anknüpfungspunkt der „Verursachung“ der Komplexität des Zurechnungsproblems nicht gerecht. Zum anderen ist der Maßstab des sprachgebräuchlich Möglichen keine geeignete Auslegungsgrenze, da eine solche Grenzziehung von einem kaum objektivierbaren Gefühl dafür abhängt, was sprachlich möglich ist.429 Versucht man nun durch Konkretisierung der Kontrollfrage die erstgenannte Ungenauigkeit zu beseitigen, so kommt es für eine systemgerechte Zurechnung darauf an, ob in der vorliegenden Konstellation in Abgrenzung zur bloßen Gefährdung eine tatsächliche Rechtsgutsverletzung durch das Täterverhalten vorliegt. Aus dieser Fragestellung lässt sich wiederum das Kriterium der Vermeidbarkeit des Erfolgs als Grundlage der Unterlassungszurechnung herleiten.430 Das Vermeidbarkeitskriterium stellt einen hinreichend konkretisierten Anknüpfungspunkt für die Prüfung dar, in welchem Umfang eine Normativierung der Unterlassungszurechnung in der vorliegenden Konstellation mit den systematischen Vorgaben des Gesetzes vereinbar ist. Legt man dieser Prüfung nun nicht den subjektiv-konturlosen Maßstab des sprachgebräuchlich Möglichen zugrunde, sondern scheidet mit Saliger und Schroth eine kontrafaktisch-fiktionale und damit für den Normunterworfenen unvorhersehbare Interpretation des im Kern deskriptiven Rechtsbegriffs der Vermeidbarkeit aus, so ergibt sich folgende Grenze der normativierenden Auslegung: Die Sanktionierung einer tatbestandlichen Unterlassung unabhängig von der Frage, ob der Täter den Erfolg mit normgemäßem Verhalten hätte vermeiden können, begründet eine Gefährdungshaftung, wie sie für die hier relevanten §§ 222, 229 StGB gerade nicht vorgesehen ist. Vermeidbar war ein Erfolg, wenn dem Unterlassungstäter zur Erfolgsabwendung hinreichende Handlungsoptionen tatsächlich zur Verfügung standen. In die Überprüfung der tatsächlichen Handlungsoptionen können möglicherweise normative Überlegungen einfließen. Inwieweit etwa eine normative Verantwortungszuschreibung geeignet sein kann, das Ausmaß hypothetischer Überlegungen bei der Überprüfung der tatsächlichen Handlungsoptionen des Erstgaranten zu begrenzen, wird die weitere Untersuchung zeigen. 429 430

Vgl. hierzu Schroth (1983), 111. Vgl. hierzu soeben S. 247 f.

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

Wird aber auf die Prüfung der tatsächlichen Handlungsoptionen gänzlich verzichtet, werden solche Handlungsoptionen ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Gegebenheiten des Einzelfalls vermutet oder fingiert, so wird normativ für vermeidbar erklärt, was faktisch unter Umständen nicht vermeidbar war. Damit liegt einer Unterlassungszurechnung durch Rechtsfiktion der Pflichterfüllung des Dritten eine entgrenzend normativierende Interpretation des im Kern deskriptiven Vermeidbarkeitsbegriffs zugrunde. Eine solche Zurechnungslösung konstruiert auf illegitime Weise einen Verletzungszusammenhang zwischen Unterlassung und Erfolg, wo lediglich ein Gefährdungszusammenhang nachweisbar ist. Zusammenfassend erfordert die Zurechnung des tatbestandlichen Verletzungserfolgs bei den fahrlässigen Unterlassungsdelikten nach der hier entwickelten Lösung im Kern eine empirische Vermeidbarkeitsbetrachtung. In der vorliegend untersuchten Konstellation ist eine Ergänzung, nicht aber eine Ersetzung dieser Vermeidbarkeitsprüfung durch normative Kriterien legitimiert. Konsequent normativierende Fiktions- und Vermutungslösungen verzichten auf die Feststellung der tatsächlichen Verletzung des Tatobjekts gerade durch das Täterverhalten. Eine solche Lösung widerspricht der gesetzgeberischen Unterscheidung von Gefährdung und Verletzung. bb) Bewertung der Alternativlösungen Zentral sehen sich die in der Literatur vorgeschlagenen Zurechnungslösungen mit dem Vorwurf der Umdeutung von Verletzungsdelikten in Gefährdungsdelikte konfrontiert. Um eine differenzierte Auseinandersetzung mit diesem Vorwurf zu ermöglichen, wurden vorstehend die Anforderungen definiert, die nach der hier vertretenen Auffassung an einen die Deliktsstruktur der Verletzungsdelikte wahrenden Zurechnungszusammenhang zu stellen sind. Die Analyse der Alternativlösungen abschließend werden diese nun an den soeben formulierten Anforderungen gemessen. Es wird sich zeigen, dass viele Autoren auf Grundlage der gerechtfertigten Kritik an der Lösung der Rechtsprechung eine umfassende Normativierung der Zurechnung vornehmen und so eine systemfremde Gefährdungshaftung konstruieren. Die beweisrechtliche Lösung Grecos trifft der Vorwurf der Konstruktion einer systemfremden Gefährdungshaftung nicht. Bei hinreichend konkreten Anhaltspunkten für eine Pflichtverletzung des Dritten will Greco empirisch Beweis erheben. So bleibt der empirische Kern der Vermeidbarkeitsprüfung gewahrt. Problematischer sind die auf die Überlegungen Puppes zurückgehenden Vermutungslösungen. Puppe vermutet das pflichtgemäße Verhalten des Dritten ungeachtet entgegenstehender tatsächlicher Indizien, ihre Grenze findet diese Rechtsregel erst in Fällen, in denen auch der Dritte seine Pflicht tatsächlich verletzt hat. Zwar handelt es sich hierbei rechtstechnisch um eine widerlegbare Vermutung, da aber alle tatsächlichen Hinweise bis zur Schwelle der tatsächlichen Pflichtver-

V. Alternative Lösungsansätze in der Literatur

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letzung des Dritten für irrelevant erklärt werden, setzt diese Lösung eine normative Vermutung an die Stelle der empirischen Vermeidbarkeitsbetrachtung und wird damit der Zurechnungsstruktur der Verletzungsdelikte nicht gerecht. Bosch spricht in Weiterentwicklung der Gedanken Puppes zumindest solchen tatsächlichen Anhaltspunkten zurechnungsausschließende Wirkung zu, die eindeutig gegen eine hypothetische Pflichterfüllung sprechen. Damit setzt er sich dem hier untersuchten Vorwurf jedenfalls nicht in gleichem Umfang aus wie die konsequenten Vermutungslösungen. Auch Kudlich und Altenhain deuten eine Differenzierung innerhalb der Vermutungslösung an, es wird allerdings nicht recht deutlich, welchen Stellenwert sie empirischen Zweifeln neben den von ihnen vorgeschlagenen normativen Kriterien zubilligen. Kahlo und Roxin sowie Frister, Lindemann, Jakobs und Philipps erklären Zweifel an der hypothetischen Reaktion des Dritten für unbeachtlich. Mit unterschiedlicher Begründung messen Kahlo und Roxin nur solchen Zweifeln zurechnungsausschließende Wirkung bei, die die Erfolgsvermeidung bei pflichtgemäßer Reaktion des Dritten infrage stellen, nicht aber Zweifeln in der vorgeschalteten Frage, ob der Dritte überhaupt reagiert hätte. Insbesondere die Argumente Roxins sind zutreffend und stimmen mit den Ergebnissen dieser Untersuchung überein. Nach der soeben skizzierten Struktur der Erfolgszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen legitimieren sie jedoch nur eine Ergänzung der empirischen Vermeidbarkeitsprüfung, nicht aber ihre Ersetzung durch die Vermutung oder Fiktion pflichtgemäßen bzw. die Ausblendung potenziell pflichtwidrigen Verhaltens des Dritten. Die konsequente Ausblendung von Unsicherheiten hinsichtlich der pflichtgemäßen Reaktion durch Roxin und Kahlo wird nach der hier vertretenen Auffassung dem empirischen Kern der Vermeidbarkeitsprüfung nicht gerecht. Frister, Lindemann, Jakobs und Philipps versagen dem Erstgaranten die Möglichkeit der Entlastung unter Hinweis auf eine mögliche Pflichtverletzung des Dritten und blenden damit gezielt den Einwand der möglicherweise fehlenden Vermeidbarkeit aus. Die für diese Versagung der Exkulpation vorgetragenen Argumente sind stichhaltig. Die Autoren überschätzen aber nach der hier vertretenen Ansicht die sich hieraus ergebenden Folgen für die Zurechnung. Man sollte sich darum bemühen, die defizitäre Beweisgrundlage durch normative Erwägungen zu stützen, anstatt der gerichtlichen Beweiserhebung durch schlichte Ausblendung der gegen eine hypothetische Pflichterfüllung des Dritten sprechenden Anhaltspunkte das gesamte empirische Fundament zu rauben. Die normativ-ergebnisorientierte Ausblendung der gegen Vermeidbarkeit sprechenden Anzeichen führt zur Durchbrechung der Zurechnungsstruktur der Verletzungsdelikte. Offenkundig berechtigt ist der Vorwurf der Begründung einer systemfremden Gefährdungshaftung schließlich bei den Fiktionslösungen von Sofos und Kahrs. Insbesondere bei Kahrs, der mit seiner „Vermeidbarkeit im Rechtssinne“ aus-

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

drücklich für vermeidbar erklärt, was faktisch nicht vermeidbar war, wird nach der hier vertretenen Auffassung die Kontrafaktizität als Grenze vorhersehbarer, mit dem Rechtsstaatsprinzip in Einklang stehender Rechtsanwendung augenscheinlich überschritten. Aber auch der Ansatz von Sofos geht mit seiner gegebenenfalls kontrafaktischen Fiktion der Pflichterfüllung durch den Dritten zu weit. Stübinger schließlich erklärt die normative Relevanz der Information durch den Erstgaranten für allein zurechnungsrelevant und sagt sich so vom Zurechnungskriterium der Vermeidbarkeit los. Maßgeblich ist demnach nicht, ob der Dritte reagiert hätte, sondern ob ihm eine entscheidungsrelevante Information vorenthalten wurde. Nach der hier vertretenen Auffassung ist aber die Frage der Vermeidbarkeit zentral für die Unterlassungszurechnung. Die Vermeidbarkeit ist im Kern empirisch festzustellen. Damit wird auch der Ansatz von Stübinger den hier entwickelten Grundsätzen der Zurechnung bei den Verletzungsdelikten in der vorliegenden Konstellation nicht gerecht. d) Zwischenergebnis: Durchbrechung der Zurechnungsstrukturen durch Vermutung, Fiktion und Ausblendung empirischer Anhaltspunkte Die vorstehende Zusammenstellung und Diskussion der Kernprobleme alternativer Lösungsansätze zeigte, dass der Zweifelsgrundsatz als empirische Entscheidungsregel nach der hier vertretenen Auffassung zur Lösung des durch einen streng empirischen Zugriff nicht lösbaren Problems der Erfolgszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen nicht geeignet ist. Versucht man, die defizitäre Beweiserhebung und die unberechenbare Hypothesenbildung des BGH ergebnisoffen durch Auslegung des Vermeidbarkeitsbegriffs in vorhersehbarere Bahnen zu lenken, so werden hierdurch keine Zweifel zulasten des Täters verwendet. Die entscheidende Herausforderung für die Entwicklung einer alternativen Lösung des Zurechnungsproblems besteht darin, trotz Verzichts auf das Zurechnungskriterium der streng empirisch zu bestimmenden hypothetischen Erfolgsvermeidung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Erfordernis einer tatsächlichen Verletzung des Tatobjekts zu wahren. Dieses Erfordernis eines qualifizierten Zurechnungszusammenhangs macht den Wesensgehalt der Deliktskategorie der Verletzungsdelikte aus. In dieser Frage offenbarte sich ein Spannungsverhältnis zwischen der Überzeugungskraft der gegen die Lösung der Rechtsprechung ins Feld geführten Argumente einerseits und der Schwierigkeit einer systemgerechten Alternativzurechnung andererseits, das sich bereits in Auseinandersetzung mit der Zurechnungslösung der Rechtsprechung angedeutet hatte.431 Ein Großteil der in der Literatur 431

Vgl. hierzu oben S. 205 ff.

VI. Ergebnis Teil C.

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entwickelten Lösungen leitet aus einer überzeugenden Argumentation gegen die Zurechnungslösung der Rechtsprechung weitreichende, unmittelbar zurechnungsbegründende Rechtsfolgen ab, die zu einer entgrenzend normativierenden Interpretation des Zurechnungszusammenhangs führen und so die gesetzlich vorgegebene Zurechnungsstruktur im Sinne einer Bereichsausnahme für drittvermittelte Rettungsgeschehen durchbrechen. Nach dem hier entwickelten Verständnis der Erfolgszurechnung bei den Verletzungsdelikten legitimieren die in der Sache zumeist zutreffenden Argumente lediglich eine Ergänzung der empirischen Vermeidbarkeitsprüfung um normative Überlegungen, nicht aber ihre Ersetzung durch eine Vermutung oder Fiktion pflichtgemäßen Handelns oder die Ausblendung einer hypothetischen Pflichtverletzung.

VI. Ergebnis Teil C. In Teil C. dieser Untersuchung wurde die Diskussion des Problems der Erfolgszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen in Literatur und Rechtsprechung nachvollzogen und analysiert. Der BGH sieht sich in dieser Konstellation ausschließlich vor einem empirischen Beweisproblem und fragt nach der hypothetischen Erfolgsvermeidung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei pflichtgemäßem Handeln des Erstgaranten. Die in der strafrechtlichen Literatur verbreitet geübte beweisrechtliche Kritik am Versuch des BGH, die Vermeidbarkeit des Erfolgs durch eine streng empirische Untersuchung der hypothetischen Reaktion des Dritten festzustellen, ist im Kern berechtigt. Aufgrund der Formbarkeit der Kausalitätshypothese gerät die streng empirische Feststellung der Vermeidbarkeit zum bloßen Etikett, die Empirie der Kausalitätsfeststellung auf Grundlage der Vermeidbarkeitstheorie ist nur eine scheinbare. Tatsächlich lässt sich aufgrund der fehlenden Rückführbarkeit der empirischen Beweiserhebung auf eine gesicherte Tatsachenbasis die Zurechnungsfrage ohne Rückbezug auf normative Kriterien beliebig entscheiden. Eine vorhersehbare und überprüfbare Lösung des Zurechnungsproblems ist durch die unbesehene Anwendung der Vermeidbarkeitstheorie nicht möglich. Auch die in der Literatur monierte Möglichkeit der Entlastung des Erstgaranten unter Hinweis auf eine hypothetische Pflichtverletzung durch den Dritten ist normativ, kriminalpolitisch und strafrechtstheoretisch widersinnig. Allein durch eine argumentativ überzeugende Kritik an der Lösung des BGH ist jedoch eine systemgerechte Alternativlösung noch nicht gefunden. Die Analyse der alternativen Zurechnungslösungen ergab, dass die etwa von Puppe, Kahlo und Roxin unterbreiteten Lösungsvorschläge mit den hier entwickelten Kriterien einer systemgerechten Zurechnung nicht vereinbar sind. Die Unterlas-

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C. Diskussion in Literatur und Rechtsprechung

sungszurechnung wird nach der hier vertretenen Auffassung durch eine im Kern empirische Vermeidbarkeitsprüfung vermittelt. Lösungen, die sich über den Befund dieser an tatsächlichen Anhaltspunkten orientierten Prüfung durch Vermutung, Fiktion oder Ausblendung empirischer Gegebenheiten hinwegsetzen, führen demnach zu einer entgrenzend normativierenden Interpretation des Zurechnungszusammenhangs bei den Verletzungsdelikten und verwischen so die gesetzlich angelegten strukturellen Unterschiede zwischen Verletzungs- und Gefährdungsdelikten. Lehnt man mit der hier vertretenen Auffassung die Berücksichtigung des erst ex post erkennbaren Ausmaßes der Rechtsgutsverletzungen bei der Gewichtung der „Anhaltspunkte“ gegen eine hypothetische Pflichtverfüllung des Dritten ab, so kann auch der von Greco unterbreitete beweisrechtliche Lösungsvorschlag die Schwächen der Lösung des BGH nicht beseitigen. Die differenzierenden Ansätze von Bosch, Kudlich und Altenhain wiederum erscheinen noch nicht hinreichend ausgearbeitet, sodass es an einer systemgerechten, die Schwächen der streng empirischen Vermeidbarkeitsbetrachtung des BGH überwindenden Zurechnungslösung fehlt. Bei dem in Teil D. folgenden Versuch der Entwicklung einer solchen Lösung gilt es, die überzeugenden Argumente gegen die Lösung der Rechtsprechung in ein systemgerechtes Zurechnungsmodell einfließen zu lassen. Ein solches Modell muss um Ausgleich bemüht sein zwischen sich in den einzelnen Teilen dieser Untersuchung deutlich gegenübertretenden Antagonismen: Bereits im wissenschaftstheoretischen Teil dieser Untersuchung traten Alternativkonzepte wie das intentionalistische Kausalitätskonzept van Wrights den herrschenden naturgesetzlich-deduktiven Kausalitätsmodellen gegenüber, wo diese in Begründungsnöte gerieten. In der Frage der Existenz einer Unterlassungskausalität und in der kontroversen Diskussion um die Legitimation der Risikoverminderungslehre setzte sich dieser Grundkonflikt im rechtswissenschaftlichen Kontext fort – hier stehen sich ontologisch und normativ orientierte Autoren gegenüber. Schließlich wird auch das Zurechnungsproblem bei drittvermittelten Rettungsgeschehen teilweise als streng empirisches begriffen und unter Verweis auf den Zweifelsgrundsatz gelöst, von anderen wiederum in einen normativen Kontext gestellt, aus dem Anwendungsbereich des Zweifelsgrundsatzes herausgenommen und normativ-ergebnisorientiert durch Rechtsfiktion gelöst. Die Grundstruktur dieser Ausgleichsbemühungen wird darin bestehen, den empirischen Kern der Vermeidbarkeitsbetrachtung zu wahren, die defizitäre Beweisgrundlage aber um Kriterien normativer Verantwortungszuschreibung zu ergänzen.

D. Entwicklung eines eigenen Zurechnungsmodells In Teil D. werden zunächst kurz in ähnlichen Kontexten diskutierte dogmatische Figuren auf ihre Relevanz für die Lösung des hier untersuchten Zurechnungsproblems hin überprüft. Anschließend wird – aufbauend auf den Erkenntnissen der Problemanalyse in Teil C. – ein eigenes Zurechnungsmodell entwickelt.

I. Versuch der Lösung über bekannte dogmatische Figuren Die Zurechnungslehre ist im Strafrecht von grundlegender Bedeutung. Die vorschnelle Entwicklung immer neuer, auf das jeweilige Problem maßgeschneiderter Zurechnungsmodelle würde zu einer Zersplitterung der Zurechnungsmodalitäten führen, die einer homogenen Erfolgszurechnung abträglich wäre.1 Der Entwicklung eines neuen Zurechnungsmodells vorgeschaltet werden daher bekannte dogmatische Figuren auf mögliche Erkenntnisse zur Lösung des Zurechnungsproblems hin untersucht. Um die potenziell einschlägigen Rechtsinstitute zu ermitteln, sei das Zurechnungsproblem nochmals kurz skizziert: Zwei garantenpflichtige Personen bleiben nacheinander untätig, woraufhin der tatbestandliche Erfolg eintritt. Da der nachgeschaltete Garant nicht vollumfänglich über die Gefahrenquelle informiert wurde und in der Vergangenheit durch Pflichtverletzungen und Nachlässigkeiten aufgefallen war, bleibt es unklar, ob der Erstgarant durch pflichtgemäße Information des nachgeschalteten Garanten den Erfolg hätte abwenden können. So haftet der nachgeschaltete Garant nicht, weil er von der konkret drohenden Gefahr keine ausreichende Kenntnis hatte, während der Erstgarant sich auf die hypothetische Pflichtverletzung des nachgeschalteten Garanten berufen und sich so exkulpieren kann. Zur Lösung dieses Zurechnungsproblems könnte zum einen ein Verständnis der Konstellation als Fall alternativer Kausalität und eine hiermit verbundene Modifikation der Conditio-Formel beitragen. Zum anderen kommt eine wechselseitige Zurechnung der Unterlassungen über die Rechtsfigur der fahrlässigen Mittäterschaft in Betracht.

1 So gibt auch Greco, ZIS 2011, 674 (679) zu bedenken, „[. . .] dass die Kausalitätslehre im Strafrecht eine derart fundamentale Rolle spielt, dass man erst bei äußerster Dringlichkeit grundlegende Änderungen an ihr vornehmen sollte“.

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D. Entwicklung eines eigenen Zurechnungsmodells

1. Lösung als Fall alternativer Kausalität In Fällen alternativer Kausalität sind mehrere Bedingungen im Erfolg wirksam geworden, die bereits jeweils für sich genommen ausgereicht hätten, um den Erfolg herbeizuführen. Während die Anhänger der Formel von der gesetzmäßigen Bedingung in diesen Fällen die Kausalität der alternativen Bedingungen bejahen können, wenn alle Bedingungen im Erfolg ihre naturgesetzliche Wirkung entfaltet haben2, sind die Rechtsprechung und ein Teil der Literatur zu einer Korrektur der Conditio-Formel gezwungen. Entfällt demnach bei kumulativem Hinwegdenken aller alternativer Bedingungen der Erfolg, so wird jede einzelne dieser Bedingungen als kausal für den Erfolg erklärt. So wird das widersinnige Ergebnis verhindert, dass bei überbedingten Erfolgen eine kausale Erklärung des Erfolgs scheitert.3 a) Fiktionslösungen als Konstruktion alternativer Kausalität In diesem Sinne ließe sich die vorliegende Konstellation auch als Fall alternativer Kausalität begreifen und lösen. So konstruieren Kahrs und Sofos mit ihrer Fiktion pflichtgemäßen Verhaltens des Dritten im Ergebnis einen Fall alternativer Kausalität, um einen Zurechnungszusammenhang zwischen der Unterlassung des Erstgaranten und dem Erfolgseintritt herzustellen. Sie gehen von der hypothetischen Pflichterfüllung des Erstgaranten aus, denken sich kumulativ kraft Rechtsfiktion die Pflichterfüllung des Dritten hinzu, konstatieren das Ausbleiben des Erfolgs bei dieser Betrachtung und bejahen so die Kausalität des Erstgaranten. Die modifizierte Conditio-Formel von Kahrs lautet: „Der Täter ist für den schädlichen Erfolg schon dann verantwortlich, wenn sein [. . .] pflichtgemäßes Verhalten sowie das dem Schutze Dritter dienende nachfolgend pflichtgemäße Verhalten aller dem Opfer verpflichteten Personen rechtlich zwingend nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der schädliche Erfolg vermieden worden wäre.“ 4

Die Vermutungslösungen nähern sich dieser Betrachtung mit ihrer Vermutung pflichtgemäßen Verhaltens des Dritten an. b) BGH: keine alternative Kausalität Während der BGH in Fällen von Gremienkausalität5 noch terminologisch vage von kumulativem Unterlassen spricht und mit seiner normativen Zurechnung der 2

Vgl. hierzu Roxin, AT I, 11/25. Vgl. zur Modifikation der Conditio-Formel bei alternativer Kausalität und der diesbezüglich geäußerten Kritik bereits oben S. 88 ff. 4 Kahrs, NStZ 2011, 14 (17). 5 Vgl. hierzu im Einzelnen bereits oben S. 144 ff. 3

I. Versuch der Lösung über bekannte dogmatische Figuren

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Modifikation in Fällen alternativer Kausalität jedenfalls im Ergebnis nahe kommt, konstruiert die Rechtsprechung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen gerade nicht kumulativ die hypothetische Pflichterfüllung des Erstgaranten sowie des Dritten, um so die Kausalität der Unterlassung des Erstgaranten begründen zu können. Vielmehr wird über die Frage der hypothetischen Pflichterfüllung des Dritten umfassend Beweis erhoben. Der BGH begreift die Konstellation damit nicht als Fall alternativer Kausalität. c) Eigene Ansicht: alternative Kausalität als Überbedingung bei identischer Erfolgswirksamkeit Zwar bestehen auf den ersten Blick Ähnlichkeiten zwischen den Fällen alternativer Kausalität bei den Begehungsdelikten und dem Zurechnungsproblem bei drittvermittelten Rettungsgeschehen. Jedoch offenbaren sich bei genauer Betrachtung wertungsrelevante Unterschiede zwischen beiden Konstellationen, die es nach der hier vertretenen Meinung unvertretbar erscheinen lassen, das vorliegende Zurechnungsproblem durch eine zurechnungsbegründende Modifikation der Kausalitätsprüfung zu lösen. Wollte man drittvermittelte Rettungsgeschehen als Anwendungsfall alternativer Kausalität beschreiben, so ließe sich – im Bemühen um Anschaulichkeit auf den Eissporthallen-Fall gemünzt – formulieren: Der Gutachter unterließ es, das Hallendach sorgfaltsgemäß zu untersuchen und auf die dort erkennbaren Mängel hinzuweisen. Die Baubehörde unterließ es, Sicherungsmaßnahmen zu ergreifen. Beide Unterlassungen waren für sich genommen geeignet, den Erfolg herbeizuführen, da nur im Zusammenspiel der pflichtgemäßen Reaktionen von Gutachter und Baubehörde der Erfolg vermeidbar war. Daher sind die beiden pflichtgemäßen Reaktionen kumulativ hinzuzudenken. In diesem Fall wäre der tatbestandliche Erfolg ausgeblieben – beide Unterlassungen waren mithin kausal für den Erfolg. Um aufzuzeigen, dass ein solches Verständnis des Zurechnungsproblems als Konstellation alternativer Kausalität fehlgeht, sei im Folgenden zwischen zwei Konstellationen unterschieden: zwischen der hier primär untersuchten Konstellation, in der der Dritte mangels Information durch den Erstgaranten gar nicht die Gelegenheit erhält, erfolgsabwendend tätig zu werden und der Konstellation, in der der Dritte aufgrund unzureichender Information durch den Erstgaranten oder durch andere Umstände von der Gefahr erfährt und dennoch nicht handelt. Besinnt man sich auf den Zweck der Modifizierung der Conditio-Formel bei alternativer Kausalität zurück, so wird deutlich, dass eine solche Modifizierung das Zurechnungsproblem in erstgenannter Konstellation nicht sachgerecht zu lösen vermag. Die Modifizierung soll die durch einen formellen Defekt bedingte, widersinnige Kapitulation der Conditio-Formel bei überbedingten Erfolgen korrigieren. In Fällen alternativer Kausalität sind die alternativen Bedingungen jeweils

