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German Pages [311] Year 2016
Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie Herausgegeben von Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne M. Steinmeier
Band 88
Ulrike Bittner
»Und wenn sich die Lebenssituation ändert, ist das o.k.« Eine Untersuchung der evangelischen Kirche als Gemeinschaft unter den Bedingungen postmoderner Mobilität
Vandenhoeck & Ruprecht
Die vorliegende Arbeit wurde von der Theologischen Fakultät der Universität Zürich im Frühjahrssemester 2015 auf Antrag von Prof. Dr. Ralph Kunz als Dissertation angenommen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 0570-5517 ISBN 978-3-666-62438-4 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Konrad Triltsch, Ochsenfurt
Vorwort
Wohl keine andere Sozialgestalt weckt so viele widersprüchliche Gefühle wie ›Gemeinschaft‹! Bei den Einen bürgt der Begriff für Nähe und Wärme, bei den Anderen weckt das Gemeinschaftliche alte Ängste. Sie verbinden mit ihm Ausschluss von Andersgesinnten und sozialen Zwang. Das ist nachvollziehbar. Gemeinschaften sind – zumindest im Deutschen – auch so etwas wie Seilschaften. Was sie zusammen hält, ist die gemeinsame Richtung. Und wenn zu viele im Gleichschritt in dieselbe Richtung marschieren, ist das – zumindest in einer offenen Gesellschaft – verdächtig oder zumindest mit Vorsicht zu geniessen. Dabei ist das Gemeine, das verbindet, inhaltlich noch gar nicht bestimmt. Tatsächlich blieb, was lange Zeit ideologisch belastet war, soziologisch ein weisser Fleck. Gemeinschaft als lebensweltliche Grösse wurde in ihrer Bedeutung kaum wahrgenommen. Ekklesiologisch gesehen fehlt damit aber eine entscheidende Verstehensebene der Kirche. Zwischen Person und Institution ist die Gemeinde. Gemeinden leben vom solidarischen Miteinander ihrer Glieder. Ziel der Gemeindeentwicklung ist, ein verbindliches und der faktischen Pluralität von Lebensformen entsprechendes Zusammenleben zu ermöglichen. Darüber nachzudenken, wie das in einer mobilen Gesellschaft geschehen kann, ist Thema dieses Buches. Es sind nicht nur Altlasten, die dazu raten. Gemeindeentwicklung ist neu herausgefordert. Die Rationalisierung der Lebenswelten scheint das Gemeinschaftsleben (nicht nur der Kirche) derart zu stören, dass eine Ekklesiologie gefragt ist, die Vergemeinschaftung neu bedenkt. ›Mobil‹ heisst das entscheidende Stichwort. Wie kann vor Ort Gemeinde entstehen, wenn fast alle unterwegs sind? Passen die klassischen Muster der Gruppenbildung zu Menschen, die pendeln? Suchen sie jene Gemeinschaftsformen, wie sie im Milieu der Parochie gepflegt wurde? Orientieren sie sich an den Alteingesessen? Es liegt auf der Hand, dass mobile Menschen anders ticken – und doch nach Gemeinschaft fragen. Einige von ihnen, haben den Weg in die Gemeinde gefunden. Ulrike Bittner hat sie befragt. Sie hat sich soziologisch klug gemacht, um das, was sie gehört hat, besser zu verstehen und sie hat das, was sie verstanden hat,
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Vorwort
theologisch reflektiert. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung sind ermutigend. Sie belegen, dass der Glaube lebensweltlich anpassungsfähig ist und dass es falsch wäre, Gemeinschaftsbildung mit einer Hermeneutik des Verdachts zu belegen. Und wie geht das: Gemeinschaft und Mobile? Es lohnt sich nachzulesen, was Ulrike Bittner herausgefunden hat. Ralph Kunz, Zürich, den 28. Februar 2016
Inhalt
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I Mobilität, Postmoderne und das Wesen von Gemeinschaft . . . . . . 1 Mobilität als geographisches und soziales Phänomen im beginnenden 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Vorüberlegungen zur Mobilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Empirische Daten zur Mobilität in Europa . . . . . . . . . . . . 1.3 Mobilität hat Einfluss auf die soziale Stabilität, die Familie und das Freizeitverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Ortsgemeinden und die Mobilität ihrer Mitglieder . . . . . . . . 2 Lebensführung in der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Vormoderne – Leben mit Selbstverständlichkeiten . . . . . 2.2 Die Moderne – Leben mit der Möglichkeit zur Alternative . . . 2.3 Die Postmoderne – Pluralität wird dominant und verbindlich . 2.4 Erwerb von Lebensdeutung in der Postmoderne . . . . . . . . . 2.5 Sinnfindung in neuen sozialen Verhältnissen . . . . . . . . . . . 3 Gemeinschaft in soziologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Annäherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Gemeinschaft – was für ein Sozialverhältnis ist das? . . . . . . . 3.3 Gemeinschaft für wirklich halten und sie dadurch verwirklichen 3.4 Gemeinschaft und die Ich–Identität der Teilhabenden . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Fragestellung und Ziel der Arbeit . . . . . . . . . . . . 2 Zur Forschungslage in der Praktischen Theologie . . . 3 Zum Stand der Gemeinschaftsforschung . . . . . . . . 4 Die Wahl der Forschungsperspektive und der Methode 5 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil A: Die Gemeinschaftsgestalt der Kirche im Zeitalter der Mobilität
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Inhalt
3.5 Zum Verhältnis von Eigeninteresse und sozialer Verpflichtung 3.6 Gemeinschaften erneuern sich im Vollzug des Erinnerns . . . 3.7 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Gemeinschaftshandeln als gesellschaftliche Praxis . . . . . . . . . 4.1 Nicht Unverbindlichkeit, sondern selbst gewählte Verbindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Kann Religion heute ein Gemeinschaftshandeln begründen? . 4.3 Gemeinschaftsgefühle in Unternehmenskulturen . . . . . . . . 4.4 Gemeinschaften als gesellschaftliche Schutzräume verstehen . 4.5 Perspektiven für ein Gemeinschaftshandeln der Kirche . . . . II Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive . . . . . . . . 1 Gottes Wort als Grund und Ursprung von Sozialität . . . . . . . . 1.1 Gemeinde verdankt sich dem Wort Gottes . . . . . . . . . . . 1.2 Gemeinde ist Hörgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Gemeinde wird an äusseren Merkmalen erkannt . . . . . . . . 1.4 Gemeinde – das leibhafte Zusammenkommen ihrer Glieder . . 1.5 Die theologische Verifizierung der Gemeinde als Leib Christi . 1.6 Der Gemeinde eignet ein Versprechen von Stabilität . . . . . . 1.7 Zusammenfassung erster Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . 2 Strukturen innerkirchlicher Kommunikation . . . . . . . . . . . . 2.1 Grunderfahrungen der Kirche wirken strukturbildend . . . . . 2.2 Die Grunderfahrung der Kirche als Weggemeinschaft und ihr biblisch-normativer Anspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Kirche als Weggemeinschaft, Basisgemeinde, neues Gottesvolk 2.4 Kirche als Weggemeinschaft hat eine dialogische Struktur . . . 2.5 Kirche als Weggemeinschaft hat inhaltliche Merkmale . . . . . 2.6 Kirche als Weggemeinschaft ist ein kommunikatives Milieu . . 2.7 Die Offenheit für soziale Gestaltwerdungen der Kirche . . . . 2.8 Das allgemeine Priestertum als Strukturprinzip der evangelischen Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Systematisch-ekklesiologische Klärung: Kirche im Spannungsfeld ihrer theologischen und ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit . . . 3.1 Begriffsklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Kirche als Organisation denken (Ludwig und Hermelink) 3.3 Die Kirche als Gemeinschaft denken (Bonhoeffer) . . . . . . . 3.4 Die Kirche als Koinonia-Realisierung denken (Kunz) . . . . . 3.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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V Der Gottesdienst als Praxis lebensweltlicher Kommunikation . . . . 1 Die Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Biblische Geschichten hören unter den Bedingungen der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Predigt – eine Beschreibung laufender Praxis . . . . . . . . . . 2 Das Abendmahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Abendmahl feiern unter den Bedingungen der Postmoderne . 2.2 Abendmahl – eine Beschreibung laufender Praxis . . . . . . . 3 Als Wahlgemeinschaft ins Gespräch kommen . . . . . . . . . . . 3.1 Beteiligung ermöglichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Beteiligung ermöglichen – eine Beschreibung laufender Praxis
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III Gemeinde als Lebenswelt verändert sich . . . . . . . . . . . . . . . 1 Lebensweltliche und systemische Kommunikation unterscheiden 2 Strukturen der Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Lebensweltliche Kommunikation – was ist das? . . . . . . . . 2.2 Gemeinde als Lebenswelt – ihre drei Beziehungsfelder . . . . . 3 Gemeinde als Lebenswelt verändert sich . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Der Bedeutungsverlust der Kirche als Institution . . . . . . . . 3.2 Gemeinde kommuniziert zunehmend als Subkultur . . . . . . 3.3 Organisationen gewinnen an Bedeutung . . . . . . . . . . . . 4 Merkmale der Gemeinde als Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Gemeinde als ein Ort ganzheitlichen Lebens . . . . . . . . . . 4.2 Gemeinde schützt ihre Kommunikation vor Systeminteressen 4.3 Gemeinde als Ort mit Konfliktfähigkeit . . . . . . . . . . . . . 5 Neue Formen von Vergemeinschaftung entstehen . . . . . . . . . 5.1 Szenen als postmoderne Form von Vergemeinschaftung . . . 5.2 Szenen und Milieus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Kommunikations- und Wissensgemeinschaften . . . . . . . .
Teil B: Zur Praxis lebensweltlicher Kommunikation IV Eine Beschreibung laufender Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Das Berlinprojekt – eine Gemeinde mit mobilen Menschen . . 1.1 Die Gemeindeleitung lehnt eine quantitative Befragung ab 1.2 Den Wandel aus Sicht der Beteiligten beschreiben . . . . . 2 Erste Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Zugehörigkeit auf Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Zugehörigkeit und Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
VI Mit mobilen Menschen ins Gespräch kommen . . . . . . . . . . . . . 1 Zum Verhältnis leibhafter und medial vermittelter Kommunikation 1.1 Was ist medial vermittelte Kommunikation? . . . . . . . . . . . 1.2 Leistungen und Grenzen medial vermittelter Kommunikation . 1.3 Die Bedeutung von leibhafter und medial vermittelter Kommunikation für den Erstkontakt – eine Beschreibung laufender Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Kleingruppen als Sozialform für mobile Menschen . . . . . . . . . . 2.1 Kleingruppen als Möglichkeit zur Beziehungsstabilität . . . . . . 2.2 Kleingruppen – eine Beschreibung laufender Praxis . . . . . . . 3 Die Bedeutung von Event-Gemeinschaften für mobile Menschen . . 3.1 Was sind Event-Gemeinschaften? . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Das Verhältnis von Events und traditionalen Gemeinschaften .
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Epilog und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
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Fragestellung und Ziel der Arbeit
In postmodernen Gesellschaften sind Menschen selbstverständlich mobil. Geographie und Soziologie beschäftigen sich mit der Entwicklung von Mobilität im Interesse der Verkehrs- und Raumplanung und um den Verlauf von Migration zu verstehen.1 In Deutschland und der Schweiz hat seit den 1970er Jahren die zirkuläre, mit regelmässig wiederkehrenden Tätigkeiten verbundene Mobilität zugenommen, zu der das berufsbedingte Pendeln gehört. Dauerhafte Ortswechsel werden von Schweizern und von Deutschen eher gemieden.2 Dass Menschen berufsbedingt umziehen, spielt jedoch in einem bestimmten Bevölkerungssegment in Deutschland – unter jungen und beruflich gut qualifizierten Menschen – eine Rolle bzw. in der Schweiz in Lebensphasen, die der beruflichen Qualifizierung dienen.3 Menschen müssen nach einem Ortswechsel ihre sozialen Zugehörigkeiten zumindest teilweise neu bestimmen. Dies gilt besonders für nahe soziale Beziehungen, die nicht in virtuellen sozialen Netzwerken, sondern in leibhaft erfahrener Gemeinschaft bestehen – in so genannten Face-to-Face Beziehungen. Wer Mitglied einer Kirche ist und wer vielleicht im Zuge des Studiums oder des Erwerbs beruflicher Qualifikation den Ort wechselt, steht zumindest theoretisch vor der Frage, wie sie bzw. er am neuen Ort die Zugehörigkeit zu ihrer bzw. seiner Kirche erfahren kann. Das wirft die Frage auf, was mobile Menschen überhaupt unter Zugehörigkeit verstehen. Im Rahmen einer Befragung unter den zugezogenen Mitgliedern einer Kirchgemeinde sagt ein junger Mann:
1 Grieco/Urry (ed.), Mobilities. New perspectives on transport and society, 2011, 4. 2 Arend/Gottardi, Umzug statt Pendeln? In: DISP 118. 1994, 35. Neuere Daten zur Umzugsmobilität in der Schweiz bei http://www.homegate.ch/kaufen/schrittezumeigenheim/markt analyse/markttrends/umzugsreport [Stand: 19. Juli 2014]. 3 Schneider/Collet, Mobile Living Across Europe I, 2008, 223.
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Einleitung
»Ich denke, weil wir das alle so sagen, muss man vielleicht drüber nachdenken: Was bedeutet heutzutage Zugehörigkeit? In einer Zeit, die extrem zersplittert ist. Wo man irgendwie ganz viele verschiedene Sachen gleichzeitig betreibt und so. Und du bist ja auch nicht mehr so zugehörig zu deiner Arbeit. Du bist ja auch nicht dreissig Jahre bei Siemens. Du wechselst nach drei Jahren oder vier Jahren oder fünf Jahren. Die Zyklen werden ja eh immer (Pause). Früher bist du als Kind in den Fussballverein gegangen und dann warst du da drin, bis du tot warst. Heutzutage aber nicht. Da muss man generell überlegen: Was bedeutet Zugehörigkeit? Ist vielleicht dieser Anspruch von diesem ganzheitlichen Aufgefangensein nicht mehr realistisch? Ist vielleicht so ein gewisser Service-Gedanke mehr an dem dran, wie es heute ist? Mein Gedanke dazu.«4
Meine Arbeit behandelt Erfahrungen von Zugehörigkeit. Gegenstand der Untersuchung ist die evangelische Kirche in ihrer Sozialgestalt als Gemeinschaft. Damit folge ich einer in der Soziologie und der Gemeindeaufbautheorie grundlegenden Unterscheidung, nämlich der Unterscheidung sozialer Verhältnisse als Institution, Organisation und Bewegung bzw. Gemeinschaft.5 Methodisch wird die Kirchgemeinde als Erfahrungswirklichkeit ihrer Mitglieder in den Blick genommen. Fühlen sich Menschen ihrer Gemeinde als einer leibhaften und sichtbaren Gestalt der evangelischen Kirche zugehörig – oder tun sie das nicht? Das ist eine lebensweltliche Forschungsperspektive, die zu erfragen hilft, wie sich soziale Wirklichkeit aus Sicht der Beteiligten konstituiert. Das Ziel der Untersuchung besteht darin zu beschreiben, welche Handlungsmöglichkeiten eine Gemeinde hat – wenn Gemeinde lebensweltlich als Gesamtheit der kommunikativ Handelnden verstanden wird –, um mobilen Menschen Erfahrungen von Zugehörigkeit zu ermöglichen.6 Der Einfachheit halber wird vorausgesetzt, dass Gemeinden als Ortsgemeinden organisiert sind; es wird also vom primär territorialen Organisationsprinzip ausgegangen.7 Dabei unterliegen auch Ortsgemeinden unterschiedlichen Organisationsprinzipien, nach denen sich »Menschen faktisch selbst zuordnen«.8 Menschen fühlen sich 4 Junger Mann, der sich nach einem Ortswechsel der Gemeinde Berlinprojekt angeschlossen hat. Zu den Interviews (2010) siehe Kap. IV, zum hier zitierten Abschnitt Kap. IV.3 Zugehörigkeit auf Zeit. 5 Die Verschiedenheit von Sozialverhältnissen und ihrer Leistungen erörtern bereits Ernst Troeltsch in Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912) und Max Weber in Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie (1920/1921). In der Gemeindeaufbautheorie unterscheidet Ralph Kunz die Kommunikation der Kirche als Organisation, Institution und Bewegung. Vgl. Kunz, Theorie des Gemeindeaufbaus, 1997, 254–256. 6 Spreche ich normativ von ›Gemeinde‹, wird diese im Theoriemodell einer ›Lebenswelt‹ verstanden. In Kap. III.2 Strukturen der Lebenswelt erläutere ich Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns und damit das dieser Arbeit methodisch zugrunde liegende Lebensweltmodell. 7 Zur terminologischen Unterscheidung von Ortsgemeinde und Parochie siehe Barben, Territorialgemeinden und andere »Lieux d’Eglise«, in: Krieg/Luibl (Hg.), Was macht eine Kirchgemeinde aus?, 1998, 21–31, 25. 8 Pohl-Patalong, Von der Ortskirche zur kirchlichen Orten, 2., überarb. und erw. Aufl. 2006, 18.
Fragestellung und Ziel der Arbeit
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von bestimmten Personen, von kulturellen Ausdrucksformen, von Frömmigkeitsstilen usw. angezogen. Zugehörigkeitserfahrungen in Ortsgemeinden werden vielfältig, vielleicht nicht einmal vorrangig durch den gemeinsamen Wohnort begründet. Die Untersuchung hat zwei Teilziele, ein soziologisches und ein theologisches. Das erste, nämlich soziologische Teilziel besteht in einer Klärung des Gemeinschaftsbegriffs.9 Um was für ein Sozialverhältnis handelt es sich, wenn wir von Gemeinschaft reden? Gemeinschaftshandeln kann aber auch missverstanden und funktionalisiert werden. Darum erörtere ich unterschiedliche Aspekte des Gemeinschaftshandelns und nenne Gefährdungen und Missverständnisse, denen ein Gemeinschaftshandeln in einer pluralistischen Gesellschaft ausgesetzt ist.10 Zu der soziologischen Frage nach dem Wesen und dem Entstehen von Gemeinschaft tritt zudem die soziologische Frage nach den Bedingungen, unter denen Gemeinschaften heutzutage kommunizieren.11 Diese Bedingungen haben sich im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen hin zur Postmoderne stark verändert.12 Neben den soziologischen Klärungen sind theologische Klärungen erforderlich. Das zweite, jetzt theologische Teilziel der Arbeit besteht in der »methodisch begründete[n] Auslegung des glaubenden Selbstverständnisses und Selbstvollzugs der Kirche«.13 Was bedeutet die Sozialgestalt der Gemeinschaft für die evangelische Kirche selbst? Was zeichnet die Gemeinschaft der evangelischen Kirche als evangelisch aus? Die theologischen Klärungen stellen eine kybernetische Weichenstellung dar: Sie entscheiden über die Strukturen des kommunikativen Handelns. Wird die evangelische Kirche prioritär als eine Weggemeinschaft der Hoffnung verstanden, treten ihre partizipativen und dialogischen Strukturen in den Vordergrund.14 Hier schliesst meine Arbeit an eine starke
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Pohl-Patalong unterscheidet a. a. O. ein parochiales, ein personales, ein funktionales und ein konfessionelles Prinzip. Ich schliesse mich der Unterscheidung von gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Sozialformen durch Ferdinand Tönnies an, wie sie sich in dessen grundlegendem Werk findet: Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 8. unveränd. Aufl. von 1935, 1979. Bei der TönniesRezeption und Aufarbeitung beziehe ich mich auf Merz-Benz, Die Überwindung des Individualismus und das Theorem von Gemeinschaft und Gesellschaft, 2006. Der Zürcher Soziologe hat mir seine Tönnies-Rezeption im Gespräch erschlossen. Vgl. Kap. I.4 Gemeinschaftshandeln als eine gesellschaftliche Praxis. Die Postmoderne verstehe ich im Sinne Lyotards als Verfassung radikaler Pluralität und als Wahrnehmung eines Verlusts einer letzten Einheit. Ausführlich in Kap. I.2.3 Die Postmoderne – Pluralität wird dominant und verbindlich. Vgl. Kap. III.3 Gemeinde als Lebenswelt verändert sich. Kehl, Die Kirche, 1992, 43. Der Dogmatiker und Fundamentaltheologe Medard Kehl unterscheidet in seiner Ekklesiologie ›Die Kirche‹, 1992, modellhaft drei Grunderfahrungen der Kirche, nämlich die einer
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Einleitung
ekklesiologische Tradition an. In dieser wird die Kirche vorrangig als Communio oder als Weggemeinschaft der Hoffnung verstanden. Für die evangelische Kirche werde ich diese Tradition am Beispiel der Herrnhuter Brüdergemeine, der Kirchenreformbewegung der 1960er Jahre und des Berliner Experiments der Spandauer Ladenkirche entfalten.15 In der römisch-katholischen Kirche wurde das Bild der Kirche als Communio wesentlich im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils geprägt.16 Es fand Eingang in die Gestalten von lateinamerikanischen Basisgemeinden und Small-Christian-Communities im östlichen Afrika.17 Im Anschluss an die soziologischen und theologischen Klärungen werden im Praxisteil der Arbeit Handlungsorientierungen für eine als Weggemeinschaft der Hoffnung verstandene Gemeinde formuliert. Was lässt sich tun, wie lässt sich predigen und wie das Abendmahl feiern, um mobilen Menschen Erfahrungen von Gemeinschaft, von einer Weggemeinschaft auf Zeit, zu ermöglichen? Der Arbeit liegt die Annahme zugrunde, dass Mobilitätsverhalten in vielen Fällen nur ein Ausdruck bzw. eine Folge der wachsenden Pluralisierung von Lebensformen ist.18 Auch wenn Kirchgemeinden eher wenige Zuzüge oder wenig Pendlermobilität unter ihren Mitgliedern registrieren, kann sich die dringende Frage stellen, wie Erfahrungen von Zugehörigkeit zur Kirchgemeinde entstehen. Denn die Pluralisierung von Lebensformen und die damit verbundene Individualisierung betreffen auch ortsstabile Mitglieder der evangelischen Kirche.19
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kommunizierenden, einer petrifzierten und einer symbolisch-personifizierten Kirche. Zusammengefasst ebd., 27–34. Einen Überblick über evangelische Kirchenmodelle, die der Gemeinschaftsgestalt der evangelischen Kirche Priorität geben, bietet Johannes Blohm in ›Die dritte Weise‹, 1992. Zu dem im Zweiten Vatikanischen Konzil formulierten Kirchenbild vgl. Kap. II.2.3.2. Der deutsche Text der Kirchenkonstitution ›Lumen Gentium‹ lässt sich auf der Website des Vatikans nachlesen, siehe http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ ii_vatican_council/ documents/vat-ii_const_19641121_lumen-gentium_ge.html [Stand: 01. 08. 2014]. Theorie und Praxis der römisch-katholischen Communio-Theologie werden zusammengefasst von Greshake, Communio. Schlüsselbegriff der Dogmatik, in: Biemer u. a. (Hg.), Gemeinsam Kirche sein, 1992. Weil Gott selbst »communial« ist, will er das »Geschaffene zur communialen Einheit« bringen. Ebd., 103. Einen umfassenden Überblick über die römisch-katholische Communio-Ekklesiologie und ihre Rezeption in Afrika, Ozeanien und Europa vermitteln Bertsch u. a. (Hg.) in Alternativen zur traditionellen Pfarrstruktur, 1997. Siehe die einleitenden Worte in Kap. I.2 Lebensführung in der Postmoderne und Schneider/ Collet (eds.), Mobile Living Across Europe I, 2008, 223. Track, Gemeinde, in: Krieg/Luibl (Hg.), Was macht eine Kirchgemeinde aus?, 1998, 43.
Zur Forschungslage in der Praktischen Theologie
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Zur Forschungslage in der Praktischen Theologie
Eine Untersuchung zur Gemeindeentwicklung mit mobilen Menschen bezieht die gesellschaftliche Wirklichkeit ein und gehört in den Bereich empirischer Ekklesiologie bzw. praktisch-theologischer Kirchentheorie. Die Frage nach den Sozialgestalten der evangelischen Kirche und ihren Begründungen in einer sich pluralisierenden Gesellschaft wurde bereits im 19. und frühen 20. Jahrhundert zum Thema.20 Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellt sich die Frage nach den Sozialgestalten des Glaubens vermehrt im Interesse des Gemeindeaufbaus.21 Ausgehend von Michael Nüchterns Kirche bei Gelegenheit (1970) bezeichnet Gemeindeaufbau die Ermöglichung von Konstellationen, in denen sich »kirchliches Handeln mit bestimmten thematischen oder biographischen Anlässen treffen kann.«22 Nüchterns Verständnis von Gemeindeaufbau unterscheidet sich streng von einem als missionarisch verstandenen Gemeindeaufbau, der »das stete Wachstum und verbindliche Gemeinschaft« beabsichtigt.23 Missionarischer Gemeindeaufbau zielt auf eine empirisch zu verifizierende »Gemeinde von Brüdern« in einer oft nur noch schwer zu identifizierenden evangelischen Kirche.24 Ich verwende anstelle des Begriffs Gemeindeaufbau den Begriff Gemeindeentwicklung. Damit soll keine sachliche Abgrenzung gegenüber dem Gemeindeaufbau vorgenommen, sondern ein Missverständnis vermieden werden. Gemeindeaufbau wird anders als Gemeindeentwicklung oft mit einem auf die Kerngemeinde als die ›eigentliche‹ Kirche reduzierten Kirchenbegriff verbunden. Diese Engführung gilt es zu vermeiden.
20 Ich denke an die Auseinandersetzung zwischen Sohm und Harnack, an Weber und die Bemühungen der Inneren Mission im 19. Jahrhundert, siehe die Ausführungen in Kap. II.2.7. 21 Zur Definition von Gemeindeaufbau siehe Kunz, Der Gemeindeaufbau in der Kirche als Organisation, Institution und Bewegung in: Krieg/Luibl (Hg.), Was macht eine Kirchgemeinde aus?, 1998, 107. Kunz versteht den Gemeindeaufbau als eine Bewegung, die »institutionenkritisch, aber nicht institutionenfeindlich« ist. Ders., Theorie des Gemeindeaufbaus, 1997, 251. 22 Nüchtern, Kirche bei Gelegenheit, 1991, 10. 23 Nüchtern, a. a. O., 10. Verschiedene Modelle für einen wachstumsorientierten Gemeindeaufbau finden sich bei Elhaus/Hennecke (Hg.), Gottes Sehnsucht in der Stadt, 2011. 24 Herbst, Missionarischer Gemeindeaufbau, 3. Aufl. 1993, 68. Kunz führt eine Auseinandersetzung mit Herbsts Verständnis von Gemeindeaufbau in: ders., Kybernetik, in: Grethlein/ Schwier (Hg.), Praktische Theologie, 2007, 650–651.
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Einleitung
Gemeindeentwicklung unter den Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft Ein Verständnis von Gemeindeentwicklung, das sich nicht in die Alternativen von volkskirchlicher Gelegenheit und evangelikaler Verbindlichkeit, nicht in ein Gegenüber von Punktualität und Dauer drängen lässt, begegnet bereits in den Modellen von Medard Kehl und Ralph Kunz. In der fundamentaltheologischen bzw. der praktisch-theologischen Forschung haben sowohl Kehl als auch Kunz Gemeinschaft als eine Sozialgestalt der Kirche unter den Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft untersucht.25 Kehl steht dabei in der Tradition des Zweiten Vatikanischen Konzils und rückt den Communio-Begriff ins ekklesiologische Zentrum.26 Kunz bespricht Gemeindeaufbau unter besonderer Berücksichtigung des Koinonia-Begriffs. Er bezeichnet die Koinonia-Realisierung und damit den »Gemeindeaufbau als Grundlage und Ziel der Praktischen Theologie«.27 Dabei knüpft Kunz an die sogenannte verstehende Soziologie an und fragt nach dem Zusammenspiel der verschiedenen Sozialgestalten der Kirche.28 Was die Koinonia der Kirche ist, kann Kunz zufolge nur in der wechselseitigen Abhängigkeit von den anderen Sozialgestalten der Kirche verstanden werden. Im Modell einer Kirche, die sich als Koinonia-Realisierung (Kunz, Theorie des Gemeindeaufbaus, 1997) bzw. als Weggemeinschaft der Hoffnung (Kehl, Wohin geht die Kirche?, 1996) versteht, wird Gemeindeentwicklung also weder auf ein Wahrnehmen von biografischen Gelegenheiten noch auf eine missionarische Bekehrung zur Verbindlichkeit beschränkt. Es ist die Eigenart einer prioritär als Weggemeinschaft der Hoffnung verstandenen Kirche, dass ihre geschichtlichen Gestaltwerdungen sich verändern. Es ist Aufgabe einer praktisch-theologischen Kirchentheorie bzw. einer empirischen Ekklesiologie, ihre gesellschaftlichen Realisierungen vorzudenken.
25 Kehl, Wohin geht die Kirche?, 4. Aufl. 1996; Kehl, Die Kirche, 1992; Kunz, Theorie des Gemeindeaufbaus, 1997; Kunz, Der Gemeindeaufbau in der Kirche als Organisation, Institution und Bewegung in: Krieg/Luibl (Hg.), Was macht eine Kirchgemeinde aus?, 1998, 105– 113. 26 Zum Communio-Begriff des Zweiten Vatikanischen Konzils siehe Kasper, Kirche als Communio, in: ders., Theologie und Kirche, Bd. 1, 1987, 274–289. 27 Kunz, Kybernetik, in: Grethlein/Schwier (Hg.), Praktische Theologie, 2007, 617. 28 ›Verstehende Soziologie‹ meint im Anschluss an Max Weber, dass Weltbilder und Deutungen in die Konstruktion sozialer Wirklichkeit einbezogen werden, vgl. Gabriel, Analysen der Organisationsgesellschaft, 1979, 12. Die Entwicklung der verstehenden Soziologie stellt MerzBenz dar, in: ders., Max Weber und Heinrich Rickert. Die erkenntniskritischen Grundlagen der verstehenden Soziologie, 1990.
Zur Forschungslage in der Praktischen Theologie
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Eine sozialphilosophische Begründung der evangelischen Kirche als Gemeinschaft Dietrich Bonhoeffer hat bereits Entscheidendes über die Sozialität der evangelischen Kirche in postmoderner Gesellschaft vorweg genommen – nämlich in sozialphilosophischer Perspektive. Anders als bei Kehl und Kunz ist die Soziologie als empirische Wissenschaft nicht Gegenstand der Bonhoefferschen Ekklesiologie. Bonhoeffer richtet den Fokus darauf, dass Gemeinschaft dort entstehen kann, wo die schöpfungsgemässe Begrenztheit von Menschen vorausgesetzt wird.29 Bonhoeffer, Kunz und Kehl verstehen die Schwachheit und Begrenztheit von Menschen nicht als Defizit für die Gemeindeentwicklung sondern geradezu als Ermöglichungsbedingung von Gemeinschaft. Nun sind Menschen selbstverständlich schon immer mit ihrer geschöpflichen Begrenztheit konfrontiert – das ist nicht neu.30 In einer postmodernen Gesellschaft aber zeigen sich die Begrenzungen als eine mitwachsende ›Schattengestalt‹ der sich ständig erweiternden Lebensmöglichkeiten. Menschen sind nicht nur den Versprechen immer neuer Lebensmöglichkeiten ausgesetzt, sondern machen die Erfahrung, dass sich Möglichkeiten auch nicht realisieren lassen. Erfahrungen von Begrenztheit begleiten die Dynamik der gesellschaftlichen Pluralisierung und sind für den Entwurf kirchlicher Gemeinschaftsgestalten von Bedeutung.
Mobilitätsphänomene in praktisch-theologischer Forschung Mit Gemeindeentwicklung in einer mobil gewordenen Gesellschaft hat sich explizit der römisch-katholische Pastoraltheologe Franz-Peter Tebartz-van Elst beschäftigt. Der Fokus seiner Forschung liegt darauf, wie mobile Menschen Gemeindeerfahrungen an neuen sozialen und geographischen Orten machen. Methodisch geht Tebartz-van Elst so vor, dass er verschiedene Paradigmen heutiger Gesellschaftserklärung vorstellt. Mit Hilfe dieser Paradigmen versucht er, die postmoderne Wirklichkeit zu erfassen, zu interpretieren und auf ihre Konsequenzen für pastorales Handeln hin zu befragen.31 Medard Kehl hatte schon früher, nämlich bereits 1996, die gängigen Selbstdeutungsmuster der europäischen Gegenwartskultur untersucht und pastoral-psychologische Konsequenzen gezogen.32 29 Bonhoeffer, Communio Sanctorum, 1986 (1930), 39–53. 30 Vgl. als Beispiel den Kirchenvater Baslius von Caesarea in den Regulae fusius tractatae: Gott als Schöpfer hat es in seiner Weisheit bestimmt, dass ein Mensch des anderen bedarf. Art. Baslius von Caesarea, in: Ritter (Hg.), Alte Kirche, 1977, 174. 31 Tebartz-van Elst, Gemeinde in mobiler Gesellschaft, 1999, 356. 32 Vgl. dazu das III. Kapitel (Kultur- und religionssoziologische Aspekte einer theologischen
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Einleitung
In der evangelischen Theologie beschreitet Christian Grethlein einen ähnlichen Weg wie Tebartz-van Elst. Auch Grethlein fragt nach »Kommunikation unter den Bedingungen reflexiv moderner Plausibilitäten« und formuliert von diesen Bedingungen her Handlungsmöglichkeiten für die verschiedenen Handlungsfelder der Kirche.33 Er konkretisiert sie aber nur beiläufig im Blick auf mobile Menschen, wenn er beispielsweise auf die Bedeutung medial vermittelter Kommunikation verweist.
Kirchliche Reformbemühungen und die Frage nach der Gemeinschaftsgestalt der Kirche In Deutschland und der Schweiz setzen sich Kirchenleitungen mit den Gestalten kirchlichen Lebens in einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft auseinander. Im 2006 veröffentlichten Impulspapier Kirche der Freiheit kommt der Reformwille der Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zum Ausdruck.34 Auch in der Schweiz erfragen die Evangelisch-reformierten Landeskirchen, was die mit einer zunehmenden Pluralität einhergehende Mobilität und Medialität für den Auftrag und die Handlungsfelder der reformierten Kirchen bedeuten.35 Die Praktische Theologin Uta Pohl-Patalong setzt bei der Frage nach den Gestalten kirchlichen Lebens bei der gesellschaftlichen Wirklichkeit, nämlich bei der Finanz- und Relevanzkrise der evangelischen Kirchen, an.36 Das von ihr entworfene »Modell der kirchlichen Orte« trägt verschiedenen Organisationsprinzipien Rechnung und will helfen, kirchliche Strukturreformen zu durchdenken.37 Pohl-Patalong fragt, wie eine Kirche aussehen könnte, »die die Stärken der […] parochialen und der nichtparochialen Struktur« miteinander verbindet.38 Sie hält an der Bedeutung von leibhafter Gemeinschaft fest, bindet Gemeinschaftserfahrungen aber nicht mehr an die Ortsgemeinde und deren Organisation durch Pfarrpersonen. Es wird heute wohl kaum noch infrage gestellt, dass es einer Vielfalt kirchlicher Orte und Strukturprinzipien bedarf.39 Auf
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Zeitdiagnose) in: Kehl, Wohin geht die Kirche?, 4. Aufl. 1996. Methodisch ähnlich geht Martin Lörsch, Systemische Gemeindeentwicklung, 1999, vor. Grethlein, Praktische Theologie, 2012, 201. Kirche der Freiheit, Kirchenamt der EKD (Hg.), 2006. Zwei Beispiel dafür sind ›Antrag und Bericht an die Kirchensynode betreffend Pluralität, verabschiedet am 19. August 2009‹, in: Krieg/Kunz (Hg.), O dass ich tausend Zungen hätte, 2011, 9–35, und ›Lebensweltliche, religiöse und kirchliche Orientierungen im Kanton Zürich‹, hgg. im Auftrag der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich, 2011. Pohl-Patalong, Von der Ortskirche zu kirchlichen Orten, 2. Aufl. 2006, 7. Dies., Ortsgemeinde und übergemeindliche Arbeit im Konflikt, 2003. Ebd., 128. Als Gemeinschaft ist die Kirchgemeinde eine Interaktion im Luhmannschen Sinne und sollte
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der Suche nach Gestalten einer Kirche für Morgen werden Gemeinden zunehmend als »erfahrene Christuswirklichkeit« – heisst als Erfahrungswirklichkeit – in der Gestalt pluraler kirchlicher Orte verstanden.40
Die Gemeinschaftsgestalt der Kirche in der Redeemer Presbyterian Church, New York, und in den britischen Fresh Expressions of Church In der anglikanischen Kirchengemeinschaft und den presbyterianischen Kirchen der USA wird der Frage Priorität gegeben, wie die Kirche zur gemeinsamen Sozialwelt mit kirchenfernen Menschen werden kann. Timothy Keller, Gründer und früherer Pastor der Redeemer Presbyterian Church, New York, beschreibt Erfahrungen seiner Kirche mit städtischen, individualisierten und entscheidungsgewohnten Menschen. In Center Church entwirft er Handlungsmaximen für eine Kirche, die sich als gospel-centered, city-centered und movement-centered versteht.41 Das Bekenntnis zum Evangelium, zur Stadt und zum Charakter der Kirche als einer Bewegung nennt Keller die »core commitments« oder »basic commitments« seiner Gemeinde.42 Von der Redeemer Presbyterian Church sind zahlreiche Gemeindegründungen bis in den deutschsprachigen Raum hinein ausgegangen. Den Maximen dieser Kirche kommt in meiner Untersuchung deshalb Aufmerksamkeit zu, weil ich junge Menschen befragt habe, die sich nach einem Ortswechsel der Gemeinde Berlinprojekt – einer von der Redeemer Presbyterian Church ausgehenden Gemeindegründung in Berlin – angeschlossen haben. In der Church of England begegnet die Frage nach neuen sozialen Orten pointiert in der Bewegung der Fresh Expressions of Church.43 Sie bezeichnen den Versuch, sich an den vielfältigen Lebensformen der Menschen zu orientieren und geeignete Sozialformen für ein gemeinsames Kirchesein zu finden. Die Fresh Expressions of Church verstehen sich als experimentelle Sozialformen unter dem Dach der anglikanischen Kirche und als »wirkliche« Kirche.44 Sie werden »seit
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von der Kirche als Organisation »strukturell gefördert« werden. Vgl. Karle, Religion-Interaktion-Organisation, in: Hermelink/Wegner (Hg.), Paradoxien kirchlicher Organisation, 2008, 238. Elhaus/Hennecke, Gottes Sehnsucht in der Stadt, in: dies. (Hg.), Gottes Sehnsucht in der Stadt, 2011, 19. So die Dreigliederung von Keller, Center Church, 2012. Vgl. ausserdem Kellers Vortrag Urban Mission, 2010, über Gemeindeentwicklung im Kontext einer Grossstadt. Quelle: www.missionalchurchnetwork.com/tim-keller-urban-mission [Stand: 10. 05. 2012]. Keller, Center Church, 2012, 21–23. Nelstrop/Percy (eds.), Evaluating Fresh Expressions, 2008. Zur Definition der Fresh Expressions of Church und der Betonung, wirkliche Kirche (»proper church«) zu sein, siehe Watkins/Shepherd, The Challenge of ›Fresh Expres-sions‹ to Ecclesiology, Ecclesial Practises 1 (2014), 92.
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Einleitung
2004 offiziell als eigenständige anglikanische Gemeinden anerkannt«.45 Von ihren eigenen Vertretern werden die Fresh Expressions of Church teilweise sehr kritisch auf die Verhältnisbestimmung von Soteriologie und Ekklesiologie hin befragt.46 Für die Frage nach Gemeinschaftsbildung mit mobilen Menschen interessiert, wie Gemeinden, die sich um der Gemeinschaft mit kirchenfernen Menschen willen von den institutionellen Aspekten des Kircheseins distanzieren, auf die Gesamtkirche und ihre Traditionen bezogen bleiben können.
Die Sozialgestalt der evangelischen Kirche als Organisation oder als Gemeinschaft untersuchen? In der deutschsprachigen praktisch-theologischen Kirchentheorie wird die Kirche bevorzugt in ihrer Gestalt als Organisation und seltener in ihrer Gemeinschaftsgestalt untersucht.47 Die Gründe dafür liegen auf der Hand: »Finanzkrise, Strukturkrise und Tradierungskrise der Kirchen haben dazu geführt, dass die evangelischen Kirchen sich stärker als Organisation des christlichen Glaubens begreifen und verhalten […] und in diesem Zusammenhang verstärkt an den Kirchenmitgliedern, an ihren Einstellungen, Erwartungen und Beteiligungsabsichten interessiert sind […].«48
Das Interesse an der Kirche als Organisation findet seine Begründung darin, dass die Organisation am ehesten als geeignet erscheint, um Menschen in der Pluralität ihrer Lebensformen anzusprechen. Denn als Organisation kann die Kirche auf gesellschaftliche Entwicklungen reagieren und kann zeitnahe »Reaktionsstrategien« entwickeln.49 Auch in der Religionssoziologie hat sich eine »organisationale Perspektive auf die christlichen Grosskirchen« etabliert.50 In der praktisch-theologischen Kirchentheorie wird die Organisation meist im Luhmannschen Sinne als ein Modus gesellschaftlicher Kommunikation verstanden.51 Die evangelische Kirche erscheint dabei in der Perspektive eines ge-
45 Müller, Fresh Expressions of Church, in: Diethelm u. a. (Hg.), Lebenswelten, 2012, 193–199, 193. 46 Von soteriologischen und ekklesiologischen »Fehlern« sprechen Davison/Milbank in: For the Parish, 2011, 41–63. 47 Vgl. die Veröffentlichungen von Preul, Kirchentheorie, 1997; Ludwig, Von der Institution zur Organisation, 2010; Hermelink, Kirchliche Organisation, 2011. 48 Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge, Huber u. a. (Hg.), 2006, 15. 49 Stolz/Ballif, Die Zukunft der Reformierten, 2010, 14. 50 Krech u. a., Typen religiöser Sozialformen, in: Religion und Gesellschaft, KZfSS Sonderheft 53 (2013), 51–71, 58. 51 Den Einfluss der Systemtheorie Luhmanns auf praktisch-theologische Handlungsfelder stellen Hermelink/Wegner (Hg.) in Paradoxien kirchlicher Organisation, 2008, dar, sowie
Zum Stand der Gemeinschaftsforschung
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sellschaftlichen Teilsystems. Als solches nimmt sie gesellschaftliche Funktionen wahr und lässt sich in Bezug auf ihre Funktionen und Leistungen beschreiben.52 Einen Überblick darüber, wie die evangelische Kirche als Organisation in neueren ekklesiologischen Entwürfen verstanden wird, hat Holger Ludwig vorgelegt. Der Titel ›Von der Institution zur Organisation‹ ist programmatisch: Er bezeichnet die Organisation als eine Ablösegestalt der Institution.53 Dass die Kirche in ihrer Sozialgestalt als Institution durch andere Sozialformen von Religion abgelöst wird, hat der Soziologe Thomas Luckmann bereits 1967 in Die unsichtbare Religion postuliert. Schon damals hat er auf einen sich grundsätzlich vollziehenden Wandel der Sozialformen der Religion hingewiesen.54
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Zum Stand der Gemeinschaftsforschung
Vereinzelt widmen sich Institute für Soziologie der Gemeinschaftsforschung – wie zum Beispiel seit 2001 das Institut für Soziologie der Universität Münster.55 Der Münsteraner Soziologe Matthias Grundmann nennt soziale Gemeinschaften ein »vernachlässigtes soziologisches Forschungsfeld«.56 Nachdem der Gemeinschaftsbegriff lange Zeit als arational galt, wird die Begründung von Gemeinschaftsverhältnissen durch Ferdinand Tönnies heute wieder als konzeptionelle Grundlage rezipiert.57 »The theorizing of social forms has a long tradition in German sociology, with significant contributions by Ferdinand Tönnies and Georg Simmel. In recent German sociology, the conceptual, ideal-typical distinction of social forms into communities, organizations and markets is now widely accepted.«58
Viel Aufmerksamkeit in der gegenwärtigen Gemeinschaftsforschung nehmen Szenen und Events in Jugendkulturen ein. Renommierte Fachleute hierfür sind
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Blömeke, Beobachtung und Veränderung. Theologie, Kirche und Seelsorge in der Sicht der Systemtheorie, 2007. Nassehi, Religion und Biographie, in: Wohlrab-Sahr (Hg.), Biographie und Religion, 1995, 103–126, 109. Ludwig, Von der Institution zur Organisation, 2010, 12. Ausführlich in Kap. I.4.2.2 Religion erscheint in neuen Sozialformen. Neben Publikationen und der Einsicht in Ergebnisse von Befragungen bietet das Institut forschungsmethodische Zugänge und stellt Forschungsmaterial zur Verfügung. Flankiert wird die Gemeinschaftsforschung von einer Vielzahl weiterer Forschungsfelder wie der Sozialisationsforschung und der Religionssoziologie. Ein Überblick findet sich auf www.unimuenster.de/Soziologie/forschung/ gemeinschaftsforschung/ [Stand 21. 07. 2014]. Grundmann u. a. (Hg.), Soziale Gemeinschaften, 2006, 9ff (Einleitung). Vgl. Krech u. a., a. a. O., 52.67. Schlamelcher, The Decline of the Parishes, in: Martikainen/Gauthier (eds.), Religion in the Neoliberal Age, 2013, 53–67, 56, Anm. 9.
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Einleitung
die Soziologen Ronald Hitzler und Winfried Gebhardt, die vor allem über neue Formen von Vergemeinschaftung forschen.59 Auch in der Religionswissenschaft spielt die Bedeutung von fluiden Formen der Religion in Gestalt von Szenen und Events eine Rolle.60
Die Theoriebildung des Kommunitarismus Einen bedeutenden Beitrag zur Gemeinschaftsforschung haben US-amerikanische Kommunitaristen geleistet. Kommunitaristen sind eher wertkonservative Soziologen, die eine Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens aus dem Engagement der Bürgerinnen und Bürger in den überschaubaren Strukturen von Familie und Gemeinwesen erwarten. Erfrischend und in meinen Augen überraschend ist die Aufarbeitung des Kommunitarismus durch den Zürcher Soziologen Peter-Ulrich MerzBenz.61 Er widmet sich der Theoriebildung, die er bei den Kommunitaristen als mangelhaft ausgeführt sieht. Die Kommunitaristen haben Merz-Benz zufolge zum Teil Grosses geleistet, haben dabei aber ihre eigene Argumentation nicht verstanden. Merz-Benz’ Beitrag besteht darin zu untersuchen, wie sich Eigeninteresse und soziale Verpflichtung in Gemeinschaften zueinander verhalten. In welcher Weise wird das Handeln der Einzelnen durch Gemeinschaften bestimmt? Merz-Benz weist auf, dass Gemeinschaften nicht in der Alternative von neoliberalem (»Jeder kann machen, was er will.«) und sozialkonservativem Paradigma (»Weil ich dazu gehöre, kann ich nicht anders als…«) zu verstehen sind. Er entwirft das Modell einer relativen Entscheidungsrationalität, das die gesellschaftliche Bedeutung von Gemeinschaften wahrnimmt, aber einer ideologischen und wertkonservativen Engführung widersteht.
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Die Wahl der Forschungsperspektive und der Methode
Für eine praktisch-theologische Kirchentheorie sind zwei Forschungsperspektiven hilfreich, eine systemische und eine lebensweltliche.
59 Die Reihe Erlebniswelten (hg. v. Hitzler u. a.) befasst sich mit der Erforschung von Erlebnisräumen in postmoderner Gesellschaft. Weitere Veröffentlichungen, auf die ich mich im Verlauf der Arbeit beziehe, sind: Hitzler, Ein bisschen Spass muss sein, in: Gebhardt u. a. (Hg.), Events, 401–412; Hitzler u. a., Leben in Szenen, 2001; Krotz u. a., Die Mediatisierung sozialer Welten, 2014; Gebhardt u. a. (Hg.), Megaparty Glaubensfest, 2007; Gebhardt, Flüchtige Gemeinschaften, in: Lüddeckens/Walthert (Hg.), Fluide Religion, 2010. 60 Vgl. Lüddeckens/Walthert (Hg.), Fluide Religion, 2010. 61 Merz-Benz, Die Überwindung des Individualismus, 2006.
Die Wahl der Forschungsperspektive und der Methode
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Eine systemische Perspektive hilft zu erkennen, wie soziale Verhältnisse funktionieren – nach innen und nach aussen hin.62 In dieser Perspektive wird die evangelische Kirche vorrangig in ihrer Gestalt als Organisation und damit auf ihre Leistungen hin befragt. Die lebensweltliche Perspektive zeigt dagegen auf, wie sich soziale Wirklichkeit aus Sicht der Beteiligten konstituiert. Indem ich Gemeindeentwicklung mit mobilen Menschen als Erfahrung gemeinsamer Sozialwelt in den Blick nehme, habe ich mich für eine lebensweltliche Perspektive entschieden. Gemeinschaft wird dabei wissenssoziologisch als ein soziales Verhältnis verstanden, das sich aus dem Handeln der Beteiligten und aus gemeinsamen Deutungen generiert.63 Ein Beispiel für eine in systemischer Perspektive entworfene praktisch-theologische Theorie der evangelischen Kirche stellt Jan Hermelinks Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens dar.64 Die von Hermelink eingenommene systemische Perspektive hilft zur Wahrnehmung und Beschreibung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Sie schärft den Blick für die Bedeutung und die Funktionen der evangelischen Kirche in einer pluralistischen Gesellschaft. Beide – eine systemische und eine lebensweltliche Forschungsperspektive – sind grundlegend für eine praktisch-theologische Kirchentheorie und ergänzen sich. Es handelt sich aber um zwei verschiedene Perspektiven.
Erfahrungswirklichkeit mit Lebenswelttheorie beschreiben Im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht eine Erfahrungswirklichkeit. Gemeinschaft interessiert nicht nur ihrem Wesen und Entstehen nach – als sozialphilosophischer Begriff –, sondern als eine Erfahrungswirklichkeit der evangelischen Kirche. Diese wird ekklesiologisch als Weggemeinschaft der Hoffnung konkretisiert. Es gibt verschiedene methodische, vor allem empirische Möglichkeiten, eine Erfahrungswirklichkeit zu untersuchen. Ich entscheide mich dafür, Gemeinde als ›Lebenswelt‹ ihrer Glieder zu verstehen. Lebensweltsmodelle sind Theoriemodelle und beschreiben Erfahrungen gemeinsamer Sozialwelt, die auf dem Erwerb unproblematischer Hintergrundüberzeugungen beruhen.65 Indem Menschen Erfahrungen gemeinsamer Lebenswelt machen, »konstituieren sich […] die 62 Das meint das Verhältnis ihrer Mitglieder ›nach Innen‹ und ›nach Aussen‹ hin, ihre »Mitgliedschafts- und ihre Einflusslogik« (Karl Gabriel), vgl. das Kap. II.3.2.1. 63 Das Soziale wird im Spannungsfeld »zwischen dem zu einem ›Weltbild‹ aufgeschichteten Deutungszusammenhang und den Eigengesetzlichkeiten sozialer Sphären und Institutionen« gesehen. Gabriel, Analysen der Organisationsgesellschaft, 1979, 12. 64 Hermelink, Kirchliche Organisation, 2011. 65 Vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1, 1988, 107.
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Einleitung
Bedingungen für soziale Beziehungen«.66 Das Attribut ›unproblematisch‹ ist für die Fragestellung wichtig. Zugehörigkeit zur Kirche soll auch von mobilen Menschen als naheliegend und alltagsbezogen erfahren werden. Methodisch beziehe ich mich auf ein Lebensweltmodell des Soziologen Jürgen Habermas.67 Habermas’ Lebensweltbegriff ist der Kommunikationstheorie verpflichtet.68 In seiner ›Theorie des kommunikativen Handelns‹ erscheinen Lebenswelt und kommunikatives Handeln als Komplementärbegriffe.69 Diesem Theoriemodell zufolge reproduziert sich eine gemeinsame Sozialwelt in »drei formalen Weltbezügen«.70 Sie reproduziert sich kulturell, das heisst sie erneuert sich als Wissensbestand einschliesslich der Deutungen. Sie reproduziert sich als Sozialität derer, die an ihr teilhaben, und sie reproduziert sich durch die IchBildung ihrer Glieder. Der Soziologe und Theologe Harald Wagner hat diesen Ansatz für die Praktische Theologie fruchtbar gemacht.71 Gemeinde lässt sich dem Habermas′schen Modell zufolge kommunikationstheoretisch in dreifacher Hinsicht beschreiben. Wird Gemeinde von ihren Mitgliedern als Lebenswelt erfahren, dann geschieht das als • Teilhabe am Wissensbestand (kulturelle Ebene) • Erfahrung eines Wir-Gefühls (soziale Ebene) • Ausbildung der persönlichen Identität (individuelle Ebene) In einem so verstandenen kommunikativen Handeln sind auf der kulturellen Ebene die »Normenbildung« und auf der individuellen Ebene die »Reifung« der Einzelnen integriert.72 Wird subjekthaft von der Gemeinde gesprochen, dann ist Gemeinde als kommunikatives Handeln im Modell einer Lebenswelt gemeint. Dabei wird immer mitgedacht, dass sich dieses Handeln formal in den drei genannten »Weltbezügen« vollzieht. Später werde ich ausführen, dass und inwiefern sich die
66 Wagner, Lebenswelt und Glaube, 1996, 155. 67 Ein ausführlicher geschichtlicher Überblick zum Lebensweltbegriff in Philosophie und Soziologie findet sich bei Knoblauch (Hg.), Kommunikative Lebenswelten, 1996. Eine neuere Untersuchung zum Lebensweltbegriff bei Habermas und seiner Herleitung legt Rosa Sierra mit Kulturelle Lebenswelt, 2013, vor. 68 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd.1 und 2, 1988. In Band 1 bespricht Habermas auf den Seiten 72–113 die Begriffe ›Lebenswelt‹ und ›Weltbild‹. 69 Wagner, a. a. O., 38. 70 Ebd., 42. Ausführlich behandle ich die drei formalen Weltbezüge in Kap. III.2.1.2 Lebenswelt erneuert sich. 71 Wagner, Lebenswelt und Glaube, 1996. 72 Ebd., 155.
Aufbau der Arbeit
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drei »Weltbezüge« in den Beziehungsfeldern der Kirche als Leiturgia, Koinonia und Diakonia (+ Martyria) finden.73
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Aufbau der Arbeit
Den Einstieg in die Untersuchung bildet die Wahrnehmung von Mobilitätsphänomenen. Wie stellt sich Mobilität zu Beginn des 21. Jahrhunderts empirisch dar? 74 Was wissen wir über Umzugs- und Pendlermobilität in Europa, besonders in Deutschland und der Schweiz? In welcher Weise beeinflusst Mobilität die Lebensführung von Männern, Frauen, Familien, von Personen in bestimmten Lebensabschnitten? 75 Zu den Voraussetzungen der Arbeit gehört auch, die selbstverständliche Möglichkeit zur Mobilität als ein Kennzeichen postmoderner Gesellschaften sichtbar zu machen. Ich arbeite Merkmale von Lebensformen und Lebensführung in der Vormoderne, Moderne und Postmoderne heraus.76 Sie stellen die Bedingungen dar, unter denen gemeinschaftsbildende Prozesse und der Erwerb von unproblematischen Hintergrundüberzeugungen stattfinden. Im soziologischen Teil der Arbeit wird definiert, was unter Gemeinschaft verstanden werden soll.77 Zu diesem Zweck setze ich mich mit dem Werk des Soziologen Ferdinand Tönnies auseinander.78 Tönnies hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwischen den Wesenszügen verschiedener Gesellungsformen und dabei grundlegend zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft unterschieden. Ich arbeite das Wesen von Gemeinschaft unter Einbeziehung der Arbeiten von Peter-Ulrich Merz-Benz und der kommunitaristischen Soziologen Amitai Etzioni und Robert Bellah heraus.79 73 Bittner, Kirche – Wo bist du?, 2. Aufl 1995, 136ff. Zu den Handlungsfeldern der Kirche siehe Kap. III. 2.2 Gemeinde als Lebenswelt ihrer Glieder – ihre drei Handlungsfelder. 74 Den empirischen Daten zur Mobilität in ausgewählten Ländern der EU und der Schweiz liegen die Befragungen von Schneider/Collet (eds.), Mobile Living Across Europe I und II, 2008 und 2010, zugrunde. 75 Begriffsklärungen am Anfang von Kap. I.2. Lebensführung in der Postmoderne. 76 Dabei beziehe ich mich im Wesentlichen auf Berger/Luckmann, Modernität, Pluralismus und Sinnkrise, 1995; Campiche (Hg.), Die zwei Gesichter der Religion, 2004; Casanova, Is Secularization Global? in: Buß/Luber (Hg.), Neue Räume öffnen, 2013, 69–82; Gabriel (Hg.), Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung, 1996; Luhmann, Organisation und Entscheidung, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 3, 1981; Lyotard, Das postmoderne Wissen, 1982; Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, 2003 und Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 1997. 77 In Kap. I.3 Gemeinschaft in soziologischer Perspektive. 78 Tönnies, Einführung in die Soziologie, 2. unveränd. Aufl. von 1931, 1981. Ders., Gemeinschaft und Gesellschaft, 8. unveränd. Aufl. von 1935, 1979. 79 Bellah, Community Properly Understood, in: Etzioni (ed.), The Essential Communitarian
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Einleitung
Das zweite Kapitel dieser Arbeit befasst sich mit der Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive.80 Dabei kommt der biblisch-reformatorischen Tradition ein besonderes Gewicht zu. Ein erster Abschnitt nimmt Gottes Wort als Grund und Ursprung von Sozialität in den Blick. Es wird untersucht, welche Bedeutung der Sichtbarkeit und der Leibhaftigkeit kirchlicher Sozialität zukommt. Ein zweiter Abschnitt widmet sich den Handlungs- und Leitungsstrukturen der evangelischen Kirche. Wie man diese versteht, ist davon abhängig, welchen Grunderfahrungen der Kirche Priorität gegeben wird. Mit Ralph Kunz und Medard Kehl gehe ich davon aus, dass in der biblischen Tradition sehr verschiedene Grunderfahrungen des Kircheseins bewahrt werden, die jedem Gespräch über die Kirche – zumindest implizit – zugrunde liegen.81 Wird die Grunderfahrung einer kommunizierenden Kirche als vorrangig und normativ angesehen, dann lässt sich von dieser her eine kommunikative und partizipative Grundstruktur kirchlichen Handelns entfalten. Die Kirche wird dann prioritär als eine Weggemeinschaft der Hoffnung verstanden. Die Formel vom allgemeinen Priestertum aller Glaubenden präzisiert die innerkirchliche Kommunikation dahingehend, dass allen Gliedern der Gemeinde die Teilhabe an Ämtern und Aufgaben zugänglich ist. Allein der Gebrauch dieser Vollmacht will durch Ordnungen geregelt sein. In einem dritten ekklesiologischen Abschnitt stelle ich modellhaft drei Möglichkeiten vor, wie sich die theologische und gesellschaftliche Wirklichkeit der evangelischen Kirche zueinander in Beziehung setzen lassen.82 Wie man die Vermittlung von gesellschaftlicher und theologischer Wirklichkeit der Kirche bestimmt, hängt davon ab, welche ihrer Sozialgestalten als Referenz dient. In einem ersten Modell wird die Kirche als Organisation gedacht, in einem zweiten Modell sozialphilosophisch als Gemeinschaft und in einem dritten Modell wird
Reader, 1998, 15–19; Bellah et al, Habits of the Heart, 1986 (deutsch: Bellah, Robert N. u. a., Gewohnheiten des Herzens, 1987). Etzioni, The New Golden Rule, 1996 (deutsch: Etzioni, Die Verantwortungsgesellschaft, 1997); Etzioni, The Spirit of Community, 1993 (deutsch: Etzioni, Die Entdeckung des Gemeinwesens, 1995). Amitai, The Moral Dimension, 1990 (deutsch: Amitai, Jenseits des Egoismus-Prinzips, 1994. Ab der zweiten Aufl. (1996) trägt es den Titel Die faire Gesellschaft; Etzioni, A Moral Reawakening Without Puritanism, in: Etzioni (ed.), The Essential Communitarian Reader, 1998, 41–46. 80 Kap. II Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive. 81 Der Theologe Ernst Troeltsch unterscheidet »drei Haupttypen der soziologischen Selbstgestaltung der christlichen Idee« (Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen 2, 1994 (1912), 967ff.) Auch der Soziologe Karl Gabriel spricht von drei »Grundströmungen«, vgl. Gabriel, Christentum zwischen Tradition und Moderne, 1992, 196. 82 Kap. II.3 Systematisch-theologische Klärung: Die evangelische Kirche im Spannungsfeld ihrer theologischen und ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Aufbau der Arbeit
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die Erfahrungswirklichkeit der Kirche als Schnittstelle ihrer theologischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit gesehen.83 Im dritten Kapitel der Arbeit (»Gemeinde als Lebenswelt verändert sich«) stelle ich dar, wie sich die Kommunikation von Gemeinschaften unter den Bedingungen einer modernen und dann einer postmodernen Gesellschaft verändert. Der Wandel der gesellschaftlichen Kommunikation wurde bereits seit Mitte des 20. Jahrhunderts gut untersucht.84 Er lässt sich so zusammenfassen, dass Institutionen zunehmend an Bedeutung verlieren, dass Organisationen an ihre Stelle treten und neue Formen von Vergemeinschaftung an Gewicht gewinnen. Diese Veränderungen haben Folgen für die Kommunikation einer als Weggemeinschaft der Hoffnung verstandenen Kirche.85
Zur Praxis lebensweltlicher Kommunikation Der zweite Teil der Arbeit ruht auf der Theoriebildung der Kapitel I bis III. Die evangelische Kirche – theologisch als Weggemeinschaft der Hoffnung verstanden und methodisch im Modell einer Lebenswelt untersucht – wird jetzt auf ihr Handeln hin befragt. Ich nenne das die Praxis lebensweltlicher Kommunikation. Die Kapitel V und VI sind mit Auszügen aus Interviews versehen, die jeweils als eine Beschreibung laufender Praxis gekennzeichnet sind. In den Interviews aus dem Jahre 2010 haben sich vornehmlich akademisch gebildete junge Menschen von mir befragen lassen, was sie nach ihrem Ortswechsel bewogen hat, sich der Kirchgemeinde Berlinprojekt anzuschliessen. Die Bedingungen, unter denen die Befragung stattgefunden hat, sind im Kapitel IV vorangestellt. Die Interviews begründen die hier vorgestellten Handlungsorientierungen nicht. Sie illustrieren aber, wie junge Menschen auf ihrer Suche nach Zugehörigkeit die Kommunikation einer Kirchgemeinde wahrnehmen. Kapitel VI schliesst den Bogen der Untersuchung mit einem Blick auf drei spezialisierte Aspekte für die Kommunikation mit mobilen Menschen.86 Ein erster Abschnitt gilt den Möglichkeiten, die einer medial vermittelten Kommunikation innewohnen. Welchen Beitrag können Websites, Foren und Chats dafür 83 Hermelink, Kirchliche Organisation, 2011; Bonhoeffer, Sanctorum Communio, 1986 (1930); Kunz, Theorie des Gemeindeaufbaus, 1997. 84 Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, 2003 (1979); Berger, Der Zwang zur Häresie, 1979. Ausführlich in Kap. I.4.2.2 Religion erscheint in neuen Sozialformen. 85 Der österreichische Sozialwissenschafter, Jurist und Philosoph Rolf Schwendter hat 1971 eine Theorie der Subkultur veröffentlicht. Schwendter selbst war in verschiedenen Bewegungen sozialpolitisch engagiert. Er untersucht die kommunikativen Möglichkeiten gesellschaftlicher Sozialverhältnisse, wenn sie nicht mehr durch eine Hauptkultur repräsentiert werden. Vgl. Schwendter, Theorie einer Subkultur, 4. Aufl. 1994. 86 Kap. VII Die sozialen Bedingungen mobiler Menschen zur Gemeinschaftsbildung.
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Einleitung
leisten, dass Menschen sich der evangelischen Kirche zugehörig fühlen? Inwiefern ermöglicht medial vermittelte Kommunikation eine Erfahrung gemeinsamer Lebenswelt? Wo und warum erreicht medial vermittelte Kommunikation in Bezug auf Zugehörigkeitserfahrungen ihre Grenzen? 87 In einem zweiten Abschnitt frage ich nach den Möglichkeiten, die Kleingruppen einer Kirchgemeinde darstellen, wenn man ein traditionelles ›Hauskreismodell‹ verabschiedet und Kleingruppen als Weggemeinschaften der Hoffnung versteht. Ein dritter Abschnitt behandelt die Bedeutung von situativen Gemeinschaftserfahrungen für mobile Menschen. Kirchentage und mehrtägige Jugendkonferenzen, die Treffen der Communauté de Taizé oder Pilgerurlaube finden viel Anklang und teilweise stark wachsenden Zuspruch.88 Was für eine Art von Gemeinschaft entsteht bei solchen situativen Zusammenkünften? Sind dies ausseralltägliche Gemeinschaftserfahrungen oder haben sie einen Alltagsbezug und können zu dem führen, was wir den Erwerb von »unproblematischen Hintergrundüberzeugungen« genannt haben? 89 Gibt es einen Übergang von situativen Gemeinschaftserfahrungen hin zur Erfahrung von traditionaler Gemeinschaft in Ortsgemeinden? 90 Die zum Jahreswechsel 2014/2015 durchgeführte Veranstaltung Praisecamp beispielsweise wirbt mit dem Slogan »Lass uns das Praisecamp verlängern«.91
Persönlicher Zugang zum Forschungsthema Die Frage nach Gemeindeentwicklung mit mobilen Menschen bezieht mich als Verfasserin ein. Ausbildungs- und berufsbedingt habe ich von 1987 an bis heute an verschiedenen Orten im In- und Ausland gelebt. Ich habe als Berlinerin unter anderem in Württemberg studiert, war als Austauschstudentin in Cambridge 87 Ich beziehe mich im Wesentlichen auf Fleck, Dialogorientierte Kommunikation im Internet, 2011; Knatz, Handbuch Internetseelsorge, 2013; Nord, Realitäten des Glaubens, 2008; Zeilinger, Netz.Macht.Kirche, 2011. 88 Die Statistiken des Domkapitels der Kathedrale von Santiago de Compostela weisen für die Zeit von 1979 (68 Jakobspilger) bis 2013 (215’880) einen Zuwachs von knapp 3175 % aus. Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Jakobsweg [Stand: 3. 3. 2014]. 89 Silke Harms stellt in Glauben üben, 2011, Kriterien zur Verfügung, die den Alltagsbezug von ausseralltäglichen geistlichen Erfahrungen aufzeigen. Zur Bedeutung der unproblematisch empfundenen Überzeugungen für unsere Fragestellung siehe Kap. II.2.1.1 Lebenswelt beschreibt gemeinsame unproblematische Hintergrundüberzeugungen 90 Den Begriff ›traditional‹ übernehme ich von Tönnies. Er bezeichnet eine Kommunikation, die auf einer schon vorausgesetzten, affektiven Verbundenheit beruht. Tönnies, Einführung in die Soziologie, 1981 (1931), 6. Ausführlich in Kap. I.3.2 Gemeinschaft – was für ein Sozialverhältnis ist das? 91 http://praisecamp.ch/nach-dem-camp [Stand 10. Januar 2015].