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D. Entwicklung eines eigenen Zurechnungsmodells

identisch erfolgswirksam, d.h. sie sind in ihrer unmittelbaren Wirkung auf das Tatobjekt beliebig gegeneinander austauschbar. Deshalb lässt das „Hinwegdenken“ der einzelnen Bedingungen den Erfolg nicht entfallen. Die von zwei unabhängig voneinander handelnden Tätern in ein Getränk gemischten, jeweils für sich genommen tödlichen Giftdosen6 sind in ihrer unmittelbaren Wirkung auf das Opfer beliebig gegeneinander austauschbar, weshalb die Conditio-Formel mit ihrer „Hinwegdenk-Methode“ scheitert – aufgrund der durch den jeweils anderen Täter gesetzten Bedingung bleibt der Erfolg bestehen. Gleiches gilt für den Fall der Abstimmung eines dreiköpfigen Gremiums mit drei Ja-Stimmen, bei der bereits eine Ja-Stimme zur Annahme des rechtswidrigen Beschlusses ausgereicht hätte. Die hier untersuchte Konstellation unterscheidet sich nun wesentlich von diesen Fällen. Fällt nämlich vorliegend eine der vermeintlich alternativen Bedingungen weg, so ist die Erfolgsverursachung durch die jeweils andere vermeintlich alternative Bedingung keineswegs sicher. Denkt man sich zur Ermittlung der Quasi-Kausalität nach der Conditio-Formel die pflichtgemäße Handlung des Erstgaranten hinzu, so entsteht – anders als bei den gerade gebildeten Beispielsfällen alternativer Kausalität – gerade kein widersinniges und korrekturbedürftiges Ergebnis. Es bleibt schlicht unklar, ob der Erfolg gleichermaßen eingetreten wäre, oder ob der Dritte den Erfolg abgewendet hätte. Anhand dieses Vergleichs wird deutlich, dass es in der hier untersuchten Konstellation an einer Legitimationsbedingung für die Korrektur der Conditio-Formel fehlt: Es handelt sich nicht um gleichwertig unmittelbar erfolgswirksame Bedingungen, die sich bei der kausalen Erklärung des Erfolgseintritts gegenseitig blockieren. Vielmehr ist lediglich ein Anknüpfungspunkt für einen strafrechtlichen Vorwurf vorhanden. Nur das Unterlassen des Erstgaranten steht positiv fest. Zwar lässt sich behaupten, auch der Dritte hätte die Rettung unterlassen, in der hier untersuchten Konstellation ist dieses Unterlassen jedoch nicht strafrechtlich relevant, da der Dritte ohne Information über die Existenz des Gefahrenherds nicht erfolgsvermeidend tätig werden konnte. Seine Garantenpflicht wurde nicht aktualisiert.7 Eine tatsächlich verwirklichte und eine in ihrer strafrechtlichen Relevanz hypothetisch gebliebene Unterlassung sind nicht gleichwertig erfolgswirksam und für die Kausalbetrachtung nicht gegeneinander austauschbar. Eine Widersinnigkeit entsteht hier nicht aufgrund eines formellen Konstruktionsfehlers der Conditio-Formel wie in den Beispielsfällen der alternativen Kausalität, der durch ein ergebnisorientiertes kumulatives Hinwegdenken der Einzelbedingungen beseitigt werden könnte. Die 6

Vgl. bereits oben S. 97. In diesem Sinne stellt auch Greco, ZIS 2011, 674 (689) fest, dass in der vorliegend untersuchten Konstellation „der spätere ,Unterlassende‘ an sich nicht einmal die Gelegenheit hat, zu unterlassen, denn seine Handlungspflicht wäre erst dann entstanden, wenn der Erstunterlassende seine eigene Handlungspflicht erfüllt hätte“. Vgl. bereits Engisch (1931), 31. 7

I. Versuch der Lösung über bekannte dogmatische Figuren

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von einigen Autoren als solche empfundene Widersinnigkeit entsteht vielmehr aufgrund der materiellen Beweisschwierigkeiten hinsichtlich der hypothetischen Reaktion des Dritten und der damit drohenden Entlastung des Erstgaranten. Es wurde jedoch bereits dargelegt, dass diese drohende Entlastung für sich genommen nicht ausreicht, um die Kausalität des Erstgaranten kraft ergebnisorientierter Rechtsfiktion der Pflichterfüllung des Dritten zu begründen. Daher ist die erstgenannte Konstellation, die den Schwerpunkt dieser Untersuchung bildet, nicht mit der bei den Begehungsdelikten entwickelten Korrektur der Conditio-Formel bei alternativer Kausalität zu lösen. Aber auch in der zweiten Konstellation sollte nach der hier vertretenen Auffassung keine Ergebniskorrektur nach dem Vorbild der Modifizierung der ConditioFormel bei alternativer Kausalität vorgenommen werden. In dieser zweiten Konstellation liegen zwar zwei tatsächlich verwirklichte Unterlassungen vor, jedoch sind diese auch hier nicht gleichermaßen unmittelbar erfolgswirksam und daher für die Kausalitätsprüfung nicht gegeneinander austauschbar. Die Unterlassung des Dritten ist ohne Zweifel kausal für den Erfolg. Für die Kausalität des Erstgaranten jedoch kommt es wie bereits dargelegt8 entscheidend auf die Vermeidbarkeit des Erfolgs und damit auch auf die Frage an, wie der Dritte auf eine korrekte Information reagiert hätte. Die vollständige Information durch den Erstgaranten hätte zu einer anderen Entscheidungssituation geführt als derjenigen, in der sich der Dritte gegen ein Einschreiten entschieden hat.9 Daher steht der Bejahung der Kausalität des Erstgaranten wieder nicht nur ein formeller „Formel-Defekt“, sondern die Schwierigkeit der Beurteilung der Vermeidbarkeit bei Zwischenschaltung eines Dritten entgegen. Auch hier ist daher keine Ergebniskorrektur angezeigt, wie sie bei alternativer Kausalität mehrerer Begehungen geboten ist. d) Fazit: keine Lösung als Fall alternativer Kausalität Die zurechnungsbegründende Ergebniskorrektur bei alternativer Kausalität mehrerer Begehungen ist auf das hier untersuchte Zurechnungsproblem nicht übertragbar. Die vermeintliche Vergleichbarkeit der Konstellationen offenbart sich bei genauer Betrachtung als Trugschluss. Während bei alternativer Kausalität von Begehungen ein formeller Defekt der Conditio-Formel die kausale Erklärung überbedingter Erfolge unmöglich macht und daher die Kausalitätsprüfung einer Korrektur bedarf, fehlt es in allen hier untersuchten Konstellationen an zwei empirisch gleichwertig erfolgswirksamen und normativ vergleichbaren Unterlassungen. Hier handelt es sich nicht um ein konstruktives Problem, sondern 8

Vgl. oben S. 251 ff. Ähnlich Roxin, AT II, 31/64: Nach Roxin wäre bei pflichtgemäßem Gefahrenhinweis des Erstgaranten „nach normativen Maßstäben [. . .] eine neue Situation entstanden“. 9

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D. Entwicklung eines eigenen Zurechnungsmodells

um das materielle Problem der Erfolgszurechnung in Fällen, in denen aufgrund des Zusammenspiels mehrerer nacheinander geschalteter, teilweise hypothetisch gebliebener Pflichtverletzungen der Kausalitätsnachweis erschwert wird. Es wurde bereits aufgezeigt, dass dieses Problem mit zurechnungsbegründenden Fiktionen oder Vermutungen nicht lösbar ist. Ein Verständnis der Konstellation als Fall alternativer Kausalität und eine hiermit verbundene Modifikation der Conditio-Formel ist damit nicht zur Problemlösung geeignet. Im Übrigen kann auch die Formel von der gesetzmäßigen Bedingung, die in Fällen alternativer Kausalität der modifikationsbedürftigen Conditio-Formel überlegen ist, den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs bei drittvermittelten Rettungsgeschehen nicht erklären. Denn betrachtet man den Zurechnungszusammenhang als durch allgemeingültige Naturgesetze vermittelt, so lässt sich die Unterlassung des Erstgaranten aufgrund des dazwischengeschalteten freien Willens des Dritten nicht in einen solchen Zusammenhang bringen.10 So müssen auch Anhänger der Formel von der gesetzmäßigen Bedingung wie Roxin und Puppe zur Lösung des vorliegenden Zurechnungsproblems neue Wege gehen. 2. Zurechnung über die Figur der fahrlässigen Mittäterschaft Die Figur der fahrlässigen Mittäterschaft ist – bei wachsendem Zuspruch in letzter Zeit11 – bereits in ihrer Existenz umstritten. Die Rechtsprechung hat sie bislang nicht anerkannt. Ihre praktische Relevanz schöpft sie aus der Möglichkeit, mehrere fahrlässig handelnde Beteiligte zu einer Zurechnungseinheit zusammenzufassen, wo die Zurechnung zu den jeweils einzeln Handelnden gar nicht oder nur unter größeren konstruktiven Schwierigkeiten gelingen würde.12 So wird sie insbesondere in Fällen haftungsbegründend eingesetzt, in denen mehrere Täter sorgfaltspflichtwidrig handeln, die letztlich für den Erfolgseintritt maßgebliche Sorgfaltspflichtverletzung aber nicht identifiziert werden kann – so etwa bei Gremienentscheidungen, bei denen aufgrund einer Überbedingung des Abstimmungsergebnisses die Begründung der Kausalität der einzelnen Voten erschwert wird, sowie in dem vom schweizerischen Bundesgericht entschiedenen „Rolling-Stones-Fall“ 13 und ähnlich gelagerten Fällen14. 10 Vgl. nur Roxin, AT II, 31/64; vgl. auch Puppe, ZStW 92, 863 (906), sowie LK/ Walter, vor § 13 Rn. 74. 11 Vgl. die Nachweise bei Greco, ZIS 2011, 674 (687 Fn. 128, 132). 12 Vgl. Roxin, AT II, 25/239–241; MüKo/Joecks, § 25 Rn. 276. 13 Vgl. zu dieser Bezeichnung Puppe, GA 2004, 129: Zwei junge Männer hatten sich entschlossen, je einen Felsbrocken einen Abhang hinunter in den Fluss zu rollen, ohne sich vorher hinreichend zu vergewissern, dass sich unterhalb keine Personen aufhielten. Einer der Steine traf einen am Flussufer sitzenden Angler tödlich. Wer von den beiden Tätern den todbringenden Stein gerollt hatte, ließ sich nicht mehr feststellen. Zu diesem Fall auch Roxin, AT II, 25/240 f. 14 Vgl. die Beispiele aus der Rechtsprechung bei Weißer, JZ 1998, 230 (237 f.).

I. Versuch der Lösung über bekannte dogmatische Figuren

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Die Gegner der Rechtsfigur sprechen ihr diese zurechnungsbegründende Rechtsmacht ab: Nach Puppe setzt eine mittäterschaftliche Haftung die Kausalität jedes Tatbeitrags voraus. Die Figur der fahrlässigen Mittäterschaft könne daher keine Haftung begründen, wo die Kausalität aller Tatbeiträge nicht positiv festgestellt sei.15 Ihre Befürworter halten dagegen, dass es sich bei § 25 II StGB um eine Zurechnungsnorm handle, die die Reichweite der einzelnen Deliktstatbestände erweitere und so bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen den Nachweis der Kausalität jedes einzelnen Tatbeitrags obsolet mache.16 Spricht man der fahrlässigen Mittäterschaft das Potenzial ab, einzelne Tatbeiträge zu Zurechnungseinheiten zusammenzufassen, wo die Zurechnung zu den einzelnen Tatbeiträgen nicht gelingt, so stellt man die Legitimation der Rechtsfigur insgesamt infrage – gerade hierin liegt der rechtsdogmatische „Nutzen“ der fahrlässigen Mittäterschaft, ohne dieses Potenzial wäre die Rechtsfigur gegenstandslos. Für die hier interessierende Zurechnungsfrage ist dieses Legitimationsproblem aber erst dann relevant, wenn festgestellt ist, dass die Figur der fahrlässigen Mittäterschaft zur Lösung des Zurechnungsproblems bei drittvermittelten Rettungsgeschehen beitragen kann. Daher wird im Folgenden mit der sich im Vordringen befindenden Ansicht davon ausgegangen, dass die Rechtsfigur der fahrlässigen Mittäterschaft eine Zurechnung gerade in Fällen begründen kann, in denen die Zurechnung zu den einzelnen Tatbeteiligten für sich genommen nicht gelingt. Ließe sich in diesem Sinne das Verhalten von Erstgarant und Drittem zu einer Zurechnungseinheit zusammenfassen, so wäre die strafrechtliche Haftung des Erstgaranten unabhängig von den Unsicherheiten hinsichtlich der hypothetischen Vermeidbarkeit des Erfolgs begründbar. Erneut17 wird unterschieden zwischen den Konstellationen der völligen Unkenntnis sowie der teilweisen Kenntnis des Dritten von der Gefahrenquelle. a) Keine Verletzung einer Handlungspflicht bei fehlender Information des Dritten Zunächst zu ersterer Konstellation: Lässt sich eine fahrlässige Mittäterschaft zwischen dem Erstgaranten und dem Dritten konstruieren, wenn der Dritte aufgrund der gänzlich unterbliebenen Information durch den Erstgaranten von der

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Puppe, GA 2004, 129 (136 f.); dies., JR 1992, 30 (32). Vgl. etwa Renzikowski, FS Otto, 423 (428); kritisch hierzu NK/Puppe, vor §§ 13 ff. Rn. 93; wie Renzikowski auch Greco, ZIS 2011, 674 (687) sowie Roxin, AT II, 25/241. 17 Oben S. 261. 16

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D. Entwicklung eines eigenen Zurechnungsmodells

Existenz der Gefahrenquelle keinerlei Kenntnis hatte? Diese Konstellation liegt etwa dem Blutbank-Fall18 zugrunde: Die stellvertretende Direktorin hatte es unterlassen, die zuständige Aufsichtsbehörde von den Hygienemängeln in der Blutbank zu unterrichten. Da die Aufsichtsbehörde auch nicht durch andere Informationsquellen – etwa in Folge eigener Betriebsprüfungen – auf die Missstände aufmerksam geworden war, lagen den Mitarbeitern der Aufsichtsbehörde keinerlei Informationen über diese Missstände vor. Fraglich ist, ob sich hier eine fahrlässige Mittäterschaft zwischen der Klinikdirektorin und den zuständigen Mitarbeitern der Aufsichtsbehörde konstruieren lässt, sodass die Zweifel an einer effektiven Gefahrenabwehr durch die Aufsichtsbehörde einer strafrechtlichen Haftung der Klinikdirektorin nicht mehr im Wege stehen. Greco spricht sich mit guten Argumenten gegen die Konstruktion einer fahrlässig mittäterschaftlichen Haftung in diesen Fällen aus. Bei gänzlich unterbliebener Information des Dritten habe dieser gar nicht die Möglichkeit, gefahrneutralisierend einzugreifen. Vielmehr wäre seine Handlungspflicht erst entstanden, wenn der Erstgarant seinerseits pflichtgemäß gehandelt und den Dritten informiert hätte.19 Ohne eine solche Handlungspflicht fehle es aber an einem Anknüpfungspunkt für eine mittäterschaftliche Haftung: „[. . .] eine Mittäterschaft mit jemandem, dessen Tatbeitrag ein bloß hypothetischer ist, lässt sich nicht begründen.“ 20

Greco ist zuzustimmen. Dem aktiven Tatbeitrag bei den Begehungsdelikten entsprechend setzt eine (mit-)täterschaftliche Haftung bei den Unterlassungsdelikten die Verletzung einer im konkreten Fall aktualisierten Handlungspflicht i. S. v. § 13 I StGB voraus. Mangels Information durch den Erstgaranten konnte der Dritte in der hier untersuchten Konstellation nichts von der Existenz eines Gefahrenherdes wissen. Damit fehlt es an einer (mit-)täterschaftsbegründenden Verletzung einer im konkreten Fall aktualisierten Handlungspflicht i. S. v. § 13 I StGB. Die Untätigkeit des Dritten kann in diesem Fall weder alternativ kausale Erfolgsbedingung21 noch Anknüpfungspunkt einer mittäterschaftlichen Erfolgszurechnung sein.

18 Vgl. oben S. 138 ff. Auch im Lederspray-Fall hatten die Einzelhändler aufgrund des unterbliebenen Rückrufs durch die Unternehmensleitung des Herstellers keinerlei Kenntnis von der Gefahr, die von dem Produkt ausging (vgl. zu diesem Fall oben S. 136 ff.). 19 Ebenso im Kontext des Eissporthallen-Falls Puppe, JR 2010, 353 (356). Auch Ast, ZStW 124, 612 (651) spricht sich im Kontext des Eissporthallen-Falls gegen die Möglichkeit einer wechselseitigen Zurechnung über die Figur der fahrlässigen Mittäterschaft aus. 20 Greco, ZIS 2011, 674 (689). 21 Vgl. soeben S. 262.

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b) Keine identische Handlungspflicht bei Kenntnis des Dritten Zu untersuchen bleibt, ob in der zweiten Konstellation der zumindest teilweisen Kenntnis des Dritten von der Gefahrenquelle eine mittäterschaftliche Zurechnung in Betracht kommt. Im Eissporthallen-Fall etwa war die zuständige Baubehörde auch unabhängig von dem mangelhaften Gutachten durch vergangene Stellungnahmen und Gutachten über die generelle Sanierungsbedürftigkeit der Eissporthalle informiert.22 Da in diesen Fällen die Verletzung einer eigenen Handlungspflicht durch den Dritten im Raum steht, erscheint hier eine mittäterschaftliche Zurechnung nicht von vornherein ausgeschlossen. Über die materiellen Kriterien, die für eine fahrlässig mittäterschaftliche Zurechnung erfüllt sein müssen, herrscht unter den Befürwortern der Figur der fahrlässigen Mittäterschaft keineswegs Einigkeit. Unterschiedlich beurteilt wird insbesondere die Frage, ob objektive Kriterien wie die Verletzung einer gemeinsamen Sorgfalts- bzw. Handlungspflicht in arbeitsteiliger Organisation ausreichen, oder darüber hinaus ein subjektives Element zur Legitimation einer wechselseitigen Zurechnung erforderlich ist. In diesem Zusammenhang verfolgt Knauer einen extensiven Ansatz. Auf Grundlage der von Roxin begründeten Ausfüllung des Fahrlässigkeitstatbestands allein durch die Kriterien der objektiven Zurechnung23 identifiziert Knauer als alleinigen Legitimationsgrund der wechselseitigen Zurechnung die durch gemeinsames Handeln bewirkte, objektive Risikopotenzierung.24 Jeder Versuch, darüber hinaus ein subjektiv-solidarisierendes Element zwischen den Mittätern zu fordern, laufe auf eine übergebührliche Betonung des Handlungsunrechts gegenüber dem Erfolgsunrecht hinaus.25 Otto hingegen hält ein vom gemeinsamen Tatplan im Vorsatzbereich abgeleitetes, subjektiv-kommunikatives Element auch zur Begründung der fahrlässigen Mittäterschaft für erforderlich. Im Unterlassungsbereich der fahrlässigen Mittäterschaft fordert er eine konkludente oder ausdrückliche Vereinbarung der beteiligten Garanten, gefahrenabwendende Maßnahmen zu unterlassen.26 Der Verzicht auf ein solches tatsächliches Element und das damit verbundene alleinige Abstellen auf die arbeitsteilige Verantwortlichkeit mehrerer Personen führe zu einer rein normativen Begründung der fahrlässigen Mittäterschaft.27

22 23 24 25 26 27

Vgl. hierzu auch Stoffers, DS 2010, 260 (263). Vgl. hierzu Roxin, AT I, 11/49, 24/10. Knauer (2001), 195. Knauer (2001), 193–195. Otto, AT, 21/119 f. Otto, FS Spendel, 271 (283) sowie ders., AT, 21/119 f.

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D. Entwicklung eines eigenen Zurechnungsmodells

Ähnlich fordert Weißer das Bewusstsein der Täter, der gleichen Sorgfaltspflicht zu unterliegen, als subjektiv verbindendes Element.28 Schünemann spricht von einem gemeinsamen Handlungsprojekt29, Joecks von planvollem Zusammenarbeiten30. Nach der hier vertretenen Auffassung geht Knauer zu weit, wenn er den Schluss zieht: „Wo es einen subjektiven Tatbestand des fahrlässigen Deliktes nicht gibt, kann es auch kein subjektiv verbindendes Element geben.“31 Denn Otto und Weißer setzen gerade nicht das Bewusstsein der Pflichtwidrigkeit des eigenen Verhaltens voraus, sondern lediglich das Bewusstsein, gemeinsam mit anderen den identischen Sorgfaltsanforderungen zu unterliegen.32 Unbestritten richtig ist die Ausgangsposition Knauers, wonach das im Vorsatzbereich mittäterschaftsbegründende Erfordernis eines gemeinsamen Tatplans eine wechselseitige Zurechnung im Fahrlässigkeitsbereich nicht konstituieren kann.33 Insoweit herrscht unter allen Autoren Einigkeit.34 Besinnt man sich jedoch auf den gesetzlichen Anknüpfungspunkt für die Begründung der fahrlässigen Mittäterschaft in § 25 II StGB, so spricht vieles dafür, das für den Vorsatzbereich im Wortlaut der Norm klar zum Ausdruck gebrachte Erfordernis eines planmäßigen Vorgehens in die rudimentäre Mindestvoraussetzung des Bewusstseins einer arbeitsteilig zu erfüllenden Sorgfaltspflicht im Fahrlässigkeitsbereich einfließen zu lassen. Die rein faktische Kumulation fahrlässiger Taten in arbeitsteiliger Organisation reicht dann zur Begründung fahrlässiger Mittäterschaft nicht aus. Für die Frage allerdings, ob in der hier untersuchten Konstellation eine Zurechnung über die Figur der fahrlässigen Mittäterschaft in Betracht kommt, ist diese Auseinandersetzung nur mittelbar von Bedeutung. Nach der hier vertretenen Auffassung scheitert eine mittäterschaftliche Zurechnung bereits an einem objektiven Kriterium. Nach Weißer, Otto und Greco muss die Beteiligten zur Begründung einer fahrlässig mittäterschaftlichen Haftung die gleiche Sorgfaltspflicht treffen.35 Weißer argumentiert überzeugend, dass es sich nur dann um die gleiche Tat handelt und deshalb nur dann eine wechselseitige Zurechnung von Tatbeiträgen in Betracht kommt, wenn die Beteiligten für die Verletzung der gleichen Sorgfaltspflicht zur Rechenschaft gezogen werden können.

28

Weißer, JZ 1998, 230 (237). LK/Schünemann, § 25 Rn. 217. 30 MüKo/Joecks, § 25 Rn. 283. 31 Knauer (2001), 199. 32 Weißer, JZ 1998, 230 (237); Otto, AT, 21/117, 119. 33 Knauer (2001), 192. 34 Ebenso Otto, AT, 21/15; Weißer, JZ 1998, 230 (236). 35 Weißer, JZ 1998, 230 (236). Auch Otto, FS Spendel, 271 (282 ff.) legt seinen Ausführungen das Erfordernis einer identischen Sorgfaltspflicht zugrunde. Zustimmend auch Greco, ZIS 2011, 674 (688). 29

I. Versuch der Lösung über bekannte dogmatische Figuren

269

„Nur wenn es sich bei der verletzten Sorgfaltspflicht um eine von den Beteiligten in gleicher Weise und in gleichem Umfang zu erfüllende handelt, kann auch ihre Verletzung gemeinschaftlich erfolgen.“ 36

Nur so lässt sich die gleichstufige Verantwortlichkeit im Fahrlässigkeitsbereich konstruieren, die für die wechselseitige, mittäterschaftliche Zurechnung von Tatbeiträgen konstitutiv ist. Dieses Kriterium einer restriktiven Interpretation der fahrlässigen Mittäterschaft wäre insbesondere auch für das extensive, auf ein subjektives Verbindungselement verzichtende Konzept Knauers sachgerecht. Diesbezüglich bleibt Knauer jedoch unbestimmt. Er spricht lediglich von Grenzfällen, in denen „zeitlich wie qualitativ“ voneinander unabhängige Gefahrschaffungen nicht mehr einer mittäterschaftlichen Zurechnung unterliegen sollen.37 Wendet man das einschränkende Erfordernis einer gemeinsamen Sorgfaltspflicht nun auf die vorliegende Konstellation an, so müsste den Erstgaranten und den teilweise über die Gefahrenquelle informierten Dritten die gleiche Handlungspflicht treffen. Eine solche identische Handlungspflicht liegt jedoch in den hier untersuchten Fällen nicht vor. Die vom BGH entschiedenen Fälle zeichnen sich durch eine spezialisiert arbeitsteilige Struktur aus, in der dem Erstgaranten die Erkennung und Meldung der Gefahr oblag, während den Dritten die Pflicht traf, diese Information zu verwerten und konkrete Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zu ergreifen. Erstgarant und Dritter sind in ihrer Pflichterfüllung zeitlich nacheinander geschaltet, sie befinden sich auf verschiedenen Hierarchiestufen, teilweise leiten sich ihre Garantenstellungen darüber hinaus aus unterschiedlichen Rechtsgründen ab. Das Fehlen einer identischen Handlungspflicht bei drittvermittelten Rettungsgeschehen zeigt sich in der Fallstudie: Im Eissporthallen-Fall etwa beschränkte sich die Pflicht des Gutachters darauf, die Dachkonstruktion handnah zu untersuchen und die hierbei festgestellten Mängel an die Baubehörde zu melden. Die Baubehörde traf hingegen die Pflicht, eventuelle Gefahrenbefunde zu überprüfen und gegebenenfalls konkrete Maßnahmen zur Vermeidung von Gefahren für die Benutzer der Halle einzuleiten. Während sich die Garantenstellung des Gutachters allein aus vertraglicher Übernahme ergab, gründete sich die Garantenstellung der Baubehörde zusätzlich auf der Pflicht zur Überwachung der aus dem Betrieb der Eissporthalle ergebenden Gefahren für die Benutzer. Besonders deutlich wird das Fehlen einer identischen Handlungspflicht bei drittvermittelten Rettungsgeschehen in Kontrast zu den Fällen, in denen eine solche identische Handlungspflicht vorliegt.38 Werfen etwa zwei Einbrecher die zum Ausleuchten benutzten Streichhölzer jeweils achtlos zu Boden und verursachen 36 37 38

Weißer, JZ 1998, 230 (236). Knauer (2001), 199. Vgl. zu den hier skizzierten Fällen ausführlich Weißer, JZ 1998, 230 (237 f.).

270

D. Entwicklung eines eigenen Zurechnungsmodells

so einen Großbrand, so verletzten beide die gleichartige Sorgfaltspflicht. Ebenso verhalten sich im „Rolling-Stones-Fall“ beide Täter identisch sorgfaltswidrig, indem sie jeweils einen Felsbrocken ins Tal rollen lassen, ohne sich davon überzeugt zu haben, dass keine Passanten zu Schaden kommen können. In diesen Fällen lassen sich die Täter die identische Pflichtwidrigkeit zu Schulden kommen, vermittelt durch diese Verletzung ein und derselben Sorgfaltspflicht lässt sich eine fahrlässige Mittäterschaft begründen. Schließlich trifft auch im Lederspray-Fall die Mitglieder des Entscheidungsgremiums untereinander die identische Sorgfaltspflicht, angesichts der Berichte über Schadensfälle auf einen Produktrückruf hinzuwirken. Nur hinsichtlich dieser Entscheidung kommt eine mittäterschaftliche Haftung in Betracht. Die Frage hingegen, ob die nachgeschalteten Einzelhändler ihrerseits pflichtgemäß reagiert und das Produkt vom Markt genommen hätten, ist mangels identischer Handlungspflichten nicht durch eine wechselseitige mittäterschaftliche Zurechnung zwischen Unternehmensgremium und Einzelhändlern lösbar, sondern muss als Kausalitätsproblem betrachtet und gelöst werden. Ganz in diesem Sinne führt auch der BGH im Eissporthallen-Fall aus: „Die [. . .] Situation nacheinander erfolgter Unterlassungen ist nicht mit der auf gleicher Ebene angesiedelten Entscheidung von Kollektivorganen vergleichbar, nichts zu veranlassen [. . .]. Beschließen etwa die Geschäftsführer einer GmbH einstimmig, eine gebotene Handlung zu unterlassen, so liegt – nur – hinsichtlich dieser Entscheidung selbst mittäterschaftliches Handeln vor. [. . .] Die Frage, ob die so getroffene Kollegialentscheidung – das kollektive Unterlassen, die kollektive Pflichtwidrigkeit – für den Erfolg kausal war, beantwortet sich auch dann nach den Regeln der hypothetischen Kausalität [. . .].“ 39

Setzt man also für eine wechselseitige Zurechnung über die Figur der fahrlässigen Mittäterschaft objektiv einschränkend voraus, dass die Beteiligten die identische Sorgfaltspflicht treffen muss, so sind die Voraussetzungen der fahrlässigen Mittäterschaft auch in der hier untersuchten Konstellation der teilweisen Kenntnis des Dritten von der Gefahr nicht erfüllt, da den Erstgaranten und den Dritten zeitlich gestaffelte und inhaltlich verschiedene Handlungspflichten treffen. Missachten die Beteiligten aber unterschiedliche Handlungspflichten, so handelt es sich nicht um dieselbe Tat – eine Mittäterschaft scheidet aus. c) Fazit: keine Zurechnung über die Figur der fahrlässigen Mittäterschaft Eine die Nachweisprobleme hinsichtlich der Kausalität des Erstgaranten überwindende, wechselseitige mittäterschaftliche Zurechnung der Tatbeiträge von Erstgaranten und Drittem misslingt. In der Konstellation der fehlenden Kenntnis des Dritten von der Gefahrenquelle scheitert die Begründung einer fahrlässigen 39

BGH NJW 2010, 1087 (1091 Rn. 65).

II. Grundstruktur des Zurechnungsmodells

271

Mittäterschaft, da den Dritten schon keine (mit-)täterschaftsbegründende konkrete Handlungspflicht trifft. In der Konstellation der teilweisen Kenntnis des Dritten scheitert die Zusammenfassung von Erstgaranten und Drittem zu einer Zurechnungseinheit, weil die beiden Beteiligten unterschiedliche Handlungspflichten treffen. Es fehlt damit an einer gemeinsamen Tat. Nur eine durch Verzicht auf ein subjektiv verbindendes Element und durch Verzicht auf das Erfordernis einer identischen Handlungspflicht doppelt extensive Interpretation der Figur der fahrlässigen Mittäterschaft nach Knauer könnte diese zweite Konstellation erfassen. Unklar bleibt jedoch auch hier, inwieweit Knauer unter Hinweis auf „zeitliche und qualitative“ Unterschiede der Pflichterfüllung eine Zurechnung unter Umständen doch verneinen würde. Die Konstellation der Unkenntnis des Dritten lässt sich jedenfalls auch durch eine extensive Interpretation der fahrlässigen Mittäterschaft nicht erfassen. 3. Zusammenfassung des Erkenntnisstandes Teil C. dieser Untersuchung hat gezeigt, dass weder die Anwendung der Conditio-Formel und der Versuch eines streng empirischen Zugriffs auf das Problem durch die Rechtsprechung, noch die Anwendung der Formel von der gesetzmäßigen Bedingung, noch eine ergebnisorientierte Normativierung der Erfolgszurechnung das Zurechnungsproblem zufriedenstellend lösen können. Die fehlende „Gleichschaltung“ der Unterlassung des Erstgaranten und der meist hypothetisch gebliebenen Unterlassung des Dritten verhindert zudem eine Lösung des Zurechnungsproblems als Fall alternativer Kausalität. Aus dem gleichen Grund misslingt auch eine Überwindung des Problems über die umstrittene Figur der fahrlässigen Mittäterschaft. Trotz der Bedenken gegen eine „Zersplitterung“ der Zurechnungsdogmatik ist damit die Entwicklung eines eigenständigen Zurechnungsmodells für die hier untersuchte Konstellation alternativlos.

II. Grundstruktur des Zurechnungsmodells Zunächst wird auf Grundlage der bisherigen Ergebnisse der Untersuchung die Grundstruktur dieses Zurechnungsmodells erarbeitet. Es gilt zu klären, ob der Erstgarant durch die unterlassene Information des Dritten den Erfolg kausal und objektiv zurechenbar verursacht hat. Das in Auseinandersetzung mit den Lösungen von Rechtsprechung und Literatur formulierte Ziel dieses Zurechnungsmodells ist es, trotz der Unsicherheiten hinsichtlich der hypothetischen Reaktion des Dritten eine rechtssichere Zurechnung zu ermöglichen, ohne die empirischen Gegebenheiten in einem ausschließlich normativen Prüfungsverfahren auszublenden.

272

D. Entwicklung eines eigenen Zurechnungsmodells

1. Ineinandergreifen von empirischer Betrachtung und normativer Zurechnung Eine erste Annäherung an die Grundstruktur gelingt anhand zweier zentraler Erkenntnisse dieser Arbeit: Einerseits scheitert der Versuch der Rechtsprechung, das Zurechnungsproblem durch einen streng empirischen Zugriff zu lösen. Andererseits sind den Modalitäten einer alternativen Zurechnungslösung durch die gesetzessystematische Unterscheidung von Verletzungs- und Gefährdungsdelikten Grenzen gesetzt. Ein alternatives, die von der Rechtsprechungslösung gewahrte Homogenität der Zurechnungsmodalitäten auflösendes Zurechnungsmodell lässt sich nur rechtfertigen, wenn es die Schwächen der Rechtsprechungslösung beseitigen kann. Das zentrale Problem der Zurechnungslösung des BGH wurde im Rahmen dieser Untersuchung aufgezeigt, es wurde stichwortartig als „beweisrechtliches Legitimationsdefizit“ bezeichnet. Stellt man auf die empirisch zu beurteilende Vermeidbarkeit des Erfolgs für den Erstgaranten und damit auf die Frage ab, wie der Dritte auf einen pflichtgemäßen Warnhinweis reagiert hätte, so lässt sich diese Vermeidbarkeit nicht in einem vorhersehbaren Beweiserhebungsverfahren beurteilen. Für die Reaktion des Dritten lassen sich keine allgemeingültigen Gesetze aufstellen. Die Befragung des Dritten hinsichtlich seiner hypothetischen Reaktion auf einen Warnhinweis ist sinnlos. Damit fehlt der Vermeidbarkeitshypothese ein empirisch tragfähiges Fundament. Auf allen drei Ebenen dieser Kausalitätshypothese ist die Bewertung der für oder gegen eine pflichtgemäße Reaktion des Dritten sprechenden Anhaltspunkte der richterlichen Intuition anheimgestellt. Dies führt zu wiederkehrenden Bewertungsdiskrepanzen in der Tatsachen- und Revisionsinstanz und ist der Vorhersehbarkeit der strafgerichtlichen Zurechnung in der hier untersuchten Konstellation abträglich. Um dieses beweisrechtliche Legitimationsdefizit auszugleichen, belässt das Strafgesetzbuch dem Rechtsanwender einen Lösungsspielraum. Es gibt keinen gesetzlich vorgeschriebenen Modus der Kausalitätsfeststellung. Der in Literatur und Rechtsprechung entwickelte empirische Ansatz bewährt sich bei den Begehungsdelikten, er vermag jedoch die hier diskutierte Konstellation psychisch vermittelter Unterlassungskausalität nicht zufriedenstellend zu lösen. Nun hat insbesondere die wissenschaftstheoretische Untersuchung gezeigt, dass kein Modus der Kausalitätsfeststellung alternativlos ist. Die zentrale Erkenntnis dieser Untersuchung lautet, dass das Kausalitätsproblem ein vielschichtiges, kontextabhängiges Problem ist, wobei für die unterschiedlichen Fragestellungen unterschiedliche Modi der Kausalitätsfeststellung geeignet sind. Auch in der wissenschaftstheoretischen Diskussion stellt sich die Frage, wie eine kausale Erklärung von Ereignissen jenseits gesetzmäßiger Zusammenhänge gelingen kann. Das aktionistische Kausalitätskonzept van Wrights erweitert hier die gängigen deduktiv-nomologischen Verfahren: Van Wright schreibt unserer Vorstellung

II. Grundstruktur des Zurechnungsmodells

273

von Handlungen für die kausale Erklärung von Ereignissen eine entscheidende Rolle zu. So zeigt ein Blick auf die Kausaltheorie van Wrights, dass zur Lösung von Spezialproblemen ein Blick über die gängige, durch Gesetzmäßigkeiten vermittelte Kausalitätsprüfung hinaus lohnend sein kann. Für die Strafrechtswissenschaft plädiert etwa Renzikowski für eine Abkehr von der gängigen Kausalitätsprüfung, wenn sie in bestimmten Fällen keine sachgerechten Ergebnisse ermöglicht: „Fraglich ist [. . .], ob das Strafrecht aus vorrechtlichen Gründen auf einen bestimmten Kausalitätsbegriff festgelegt ist, wie es die Anhänger der Äquivalenztheorie suggerieren. Schon angesichts der Vielzahl der in Naturwissenschaft und Philosophie konkurrierenden Kausalitätsbegriffe ist das nur schwerlich vorstellbar. Entscheidend ist, ob eine mögliche Definition von Kausalität besser in der Lage ist, zur Lösung des Rechtsproblems beizutragen [. . .].“ 40

Blickt man sich in der (Straf-)Rechtswissenschaft nach Alternativen zu einem streng empirischen Zugriff um, so liegt eine normative Perspektive nahe: Das Defizit an empirischem Beweismaterial legitimiert den Versuch, die empirische Kausalitätshypothese mit Kriterien normativer Verantwortungszuschreibung zu stützen. Der Umfang, in dem normative Wertungen in Zurechnungsfragen berücksichtigt werden können, ist jedoch begrenzt. Die Untersuchung hat gezeigt, dass jede wissenschaftliche Teildisziplin Prämissen formuliert und so einen Bezugsrahmen absteckt, innerhalb dessen das vielschichtige Kausalitätsproblem erst fassbar wird. Das geschieht im Strafrecht durch die systematischen Vorgaben des Strafgesetzbuchs. Das Gesetz gibt dem Rechtsanwender keinen bestimmten Modus der Kausalitätsfeststellung vor, wohl aber unterscheidet das Strafgesetzbuch deliktisches Verhalten, das mit einem tatsächlich eingetretenen Verletzungserfolg in einen Zurechnungszusammenhang gebracht werden kann, von bloßen Gefährdungssachverhalten. Für den Zurechnungszusammenhang wurde hieraus ein zentrales „Qualitätskriterium“ hergeleitet, das erfüllt sein muss, um eine systemfremde Vermengung der Deliktskategorien der Verletzungsdelikte und der Gefährdungsdelikte zu verhindern: Um die Zurechnungsstruktur der Verletzungsdelikte zu wahren, muss eine empirische Vermeidbarkeitsbetrachtung das Kernstück der Unterlassungszurechnung bilden. Daher sind Lösungsversuche abzulehnen, die auf tatsächlichen Anhaltspunkten beruhende Zweifel an einer pflichtgemäßen Reaktion des Dritten ausblenden und so die Vermeidbarkeitsprüfung durch eine normative Vermutung ersetzen. Aus diesen Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen einer Normativierung der Erfolgszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen lässt sich die Struktur des Zurechnungsmodells in einer ersten Annäherung wie folgt be40

Renzikowski, GA 2007, 561 (574).

274

D. Entwicklung eines eigenen Zurechnungsmodells

schreiben: Kriterien normativer Verantwortungszuschreibung sind grundsätzlich geeignet, die empirische Beweiserhebung zu stützen und die Hypothesenbildung der Rechtsprechung in berechenbarere Bahnen zu lenken. Hierbei kann auf eine empirische Vermeidbarkeitsbetrachtung aber nicht verzichtet werden. Nur in einem Ineinandergreifen von empirischer Untersuchung und normativer Zurechnung lässt sich eine systemgerechte und gleichzeitig rechtssichere Lösung des Zurechnungsproblems erreichen. 2. Normative Verantwortungszuschreibung und ihre empirische Überprüfung Diese erste Annäherung bedarf einer Präzisierung. Es gilt zu klären, wie dieses Ineinandergreifen von normativen Wertungen und empirischen Betrachtungen auszugestalten ist, in welchem Verhältnis die beiden Elemente der Unterlassungszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen zueinander stehen. Ein Blick auf die Erfolgszurechnung in ihrer „Grundform“ – bei den vorsätzlichen Begehungsdelikten – offenbart auch dort ein Ineinandergreifen von empirischer Kausalitätsbetrachtung und normativer Zurechnungsentscheidung. Hierbei erfüllen beide Elemente eine arbeitsteilige Funktion. Die durch gesetzmäßige Zusammenhänge vermittelte Kausalitätsbetrachtung zieht einen empirischen Rahmen naturwissenschaftlich kausal relevanter Bedingungen. Im Zuge der objektiven Zurechnung im engeren Sinn erfolgt eine Konzentration des strafrechtlichen Fokus auf normativ relevante Verursachungsbeiträge – herausgefiltert werden rechtswidrige Risikoschaffungen, die sich im Erfolg niedergeschlagen haben. In der vorliegenden Konstellation ist die arbeitsteilige Funktionszuschreibung eine andere. Der soeben entworfenen Grundstruktur folgend soll eine normative Verantwortungszuschreibung die Grundlage für eine vorhersehbare Zurechnung bilden. Eine empirische Vermeidbarkeitsbetrachtung soll sicherstellen, dass die Zurechnungsentscheidung nicht in systemfremder Unabhängigkeit von dem zwar defizitären, aber doch vorhandenen empirischen Material getroffen wird. Sie erfüllt die Funktion des zurechnungsausschließenden „letzten Worts“, wenn der Erfolg faktisch nicht vermeidbar war. Um diese Funktionsteilung effektiv zur Geltung zu bringen, lässt sich die Zurechnungsstruktur wie folgt konkretisieren: Grundlage der Erfolgszurechnung bildet eine normative Verantwortungszuschreibung – es gilt anhand normativer Zurechnungskriterien zu entscheiden, ob das gefahrbegründende Geschehen dem Erstgaranten zugeordnet werden kann. Bei dieser normativen Entscheidung bleiben empirische Zweifel an der hypothetischen Pflichterfüllung außer Betracht. Diese werden in der hierauf folgenden empirischen Vermeidbarkeitsprüfung berücksichtigt. Die beiden Prüfungsschritte kontrollieren und konkretisieren sich wechselseitig. Einerseits schafft die normative Verantwortungszuschreibung eine breitere Entscheidungsgrundlage für die Vermeidbarkeitsprüfung. Gestützt durch

II. Grundstruktur des Zurechnungsmodells

275

diesen normativen Befund kann versucht werden, die Vermeidbarkeitsprüfung von jenen weitreichenden hypothetischen Konstruktionen zu befreien, die zu der im Rahmen dieser Untersuchung aufgezeigten Rechtsunsicherheit führen. Andererseits bleibt die empirische Vermeidbarkeitsprüfung der entscheidende Zurechnungsschritt und ermöglicht eine effektive Kontrolle der normativen Verantwortungszuschreibung. Anders als bei den umfassend normativierenden Lösungen von Teilen der Literatur finden Zweifel an der Vermeidbarkeit in diesem zweiten Zurechnungsschritt ihre Berücksichtigung. Sprechen die tatsächlichen Verhältnisse klar für oder gegen die Vermeidbarkeit, so wird eine systemfremde Zurechnung über diese Gegebenheiten hinweg ausgeschlossen. So ergibt sich eine „Umkehrung“ der Grundstruktur der Erfolgszurechnung in der hier untersuchten Konstellation psychisch vermittelter Unterlassungskausalität im Fahrlässigkeitsbereich. Grundlage der Zurechnungsentscheidung bildet eine normative Verantwortungszuschreibung, die die empirische Vermeidbarkeitsprüfung in einen normativen Kontext einfügt und so das beweisrechtliche Legitimationsdefizit der Rechtsprechungslösung behebt. Hieran anschließend erfolgt die empirische Vermeidbarkeitsprüfung, um eine systemgerechte Zurechnungsentscheidung zu garantieren. 3. Gefahrendiagnose als Verantwortungsbereich des Erstgaranten Soeben wurde das Verhältnis geklärt, in dem die normative Verantwortungszuschreibung und die empirische Vermeidbarkeitsprüfung zueinander stehen. Entscheidend ist nun, wie die normative Verantwortungszuschreibung erfolgen soll. Anhand welcher Kriterien lässt sich entscheiden, ob den Erstgaranten bei normativer Betrachtung die maßgebliche Verantwortung für den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs trifft? Eine erste Orientierung bietet ein Blick auf eine andere Konstellation der Zuordnung normativer Verantwortlichkeit bei mehreren Beteiligten: Das Problem der Risikoverwirklichung bei dritt- bzw. opfervermittelten Kausalverläufen im Bereich der Begehungsdelikte. Angesprochen sind Fälle, in denen der Täter aktiv eine Gefahr begründet, der konkrete tatbestandliche Erfolg jedoch erst vermittelt durch selbstschädigendes Verhalten des Opfers oder das Dazwischentreten eines Dritten eintritt. Als gängiges Beispiel sollen diejenigen Fälle dienen, in denen das vom Ersttäter verletzte Opfer erst aufgrund ärztlichen Fehlverhaltens zu Tode kommt. In diesen Fällen lässt sich im Zuge einer normativen Verantwortungszuschreibung fragen, ob sich im Erfolg noch das ursprünglich vom Ersttäter gesetzte Risiko verwirklicht oder der Zweittäter bzw. das Opfer zurechnungsunterbrechend einen neuen, andersartigen Risikoverlauf begründet.41 41 Vgl. zu diesem Problem näher Roxin, AT I, 11/137–144; S/S/Lenckner/Eisele, vor § 13 Rn. 100 ff.

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D. Entwicklung eines eigenen Zurechnungsmodells

Diese Analyse der von Ersttäter und Zweittäter begründeten Risiken ist vorliegend nicht zur Verantwortungszuschreibung geeignet, da das Fehlverhalten des Dritten zumeist hypothetisch bleibt – tatsächlich begründet wurde nur das Risiko, das mit der Unterlassung des Erstgaranten verbunden ist. Erfolg verspricht es in dieser Konstellation, die Verantwortungszuschreibung nicht mit Blick auf die tatsächliche Risikoschaffung vorzunehmen, sondern durch eine Analyse der Verteilung der Handlungspflichten von Erstgarant und Drittem. Begünstigt wird ein solches Vorgehen durch eine Besonderheit in der Aufteilung der Handlungspflichten bei drittvermittelten Rettungsgeschehen. Erstgarant und Dritten treffen keine identischen Pflichten, vielmehr ist die Pflichtenkonstellation eine arbeitsteilige: Dem Erstgaranten obliegt die Diagnose der Gefahr und die Information des Dritten. Der Dritte wiederum muss die konkrete Gefahrenlage analysieren und effektive Maßnahmen zur Gefahrenabwehr ergreifen.42 Eine an der Verteilung der Handlungspflichten orientierte Verantwortungszuschreibung kann hier erfolgen, indem man die arbeitsteilig strukturierten Verantwortungsbereiche von Erstgaranten und Drittem voneinander abgrenzt und untersucht, ob das im Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs mündende Geschehen eindeutig dem Verantwortungsbereich des Erstgaranten zugeordnet werden kann.43 Gelingt eine eindeutige Verantwortungszuschreibung, so bildet die normative Beherrschbarkeit des Kausalverlaufs44 für den Erstgaranten die Grundlage für die empirische Vermeidbarkeitsprüfung. Vereinfacht lässt sich dieser Gedanke wie folgt veranschaulichen: War die Gefahr schwer zu erkennen, aber leicht zu beheben, so kommt es für die effektive Abwehr der Gefahr entscheidend auf eine zutreffende Diagnose der Gefahr und Information des Dritten durch den Erstgaranten an – das gefahrbegründende Ge-

42 So traf den Stationsarzt im Abszess-Fall die Pflicht, den Entzündungsprozess zu diagnostizieren und den Oberarzt hiervon zu unterrichten, dieser hätte sodann eine geeignete Behandlung anordnen müssen. Im Lederspray-Fall musste sich die Unternehmensführung ein Bild von den Schadensfällen machen und die Einzelhändler zum Rückruf der Produkte auffordern, diese wären sodann gehalten gewesen, die Produkte tatsächlich vom Markt zu nehmen. Im Eissporthallen-Fall traf den Gutachter die Pflicht, das Gutachten sorgfältig auszuführen und auf Schäden hinzuweisen, woraufhin die Verantwortlichen in der Baubehörde geeignete Maßnahmen zur Verhinderung eines Einsturzes zu treffen hatten. 43 Auch Roxin, AT II, 31/64 sowie Stübinger, ZIS 2011, 602 (613, 615) messen der Abgrenzung von Verantwortungsbereichen Relevanz zur Lösung des Zurechnungsproblems bei. 44 Auch Arth. Kaufmann/Hassemer, JuS 1964, 151 (152) messen dem Kriterium der Beherrschbarkeit des Kausalverlaufs entscheidende Bedeutung für die Unterlassungszurechnung bei. Während Arth. Kaufmann/Hassemer die Beherrschbarkeit aber anhand naturgesetzlicher Regelmäßigkeiten errechnen wollen, wird der Begriff der Beherrschbarkeit hier normativ konzipiert, da er als normative Kategorie die empirische Vermeidbarkeitsprüfung stützen soll.

II. Grundstruktur des Zurechnungsmodells

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schehen liegt maßgeblich im Verantwortungsbereich des Erstgaranten, der Kausalverlauf steht unter dessen beherrschendem Einfluss. War hingegen das Problem bekannt, die Verarbeitung der Gefahrendiagnose zu effektiven Maßnahmen der Gefahrenabwehr hingegen kompliziert, so lässt sich eine normativ beherrschende Position des Erstgaranten nicht begründen. Für die Frage, wie eine normative Verantwortungszuschreibung mit Blick auf den Erstgaranten erfolgen kann, ergibt sich damit: Je wichtiger die Diagnose der Gefahr und die Information des Dritten für die Gefahrenabwehr waren und je bedeutender die Rolle des Erstgaranten in diesem Diagnose- und Informationsprozess war, desto eindeutiger lässt sich der Kausalverlauf dem Verantwortungsbereich des Erstgaranten zuordnen. Für diese Abgrenzung gilt es im Folgenden, möglichst präzise Kriterien zu entwickeln. Gelingt dies, so eröffnet sich eine Möglichkeit, die defizitäre Beweisgrundlage durch die normative Verantwortungszuschreibung zu stützen: Lag die Gefahrenabwehr maßgeblich in der Hand des Erstgaranten und beherrschte dieser damit bei normativer Betrachtung den Kausalverlauf, dann spricht bei normativer Betrachtung vieles für die Vermeidbarkeit des Erfolgs durch den Erstgaranten. Auf Grundlage dieses normativen Befunds kann die empirische Vermeidbarkeitshypothese auf unmittelbar tatrelevante Umstände konzentriert werden. Der normative Befund, dass der Erstgarant den Kausalverlauf beherrschte, macht über das unmittelbare Tatgeschehen hinausgehende hypothetische Konstruktionen obsolet. Das Ergebnis der Verantwortungszuschreibung bereinigt dann die empirische Vermeidbarkeitsprüfung von unvorhersehbaren Mutmaßungen über hypothetische Abläufe.

4. Zwischenergebnis Insgesamt ergibt sich folgende Grundstruktur des im Folgenden noch auszudifferenzierenden Zurechnungsmodells: Eine Lösung, die die Schwächen der Vermeidbarkeitstheorie überwinden will, ohne sich den systematischen Bedenken auszusetzen, die gegen die Mehrzahl der in der Literatur vorgebrachten Lösungsansätze zu Recht vorgebracht werden, muss eine empirische Betrachtung mit Überlegungen normativer Verantwortungszuschreibung verbinden. Nach dem hier entwickelten Modell ergibt sich aus einer Abgrenzung der Verantwortungsbereiche von Erstgarant und Drittem und aus einer hierauf aufbauenden Verantwortungszuschreibung eine normative These hinsichtlich der Verantwortlichkeit des Erstgaranten, die im Rahmen der hierauf folgenden empirischen Vermeidbarkeitsprüfung auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen ist. Im Ergebnis erfährt so das bei den Begehungsdelikten bewährte Zusammenspiel von empirischer Kausalitätsfeststellung und normativer Zurechnung für das hier untersuchte Zurechnungsproblem bei psychisch vermittelter, fahrlässiger Unterlassungskausalität eine Umkehrung.