Aufbau der Arbeit
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und als Vikarin zu Gast in der evangelisch-lutherischen Mekane Yesus Kirche in Äthiopien. Eine starke Erfahrung war der Ortswechsel in den Osten Deutschlands nach der deutschen Wiedervereinigung 1991. Als West-Berlinerin war ich weder politisch noch kirchlich im Osten Deutschlands sozialisiert worden. So war beispielsweise das Pfarramt in Eisenhüttenstadt (2001–2008) direkt an der polnischen Grenze eine nachhaltige Erfahrung. Ein weiterer Ortswechsel fand 2008 statt, als ich mit meinem Mann, einem Österreicher, an meinen jetzigen Lebens- und Arbeitsort – Liestal im Kanton Baselland – gezogen bin. An jedem neuen Ort habe ich die evangelische Kirche als gemeinsame Lebenswelt erfahren. Meist war ich diejenige, die von aussen in die bestehenden sozialen Verhältnisse – in Württemberg, in Cambridge, in Hossaina/ETH, in Caputh/Geltow, in Eisenhüttenstadt, in Liestal/CH – gekommen ist und als mobil wahrgenommen wurde. Die ortsansässigen Menschen hatten als Bürgerinnen und Bürger, aber auch als Kirchenmitglieder an selbstverständlichen Übereinkünften teil, an denen sie mir teilgeben wollten. Für mich waren die Ortswechsel nicht nur Gegenstand der persönlichen Erfahrung, sondern auch der theologischen Reflexion: Ich wollte dem auf die Spur kommen, wodurch eine Kirchgemeinde von mir und anderen Menschen als gemeinsame Lebenswelt erfahren wird. Speziell ist mein Zugang zum Forschungsthema vielleicht dadurch, dass ich an jedem Ort, an dem ich länger als Pfarrerin der evangelischen Kirche gearbeitet habe, nicht nur die bereits bestehenden kirchlichen Gruppen besucht und begleitet habe, sondern Gemeindeglieder zum Beginnen von Kleingruppen bzw. Weggemeinschaften ermutigt habe. So konnte und kann ich das Entstehen und die Entwicklung von Weggemeinschaften der Hoffnung im Zusammenhang und Zusammenspiel einer Kirchgemeinde wahrnehmen und begleiten.
Teil A: Die Gemeinschaftsgestalt der Kirche im Zeitalter der Mobilität
I
Mobilität, Postmoderne und das Wesen von Gemeinschaft
1
Mobilität als geographisches und soziales Phänomen im beginnenden 21. Jahrhundert
1.1
Vorüberlegungen zur Mobilität
Mobile Lebensweisen finden ihren Niederschlag in vielfältigen Angeboten. Es gibt Internet-Tarife und Büroangebote für mobile Menschen, Vielfliegerrabatte und mobile Wohnlösungen, es gibt speziell zugeschnittene Bildungsangebote und unzählige Dienstleistungen für mobile Menschen im 21. Jahrhundert.1 Die Mobilitätsforschung sieht Gründe für Mobilität im neoliberalen Versprechen des erhöhten Konsums, in der Erwartung wirtschaftlichen Wachstums. »Movement became significant in the contemporary world – indeed the freedom of movement, as represented in popular media, politics and the public sphere, is the ideology and utopia of the twenty-first century. The UN and the EU both enshrine rights to movement in their constitutions. More than knowledge, more than celebrity, more than economic success itself, it is the infinity of promised and assumed consumption possibilities arising from multiple movements that characterises the neo-liberal dream.«2
1.1.1 Geographie und Sozialwissenschaften Das Wissen um Mobilitätsbedürfnisse ist unabdingbar für die Raum- und Verkehrsplanung. »Die dringlichste Frage der Raumentwicklung lautet, wie sich Phänomene wie etwa Globalisierung, Wissensökonomie, Individualisierung der Lebensstile, Klimawandel auf unser Mobilitätsverhalten und den Raum insgesamt auswirken. […] Mobilität stellt 1 Zu mobilen Bürolösungen siehe Schmuki, So arbeitet die Zukunft, Tagblatt vom 12. 01. 2010, Quelle: www.tagblatt.ch/magazin/leben/tb-le/So-arbeitet-die-Zukunft;art126,1447383 [Stand: 14. 2. 2014]. 2 Grieco/Urry (eds.), Mobilities, 2011, 4.
34
Mobilität, Postmoderne und das Wesen von Gemeinschaft
also gleichzeitig Treiber und Abbild der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung im Raum dar. Gesellschaft und Wirtschaft befinden sich im Wandel. Neben der Demographie sind auch Wertesysteme und Lebensentwürfe im Umbruch. Immer vielfältiger werden die individuellen Mobilitätsbedürfnisse.«3
Aber nicht nur die Geographie, sondern auch die Sozialwissenschaften wollen Fragen nach Lebensformen, Zugehörigkeit und Identität (z. B. Familie) nicht mehr losgelöst von Mobilitätsfragen bedenken. Mobilität ist zu einem integralen Aspekt des sozialen Lebens geworden. »Mobility is an integral aspect of social life. The sociologist Urry (2000) even goes so far as to say that sociology’s focus on societies (understood as bounded units) is no longer relevant and that sociology should instead focus on mobilities.«4
Der Erforschung der gegenwärtigen Mobilitätssituation in Europa liegen wenige empirische Daten zugrunde. Eine Ausnahme bildet das Thema Migration. Migration ist ein in Europa empirisch gut untersuchtes Mobilitätsverhalten, was die Quantität der erhobenen Daten betrifft. Es gibt aber qualitative Unschärfen, weil keine weltweit gemeinsame Definition von Migrantinnen und Migranten existiert. »Als Kriterium gilt in dem einen Land die Staatsangehörigkeit, in einem anderen die Dauer des Aufenthalts; mal wird man nach Arbeitsaufnahme gefragt, mal danach, ob die Auswanderung freiwillig erfolgt ist oder erzwungen war.«5
Genauere Daten zur Mobilität erhoffen sich Demographen durch die Auswertung von Mail-Verkehr, den grosse Internetdienste wie Yahoo zur Verfügung stellen. Von der Auswertung elektronischer Kommunikation sollen zukünftig präzisere Angaben zur Migration zu erwarten sein.6
1.1.2 Mobilitätsphänomene unterscheiden In den Sozialwissenschaften und der Geographie unterscheidet man zwischen sozialer und räumlicher Mobilität. Dass ein Zusammenhang zwischen sozialer und räumlicher Mobilität besteht, gilt als gegeben. »Dabei wird soziale Mobilität als ein Wechsel von Personen im sozialen System […] und darüber hinaus […] im Sinne von sozialer Beweglichkeit als Anpassungsfähigkeit und Veränderungsbereitschaft verstanden.«7 3 4 5 6
Buser, Phänomene entwickeln den Raum, in: ETH Globe (Nr. 1), 2008, 36. Easthope, Fixed Identities in a mobile world? in: Identities (16:1), 2009, 61–82, 61. Bauer, Immer der Arbeit nach (Editorial), in: Le Monde Diplomatique, 2008, 1. Biermann, Mit E-Mails lassen sich Auswanderer-Ströme messen, in: ZEIT-Online vom 25. 06. 2012, Quelle: www.zeit.de/digital/internet/2012–06/e-mail-demografie-auswandern/komplettansicht [Stand: 14. 02. 2014]. 7 Reuschke, Multilokales Wohnen, 2010, 15.
Mobilität als geographisches und soziales Phänomen
35
Diese Arbeit konzentriert sich auf die räumliche Mobilität, d. h. den Ortswechsel von Menschen im Raum. Die räumliche Mobilität lässt sich wiederum in residenzielle und zirkuläre Mobilität gliedern. Unter residenzieller Mobilität (»permanent mobility«) versteht man die dauerhafte Ortsveränderung unter Aufgabe des Ursprungsortes.8 Sie kann sich innerhalb des Heimatlandes oder als grenzüberschreitende Bewegung vollziehen.9 Für die Erhebung empirischer Daten in den unten aufgeführten Studien wurde der Wechsel des Hauptwohnsitzes über die Gemeindegrenze als Umzugsmobilität erfasst.10 Zirkuläre Mobilität meint Ortswechsel, bei denen der Wohnort als Ausgangsund Endpunkt der Bewegung beibehalten wird. Das betrifft beispielsweise das Pendeln zwischen Wohn- und Arbeitsort, aber auch die wiederkehrende Abwesenheit vom Wohnort wie beispielsweise bei Urlaubsreisen.11
1.2
Empirische Daten zur Mobilität in Europa
Eine Datengrundlage zur residenziellen und zirkulären Mobilität in Europa verdankt sich der Studie Mobile Living Across Europe I.12 Die Studie erfragt Zusammenhänge zwischen Mobilität und individuellem Wohlergehen, zwischen Mobilität, Familienentwicklung und sozialem Leben allgemein. Im Jahr 2007 wurden zu diesem Thema über 7000 Personen zwischen 25 und 54 Jahren in sechs europäischen Ländern befragt. Deutschland und die Schweiz gehörten mit zu den befragten Ländern. 1.2.1 Niedrige Umzugsmobilität Die genannte Befragung lässt auf eine überwiegend unbewegliche Gesellschaft schliessen, zumindest was die residenzielle Mobilität betrifft.13 Nur 1,5 % der befragten EU-Bevölkerung (einschliesslich der Schweiz) lebten 2007 in einem anderen EU-Land. Jedem dritten grenz-überschreitenden Umzug liegt die Heirat als Motiv zugrunde. Rund 25 % der Betroffenen sind aus beruflichen Gründen umgezogen. Eine dritte grosse Gruppe der dauerhaft Umgezogenen bilden Pensionäre (24 %), die ihren Lebensabend qualitativ verbessern wollen.14 8 9 10 11 12 13
Schneider/Collet (eds.), Mobile Living Across Europe I, 2008, 21. Ebd., 21. Schneider u. a., Mobil, flexibel, gebunden, 2002, 34. Franz, Artikel ›Mobilität‹, in: Wörterbuch der Soziologie, Bd. 2, 1989, 446. Schneider/Collet (eds.), Mobile Living Across Europe I, 2008. In den USA ist die Umzugsmobilität wesentlich höher als in Europa, da Stellenwechsel häufiger sind. Vgl. Zschocke, Mobilität in der Postmoderne, 2005, 33. 14 Schneider/Collet (eds.), Mobile Living Across Europe I, 2008, 15.
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Mobilität, Postmoderne und das Wesen von Gemeinschaft
Auch im Hinblick auf Ortswechsel im eigenen Land sind die Zahlen nicht markant. Hier stellt die Studie fest, dass 80 % der befragten Europäer im Jahr 2005 in der Region lebten, in der sie auch aufgewachsen waren. Jedes Jahr wechseln den Studienergebnissen zufolge 7 % der EU-Bürger ihren Wohnort über Gemeindegrenzen hinweg. In den USA beispielsweise ist die Quote mit 16 % bedeutend höher.15 Die grosse Mehrheit von Berufstätigen in Europa ist nur in geringem Masse bereit zu Umzügen. Bestimmte Bevölkerungsschichten gelten dabei als besonders ortsstabil, nämlich wenig gebildete junge Männer, Hausbesitzer, Eltern, deren Kinder zu Hause leben, und ältere Berufstätige. »To them being mobile does not mean moving freely but being moved. Here, mobility changes from a symbol of freedom and a new start to a mechanism incorporating coercion and heteronomy.«16
Umzugsmobilität wird von diesen Gruppen weitgehend nicht freiwillig gewählt.
1.2.2 Zunahme der berufsbedingten Mobilität Die ›Mobile-Living-Across-Europe‹ Studie bildet drei Entwicklungen ab. Berufsbedingte Mobilität wird für breite Bevölkerungsschichten zum täglichen Szenario, wird als ›normal‹ betrachtet. »Being mobile is no longer an exception but in times of an increasing positive social valuation it has become normal to a certain degree.«17
Berufsbedingte Mobilität ist überwiegend Pendlermobilität, die ihren Grund in Arbeitswegen und Geschäftsreisen hat. Dabei sind die Entfernungen, die Pendler zurücklegen, gestiegen. Es sind bestimmte Berufsgruppen, die bevorzugt pendeln, nämlich gesellschaftliche Trendsetter. Die Studie nennt sie »young highly qualified service workers and symbolic analysts«.18 Berufsbedingte Mobilität ist als Mittel gegen einen befürchteten sozialen Abstieg ein emotional höchst ambivalent besetztes Phänomen. Die berufsbedingte Mobilität wird zunehmend auf ihre Motive hin untersucht. Diese sind denkbar vielfältig.19 In einer Befragung von Schweizer Berufstätigen in mehr als einem gleichzeitigen Anstellungsverhältnis liessen sich drei Gruppen 15 16 17 18
Ebd., 16. Ebd., 16–17. Ebd., 17. Ebd., 15. Unter »symbolic analysts« versteht man Berufstätige, die besonders dafür qualifiziert sind, Probleme zu erkennen oder zu lösen oder neue Gebrauchsmöglichkeiten für bestehende Technologien zu visualisieren. Quelle: http://c00ledge.wordpress.com/2009/06/ 02/symbolic-analysts/ [Stand 19. 07. 2014]. 19 Ladewig/Mellinger, When in doubt: go nomad, in: Meschnig/Stuhr (Hg.), Arbeit als Lebensstil, 2003, 44–56.
Mobilität als geographisches und soziales Phänomen
37
von Patchworkern feststellen: Das sind die zufriedenen Teilselbständigen, die Selbstverwirklicher, die nicht-materielle Gründe als Leitmotiv anführen und die unfreiwilligen Patchworker.20 1.2.2.1 In Deutschland dominiert die Pendlermobilität In der Studie Mobile Living Across Europe I wurden 1495 Deutsche zwischen 25 und 54 Jahren zu ihrer berufsbedingten Mobilität interviewt. Als nicht mobil im Sinne der Studie sind 85 % der befragten Deutschen einzuschätzen; nur 15 % gelten als mobil. Von diesen 15 % wiederum sind nur 3 % in den letzten 3 Jahren berufsbedingt umgezogen.21 Es sind vor allem junge Menschen bis zum 30. Lebensjahr, die sich zu Umzügen entschliessen. »Wanderungen sind durch eine ausgeprägte Altersselektivität gekennzeichnet. Die räumlich mobilsten Personen befinden sich im Alter zwischen 18 und 30 Jahren, danach nimmt die Wohnmobilität stetig ab«.22
Während die berufsbedingte Umzugsmobilität gering ist, hat auch in Deutschland die berufsbedingte Pendlermobilität zugenommen. »Jeder sechste Erwerbstätige in Deutschland muss mittlerweile erhebliche Strecken zurücklegen, um zu seinem Arbeitsplatz zu gelangen.«23
Auch wer aus beruflichen Gründen täglich mehr als 70 Minuten pro Weg aufwendet – also ein sogenannter Long Distance Commuter ist –, sieht ihr oder sein Pendeln im Regelfall nicht als temporäre sondern als dauerhafte Lösung an.24 Die deutschen Befragten bevorzugen Ortsstabilität und Treue zur Region.25 Sie sehen ihr berufsbedingtes Pendeln als Lösung dafür, sowohl im Beruf als auch in der Partnerschaft und im Familienleben erfolgreich zu sein. Dabei sind jüngere berufstätige Menschen in Deutschland mobiler als ältere. Männer sind doppelt so häufig mobil wie Frauen. Berufstätige kinderlose Frauen sind mobiler als berufstätige Männer generell. Es besteht kein lineares Verhältnis zwischen Mobilität und Bildung.26 20 Raeder u. a., Clusteranalytische Bestimmung von Patchworkertypen, in: Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie (Heft 53), 2009, 131–141. 21 Schneider/Collet, Mobile Living Across Europe I, 2008, 111. Als einen Grund für die niedrige Umzugsmobilität führt die Studie (ebd.,107) den im europäischen Vergleich niedrigen Prozentsatz an Wohneigentum in Deutschland an. Wer erst einmal Wohneigentum besitze, behalte es im Regelfall auch. 22 Friese u. a., Umzüge älterer Menschen, in: RaumPlanung 163 (Heft 4), 2012, 44. 23 Mück-Raab am 06. 06. 2010 in einem Interview mit Professor Norbert Schneider, Leiter des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden. Quelle: http://www.zdf.de/sonntags/in-zwei-welten-leben–5348168.html [Stand: 01. 08. 2014]. 24 Schneider/Collet, Mobile Living Across Europe I, 2008, 139. 25 Ebd., 112. 26 Ebd., 140.
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Mobilität, Postmoderne und das Wesen von Gemeinschaft
1.2.2.2 In der Schweiz ist berufsbedingte Mobilität an Lebensphasen gebunden, die dem beruflichen Aufstieg dienen Mitte der 1990er Jahre führte das Eidgenössische Bundesamt für Strassenbau eine Untersuchung über die Zusammenhänge von Verkehrs- und Wanderungsmobilität in der Schweiz durch. Sie kommt zum Schluss, dass in der Schweiz sowohl die regionale als auch die nationale Wanderungsmobilität zurückgehen. »Sehr starken Zunahmen der inner- und zwischenbetrieblichen Mobilität, der sozioprofessionellen Berufsmobilität und der Berufspendelmobilität […] stand in den letzten Jahren eine Stagnation der Wanderungsbereitschaft und ein Rückgang der faktischen Wanderungsintensität innerhalb der meisten westeuropäischen Länder und Regionen gegenüber […].«27
Die Schweizer Studie stellt unter anderem fest, dass gute Pendelvoraussetzungen den Wanderungsverzicht bzw. einen Wanderungsaufschub begünstigen. Die Schweiz ist verkehrstechnisch gut ausgebaut und räumlich überschaubar. Damit entsprechen die Entwicklungen in der Schweiz denen im übrigen Europa, wie wir sie aus der Studie Mobile Living Across Europe kennen. In der Schweiz ist die berufsbedingte Mobilität im Regelfall an einen beruflichen Aufstieg gekoppelt und damit an eine bestimmte Lebensphase. Mobilität als Lebensform ist an diejenige Lebensphase gebunden, die als Übergang ins Erwachsenenalter beschrieben wird. »In particular, young people tend to become mobile because this choice is part of a social mobility trajectory which requires them to move away from their place of origin, especially when they live in a small town or remote area.«28
Vor allem qualifizierte und einkommensstarke Schweizer Männer sind berufsbedingt mobil und organisieren ihr Leben um ihre Mobilität herum.29 »The major Swiss cities exert a powerful attraction on a relatively homogenous part of the population of men living without children, who get higher income and more interesting occupational positions thereby.«30
Diejenigen unter ihnen, die mittlere Positionen in der Hierarchie einnehmen, sind in höherem Masse mobil als die in der Hierarchie hoch rangierenden Männer. Mit der Geburt eigener Kinder ändert sich das Mobilitätsverhalten. Das Erreichen beruflicher Ziele und die Familiengründung sind eng aneinander gekoppelt.
27 28 29 30
Arend/Gottardi, Umzug statt Pendeln? in: DISP 118, 1994, 35. Schneider/Collet, Mobile Living Across Europe I, 2008, 223. Ebd., 224. Ebd., 225.
Mobilität als geographisches und soziales Phänomen
1.3
39
Mobilität hat Einfluss auf die soziale Stabilität, die Familie und das Freizeitverhalten
In der Schweiz lässt sich wie in Deutschland eine Zunahme der Pendlermobilität feststellen.31 Seit 1970 hat der Anteil der Pendler in der Schweiz um 40 % zugenommen, während die Umzugsbereitschaft zurückgegangen ist.32 Das lässt sich mit der guten wirtschaftlichen Lage und dem generell hohen Lohnniveau erklären.33 Menschen reagieren auf räumlich auseinander liegende Lebensvollzüge zunehmend mit regionaler Bindung.34 1.3.1 Pendeln als Beitrag zur sozialen Stabilität Die Zunahme regionaler Bindungen bedeutet, dass Menschen bereit sind, längere Arbeitswege von ihrem Wohnort aus zurück zu legen. Pendeln kann als ein Beitrag zur sozialen Stabilität am Wohnort verstanden werden. »Das meint auch: zum gelebten Sowohl-als-auch, einem komplizierten Lebensentwurf.«35
Mobilität ist Ausdruck einer als stabil empfundenen Lebensführung, weil die sozialen Beziehungen am Wohnort aufrechterhalten werden können. Pendeln verspricht zunächst, dass Menschen am Wohnort bleiben und damit ihre soziale Stabilität wahren können. Mobilität kann aber auch als Ausdruck einer instabilen Lebensweise empfunden werden, wenn die Familie oder der Freundeskreis unter der fehlenden räumlichen Nähe zu zerbrechen drohen. Zur Entwicklung von gesellschaftlichen Sozialformen wie derjenigen der Familie existieren zahlreiche empirische Untersuchungen, die sich mit dem Zusammenhang von Lebensqualität und den Bedingungen sozialen Lebens befassen. Eine dieser Bedingungen ist die Mobilität. 1.3.2 Pendlermobilität und Familienleben Was lässt sich über den Einfluss von Pendlermobilität auf das Familienleben aussagen? Im Rahmen einer Langzeitstudie (1970–2000) des deutschen Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend war die Mehrheit der
31 Zur Entwicklung der Pendlermobilität in der Schweiz zwischen 1990 und 2000 siehe Frick u. a., Pendlermobilität Schweiz, in: Siedlungsstruktur und Berufsverkehr (Heft 2/3), 2007, Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hg.), 125–130. 32 Daum, Pendeln statt Zügeln in: NZZ, 5. Januar 2010 (Nr. 2), 11. 33 Ebd., 11. 34 Ebd., 11. Daum zitiert den deutschen Soziologen Martin Abraham. 35 Ebd., 11.
40
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Befragten der Ansicht, dass Mobilität die Familienentwicklung hemmt oder verhindert. »42 % der befragten Männer und 69 % der befragten Frauen geben an, dass sich die berufliche Situation hemmend auf die Familienentwicklung auswirkt.«36
Im Befragungszeitraum sind zudem die weiblichen Lebensläufe vermehrt in den Sog des Arbeitsmarktes geraten und es ist eine wachsende Vielfalt von Erwerbsverlaufsformen entstanden.37 Frauen sind der Zentrumsfunktion des Marktes ausgesetzt und müssen diese organisatorisch mit der Familie vereinbaren. »Für Frauen ist diese Marktzentriertheit nicht ohne die organisatorische Verfasstheit von Familie zu denken […], so dass weiterhin zwei Biographierichtungen miteinander konkurrieren, die zu vielfältigen Verschränkungen von Erwerbs- und Hausarbeitsbereich führen.«38
Die Familie hat den ausgewerteten Aussagen zufolge für die Frauen selbst weiterhin eine hohe Bedeutung, auch wenn sich die Geschlechterrollen in Haushalt und Beruf gewandelt haben.39 Frauen wollen weiterhin Familien gründen, kommen aber zunehmend nicht dazu: »Die Familie bleibt zwar als Lebensmodell weiter favorisiert, doch kommt es immer häufiger zum Aufschub und schliesslich zum Verzicht auf Familiengründung.«40
In der Familiensoziologie wird darauf hingewiesen, dass man nicht wirklich von einer Pluralisierung von Lebensformen sprechen kann, da sich die Pluralisierung häufig auf befristete Zeiträume beschränkt. »Die alternativen Lebensformen sind eher Lebensphasen […] Allerdings dauern diese Übergangsphasen inzwischen relativ lange.«41
Mobilität wirkt sich unterschiedlich auf Männer und Frauen aus. Sie bestimmt bei Männern nicht in annähernd gleichem Masse die Familienplanung wie bei Frauen. Mobilität hat bei Männern keinen Einfluss auf Entscheidungen für oder gegen eine Partnerschaft, aber sehr wohl auf die Entscheidung für Kinder. Mobile Männer zeugen ihre Kinder später als nicht mobile Männer; die Verzögerung der Vaterschaft wirkt sich aber nicht auf die Zahl der Kinder aus. Dieser Zusammenhang stellt sich für mobile Frauen gänzlich anders dar.
36 37 38 39 40 41
Schneider u. a., Berufsmobilität und Lebensform, Bd. 2, 2002, 438. Baumgartner, Die flexible Frau, 2008, 295. Ebd., 295. Ebd., 298. Burkart, Familiensoziologie, 2008, 48. Ebd., 48–49.
Mobilität als geographisches und soziales Phänomen
41
»Women′s family life is much more affected by their mobility decisions than men′s, as mobility tends to hinder them more frequently in building a family; thus, mobile women tend more often to remain partnerless than men and non-mobile women.«42
Mobilität wirkt sich auch auf das psychische Wohlergehen aus. In der Soziologie spricht man von lebensformspezifischen Belastungskonstellationen. Mobile Menschen empfinden ihre Lebensform überwiegend als belastend, haben sich aber dennoch für sie entschieden. »Generell wird ein ausgeprägter Zusammenhang zwischen Mobilität und psychischer und physischer Belastung deutlich. 67 % aller mobilen, aber nur 4 % aller nicht mobilen Personen berichten von Belastungen, die in direktem Zusammenhang mit ihrer Lebensform stehen.«43
1.3.3 Längere Wege bei der Freizeitgestaltung Die bisherigen Bemerkungen galten vorwiegend der berufsbedingten Mobilität. Aber nicht nur in beruflichen Zusammenhängen, sondern auch in ihrer Freizeit legen Menschen regelmässig grössere Wege zurück. Untersuchungen zu raumplanerischen Entwicklungen messen der durch Freizeitverhalten begründeten Mobilität in einer postmodernen Gesellschaft eine zunehmende Bedeutung zu.44 Nach Schätzungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hat sich die Freizeitmobilität zwischen 1970 und 2010 verdoppelt, wozu auch die Zunahme an Fernreisen beigetragen hat.45 Freizeitverhalten wird in der Mobilitätsforschung dabei wesentlich durch die Pflege sozialer Netzwerke definiert. Die Schweizer Soziologin und Journalistin Conny Schmid hat die Beziehung zwischen sozialen Netzwerken und Mobilitätsverhalten untersucht und Freundschaften als eine bedeutende »Quelle von Verkehr« ausgemacht.46 Freizeitverhalten meint also nicht in erster Linie den Weg zum ›Berg‹ sondern zu denjenigen Menschen hin, mit denen man den Berg besteigt. Auch Seniorinnen und Senioren, die nach dem Altersrücktritt über ein hohes Mass an Freizeit verfügen, werden zunehmend mobil. Sie entwickeln zunehmend ein Wahlverhalten in Bezug auf die Gestaltung ihrer Freizeit.47 Damit kommt die Mobilitätsforschung zu anderen Ergebnissen als beispielsweise die thesenartigen Behauptungen der Sinus-Studien. Die Pastoral im Sinus-Land ging noch von der Ortsstabilität der altwerdenden Bevölkerung aus: 42 43 44 45 46 47
Schneider/Collet (eds.), Mobile Living Across Europe II, 2010, 234. Schneider u. a., Berufsmobilität und Lebensform, 2002, 434. Kramer, Deutschland unterwegs, in: Geographica Helvetica (Heft 2), 2004, 119–132. Zschocke, a. a. O., 2005, 10. Schmid, Freundschaften als Quelle von Verkehr, in: ETH Globe (Nr. 1), 2008, 23. Vgl. Marconi/Infanger, Mobilität und demographischer Wandel, in: Zeitschrift Forum Raumentwicklung, 2007/2, 15–18.
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»Denn ausser den kleinen Kindern und den Senioren sind die Bewohner in der ganzen Stadt unterwegs.«48
Es sind vor allem die ›jungen‹ Senioren, die zunehmend mobil werden. Reiseund Kulturveranstalter haben die Sparte der ›jungen Senioren‹ entdeckt. Sie werben gezielt für Konzerte, Ausstellungen und Kulturreisen. Initiativen fragen die Kompetenzen der frisch Pensionierten ab und machen sie beispielsweise für Firmengründungen, Rechtsberatungen oder die Diakonie fruchtbar. Aber auch unter Seniorinnen und Senioren im hohen Alter ist wegen der Umzüge in Altersund Pflegeheime eine signifikante Mobilität festzustellen: »Es handelt sich hierbei um Umzüge aus Unterstützungs- und Pflegebedürftigkeit zu bzw. in die Nähe von Familienangehörigen oder in Heime […]. Die Wohnmobilität der 55-Jährigen und Älteren wird von Nahwanderungen im Umkreis von bis zu 25 km bestimmt.«49
1.3.4 Zusammenfassung: Tendenzen im gegenwärtigen Mobilitätsverhalten in der Schweiz und in Deutschland ➤
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Das berufsbedingte Pendeln ist stark verbreitet und wird von den Betroffenen häufig als Beitrag zu ihrer sozialen Stabilität verstanden. Die Wohnsitzbindung ist trotz regelmässiger, berufsbedingter Abwesenheit gross. Mobilität gilt als eine lebensformspezifische Belastungskonstellation. Besonders unter Frauen wirkt sich berufsbedingtes Pendeln auf die Familienentwicklung und dabei wiederum auf die Entscheidung für bzw. gegen Kinder aus. Berufsbedingte Mobilität ist häufig an die berufliche Qualifizierung und damit an eine bestimmte Lebensphase gebunden, nämlich – im weitesten Sinne – an den Übergang ins Erwachsenenalter. Menschen nehmen für ihre Freizeitgestaltung längere Wege in Kauf. Freundschaften und soziale Netzwerke sind dabei eine bedeutende ›Quelle des Verkehrs‹. Junge Seniorinnen und Senioren sind im Freizeitbereich zunehmend mobil. Ältere Seniorinnen und Senioren ziehen vornehmlich aus Pflege- und Unterstützungsgründen um.
1.4
Ortsgemeinden und die Mobilität ihrer Mitglieder
Es gibt meines Erachtens drei verschiedene – auch miteinander kombinierbare – Möglichkeiten, wie die evangelische Kirche mit der Mobilität ihrer Mitglieder umgehen kann. Ich spiele die Möglichkeiten durch und zwar aus Sicht der 48 Bieger u. a., Pastoral im Sinus-Land, 2. Aufl. 2008, 36. 49 Friese u. a., Umzüge älterer Menschen, 2012, 44.
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43
Ortsgemeinde, also einer vor allem in territorialer Hinsicht organisierten Kirchgemeinde:50 • Ortsgemeinden delegieren die Kommunikation mit mobilen Menschen an Funktionspfarrämter und spezialisierte Fachstellen.51 • Ortsgemeinden vertagen die Kommunikation mit mobilen Menschen, bis sich diese dauerhaft in der Parochie niederlassen. • Ortsgemeinden passen die kirchlichen Angebote auf Momente der Anwesenheit hin an.52
1.4.1 Den Umgang mit mobilen Menschen delegieren In diesem Modell delegiert die evangelische Kirche die Kommunikation mit nicht ortsstabilen Menschen an entsprechend spezialisierte kirchliche Dienste. Dies kann ausgesprochen oder stillschweigend geschehen. Funktionspfarrämter – beispielsweise Flughafen- und Bahnhofsmissionen – oder kirchliche Fachstellen mit ihren spezifischen Angeboten an Lebenswissen und Spiritualität begleiten Menschen in bestimmten Lebensphasen. Für die Begleitung von Menschen in Berufen oder Lebenssituationen, die besonderen Anforderungen unterliegen, macht dieses Delegationsmodell sicher Sinn. Im Blick auf erwerbsbedingt mobile Menschen aber stellt sich die Frage, ob Ortsgemeinden es durch Delegation möglicherweise verpassen, eigene und neue Formen der Kommunikation mit ihren Gemeindegliedern zu entwerfen. Sie verpassen es vielleicht, Versuch und Experiment als selbstverständliches Kommunikationsvorgehen zu erlernen und neue Sozialformen des Glaubens zu entwickeln.53 1.4.2 Den Umgang mit mobilen Menschen vertagen Ein zweites Modell sieht so aus, dass Ortsgemeinden die Entscheidung darüber, ob sich ihre mobilen Mitglieder am Leben der Gemeinde beteiligen, an eben diese Mitglieder und ihre Selbstverantwortung delegieren. Sie rechnen mit deren leibhafter Beteiligung, sobald sich die mobilen Mitglieder beruflich und familiär 50 Zur Definition der Ortsgemeinde vgl. Barben, Territorialgemeinden, in: Krieg/Luibl (Hg.), Was macht eine Kirchgemeinde aus?, 1998, 21–31, 25. Ich habe in der Einleitung darauf hingewiesen, dass auch für eine territorial organisierte Kirchgemeinde verschiedene weitere Organisationsprinzipien zu berücksichtigen sind. 51 Funktionspfarramt meint, dass die evangelische Kirche der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung folgt und sich selbst ausdifferenziert, vgl. Track, a. a. O., 45. 52 Im Blick auf eine City-Kirche, die wohl eher als ein Funktionspfarramt zu verstehen ist, beschreibt der Zürcher Pfarrer Christoph Sigrist solche Angebote, vgl. Sigrist, City-Kirche, in: Kunz, (Hg.), Gemeindeaufbau konkret, 2001, 31–53. 53 Zum experimentellen Charakter kirchlicher Sozialformen siehe Kap. II.2.5.2.
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festlegt haben.54 In der Folge heisst dies, dass Ortsgemeinden wenig Kontakt mit Menschen in den durch Mobilität gekennzeichneten Lebensphasen – also mit ihren 20 bis 30 jährigen Kirchenmitgliedern – suchen, sondern deren Wohnsitznahme in der Parochie ›abwarten‹. Möglicherweise aber vertagen Menschen ihre Entscheidung über die Zugehörigkeit zur Kirche nicht in die Zukunft, sondern entscheiden gerade in Zeiten von Aufbruch, beruflicher Orientierung und Qualifikation darüber, wie sie ihre Mitgliedschaft zur evangelischen Kirche gestalten wollen. Wer in einer bestimmten Lebensphase geballte berufliche und familiäre Entscheidungen trifft, könnte gerade jetzt auch über das Fortsetzen oder Beenden der Kirchenmitgliedschaft entscheiden. Die skizzierte Delegationsstrategie ist eine Vertagungsstrategie: Sie kann in Zeiten, in denen Institutionen und selbstverständliche Orientierungen an Bedeutung verlieren, ein für die evangelische Kirche mit Mitgliederverlust verbundenes Unterfangen sein.
1.4.3 Zeitlich begrenzte und klar definierte Angebote machen Ein dritter möglicher Umgang mit mobilen Menschen besteht darin, dass Ortsgemeinden die Lebensführung ihrer Mitglieder durchaus zutreffend einschätzen und punktuelle und situationsbezogene Angebote machen. Damit die als nicht anwesend empfundenen Kirchenmitglieder wenigstens zeitweise am Leben der Kirchgemeinde teilnehmen können, organisiert die Gemeinde themenbezogene Anlässe mit klar beschriebenem Inhalt und kurzfristig zu erreichenden Zielen. Offen bleibt, ob Ortsgemeinden mit klar definierten, punktuellen Veranstaltungen nicht überwiegend diejenigen Gemeindeglieder erreichen, die bereits am Leben der Gemeinde in den bestehenden Sozialformen teilnehmen. Möglicherweise differenzieren Gemeinden ihr Angebot nur für den ohnehin präsenten Stamm von Mitgliedern.55 Ich habe drei mögliche Modelle für den Umgang von Ortsgemeinden mit mobilen Menschen skizziert: zwei Delegationsmodelle und ein drittes Modell, das punktuelle Begegnungen zu ermöglichen sucht. Die Frage nach der Gemeinschaftsgestalt der evangelischen Kirche in postmoderner Gesellschaft ist die Frage nach einem weiteren Modell, das mobilen Menschen zu Erfahrungen von Zugehörigkeit hilft. 54 Nach Abschluss der beruflichen Qualifizierung kehren viele junge Berufstätige in die Heimatregion zurück und werden ortsansässig, vgl. Schneider/Collet (eds.), Mobile Living Across Europe I, 2008, 223. 55 Zu diesem Ergebnis kommt Jens Schlamelcher, als er empirisch das Teilnahmeverhalten an den Veranstaltungen einer Citykirche untersucht. Siehe: Schlamelcher, The Decline of the Parishes, in: Martikainen/Gauthier (eds.), Religion in the Neoliberal Age, 2013, 53–67, 64.
Lebensführung in der Postmoderne
2
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Lebensführung in der Postmoderne
Moblilitätsverhalten gab es schon immer. Aber die Begründungen, das Ausmass und die gesellschaftlichen Urteile über mobile Menschen und die mit Mobilität verbundenen Lebensformen haben sich verändert. Die Frage nach kirchlichen Gemeinschaftsgestalten für mobile bzw. mit mobilen Menschen ist nicht zuerst eine Frage nach organisatorischen Lösungen. Mobilität ist vielmehr zum Merkmal einer gesellschaftlichen Verfassung, zum Merkmal postmoderner Lebensführung geworden. Ich entfalte im folgenden Kapitel wie sich in postmoderner Gesellschaft die Begründungen für Mobilität und das Ausmass von Mobilität verändert haben. Mir ist bewusst, dass Vormoderne, Moderne und Postmoderne zu »heute gängige[n] Selbstdeutungsmuster[n]« geworden sind.56 Einem räumlichen Mobilitätsverhalten wie dem berufsbedingten Pendeln entspricht nicht zwangsläufig eine innere postmoderne Orientierung. Banal gesagt haben nicht alle Fahrer, die weltweit LKWs für Speditionen bewegen, sich diese Arbeit und ihre Bedingungen ausgesucht. Ebenso bringt eine innere postmoderne Orientierung – es ist zu klären, was darunter verstanden wird – Menschen nicht zwangsläufig dazu, sich Ortswechseln gegenüber aufgeschlossen zu zeigen.57 Vorausgeschickt wird eine kurze Unterscheidung der Begriffe Lebensform, Lebensführung und Lebensstil. Lebensformen ergeben sich aus dem Zusammenspiel gesellschaftlicher Strukturen, biographischer Ereignisse und bewusster Entscheidungen.58 »Die Lebensform einer Person ist die Art und Weise der Institutionalisierung vor allem der signifikanten privaten sozialen Beziehungen im Rahmen der privaten Lebensführung.«59
Institutionalisierung bedeutet, dass sich im Leben der Einzelnen beschreibbare Abläufe, Muster und Riten einstellen. Sie dienen dazu, unterschiedliche Phasen des Lebens zu bewältigen und zu gestalten. Lebensformen lassen sich also miteinander vergleichen. Der Begriff des Lebensstils bezeichnet anders als der der Lebensform weniger den institutionalisierten Aspekt der Lebensvollzüge. Lebensstile sind expressiv, sie drücken etwas aus, beispielsweise Geschmackssicherheit und kulturelle Kompetenzen, Wertorientierungen oder alltagsästhetische Schemata.60 Solche 56 Kehl, Wohin geht die Kirche?, 4. Aufl. 1996, 26. Eine Zusammenstellung verschiedener Definitionen der Moderne (und damit der Postmoderne) bieten Lyotard, Das postmoderne Wissen, 1986 (1982), 13f, und Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 5. Aufl. 1997, 46–48. 57 Im Gegenteil: Das berufsbedingte Pendeln kann geradezu den Versuch darstellen, die soziale Stabilität zu bewahren, vgl. Kap. I.1.3.1 Pendeln als Beitrag zur sozialen Stabilität. 58 Schneider u. a., Nichtkonventionelle Lebensformen, 1998, 7. 59 Ebd., 14. 60 Gross, Klassen, Schichten, Mobilität, 2008, 101–102. Gross stellt dar, welche Lebensstilkonzepte auf welchen biographischen Hintergründen basieren.
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stehen als »Entität« hinter dem artikulierten Ausdruck.61 Von Stil sprechen wir dann, wenn es Menschen um einen bewusst artikulierten Ausdruck ihrer selbst geht: um ihr ›expressives Ich‹. Der Lebensstil spielt vor allem in Vergemeinschaftungsformen wie Szenen und Events eine Rolle. Sehr komplex ist der Begriff der Lebensführung. Er kann die biographische Abfolge von Lebensformen meinen.62 Führung ist dabei äusserst vielschichtig konnotiert. Es klingt an, dass die Einzelnen über die von ihnen gewählten Lebensformen entscheiden können. Es klingt aber auch das Empfinden eines eher passiven Geführt-Werdens an. Pierre Bourdieu hat grundsätzlich und systematisch untersucht in welcher Weise das persönliche Wählen und Entscheiden gesellschaftlichen Voraussetzungen unterliegen.63
2.1
Die Vormoderne – Leben mit Selbstverständlichkeiten
Wie man Vormoderne definiert hängt davon ab, welches Verständnis der Moderne man zugrunde legt. Der Beginn der Moderne lässt sich in der Philosophie mit dem Nominalismus und in der Kunstgeschichte mit der Entdeckung der Zentralperspektive bereits auf das 13. Jahrhundert datieren. Die Möglichkeit zum Perspektivwechsel wird in diesem Fall als grundsätzliche Weichenstellung verstanden. Die Moderne kann aber auch die Neuzeit im Sinne des cartesianischen Programms meinen und erst ins 17. Jahrhundert datiert werden.64 Als Wesenszug der Moderne soll in meiner Arbeit gelten, dass die Möglichkeit zum Perspektivwechsel und damit zur Wahl gesellschaftlich anerkannt ist. Auch Menschen, die keinem traditionellen mehr Lebensentwurf folgen, können gesellschaftliche Anerkennung erfahren.65 Für die Vormoderne bzw. für vormoderne Gesellschaften ist kennzeichnend, dass Lebensgemeinschaften überwiegend durch die Herkunft bestimmt sind und gleichzeitig eine Sinngemeinschaft bilden. In vormodernen Gesellschaften decken sich Lebens- und Sinngemeinschaften weitgehend.66 Dem Einzelnen wird seine Identität durch Herkunft, Familie und Dorfgemeinschaft weitgehend zugewiesen. Organisierte Herrschaft ist durch »gesamtgesellschaftliche Sinnvor61 Ebd., 102. Den Zusammenhang von Stil und ästhetischer Stilisierung beschreibt der Soziologe Hans Haferkamp in Sozialstruktur und Kultur, 1990, 237–240. 62 Schneider, a. a. O., 15. 63 Siehe Kap. I.2.2.3 Das Wählen unterliegt Voraussetzungen. Siehe dazu auch Barlösius, Pierre Bourdieu, 2. Aufl. 2011, 63. 64 Welsch, a. a. O., 47. 65 Gabriel/Treber, Deutungsmuster christlicher Dritte-Welt-Gruppen in: Gabriel (Hg.), Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung, 1996,173–197, 175. 66 Berger/Luckmann, Modernität, Pluralismus und Sinnkrise, 1995, 44.
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gaben und Rechtfertigungsvorstellungen« getragen; eine Herauslösung und Verselbständigung funktionaler sozialer Systeme aus dem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang ist nicht möglich.67 Die eigene Identität ist für den Einzelnen überwiegend nicht Gegenstand der Wahl und wird im Regelfall nicht hinterfragt. Man heiratet innerhalb des Dorfes, ergreift einen in der Familie üblichen Beruf und bleibt Mitglied der Kirche, in die hinein bereits die Grosseltern und Eltern getauft wurden.
2.1.1 Leben mit Selbstverständlichkeiten In vormodernen Gesellschaften mussten Menschen die Sinndimensionen ihrer Existenz nicht selbst definieren. Lebenswissen und Identität wurden im Wesentlichen zugewiesen. »Wenn sich Lebensgemeinschaft und Sinngemeinschaft tatsächlich so weit decken, wie es den gesellschaftlichen Erwartungen entspricht, dann laufen das soziale Leben und das Dasein des einzelnen gewohnheitsgemäss, fast wie selbstverständlich ab.«68
Das Dasein in der Welt war eindeutig definiert – für den Sklaven wie für seinen Besitzer.69 Dabei kam der Kirche die Rolle zu, ein »Monopol an Lebenswissen« zu repräsentieren.70 Sie gab vor Bescheid zu wissen und vermittelte dem Einzelnen wie er oder sie zu leben habe. Wir sprechen von »geschlossenen, einheitlichen Gesellschaften, die christentümlich waren«.71 Die Kirche ist aber ebenso dafür verantwortlich, dass unter dem Dach der christlichen Einheit bereits im Hochmittelalter die Weichen zur »okzidentalen Sonderentwicklung« gestellt wurden: »Schon im Hochmittelalter wurde unter dem Dach einer symbolisch repräsentierten Einheitskultur ein religionsgeschichtlich einmaliger struktureller Pluralismus institutionalisiert.«72
Als Beispiel dafür führt der Theologe und Soziologe Karl Gabriel den Investiturstreit an – einen Kampf um die Behauptung der geistlichen gegenüber der weltlichen Macht. Solche Auseinandersetzungen förderten ein Denken in Alternativen. Auch in der Vormoderne konnten Einzelne die Teilhabe an der gesellschaftlichen Sinngemeinschaft aufkündigen, mussten dann aber mit den Folgen von 67 Vgl. Luhmann, Organisation und Entscheidung, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 3, 1981, 335–389. 68 Berger/Luckmann, a. a. O., 44. 69 Ebd., 44. 70 Zulehner, Neokonservatismus, in: Eifler/Same (Hg.), Postmoderne, 1990, 271–289, 271–272. 71 Ebd., 272. 72 Gabriel, Tradition im Kontext enttraditionalisierter Gesellschaft, in: Gabriel u. a., Wie geschieht Tradition?, 1991, 69–88, 72.
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Ausschluss und Stigmatisierung rechnen. Im 12. Jahrhundert ging beispielsweise die Bewegung der Katharer bzw. der Bogomilen einen eigenen Weg; sie sah sich nicht durch die orthodoxen Kirchen und die römisch-katholische Kirche repräsentiert. Die Folge waren Stigmatisierung und radikale Verfolgung.73 2.1.2 Mobile Menschen gelten als verdächtig In vormoderner Gesellschaft wurde der Besitz von Haus und Hof im Allgemeinen innerhalb der Familie weiter gegeben. Damit wurde die Ortsstabilität weitgehend gewahrt. Frauen heirateten in nahe Familienverhältnisse, um der Familie die Mitgift zu erhalten. Mittellose Familienmitglieder lebten als Arbeitskräfte bei Verwandten oder verdingten sich an Fremde. In der Vormoderne war die berufsbedingte Mobilität ein Sonderfall des Lebens. Sie war bestimmten Berufsgruppen vorbehalten und stellte das Grundprinzip der Ortsstabilität nicht in Frage. »In the corporate agrarian society seasonal wanderers, mobile trade, sailors, mercenaries, merchants, master builders and artists were on the move for job reasons or in search for a job throughout Europe.«74
Mobilitätsverhalten wurde eher als Strafe denn als Segen angesehen, und mobile Menschen waren Verdächtigungen ausgesetzt: »Societies at that time were organized on the grounds of settlement. Mobility was considered a punishment rather than a blessing, and mobile people were confronted with suspicion.«
In vormodernen Gesellschaften gelang soziale Mobilität am ehesten dann, wenn ganze Bevölkerungsschichten in Bewegung gerieten.Vom erfolgreichen Handel einer Stadt oder dem Einkommenszuwachs einer Region konnten ganze Berufsgruppen profitieren. Auch durch den Zuzug von Ordensgemeinschaften und Klostergründungen konnte soziale Mobilität einen Schub bekommen: Sie vermittelten Bildung und Lebenswissen und stellten vor allem alternative Lebensmodelle zur Verfügung. Vielfalt und Wahl beginnen mit der Möglichkeit zur Alternative, mit der Infragestellung der einen bisher üblichen Lebensform.
2.2
Die Moderne – Leben mit der Möglichkeit zur Alternative
Die Grundhaltung der Moderne wurzelt tief. In der Philosophie und Theologie gründet sie in der Wende zur Subjekt-Zentriertheit im Nominalismus. In der Kunst verbindet sie sich mit der Entdeckung der Zentralperspektive. Man stellt 73 Rottenwöhrer, Die Katharer, 2007, 58. 74 Schneider/Collet, Mobile Living Across Europe I, 2008, 13.
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die Welt nicht mehr von der transzendenten Wirklichkeit her dar (vgl. etwa Grössenverhältnisse, Heiligenscheine), sondern vom Ich des Betrachtenden aus. Für das Wissen wird die Bedeutung des menschlichen Subjekts erkannt. Es ist Descartes, der die Subjekt-Zentriertheit für irreversibel und zur »Zäsur zu allem Vorausgegangenen« erklärt.75 Descartes formuliert »das Prinzip der Selbstgewissheit, das Prinzip des von sich ausgehenden Denkens«.76 Bereits in der Renaissance differenzieren sich dann die Wissenschaften und klären ihre Voraussetzungen. Die Bedeutung von Sprachen und kulturellen Unterschieden tritt verstärkt ins Bewusstsein. Der Anthropologe und Kultursoziologe Peter van der Veer meint, dass erst in der Moderne Altes und Neues als Kontrast verstanden werden können. Erst in der Moderne entstehe beispielsweise die Gattung von Konversionserzählungen, die die Bereitschaft voraussetzt, Altes und Neues zu kontrastieren.77 Van der Veers These verwundert, weil im Judentum und frühen Christentum Kontrasterzählungen bereits grundlegend sind – man denke an Paulus’ Umkehr auf der »Strasse nach Damaskus« oder das an die Ehebrecherin gerichtete »Sündige hinfort nicht mehr« im Johannesevangelium.78 Hier ist die Möglichkeit zur Alternative als Grundzug der Moderne bereits vorgebildet. 2.2.1 Definition der Moderne Unter der Moderne wird ein Teil der Neuzeit verstanden, der geistesgeschichtlich durch die Schriften der Aufklärung, politisch durch die Französische Revolution und wirtschaftlich durch die Industrialisierung geprägt ist. Mit der Industrialisierung gewinnt die räumliche Mobilität eine neue Dimension. Menschen ziehen in Massenbewegungen in die Städte. Die Moderne entlässt die Menschen aus den ihnen selbstverständlich vorgegebenen Lebensformen. Soziale und räumliche Mobilität werden zu legitimen Erweiterungen der Lebensmöglichkeiten. Sozialgeschichtlich ist die Moderne durch eine fortschreitende Rationalisierung der Lebens- und Wissensbereiche und durch das Aufkommen des Kapitalismus gekennzeichnet.79 Das Phänomen der Organisation kristallisiert sich heraus.80 Als Gesellschaftstheoretiker weist Luhmann darauf hin, dass die Weise,
75 Welsch, a. a. O., 68. 76 Ebd., 69. 77 Van der Veer, Conversion to Modernities, in: Van der Veer (ed.), The Globalization of Christianity, 1996, 18–19. 78 Apg 9, 1–19 und Joh 8,11. 79 Braun u. a., Politische Philosophie, 1994, 109. 80 Vorläufer von Organisationen gab es bereits in der Vormoderne, nämlich in »ständischen Korporationen, im Staatswesen und im religiösen Bereich«, Krech u. a., a. a. O., 55.
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in der Organisationen heute verstanden werden, Teil einer Entwicklung ist, die im frühen 19. Jahrhundert beginnt: »Will man ein relativ unbeschwertes Bild über Organisationen gewinnen, ist es ratsam, etwa 150–200 Jahre zurückzugreifen.«81
Mit »unbeschwert« drückt Luhmann aus, dass Organisationen noch Teil eines einheitlichen gesellschaftlichen Weltbildes sind. Organisationen werden als rationalisierte Umsetzung dessen verstanden, was den gemeinsamen Zielen der Gesellschaft dient. »Organisation wird nicht gegen Gesellschaft und gesellschaftliche Funktionsbereiche differenziert und nicht als ein System eigener Typik […] begriffen.«82
Luhmann zeichnet das Bild der Moderne als einer immer noch einheitlichen Gesellschaft. Rationalisierungen kommen dem gesellschaftlichen, der gemeinsamen Vernunft folgenden Fortschritt zugute.
2.2.2 Die Möglichkeit zu Pluralität und Partikularität Menschen kommt auch in der Moderne eine Zuschreibung von Sinn, Lebenswissen und Identität anhand ihrer Herkunft zu. Diese wird aber um Angebote von Sinn, Lebenswissen und Identität erweitert. Die Pluralisierung führt zu einer möglichen Individualisierung der Lebensläufe. Pluralisierung bezeichnet den Prozess, der zur Pluralität führt. Es sind noch Einzelne, die eine Wahl zwischen individuellen Lebensentwürfen und -begründungen treffen. Für die Mehrheit der Bevölkerung sind Mobilität und alternative Lebensentwürfe noch im 19. Jahrhundert keine Frage der eigenen Wahl. Mobilität wird im Zuge der Industrialisierung als kollektives Schicksal erfahren. Die Moderne lässt sich durch die Möglichkeit zur Pluralität und Partikularität beschreiben. In der Moderne des 18. und 19. Jahrhunderts werden Pluralität und Partikularität denkbar, sind aber weder dominant noch verbindlich. Die Moderne setzt weiterhin Werte voraus, die gemeinschaftlich und fraglos sind, die von einer Bevölkerungsmehrheit psychisch internalisiert sind. Auch wenn eine Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Teilsysteme begonnen hat, gelten in diesen Teilsystemen allgemeine Werte und allgemeine weltanschauliche Orientierungen. Der Begriff der Pluralisierung beschreibt den Prozess einer sich differenzierenden Lebenswirklichkeit. Wer die Moderne dagegen als pluralistisch bezeichnet, nimmt einen philosophischen Standpunkt ein: Die Wirklichkeit wird dann als »aus vielen selbständigen Wesenheiten bestehend« auffasst. Sie bilden keine 81 Luhmann, a. a. O., 335. 82 Ebd., 335.
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»durchgehende Einheit«.83 Ob man von Pluralität oder von Pluralismus spricht zeigt, welchem Verständnis der Moderne man folgt. Pluralität geht von einer immer noch bestehenden Einheit der Wirklichkeit aus. Pluralismus bringt dagegen zum Ausdruck, dass ein Verständnis von Einheit aufgegeben wurde. Ich folge einem Verständnis von Moderne, das sie durch die Geltung immer noch allgemeiner Werte und Orientierungen charakterisiert sieht. Erst die Postmoderne wird diesem Verständnis zufolge dadurch charakterisiert, dass die Vorstellung einer wenigstens relativen Einheit der Lebensentwürfe und damit der Wahrheitsentwürfe preisgegeben wird und sie damit grundsätzlich pluralistisch wird.84 Völlig verschiedene Entwürfe existieren jetzt nebeneinander.
2.2.3 Das Wählen unterliegt Voraussetzungen Die Rede von der Möglichkeit zur Wahl ist vereinfachend. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu beschreibt in seiner Habitustheorie Prädispositionen des Handelns. Er meint, dass Pluralisierungsprozesse nicht als voraussetzungsloser Zugang zu Wahlmöglichkeiten zu verstehen sind, denn Handlungen können gerade nicht frei gewählt werden. »In that respect, habitus is very similar to what was traditionally called character, but with a very important difference: the habitus, as the Latin indicates, is something non natural, a set of acquired characteristics which are the product of social conditions [..]. There is another difference which follows from the fact that the habitus is not something natural, inborn: being a product of history, that is of social experience and education, it may be changed by history that is by new experiences, education or training [..].«85
Der Mensch trägt die seiner jeweiligen Generation und Herkunft innewohnenden Strukturgegebenheiten in sich. Bourdieu nennt sie »strukturierende Strukturen«.86 Diese erzeugen die Gegebenheiten des Feldes, in dem die Einzelnen sich handelnd bewegen. Unter Handlungen verstehen wir »Erfahrungsabläufe, die 83 Beide Zitate aus dem Art. ›Pluralismus‹, in: Philosophisches Wörterbuch, Schischkoff (Hg.), 23. Aufl. 1991, 572. 84 Wolfgang Welsch grenzt Moderne und Postmoderne voneinander ab, indem er die Moderne wiederum in zwei Phasen unterteilt. Er sieht die ›neuzeitliche Moderne‹ als Vorgängerin der ›Moderne des 20. Jahrhunderts‹ und schreibt bereits ihr einen radikalen Pluralismus zu. Demzufolge ist auch die Postmoderne radikal pluralistisch. Sie grenzt sich für Welsch von der Moderne vor allem dadurch ab, dass sie nicht mehr auf den Menschen zentriert ist. Welsch spricht von einer neuen Grundhaltung, einem Paradigmenwechsel weg von der »menschzentrierten Auffassung der Moderne«. Welsch, Was war die Postmoderne und was könnte aus ihr werden?, ohne Datum, 38. Quelle: http://www2.uni-jena.de/welsch/Postmoderne% 20Welsch%205.pdf, [Stand: 18. 08. 2014]. 85 Bourdieu, Habitus, in: Hillier/Rooksby (eds.), Habitus, 2002, 27–34, 29. 86 Zum Begriff der »strukturierenden Strukturen« siehe beispielsweise Barlösius, Pierre Bourdieu, 2. Aufl. 2011, 63 (Schaubild).
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nicht von sich aus, sondern von mir aus geschehen. Sie sind motiviert.«87 Auch dort, wo die Möglichkeit zur Pluralität von Lebensformen offen befürwortet und geschätzt wird, leben Menschen mit kollektiven Orientierungsmustern, die wiederum in habituellen Übereinstimmungen gründen. »Die Menschen als soziale Akteure tendieren dazu, soziale Situationen in ähnlicher Weise wahrzunehmen und ähnlich zu handeln. Der Verlust traditioneller Einbindungen führt nicht notwendigerweise zu einer Situation, in der die Handelnden einem ständigen Zwang zur Selbstvergewisserung und des Entscheiden-Müssens unterliegen. Über Gemeinsamkeiten des biografischen Erlebens, in der Sozialisationsgeschichte, über geteilte Lebenslagen entfalten sich neue habituelle Übereinstimmungen in der Lebensführung. Sie verbinden Menschen untereinander, die sich nicht zu kennen brauchen und nicht in direkter Interaktion miteinander stehen. Als kollektive Orientierungsmuster verleihen solche habituellen Übereinstimmungen Sicherheit im Handeln […].«88
Schütz/Luckmann reflektieren in Strukturen der Lebenswelt, wie gesellschaftliche Bedingungen auf die Entstehung subjektiver Relevanzstrukturen wirken. Der subjektive Wissensvorrat besteht aus eigenen »Erfahrungs- und Auslegungsresultaten«, ist aber auch aus »Elementen des gesellschaftlichen Wissensvorrats« abgeleitet.89 »Da ferner gerade die wichtigsten Interpretations- und Motivationsrelevanzen ›sozialisiert‹ sind – ganz abgesehen davon, dass die Ausbildung des subjektiven Wissensvorrats von vornherein durch eine ›faktische‹ Sozialstruktur bedingt ist – sind auch die ›eigenständig‹ erworbenen Wissenselemente in den Gesamtzusammenhang eines weitgehend ›sozialisierten‹ subjektiven Wissensvorrats eingebettet.«90
Individualisierungsprozesse unterliegen also einer gesellschaftlichen Steuerung. Gleichwohl müssen die Einzelnen ihre Lebensführung zunehmend selbst definieren: »Der Begriff der ›Individualisierung‹ meint, dass Menschen heute immer mehr die Grundlinien ihres Lebens selber zeichnen müssen. […] Mit diesem Prozess der Individualisierung eng verbunden ist ein Verlust allgemeinverbindlicher Werte und Normen.«91
87 Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, 2003, 450. 88 Dubach, Unterschiedliche Mitgliedschaftstypen in den Volkskirchen, in: Campiche, a. a. O., 129–178, 132. Es existieren unterschiedliche Theoriemodelle zur Erklärung von Individualisierungsschüben. Diese stellt Klaus Hartmann vor in: ders., Religiöse Selbstthematisierung, in: Gabriel (Hg.) Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung, 1996, 130–149. 89 Schütz/Luckmann, a. a. O., 355. Siehe zur Subjektivität von Sinnstrukturen auch Sierra, Kulturelle Lebenswelt, 2013, 98–99. 90 Schütz/Luckmann, a. a. O., 355. 91 Grözinger, Protestantismus in der Postmoderne, in: Grözinger/Stegemann (Hg.), Das Christentum an der Schwelle zum 3. Jahrtausend, 2002, 9–21, 11.
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Die Einzelnen sind zunehmend gewöhnt, Entscheidungen für sich allein zu treffen. Sie können einer Lebensform zustimmen oder sie ablehnen. Die »strukturierenden Strukturen« legen das Handeln eines Menschen nicht fest, sie wirken aber mit und es ist möglich, sich ihrer bewusst zu werden. Festzuhalten ist, dass »die wichtigsten Interpretations- und Motivationsrelevanzen [sozialisiert] sind«.92 Von Habermas und Wagner werden wir später hören, dass alles unproblematische Wissen sozialisiert wird.93 Menschen für die Teilhabe an einer Lebensform zu gewinnen – zu der auch die Beteiligung am Leben einer Kirchgemeinde gehören kann – geschieht wesentlich über Gemeinsamkeiten des biografischen Erlebens und über geteilte Lebenslagen. 2.2.4 Die Moderne und Mobilität In der Moderne lernt der Mensch, seine Lebensmöglichkeiten zu erkunden, zu bedenken und zu entwerfen. Räumliche Mobilität wird zum Mittel, um neu entstandene Möglichkeiten zu verwirklichen. Mobile Menschen verlassen ihren Herkunftsort und damit auch ihre Wohnsitzgemeinde mit den dort gewachsenen und selbstverständlich gegebenen Sozialverhältnissen. Sie lassen sich am neuen Ort nieder, möglicherweise dauerhaft. Die neu gewonnene Ortsstabilität wird von vielen als Gegenstand der eigenen Wahl erfahren. Denn man ›könnte ja auch anders‹, könnte wiederum aufbrechen in einer Gesellschaft, die man schon einmal als Gesellschaft im Aufbruch erfahren hat. Ortsstabilität ist in der Moderne nicht mehr mit derselben Selbstverständlichkeit behaftet, wie sie es noch in der Vormoderne war.
2.3
Die Postmoderne – Pluralität wird dominant und verbindlich
In der Philosophie taucht der Begriff der Postmoderne 1979 als ausgearbeitete Konzeption beim nachmaligen Theoretiker der Postmoderne Jean-François Lyotard auf.94Der Begriff begegnet zuvor in verschiedenen Wissensgebieten, aber diese werden noch nicht aufeinander bezogen. In der Architektur wird der Postmodernebegriff bereits seit 1954 verwendet und präzise bestimmt.95 Die
92 Schütz/Luckmann, a. a. O., 355. 93 Vgl. Kap. III.2.1.1 Lebenswelt beschreibt gemeinsame unproblematische Hintergrundüberzeugungen. 94 Lyotard, La Condition postmoderne, 1979; deutsch: Das postmoderne Wissen, 1982. 95 Als postmoderner Zugang zur Architektur gilt beispielsweise die Distanzierung von den »dominant gewordenen Paradigmata der Rationalität« und eine Hinkehr zur »ästhetische[n] Rechtfertigung der Welt«. Paetzold, Profile der Ästhetik, 1990, 137.
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Diskussion hatte anfänglich jedoch kaum Auswirkungen auf seine philosophische bzw. soziologische Bestimmung. Lyotards Frage hatte ihren Ansatz darin gefunden, dass er die Eigenart des Wissens seiner Zeit klären wollte. Er sah das Aufkommen neuer Technologien und fragte, wie das aktuelle Wissen beschaffen sein müsse, so dass man die Herausforderung dieser Technologien richtig beantworten, das heisst richtig nutzen könne.96 Für die Moderne hatte Lyotard zufolge noch gegolten: »Modernes Wissen hatte je die Form der Einheit, und diese Einheit war durch den Rückgriff auf grosse Meta-Erzählungen zustande gekommen.«97
Als Meta-Erzählungen gelten beispielsweise der Glaube an die Emanzipation der Menschheit (in der Aufklärung), an die Teleologie des Geistes (im Idealismus) und die Hermeneutik des Sinns (im Historismus).98 Nun aber verstehen die Wissenschaften die Wirklichkeit als solche, die nicht mehr einem Modell folgt, sondern mehreren.99 Postmoderne meint den Abschied von Einheitsvorstellungen. »Dabei kritisieren die Hauptvertreter der postmodernen Philosophie, J.-F. Lyotard und J. Derrida, sowohl das Denken eines letzten Grundes bzw. Ursprungs, das Denken eines allumfassenden Einen und Allgemeinen sowie das Denken der Präsenz dieses Grundes.«100
Es ist die Behauptung der Postmoderne, dass die ›grossen Erzählungen‹ ihre Kraft verloren haben. Die Kraft der ›grossen Erzählungen‹ hatte in ihrer als selbstverständlich angenommenen Geltung bestanden. 2.3.1 Verlust einer letzten Einheit und Sinnhaftigkeit? Die Postmoderne wird als geschichtliche Epoche verstanden, die eine Verfassung radikaler Pluralität darstellt. Die gesellschaftlichen Subsysteme lösen sich voneinander und beanspruchen jeweils eigene Sinnhorizonte. Wir sprechen nicht mehr von Pluralität, sondern von Pluralismus. Der Philosoph Wolfgang Welsch ist nun der Ansicht, dass die Postmoderne trotzdem nicht als Auflösungserscheinung zu verstehen ist. Die vielen Subsysteme würden sich nämlich eigenständig als sinnhaft ausweisen. Er spricht von »plurale[n] Sinn- und Aktionsmuster[n]«.101
96 97 98 99 100
Welsch, a. a. O., 32. Ebd., 32. Ebd., 32. Ebd., 77. Wendel, Art. ›Postmoderne‹, in: Lexikon philosophischer Grundbegriffe der Theologie, 2003, 319. 101 Welsch, a. a. O., 5.
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»Die Grunderfahrung der Postmoderne ist die des unüberschreitbaren Rechts hochgradig differenter Wissensformen, Lebensentwürfe, Handlungsmuster. Diese konkreten Formen von Vernunft weisen sich eigentätig als sinnvoll aus.«102
Gibt es aber Sinnhaftigkeit, wenn keine letzte Einheit vorausgesetzt werden kann? Medard Kehl widerspricht der Möglichkeit, dass sich unterschiedliche Wissensbereiche eigentätig als sinnvoll ausweisen können. Gerade dafür braucht es seiner Meinung nach ein gemeinsames Grundkonzept von Sinn. Im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei noch deutlich zu erkennen gewesen, dass ein Grundkonzept von Sinn vorausgesetzt wird.103 »Dort wurde […] das menschliche Subjekt […] vor allem durch seine universal geltende Rationalität bestimmt, sowohl im vernünftigen Erkennen wie im sittlichen Handeln und schliesslich auch im religiös-weltanschaulichen Gesamtentwurf.«104
Gibt es Erfahrungen von Sinn, wenn eine letzte Einheit, ein Grundkonzept von Sinn, nicht mehr vorausgesetzt wird? Der Religionssoziologe José Casanova bejaht das ebenso wie Wolfgang Welsch. Sinnfindung wird dabei aber streng auf den eigenen Standpunkt und die eigene Wahrnehmung bezogen. Wenn man unter Säkularisierung den historischen Prozess der Institutionalisierung moderner säkularer Sphären wie Wissenschaft und Technik, Verwaltung und Marktökonomie versteht, dann haben sich diese Sphären von religiösen Institutionen und Normen gelöst. Casanova spricht von einer ersten Säkularisierung.105 Diese geht noch nicht mit einem Verlust an religiösen Einsichten und Praktiken einher. Sinnkonstruktionen finden weiterhin statt, aber im Plural. Dass diese Sinnkonstruktionen als »privatization of religion« zu verstehen sind, ist zu einer normativen Bedingung des Zusammenlebens geworden.106 Diesen Konsens nennt Casanova die dritte Säkularisierung.107 Sinnfindung lässt sich in postmoderner Gesellschaft nicht vom eigenen Standpunkt und der eigenen Wahrnehmung lösen. Das Subjekt der Postmoderne macht den eigenen Standpunkt beim Entwurf einer Sinnperspektive zum Massstab:
102 103 104 105
Ebd., 5. Kehl, Wohin geht die Kirche?, 4. Aufl. 1996, 27. Ebd., 27. Casanova, Is Secularization Global? in: Buß/Luber (Hg.), Neue Räume öffnen, 2013, 69–82, 69. Casanova unterscheidet dort eine »differentiation of the secular spheres (state, economy, science) from religion, […] from ecclesiastical institutions and religious norms« und eine secularization »as decline of religious beliefs and practices in modern societies«. (Kursiv im Original.) 106 Ebd., 70. 107 Ebd., 70. Als »zweite Säkularisierung« bezeichnet Casanova den Verlust an religiösen Praktiken und Einsichten – Säkularisierung wird verstanden als »decline of religious beliefs and practices in modern societies«. Ebd., 69.
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Es »erhebt […] den eigenen Standpunkt beim Erkennen, das eigene Gewissen beim Handeln und die eigene Biographie mit ihrem spezifischen Lebensgefühl und Lebensstil beim Entwurf einer umfassenden Sinnperspektive zum Mass aller Dinge […]«.108
Im Zusammenhang mit der Ekklesiologie wird die Herausforderung deutlich: Das Selbstverständnis der Kirche beruht auf einem Grundkonzept von Sinn und einer als Einheit wahrgenommenen Wirklichkeit. Die Mitglieder der Kirche sind aber Subjekte der Postmoderne und damit gewohnt, den Sinn von ihren eigenen Standpunkten und ihrer Wahrnehmung aus zu erschliessen. 2.3.2 Leben in einer Vielzahl strukturgleicher Lebensformen In der Postmoderne gibt es eine Vielzahl von Lebensformen, die ihre jeweils eigene Sichtweise und Sinnhaftigkeit beanspruchen. Lebensformen sind oft an die Dauer bestimmter Lebensphasen gekoppelt. »Lebensformen werden immer seltener mit Langzeitperspektive, sondern zunehmend gekoppelt an die Dauer einer bestimmten Lebensphase eingegangen. Lebensphasen gehen damit zunehmend einher mit typischen Lebensformen.«109
Diese Lebensformen können innerhalb derselben Lebensphase stark ausdifferenziert sein. Der Publizist und Psychologe Alexander Meschnig und sein KoAutor, der Journalist Mathias Stuhr, sprechen von Variationen innerhalb strukturgleicher Lebensformen: »Die gegenwärtig zu beobachtende Pluralisierung von Lebensformen beruht weniger auf einer wachsenden Vielfalt äusserer Strukturmerkmale als vielmehr auf der zunehmenden Differenzierung von Binnenstrukturen. Tatsächlich gibt es gegenwärtig mehr Variationen innerhalb strukturgleicher Lebensformen als Variationen von Strukturformen.«110
Das heisst, dass es zunehmend nicht die ›typische Studierende‹ und nicht den ›typischen Verlauf‹ von Mutterschaft gibt, um zwei Beispiele für die Differenzierung eigentlich strukturgleicher Lebensformen zu nennen. Die Pluralisierung von Lebensformen wirkt sich auch auf die Bildung von Identitätskonzepten aus. Der US-amerikanische Philosoph, Soziologe und Psychologe George Herbert Mead und andere postulieren einen »lebenslange[n], nie endende[n] Prozess der Identitätsarbeit«.111
108 109 110 111
Kehl, Wohin geht die Kirche?, 4. Aufl. 1996, 28 (kursiv im Original). Schneider u. a., Nichtkonventionelle Lebensformen, 1998, 7. Ebd., 12. Meschnig/Stuhr (Hg.), a. a. O., 36.
Lebensführung in der Postmoderne
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»Ein aussengeleiteter Mensch, der auf Erwartungen, Veränderungen und Möglichkeiten flexibel reagiert und seine Identität den jeweiligen Gegebenheiten anpasst – dieser proteische Mensch ist das Ideal unserer Zeit geworden.«112
Gemeinschaftsbildung geschieht damit unter Menschen, die sich ›anders‹ vorkommen als die anderen. Die Andersartigkeit können sie möglicherweise nicht klar beschreiben, da das Wissen um sich selbst von vielen »Gegebenheiten« abhängig ist und als instabil empfunden wird. Die Einzelnen sind in hohem Masse darauf angewiesen, dass ihnen Auskunft über sich selbst gegeben wird und dass sie ihrer selbst ansichtig werden.113 Ein latentes Bedürfnis nach Selbstvergewisserung wird zum Normalfall von Identitätskonzepten und prägt den Umgang in nahen sozialen Verhältnissen. 2.3.3 Der Bedarf an Kommunikation wächst Durch die Pluralisierung von Lebenswelten entsteht ein erhöhter Bedarf an Kommunikation. Der Begriff Lebenswelten bezeichnet dabei gesellschaftliche Wissensbereiche, die in sich fraglos und unproblematisch sind.114 Wissen muss von einem Bereich in den anderen transferiert werden: »Die Verschiedenheit der Lebenswelten nämlich entspricht einer Differenzierung des gesellschaftlichen Wissensvorrats. Weil sich der gesellschaftliche Wissensvorrat in zahllose Wissensbereiche aufgliedert, die durch die Bewegung der Handelnden von einer Lebenswelt zur anderen und durch den Kontakt von Handelnden aus verschiedenen Lebenswelten miteinander verbunden sind, wird es immer wichtiger, die Übergänge von einem Wissensbereich zum anderen zu regeln: Diese Regelung der Wissensvermittlung wird vor allem durch Kommunikation geleistet.«115
Die Bedeutung dieser Beobachtung kann kaum überschätzt werden. Jedes Sozialverhältnis, in dem Wissen geteilt werden soll, ist auf ein hohes Mass an Kommunikation angewiesen – und darauf, dass Voraussetzungen für eine gelingende Kommunikation geschaffen werden.
112 Ebd., 36–37. Zum Begriff der proteischen Persönlichkeit vgl. http://de.wikipedia. org/wiki/ Proteische_Persönlichkeit [Stand: 30. 06. 2013]. 113 Vgl. Kap. V.1.1 Biblische Geschichten hören unter den Bedingungen der Postmoderne. 114 Knoblauch (Hg.), a. a. O., 10. Zur näheren Definition des in der Arbeit verwendeten Lebensweltbegriffs siehe Kap. III.2 Strukturen der Lebenswelt. 115 Ebd., 17.
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2.3.4 Der Bedarf am Erwerb an Lebensdeutung wächst Mit dem Verlust der selbstverständlichen Geltung der grossen Erzählungen befinden Menschen in einem zuvor nicht gekannten Masse darüber, was ihrem Leben Sinn gibt. Sie befinden darüber, in welcher Weise Familie und Freunde, Beruf und selbst gewählte Tätigkeiten ihr Leben als sinnhaft erscheinen lassen.116 Einen Sinn anzunehmen heisst, für bestimmte Lebensphasen eine verbindliche Deutung in Anspruch zu nehmen. »Der moderne Pluralismus untergräbt das selbstverständliche ›Wissen‹. Welt, Gesellschaft, Leben und Identität werden immer stärker problematisiert. Sie können vielfältigen Deutungen unterworfen werden, und jede Interpretation ist mit eigenen Handlungsperspektiven verknüpft. Keine Deutung, keine Perspektive kann mehr als allein gültige und fraglos richtige übernommen werden. Deshalb stellt sich dem einzelnen nicht selten die Frage, ob er sein Leben nicht auf eine ganz andere Art und Weise führen sollte, als er es bisher getan hat. Das wird einerseits als grosse Befreiung erlebt, als Öffnung neuer Horizonte und Lebensmöglichkeiten, die aus der Enge des alten, unbefragten Daseins führen. Derselbe Prozess wird jedoch zugleich (oft sogar vom selben Menschen) als Belastung erfahren – als Zumutung für den einzelnen, sich auf Neues und Unvertrautes in seiner Wirklichkeit immer wieder selbst einen Reim machen zu müssen.«117
Der Bedarf am Erwerb von Lebensdeutung wächst. Weil Lebensdeutung und Sinn sozialisiert werden, bleibt in postmodernen Gesellschaften auch der Bedarf an nahen sozialen Beziehungen erhalten. Sie können dazu helfen, das eigene Leben immer neu verstehen und deuten zu können.
2.3.5 Menschen geraten leichter in Identitätskrisen Eine ›Schattengestalt‹ des immer neuen Bedarfs an Vergewisserung besteht in der Erfahrung von Identitätskrisen. In einer pluralistischen Gesellschaft nimmt die Zahl an Identitätskrisen zu.118 Denn die Emanzipation von überkommenen Bindungen kann Menschen überfordern.119 Sie müssen lernen, mit einer Vielzahl von Möglichkeiten – der Priester und Theologe Paul Zulehner spricht in Anlehnung an Luhmann von Freiheitsgraden – umzugehen. Es kommt laut Zu116 Der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl hat bereits 1947 beschrieben, wie Sinn in einem Akt der Verantwortung erworben werden muss. Vgl. Frankl, Ärztliche Seelsorge, 4. Aufl. 1991, 56. Seinem psychotherapeutischen Modell zufolge geschieht der Erwerb von Sinn durch Akte des Liebens, des schöpferischen Tuns und des bewussten Einnehmens einer inneren Haltung – zum Beispiel gegenüber einem Leiden. 117 Berger/Luckmann, a. a. O., 44–45. 118 Vgl. Zulehner, Neokonservatismus, 1990, 276. 119 Der Praktische Theologe Fritz Lienhard sprich von »Optionsstress«, vgl. ders., Strukturen einer Kirche der Zukunft, in: Die Kirche der Freiheit evangelisch gestalten, 27–40, 31.
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lehner zunehmend zu Identitätskrisen, die sich in emotionaler Verunsicherung zeigen und darin, dass Menschen erneut nach autoritätsgestützten Wahrheiten suchen. Eine latente Überforderung im Umgang mit Freiheitsgraden kann zur Sehnsucht nach einer Situation bzw. einer Instanz führen, die es erlaubt, die Eigenzuständigkeit an andere zu delegieren. Für einen überforderten Menschen ist es einfacher, sich Identität zuweisen zu lassen, sich von anderen sagen zu lassen, »wer er sei und wie er richtig lebe«.120 Die postmoderne Preisgabe der Wahrheitsfrage führt zur Verantwortlichkeit des Einzelnen für seine ihm eigene Wahrheit. Es gibt keine externe Entlastungsinstanz mehr. Postmoderne Sinngebungsansätze fordern also die Fähigkeit, sich selbst letzte Instanz zu sein. Der Soziologe Ronald Hitzler verweist im Blick auf Jugendszenen auf ähnliche Beobachtungen wie Zulehner. Identitätskrisen treffen aber nicht nur den Einzelnen, sondern mitunter sind ganze Kollektive verunsichert: »Einerseits wird das Individuum aus überkommenen Bindungen freigesetzt, wodurch es mehr Entscheidungschancen und Lebensoptionen erlangt. Andererseits verliert es nicht nur – wie sozusagen ›schon immer‹ im Zuge von Modernisierungsprozessen – gemeinschaftliche, sondern zusehends auch bislang gesellschaftlich ›garantierte‹ Verlässlichkeiten (wie z. B. beim Übergang von der Ausbildung zum Beruf oder im Hinblick auf einen ›berechenbaren‹ Lebenslauf). Kurz: In modernen Gegenwartsgesellschaften zeitigt Emanzipation im weitesten Sinne eben (auch) nichtintendierte und zu grossen Teilen dysfunktionale Konsequenzen sowohl für Individuen als auch für Kollektive […].«121
Von Optionsstress, Verunsicherungen und Identitätskrisen zu reden, ist in gewisser Weise einseitig. Menschen finden durchaus Wege, ihrer selbst ansichtig zu werden, ihr Leben zu deuten. In gemeinsamen Lebenswelten erwerben sie nach wie vor ein für sie fraglos gültiges und plausibles Wissen.
2.3.6 Mobilität wird zum Normalfall des Lebens Räumliche Mobilität ist ein probates Mittel, den Zuwachs an Lebensmöglichkeiten auszuschöpfen bzw. den Verlust von Lebensmöglichkeiten abzuwehren. Durch die Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse der Moderne und der Postmoderne hat sich ein Paradigmenwechsel vollzogen. Wurde Mobilität in der Vormoderne als ›Sonderfall‹ verstanden, wird sie in der Moderne zur ›Möglichkeit‹ und in der Postmoderne zum gesellschaftlichen ›Normalfall‹. Die 120 Zulehner, Neokonservatismus, 1990, 276. Zulehner beschreibt verschiedene mögliche Fluchtbewegungen, die es dem Einzelnen erlauben, der Überforderung auszuweichen. Ebd., 277–284. 121 Hitzler/Niederbacher, Leben in Szenen, 2010, 12.
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Mobilität, Postmoderne und das Wesen von Gemeinschaft
Ortsstabilität verliert ihre Selbstverständlichkeit, auch wenn sie weiterhin eine von Vielen angestrebte Lebensform bleibt.
2.4
Erwerb von Lebensdeutung in der Postmoderne
Prozesse der Sinnfindung haben sich in gesellschaftlichen Pluralisierungs- und Individualisierungsprozessen verändert: Wir haben gesagt, dass das Subjekt der Postmoderne den eigenen Standpunkt beim Entwurf einer Sinnperspektive zum Massstab macht und dass der Bedarf an Kommunikation und Lebensdeutung gewachsen ist.122 Was lässt sich empirisch über das Entstehen persönlicher Sinntheorien in postmoderner Gesellschaft wissen? Sinn ist dabei als eine Bezugsgrösse zu verstehen: »Sinn ist eine im Bewusstsein gestiftete Bezugsgrösse, nicht eine besondere Erfahrung oder eine der Erfahrung selbst zukommende Eigenschaft. Es geht vielmehr um die Beziehung zwischen einer Erfahrung und etwas anderem.«123
Das »andere« kann Schütz/Luckmann zufolge eine »erinnerte Erfahrung« sein, aber auch »ein Erfahrungsschema, eine höherstufige Typisierung, eine Problemlösung oder Handlungsrechtfertigung.«124 Der Kommunikationsforscher Werner Schaeppi fragte im Rahmen einer Studie, was für heutige Menschen in der deutschsprachigen Schweiz »der Sinn des Lebens ist, wie sie zu dieser individuellen Vorstellung gelangen und welche subjektive Bedeutung sie für die effektive Gestaltung ihres Lebens hat«.125 Er kommt zum Ergebnis, dass Menschen im Regelfall subjektive Sinntheorien entwerfen, wobei unterschiedliche Konzepte nebeneinander stehen und sich durchmischen können. »Ausgesprochen viele Befragte weisen explizit auf Einflüsse anderer Kulturkreise hin und/oder vermischen in ihren Theorien pragmatische Erkenntnisse ihres Alltagslebens wie selbstverständlich mit Gedanken aus unterschiedlichen Religionen und Philosophien, Konzepten esoterischer Weltanschauungen usw.«126
Auch der Theologe Christian Grethlein stellt in seiner eigenen Forschung eine »systematische Inkonsistenz vieler Äusserungen« fest.127 Erst in der bewussten Reflexion oder im Gespräch verdichten sich die verschiedenen Aspekte des Le122 123 124 125 126 127
Ausführlich in Kap. I.2.3.1 Verlust einer letzten Einheit und Sinnhaftigkeit? Schütz/Luckmann, a. a. O., 449. Ebd., 449–450. Schaeppi, Braucht das Leben einen Sinn?, 2004, 59. Ebd., 271. Grethlein, Praktische Theologie, 2012, 205.
Lebensführung in der Postmoderne
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benssinnes zu einer komplexen Theorie.128 Eine subjektive Theorie entsteht prozesshaft. Dabei gibt es bestimmte Settings, die das Entstehen von subjektiven Sinntheorien fördern. »Als wichtige potentielle Wendepunkte für die Ausgestaltung der eigenen Anschauung offenbaren sich in der Studie die gewollte oder zufällige Konfrontation mit neuem Gedankengut, spezifische, emotional starke (als glücklich oder unglücklich empfundene) Erlebnisse oder Ereignisse der Aussenwelt, aber natürlich auch bestimmte Eckpunkte der biographischen Entwicklung.«129
Über die inhaltlichen Aspekte einer Sinntheorie sagt Schaeppi, dass sie nicht zu eng gesteckt sein dürfen, weil sie sonst in Konflikt mit der Lebensrealität geraten. Wichtig sind die strukturellen Aspekte einer subjektiven Sinntheorie. Sie muss komplex sein. »Theoriekonstrukte mit mehreren unterschiedlichen Postulaten hoher Ordnung sind – insbesondere angesichts der aktuellen postmodernen Vielfalt von Orientierungsmöglichkeiten und Einflüssen – tendenziell krisenresistenter als singuläre Konstrukte, weil sie sich gegenseitig stützen und dem Subjekt notfalls auch die Möglichkeit geben, beim Versagen eines Konzeptes auf ein anderes auszuweichen oder wenigstens eine Neugewichtung vorzunehmen. ›Komplexität‹ meint hier einerseits die rein numerische Vielfalt von für sich tragfähigen Konzepten, andererseits aber auch den Grad der gegenseitigen argumentativen Verstrickung dieser Postulate untereinander.«130
Ich fasse zusammen. Subjektive Sinntheorien tragen Kennzeichen: ➤ ➤ ➤ ➤
Sie integrieren unterschiedliche Subtheorien und Konzepte und nehmen Einflüsse aus anderen Kulturkreisen auf. Sie entstehen prozesshaft. Sie folgen pragmatischen Erkenntnissen aus dem Alltag. Sie werden geformt durch emotionales Erleben, durch Erlebnisse der Aussenwelt und biographische Wendepunkte.
2.5
Sinnfindung in neuen sozialen Verhältnissen
Mit dem Bedeutungsverlust allgemein verbindlicher Deutungen, der die Verfassung postmoderner Gesellschaften kennzeichnet, und mit dem Bedeutungsverlust der diese Deutungen repräsentierenden Institutionen verändern sich auch die Prozesse der Sinnfindung. Für die Moderne war noch ein Anwachsen von Organisationen typisch. Eine Vielzahl von Organisationen begann, ihre 128 Schaeppi, a. a. O., 272. 129 Ebd., 273. 130 Ebd., 277.
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Mobilität, Postmoderne und das Wesen von Gemeinschaft
Dienste für Sinngebung und Lebensdeutung anzubieten und deutend in das Leben von Menschen einzugreifen: »Das Jonglieren mit diesen diskrepanten Bestandteilen der Wirklichkeitsdeutung verlangt eine gewisse Kunst, und so gibt es eine Reihe von Berufen, die sich auf diese Kunst verlegt haben. Das sind Berufe der ›Wissensindustrie‹, wie die Wirtschaftswissenschaften diesen Zweig bezeichnen.«131
In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts haben sich neben Organisationen verstärkt soziale Verhältnisse ausgebildet, die als Szenen bezeichnet werden und Prozesse der Lebensdeutung bzw. Sinnfindung begleiten. Der Soziologe Ronald Hitzler hat für Jugendszenen eine Bestandsaufnahme gemacht und dabei untersucht, wie sich der Erwerb von Zugehörigkeit gestaltet und welche subjektive Bedeutung die Zugehörigkeit für die Beteiligten hat: »Subjektivierungs-, Pluralisierungs- und Globalisierungsprozesse lösen nicht nur die lebenspraktische Relevanz (die individuelle und kollektive Selbst- und Fremdverortung im sozialen Raum) der in der Moderne herkömmlicher Weise dominierenden Klassenund Schichtstrukturen zunehmend ab. Sie verändern auch grundlegend die klassischen Gesellungsformen (das meint Gemeinschaften wie Familie, Nachbarschaft, Kirchengemeinde etc., Assoziationen wie Vereine, Verbände, Parteien etc., Organisationen wie Betriebe, Bürokratien, Hochschulen etc.).«132
Szenen beruhen – anders als Schicksals- und Herkunftsgemeinschaften – auf einem Gefühl von Gemeinschaft und auf gemeinsamen Themen und Interessen. Ein ›Gefühl von Familie‹ kann unter Menschen entstehen, die nicht miteinander verwandt sind. Ein ›Gefühl von Gemeinde‹ kann Menschen verbinden, die nie dasselbe Kirchgebäude betreten haben. War Szenenbildung ursprünglich ein Phänomen von Jugendkulturen, kann man im Sinn einer Arbeitshypothese postulieren, dass Themen- und Interessengemeinschaften, die auf gefühlter Übereinstimmung beruhen, zunehmend auch jenseits von Jugendkulturen und unter älteren Menschen entstehen. In Szenen verbinden sich Menschen aufgrund des Wunsches, eine gemeinsame Gesinnung oder Vorliebe zur Darstellung zu bringen und dadurch ihrer selbst ansichtig zu werden. Nicht was die Einzelnen haben, ist ausschlaggebendes Kriterium, sondern was sie wollen und empfinden. Szenen stellen anders als Organisationen eine Form von Vergemeinschaftung dar. Als Teilhaberinnen und Teilhaber an einer Szene sind Einzelne in Prozessen der Sinnfindung nicht sich selbst überlassen. »Nun: es entwickeln, verstetigen und vermehren sich neue bzw. neuartige Vergemeinschaftungsformen, deren wesentlichstes Kennzeichen darin besteht, dass sie eben 131 Berger/Luckmann, Modernität, 1995, 58. 132 Hitzler/Niederbacher, Leben in Szenen, 2010, 11.
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nicht mit den herkömmlichen Verbindlichkeitsansprüchen einhergehen, welche üblicherweise aus dem Rekurs auf (wie auch immer geartete) Traditionen und/oder auf ähnliche soziale Lagen resultieren, sondern dass sie auf der – typischerweise nichtexkludierenden – Verführung hochgradig individualitätsbedachter Einzelner zur (grundsätzlich partiellen) habituellen, intellektuellen, affektuellen und vor allem ästhetischen Gesinnungsgenossenschaft basieren.«133
Szenegängerinnen und -gänger müssen sich die Zugehörigkeit zur Szene auch leisten können. Auch diese Zugehörigkeit beruht also auf Voraussetzungen.134 Szenen bilden aber im Regelfall ein breites Spektrum an sozialen Orten aus. Sie bestehen zumeist aus einer Vielzahl von Gruppen mit Freundes- und Dunstkreisen, die sich in grösserer oder geringerer Nähe zum Kern der Szene befinden.135 Die Einzelnen können bei Bedarf innerhalb der Szene ›wandern‹ und einen Ort einnehmen, der ihren aktuellen Voraussetzungen, ihrem Sich-selbstverstehen entspricht. Was lässt sich für Prozesse der Sinnfindung in postmoderner Gesellschaft festhalten? Sie geschehen nicht unabhängig von sozialen Verhältnissen, sondern in ihnen. ➤
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In postmoderner Gesellschaft lässt sich nicht mehr selbstverständlich von tradierten Weisen der Sinnfindung, nicht mehr selbstverständlich von einem institutionalisierten Wissen ausgehen. Sinnfindung lässt sich nicht vom eigenen Standpunkt und der eigenen Wahrnehmung lösen. Die Einzelnen sind darauf angewiesen, ihrer selbst und ihrer Standpunkte ansichtig zu werden. Das braucht Zeit. Es besteht ein erhöhter Bedarf am Erwerb von Lebensdeutung und an Kommunikation. Grund dafür ist die zunehmende Pluralität und Verschiedenheit von Lebenswelten und Wissensgebieten.136 Die Einzelnen sind genötigt, sich darüber zu verständigen, wie die oder der Andere ›es meint‹. Neue soziale Verhältnisse, die zur Lebensdeutung bzw. Sinnfindung beitragen, stellen ein Spektrum an gemeinsamer Sozialwelt zur Verfügung. In Szenen beispielsweise gibt nicht den einen Ort; vielmehr können die Beteiligten zum ihnen entsprechenden sozialen Ort ›wandern‹.
133 134 135 136
Ebd., 14. Ebd., 13. Ebd., 23 (Schaubild zum Aufbau von Szenen). Kap. I.2.3.3 Der Bedarf an Kommunikation wächst.
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3
Mobilität, Postmoderne und das Wesen von Gemeinschaft
Gemeinschaft in soziologischer Perspektive
Ein erster Hauptabschnitt gilt der soziologischen Klärung dessen, was unter Gemeinschaft verstanden werden soll. Es geht um eine Wesensbestimmung des Gemeinschaftlichen. Diese werde ich unter Bezugnahme auf die Arbeiten von Ferdinand Tönnies, Max Weber und Peter-Ulrich Merz-Benz darstellen. Für eine Theoriebildung des Gemeinschaftlichen haben Tönnies und Weber bis heute geltende Kriterien formuliert. Was lässt sich über Gemeinschaftsforschung in der Soziologie heute aussagen? Gemeinschaften werden auffallend häufig als experimentelle Lernfelder – oft im Zusammenhang mit sozialen und ökologischen Fragen – thematisiert.137 Mit Hilfe von quantitativer und qualitativer Forschung wird versucht, Selbstverständnis, Dynamiken und gesellschaftliche Kommunikation von Gemeinschaften zu verstehen. Die Theologin Claudia Knepper von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen gibt einen Überblick über den gegenwärtigen Forschungsstand.138 Sie spricht für das beginnende 21. Jahrhundert von einer Gemeinschaftsbewegung, die sie als Bewegung von intentionalen Gemeinschaften konkretisiert. »Sie bilden sich bewusst aus einer oppositionellen Haltung gegenüber der Gesellschaft, um neue Wege des Zusammenlebens zwischen Menschen und mit der Umwelt experimentell zu erproben. Ihre verbindenden Merkmale, die eine Gruppenidentität ausmachen, sind dabei gemeinsames Zusammenleben, eine geteilte Lebenswelt und ein damit einhergehender Lebensstil […].«139
Interessant an den Ergebnissen der gegenwärtigen Gemeinschaftsforschung scheint mir, dass zwei Drittel der in der Encyclopedia of Large Intentional Communities weltweit gezählten Gemeinschaften eine christliche Prägung haben und nur ein geringer Prozentsatz esoterisch und sozial-ökologisch geprägt ist.140 Im deutschsprachigen Raum ist das Verhältnis dagegen deutlich anders. In einer Internetbefragung Gemeinschaft von 2011, an der Menschen aus verschiedenen Öko-Dörfern in Deutschland, Österreich und der Schweiz teilgenommen haben, ist die Identifikation mit dem christlichen Glauben nur gering.141
137 Vgl. Kunze, Soziale Innovationen für eine zukunftsfähige Lebensweise, 2009. 138 Knepper, Experiment Gemeinschaft, in: EZW Materialdienst 6/2012, Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), 204– 214. 139 Ebd., 206. Knepper zitiert Kunze, Soziale Innovationen, 2009, 53. 140 Ebd., 207. 141 Vgl. die Internetbefragung zum Thema Gemeinschaft (2011) von Grundmann/Kunze am Institut für Soziologie der Universität Münster, 10. Quelle: www.uni-münster.de/Soziologie/ forschung/gemeinschaftsforschung/ docs/internetbefragung_2011.pdf [Stand: 18. 08. 2014].
Gemeinschaft in soziologischer Perspektive
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Innerhalb der weltweiten Gemeinschaftsbewegung fällt die professionelle Kommunikation und Aussendarstellung von esoterisch und sozial-ökologisch geprägten Gemeinschaften auf. Dadurch erwecken diese trotz weltweit zahlenmässiger Unterlegenheit den Eindruck einer starken Präsenz.142 Im deutschsprachigen Raum konzentriert sich die Gemeinschaftsforschung seit 2001 am Institut für Soziologie der Universität Münster. In der Soziologie wird der Gemeinschaftsbegriff eher mit Zurückhaltung behandelt, denn er gilt als irrational. Der Gemeinschaftsbegriff hat Merz-Benz zufolge unter fehlender Theoriebildung gelitten. Zudem wurde er politisch verzweckt. Dabei verkörpere er die Grundbestimmung von Sozialität schlechthin und diese gelte es zu entwickeln.143
3.1
Annäherungen
In einem ersten Schritt lässt sich Gemeinschaft als ein nahes soziales Verhältnis beschreiben, das auf Dauer angelegt ist. In der empirischen Soziologie muss sich ›nah‹ nicht auf räumliche Nähe beziehen. Gemeinschaft wird vielmehr als ein Beziehungsgeflecht verstanden, »das auf persönlichen Verbindungen basiert, nicht lokal gebunden ist und ›personal community‹ genannt wird.«144 Persönliche Gemeinschaften, die sich durch die Pflege überregionaler Beziehungen auszeichnen, treten dabei zunehmend neben lokale Solidargemeinschaften oder verdrängen diese sogar. »Nähe hat mehrere Dimensionen: eine räumliche, sachliche, zeitliche und soziale. Diese Dimensionen müssen nicht zusammenfallen.«145
Der Soziologe Schroer ist sogar der Meinung, dass die Bindung des Sozialen an räumliche Nähe der »systematischen Auseinandersetzung mit dem Raum in der Soziologie« im Wege gestanden hat.146 Für unsere Untersuchung spielt die Frage nach dem Stellenwert der räumlichen Nähe, also nach leibhaft erfahrener Gemeinschaft, eine entscheidende Rolle. Wieviel Leibhaftigkeit braucht eine Gemeinde, die ihren Mitgliedern die Erfahrung von Gemeinschaft ermöglichen will? Der Bedeutung von Nähe wird im Spannungsfeld von Face-to-face-Kommunikation und medial vermittelter Glaubenskommunikation nachgegangen.147 142 Knepper, a. a. O., 207. 143 Merz-Benz, a. a. O., 30. 144 Berzborn, Persönliche Netzwerke im städtischen Kontext, in: Lang/Schweizer (Hg.), Kulturelle Identität, soziale Netzwerke und Kognition, 1997, 89–114. 145 Spielberg, Ladenhüter oder Laboratorium?, in: Ebertz/Hunstig (Hg.), Hinaus ins Weite, 2008, 84–91, 94. 146 Schroer, Räume, Orte, Grenzen, 2006, im Abstract vor dem Inhaltsverzeichnis (ohne Seitenzahl). 147 Ausführlich in Kap. VI.1.2 Leistung und Grenzen medial vermittelter Kommunikation.
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Mobilität, Postmoderne und das Wesen von Gemeinschaft
Welche Bedeutung hat die durative Dimension der Zeit? Setzt Gemeinschaft tatsächlich die Dauerhaftigkeit sozialer Beziehungen voraus? Offenkundig gibt es Gemeinschaftserfahrungen wie beispielsweise die Treffen der Communauté de Taizé oder Pilgerurlaube, die oft nur wenige Tage umfassen, aber von den Teilnehmenden intensiv erlebt werden.148 Ist eine Kirchgemeinde überhaupt darauf angewiesen, dass ihre Mitglieder über lange Zeiträume hin miteinander unterwegs sind, damit sich Erfahrungen von Gemeinschaft einstellen? Braucht das Entstehen von Gemeinschaft überhaupt Zeit? Die Beantwortung dieser Frage setzt voraus, dass das Wesen von Gemeinschaft bestimmt wird. Man muss benennen können, was sich unter Menschen ereignet, die sich als Gemeinschaft erfahren.
3.2
Gemeinschaft – was für ein Sozialverhältnis ist das?
Zur Beantwortung der Frage greifen wir zunächst auf die soziologische Theorie des deutschen Soziologen, Ökonomen und Philosophen Ferdinand Tönnies zurück.149 Tönnies ist mit einer grundsätzlichen Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft bekannt geworden. Gemeinschaft und Gesellschaft stehen bei Tönnies als soziologische Kategorien für die Vermittlung von vernünftiger und vorvernünftiger Sphäre der Sozialwelt. Tönnies hat diese Vermittlung auf den Begriff zu bringen versucht. Er wird Merz-Benz zufolge auch heute noch in seiner Leistung verkannt: In der Theorie der Moderne, die als ihren Leitfaden die Rationalität reklamiert, gebe es für die Thematik der Vermittlung von vernünftiger und vorvernünftiger Sphäre der Sozialwelt bis heute keinen Platz.150 Tönnies grenzt gesellschaftliches Handeln klar von gemeinschaftlichem Handeln ab. »Die Theorie der Gesellschaft konstruiert einen Kreis von Menschen, welche, wie in Gemeinschaft, auf friedliche Art nebeneinander leben und wohnen, aber nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind, und während dort verbunden bleibend trotz aller Trennungen, hier getrennt bleiben trotz aller Verbundenheiten. Folglich finden hier keine Tätigkeiten statt, welche aus einer a priori und notwendigerweise vorhandenen Einheit abgeleitet werden können. […] Keiner wird für den andern etwas tun und leisten, keiner dem andern etwas gönnen und geben wollen, es sei denn um einer Gegenleistung oder Gegengabe willen, welche er seinem Gegebenen wenigstens gleich achtet.«151
148 Informationen zu Taizé, siehe http:/www.taize.fr/de_rubrique343.html [Stand: 20. 07. 2014]. Im Kap. VI.3.1 Was sind Event-Gemeinschaften? wird die Bedeutung von Wiederholung und Dauer für den Alltagsbezug von geistlichen Erfahrungen thematisiert. 149 Vgl. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 1979 (1935). 150 Merz-Benz, a. a. O., 27. 151 Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 1979 (1935), 34. Kursiv im Original.
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Tönnies spricht von einer wesentlichen Verbundenheit, die Menschen in Gemeinschaften auszeichnet. Worin besteht diese wesentliche Verbundenheit? Als Gemeinschaft bezeichnen wir eine als persönlich empfundene, umfassende, affektiv und traditional bestimmte Form des Zusammenlebens.152 »Gemeinschaft meint […] den Typus von Erziehungsformen und Ordnungsvorstellungen, die nicht wie ›Gesellschaft‹ auf grundsätzlich sachlicher, partikularistischer Interessenabwägung und kontraktueller Aushandlung beruhen, sondern eine persönliche, umfassende ›seelisch-geistige‹ Einheit voraussetzen, die anders als die zweckrational-konstruierte ›Gesellschaft‹ eine affektiv und traditional bestimmte, und daher auch in der Regel als ursprünglicher empfundene Form des Zusammenlebens meint.«153
Damit sind die Kennzeichen der wesentlichen Verbundenheit genannt. Der Begriff traditional bezeichnet eine Kommunikation, die auf einer schon vorausgesetzten affektiven Verbundenheit beruht. Traditional ist kein wertendes sondern ein beschreibendes Adjektiv und markiert sowohl den Gegensatz zu zweckrational begründeten Gesellungsformen als auch zu posttraditionalen Formen der Vergemeinschaftung.154 Tönnies konkretisiert, was er unter wesensmässiger Verbundenheit versteht. Er unterscheidet dabei drei Grundtypen gemeinschaftlichen Lebens: »Wo immer Menschen in organischer Weise durch ihren Willen miteinander verbunden sind und einander bejahen, da ist Gemeinschaft von der einen oder der anderen Art vorhanden […]. Und so mögen als durchaus verständliche Namen dieser ihrer ursprünglichen Arten nebeneinander betrachtet werden: 1. Verwandtschaft, 2. Nachbarschaft; 3. Freundschaft.«155
Für das 19. Jahrhundert entdeckt der Religionswissenschafter Jens Schlamelcher weitere Gemeinschaftsschübe und -formen. »Das 19. Jahrhundert brachte zumindest drei neue ›Gemeinschaften‹ hervor: die Nation, die Arbeiterklasse und die katholische bzw. protestantische Christenheit.«156
152 Der Begriff ›traditional‹ bezeichnet Gemeinschaft im von Tönnies definierten Sinne. Tönnies selbst verwendet den Begriff in seiner ›Einführung in die Soziologie‹ (1931), ohne eine Erklärung zu geben. Traditionale Gemeinschaft wird dadurch definiert, dass sie auf einer vorrationalen, emotionalen, nicht zweckrationalen Verbundenheit beruht. Der Begriff ›traditional‹ wird auch in der neueren Soziologie verwendet, z. B. von Gebhardt, Charisma als Lebensform, 1994, 8, oder von Hitzler/Niederbacher, Leben in Szenen, 2010, 15. 153 Gebhardt, Charisma als Lebensform, 1994, 8. 154 Eine posttraditionale Gemeinschaft wird aktiv gewählt und zeichnet sich durch gemeinsame Gesinnungen, eine gemeinsame Ästhetik und eine meist geringe Verbindlichkeit aus. 155 Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 1979 (1935), 12. Zu zweckrational begründeter Sozialität siehe das folgende Kapitel I.3.2.2 Gemeinschaft schliesst ein zweckrationales Wollen aus. 156 Schlamelcher, Kirchliche Vergemeinschaftungsformen, in: Evangelische Theologie 6/2010, 439–450, 443.
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Schlamelcher unterstellt damit der Arbeiterschaft usw. eine wesensmässige – und nicht nur eine auf gemeinsamen Interessen beruhende – Verbundenheit; eine zumindest interessante These. 3.2.1 Gemeinschaft beruht auf einem gemeinsamem Wollen bzw. einem Bündnis An dieser Stelle ist ein Missverständnis zu nennen, das die Tönnies-Rezeption prägte und bis heute Vorbehalte gegenüber dem Gemeinschaftsbegriff begünstigt. Hitzler versucht dieses Missverständnis zu korrigieren: Tönnies beschreibt mit der wesensmässigen Verbundenheit keine biologistisch vorgebildeten Sozialformen des Lebens. »Gemeinschaft des Blutes‹ […] ist von ihrem Autor nicht als ›naturwüchsig‹ konnotiert.«157
Vielmehr ist für Tönnies jedes soziale Verhältnis auf ein gemeinsames Wollen der Beteiligten zurück zu führen. In der Kurzform heisst das, dass ›gemeinsames Wollen‹ und nicht ›gemeinsames Blut‹ eine wesensmässige Verbundenheit unter Menschen entstehen lässt. »Verhältnisse bestehen durch einen gemeinsamen Willen zweier oder mehrerer Personen, einander gegenseitige Hilfe oder andere Förderung zu leisten […].«158
Tönnies kann statt vom gemeinsamen Willen auch von einem Bündnis sprechen: »Ich beziehe alle Arten sozialer Verhältnisse auf den rationalen und ideellen Typus des ›Bündnisses‹.«159
Beispielsweise entsteht auch die Familie als Gemeinschaft durch den Willen der ihr angehörigen Mitglieder. Sie ist nicht einfach als Blutsgemeinschaft definiert. Sie »erwächst durch den menschlichen ›Wesenswillen‹ bzw. durch eine – anthropologisch verstandene – ›Sympathie‹«. Auch die Familie ist somit für Tönnies als ein »Kulturprodukt« zu verstehen.160
157 Hitzler u. a., Zur Einleitung: ›Ärgerliche‹ Gesellungsgebilde?, in: Hitzler u. a. (Hg.), Posttraditionale Gemeinschaften, 2008, 9–31, 10. 158 Tönnies, Einführung in die Soziologie, 1981 (1931), 19. 159 Ebd., 19. 160 Hitzler u. a., Zur Einleitung: ›Ärgerliche‹ Gesellungsgebilde?, 9–31, 10.
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3.2.2 Gemeinschaft schliesst ein zweckrationales Wollen aus Tönnies führt also die Gemeinschaft wie jedes soziale Verhältnis auf ein gemeinsames Wollen zurück. Er schliesst aber für Gemeinschaften ein zweckrationales Wollen aus.161 Zweckrational ist ein Wollen, das sich von unterschiedlichen Motivationen wechselseitiger Förderung und Hilfe unbeeindruckt zeigt. Für Tönnies gilt das menschliche Wollen dem Verhältnis von Zweck und Mitteln: »Auf dies Verhältnis bezieht sich meine Bildung der Begriffe von Wesenswillen und Kürwillen, an deren Stelle Max Weber setzt (§ 2) die Unterscheidung von 1) zweckrationaler, 2) wertrationaler, 3) affektueller, insbesondere emotionaler, 4) traditionaler Bestimmung des sozialen Handelns wie jedes Handelns. Für mich sind 2., 3. und 4. im Begriff des Wesenswillens eingeschlossen.«162
Tönnies bietet damit eine grosse Vielfalt von Begründungen wesensmässiger Verbundenheit und schliesst alleine das Verfolgen eines gemeinsamen Zweckes als Begründung für das Entstehen von Gemeinschaft aus. Die Soziologen François Boudon und Raymond Bourricaud beispielsweise sind nicht mit Tönnies’ Unterscheidung einverstanden und unterstellen ihm fehlende Komplexität. Ihrer Ansicht nach gründet Gemeinschaft nicht auf einer im Kern bestehenden »Übereinstimmung des Wollens«.163 Sie werde vielmehr grundsätzlich ausgehandelt. Tönnies übersieht ihrer Meinung nach, dass Gemeinschaft immer auf Kompromissen basiert und daher eine komplexe Beziehung beschreibt.164 Ich schliesse mich an Tönnies’ Definition an, der gemeinsames Wollen auf vorrationale Übereinkünfte und nicht auf ein zweckrationales Wollen und damit auf ein Aushandeln zurückführt. Zweckrationales Wollen ist seiner Definition gemäss das Kennzeichen von gesellschaftlichen Sozialverhältnissen. Boudon/ Bourricaud dagegen schliessen mit dem ›Aushandeln‹ ein zweckrationales Wollen als mögliche Voraussetzung von Gemeinschaft ein und sehen damit nur einen graduellen Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. In der Praxis, zum Beispiel in Arbeitsverhältnissen der New Economy, kommt es tatsächlich zu Übergängen zwischen gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Sozialverhältnissen. Undeklarierte Überschneidungen können Probleme entstehen lassen.165 161 »Von allen Gestaltungen des Wesenswillens unterscheidet sich nun das denkende Wollen, indem und insofern als es von diesen Motivationen sich ablöst und eventuell sich ihnen entgegensetzt, infolge davon, dass es schlechthin auf den Zweck sich konzentriert, dass es die Fäden, die sonst naturgemäss Zweck und Mittel verbinden, durchschneidet: Fäden, durch deren Wirkung beide in eins gefasst und in ihrer Einheit bejaht werden […].« Tönnies, Einführung in die Soziologie, 1981 (1931), 7. 162 Ebd., 6. 163 Boudon/Bourricaud, Soziologische Stichworte, 1992, 161. 164 Ebd., 162. 165 Zu diesem Phänomen siehe Kap. I.4.3 Gemeinschaftsgefühle in Unternehmenskulturen.
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Gesellschaft ist für Tönnies ein Begriff der Moderne. Sein Gesellschaftsbegriff unterscheidet sich damit grundlegend von der alteuropäischen Gesellschaftsphilosophie im Gefolge von Aristoteles. In der alteuropäischen Gesellschaftsphilosophie war der Grundbegriff für die Durcharbeitung des Gesellschaftsbegriffs noch die Koinonia! »Als Grundbegriff diente ihr der Begriff der koinonia (communitas, societas), der das in menschlichen Beziehungen Gemeinsame bezeichnete […].«166
Die gattungsgemässe Gleichheit wird als Ausdruck einer vorrational begründeten Verbundenheit verstanden. Damit gründet die alteuropäische Gesellschaftsphilosophie in anthropologischen Gegebenheiten. Seit Aristoteles hatte sie die Gestalt der Ethik angenommen. Auch die Lehre vom richtigen Handeln und von den Tugenden als den Voraussetzungen zum richtigen Handeln ist anthropologisch begründet:167 »Der Bezug auf Wahrheit und die wertmässig-normative Orientierung waren eng verbunden und bestätigten sich wechselseitig. Ihre letzten Grundlagen fanden ethische Wahrheiten und Werte in der Natur des Menschen, dem die Stadt als politisch konstituierte Gesellschaft in sein Wesen verhalf.«168
Im vormodernen Verständnis von Gesellschaft sind Züge enthalten, die wir heute einer Gemeinschaft zuschreiben. 3.2.3 Gemeinschaft beruht auf vorrationalen Übereinkünften Wir haben gesagt, dass Gemeinschaft auf vorrationalen Übereinkünften beruht und ausdrücklich nicht durch ein rationales Zustimmen oder Aushandeln zustande kommt. Mit der Sichtweise, dass Gemeinschaft auf einer prärationalen Form sozialen Zusammenhalts beruht, befindet sich Tönnies in Nähe zu Max Weber und der sogenannten verstehenden Soziologie.169 Sozialer Zusammenhalt entsteht, indem Menschen in der Deutung einer gemeinsam erfahrenen Wirklichkeit übereinstimmen. Für die Soziologen Tönnies, Schütz und Weber gibt es Wirklichkeit nur als ›sinnhafte‹, nur als gedeutete Wirklichkeit. Weber definiert
166 167 168 169
Luhmann, Religion, in: Luhmann, Soziologische Aufklärung, Bd. 1, 1981, 137–138. Ebd., 137. Ebd., 137. Tönnies, Einführung in die Soziologie, 1981 (1931), 6: »Max Weber [im Original hervorgehoben] definiert die Soziologie als eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. Handeln soll dabei ein menschliches Verhalten, einerlei ob äusserliches oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden heissen, wenn und insofern der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden.«
Gemeinschaft in soziologischer Perspektive
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Handeln als ein menschliches Verhalten, insofern der oder die Handelnden mit ihrem Handeln einen subjektiven Sinn verbinden:170 »›Soziales‹ Handeln aber soll ein solches Handeln heissen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.«171
Nur als gedeutete Wirklichkeit kann eine Bindung unter Menschen entstehen. Bindungen bleiben so lange instabil wie Erklärungsmuster und Deutungen fehlen. Das wird von dem amerikanischen Soziologen Robert Bellah, dessen Forschung wir uns später zuwenden, anschaulich dargestellt.172 Bellah hat in Habits of the Heart (1986) untersucht, wie es dazu kommt, dass Menschen in den heutigen USA soziale Verpflichtungen übernehmen. Wie sein Kollege Amitai Etzioni fragt er nach den zugrunde liegenden »werthaften und emotionalen Bindungen«, die zudem die »Charakterzüge einer bestimmten Kultur repräsentieren«.173 Bellah schreibt über einen Amerikaner namens Brian: »Ihm fehlt eine Sprache, in der er die wirklich wichtigen Bindungen, die sein Leben definieren, auch ausdrücken kann. In dem Umfang, wie solche Erklärungsmuster fehlen, bleiben die Bindungen selbst prekär.«174
Vorrationale Übereinkünfte sind keineswegs irrational, sondern lassen sich ›finden‹ und beschreiben. Die Bedeutung der vorrationalen Sphäre für ein gemeinsames Handeln ist nicht nur Gegenstand der Soziologie, sondern sie ist auch Gegenstand der Ethik. Der Theologe und Ethiker Johannes Fischer beispielsweise fragt in seiner Ethik nach dem uns »transsubjektiv bestimmenden Guten«, dem wir uns »verdanken, mit unseren Vorstellungen von gelingendem Leben, mit Auffassungen von Verantwortung und Pflicht«.175 Der Theologe Dietrich Bonhoeffer nennt es die Aufgabe der Sozialphilosophie – die er von einer empirisch arbeitenden Soziologie unterscheidet – »nach den letzten Beziehungen sozialer Art, die vor allem Wissen und Wollen zur empirischen Gemeinschaft liegen, nach den ›Ursprüngen‹ der Sozialität in der menschlichen Geistigkeit und ihrem wesenhaften Zusammenhang mit dieser« zu fragen.176 So wie Tönnies und MerzBenz begreift auch Bonhoeffer die grundlegenden Erscheinungen von Sozialität als vorrational.
170 171 172 173 174
Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 6. Aufl. 1985, 542. Ebd., 542. Im Original sind ›Sinn‹ und ›anderer‹ gesperrt. Kap. I.3.4.1 Kommunitarismus – die Suche nach gemeinschaftsproduktiven Kräften. Merz-Benz, a. a. O., 50. Bellah u. a., Gewohnheiten des Herzens, 1987, 30. ›Brian‹ ist eine Chiffre für einen von vier repräsentativen amerikanischen Standpunkten, die Bellah nachzeichnet und analysiert. 175 Fischer, Leben aus dem Geist, 1994, 10. 176 Bonhoeffer, a. a. O., 16. Hervorhebung im Original.
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Mobilität, Postmoderne und das Wesen von Gemeinschaft
»Zur Struktur der Gemeinschaft aber gehören ebenso die Personeinheiten als Aktzentren, wie die Einheit der Gruppe als ›Gebilde‹.«177
Was Bonhoeffer als ›Gebilde‹ bezeichnet, ist das Verhältnis zwischen den Einzelnen und einer Gemeinschaft, das es weiter zu bestimmen gilt.178
3.3
Gemeinschaft für wirklich halten und sie dadurch verwirklichen
Eine Besonderheit von Gemeinschaft als Sozialverhältnis besteht also darin, dass sie auf vorrationalen Übereinkünften beruht. Die andere Besonderheit besteht darin, wie das Verhältnis von Sozialität und Einzelnem bestimmt wird. Individuum und Gemeinschaft stehen sich nicht einfach gegenüber. Eine Gemeinschaft schliesst das soziale Verhältnis ihrer Glieder zueinander immer schon in sich. Das Individuum ist auch als Individuum ein Glied der Gemeinschaft: »Die Individualität aber, wie sie den Individuen als Mitgliedern einer Gemeinschaft in je besonderem Masse zukommt, erhält ihre Ausprägung in und vermittels der Gemeinschaft.«179
Damit stellt sich die Frage, wie das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft zu bestimmen ist. Im Folgenden wird das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft in zweifacher Hinsicht besprochen, nämlich unter dem Aspekt • der relativen Entscheidungsrationalität. Ich folge dabei der Theoriebildung der Soziologen Amitai Etzioni und Peter-Ulrich Merz-Benz. • von Erinnerungsgemeinschaften in der Theoriebildung des Soziologen Robert Bellah und seiner Forschungsgruppe. Die bzw. der Einzelne hat zuerst eine Vorstellung von Gemeinschaft, von ›Sozialität an sich‹. Wir haben die Wirklichkeit von Gemeinschaft mit Tönnies als eine prärationale Form des sozialen Zusammenhalts beschrieben.180 Wichtig und beachtenswert ist, dass Gemeinschaft der Vorstellung ihrer selbst als Sozialform entspringt. Vorstellung heisst, dass sie unbewusst oder bewusst imaginiert wird, bevor sie zum empirisch verifizierbaren Sozialverhältnis wird: »Dass Menschen mit den Gebilden der Sozialwelt ›als mit Wirklichkeiten verkehren‹, sich selbst und andere dabei als Teile, als Mitglieder von Sozialformen begreifend, beruht Tönnies zufolge vielmehr einzig darauf, dass sie diese als ›vorgeschriebene‹ oder
177 178 179 180
Ebd., 16. Kap. I.3.4 Gemeinschaft und die Ich–Identität der Teilhabenden. Merz-Benz, a. a. O., 33. Kap. I.3.2.1 Gemeinschaft beruht auf einem gemeinsamen Wollen bzw. einem Bündnis.
Gemeinschaft in soziologischer Perspektive
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doch ›vorgedachte Formen‹ für sich gelten lassen, das heisst für sich ›wollen und handeln lassen‹«.181
Wenn Menschen von den Handlungen oder Wirkungen eines Sozialverhältnisses sprechen, bringen sie immer ihre Vorstellungen desselben zur Sprache. »Hingegen wenn wir von den Handlungen und Wirkungen eines Vereins, einer Gemeinde, eines Staates reden, so wissen wir sehr wohl, dass es nur eine Art der Rede ist, einem verwickelten Zusammenhange einen einfachen Ausdruck zu geben, wenn wir diese Wesenheiten darstellen und behandeln als ob sie ein wirkliches Dasein hätten, obschon man weiss, dass ein solches nur vorhanden ist, insofern als es zunächst die unmittelbar beteiligten wirklichen Personen sind, die zum Beispiel einen Verein stiften, ins Dasein rufen und dann in vorgeschriebenen oder doch vorgedachten Formen wollen und handeln lassen.«182
Schlamelcher spricht mit dem Politikwissenschaftler Benedict Anderson vom ›Imaginieren‹ der Gemeinschaft: »›It [the nation] is imagined because the members of even the smallest nation will never know more of their fellow-members, meet them, or even hear of them, yet in their minds of each lives the image of their communion.‹«183
Im Gedächtnis der Einzelnen lebt eine Vorstellung von der Gemeinschaft, der sie angehören. Es sind »vorentworfene Erfahrungen«, mit denen Einzelne Lebenswelt bilden und ihre soziale Welt aufbauen:184 »Wenn Menschen etwas für wirklich halten, dann wird es dadurch ›verwirklicht‹, dass sie sich daran in ihren Handlungen orientieren.«185
3.3.1 Gemeinschaft wird vorgedacht – ihre anthropologische Begründung Eine gemeinsame Wirklichkeit wird als Möglichkeitsbedingung sozialen Tuns und Handelns immer schon mitgedacht.186 »Und dies ist auch die Wirklichkeit, die Tönnies mit seinem Begriff des sozialen ›Verhältnisses selber‹ als einer ›vorgedachten‹ oder sogar ›vorgeschriebenen Form‹ benannt hat. So gesehen handelt Tönnies tatsächlich – wie Etzioni dies als Gegenstand seiner
181 Ebd., 39. 182 Tönnies, Einführung in die Soziologie, 1981 (1931), 10. 183 Schlamelcher, Kirchliche Vergemeinschaftungsformen, in: Evangelische Theologie 6/2010, 439–450, 443. Er zitiert hier Benedict Anderson, der 1983 mit einer gleichnamigen Veröffentlichung den Begriff der Imagined Communities geprägt hat. 184 Knoblauch (Hg.), a. a. O., 10. 185 Ebd., 10. 186 Merz-Benz, a. a. O., 39–40.
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Mobilität, Postmoderne und das Wesen von Gemeinschaft
Erörterungen vorsieht – von der ›menschlichen Natur‹ respektive, präziser noch, von der sozialen Natur des Menschen«.187
Das Apriori des sozialen Verhältnisses ist anthropologisch begründet. Etzioni stellt in Die Verantwortungsgesellschaft eine dem sogenannten responsiven Kommunitarismus kompatible Anthropologie vor.188 Er lehnt einen anthropologischen Optimismus als Grundannahme über die menschliche Natur ebenso ab wie einen anthropologischen Pessimismus. Seine Grundannahme besteht darin, dass die menschliche Tugendhaftigkeit nicht einfach gegeben ist, so dass die Gesellschaft ihr nur genügend Spielraum zur Verfügung stellen müsse. Vielmehr ist ihre Entfaltung von Bedingungen abhängig: »Vor allem gilt es zu betonen, dass die menschliche Tugendhaftigkeit von drei Bedingungen abhängig ist: erstens, von der Internalisierung – und nicht bloss der Bekräftigung – von Werten, damit sie zum integralen Bestandteil des Selbst werden; zweitens, von der Entwicklung sozialer Gebilde, die die gegebenen Werte untermauern; und drittens, von einer Reduzierung des unvermeidbaren Widerspruchs zwischen umfassender Ordnung und umfassender Autonomie, indem die wichtigsten sozialen Gebilde stärker auf die menschlichen Bedürfnisse eingehen.«189
Über das kommunitaristische Paradigma schreibt Etzioni: »Dieses Paradigma stellt die Gemeinschaft nicht über das Individuum (oder das Gemeinwohl über die Individualrechte), sondern plädiert für eine soziale Welt, in der sich eine auf Freiwilligkeit basierende Ordnung im Gleichgewicht mit der Autonomie befindet.«190
Dies heisst nichts anderes, als dass Etzioni Grundannahmen über die menschliche Sozialität zum Gegenstand des Gesprächs macht. Niemand, der sozial handelt, tut das auf der Basis von Hoffnung und ins Ungewisse hinein, sondern aufgrund eines von ihm imaginierten sozialen Verhältnisses und der in diesem Verhältnis transportierten Annahmen über sein Menschsein. »Soziale Verpflichtungen werden auf ein Gemeinwesen hin wahrgenommen – ein Gemeinwesen, für das vorausgesetzt wird, dass es diese Verpflichtungen für die ihm angehörenden Mitglieder repräsentiert oder, präziser noch, verkörpert.«191
187 Ebd., 40. 188 Grundsätzliches zu Amitai Etzioni und seinem Anliegen in Kap. I.3.4.1 Kommunitarismus: die Suche nach gemeinschaftsproduktiven Kräften. 189 Etzioni, Die Verantwortungsgesellschaft, 1997, 222. 190 Ebd., 221. 191 Merz-Benz, a. a. O., 39.
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3.3.2 Gemeinschaft begegnet immer in vorfindlichen Sozialformen Gemeinschaft lässt sich nicht in einer ›reinen‹ Form finden. Gemeinschaft existiert in und jenseits ihrer Imaginationen nur in der Sozialform von Gemeinschaften – also im Plural. Der Ausdruck Formen bezieht sich hier und im Folgenden auf geschichtlich gewordene Gestaltwerdungen. Die spezifischen Eigenschaften von Sozialformen– also die Weise, in der Gemeinschaften als geschichtlich existierende vorgestellt oder wahrgenommen werden – sind Artefakte. Der Einzelne findet Gemeinschaft immer schon als Artefakt vor. »Die vorgedachte Wirklichkeit gemeinschaftlichen Tuns und Handelns ist gegeben in und mit den ›Banden der Familie, des Landes und der Stadt, des Aberglaubens und Glaubens, der angeerbten und überlieferten Formen, der Gewohnheit und Pflicht‹.«192
Tönnies nennt sowohl die Vorstellungen von Gemeinschaft als auch die tatsächlichen vorfindlichen Gemeinschaften Artefakte. Es gibt für ihn keine Gemeinschaft, die nicht Artefakt ist. 3.3.3 Gemeinschaft wird erfühlt Merz-Benz fasst sehr anschaulich und fast poetisch zusammen, wie Menschen Tönnies zufolge Sozialität wahrnehmen. Sie hätten eine »prärationale Gesamtform der zwischen Menschen bestehenden ›Verhältnisse und Verbindungen‹« vor Augen. Diese Verhältnisse werden »intuitiv gedacht – und bisweilen auch nur empfunden oder erfühlt«. Gemeinschaft wird als »etwas Eigenständiges« empfunden, das Menschen »umschliesst« und »in ihrem Handeln ebenso wie durch dieses hindurch selbst Präsenz gewinnt und sich erhält«.193 »Gemeinschaft wird in der Gemeinschaft vollzogen, ja fortwährend hergestellt, im selbstverständlichen Zusammenwirken ihrer Mitglieder auf das Gemeinschaftsganze hin, ohne dass dabei die Gemeinschaft je Thema wäre.«194
Ein Entstehen von Gemeinschaft wird also nicht dadurch gefördert, dass man über sie spricht, sie einklagt oder ein ›Mehr‹ an Beziehungen durchsetzen will. Ein übermässiges Thematisieren von Gemeinschaft würde geradezu ein Hinweis dafür sein, dass die Voraussetzungen für die eingeforderte Gemeinschaft fehlen. Die Voraussetzungen werden möglicherweise behauptet, aber sie werden nicht empfunden und darum auch nicht imaginiert.
192 Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 1979 (1935), 182. 193 Merz-Benz, a. a. O., 41. Merz-Benz bezieht sich auf Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 1979 (1935), 4. 194 Ebd., 41.
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3.3.4 Über die Qualität von Gemeinschaften Über die Qualität von Gemeinschaften ist im soziologischen Gemeinschaftsbegriff nichts ausgesagt. Familien, Freundschaften und Nachbarschaften können als ›gut‹ oder als ›zerstörerisch‹ erfahren werden. Über die ›Güte‹ der normativaffektiven Faktoren von Gemeinschaften gibt der soziologische Gemeinschaftsbegriff keine Auskunft. Interessant wäre es der Frage nachzugehen, ob sich Gemeinschaften auch dann generieren, wenn ihre normativ-affektiven Faktoren menschenverachtend und destruktiv sind – wie sie es beispielsweise im deutschen Nationalsozialismus waren. Es ist eine anthropologische bzw. sozialphilosophische Frage, ob Sozialität unabhängig von der Güte ihrer normativ-affektiven Faktoren dauerhaft zur Vorstellung und Verwirklichung gelangen kann.
3.4
Gemeinschaft und die Ich–Identität der Teilhabenden
Viel hängt davon ab, wie das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft zu verstehen ist. In welcher Weise werden die Einzelnen über die Gemeinschaft, an der sie teilhaben, bestimmen und in welcher Weise bestimmt die Gemeinschaft über sie und ihre Entscheidungen? Auch eine praktisch-theologische Kirchentheorie muss Auskunft darüber geben können, was damit gemeint ist, wenn ein Mensch Mitglied der christlichen Gemeinde wird. In welcher Weise wirken der oder die Einzelne und die Gemeinde als Gemeinschaft aufeinander? Welche Konsequenzen hat die Zugehörigkeit zur Gemeinde für die Einzelnen und ihre Identitätsbildung? ›Verfügt‹ eine Gemeinde über ihre Mitglieder? Kann ein Mitglied der Gemeinde über die Gemeinde ›verfügen‹? Die Weise, wie das Verhältnis von Einzelnen zur Gemeinschaft bestimmt und letztlich erfahren wird, dürfte entweder zum Grund für eine tief empfundene Zustimmung oder zum Grund für einen tief empfundenen Widerstand gegenüber Gemeinschaftsangeboten werden. Fehlbestimmungen dieses Verhältnisses können zu berechtigten Widerständen gegen Gemeinschaftserfahrungen führen. Merz-Benz unternimmt es, das Verhältnis der Einzelnen zur Gemeinschaft theoretisch zu klären. Er greift dafür auf die gesellschaftstheoretischen Konzepte von Bellah und Etzioni zurück. Etzioni und Bellah haben bereits das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu bestimmen gesucht. Sie haben eine Möglichkeitsbedingung der Vermittlung von Individuum und Gesellschaft erarbeitet, »eine Grundbestimmung von Sozialität, auf die hin über den Begriff des Eigeninteresses ebenso wie über denjenigen der sozialen Verpflichtung erst sinnvoll befunden werden kann«.195 Sie haben aber Merz-Benz zufolge aber ihre eigene 195 Merz-Benz, a. a. O., 30.
Gemeinschaft in soziologischer Perspektive
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Argumentation zu wenig verstanden und meinen, dass ihre Konzeption zwischen verschiedenen Paradigmata vermittelt, nämlich zwischen einem klassisch rationalistisch-individualistischen Paradigma und einem sozialkonservativen Paradigma.196 Tatsächlich haben sie Merz-Benz zufolge etwas Neues geschaffen. Es ist sein Verdienst, die fehlende Theoriebildung beider Kommunitaristen nachgeholt zu haben. 3.4.1 Kommunitarismus – die Suche nach gemeinschaftsproduktiven Kräften Bellah und Etzioni sind der Bewegung des US-amerikanischen Kommunitarismus zuzurechnen. Ihr Interesse besteht darin, dass Menschen Verantwortung für ihr Gemeinwesen übernehmen. Ihr Nachdenken gilt der gesellschaftlichen und politischen Praxis, vornehmlich im eigenen Land. Das Anliegen des amerikanischen Kommunitarismus ist die Rückgewinnung von Verantwortlichkeit und von Sozialverhältnissen, die solche Übernahme von Verantwortung generieren. Den Kommunitaristen geht es um eine aktiv von den Bürgerinnen und Bürgern zu gestaltende Zukunft ihres Landes und damit um gemeinschaftsproduktive Kräfte. Gleichzeitig wollen sie die Vielfalt von Lebensformen in postmoderner Gesellschaft fördern: »Wir brauchen neue Gemeinschaften, in denen die Menschen Wahlmöglichkeiten haben, die genug Raum für divergente Subgemeinschaften bieten und doch gemeinsame Bande aufrechterhalten.«197
In neueren Veröffentlichungen betonen kommunitaristische Gruppierungen, dass ihr am Gemeinwesen orientiertes Denken mit einer politisch liberalen Grundhaltung zu vereinbaren ist. Sie wollen damit dem Verdacht entgegentreten, eine politisch konservative Grundhaltung zu vertreten. We »should combine a spirit of liberation and a quest for social justice, with responsible participation in effective communities.«198
Als Beispiel für liberale Werte nennt der amerikanische Soziologe und Jurist Philip Selznick equality, liberty and rationality. Bellah und Etzioni fragen, wie 196 Vertreter des ersten Paradigmas wollen die grösstmögliche individuelle Autonomie, Vertreter des anderen eine möglichst dichte soziale Ordnung. Etzioni erarbeitet in den ersten beiden Kapiteln von Die Verantwortungsgesellschaft, 1997, 25–91, eine sozialphilosophische Grundlegung beider Paradigmata. Man kann verschiedene Begriffe für die einander entgegengesetzten Paradigmata verwenden. Charles Taylor beispielsweise spricht nicht von ›rationalistisch-individualistischem‹ und ›sozialkonservativem‹ Paradigma, sondern von einer »Atomismus-Holismus-Debatte«, siehe Taylor, Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus, in: Honneth (Hg.), Kommunitarismus, 103–130, 108. 197 Etzioni, Die Entdeckung des Gemeinwesens, 1995, 144. 198 Selznick, Foundations of Communitarian Liberalism, in: Etzioni (ed.), The Essential Communitarian Reader, 1998, 3–13, 3.