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D. Entwicklung eines eigenen Zurechnungsmodells

III. Ausgestaltung des Zurechnungsmodells Die soeben entworfene Grundstruktur bedarf der Ausdifferenzierung in zweierlei Hinsicht. Für die zunächst vorzunehmende Verantwortungszuschreibung sind konkrete Entscheidungskriterien zu erarbeiten. Für die hierauf aufbauende empirische Vermeidbarkeitsprüfung muss das wechselbezügliche Verhältnis der beiden Prüfungsschritte – Stabilisierung der Vermeidbarkeitsprüfung durch die normative Verantwortungszuschreibung, Kontrollfunktion der Vermeidbarkeitsprüfung – näher ausgestaltet werden. 1. Kriterien der normativen Verantwortungszuschreibung Die normative Verantwortungszuschreibung erfolgt mit dem Ziel, das beweisrechtlich defizitäre Fundament der empirischen Vermeidbarkeitsprüfung zu festigen und so die Vermeidbarkeitshypothese der Rechtsprechung in vorhersehbarere Bahnen zu lenken. Können bei isoliert normativer Betrachtung die zur effektiven Abwehr der Gefahr entscheidenden Handlungspflichten dem Verantwortungsbereich des Erstgaranten zugeordnet werden, beherrschte dieser bei normativer Betrachtung den Kausalverlauf, so spricht bei normativer Betrachtung vieles für die Vermeidbarkeit des Erfolgs durch den Erstgaranten. Der Verantwortungsbereich des Erstgaranten erstreckt sich bei drittvermittelten Rettungsgeschehen auf die Diagnose der Gefahr und die Information des Dritten. Eine eindeutige Zuordnung zu diesem Verantwortungsbereich setzt daher voraus, dass die Effektivität der Gefahrenabwehr maßgeblich von der zutreffenden Diagnose der Gefahr und der zuverlässigen, sachlich richtigen Weitergabe dieser Informationen an den Dritten abhängt. Für diese Zuordnung werden im Folgenden Kriterien entwickelt. Auszurichten ist diese Entwicklung an zwei prägenden Charakteristika drittvermittelter Rettungsgeschehen: Es handelt sich um Fälle arbeitsteiliger Gefahrenabwehr, die mit der Information des Dritten durch den Erstgaranten ein Element psychisch vermittelter Kausalität beinhalten. Der Verteilung von Wissen und Information sowie den Organisationsstrukturen im Einzelfall wird daher besondere Bedeutung zukommen. a) Überlegenes Fachwissen Zunächst zur Handlungspflicht der Gefahrendiagnose: Erforderlich ist ein Kriterium zur Beschreibung von Fällen, in denen diese Diagnose die zur Gefahrenabwehr maßgebliche Handlungspflicht ist und daher eine eindeutige Zuordnung des Geschehens zum Verantwortungsbereich des Erstgaranten gelingt. Maßgebliche Bedeutung kommt der zutreffenden Diagnose der Gefahr in Fällen zu, in denen der Gefahrenherd nicht für jedermann ohne Weiteres erkennbar

III. Ausgestaltung des Zurechnungsmodells

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ist. In der Rechtswirklichkeit gehen Gefahren oft von komplexen, für den Laien nicht überschaubaren Gefahrenherden aus. Allen im Rahmen dieser Arbeit analysierten Fällen lag ein solcher komplexer Gefahrenherd zugrunde.45 Um trotz dieser Komplexität eine effektive Gefahrenüberwachung zu gewährleisten, wird in arbeitsteiliger Struktur ein Spezialist mit dem für die Gefahrerkennung nötigen Fachwissen eingesetzt. Mit dessen Fachwissen ist die faktische Kontrolle über den Gefahrenherd gleichsam akzessorisch verbunden. Kann sich der Dritte selbst mangels technischer Kenntnisse kein Bild von der Gefahrenlage machen, so sind ihm bei der Überwachung sprichwörtlich die Hände gebunden. In allen Fällen, in denen spezifisches Fachwissen zur Gefahrerkennung zwingend erforderlich ist, hängt damit die Gefahrenabwehr maßgeblich von der zutreffenden Diagnose der Gefahr ab. In Abgrenzung zum Verantwortungsbereich des Dritten liegt die zur Gefahrenabwehr maßgebliche Handlungspflicht dann eindeutig im Verantwortungsbereich des Erstgaranten, wenn dieser über überlegenes Fachwissen46 verfügt. Ist zur Gefahrerkennung spezifisches Fachwissen erforderlich und verfügt der Erstgarant gegenüber dem Dritten über überlegenes Fachwissen, so liegt die zur Gefahrenabwehr maßgebliche Handlungspflicht eindeutig im normativen Verantwortungsbereich des Erstgaranten. b) Kenntnis des Dritten Der Verantwortungsbereich des Erstgaranten erstreckt sich neben der soeben thematisierten Diagnose der Gefahr auf die sachlich richtige und vollständige Information des Dritten. Im Folgenden wird ein Kriterium entwickelt, das diejenigen Konstellationen herauszufiltern vermag, in denen es zur effektiven Abwehr der Gefahr maßgeblich auf diese Information des Dritten durch den Erstgaranten ankommt, sodass unter diesem Gesichtspunkt eine eindeutige Verantwortungszuschreibung gelingt. Der Begriff der Information ist facettenreich.47 Unabhängig davon, ob man bereits per definitionem einen Wissenszuwachs beim Adressaten voraussetzt, kann man jedenfalls im vorliegenden Kontext einer der effektiven Abwehr von 45 Entzündungsprozess unter dem Zwerchfell im Abszess-Fall; lungenschädigende Substanzen im Lederspray-Fall; bakterielle Verunreinigung im Blutbank-Fall; defekte Bremsanlage im Bremsen-Fall; poröse Leimverbindungen von Dachträgern im Eissporthallen-Fall. 46 Auch Stübinger, ZIS 2011, 602 (615) misst dem Fachwissen der Beteiligten Bedeutung bei. Nach seiner Lösung ist die unterlassene Information durch den Erstgaranten unabhängig von hypothetischen Vermeidbarkeitsüberlegungen nur dann kausal für den Erfolg, wenn der Dritte sich – etwa aufgrund seines unterlegenen Fachwissens – auf diese Information verlassen durfte. Vgl. zur Lösung Stübingers bereits oben S. 232 ff. 47 Vgl. hierzu unter dem Stichwort der „Heterogenität des Informationsbegriffs“ Gasser (2002), 39 ff.

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D. Entwicklung eines eigenen Zurechnungsmodells

Gefahren verpflichteten Arbeitsteilung einer Information nur dann Relevanz für die normative Zurechnungsentscheidung zubilligen, wenn diese Information beim Adressaten zu einer Erweiterung seines Kenntnisstandes führt. Maßgeblich kann es auf eine durch den Erstgaranten zu erbringende Information des Dritten nur dann ankommen, wenn zuvor ein signifikantes Informationsgefälle bestand.48 Das Vorliegen eines solchen Informationsgefälles lässt sich aus zwei Perspektiven überprüfen. Positiv ließe sich fragen, ob und in welchem Umfang der Erstgarant bei pflichtgemäßem Handeln Zugang zu gefahrrelevanten Informationen erhalten hätte. Eine solche Perspektive würde jedoch die normative Zuschreibung mit einer Hypothese und den damit einhergehenden Unsicherheiten belasten. Die konsequente Trennung von normativer Verantwortungszuschreibung und empirischer Vermeidbarkeitsprüfung würde teilweise aufgehoben, der Zweck der Verantwortungszuschreibung würde unterlaufen, mit einem möglichst klaren normativen Befund die defizitäre Beweisgrundlage der empirischen Vermeidbarkeitsprüfung zu stützen. Das Vorliegen eines Informationsgefälles zwischen Erstgaranten und Drittem lässt sich jedoch auch aus einer negativen Perspektive nachweisen: Hat der Dritte – sei es durch teilweise Information durch den Erstgaranten, sei es auf anderem Wege – bereits (Teil-)Kenntnis von den gefahrbegründenden Umständen erlangt, so fehlt es an einem signifikanten Informationsgefälle. In diesem Fall beschränkt sich seine Rolle in der arbeitsteiligen Gefahrenabwehr nicht auf diejenige einer untergeordneten Ausführungsinstanz. Es lässt sich dann aus normativer Perspektive nicht mehr behaupten, die zur Gefahrenabwehr maßgebliche Handlungspflicht sei in der Information des Dritten zu sehen. Somit stellt die Kenntnis des Dritten von gefahrbegründenden Umständen ein Ausschlusskriterium dar, bei dessen Vorliegen eine eindeutige Zuordnung des für die Gefahrenabwehr maßgeblichen Geschehens zum Verantwortungsbereich des Erstgaranten misslingt. Veranschaulichen lässt sich das Ausschlusskriterium der Kenntnis des Dritten am Beispiel des Eissporthallen-Falls. Bei der Baubehörde war über einen erheblichen Zeitraum eine Fülle an Hinweisen auf die Baufälligkeit der gesamten Hallenkonstruktion zusammengekommen. Auch die zur Beurteilung der Tragsicherheit des Daches erforderlichen statischen Unterlagen lagen der Baubehörde, nicht aber dem Gutachter vor. Stellt man zusätzlich in Rechnung, dass der Gutachter zur Tragfähigkeit des Daches keine Untersuchungen anstellen sollte, sondern den erforderlichen Sanierungsaufwand für die gesamte Halle abschätzen sollte, so 48 Auch Stübinger, ZIS 2011, 602 (615) lässt die Frage in seine Lösung einfließen, ob der Erstgarant gegenüber dem Dritten einen Informationsvorsprung hatte. Kannte nach seiner Lösung der Informationsempfänger die in der Information enthaltenen Unterscheidungen bereits, so durfte der Empfänger seine Entscheidung nicht von dieser Information abhängig machen. Hieraus ergibt sich für sein Zurechnungsmodell, dass die unterlassene Information mangels normativer Relevanz nicht die Untätigkeit des Dritten und damit auch nicht den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs verursacht hat.

III. Ausgestaltung des Zurechnungsmodells

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fehlt es in diesem Fall an einem signifikanten Informationsgefälle zwischen Gutachter und Baubehörde. Aufgrund der eigenen Kenntnis der Baubehörde von den gefahrbegründenden Umständen scheitert eine eindeutige Zuschreibung der zur Gefahrneutralisierung maßgeblichen Handlungspflichten zum Verantwortungsbereich des Gutachters.49 In zeitlicher Hinsicht bedarf das Ausschlusskriterium der Kenntnis des Dritten einer Präzisierung. Das Problem sei anhand des Abszess-Falls illustriert: Der Stationsarzt hatte über einen Zeitraum von Montag bis Freitag für ihn selbst nicht erklärbare Entzündungssymptome festgestellt, ohne den Oberarzt pflichtgemäß hierüber zu informieren. Erst als der Oberarzt am Samstag eine eigene Visite bei der Patientin durchführte, erlangte er selbst Kenntnis von den gefahrbegründenden Umständen. Stellt man zur Feststellung eines Informationsgefälles auf den Zeitraum vor der eigenen Visite des Oberarztes ab, so ist ein Informationsgefälle zu bejahen, das Ausschlusskriterium der Kenntnis des Dritten greift nicht ein. Wählt man einen Zeitpunkt nach der eigenen Visite des Oberarztes, so liegt kein signifikantes Informationsgefälle mehr vor – das Ausschlusskriterium der Kenntnis des Dritten greift ein, eine eindeutige Verantwortungszuschreibung zum Verantwortungsbereich des Stationsarztes scheitert. Auf welchen Zeitpunkt ist also für die Anwendung des Ausschlusskriteriums abzustellen? Bei der Entwicklung der Grundstruktur dieses Zurechnungsmodells wurde als Anknüpfungspunkt für die normative Verantwortungszuschreibung nicht die tatsächliche Risikoschaffung, sondern eine Analyse der Verteilung der Handlungspflichten von Erstgarant und Drittem gewählt.50 Besinnt man sich auf diese Entscheidung zurück, so ist auch für die Beurteilung, ob der Dritte selbst gefahrrelevante Informationen hatte, auf die Entstehung der Handlungspflicht des Erstgaranten als maßgeblichen Zeitpunkt abzustellen. Im Abszess-Fall entstand die Pflicht zur Information des Oberarztes, als sich im Zeitraum von Montag bis Freitag die für den Stationsarzt unerklärlichen Entzündungssymptome häuften. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Oberarzt noch keine Kenntnis von dem gefahrbegründenden Sachverhalt, diese erlangte er erst am Samstag im Zuge seiner eigenen Visite. Damit liegt im maßgeblichen Zeitpunkt der Entstehung der Handlungspflicht für den Stationsarzt ein Informationsgefälle vor, das Ausschlusskriterium der Kenntnis des Dritten greift nicht ein. Hat der Dritte im Zeitpunkt der Entstehung der Handlungspflicht des Erstgaranten eigene Informationen über den Gefahrenherd, so scheidet nach dem Ausschlusskriterium der eigenen Kenntnis des Dritten von der Gefahr eine eindeutige normative Verantwortungszuschreibung aus. Erlangt der Dritte nach diesem Zeitpunkt Kenntnis von den gefahrbegründenden Umständen und bleibt dennoch un49 50

Ebenso Stübinger, ZIS 2011, 602 (615). Vgl. soeben S. 276.

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D. Entwicklung eines eigenen Zurechnungsmodells

tätig, so ist diese Untätigkeit im Rahmen der empirischen Vermeidbarkeitsprüfung zu berücksichtigen.51 c) Gestaltungsfunktion des Erstgaranten im spezialisierten Gefahrenabwehrsystem Die bisherige Analyse der Pflichtenstellung des Erstgaranten hat ergeben, dass überlegenes Fachwissen des Erstgaranten für eine eindeutige Zuordnung des Geschehens zum Verantwortungsbereich des Erstgaranten spricht, während eine solche eindeutige Zuordnung bei (teilweiser) Kenntnis des Dritten von der Gefahr ausscheidet. Über diese beiden aus den informationellen Rahmenbedingungen der Kommunikation zwischen Erstgarant und Drittem abgeleiteten Kriterien hinaus lassen sich auch die organisationsstrukturellen Rahmenbedingungen dieser Kommunikation zur Gewinnung von Entscheidungskriterien heranziehen. Die Effektivität von arbeitsteiligen Gefahrenabwehrsystemen hängt von den organisationsstrukturellen Rahmenbedingungen ab. Je mehr die arbeitsteilige Zusammenarbeit gerade mit dem Zweck der Erkennung und Kommunikation von gefahrbegründenden Sachverhalten erfolgt und je besser die Kommunikationswege ausgebaut sind, desto mehr kann das gefahrneutralisierende Verhalten des Einzelnen bewirken. Unter diesem Gesichtspunkt ist eine eindeutige Zuordnung der zur Gefahrneutralisierung maßgeblichen Handlungspflichten zum Verantwortungsbereich des Erstgaranten möglich, wenn der Informationsaustausch zwischen Erstgarant und Drittem institutionalisiert ist und gerade mit dem Ziel der effektiven Gefahrenabwehr in arbeitsteiliger Organisation eingerichtet wurde. Erfüllt der Erstgarant in einer so spezialisierten Organisationsstruktur eine eigenverantwortliche, maßgeblich den Prozess der Gefahrenanalyse gestaltende Funktion, so ermöglicht diese Gestaltungsfunktion eine eindeutige Zuordnung des Geschehens zu seinem Verantwortungsbereich. Umgekehrt spricht das Spezialisierungskriterium gegen eine eindeutige Verantwortungszuschreibung, wenn zwischen Erstgarant und Drittem keine standardisierten Organisations- und Kommunikationsstrukturen vorhanden sind. Im Lederspray-Fall etwa bestand zwischen dem Hersteller des Ledersprays und den Einzelhändlern keine auf die effektive Erkennung und Kommunikation von Produktfehlern ausgerichtete Organisationsstruktur. Es handelte sich um völlig unabhängig voneinander agierende Marktteilnehmer. Auch wenn der Erstgarant in einer institutionalisierten Gefahrenabwehrstruktur lediglich eine untergeordnete, zuarbeitende Funktion erfüllt, während ein anderer Beteiligter, insbesondere der Dritte, die Diagnose- und Informationsprozesse 51

Vgl. hierzu sogleich S. 285 ff.

III. Ausgestaltung des Zurechnungsmodells

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maßgeblich bestimmt, spricht die organisationsstrukturelle Funktion des Erstgaranten nicht für eine eindeutige Zuordnung der zur Gefahrenabwehr maßgeblichen Handlungspflichten zu seinem normativen Verantwortungsbereich. Kommt dem Erstgaranten in einem spezialisierten Gefahrenabwehrsystem eine Gestaltungsfunktion zu, so gelingt nach diesem organisationsstrukturellen Zurechnungskriterium eine eindeutige Verantwortungszuschreibung. d) Hierarchische Über-/Unterordnung Fraglich ist, ob sich auch aus dem hierarchischen Verhältnis von Erstgarant und Drittem Rückschlüsse auf die normative Verantwortlichkeit des Erstgaranten ziehen lassen. Kudlich und Altenhain hatten eine Verwertung der hierarchischen Strukturen zur Lösung des Zurechnungsproblems angedacht.52 Ohne Zweifel erlaubt die hierarchische Über- bzw. Unterordnung gegenüber dem Dritten Rückschlüsse auf die faktische Durchsetzungsmacht des Erstgaranten. Ist der Erstgarant dem Dritten übergeordnet, so wird man eher davon ausgehen können, dass der Dritte auf einen Gefahrenhinweis des Erstgaranten pflichtund weisungsgemäß reagiert hätte, als bei hierarchischer Unterordnung des Erstgaranten. In diese Richtung gehen auch die Überlegungen Kudlichs.53 Nach dem hier entwickelten Modell wird jedoch diese faktische Durchsetzungsmacht erst im zweiten Zurechnungsschritt relevant – im Rahmen der empirischen Vermeidbarkeitsprüfung. Die gerade zu beantwortende Frage, ob das zur Gefahrneutralisierung erforderliche Verhalten normativ maßgeblich im Verantwortungsbereich des Erstgaranten lag, ist streng zu unterscheiden von der Frage, ob das hypothetisch pflichtgemäße Handeln des Erstgaranten zu einer pflichtgemäßen Reaktion des Dritten geführt hätte. Der Einfluss hierarchischer Über- bzw. Unterordnungsverhältnisse auf die faktische Durchsetzungsmacht des Erstgaranten muss daher an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben. Dennoch ist die hierarchische Struktur, in der sich Erstgarant und Dritter begegnen, für die normative Verantwortungszuschreibung nicht völlig irrelevant. Führt diese hierarchische Struktur nämlich dazu, dass sich die Verantwortungsbereiche von Erstgarant und Drittem hinsichtlich der Gefahrendiagnose und -meldung überschneiden, so misslingt eine eindeutige Zuschreibung des maßgeblich zur Gefahrneutralisierung erforderlichen Verhaltens zum Verantwortungsbereich des Erstgaranten. Steht etwa der hierarchisch untergeordnete Erstgarant unter der direkten, sich auf die fachlichen Aspekte der Gefahrendiagnose erstreckenden Aufsicht des Dritten, so führen die Überwachungspflichten des Dritten dazu, dass sich die Verantwortungsbereiche des Erstgaranten und des Dritten im Bereich der Gefahrendiagose und -meldung überschneiden – eine eindeutige Zuord52 53

Vgl. hierzu oben S. 218 ff. Vgl. Kudlich, JA 2010, 552 (554). Hierzu bereits oben S. 218.

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D. Entwicklung eines eigenen Zurechnungsmodells

nung der Handlungspflichten zum Verantwortungsbereich des Erstgaranten misslingt. Im Abszess-Fall etwa nahm der Stationsarzt seine Pflicht zur Diagnose von Gefahren für Leben und Gesundheit der Patienten unter der direkten fachlichen Aufsicht des Oberarztes wahr. Der Oberarzt führte sogar eigene Patientenvisiten durch. In diesem Fall vertikaler Arbeitsteilung lassen sich aufgrund der Aufsichtspflichten des Oberarztes die Verantwortungsbereiche von Stationsarzt und Oberarzt nicht trennscharf voneinander abgrenzen54, eine eindeutige Zuordnung der maßgeblich zur Gefahrenabwehr erforderlichen Handlungspflichten zum Verantwortungsbereich des Stationsarztes scheitert. Unter dem Gesichtspunkt der rein faktisch erhöhten Durchsetzungsmacht des Übergeordneten ist die hierarchische Struktur der arbeitsteiligen Gefahrüberwachung für die normative Verantwortungszuschreibung nicht relevant. Bei vertikaler Arbeitsteilung unter unmittelbarer fachlicher Aufsicht lassen sich die Verantwortungsbereiche der Beteiligten nicht mehr trennscharf voneinander abgrenzen. In diesem Spezialfall eines hierarchischen Über- bzw. Unterordnungsverhältnisses scheitert eine eindeutige Zuordnung der maßgeblich zur Gefahrenabwehr erforderlichen Handlungspflichten zum Verantwortungsbereich des Erstgaranten. e) Zusammenfassung Die normativen Entscheidungskriterien wurden entwickelt, um entscheiden zu können, wann die für die Gefahrenabwehr entscheidende Handlungspflicht bei normativer Betrachtung beim Erstgaranten liegt, sodass dieser einen beherrschenden Einfluss auf den Kausalverlauf ausübt. Das Kriterium überlegenen Fachwissens und das Ausschlusskriterium der Kenntnis des Dritten identifizieren diejenigen Konstellationen, in denen der Erstgarant die informationsbasierte Kontrolle über die Gefahrenabwehr innehat. Die Untersuchung seiner Funktion im Gefahrenabwehrsystem sowie seiner hierarchischen Stellung benennen diejenigen Konstellationen, in denen sich die Kontrolle des Erstgaranten aus strukturellen Überlegungen ergibt. Die normative Verantwortungszuschreibung führt zu zwei denkbaren Ergebnissen: Eine eindeutige Zuschreibung der zur Gefahrneutralisierung maßgeblichen Handlungspflichten zum Verantwortungsbereich des Erstgaranten gelingt, oder sie gelingt nicht. Nach der oben entwickelten Grundstruktur dieses Zurechnungsmodells erweitert ein positiver normativer Befund die Entscheidungsgrundlage der empirischen Vermeidbarkeitsprüfung. Entscheidend für das Ziel dieses Zurechnungsmodells, die Unvorhersehbarkeit der beliebig formbaren Kausalitätshy54 Zu der Frage, ob die Überwachungspflichten des Oberarztes im konkreten Fall einzuschränken waren, weil der Oberarzt darauf vertrauen durfte, dass der Stationsarzt die ihm übertragenen Behandlungen lege artis durchführt, vgl. sogleich S. 290 f.

III. Ausgestaltung des Zurechnungsmodells

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pothese der Rechtsprechung zu beseitigen, ist nun, ob sich unter Rückgriff auf diesen Befund die Vermeidbarkeitshypothese in vorhersehbare Bahnen lenken lässt. Dieser Versuch wird im Folgenden unternommen. 2. Modifizierter Inhalt der empirischen Vermeidbarkeitsprüfung Kann eine durch den Befund der normativen Verantwortungszuschreibung modifizierte Vermeidbarkeitsprüfung die Vorhersehbarkeitsdefizite der Rechtsprechungslösung überwinden und gleichzeitig eine systemgerechte Zurechnung garantieren? Die empirische Vermeidbarkeitsprüfung bildet in dem hier entwickelten Zurechnungsmodell den zweiten Zurechnungsschritt. Zu klären ist, ob der Dritte bei hypothetisch pflichtgemäßem Handeln des Dritten seinerseits pflichtgemäß reagiert hätte und der Erfolgseintritt so vermieden worden wäre. In ihrer Fragestellung gleicht diese Prüfung der Vermeidbarkeitstheorie der Rechtsprechung. Die vorangegangene normative Verantwortungszuschreibung ermöglicht jedoch eine Modifizierung der Vermeidbarkeitsprüfung, die die Unsicherheiten der Rechtsprechungslösung korrigieren soll. Nach der Grundstruktur dieses Zurechnungsmodells wird die Vermeidbarkeitsprüfung durch die normative Verantwortungszuschreibung stabilisiert, kontrolliert diese aber gleichzeitig. Diese gegenseitige Beeinflussung von normativer Verantwortungszuschreibung und empirischer Vermeidbarkeitsprüfung wird im Folgenden ausdifferenziert. a) Konzentration der Hypothesenbildung auf unmittelbares Tatgeschehen Das Hauptproblem der Rechtsprechungslösung besteht darin, dass sie sich bei drittvermittelten Rettungsgeschehen in ihrer Hypothesenbildung nicht streng an den tatsächlichen Gegebenheiten des Falles orientiert. Während sie die hypothetische Prüfung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs bei den fahrlässigen Begehungsdelikten bei identischer Fragestellung strengen Qualitätskriterien unterwirft55, integriert sie bei drittvermittelten Rettungsgeschehen aufgrund der defizitären Beweisgrundlage das hypothetische Verhalten weiterer Personen und entfernt sich in ihren Überlegungen bedenklich weit von den tatsächlichen Gegebenheiten, um die Beweisgrundlage zu erweitern und so die Vermeidbarkeit beurteilen zu können.56 Während bei den fahrlässigen Begehungsdelikten – bis auf den Austausch der pflichtwidrigen durch eine hypothetisch pflichtgemäße Handlung – nichts hinweggedacht und nichts hinzugefügt werden darf, um die hypothetische Erfolgsvermeidung zu beurteilen, konstruiert die Rechtsprechung bei 55 56

Vgl. hierzu bereits oben S. 171 f. Vgl. hierzu die Fallstudie oben S. 167 ff.

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D. Entwicklung eines eigenen Zurechnungsmodells

drittvermittelten Rettungsgeschehen eine hypothetische Abwägungsentscheidung des Dritten, in die sie allgemeine Erwägungen wie die allgemeine Haushaltslage oder dessen an Wochenenden üblicherweise an den Tag gelegte Arbeitsmoral einfließen lässt. Diese Diskrepanz in der Tatsachenorientierung der Hypothesenbildung bei fahrlässigen Begehungsdelikten einerseits und drittvermittelten Rettungsgeschehen andererseits führt bei letzterer zu unvorhersehbaren Ergebnissen. In dem hier entwickelten Zurechnungsmodell konfrontiert nun die normative Verantwortungszuschreibung die nachfolgende Vermeidbarkeitsprüfung mit einem normativen Befund: Gelingt eine eindeutige Verantwortungszuschreibung, spricht aus normativer Perspektive vieles für die Vermeidbarkeit des Erfolgs durch den Erstgaranten. Hierauf aufbauend wird die Hypothesenbildung im Rahmen der Vermeidbarkeitsprüfung auf unmittelbar tatrelevante Umstände begrenzt. Hierin besteht die zentrale Modifikation der Vermeidbarkeitsprüfung: Gelingt im ersten Zurechnungsschritt eine eindeutige normative Zuordnung zum Verantwortungsbereich des Erstgaranten, so füllt dieser normative Befund die empirische Lücke, die in der Konstellation psychisch vermittelter Unterlassungskausalität besteht. Der normative Befund ermöglicht es, die Vermeidbarkeitshypothese von nur mittelbar tatrelevanten, spekulativen Konstruktionen zu befreien, er ermöglicht eine Konzentration der Hypothesenbildung auf das unmittelbare Tatgeschehen. Gelingt im ersten Zurechnungsschritt eine eindeutige normative Zuordnung, dann spricht bei normativer Betrachtung vieles für eine Vermeidbarkeit des Erfolgs durch den Erstgaranten. Auf diesem normativen Befund aufbauend sind im zweiten Zurechnungsschritt nur noch solche Zweifel an der hypothetischen Vermeidbarkeit des Erfolgs geeignet, den Zurechnungszusammenhang zwischen der Unterlassung des Erstgaranten und dem Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs auszuschließen, die im unmittelbaren Tatgeschehen angelegt sind.