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eine solche Übernahme von Verantwortung für ein Gemeinwesen entstehen kann. Wie generiert sie sich? Man kann eine Übernahme von Verantwortung nicht verordnen und nicht einfordern. Sie generiert sich aus tief liegenden Quellen. Ich beziehe mich im Folgenden auf Veröffentlichungen von Bellah und Etzioni.199 Gemeinschaftsbildung hat für beide wesentlich mit überschaubaren gesellschaftlichen Gruppierungen zu tun. In ihnen bildet sich Ich–Identität. »In kleinen Gruppen, in denen jeder fühlt, dass von seinen Handlungen viel abhängt und in denen jeder lernt, eigenverantwortlich zu handeln, statt sich in der Anonymität der Masse zu verlieren, entstehen soziale Muster, die nahezu mit Gewissheit die Entwicklung von Individualität gewährleisten.«200
Ähnlich lautet die These des Politikwissenschaftlers Charles Taylor in Quellen des Selbst: Die Moderne hat Taylor zufolge vergessen auf welchen Grundlagen sich die Ich–Identität ihrer Bürgerinnen und Bürger bildet.201 Kommunitaristen nehmen durchaus wahr, dass dem Engagement in überschaubaren Gruppierungen auch Gefahren innewohnen. Eine Gefahr bestehe vor allem darin, dass partikulare Loyalitäten gepflegt werden: »The word ›community‹ leads a double life. It makes most people feel good, associated as it is with warmth, friendship, and acceptance. But among academics the word arouses suspicion. Doesn’t community imply the abandonment of ethical universalism and the withdrawal into closed particularistic loyalities?«202
3.4.2 Nostalgie als Gefährdung des Kommunitarismus Werden partikulare Loyalitäten gepflegt, kann die Erfahrung von Gemeinschaft nostalgisch werden. Bellah beschreibt Nostalgie als ein psychologisches Placebo.203 Kritiker des Gemeinschaftlichen würden dazu tendieren, einen weitgehenden Konsens über Werte und Ziele in Gemeinschaften anzunehmen. Solch ein Konsens sei nicht wünschenswert sondern bloss nostalgisch.204 Zustimmung sollte es vielmehr in substanziellen Fragen geben. Ansonsten sind Gespräch und Konflikt wesentliche Aufgaben eines Gemeinwesens: 199 Bellah u. a., Gewohnheiten des Herzens, 1987; Etzioni, Die Entdeckung des Gemeinwesens, 1995; Etzioni, Jenseits des Egoismus-Prinzips, 1994; Etzioni, Die Verantwortungsgesellschaft, 1997. 200 Ein von Etzioni dem Buch vorangestelltes Karl Mannheim Zitat, in: Die Verantwortungsgesellschaft, 1997 (ohne Seitenzahl). 201 Vgl. Taylor, Quellen des Selbst, 1996, 203. Taylor spricht von einer »moralischen Topographie«; das sind gesellschaftliche Wertvorstellungen, hinter die eine konkrete Gesellschaft nicht zurückgehen kann. 202 Bellah, Community Properly Understood, in: Etzioni (ed.), The Essential Communitarian Reader, 1998, 15–19, 15. 203 Ebd., 15. 204 Ebd., 16.
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»A good community is one in which there is argument, even conflict, about the meaning of the shared values and goals, and certainly about how they will be actualized in everyday life. Community is not about silent consensus; it is a form of intelligent, reflective life, in which there is indeed consensus, but where the consensus can be challenged and changed – often gradually, sometimes radically – over time.«205
Bellah nennt vier Kriterien, an denen sich ein demokratischer Kommunitarismus messen lassen muss. Die Kriterien geben wieder, was Bellah unter einer ›guten Gesellschaft‹ versteht. Er will die Verschiedenheit von Menschen in einer pluralistischen Gesellschaft wahrnehmen und ihr gerecht werden. ➤
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Ein erstes Kriterium ist die Besonderheit des Einzelnen. Bellah spricht von der »Heiligkeit« der Einzelnen.206 Sie gründet in einer Wahrnehmung des Menschen, die der biblischen Religion verpflichtet ist und die Gottesebenbildlichkeit jedes Menschen glaubt. Der zweite vorausgesetzte gesellschaftliche Wert ist Solidarität. ›Ergänzende Verbindungen‹ (original: complementary associations) nennt Bellah den dritten Wert und meint den Willen zur Variabilität in sozialen Beziehungen. Es gibt eine Vielzahl von weiteren Gesellungsformen. Gemeinschaften lösen diese nicht ab, sondern lassen sie gelten. Das vierte Kriterium für einen gelingenden Kommunitarismus besteht in der Annahme, dass die Partizipation am Gemeinwesen sowohl Recht als auch Pflicht ist.207
Worin liegt der Gewinn des Rekurses auf Bellah und Etzioni? Beide fragen nach gemeinschaftsproduktiven Kräften in der amerikanischen Gesellschaft. Auch die Frage nach Gemeindeentwicklung mit mobilen Menschen ist eine Frage nach gemeinschaftsproduktiven Kräften – nach Sozialverhältnissen, die eine Beteiligung von Menschen mit sehr verschiedenen Lebensformen ermöglichen. Kommunitaristen achten auf werthafte und emotionale Bindungen, deren Existenz nicht behauptet, sondern entdeckt werden muss.208 Das ist die Vorstellung von der Besonderheit der Einzelnen, vom Wert der Solidarität und von der Komplementarität sozialer Beziehungen.209 205 206 207 208 209
Ebd., 16. Bellah, Community Properly Understood, 1998, 18. Ebd., 18–19. Das wird entfaltet in Kap. I.3.6.1 Freilegen, was die Tradition bereithält. Andere Kriterien bietet Amy Gutmann an: »Während die gute Gesellschaft für die früheren Kritiker eine Gesellschaft des kollektiven Eigentums und der politischen Gleichheit war, zeichnet sich die gute Gesellschaft für die neuen Kritiker durch tiefverwurzelte Traditionen und festgegründete Identitäten aus.« In: dies., Die kommunitaristischen Kritiker des Liberalismus, in: Honneth (Hg.), Kommunitarismus, 1993, 68–83, 68.
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3.5
Zum Verhältnis von Eigeninteresse und sozialer Verpflichtung
Etzioni will »eine neue Sichtweise des Menschen und der Gesellschaft« begründen.210 Individuen meinen zwar rational zu handeln, aber ihr Handeln ist zutiefst von ihrer Verwurzelung in einer – im besten anzunehmenden Falle – gesunden und moralisch stabilen Gemeinschaft abhängig. Dieses Verhältnis von Einzelnem und Gemeinschaft nennt Etzioni das Ich+Wir-Paradigma. Es ist entstanden im Dialog zwischen rationalistisch-individualistischem (neoliberalem) und sozialkonservativem Paradigma. Mit diesen Paradigmata sind zwei sozialphilosophische Positionen benannt.
3.5.1 Neoliberales und sozialkonservatives Paradigma Das neoliberale Paradigma ist dem eigenen Nützlichkeitsdenken verpflichtet und Ausdruck einer untersozialisierten Sichtweise. Untersozialisiert meint das Zugeständnis, dass der Einzelne vorrangig im Blick auf seine eigenen Interessen entscheidet. Das sozialkonservative Paradigma sieht den Einzelnen als moralisches Mangelwesen an. Der Einzelne braucht starke Autoritäten, die ihn in seinem Handeln anleiten. Eine derartige Meinung ist Ausdruck einer übersozialisierten Sichtweise. Etzioni sieht das sozialkonservative Paradigma bereits im Denken von Durkheim und Parsons vorausgesetzt: »Durkheim vertrat die Ansicht, dass die Moral ein System von Regeln und Werten sei, das von der Gesellschaft entwickelt werde und in ihrer Kultur eingebettet sei, und dass jedes einzelne Kind diese als Teil der Kultur überliefert bekomme.«211
Für den US-amerikanischen Soziologen Talcott Parsons werden die Handlungen der Individuen nach ihrem Beitrag zur sozialen Ordnung bewertet.212 Parsons und Durkheims Konzepte unterscheiden sich zwar. Gemeinsam ist ihnen: »Diese Konzepte […] sind Ausdruck der Vorstellung von einer starken Gemeinschaft (die auf einem letztgültigen Wertsystem beruht und eng verwobene Sozialbeziehungen hat) und einem mächtigen Staat (um die Einhaltung der Werte der Gemeinschaft zu sichern).«213
Etzioni versteht das von ihm entworfene Ich+Wir-Paradigma als Synthese dieser beiden Paradigmen. Damit verkennt er Merz-Benz zufolge seine eigene Leistung. Er verkennt, dass er ein Paradigma jenseits einer Synthese geschaffen hat. Das 210 211 212 213
Merz-Benz, a. a. O., 29. Etzioni, Jenseits des Egoismus-Prinzips, 1994, 29. Etzioni, Die faire Gesellschaft, 1996, 31. Ebd., 31.
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Ich+Wir Paradigma steht laut Merz-Benz nämlich jenseits des Dialogs zwischen dem neoklassischen und dem sozialkonservativen Paradigma.214 »Im Ich+Wir Paradigma ist nichts Geringeres vorgedacht als die Möglichkeitsbedingung der Vermittlung von Individuum und Gesellschaft, die Grundbestimmung von Sozialität, auf die hin über den Begriff des Eigeninteresses ebenso wie über denjenigen der sozialen Verpflichtung erst sinnvoll befunden werden kann.«215
3.5.2 Die relative Entscheidungsrationalität Etzioni entwirft ein neues Paradigma, indem er den Begriff der relativen Rationalität einführt. Etzionis Argumentation lässt sich hier nur in starker Verkürzung wiedergeben. Individuen sind den »normativen Verpflichtungen und affektiven Beziehungen« der Gemeinschaften ausgesetzt, deren Glieder sie sind.216 Die normativ-affektiven Faktoren wirken auf die Entscheidungsrationalität des Einzelnen und machen sie zu einer relativen Entscheidungsrationalität. Wird also die Entscheidungsrationalität des Einzelnen durch sein Eingebundensein in Gruppen und Gemeinschaften relativiert? Nein, es geschieht mehr und wesentlich anderes: Die normativ-affektiven Faktoren bestimmen über die Entscheidungen von Menschen. Etzioni geht davon aus, dass Menschen zur Maximierung des eigenen Nutzens »zumindest zwei nicht weiter reduzierbare ›Nutzen‹ verfolgen und zwei Bewertungsmassstäbe haben: Vergnügen und Moral«.217 Der Einzelne wählt seine Mittel aufgrund von Emotionen und Werten. Damit bekommen Entscheidungsfindungen einen vorrationalen Charakter. Die Bestandsvoraussetzungen einer Gemeinschaft führen ihre Glieder zu gemeinsamen Entscheidungen und zu gemeinsamem Handeln, ohne einen rationalen Diskurs um Einverständnis oder Zustimmung ihrer Glieder vorauszusetzen: »Die Hauptthese, die hier aufgestellt wird, lautet: (1) Der Grossteil aller von Menschen getroffenen, auch ökonomischen Entscheidungen beruht vollständig oder in grossem Masse auf normativ-affektiven Erwägungen; dies nicht nur im Hinblick auf die Wahl von Zielen, sondern auch auf die Wahl von Mitteln.«218
Etzioni zufolge sind Handlungen dann moralisch richtig, wenn sie einem bedeutsamen Grundsatz oder einer Pflicht entsprechen, ohne dabei die Konsequenzen des Handelns zu reflektieren.219 214 215 216 217 218 219
Merz-Benz, a. a. O., 30. Ebd., 30. Etzioni, Jenseits des Egoismus-Prinzips, 1994, 179. Ebd., 24. Ebd., 180. Merz-Benz, a. a. O., 32. Zur Diskussion dessen, was eine ›gute Gesellschaft‹ auszeichnet, was
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»Die Moralität einer Handlung bemisst sich weder nach ihren Zielen, noch nach ihren Folgen; was zählt ist einzig die allem Handeln voranstehende Wahrnehmung der in und mit den Gemeinschaften gegebenen moralischen Pflichten.«220
Es sind die in und mit den Gemeinschaften gegebenen moralischen Pflichten, die auf die Entscheidungsrationalität der Einzelnen wirken. Worin gründen die in Gemeinschaften gegebenen moralischen Pflichten? Die Grundlagen unseres Wissens liegen in der besonderen Kultur, der ein Mensch angehört. »Insofern sind die Grundlagen unseres Wissens – wie Etzioni gleich anfügt – ›beyond the scope of deductive and inductive reasons […] neither rational nor irrational but rather nonrational‹ […].«221
Unser Denken und unsere Wirklichkeitsauffassung sind kulturell vermittelt. Die Wirklichkeitsauffassung einer Gemeinschaft ist vorrational begründet. Sie besteht in werthaften und emotionalen Bindungen und repräsentiert die Charakterzüge einer bestimmten Kultur. Die Wirklichkeitsauffassung jeder Gemeinschaft wird nicht nur kulturell vermittelt. Sie wird durch die Kultur konstituiert.
3.6
Gemeinschaften erneuern sich im Vollzug des Erinnerns
Gemeinschaften werden durch ihre Geschichte konstituiert und dadurch, dass die Beteiligten ihre Geschichte wieder und wieder erzählen: »Communities, in the sense in which we are using the term, have a history – in an important sense they are constituted by their past – and for this reason we can speak of a real community as a ›community of memory‹, one that does not forget its past. In order not to forget its past, a community is involved in retelling its story, its constitutive narrative, and in so doing, it offers examples of the men and women who have embodied and exemplified the meaning of the community.«222
Worauf es ankommt ist, die Gemeinschaften ihre »stories of the collective history and exemplary individuals« erzählen zu lassen. Dadurch erfahren sich Menschen erneut – oder überhaupt erst – als ›ausgebildet‹ [constituted], als in und mit den Gemeinschaften geworden. Was für die Menschen daraus resultiert, ist eine »umso ›tiefere Identifikation‹ mit sich als Person.«223 Wir halten fest: Im Prozess des Erinnerns geschieht es, dass Menschen sich als »in und mit den Gemein-
220 221 222 223
bedeutsame Grundsätze in kommunitaristischen Gesellschaftstheorien sind, finden sich Anregungen bei Amy Gutmann und Rainer Forst. Vgl. dies., in: Honneth (Hg.), Kommunitarismus, 1993, 73f, 184f. Ebd., 32. Ebd., 32. Merz-Benz, a. a. O., 35, zitiert Bellah et al., Habits of the Heart, 1986, 153. Ebd., 35.
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schaften geworden« erfahren.224 Damit ist eine gute Formulierung dafür gefunden, dass Menschen ihre Zugehörigkeit als selbstverständlich erfahren, indem sie sich selbst als ›geworden‹ verstehen. Damit ist auch der Koordinationsmechanismus von Gemeinschaften beschrieben. Der Koordinationsmechanismus von Gemeinschaften besteht in der Reziprozität ihrer Glieder.225 Weitere Überlegungen lassen sich daran knüpfen, dass es bei Bellah um das Erzählen von Geschichten (»stories«) im Plural geht. Die (kleinen) Geschichten erzählen von exemplarischen Menschen und der einen gemeinsamen Geschichte (»history«).226 3.6.1 Freilegen, was die Tradition bereithält Bellah und seine Gruppe wirken an den Selbst-Erzählungen von Gemeinschaften in der amerikanischen Gesellschaft mit, indem sie durch historisch-sozialwissenschaftliche Forschung bestimmen und freilegen, »was die Tradition an vorbildhaften Verkörperungen dessen, was Gemeinschaft sein kann, bereithält.«227 Das sind in Bellahs Fall biblische und republikanische Traditionen. »Diese Traditionen verhelfen uns zu dem Wissen, dass es in der Tat einen Unterschied macht, wer wir sind und wie wir unsere Mitmenschen behandeln.«228
Was Bellah vorfindet, nennt er Good Society. Er meint, dass die Good Society in den verschiedensten Bereichen des amerikanischen Zusammenlebens noch da sei. Und sie soll in den unterschiedlichsten Konkretionen »zur Konstituente unseres Handelns aufrücken«.229 Wir halten fest, dass Gemeinschaften eine Geschichte haben und sich im Erzählen ihrer Geschichte regenerieren und weiter entwickeln. In diesem Prozess des Erzählens findet Institutionalisierung statt. Eine Erzählgemeinschaft stabilisiert sich als Erinnerungsgemeinschaft – und umgekehrt. Weitere Formen der Institutionalisierung sind beispielsweise die Verschriftlichung der Ursprungsgeschichte und die Ausbildung von festen Handlungen und Ritualen.
224 Ebd., 35. 225 Krech u. a., a. a. O., 57. 226 Vgl. Kap. V.1.1.1 Erfolg und Misserfolg von Grosserzählungen. Auch Wirtschaftsunternehmen nutzen mittlerweile die Kraft von Narrativen, siehe Thier, Die Entdeckung des Narrativen für Organisationen, 2004. Dabei gründen Organisationen von ihrem Wesen her gerade nicht auf Narrativen. 227 Merz-Benz, a. a. O., 35. 228 Bellah u. a., Gewohnheiten des Herzens, 1987, 320. An anderer Stelle spricht Bellah noch von einer dritten, einer »individualistischen Tradition«. Ebd., 52 und 58. 229 Merz-Benz, a. a. O., 35.
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Mobilität, Postmoderne und das Wesen von Gemeinschaft
3.6.2 In Gemeinschaften bilden Menschen eine zweifache Identität aus Einzelne, die an einer Gemeinschaft teilhaben, lernen beides: eine Sprache, die ihnen hilft, sich als selbstbewusstes Individuum zu definieren, und eine Sprache, die Loyalität gegenüber der Gemeinschaft ausdrückt und die Gemeinschaft stabilisiert. Erst in Gemeinschaften wird eine Identität ausgebildet, die auch hilft, sich von einer Gemeinschaft zu distanzieren. »Menschen erfahren sich aber nicht nur dadurch als in Gemeinschaften ›ausgebildet‹, indem sie deren Erzählungen hören. Sie erlernen durch die Teilnahme an den (noch) bestehenden gemeinschaftlichen Lebensformen darüber hinaus eine ›zweite Sprache‹ neben der ersten Sprache, der Sprache des selbstbewussten Individuums. Gemeinschaft wird gelebt in ›rituellen, ästhetischen und ethischen Bräuchen‹ (practises), und diese wiederum definieren ›the patterns of loyality and obligation‹ that keep the community alive‹.«230
Bellah spricht vom Erlernen zweier Sprachen und bezeichnet damit ein zweifaches Ausbilden von Identität.231 Die erste Sprache, die Menschen in Gemeinschaften lernen, ist die des selbstbewussten Individuums. Die zweite Sprache ist die der Erinnerungsgemeinschaften und ihrer Loyalitäts- und Verpflichtungsmuster: die des ausgebildeten Selbst. Über diese zweite Sprache sagt Merz-Benz: »Wer diese Muster kennt, der vermag sich auch in der sozialen Wirklichkeit jenseits des individualistischen Handelns zurechtzufinden. Die Sprache der Tradition und der Bindungen in Erinnerungsgemeinschaften ist eine Sprache, die immer schon da ist, die wir uns im Zuge von Sozialisationsprozessen ebenso aneignen, wie sie uns gleichsam angeeignet wird und die wir ganz selbstverständlich dann gebrauchen, ›when the language of the radically seperate self does not seem adequate.‹«232
Mit dem Erlernen der Sprache einer Erinnerungsgemeinschaft wird ein übertragbares Wissen erworben. Das Erlernen der zweiten Sprache »erschöpft sich nicht im Hineinleben in vorgegebene traditionelle Gemeinschaften«. Loyalitätsund Verpflichtungsmuster sind auf Gemeinschaften verschiedenster Art übertragbar.233 Es gibt kein leeres Selbst, das heisst kein nicht-ausgebildetes Selbst. Jede und jeder ist unter anderem Kind seiner Eltern und ihrer bzw. seiner Herkunft. Menschen werden durch die Gesellschaft, in der sie leben, aber ständig aufgefordert, sich neu zu definieren. 230 Merz-Benz, a. a. O., 36, zitiert Bellah et al., Habits of the Heart, 1986, 154. In ›Gewohnheiten des Herzens‹ steht die zitierte Passage auf Seite 186. 231 Zur »zweiten Sprache« siehe Bellah, Gewohnheiten des Herzens, 1988, 186 (im Original 154). In Praktische Theologie (2012) spricht Grethlein von einer primären und einer sekundären Religionserfahrung. Vgl. Grethlein, Praktische Theologie, 2012, 184. 232 Merz-Benz a. a. O., 36, zitiert Bellah et al., Habits of the Heart, 1986, 154. In der deutschen Fassung auf Seite 186. 233 Ebd., 36.
Gemeinschaft in soziologischer Perspektive
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»Auch das ausgebildete Selbst ist ein theoretisches Konzept, eine Grenze, die nie ganz zu erreichen ist. Es ist wahr, dass wir alle Kinder besonderer Eltern sind; wir warden an einem ganz bestimmten Ort geboren, erben ganz spezielle Gruppengeschichten und sind Bürger dieser Nation. All diese Faktoren formen und zweifellos zu denen, die wir sind. Aber wir leben in einer Gesellschaft, die uns drängt, uns von unserer Vergangenheit zu befreien, unser eigenes Selbst zu definieren, die Gruppen zu wählen, mit denen wir uns identifzieren wollen.«234
Wir leben Bellah zufolge in der Spannung zwischen einem ›leeren‹ Selbst, das gefordert ist, sich zu entwerfen, und einem (durch die Teilhabe an gemeinschaftlichen Zusammenhängen) ausgebildeten Selbst. Bellah beschreibt beispielhaft, wie die Aufforderung zum Selbstentwurf in der amerikanischen Kultur aussieht. Es wird etwa erwartet, dass die Einzelnen ihr Zuhause verlassen (»Leaving Home«), eine Kirche und eine Arbeit finden, in der sie sich verwirklichen und sich Lifestyle-Enklaven suchen.235 Durch die kritische Spannung zwischen dem sich selbst entwerfenden und dem ausgebildeten Selbst werden sowohl das Selbst als auch die Gemeinschaften lebendig gehalten. Das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft – und damit auch die Vermittlung von individualistischen und gemeinschaftlichen Lebensformen – sind als hochgradig dynamische Verhältnisse zu denken. »Wer nun aber das kritische Potenzial, das in dieser Spannung liegt, auszuschöpfen sucht […], der kommt nicht umhin, die Vermittlung von individualistischen und gemeinschaftlichen Lebensformen und darin eingeschlossen die Vermittlung von ausgebildetem und leerem Selbst als Möglichkeitsbedingung immer schon vorauszusetzen. Dieses Apriori der Sozialität wird allerdings – wie bei Etzioni – auch bei Bellah und seiner Gruppe nirgends zum Thema gemacht.«236
3.6.3 Erinnerungsgemeinschaften sind ein kritisch-transformatives Potenzial von Gesellschaften Erinnerungsgemeinschaften sind Gestaltungsprinzipien sozialer Realität, weil sie ein Potenzial an Loyalitäts- und Verpflichtungsmustern bergen. Diese Muster werden von den Teilhabenden nicht einfach ›übernommen‹; sie erhalten vielmehr das Selbst der Einzelnen lebendig.237 Und mehr als das: Erinnerungsgemeinschaften sind ein kritisch-transformatives Potenzial von Gesellschaften. Die Erneuerung von Gesellschaften geschieht wesentlich aus dem Geiste von Erinnerungsgemeinschaften. Dabei geht es Bellah und den amerikanischen Kom234 Bellah u. a., Gewohnheiten des Herzens, 1988, 187. 235 Bellah et al. führen das a. a. O. in Kapitel 3 (›Finding Oneself‹/ im deutschen ›Identitätssuche‹) aus. 236 Merz-Benz, a. a. O., 37. 237 Vgl. den vorangehenden Abschnitt I.3.6.2.
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Mobilität, Postmoderne und das Wesen von Gemeinschaft
munitaristen nicht um eine Wiederherstellung vergangener Verhältnisse, nicht um eine »erneute moralische Inpflichtnahme des Individuums durch die Gemeinschaft oder gar um die Wiedereinführung traditioneller Werte«.238 Eine Angst mancher amerikanischen Bürgerinnen und Bürger besteht laut Bellah darin, dass eine erneute moralische Inpflichtnahme zur Bedrohung der Privatsphäre und der persönlichen Freiheit wird.239 Es gehe vielmehr darum, Traditionen, die sich selbst erneuern und entwickeln, wieder zu entdecken. »Es gilt, das Potenzial an Gemeinschaftlichkeit, wie es in den Loyalitäts- und Verpflichtungsmustern von Gemeinschaft(en) enthalten ist, auszuschöpfen zuhanden der fortwährenden Generierung sozialer Strukturen.«240
Gesellschaft erscheint als »ein Geflecht unauflöslicher Wechselbeziehungen«, die sich verobjektivieren und Verhaltensmuster ausbilden.241 In solchen Wechselbeziehungen bilden Gemeinschaften neben den individualistischen Formen des Zusammenwirkens die Konstituenzien solcher Wechselbeziehungen. Zwischen diesen Konstituenzien das Gleichgewicht herzustellen, versteht Bellah als Aufgabe der sozialen Ökologie. Erinnerungs- und Erzählgemeinschaften sind Orte der sozialen Ökologie. An ihnen erneuert sich die soziale Wirklichkeit. »In diesem Kontext, Wechselbeziehungen institutionalisierend, wieder umbildend, Anschlüsse zwischen ganzen Komplexen objektivierter Wechselbeziehungen erstellend, entfalten die Erinnerungsgemeinschaften als Gestaltungsprinzipien sozialer Realität ihre Wirkung. Erinnerungsgemeinschaften sind nichts anderes als Möglichkeitsbedingungen zur Konstituierung der Sozialverhältnisse, durch die Realität vermittelt und in ihr, im Handeln der Menschen und mithin prinzipiell der Reflexion zugänglich, auch eingesetzt. Erinnerungsgemeinschaften zum Erzählen zu bringen, ihre Sprache zu pflegen bedeutet das Präsenthalten des Gemeinschaftlichen als Repertoire dessen, was die soziale Wirklichkeit für uns, die wir sie in unserem Handeln fortwährend hervorbringen, (auch) sein kann.«242
238 Merz-Benz, a. a. O., 38. 239 Etzioni, A Moral Reawakening Without Puritanism, in: The Essential Communitarian Reader, 41–46, 1998, 41. 240 Merz-Benz, a. a. O., 38. 241 Ebd., 38. 242 Ebd., 38.
Gemeinschaft in soziologischer Perspektive
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Zusammenfassung und Ausblick
In soziologischer Perspektive ist eine Gemeinde ein gemeinschaftliches Artefakt, das sich wie jedes andere Artefakt konstituiert:243 ➤
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Menschen, die sich als Mitglieder einer Gemeinde verstehen, haben an einer gemeinsamen Auffassung der Wirklichkeit teil. Diese gemeinsame Auffassung ist nicht das Ergebnis eines rationalen Verhandlungsprozesses. Sie ist vorrational bestimmt und trägt die Charakterzüge einer bestimmten Kultur und Geschichte. Die normativ-affektiven Faktoren der Wirklichkeitsauffassung zu reflektieren, ist dabei nicht Sache der Soziologie sondern der Theologie. Wir-Gefühle zwischen den Gemeindegliedern sind nicht zweckrational begründet. Sie entspringen einem ›Willen‹, dem unterschiedliche Motive zugrunde liegen können.244 Das können wertrationale, affektuelle bzw. emotionale und traditionale Motive sein: Menschen können sich einer Gemeinde verbunden fühlen, weil sie in dieser bestimmte Werte verkörpert finden, weil ihre Gefühlswelt angesprochen wird, weil sie in den Traditionen der Gemeinde ihrer eigenen Herkunft ansichtig werden usw. In soziologischer Perspektive konstituiert sich eine Gemeinde in ihrer Praxis als ›Erinnerungsgemeinschaft‹. Gemeinden erneuern sich als Sozialverhältnis, indem ihre Mitglieder in den vielen ›kleinen Geschichten‹ (stories) die sie konstituierende ›grosse Geschichte‹ (history) vergegenwärtigen. Als Erinnerungsgemeinschaft aktualisiert eine Gemeinde den Sinn, den sie als soziales Verhältnis in der und für die Gesellschaft ihrer Zeit hat. Indem eine Gemeinde das Potenzial an Gemeinschaftlichkeit ausschöpft, wie es in ihren eigenen Loyalitäts- und Verpflichtungsmustern enthalten ist, trägt sie zur fortwährenden Generierung der sozialen Strukturen der Gesellschaft bei.245 Im Erinnern erneuern sich die kritisch-transformativen Kräfte. Die Kommunitaristen sprechen von gesellschaftsproduktiven Kräften, der Philosoph Miguel Manzanera spricht vom »Samen einer neuen Gesellschaft«.246 Prozesse des Erinnerns stellen einen Rekurs auf tradiertes Wissen dar.247 Erinnerungsgemeinschaften sind zwangsläufig Wissensgemeinschaften – eine in postmoderner Gesellschaft keineswegs banale Beobachtung. Später werden
243 Tönnies nannte die Weisen, in denen Gemeinschaften als geschichtlich existierende gedanklich vorgestellt oder in ihren Erscheinungsformen wahrgenommen werden, Artefakte. Vgl. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 1979 (1935), 182. 244 Vgl. Kap. I.3.2.2 Gemeinschaft schliesst ein zweckrationales Wollen aus. 245 Merz-Benz, a. a. O., 38. 246 Manzanera, a. a. O., 16. 247 Vgl. Frettlöh, Heilsame Zueignung, in: Hirzel u. a. (Hg.), Der Heidelberger Katechismus – ein reformierter Schlüsseltext, 2013, 57–82, 63.
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wir besprechen, wie Prozesse gemeinsamen Erinnerns und Erzählens sich verändern, wenn die Kirche als Institution – verstanden als Verfestigung von Sinngehalten – an Bedeutung verliert.248 Als Mitglieder einer Gemeinde bilden Menschen eine zweifache Identität aus. Sie bilden ihr selbstbewusstes Ich, das zum immer neuen Selbst-Entwurf fähig ist. Sie bilden ausserdem ein den Loyalitätsmustern der Gemeinde verpflichtetes (›ausgebildetes‹) Ich. In der Gemeinde erst wird eine Identität gebildet, die es möglich macht, sich von der Gemeinde und ihren Loyalitätsund Verpflichtungsmustern zu distanzieren. Durch die kritische Spannung zwischen dem sich selbst entwerfendem und dem ausgebildetem Selbst werden sowohl die Einzelnen als auch die Gemeinde [sic!] lebendig gehalten. Es besteht ein dauerhaft dynamisches Verhältnis zwischen den Einzelnen und der Gemeinde. Die Vorstellung von der Besonderheit der Einzelnen, von der Solidarität und von der Komplementarität sozialer Beziehungen sind für die Kommunitaristen wichtige anthropologische Kriterien in Prozessen der Gemeinschaftsbildung. Es sind Vorstellungen vom Menschen, die dem Miteinander in einer Gemeinde zugrunde liegen.
Gemeinschaftshandeln als gesellschaftliche Praxis
Wer in postmoderner Gesellschaft Gemeinschaft stiften will, trifft mit einiger Wahrscheinlichkeit auf Vorbehalte. Das hat zum einen mit Geschichtserfahrungen und hier wiederum mit der deutschen Geschichte zu tun. In Deutschland haben sich totalitäre Gesellschaftssysteme wiederholt in einen Gemeinschaftsgeist gekleidet.249 Gemeinschaft wurde funktionalisiert, auch wenn es zu ihrem Wesen gehört, kein zweckrationales Bündnis zu sein. Auf die menschenverachtenden Inhalte des Nationalsozialismus wird an dieser Stelle nicht eingegangen. Nach der deutschen Teilung 1949 wurden im sozialistischen Osten Begriffe für nahe soziale Verhältnisse erneut politisch besetzt. Beispielsweise war ›Freundschaft‹ der Pioniergruss der DDR-Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend (FDJ). Mit einem neuen sozialistischen Gemeinschaftsgeist meinte man, den alten faschistischen Geist bekämpfen zu können.250 248 Kap. III.3.1 Der Bedeutungsverlust der Kirche als Institution. 249 Eine vielschichtige Untersuchung zum nationalsozialistischen Gemeinschaftsgeist bietet Utz Maas. Die ökonomischen Verhältnisse in Deutschland hatten ihre eigene Dynamik. Gleichzeitig wurden traditionelle Ordnungsvorstellungen entwertet, ohne dass neue, gewachsene Ordnungsvorstellungen an ihre Stelle getreten waren. Maas, Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand, 1984, 170–172. 250 Strobel, Jugend und neue soziale Gemeinschaft, in: interjuli (Nr. 1), 2010, 41–61.
Gemeinschaftshandeln als gesellschaftliche Praxis
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Ich werde vier Aspekte eines Gemeinschaftshandelns in heutiger Gesellschaft besprechen. Es handelt sich um Klärungen, zum Teil auch um eine Auseinandersetzung mit Vorbehalten gegenüber einem Gemeinschaftshandeln bzw. gegenüber einem Gemeinschaftshandeln der Kirche.
4.1
Nicht Unverbindlichkeit, sondern selbst gewählte Verbindlichkeit
Wer heute ein Gemeinschaftshandeln in den Vordergrund rückt, scheint ein gesellschaftliches Defizit zu empfinden. Die postmoderne Gesellschaft wird mit früheren, angeblich ›besseren‹ Zeiten verglichen.251 Der soziale Zusammenhalt sei stärker gewesen und durch einen zunehmenden Individualismus und einen damit verbundenen Egoismus ersetzt worden. Der Soziologe Ulrich Beck stellt in seiner Gesellschaftsanalyse die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts als einen »Individualisierungsprozess von bisher unerkannter Reichweite und Dauer« dar: »[Beck] macht die Gründe verantwortlich, die wir schon ganz gut kennen: die Mobilität, die die Funktion der Nachbarschaften herabsetzt; die Übernahme sozialer Verpflichtungen durch den Staat, die gemeinschaftliche Solidarität ersetzt; Aufstiegs- und Konkurrenzorientierungen, die zur Vereinzelung führen; die Anonymisierung infolge der Verstädterung«.252
Schlamelcher spricht zurückhaltender als Beck von einem Erosionsprozess von Gemeinschaftsformen in der Moderne. Die Befriedigung von Bedürfnissen, die ehemals Gemeinschaften oblag, wird nun in andere soziale Beziehungen hineinverlagert: »Individuen sind nun nicht länger durch die in Gemeinschaften erzeugten Konformitätszwänge gebunden; allerdings wird diese ›Freiheit‹ erkauft durch die Aufgabe von Bedürfnissen, die im Kontext von Gemeinschaften befriedigt werden: soziale Absicherung […] und Geselligkeit, die nun primär am Arbeitsplatz stattfinden muss.«253
Gemeinschaften haben in öffentlicher Wahrnehmung an Einfluss verloren, fest geglaubte Strukturen scheinen relativiert und ihre Halt gebende Kraft verloren zu haben. Diesem Befund lässt sich kaum ausweichen. Es ist aber nicht zwingend, das negativ zu bewerten. Anstatt von Zerfall und Verlust zu reden, lässt sich fragen, wie denn in einer postmodernen Gesellschaft nahe soziale Verhältnisse entstehen und Menschen Zugehörigkeit erfahren. 251 Einen Orientierungsverlust bei jungen Menschen sieht beispielsweise der Theologe Folkart Wittekind in: ders., Verlust des Ich?, in: Grözinger/Pfleiderer (Hg.) ›Gelebte Religion‹ als Programmbegriff, 2002, 131–159, 131–132. 252 Lohauß, Moderne Identität, 1995, 147, zitiert Beck, Jenseits von Klasse und Stand?, 1983. 253 Schlamelcher, Kirchliche Vergemeinschaftungsformen, in: Evangelische Theologie 6/2010, 439–450, 444.
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4.1.1 Menschen profitieren von den Resten traditionaler Gemeinschaften Dabei scheint eine Beobachtung wichtig zu sein: Menschen können in einer postmodernen Gesellschaft von den Restbeständen traditionaler Gemeinschaften profitieren, ohne sich dessen bewusst zu sein. Wer durch postmoderne Individualisierungsprozesse vor allem einen Zugewinn an Freiheit erfährt, der erlebt diesen Zugewinn möglicherweise auf dem Hintergrund von noch vorhandenen Sicherheiten. Konkret gesagt: Wer sich einer Solidargemeinschaft und damit seiner Rente sicher ist, kann neue Freiheiten unbeschwert geniessen. Der Sozialphilosophen Oskar Negt beobachtet: »Die gegenwärtigen Flexibilisierungsstrategien zehren davon, dass es heute noch sozialisationsgeschützte Räume gibt, in denen identitätsfähige Menschen sich bilden können. Denn der flexible Mensch, der seine kreativen Potenziale gesellschaftlich einbringen kann, bedarf der Unflexiblen, absolut verlässlichen und von Betriebszeiten unberührten Orte und Zeiten.«254
Postmodern im eigentlichen Sinne leben diejenigen Menschen, die sich in ihren Unwägbarkeiten und Entscheidungen nicht durch noch vorhandene gesellschaftliche Absicherungen stützen lassen. Ansonsten sollte man vielleicht besser von einem scheinbar postmodernen Leben sprechen. 4.1.2 Selbst gewählte Verbindlichkeit als Kennzeichen postmoderner Lebensführung Wir haben gesagt, dass das Subjekt der Postmoderne den eigenen Standpunkt, das eigene Gewissen und die eigene Biographie zum Mass aller Dinge erhebt.255 Bellah formuliert folgendermassen: »Wenn die eigene Persönlichkeit die einzige Quelle der moralischen Orientierung sein kann, dann muss das Individuum jederzeit wissen, was es will und wünscht oder unmittelbar erkennen, was es fühlt. Es muss handeln, um die grösstmögliche Befriedigung seiner Wünsche zu erreichen oder um seine Impulse in vollstem Umfang auszudrücken. Die objektive moralische Güte eines Winthrop, der Gottes Willen gehorchen, oder eines Jefferson, der den natürlichen Gesetzen folgen wollte, verwandelt sich in den subjektiven Wert, zu bekommen, was man will und es zu geniessen. Nutzen ersetzt Pflicht und Selbstausdruck Autorität. ›Gut sein‹ wird zu ›sich gut fühlen‹.«256
In einer postmodernen Gesellschaft verlieren moralische Autoritäten, denen man sich selbstverständlich verpflichtet glaubt, an Bedeutung.257 Die Entschei254 255 256 257
Negt, Flexibilität und Bindungsvermögen, in: Meschnig/Stuhr (Hg.), a. a. O., 18. Kehl, Wohin geht die Kirche?, 1996 (4. Aufl.), 28. Bellah u. a., Gewohnheiten des Herzens, 1987, 105. Zum Verlust von ›Selbstverständlichkeiten‹ in moderner und postmoderner Gesellschaft siehe Kap. I.1.1.1 Leben mit Selbstverständlichkeiten.
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dungsrationalität des Einzelnen gründet kaum noch in traditionalen Gemeinschaften, die den Einzelnen qua Zugehörigkeit in seinem Handeln orientieren. Menschen, die einander nicht durch gemeinsame Orientierungen verbunden sind, erfahren sich stattdessen direkt mit der Entscheidungsrationalität des Anderen konfrontiert: »Wird der Andere auch an mich denken, wird er auch mich berücksichtigen?« Der Einzelne kann nicht mehr selbstverständlich davon ausgehen, dass auch an ihn gedacht wird. Die Sorge um den anderen kommt in individualisierten Lebensläufen durchaus vor, aber es handelt sich um eine selbst gewählte Sorge. Der Andere muss sich dafür entscheiden, Verantwortung zu übernehmen. Postmoderne Menschen können dabei einen hohen moralischen Anspruch an sich selbst stellen. Die damaligen Inhaber der New Sign Werteagentur Johannes Goebel und Christoph Clermont zeigen in einem populärwissenschaftlichen Essay an Alltagsbeispielen, dass postmoderne Menschen dazu neigen, ausgesprochen hohe moralische Ansprüche an sich selbst zu stellen. »Wenn jemand zum Beispiel eine kranke Freundin nur deshalb im Krankenhaus besucht, weil er gestern schon wieder den ganzen Tag vor dem Fernseher verbracht und damit sein lebensästhetisches Ideal verletzt hat, kann diese – und jede andere mögliche – Motivation der Freundin […] egal sein. Für sie zählt in erster Linie das positive Ergebnis, endlich einmal Besuch zu bekommen. Ob Altruismus oder Egoismus den Besuch motiviert haben – entscheidend ist, dass für beide ein Mehrwert entstanden ist. Das beruhigte Gewissen des Besuchers und die Freude des Kranken stellen einen Lustgewinn für alle Beteiligten dar. Am besten funktioniert das bei einem möglichst umfassenden Moralpluralismus.«258
Goebel/Clermont folgern, dass es keiner moralischen Übereinkünfte bedarf, damit postmoderne Menschen fair und sorgend miteinander umgehen. So wie Goebel/Clermont argumentiert auch der Praktische Theologe Albrecht Grözinger. Er geht von einer »Koalition von postmoderner Individualisierung und protestantischer Leidenschaft für das unverwechselbare Leben des einzelnen« aus und beruft sich dabei auf die christliche Kultur des Abendlandes.259 »[Es werden] die selbst- und fremdbezogenen Individualisierungsprozesse für das Wachsen eines egoistischen Individualismus verantwortlich gemacht. Nun aber zeigen neuere empirische Studien, […] dass durch die forcierten Individualisierungsprozesse die ›Sorge um uns selbst‹ gerade in Gestalt der ›Sorge um andere‹ auftreten kann – und dies zunehmend auch tut.«260
Individualisierung zeichnet sich nicht durch Unverbindlichkeit, sondern durch selbst gewählte Verbindlichkeiten aus. Die Klage über die Gemeinschaftsfeindlich258 Goebel/Clermont, Die Tugend der Orientierungslosigkeit, 1999, 110. 259 Grözinger, Kirche im Zeitalter der Globalisierung, in: Wechselwirkungen, 2008, 14. 260 Ebd., 13.
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keit der postmodernen Gesellschaft wird dort mit Recht laut, wo Menschen verlässliche Orientierungen erwarten. Postmodern ist nicht ein Mangel an moralischen Imperativen. Postmodern ist der Mangel an allgemeiner Verlässlichkeit, weil Imperative nicht mehr in einer gemeinsamen Orientierung gründen und deshalb auch nicht für jedes Mitglied der Gesellschaft gelten. Ein Mangel an allgemeiner Verlässlichkeit kann als Signatur postmodernen Gemeinschaftssinns gelten. Die Frage bleibt: Wie werden Menschen in ihren Entscheidungen orientiert, wenn in postmodernen Gesellschaften die Orientierung durch traditionale Gemeinschaften zurückgeht? Worin gründet soziologisch gesprochen die Entscheidungsrationalität des Einzelnen? Der Religionssoziologe Roland J. Campiche vertritt in Die zwei Gesichter der Religion die These, dass auch in einer spätmodernen Gesellschaft universale Standards von einer Mehrheit der Bevölkerung geteilt werden.261 Er definiert Standards dabei als Grundformen gemeinsamer moralischer Handlungen. Standards werden funktional begründet – nämlich als sinnvolle, als rationale Gesellschaftsübereinkünfte. Funktional begründete Standards sind nur solange als verlässlich vorauszusetzen, wie ihr Nutzen unmittelbar eingesehen wird.262
4.2
Kann Religion heute ein Gemeinschaftshandeln begründen?
Ist es zulässig, Religion in einer postmodernen Gesellschaft noch als eine Form des Gemeinschaftshandelns zu verstehen? Die Meinungen von Soziologen und Politikwissenschaftlern gehen in dieser Frage auseinander. Der Sozialwissenschaftler und Publizist Meinhard Miegel und die Politologin Stefanie Wahl behaupten, dass die christlichen Konfessionen im Europa des späten 20. Jahrhunderts immer noch stark gemeinschaftsbildend wirken und dass sie die Individualisierung konfessionell gebundener Menschen vermindern.263 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war diese Sichtweise selbstverständlich. Für die Soziologen Émile Durkheim und Max Weber, Georg Simmel und Talcott Parsons war es selbstverständlich, Religion als Gemeinschaftshandeln zu verstehen. »Allein wir haben es überhaupt nicht mit dem ›Wesen‹ der Religion, sondern mit den Bedingungen und Wirkungen einer bestimmten Art von Gemeinschaftshandeln zu tun«.264
Religion ist diesem Ansatz zufolge immer die Angelegenheit eines Kollektivs, ist immer eine Form des Gemeinschaftshandelns. Durkheim definierte in seinem 261 262 263 264
Campiche, a. a. O., 38. Ebd., 42. Miegel/Wahl, Das Ende des Individualismus, 1993, 35. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1964, 317.
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1912 erschienen Aufsatz De la définition des phéno-mènes réligieux den Religionsbegriff: »Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d. h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören.«265
Die soziale Ordnung und die Individuen werden durch Gemeinschaften verbunden, die eine Verpflichtung des Individuums an gemeinsame Normen erzeugen. Religion »versorge soziale Verbände – etwa Gesellschaften – mit kognitiven und praktischen Sinnaussagen« und erfülle damit eine »zentrale gesellschaftliche Funktion«.266 Durkheim definiert religiöse Überzeugungen durch ihren Gemeinschafts- und damit ihren Pflichtcharakter. »Aber diese Verpflichtung kommt natürlich […] daher, dass diese Überzeugung die Angelegenheit einer Gruppe ist, die sie ihren Mitgliedern aufzwingt.«267
Es gilt mit den Mitteln der Wissenschaft die Wirklichkeit zu erreichen, die diese Erfahrung begründet. »Welches diese Wirklichkeit ist: die menschlichen Gruppierungen.«268 Im Mittelpunkt von Durkheims Forschung steht keine Offenbarungswirklichkeit, keine geschichtliche Überlieferung etc., sondern eine vorfindliche und auf ihre gesellschaftlichen Funktionen befragbare Sozialität.
4.2.1 Religion begründet nicht mehr das Gemeinschaftshandeln von gesellschaftlichen Mehrheiten Webers oder Durkheims Setzungen erscheinen in einer Hinsicht als nicht mehr zutreffend für postmoderne Gesellschaften: »Durkheims Prämisse ist es, dass sich Gesellschaften in einem symbolischen System namens Religion selbst beschreiben und deshalb auch ein gesellschaftlich verpflichtender Charakter bestehe.«269
Religion lässt sich überwiegend nicht mehr als Gemeinschaftshandeln gesellschaftlicher Mehrheiten beschreiben. Der Soziologe Armin Nassehi fasst zusammen, dass »Religion keinen motivbildenden Zugang mehr für die Bestimmbarkeit der Welt hat«.270 Religion könne nicht mehr »die Sinngebung des 265 266 267 268 269 270
Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, 1981, 75. Nassehi, a. a. O., 105. Durkheim, a. a. O., 75, in Fussnote 68. Ebd., 15. Wunder, Religion in der postkonfessionellen Gesellschaft, 2005, 27. Nassehi, a. a. O., 116.
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Ganzen zum Gegenstand« haben.271 Religion bildet nicht mehr das »integrative Zentrum moderner Gesellschaften«.272 Damit ist gleichzeitig eine von verschiedenen möglichen Definitionen von Säkularisierung auf den Punkt gebracht: Religion wirkt nicht mehr motivbildend für Mehrheiten. Der Sozialwissenschaftler Edgar Wunder geht weiter und meint, dass Religion überhaupt kein Gemeinschaftshandeln mehr begründet. Sie werde nur noch in den gesellschaftlichen Funktionen wahrnehmbar, die sie für den Einzelnen habe.273 Beispiele dafür, wie Religion auf eine Funktion für den Einzelnen reduziert wird, finden sich dann bei Theologen wie Wilhelm Gräb: Religion helfe dem Einzelnen, sein Selbstverhältnis zu klären. »Sie gehört ins unvordenkliche Innenverhältnis des bewussten Lebens. Dort markiert sie ein konstitutives Moment im subjektiv unmittelbaren, aller Reflexion des Individuums auf sich vorausgehenden Selbstverhältnis.«274
Dieser Sichtweise zufolge hilft die evangelische Kirche vorrangig den Einzelnen zur Lebensdeutung. Die Bedeutung von Religion wird hier von »Sinnbedürftigkeiten« her begründet, die sich »vor allem an den Krisen- und Wendepunkten ihrer Lebensgeschichte« auftun.275 Sie erfüllt eine Funktion und weist nicht auf einen extra nos bestehenden Sinnzusammenhang.
4.2.2 Religion erscheint in neuen Sozialformen Religion begründet auch in postmodernen Gesellschaften ein Gemeinschaftshandeln. Das geschieht aber oft in neuen Sozialformen. Bereits Luckmann hat Religion in Die unsichtbare Religion als Produzentin sozialer Bindungen beschrieben, dabei aber die Sozialformen neu bestimmt, in denen sich gemeinsame moralische Handlungen verobjektivieren. Er postulierte bereits 1967 ein Entstehen von Sozialformen der Religion, die an die Stelle der Institution Kirche treten. Er fragte, wo Religion überhaupt noch – sozial objektiviert – in der Gesellschaft vorkomme. Als soziale Objektivation kann seiner Meinung nach nur auftauchen, was im religiösen Kosmos der Menschen als Wirklichkeit vorhanden sei. Das sind für Luckmann Werte, die »für die Integration und Legitimation des Alltagslebens in der modernen Gesellschaft wichtig sind«.276 Religion findet 271 Ebd., 117. 272 Knapp, Glaube in einem säkularen Umfeld, in: Buss/Luber (Hg.), Neue Räume öffnen, 2013, 103–116, 105. Knapp skizziert verschiedene Möglichkeiten, wie Säkularisierung verstanden werden kann und bezieht sich dabei auf Taylor, A Secular Age, 2009. 273 Wunder, Religion in der postkonfessionellen Gesellschaft, 2005, 57. 274 Gräb, Sinnfragen, 2006, 21. 275 Ebd., 15. 276 Luckmann, Die unsichtbare Religion, 1991, 75.
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ihren kulturellen Ausdruck weiterhin in der Gesellschaft, aber unter weitgehendem Verzicht auf die Sichtbarkeit ihrer Formen. In den letzten Jahrzehnten kommt meines Erachtens ein weiteres Phänomen hinzu, das die Soziologen Thomas Luckmann, Peter L. Berger und andere noch nicht besprechen konnten. Sie waren davon ausgegangen, dass sich Religion in gemeinsamen moralischen Handlungen verobjektiviert. Sie haben sich noch nicht mit der Bedeutung von Gesinnungen und Interessengemeinschaften beschäftigt. Es lässt sich zumindest die Frage stellen, ob Religion in postmodernen Gesellschaften nicht zunehmend in der Form von gemeinsamen Gesinnungen in Erscheinung tritt. An die Stelle gemeinsamer Handlungen treten Meinungen, Vorlieben, Interessen und ihre ästhetische Darstellung. Offen bleibt hier, ob man Gesinnungen als »soziale Objektivationen« verstehen kann, oder ob man sie besser als Kennzeichen einer »fluiden Religiosität«, die kaum Auswirkungen auf das Alltagshandeln hat, begreift.277 4.2.3 Zusammenfassung: Religion bleibt in der Postmoderne ein Gemeinschaftshandeln Religion verliert keinesfalls ihren Charakter als Gemeinschaftshandeln, ist aber in postmodernen Gesellschaften kein Gemeinschaftshandeln von Mehrheiten mehr. Religion kann nicht mehr beanspruchen, gesellschaftliche Integration hervor zu bringen und Menschen zu einem allgemein verbindlichen Handeln anzuleiten. Der christliche Glaube hat damit die Möglichkeit verloren, über die von ihm zur Verfügung gestellten Motive integrierend zu wirken. Es bleiben Erinnerungen an ein früheres, allgemein verbindendes Handeln. Der christliche Glaube ist in der Moderne und zunehmend in der Postmoderne zur Deutungskultur eines gesellschaftlichen Teilsystems geworden, wenn es um die Generierung gemeinsamer moralischer Handlungen geht. Solange der Glaube auf gemeinsamer Sozialwelt beruht, bleibt er eine Form des Gemeinschaftshandelns. Als Gemeinschaftshandeln ist die Sozialwelt – auch wenn ihr nur Minderheiten angehören – per se kritisch-transformativ. Sozialität entsteht und erneuert sich ständig. Das heisst, der christliche Glaube behält eine gesellschaftliche Bedeutung. Religionen bleiben unweigerlich eine soziale Tatsache.
277 Vgl. Lüddeckens/Walthert (Hg.), Fluide Religion, 2010.
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4.3
Gemeinschaftsgefühle in Unternehmenskulturen
In den Arbeitsverhältnissen der New Economy wird der Gemeinschaftsbegriff auch für solche Beziehungen beansprucht, die eigentlich auf einem zweckrational motivierten Interessenausgleich beruhen. Die Arbeitsverhältnisse beruhen auf einem starken Wir-Gefühl, auf innerer Übereinstimmung mit den Werten und Zielen des Unternehmens – also auf einer Gemeinschaftsorientierung. Das Arbeitsverhältnis soll aber prioritär den Gewinn des Unternehmens optimieren, das ist seine zweckrationale Begründung. Die Politologin Helga Manthey erklärt in Menschliche Organisationen und verorganisierte Menschen, wie sich Prozesse von Vergemeinschaftung in zweckrationalen Arbeitsverhältnissen gestalten. »Das Kollektiv wird mit der Konstruktion einer Beschäftigtenidentität stabilisiert, die sich gleichwohl mit Kreativität, Flexibilität, Vertrauen oder Selbstverwirklichung an individualistischen Werten orientiert und damit den subjektiven Ansprüchen der Beschäftigten entgegenkommt.«278
Unternehmen fördern bewusst ein Zugehörigkeitswissen und Gemeinschaftsempfinden. Sie erscheinen nicht mehr als die Organisationen, die sie eigentlich sind, sondern treten anstatt als juristische Personen als scheinbar natürliche Personen auf und suchen die Mitarbeitenden emotional zu binden.279 Bindung durch ein auf Gemeinschaft basierendes Zugehörigkeitswissen lässt sich auch von Organisationen durch die Bereitstellung von Geschichten erreichen, die die Organisation konstituieren.280 Die Unternehmensberaterin Karin Thier hat untersucht, wie Unternehmen ihre eigenen Narrative entdecken, rekonstruieren oder überhaupt erst kreieren.281 Unternehmen benutzen also einen Gemeinschaftsgeist, um Mitarbeitende zu motivieren und ihre ›besten Kräfte‹ zu wecken. Zwei denkbar unterschiedliche Sozialformen werden in solchen Arbeitsverhältnissen miteinander verquickt. Die klassische Soziologie hatte streng zwischen gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Sozialformen unterschieden. Es gab für Tönnies keinen Übergang von gemeinschaftlichen zu gesellschaftlichen Sozialformen, vom prärationalen zum rationalen Modus.282 Für die Praxis heisst dies, dass Entscheidungen in gemeinschaftlichen Sozialverhältnissen grundsätzlich anders getroffen werden als in gesellschaftlichen Sozialverhältnissen. Familien entscheiden anders als
278 Manthey, Menschliche Organisationen und verorganisierte Menschen, in: Meschnig/Stuhr (Hg.), a. a. O., 111. 279 Ebd., 112. 280 Thier, Die Entdeckung des Narrativen für Organisationen, 2004, 60. 281 Ebd., 61–63. 282 Merz-Benz, a. a. O., 43.
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Betriebe. Merz-Benz unterscheidet demzufolge zwischen zwei Arten von Entscheidungsrationalität.283 Eine derart konsequente Unterscheidung beider Sozialformen wird von anderen Soziologen abgelehnt. Boudon/Bourricaud wurden bereits erwähnt.284 Auch Peter Lohauß distanziert sich in Moderne Identität und Gesellschaft von der klassischen Soziologie: Er ist der Ansicht, dass es durchaus Übergänge zwischen gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Sozialformen gibt. Lohauß unterscheidet soziale Beziehungen, die vorwiegend gemeinschaftlicher Natur sind, von solchen, die vorwiegend gesellschaftlicher Natur sind. Er geht davon aus, dass sich beispielsweise in der Arbeitswelt beide Beteiligungsformen überschneiden können.285 Dass nicht von einem graduellen, sondern von einem grundsätzlichen Unterschied auszugehen ist, wird unter dem Druck wirtschaftlicher Zwänge deutlich. Ein Unternehmen kann die Mitarbeitenden entlassen. Eine Gemeinschaft dagegen kann und wird ihre Mitglieder nicht entlassen. Die Verbindung von Organisation und Gemeinschaft ist in ihren Grundlagen brüchig, denn unter dem Druck von Wirtschaftlichkeit setzt sich die Organisation grundsätzlich gegen die Gemeinschaft durch. Ich meine, dass ein Unternehmen sich nur solange als Gemeinschaft verstehen kann, solange dieses Verständnis wirtschaftlich tragbar ist.
4.4
Gemeinschaften als gesellschaftliche Schutzräume verstehen
Ein möglicher Vorbehalt gegen Gemeinschaft wurzelt im Verdacht, dass Menschen in vormoderne Verbindlichkeiten zurückkehren wollen, weil sie mit den ›Freiheitsgraden‹ (Zulehner/Luhmann), die die gegenwärtige Gesellschaft bietet, überfordert sind.286 Bereits Tönnies sah sich dem Verdacht ausgeliefert, der Gesellschaft schützende Sozialverhältnisse aufzwingen zu wollen. Gebhardt beispielsweise sieht bei Tönnies eine solche Tendenz zu Weltflucht und Rückzug: »Anders aber noch als zu den Zeiten eines Ferdinand Tönnies, offenbart sich dieser Wunsch oder diese Sehnsucht nicht in einem unbedingten Zurück zu vormodernen oder sogar zu ›natürlichen‹ Lebensverhältnissen, in denen das soziale Leben wie im ›Paradies […] oder wie im ›Mittelalter‹ […] noch ein ›sinnvoll und ziervoll geordnetes Ganzes‹ […] gewesen sein soll.«287
283 284 285 286 287
Ebd., 43–44. Vgl. Kap. I.3.2.1 Gemeinschaft beruht auf gemeinsamem Wollen bzw. einem Bündnis. Lohauß, Moderne Identität und Gesellschaft, 1995, 148. Vgl. Kap. I.2.3.5 Menschen geraten leichter in Identitätskrisen. Gebhardt, Flüchtige Gemeinschaften, in: Lüddeckens/Walthert (Hg.), Fluide Religion, 2010, 185.
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Mobilität, Postmoderne und das Wesen von Gemeinschaft
Tönnies selbst verwehrt sich gegen solche Vorwürfe. Er nennt sein Anliegen nicht die Bewertung von Sozialverhältnissen, sondern allein ihre Unterscheidung: »Von bedeutender Seite ist mir ferner die Ansicht begegnet, dass es sich da um eine Unterscheidung handele, die ihrem Wesen nach parteiisch sei: als ob nämlich Gemeinschaft als gut, Gesellschaft als böse dargestellt werden sollte. Ich kenne den Schein, der zu solcher falschen Meinung geführt hat.«288
Wer gemeinschaftliche Sozialverhältnisse fördert, kann verdächtigt werden, gesellschaftliche Schutzräume einrichten zu wollen. Eine evangelische Kirche, die Formen gemeinschaftlichen Lebens ausbildet, erscheint dann als »eine ErsatzFamilie oder ein Substitut fehlender lokaler Integration«.289 Die kirchliche Gemeinschaft gerät vielleicht sogar unter den Verdacht ein Milieu zu sein, das die Autonomie des Einzelnen gefährdet und ausschliesslich nach innen und nicht nach aussen hin wirkt: »Karl Rahner sprach von Öfen, die sich selbst wärmen. Das Bild von der Kuschelgruppe und von den Alleluja-Schlümpfen kam in Umlauf.«290
Eine Gesellschaft muss auch schützende Sozialverhältnisse für benachteiligte Menschen ausbilden. Ein solches Handeln darf nicht diskreditiert werden. Aber Gemeinschaften sind nicht per definitionem als Rückzugsräume gedacht. Hilfreich ist in dem Zusammenhang eine Beobachtung von Durkheim: Dass Menschen versuchen, in traditionale – und damit als schützend empfundene – Sozialverhältnisse zurückzukehren, erfolgt seiner Meinung nach mit einer gesellschaftlichen Notwendigkeit. Durkheim beschreibt die Rückkehr in traditionale Verhältnisse als eine von drei Möglichkeiten, mit der Menschen auf gesellschaftliche Differenzierungsprozesse reagieren. Die Rückwendung zu traditionalen Gemeinschaften sei dann naheliegend, wenn eine Arbeitsteilung durch äussere Umstände erzwungen wurde, aber noch keine neue »Basis in den Sitten« gefunden hat. Neue soziale Ordnungen müssen durch eine neue Moral stabilisiert werden:291 »Der Zwang beginnt erst, wenn die Reglementierung nicht der wahren Natur der Dinge entspricht und in der Folge, da sie keine Basis mehr in den Sitten hat, nur mehr mit Gewalt aufrechterhalten werden kann.«292
In diesem Falle zieht es Menschen zurück in die alten, durch Sitten legitimierten Arbeitsverhältnisse. In Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche braucht es Möglich288 289 290 291
Tönnies, Einführung in die Soziologie, 1981 (1931), IV. Hermelink, Kirchliche Organisation, 2011, 193. Kursiv im Original. Zulehner, Kirche ereignet sich in Gemeinden, in: Ludin u. a., Wir Kirchenträumer, 1987, 12. Schubert, Jenseits von Gemeinschaft und Gesellschaft, in: Hollstein u. a. (Hg.), Handlung und Erfahrung, 2011, 133. 292 Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, 1992, 446.
Gemeinschaftshandeln als gesellschaftliche Praxis
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keiten, damit sich neue zeitgemässe Formen von Gemeinschaft bilden können. Menschen brauchen Spielräume, um sich mit dem Entwurf von Verbindlichkeiten, die den neuen Lebensweisen entsprechen, zu befassen. Sie brauchen Spielräume für den Entwurf neuer Formen von Solidarität. Formen gemeinsamen Lebens und neue Verbindlichkeiten können nicht einfach aus alten Gesellschaftsformen übernommen werden. Sie müssen neu entworfen werden.
4.5
Perspektiven für ein Gemeinschaftshandeln der Kirche
Was lässt sich in soziologischer Pespektive für ein Gemeinschaftshandeln der Kirche in postmoderner Gesellschaft festhalten? ➤
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Als Minderheit wirken. Die Grosskirchen bringen in Teilen Westeuropas, auch Deutschlands und der Schweiz, nicht länger gesellschaftliche Mehrheiten zur Darstellung. Ihr Gemeinschaftshandeln kann nicht länger – zumindest nicht unhinterfragt – den Anspruch haben, Mehrheiten zu integrieren. Aber auch als Minderheit wirkt ihr Gemeinschaftshandeln auf die Gesellschaft. Auch als Minderheit können Kirchen eine kritisch-transformative Kraft sein. Treten die Kirchen aber nicht in ihrem Gemeinschaftshandeln, sondern als Organisationen in Erscheinung, kommunizieren sie also systemisch, vertreten sie Ziele und eine Programmatik, dann liegt der Fall anders. Als Organisationen können sie durchaus beanspruchen, die Interessen einer gesellschaftlichen Mehrheit zu vertreten, ohne selbst Mehrheit zu sein. Das ist beispielsweise im sogenannten konziliaren Prozess (›Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung‹) der Fall. Die Kirchen vertreten hier nicht eigene Interessen, sondern solche, die sie im Blick auf die Gesamtgesellschaft für wesentlich halten.293 Gestaltungsspielräume bieten. Menschen brauchen Zeit und Gestaltungsspielräume, um sich in einer sich differenzierenden Gesellschaft über neue Formen von Verbindlichkeit und Solidarität klar zu werden und diese zu erproben (Émile Durkheim). Wenn traditionale Sozialverhältnisse nicht mehr tragen, entsteht ein Bedürfnis nach gesellschaftlichen Schutzräumen. Die Kirche kann sich als Lebenswelt anbieten, in der Menschen sich mit dem Entwurf zeitgemässer, ihnen entsprechender Verbindlichkeiten befassen und neue Formen der Solidarität entwerfen und ausprobieren. Die Ressourcen ihrer Mitglieder achten. Die Kirchen haben mit Menschen zu tun, deren Wir-Gefühle und Gemeinschaftssinn bereits im Bereich von Fa-
293 Zum konziliaren Prozess siehe die VI. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver, 1983.
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Mobilität, Postmoderne und das Wesen von Gemeinschaft
milie und Freundschaften und zum Teil auch in Unternehmenskulturen beansprucht werden. Die von der Kirche beanspruchten Ressourcen an Nähe, Zeit und innerer Beteiligung aber sind begrenzt. Im kirchlichen Handeln muss sorgfältig mit den Wir-Gefühlen und Ressourcen von Gemeindegliedern umgegangen werden. Eine kräftezehrende und zeitraubende Kommunikation können sich Kirchgemeinden im Umgang mit ihren Mitgliedern nicht leisten.
II
Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
Wir haben uns dem Wesen und Entstehen von Gemeinschaft in soziologischer Perspektive genähert. Nun gilt es, die Gemeinschaft als ›Gemeinschaft der evangelischen Kirche‹, also in theologischer Perspektive zu untersuchen. Die Kirche besteht und kommuniziert zeitgleich in verschiedenen Sozialverhältnissen – als Institution, Organisation und Gemeinschaft bzw. Bewegung. Die Frage nach der Kirche als Gemeinschaft stellt also einen Teilaspekt ihrer Kommunikation dar. Das Vorgehen geschieht in einem Dreischritt. Der erste Abschnitt (Kapitel II.1) nimmt das Wort Gottes als den Ursprung und Ausgangspunkt von Sozialität in den Blick. Die sozialen Bedingungen des Glaubens sind mit dem und durch das Handeln Gottes gegeben, das in Jesus Christus einen Höhepunkt an Sozialität erreicht. Gemeinde stellt »ein notwendiges Implikat des Evangeliums« dar und »nicht eine Grösse, die zu diesem erst zusätzlich oder sekundär dazukommt.«1 Der zweite Abschnitt gilt der innerkirchlichen Kommunikation. Wie eine Gemeinde ihre Kommunikation gestaltet, hängt davon ab, welche Vorstellungen ihrem kommunikativen Handeln zugrunde liegen. Der Dogmatiker und Fundamentaltheologe Medard Kehl nennt das die Frage nach den zugrunde liegenden Kirchenerfahrungen, nämlich nach ihrer Wahrnehmung, Gewichtung und Durchsetzung.2 Kehl meint mit Kirchenerfahrungen Vorstellungen vom kommunikativen Handeln, die dem Gespräch über die Kirche immer schon zugrunde liegen.3 Kehl gibt der Grunderfahrung einer kommunizierenden Kirche – die er Weggemeinschaft der Hoffnung nennt – Priorität.4 In reformierter Ge1 Zimmermann, Gemeinde zwischen Sozialität und Individualität, 2006, 10. 2 Erfahrung bezeichnet nicht das unmittelbare Erlebnis. Erfahrungen beruhen auf der Verknüpfung mit anderen Erfahrungen, wobei die Verknüpfungsmuster selbst institutionalisiert sind. Zur Definition von Erfahrung vgl. Schütz/Luckmann, a. a. O., 449, und Ludwig, a. a. O., 121, der Erfahrung als reflektiertes Erlebnis beschreibt. 3 Die Bedeutung von ›Vorstellungen‹ für die Konstruktion sozialer Wirklichkeit wurde in Kap. I.3.3 Gemeinschaft für wirklich halten und sie dadurch verwirklichen besprochen. 4 Vgl. Kap. II.2.2 Die Grunderfahrung der Kirche als Weggemeinschaft und ihr biblisch-normativer Anspruch.
102
Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
meindeaufbautheorie geht Ralph Kunz ebenfalls von der Erfahrungswirklichkeit der Kirche aus. Auch er begründet eine Vorordnung der Koinonia-Wirklichkeit der Kirche und fragt nach Koinonia-Realisierungen in einer pluralistischen Gesellschaft.5 Kirchenerfahrungen müssen kritisch-normativ reflektiert werden. Die biblisch-reformatorische Tradition hilft zur Klärung dessen, was die Gemeinde theologisch als Leib Christi verifiziert, was als gegeben und damit als unverzichtbar für das Kirchesein geglaubt wird. Sie gibt aber auch Auskunft darüber, in welcher Hinsicht die reformatorische Tradition offen für einen geschichtlichen Gestaltwandel der Kirche ist und wie sich diese Offenheit begründet.6 In biblischreformatorischer Tradition wird die Sozialität der Kirche entscheidend durch die Formel vom Priestertum aller Glaubenden charakterisiert. Sie stellt Kennzeichen einer evangelisch verstandenen Kommunikation zur Verfügung.7 Auch für das Priestertum aller Glaubenden kann eine Pluralität von Lebensformen, auch eine soziale und räumliche Mobilität, als ›soziologischer Normalfall‹ angenommen werden. Wie kommt also in der reformatorischen Tradition die Lebensführung der Einzelnen vor? Im dritten Abschnitt (Kapitel II.3) richtet sich der Blick auf die evangelische Kirche und ihre gesellschaftliche Wirklichkeit. Jede Ekklesiologie muss offenlegen können, wie sich die Offenbarungswirklichkeit der Kirche und die gesellschaftliche Wirklichkeit zueinander verhalten. Am Beispiel von drei ekklesiologischen Entwürfen wird gezeigt, was es für die Vermittlung von gesellschaftlicher und theologischer Wirklichkeit heisst, wenn • die Kirche in ihrer Sozialgestalt als Organisation • die Kirche sozialphilosophisch als Gemeinschaft • die Kirche in ihrer Erfahrungswirklichkeit als Gemeinschaft zur Referenzgrösse wird. Ich selbst habe in meiner Untersuchung das dritte Modell zugrunde gelegt und die Kirche als Erfahrungswirklichkeit und im Theoriemodell einer Lebenswelt ihrer Mitglieder untersucht.
5 Kunz spricht von der »Situation« der Gemeinde, die die »Verstehensvoraussetzungen« der Gemeindeglieder umgreift, vgl. ders., Theorie des Gemeindeaufbaus, 1997, 148–149. 6 Kap. II.2.7 Die Offenheit für soziale Gestaltwerdungen der Kirche. 7 Kap. II.2.8 Das allgemeine Pristertum als Strukturprinzip der evangelischen Kirchen.
Gottes Wort als Grund und Ursprung von Sozialität
1
Gottes Wort als Grund und Ursprung von Sozialität
1.1
Gemeinde verdankt sich dem Wort Gottes
103
Dogmatisch formuliert ist die ecclesia ihrem Ursprung nach Geschöpf des Evangeliums bzw. Geschöpf des Wortes Gottes. Sie wird nicht durch menschlichen Entschluss gebildet und am Leben erhalten, sondern durch das Wort Gottes, das Evangelium von Jesus Christus. »Dazu muss das theologische Denken die Kirche in ihrem Grund aufsuchen, um sie von dort her zu erkennen und zu verstehen. Der Grund der Kirche liegt in der heilvollen Zuwendung Gottes zum Menschen: ein Geschehen, das der Mensch im Glauben erkennt und realisiert und durch das die Menschen zu einem mit Gott und untereinander versöhnten Zusammenleben erneuert werden.«8
Die Kirche beginnt nicht mit den Menschen, nicht mit dem Glauben oder dem Entscheiden der Menschen. Sie beginnt mit Gott, der sich den Menschen schenkt, und dem Gehörtwerden seines Wortes. »Die Mitte dieses Lebens ist die gottesdienstliche Versammlung. Sie ist zuerst Eucharistie, Danksagung für das Empfangene, Bitte um das Kommende und damit Ort expliziter Anrufung des Namens, dem Dank gilt […].«9
Die erste Grundrichtung gemeindlicher Kommunikation ist darum die der Leiturgia. Sie ist sachlich sowohl der Koinonia als auch der Diakonia vorgeordnet.10 Dass die ecclesia ihrem Ursprung und Wesen nach creatura verbi divini, ein Werk Gottes und nicht von Menschen ist, schliesst nicht nur die soziale Ermöglichung des Glaubens, sondern auch die pneumatologische Weiterführung ein. »Dabei ist es wichtig […] zu beachten, […] dass es das Werk des Heiligen Geistes ist, Glauben zu wirken ubi et quando visum est Deo, indem er die (äussere) Bezeugung und Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus Menschen als lebensbestimmende Wahrheit evident werden lässt […].«11
Auch in ökumenischer Perspektive gründet jedes kirchliche Handeln in Gottes beginnendem, erhaltendem und aufbauendem Tun. »Die Kirche ist nicht das Werk von Menschen, sondern Gottes Werk. […] Wie der Ursprung, so ist auch die Erhaltung der Kirche Gottes Werk. Was auch immer die
8 Großhans, Die Kirche, 2003, 294. 9 Kunz, Theorie des Gemeindeaufbaus, 1997, 137. 10 Definition und Begründung folgen in Kap. III.2.2 Gemeinde als Lebenswelt ihrer Glieder – ihre drei Beziehungsfelder. 11 Ludwig, a. a. O., 372.
104
Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
Glaubenden zur Erhaltung und Ausbreitung der Kirche tun, all solches menschliches Tun gründet in Gottes erhaltenden und auferbauenden Taten.«12
Im Heidelberger Katechismus ist jedes Wo und Wann ausdrücklich in das Werk des Heiligen Geistes eingeschlossen. Der Katechismus antwortet in Frage 54, dass der Sohn Gottes sich eine auserwählte Gemeinde »von Anbeginn der Welt bis ans Ende versammelt, schützt und erhält«.13 In der reformierten Ekklesiologie sammelt Gott seine Gemeinde von Anbeginn der Zeit an und diese ist nicht von seinem Christus zu trennen. »Der Herr und Stifter und damit gleichzeitig das Subjekt der Kirche ist Gott in Christus, von Anbeginn der Welt bis ans Ende.«14
Wird das Evangelium als lebensbestimmende Wahrheit evident, dann findet der Glaubende die Sozialität des Glaubens immer schon vor. Menschen werden durch das Wort Gottes und das Wirken des Heiligen Geistes zur sanctorum communio bzw. zur congregatio sanctorum et vere credentium (CA VII) gerufen.15 Sie werden in eine bereits bestehende communio gerufen und bilden und gestalten diese im selben Moment mit. »Das deutet bereits auf ein grundlegendes Verhältnis des einzelnen zur Gemeinschaft wie der Gemeinschaft zum einzelnen hin: Ich kann immer nur glauben, weil es ein Wir, eine Gemeinschaft von Glaubenden gibt, in der ich den Glauben empfangen habe; der Glaube der Gemeinschaft aber wird getragen vom Glauben der vielen einzelnen, die sich von Gott zur Gemeinschaft haben berufen lassen.«16
Bonhoeffer beschreibt die Kirche als dem einzelnen Glaubenden vorgängig gegeben, so dass dieser nie ohne die Kirche ist. Es gibt kein Christsein ohne den Bruder, ohne die Schwester. »Für [Gottes] Blick sind Gemeinschaft und Einzelner im selben Augenblick und ineinander ruhend da.«17
Das ist zuerst eine Tatsache des Seins, und dann erst eine des Bewusstseins und der Aktualisierung. Kunz unterscheidet, dass das Heil zwar »realisiert« ist, möglicherweise aber nicht »aktualisiert« ist.18 Nicht die Empirie und damit das
12 13 14 15 16
Schlink, Ökumenische Dogmatik, 2. Aufl. 1985, 561. Heidelberger Katechismus, Reformierter Bund (Hg.), 4., revid, Aufl. 2010, aus Frage 54. Jacobs, Theologie reformierter Bekenntnisschriften in Grundzügen, 1959, 103. Apostolisches Glaubensbekenntnis, Abschn. 1 in: BSLK (1930), 13. Aufl. 2010. Communio Sanctorum, Bilaterale Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der VELKD (Hg.), 2000, 14. 17 Bonhoeffer, a. a. O., 53. 18 Kunz, Keine Kirchenreform ohne Taufreform?, in: Reppenhagen/Herbst (Hg.), Kirche zwischen postmoderner Kultur und Evangelium, 2010, 161–182, 172.
Gottes Wort als Grund und Ursprung von Sozialität
105
Gemeinschaftserleben des Einzelnen stehen am Anfang, sondern eine der Kirche als ganzer zugrunde liegende Erfahrung wird zur Erfahrung des Einzelnen.
1.2
Gemeinde ist Hörgemeinschaft
Die Reformatoren verstehen die Kirche von der Kommunikation Gottes mit den Menschen her. Kirche sind diejenigen Menschen, die durch Gottes Wort zur Gemeinde gerufen sind und durch das Wort Gottes in der Gemeinde erhalten werden. In den Schmalkaldischen Artikeln definiert Luther die Kirche von den Menschen her, die die Gemeinde bilden, also nicht vom Amt her. »Denn es weiss, Gott Lob, ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche ist: nämlich die heiligen Gläubigen und die Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören. Denn so beten die Kinder: ›Ich glaube eine heilige christliche Kirche.‹ Diese Heiligkeit besteht […] im Wort Gottes und rechten Glauben.«19
Luther bezieht sich mit der Definition der Kirche als Hörgemeinschaft auf die Hirtenworte aus dem Johannesevangelium, Kapitel 10. Es geht um das »Grundgeschehen des Hörens«.20 Denselben Bezug stellen Calvin und Zwingli her. Calvin zufolge macht Jesus Christus seine Kirche mit anderen Zeichen kenntlich, als sich die römische Kirche kenntlich macht, wenn er sagt: Meine Schafe hören meine Stimme.21 »Die Kirche Gottes unterscheidet sich dadurch von allen verderblichen Sekten, dass sie allein auf seine Rede hört und sich von seinem Befehle lenken lässt«.22
Das »Allein« weist in reformatorischer Klarheit auf die Bedeutung, die dem Hören der Gemeinde auf das Wort Gottes gegenüber dem Hören auf die Tradition zukommt. Auch Zwingli kennzeichnet die Kirche als Hörgemeinschaft. »Welch ist Christi Kilch? Die sin Wort hört. Wo ist die Kilch? Durch das gantz Erdrich hin. Wer ist sy? Alle Gleubigen. Wer kennt sie? Gott.«23
Die Kirche wird in lutherischer und reformierter Tradition von der Gemeinde als denjenigen Menschen her beschrieben, die Gottes Wort hören und sich dieses Wortes in der Feier der Sakramente vergewissern. Hören ist dabei ein Grundbeziehungswort. Im Bild von den Schafen, die die Stimme ihres Hirten hören, wird der dem Hören innewohnende Beziehungscharakter deutlich.24 Die evan19 20 21 22 23
Luther, Schmalkaldische Artikel 12,2–7, in: Unser Glaube, 4. Aufl. 2000, 497. Die Schmalkaldischen Artikel, Führer (Hg.), 2009, 375. CR 10b, 149, bei: Niesel, Die Theologie Calvins, 2., überarb. Aufl. 1957, 194. CR 48, 569, a. a. O.,194. Reich, Zwingli gründete keine neue Kirche, in: Kirchenbote Zürich (21. 12. 2007), ohne weitere Quellenangabe. Das ursprüngliche Zitat lässt sich nicht finden. 24 Doris Kellerhals erklärt ›Hören‹ als biblisches Grundbeziehungswort im Zusammenhang mit
106
Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
gelische Kirche wird also nicht von ihren Ämtern oder ihrem Handeln her beschrieben, sondern sie konstituiert sich aus dem Hören. Weil Kirche ihrem Wesen nach Hörgemeinschaft ist, ist sie eine sich empfangende Gemeinschaft. Damit sind kybernetische Grundentscheidungen getroffen. Bittner begründet mit dem reformatorischen Verständnis der Kirche als Hörgemeinschaft einen Vorrang der hörenden Gemeinde und der ihr übertragenden Deutungshoheit vor der Deutungshoheit der Amtsinhaber.25
1.3
Gemeinde wird an äusseren Merkmalen erkannt
In dogmatischer Perspektive verspricht Gott seine Gegenwart im Vollzug der von ihm gestifteten Kommunikation. Die Kommunikation, an der die Kirche äusserlich als Kirche erkannt wird, sind die notae ecclesiae. Für die Reformatoren gehört es zum Wesen des Glaubens, an äussere Kennzeichen gebunden zu sein. Die lutherische und die reformierte Tradition betonen beide, dass die äusseren Merkmale nichts der Kirche Sekundäres sind. In Frage 100 des Genfer Katechismus wird gefragt, ob man die Kirche, auf andere Weise erkennen könne, als dass man sie glaubt. Der Katechismus antwortet: »Wohl gibt es die Kirche Gottes, die in dem Masse sichtbar ist, als er uns die Merkmale gegeben hat, um sie zu erkennen. Aber hier wird ausschliesslich von der Gemeinde derer gesprochen, die Gott auserwählt hat. Diese kann man nicht voll und ganz mit den Augen sehen.«26
Die »Merkmale« sind den lutherischen und reformierten Bekenntnisschriften zufolge die Wortverkündigung und die Verwaltung der Sakramente. Das Wort wird als äusseres Kennzeichen der Kirche verstanden, weil Gott selbst sein Wirken an dieses Wort bindet. In der lutherischen Tradition und in Auseinandersetzung mit der römisch-katholischen Kirche bindet sich der Geist Gottes nicht an das Amt, sondern an das Wort. Die Reformatoren haben darum gestritten, in welcher Weise das genau geschieht. Zwingli beruft sich in seiner Auseinandersetzung mit Luther auf Johannes 6,63. Er wendet sich gegen eine von Dtn 6,4: Das Hören führt zum Lieben. Vgl. Kellerhals, Heilende Gemeinschaft in der Postmoderne, 2008, 131. 25 Bittner, Kirche, wo bist du?, 1995, 80/81. Zur Bedeutung, die dem Gespräch der Gemeinde zukommt, siehe den Antrag und Bericht an die Kirchensynode betreffend Pluralität, verabschiedet am 19. August 2009, in: Krieg/Kunz (Hg.), a. a. O., 28, 73. Hier heisst es, dass das Gespräch der Gemeinde allen kirchlichen Äusserungen wie dem Entstehen von Bibelübersetzungen, Kirchenordnungen usw. vorgeordnet ist. 26 Genfer Katechismus (1542), Frage 100, in: Reformierte Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen in deutscher Übersetzung, bearb. und hrsg. von Jacobs, 1949, 26.
Gottes Wort als Grund und Ursprung von Sozialität
107
ihm vermutete Gleichsetzung von Wort und Geist bei Luther.27 Auch für Zwingli gehört der Geist zum Wort. Er muss zum Wort hinzu treten, sonst bleibt das Wort ein ›Fleisch‹, das zu nichts nütze ist ( Joh 6,63).28 Das Wort ist sichtbares Kennzeichen der Kirche, indem es öffentlich verkündigt wird. Bei Bullinger findet man die für die reformierte Theologie grundlegende Formulierung: praedicatio verbi dei est verbum dei. Die praedicatio meint nicht das Wort, sondern den Vollzug, in dem das Wort gesagt wird und nun auch gehört werden kann.29 Es liegt also alles am rechten Vollzug der von Gott gestifteten Kommunikation in Wort und Sakrament. Im Verständnis des Heidelberger Katechismus sind die Sakramente »sichtbare Zeichen(handlungen) der geistlichen ›Einverleibung‹«.30 Nicht die Elemente schaffen eine Wirklichkeit, sondern durch ihren rechten Gebrauch wird Menschen ihre Zugehörigkeit zu Jesus Christus bezeugt und sie werden ihrer Zugehörigkeit vergewissert.31 Die reine Predigt (pure) und der rechte Gebrauch (recte) der Sakramente gewährleisten CA VII zufolge die Einheit der Kirche. In CA VII werden die notae ecclesiae nämlich im Blick auf die Einheit der Kirche und damit in Auseinandersetzung mit dem katholischen Amtsverständnis definiert. Nicht dem Amt ist zugesprochen, die Einheit der Kirche zu gewährleisten, sondern dem Wort Gottes, das verkündigt und gehört und in der Feier der Sakramente vergewissert wird.32 Der Vollzug von Verkündigung, Hörgemeinschaft und Feier ermöglicht die Einheit der Kirche. »Die Kirche ist Ereignis. Sie ist da zu suchen, wo ›das Evangelium rein gepredigt und die Sakramente gemäss dem Evangelium gereicht werden.‹ Die dritte These übernimmt diesen Ereignischarakter von CA VII«.33
Indem Gott sein Wirken an die notae ecclesiae bindet, steht die Kirche in ihrer leibhaften und damit sichtbaren Dimension im Zentrum. Spricht CA VII von der congregatio sanctorum und CA VIII von der congregatio vere credentium, weist Melanchthon in der Apologie (VII,7) darauf hin, dass mit dem Begriff der congregatio nichts anderes gemeint ist, als die Wiederaufnahme des Begriffs der 27 Zur lutherischen Gleichsetzung von Wort und Geist vgl. Rodenberg, Wort und Geist, 1969. 28 Locher, Streit unter Gästen, in: Theologische Studien 110, 1972, 9 f und Anm. 11. 29 Vgl. Locher, Praedicatio verbi dei est verbum dei, in: ZWINGLIANA 10, 1954, 51ff. Das ›Wort‹ meint in der CA immer das ›verkündete Wort‹ vgl. Iserloh, Kirchengemeinschaft und Kircheneinheit, in: Lehmann/Schlink (Hg.), Evangelium – Sakramente – Amt der Kirche, 1982, 13–27, 14. 30 Opitz, Historische Zugänge zum Heidelberger Katechismus aus Schweizer Sicht, in: Hirzel u. a. (Hg.), Der Heidelberger Katechismus – ein reformierter Schlüsseltext, 2013, 21–50, 41. 31 Ebd., 42. 32 Institutio IV.1.1 nennt Calvin die Sakramente als Hilfe zur Vergewisserung und Befestigung des Glaubens. 33 Weth über die dritte These der Barmer Theologischen Erklärung, in: Weth, ›Barmen‹ als Herausforderung, 1984, 25.
108
Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
communio sanctorum aus dem Apostolischen Glaubensbekenntnis.34 Kardinal Walter Kasper weist daraufhin, dass mit dem Begriffswechsel auch für römischkatholische Ohren kein Problem verbunden sei, denn congregatio fidelium sei bei Thomas von Aquin die »massgebende Definition der Kirche«.35
1.4
Gemeinde – das leibhafte Zusammenkommen ihrer Glieder
Gemeinde wird im Neuen Testament als örtliche Versammlung der Glaubenden verstanden. Der Begriff der Gemeinde weist auf bestimmte Personen und gemeinsame Orte, hat also eine personale und eine lokale Dimension.36 Dabei ist der neutestamentliche Begriff der ecclesia nicht exklusiv verstanden. Er meint die sichtbar zusammen tretende Versammlung und bezeichnet dabei verschiedene Aspekte antiker Sozialität. Nur aus dem Zusammenhang ist zu erschliessen, welcher Aspekt jeweils gemeint ist. »Die ursprüngliche Bedeutung von ekklesia ist […] politisch; wörtlich bedeutet es ein ›berufenes Treffen‹, Versammlung, wie eine Stadtratssitzung mit für die Stadt bedeutsamer Tagesordnung.«37
Wird die Gemeinde Jesu ecclesia genannt, sind damit aber auch die Glaubenden in ihrer Gesamtheit verstanden. Paulus unterscheidet begrifflich noch nicht zwischen Gesamtkirche und Einzelgemeinde.38 »Aber die Gesamtkirche als eigene ekklesiologische Dimension nimmt er nicht wahr, selbst da nicht, wo er sich faktisch […] zu Problemen von gesamtkirchlichem Charakter verhält.«39
Warum ist das so, warum unterscheidet Paulus nicht? Offensichtlich ist, dass die ecclesia für Paulus keine civitas platonica darstellt. Die Sozialität der Kirche kann niemals negiert werden, so dass die Kirche nicht mehr Leib wäre. Leibhaftigkeit ist konstitutiv für das Kirchesein. »[…] wir behaupten, dass die Kirche sichtbar in Erscheinung tritt, nämlich als die wirklich glaubenden und über den ganzen Erdkreis verstreuten Gerechten. Und wir
34 Kasper, Kirchenverständnis und Kircheneinheit nach der Confessio Augustana, in: Lehmann/ Schlink (Hg.), Evangelium – Sakramente – Amt der Kirche, 1982, 28–57, 34. 35 Ebd., 34. 36 Zimmermann, a. a. O., 4. 37 Yoder, Die Politik des Leibes Christi, 2011, 29–30. 38 Hübner, Theologie und Empirie, 1985, 17. 39 Ebd., 17.
Gottes Wort als Grund und Ursprung von Sozialität
109
fügen [ihre] Kennzeichen (notae) hinzu: die reine Lehre des Evangeliums und die Sakramente.«40
Die Kirche wird als leibhaft erfahren. Das gilt nicht nur dann, wenn sie in der Gestalt der Ortsgemeinde begegnet. 1.4.1 Die Gesamtkirche wird als leibhaft verstanden Bemerkenswert scheint, dass in den neutestamentlichen Schriften sowohl die Ortsgemeinden als auch die Gesamtkirche – die ecclesia visibilis und die ecclesia universalis – als leibhaft verstanden werden. Hier liegt wohl der Grund dafür, dass Paulus im Begriff der ecclesia keine Unterscheidung vornimmt. Die Unterschiedenheit von sichtbaren Ortsgemeinden und der Gesamtkirche besteht gerade nicht in Bezug auf ihre Leibhaftigkeit! Sie besteht nur in Bezug auf ihre Sichtbarkeit.41 Die ecclesia universalis wird, auch wenn sie in ihrer Gesamtheit nicht anschaubar ist, gleichwohl als eine leibhafte Wirklichkeit verstanden. Gemeinde ist und bleibt auch dann ein Leib und als solcher eine Erfahrungswirklichkeit, wenn sich ihre Glieder nicht von Angesicht sehen. Menschen gehören auch dann zur Erfahrungswirklichkeit der Kirche, wenn sie beispielsweise im Glauben an Jesus Christus gestorben sind oder wenn sie aufgrund räumlicher Entfernung der sichtbaren Wahrnehmung auf Dauer entzogen bleiben.42 Dies hat Konsequenzen für eine medial vermittelte Kommunikation. 1.4.2 Die Gemeinschaft in Gott transzendiert ein physisches Verständnis von Leben und Tod Der theologische Grund für ein leibhaftes Verständnis jeder von Gott gestifteten Sozialität liegt im jüdisch-christlichen Verständnis des Lebens. Die Sozialität in Gott transzendiert die physische Unterscheidung von Leben und Tod. Es gibt im Herrschaftsbereich Gottes schlichtweg keine Toten. »Gott aber ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden; denn ihm leben sie alle.« (Lk 20,38)
40 Apologie des Augsburger Bekenntnisses VII, 20, in: BSLK (1930), 12. Aufl. 1998, ins Deutsche übersetzt in: Unser Glaube, Pöhlmann, 4. Aufl. 2000, 251. 41 Auf die Unterscheidung einer ecclesia visibilis von einer ecclesia invisibilis als einem »corpus permixtum« von einer »reinen (erst im Eschaton offenbar werdenden) Gemeinschaft der Erwählten« wird hier nicht eingegangen. Vgl. Art. Kirche VII, Abschn. 3.1 von Wilfried Härle, TRE Bd. VIII. 42 In Institutio II.6.1 nennt Calvin die Kirche, die aus den Menschen Erwählten, »seien es Tote, oder sei es, dass sie noch leben […].«
110
Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
Jesus kann im sogenannten Bericht von der Verklärung Elia und Mose als den beiden Repräsentanten für Gesetz und Prophetie (Mt 17,1–9 parr) begegnen. Auch der Hebräerbrief spricht von den bereits gestorbenen Vorfahren nicht von Toten, sondern als einer Wolke von Zeugen (Hebr 12,1). Schliesslich schaut der Seher in der Johannesoffenbarung eine über die Zeiten reichende Gemeinschaft der Geschöpfe, die Gott loben: »Und jedes Geschöpf, das im Himmel und auf Erden und unter der Erde und auf dem Meer ist, […] hörte ich sagen: ›Dem, der auf dem Throne sitzt, und dem Lamm gebührt das Lob und die Ehre und der Ruhm und die Macht in alle Ewigkeit.‹« (Offb 5,13)
Leben wird im neutestamentlichen Zeugnis denjenigen Menschen, die in Christus sind, zugeschrieben, auch wenn sie gestorben sind. Im Johannesevangelium und dort besonders in der Lazaruserzählung wird die Gemeinschaft mit Jesus Christus als Ort bezeichnet, an dem Leben und Tod ihre Letztgültigkeit zugunsten des Lebens verlieren. »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt.« ( Joh 11,25)
Das Geheimnis des in Christus Seins klingt auch in der Erzählung vom sogenannten Schächer am Kreuz an. Der sterbende Mensch bittet, dass Jesus an ihn denken möchte, wenn er in sein Reich kommt (Lk 23,42). Jesus sichert ihm daraufhin zu, dass der Bittende bleiben wird. Sein Leben bleibt in Christus bewahrt.43 1.4.3 Die Rede von der ecclesia universalis schützt vor menschlichem Urteilen Es liegt viel daran, dass die ecclesia universalis als Gesamtheit derer, die in Christus sind, im Letzten nicht anschaubar ist. Darum kann es von Menschen her gesehen kein Urteil darüber geben, wer zur ecclesia universalis gehört. Dass ein glaubender Mensch den anderen glaubenden Menschen nicht sieht, er also in den Formen gegenwärtig gelebter Sozialität nicht sichtbar vorkommt, ist kein letztes Urteil über seine Zugehörigkeit zur ecclesia universalis. Der Versuch, Zugehörigkeit durch sichtbare Sozialität zu definieren, begegnet uns in einem Jüngerwort an Jesus. »Da fing Johannes an und sprach: Meister, wir sahen einen, der trieb böse Geister aus in deinem Namen; und wir wehrten ihm, denn er folgt dir nicht nach mit uns. Und Jesus sprach zu ihm: Wehrt ihm nicht! Denn wer nicht gegen euch ist, der ist für euch.« (Lk 9,49–50)
43 Siehe auch Kim, Frieden stiften als Aufgabe der Kirche, 2012, 44. Kim spricht dem Tod eine Trennung des Zeitverlaufs, aber nicht eine Trennung der Wirklichkeit zu.
Gottes Wort als Grund und Ursprung von Sozialität
111
Jesus fordert die Gemeinschaft der Jünger heraus. Die Jünger müssen sich damit auseinandersetzen, dass sie selbst sich nicht von der Gemeinschaft mit dem sich aktuell von ihnen trennenden Menschen distanzieren sollen. 1.4.4 Zum Sprachgebrauch: Gemeinde und Kirche Gemeinde und Kirche als theologische Begriffe konsequent zu unterscheiden ist kaum möglich, da die theologischen Gesprächspartnerinnen und -partner ihren eigenen Sprachregelungen folgen. Wenn ich von der Gemeinde spreche, bezeichnet dieser Begriff die ecclesia als leibhafte und sichtbare Gemeinschaft der durch den Glauben an Jesus Christus versöhnten Menschen. Gemeinde benennt die ecclesia als eine Erfahrungswirklichkeit in Zeit und Raum. Spreche ich von der Kirche, bezeichnet dies nicht nur die sichtbare Gemeinde in ihren Einzel- und Partikularkirchen, sondern auch die ecclesia universalis mit ihren in Raum und Zeit nicht sichtbar in Erscheinung tretenden Gliedern.
1.5
Die theologische Verifizierung der Gemeinde als Leib Christi
Der Glaube an Jesus Christus ist – soziologisch formuliert – die Bestandsvoraussetzung der Gemeinde.44 Durch den Glauben wird die Gemeinde als Sozialverhältnis definiert, nämlich als Leib dieses Jesus Christus. Er wird als »das Haupt der Gemeinde« verstanden, die er »als seinen Leib erlöst« hat. (Eph 5,23b) Von den nichtjüdischen Christusgläubigen heisst es, dass auch sie »Miterben sind und mit zu seinem Leib gehören […].« (Eph 3,6) Indem die Gemeinde als Leib Christi verstanden wird, wird sie theologisch verifiziert. Sie gewinnt durch Jesus Christus, als dessen Leib sie sich versteht, ihre Identität. Paulus beschreibt die Ausbildung von Identität bis in die Deutung körperlicher Vorgänge hinein. »Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an unserm Leibe, damit auch das Leben Jesu an unserm Leibe offenbar werde.« (2. Kor 4,10)
Soziologisch beschrieben wird die Weise, in der Gemeindeglieder ihre Identität gewinnen, im Modus der relativen Entscheidungsrationalität: Die Einzelnen bekommen Teil an den Bestandsvoraussetzungen der Gemeinde, nämlich an der Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus. Sie erfahren sich als in und mit der Gemeinde geworden.45 Was wissen wir über die Gemeinde als Leib Jesu Christi und was kann damit als theologische Verifizierung der Gemeinde gelten? 44 Soziologisch gesehen ist der Glaube an Jesus Christus eine vorrational begründete Übereinkunft. Vgl. Kap. I.3.2.3 Gemeinschaft beruht auf vorrationalen Übereinkünften. 45 Merz-Benz, a. a. O., 35.
112
Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
1.5.1 Gottes Selbstmitteilung geschieht prozesshaft In biblisch-theologischer Perspektive wird in der Form von Narrativen vom Unterwegssein Gottes hin zu Menschen aus allen Völkern und Kulturen erzählt. »Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn, den er eingesetzt hat zum Erben über alles, durch den er auch die Welt gemacht hat.« (Hebr 1,1.2)
Ihre Bestandsvoraussetzung hat die Gemeinde in der Selbstmitteilung Gottes, der mit und durch Israel zur Gesamtheit der Menschen hin unterwegs ist. Die mit dem Unterwegssein verbundene Vorläufigkeit und Geschichtlichkeit sind konstitutiv für das biblische Erzählen von Gott. Sie sind damit auch konstitutiv für die Sozialität der Gemeinde. Nun versteht die Kirche Jesus Christus als denjenigen, in dem Gott sein Unterwegssein vollendet hat und in dem er zum Ziel gekommen ist. Jesus sagt von sich, dass er das ihm anvertraute Werk zum Ziel gebracht hat. ( Joh 17,4) Das begründet eine Dialektik: In Jesus Christus sind die Geschichte und die Lebensgeschichten der Vielen zum Ziel gebracht. Dem Unterwegssein der Gemeinde, das von geschichtlicher Bedingtheit und damit von Vorläufigkeit, Fehlerhaftigkeit und Widersprüchen gezeichnet ist, ist die Versöhnung durch Jesus Christus bereits zugesprochen. Für eine praktisch-theologische Kirchentheorie heisst das, dass die Gemeinde die Erfahrung ihres Unterwegsseins und der damit verbundenen geschichtlichen Bedingtheit nicht nur erleidet. Gemeinde versteht ihr Unterwegssein als einen sichtbaren Ausdruck von Gottes eigenem Unterwegssein in die Geschichten und Kulturen von Menschen hinein. In ihrem Unterwegssein ist sie versöhnte und versöhnende, geheilte und heilende Gemeinschaft.
1.5.2 Alle Gemeindeglieder haben an Jesus Christus teil Alle Glieder der Gemeinde sind Glieder am Leib Christi.46 Der Heidelberger Katechismus antwortet in Frage 55: »Alle Gläubigen haben als Glieder gemeinsam und jeder für sich Gemeinschaft an dem Herrn Christus und an allen seinen Schätzen und Gaben«.47
Das Alle beschreibt alle Gemeindeglieder als Subjekt der Kommunikation, da es nicht die einen als habend und die anderen als bedürftig kennzeichnet. Ge46 Die theologische Verifizierung der Gemeinde durch die Rede vom ›Leib Christi‹ untersucht Schöllgen, οικοσ und οικοσ θɛου, in: Holzem/Weber (Hg.), Ehe-Familie-Verwandtschaft, 2008, 89–104, besonders 101. 47 Péry (Hg.), Der Heidelberger Katechismus. Erläuterungen zu seinen 129 Fragen und Antworten, 1963, 75.
Gottes Wort als Grund und Ursprung von Sozialität
113
meinde ist die communio derer, die in ihrer geschöpflichen Begrenztheit an »Christus und allen seinen Schätzen und Gaben« teilhaben. Die geschöpfliche Begrenztheit jedes Einzelnen wird im zweiten Schöpfungsbericht und den paulinischen Briefen als zur Würde des Menschseins und zur Würde der Gemeinde gehörend entfaltet.48 Der Mangel der Einzelnen wird in eine Gemeinschaft von Menschen hineingehoben, für die Christus eingetreten ist, und die wechselseitig füreinander eintreten. Bonhoeffer definiert Gemeinschaft in Sanctorum Communio explizit über die schöpfungsgemässe Begrenztheit und Verantwortlichkeit der Einzelnen. Begrenztheit und Bedürftigkeit der Person sind nicht Defizit der Gemeinde. Sie sind für Bonhoeffer überhaupt erst die Voraussetzung dafür, dass Gemeinschaft erfahren werden kann.49
1.5.3 Der Gemeinde sind starke Attribute gegeben Durch die Bezeichnung der Glaubenden als Leib Christi sind der Gemeinde starke Attribute gegeben. »Die Attribute Einigkeit, Heiligkeit, Universalität und Katholizität entspringen […] aus dem Grund der Kirche und begleiten sie als ihre Verheissung.«50
Weil diese Attribute Jesus Christus auszeichnen, findet die Gemeinde als Leib Christi in ihnen ihre praktische Orientierung. Wenn die Glieder einer Gemeinde Lebensformen in gegenwärtiger Gesellschaft ausbilden, orientieren sie sich an dem, was der Gemeinde als dem Leib Christi zutiefst zueigen ist. Das Attribut der »Einigkeit« beispielsweise orientiert die Gemeinde – als kommunikatives Handeln ihrer Mitglieder verstanden – dahingehend, sie Einigkeit in der Verschiedenheit ihrer Lebensformen zu verwirklichen suchen. Das Attribut der »Heiligkeit« orientiert die Gemeindeglieder dahingehend, dass zwar eine Vielzahl gesellschaftlicher Teilsysteme und Lebensbereiche Gehorsam – heisst Systemkonformität – fordern, aber dass die Gemeinde sich im Konfliktfall als »heilig« und damit nur Einem zugehörig und verpflichtet glaubt.51 Die praktische Orientierung vollzieht sich nicht zuerst in der Beschäftigung mit den Attributen als Begriffen. Die Attribute der Gemeinde müssen lebensweltlich kommuniziert werden, um auf diese Weise angeeignet zu werden. Als Hörgemeinschaft der biblischen Geschichten, die beispielhaft und in sehr verschiedenen geschichtlichen Situationen von Einigkeit, Heiligkeit usw. des Got48 49 50 51
Genesis 2,18: Gott schafft dem Menschen einen zweiten Menschen als Hilfe und Gegenüber. Ausführungen in Kap. VI.1.2 Leistungen und Grenzen medial vermittelter Kommunikation. Ludwig, a. a. O., 372. In römisch-katholischer Ekklesiologie werden andere Attribute genannt, beispielsweise wird von Katholizität statt von Einigkeit gesprochen und Heiligkeit wird als Reinheit interpretiert, vgl. Wagner, Dogmatik, 2003, 102.
114
Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
tesvolkes erzählen, gewinnt die Gemeinde ihre praktische Orientierung. Dabei werden die Attribute des Leibes Christi in der empirischen Kirche nur unvollkommen aktualisiert: »Die Identität ist ›unsichtbar‹ und schaubar erst in den Eschata, und doch nimmt sie schon jetzt ihren aktualen Anfang.«52
Wie bereits ausgeführt versteht die Gemeinde diese Bruchstückhaftigkeit nicht als Infragestellung, sondern als Aktualisierung der ihr zugeeigneten Wirklichkeit.53
1.6
Der Gemeinde eignet ein Versprechen von Stabilität
Weil die Gemeinde ihren Ursprung in Gott hat, eignet ihr ein Versprechen von Stabilität. Bereits das von Menschen gegebene Wort bedeutet sozialgeschichtlich eine Stabilisierung von Lebensformen. Burkhard Liebsch untersucht als Philosoph die Zerbrechlichkeit moderner Lebensformen und geht in einem geschichtlichen Überblick der Frage nach, auf welche Weise das menschliche Wort Lebensformen stabilisiert.54 Die Verbindlichkeit des Wortes, das Menschen einander geben, gründet sozialphilosophisch in einer verlässlichen Beziehung: »Die Verbindlichkeit des Gesagten resultiert nicht aus einer monologischen Verpflichtung, wie sie Kant allein vom moralischen Gesetz her denkt; sie ist ebenso dem Anderen, der uns auf sie festlegt und der uns vertraut, zu verdanken wie das Verlangen, überhaupt sein Wort zu geben. Nur dank des Anderen können wir überhaupt versprechen bzw. haben wir überhaupt etwas zu versprechen.«55
Die Gemeinde gründet nicht zuerst auf Zusagen, die Menschen einander geben, sondern darin, dass Menschen die Zusage Gottes hören. Es ist Gott, der der Gemeinde sein Wort gegeben hat. Die Beziehung Gottes seinem Volk und der Gemeinde gegenüber wird durch die in Bundesschlüssen verwirklichte Treue Gottes beschrieben. Luther nennt die Zusagen Gottes unbedingt verlässlich. In der Selbsthingabe Jesu Christi hat Gottes Zuwendung zur Welt ihren endgültigen geschichtlichen Ausdruck gefunden. Deshalb kann man sich zu ihnen nur in der Form der assertio verhalten: »Eine assertio nenne ich […] unwandelbar an etwas festhangen, bejahen, bekennen, bewahren und ein unüberwindlich, beharrlich bei etwas verbleiben.«56 52 Bonhoeffer, a. a. O., 146. Wie die Empirie der Kirche und ihre theologische Wirklichkeit aufeinander zu beziehen sind, wird im dritten Teil dieses Kapitels behandelt. 53 Vgl. Kap. II.1.5.1 Gottes Selbstmitteilung geschieht prozesshaft. 54 Liebsch, Gegebenes Wort oder gelebtes Versprechen, 2008. 55 Ebd., 67. Kursiv im Original. 56 Luther, De servo arbitrio, 1525, WA 18,603.
Gottes Wort als Grund und Ursprung von Sozialität
115
Als Wort des Evangeliums wird Menschen die Zuwendung Gottes rechtskräftig zugesprochen. Die Gemeinde wird zum sichtbaren Ausdruck und Zeichen der unbedingten Treue Gottes. In dieser Treue Gottes gründet ihre Stabilität. Bonhoeffer schreibt über die empirische Kirche. »Sondern sie ist als konkrete geschichtliche Gemeinschaft in der Relativität ihrer Formen, in der Unvollkommenheit und Unscheinbarkeit ihres Auftretens Leib Christi, Gegenwart Christi auf Erden, denn sie hat sein Wort.«57
Das gegebene Wort Gottes gilt der empirischen Kirche. Es gilt auch der kommenden Kirche, die noch nicht Gegenstand der Empirie ist, die jedoch immer empirisch in Erscheinung treten wird. Der leibhaften Kirche ist die Treue Gottes und damit ihr Bleiben versprochen; das ist die ecclesia universalis. Es wird im Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse immer leibhafte Erfahrungen von Kirche als Personengemeinschaft geben. Den zeitbedingten, sichtbaren Gestaltwerdungen der Kirche aber ist kein Bleiben versprochen. Diese können sich verändern.
1.7
Zusammenfassung erster Merkmale
Die Sozialität der Kirche zeichnet sich dadurch aus, dass ihre Mitglieder eine Wissensgemeinschaft bilden, dass sie in ihrer geschöpflichen Begrenztheit an Christus und aneinander teilhaben und dass sie ihr Miteinander als einen prozesshaft zu gestaltenden Weg verstehen: ➤
➤
Die äusseren Zeichen, an denen die Kirche als solche erkannt wird, sind die Wortverkündigung und die Verwaltung der Sakramente. Die Kirche ist auf die Kommunikation ihres Wissens in Wort und Sakrament festgelegt. Dem wird Aufmerksamkeit zuteil, sobald Formen von Vergemeinschaftung an Bedeutung gewinnen, die sich nicht mehr über die Beteiligung an einem gemeinsamen Wissensbestand konstituieren. Die Kirche kann ihre Kommunikation als Wissensgemeinschaft grundsätzlich nicht aufgeben. Die Kirche ist communio derjenigen, die in ihrer geschöpflichen Begrenztheit an Christus und allen seinen Gütern und Gaben Anteil haben (Heidelberger Katechismus, Frage 55). Das Ja zur geschöpflichen Begrenztheit ihrer Glieder ist konstitutiv für die kirchliche communio. Mit der Formel vom allgemeinen Priestertum wird die geschöpfliche Begrenztheit ihrer Glieder um die potenzielle Wechselseitigkeit des Dienstes aneinander zum Merkmal kirchlicher communio.58
57 Bonhoeffer, a. a. O., 141. 58 Vgl. Kap. II.2.8 Das allgemeine Priestertum als Strukturprinzip der evangelischen Kirchen.
116 ➤
Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
Weil Gottes Selbstmitteilung prozesshaft geschieht, versteht die Kirche ihr Unterwegssein als prozesshaft. Ihre Sozialität ist von der für ein Unterwegssein typischen geschichtlichen Bedingtheit, Vorläufigkeit und Fehlerhaftigkeit gezeichnet. Indem die Mitglieder der Kirche einander im Wissen um diese Eigenart ihrer Lebensführung verbunden sind, glauben sie sich mit und durch Jesus Christus versöhnt.
2
Strukturen innerkirchlicher Kommunikation
2.1
Grunderfahrungen der Kirche wirken strukturbildend
Wie die Handlungs- und Leitungsstrukturen der Kirche verstanden werden, hängt davon ab, welche Grunderfahrungen der Kirche man als prioritär ansieht. Kehl meint mit Grund- bzw. Kirchenerfahrungen Vorstellungen vom kommunikativen Handeln, die dem Gespräch über die Kirche immer schon zugrunde liegen. Er trägt damit der Vorstellung von einer vorrationalen Gründung der Kirche im Sinne von Tönnies und Weber Rechnung: Die Sozialität der Kirche beruht auf einer gemeinsam erfahrenen und gedeuteten Wirklichkeit. Dabei haben ihre charismatischen und traditionalen Orientierungen Gewicht.59 Kehl unterscheidet dabei modellhaft drei dominierende Grunderfahrungen. Solche dreifache Differenzierung findet sich auch in anderen modellhaften Versuchen, Kirchenerfahrungen zu unterscheiden.60 Kirchenerfahrungen stehen dabei nie für sich allein, sondern bedingen und beeinflussen sich wechselseitig. Kunz beispielsweise spricht in seiner Theorie des Gemeindeaufbaus von »Partnergestalten« der Kirche bzw. von einer »Konziliarität« der kirchlichen Sozialgestalten.61 Die erste Grunderfahrung nennt Kehl die einer symbolisch personifizierten Kirche. Sie wird im Gegenüber zu Jesus Christus verstanden und in Metaphern wie beispielsweise der vom Weinberg, vom Schiff oder der Stadt auf dem Berg beschrieben. Sie wird aber auch personifiziert – beispielsweise als
59 Gabriel, Analysen der Organisationsgesellschaft, 1979, 35. 60 Kunz unterscheidet unter Bezugnahme auf Troeltsch ›Mystik‹, ›Sekte‹ und ›Kirche‹, ders., Theorie des Gemeindeaufbaus, 1997, 196–214. Karl Gabriel spricht von »drei Grundströmungen«, in denen sich der Katholizismus organisieren kann, nämlich eine überzeitlichfundamentalistische, eine basiskirchliche und eine pluriforme Organisation. Vgl. Gabriel, Christentum zwischen Tradition und Moderne, 1992, 196. 61 Kunz, a. a. O., 205, 214 (Schaubild), und im Kap. II.3.4 Die Kirche als Koinonia-Realisierung denken (Kunz). Sehr ähnlich argumentiert Bellah, wenn er »contemple-mentary associations« als Kriterium für einen gelingenden Kommunitarismus nennt, siehe Kap. I.3.4.2 Nostalgie als Gefährdung des Kommunitarismus.
Strukturen innerkirchlicher Kommunikation
117
Mutter oder Braut – und wird zum Gegenstand der Meditation, vor allem in der Patristik und Mystik:62 »Das leitende existenzielle und geistliche Interesse dieses Kirchenbilds zielt auf die möglichst ganzheitliche Identifikation mit der Kirche.«63
Die Grunderfahrung einer symbolisch personifizierten Kirche betont die Wirklichkeit der Kirche als einer Setzung Gottes, an der der Mensch mit Hilfe einer Frömmigkeitspraxis teilhaben kann. Die zweite Option ist die einer petrifizierten Kirche. Petrifiziert meint, dass die prioritäre Kirchenerfahrung durch die Erfahrung von Amt und Auftrag der Kirche beschrieben wird: »In dieser Kirchenerfahrung rückt die hierarchisch-sakramentale Struktur der Kirche in den Vordergrund.« Sie wird verstanden als eine »vollkommene ›Heilsanstalt‹ (societas perfecta)«, die mit Ämtern und Sakramenten ausgestattet ist.64
In dieser zweiten Option wird die Unterscheidung zwischen Klerus und Laien betont. Das leitende existentielle Interesse ist die Integration durch Gehorsam. Die Kirche soll Einheit, Sicherheit, Geborgenheit bieten.65 In einer petrifizierten Kirche handeln beispielsweise Menschen qua Amt an anderen Menschen. Die dritte Option ist die einer kommunizierenden Kirche und für diese Untersuchung von besonderem Interesse: Diese Kirchenerfahrung hat ihren Ursprung darin, dass Gott selbst als kommunizierend bezeugt und geglaubt wird.66 Als Weggemeinschaft der Hoffnung ist eine so verstanden Kirche Prototyp oder Vorwegnahme einer Erfahrung von Sozialität, die der ganzen Welt als Schöpfung Gottes zugedacht ist.67 Diese Kirchenerfahrung wird also als exemplarische, weil eigentlich allen Menschen zugedachte Erfahrung von Gemeinschaft verstanden. Die Begriffe Gemeinschaft und Weggemeinschaft sind für Kehl synonym: Denn die Gemeinschaft der Kirche gibt es nur in ihrem geschichtlichen Unterwegssein. Das Unterwegssein der Kirche ergibt sich aus der kulturübergreifenden Kommunikation des Evangeliums, aus dem ständigen Überschreiten von kulturellen Grenzziehungen. Gemeindeentwicklung war von Anfang an ein kulturüberschreitendes Handeln: »From the very beginning, the church was faced with the problem of different cultures coming together.«68 62 Kehl, Die Kirche, 1992, 24. Kehl differenziert die Beispiele hochgradig aus und stellt kirchengeschichtliche Beispiele ihrer Verwirklichung vor. 63 Kehl, a. a. O., 27. Im Original kursiv. 64 Kehl, a. a. O., 31. 65 Kehl, a. a. O., 31. 66 Vgl. Kap. II.1 Gottes Wort als Grund und Ursprung von Sozialität. 67 Kehl, a. a. O., 34. 68 Wright, Communion and Koinonia, 2002 (Einleitung ohne Seitenzahl). Die christliche Kirche
118
Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
Die drei beschriebenen Grunderfahrungen bringen bestimmte Strukturen der Kirche ans Licht. Eine symbolisch-personifizierte Kirche sucht in ihrem kommunikativen Handeln den persönlichen Glauben des Einzelnen und eine emotionale Beziehung zur Kirche zu fördern.69 Eine petrifizierte Kirche zeichnet sich durch eine hierarchisch-sakramentale Struktur aus und integriert Menschen im Sinne des Gehorsams. Eine als kommunizierend geglaubte Kirche bildet Strukturen aus, die ihren Gliedern die subjekthafte Partizipation am Evangelium und die subjekthafte Kommunikation des Evangeliums ermöglichen. Sie wird als »Gemeinschaft von Sündern erfahren, die mit ihrer Schwäche und Schuld das Erscheinungsbild der Kirche, ihr geistliches und menschliches Niveau, ihre zentralen Strukturen und Selbstvollzüge mitprägen«.70 Kehl ordnet den drei Grunderfahrungen Handlungsstrukturen zu, aber auch eine Nähe zu bestimmten Gefährdungen. Die Gefahr einer petrifizierten Kirche besteht beispielsweise in ihrer Dialogunfähigkeit in einer säkularisierten Gesellschaft. Ihre Strukturen tendieren zum Versteinern. Die Gefahr einer symbolisch personifizierten Kirche besteht in der Spiritualisierung der kirchlich-strukturellen Realität. Die Gefahr einer Kirche, die sich als Weggemeinschaft versteht, ist der Verlust »von unterscheidenden Konturen bis hin zur Selbstauflösung«.71 Diese drei von römisch-katholischer Seite beschriebenen Grunderfahrungen finden ihr Äquivalent in der Darstellung der Grundtypen kirchlicher Sozialgestalten bei Troeltsch und ihrer praktisch-theologischen Rezeption für den Gemeindeaufbau bei Kunz. Troeltsch unterscheidet die Sozialgestalt der Kirche als Sekte von der Gestalt der Kirche als Gnaden-Anstalt und der Gestalt eines religiösen Individualismus, wie er in der Mystik begegnet.72 Kunz nimmt die Troeltsch’sche Unterscheidung auf und untersucht, wie sich die Sozialgestalten der Kirche wechselseitig ergänzen und korrigieren. Der Kirchenerfahrung der Weggemeinschaft entspricht dabei am ehesten die Sozialgestalt der Sekte. Sekte schliesst bei Troeltsch keine inhaltliche Bewertung ein, sondern beschreibt die Kommunikation eines bestimmten Kirchentypus’. Folgende Merkmale gelten für eine als Sekte bzw. als Weggemeinschaft verstandene Kirche:
69 70 71 72
erfährt sich von Anfang an als kulturüberschreitend, weil sie von Anfang an in einer Pluralität von Lebensformen existiert. So auch Grethlein, Praktische Theologie, 2012, 181–182. Kehl, Die Kirche, 1992, 28. Kehl, Wohin geht die Kirche?, 4. Aufl. 1996, 112. Im Original fett statt kursiv. Kehl, Die Kirche, 1992, 34. Das wird in Kap. II.3.4 erläutert, wenn ich auf Kunz’ Gemeindeaufbautheorie eingehe. Literatur zum Verständnis von Kirche und Sekte bei Troeltsch und Weber findet sich bei Krech u. a., a. a. O., 53. Troeltsch selber hat den Begriff der Sekte als missverständlich bezeichnet, siehe Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Bd.1, 1994 (1912), 358–426.
Strukturen innerkirchlicher Kommunikation
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»›Laienchristentum‹, ›Freiwilligkeit‹, die Wichtigkeit ›der persönlichen ethisch-religiösen Leistung‹, die Idee der ›religiösen Gleichheit und Brüderlichkeit‹, ›die Unmittelbarkeit des persönlichen religiösen Verhältnisses‹, die ›Kritik an den offiziellen Seelenführern und Theologen‹, die ›Berufung auf das Neue Testament und die Urkirche‹.«73
Man kann fragen, ob der römisch-katholischen Communio-Tradition zuviel Gewicht gegeben wird, wenn doch nach Gemeinschaftsgestalten der evangelischen Kirche gefragt wird. Ich stimme Kertelge zu, wenn er sagt, dass »Wort und Begriff der Koinonia eine erhebliche Rolle« auf der Suche nach einer »ökumenischen Leitvorstellung für eine angestrebte Kirchengemeinschaft« spielen.74 Bei den Sozialgestalten der Kirche handelt es sich um Grundmuster von Sozialität, die sich in den Gesellungsformen jeder Konfession finden. Sie werden innerhalb der Konfessionen nur unterschiedlich wahrgenommen, gewichtet und bewertet. In römisch-katholischer Theologie wurden sie pointiert herausgearbeitet. 2.1.1 Die Grunderfahrungen der Kirche ergänzen und korrigieren einander Werden die Strukturen einer kommunizierenden Kirche auf drei Modelle von Erfahrungswirklichkeit zurückgeführt, die der Kirche immer schon zugrunde liegen, dann bleibt die Kirche im Modell einer Weggemeinschaft vor Ideologisierung geschützt. Denn die Weggemeinschaft wird durch zwei weitere starke Kirchenerfahrungen ergänzt und korrigiert. Die Kirchenerfahrungen einer petrifzierten und einer symbolisch mystifizierten Kirche zeigen sich offen für den Weg einer kommunizierenden Kirche und entfalten gerade darin ein Potenzial für die Korrektur von Einseitigkeiten.75 Auch bei Kunz steht das Wechselspiel – er spricht von einer Konziliarität der drei kirchlichen Sozialgestalten – im Mittelpunkt seiner Gemeindeaufbautheorie.76 Kunz stellt dar, wie die Bewegung, die Organisation und die Institution als drei Grundgestalten von Kirche sich gegenseitig widerstehen und doch fortwährend aufeinander angewiesen bleiben.77 Kunz und Kehl sehen die drei grundlegenden Gestaltwerdungen (Kunz) bzw. die drei Kirchenerfahrungen (Kehl) in postmoderner Gesellschaft als nicht gleichberechtigt an und ordnen der Koinonia (Kunz) bzw. der Communio (Kehl) eine vorrangige Bedeutung zu. Damit steht bei beiden die Grunderfahrung einer kommunizierenden Kirche im Zentrum ihrer praktisch-theologischen Kirchentheorie. Die Grunderfahrung einer kommunizierenden Kirche wird im Folgenden als Weggemeinschaft bezeichnet. Kirche als Weggemeinschaft konstituiert 73 Ebd., 208. Kunz zitiert Troeltsch, Die Soziallehren, Bd.1, 1994 (1908). 74 Kertelge, Koinonia und Einheit der Kirche nach dem Neuen Testament, in: Communio Sanctorum, Schreiner/Wittstadt (Hg.), 1988, 53–67, 53. 75 Kehl, Die Kirche, 1992, 38. 76 Kunz, Theorie des Gemeindeaufbaus, 1997, 205. 77 Vgl. Kap. II.3.4 Die Kirche als Koinonia-Realisierung denken (Kunz).
120
Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
sich durch die Kommunikation derjenigen Menschen, die sich als Leib Christi verstehen und als Hörgemeinschaft, im Alltagshandeln und im Dienst an Anderen miteinander unterwegs sind. 2.1.2 Die Grunderfahrung einer Weggemeinschaft ist offen für die Wirklichkeit einer pluralistischen Gesellschaft Wird die Kirche vorrangig als Weggemeinschaft verstanden, erweist sich ihre Erfahrungswirklichkeit als offen für die Wirklichkeit einer pluralistischen Gesellschaft: »Die heutige Situation der Kirche erfordert m. E. eine entschiedene Option für die dritte Weise einer geistlichen Kirchenerfahrung, weil der […] Weg der ›kommunizierenden‹ Kirche am besten das Evangelium Jesu Christi vom Reich Gottes mit der geschichtlichen und kulturellen Situation unserer Gegenwart vermitteln kann.«78
In dieser Offenheit liegt einer der Hauptgründe dafür, der Kirche als Weggemeinschaft einen Vorzug vor anderen Kirchenerfahrungen zu geben. Eine Kirchenerfahrung, die durch Kommunikation beschrieben wird, gibt es nicht ohne Gespräch mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit.79 Tebartz-van Elst spricht von »einer inkarnierte[n] Glaubenswelt«: »Eine wichtige hermeneutische Voraussetzung […] bleibt, dass die soziologisch erfassten Umstände dann auch in ihrer theologischen Valenz als geschaffene und inkarnierte Glaubenswelt angenommen werden.«80
Kunz nennt die theologische Valenz der soziologischen Umstände eine Situationskybernetik. Die Situation ist die tentatio der Kirche, die sie an die meditatio der Tradition und an die oratio zurück bindet. »Wer sich beteiligt und nicht nur beobachtet, wird die Situation der Kirche als Anfechtung erfahren, als eine tentatio, die den Interpreten wieder zurück bindet in die oratio und meditatio der Tradition.«81
Die Kirche als Weggemeinschaft ist zur Beteiligung und zum Gespräch über Lebensformen in gegenwärtiger Gesellschaft gerufen. Eine hierarchisch struk78 Kehl, Die Kirche, 1992, 38. 79 Für die Homiletik hat Ernst Lange die Kirchenerfahrung der Weggemeinschaft vorweg genommen, als er eine dialogische Gestalt des Gottesdienstes entworfen hat. »Ernst Lange geht es in der Gemeindearbeit nie um das Weitergeben fertiger Konzepte, sondern immer um das gemeinsame Erfahren und Erarbeiten von geistlichen Realitäten.« Kopjahr, Kommunikation des Evangeliums für die Web–2.0 Generation, 2013, 28–29. Ähnlich auch Nüchtern, a. a. O., 96. 80 Tebartz-van Elst, Gemeinde in mobiler Gesellschaft, 1999, 358. Ähnlich beschreibt Bernhard Fresinger den Wandel kirchlicher Traditionen als einen komplexen kommunikativen Vorgang, siehe Fresacher, Gedächtnis im Wandel, 1996. 81 Kunz, Kybernetik, in: Grethlein/Schwier (Hg.), Praktische Theologie, 2007, 610–611.
Strukturen innerkirchlicher Kommunikation
121
turierte (petrifzierte) Kirche dagegen kann der Gesellschaft das Gespräch verweigern und autoritätsgestützt argumentieren.82 Neben der Offenheit für den Dialog in einer pluralistischen Gesellschaft gibt es einen zweiten starken Grund dafür, die Kirchenerfahrung der Weggemeinschaft als prioritär zu betrachten. Das ist ihre biblisch-normative Bedeutung. Dieser wenden wir uns im Folgenden zu.
2.2
Die Grunderfahrung der Kirche als Weggemeinschaft und ihr biblisch-normativer Anspruch
Warum wird der Grunderfahrung der Weggemeinschaft Priorität vor anderen, ebenfalls biblisch zu begründenden Kirchenerfahrungen, gegeben? Die biblischen Erzählungen vom Aufbruch Abrahams, vom wandernden Gottesvolk und vom umherziehenden Jesus von Nazareth haben eine normative Kraft und damit eine ekklesiologische Dimension. Gott selbst wird als ein Gott verstanden, der sich auf einen geschichtlichen Weg in seine Schöpfung und den Wandel ihrer Kulturen hinein begeben hat und diesen Weg in Jesus Christus zum Ziel gebracht hat. Die biblischen Erzählungen bringen in grosser Vielfalt zu Gehör, dass Aufbruch und Bewegung in jüdisch-christlicher Tradition als wesentlicher und unverzichtbarer Bestandteil von Gemeinschaftserfahrungen verstanden werden. Die Erzählungen von Aufbruch und Bewegung appellieren an das Engagement des Hörers, sie ziehen ihn selbst in Aufbruch und Bewegung hinein. Der Theologe Helmut Schwier bietet den Begriff »engagierte plurale Lektüreformen« an.83 Engagierte Lektüre provoziert und geht mit der Spannung von Provokation und Korrektur um. Die biblischen Erzählungen wollen die Hörerin und den Hörer nicht nur über Weggemeinschaft informieren, sondern sie rufen sie in die Dynamik einer Weggemeinschaft hinein, die aus dem Reden Gottes heraus entstanden ist und weiter entsteht. Erfahrungen von Aufbruch und Bewegung wollen historisch verifiziert werden, damit sie nicht in »Ideologisierungen oder Projektionen« enden.84 Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, in welcher Weise Aufbruch und Bewegung in der jüdisch-christlichen Tradition als Bestandteil von Gemeinschaftserfahrungen zu verstehen sind. Gross angelegte Untersuchungen über jüdischchristliche Kommunikationsstrukturen in der Antike finden sich in den Arbeiten des Kirchenhistorikers Adolf von Harnack, des Organisationstheoretikers 82 Vgl. Kap. II.2.4 Kirche als Weggemeinschaft hat eine dialogische Struktur. 83 Schwier, Die Rolle von Bibel und Exegese, 2001, 352. 84 Ebd., 352.
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Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
Reinhold Reck, des Neutestamentlers Eckhard Schnabel und des Kirchengeschichtlers Gustave Bardy. Sie unternehmen eine religionswissenschaftliche bzw. ethnologische Konstruktion des frühen Christentums.85 Es wird deutlich, dass bereits die frühe Kirche eine Vielzahl von Formen ausgebildet hat, in denen das Zusammenspiel von Glauben und räumlicher Mobilität zum Ausdruck kommt. Eine Zusammenstellung von Formen nichtparochialer christlicher Gemeindebildung findet sich bei dem Praktischen Theologen und Religionssoziologen Karl-Fritz Daiber.86
2.2.1 Das biblische Grundmotiv von Aufbruch und Bewegung Ein Grundmotiv der biblischen Erzählungen ist der Aufbruch. Die Begegnung mit dem Gott Israels wird in den Vätergeschichten als Ruf in den Aufbruch verstanden. Abraham wird aus der Sesshaftigkeit gerufen (Gen 12,1–6) und fortan durchzieht das Motiv von Ruf und Aufbruch die biblischen Überlieferungen. Im Neuen Testament folgt Jesus von Nazareth dem Ruf in die Heimatlosigkeit (Mt 8,20): »So wie er von Ort zu Ort als wandernder Prophet umherzog, um Israel auf die unmittelbar bevorstehende Basileia Gottes vorzubereiten, so wie er seine Familie verlassen und auf jede soziale Absicherung verzichtet hat. So wie er auf einen festen Wohnsitz verzichtete und ohne Arbeit war, die den Lebensunterhalt sicherte, sind alle, die mit ihm in Galiläa und auf seinem Weg nach Jerusalem Gemeinschaft suchen, sozial aufeinander und auf die unterwegs geschenkte Gastfreundschaft angewiesen. Gemeinde verortet sich hier unterwegs und immer wieder neu.«87
Paulus transzendiert die irdische Heimat durch das »Bürgerrecht in den Himmeln« (Phil 3,20), und im Hebräerbrief stellt der Verfasser seinen Lesern das wandernde Gottesvolk vor Augen (Hebr 11,8–9). Der Aufbruch als soziologische Wirklichkeit wird als ein Normalfall jüdisch-christlicher Glaubensgeschichte verstanden und wird im Gottesverhältnis reflektiert. »Seid getrost und unverzagt, fürchtet euch nicht und lasst euch nicht vor ihnen grauen; denn der HERR, dein Gott, wird selber mit dir ziehen und wird die Hand nicht abtun und dich nicht verlassen.« (Dtn 31,6)
Der Gott Israels wird als ein Gott verstanden, der sein Volk in Phasen der Mobilität begleitet und ihm auch als Volk im Wandel Stabilität verspricht. Begleitung meint, dass Gott als wandernder Gott verstanden wird, der ein wanderndes Volk 85 Von Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Bd. 1, 1906; Reck, Kommunikation und Gemeindeaufbau, 1991; Bardy, Menschen werden Christen, 1988; Eckhard Schnabel, Urchristliche Mission, 2002. 86 Daiber, Christliche Religion und ihre organisatorischen Ausprägungen, in: Hermelink/Wegner (Hg.) Paradoxien kirchlicher Organisation, 2008, 60–63. 87 Tebartz-van Elst, Gemeinde in mobiler Gesellschaft, 1999, 382–383.