Hierdurch wird das Problem der Formbarkeit der Kausalitätshypothese behoben: Die Integration nicht unmittelbar im Sachverhalt angelegter Spekulationen ist nicht mehr notwendig, um eine aussagekräftige Grundlage für die Zurechnungsentscheidung zu schaffen. Hierdurch wird darüber hinaus eine Kongruenz zwischen der Hypothesenbildung beim Pflichtwidrigkeitszusammenhang der fahrlässigen Begehungsdelikte und bei der Unterlassungszurechnung im Rahmen von drittvermittelten Rettungsgeschehen hergestellt. Hier wie dort muss sich die Hypothesenbildung unmittelbar am Tatgeschehen orientieren. Ein Abschweifen zu hypothetischen Konstruktionen wird verhindert. Konkret ist die durch einen normativen Befund abgesicherte Vermeidbarkeitsprüfung in zweierlei Hinsicht zu begrenzen. Zum einen bleibt das hypothetische Verhalten anderer Personen als des Erstgaranten und des Dritten für die Vermeidbarkeitsprüfung außer Betracht. Mutmaßungen über das Verhalten einer „vierten“ Person, wie sie der BGH etwa im Blutbank-Fall anstellt, führen die Maxime einer eng am tatsächlichen Sachverhalt orientierten Hypothesenbildung ad absurdum:

III. Ausgestaltung des Zurechnungsmodells

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Im Blutbank-Fall integriert der BGH das hypothetische Verhalten des bereits abgeurteilten leitenden Direktors: Hätte die stellvertretende Direktorin die hygienischen Missstände bei einer höheren Behörde gemeldet, hätte diese den leitenden Direktor konsultiert, dieser hätte aufgrund seiner fachlichen Kompetenz die Bedenken der Behörde wahrscheinlich zerstreut und so eine pflichtgemäße Reaktion verhindert, wodurch die Unterlassung der stellvertretenden Direktorin nicht kausal für den Erfolg geworden wäre. Zum anderen ist der Schluss von früheren Pflichtverletzungen des Dritten auf seine hypothetische Reaktion im konkret zu beurteilenden Fall in der modifizierten Vermeidbarkeitsprüfung nur noch eingeschränkt zulässig. Die ausufernde Spekulation in diesem Bereich, die Unsicherheit hinsichtlich der Vergleichbarkeit oder fehlenden Vergleichbarkeit der zugrunde liegenden Sachverhalte – etwa die Frage der „Wochenendbedingtheit“ oder „Nicht-Wochenendbedingtheit“ der vergangenen Pflichtverletzungen des Oberarztes im Abszess-Fall – macht die Lösung des BGH gerade so unvorhersehbar. Nur unmittelbar im Tatgeschehen angelegte Anhaltspunkte für eine Pflichtverletzung des Dritten können zurechnungsausschließende Zweifel an der pflichtgemäßen Reaktion des Dritten und damit an der Vermeidbarkeit des Erfolgs für den Erstgaranten begründen. Tatsächlichen Verfehlungen des Dritten im konkret zu beurteilenden Fall kommt dementsprechend eine maßgebliche, in der Regel zurechnungsausschließende Bedeutung zu. Erlangt der Dritte nach dem Entstehen der Handlungspflichten des Dritten – und damit nach dem für den Ausschlussgrund der Kenntnis des Dritten maßgeblichen Zeitpunkt57 – Kenntnis von den gefahrbegründenden Umständen und bleibt dennoch untätig, so steht diese Pflichtverletzung in unmittelbarem Zusammenhang mit der konkreten Tatsituation. Sie ist daher für die Beurteilung der hypothetisch pflichtgemäßen Reaktion des Dritten von entscheidender Bedeutung. So stellen etwa die Untätigkeit des Oberarztes im Abszess-Fall auch nach der persönlichen Visite bei der Patientin oder die Untätigkeit des Speditionschefs im Bremsen-Fall selbst nach der Schadensmeldung durch den Werkstattleiter konkret tatrelevante Verfehlungen dar, die die Annahme einer hypothetisch pflichtwidrigen Reaktion bei pflichtgemäßer, weil rechtzeitiger und vollständiger Information durch den Erstgaranten rechtfertigen und daher die Zurechnung ausschließen. Je weiter hingegen die als Vergleichsmaßstab herangezogenen vergangenen Pflichtverletzungen des Dritten zeitlich und sachlich vom konkret zu beurteilenden Fall entfernt sind, desto geringere Bedeutung darf ihnen bei der Beurteilung der hypothetischen Erfolgsvermeidbarkeit beigemessen werden. Allgemein gehaltene Überlegungen zu einer angespannten Haushaltslage wie im Blutbank-Fall reichen nicht aus, um konkrete Zweifel an der pflichtgemäßen Reaktion des Dritten zu säen. 57

Vgl. soeben S. 279 ff.

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D. Entwicklung eines eigenen Zurechnungsmodells

Ergibt sich im ersten Teil der Zurechnungsprüfung eine eindeutige Zuordnung der zur Gefahrenabwehr maßgeblichen Handlungspflicht zum Verantwortungsbereich des Erstgaranten, so ermöglicht dieser normative Befund eine Konzentration der Vermeidbarkeitsbetrachtung auf das unmittelbare Tatgeschehen. Das hypothetische Verhalten von in den Prozess der Gefahrenabwehr nicht unmittelbar eingebundenen Personen wird bei der Vermeidbarkeitsbetrachtung nicht berücksichtigt, die Möglichkeit einer hypothetischen Pflichtverletzung des Dritten nur anhand von unmittelbar in der konkreten Tatsituation angelegten Anhaltspunkten überprüft. Diese normative Konzentration der Vermeidbarkeitsprüfung verhindert vom Tatgeschehen losgelöste Mutmaßungen und ermöglicht eine insbesondere für die Instanzgerichtsbarkeit vorhersehbarere und damit praktikablere Erfolgszurechnung. b) Kontrollfunktion In ihrer modifizierten Form erfüllt dann die Vermeidbarkeitsprüfung ihre systemwahrende Kontrollfunktion: Der Erfolg ist dem Erstgaranten nur dann zurechenbar, wenn der Erfolgseintritt bei pflichtgemäßer Information des Dritten vermeidbar gewesen wäre. Gelingt eine eindeutige Verantwortungszuschreibung, wird nur im Tatgeschehen angelegtes Fehlverhalten des Dritten bei der Prüfung seiner hypothetisch pflichtgemäßen Reaktion berücksichtigt. Gelingt keine eindeutige Verantwortungszuschreibung, kann die Vermeidbarkeitsprüfung also nicht durch einen eindeutigen normativen Befund gestützt werden, bleibt es bei einer regulären Prüfung der Vermeidbarkeit unter Berücksichtigung aller, auch nicht unmittelbar tatrelevanter Umstände. Hierbei kann der normative Befund in jeder Hinsicht korrigiert werden. Gelingt eine eindeutige normative Zuordnung zum Verantwortungsbereich des Dritten, so scheitert dennoch die Erfolgszurechnung an der empirischen Vermeidbarkeitsprüfung, wenn in der konkreten Tatsituation angelegtes Fehlverhalten des Dritten substantiierte Zweifel an der hypothetischen Vermeidbarkeit des Erfolgs begründet. Eine ausschließlich normativ begründete Zurechnungsentscheidung wird so verhindert, die im Rahmen dieser Untersuchung entworfenen Kriterien einer systemgerechten Erfolgszurechnung58 werden erfüllt. Gelingt eine eindeutige normative Zuordnung nicht, so scheitert der Versuch einer normativ legitimierten Konzentration der Vermeidbarkeitshypothese auf unmittelbar tatrelevante Umstände. Bestehen aber in einem solchen Fall auch unter Berücksichtigung nicht unmittelbar tatrelevanter Umstände keine substantiierten Zweifel gegen eine hypothetische Pflichtverletzung des Dritten, so gelingt die Erfolgszurechnung auf Grundlage der regulären Vermeidbarkeitsprüfung, obwohl eine eindeutige normative Zuordnung zuvor misslungen war. 58

Vgl. hierzu oben S. 251 ff.

IV. Überprüfung des Zurechnungsmodells

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In Thesenform lässt sich der modifizierte Inhalt der empirischen Vermeidbarkeitsprüfung damit wie folgt zusammenfassen: – Scheitert eine eindeutige normative Verantwortungszuschreibung, so ist eine reguläre Vermeidbarkeitsprüfung mit dem durch die herrschende Meinung entwickelten Bewertungsmaßstab durchzuführen. – Gelingt eine eindeutige normative Verantwortungszuschreibung, so ist im Rahmen der modifizierten Vermeidbarkeitsprüfung zu fragen, ob bei Begrenzung der Vermeidbarkeitshypothese auf konkret tatrelevante Umstände substantiierte Zweifel an der hypothetischen Pflichterfüllung des Dritten bestehen. Verbleiben solche Zweifel, ist dem Erstgaranten der Erfolg nicht zurechenbar. Liegen keine substantiierten Zweifel vor, gelingt die Erfolgszurechnung.

3. Ergebnis Ziel des hier entwickelten alternativen Zurechnungsmodells war es, bei der Prüfung des Zurechnungszusammenhangs zwischen der Unterlassung des Erstgaranten und dem Erfolgseintritt die Vorhersehbarkeitsdefizite der Rechtsprechungslösung zu überwinden, ohne eine systemfremde, umfassend normativierende Zurechnung zu begründen. Das vorliegende Modell basiert auf dem Versuch, normative Wertungen dort einfließen zu lassen, wo die Besonderheiten der Beurteilung hypothetischer Entscheidungen empirische Beweislücken hinterlassen. Konkret wird der Versuch unternommen, in einem ersten Zurechnungsschritt die zur Gefahrenabwehr maßgeblichen Handlungspflichten dem Verantwortungsbereich des Erstgaranten zuzuordnen. Gelingt dies, so ermöglicht dieser normative Befund eine Konzentration der in einem zweiten Zurechnungsschritt folgenden empirischen Vermeidbarkeitsprüfung auf unmittelbar tatrelevante Gegebenheiten. Die letztlich zu treffende Zurechnungsentscheidung hängt maßgeblich von der empirischen Vermeidbarkeitsprüfung ab. Diese kann den – positiven wie negativen – Befund der normativen Verantwortungszuschreibung zurechnungsbegründend bzw. -ausschließend korrigieren. So überwindet das Zurechnungsmodell die Unwägbarkeiten der schrankenlosen Hypothesenbildung der Rechtsprechung in Fällen, in denen normative Überlegungen die Zurechnungsentscheidung stützen können. Es trägt so zu einer vorhersehbareren Erfolgszurechnung bei, ohne deliktssystematische Grenzen zu überschreiten.

IV. Überprüfung des Zurechnungsmodells anhand der höchstrichterlichen Rechtsprechung Die Teil D. abschließende Anwendung des soeben entwickelten Zurechnungsmodells auf die höchstrichterlich entschiedenen Fälle drittvermittelter Rettungs-

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D. Entwicklung eines eigenen Zurechnungsmodells

geschehen dient einerseits der Veranschaulichung der eingeführten Zuordnungskriterien und Zurechnungsmodifikationen und andererseits der Überprüfung des Modells auf seine Praktikabilität. 1. Abszess-Fall Im Abszess-Fall greift das Ausschlusskriterium der Kenntnis des Dritten von der Gefahr nicht ein. Denn zeitlicher Anknüpfungspunkt für die Prüfung des Kenntnisstandes des Dritten ist das Entstehen der Handlungspflicht des Erstgaranten.59 Der Stationsarzt war in der Zeit von Montag bis Freitag, als sich die für ihn unerklärlichen Entzündungssymptome häuften, zur Konsultation des Oberarztes verpflichtet. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Oberarzt von den gefahrbegründenden Umständen noch keine Kenntnis. Diese erlangte er erst im Zuge der selbst durchgeführten Visite am Samstag. Dennoch scheitert der Versuch einer eindeutigen Zuordnung der zur Gefahrenabwehr maßgeblichen Handlungspflichten zum Verantwortungsbereich des Stationsarztes. Dieser verfügte im Verhältnis zum Oberarzt nicht über überlegene Fachkenntnisse, seine Kenntnisse blieben vielmehr gerade im Hinblick auf die Ursache des konkreten Entzündungsherdes hinter denen des Oberarztes zurück. Darüber hinaus scheitert eine klare Abgrenzung des Verantwortungsbereichs des Stationsarztes an seiner hierarchischen Unterordnung: Der Stationsarzt stand unter der unmittelbaren fachlichen Aufsicht des Oberarztes. Zwar kann der Oberarzt bei Übertragung einer Aufgabe auf einen kompetenten Stationsarzt grundsätzlich darauf vertrauen, dass dieser die ihm übertragenen Behandlungen lege artis durchführt. Ist der Stationsarzt jedoch – wie im vorliegenden Fall – aufgrund mangelnden Fachwissens zu einer ordnungsgemäßen Durchführung der Behandlung nicht in der Lage, so bleibt der Oberarzt – gegebenenfalls neben dem Stationsarzt – für die kunstgerechte Behandlung verantwortlich.60 Ein solcher Fall einer gesteigerten Überwachungspflicht des Oberarztes lag im AbszessFall vor. Der Stationsarzt war aufgrund seiner mangelnden Fachkenntnisse nicht in der Lage, den Entzündungsherd zutreffend zu diagnostizieren. Die Tatsache, dass der Oberarzt bei der Patientin später selbst eine Visite durchführte, zeigt, dass sich seine Überwachungspflichten auf die kunstgerechte Behandlung im konkreten Fall erstreckten. Aufgrund dieser Überwachungspflichten des weisungsberechtigten Vorgesetzten lässt sich in dieser Konstellation eine eindeutige Zuordnung zum Verantwortungsbereich des Beaufsichtigten nicht begründen. Da eine normative Verantwortungszuschreibung misslingt, ist die empirische Vermeidbarkeitsprüfung anhand der durch die Rechtsprechung angewendeten 59 60

Vgl. oben S. 281 f. Vgl. zum Vorstehenden Schroth (2010b), S. 138.

IV. Überprüfung des Zurechnungsmodells

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Kriterien vorzunehmen. Entscheidend gegen eine hypothetisch pflichtgemäße Reaktion des Oberarztes spricht der unmittelbar tatrelevante Umstand, dass dieser am Samstag selbst Kenntnis von dem Entzündungsherd erlangte und dennoch die dringend erforderliche Diagnostik auf den kommenden Montag hinausschob. Aufgrund dieser unmittelbar tatrelevanten Verfehlung, die zu einer separaten Aburteilung des Oberarztes führte, ist die hypothetische Erfolgsvermeidung bei pflichtgemäßem Verhalten des Stationsarztes zu verneinen. Ein Zurechnungszusammenhang zwischen der Unterlassung des Stationsarztes und dem Tod der Patientin besteht nicht. 2. Lederspray-Fall Im Lederspray-Fall bestanden keine auf die effektive Erkennung und Kommunikation von Gefahren ausgerichteten Organisationsstrukturen – die Produktionsfirma für Ledersprays und die Einzelhändler sind wirtschaftlich und organisatorisch völlig unabhängig voneinander agierende Marktteilnehmer. Dies spricht gegen eine eindeutige Zuschreibung der zur Gefahrenabwehr maßgeblichen Handlungspflichten zum Verantwortungsbereich der Unternehmensleitung des Lederspray-Fabrikanten. Jedoch verfügte die Unternehmensleitung im Verhältnis zu den Einzelhändlern über überlegenes Fachwissen: Es waren Gutachten in Auftrag gegeben worden, die einen Zusammenhang zwischen der Benutzung des Produkts und dem Auftreten von gesundheitlichen Beschwerden nicht ausschließen konnten. Darüber hinaus hatten die Einzelhändler keinerlei Kenntnis von den mit der Benutzung des Sprays möglicherweise verbundenen Gesundheitsgefahren. Schließlich bestand zwischen den Produzenten und den Einzelhändlern keinerlei hierarchische Beziehung, sodass die zur Gefahrenabwehr maßgeblichen Pflichten der Diagnose und sachrichtigen Weitergabe der Informationen über potenzielle Gesundheitsgefahren eindeutig dem Verantwortungsbereich der Unternehmensleitung des Ledersprayproduzenten zugeordnet werden können. Auf Grundlage dieses normativen Befundes ist die Vermeidbarkeitsprüfung auf konkret tatrelevante Anhaltspunkte für ein hypothetisch pflichtwidriges Verhalten der Einzelhändler zu konzentrieren. Solche Anhaltspunkte waren im Rahmen der instanzgerichtlichen Beweiserhebung nicht zutage getreten. Pauschale Erfahrungswerte der geringen Effektivität von Produktrückrufen61 sind nicht geeignet, die hypothetisch pflichtgemäße Reaktion der Einzelhändler auf einen sachlich richtigen Aufruf zum Produktrückruf infrage zu stellen. Konkret tatrelevante Umstände, die substanzielle Zweifel an einer hypothetisch pflichtgemäßen Reaktion der Einzelhändler begründen würden, liegen daher nicht vor. 61

Vgl. hierzu Bosch, FS Puppe, 373 (388).

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D. Entwicklung eines eigenen Zurechnungsmodells

Ein Zurechnungszusammenhang zwischen der garantenpflichtwidrigen Unterlassung dieses Rückrufs und dem Eintritt der Körperverletzungserfolge besteht. 3. Blutbank-Fall Im Blutbank-Fall ergibt sich das überlegene Fachwissen der stellvertretenden Klinikdirektorin im Verhältnis zu den Aufsichtsbehörden nicht bereits aus einer abstrakten Betrachtung: Zwar handelte es sich bei der Direktorin um eine habilitierte Medizinerin, jedoch dürften auch in den Aufsichtsbehörden fachlich hochqualifizierte Personen tätig gewesen sein. Während jedoch die Direktorin in die komplexen Arbeitsabläufe bei der Blutgewinnung eingeweiht war, hatten die Aufsichtsbehörden – selbst bei Durchführung routinemäßiger Kontrollen – keine Möglichkeit, die mit den Lagerungs- und Wiederverwertungsmethoden verbundenen Risiken der Verunreinigung von Blutprodukten zu überblicken. Aufgrund ihrer umfassenden Kenntnis der Arbeitsabläufe bei der Gewinnung und Wiederverwertung der Blutprodukte verfügte die Klinikdirektorin im Verhältnis zu den Aufsichtsbehörden über überlegenes Fachwissen. Auch bestand kein hierarchisches Unterordnungsverhältnis unter fachlicher Aufsicht zwischen der Klinikdirektorin und den Aufsichtsbehörden. Die Pflichten der Aufsichtsbehörden erstreckten sich – wenn überhaupt – auf eine stichprobenartige Grobkontrolle, die Überwachung des Tagesgeschäfts und die Erkennung und Meldung der sich hieraus ergebenden potenziellen Gefahren für die Kunden der Blutbank oblag der Klinikleitung. Schließlich greift auch das Ausschlusskriterium der Kenntnis des Dritten von den gefahrbegründenden Umständen nicht: Bei den Aufsichtsbehörden waren keine Hygienemängel in der Blutbank bekannt. Damit lagen die zur Gefahrenabwehr maßgeblichen Handlungspflichten im Verantwortungsbereich der Klinikdirektorin. Die normative Verantwortungszuschreibung gelingt. Auf Grundlage dieses normativen Befundes ist die Vermeidbarkeitsprüfung auf konkret tatrelevante Anhaltspunkte für ein hypothetisch pflichtwidriges Verhalten der Einzelhändler zu konzentrieren. Dies hat im Blutbank-Fall maßgebliche Auswirkungen auf das Ergebnis der Vermeidbarkeitsprüfung. Der BGH stützte seine Zweifel an der hypothetischen Erfolgsvermeidung maßgeblich auf zwei Feststellungen: Zum einen sei die allgemeine Haushaltslage der öffentlichen Krankenhäuser angespannt gewesen, dies spräche gegen eine pflichtgemäße Reaktion der Aufsichtsbehörden, da diese zwangsläufig zu Mehrausgaben geführt hätte. Zum anderen hätte die Aufsichtsbehörde bei einer Meldung hygienischer Mängel durch die stellvertretende Klinikdirektorin den leitenden Klinikdirektor konsultiert, dieser hätte die Bedenken zerstreut, eine pflichtgemäße Reaktion der Aufsichtsbehörde wäre also unterblieben.

IV. Überprüfung des Zurechnungsmodells

293

In der im Rahmen dieser Untersuchung entwickelten modifizierten Vermeidbarkeitsprüfung ist jedoch keine dieser beiden Überlegungen geeignet, die hypothetisch pflichtgemäße Reaktion der Aufsichtsbehörden in Zweifel zu stellen. Denn bei der Beurteilung einer hypothetischen Konsultation des leitenden Klinikdirektors handelt es sich um die Integration einer „vierten“ Person in die Kausalitätshypothese, die die Maxime einer tatsachenorientierten, vorhersehbaren Hypothesenbildung ad absurdum führt und deshalb durch die hier entwickelte Konzentration der Vermeidbarkeitshypothese auf unmittelbar tatrelevante Umstände ausgeschlossen wird. Der Hinweis auf die allgemein angespannte Haushaltslage wiederum stellt eine pauschale, nicht durch konkrete Verfehlungen der Aufsichtsbehörde und noch weniger durch Verfehlungen der Aufsichtsbehörde im konkreten Fall belegte Vermutung dar. Pauschale Vermutungen dieser Art sind mangels Tatrelevanz aus der durch einen eindeutigen normativen Befund gestützten Vermeidbarkeitsprüfung zu streichen. Somit verbleiben keine substantiierten, tatrelevanten Zweifel an der hypothetisch pflichtgemäßen Reaktion der Aufsichtsbehörde auf einen garantenpflichtgemäßen Hinweis der Klinikdirektorin. Ein Zurechnungszusammenhang zwischen der garantenpflichtwidrigen Unterlassung der stellvertretenden Klinikdirektorin und dem Eintritt der Tötungs- und Körperverletzungserfolge besteht. 4. Bremsen-Fall Im Bremsen-Fall verfügte der Angeklagte im Verhältnis zum Juniorchef über überlegenes Fachwissen. Er war als erfahrener Werkstattleiter dazu befähigt und verpflichtet, die Fahrtauglichkeit der Fahrzeugflotte zu überwachen und Sicherheitsmängel zu melden, woraufhin der Juniorchef die geeigneten Gegenmaßnahmen zu ergreifen hatte. Das Ausschlusskriterium der Kenntnis des Dritten von den gefahrbegründenden Umständen greift nicht ein. Die Prüfung dieses Kriteriums richtet sich in zeitlicher Hinsicht nach der Entstehung der Handlungspflicht des Erstgaranten. Die maßgebliche Handlungspflicht des Werkstattleiters sah der BGH – anders als das LG Detmold, das ihn weitergehend verpflichtet sah, den Juniorchef nach dessen abwiegelnder Reaktion von unbedingtem Handlungsbedarf zu überzeugen – in der gründlichen Diagnose der Bremsprobleme und der vollumfänglichen Information des Juniorchefs.62 In der Tat erscheint die Annahme einer weitergehenden „Umstimmungspflicht“ überzogen, bedenkt man, dass der Werkstattleiter bereits konkret darauf hingewiesen hatte, dass das Fahrzeug „nicht mehr beherrschbar“ 63 sei. Da im Zeitpunkt der Entstehung der maßgeblichen Handlungspflicht des 62 63

BGHSt 52, 159 (164 f.). BGHSt 52, 159 (162).

294

D. Entwicklung eines eigenen Zurechnungsmodells

Werkstattleiters, die Bremsanlage sorgfältig zu untersuchen, der Juniorchef keine Kenntnis von den akuten Bremsproblemen hatte, ist das Ausschlusskriterium der Kenntnis des Dritten nicht erfüllt. Auch bestand kein hierarchisches Über-/Unterordnungsverhältnis dergestalt, dass der Juniorchef die unmittelbare Fachaufsicht über die Pflichterfüllung des Werkstattleiters ausübte. Dieser sollte vielmehr die technische Überwachung der Fahrzeuge selbstverantwortlich übernehmen, zu der der Juniorchef mangels Fachkenntnissen nicht in der Lage war. Damit waren die Verantwortungsbereiche klar abgrenzbar. Aufgrund seines überlegenen Fachwissens lässt sich die zur Gefahrenabwehr maßgebliche Handlungspflicht eindeutig dem Verantwortungsbereich des Werkstattleiters zuordnen. Die normative Verantwortungszuschreibung gelingt. Auf Grundlage dieses normativen Befundes ist die empirische Vermeidbarkeitsprüfung auf konkret tatrelevante Sachverhalte zu konzentrieren. Im vorliegenden Fall begründet das pflichtwidrige Verhalten des Juniorchefs nach Erhalt der auch in ihrer sachlichen Unvollständigkeit alarmierenden Hinweise erhebliche Zweifel an seiner hypothetisch pflichtgemäßen Reaktion bei vollständiger Information durch den Erstgaranten. Dieses pflichtwidrige Verhalten führte zu einer Verurteilung des Juniorchefs in einem getrennten Verfahren. Aufgrund der unmittelbar tatrelevanten, substantiierten Zweifel an der pflichtgemäßen Reaktion des Juniorchefs muss die hypothetische Erfolgsvermeidung bei pflichtgemäßem Handeln des Werkstattleiters verneint werden. Damit korrigiert die empirische Vermeidbarkeitsprüfung das Ergebnis der normativen Verantwortungszuschreibung. Eine systemfremde, ausschließlich normative Zurechnung über konkret tatrelevante Zweifel an der Erfolgsvermeidbarkeit wird verhindert. Ein Zurechnungszusammenhang zwischen der Unterlassung des Werkstattleiters und dem Eintritt des Tötungserfolgs besteht nicht. 5. Eissporthallen-Fall Im Eissporthallen-Fall verfügte der Gutachter im Verhältnis zur Baubehörde nicht über überlegenes Fachwissen. Es ist davon auszugehen, dass die Mitarbeiter einer Baubehörde zur Einschätzung von werkstofflichen Mängeln und den hieraus resultierenden statischen Risiken befähigt sind. Auch der BGH geht in seinem Urteil davon aus, dass „im zuständigen Amt [. . .] Fachleute mitgewirkt haben“ dürften.64 Auch war die arbeitsteilige Organisation zwischen Gutachter und Baubehörde nicht primär auf die Erkennung und Diagnose von Gefahren ausgerichtet. Die 64 BGH NJW 2010, 1087 (1092 Rn. 74); ebenso Stübinger, ZIS 2011, 602 (615), sowie Ast, ZStW 124, 612 (646).

IV. Überprüfung des Zurechnungsmodells

295

Baubehörde hatte lediglich ein Gutachten zur Schätzung des finanziellen Sanierungsaufwands in Auftrag gegeben, nicht aber ein Gutachten zur Standsicherheit der Dachkonstruktion. Schließlich ist im Eissporthallen-Fall das Ausschlusskriterium der Kenntnis des Dritten von den gefahrbegründenden Umständen erfüllt. Denn bereits bei Entstehen der Handlungspflicht des Gutachters hatte die Baubehörde über Jahre hinweg Informationen über die Baufälligkeit der gesamten Anlage gesammelt. Dringliche Hinweise auf Sicherheitsmängel und die Notwendigkeit einer grundlegenden Überprüfung der Standsicherheit anmahnende Gutachten waren immer wieder ignoriert worden. Zudem hatte die Baubehörde selbst alleinigen Zugriff auf die zur Beurteilung der Standsicherheit der Dachkonstruktion erforderlichen statischen Unterlagen.65 Die Baubehörde hatte damit bereits unabhängig von der Handlungspflicht des Gutachters Kenntnis von den gefahrbegründenden Umständen. Die zur Gefahrenabwehr maßgeblichen Handlungspflichten lassen sich nicht eindeutig dem Verantwortungsbereich des Gutachters zuordnen. Die normative Verantwortungszuschreibung gelingt nicht. Da sie nicht durch einen eindeutigen normativen Befund gestützt werden kann, ist die empirische Vermeidbarkeitsprüfung regulär, d.h. unter Berücksichtigung nicht unmittelbar tatrelevanter Umstände durchzuführen. Aufgrund der jahrelangen Sanierungsresistenz der Verantwortlichen und mit Blick auf den lediglich oberflächlichen Befund, der selbst bei pflichtgemäßer Untersuchung der Dachkonstruktion zu erwarten gewesen wäre, bestehen erhebliche Zweifel an der hypothetisch pflichtgemäßen Reaktion der Baubehörde und einer Vermeidung der tatbestandlichen Tötungserfolge. Die Vermeidbarkeit des Erfolgs für den Gutachter bei hypothetisch pflichtgemäßem Handeln muss verneint werden. Ein Zurechnungszusammenhang zwischen der garantenpflichtwidrigen Unterlassung des Gutachters und dem Eintritt des Tötungserfolgs besteht nicht. 6. Zusammenfassung Im Ergebnis mit der Rechtsprechung übereinstimmend kann der tatbestandliche Erfolg dem Erstgaranten im Abszess-Fall sowie im Bremsen- und Eissporthallen-Fall nicht zugerechnet werden. Im Abszess-Fall sowie im Bremsen-Fall begründete tatrelevantes Fehlverhalten des Oberarztes bzw. des Juniorchefs konkrete, substantiierte Zweifel an der Erfolgsvermeidbarkeit, im Eissporthallen-Fall ergaben sich solche Zweifel aus der jahrelangen, verantwortungslosen Sanierungsresistenz der Baubehörde.