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begleitet: Er führt an neue geographische Orte und in neue sozialgeschichtliche Situationen (Gen 46,4a). Gerade das Mit-Wandern Gottes unterscheidet das werdende Israel religionsgeschichtlich von den Göttern der sie umgebenden Umwelt. Die Beziehung, in die sich Menschen als von Gott Gerufene erfahren, wird als stabil gedeutet, weil sie in der Bundestreue Gottes (hebr. ämät) ihren Grund hat. Nicht der Ort garantiert die Stabilität der Gottesbeziehung, sondern die Qualität der Beziehung macht die Stabilität aus: »So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten.« (Dtn 7,9)
Israel begegnet Gott aber auch in stabilen äusseren Gestalten. Zur Zeit der Wüstenwanderung ist das die Stiftshütte als mitwanderndes Heiligtum, später sind es Kultstätten wie Silo, der Tempel in Jerusalem oder die Synagogengemeinden im babylonischen Exil. Heiligtümer entstehen im Zuge von Ortswechseln. Sie gewinnen ihre Bedeutung durch die Annahme bzw. Bezeugung der Ortsanwesenheit Gottes. Ein starkes Bild für einen von Gott selbst vollzogenen Ortswechsel findet sich in der Vision des Propheten Hesekiel. Der Prophet schaut, wie sich die Herrlichkeit Gottes vom Tempel in Jerusalem löst, wie sie aufsteigt und sich ins babylonische Exil bewegt: »Und der Geist hob mich empor, und ich hörte hinter mir ein Getöse wie von einem grossen Erdbeben, als die Herrlichkeit des HERRN sich erhob von ihrem Ort.« (Hes 3,12)
2.2.2 Die frühe Kirche nutzt bestehende Mobilitätsstrukturen Zur Zeit des Neuen Testaments lehnen sich die frühen christlichen Gemeinden in ihrer Lebensführung an die Ordnung synagogalen Lebens an. Das heisst, dass die Gemeinden sich aneinander gewiesen wissen. Sie sind wie die jüdischen Gemeinden offen für Zuzüge und für Gastfreundschaft. Die Stabilität der Ortsgemeinden schützt und pflegt eine Grundgestalt des gemeinsamen Glaubens, die als gemeinsames, eschatologisch bestimmtes Unterwegssein verstanden wird. In den ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderten wird die Ausbreitung des christlichen Glaubens durch die soziale Mobilität in der kaiserzeitlichen Gesellschaft gefördert. Adolf von Harnack schreibt in Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten über die Bedingungen, die die Verbreitung »der christlichen Religion« gefördert haben. Er stellt dar, wie die Ausbreitung des Judentums und die kulturelle Vereinheitlichung des Mittelmeerraums durch Hellenisierung zusammenwirken. Er beschreibt sogar
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die Verkehrsbedingungen und den Strassenbau in der römischen Kaiserzeit.88 Der Reiseverkehr lässt sich als »der wesentliche Transmissionsriemen des Evangeliums« bezeichnen.89 Das Strassensystem im Römischen Reich hatte – allein was die Hauptverkehrsstrassen betraf – eine Länge von 90.000 km.90 Ein weiteres Beispiel für räumliche und soziale Mobilität in der römischen Kaiserzeit stellt das Beamtenwesen dar. Die staatlichen Beamten breiteten das Christentum durch ihre Versetzungen im Reich aus: »Prosenes ist ein Beispiel dafür, dass nicht nur die geographische Mobilität von Christen die Missionserfolge beschleunigte, sondern auch die soziale Mobilität in der kaiserzeitlichen Gesellschaft.«91
Menschen in den frühen christlichen Gemeinden haben an relativ allen Gesellschaftsschichten und damit an relativ allen Lebensformen partizipiert, jedenfalls in den städtischen Gemeinden: »Dass in den Städten auch Angehörige der führenden Schicht zur christlichen Gemeinde gehörten, bezeugt Paulus für Korinth (1 Kor 1,26) und setzt Ignatius von Antiochien etwa zwei Generationen später für Rom voraus, wenn er in seinem Brief an die dortige Christengemeinde die Befürchtung äußert, sie könnten sein Martyrium verhindern, was praktisch nur vermögenden und bei den Behörden einflussreichen Gemeindemitgliedern möglich war.«92
Die gesamtgesellschaftliche geographische Mobilität wurde von Christen vielfach mitvollzogen. Die frühe christliche Kirche darf also nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Separierung von der Gesamtgesellschaft gesehen werden.93 Christen passten sich der Dynamik der sie umgebenden Gesellschaft durchaus an. Paulus nutzte die gegebenen Kommunikations- und Reisemöglichkeiten wohl offensiv für die Ausbreitung des Evangeliums.94 Betrachtet man die Reisepläne des Paulus auf den sogenannten ersten beiden Missionsreisen in Kleinasien, orientiert sich Paulus offensichtlich strategisch. Er gründet christliche Gemeinden bevorzugt an Militärstrassen und in grösseren Städten – das heisst an Knotenpunkten der Kommunikation. 88 Von Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Bd. 1, 1906, 17–19, besonders das Kapitel Äussere Bedingungen für die universale Ausbreitung der christlichen Religion. 89 Schnabel, Urchristliche Mission, 2002, 617. Kursiv im Original. 90 Ebd., 618. Schnabel bezieht sich auf Reck, Kommunikation und Gemeindeaufbau, 82. 91 Markschies, Zwischen den Welten wandeln, 1997, 29. 92 Von Stritzky, Kirche aus allen Milieus?, in: Ebertz/Hunstig (Hg.), Hinaus ins Weite, 2008, 60. 93 Ein Beispiel ist die Verweigerung des Kaiseropfers. Der Briefwechsel zwischen Plinius dem Jüngeren und Kaiser Trajan bezeugt, wie Christen in Kleinasien sich dem gesellschaftlichen Brauch des Kaiseropfers verweigern. Vgl. Ritter (Hg.), ›Zur Rechtslage der Christen‹, Alte Kirche, 1977, 14–16. 94 Vgl. den Bericht über die mehrfachen Ortswechsel von Priscilla und Aquila in Apg 18,2.18.26.
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Zum strategischen Umgang mit gesellschaftlichen Gegebenheiten gehört die Beobachtung, dass Paulus »in gewissem Sinn durchaus eine milieuspezifische Evangeliumsverkündigung (Stadtbevölkerung; Gottesfürchtige)« betrieb.95 Er teilt das Evangelium mit Menschen, die selbst mobil sind, und sucht so die dem Evangelium innewohnende Dynamik zu fördern.96
2.2.3 Die Bedeutung von Gastfreundschaft und Konzilien Gastfreundschaft erleichterte und förderte die räumliche Mobilität. Schon bei Jesus kam der Gastfreundschaft eine zentrale Rolle zu (Mt 25,35–40). Sie wurde wohl unabhängig davon gewährt, aus welchem Anlass Christen unterwegs waren. »Neben dem Militär reisten Kaufleute durch das imperium, und auch sie dürften entscheidende Bedeutung für die Ausbreitung des Christentums gehabt haben. Ein ägyptischer Papyrus bewahrt uns beispielsweise den Gruss eines Irenäus an einen Geschäftsfreund; der Brief ist in Rom entstanden, wohin sich der Absender nach dem Entladen seiner Kornlieferung in Puteoli oder Ostia begeben hatte. Seine Formulierungen zeigen, dass sich der Christ aus dem ägyptischen Faijum in die Hauptstadt an seine christlichen Schwestern und Brüder gewendet hatte. […] Der Ort hat uns so aufgenommen, wie Gott es wollte.«97
Auch die Reisen zu frühchristlichen Konzilien sind in ihrer Bedeutung für eine mit Mobilität umgehende Kirche nicht zu unterschätzen: »Adolf von Harnack trägt in seiner berühmten Missionsgeschichte allein sechsundzwanzig Namen von christlichen Theologen zusammen, die während des zweiten und frühen dritten Jahrhunderts aus allen möglichen Ecken des Reichs nach Rom gereist sind – angesichts der Tatsache, dass uns höchstens zehn Prozent der einschlägigen christlichen Kultur noch erhalten sind, darf von der Spitze des Eisbergs geredet werden.«98
In den ersten Jahrhunderten reisten Gemeindeglieder um theologischer Einigungen und der angestrebten Bekenntnisbildung willen. Die sichtbaren Gemeinden mussten kommunizieren, weil sie als ecclesia invisibilis die eine Kirche Jesu Christi bilden.99 Das ist ekklesiologisch bedeutsam: Die ecclesia wurde als Gesamtheit aller Glaubenden verstanden. Fragen der Lehre betrafen alle Glaubenden in gleicher Weise. 95 Gielen, Allen alles werden?, in: Ebertz/Hunstig (Hg.), Hinaus ins Weite, 2008, 55. 96 Beobachten lässt sich das an der Strategie des Paulus, der das Evangelium in der Provinz Asia verkündigt und dazu Ephesus aufsucht. Die Absicht nach Bithynien zu ziehen richtet sich wohl auf die Militär- und Handelsstrasse, die ost- und weströmisches Reich verbindet (Apg 16,6–7). 97 Markschies, Zwischen den Welten wandeln, 1997, 26–27. Schnabel, Urchristliche Mission, 206, führt die Inanspruchnahme von Gastfreundschaft durch den Jüngerkreis um Jesus von Nazareth aus. 98 Markschies, a. a. O., 25–26. 99 Vgl. Kap. II.1.4.1: Die Gesamtkirche wird als leibhaft verstanden.
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Das brachte ein Ringen um eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Begrifflichkeit mit sich. Auf Konzilien trafen aramäisch sprechende Theologen, griechisch geschulte Philosophen und Theologen mit lateinischen Philosophen und Rechtsgelehrten zusammen. Hinzu kamen die Kopten, später die Syrer, die Georgier, die Armenier, die Äthiopier, um nur einige zu nennen. Sie suchten nach der Einheit der Kirche über die sprachlichen und kulturellen und damit auch über die räumlichen Grenzen hinweg. Diese Einheit wurde als eine Gabe Gottes geglaubt, musste aber ständig neu aktualisiert werden.100 Zur frühchristlichen Kommunikation gehören neben dem Reisen die Briefe, die man sich sandte oder im Zuge des Reisens auch austauschte. »Jeder Reisende war ein potentieller Briefträger.«101 Auch mit den Briefen überschreiten die Christen der ersten Jahrhunderte sprachliche und kulturelle Grenzen mit dem Anliegen, die Einheit der Kirche zu suchen und zu wahren. 2.2.4 Ordensgemeinschaften als Sonderfall kirchlicher Mobilität Einen Sonderfall an Mobilität stellen ab dem frühen Mittelalter die Ordensgemeinschaften dar. Als die Kirche zur gesellschaftlichen Hauptkultur geworden war, blieben Ordensgemeinschaften mobil, gründeten Klöster und visitierten diese. Als weitere Sonderfälle sind die Pilgerbeweglichkeit im keltischen Christentum bzw. im normannischen Missionsgedanken zu verstehen. Pilgern wurde dabei als Mission ohne Rückkehr verstanden. Ein weiterer Sonderfall ist das Aufkommen der russischen Pilgerbewegung. Dass glaubende Menschen in dieser Welt keine heimatliche Stadt haben (Hebr 13) wird zur Grundlage einer Lebensführung, die als andauernde Busse begriffen wird.102 Ein Mensch nimmt das Büsserkleid als Pilgerkleid und wandert von Ort zu Ort, ist nirgends zu Hause und weiss, dass ihm erst in der Ewigkeit Ankommen versprochen ist. Auch wenn der Pilger seine Existenz als Normalexistenz christlichen Lebens versteht, wird diese Lebensführung von der Kirche und der Gesellschaft als – bewunderte, belächelte und auch bekämpfte – Sonderform des Lebens erfahren.
100 Link u. a., Sie hielten aber fest an der Gemeinschaft… Einheit der Kirche als Prozess im Neuen Testament und heute, 1988, 29. 101 Schnabel, Urchristliche Mission, 2002, 625. 102 Zum Pilgern siehe den Artikel von Hartmut Kühne ›Wallfahrt/Wallfahrtswesen‹, in: TRE Bd. 35 (2003) Abschn. V, 423.
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2.2.5 Die Mobilität der Gesellschaft teilen – und dabei die Einheit der Kirche verwirklichen Die Bedeutung von Mobilität für jüdische und christliche Gemeinschaftserfahrungen ist deutlich geworden: ➤
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Die Stabilität Israels und der christlichen Gemeinde hat ihren Grund in der Bundestreue Gottes. Sie beruht nicht auf einem äusseren Organisationsprinzip, sondern auf einer als personal verstandenen Beziehung und Kommunikation. Der Gott Israels wird als ein Gott verstanden, der sein Volk an neue geographische Orte und in neue soziale Situationen hinein begleitet und führt. Gerade darin erweist sich die Besonderheit Gottes gegenüber den Göttern der kanaanäischen Umwelt. Heiligtümer sind Orte der Geschichtsvergegenwärtigung und damit der Stabilität. Diese Orte sind teilweise ›transportierbar‹ (Stiftshütte) und können ändern – siehe den Ortswechsel nach Babylonien. Die frühen Christen teilen die Lebensweise ihrer Umwelt und damit auch deren Mobilität. Dazu gehört die strategische Nutzung von Strassen, Kommunikationskanälen und städtischer Dynamik. Im Bemühen um die Einheit der Kirche willen wird gereist. Konzilien, reger Briefverkehr und Fürbitte suchen die Einheit der Kirche. Gastfreundschaft erleichtert und fördert Mobilität. Ordensgemeinschaften und Pilgerfrömmigkeit zeichnen sich teilweise durch hohe Mobilität aus.
2.3
Kirche als Weggemeinschaft, Basisgemeinde, neues Gottesvolk
Im Folgenden richten wir den Blick auf Gestaltwerdungen der Kirche, die der Grunderfahrung der Weggemeinschaft Priorität geben. Sowohl im evangelischen wie im römisch-katholischen Raum finden sich eher aszetisch ausgerichtete Gemeinschaftsbewegungen neben linksliberalen und politisch engagierten Basisgemeinden. Gemeinden in Gestalt der Small Christian Communities in Afrika und lateinamerikanische Basisgemeinden bilden wiederum einen eigenen Typus.103 Die Lebenswelt ihrer Gemeindeglieder ist Teil des jeweiligen Gemeindemodells.
103 In Veröffentlichungen über Small Christian Communities (SCCs) werden die Entwicklungen in verschiedenen Regionen der Welt unterschieden, wodurch die Kontextualität dieses Kirchenmodells betont wird. Beispiel: Healy/Hinton (eds.), Small Christian Communities Today, 2005. Auf den Seiten 177–184 findet sich eine Aufstellung der Web Sites aller bekannten SCCs weltweit.
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Es bedarf eines Zusammenspiels verschiedener gesellschaftlicher Faktoren, damit sich Kirchen prioritär als Weggemeinschaft verstehen und von dieser Kirchenerfahrung her ihre Kommunikation entwerfen. Erfahrungen von Weggemeinschaft verdichten sich beispielsweise in Zeiten von gesellschaftlichen Umbrüchen, denn Umbrüche beruhen wesentlich auf der kritisch-transformativen Kraft von sozialen Bewegungen.104 Oft sind es Freundschaften und nahe persönliche Beziehungen, die zu Keimzellen sozialer Bewegungen werden.105 Eine dauerhafte Vorordnung der Weggemeinschaft als Kirchenerfahrung findet sich in einigen Ordensgemeinschaften und in Traditionen, die Gemeinschaftsbewegungen und Basisgemeinden als die eigentliche Sozialgestalt der Kirche verstehen.106 Will die Kirche dauerhaft eine Erfahrung von Weggemeinschaft ermöglichen, stellt sich im Anschluss an Max Weber die Frage, wie sich Gemeinschaften bzw. Bewegungen zu Prozessen von Institutionalisierung verhalten.107 Winfried Gebhardt hat das dialektische Verhältnis von Charisma und Institution grundlegend untersucht und für eine Theorie des sozialen Wandels fruchtbar gemacht. Mit Charisma als Lebensform benennt er den Versuch, sich dem »Prozess der Veralltäglichung des Charisma« zu widersetzen.108 Gebhardt konzentriert sich in seiner Untersuchung auf Gruppen, die sich der erfolgreichen Institutionalisierung sozialer Bewegungen entgegensetzen und fragt, in welchen Schritten und Formen sich solche Gruppen entwickeln.109 Er beansprucht damit, die Webersche Charisma Konstruktion systematisch weiterzuentwickeln. Neuere Beobachtungen zur Bewahrung des Charismas einer Gemeinschaft bzw. einer sozialen Bewegung finden sich bei dem römisch-katholischen Soziologen Michael Hochschild. Dieser hat 2012 verschiedene benediktinische Klostergemeinschaften befragt, um herauszufinden, warum manche Klöster blühen und andere um ihre Existenz bangen. Seinen Forschungsergebnissen zufolge braucht jede geistliche Bewegung ein gesellschaftliches Programm, wenn sie ihrem Selbstanspruch gerecht werden will. Ausserdem bedarf es einer For104 Die Theorie sozialer Bewegungen weiss um ein Setting von politischen und gesellschaftlichen Umständen, die das Entstehen sozialer Bewegungen ermöglichen. Vgl. Meyer, Protest and Political Opportunities, Annual Review of Sociology 2004 (30), 125–45, 125. 105 Man denke an die Darstellung der Reformatoren auf der mittleren Tafel des Altars in der Stadtkirche zu Wittenberg. Lukas Cranach malt die Reformatoren als einen Freundeskreis, der an die Stelle der historischen Jünger tritt. Sie sitzen miteinander am Tisch; in der Tischmitte liegt das Passalamm. 106 Zum Selbstverständnis von römisch-katholischen Ordensgemeinschaften als geistlichen Weggemeinschaften siehe http://www.orden.de/index.php?rubrik=40&seite=kolumne& e2id=56&bist=&id=110&style=s&PHPSESSID=mcg81n5o [Stand: 02. 08. 2014]. 107 In Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1985, 485–488, fasst Weber zusammen, was er unter einer charismatischen Herrschaft versteht und wie sich Veralltäglichung und Versachlichung des Charismas vollziehen können. 108 Gebhardt‚ Charisma als Lebensform, 1994, 2. 109 Ebd., 7.
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menvielfalt und eine Ungleichzeitigkeit der klösterlichen Erscheinungsformen, wenn Gemeinschaften in pluralistischer Gesellschaft ihr Ursprungscharisma bewahren wollen.110 Der Anglikaner Peter Rollins meint, dass die Kirche in hohem Masse auf Gemeinschaften angewiesen ist, die ausserhalb der autorisierten Strukturen stehen und so den radikalen Ruf darstellen, den es braucht, damit Wandel und Wachstum stattfinden können. Werden kirchliche Bewegungen zu schnell integriert, ist dies seiner Meinung nach eine Gefährdung ihrer kritisch-transformativen Kräfte.111 Neben der Formenvielfalt und der Wahrung der Ungleichzeitigkeit von kirchlichen Erscheinungsformen besteht in römisch-katholischer Sicht eine weitere Hilfe zur Wahrung kirchlicher Bewegungen in der Erziehung des Klerus. Bischöfe, die sich in der Bewegung der Small Christian Communities engagieren, nennen die fortlaufende Erziehung zur Kommunikation als Voraussetzung für funktionierende Weggemeinschaften. Das kirchliche Modell der Small Christian Communities nennt eine Erziehung zu einer partizipativen Grundhaltung als unerlässlich: »Wenn die pastorale Wahl des Aufbaus Kleiner Christlicher Gemeinschaften erfolgreich werden soll, muss eine ernsthafte Anstrengung zur Erziehung des Klerus, der Ordensleute und Laien nach den authentischen Prinzipien des Zweiten Vatikanischen Konzils unternommen werden, und zwar besonders in der Ekklesiologie.«112
In zwei konfessionell unterschiedenen Abschnitten betrachten wir geschichtliche Gestaltwerdungen der Kirche als Weggemeinschaft.
2.3.1 Die evangelische Kirche als Erfahrung von Weggemeinschaft Wo die evangelische Kirche als Weggemeinschaft in Erscheinung tritt, scheint sie einen spezialisierten Frömmigkeitstypus, nämlich entweder einen eher pietistischen oder einen eher linksliberalen Typus darzustellen. 110 Hochschild, Biometrie des Klosters von heute, 2013, 145.149.186. Hochschild zufolge braucht die Schönstattbewegung die Pädagogik, Sant’Egidio braucht die Solidarität usw. Wenn geistliche bzw. religiöse Bewegungen nicht über genügend Formenreichtum verfügen, um sich auf zeitbedingte Anfragen der Gesellschaft einzulassen, verfestigen sie sich in früheren Formen und Inhalten, erstarren und veralten. 111 Rollins, Biting the hand that feeds, in: Nelstrop/Percy (eds.), Evaluating Fresh Expressions, 71–84, 2008, 72–73. Rollins macht das an Beispielen wie dem von Franz von Assisi deutlich, dessen Armutsbewegung von der römisch-katholischen Kirche integriert wurde, und am Beispiel der filmischen Matrix-Trilogie der Wachowski-Brüder. Die Figur des Nero als Messias-Figur und ›Zion‹ erweisen sich als Teil der sogenannten Matrix. 112 So der Verband katholischer Bischofskonferenzen in Afrika (AMECA), der für Ortsgemeinden in der Form von Small Christian Communities eintritt, in: Conclusions of the study conference of the AMECEA Plenary, in: AFER 21 (1979), 265–272, 270, in: Bertsch u. a., Alternativen zur traditionellen Pfarrstruktur, 1997, 26.
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Ein historisch bedeutendes Beispiel für die Gemeinschaftsgestalt der evangelischen Kirche stellt die Herrnhuter Brüdergemeine dar. In kleinen Nachfolgegruppen suchen Menschen eine gleichberechtigte Partizipation am Evangelium zu leben.113 Im sächsischen Herrnhut wurde bereits Mitte des 18. Jahrhunderts theologischen Laien, darunter Teenagern und Frauen, die Leitung von Seelsorgegruppen und Bibelgesprächskreisen übertragen.114 In dieser Kommunikationsstruktur kommen Menschen unabhängig von Herkunft, Alter, Geschlecht und gesellschaftlicher Stellung mit ihrem Leben und Glauben zur Sprache und wirken an der Leitung der Gemeinde mit.115 Solche Nachfolgegruppen sind Zentrum weiterer kirchentheoretischer Entwürfe.116 Manche von ihnen sind hoch professionalisiert. In den reformierten Kirchen der Schweiz gibt es beispielsweise eine Vielzahl von Kommunitäten und Bewegungen. Diese sind überwiegend gut miteinander und mit Ortsgemeinden vernetzt und sehen die Vernetzung auch als Teil ihres Programms.117 Weitere Ausprägungen der evangelischen Kirche als Weggemeinschaft sind in den gesellschaftlichen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre entstanden. In Deutschland haben Weggemeinschaften in »Gruppierungen (Studenten- und Frauenbewegung, osteuropäische Reformbewegung), Personen (Helmut Gollwitzer, Helmut Thielicke, Dorothee Sölle), Strukturen (Kirchen- und Gemeindeaufbau) oder Aktionsformen (Kirchentag, Politisches Nachtgebet)« ihren Ausdruck gefunden.118 Die Kirchenreformbewegung der 1960er Jahre erlebte sich als eine soziale Kraft in den als bevormundend empfundenen Kommunikationsstrukturen von Kirche und Gesellschaft im Deutschland der Nachkriegszeit. Die Unterscheidung in einen eher pietistischen und einen eher linksliberalen Typus von Kirche als Weggemeinschaft ist nicht zwangsläufig. Das Experiment der Ladenkirche in Berlin-Spandau, das die Theologen Ernst Lange und Alfred Butenuth 1960 begonnen haben, stellt eine frühe Form der heute als Fresh Expressions of Church bezeichneten Formen dar. Die Ladenkirche wollte Kirche für 113 Vgl. Kap. II.1.5.2 Alle Gemeindeglieder haben an Jesus Christus teil. 114 Leiterinnen und Leiter von Gruppen heissen Akoluthen. Vgl. den Artikel von Dietrich Meyer, ›Brüderunität/Brüdergemeine‹, in: TRE Bd.VII (1981), 230. 115 In Deutschland wird die Gemeinschaftsbewegung heute weitgehend durch den Gnadauer Verband repräsentiert. Er sieht ihre Wurzeln in der Reformation, in den Collegia Pietatis des Altpietismus, in der Inneren Mission des 19. Jahrhunderts, der Erweckungsbewegung des Neupietismus und in angloamerikanischen Einflüssen (Heiligungsbewegung). Quelle: http://www.gnadauer.de/cms/der-verband/geschichte. html [Stand:16.08.20 14]. 116 Eine umfangreiche Zusammenstellung von praktisch-theologischen Entwürfen seit der Reformationszeit, die Gemeinde als Zellbildung verstehen, findet sich bei Blohm, ›Die dritte Weise‹, 1992, 43–84. 117 Aeppli u. a. (Hg.), Kirche im Miteinander von Ortsgemeinde, Kommunitäten und Bewegungen, 2011, 8–9. 118 http://www.kg2.evtheol.uni-muenchen.de/veranstaltungen/tagungen/tutzing/index.html [Stand: 27. 8. 2013].
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die und mit den Menschen der Nachbarschaft sein. Im Vordergrund stand das Verlangen nach einem gemeinsamen Leben in der Stadt. Ernst Lange hatte einen Mangel an gemeinsamen Leben als »das grundlegende Problem der modernen Gesellschaft« empfunden:119 »Gemeinsam entwickeln sie ein bis dahin für Deutschland neues Gemeindemodell: Die Kirche sollte im Alltag der Menschen verankert werden – in Form eines Nachbarschaftszentrums mit Besuchsdiensten in Familien und bei Vereinen, gemeinsamen Seminaren und Nachbarschaftssonntagen.«120
In der Ladenkirche sind die Merkmale einer Kirche als Weggemeinschaft erkennbar: »Vieles, was in den Schriften der ›Kirchenreform‹ gefordert wurde, ist am Brunsbütteler Damm verwirklicht worden: die konsequente Laienbeteiligung, das Ernstnehmen des Diasporacharakters der Ekklesia, der Fokus auf die Marginalisierten, die Stärkung der Dienstgruppen und die Berücksichtigung übergemeindlicher Strukturen.«121
Die Ladenkirche am Brunsbütteler Damm hat nicht überlebt und wurde im Zuge späterer Strukturreformen aufgelöst. Die Beispiele einer als Weggemeinschaft verstandenen Kirche lassen sich mit einiger Zurückhaltung zusammenfassend beschreiben. Die evangelische Kirche kann sich prioritär dann in der Gestalt einer Weggemeinschaft ausbilden, wenn ➤
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Menschen ihre Lebensführung am Evangelium ausrichten wollen und sich in kleinen Gruppen finden, die sich als Hör- und Lebensgemeinschaften verstehen. Menschen die kritisch-transformative Kraft des Gemeinschaftlichen – die auch dem Evangelium innewohnt – in einem Umfeld autoritärer gesellschaftlicher Strukturen erfahren und diesem etwas entgegensetzen wollen.122 Menschen sich im Wohnumfeld ihrer Kirchgemeinde wahrnehmen und sich im weitesten Sinne als Nachbarschaftsgemeinschaft verstehen. Mischformen sind natürlich möglich.
119 Lange, Von der sozialen Lage Westberlins, in: Liedtke, Wirklichkeit im Licht der Verheissung, 1987, 38. 120 Schneider, Art. ›Experimentierfeld Ladenkirche‹, in: zeitzeichen 08/2010 (ohne Seitenangabe). 121 Kunz, Kybernetik, in: Grethlein/Schwier (Hg.), Praktische Theologie, 2007, 645. 122 Auf die sich anbahnende Bevormundung durch Massenkommunikation haben Habermas und Ahrend frühzeitig hingewiesen. In einer von Massenkommunikation dominierten Gesellschaft wird der gesellschaftliche Diskurs verunmöglicht und damit werden auch Formen verantwortlichen Handelns zerstört. Vgl. Welker, Kirche im Pluralismus, 1995, 20–21.
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Für eine prioritär als Weggemeinschaft verstandene Kirche erscheint eine Vielfalt möglicher Ausprägungen als naheliegend. Eine Systematisierung versucht der Praktische Theologe Eberhard Hauschildt. Er unterscheidet Gruppe, Gemeinschaft und Bewegung als unterschiedliche soziale Erscheinungsformen und ordnet ihnen typische Merkmale zu.123 Eine Gruppe beispielsweise geht auf das Bedürfnis nach »persönlicher Wahrnehmung, nach Gefühlen der Zuneigung und nach Wir-Identität« ein, während eine Bewegung vor allem das Interesse an Veränderung verkörpert.124
2.3.2. Die römisch-katholische Kirche als Erfahrung von Weggemeinschaft Der Begriff einer Communio-Theologie rückte Ende der 1960er Jahre in das Bewusstsein der Öffentlichkeit. In weiten Teilen der Kirche entstand ein erneuertes Bewusstsein für die Gemeinde als Sozialform der Kirche:125 »Von der Gemeinde zu reden, galt jetzt den Katholiken nicht mehr schlechthin als protestantisch, sondern wurde zunehmend als biblische Herausforderung an die gegenwärtige Kirche erkannt.«126
Dabei wurde die Communio-Gestalt der Kirche im Anschluss an die Dogmatische Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Kirche (›Lumen Gentium‹) sehr kontrovers diskutiert. Die Kraft und Provokation der Kirchenkonstitution besteht darin, dass Gemeinde nicht nur ins Blickfeld rückt, sondern dass die Kirche als Communio verstanden ein neues Verständnis auch von Handlungs- und Leitungsstrukturen hervorbringt. Die Communio wird dann zum »Schlüsselbegriff der Dogmatik«, denn sie beschreibt den Bund Gottes in der Christologie, Soteriologie und Ekklesiologie:127 »Die kirchliche Communio ist Grundstruktur des neuen Gottesvolkes, jener Gemeinschaft, die, von Gott versammelt, auf dem Weg zum Reich Gottes ist.«128
Dass die kirchliche Communio Grundstruktur des neuen Gottesvolkes sein soll, wird von den Befürwortern mit einer Rückbesinnung auf die kirchliche Tradition begründet. Die biblische Überlieferung und die frühe christliche Tradition werden ernst genommen. »Das in diesem Konzil formulierte Kirchenbild (zumal in den großen Konstitutionen ›Lumen Gentium‹ und ›Gaudium et Spes‹) vereint in authentischer Weise die wesent123 124 125 126 127 128
Hauschildt/ Pohl-Patalong, Kirche, 2013, 139–145. Ebd., 139–140. Wagner, Dogmatik, 1996, 88. Zulehner, Kirche ereignet sich in Gemeinden, in: Ludin u. a., Wir Kirchenträumer, 1987, 11. Greshake, Communio, in: Biemer u. a. (Hg.), Gemeinsam Kirche sein, 1992, 90–121. Wagner, Communio, 1996, 79.
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lichen Gehalte der biblischen Aussagen über die Kirche mit der Weite der kirchlichen Auslegungstradition, besonders der Patristik.«129
Die Kirchenkonstitution Lumen Gentium unterscheidet weiterhin zwischen einer Rechtfertigungsgnade und einer Amtsgnade. Wie ist das möglich? Die kybernetische Weichenstellung, die einer als Communio verstandenen Kirche innewohnt, wird nicht konsequent vollzogen. Denn an einer Vorordnung des Priestertums durch Weihe vor das allgemeine Priestertum wird festgehalten: »Das gemeinsame Priestertum der Gläubigen aber und das Priestertum des Dienstes, das heisst das hierarchische Priestertum, unterscheiden sich zwar dem Wesen und nicht bloß dem Grade nach.«130
Stock urteilt, dass beim Zweiten Vatikanischen Konzil zwar von einem gemeinsamen Priestertum gesprochen wurde. Das gemeinsame Priestertum wurde aber neben das hierarchische Priestertum gestellt und »damit von dessen sakramental begründeter Vollmacht abhängig gemacht«.131 2.3.3 Basisgemeinschaften in afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern Die römisch-katholische Communio-Theologie hat in Gestalt der Small Christian Communities in einigen Ländern Ostafrikas und in kirchlichen Basisgemeinschaften in Lateinamerika Einfluss gehabt.132 Eine herausragende Zusammenstellung von Dokumenten zur Communio-Theologie und ihrer ekklesiologischen Gestaltwerdungen bietet das interkulturelle Forschungsprojekt zur Rezeption der Communio-Theologie des Zweiten Vatikanischen Konzils in Ortskirchen Zentralund Ostafrikas sowie ihre Auswirkungen für die Kirche in Deutschland.133 Auf der 5. Vollversammlung der AMECEA in Nairobi (1973) kommen Anliegen und Ziel von Small Christian Communities deutlich zur Sprache:134 129 Kehl, Die Kirche, 1992, 48. Siehe auch ebd., 34. 130 Lumen Gentium, aus Abschn. 10. Pannenberg interpretiert LG 10 anders und sieht das ordinierte Amt nicht als geistlichen Gnadenstand hervorgehoben, sondern in der Dimension des Dienstes hervorgehoben. Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 3, 1993, 408. 131 Stock, Einleitung in die Systematische Theologie, 2011, 248, Anm. 84. 132 Zur Entstehung und Geschichte von Small Christian Communities siehe Lwaminda, Eine theologische Analyse der Dokumente der AMECEA, in: Bertsch u. a. Alternativen zur traditionellen Pfarrstruktur, 1997, 32–44. Einen aktuellen Überblick über SCCs gibt die Website http://smallchristiancommunities.org [Stand: 05. 08. 2014]. 133 Die verschiedenen Kapitel widmen sich der Rezeption der Communio-Theologie in den verschiedenen Regionen der Welt. Bertsch u. a. (Hg.), Alternativen zur traditionellen Pfarrstruktur, 1997. 134 AMECEA ist die Association of Member Episcopal Conferences in Eastern Africa. Sie arbeitet für sieben katholische Bischofskonferenzen. Zu ihren Aufgaben gehört es unter anderem, den Kontakt zwischen den Mitgliedern zu halten, Informationsfluss und Kooperation zwischen den Ortskirchen zu fördern, »aktive Gegenwart der Kirche bei den umfassenden
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»Wir sind überzeugt, dass es in den ostafrikanischen Staaten für die Kirche an der Zeit ist, wirklich ›Ortskirche‹ (local) zu werden, das heißt, eine eigenständige, selbsterhaltende und eigenverantwortliche Pastoral zu entwickeln. Unser Plan zielt darauf ab, solche Ortskirchen in den kommenden Jahren aufzubauen. Um dies zu erreichen, glauben wir, dass das kirchliche Leben und Arbeiten sowohl in städtischen als auch in ländlichen Gebieten auf christlichen Gemeinschaften aufgebaut werden muss. Das Leben der Kirche soll in den Gemeinschaften gründen, in denen das alltägliche Leben und Arbeiten stattfindet: in jenen grundlegenden und funktionsfähigen sozialen Gruppierungen also, deren Mitglieder, im Leben und im Arbeiten, wirkliche zwischenmenschliche Beziehungen pflegen und ein kommunales Zugehörigkeitsgefühl entwickeln können. […]«135
Eine an der Communio orientierte Pastoral wirkt in alle Beziehungsfeldern der Kirche hinein.136 Sie orientiert die Gemeindeglieder im gottesdienstlichen Leben, in ihrem alltäglichen Leben und Arbeiten und im Engagement für das Gemeinwesen. Da es sich hier um eine Beschlussfassung handelt, kann man von kybernetischen Grundentscheidungen reden, die auf der Ebene von Bischofskonferenzen der AMECEA getroffen wurden. Für die römisch-katholische Kirche stellt sich damit die Frage, mit welcher Begründung sie divergierende kybernetische Grundentscheidungen nebeneinander stehen lässt.
2.3.4 Lebensumstände gehören zum Modell der Basisgemeinden Im Modell der Small Christian Communities und in lateinamerikanischen Basisgemeinden verstehen sich Menschen mitsamt ihrer Armut als Glieder der Gemeinde. Die Armut der Gemeindeglieder gilt ausdrücklich als ein Merkmal von kirchlichen Basisgemeinschaften und wirkt auf die Handlungsstrukturen.137 Das Evangelium muss sich in den gesellschaftlichen Umständen als Evangelium erweisen und nicht an den Umständen vorbei: »Kleine Christliche Gemeinschaften sind das Mittel, mit dessen Hilfe die Kirche zurückgebracht wird zum alltäglichen Leben und den Sorgen der Menschen, dahin, wo sie tatsächlich leben. In ihnen nimmt die Kirche Fleisch und Blut an im Leben der Menschen.«138
Die Formen der Small Christian Communities werden durch sehr konkrete Merkmale beschrieben, sie benennen die gesellschaftliche Wirklichkeit beim Namen.
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Entwicklungen der Völker Afrikas zu vertiefen«. Bertsch u. a., Alternativen zur traditionellen Pfarrstruktur, 17. Lwaminda, a. a. O., 23–24. Es handelt sich um ein Zitat aus einer Beschlussfassung der Bischöfe bei der 5. Vollversammlung der AMECEA. Vgl. Kap. III.2.2 Gemeinde als Lebenswelt ihrer Glieder – ihre drei Beziehungs-felder. Manzanera, a. a. O., 11. Lwaminda, a. a. O., 26.
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2.3.5 Communio und die Pastoral im Sinus-Land Im deutschen Sprachraum hat die Communio-Theologie anders als in Ostafrika und Latein- und Südamerika eher wenig Verbreitung gefunden. Spricht man in Deutschland und der Schweiz überhaupt vom selben wie beispielsweise die AMECEA, wenn es um die Communio der Kirche geht? Die Verfasser der sogenannten Pastoral im Sinus-Land verstehen »Mitwirkungsmöglichkeiten« bereits als einen Ausdruck kirchlicher Communio. Sie behaupten, dass die Reformen nach dem 2. Vatikanischen Konzil zwar mehrheitlich umgesetzt wurden (sic!), aber keinen Rückhalt bei der Gemeindebasis gefunden hätten: »Die Mehrheit der Katholiken ist ja den Reformen gefolgt, die nach dem II. Vatikanischen Konzil in Deutschland umgesetzt wurden. Nach den Versprechungen der Reformer hätte sich diese Gruppe, angesprochen durch eine gemeindeorientierte Liturgie und die Mitwirkungsmöglichkeiten in den Gremien und Arbeitsgruppen, eigentlich vermehren müssen. Aber die Gruppe, die das Leben der Pfarrei trägt, schmilzt dahin.«139
Die Verfasser der Pastoral im Sinus-Land bezeichnen »Mitwirkungsmöglichkeiten« als eine Form der Umsetzung der Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils. Das sehen der Jesuit und Theologe Ludwig Bertsch und die Mitverfasser von Alternativen zur traditionellen Pfarrstruktur deutlich anders. Mitwirkungsmöglichkeiten sind für sie bestenfalls eine Zwischenlösung, nämlich ein verliehenes Recht und damit gerade kein Ausdruck einer wirklichen Communio-Struktur der Gemeinde. Ortskirchen sind erst dann als Communio zu bezeichnen, wenn die Kirche in der Alltagserfahrung ihrer Glieder gegenwärtig ist, wenn sie als Feld eines persönlichen und geschwisterlichen Glaubens erfahren wird, und die Gemeindeglieder selbst und auf vielfältige Weise Verantwortung übernehmen.140
2.3.6 Basisgemeinden heute in Deutschland und der Schweiz Noch Mitte der 1980er Jahre haben Glieder der römisch-katholischen Kirche in basisgemeinschaftlichen Aufbrüchen eine kommende Gestalt der Kirche gesehen:141 »Es wird auf jeden Fall eine Kirche sein, die wieder mystischer, gottverwurzelter sein wird als die heutige. Und weil sie dies sein wird, wird sie auch geschwisterlicher und politischer sein.«142
In den 1980er Jahren hatte die Bewegung der Sojourners in Washington rund um Jim Wallis und das Programm des Faith in Action for Social Justice noch viel 139 Bieger u. a., Pastoral im Sinus-Land, 2. Aufl. 2008, 24. 140 Lwaminda, a. a. O., 26–27. 141 Ludin und Mazanera unterscheiden sprachlich nicht zwischen Basisgemeinden und Basisgemeinschaften. Vgl. Ludin u. a., Wir Kirchenträumer, 1987, 8–9. 142 Zulehner, Kirche ereignet sich in Gemeinden, in: Ludin u. a., Wir Kirchenträumer, 1987, 19.
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Aufmerksamkeit in den deutschsprachigen Kirchen gefunden. Heute sind die Sojourners im deutschsprachigen Raum kaum noch bekannt. Die Bedeutung linksliberaler Basisgemeinschaften scheint marginal zu sein.143 Im Unterschied dazu sind Nachfolge-Bewegungen, in denen Menschen ihre persönliche Frömmigkeit teilen, auffallend vielfältig und stark. Das sind in Europa beispielsweise die Fokolar-Bewegung, die Bewegung Chemin Neuf, die Schönstatt-Bewegung oder die Gemeinschaft Sant’ Egidio.144 Sie alle konzentrieren sich auf gesellschaftliche Anliegen wie die Stärkung der Familie, Gerechtigkeit für die Armen, Erneuerung der Bildungspolitik usw. Sie binden ihr Engagement aber an eine gemeinsame Nachfolge in Zellgruppen.
2.4
Kirche als Weggemeinschaft hat eine dialogische Struktur
Eine Kirche, die sich von ihrer Grunderfahrung her prioritär als Weggemeinschaft der Hoffnung versteht, hat eine dialogische Struktur. Die Lebenswirklichkeit der Gesprächspartnerinnen und -partner wird für die Kirche zum Prüfstein der eigenen Glaubenswirklichkeit. Umstände und Situationen sind im Dialog niemals nur Beiwerk.145 Der Philosoph, Theologe und Pädagoge Theodor Pindl nennt drei Kriterien, an denen man eine dialogfähige Kirche erkennt. Erstes Kriterium ist, dass der Gesprächspartner in seinen Voraussetzungen wahrgenommen wird: »Ein Dialog kann sich voll nur unter den Bedingungen des Vermögens und der Wirklichkeit des anderen entfalten.«146
Zum zweiten dient das dialogische Gespräch der Wahrheitsfindung. Dabei darf man laut Pindl nicht in den Gegensatz von absoluter Wahrheit und blossen Meinungen fallen. Dialog fliesst zwischen Wahrheitsüberzeugungen hin und her.147 Es gilt, sich wie Paulus »vorbehaltlos« dem Gespräch zu stellen.148 Zum dritten setzt Dialog bei beiden Gesprächspartnern eine ausgebildete Identität 143 Die Bewegung der Sojourners rund um ihren Gründer Jim Wallis setzt sich für soziale Gerechtigkeit ein, vgl. http://sojo.net. Im deutschsprachigen Raum ist sie heute kaum mehr bekannt. 144 Eine Auflistung von etwa 70 neueren römisch-katholischen Gemeinschaften findet sich bei www.geistliche-gemeinschaften.de [Stand: 01. 12. 2014] 145 Vgl. Kap. II.2.1.2 Die Grunderfahrung einer Weggemeinschaft ist offen für die Wirklichkeit einer pluralistischen Gesellschaft. 146 Pindl, Kirchenvision und Probleme einer Communio-Ekklesiologie am Beispiel des Freiburger Diözesanforums, in: Bertsch u. a. (Hg.), Alternativen zur traditionellen Pfarrstruktur 223–256, 238. Pindl zitiert Koch, Ökumenische Dialogizität der christlichen Kirche, in: Schweizer Kirchenzeitung 36 (1992). 147 Ebd., 239. 148 Koch, Konfrontation oder Dialog, 1996, 12.
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voraus. Dabei muss sich der christliche Glaube »in seiner Identität« für andere Überzeugungsangebote in der heutigen Welt öffnen.149 Eine dialogische Struktur zu pflegen heisst also, dass die Kirche sich auf andere Sichtweisen und andere Möglichkeiten, Wirklichkeit zu deuten, einlässt. Dabei gewinnt die Kirche an situativer Präsenz. Die Kirche kann einen Diskurs über Wahrheitsüberzeugungen, wenn zum Beispiel Grundrechte betroffen sind, aber auch ablehnen. Ich habe das damit begründet, dass der Kirche nicht nur eine einzige Kirchenerfahrung zugrunde liegt, sondern dass sich Kirchenerfahrungen wechselseitig ergänzen und korrigieren.150 Eine petrifizierte Kirche kann den Diskurs zwischen Wahrheitsüberzeugungen durchaus ablehnen und beanspruchen, ein autoritatives Wort zu sprechen. Auch eine solche Diskursverweigerung kann ein Dienst der Kirche an der Gesellschaft ihrer Zeit sein. Als Weggemeinschaft der Hoffnung kann die Kirche den Diskurs über Wahrheitsüberzeugungen jedoch nicht verweigern. Weil sie wesentlich und prioritär Weggemeinschaft und damit kommunikativer Lebensraum ist, bleibt ihre dialogische Grundgestalt vorherrschend, bleibt die Kirche auch im Blick auf ihre Wahrheitsüberzeugungen gesprächsbereit.
2.4.1 Dialog und Trinität Dass die Kirche als Weggemeinschaft dem Dialog verpflichtet ist, begründet römisch-katholische Communio-Theologie mit Verweis auf die Trinität. Die Handlungsstruktur der Gemeinde entfaltet sich aus der ihr zugrunde liegenden theologischen Wirklichkeit: Wenn »sich Gott als dreifaltiger offenbart, dann konstituiert dies nicht nur eine dialogische Struktur zwischen Gott und Mensch, sondern führt auch notwendig zum Postulat einer dialogischen, d. h. einer dialogfähigen und dialogbereiten Kirche.«151
Es sei nun das Ziel einer praktisch-theologischen Kirchentheorie, die trinitätstheologische Dimension des Communio-Begriffs mit einer kommunikativen strukturellen Gestalt der Kirche zu vermitteln:152 »Weil nämlich Gott selbst vor allem als ›communio‹ der Liebe zwischen Vater und Sohn im gemeinsamen Hl. Geist verehrt wird, wird die Kirche als Gleichnis, als ›Sakrament‹ dieser Communio verstanden […]. Deswegen kann ihre sichtbare (auch soziologisch beschreibbare) Erscheinungsweise nicht etwas bloß und Zweitrangiges sein, sondern 149 Pindl, Kirchenvision und Probleme einer Communio-Ekklesiologie, in: Bertsch u. a. (Hg.), Alternativen zur traditionellen Pfarrstruktur, 1997, 239. 150 Kap. II.2.1.1 Die Grunderfahrungen der Kirche ergänzen und korrigieren einander. 151 Pindl, Kirchenvision und Probleme einer Communio-Ekklesiologie, in: Bertsch u. a. (Hg.), Alternativen zur traditionellen Pfarrstruktur, 1997, 226. 152 Kehl, Die Kirche, 1992, 66.
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Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
muss zeichenhaft diesen ihren theologischen Sinngehalt zur Darstellung bringen. […] Sie ist nur dann wahre Communio im Glauben, wenn sie sich in all ihren Bereichen als ›kommunikativer‹ Lebensraum des Glaubens verwirklicht. Eine hohe Sensibilität für das Zusammenstimmen von Communio-Theologie und kommunikativem Lebensstil zeichnet diese Sicht der Kirche aus […].«153
Indem die Einzelnen Anteil an der Communio mit Gott bekommen, werden sie zu Gliedern der Kirche und ihrer Communio, und diese wird in römisch-katholischer Ekklesiologie wiederum als ein Sakrament für die Welt verstanden.154 »Wenn der einzelne in lebendiger Communio mit dem communalen Gott steht, ist er selbst communial und kann es gar nicht anders sein, weil Gott selbst ihn hineinnimmt in den umfassenden Prozess von Schöpfung und Heilsgeschichte, durch den der Schöpfer das von ihm Geschaffene zur communialen Einheit bringt und es dadurch seinem eigenen trinitarischen Wesen angleicht.«155
Für die evangelische Theologie ist der Verweis auf die Trinität zwar möglich, aber nicht notwendig. In Kapitel II.1 sahen wir das Kirchesein darin begründet, dass Gott als kommunizierend geglaubt wird und dass darum auch die Kirche ihrem Wesen nach Kommunikationsgemeinschaft ist. In evangelischer Schlichtheit lässt sich auf Kommunikation als Ausdruck der Heilsökonomie Gottes verweisen. Evangelische Theologie kann nicht von einer sakramentalen Einheit von Gehalt und Gestalt der Kirche sprechen. Sie ist aber darin eins mit der CommunioTheologie der römisch-katholischen Kirche, dass der Sozialität der Kirche eine dialogische und damit kommunikative Grundgestalt innewohnt. Diese hat in Gott und seinem Wort ihren Grund (vgl. Kapitel II.1). Sie wird für den Glauben auch – aber eben nur auch – in der Trinität Gottes anschaubar.
2.4.2 Inklusivität als Merkmal des Dialogs Dass die evangelische Kirche dialogisch kommuniziert, lässt sich an ihrem Willen zur Inklusion erkennen. Die Kirche hat ein eigenes Interesse daran, sich um die Teilhabe und Mitwirkung von Menschen zu mühen. Die Wahrheit Jesu Christi aktualisiert sich, indem die Anderen, die noch Fremden, zu Gliedern am Leib Jesu Christi werden. Die Kirche selbst ›profitiert‹ von der Teilhabe der Anderen und Fremden, weil sie ihrer Wahrheit in der Gestalt der Anderen ansichtig wird. Der Theologe John H. Yoder macht in Die Politik des Leibes Christi das Ereignis von Sozialität zu einem Kriterium des Kircheseins. Yoder erklärt den Vorgang des 153 Ebd., 37. Dass die Kirche im Geheimnis der Gemeinschaft der drei Personen Gottes gründet, geht bereits auf Vorstellungen der Alten Kirche und den Kirchenvater Cyprian zurück, vgl. Adolph, Die Theologie der Einheit bei Cyprian, 1993, 460. 154 Kasper, Kirche als Communio, in: ders., Theologie und Kirche, Bd. 1, 1987, 287. 155 Pindl, a. a. O., 224. Pindl bezieht sich auf Greshake, a. a. O., 103.
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»Bindens und Lösens« zur Grundhandlung und damit zu Grundstruktur der evangelischen Kirche. Erst in der Erfahrung von Sozialität und damit erst im Dialog geschieht »Wahrheitsfindung«, werden ethische Massstäbe, auf die sich die Kommunizierenden beziehen, neu erwogen, eventuell sogar korrigiert.156 »Menschsein heisst, in Konflikten stehen, heisst verletzen und verletzt werden. Menschsein im Licht des Evangeliums heisst, Konflikte in einem (er)lösenden Dialog angehen. Wenn wir so handeln, handelt Gott mit uns. Denn Konfliktbearbeitung ist nicht nur Psychohygiene oder eine palliative Strategie für ein erträgliches Überleben, sondern ein Weg der Wahrheitsfindung und des Aufbaus von Gemeinschaft. Das gilt für das Evangelium und mutatis mutandis auch für die Welt.«157
Im Dialog und in der Inklusion der Anderen aktualisiert sich die Wahrheit – heisst die von Jesus Christus ausgehende Beziehungstreue. 2.4.3 Kirche als Weggemeinschaft und die Frage nach der Einheit Eine als Weggemeinschaft verstandene Kirche wird nicht jede Vorstellung von Einheit erfüllen können: »Kirche prägt in sich eben nicht die Einheit eines neuplatonisch gedachten, alle Differenzierungen übersteigenden göttlichen ›Einen und Guten‹ aus, sondern die Einheit der ›Gemeinschaft Gottes‹, eben des Beziehungsgefüges der in sich dreifaltig differenzierten Liebe Gottes.«158
Einheit beschreibt ein Beziehungsgefüge, das als wechselseitiges und sich stetig erneuerndes Treuehandeln zu verstehen ist.159 In der evangelischen Ekklesiologie hat Bonhoeffer hellsichtig eine idealistische Ausprägung von Einheitsvorstellungen abgewiesen. In Communio Sanctorum bildet Bonhoeffer sein Verständnis von Gemeinschaft in Auseinandersetzung mit dem Idealismus des 19. Jahrhunderts: »Solange mein Geist das Dominierende ist, das allein den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt, solange alle Widersprüche, die mit der Erkenntnis eines Subjekts als Gegenstand der Erkenntnis auftreten können, meinem Geiste immanent gedacht werden, solange bin ich nicht in der sozialen Sphäre. Das bedeutet aber, dass ich in dieselbe erst dann eintrete, wenn meinem Geiste an irgendeiner Stelle eine prinzipielle Schranke gewiesen wird.«160
Bonhoeffer argumentiert nicht trinitätstheologisch, sondern sozialphilosophisch. Das Entstehen und Bestehen von Gemeinschaft setzt eine Begrenzung der kom156 157 158 159
Yoder, Die Politik des Leibes Christi, 2011, 32–33. Yoder, a. a. O., 45. Kehl, Die Kirche, 1992, 66. Weil Gott als kommunizierend geglaubt wird, ist Gemeinde eine Hörgemeinschaft und damit ein Beziehungsgefüge. Vgl. Kap. II.1.2 Gemeinde ist Hörgemeinschaft. 160 Bonhoeffer, a. a. O., 26. Kursiv im Original.
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Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
munizierenden Subjekte voraus. Verkörpert ein Subjekt den Anspruch auf Allgemeingültigkeit, ist Gemeinschaft nicht mehr möglich. Es gibt weder für Bonhoeffer noch für Kehl ein ›Für-sich-sein‹ des Geistes im Sinne eines idealistischen Individualismus. Beide erwarten die Erfahrung von Einheit in der Erfahrung von Sozialität. Es gibt durchaus eine in Gott gründende Einheit, aber diese entsteht inmitten der Erfahrung von Sozialität und Dialog. Solch ein Verständnis von Einheit kommt einer postmodernen Verfasstheit entgegen. Denn die Postmoderne mit ihrer Pluralität an Lebensformen vergrössert den Bedarf an Verständigung.161
2.5
Kirche als Weggemeinschaft hat inhaltliche Merkmale
Einige inhaltliche Merkmale der Kirche treten nur dann signifikant in Erscheinung, wenn diese prioritär als Weggemeinschaft der Hoffnung angesehen wird. Die drei Kirchenerfahrungen, die wir unterschieden haben, haben eine unterschiedliche Affinität zu Inhalten und Themen. Man kann zum Beispiel fragen, in welcher der drei Kirchenerfahrungen sich die Armut am ehesten thematisieren lässt. Für eine als Weggemeinschaft verstandene Kirche ist Armut ein unverzichtbares Thema.162 In der Erfahrung einer petrifizierten Kirche kommt Armut als Thema eher nicht vor. In der Erfahrung einer mystischen, einer symbolisch-personifiziert verstandenen Kirche, wird die Kirche sogar als reich verstanden. Sie wird verstanden als ein Schatz oder gemeinsames Gut, an dem die Glaubenden teilhaben und deren Gut sie durch ihre glaubende Teilhabe vermehren.163 Allein in der Erfahrung der Kirche als Weggemeinschaft wird Armut zu einem Kennzeichen der Kirche: Durch den heimatlosen und umherziehenden Jesus von Nazareth ist diese Kirchenerfahrung mit starken Narrativen und Bildern verbunden. Als Weggemeinschaft der Hoffnung sammelt die Kirche diejenigen Menschen, die sich bedürftig und aneinander gewiesen wissen. 2.5.1 Weggemeinschaft mit den Armen Als Weggemeinschaft der Hoffnung weiss sich die Kirche als Gemeinschaft mit Jesus von Nazareth, der selbst arm war und keine Schätze gesammelt hat (Mt 6,19).164 Mit einer Formulierung von Kunz sind die Armen sogar als Rettung der Kirche zu verstehen. Kunz fragt, ob man Gemeinde vor dem Untergang rettet, 161 162 163 164
Vgl. Kap. II.2.3.3 Der Bedarf an Kommunikation wächst. Siehe den folgenden Abschnitt. Artikel ›Schatz der Kirche‹, Meyers Grosses Konversations-Lexikon, Bd. 17, 1909, 705, Kap. II.1.5 Die theologische Verifizierung der Gemeinde als Leib Christi.
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»wenn man die Überflüssigen ins Boot holt«.165 Er stellt die Frage im Blick auf Menschen mit Behinderung und auf die Bedeutung inklusiver Gottesdienste. Gemeinde wird in der Begegnung mit den Armen zum Ort der Gotteserfahrung. Weil auf Erfahrungen der rettenden Hilfe Gottes nicht verzichtet werden kann, wird die Gemeinschaft mit den Armen zu einem möglichen Ort von Gotteserfahrungen. Miguel Manzanera nennt die Armut als Kennzeichen des messianischen Volkes, wenn er über kirchliche Basisgemeinschaften schreibt: »Sie zeugen für die Präsenz der Bedeutungslosen dieser Welt in der Kirche, oder […] für die Präsenz des ›messianischen Volkes‹ (LG 9), d. h. eines Volkes, das in seiner Geschichte stets die messianische Umkehrung (›die Letzten werden die Ersten sein‹) verwirklicht.«166
Eine praktische Orientierung der Kirche besteht dann darin, dass die Mitglieder der Gemeinde ihr Leben mit den Armen teilen. Solche Gemeinschaft ist zum einen eine Herausforderung zum Bewusstseinswandel.167 Die Gemeindeglieder lernen, ihrer eigenen Armut Raum und Sprache zu geben und zum Ort möglicher Gotteserfahrungen zu werden. Indem eine Gemeinde Gemeinschaft mit den Armen lebt, übt sie sich darin, gleichberechtigt zu kommunizieren, nämlich diejenigen als Subjekt der Kommunikation zu achten, die im gesellschaftlichen Umfeld oft zum Objekt gemacht werden. Die Radikalität einer kommunizierenden Kirche besteht darin, dass Armut nicht nur die Diakonia, sondern auch die Koinonia der Gemeinde formt. Gemeindeglieder antworten nicht allein mit Betreuungsangeboten auf Armut, sondern mit der Suche nach einer gemeinsamen Lebenswelt. Armut ist eine Herausforderung für die Diakonia als Beziehungsfeld der Gemeinde.168 Sie führt aber dahin, dass Gemeindeglieder ihre eigene Armut wahrnehmen und sie als Voraussetzung ihrer Koinonia verstehen. Im Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse stellt sich immer neu die Frage wer die Armen sind. Eine Hilfe kann sein, die geschichtliche Entwicklung kirchlicher Bewegungen wahrzunehmen, die sich der Solidarität mit den Armen verpflichtet haben. Ein Beispiel dafür ist die Bewegung Sant’Egidio in Rom, die weltweit Gemeinschaften bildet. Die Gemeinschaft Sant’Egidio weiss sich seit ihrer Gründung den Armen Roms verpflichtet und hat über mehrere Jahrzehnte hin stadtteilbezogen Orte zur Hilfe für Migrantinnen und Migranten geschaffen. In den letzten Jahren erkennt Sant’Egidio die alten Menschen in römischen Pflegeheimen als neue Armuts165 Kunz, Inklusive Gottesdienste, in: Pastoraltheologie 3/2012, 87–101, 97. 166 Manzanera, a. a. O., 18. Ähnlich beschreibt das Kehl in Die Kirche, 1992, 36. Im Umgang mit den Armen wird die Kirche zu einem »›Gleichnis der Miteinanderteilens‹ (Taizé) in einer zerstrittenen Menschheit«. 167 Manzanera, a. a. O., 20–21. 168 Kap. III.2.2.4 Diakonia – das uneigennützige Suchen nach Lebensfülle.
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Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
betroffene. Die Mitglieder der Gemeinschaft suchen der Not der alten Menschen zu begegnen, indem sie gemischte Wohngemeinschaften mit alten Menschen beginnen.169 Die Solidarität mit den Armen ist nicht nur Teil ihrer Diakonia, sondern auch ihrer Koinonia.170 Sant’Egidio passt sich den gesellschaftlichen Bedürfnissen an, bleibt aber der eigenen Grossthematik treu. Indem sich kirchliche Gemeinschaften der Lebenswelt von Menschen anpassen, praktizieren sie eine situative Kybernetik, denn das eigene Gemeinschaftsleben verändert sich. Hochschild sieht in dieser Möglichkeit zur Formenvielfalt eine Bestandssicherung des eigenen Charismas.171 Dass eine als Weggemeinschaft verstandene Kirche Gemeinschaft mit den Armen sucht, ist zuerst wörtlich zu verstehen. Nun hat in einer pluralistischen Gesellschaft die Vermittlung von Wissen einen hohen Wert. Wo sich Gemeinden als Weggemeinschaften verstehen, verzichten ihre Mitglieder auf die Unterscheidung zwischen Wissenden und Noch-Nicht-Wissenden. Das mag missverständlich klingen. Es gibt ein historisches und systematisches Wissen, es gibt auch ein sehr unterschiedliches Mass an Lebenswissen. Zur Frage steht aber der Umgang mit diesem Wissen. In einer als Koinonia verstandenen Kirche wird auch das Wissen nicht zum Herrschaftsinstrument der Einen über die Anderen werden. Nicht nur der Umgang mit Geld und Zeit, sondern auch der Umgang mit Wissen gehört in den Bereich der Koinonia und dient nicht dazu, Hierarchien auszubilden. In pastoraltheologischer Perspektive spricht die Zürcher Orientierungshilfe Lebenswelten von einer Ermächtigungskompetenz, die der Pfarrperson hier zukommt: »Er gibt weder explizit noch implizit ein Gefälle zwischen Wissendem und Nichtwissendem zu erkennen, sondern ist sich bewusst, dass er in einem gegenseitigen Lern- und Verlernprozess steckt.«172
2.5.2 Weggemeinschaften sind Experimentierorte Kehl schreibt einer kommunizierenden Kirche neben der Suche danach, gemeinsame Lebenswelt mit den Armen zu sein, zwei weitere Merkmale zu.173 Das Unterwegssein strukturiert die Sozialität einer als Weggemeinschaft verstandenen Gemeinde in der Weise, dass sie Formen gemeinsamer Lebensführung als vorläufig betrachtet. 169 Gespräch zwischen der Verfasserin und leitenden Mitgliedern der Gemeinschaft in Rom, 19. Mai 2011. Vgl. die Ausführungen zur ›Freundschaft mit den Armen‹ http://www.santegidio. org/de/solidarieta/index.htm [Stand: 03. 08. 2014]. 170 Kap. III.2.2.3 Koinonia – ein Alltagshandeln, das Herrschaftswissen entkräftet. 171 Hochschild, Biometrie des Klosters, 2013, 151. 172 Diethelm u. a. (Hg.), Lebenswelten, 2012, 32. 173 Kehl, Wohin geht die Kirche?, 4. Aufl. 1996, 111. Kehl, Die Kirche, 1992, 34.
Strukturen innerkirchlicher Kommunikation
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»Wir müssen in der Kirche lernen, den Charakter des Vorläufigen vieler unserer kirchlichen Lebensformen zu akzeptieren.«174
Als Weggemeinschaft der Hoffnung weiss eine Gemeinde um die Vorläufigkeit ihrer Formen. Sie hat Freiheit und Möglichkeiten, ihre geschichtlichen Gestaltwerdungen zugunsten neuer Gestaltwerdungen zu revidieren. Der Pastoraltheologe Bernhard Spielberg hält es für den Normalfall einer milieusensiblen Gemeinde, dass sie Experimentierorte fördert. Experimentierort zu sein, heisst, neu beginnen und auch wieder aufhören zu dürfen, heisst alte Formen zugunsten von neuen Formen loszulassen: »Wenn Pfarreien wirklich Orte sind, an denen sich die neue Gestalt der Kirche zeigen wird, dann braucht es Pfarreien, an denen die Zukunft auch in Freiheit erprobt werden kann: Labore, in denen mit den eigenen Talenten gewuchert wird – ohne Rücksicht auf bewährte Killerphrasen und mit Rückendeckung der Leitungspersonen.«175
Verstehen sich Gemeinden als Weggemeinschaft der Hoffnung, dann erproben sie Formen des Miteinanders und können diese auch wieder aufgeben.176 Die Vorläufigkeit, die der Gemeinde als einer Weggemeinschaft der Hoffnung innewohnt, ist dabei dialektisch zu verstehen.177 In aller Vorläufigkeit und Gebrochenheit ist die Gemeinde der Ort, an dem Menschen das Heil Gottes in Jesus Christus zugesprochen wird. Biografische Abbrüche und Umbrüche, Erfahrungen von Versagen und Verlust werden nie als ein letztes bzw. letztgültiges Urteil über das Leben von Menschen verstanden. Der glaubende Mensch ist mit allem Vorläufigen in Jesus Christus verborgen, der die Toten lebendig macht (Kol 3,3 und Röm 4,17). In diesem glaubenden Umgang mit Vorläufigkeit, Gebrochenheit und Bedingtheit im Leben ihrer Mitglieder erweist sich Gemeinde als Weggemeinschaft der Hoffnung. Sie ist bereit, diese Hoffnung mit anderen Menschen zu teilen und verwirklicht das in ihren Beziehungsfeldern als Koinonia und auch als Diakonia. 2.5.3 Weggemeinschaft von Sünderinnen und Sündern Drittes und letztes unverzichtbares Merkmal einer kommunizierenden Kirche sind Handlungsstrukturen, die die nüchterne Selbstwahrnehmung der Beteiligten fördern. Auch als Mitglieder der Gemeinde bleiben Menschen einander vieles schuldig, erleben miteinander und durch einander Schmerz und Verletzungen. Eine Gemeinde, die sich als Weggemeinschaft versteht, bildet Handlungsstrukturen aus, in denen ihre Mitglieder einander ein immer neues Aufeinander-zu174 Kehl, Die Kirche, 1992, 206–207. 175 Spielberg, a. a. O., 91. 176 Bereits das Modell einer Kirche bei Gelegenheit war offen für den experimentellen Charakter von gemeindlichen Sozialformen. Nüchtern, a. a. O., 96. 177 Kap. II.1.5 Die theologische Verifizierung der Gemeinde als Leib Christi.