65

Vgl. Stübinger, ZIS 2011, 602 (615).

296

D. Entwicklung eines eigenen Zurechnungsmodells

Im Lederspray-Fall besteht – auch hier im Ergebnis mit der nicht näher begründeten Lösung der Rechtsprechung übereinstimmend – ein Zurechnungszusammenhang zwischen der unterlassenen Rückrufaktion der Geschäftsleitung und den Gesundheitsschäden bei den Endverbrauchern. Auf Grundlage einer eindeutigen normativen Verantwortungszuschreibung wird die Vermeidbarkeitsprüfung auf konkret tatrelevante Umstände konzentriert, allgemeine Bedenken hinsichtlich der Effektivität von Produktrückrufen bleiben außer Betracht. Im Blutbank-Fall führt die Konzentration der Vermeidbarkeitshypothese auf konkret tatrelevante Umstände dazu, dass die vom BGH in Rechnung gestellten hypothetischen Überlegungen nicht berücksichtigt werden. Abweichend von der Lösung des BGH ist nach der hier entwickelten Lösung ein Zurechnungszusammenhang gegeben.

V. Ergebnis Das in dieser Untersuchung entwickelte Zurechnungsmodell entspringt der Überzeugung, dass der in der wissenschaftstheoretischen Kausalitätsdiskussion beobachtete methodische Pluralismus die Lösung strafrechtlicher Zurechnungsprobleme bereichern kann, wenn diese Probleme unter Rückgriff auf die bewährte Methodik nicht mehr zufriedenstellend lösbar sind. In diesem Sinn wurde versucht, der illegitimen Ausweitung hypothetischer Betrachtungen bei der Erfolgszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen mit einem normativen Zurechnungsbefund und einer hierauf gestützten Konzentration der Vermeidbarkeitshypothese auf unmittelbar tatrelevante Umstände zu begegnen. Die in der Literatur vorwiegend zum Anlass von Kritik genommene Möglichkeit der Entlastung mit der hypothetischen Pflichtverletzung eines anderen wird durch das vorgelegte Modell nur bedingt ausgeräumt. Nach der hier vertretenen Ansicht setzt die strafgesetzlich verankerte Unterscheidung zwischen Verletzungs- und Gefährdungsdelikten der Verhinderung einer solchen Entlastung Grenzen. Ob ein gesetzgeberisches Aufweichen dieser Grenzen oder die Schaffung neuer Gefährdungstatbestände kriminalpolitisch angezeigt ist, darf bezweifelt werden. Die hier vollzogene Umkehrung des etablierten Zweischritts einer empirischen Kausalitätsbetrachtung und einer hierauf gestützten normativen Zurechnungsentscheidung kann zweifellos nicht mit allgemeinem Konsens rechnen. Doch vielleicht wird sie zum Anlass genommen, in eine fruchtbare Diskussion über Chancen und Grenzen der Normativierung der Erfolgszurechnung in Konstellationen beizutragen, in denen der gängige naturwissenschaftlich-empirische Ansatz an seine Grenzen stößt. Eine Verlagerung dieser Diskussion vom Nebenschauplatz des Zweifelsgrundsatzes auf das Feld der systemgerechten Interpretation der Verletzungsdelikte ist ein weiteres Anliegen, das sich mit fortwährender Beschäftigung mit dem Untersuchungsgegenstand gebildet hat.

E. Anwendung des Lösungskonzepts auf ausgewählte Zurechnungsprobleme im Rahmen von Compliance-Systemen In dem folgenden, die Untersuchung abschließenden Teil E. wird das erarbeitete Zurechnungsmodell auf ausgewählte Zurechnungsprobleme im Rahmen von Compliance-Systemen angewendet. Dies geschieht aus zwei Gründen. Zum einen soll verdeutlicht werden, was die Untersuchung der höchstrichterlich entschiedenen Fälle drittvermittelter Rettungsgeschehen bereits angedeutet hat: Es handelt sich bei dem hier diskutierten Zurechnungsproblem nicht um ein rechtsdogmatisches Gedankenexperiment, sondern um eine praxisrelevante, angesichts zunehmend arbeitsteilig organisierter Gefahrüberwachung im Wirtschaftsleben häufig auftretende Problemstellung. Zum anderen wird der Versuch unternommen, die stark auf das Problem der Begründbarkeit einer Garantenstellung des Compliance Officers konzentrierte strafrechtliche Compliance-Diskussion für Fragen der Zurechenbarkeit aus dem Wirtschaftsbetrieb hervorgehender straftatbestandlicher Erfolge zu sensibilisieren. Nachdem in einer Einführung die Problemstellung aufbereitet und der Untersuchungsgegenstand definiert wurde, werden praxisrelevante Fallkonstellationen herausgearbeitet und mit dem in dieser Untersuchung entwickelten Zurechnungsmodell einer Lösung zugeführt.

I. Einführung 1. Zurechnungsprobleme als unbearbeitete Thematik Spätestens mit dem Obiter Dictum des BGH in seinem Urteil vom 17.07.20091 wurde die wirtschaftsrechtliche Compliance-Diskussion auf Fragen der strafrechtlichen Haftbarkeit ausgedehnt. Die Begründbarkeit einer strafrechtlichen Garantenstellung des Compliance Officers i. S. v. § 13 I StGB ist seither breit erörtert worden, ein eindeutiges Ergebnis zeichnet sich nicht ab. Fragen der strafrechtlichen Erfolgszurechnung haben in dieser Diskussion bislang kaum Beachtung gefunden. Sie werden unter der Rubrik „Sonstige Strafbarkeitsvoraussetzungen“ meist mit einem Hinweis auf die allgemein im Bereich der Unterlassungszurechnung geltenden Zurechnungsmodalitäten abgehandelt.2 Dies 1 2

BGHSt 54, 44. Vgl. etwa Geiger, CCZ 2011, 170 (173 f.).

298

E. Anwendung des Lösungskonzepts

erscheint einerseits nachvollziehbar: Eine allgemeingültige, umfassende Diskussion von Zurechnungsproblemen ist in einer so von der konkreten Ausgestaltung der Organisationsstrukturen im Einzelfall abhängigen Materie kaum möglich.3 Damit ist jedoch andererseits noch nicht gesagt, dass sich nicht einzelne Konstellationen herausgreifen und unter Zurechnungsgesichtspunkten untersuchen lassen. Der begrenzte Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit ermöglicht eine solche Fokussierung. Die Gefahrenabwehr in Compliance-Systemen wird im Folgenden als drittvermitteltes Rettungsgeschehen beschrieben. So soll die Compliance-Diskussion für das in dieser Arbeit untersuchte Zurechnungsproblem sensibilisiert und gleichzeitig ein Vorschlag zur Lösung dieses Problems unterbreitet werden. 2. Untersuchungsgegenstand: Drittvermitteltes Rettungsgeschehen im Compliance-System Drittvermittelte Rettungsgeschehen treten in der Rechtswirklichkeit immer dort auf, wo nacheinandergeschaltet arbeitsteilig Gefahren überwacht werden. Unter der Voraussetzung, dass sich eine Garantenstellung des Compliance Officers für unternehmensexterne Rechtsgüter begründen lässt4, liegt genau diese Konstellation bei der Überwachung von Gefahren in Compliance-Systemen vor: Der Compliance Officer ist als Erstgarant für die Gefahrendiagnose und Information der Geschäftsleitung verantwortlich. Auf Grundlage dieser Information muss die Geschäftsleitung die geeigneten gefahrneutralisierenden Maßnahmen ergreifen. Nur durch arbeitsteilig nacheinandergeschaltet pflichtgemäßes Handeln von Compliance Officer und Geschäftsleitung kann der vorbedingte tatbestandliche Erfolg abgewendet werden. Es handelt sich also bei der Abwehr von Gefahren für unternehmensexterne Rechtsgüter durch Compliance-Systeme um drittvermittelte Rettungsgeschehen. Nun ist nicht nur die Grundkonstellation der Compliance diejenige eines drittvermittelten Rettungsgeschehens, auch kann hierbei das Zurechnungsproblem auftreten, mit dessen Lösung sich diese Untersuchung beschäftigt. Ohne der unten folgenden Typisierung einzelner Fallkonstellationen5 vorzugreifen lässt sich das Problem in diesem Kontext wie folgt skizzieren: Der Compliance Officer, dessen unternehmensinterne Pflichten zur Erkennung von Gefahrenquellen und Rechtsverstößen im Außenverhältnis eine Garantenpflicht i. S. v. § 13 I StGB begründen, verletzt seine Diagnose- und/oder Meldepflicht, ein Schaden an einem unternehmensexternen Rechtsgut tritt ein. Es bestehen konkrete Zweifel, ob die 3 Auf die Einzelfallabhängigkeit der Zurechnungsentscheidung weist Geiger, CCZ 2011, 170 (173) hin. 4 Zu dieser Frage sogleich S. 300 ff. 5 Hierzu sogleich S. 305 ff.

I. Einführung

299

Unternehmensleitung als Informationsadressat pflichtgemäß auf die Warnhinweise reagiert und den Erfolgseintritt verhindert hätte. Dann stellt sich die bekannte Frage, ob der Erfolgseintritt dem garantenpflichtwidrig unterlassenden Compliance Officer über diese Zweifel hinweg zugerechnet werden kann, oder ob die Erfolgsvermeidbarkeit und damit auch der Zurechnungszusammenhang zwischen der Unterlassung des Compliance Officers und dem Erfolgseintritt zu verneinen sind. Die Praxisrelevanz dieses Zurechnungsproblems offenbart sich nicht bereits anhand einer Fülle obergerichtlicher Entscheidungen – die strafrechtliche Kasuistik ist in der vergleichsweise jungen Compliance-Diskussion noch spärlich. Jedoch werden Compliance-Systeme jedenfalls in Großunternehmen mittlerweile nahezu flächendeckend eingerichtet. Unvermeidlich kommt es hierbei zu Verletzungen von Diagnose-, Meldungs- und Schadenvermeidungspflichten. Beispielhaft zeigt die Verurteilung des leitenden Innenrevisors der Berliner Stadtreinigungsbetriebe6, dass auch zur Verhinderung von Rechtsverstößen eingesetzte Mitarbeiter – sei es aus persönlicher Unachtsamkeit, sei es in Anpassung an eine in dieser Hinsicht defizitäre Unternehmenskultur – ihren Schadensvermeidungspflichten nicht immer nachkommen. Im Lederspray-Fall und im Bremsen-Fall wiederum wird deutlich, dass Mitglieder der Unternehmensleitung unter dem Druck des wirtschaftlichen Wettbewerbs auf Warnhinweise nicht immer pflichtgemäß reagieren, wenn sich eine solche Reaktion nachteilig auf die Wettbewerbsstellung des Unternehmens auszuwirken droht. In beiden Fällen wurden konkrete Hinweise auf Gesundheits- und Lebensgefahren ignoriert. Im Bremsenfall drohte ein Auftragsverlust durch den reparaturbedingten Ausfall von Betriebsmitteln, im Lederspray-Fall ein massiver Imageschaden sowie die Konfrontation mit erheblichen Schadensersatzforderungen. Immer wenn sich solche Pflichtverletzungen auf Informations- und Reaktionsebene in Compliance-Systemen verketten, steht man vor dem in dieser Arbeit untersuchten Zurechnungsproblem. 3. Grundannahmen zu Garantenstellung und sonstigen Strafbarkeitsvoraussetzungen Als Grundlage für die darauf folgende Anwendung des oben erarbeiteten Zurechnungsmodells werden im Folgenden einige Grundannahmen zur Garantenstellung und den sonstigen Voraussetzungen einer strafrechtlichen Haftbarkeit 6 Der angeklagte Leiter der Rechtsabteilung und Innenrevision der Berliner Stadtreinigungsbetriebe hatte einen Fehler in der Tarifberechnung nicht gegenüber dem Vorstandsvorsitzenden beanstandet, nachdem ein Mitglied des Vorstands eine Behebung des Fehlers abgelehnt hatte, vgl. BGHSt 54, 44.

300

E. Anwendung des Lösungskonzepts

des Compliance Officers formuliert. Die Auseinandersetzung mit den einzelnen Strafbarkeitsvoraussetzungen erhebt nicht den Anspruch auf vollständige Abbildung des gegenwärtigen Streitstandes. Sie soll lediglich einen möglichst konsensfähigen Rahmen abstecken, innerhalb dessen das Zurechnungsproblem gelöst werden kann. a) Garantenstellung Im Ausgangspunkt der Diskussion besteht allgemeiner Konsens, dass eine Garantenstellung des Compliance Officers nur eine abgeleitete sein kann. Die Verhinderung betriebsbezogener Rechtsverstöße aus dem Unternehmen heraus ist Teil der Leitungsaufgabe der Unternehmensführung – der Geschäftsführung in der GmbH, des Vorstands in der AG. Nur kraft wirksamer Delegation dieser Leitungsaufgabe auf den Compliance Officer kann diesem eine Garantenstellung als abgeleitete Pflicht zukommen.7 Vor diesem Hintergrund setzt eine Garantenstellung des Compliance Officers voraus, dass die originäre Pflicht der Unternehmensführung, Rechtsverstöße zu unterbinden, eine Garantenstellung zur Verhinderung auch unternehmensexterner Rechtsgutsverletzungen begründet und dass diese Garantenpflicht zur Verhinderung unternehmensexterner Rechtsgutsverletzungen auf den Compliance Officer übertragbar ist. Eine Überwachungsgarantenstellung zugunsten unternehmensexterner Rechtsgüter kommt der Unternehmensführung jedenfalls insoweit zu, als es um Sachgefahren wie defekte Produktionsanlagen oder fehlerhafte Produkte geht.8 Eine Garantenstellung zur Überwachung von Gefahren, die auf das Fehlverhalten von Angestellten zurückgehen, lässt sich über das Rechtsinstitut der Geschäftsherrenhaftung begründen. Maßgeblich wird hierbei auf die Befehlsmacht der Unternehmensleitung abgestellt: Diese kontrolliere und beherrsche den Betrieb als Gefahrenquelle, sie habe mit den Mitteln der Verbandsdisziplin die Möglichkeit und die Pflicht, von dieser beherrschten Gefahrenquelle ausgehende Gefahren unabhängig davon zu neutralisieren, ob diese auf menschliches Fehlverhalten oder Sachgefahren zurückzuführen seien.9 Mindestvoraussetzung ist jedoch, dass es sich um betriebsbezogenes Fehlverhalten handelt – die Verhinderung von Exzesstaten der Angestellten ist also nicht von der Garantenpflicht der Unternehmensleitung erfasst.10

7 Vgl. hierzu nur Rönnau/Schneider, ZIP 2010, 53 (56 ff.); Knauer, FS Imme Roxin, 465 (473 f.); Bürkle, CCZ 2010, 4 (5); Berndt, StV 2009, 687 (689). 8 Rönnau/Schneider, ZIP 2010, 53 (54). 9 Vgl. etwa Roxin, AT II, 32/137; Dannecker/Dannecker, JZ 2010, 981 (989). 10 Vgl. etwa Fischer, StGB, § 13 Rn. 69 m.w. N.

I. Einführung

301

Gegen eine Garantenstellung des Compliance Officers wird insbesondere geltend gemacht, die Garantenstellung der Unternehmensleitung sei nicht auf den Compliance Officer übertragbar. Da sich die Garantenstellung der Geschäftsleitung aus der Figur der Geschäftsherrenhaftung ableite, wohne ihr ein konstitutives Element der Herrschaftsgewalt inne, das in der Rechtsstellung des Compliance Officers gerade fehle. Eine von der Pflichtenstellung der Unternehmensleitung abgeleitete Garantenstellung des Compliance Officers komme daher nicht in Betracht.11 Nach der hier vertretenen Ansicht basiert diese Ablehnung der Garantenstellung auf einem zu formalistischen Verständnis der Kontrolle über den Gefahrenherd als Voraussetzung für eine Überwachungsgarantenstellung. Materieller Haftungsgrund einer solchen Garantenstellung ist die Ausübung der Kontrolle über eine Gefahrenquelle. Grund einer solchen beherrschenden Stellung kann eine zivilrechtliche Weisungsbefugnis sein. Soll aber die Sanktionsdrohung des § 13 I StGB die Rettung bedrohter Rechtsgüter durch einstandspflichtige Personen bewirken und ist es aus der Perspektive des bedrohten Rechtsguts unerheblich, ob ein potenzieller Retter das gefahrbegründende Geschehen als Weisungsberechtigter oder rein faktisch aufgrund eines Informationsvorsprungs beherrscht, so kommt auch ein solcher Informationsvorsprung als materieller Haftungsgrund einer Garantenstellung in Betracht. Spaltet die Unternehmensleitung ihre Pflicht zur Diagnose von Gefahren ab und überträgt sie auf eine fachlich weisungsunabhängige, umfassend informierte und auf eben diese Diagnose von Gefahren spezialisierte Führungsperson, so übt diese Person die faktische Kontrolle über den Gefahrenherd aus. Gehen die rechtliche Diagnosepflicht und die faktische Kontrolle über den Gefahrenherd auf den Compliance Officer über, so ist nicht einzusehen, warum dieser rechtlichen und faktischen Kontrolle die strafbewehrte Garantenpflicht nicht nachfolgen sollte. Im Bewusstsein der erheblichen strukturellen Unterschiede in der praktischen Umsetzung von Compliance-Systemen lässt sich daher jedenfalls für den fachlich weisungsunabhängig agierenden, direkt der Unternehmensleitung unterstellten Compliance Officer eine Garantenstellung i. S. v. § 13 I StGB begründen.12 Unter den Befürwortern einer Garantenstellung besteht Einigkeit, dass deren Umfang nicht über den Umfang der originären Pflichten der Unternehmensleitung hinausgehen kann und maßgeblich davon abhängt, in welchem Ausmaß Diagnose- und Kontrollpflichten tatsächlich von der Unternehmensleitung auf den 11 So etwa Berndt, StV 2009, 687 (690); Schneider/Gottschaldt, ZIS 2011, 573 (574); Geiger, CCZ 2011, 170 (172); Warneke, NStZ 2010, 312 (316). Nach Spring, GA 2010, 222 (227) fehlt es an einem materiellen Haftungsgrund zur Begründung einer Garantenpflicht, wenn der den Rechtsverstoß verursachende Betriebsangehörige vollverantwortlich handelt. 12 Ähnlich Dann/Mengel, NJW 2010, 3265 (3267 f.); Dannecker/Dannecker, JZ 2010, 981 (990); Rönnau/Schneider, ZIP 2010, 53 (58).

302

E. Anwendung des Lösungskonzepts

Compliance Officer übertragen wurden. Dies ergibt sich zwingend aus dem akzessorischen Charakter der Garantenpflicht.13 Einen strukturierten Zugriff auf das Pflichtenspektrum ermöglicht die in der BGH-Entscheidung vom 17.07.2009 angelegte Unterscheidung von Präventivfällen und Interventionsfällen.14 Der präventive Pflichtenkreis des Compliance Officers beinhaltet etwa die Ausarbeitung und Weiterentwicklung einer effektiven Compliance-Struktur, die Formulierung von Verhaltenskodizes sowie die Schulung von Mitarbeitern.15 Da sich die Kausalität von Versäumnissen des Compliance Officers im präventiven Bereich kaum jemals nachweisen lassen wird,16 spielt dieser Teil des Pflichtenspektrums für die strafrechtliche Diskussion nur eine untergeordnete Rolle. Für die strafrechtliche Diskussion ist der Pflichtenkreis in Interventionsfällen relevant. Der Compliance Officer muss gefahrrelevante Informationen sammeln und potenziell gefahrträchtige Abläufe kontrollieren, bei Auftreten von Verdachtsfällen nähere Untersuchungen anstellen und den Sachverhalt an die Unternehmensleitung melden, sollte sich der Verdacht erhärten. Eine Verletzung dieser Eskalationspflicht17, bei drohenden Rechtsverstößen unmittelbar an die Unternehmensleitung zu berichten, ist der maßgebliche Anknüpfungspunkt eines strafrechtlichen Vorwurfs. Die Informationspflicht und die ihr vorgeschaltete Diagnose- und Untersuchungspflicht bilden den Kernbereich der strafrechtlich relevanten Pflichtenstellung, da dem Compliance Officer die Anordnungsbefugnisse für eine eigene, unmittelbare Reaktion auf die Gefahrenlage fehlen. Steht eine rechtswidrige Handlung eines Unternehmensangehörigen unmittelbar bevor oder kann der Erfolgseintritt noch verhindert werden und kommt der Compliance Officer in einem solchen Eskalationsfall seiner Diagnose- und Informationspflicht nicht nach, so verletzt er seine Garantenpflicht i. S. v. § 13 I StGB. b) Vorsatz/Fahrlässigkeit Während der verurteilte Innenrevisor im Fall „Berliner Stadtreinigungsbetriebe“ vorsätzlich handelte, kommt auch die fahrlässige Verletzung von Diagnose- und Informationspflichten durch den Compliance Officer in Betracht. Im Fahrlässigkeitsbereich sind insbesondere Fälle denkbar, in denen der Compliance Officer einem „Anfangsverdacht“ auf Vorliegen eines Rechtsverstoßes nicht sorgfaltspflichtgemäß nachgeht oder seine ungenügenden Untersuchungen nicht 13

Vgl. etwa Bürkle, CCZ 2010, 4 (6); Rönnau/Schneider, ZIP 2010, 53 (58 f.). Vgl. BGHSt 54, 44 (49); Thomas, CCZ 2009, 239 (240); Knauer, FS Imme Roxin, 465 (480). 15 Vgl. Bürkle, Hauschka Corporate Compliance, § 8 Rn. 24–26. 16 So auch Knauer, FS Imme Roxin, 465 (480). 17 Vgl. zu Begriff und Pflichtenspektrum auch Bürkle, CCZ 2010, 4 (9); Rönnau/ Schneider, ZIP 2010, 53 (59 f.). 14

I. Einführung

303

das gesamte Risikopotenzial aufzudecken vermögen, sodass nur eine unzulängliche Teilinformation der Geschäftsleitung erfolgt. In der Frage, ob die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte dazu neigen werden, den (bedingten) Vorsatz des Compliance Officers vorschnell zu bejahen, oder in restriktiver Haltung in der Regel von fahrlässigem Handeln ausgehen werden, gehen die Einschätzungen auseinander. Während Kraft/Winkler den Vorsatztäter für die „unrühmliche Ausnahme“ 18 halten, gehen Dann/Mengel davon aus, dass die Strafverfolgungsbehörden dem Compliance Officer schnell bedingten Vorsatz zuschreiben würden, wenn dieser Hinweisen auf Rechtsverstößen nicht nachginge.19 Da sich pauschale Spekulationen an dieser Stelle verbieten, sei ein Differenzierungskriterium angedacht: Vielleicht spricht in Fällen, in denen der Compliance Officer bereits seiner Diagnosepflicht nicht nachkommt, vieles für die Annahme von Fahrlässigkeit, während eine Verletzung der Informationspflicht auf der Grundlage einer zuvor zutreffend erarbeiteten Informationsgrundlage eher den Schluss auf (bedingten) Vorsatz nahelegt. c) Delikte Von der Differenzierung in der Vorsatzfrage hängt es entscheidend ab, nach welchen Delikten sich der Compliance Officer strafbar machen kann. Da die in Betracht kommenden Vermögens- und Korruptionsdelikte keine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit vorsehen, kommen im Fahrlässigkeitsbereich insbesondere die §§ 222, 229 StGB in Betracht – etwa bei Produktfehlern20 oder Schäden an betrieblichen Anlagen, über die der Compliance Officer im Rahmen seiner Kontroll- und Überwachungstätigkeit Kenntnis erlangt. Zwar ist Kraft/Winkler recht zu geben, dass in diesen Bereichen regelmäßig fachkundiges Personal über technische Risiken wachen wird.21 Dennoch ergibt sich für den Compliance Officer ein eigenständiger Pflichtenkreis insoweit, als er die Informationen aus diesen Fachbereichen sammeln, bewerten und auf Grundlage dieser Bewertung über die Information der Unternehmensleitung entscheiden muss, sodass auch bei Überwachung technischer Einrichtungen durch Fachpersonal Raum für eine Fahrlässigkeitshaftung des Compliance Officers verbleibt. Lässt sich (bedingter) Vorsatz des Compliance Officers nachweisen, so kommt im Kernstrafrecht insbesondere eine Strafbarkeit nach Vermögensdelikten (§§ 263, 266 StGB), § 264 StGB oder Korruptionsdelikten (§§ 299, 331 ff. StGB) in Betracht. 18 19 20 21

Kraft/Winkler, CCZ 2009, 29 (32). Vgl. Dann/Mengel, NJW 2010, 3265 (3268). Vgl. Rönnau/Schneider, ZIP 2010, 53 (53). Vgl. Kraft/Winkler, CCZ 2009, 29 (32).

304

E. Anwendung des Lösungskonzepts

d) Täterschaft/Teilnahme Lässt sich beim Compliance Officer (bedingter) Vorsatz nachweisen und geht die Gefahr für ein unternehmensexternes Rechtsgut vom Verhalten eines anderen Unternehmensangehörigen aus, so stellt sich die Frage, ob eine Strafbarkeit als Unterlassungstäter oder lediglich wegen Beihilfe durch Unterlassen in Betracht kommt. Schneider/Gottschaldt wagen in dieser Frage die Prognose, die Rechtsprechung werde in der Praxis mit ihren Abgrenzungskriterien des Interesses am Taterfolg sowie der Tatherrschaft in der Regel zu einer Beihilfestrafbarkeit kommen.22 Knauer dreht dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis um: In der Regel werde Täterschaft vorliegen, werde die Gefahr durch eine dem Compliance Officer hierarchisch übergeordnete Person aktiv verursacht, liege lediglich Teilnahme vor.23 Krüger wiederum differenziert: Während bei Überwachungsgaranten regelmäßig Täterschaft anzunehmen sei, liege bei Beschützergaranten eine Beihilfestrafbarkeit näher.24 Für die vorliegende Untersuchung ist die Unterscheidung von Täterschaft und Teilnahme nicht entscheidend, da der BGH auch bei Annahme einer Beihilfe durch Unterlassen nach der Vermeidbarkeit des Erfolgs bei hypothetisch pflichtgemäßem Handeln fragt,25 was in der hier untersuchten Konstellation der Unsicherheit über das hypothetisch pflichtgemäße Handeln der Unternehmensleitung zu dem gleichen Zurechnungsproblem führt, wie bei der Annahme von Täterschaft. Hingewiesen sei dennoch auf den praxisrelevanten Fall des fahrlässigen Rechtsverstoßes durch Unternehmensangehörige. Hier kommt mangels akzessorischer Haupttat i. S. v. § 27 I StGB ohnehin nur eine täterschaftliche Haftbarkeit des Compliance Officers in Betracht. e) Zwischenergebnis Die Frage, ob dem Compliance Officer eine Garantenstellung i. S. v. § 13 I StGB zukommt, die ihn zur Abwendung von Schäden an unternehmensexternen Rechtsgütern verpflichtet, wird kontrovers diskutiert. Nach der hier vertretenen Ansicht kann das Argument der strikt unternehmensinternen Ausrichtung der Handlungspflicht mit der universellen Ausrichtung der Handlungspflicht eines Überwachungsgaranten entkräftet werden. Übrig bleibt die faktische Kontrolle über den Gefahrenherd, normativ aufgeladen mit der dienst- oder arbeitsvertraglichen Pflicht, Rechtsverstöße zu verhindern und Gefahren abzuwenden. Aus die22 23 24 25

Schneider/Gottschaldt, ZIS 2011, 573 (576). Knauer, FS Imme Roxin, 465 (481). Krüger, ZIS 2011, 1 (8). Vgl. BGHSt 54, 44 (51 f.).

II. Fallkonstellationen

305

ser Kombination lässt sich mit guten Gründen eine Garantenpflicht des Compliance Officers in leitender Stellung ableiten. Im Übrigen werden die Strafbarkeitsrisiken insbesondere durch die fehlende Fahrlässigkeitsstrafbarkeit im Bereich der Vermögensdelikte abgemildert. Es verbleiben jedoch bei der Annahme von bedingtem Vorsatz oder im Bereich der §§ 222, 229 StGB Fälle, in denen die Haftungsvoraussetzungen vorliegen. In diesen Fällen wird sich wie gesehen das in dieser Arbeit untersuchte Zurechnungsproblem stellen. Wie schwer sich Praxis und Wissenschaft mit einer vorhersehbaren Lösung dieses Problems psychisch vermittelter Unterlassungskausalität tun, wird an den beiläufigen Bemerkungen von Kraft/Winkler und Dann/Mengel deutlich. Kraft/ Winkler kommen zu der Einschätzung, dass die Zurechnungsentscheidung „in erheblichem Maße von einem zwischen der Unterlassung und dem Eintritt des tatbestandlichen Erfolges liegenden eigenen Entschluss und Handeln einer dritten Person (der Betriebsleitung)“ abhänge, „was für das Gericht eine zurechenbare Verknüpfung äußerst schwierig bis unmöglich“ mache – erfahrungsgemäß werde der Zurechnungszusammenhang daher „nur schwer bis gar nicht nachzuweisen“ sein.26 Dann/Mengel hingegen gehen davon aus, dass „die Ermittlungsbehörden im Regelfall unterstellen werden, dass ein pflichtgemäß informierter Vorgesetzter für die notwendige Abhilfe gesorgt hätte“.27 In dieser Unsicherheit soll die Anwendung des in dieser Untersuchung entwickelten Zurechnungsmodells Abhilfe schaffen.

II. Fallkonstellationen Mit den unterschiedlichen Anforderungen an die Leistungsfähigkeit von Compliance-Systemen je nach Größe des Unternehmens variiert auch deren praktische Ausgestaltung.28 Eine abstrakte Diskussion des Zurechnungsproblems läuft Gefahr, der Rechtswirklichkeit in ihrer Gestaltungsvielfalt nicht gerecht zu werden. Daher werden im Folgenden zwei Szenarien entworfen, die eine Vielzahl der Compliance-Systeme in mittelständischen und großen Unternehmen in ihrer Grobstruktur abbilden dürften. Diese Typisierungen sollen eine aussagekräftige Untersuchungsgrundlage bilden, auf dieser Grundlage wird aus den Erkenntnissen dieser Untersuchung eine Lösung des Zurechnungsproblems erarbeitet. Der Aufbau der Compliance-Strukturen in diesen Szenarien orientiert sich einerseits an den Beobachtungen unternehmensnaher Fachautoren und andererseits an den strukturellen Gestaltungsvorschlägen der Fachliteratur. Die Auseinander26 27 28

Kraft/Winkler, CCZ 2009, 29 (32). Dann/Mengel, NJW 2010, 3265 (3268). Vgl. Bürkle, Hauschka Corporate Compliance, § 8 Rn. 8.

306

E. Anwendung des Lösungskonzepts

setzung mit den organisatorischen Besonderheiten dieser Szenarien gibt Raum für rechtstatsächlich notwendige Differenzierungen. Zunächst wird noch der Untersuchungsgegenstand insofern begrenzt, als zwei für die vorliegende Untersuchung von Zurechnungsproblemen unergiebige Konstellationen nicht thematisiert werden. Nicht untersucht werden zum einen Fälle, in denen eine Unternehmensleitung, die nicht der spezialgesetzlichen Verpflichtung zur Einrichtung eines Compliance-Systems29 unterliegt, trotz vergangener Rechtsverstöße im Unternehmen kein Compliance-System installiert. Bei einem weiteren Rechtsverstoß ließe sich nun fragen, ob bei pflichtgemäßer Einrichtung von Compliance-Strukturen der Rechtsverstoß und der daraus resultierende tatbestandliche Erfolg ausgeblieben wären. Da hier jedoch bereits die mögliche Struktur einer hypothetisch einzurichtenden Compliance-Organisation völlig unklar bleibt, lässt sich diese Konstellation unter Vermeidbarkeitsgesichtspunkten nicht beurteilen, sodass hier eine Erfolgszurechnung regelmäßig scheitern muss.30 Nicht untersucht werden zum anderen Fälle, in denen ein Angestellter ohne spezifische Überwachungspflichten auf einen Rechtsverstoß aufmerksam wird und diesen nicht an den Compliance Officer meldet. Dieser Angestellte mag nämlich im Innenverhältnis pflichtwidrig handeln, eine Garantenstellung in Bezug auf unternehmensexterne Rechtsgüter kommt ihm jedoch nicht zu. Damit kommt eine strafrechtliche Unterlassungszurechnung nicht in Betracht. 1. Leitender Compliance Officer meldet nicht an Unternehmensführung In Konstellation 1 wird die entscheidende Pflichtverletzung an der Schnittstelle zwischen dem leitenden Compliance Officer und der Unternehmensführung begangen. In aller Regel wird die Compliance nicht dezentral im Sinne einzelner, voneinander unabhängiger Überwachungseinheiten in den einzelnen Geschäftsbereichen organisiert. Vielmehr steht an der Spitze der ComplianceStruktur ein zentraler, leitender, selbst nur der Unternehmensführung verantwortlicher Compliance Officer.31 In dieser Konstellation 1 stellt sich die Frage, ob ein Schaden an einem unternehmensexternen Rechtsgut dem leitenden Compliance Officer zurechenbar ist, wenn dieser die umfassende Diagnose und/oder die Weiterleitung des Gefahrbefundes an die Unternehmensführung garantenpflichtwidrig unterlässt, wobei konkrete Zweifel bestehen, ob die Unternehmensführung 29 Rönnau/Schneider, ZIP 2010, 53 (53 Fn. 4) und Bürkle, CCZ 2010, 4 (5) nennen § 33 I 2 Nr. 1 WpHG i.V. m. § 12 III, IV WpDVerOV. 30 Vgl. auch Schaefer/Baumann, NJW 2011, 3601 (3603 f.). 31 Vgl. die Praxisempfehlung von Bürkle, Hauschka Corporate Compliance, § 8 Rn. 20; statt vieler auch Knauer, FS Imme Roxin, 465 (482).

II. Fallkonstellationen

307

auf einen pflichtgemäß vollumfänglich weitergeleiteten Befund pflichtgemäß regiert und den Erfolgseintritt verhindert hätte. In der Praxis tritt die Konstellation der pflichtwidrigen Unterlassung vollständiger Information durch den leitenden Compliance Officer in zwei Unterkonstellationen auf, die sich in der hierarchischen Stellung des leitenden Compliance Officers gegenüber der Unternehmensführung unterscheiden. Teils wird der leitende Compliance Officer auf Ebene der Unternehmensführung eingerichtet – als Vorstandsmitglied einer AG, als Mitglied der Geschäftsführung in der GmbH. Für diese hierarchische Gestaltung sprechen sich Knauer32 und Mosbacher33 aus. Dann verletzt der Compliance Officer seine Pflicht, das Leitungsgremium insgesamt oder dessen Vorsitzenden vollumfänglich über drohende Schäden zu unterrichten. Teils besetzt der leitende Compliance Officer aber auch eine Stabsstelle direkt unterhalb der Unternehmensleitung. Dies scheint in der Praxis die bislang favorisierte Gestaltung zu sein.34 In diesem Fall verletzt der leitende Compliance Officer seine Pflicht zur Meldung an das zuständige Mitglied des Vorstandes35 oder der Geschäftsführung. Eine Meldung an das Gesamtgremium oder dessen Vorsitzenden ist im Sinne einer abgestuften Eskalationspflicht in der Regel erst dann vorgesehen, wenn das zuständige Mitglied des Leitungsgremiums als primärer Informationsadressat erkennbar pflichtwidrig auf den Warnhinweis reagiert.36 2. Dezentraler Compliance Officer meldet nicht an leitenden Compliance Officer In Konstellation 2 ist die entscheidende Pflichtverletzung auf einer unteren Hierarchieebene zu verorten: Ein dezentraler Compliance Officer unterlässt es garantenpflichtwidrig, den leitenden Compliance Officer von einem drohenden Schaden in Kenntnis zu setzen, es bestehen jedoch Zweifel, ob letzterer die Information pflichtgemäß verarbeitet und an die Unternehmensführung weitergeleitet hätte. Dezentrale Compliance Officer sind oftmals spezialgesetzlich vorgeschriebene Überwachungspersonen für bestimmte fachliche Teilbereiche, z. B. Gewässerschutzbeauftragte, Beauftragte für die Sicherheit von Medizinprodukten, Datenschutzbeauftragte, Geldwäschebeauftragte.37 Sie sind hierarchisch unterhalb des 32

Knauer, FS Imme Roxin, 465 (482). Mosbacher, NStZ 2010, 268 (270). 34 Vgl. Bürkle, Hauschka Corporate Compliance, § 8 Rn. 32; Rönnau/Schneider, ZIP 2010, 53 (57); Dann/Mengel, NJW 2010, 3265 (3268). 35 In diesem Sinne etwa Lackhoff/Schulz, CCZ 2010, 81 (86 f.). 36 Vgl. Rönnau/Schneider, ZIP 2010, 53 (59). 37 Vgl. Geiger, CCZ 2011, 170 (173) sowie Bürkle, CCZ 2010, 4 (6 f.). 33

308

E. Anwendung des Lösungskonzepts

leitenden Compliance Officers angesiedelt und diesem in der Regel zur Berichterstattung verpflichtet, unterliegen jedoch nicht seinem fachlichen Weisungsrecht.38

III. Anwendung des Lösungsmodells Bestehen Zweifel, ob der Informationsadressat bei pflichtgemäßem Verhalten des Compliance Officers seinerseits pflichtgemäß reagiert hätte und der tatbestandliche Erfolg so vermieden worden wäre, so entsteht das in dieser Arbeit untersuchte Zurechnungsproblem. Die Rechtsprechung wird in diesen Fällen die Vermeidbarkeitstheorie anwenden. Ausgehend von der restriktiven Zurechnungsformel der Erfolgsvermeidbarkeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit lassen sich hierbei in nur der eigenen Rechtsintuition verpflichtetem Umfang hypothetische Überlegungen anstellen – so sind zurechnungsbegründende und zurechnungsausschließende Entscheidungen oft gleichermaßen begründbar. Die von Teilen der Literatur vorgeschlagenen, die Zurechnung weitgehend normativierenden Lösungsmodelle würden die pflichtgemäße Reaktion des Informationsadressaten schlicht fingieren und so die Zurechnung zur Unterlassung des Compliance Officers bejahen. Nach dem hier vorgeschlagenen Zurechnungsmodell ist in einem ersten Zurechnungsschritt eine normative Verantwortungszuschreibung vorzunehmen. Zu prüfen ist, ob die zur Erfolgsabwendung maßgebliche Handlungspflicht eindeutig dem Verantwortungsbereich des Compliance Officers zugeordnet werden kann. Gelingt die normative Verantwortungszuschreibung, so ist die in einem zweiten Zurechnungsschritt vorzunehmende empirische Vermeidbarkeitsprüfung auf unmittelbar tatrelevante Umstände zu beschränken. Pauschale Vermutungen und von den unmittelbaren Tatumständen wegführende Spekulationen müssen unterbleiben. 1. Normative Verantwortungszuschreibung Die normative Verantwortungszuschreibung erfolgt anhand der oben39 erarbeiteten Entscheidungskriterien. a) Kriterium Fachwissen Eine eindeutige Zuschreibung der zur Gefahrenabwehr maßgeblichen Handlungspflicht zum Verantwortungsbereich des Compliance Officers gelingt, wenn

38 39

Bürkle, CCZ 2010, 4 (6 f.). Vgl. oben S. 278 ff.

III. Anwendung des Lösungsmodells

309

dieser aufgrund seines überlegenen Fachwissens die faktische Kontrolle über den Gefahrenherd in den Händen hält. In Konstellation 1, bei garantenpflichtwidriger Unterlassung des leitenden Compliance Officers, wird dieser im Verhältnis zum Informationsadressaten – meist das zuständige Mitglied des Vorstandes bzw. der Geschäftsführung – in der Regel nicht über die faktische Kontrolle über den Gefahrenherd begründendes, überlegenes Fachwissen verfügen. Seiner Aufgabenbeschreibung nach ist der leitende Compliance Officers in der Regel kein hochspezialisierter Fachmann in technischen, steuerlichen oder bilanzrechtlichen Fragestellungen, sondern eine mit ressortübergreifenden Grundkenntnissen ausgestattete Führungspersönlichkeit. Sein Tätigkeitsschwerpunkt ist nicht die technische Fehlerdiagnose, sondern die Kontrolle von Prozessen, die Bündelung und Analyse der Berichte dezentraler Compliance Officer und deren Weiterleitung an die zuständige Stelle innerhalb der Unternehmensführung – Bürkle spricht von einer „Schnittstellen- und Steuerungsfunktion“ 40. Seine umfassende Kenntnis potenziell gefahrträchtiger Abläufe verschafft ihm gegenüber der Unternehmensführung zwar einen gefahrrelevanten Informationsvorsprung, unter dem Kriterium überlegenen Fachwissens gelingt jedoch eine eindeutige Verantwortungszuschreibung nicht. In Konstellation 2, bei garantenpflichtwidriger Unterlassung eines dezentralen Compliance Officers hingegen gelingt eine eindeutige Verantwortungszuschreibung nach dem Kriterium überlegenen Fachwissens, wenn es sich um spezialgesetzlich vorgeschriebene, mit fachlich-technischer Expertise ausgestattete Überwachungspersonen wie etwa den Immissionsschutz- und Störfallbeauftragten nach §§ 53, 58a ff. BImSchG i.V. m. der 5. BImschV oder den Gewässerschutzbeauftragten nach §§ 64 ff. WHG41 handelt. Diesen kommt die drittschützende42 Pflicht zur fachlich-technischen Diagnose von Gefahrenquellen zu. Aufgrund ihres gegenüber dem leitenden Compliance Officer und der Unternehmensführung überlegenen Fachwissen halten sie die faktische Kontrolle über den Gefahrenherd in ihren Händen, die zur Gefahrenabwehr maßgeblich erforderliche Handlungspflicht kann eindeutig ihrem Verantwortungsbereich zugeordnet werden. b) Kriterium Kenntnis Bei der Beurteilung des Ausschlusskriteriums der Kenntnis des Dritten ergeben sich für die Gefahrenabwehr in Compliance-Systemen keine Besonderheiten. Haben das zuständige Mitglied der Unternehmensführung in Konstellation 1 bzw. der leitende Compliance Officer in Konstellation 2 im Zeitpunkt der Entstehung der Handlungspflicht des leitenden bzw. dezentralen Compliance Officers 40 41 42

Bürkle, Hauschka Corporate Compliance, § 8 Rn. 23. Beispiele nach Geiger, CCZ 2011, 170 (173). Vgl. Geiger, CCZ 2011, 170 (173).

310

E. Anwendung des Lösungskonzepts

eigene Informationen über den Gefahrenherd, so scheidet nach dem Ausschlusskriterium der eigenen Kenntnis des Dritten von der Gefahr eine eindeutige normative Verantwortungszuschreibung aus. Die Informationspflicht des Compliance Officers verliert ihre für die Gefahrenabwehr maßgebliche Bedeutung dort, wo sie beim Informationsadressaten keinen wesentlichen Zuwachs an gefahrrelevantem Wissen bewirken kann. Erlangt der Informationsadressat nach diesem Zeitpunkt Kenntnis von den gefahrbegründenden Umständen – etwa im Zuge einer unzulänglichen Teilinformation durch den Compliance Officer – und bleibt dennoch untätig, so ist diese konkret tatrelevante Untätigkeit im Rahmen der empirischen Vermeidbarkeitsprüfung zu berücksichtigen. c) Kriterium Gestaltungsfunktion des Erstgaranten im Gefahrenabwehrsystem In Konstellation 1 wird eine Untersuchung der Funktion des leitenden Compliance Officers im Gefahrenabwehrsystem in der Regel eine eindeutige normative Zuordnung zum Verantwortungsbereich des leitenden Compliance Officers ermöglichen. Abstrakt lässt sich formulieren: Je effektiver die Diagnose- und Kommunikationsstrukturen auf das Ziel der Gefahrenabwehr ausgerichtet und ausgebaut sind und je bedeutender die Funktion ist, die dem Erstgaranten in diesem System zukommt, desto eindeutiger lässt sich die maßgebliche Handlungspflicht dem Verantwortungsbereich dieses Erstgaranten zuordnen. Diese Voraussetzungen einer eindeutigen Verantwortungszuschreibung liegen beim leitenden Compliance Officer vor. Compliance-Systeme dienen gerade der effektiven Erkennung von Gefahren, die aus dem Wirtschaftsbetrieb hervorgehen. Innerhalb dieser Systeme bekleidet der leitende Compliance Officer die zentrale, maßgeblich gestaltende Funktion. Denn zum einen laufen alle gefahrrelevanten Kommunikationskanäle beim leitenden Compliance Officer zusammen – er fungiert als Sammelstelle für alle potenziell risikoträchtigen Informationen.43 Dem Compliance Officer werden in der Praxis umfassende Einsichts- und Auskunftsrechte zugestanden44, ihm werden alle Berichte der dezentralen Compliance Officer45, der Wirtschaftsprüfung und der Innenrevision46 zugeleitet, er wohnt turnusmäßig abgehaltenen Informationstreffen bei.47 Als Kommunikationsschnittstelle kommt dem Compliance Of43 44 45 46 47

Rönnau/Schneider, ZIP 2010, 53 (58); zust. Lackhoff/Schulz, CCZ 2010, 81 (85). Bürkle, Hauschka Corporate Compliance, § 8 Rn. 34. Vgl. hierzu Bürkle, CCZ 2010, 4 (7). Bürkle, Hauschka Corporate Compliance, § 8 Rn. 35. Bürkle, Hauschka Corporate Compliance, § 8 Rn. 27.

III. Anwendung des Lösungsmodells

311

ficer eine informationelle Monopolstellung zu. Mit diesem Informationsfundus übt der Compliance Officer in der zunehmend dezentralisierten Organisationsstruktur der Unternehmen die Kontrolle über die aus dem Wirtschaftsbetrieb erwachsenden Gefahren aus, er wird zur „Schlüsselfigur bei der Verhinderung unternehmensbezogener Straftaten“ 48. Zum anderen verfügt der Compliance Officer mit seinem über die turnusmäßige Information der Unternehmensführung hinausgehenden Eskalationsrecht über das effektivste Kommunikationsmittel, um Missstände direkt vor der Unternehmensführung zur Sprache zu bringen. Die Einrichtung einer Compliance-Struktur dient dazu, die Unternehmensführung von der zunehmend komplexen Aufgabe der Überwachung potenzieller Gefahrenherde im Wirtschaftsbetrieb zu entlasten. Hierfür wird eine ComplianceStruktur eingerichtet, der leitende Compliance Officer wird mit weitreichenden Diagnose- und Informationsbefugnissen ausgestattet. Die Unternehmensführung ist zur effektiven Verhinderung von Schäden an externen Rechtsgütern auf die Arbeit des leitenden Compliance Officer zwingend angewiesen. Dies hat zur Folge, dass in Abgrenzung der normativen Verantwortungsbereiche von leitendem Compliance Officer und Unternehmensführung die Gefahrendiagnose und -analyse dem Verantwortungsbereich des leitenden Compliance Officers zugeordnet werden kann. Etwas anderes kann lediglich dann gelten, wenn die Compliance-Struktur mangelhaft entwickelt ist. Sind die Informationskanäle schlecht ausgebaut, hat der leitende Compliance Officer keinen oder nur begrenzten Einblick in die gefahrrelevanten Prozesse, so lässt sich eine eindeutige normative Verantwortungszuschreibung nicht begründen. Diese Differenzierung ermöglicht sachgerechte Ergebnisse: Ist eine gut ausgebaute Compliance-Struktur vorhanden, so liegt es im Verantwortungsbereich des leitenden Compliance Officers, diese zu nutzen. Wird die Compliance-Struktur lediglich als „Feigenblatt“, pro forma zur Verdeckung struktureller Missstände eingerichtet, so kann je nach Aufgabenverteilung entweder dem leitenden Compliance Officer oder der Unternehmensführung der Vorwurf gemacht werden, die Strukturen nicht hinreichend ausgebaut zu haben. Es kann jedoch keine Verantwortungszuschreibung mit dem Argument erfolgen, der leitende Compliance Officer hätte das gefahrbegründende Geschehen maßgeblich in den Händen gehalten, wenn seine Einflussmöglichkeiten aufgrund der Ineffektivität des Systems gering waren. In Konstellation 2 gelingt bei einer strukturellen Analyse der Funktion des dezentralen Compliance Officers innerhalb der Compliance-Struktur keine eindeutige Verantwortungszuschreibung. Er übt gegenüber dem leitenden Compliance 48 Dann/Mengel, NJW 2010, 3265 (3267); vgl. auch Dannecker/Dannecker, JZ 2010, 981 (991) sowie Rönnau/Schneider, ZIP 2010, 53 (58).

312

E. Anwendung des Lösungskonzepts

Officer eine untergeordnete Tätigkeit aus. Indem er einen technischen Teilbereich überwacht, trägt er mit seinen Erkenntnissen einen Teil zu dem Informationsfundus bei, der dem leitendenden Compliance Officer einen umfassenden Überblick über mögliche Gefahrenquellen verschafft und ihm so die informationsbasierte Kontrolle der potenziell schadensträchtigen Prozesse ermöglicht. Der dezentrale Compliance Officer übernimmt im Compliance-System lediglich die Rolle eines fachkundigen Zuarbeiters. Eine eindeutige Verantwortungszuschreibung kann hinsichtlich des dezentralen Compliance Officers unter Umständen mit informationsbasierten Kriterien49 begründet werden, eine strukturelle Untersuchung seiner Stellung im Gefahrenabwehrsystem ermöglicht eine solche Zuordnung nicht. d) Kriterium hierarchische Über-/Unterordnung Überschneiden sich die Verantwortungsbereiche von Erstgarant und Drittem dergestalt, dass ein Beteiligter unter der direkten Fachaufsicht des anderen steht, so misslingt eine eindeutige Zuordnung der zur Gefahrenabwehr maßgeblichen Handlungspflicht. In Konstellation 1 ist das hierarchische Verhältnis zwischen dem leitenden Compliance Officer und der Unternehmensleitung als Informationsadressat zu untersuchen. Sollte der leitende Compliance Officer unter der Fachaufsicht der Unternehmensleitung stehen, so scheitert eine eindeutige Verantwortungszuschreibung. Für die Untersuchung der Hierarchien in Compliance-Systemen ist die oben vorgenommene Differenzierung zu beachten: Während in der wirtschaftsrechtlichen Literatur teilweise vorgeschlagen wird, den leitenden Compliance Officer auf Ebene der Unternehmensleitung – als Mitglied des Vorstands bzw. der Geschäftsführung – zu installieren, bekleidet er in der Rechtswirklichkeit derzeit zumeist eine Stabsstelle, die hierarchisch direkt unterhalb der Leitungsebene angesiedelt ist.50 Die unterschiedlichen Hierarchieebenen, auf denen der leitende Compliance Officer in diesen beiden Unterkonstellationen tätig wird, legen folgende Argumentation nahe: Während die einzelnen Mitglieder der Geschäftsleitung bzw. des Vorstandes in der Erfüllung der ihnen jeweils zukommenden Aufgaben eigenverantwortlich handeln und keinen fachlichen Weisungen des Gesamtgremiums unterliegen, wird der hierarchisch unterhalb der Unternehmensleitung angesiedelte leitende Compliance Officer weisungsgebunden tätig – eine eindeutige Verantwortungszuschreibung scheitert.

49 50

Vgl. soeben S. 309. Vgl. zu dieser Differenzierung oben S. 306.

III. Anwendung des Lösungsmodells

313

Diese naheliegende Argumentation wird jedoch der Sonderstellung des leitenden Compliance Officers in der betrieblichen Hierarche nicht gerecht. Denn auch wenn er nicht selbst Mitglied der Unternehmensführung ist, sondern dieser hierarchisch unterstellt ist, übt er seine Tätigkeit frei von fachlichen Weisungen der Unternehmensleitung aus. Er untersteht zwar ihrem arbeitsrechtlichen, organisatorischen Direktionsrecht, fachlichen Eingriffen in sein operatives Tagesgeschäft ist er jedoch nicht ausgesetzt. Denn der Compliance Officer kann seinen komplexen Kontrollpflichten effektiv nur in weitreichender disziplinarischer, organisatorischer, finanzieller und sachlicher Unabhängigkeit gerecht werden.51 Weisungen, die seine unmittelbare Kontrolltätigkeit betreffen, sind mit seiner Funktion unvereinbar.52 Meier-Greve leitet die Notwendigkeit einer fachlich unabhängigen Tätigkeit des leitenden Compliance Officers sogar unmittelbar aus den Sorgfaltspflichten des Vorstands einer AG aus § 91 I 1 AktG her. Effektiv könne der leitende Compliance Officer seine Kontrolltätigkeit nur ausüben, wenn er fachlich unabhängig im Sinne einer „weitestgehenden Weisungsfreiheit“ 53 sei – seine Arbeit dürfe nicht durch organisatorische Hürden wie Rückfragepflichten oder drohende persönliche Konsequenzen bei unliebsamen Schritten behindert werden.54 Gestalte der Vorstand die Position des leitenden Compliance Officers nicht im Sinne einer solchen weitgehend weisungsfreien Effektivität aus und laufe damit die Delegation der Überwachungsverantwortlichkeit aufgrund einer Abhängigkeit vom Vorstand leer, so handle der Vorstand pflichtwidrig i. S. d. § 91 I 1 AktG.55 Aufgrund seiner fachlichen Unabhängigkeit von der Unternehmensleitung scheitert damit in Konstellation 1 eine eindeutige Verantwortungszuschreibung nicht an einer hierarchischen Unterordnung des leitenden Compliance Officers. Dies gilt unabhängig davon, ob nach konkreter Ausgestaltung des ComplianceSystems der leitende Compliance Officer auf Ebene der Unternehmensführung oder auf einer Stabsstelle unmittelbar unterhalb der Führungsebene installiert wird. Ähnlich stellt sich die Situation in Konstellation 2 dar. Die dezentralen Compliance Officer sind gegenüber dem leitenden Compliance Officer zwar berichtspflichtig. Handelt es sich jedoch um technisch spezialisierte Überwachungspersonen wie den Gewässerschutzbeauftragten oder den Beauftragten für die Sicherheit von Medizinprodukten, so werden diese dezentralen Compliance Officer ihre Tätigkeit schon mangels hinreichender Spezialkenntnisse des leitenden Compliance Officers auf dem jeweiligen Gebiet fachlich unabhängig ausüben. In der 51 52 53 54 55

Vgl. Rönnau/Schneider, ZIP 2010, 53 (57). Dann/Mengel, NJW 2010, 3265 (3266). Meier-Greve, CCZ 2010, 216 (221). Meier-Greve, CCZ 2010, 216 (217). Meier-Greve, CCZ 2010, 216 (219).