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Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
Gehen ermöglichen. Gemeindeglieder ermöglichen einander, Versöhnung durch Jesus Christus zu erfahren und entwerfen Formen versöhnenden Handelns (Matthäus 6,12.14.15). Indem sich Gemeindeglieder als Gemeinschaft von Sünderinnen und Sündern verstehen, wird ihre kritische Selbstreflexion gefördert.178 2.5.4 Die Nähe zu Merkmalen subjektiver Sinntheorien Die Merkmale einer als Weggemeinschaft verstandenen Kirche – die Inklusion der Armen, der Sünderinnen und Sünder und ein Ja zur Vorläufigkeit und Gebrochenheit ihrer Lebensformen – kommen dem entgegen, was subjektive Sinntheorien in einer postmodernen Gesellschaft auszeichnet. Wir hatten festgestellt, dass subjektive Sinntheorien prozesshaft entstehen, dass sie von Unsicherheit geprägt sind, »wer ich bin und wie ich leben soll«, dass sie emotionales Erleben und Sehnsüchte berücksichtigen und damit die Bedürftigkeiten der einzelnen Menschen anerkennen.179 Was die Kommunikation in Weggemeinschaften auszeichnet, dürfte Menschen mit postmoderner Lebensführung also vertraut sein. Möglicherweise erwarten sie solche Kommunikation, die die Offenheit ihrer Lebenssituation berücksichtigt, sogar.
2.6
Kirche als Weggemeinschaft ist ein kommunikatives Milieu
Weil der Glaube in der alltäglichen Lebenswelt seine Plausibilität gewinnt, wird die Kirche den Menschen in ihren Lebenswelten und damit in der Pluralität ihrer Lebensformen grundsätzlich offen – wir haben oben den Charakter des Dialogischen besprochen – begegnen.180 Kehl erinnert daran, dass der Kirche in der Lebenswelt ihrer Glieder nichts grundsätzlich Fremdes begegnet: »Sie hat ihre Wurzeln ja auch in christlichen Wertvorstellungen […]: z. B. die Personwürde, die Zukunftsorientierung, die Wertschätzung des Unterwegsseins (›Exodus‹), die Toleranz den anderen gegenüber usw. Zudem sind auch wir Christen ›Kinder unserer Zeit‹«.181
Eine prioritär als Weggemeinschaft verstandene Kirche sucht die Berührung mit den Menschen und Bewegungen ihrer Zeit. In den 1980er Jahren wurde eine solche, die verschiedenen gesellschaftlichen Felder übergreifende Kommunikation von den im Ökumenischen Rat vertretenen Kirchen als ›konziliarer Prozess‹ 178 Kehl, Wohin geht die Kirche, 4. Aufl. 1996, 112. 179 Kapitel I.2.5 Erwerb von Lebensdeutung in der Postmoderne. 180 Kehl, Die Kirche, 1992, 199, und Kap. II.2.4 Kirche als Weggemeinschaft hat eine dialogische Struktur. 181 Ebd., 201.
Strukturen innerkirchlicher Kommunikation
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bezeichnet.182 Die Kirchen wussten sich im Blick auf gemeinsame gesellschaftliche Anliegen weltweit mit anderen Menschen und Bewegungen verbunden.
2.6.1 Offenheit für neue pastorale Orte und für Gespräche über das Leben Eine prioritär als Weggemeinschaft verstandene Kirche schätzt und sucht das Gespräch mit den Menschen ihrer Zeit. Sie wird sich auf soziale Orte und Formen von Sozialität einlassen, die Gespräche ermöglichen und fördern. Auf der Suche nach kommunikativen Orten zu sein, heisst für die Kirche auch, auf neue pastorale Orte aufmerksam zu werden. Der Religionssoziologe und Theologe Michael Ebertz spricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit einer Kommunikationspastoral: »Kommunikationspastoral meint […] die Entwicklung alter, aber auch den Aufbau neuer pastoraler Orte bzw. Gelegenheitsstrukturen mit mehr oder weniger niederschwelligen und passageren Angeboten in den unterschiedlichen Milieus […]. Kommunikationspastoral steht für die Aufwertung und Rehabilitierung des interaktiven religiösen ›Augenblicks‹ und das Ernstnehmen der Biographie und Lebenslage des Adressaten der pastoralen Kommunikation.«183
Ebertz unterscheidet zwischen Gelegenheitsstrukturen und traditionalen Formen von Gemeinschaft. Traditionale Formen von Gemeinschaft setzen eine bereits in der und durch die Gemeinschaft erworbene Identität voraus. Wir hatten von einem ›constituted self‹ gesprochen.184 Ebertz geht es wie auch dem Theologen Michael Nüchtern in Kirche bei Gelegenheit um Orte, die sich im Akt der Begegnung erst auf ihr pastorales Potenzial hin öffnen. Es braucht Orte, an denen Lebenssituationen und biblische Orientierung aufeinander treffen: »Solche Verschränkungen sind auf Orte angewiesen, an denen sie sich ereignen können.«185
Ebertz’ Modell einer Kommunikationspastoral unterscheidet sich in einem wesentlichen Aspekt von Kehls Modell einer kommunizierenden Kirche. Ebertz und Nüchtern suchen den religiösen Augenblick. Die Kirche soll Menschen dazu helfen, im Alltag religiöse Erfahrungen zu machen und sie als solche zu erkennen. Kehls Aufmerksamkeit für kommunikative Orte ist dagegen im Bonhoefferschen Sinne als religionslos zu verstehen. Im Prozess des gemeinsamen Unterwegsseins 182 Der konziliare Prozess, in dem sich die Kirchen mit anderen gesellschaftlichen Agenten in Bezug auf Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung verständigen, nahm seinen Ausgangspunkt 1983 mit der VI. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver. 183 Ebertz, Kirche im Gegenwind, 1997, 141f. 184 Kap. I.3.7 Gemeinschaften erneuern sich im Vollzug des Erinnerns. 185 Lämmlin, Die Kirche der Freiheit evangelisch gestalten, 2012, 83.
146
Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
kommt Gemeinde als Weggemeinschaft mit Menschen in Gespräche über das Leben. Sie setzen nicht beim religiösen Augenblick an, sondern beim – vielleicht religionslosen – Leben. Darf man die Erwartung von religiösen Erfahrungen und Momenten von Gesprächen über das Leben so deutlich voneinander unterscheiden? Im ersten Fall besteht die Gefahr, dass die Gemeinde sich einer gesellschaftlichen Sondergruppe zuwendet, nämlich denjenigen Menschen, die sich auch in postmoderner Gesellschaft als religiös interessiert oder religiös ansprechbar verstehen. Oder sie wendet sich – beispielsweise im Zusammenhang mit Kasualhandlungen – Menschen in den besonderen Momenten ihres religiösen Erlebens zu. Dann ist die Kirche damit beschäftigt, die religiöse Gegenwartslage zu analysieren und religiös sensible Menschen bzw. religiöse Situationen aufzuspüren.186 Was unter religiöser Gegenwartslage zu verstehen ist, lässt sich dabei in der Perspektive verschiedener Theoriemodelle erfassen, ist also keineswegs eindeutig.187 Will eine Gemeinde aber mit Menschen in Gespräche über das Leben kommen, dann ist jeder Mensch unabhängig von seinen religiösen Interessen und unabhängig von religiös sensiblen Lebenslagen eine potenzielle Gesprächspartnerin und ein potenzieller Gesprächspartner. Ob es zu einer Deutung der Lebenssituation im Licht der biblischen Narrative kommt, bleibt offen. Sie wird nicht unbedingt gesucht. Es wird Zeit brauchen, bis ein Prozess gemeinsamen Deutens in Gang kommt. Dann aber ist bereits gemeinsame Sozialwelt unter den Kommunizierenden entstanden – die Lebenssituation und ihre Deutung haben sich mit dem Entstehen gemeinsamer Sozialwelt verbunden. Die Wertschätzung religiöser Erfahrungen basiert auf einer »›natürliche[n] Theologie‹, die in des Menschen Vermögen« liegt.188 Gespräche über das Leben werden dagegen in der Hoffnung geführt, dass sich ein Hören auf die biblischen Narrative einstellen kann. Die Unterscheidung beider Gesprächsmodelle ist aber 186 Konfirmationsjubiläen, ein jährliches Sterbegedächtnis usw. lassen sich als starke Gelegenheiten für religiös empfindende Menschen gestalten. 187 Der Religions- und Kultursoziologe Detlev Pollack beschreibt drei mögliche Modelle, mit denen sich die religiöse Gegenwartslage deuten lässt. Das sind (1) die Säkularisierungsthese, vertreten durch Émile Durkheim, Max Weber und andere, (2) ein ökonomisches Marktmodell, vertreten durch Rodney Stark, Roger Finke, Laurence Iannaccone u. a. und (3) die Individualisierungsthese, vertreten durch Thomas Luckmann, Hubert Knoblauch, Michael Ebertz und andere. Für das dritte Modell gilt: »Mit der Modernisierung der Gesellschaft komme es nicht zu einer Positionsschwächung von Religion. Diese wandle nur ihre Formen. Während in vormodernen Gesellschaften Religion in den Kirchen institutionalisiert gewesen sei, löse sich der Zusammenhang zwischen Religiosität und Kirchlichkeit in modernen Gesellschaften zunehmend auf. […] Das Verhältnis der einzelnen zur Religion habe sich aus der Vormundschaft der großen religiösen Institutionen befreit und sei zunehmend in die Autonomie des Individuums gestellt.« Pollack, Religiöser Wandel in modernen Gesellschaften, in: Faber/Hager (Hg.), Rückkehr der Religionen oder säkulare Kultur?, 2008, 172. 188 Locher, Huldrych Zwingli in neuer Sicht, 1969, 217.
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nicht eindeutig. Auch Gespräche über das Leben werden coram Deo geführt und können als religiös verstanden werden, denn die Kirche ist eine Deutungsgemeinschaft. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Gesprächsmodellen besteht darin, dass in den Gesprächen über das Leben das Deutungsangebot nicht den Ausgangspunkt der Gesprächssituation bildet. Die Gelegenheit wird gerade nicht gesucht. Die Gesprächssituation entfaltet sich im Prozess des gemeinsamen Unterwegsseins, in der – vielleicht bruchstückhaften – Erfahrung einer Weggemeinschaft.
2.6.2 Der Individualisierung durch Personalisierung begegnen Ob eine Gemeinde als kommunikatives Sozialmilieu empfunden wird, wird durch überschaubare und beteiligungsoffene Strukturen beeinflusst.189 Menschen werden mit der ihnen eigenen Individualisierung im Glauben an der Kommunikation beteiligt. Wie das? Kehl lehnt es ab, Individualisierungsprozessen gegenzusteuern. Jedoch lässt sich der Individualisierung durch eine Vertiefung zur Personalisierung begegnen: »Die zunehmende Individualisierung im Glauben kann auf Dauer nur auf ihrem eigenen Feld erfolgreich überwunden werden, nämlich durch ihre Vertiefung zur ›Personalisierung‹ im Glauben.«190
Dafür braucht es Orte, an denen die Einzelnen mit ihrem Leben zur Sprache kommen können. Wie lässt sich gemeindliches Leben so organisieren, dass eine Personalisierung des Glaubens möglich ist und gefördert wird? 191 Spielberg nennt als ein wichtiges Kriterium, dass Menschen einander »auf Augenhöhe« begegnen. Er spricht von einer milieusensiblen Pastoral, die auf Amateure angewiesen ist: »Denn sie verlangt eine grosse Palette an Sprachen und Ausdrucksformen, um Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. Die Aufgabe der Profis wird es sein […] für eine Kultur versöhnter Verschiedenheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu sorgen.«192
Pastoralpsychologisch ist interessant, dass in diesem Modell gerade nicht die Pfarrperson als Kontaktfläche für möglichst viele Menschen verstanden wird, sondern dass Gemeindeglieder in der Vielfalt ihrer Lebensformen, »Sprachen und Ausdrucksformen«, wahrgenommen werden. Spielberg sieht es für notwendig an, pastorale Räume zu verkleinern. Menschen müssen einander erneut wahrnehmen können. Damit beschreibt er ein kybernetisches Spannungsfeld. Es 189 190 191 192
Kap. II.2.3 Kirche als Weggemeinschaft, Basisgemeinde, neues Gottesvolk. Kehl, Die Kirche, 1992, 202. Vgl. Kap. VII.2 Kleingruppen als Sozialform lebensweltlicher Kommunikation. Spielberg, a. a. O., 90.
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Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
braucht seiner Meinung nach grössere Strukturen von Seelsorgeeinheiten, denn diese schaffen Freiheitsräume. Um aber Menschen wahrzunehmen, bedarf es in grossen Räumen einer Vielzahl von kleinen Räumen und einer Vielzahl von Amateuren. Die kybernetische Spannung vom Handeln in grossen und kleinen Räumen aufrecht zu suchen und zu erhalten, wird zum wesentlichen Kriterium für Gemeindeentwicklung in pluralistischer Gesellschaft.193 Es kann missverstanden werden, wenn man von Sozialformen spricht, die eine Personalisierung im Glauben fördern. Nicht gemeint ist, dass Gemeinden sich selbst genügen und über den Troeltsch′schen Sinn hinausgehend tatsächlich »sektenartige« Gruppen bilden. Gemeinden sind ausdrücklich in den grösseren Zusammenhang der ecclesia universalis gewiesen und bedürfen dieses Zusammenhalts und Korrektivs. »Um demgegenüber die Kommunikationsfähigkeit der angezielten ›Sozialmilieus‹ auch nach außen zu erhalten, bedürfen sie […] einer ausdrücklich bejahten Einbindung in die größere institutionelle Wirklichkeit der Universalkirche. Es geht dabei um eine amtlich-strukturell abgestützte Präsenz des weltweiten Horizontes der Kirche in den primären Gemeinschaftsformen.«194
Ein Aspekt dieser Interdependenz wurde bereits besprochen: Die Rede von der ecclesia invisibilis schützt die sichtbare Kirche davor, die Beteiligung an ihren eigenen Sozialformen zum Kriterium für die Zugehörigkeit von anderen Menschen zu machen.195 In gleicher Weise schützt eine amtlich-strukturelle Präsenz der Kirche die sichtbare Gemeinde davor, ihren zeitbedingten Gemeinschaftserfahrungen einen ihnen nicht angemessenen Stellenwert zu geben.
2.7
Die Offenheit für soziale Gestaltwerdungen der Kirche
Die evangelischen Kirchen sind der Reformation verpflichtet und sind ihrer Auseinandersetzung mit der römisch-katholischen Kirche entsprechend zurückhaltend gegenüber einer theologischen Festlegung auf historisch bedingte Gestaltwerdungen des Glaubens. Die römisch-katholische Kirche ist in der Ausgestaltung ihrer Ordnungen vielfach festgelegt. Das meint die apostolische Sukzession, die Hierarchie in den Ämtern und das Verständnis des Amtspriestertums im Gegensatz zum allgemeinen Priestertum der nicht geweihten Christinnen und Christen. Die soziale Organisation des Glaubens gilt als von Gott 193 In der Befragung wird deutlich werden, dass die Gemeinde Berlinprojekt mit dieser kybernetischen Spannung von Grossräumigkeit (Gottesdienst) und Kleinräumigkeit (Sofagruppen) arbeitet. 194 Kehl, Die Kirche, 1992, 207/208. 195 Vgl. Kap. II.1.4.3 Die Rede von der ecclesia universalis schützt vor menschlichem Urteilen.
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gestiftet und dem Wesen der Kirche zugehörig. Die Kirchen der Reformation dagegen haben sich nicht auf eine bestimmte historische Ausbildung ihrer Sozialgestalten festgelegt: »Gegen die Festschreibung von kirchlichen Ordnungen als de iure Divino und die damit verbundene Identifikation einer Sozialgestalt der Kirche mit der einen Kirche Jesu Christi richtet sich der Protest der Reformatoren: allerdings kennen auch sie den Gebrauch des Begriffes der ›institutio‹ bzw. ›instituere‹ im Sinne einer göttlichen Stiftung oder Einsetzung – v.a. in der Confessio Augustana. Hier dient er aber zur Unterscheidung zwischen göttlichem und menschlichem Recht; mit den Worten der CA: Was ist von Gott eingesetzt – ›institutum est‹ (CA V,1f) und was sind nur menschliche Satzungen und Traditionen – ›traditiones humanae‹ (CA XV,3) oder ›constitutiones‹ (CA XXVIII,73).«196
Als von Gott eingesetzt verstanden, werden nur Predigt und Sakramentsverwaltung.197 Mit der Unterscheidung von göttlicher Einsetzung und menschlichen Satzungen bietet die reformatorische Theologie die Möglichkeit, die sozialen Gestaltwerdungen der Gemeinde jeweils neu auf ihre geschichtliche Angemessenheit hin zu befragen. Sind ihre Gestaltwerdungen eine geeignete Form für die Kommunikation des Evangeliums in zeitgenössischer Gesellschaft? Die Zurückhaltung von CA 7 in Bezug auf die Gestaltung der Sozialbeziehungen ist eine Stärke der reformatorischen Lehre: »Die kybernetische Relevanz der Formel besteht gerade in ihrer von etlichen beklagten angeblichen Dürftigkeit. Denn indem sie sich auf die Benennung der signa ecclesiae verae als Kennzeichen, die an den empirischen Kirchen verifizierbar sein sollen, beschränkt, stellt sie alles andere, alle konkreten Verwirklichungsformen wie Kirchenordnungen, Gottesdienstordnungen, Lebensordnungen und Lehrordnungen als immer neu nach Zweckmässigkeitsgesichtspunkten zu bewältigende Aufgaben zur Disposition und gibt eben damit der Praktischen Theologie, speziell der Kybernetik, etwas zu tun.«198
Die evangelischen Kirchen haben ihre geschichtlichen Gestaltwerdungen immer wieder theologisch zu begründen versucht. Im frühen 20. Jahrhundert untersuchte der lutherische Rechtshistoriker und Kirchenrechtler Rudolph Sohm die Ordnungen und die aus ihnen folgende Gestaltwerdung der evangelischen Kirche. Sohm war davon ausgegangen, dass die frühe Christenheit nur einen religiösen Kirchenbegriff kannte, also eine ausschliesslich pneumatisch-charismatische Gemeinschaft gewesen sei.199 Adolf Harnack und Max Weber beteiligten sich an diesem über Jahre währenden Diskurs. Auch sie suchten sich darüber zu verständigen, was die Stiftung der Kirche ausmacht. Sind auch die rechtlich-amtli196 197 198 199
Ludwig, a. a. O., 46/47. Kap. II.1.3 Gemeinde wird an äusseren Merkmalen erkannt. Preul, Die soziale Gestalt des Glaubens, 2008, 14, und pointiert ebd., 28. Koch, Rechtliche Regelung von Konflikten im frühen Christentum, 2004, 13. Koch bezieht sich auf Sohm, Wesen und Ursprung, XVIII.
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chen, nämlich die institutionellen Strukturen, als Stiftung (Institutio) zu verstehen? Sohm und Weber sprachen der Institution einen göttlichen Charakter ab: »Institutionen […] erschienen nun als statische, geistfeindliche, menschliche Einrichtungen in einem diametralen Gegensatz zum Dynamischen, Charismatischen des göttlichen Wortes. Daran hatte die Identifikation von Institution und Anstalt im Sinne Max Webers einen massgeblichen Anteil.«200
Die Kirche als Institution stellt eine Verfestigung von Sinn-, Handlungs- und Leitungsstrukturen, und bald einmal eine kirchliche Sozialgestalt dar. Sie beruht aber – anders als es Organisationen tun – auf einer Institutio, auf einer als göttlich geglaubten Stiftung. Statt von einer Stiftung können wir auch von der Geltung der biblischen Narrative sprechen. Der dynamische, aus dem juristischen Kontext kommende Begriff der Institutio, hat sich mehr und mehr auf sein Ergebnis, auf die verfestigte Sozialgestalt der Kirche hin verlagert.201 Emil Brunner hat wenig später – um im Bild zu bleiben – eine Rückverlagerung gefordert. Er versteht die Kirche vorrangig als Bruderschaft, also als auf persönlichen Beziehungen beruhend. Brunner beruft sich ausdrücklich auf Martin Luthers Äusserungen in den Schmalkaldischen Artikeln.202 Brunner unterscheidet die neutestamentliche Ekklesia von der Kirche als geschichtlich gewordener Institution. Seine Abneigung, die er auch bei Luther wahrzunehmen glaubt, gilt einer als ›Es‹ missverstandenen Kirche:203 »Die Christusgemeinde ist nichts anderes als eine Gemeinschaft von Personen. […] Die Gläubigen sind miteinander verbunden durch ihr Anteilhaben am Christus und am heiligen Geist; aber das, was sie gemeinschaftlich haben, ist gerade kein Etwas, kein Es, sondern ein Er, Christus und sein heiliger Geist. Das Gerade ist das Wunderbare, Einzigartige, Einmalige der Ekklesia: dass sie als Leib Christi keine Organisation ist und darum nichts vom Charakter des Institutionellen an sich hat.«204
Als von Gott eingesetzt glaubt die evangelische Kirche allein Predigt und Sakramentsverwaltung. Wie begründet sie nun ihre Ordnungen? Historisch betrachtet mussten die lutherischen Kirchen im 16. Jahrhundert ihre Beziehungen zur Obrigkeit und zu politischen und gesellschaftlichen Grössen nicht neu definieren. Sie fanden ihre Ordnung durch die landesherrlichen Regimente geregelt.205 Luther schreibt in An den christlichen Adel deutscher Nation:
200 201 202 203 204 205
Ludwig, a. a. O., 32. Im Original steht Max Weber in Grossschrift. Ebd., 23. Brunner, Die Kirchen, die Gruppenbewegung und die Kirche Jesu Christi, 1936, 25. Brunner, Das Missverständnis der Kirche, 1934, 17. Ebd., 13. Kellerhals, Heilende Gemeinschaft in der Postmoderne, 2008, 48–49.
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»Die weyl dan nu die weltlich gewalt ist gleych mit uns getaufft, hat den selben glauben unnd Evangely, mussen wir sie lassen priester und Bischoff sein, und yr ampt zelen als ein ampt, das da gehore und nutzlich sey der Christenlichen gemeyne.«206
Die zeitgenössische gesellschaftliche Ordnung wird als Ordnung für die Kirche übernommen, die Wahrnehmung kirchlicher Leitungsämter wird dabei in einer erstaunlichen Freiheit den Landesherren zugestanden.207 Wie die lutherischen, so haben sich auch die reformierten Kirchen eine Ordnung durch die Übernahme äusserer Strukturen gegeben. Sie brauchen eine bestimmte Organisation und Verwaltung »zur Erreichung ihres Zwecks«.208 »Und zwar ist die Kirche entweder als Territorialkirche, durch die Einheit des äußeren Regiments und Kultus, oder als Konfessionskirche, durch die Einheit des äusseren Bekenntnisses sichtbar.«209
Die reformierten Kirchen machen verbindliche Aussagen zu ihren sozialen Gestaltwerdungen, insofern die Dienstämter als kybernetisch verpflichtend verstanden werden.
2.7.1 Die Ableitung von Lebensordnungen Aus den reformierten Dienstämtern lässt sich keine explizite Gemeindeordnung, sehr wohl aber eine implizite Lebensordnung ableiten. Georg Plasger bezieht sich auf Frage 31 im Heidelberger Katechismus, wenn er meint, dass dem dreifachen Amt Jesu Christi drei menschliche Handlungen entsprechen.210 »Denn diese dem Menschen von aussen zukommende Gnade macht den Menschen nicht passiv, sondern setzt ihn ein in eine aktive Rolle. Nicht Passivität, sondern Aktivität prägt das Menschenbild im Heidelberger Katechismus.«211
Plasger übersetzt das prophetische Amt Jesu in ein Handeln der Gemeinde, das ein »Bekennen des Namens Jesu Christi« ist. Er fragt wie ein solches Bekennen als Lebensprozess aussieht. Dem priesterlichen Amt Jesu Christi entspricht die »menschliche Hingabe als Dankopfer«. Die Dankbarkeit soll ebenfalls als ein 206 Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation, 1520, WA 6, 408, und Luther weiterhin in: Von weltlicher Obrigkeit, 1523, WA 11, 246–280. Obrigkeit und Kirche sind durch denselben Herrn verbunden, aber in ihrem Auftrag unterschieden. 207 Hans-Martin Barth begründet das damit, dass Luther eine Notsituation vorgefunden hätte, da Priester, Bischof, Papst ihrer eigentlichen Aufgabe nicht nachgekommen seien. Vgl. Barth, Einander Priester sein, 1990, 31. 208 Heppe (Verf.), Bizer (Hg.), Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche, 1958, 529. 209 Ebd., 527. 210 Plasger, Die konsequente Christologie des Heidelberger Katechismus, in: Hirzel (Hg.), Der Heidelberger Katechismus – ein reformierter Schlüsseltext, 2013, 83–99, 95. 211 Ebd., 94.
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Lebensprozess verstanden und eingeübt werden. Das königliche Amt Jesu Christi schliesslich führt die Gemeinde in ein Handeln, das als ein gutes Verwalten der Schöpfung (Gen 1) verstanden werden soll.212
2.7.2 Calvin und die Ämter in der Gemeinde Im Blick auf Calvin und die Genfer Kirchenordnung stellt sich die Frage, inwiefern Calvin für die reformierten Kirchen nicht nur eine klar erkennbare, sondern auch dauerhaft verbindliche Struktur vorgesehen hat: »Calvin sieht den Menschen als einen ungehorsamen Individualisten vor sich. Er ruft ihn zur Ordnung und zum Heil unter der gloria Christi in seiner Gemeinde […].«213
Calvin begründet diese Ordnung nicht von äusseren Notwendigkeiten her, sondern mit dem Hinweis auf Jesus Christus. Die Kirche wird von Christus her, durch seinen Geist und seine Gaben geordnet.214 Die Ämter werden in Analogie zum Wirken Jesu Christi verstanden: »So sind die reformierten Dienstämter in der Tat Funktionen des dreifachen Amtes Christi selbst und des Leibes Christi zugleich. Insofern kann man sagen, dass die Ämter in den Gaben gründen, die dem Leib der Gemeinde verliehen sind, und dass die Ämter als Funktionen des Hauptes zugleich Funktionen des allgemeinen Gemeindelebens sind.«215
Pointiert lässt sich fragen, ob Calvin in der Institutio nicht doch eine Gemeindeordnung und damit die soziale Organisation gemeindlichen Lebens festgeschrieben hat. »Zwar hatte schon Calvin in seiner Institutio die menschlichen Regelungen und Satzungen in der Kirche als nicht heilsnotwendig bezeichnet, ihnen aber wohl die Aufgabe zugewiesen, dass sie ›geraden Weges zu Christus hinführen‹ müssen, also keineswegs beliebig oder nur zweckmässig sein könnten.«216
Liegt hier die theologische Setzung einer kirchlichen Sozialgestalt vor? Meines Erachtens kommen die Reformatoren von der theologischen Frage her, was die Kirche in ihrem Wesen ist und wie sie von da her in den gegenwärtigen Verhältnissen Gestalt annehmen soll. Die vier Ämter, die Calvin entwirft, kommen in der Bibel so nicht vor. Wenn Calvin sich z. B. auf Eph 4,11 beruft, zeigt sich, dass dort von fünf ›Diakonien‹ die Rede ist und nicht von vieren. Calvin nennt das 212 213 214 215 216
Ebd., 94–97. Locher, Huldrych Zwingli in neuer Sicht, 1969, 269. Niesel, Die Theologie Calvins, 2., überarb. Aufl. 1957, 199. Jacobs, a. a. O., 123. Ludwig, a. a. O., 130, Calvin im Original in Grossbuchstaben. Ludwig zitiert Calvin, Institutio IV, 10, 29.
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Amt der Pastoren, Lehrer, Ältesten und Diakone.217 Dagegen heisst es in Eph 4,11: »Und er hat einige als Apostel eingesetzt, einige als Propheten, einige als Evangelisten, einige als Hirten und Lehrer.« Die vier Ämter bei Calvin sind zwar theologisch begründet, werden in ihrer Gestalt aber der Situation entsprechend entfaltet. Darum sind sie auch unter anderen sozialen Gegebenheiten wandelbar.218 Die Genfer Kirchenordnung zielt also auf eine konkrete Gestaltwerdung der Kirche unter den historischen und soziologischen Bedingtheiten ihrer Zeit. Calvin hat auf die theologischen Grundlagen bzw. auf Kriterien der Sozialgestalt verwiesen, von denen her aber die Sozialgestalt selbst menschliche Setzung ist und bleibt. Damit bleibt sie aber revidierbar und es gilt: »Die Ordnung der Kirche ergibt sich von dem Dienst her, der ihr aufgetragen ist.«219
Für die reformierte Ekklesiologie ergibt sich die Ordnung der Kirche aus dem, was sie als ihren Dienst und Auftrag versteht. Die Organisation des kirchlichen Lebens muss diesem Auftrag zugutekommen. 2.7.3 Die Ämter und ein Verhältnis wechselseitigen Dienens Ämter werden als Dienste verstanden, weil sie von Jesus Christus abgeleitet werden, der den Seinen dient (Mk 10,45). Mit den Ämtern wird kybernetisch ein geordnetes Verhältnis wechselseitigen Dienens beschrieben. Gemeindeglieder suchen die Teilhabe aller an der gemeinsamen Christuswirklichkeit zu fördern. Der Genfer Katechismus beschreibt die Dienste in Frage 98 als eine wechselseitige Hilfe zu denjenigen Wohltaten, die Jesus Christus den Seinen erwiesen hat. Gemeindeglieder dienen einander mit dem, was sie als ihnen anvertrautes gemeinsames Gut verstehen (1. Petr 4,10). »Und damit wird zugleich uns zu verstehen gegeben, dass alle Wohltaten, die unser Herr seiner Kirche erweist, jedem einzelnen Gläubigen zu Nutz und Heil dienen, weil alle Gemeinschaft untereinander haben.«220
Eine Gemeinde bildet also Strukturen aus, die es den Gemeindegliedern ermöglichen, einander zu den ›Wohltaten Jesu Christi‹ zu helfen. Diese Strukturen wehren der Gefahr, die Gemeinde in Gebende und Nehmende einzuteilen und einen einseitigen Fluss der Wohltaten festzuschreiben. Das meint für Calvin die
217 Calvin, Institutio IV,4. 218 Calvin liess zudem Spielräume, meinte, dass es zu bestimmten Zeiten auch »ausserordentliche Ämter« wie die Krankenheilung geben könne. Vgl. Niesel, a. a. O., 201. 219 Niesel, a. a. O.,199. 220 Frage 98 im Genfer Katechismus (1542), in: Reformierte Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen in deutscher Übersetzung, bearb. und hrsg. von Jacobs, 1949, 26.
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angestrebte Wechselseitigkeit des Handelns und keine allgemein verstandene Gleichheit der Gemeindeglieder. »Es ist unmöglich, dass der Leib unversehrt und heil bleibt, wenn nicht verschiedene Fähigkeiten der Glieder da sind und ein wechselseitiges Handeln herüber und hinüber stattfindet. Denn eine Gleichheit verträgt sich nicht mit dem Wohle des Leibes, da sie Verwirrung stiftet.«221
Calvin begründet die Wechselseitigkeit der Dienste von der Kirche als dem Leib Christi her. Die Glieder der Kirche sind wie die Glieder an einem Körper nicht ›gleich‹, sondern zum Dienst aneinander bestimmt. Durch den wechselseitigen Dienst soll die »Liebe unter uns durch gemeinsame Dienstleistung gefördert« werden.222
2.8
Das allgemeine Priestertum als Strukturprinzip der evangelischen Kirchen
Der Kirchenhistoriker und Lutherforscher Karl Holl nennt das allgemeine Priestertum ein »Verfassungs- und Strukturprinzip der evangelischen Kirche«.223 Es wirkt auf die Handlungs- und Leitungsstrukturen und damit auf die geschichtliche Ausbildung der Sozialgestalten der Kirche. Mit der Formel vom allgemeinen Priestertum wird ausgedrückt, dass alle Getauften als Subjekt der Kommunikation verstanden werden. Niemand wird zum Gegenstand kirchlichen Handelns gemacht. Die Reformatoren begründen das allgemeine Priestertum mit der Taufe, das heisst, sie begründen es sakramental. Reformatorisches und römisch-katholisches Verständnis des Priestertums werden beide sakramental begründet. Das Verständnis divergiert darin, welches Sakrament das Priesteramt begründet. Für die evangelischen Kirchen ist es nicht mehr die Priesterweihe, die den Zugang zum Amt und damit auch zum Dienst des Priesters öffnet: »Dem nach szo werden wir allesampt durch die tauff zu priestern geweyhet, wie sanct Peter i. Pet. ij. sagt ‹yhr seit ein kuniglich priesterthum, und ein priesterlich kunigreych›, und Apoc.«224
Wird die Taufe als Weihe zum allgemeinen Priestertum verstanden, dann wird damit die Kommunikation der Gemeindeglieder als subjekthaft und partizipatorisch festgeschrieben. Das setzt nicht schon die Befähigung der Gemeinde-
221 222 223 224
CR 49, 503, bei: Niesel, a. a. O., 202, Fussnote 15. Calvin, Institutio IV,4.28. Preul, Die soziale Gestalt des Glaubens, 2008, 15. Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation, 1520, in: WA VI, 407.
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glieder zu subjekthafter Kommunikation und Beteiligung voraus. Schon Luther schreibt, dass es nicht jedem Gemeindeglied ziemt, ein Amt wahrzunehmen: »Dan was ausz der tauff krochen ist, das mag sich rumen, das es schon priester, Bischoff und Bapst geweyhet sey, ob wol nit einem yglichen zympt, solch ampt zu uben. Dan weyl wir alle gleich priester sein, musz sich niemant selb erfur thun und sich unterwinden, an unszer bewilligen und erwelen das zuthun, des wir alle gleychen gewalt haben. Den was gemeyne ist, mag niemandt on der gemeyne willen und befehle an sich nehmen.«225
Weil die Gemeindeglieder in eine gleich nahe Beziehung zu Gott gerufen sind, sind sie auch zum Dienst aneinander gerufen.226 Die Reformatoren halten den Zugang zu Ämtern und ihrer Ausübung aber nicht für nach eigenem Belieben zugänglich.
2.8.1 Das Amt ruht auf der Gemeinde Was heisst es nun, dass alle mit dem Priesterdienst beauftragt sind? Die Ämter ruhen nicht auf den Einzelnen, sondern das Amt ruht auf der Gemeinde.227 Die Zürcher Orientierungshilfe Lebenswelten bezeichnet die Gemeindeglieder als den »Souverän der Kirche«.228 »Das von Gott gestiftete ›ministerium‹ von Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung (CA V) gehört der ganzen Gemeinde. Für die öffentliche Wahrnehmung dieses ›ministeriums‹ beauftragt aber die Gemeinde diejenigen geeigneten Personen, die diese Aufgabe lebenslang und regelmäßig wahrnehmen sollen.«229
Die Einzelnen können sich Ämter und Aufgaben nicht aufgrund eines eigenen Entschlusses aneignen. Es braucht einen Ruf, eine vocatio externa. Der Ruf oder Befehl geht von der Gemeinde aus, der die potestas gegeben ist. Sie bindet die Übertragung von Ämtern an Zugangsvoraussetzungen, wie zum Beispiel das Theologiestudium. Diese Zugangsvoraussetzungen sind als menschliche Satzungen und Traditionen – ›traditiones humanae‹ (CA XV,3) oder ›constitutiones‹ (CA XXVIII,73) zu verstehen, können unter anderen geschichtlichen Umständen auch verändert oder ausser Kraft gesetzt werden. 225 Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation, 1520, in: WA VI, 408. Siehe auch WA VI, 370,10f., WA VI,407,13f. 226 Obenauer, Vielfältig begabt, 2009, 153. 227 Vgl. Luthers Schrift von 1523: »Dass eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen. Grund und Ursach aus der Schrift« (WA 11,408 ff). Bonhoeffer schreibt in Communio Sanctorum (1986, 154) pointiert: »Die Predigt ist ›Amt‹ der Gemeinde«. 228 Diethelm u. a. (Hg.), Lebenswelten, 2012, 26. 229 Herbst, Gemeindeaufbau auf dem Weg ins Jahr 2017, 7–41, in: Clausen u. a. (Hg.), Alles auf Anfang, 2013, 37.
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»Luther hat diesen komplexen Sachverhalt so beschrieben, dass er einerseits jedem Christen die gleiche Gewalt (potestas) im Hinblick auf Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung zuschrieb, andererseits aber betonte, daraus folge nicht, daß alle gleichermaßen in der Öffentlichkeit der Gemeinde – also in der Sphäre ihres gemeinsamen Lebens – diesen Dienst ausüben. […] Das hinderte nicht, daß Luther jedem Christen eine Mitwirkung und Mitverantwortung dafür zusprach, daß dieser Dienst in der Kirche tatsächlich wahrgenommen wird.«230
In der Lutherauslegung gibt es bis heute verschiedene Sichtweisen, wie die der Gemeinde und damit allen ihren Gliedern übertragene Vollmacht (potestas) zu verstehen ist. Es ist grundlegend, zwischen der Vollmacht und dem Gebrauch dieser Vollmacht zu unterscheiden. Das einzelne Gemeindeglied hat Teil an der Vollmacht der Gemeinde, aber ihr bzw. ihm ist nicht die Vollmacht zum Gebrauch gegeben.231 Lehr- und Leitungsämter der evangelischen Kirche sind der Gemeinde als ganzer übertragen. Sie beauftragt die einzelnen Glieder mit der Wahrnehmung der Ämter und Aufgaben und trägt die Lehrverantwortung.232 Die Gemeindeglieder sind hierfür mit ihrer Urteils- und Unterscheidungsfähigkeit gefragt.233
2.8.2 Gemeindeglieder beteiligen sich an pastoralen Aufgaben Subjekthafte Kommunikation beschreibt soziologisch, was wir unter der theologischen Wirklichkeit des allgemeinen Priestertums verstehen, und ist für viele Gesellschaften eine Herausforderung. Die »potentielle Inklusion aller Menschen«, die eine potenzielle Beteiligung aller Menschen ist, stellte bereits in der Klassengesellschaft der römischen Kaiserzeit eine Besonderheit dar.234 Als Mitglied der Gemeinde ist jede und jeder aufgerufen, die Communio Gottes zeichenhaft mit zu verwirklichen.235 Wo Menschen subjekthaft kommunizieren, wird die Kirche zur Beteiligungskirche. Es wird selbstverständlich immer Menschen geben, die in bestimmten Lebensphasen mit Beteiligung überfordert sind und Betreuung brauchen. Auch solche Betreuung ist in einer Beteiligungskirche möglich. Sie entspricht nur nicht der Grundstruktur einer kommunizierenden Kirche. In Ladenhüter oder Laboratorium? thematisiert Spielberg die »zunehmende Verhauptamtlichung elementarer pastoraler Vollzüge«, durch welche Gemeindegliedern die Möglichkeit zur Beteiligung entzogen wird. Spielberg vermutet in dieser Entwicklung einen Grund für die »wachsende Exkulturation« der Ge230 231 232 233 234 235
Pannenberg, Systematische Theologie, 1993, 410. Ebd., 410/411. Stock, Einleitung in die Systematische Theologie, 2011, 252. Preul, Kirchentheorie, 1997, 104. Schlamelcher, Ökonomisierung der protestantischen Kirche?, 2013, 73. Vgl. Kehl, Wohin geht die Kirche?, 4. Aufl. 1996, 115.
Strukturen innerkirchlicher Kommunikation
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meinde.236 Wir-Beziehungen werden durch pastorale Vollzüge ersetzt. Was geschieht mit einer Kirche wenn die Grundfunktionen christlichen Lebens und Verstehens zunehmend verhauptamtlicht und damit delegiert werden? Bittner spricht von einer »Delegationsspirale«.237 Das Modell der Delegationsspirale erklärt ein komplexes Phänomen gesellschaftlicher Differenzierung, das nicht nur innerhalb der Kirche, sondern beispielsweise auch im Bildungs- und Gesundheitswesen vorkommt. Kennzeichen der Delegation ist, dass aus den allgemeinen Aufgaben einer Gemeinschaft professionell ausgeführte und oft auch finanzierte Aufgaben werden. Das führt zu einer Steigerung des Niveaus, aber auch zu einem Rollenwechsel der Gemeindeglieder.
2.8.3 Lebensführung als freier, dankbarer Dienst Lebensführung meint die Ausgestaltung von Familien- und Single-Leben, den Umgang mit Geld, mit Arbeitsbedingungen, mit Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und vieles mehr. Lebensführung schliesst ein Bildungs-, Gerechtigkeitsund solidarisches Hilfehandeln ein.238 Der Heidelberger Katechismus hat das Ethos – nämlich Fragen der Lebensführung – in seinem dritten Teil als Lehre von der Dankbarkeit entfaltet. Die Kirche wird dort an ihrem Handeln als Kirche erkannt, wo Menschen das Wort Gottes hören, sich dieses Wortes in der Feier der Sakramente vergewissern und ihre Lebensführung als dankbare Antwort auf den Zuspruch Gottes verstehen. So spricht auch die Barmer Theologische Erklärung von einem »freien dankbaren Dienst« in allen Lebensbereichen.239 In der von mir durchgeführten Befragung von Gemeindegliedern der Gemeinde Berlinprojekt lassen sich Grundeinstellungen erkennen, die auf Prägung durch die New Yorker Redeemer Presbyterian Church zurückgehen.240 Deren Gründer und ehemaliger Pastor Timothy Keller unterscheidet in Center Church, aus welchen Motivationen heraus sich Menschen in der Redeemer Presbyterian Church engagieren. Die einzige dauerhaft tragfähige Haltung nennt er eine »gratitude-motivated obedience«.241 Nur ein aus Dankbarkeit entspringendes Engagement würde Gemeindegliedern dauerhaft helfen, die Selbstzentriertheit im Handeln hinter sich zu lassen. Die Lebensführung als dankbare Antwort auf den Zuspruch Gottes zu verstehen, aktualisiert sich in den gemeindlichen Beziehungsfeldern der Koinonia 236 237 238 239
Spielberg, a. a. O., 90. Bittner, Kirche, wo bist du?, 2. Aufl. 1995, 61. Ludwig, a. a. O., 373. Theologische Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen 1934, These II, in: Weth, ›Barmen‹ als Herausforderung der Kirche, 1984, 36. 240 Keller, Center Church, 2012, 21–23. 241 Ebd., 68–69.
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und Diakonia. In beiden Beziehungsfeldern werden Gemeindeglieder zu einem in der Gesellschaft wahrnehmbarem Zeugnis – zur Martyria – von Gottes Zuspruch und Anspruch in Jesus Christus. 2.8.4 Zur Freiwilligkeit des Gesprächs über Lebensführung In einer kommunizierenden Gemeinde hängt für den Diskurs über Fragen der Lebensführung alles an der Freiwilligkeit, aufgrund derer sich Menschen als Mitglieder der Gemeinde wissen. John H. Yoder schreibt in Die Politik des Leibes Christi: »Die zerstörerischsten Missbräuche entstehen wohl dann, wenn der freiwillige Charakter der Gemeinschaft verloren geht. Im ersten Jahrhundert und in den Erneuerungsbewegungen der Kirche hatte solche Gemeindedisziplin ihr Zuhause in freiwilligen Gemeinschaften, deren Glieder sich diesem Verfahren und seinen Massstäben durch eine persönliche Entscheidung in Taufe oder Konfirmation verpflichtet hatten. Wir können einander so versöhnend konfrontieren, weil wir uns gegenseitig vertrauen und weil wir uns freiwillig solch liebender Begleitung und Führung untergeordnet haben. In einer unfreiwilligen Gemeinschaft erhält dasselbe Handeln eine völlig andere Bedeutung.«242
Wo es um persönliche Lebensäusserungen geht, können diese nur freiwillig thematisiert werden. Die evangelische Beichte lässt sich als ein herausgehobenes Beispiel dafür verstehen, wie Gemeindeglieder ihre Lebensführung zur Sprache bringen sollen. Luther lädt ein, zur Beichte zur »locken«. Um der Absolution willen – die Luther als grossen Freiheitsgewinn versteht – will er die Beichte beibehalten.243 Entscheidend ist aber, dass Luther die Beichte als freiwillig versteht. »Man soll wohl dazu reizen, aber nit treiben, man soll dazu locken, aber nit zwingen. Frei, willig und gern soll man beichten.«244
Für Luther hat die Beichte als Bereitschaft, die Lebensführung unter dem Zuspruch des Evangeliums zu überdenken, einen nahezu sakramentalen Charakter – um des grossen Gewinns willen. Jedoch treten Kirchenordnung und -zucht nicht als ein drittes Kennzeichen der Kirche neben Wort und Sakrament, und damit eben auch nicht das Gespräch über Fragen der Lebensführung.245 Fragen
242 Yoder, a. a. O., 32–33. Erich Geldbach gibt in Freikirchen – Erbe, Gestalt und Wirkung, 2. Aufl. 2005, 41, zu bedenken, dass ehemalige Freiwilligkeitskirchen heute zu »Nachwuchskirchen« mutiert sind. Die Voraussetzungen, die ihre Mitglieder zur Teilnahme bewegen, haben sich weitgehend geändert. 243 Luther, Schmalkaldische Artikel, Artikel 8, WA 50, 244,6–30. 244 Luther, Von der Beichte, 1521, in: WA 8,177, 28,33. 245 Die reformierten Bekenntnisschriften äussern sich jedoch nicht einheitlich. Vgl. Calvin, Institutio, IV,10 im Zusammenhang mit IV,8. Das Schottische und das Niederländische Bekenntnis nennen die ernsthafte und eifrige Übung der Lebenszucht als äusseres Zeichen, an dem die Kirche erkannt wird. Ebd., 141, 148. Jacobs nennt die Tatsache der Sichtbarkeit
Systematisch-ekklesiologische Klärung: Kirche im Spannungsfeld
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der Lebensführung sind keine dritte nota ecclesiae, sind aber im Wort der Verkündigung und der Sakramentsverwaltung mit enthalten: »Nennt man sie [nämlich Kirchenordnung und Kirchenzucht] ein ›Kennzeichen der Kirche‹, so stehen sie zu dem einen Kennzeichen in seiner Doppelgestalt von Wort und Sakrament in einem analytischen Verhältnis, das heisst, sie kommen nicht hinzu, sondern sind im Wort der Verkündigung und in der Sakramentsverwaltung mit enthalten.«246
Die Lebensführung ist insofern ein Kennzeichen der evangelischen Kirche, als sie Gegenstand gemeindlicher Kommunikation bleiben muss. Indem sie im Gespräch der Gemeinde vorkommt, und zwar im freiwilligen, subjekthaften und damit möglichst gleichberechtigten Umgang ihrer Mitglieder, bleibt Lebensführung an die Doppelgestalt von Wort und Sakrament gebunden.
3
Systematisch-ekklesiologische Klärung: Kirche im Spannungsfeld ihrer theologischen und ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit
Jede Kirche bildet mit ihren Mitgliedern auch in neuen gesellschaftlichen Situationen gemeinsame Sozialverhältnisse. Darum muss jede Ekklesiologie das Spannungsfeld von theologischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit thematisieren. Die Kirche ist immer beides: »Die Kirche ist ihrem Wesen nach zunächst Gemeinschaft der Glaubenden, Communio Sanctorum, die ihren Ursprung dem Wort Gottes verdankt. Gleichzeitig ist sie aber auch eine Organisation, die ihre Erscheinung in der Welt gestalten und diese Gestaltung reflektieren muss.«247
Der Formulierungen für eine Verhältnisbestimmung von Theologie und Empirie der Kirche sind viele: Pohl-Patalong spricht von theologischer und organisatorischer Gleichzeitigkeit der Kirche, Ludwig von der Notwendigkeit einer Vermittlung zwischen theologischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit.248 Hübner wiederum unterscheidet zwei Grundrichtungen für jede Verhältnisbestimmung von Theologie und Empirie der Kirche: Auf der einen Seite steht ihm zufolge Barth, auf der anderen stehen Hegel und Schleiermacher. Hübner meint, eine Unterscheidung zwischen »streng im Modus der Verheissung zu denkender ›Kirche des Glaubens‹ und unverstellt wahr- und anzunehmender ›Kirche in von grundsätzlicher Bedeutung für die Kirche und damit implizit die der Kirchenordnung, siehe: Jacobs, a. a. O., 104. 246 Jacobs, a. a. O., 104. 247 Pohl-Patalong, Ortsgemeinde und übergemeindliche Arbeit im Konflikt, 2003, 19. 248 Ludwig, a. a. O., 134.
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Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
Raum und Zeit‹« wahrnehmen zu können.249 Beide Richtungen würden jedoch in eine Sackgasse führen. Die eine Sackgasse würde sich empirisch manifestieren, die andere theologisch.250 Es gilt also, das Spannungsfeld von theologischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit zu beschreiben. Ich skizziere drei Modelle, die den Punkt der Vermittlung zwischen der gesellschaftlichen und der theologischen Wirklichkeit der Kirche jeweils anders bestimmen. Dabei gehe ich modellhaft davon aus, dass die Kirche in den Sozialgestalten von Institution, Organisation und Gemeinschaft in Erscheinung tritt.251 Wie man den Punkt der Vermittlung von gesellschaftlicher und theologischer Wirklichkeit der Kirche bestimmt, hängt entscheidend davon ab, welche ihrer Sozialgestalten man zur Referenzgrösse macht. Denn die Art des Sozialverhältnisses bestimmt über die Art der gesellschaftlichen Kommunikation – also auch der Kommunikation nach aussen hin. Es macht einen Unterschied, ob die Kirche als Gemeinschaft den Bezugspunkt zur gesellschaftlichen Wirklichkeit bildet oder ob die Institution oder die Organisation den Bezugspunkt zur gesellschaftlichen Wirklichkeit darstellen.
3.1
Begriffsklärungen
Die Kirche existiert in verschiedenen Sozialverhältnissen und kommuniziert in diesen auch unterschiedlich. Es waren Tönnies, Troeltsch, Weber und die sogenannte verstehende Soziologie, die die kommunikativen Möglichkeiten und Merkmale verschiedener Sozialverhältnisse herausgearbeitet haben.252 Die Kirche erscheint bei Troeltsch unter dem Aspekt der Individualität, dem der Sozialität und dem der Institutionalität – das sind drei Grundgestalten, die sich »einerseits kritisch und andererseits ergänzend zueinander verhalten«.253 Dabei kann jede Sozialgestalt in ihrer idealtypischen Form nur in der Ergänzung durch die anderen Sozialgestalten entstehen. »Troeltschs Aporien-Zirkel macht deutlich, dass die drei Sozialgestalttypen, wie sie sich als Reinformen in der Kirchengeschichte ausdifferenziert haben, einerseits miteinander im Konflikt liegen, aber andererseits für sich allein nicht ›überlebensfähig‹ sind. Weder ›Mönchtum‹ (Sekte), noch die ›katholische Gnaden-Anstalt‹ (Kirche), noch der reli249 Hübner, a. a. O., Einleitung VIII. 250 Ebd., Einleitung VIII. 251 Kunz unterscheidet Organisation, Institution und Bewegung. Vgl. Kunz, Theorie des Gemeindeaufbaus, 1997, 254–266. 252 Bei Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen, 6. Aufl. 1985, findet sich in Kap. VIIII eine Klärung der Kategorien, mit denen die sogenannte verstehende Soziologie arbeitet. Dort unterscheidet Weber auch zwischen Gemeinschafts- und Gesellschaftshandeln. 253 Kunz, Theorie des Gemeindeaufbaus, 1997, 211.
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giöse Individualismus (Mystik) stellen in der Situation der modernen Gesellschaft eine zukunftsträchtige Option für die Sozialgestalt des Glaubens dar. Vielmehr liegen die ›Zukunftsaufgaben in der gegenseitigen Durchdringung der drei soziologischen Grundformen und ihrer Vereinigung zu einem all diese Motive versöhnenden Gebilde.‹ Die Suche nach einer neuen Sozialgestalt des Glaubens scheint demgemäss nur in einer Spannung von drei sich bekämpfenden und gleichenteils ergänzenden sozialen Grundtypen vorstellbar zu sein. Zu jeder Reinform kann demnach auch eine ihr inhärente ideale Zukunftsgestalt angenommen werden, die einerseits aus der Differenz zwischen Reinform und kritischer Ergänzung durch die beiden »Partnergestalten« und andererseits aus der ursprünglichen Gestalt des Urchristentums deduziert werden kann, in der Individualität, Sozialität und Institutionalität des Glaubens, idealtypisch gesehen, noch zur Deckung kommen.«254
Die drei Sozialgestalten der Kirche lassen sich auch mit anderer Terminologie beschreiben. Ich verwende nicht den Begriff der ›Sekte‹ (Troeltsch) oder den der ›Bewegung‹ (Kunz), sondern den der ›Gemeinschaft‹. Es ist dieselbe Art von Sozialverhältnis gemeint, wobei der Gemeinschaftsbegriff anders als der der ›Sekte‹ und ›Bewegung‹ ein sozialphilosophischer Begriff ist.
3.2
Die Kirche als Organisation denken (Ludwig und Hermelink)
In neueren Kirchentheorien spielt das Sozialverhältnis der Organisation eine wesentliche Rolle, denn in modernen Gesellschaften haben Organisationen überhaupt an Bedeutung gewonnen.255 Holger Ludwig hat unterschiedliche ekklesiologische Entwürfe daraufhin befragt, wo sie den Punkt der Vermittlung zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Kirche und ihrer theologischen Wirklichkeit ansetzen. Er selbst hält den Begriff der Organisation für geeignet: »Allerdings ist auch deutlich geworden, dass es zur genauen Erfassung und Beschreibung der Sozialgestalt der Kirche in den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen hilfreich ist, einen Begriff zu verwenden, der selbst keinen theologisch qualifizierten Charakter in sich trägt.«256
Ludwig, Hermelink und Preul betrachten die Organisation als Referenzgrösse für eine praktisch-theologische Kirchentheorie.257 Sie favorisieren den Organisati254 Ebd., 205. 255 Zum Bedeutungszuwachs von Organisationen in pluralistischer Gesellschaft siehe Kap. III.3.3 Organisationen gewinnen an Bedeutung. 256 Ludwig, a. a. O., 133. 257 Hermelink, Kirchliche Organisation, 2011, und Preul, Kirchentheorie, 1997. Die vierte EKDErhebung über Kirchenmitgliedschaft von 2006 versteht Kirchenbindung ebenfalls vorrangig als Mitgliedschaft in einer Organisation. Den potenziellen Mitgliedern sollen dementsprechend die Leistungen der Kirche plausibel gemacht werden. Vgl. Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge, Huber u. a. (Hg.), 2006, 23.
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Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
onsbegriff, weil er es möglich macht, die Kirche als Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu beschreiben: »Die eigentliche Stärke der Verwendung des Begriffes der Organisation im Gegenüber zum Begriff der Institution liegt […] darin, dass mit ihm die Sozialgestalt der Kirche soziologisch als Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit erfasst werden kann. So wird das Gegenüber von Kirche und Gesellschaft aufgehoben und die Verwendung des Begriffs trägt dazu bei, die Gestaltung der konkreten Sozialgestalt der Kirche als sozialethische Aufgabe zu erfassen, die formal von der Herausforderung der Gestaltung anderer gesellschaftlicher Einrichtungen, ja des Zusammenlebens überhaupt, nicht unterschieden ist […].«258
Sobald die Kirche aber als Organisation verstanden wird, entsteht Klärungsbedarf. Wie verhalten sich die gesellschaftliche Wirklichkeit der Kirche und ihre Offenbarungswirklichkeit zueinander? 259 Genauer: Wie ist die Kirche als Organisation auf ihre theologische Bestimmung und ihre praktische Orientierung hin anzusprechen? Woher weiss man, dass es sich bei den Interaktionen einer Organisation noch immer um die Kirche handelt und nicht um ein Gebilde, das längst eigenen Zielsetzungen und einer eigenen Programmatik folgt? 3.2.1 Organisation bezeichnet ein Verhältnis nach Innen und nach Aussen Mitgliedschaftsverhältnisse in Organisationen werden durch Entscheidungen begründet und sind »konstitutiv für Organisationsbildung schlechthin«.260 Mitglieder organisieren ihr Verhältnis untereinander und ihr Verhältnis zur jeweiligen Gesellschaft. Kirchen sind damit als intermediäre Organisationen zu verstehen: »Intermediäre Organisationen sind in zunächst zwei Spannungsfelder einbezogen: Sie haben Mitglieder und sie sind Mitglieder. Sie sind einerseits einbezogen in das Netz der sie umgebenden Organisationen in der modernen Organisationsgesellschaft und sie haben (mehr oder weniger) freiwillige Mitglieder.«261
Organisationen verfolgen zwei Interessen, die sie ständig miteinander vermitteln müssen. Ihre Mitglieder müssen in der Organisation integriert sein und die Organisation muss im Zusammenspiel mit anderen Organisationen ihren Ort
258 Ludwig, a. a. O., 267. Kursiv im Original. 259 Preul spricht von einem »Schnittpunkt zweier Interessen […]: des Interesses der Kirche an der Erfüllung ihres allgemeinen seelsorgerlichen Auftrags und eines gesellschaftlichen, an die Kirche herangetragenen Interesses, das sich als berechtigtes Interesse der Gesamtgesellschaft und aller ihrer Mitglieder ausweisen lässt«. Preul, Kirchentheoretische Fundierung der Praktischen Theologie, 2001, 15. 260 Luhmann, Kap. 20 (Organisation und Entscheidung), in: Soziologische Aufklärung Bd. 3, 1981, 364. 261 Ludwig, a. a. O., 384.
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haben. Ludwig spricht von Mitgliedschaftslogik und Einflusslogik.262 Inklusion und Exklusion werden dabei durch Mitgliedschaftskriterien geregelt.263 »Beide – ›Einflusslogik‹ und ›Mitgliedschaftslogik‹ – sind aber durch die ›Ursprungsund Traditionslogik‹ auf den ethischen Begriff der Kirche und durch diesen auf den dogmatischen Begriff der Kirche bezogen und dürfen nicht abgekoppelt werden.«264
Einflusslogik und Mitgliedschaftslogik sind auch direkt auf den dogmatischen Begriff der Kirche bezogen, denn die Kirche bleibt ihrem Ursprung in dogmatischer Sicht verpflichtet.265 Hermelink unterscheidet in seiner Organisationstheorie ebenfalls eine nach innen und eine nach aussen gerichtete Perspektive der Kirchentheorie. Nach aussen hin klärt die Kirche ihre Lage im Blick auf die Gesellschaft und nach innen hin sucht sie Klarheit im Blick auf Leitungsinstanzen und Gemeindeorganisation.266 3.2.2 Kirche als Organisation muss theologisch verifiziert und praktisch orientiert werden Wer die Kirche als Organisation zur Referenzgrösse macht, muss begründen, wie er die Offenbarungswirklichkeit und die gesellschaftliche Wirklichkeit der Kirche aufeinander bezieht. Ludwig beispielsweise unterscheidet zwischen einem soziologischen, einem dogmatischen und einem ethischen Aspekt der Kirche. Der soziologische Aspekt bezeichnet dabei die Kirche als Organisation: »Es wird […] ein Kirchenbegriff hilfreich sein, der drei Elemente unterscheiden und aufnehmen kann: Dazu gehört dann erstens ein soziologischer Begriff der Kirche, der in der Lage ist, Funktion und Gestalt der Kirche ›in der Welt‹ adäquat zu beschreiben; zweitens ein theologisch qualifizierter Begriff der Kirche, der den Ursprung der Kirche im göttlichen Handeln als creatura verbi divini sachgemäss zur Sprache bringt und drittens als Punkt der Vermittlung einen Begriff der Kirche, der von dem ausgeht, was in der Kirche geschieht und vom theologischen Standpunkt aus zu geschehen hat, nämlich ihre Grundhandlungen in Wort und Sakrament.«267
Ludwig räumt dabei den Grundvollzügen und Handlungen der Kirche – er nennt sie den ethischen Aspekt der Kirche – einen Vorrang ein.268 Der soziologische Aspekt der Kirche muss zum einen die Umsetzung und Konkretion des ethischen Aspekts der Kirche gewährleisten. Der soziologische 262 Ebd., 384. Ludwig schliesst mit seiner Terminologie an Gabriel, Modernisierung als Organisierung von Religion, 1999, an. 263 Großklaus, Erfahrungsraum, 2003, 185. 264 Ludwig, a. a. O., 385. 265 Ebd., 384. 266 Hermelink, Kirchliche Organisation, 2011, 16. 267 Ludwig, a. a. O., 134. 268 Ebd., 374.
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Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
Aspekt der Kirche muss sich zum anderen vor dem dogmatischen Aspekt der Kirche verantworten. Beide Male stellt sich die Frage nach Kriterien. Woran lässt sich erkennen, dass der dogmatische Aspekt der Kirche tatsächlich Bezugspunkt für die Soziologie geblieben ist? Was sind Kriterien dafür, dass die Umsetzung und Gestaltwerdung des ethisch Gegebenen bei gleichzeitiger Verantwortung gegenüber der Dogmatik gelungen ist? Wer die Kirche vorrangig als Organisation versteht, muss Kriterien dafür angeben können, dass die Organisation die Grundhandlungen der Kirche angemessen umsetzt und konkretisiert. Die Kirche als Organisation muss also theologisch verifiziert und praktisch orientiert werden: »Zwei Motive haben dabei das Eintreten für den Wandel in der Kirche immer grundlegend bestimmt, das Bemühen um eine situationsgemässe Gestalt zur Erfüllung ihres Verkündigungsauftrags und die Frage nach der evangeliumsgemässen Gestalt der Kirche.«269
Die Kirche muss theologisch identifiziert werden – das nennen wir ihre Kriteriologie – und sie muss auf ein zeitgemässes Handeln hin praktisch orientiert werden. Das nennen wir ihre Kairologie.270 Kriteriologie und Kairologie zu formulieren, ist Aufgabe jeder praktisch-theologischen Kirchentheorie, die ihren Ausgang bei der Sozialgestalt der Organisation nimmt. Hermelink bezieht sich in dieser Hinsicht auf Schleiermacher. Er sucht die Organisation in dreierlei Hinsicht, nämlich systematisch-prinzipiell, historisch-empirisch und pragmatisch als Kirche zu identifizieren.271
3.2.3 Gefährdungen, wenn die Organisation zur Referenzgrösse einer Kirchentheorie wird Die Kommunikation der Kirche aus der Perspektive ihrer Organisationwerdung wahrzunehmen, birgt nicht nur Chancen sondern auch Gefährdungen. Hermelink sieht eine Gefährdung darin, dass die Organisationswerdung der Kirche durch eine ihr innewohnende Dynamik bedroht wird. »Es droht die Gefahr, nunmehr das gesamte Handeln der Kirche als Ressource, als Mittel zum Zweck einer ›Zukunftsfähigkeit des Protestantismus‹ zu sehen […]. Das konsequente Ende dieses Trends wäre die Umwandlung der Kirche in einen ›spirituellen Dienstleister‹, der den postmodernen, potenziell deformierten Individuen Identitätshilfen mit dem Ziel besseren Funktionierens aus dem Schatz der Religion(en) verschafft, im Tausch gegen zahlende Mitgliedschaft.«272 269 Track, a. a. O., 42. 270 Die Begriffe ›Kriteriologie‹ und ›Kairologie‹ hat Johannes Zimmermann geprägt, vgl. ders., a. a. O., 35. 271 Hermelink, Kirchliche Organisation, 2011, 27–30. 272 Ebd., 11.
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Dieser sie gefährdenden Dynamik könne die Kirche nur theologisch begegnen. Hermelink nennt das die religiös-theologische Identitätsklärung der evangelischen Kirche, die von der in seinen Augen ebenfalls notwendigen Ressourcensicherung »unterschieden, aber nicht getrennt werden kann, indem sie – aus historischer, soziologischer, aber immer auch theologischer Sicht – die Frage nach der ›Organisation‹ der Kirche stellen.«273 Hier macht Hermelink, was wir mit Zimmermann die Kriteriologie – die theologische Verifizierung – der Kirche als Kirche genannt haben. Hermelink spitzt zu, dass die Organisation sich geradezu herauszuhalten hat, wo Glaube sich lebensweltlich konkretisiert: »Im Ganzen hat die praktisch-theologische Kirchentheorie die evangelische Kirche daher als eine Organisation zu beschreiben, die den christlichen Glauben gerade darin zur Wirkung und zum Ausdruck bringt, dass sie sich offen hält für die Manifestation des Glaubens jenseits der Organisation.«274
Die Organisation ist für den Glauben als Erfahrungswirklichkeit nicht zuständig – es gibt ein »Jenseits« der Organisation. Ludwig fordert eine ähnliche Selbstbeschränkung der Organisation. Es könnte um »eine intelligente Selbstbeschränkung des kirchlichen Organisationscharakters gegenüber einer vorgelagerten Sphäre der individuellen und gemeinschaftlichen religiösen Erfahrung und Interaktion gehen«.275 An Hermelink ist die Frage zu stellen, warum er die Selbstbeschränkung der Organisation derart geheimnisvoll als »Jenseits des Glaubens« bezeichnet. Warum spricht Hermelink nicht von der Gemeinschaft der Kirche oder von der Gemeinde als Lebenswelt ihrer Glieder? Dann wäre das »Jenseits« durchaus zu beschreiben.276 So bleibt es bei Hermelink unbestimmt: Aus dem »Jenseits der Organisation« erwächst in seiner Kirchentheorie kein Handeln der Gemeinde. Luhmann ist hier ähnlich zurückhaltend wie Hermelink und verwendet den Begriff der Gemeinde nicht. Als Systemtheoretiker übt Luhmann strikte Zurückhaltung, weil Gemeinde als soziales Verhältnis das Handeln ihrer Glieder impliziert. Dem Handeln von Menschen, das auf vorrationalen Bestimmungsgründen ruht, gilt aber Luhmanns Forschungsinteresse nicht. Daiber zufolge meidet Luhmann nicht nur den Gemeindebegriff, sondern übernimmt auch nicht die soziologische Begrifflichkeit von Troeltsch und Weber, weil beide Sozialität vorrational begründen und eine Erfahrungswirklichkeit zur Sprache bringen.277
273 274 275 276
Ebd., 12. Kursiv im Original. Ebd., 29. Ludwig, a. a. O., 384. Zum Begriff des ›Vorrationalen‹ vgl. Kap. I.3.2 Gemeinschaft – was für ein Sozialverhältnis ist das? 277 Daiber, Christliche Religion und ihre organisatorischen Ausprägungen, in: Hermelink/ Wegner, Paradoxien kirchlicher Organisation, 2008, 64–65.