314

E. Anwendung des Lösungskonzepts

vertraglichen Ausgestaltung schlägt sich dies nieder: In der Regel wird dem leitenden Compliance Officer weder gegenüber den gesetzlich vorgeschriebenen, noch gegenüber freiwillig eingesetzten dezentralen Compliance Officern ein Weisungsrecht zustehen.56 Ungeachtet der formalhierarchischen Verhältnisse besteht damit in keiner der hier untersuchten Konstellationen ein sich auf die sachliche Ausübung von Kontrolltätigkeiten erstreckendes Weisungsrecht. Die hierarchische Unterordnung des leitenden Compliance Officers gegenüber der Geschäftsführung sowie der dezentralen Compliance Officer gegenüber dem leitenden Compliance Officer schließen daher eine eindeutige Verantwortungszuschreibung nicht aus. e) Zwischenergebnis Die Anwendung der in dieser Untersuchung entwickelten Kriterien ergibt, dass eine eindeutige normative Verantwortungszuschreibung – bei unvermeidlich typisierender Betrachtung – in beiden untersuchten Fallkonstellationen gelingt. In der Begründung dieser Zuschreibung bestehen Unterschiede. In Konstellation 1 ergibt sich die normative Verantwortlichkeit des leitenden Compliance Officers im Verhältnis zur Geschäftsführung aus seiner organisationsstrukturellen Stellung innerhalb des Compliance-Systems. In seiner Funktion als Informationsschnittstelle zwischen der Unternehmensführung und den potenziellen Gefahrenherden des Wirtschaftsbetriebs kontrolliert er die Gefahrenüberwachung, ohne seine Analysen ist die Unternehmensführung nicht zu einer effektiven Eindämmung dieser Gefahren in der Lage. In Konstellation 2 begründet das überlegene Fachwissen des dezentralen Compliance Officers seine normative Verantwortlichkeit im Verhältnis zum leitenden Compliance Officer, wenn der Gefahrenherd in seinen technischen Überwachungsbereich fällt. 2. Empirische Vermeidbarkeitsprüfung In einem zweiten Zurechnungsschritt ist auf Grundlage der normativen Verantwortungszuschreibung eine empirische Vermeidbarkeitsprüfung vorzunehmen. Einerseits beeinflusst hierbei das Ergebnis der normativen Verantwortungszuschreibung den Untersuchungsgegenstand der Vermeidbarkeitsprüfung: Gelingt eine normative Verantwortungszuschreibung, so spricht bei normativer Betrachtung vieles für die Vermeidbarkeit des Erfolgs durch den Compliance Officer, auf die übermäßige Integration hypothetischer Überlegungen kann verzichtet werden. Der normative Befund fließt in die Vermeidbarkeitsprüfung ein, so ent56

Vgl. Bürkle, CCZ 2010, 4 (7).

III. Anwendung des Lösungsmodells

315

steht eine aussagekräftige Entscheidungsgrundlage, die eine Spekulation über nicht konkret tatrelevante, hypothetische Vorgänge entbehrlich macht. Andererseits kontrolliert die empirische Vermeidbarkeitsprüfung den Befund der normativen Verantwortungszuschreibung. So werden systemfremd normativierende Zurechnungsentscheidungen verhindert.57 Ein eindeutiger normativer Befund liegt in beiden untersuchten Fallkonstellationen vor. Die zur Gefahrenabwehr maßgeblichen Handlungspflichten konnten eindeutig dem Verantwortungsbereich des leitenden Compliance Officers bzw. des dezentralen Compliance Officers zugeordnet werden. Die Vermeidbarkeitshypothese ist daher auf unmittelbar tatrelevante Umstände zu beschränken. Zur Beantwortung der Frage, ob bei hypothetisch pflichtgemäßem Handeln des Diagnosepflichtigen der Informationsadressat seinerseits pflichtgemäß reagiert und den tatbestandlichen Erfolg abgewendet hätte, dürfen nicht alle erdenklichen hypothetischen Überlegungen angestellt werden, sondern nur solche, die auf das unmittelbare Tatgeschehen zurückführbar sind.58 Konkret bedeutet dies für die Vermeidbarkeitsprüfung in Konstellation 1: Argumentationsfiguren wie die allgemeine Politik der Unternehmensführung bei der Aufarbeitung von Missständen müssen in der Vermeidbarkeitsbetrachtung außen vor bleiben. Hierbei handelt es sich um Mutmaßungen, die einer vorhersehbaren Konfliktbewältigung abträglich sind, auf die in einer normativ gestützten Zurechnungsprüfung verzichtet werden kann. Die Erfolgsvermeidbarkeit kann daher etwa nicht mit dem Argument abgelehnt werden, die Unternehmensführung habe in einem längere Zeit zurückliegenden Fall auf eine Beanstandung des leitenden Compliance Officers unzureichend reagiert und räume der Überwachung von Rechtsverstößen generell keine übermäßige Priorität ein, daher hätte sie auf einen pflichtgemäßen Hinweis des leitenden Compliance Officers nicht erfolgsverhindernd reagiert. Umgekehrt darf die Erfolgsvermeidbarkeit nicht mit der pauschalen Begründung angenommen werden, die Unternehmensführung habe ohne diesbezügliche gesetzliche Verpflichtung ein Compliance-System implementiert, weshalb von einer pflichtgemäßen Reaktion auf den Warnhinweis des Compliance Officers auszugehen sei. Auch Mutmaßungen über das Verhalten einer „vierten“ Person, wie sie der BGH etwa im Blutbank-Fall anstellt, müssen unterbleiben. So kann etwa nicht zurechnungsbegründend argumentiert werden, es spräche zwar alles gegen eine pflichtgemäße Reaktion des zuständigen Vorstandsmitglieds auf den hypothetischen Warnhinweis des leitenden Compliance Officers, jedoch hätte möglicher57 58

Vgl. zum Ganzen ausführlich oben S. 271 ff. Vgl. hierzu oben S. 285 ff.

316

E. Anwendung des Lösungskonzepts

weise der dezentrale Compliance Officer, der den Gefahrenherd ursprünglich entdeckt hatte, direkten Kontakt zu dem Vorstandsmitglied aufgenommen und ihn aufgrund eines guten persönlichen Verhältnisses zu pflichtgemäßem Einschreiten bewegt. Konkret tatrelevanten Umständen hingegen kommt für die Vermeidbarkeitsprüfung eine entscheidende Bedeutung zu. War etwa die Unternehmensführung in zeitlichem Zusammenhang mit dem Tatgeschehen übereingekommen, aufgrund einer zeitnahen Neuanschaffung keinen finanziellen Aufwand mehr für die Wartung und Reparatur bestimmter Betriebsmittel zu betreiben, so spricht dies gegen eine pflichtgemäße Reaktion auf einen diesbezüglichen hypothetischen Warnhinweis des leitenden Compliance Officers. Unterschätzt der leitende Compliance Officer garantenpflichtwidrig die Dimension eines Missstandes und informiert das zuständige Vorstandsmitglied daher unvollständig, so spricht es gegen die Erfolgsvermeidbarkeit, wenn der Informationsadressat auf diesen pflichtwidrig unvollständigen Hinweis seinerseits pflichtwidrig untätig bleibt. Ebenso ist in Konstellation 2 zu verfahren: Vergangene Verfehlungen des leitenden Compliance Officers oder Überlegungen zu seiner allgemeinen Arbeitsmoral bleiben aufgrund des eindeutigen Befunds der normativen Verantwortungszuschreibung bei der Beurteilung der Erfolgsvermeidbarkeit außer Betracht. Konkret tatrelevante Umstände wie eine pflichtwidrige Reaktion auf die unzulängliche Information durch den dezentralen Compliance Officer sind zu berücksichtigen. Bleiben nach Ausblendung nicht unmittelbar tatrelevanter Umstände substanzielle Zweifel an der hypothetisch pflichtgemäßen Reaktion des Informationsadressaten und damit an der Vermeidbarkeit des Erfolgs für den Compliance Officer bestehen, so kann der tatbestandliche Erfolg nicht zugerechnet werden. Ziehen keine unmittelbar tatrelevanten Umstände die hypothetisch pflichtgemäße Reaktion in Zweifel, gelingt die Erfolgszurechnung. 3. Ergebnis Aufgrund der zentralen Funktion des leitenden Compliance Officers bei der Gefahrendiagnose und -kommunikation wird eine eindeutige Verantwortungszuschreibung in der Regel gelingen. Gleiches gilt für dezentrale Compliance Officer, die als technische Überwachungspersonen aufgrund ihres überlegenen Fachwissens den Gefahrenüberwachungsprozess in ihrem Zuständigkeitsbereich maßgeblich bestimmen. Auf Grundlage dieses Befundes ist die empirische Vermeidbarkeitsprüfung auf konkret tatrelevante Umstände zu begrenzen. Verbleiben hiernach substantiierte

IV. Ergebnis

317

Zweifel an einer pflichtgemäßen Reaktion des Informationsadressaten, kann der tatbestandliche Erfolg nicht zugerechnet werden. So wird auch in Compliance-Systemen eine sinnvolle Verteilung von Haftungsrisiken ermöglicht. Wurden effektive Compliance-Strukturen geschaffen, diese Strukturen jedoch vom Compliance Officer garantenpflichtwidrig nicht genutzt, so haftet dieser für die hieraus hervorgehenden Schäden an externen Rechtsgütern im Rahmen seiner Garantenpflicht. Erging ein – wenn auch defizitärer – Warnhinweis, auf den die Unternehmensführung pflichtwidrig nicht reagierte, so stellt diese tatrelevante Pflichtverletzung in aller Regel einen substantiierten Zweifel an der hypothetisch pflichtgemäßen Reaktion der Unternehmensführung auf einen pflichtgemäß-vollumfänglichen Warnhinweis des Compliance Officers dar. Die Zurechnung zum Compliance Officer scheitert, das Strafbarkeitsrisiko verlagert sich auf die Unternehmensführung.

IV. Ergebnis Auch wenn man wie hier von der Möglichkeit einer strafrechtlichen Haftung des Compliance Officers für Schäden an unternehmensexternen Rechtsgütern aus unechtem Unterlassungsdelikt ausgeht, stehen einer Strafbarkeit des Compliance Officers viele Hürden im Weg. Oft wird dem Compliance Officer nur fahrlässiges Verhalten vorzuwerfen sein, aus dem Kernstrafrecht kommt dann lediglich eine Haftung aus §§ 222, 229 StGB in Betracht. Hier kommt insbesondere eine Haftung dezentraler, mit der technischen Überwachung von Maschinen und Produkten betrauter Compliance Officer in Betracht. Eine Haftung des leitenden Compliance Officers kann sich bei Verletzung seiner Analyse- und Kommunikationspflichten ergeben, wenn er Schadensmeldungen der technischen Überwachungspersonen fehlerhaft verarbeitet. Liegen die übrigen Haftungsvoraussetzungen vor, scheitert nach dem hier entwickelten Lösungsmodell die Erfolgszurechnung nicht zwingend. In der Regel wird eine normative Verantwortungszuschreibung gelingen, die Vermeidbarkeitsprüfung ist dann auf konkret tatrelevante Umstände zu begrenzen. Bestehen nach dieser Begrenzung des Prüfumfangs keine substantiierten Zweifel an der pflichtgemäßen Reaktion der Unternehmensführung, so ist der Erfolg dem Compliance Officer zurechenbar.

F. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse und Ausblick In Teil F. werden die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung in Thesenform zusammengefasst. Abschließend wird ein kurzer Ausblick gegeben.

I. Ergebnisse der Untersuchung in Thesenform 1. Die Fragestellung dieser Untersuchung lautete: Anhand welcher Kriterien ist die strafrechtliche Erfolgszurechnung vorzunehmen, wenn ein Garant i. S. v. § 13 I StGB seine Pflicht nicht erfüllt, einen zur Erfolgsvermeidung zwingend erforderlichen Dritten über die Existenz und den Umfang eines Gefahrenherdes zu informieren und dieser Dritte folglich untätig bleibt, wobei konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass er selbst bei pflichtgemäßer Information möglicherweise untätig geblieben wäre. Hierbei treten drei zurechnungsdogmatische Teilprobleme in Kombination auf: das Problem der Kausalität von Unterlassungen, das Problem psychisch vermittelter Kausalität sowie das Problem der Zurechnungsrelevanz hypothetisch pflichtwidrigen Verhaltens anderer Personen. Die Kombination dieser Teilprobleme erzeugt Wechselwirkungen, die das herrschende empirisch-gesetzmäßigkeitsgeprägte Kausalitätsverständnis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit bringen. 2. Ein Blick in die wissenschaftstheoretische Kausalitätsdiskussion kann dem Rechtsanwender vor Augen führen, dass die Diskussion von Kausalitätsproblemen sinnstiftend immer nur relativ, in Abhängigkeit von zuvor formulierten Prämissen geführt werden kann. Entzieht sich eine Konstellation einer naturgesetzlichen Berechnung in gleichem Maße wie einer kontrafaktischen Vergleichsbetrachtung, so kann es lohnenswert sein, diese methodischen Prämissen zu hinterfragen. 3. Die Diskussion des Zurechnungsproblems bei drittvermittelten Rettungsgeschehen lässt sich begreifen als Exerzierfeld des klassischen Widerstreits zwischen Vertretern eines ontologisch-empirischen Zugriffs auf die Rechtswirklichkeit und normativ geprägten Rechtsanwendern. Während erstere ihre Vermeidbarkeitshypothese auch über die hypothetische Reaktion einer zwischengeschalteten Person hinweg konstruieren, verhindern letztere mit einer normativen Konstruktion die wertungswidersprüchliche Entlastung des Erstgaranten.

I. Ergebnisse der Untersuchung in Thesenform

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4. In Anbetracht dieses Streitstandes lässt sich fragen: Nimmt man Vorhersehbarkeitsdefizite in Kauf, um dem Ideal einer empirischen Ausforschung des Sachverhalts treu zu bleiben? Oder ist es vorzugswürdig, die deliktssystematischen Grenzen des Strafgesetzbuchs auszureizen, um einer „organisierten Unverantwortlichkeit“ bei arbeitsteiliger Gefahrüberwachung effektiv zu begegnen? Die vorliegende Arbeit versucht dieser Alternative zu entgehen. Einerseits scheitert ein streng empirischer Zugriff auf das Zurechnungsproblem: Eine vorhersehbare Konfliktbewältigung darf sich nicht in unbegrenztem Umfang hypothetischer Erwägungen bedienen. Andererseits können normative Erwägungen nicht den Verzicht auf die Prüfung legitimieren, ob dem Täter zur Erfolgsvermeidung geeignete Handlungsoptionen tatsächlich zur Verfügung standen. 5. Die Unterlassungszurechnung bei drittvermittelten Rettungsgeschehen wird nicht nur als Wertungsproblem, sondern insbesondere als Vorhersehbarkeitsproblem interpretiert. Die Möglichkeit, dass in außergewöhnlichen Konstellationen das hypothetisch pflichtwidrige Verhalten einer Person dem Täter zum Vorteil gereicht, kann nach der hier vertretenen Meinung de lege lata nicht vollständig ausgeschlossen werden. Als problematisch wird insbesondere die Lösung des BGH betrachtet, einen Mangel an empirischen Daten durch hypothetische Überlegungen auszugleichen, ohne Qualitätskriterien für die Hypothesenbildung zu entwickeln. Der in dieser Untersuchung entwickelte Lösungsvorschlag zielt darauf ab, die Vorhersehbarkeitsdefizite der Rechtsprechungslösung zu minimieren, ohne hierbei auf die empirische Vermeidbarkeitsbetrachtung zu verzichten. Kann die Vermeidbarkeitshypothese durch den normativen Befund gestützt werden, dass der Erstgarant den Kausalverlauf beherrschte, so lässt sich die hypothetische Betrachtung auf unmittelbar tatrelevante Umstände begrenzen. 6. Die Anwendung des Lösungsmodells auf ausgewählte Zurechnungsprobleme im Rahmen von Compliance-Systemen soll zeigen, dass die Zurechnungsdiskussion auch weiterhin nicht an Aktualität einbüßt. Untersucht wurde die Frage, ob tatbestandliche Verletzungen unternehmensexterner Rechtsgüter dem Compliance Officer zurechenbar sind, wenn dieser einen Warnhinweis garantenpflichtwidrig unterließ, wobei Anhaltspunkte dafür bestanden, dass die Unternehmensführung möglicherweise untätig geblieben wäre. Da eine eindeutige normative Verantwortungszuschreibung in der Regel gelingen wird, müssen auch in diesem Kontext vom konkreten Tatgeschehen losgelöste, hypothetische Überlegungen unterbleiben.

320

F. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse und Ausblick

Argumentationsfiguren wie die allgemeine Politik der Unternehmensführung bei der Aufarbeitung von Missständen bleiben bei der Vermeidbarkeitsbetrachtung ebenso außen vor wie der Gedankengang, die Unternehmensführung habe ohne diesbezügliche gesetzliche Verpflichtung ein Compliance-System implementiert, weshalb von einer pflichtgemäßen Reaktion auf den Warnhinweis des Compliance Officers auszugehen sei. Wurden effektive Compliance-Strukturen geschaffen, diese Strukturen jedoch vom Compliance Officer garantenpflichtwidrig nicht genutzt, so haftet dieser für die hieraus hervorgehenden Schäden an externen Rechtsgütern.

II. Ausblick Seinen Reiz gewinnt das Zurechnungsproblem bei drittvermittelten Rettungsgeschehen aus seiner Vielschichtigkeit. Formaldogmatisch stellt sich die Frage, welche Struktur der Unterlassungszurechnung zugrunde liegt. Anschließend ist zu klären, welche materiellen Kriterien der Zurechnungszusammenhang bei drittvermittelten Rettungsgeschehen erfüllen muss. Hierbei geraten kriminalpolitische Zielsetzungen, rechtsintuitive Überzeugungen, dogmatische und deliktsstrukturelle Konsistenzansprüche miteinander in Konflikt. Die vorliegende Interpretation als Vorhersehbarkeitsproblem ist auch ein Versuch, aus einer argumentativen Sackgasse herauszuführen, in die ein Verständnis der Konstellation als Wertungsproblem geführt hat: Dem rechtspolitisch-normativen Kritikpunkt vieler Autoren, eine Entlastung mit dem hypothetischen Normbruch eines anderen könne es nicht geben, entgegnet die Rechtsprechung mit dem Hinweis, eine solche Entlastung sei in einem auf einen empirischen Kausalbeweis ausgelegten Strafrechtssystem hinzunehmen. Das hier vorgeschlagene Modell kann angesichts einer gewissen – gut begründbaren – Modifizierungsfestigkeit der Zurechnungsmodalitäten bestimmt nicht auf allgemeinen Konsens hoffen. Vielleicht kann diese Arbeit aber dazu anregen, den Umfang der Integration hypothetischer Erwägungen in die Vermeidbarkeitsbetrachtung kritisch zu hinterfragen. Diesbezüglich tun sich bei einem Vergleich der Hypothesenbildung bei der Feststellung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs der Begehungsdelikte einerseits und bei drittvermittelten Rettungsgeschehen andererseits erhebliche Diskrepanzen auf, die sich allein mit der strukturellen Besonderheit der „Drittvermittlung“ des rettenden Kausalverlaufs bei letzteren nicht erklären lassen. Nach der hier vertretenen Ansicht hat der BGH in einem mit guten Absichten verfolgten Streben nach Einzelfallgerechtigkeit hier Konsistenz- und Vorhersehbarkeitsansprüche über Gebühr zurückstehen lassen. Diese Fehlentwicklung kann und sollte korrigiert werden. Eine Konzentration der Hypothesenbildung auf das unmittelbar tatrelevante Geschehen ist erforderlich, um eine vorhersehbare Erfolgszurechnung zu ermöglichen. Eine vor-

II. Ausblick

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hersehbare Erfolgszurechnung ist notwendig, um die bei arbeitsteiliger Überwachung von Gefahrenherden auftretenden Konflikte friedensstiftend zu bewältigen. Einen dogmatischen Weg zu einer streng tatsachenorientierten Hypothesenbildung hat diese Arbeit aufgezeigt. Bemüht sich der BGH nach dieser Maßgabe um eine Konzentration der Hypothesenbildung auf das unmittelbare Tatgeschehen und schafft so ein klares Beurteilungsprogramm für die Instanzgerichtsbarkeit, dann ist es um eine sachgerechte Suche nach „der Ursache“ nicht so schlecht bestellt, wie es der eingangs zitierte Ausspruch Tolstois nahelegen könnte.

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Sachwortverzeichnis Abszess-Fall 134, 168, 290 alternative Kausalität siehe Kausalität Äquivalenztheorie 86 Arbeitsteilung 194, 211, 239 Bedingungstheorie 86 Berliner-Stadtreinigungsbetriebe-Fall 299 Blutbank-Fall 138, 169, 292 Bremsen-Fall 139, 293

– bei Zweifeln über hypothetische Erfolgsverhinderung 113 ff. – Funktion im Strafrechtssystem 83 – gesetzgeberische Vorgaben beim Unterlassen 128 ff. – Lösungsmodell bei drittvermittelten Rettungsgeschehen 271 ff. – Lösungsmodell in Compliance-Systemen 308 ff. – Relevanz des hypothetischen Dazwischentretens Dritter 176 ff. – Struktur bei den Verletzungsdelikten 245 ff. Ex nihilo nihil fit 107

Compliance – Zurechnungsprobleme 298 ff. Compliance Officer – dezentraler 307 – Garantenstellung 300 ff. – Handlungspflichten – Prävention/Intervention 302 – leitender 306 Compliance-System – normative Verantwortungszuschreibung 308 ff. – Organisationsstruktur 305 ff. Conditio-sine-qua-non-Formel 88, 261 – Modifikationen 88 ff.

Fachwissen, überlegenes 279, 308 fahrlässige Mittäterschaft 264 ff. Fiktion pflichtgemäßen Verhaltens 219 ff. – Kritik 255 fiktive Pflichtverletzung siehe hypothetische Pflichtverletzung Formel von der gesetzmäßigen Bedingung 91 Formel von der gesetzmäßigen Mindestbedingung 95

Determinismusprinzip 61 Doppelkausalität siehe Kausalität drittvermitteltes Rettungsgeschehen – als Zurechnungsproblem 25 – Begriff 23 – im Compliance-System 298

Gefährdungsdelikt 245 Gefahrenherd 238, 278 – Destabilisierung 230 ff. – faktische Kontrolle 301, 309 Gremiumsentscheidung 183, 184, 186, 191

Eissporthallen-Fall 20, 141, 168, 294 Erfolgsdelikt siehe Verletzungsdelikt Erfolgszurechnung – bei den Unterlassungsdelikten 104 ff.

Hierarchien 218, 283 – im Compliance-System 312 Hume 31 hypothetische Einwilligung 164 ff.

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Sachwortverzeichnis

hypothetische Kausalität – der Unterlassung 107 – Funktion 111 – Legitimationsdefizit 161 ff. – Unmöglichkeit der Beweisführung 151, 160 hypothetische Pflichtverletzung 155 ff., 205 ff. hypothetischer Schadensverlauf 153 ff., 175 ff. Indeterminismus 160 INUS-Bedingung 94 Kant – Analogien der Erfahrung 46 ff. – erkenntnistheoretische Grundlagen 45 – Kritik der reinen Vernunft 44 – wissenschaftstheoretische Diskussion 50 ff. kausale Erklärung – bei Popper 65 – bei Stegmüller 69 – Modell von Hempel/Oppenheim 67 Kausalgesetz – Begriff 39 Kausalität – alternative 260 ff. – der Unterlassung 104 ff. – Doppelkausalität 95 – Mehrfachkausalität 95 – psychisch vermittelte Kausalität 22, 79, 160, 174 – Beweisführung in der Gerichtspraxis 161 – überholende 98 – wissenschaftstheoretische Diskussion 59 ff. – Entwicklungslinien 77 – Hempel-Oppenheim 66 – Popper 65 – Stegmüller 67 – Subsumtionstheorien 64

– Überblick 60 – van Wright 71 Kausalitätshypothese – Konzentration auf unmittelbares Tatgeschehen 285 ff. – Problem der Formbarkeit 167 ff. Kausalprinzip – Begriff 40 – bei Kant 46 – Funktion 56 – starke/schwache Form 61 Kriminalpolitik 193 – und Gesetzesbindung 195 Lederspray-Fall 136, 291 Mehrfachkausalität siehe Kausalität Negativbedingung 106, 109 NESS-Test 95 normative Zurechnung – in der Politbüro-Entscheidung 144 Pflichtwidrigkeitszusammenhang – Feststellung nach Risikoerhöhungslehre 115 – Hypothesenbildung 171 Politbüro-Fall 184, 189 Prämisse der Normbefolgung – Begriff 182 – bei drittvermittelten Rettungsgeschehen 186 – Politbüro-Fall 189 psychisch vermittelte Kausalität siehe Kausalität Rechtssicherheit – Gefahren durch hypothetische Zurechnung 172 ff. Regularitätstheorie – Begriff 61 – bei Hume 43

Sachwortverzeichnis Risikoverminderungslehre 115 – Weiterentwicklungen 117 – Gimbernat 118 – Greco 121 – Roxin 120 singulärer Kausalsatz – Begriff 39 – logische Unzulänglichkeit 34 Strafrechtstheorie – Formalisierung sozialer Kontrolle 200 – Normgeltung 199 – Rechtsgutslehre 197

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– Kriterien 278 ff. Verletzungsdelikt – Begriff 246 – systemgerechte Erfolgszurechnung 251 ff. – Umdeutung in Gefährdungsdelikt 254 ff. Vermeidbarkeitstheorie 114 – Legitimationsdefizit 159, 272 – Rechtsprechung 133 Vermutung pflichtgemäßen Verhaltens 213 ff. – Kritik 254 ff.

überholende Kausalität siehe Kausalität Ursache – Definition bei J. St. Mill 85 – Definition bei Stegmüller 69 – Definition bei van Wright 73 Verantwortungszuschreibung, normative 274 ff. – in Compliance-Systemen 308 ff.

Wissenschaftstheorie und Strafrechtsdogmatik 78 ff. Zweifelsgrundsatz – Anwendbarkeit bei strukturellen Beweisproblemen 240 ff. – Gewährleistungsumfang 236