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Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
Mit der Rede vom »Jenseits der Organisation« bringt Hermelink also zum Ausdruck, dass die Kirche nicht nur als Organisation kommuniziert, sondern immer noch etwas anderes ist. Er lässt dieses andere unbestimmt. 3.2.4 Methodische Unklarheiten im Bezug auf die Kirche als Organisation Während Luhmann sich dem Gemeindebegriff verweigert, weil der ein Handeln impliziert, spricht Hermelink durchaus vom Handeln der Kirche. Damit wird ein methodisches Problem deutlich. Hermelink versteht unter der Organisationswerdung der Kirche, dass das »kirchliche Handeln im Ganzen« neu bestimmt wird: »Diejenigen, die heute von der ›Organisationwerdung‹ der Kirche reden, meinen […] dass sich das kirchliche Handeln im Ganzen, dass sich die ›Kerntätigkeiten‹ in den Gemeinden, in kirchlichen Diensten und in der Öffentlichkeit ganz neu – nämlich ressourcen- und zielbewusst – in der Gesellschaft positionieren.«278
Das Anliegen ist verständlich: Die Grosskirchen sollen aufgrund zurückgehender Einnahmen ihre Ressourcen zielgerecht einsetzen und zweckrational handeln. Hermelink plädiert für ein zweckrationales Handeln der Kirche.279 Damit wird eine methodische Unklarheit im Gebrauch des Organisationsbegriffs deutlich. Der Bezug auf Luhmann, den Hermelink ausdrücklich herstellt, würde gerade einen Verzicht darauf bedeuten, die Kirche in ihrem Handeln orientieren zu wollen. Hermelink überschreitet, ohne es zu deklarieren, die systemtheoretische bzw. organisationstheoretische Perspektive Luhmanns.280 Methodisch müsste ein Perspektivwechsel markiert werden, wenn aus einer systemtheoretischen Perspektive ein Handeln der Kirche hergeleitet werden soll. Vermutlich hat die methodische Unklarheit bei Luhmann selbst ihren Grund. Der von Hermelink zitierten Schrift Die Organisierbarkeit von Religionen und Kirchen (1972) liegen Gespräche Luhmanns mit Vertreterinnen und Vertretern von Theologie und Soziologie zugrunde, in denen es Ende der 1960er Jahre um Planungs- und Strukturfragen der evangelischen Kirche in Deutschland ging – heisst, die Soziologie sollte die evangelischen Kirchen in ihrem Handeln orientieren.281 278 Hermelink/Wegner, Paradoxien kirchlicher Organisation, 2008, 10. Kursiv im Original. 279 Zur Problematik des zweckrationalen Handelns vgl. Kap. I.3.2.1 Gemeinschaft beruht auf einem gemeinsamem Wollen bzw. einem Bündnis. 280 Ein ähnliches Beispiel für einen nicht-deklarierten Übergang von einer systemtheoretischen in eine handlungstheoretische Perspektive findet sich bei Isolde Karle. Karle setzt die Luhmann’sche Interaktion mit dem Handeln der Ortsgemeinde gleich. Vgl. Karle, ReligionInteraktion-Organisation, in: Hermelink/Wegner (Hg.), Paradoxien kirchlicher Organisation, 2008, 238. 281 Luhmann, Die Organisierbarkeit von Religionen und Kirchen, in: Wössner (Hg.), Religion im Umbruch, 1972, 245–285. Eine Problematisierung der Tendenz, religionssoziologische Forschung und besonders die Systemtheorie als theologische Hilfswissenschaft anzusehen,
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3.2.5 Garantiert eine Ressourcenorientierung überhaupt die Zukunftsfähigkeit der Kirche? Eine interessierte Frage ist an Hermelinks Theorie und an andere organisationstheoretische Ansätze zu stellen. Stimmt es überhaupt, dass eine Orientierung der Kirche an ihren Ressourcen diese zukunftsfähig macht? Ist der Optimismus dieses zweckrationalen Zugangs berechtigt? Ein kurzer Blick in die Geschichte der Kirche wirft zumindest die Frage auf, ob die Wirksamkeit der Kirche in Krisenzeiten tatsächlich in Zusammenhang mit einem ressourcen- und zielorientierten Handeln steht. Als Beispiel kann ein Verweis auf die Wüstenväter dienen. Sie haben sich der als krisenhaft empfundenen Gesellschaft und Kirche ihrer Zeit entzogen und sind sowohl leibhaft als auch im metaphorischen Sinne ›in die Wüste gegangen‹. Sie haben der Gesellschaft ihre Ressourcen an Bildung und Einfluss gerade nicht zur Verfügung gestellt! Auf diese Weise – nämlich mit dem Entzug ihrer Ressourcen – haben sie aus heutiger Sicht zur Erneuerung der Kirche ihrer Zeit beigetragen. Ein ähnlich bildhaftes Beispiel stellt Franziskus von Assisi dar. Der Legende gemäss lässt er auf dem Marktplatz seiner Heimatstadt die Kleider fallen und legt damit symbolhaft auch letzte Ressourcen weg, die ihm aus seinem Elternhaus zur Verfügung stehen. Soziale Bewegungen, die zum Ausgangspunkt einer kirchlichen Erneuerung wurden, haben in nicht unerheblichem Masse damit begonnen, dass Kirchenmitglieder sich der Kirche als Institution entzogen haben. Sie haben sich rückhaltlos auf sich selbst und auf ihr geistliches Leben – oder gar Überleben – besonnen.
3.3
Die Kirche als Gemeinschaft denken (Bonhoeffer)
Dietrich Bonhoeffer bestimmt in seiner Ekklesiologie den Punkt der Vermittlung von theologischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit der Kirche deutlich anders als es organisationstheoretische Ansätze tun. Das kommt pointiert im Diktum von Christus als Gemeinde existierend zum Ausdruck.282 Bonhoeffers Bestimmung der Kirche als Sanctorum Communio (1930) nimmt die Kirche in ihrer Sozialität als communio gegeben wahr. Es geht Bonhoeffer darum, die »in der Offenbarung in Christus gegebene Wirklichkeit einer Kirche Christi sozialphilosophisch und soziologisch strukturell zu verstehen.«283
bei Daiber, Christliche Religion und ihre organisatorischen Ausprägungen, in: Hermelink/ Wegner, Paradoxien kirchlicher Organisation, 2008, 26. 282 Zur Herkunft dieser Formel siehe Bethge, Bonhoeffer, 1985, 111. 283 Zimmermann, a. a. O., 33. Bonhoeffers Ansatz wird von Zimmermann einer »vorwissen-
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Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
Jedem christlichen Grundbegriff ist Bonhoeffer zufolge eine soziologische Kategorie zu eigen. Die christlichen Grundbegriffe »lassen sich nur in Bezug auf die Sozialität voll begreifen.«284 Die Sozialität wohnt ihnen inne, muss ihnen nicht erst in einem zweiten Schritt zugefügt werden. Bonhoeffer ist wohl der bekannteste Vertreter einer Ekklesiologie, die mit der Offenbarung Jesu Christi auch die Kirche und damit ihre Sozialität als Offenbarungswirklichkeit gegeben sieht: »Ihrem Wesen nach zu verstehen ist die empirische Kirche und ihre soziologische Struktur nur aus der Offenbarung, denn sie ist ›der neue Wille Gottes mit den Menschen‹ wie er in der Offenbarungsrealität Christi mitgesetzt ist. Als Begründung für dieses ekklesiologische Postulat verweist Bonhoeffer auf den paulinischen Kirchenbegriff, insbesondere auf die En-Christo-Aussagen, die Adam-Christus-Typologie sowie die Metapher vom Leib Christi […].«285
Der von Gott gerufene Mensch muss nicht erst zur Sozialität geführt werden. Sie wird ihm mit dem Glauben geschenkt, bzw. sie vollendet die ihm in seinem Personsein schon immer zugedachte Sozialität. Die Kircheist für die einzelnen Glaubenden immer schon vorgängig da.286 Das Verhältnis der Gemeindeglieder zueinander ist ihnen vorgegeben: »Gott will nicht eine Geschichte einzelner Menschen, sondern die Geschichte der Gemeinschaft der Menschen. Gott will aber nicht eine Gemeinschaft, die den Einzelnen in sich aufsaugt, sondern eine Gemeinschaft von Menschen. Für seinen Blick sind Gemeinschaft und Einzelner im selben Augenblick und ineinander ruhend da.«287
Bonhoeffer ist die empirische Unvollkommenheit und Begrenztheit einer »Gemeinschaft von Menschen« deutlich. Die empirische Kirche hebt die Offenbarungswirklichkeit der Kirche nicht auf, sie muss weder gerechtfertigt noch verteidigt werden.
3.3.1 Bonhoeffer und Tönnies Bonhoeffer untersucht in Communio Sanctorum die Eigenart von Religionsgemeinschaften. Er fragt sozialphilosophisch nach Beziehungsbegriffen und leitet aus ihnen das Wesen von Gemeinschaft ab. Erst durch Gott und am sich offenbarenden Personsein Gottes entstehe der Mensch als Person und die Kirche als Gemeinschaft. Bonhoeffer versteht die Kirche als die Vollendung menschlicher Gemeinschaft überhaupt:
284 285 286 287
schaftlichen Überzeugungsposition« zugerechnet. Diese Wertung teile ich nicht. Bonhoeffers Grundlegung ist eine anthropologische bzw. sozialphilosophische. Bonhoeffer, Sanctorum Communio, Vorwort, 1986 (1930), ohne Seitenzahl. Rüegger, Kirche als seelsorgerliche Gemeinschaft, 1992, 27. Vgl. Kap. II.1.1 Gemeinde verdankt sich dem Wort Gottes. Bonhoeffer, Sanctorum Communio, 1986 (1930), 51.
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»So schliesst sich im Begriff der Kirche alles zusammen, was bisher erarbeitet wurde und erreicht in ihm seine Zuspitzung und Überwindung.«288
Bonhoeffer will sich von Tönnies abgrenzen, indem er Gemeinschaft nicht als ›vorgefunden‹ und genetisch ›gewachsen‹ sondern als ›gewollt‹ versteht.289 Gemeinschaften wie auch Gesellschaften werden von Bonhoeffer beide als Willensgemeinschaften verstanden. Bonhoeffer hat Tönnies meines Erachtens missverstanden, denn auch dieser spricht generell von Willensgemeinschaften. Es ist nur ein jeweils anderes ›Wollen‹, welches gemeinschaftliche bzw. gesellschaftliche Verhältnisse konstituiert.290 Bonhoeffer ist der Meinung, dass jeder Willensgemeinschaft eine Grundbezogenheit der Menschen aufeinander und eine vorwillentliche Sozialität vorausgeht. Dies nennt er die »ontische[n] Grundbezogenheit der Menschen aufeinander«.291 Auf der »vorwillentlichen Sozialität des menschlichen Geistes« beruhen »die Formen der empirischen realen Gemeinschaftsbeziehungen, die immer der willentlichen Sozialakte bedürfen, um sich als personale Sozialbeziehungen zu dokumentieren.«292 Die Kirche stellt dabei für Bonhoeffer eine eigene, neue Gestalt von Grundbeziehungen dar, weil sie eine Offenbarungswirklichkeit Gottes ist.293 Hier unterscheidet sich Bonhoeffers Argumentation von der hier geführten. Im Kapitel I.3 wurde die soziologische Eigenart von Gemeinschaften überhaupt untersucht. Dabei ist deutlich geworden, dass sich Religionsgemeinschaften in ihrem Wesen bzw. ihrer Entstehung nicht von anderen Gemeinschaften unterscheiden. Gemeinschaften beruhen alle auf einer vorrationalen Gründung und verfügen über eine unter ihren Gliedern vorausgesetzte bzw. vorgestellte Sozialität.294 Christliche Gemeinschaft lässt sich wie jede andere Gemeinschaft darauf befragen, worin ihre vorrationale Gründung – ihr Ursprungsgeschehen, ihre Ursprungserzählungen – bestehen. Es gibt soziologisch gesehen keinen kategoriellen Unterschied zwischen einer christlichen Gemeinschaft und einem anderen gemeinschaftlichen Artefakt. Christliche Gemeinschaft – also die communio sanctorum – unterscheidet sich allein in der Eigenart ihrer vorrationalen Gründung, nämlich den jüdisch-christlichen Ursprungsgeschichten, von anderen gemeinschaftlichen Artefakten.
288 289 290 291 292 293 294
Bonhoeffer, a. a. O., 78. Ebd., 57. Vgl. Kap. I.3.2.2 Gemeinschaft beruht auf gemeinsamem Wollen bzw. einem Bündnis. Bonhoeffer, a. a. O., 78. Ebd., 78. Ebd., 81. Vgl. Kap. I.3.3 Gemeinschaft für wirklich halten und sie dadurch verwirklichen.
170
Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
3.3.2 Bonhoeffer und die empirische Kirche Bonhoeffers Ekklesiologie wird dafür kritisiert, dass er die Sozialphilosophie und Soziologie in den Dienst der Dogmatik stellen würde: »Dabei fällt Sozialphilosophie wie Dogmatik die Aufgabe der Wesensbestimmung eines ›Sozialgebildes‹ zu, der nachgeordneten Soziologie die Beschreibung entsprechender sozialer Strukturen.«295
Bonhoeffer kommt Hübner zufolge mit seiner Ekklesiologie nicht über Barth und Bultmann hinaus. Die Empirie der Kirche werde von ihm nicht ernst genommen, obwohl Bonhoeffer mit genau diesem Anliegen ins Feld gezogen sei. Die Empirie der Kirche sei »von vorneherein philosophisch oder theologisch überlagert, in ihr wird von vorneherein wertend selektiert, sie kann sich deshalb von vorneherein nicht empirisch aussprechen«.296 Bonhoeffer entwerfe eine Kirche, der ihr Wesen inhärent ist. Deshalb habe bei Bonhoeffer die »theologische Identifizierung der empirischen Kirche keine wirkliche Funktion«.297 Die empirische Soziologie werde der geisteswissenschaftlichen Sozialphilosophie untergeordnet: »Die naheliegende Frage, wo diese Kirche empirisch anzutreffen sei, darf da nicht gestellt werden, wo eine durch eine bestimmte Sozialphilosophie definierte, dogmatische Ekklesiologie ausschliesslich mit der wesenhaften ›Gestaltlehre des Sozialgebildes der Kirche als sanctorum communio‹ beschäftigt ist und die empirische Soziologie nur so weit zu Wort kommen lässt, wie sie daran partizipiert.«298
Bonhoeffer beschreibt tatsächlich eine Kirche, der ihre theologische Verifizierung und praktische Orientierung nichts Äusserliches sind. Das ist gar nicht anders möglich, wenn eine Ekklesiologie von der Gemeinschaftsgestalt der Kirche ausgeht, das heisst von einer Willensverknüpfung, an der die Gemeindeglieder partizipieren.299 Die Lebensführung der Gemeinde – das heisst ihre Empirie – hat ihren Grund darin, dass diese als Leib Christi bereits an Christus teilhat und auf das Wort Gottes hört. Die Gemeindeglieder haben an den die Kirche bildenden Bestimmungsgründen und Deutungen teil. Hübner aber hält Bonhoeffer vor, das empirische Verhalten der Kirchenmitglieder zu ignorieren:
295 Hübner, a. a. O., 121. Dieses Urteil lässt sich hinterfragen. Sung Ho Kim beispielsweise versteht Willensverhältnisse bei Bonhoeffer als Sozialverhältnisse und damit als Gegenstand der empirischen Soziologie. Vgl. Kim, a. a. O., 34. 296 Hübner, a. a. O., 1985, 121. 297 Ebd., 125. 298 Ebd., 123. 299 Vgl. nochmals Kim, a. a. O., 31–35. Diese Willensverknüpfung ist gerade keine zweckrationale – wie das in einer prioritär als Organisation verstandenen Kirche der Fall wäre.
Systematisch-ekklesiologische Klärung: Kirche im Spannungsfeld
171
»Auch die Praxis der Kirche stellt Bonhoeffer als Manifestation ihres inhärenten Wesens dar. […] Dass das empirische Verhalten der Kirchenmitglieder dem nicht mehr entspricht, ist ihm zwar nicht entgangen, aber er stellt sich dieser Veränderung nicht.«300
Man kann es auch so sehen, dass Bonhoeffer das empirische Verhalten der Kirchenmitglieder ernst, weil als gegeben annimmt. Ihr Verhalten wird in einer letzten Zuspitzung zum Kriterium dafür, ob die empirische Kirche überhaupt als Kirche verstanden werden kann. Da für Bonhoeffer die Lebensführung der Kirchenmitglieder ihren Ursprung in der Communio der Kirche hat, wird die Lebensführung zum Kriterium dafür, ob es sich bei der empirischen Gemeinde tatsächlich um die Communio der Kirche handelt. Es gibt für Bonhoeffer keine empirische »Soziologie der Kirche« neben der Sozialität, die aus Christus als dem Zentrum der Kirche entspringt.301
3.4
Die Kirche als Koinonia-Realisierung denken (Kunz)
Ralph Kunz hat eine Gemeindeaufbautheorie entworfen, in der die Koinonia als Erfahrungswirklichkeit der Kirche ein dynamisches Zentrum bildet.302 Sein Modell stellt eine dritte Möglichkeit dafür dar, wie sich die theologische und die gesellschaftliche Wirklichkeit der Kirche in Beziehung setzen lassen. Kunz fragt – wie später Zimmermann in ›Gemeinde zwischen Sozialität und Individualität‹ –, wie sich die Sozialität der Kirche in einer sich stetig pluralisierenden Gesellschaft ausbilden kann.303 Kunz gebraucht für die »soziologische Frage nach Gemeinschaftsbildung« den Terminus der Koinonia-Realisierung.304 »Ein Ausgangspunkt der Gemeindeaufbautheorie ist für Kunz-Herzog die Situation des volkskirchlichen Pluralismus. Aus ihr leitet er die Forderung nach ›pluralitätsrelevanter Orientierung‹ ab. Da Pluralismus ›keine normative und soziale Einbindungskraft hat‹, kann er auch nicht ›Orientierungspunkt für die Frage nach Gemeindeentwicklungsprozessen sein‹. Aus diesem Grund will Kunz-Herzog das mit dem Pluralismus verbundene Prinzip der Konziliarität (›pluralismusrelevante Gesprächsbereitschaft‹) durch das der Koinonia (›orientierungsstarke Glaubensgemeinschaft‹) ergänzen und beide in einer positiven Spannung zueinander verbinden.«305
Der Ausgangspunkt ist also ein zweifacher: 300 Hübner, a. a. O., 125. 301 Ebd., 126. Kim, a. a. O., 79. 302 Zur Koinonia-Realisierung als »Bewegung« siehe beispielsweise Kunz, Theorie des Gemeindeaufbaus, 1997, 267–270. 303 Zimmermann, Gemeinde zwischen Sozialität und Individualität, 2006. 304 Ebd., 102. 305 Ebd., 101. Vgl. Kunz, a. a. O., 41f .
172
Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
»Auf der einen Seite [steht] der empirische Ansatz bei der Volkskirche mit ihrem ›Frömmigkeitspluralismus‹. Auf der anderen Seite verfolgt er mit der Frage nach der Koinonia als konstitutivem Gestaltprinzip von Gemeinde eine prinzipiell ansetzende theologische Fragestellung.«306
Gegenstand der Untersuchung ist, wie ein volkskirchlicher Frömmigkeitspluralismus und Gemeinschaftserfahrung zur Deckung kommen. Kunz nennt den Punkt der Vermittlung die »Koinonia-Option« der Kirche. Was ist darunter zu verstehen? Kunz unterscheidet zwischen einem prinzipiellen und einem formalen Aspekt.307 Prinzipiell ist die Frage nach dem Gemeindeaufbau als Realisierung der KoinoniaOption.308 Formal nimmt Kunz die Gemeinde als »sichtbare, erfahrbare, beschreibbare Sozialität« in den Blick.309 Er befasst sich »mit der gesellschaftlichen Frage nach der Organisierung von Religion, Partnerwissenschaft ist hier die Soziologie.«310 Der formale Aspekt richtet sich darauf, die Möglichkeitsbedingungen dafür zu schaffen, dass Menschen ihre Sozialwelt teilen können. Dabei soll die volkskirchliche Erfahrungswirklichkeit einbezogen werden: »Koinonia ist prinzipiell verstanden ein Gestaltprinzip der Glaubensgemeinschaft, die als in Christus versammelte Gemeinde verborgen ist, so wie das Geheimnis Gottes in der Welt verborgen ist. Zwischen dem Anbruch und der Vollendung der Gottesherrschaft ist die Gemeinde Christi eine sichtbare Grösse.«311
3.4.1 Die Verborgenheit der Koinonia Die Aufgabe des Gemeindeaufbaus besteht Kunz zufolge darin, die verborgene Koinonia sichtbar zu gestalten. Gemeindeaufbau wird als Koinonia-Realisierung verstanden. Die verborgene Gotteswirklichkeit schliesst Sozialität ein und wird im Gemeindeaufbau – das heisst im Handeln der Gemeinde – sichtbar verwirklicht. Kunz’ Modell berührt sich mit Bonhoeffers Ekklesiologie darin, dass der von Gott gerufene Mensch nicht erst in einem zweiten Schritt vom Glauben zur Sozialität gebracht wird. Anders als Bonhoeffer aber hat Kunz ein Interesse an der empirischen Soziologie, indem er die »soziologische Frage nach Gemeinschaftsbildung« stellt. Es geht um die immer neue Ermöglichung von Gemeinschaft unter den Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft. Ermöglicht soll werden, was verborgen existiert, aber noch keinen seiner Zeit angemessenen Ausdruck gefunden hat. 306 Zimmermann, a. a. O., 101. 307 Ein dritter, von Kunz ›material‹ genannter Aspekt der Koinonia-Realisierung, wird hier nicht berücksichtigt. 308 Kunz, a. a. O., 74. 309 Ebd., 75. 310 Zimmermann, a. a. O., 101. 311 Kunz, a. a. O., 74.
Systematisch-ekklesiologische Klärung: Kirche im Spannungsfeld
173
3.4.2 Die Erfahrungswirklichkeit der Koinonia Für Kunz ist die Spannung, in der sich Koinonia befindet, geradezu ihr Kennzeichen, ist Indiz der »ekklesiologische[n] Achse zwischen Gott und Welt«.312 Wenn Kunz den Fokus auf die Koinonia-Realisierung der Kirche legt, entspricht das der Priorität, die Kehl der Option einer kommunizierenden Kirche gibt.313 Es sind beide Male Vorstellungen über die Kirche, die ihr zugrunde liegen und die durch die biblischen Narrative gestützt werden. Kunz und Kehl stellen eine Erfahrungswirklichkeit in die Mitte ihrer Gemeinde(aufbau)theorien. Die Vorläufigkeit und Brüchigkeit der Gemeinschaftsgestalten der Kirche sind in beiden Modellen ein Zeichen ihrer Echtheit. »Der theologisch qualifizierte Begriff Koinonia bezeichnet nur diejenige ›Gemeinschaft‹ als heilend, die durch Christus qualifiziert ist und bezieht daraus auch ihre eschatologisch-kritische Funktion gegenüber den manifesten Gemeinschaften der Gläubigen. Sie hat deshalb eine konzentrische und exzentrische Dynamik, weil mit der Exklusivität des Glaubensgrundes niemals die Exklusivität der jeweiligen Gemeinschaft, sondern die Inklusivität der göttlichen Liebe befestigt wird. Erst in dieser exklusiv-inklusiven Doppelbewegung kommt es zur Koinzidenz von Heil und Wohl und dort erst geschieht Heilung. Und erst, wo Heilung geschieht, ereignet sich Koinonia.«314
Dass Gemeinschaft als heilend erfahren wird, nennt Doris Kellerhals ein Kennzeichen von kirchlicher Gemeinschaft überhaupt. Die Benediktusregel mit ihrem Wissen um die heilende Dimension von Gemeinschaft lasse sich als ein Schlüssel für Gemeindeentwicklung in postmoderner Gesellschaft verstehen.315 Heilung kann als Erfahrungswirklichkeit nicht direkt intendiert werden, sondern wird im Zuge der Beteiligung am Leben der Kirche gleichsam passiv empfangen.316 Ein zentraler Begriff für die Kirche als Koinonia-Realisierung ist der der Beteiligung. Beteiligung meint zuerst eine innere Wirklichkeit, in die die Einzelnen versetzt werden, meint aber auch die äussere Wirklichkeit der Partizipation.317 »Koinonia ist die heilende Partizipation am ›Leib Christi‹ und ist als Verheissungsgeschehen in der Kirche aktualisierbar.«318
312 313 314 315 316
Kunz, a. a. O., 135. Vgl. Kap. II.2.3 Kirche als Weggemeinschaft, Basisgemeinde, neues Gottesvolk. Kunz, a. a. O., 138. Kellerhals, a. a. O., 8. Ebd., 7. Gemeinschaftserfahrungen bezeichnen die Teilhabe an ›unproblematischem Wissen‹ in einer durch »differente[…] Wissensformen, Lebensentwürfe und Handlungsmuster‹ ausgezeichneten Gesellschaft (Kap. I.2.3.1.). 317 Kunz, a. a. O., 140. Kunz unterscheidet eine Innen- und eine Aussenperspektive von Beteiligung. Für den Communio-Begriff kennt Walter Kasper in ›Kirche als Communio‹ fünf verschiedene Beteiligungsperspektiven. Ders., in: Kasper, Theologie und Kirche, Bd.1, 1987, 274–289. 318 Kunz, a. a. O., 136.
174
Die Sozialität der Kirche in theologischer Perspektive
Koinonia-Realisierung wird dem menschlichen Handeln in seiner Fragmentarität zuteil. Die Fragmentarität ist sowohl Krisis als auch Verheissung kirchlichen Handelns.319 Sie ist theologisch als Ausdruck für die schöpfungsgemässe Begrenztheit menschlichen Lebens zu verstehen. Fragmentarität bzw. Begrenztheit sind nicht Mangel von Menschen und Kirche, der überwunden werden müsste, sondern sind die schöpfungsbedingte Voraussetzung für jede Grundform von Sozialität.320 3.4.3 Die Kirche reproduziert sich als Koinonia-Realisierung Bei Kunz steht die Koinonia bzw. die ›Bewegung‹ in der Mitte der Gemeindeaufbautheorie, also jenes Sozialverhältnis, das Troeltsch in seiner strukturellen Verfestigung als ›Sekte‹ bezeichnet. »Als formale Organisation hat die Kirche die Reproduktion ihrer selbst, die normative und soziale Integration, an Bewegungen delegiert. Diese haben das Ziel, Koinonia zu realisieren und zu gestalten.«321
Kunz verwendet die Begriffe Koinonia und Bewegung weitgehend synonym: »Für die weitere Untersuchung schlage ich den Begriff Bewegung vor, da ›Bewegung‹ einen sozialen Akteur impliziert, der ›vorinstitutionell und überindividuell‹ ist und mit dem den Konturen des gesellschaftlichen und binnenkirchlichen Pluralismus soziologisch signifikant nachgespürt werden kann.«322
Kunz erkennt das veränderungsrelevante bzw. kritisch-transformative Potenzial der Kirche, das ›Bewegungen‹ innewohnt. Auf die Kraft von ›Bewegungen‹ bzw. Gemeinschaften weist ausdrücklich Schlamelcher hin, wenn er die historische Entwicklung der Kirche nachzeichnet. Die frühe Kirche habe in der Antike neue Formen von Vergemeinschaftung entstehen lassen. Diese integrieren sich in die hierarchischen Strukturen der Gesellschaft, lehnen sich also nicht offen gegen sie auf.323 Die »Sozialform Gemeinschaft bleibt der Kirche auch fortan als regulative Idee erhalten. Sie ist fortwährender Anlass für kircheninterne Kritik und Gemeinschaftsbildungen innerhalb der Kirche – so u. a. in Form von Klöstern, Orden oder Laienbewegungen. Die Geschichte des Christentums ist mithin geprägt durch ein fortwährendes Re-Entry der Gemeinschaft in die Kirche.«324
319 320 321 322 323 324
Zimmermann, a. a. O., 102. Ausführlich in Kap. VI.1.2.1 Begrenzung als heilsame Voraussetzung von Gemeinschaft. Kunz, a. a. O., 218. Ebd., 218. Schlamelcher, Kirchliche Vergemeinschaftungsformen, in: Evangelische Theologie 6/2010, 442. Ebd., 442.
Systematisch-ekklesiologische Klärung: Kirche im Spannungsfeld
175
Kunz sieht die Kontinuität der Kirche in einem »konziliaren Diskurs«, nämlich im Dialog aller Beteiligten über die »gemeinsam bezeugte Wahrheit«.325 Die ›Wahrheit‹ ist in der Institution als einer Wertegemeinschaft deponiert und stellt den Bezugspunkt für den konziliaren Diskurs dar. Nur als Organisation mit hohen Differenzierungs- und Formalisierungsmöglichkeiten ist die Kirche zukunftsfähig. Nur als Organisation kann sie Gesprächspartnerin in pluralistischer Gesellschaft sein. Kunz begründet also eine Gleichzeitigkeit der kirchlichen Kommunikation in ihren verschiedenen Sozialgestalten. Diese lassen sich unterscheiden, aber nicht voneinander trennen.326
3.5
Zusammenfassung
Die Vermittlung der gesellschaftlichen und der theologischen Wirklichkeit der evangelischen Kirche wurde auf drei mögliche Weisen durchdacht. Im ersten Modell bildet die Organisation die Bezugsgestalt, in den zwei folgenden ist es die Kirche in ihren Gemeinschaftsgestalten. Bonhoeffer hat Gemeinschaft sozialphilosophisch verstanden, Kunz dagegen versteht Gemeinschaft als eine empirisch-soziologisch zu verifizierende Erfahrungswirklichkeit. Gibt man mit Kunz der Koinoniawirklichkeit der Kirche Priorität, dann hat das Konsequenzen: ➤
➤
Die Kirche bleibt in ihrer Koinoniawirklichkeit auf die anderen kirchlichen Sozialgestalten bezogen. Das Gemeinschaftshandeln der Kirche ist ergänzungs- und korrekturbedürftig und das ist kein Mangel. Weil die Kirche in ihrem Gemeinschaftshandeln durch ihre Leistungen als Organisation ergänzt wird, bleibt sie davor bewahrt, in ihrem Gemeinschaftshandeln zweckrational, absichtsvoll und erfolgsorientiert in Erscheinung treten zu müssen. Eine die Organisation als Bezugspunkt deklarierende Kirchentheorie sieht die Ressourcenorientierung der Kirche darin, entsprechend den gesellschaftlichen Bedürfnissen zweckrational zu handeln. Eine an der Gemeinschaft der Kirche orientierte Theorie dagegen sieht deren Ressourcen zuerst in der erinnernden Vergegenwärtigung auf den Grund ihres Kircheseins.
325 Kunz, a. a. O., 255 (im Original kursiv). 326 Hauschildt/ Pohl Patalong untersuchen ebenso wie Kunz die Kirche in ihren drei gleichzeitig bestehenden Logiken. Während Kunz von einem konziliaren Diskurs der Kirche in ihren Sozialgestalten spricht, entwerfen beide Autoren das Denkmodell einer Kirche als »Hybrid«. Vgl. Hauschildt/ Pohl-Patalong, Kirche, 2013, 216.
III
Gemeinde als Lebenswelt verändert sich
Im Gespräch mit der Soziologie haben wir das Wesen von Gemeinschaft herausgearbeitet. Einen Schwerpunkt bildete die Bestimmung des Verhältnisses vom ›Ich‹ zum ›Wir‹ – von Eigeninteresse und sozialer Verpflichtung. Ein anderer Schwerpunkt galt den Bedingungen, unter denen sich Gemeinschaften reproduzieren.1 Theologisch haben wir die Gemeinschaft der Kirche als Teil ihrer Offenbarungswirklichkeit verstanden.2 Weggemeinschaft wurde diejenige Vorstellung bzw. Kirchenerfahrung genannt, die dem glaubenden Selbstverständnis und Selbstvollzug der Kirche zugrunde liegt und durch ihre partizipativen und dialogischen Handlungsstrukturen charakterisiert ist.3 Die Gemeinschaftsgestalt der Kirche soll nun weiter als eine Erfahrungswirklichkeit untersucht werden. Um die Gemeinde als eine leibhafte und sichtbare Erfahrung gemeinsamer Sozialwelt zu beschreiben, bedarf es eines Theoriemodells. Lebenswelttheorien beschreiben wie sich gemeinsame Erfahrungen strukturieren. Erfahrungen werden dabei mit den Soziologen Schütz/Luckmann als Erlebnisse verstanden, in denen sich das Ich »fest engagiert«.4
1
Lebensweltliche und systemische Kommunikation unterscheiden
Wir betrachten die Kirche in ihrer Gemeinschaftsgestalt als einen Raum gemeinsamer Erfahrungen und Handlungen und damit als Lebenswelt ihrer Mitglieder: »Die Lebenswelt ist nicht zuerst ein Raum, sie ist zu allererst eine Handlungsstruktur.«5 1 2 3 4 5
Kap. I.3 Gemeinschaft in soziologischer Perspektive. Kap. II.1 Gottes Wort als Grund und Ursprung von Sozialität. Kap. II.1 bis Kap. II.6. Schütz/Luckmann, 2003, 449. Wagner, a. a. O., 100. Handlungsstrukturen wiederum verbinden sich mit geografischen Orten. Die Soziologin Tatjana Golova untersucht, wie sich kollektive Identität raumbezogen bildet,
Lebensweltliche und systemische Kommunikation unterscheiden
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Die Kirche lässt sich als Lebenswelt ansehen; sie lässt sich gleichzeitig in systemischer Perspektive betrachten. Es gibt die Kommunikation der Kirche als Lebenswelt nicht ohne die Kommunikation der Kirche als einer Funktion im gesellschaftlichen Zusammenhang. Beide Weisen ihrer Kommunikation bedingen einander. Man kann die Kirche als Lebens- und Sozialwelt aus der Perspektive der Beteiligten wahrnehmen. Man kann sie aber auch in Bezug auf die Funktionen und Leistungen, die sie für den Einzelnen und für die Gesellschaft erfüllen, wahrnehmen und beschreiben: »In einem ganz groben Raster könnte man die Differenz so bezeichnen, dass die WissenssoziologieOrganisation überwiegend aus der Perspektive der Person betrachtet, während die Systemtheorie umgekehrt die Person aus der Perspektive der Organisation sieht. Darum kommt für letztere die Person vor allem im Hinblick darauf in Betracht, welche Rolle sie für die Organisation spielt, während im anderen Ansatz die Organisation vor allem unter dem Gesichtspunkt gesehen wird, welche ›Rolle‹ sie für die Person spielt.«6
In systemischer Perspektive folgt die Kirche wiederum zwei verschiedenen Logiken. Ludwig spricht von einer Mitgliedschaftslogik und einer Einflusslogik.7 Die erste bezieht sich auf das Verhältnis der Kirchenmitglieder zueinander, die zweite auf das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft. Beide Verhältnisse müssen theologisch verifiziert werden. Die Kirche muss in beiden Logiken in Erscheinung treten, denn Staat und Gesellschaft sind darauf angewiesen, dass sich ihre Ansprechpartner organisieren und ihre Interessen zweckrational artikulieren.8 Staat und Gesellschaft sind aber ebenfalls darauf angewiesen, dass Menschen Lebenswelt teilen und in intermediären Institutionen ihren Sinnvorrat ausbilden und erneuern. Auch das Gemeinschaftsleben von Menschen ist für den Staat und die Gesellschaft von Bedeutung. Hier entstehen, formen und vermitteln sich gemeinsame Sinnwelten und Werte: »Gemeinde ist immer zweierlei: als Sub-Subsystem ist sie Teil eines ausdifferenzierten gesellschaftlichen Subsystems, mit hochspeziellen Aufgaben für die Gesamtgesellschaft; dagegen ist sie, aus der Perspektive der Teilnehmer, Lebenswelt, d. h. der Ort der symbolischen Interaktion und der Ganzheit. Sie gehört immer in zweierlei Gestalt zur Gesellschaft und ist immer in beiden Relationen in gesellschaftliche Prozesse eingebunden.«9
6 7 8 9
dass sie »im Alltagshandeln wiederum raumbezogen verläuft und für die Produktion der Räume relevant« ist. Golova, Räume kollektiver Identität, 2011, 11. Niethammer, Kirchenmitgliedschaft, 1995, 69–70. Ludwig, a. a. O., 384. Ausführlicher siehe Kap. II.3.2.1 Organisation bezeichnet ein Verhältnis nach Innen und nach Aussen. Knoblauch, Populäre Religion, 2009, 38. Wagner, a. a. O.,116.
178
Gemeinde als Lebenswelt verändert sich
Habermas stellt ein Theoriemodell zur Verfügung, das es erlaubt, dasselbe Sozialverhältnis sowohl in lebensweltlicher als auch in systemischer Perspektive zu betrachten. »Der von Jürgen Habermas vorgeschlagene Paradigmenwechsel in der Soziologie, Gesellschaft gleichzeitig als System und als Lebenswelt zu verstehen, ermöglicht es, lebensweltliche Aktivitäten nicht nur im gesellschaftlichen Kontext zu sehen, sondern gleichzeitig auch als gesellschaftliches Handeln zu erkennen.«10
Diese doppelte Perspektive ist der Grund dafür, dass ich mich methodisch für einen Anschluss an Habermas’ Lebensweltmodell entschieden habe. Eine Kommunikationstheorie kann sich also in zwei Richtungen entfalten, nämlich in eine lebensweltliche und eine systemische. Mein Interesse gilt der lebensweltlichen Richtung. Beide Weisen der Kommunikation spielen ineinander und können sich wechselseitig fördern oder hindern.
2
Strukturen der Lebenswelt
Geht es um die wissenschaftliche Erforschung und Deutung menschlichen Handelns und Denkens, dann muss man »mit einer Beschreibung der Grundstrukturen der vorwissenschaftlichen Wirklichkeit«, mit der »alltäglichen ›Lebenswelt‹ einsetzen«.11 Als Gemeinde verständigen sich Menschen meist ortsbezogen und leibhaft über ihre gemeinsame Wirklichkeit und gleichzeitig bilden und entwerfen sie ihre gemeinsame Wirklichkeit. In manchen Regionen Europas sind die evangelischen Kirchen mittlerweile zu Subkulturen geworden. Durch ihren Bedeutungsverlust als Institution wird die Kirche zu einem gesellschaftlichen Teilsystem und repräsentiert nicht mehr den gemeinsamen Sinnhorizont der gesellschaftlichen Mehrheit.12 Im Osten Deutschlands beispielsweise liegt der Anteil von Kirchenmitgliedern bei unter 30 % (2013).13 Aber auch im Westen Deutschlands lässt sich für die Mehrheit von Kirchenmitgliedern nicht mehr eine »Beteiligung an kirchlicher Praxis oder in einer Zustimmung zu konkreten Lehren der Kirchen« ausmachen.14 Für die reformierte Schweiz charakterisiert Kunz die Kirchlichkeit als »gleichgültig 10 11 12 13
Ebd., 115. Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, 1984, 25. Campiche, a. a. O., 18. Wohlrab-Sahr, Konfessionslose und Kirche in Ostdeutschland, Vortragsmanuskript ohne Datum, 1. Quelle: www.oethak.uni-erfurt.de/1_5.pdf [Stand: 01. 06. 2014]. 14 Ebd., 1. Entwicklungstrends beim Kirchenaustritt zeigt Daiber, Religion unter den Bedingungen der Moderne, 1995, 168–171. Hemminger/Hemminger stellen vergleichend Kirchenaustritte von 1983 und 2003 dar, siehe Dies., Wachsen mit weniger, 2006, 330.
Strukturen der Lebenswelt
179
freundliche Distanz«.15 Wenn Kirchgemeinden zunehmend die Lebenswelt einer Subkultur abbilden, verändert sich ihr Charakter. Die Lebenswelttheorie einer Subkultur erfragt, wie sich Subkulturen innerhalb einer Hauptkultur verständigen und behaupten können »[u]nd wie es möglich sein könnte, dass sich Orte innerhalb einer dominanten Lebenskultur herausbilden und womöglich auf Dauer halten, an denen andere Lebensweisen praktiziert werden als in der jeweiligen Umgebung.«16
Wer Gemeinde als Lebenswelt einer Subkultur verstehen und Handlungsorientierungen herausarbeiten will, braucht Klärungen. Es bedarf • einer Erläuterung dessen, was unter lebensweltlicher Kommunikation zu verstehen ist.17 • einer Beschreibung, wie sich Gemeinde als Lebenswelt in einer postmodernen Gesellschaft verändert.18 • einer Wahrnehmung der verschiedenen Beziehungsfelder der Gemeinde als Leiturgia, Koinonia und Diakonia.19
2.1
Lebensweltliche Kommunikation – was ist das?
Der Begriff der lebensweltlichen Kommunikation wurde wesentlich von Alfred Schütz und Thomas Luckmann entwickelt. Schütz/Luckmann haben prägnant formuliert: »Die Lebenswelt ist weder meine private Welt, noch deine private Welt, auch nicht die meine und die deine addiert, sondern die Welt unserer gemeinsamen Erfahrung.«20
Sie haben den Lebensweltbegriff aus der Phänomenologie Alfred Husserls übernommen und in ausserphänomenologischer Interpretation weitergeführt. Von hier fand er Eingang ins Denken von Habermas und in die Theorie des Kommunikativen Handelns (1981).21 »Die Integration einer jeden Gesellschaft – so lautet eine Grundthese des Werks – kann sich sozialwissenschaftlich auf doppelte Weise darstellen. Als sozial integriert erscheint 15 Kunz, Keine Kirchenreform ohne Taufreform?, in: Reppenhagen/Herbst (Hg.), Kirche zwischen postmoderner Kultur und Evangelium, 2010, 161–182, 165. 16 Wagner, a. a. O., 69–70. Syntax und kursiv im Original. 17 Kap. III.2.1 Lebensweltliche Kommunkation – was ist das? 18 Kap. III.3 Gemeinde als Lebenswelt verändert sich. 19 Kap. III.2.2 Gemeinde als Lebenswelt ihrer Glieder – ihre drei Beziehungsfelder. 20 Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, 1984, 98. 21 Zur Herleitung und Abgrenzung der Theorie des kommunikativen Handelns von der Phänomenologie siehe Matthiesen, Das Dickicht der Lebenswelt, 1983, 22–31, und Moxter, Die Phänomene der Phänomenologie, in: Failing u. a., Religion als Phänomen, 2001, 86.
180
Gemeinde als Lebenswelt verändert sich
Gesellschaft in den Augen einer Sozialwissenschaft, die sich am Paradigma kommunikativen Handelns orientiert, welches seinerseits ohne den Komplementärbegriff der Lebenswelt nicht zu denken ist. Als systematisch integriert gilt sie einer funktionalistisch die Selbststeuerung von Systemen zum Paradigma erhebenden Sozialwissenschaft. Die Theorie des kommunikativen Handelns soll methodisch beide Paradigmen verknüpfen und zugleich gegenwartsdiagnostisch die pathologischen Krisenerscheinungen der Moderne erklären.«22
Kommunikatives Handeln lässt sich in der Perspektive sozialer Integration und in systemischer Perspektive – wie schon oben ausgeführt – verstehen. Für Habermas findet jedes kommunikative Handeln in einem Horizont von Deutungen statt, die räumlicher, zeitlicher, sozialer und situativer Natur sind. Den Begriff des ›Horizonts‹, der sich ständig verschiebt, erweitert usw. übernimmt Habermas von Husserl.23 2.1.1 Lebenswelt beschreibt gemeinsame unproblematische Hintergrundüberzeugungen Wenn eine Gemeinde Lebenswelt ihrer Glieder ist, dann kommunizieren ihre Glieder so, dass sie einen selbstverständlichen, unproblematischen Vorrat an Wissen teilen und reproduzieren. Hierin liegt die eigentliche Herausforderung der Lebensweltperspektive. Es geht für eine als Lebenswelt verstandene Gemeinde nicht darum, dass Menschen überhaupt wieder bestimmte Lebens- oder Glaubensthemen besprechen. Es geht um das Aneignen bzw. Entstehen eines gemeinsamen unproblematischen Wissensvorrates. Lebenswelt hat es immer mit dem Alltag zu tun, ist »selbstverständlich und vorwissenschaftlich«.24 Ein unproblematischer Wissensvorrat wird Lebenswelttheorien zufolge nicht beigebracht sondern sozialisiert. »Kommunikativ handelnde Subjekte verständigen sich stets im Horizont einer Lebenswelt. Ihre Lebenswelt baut sich aus mehr oder weniger diffusen, stets unproblematischen Hintergrundüberzeugungen auf. Dieser lebensweltliche Hintergrund dient als Quelle für Situationsdefinitionen, die von den Beteiligten als unproblematisch vorausgesetzt werden. Bei ihren Interpretationsleistungen grenzen die Angehörigen einer Kommunikationsgemeinschaft die eine objektive Welt und ihre intersubjektiv geteilte soziale Welt gegen die subjektiven Welten von Einzelnen und (anderen) Kollektiven ab.«25
Habermas definiert Lebenswelt durch unproblematische und fraglose Hintergrundüberzeugungen, die gemeinsame moralische Handlungenhervorbringen. 22 Held, ›Artikel Lebenswelt‹, TRE Bd. 20 (1990), 598. 23 Koch, Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns als Kritik von Geschichtsphilosophie, 1985, 113. 24 Sierra, Kulturelle Lebenswelt, 2013, 103–104. 25 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, 1988, 107.
Strukturen der Lebenswelt
181
Etzioni und Merz-Benz zufolge bemisst sich die Moralität einer Handlung nicht an ihren Zielen und nicht an ihren Folgen. Es zähle »die allem Handeln voranstehende Wahrnehmung der in und mit den Gemeinschaften gegebenen moralischen Pflichten«.26 Das sind die normativen Verpflichtungen und affektiven Beziehungen unter den Beteiligten.27 Mit unproblematisch und fraglos meint Habermas also keinen rational verhandelbaren Bestand gemeinsamen Wissens. »Jede gültige Norm muss der Bedingung genügen, dass die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen jedes Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden können.«28
Was sich aus den normativen Verpflichtungen und affektiven Beziehungen ergibt, wird von den Beteiligten selbstverständlich akzeptiert. Lebenswelt beschreibt, was die Beteiligten gemeinsam erfahren und akzeptieren. Zu den Strukturen der Lebenswelt gehört ihr Bezugsrahmen. Dieser besteht aus einer gegliederten »Sozial- und Kulturwelt«, sowie einer fraglos vorgegebenen »Naturwelt«.29 Gemeindeglieder legen die Welt von ihren bereits gemachten Erfahrungen her aus. Sie sind Wissensvorrat und Bezugsschema. Jedes lebensweltliche Auslegen geschieht in einem Rahmen von bereits Ausgelegtem. Das Unbestimmte wird dabei in das Fraglose integriert: »Demnach erkennt das Subjekt nicht die Struktur einer objektiven Welt, sondern es schafft sich diese Struktur selbst durch die Interpretation seines eigenen Handelns, das entlang läuft am Wechsel und Zusammenhang von Fraglosem und Problematischem.«30
Wie das im Sinne einer Diskursethik aussieht, stellt Habermas in Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln dar.31 Zusammenfassend lässt sich sagen: Von lebensweltlicher Kommunikation spricht man, wenn Menschen in einer Weise Sozialwelt teilen, dass dabei gemeinsame Weltauslegung und -strukturierung geschehen. Sie schöpfen aus einem gemeinsamen Wissensvorrat und reproduzieren diesen. Das geschieht in starken Wir–Beziehungen und im Anschluss an die persönlichen und existentiellen Lebenssituationen der Beteiligten. Der Wissensvorrat erweist sich dabei als offen für die Integration und Deutung neuen Wissens.
26 27 28 29 30 31
Ausführlich in Kap. I. 3.5.2 Die relative Entscheidungsrationalität. Merz-Benz, a. a. O., 32. Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, 1983, 131. Wagner, a. a. O., 19. Ebd., 21. Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, 1983, 131.
182
Gemeinde als Lebenswelt verändert sich
2.1.2 Lebenswelt reproduziert sich Im Vollzug der Kommunikation reproduziert sich die Lebenswelt der Beteiligten. Das geschieht in dreifacher Weise. Habermas unterscheidet rein formal eine objektive, eine soziale und eine subjektive Welt und spricht von einer DreiWelten-Theorie. Sie beschreibt die Reproduktion von Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit: »Demnach bildet also die Lebenswelt den intuitiv vorverstandenen Kontext der Handlungssituation, und gleichzeitig liefert sie die Ressourcen für die jeweiligen Deutungsprozesse. Darüber hinaus müssen sich aber kommunikativ Handelnde auch immer über etwas in der Welt verständigen. Dazu unterstellen sie ein formales Konzept der Welt, welches durch eine Dezentrierung des Weltverständnisses zu den drei formalen Weltbezügen führt.«32
Habermas führt aus, was er unter der Reproduktion von Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit versteht. Kultur reproduziert sich, indem Menschen in lebensweltlicher Kommunikation an einem gemeinsamen Wissensvorrat, das heisst an gemeinsamen Sinn, Weltdeutung etc. teilhaben. Der Wissensvorrat wird tradiert, angepasst und um neues Wissen erweitert. Habermas nennt das die kulturelle Reproduktion von Lebenswelten. Kommunikatives Handeln unter dem Aspekt der Verständigung führt zur »Erneuerung kulturellen Wissens«.33 »Die kulturelle Reproduktion der Lebenswelt stellt sicher, dass in der semantischen Dimension neu auftretende Situationen an bestehenden Weltzuständen angeschlossen werden: Sie sichert die Kontinuität der Überlieferung und eine für die Alltagspraxis jeweils hinreichende Kohärenz des Wissens.«34
Der zweite Aspekt der Erneuerung bezieht sich in der Terminologie von Habermas auf die Gesellschaft, das ist das Verhältnis der Kommunizierenden zueinander. Indem Menschen Lebenswelt teilen, erneuern sie ihr soziales Verhältnis. Kommunikatives Handeln führt »unter dem Aspekt der Handlungskoordinierung zur sozialen Integration und der Herstellung von Solidarität«:35 »Die soziale Integration der Lebenswelt stellt sicher, dass neu auftretende Situationen in der Dimension des sozialen Raums an die bestehenden Weltzustände angeschlossen werden; sie sorgt für die Koordinierung von Handlungen über legitim geregelte interpersonale Beziehungen und verstetigt die Identität von Gruppen in einem für die Alltagspraxis hinreichenden Masse.«36
32 33 34 35 36
Wagner, a. a. O., 42. Ebd., 53. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 1988, 212. Wagner, a. a. O., 53. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 1988, 213.
Strukturen der Lebenswelt
183
Der dritte Aspekt lebensweltlicher Kommunikation bezieht sich auf den Einzelnen. Indem er Lebenswelt mit anderen Gliedern der Gemeinde teilt, bleibt er nicht derselbe. Er bildet im wertorientierten Handeln seine individuelle Identität aus. Gemeinde als Lebenswelt wirkt auf seine Ich–Identität und erneuert sie: »Die Sozialisation der Angehörigen einer Lebenswelt stellt schließlich sicher, dass neu auftretende Situationen in der Dimension der historischen Zeit an die bestehenden Weltzustände angeschlossen werden: sie sichert für nachwachsende Generationen den Erwerb generalisierter Handlungsfähigkeiten und sorgt für die Abstimmung von individuellen Lebensgeschichten und kollektiven Lebensformen.«37
Habermas fasst die drei Formen der Reproduktion von gemeinsamer Sozialwelt zusammen: »Kultur nenne ich den Wissensvorrat, aus dem sich die Kommunikationsteilnehmer, indem sie sich über etwas in der Welt verständigen, mit Interpretationen versorgen. Gesellschaft nenne ich die legitimen Ordnungen, über die die Kommunikationsteilnehmer ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen regeln und damit Solidarität sichern. Unter Persönlichkeit verstehe ich die Kompetenzen, die ein Subjekt sprach- und handlungsfähig machen, also instand setzen, an Verständigungsprozessen teilzunehmen und dabei die eigene Identität zu behaupten. […] Die zum Netz kommunikativer Alltagspraxis verwobenen Interaktionen bilden das Medium, durch das sich Kultur, Gesellschaft und Person reproduzieren.«38
Diese dreifache Beschreibung der Reproduktion kommunikativer Alltagspraxis ist für eine praktisch-theologische Kirchentheorie von Bedeutung. Es geht um nicht weniger als um die Möglichkeitsbedingungen für die Erneuerung der evangelischen Kirchen in Situationen des gesellschaftlichen Wandels. Die evangelischen Kirchen müssen ein Interesse daran haben, dass sich • ihr Wissensbestand in einer Weise erneuert, durch die er Menschen als unproblematisches Wissen zur Verfügung steht. Das an das biblische Zeugnis gebundene Wissen muss sich als anschlussfähig für neue »Weltzustände« erweisen. • das Verhältnis ihrer Glieder zueinander bewährt und gestärkt wird und sich als offen für die Beteiligung weiterer Menschen erweist, • ihre Glieder eine gesellschaftstaugliche, an christlichen Werten ausgerichtete individuelle Identität als Christinnen und Christen ausbilden.
37 Ebd., 213. 38 Habermas, Theorie des Kommunikativen Handelns, Bd. 2, 1988, 209.
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Gemeinde als Lebenswelt verändert sich
2.1.3 Krisen entstehen, wenn Lebenswelten sich nicht erneuern Wenn lebensweltliche Kommunikation nicht in hinreichendem Masse stattfindet, dann spricht man in der Soziologie von Reproduktionsstörungen. Sie zeigen sich in den Krisenerscheinungen von »Traditionsabbruch, Motivationsentzug und Psychopathologien«.39 Habermas stellt die möglichen Krisenerscheinungen dar, die bei Reproduktionsstörungen auftreten.40 Er geht davon aus, dass ein dreifacher pathologischer Befund der Kultur, der Gesellschaft und der Person möglich ist. Das heisst jede Reproduktionsebene kann dreifach gestört sein. Kultur beispielsweise kann in ihrer kulturellen Reproduktion gestört werden (Sinnverlust), in ihrer sozialen Integration (Verunsicherung der kollektiven Identität) und der Sozialisation (Traditionsabbruch).41 Der Verlust an »Sozialisation« bezeichnet bei Habermas also den dritten, individuellen Aspekt einer Krisensituation. In den reformierten Kirchen der Schweiz und den evangelischen Kirchen in Deutschland haben Traditionsabbrüche und Motivationsentzug teilweise schon stattgefunden.42 Eine Krisensemantik bestimmt vielerorts das Gespräch über Kirchenreformen.43 Traditionsabbrüche lassen sich im Blick auf allgemeines Glaubenswissen und die abnehmende Inanspruchnahme von Kasualien feststellen. Sich nicht mehr unproblematisch auf Glaubensinhalte beziehen zu können und neues Wissen als nicht anschlussfähig an den Wissensbestand der Kirche zu beurteilen, ist Ausdruck einer Krise der Lebenswelt. Habermas spricht bereits Anfang der 1980er Jahre von »einer kulturellen Verarmung, von der eine in ihrer Traditionssubstanz entwertete Lebenswelt bedroht ist«.44 Das Kommunikationsmodell von Habermas macht darauf aufmerksam, dass Krisenerscheinungen nicht als Ergebnis eines gesellschaftlichen Wandels zu verstehen sind. Krisen weisen vielmehr auf einen Mangel an lebensweltlicher Kommunikation inmitten von gesellschaftlichen Umbrüchen. Nicht weil die Gesellschaft pluralisiert und individualisiert ist, befindet sich die evangelische Kirche in einer Krise. Krisen entstehen, wenn die Kirche als Lebenswelt ihrer Mitglieder nicht fähig ist, in einer pluralisierten und individualisierten Gesellschaft die Kommunikation aufrecht zu erhalten. Gesellschaftlicher Wandel führt
39 Wagner, a. a. O., 63. 40 Eine detaillierte Darstellung möglicher Reproduktionsstörungen bei Kiwitz, Lebenswelt und Lebenskunst, 1986, 96–109. 41 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns Bd. 2, 1988, Figur 22, 215. Auch die entsprechenden Reproduktionsfunktionen werden dargestellt, ebd., Figur 23, 217. 42 Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft kennzeichnet die Situation, in der sich die evangelische Kirche in Deutschland befindet, als Tradierungskrise, Strukturkrise und Finanzkrise. Vgl. Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge, Huber u. a. (Hg.), 2006, 15. 43 Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens, 2011, 13. 44 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns Bd. 2, 1988, 481.
Strukturen der Lebenswelt
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nicht zu einer Krise der Kirche, sondern führt zur Notwendigkeit, die lebensweltliche Kommunikation zu überdenken und neu einzuüben.
2.2
Gemeinde als Lebenswelt – ihre drei Beziehungsfelder
Die Kommunikation bzw. das Handeln der Gemeinde verwirklicht sich in verschiedenen Beziehungsfeldern. Die Gemeindeglieder kommunizieren im Gottesdienst (Leiturgia), im verpflichtenden Miteinander des Alltags (Koinonia) und in der sorgenden Hinwendung zu anderen Menschen (Diakonia).45 Diese Beziehungsfelder bedingen einander und überschneiden sich. Es gibt Gemeinde nicht ohne die gottesdienstliche Feier ihrer Glieder, nicht ohne ein verpflichtendes Miteinander im Alltag, nicht ohne die Sorge um die Fülle des Lebens für alle.46 Schon in der altkirchlichen Tradition wird die Gemeinde in ihren grundlegenden Beziehungsfeldern beschrieben.47 Ich folge Wolfgang Bittners Verständnis der kirchlichen Beziehungsfelder. Speziell an seinem Modell ist, dass er Gemeinde als »3 +1 Gemeinschaft« versteht: Gemeinde ist zunächst und prioritär Anbetungsgemeinschaft (Leiturgia), dann Lebensgemeinschaft (Koinonia) und damit auch Dienstgemeinschaft (Diakonia). Aufgrund dieser drei Lebensvollzüge wird sie (1. Petr 3,15) zu einer von anderen Menschen befragbaren Gemeinschaft und erst dadurch zur Zeugnisgemeinschaft (Martyria).48 Das Zeugnis wird hier nicht als ein ›zusätzliches‹ Bekennen verstanden, sondern als Ausdruck für diesen dreifachen Lebensvollzug. Die Gemeinde nimmt sich in diesen Beziehungsfeldern wahr, weil sie glaubt, dass Gott die Welt zur Zielrichtung seines Handelns bestimmt hat. Sie glaubt, dass Gott eine Gemeinde sammelt, um auf diesem Wege seine Liebe zu allen Menschen zu verwirklichen. Im Gottesdienst erinnert, feiert und vergewissert sich die Gemeinde der Zuwendung Gottes zur Welt. In der Koinonia ihres Alltags und in der diakonischen Hinwendung zu anderen, vor allem benachteiligten Menschen nimmt sie zeichenhaft an Gottes Zuwendung zur Welt teil.
45 ›Verpflichtend‹ meint, dass Menschen Verantwortung füreinander wahrnehmen. Das Übernehmen von Verantwortung wird sich als ein hervorragendes Kennzeichen leibhafter Kommunikation im Gegensatz zu medial vermittelter Kommunikation erweisen, siehe Kap. VI.1.2 Leistungen und Grenzen medial vermittelter Kommunikation. 46 Kellerhals, a. a. O., 53. 47 Schulte/Raphael (Hg.), Leiturgia, Koinonia, Diakonia, 1980; Diethelm u. a. (Hg.), Lebenswelten, 2012, 26. 48 Bittner, Kirche – das sind wir!, 3. Aufl. 2006, 58. Ähnlich Kellerhals, a. a. O., 53. Sie bezeichnet aber die Martyria der Kirche als zusätzliche vierte Handlungsrichtung.
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Gemeinde als Lebenswelt verändert sich
2.2.1 Gemeinde als Lebenswelt erneuert sich in ihren Beziehungsfeldern In der Perspektive von Lebenswelttheorien verfügt die Gemeinde über drei formale Weltbezüge, nämlich (1) über einen gemeinsamen Wissensbestand (kulturelle Reproduktion), (2) über starke Wir-Beziehungen (gesellschaftliche Reproduktion) und (3) über ein an gemeinsamen Werten orientiertes Handeln ihrer Mitglieder (Ausbildung der Persönlichkeit). Nun haben wir gesagt, dass Mitglieder einer Gemeinde in drei Beziehungsfeldern leben. Jedem der drei kirchlichen Beziehungsfelder lässt sich eine vorrangige lebensweltliche Reproduktionsebene zuordnen: Die Reproduktion ihres Wissensbestands (Kultur) vollzieht die Gemeinde vorrangig in ihrer Kommunikation als Leiturgia. Die Reproduktion ihrer Sozialität geschieht vorrangig in der Alltagskommunikation der Koinonia. Dass Gemeindeglieder ihre Ich– Identität ausbilden, geschieht, indem sie ihre Wertorientierungen immer neu in diakonisches Handeln übersetzen. Diese Zuordnung ist vereinfachend, denn jedem Beziehungsfeld der Gemeinde lassen sich selbstverständlich alle drei Ebenen der Reproduktion zuordnen. Die Vereinfachung kann aber helfen, Reproduktionsstörungen besser auf ihre Ursachen zurückführen zu können. Zum Beispiel wird der soziale Zusammenhalt einer Gemeinde nicht gestärkt, indem mehr und intensiver über das ›Wir-Gefühl‹ gepredigt wird.
2.2.2 Leiturgia – der Gottesdienst als Lebenswelt Im Gottesdienst begegnet die Gemeinde als Kommunikationsgemeinschaft soziologisch gesprochen ihrer Wissenstradition und reproduziert diese im Modus des Feierns und Erinnerns. Das gottesdienstliche Geschehen kann dann als lebensweltliche Kommunikation verstanden werden, wenn sich die Wissenstradition als anschlussfähig für das mitgebrachte Wissen der Feiernden erweist: »Denn nur wenn es konkreten Menschen in ihrem Erlebnisbereich gelingt, mit persönlichen Fragen Anschluss zu gewinnen an das Evangelium, an die Wissenstradition der Kirche, nur dann wird die christliche Tradition ins Handlungswissen integriert.«49
Der Gottesdienst der Gemeinde wird an folgenden Merkmalen als lebensweltliche Kommunikation erkannt: ➤
Gemeindeglieder üben im Hören der biblischen Geschichten gemeinsame Weltauslegung ein. Die überlieferte Wissenstradition erweist sich dabei als anschlussfähig für ihre Lebenssituationen, ihre persönlichen und existentiellen Fragen.
49 Wagner, a. a. O., 95.
Strukturen der Lebenswelt ➤
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In der Feier von Taufe und Abendmahl bekommen Menschen an der Wissenstradition der Kirche Anteil. Sie werden Mitglieder der Gemeinde bzw. vergewissern sich durch Gedächtnis und Zuspruch ihrer Teilhabe am Leib Jesu Christi.
Die Kirche bleibt ihrem Wesen nach eine Wissensgemeinschaft. Das kann dann zur Herausforderung werden, wenn in postmoderner Gesellschaft Formen von Vergemeinschaftung an Gewicht gewinnen, die sich nicht mehr auf die Teilhabe an gemeinsamem Wissen gründen.
2.2.3 Koinonia – ein Alltagshandeln, das Herrschaftswissen entkräftet Auch in ihrem Beziehungsfeld als Koinonia verdankt sich die Gemeinde dem Wort Gottes.50 Im alltäglichen Miteinander suchen die Glieder der Gemeinde die ihnen in der Leiturgia zugesprochene Gemeinschaft am Leib Jesu Christi zu leben. Gemeinde lebt ihre Koinonia in Wir-Beziehungen, die wir als potenzielle Wechselseitigkeit der Beziehungen aller Gemeindeglieder zueinander verstanden haben:51 »Soll eine Gemeinde lebensweltliche Bezüge ihrer Mitglieder mit übernehmen, dann gelingt dies nur in einer wirklichen Wir-Beziehung. Erst dadurch könnte sich die InterSubjektivität einer Lebenswelt herausbilden […]. Es muss eine Wechselseitigkeit zwischen (potentiell) allen Mitgliedern untereinander bestehen, die zudem die Leibbedingtheit aller Erfahrung mitbeachtet. […] Eine Gemeinde mit ausgeprägten Wir-Beziehungen erlangt lebensweltliche Qualitäten in dem Sinn, dass sie weder die Gemeinde eines bestimmten Mitgliedes (z. B. der Pastorin bzw. des Pfarrers) oder die Summe aller Mitglieder ist, sondern die Welt ihrer gemeinsamen Erfahrungen.«52
Ob eine Gemeinde tatsächlich in Wir-Beziehungen lebt, lässt sich empirisch mittels einer Netzwerkanalyse erfragen. Netzwerkanalysen zeigen, wie die Kommunikation innerhalb einer Gruppe verläuft, bei welchen und bei wie vielen Personen sich die Kommunikation konzentriert, welche und wie viele Personen kaum oder gar nicht ins Gespräch einbezogen sind usw.53 50 51 52 53
Kap. II.1.2 Gemeinde ist Hörgemeinschaft. Kap. II. 2.8 Das allgemeine Priestertum als Strukturprinzip der evangelischen Kirchen. Wagner, a. a. O., 97. Über die Möglichkeiten einer Netzwerkanalyse siehe Berzborn, Persönliche Netzwerke im städtischen Kontext, in: Lang (Hg.), Kulturelle Identität, soziale Netzwerke und Kognition, 1997. Persönliche Netzwerke lassen sich in Hinsicht auf ihre Zusammensetzung, ihre Struktur und die Merkmale ihrer Beziehungen beschreiben. (101) Üblich ist dabei das Verfahren des sogenannten random walk. »Klovdal hat das Verfahren des random walk entwickelt, das auf einer abhängigen Zufallsauswahl basiert und mit einer geringen Anzahl an Interviews Verbindungen zwischen egozentrierten Netzwerken aufdecken kann. Dabei wird aus dem persönlichen Netzwerk einer Person ein Alter zufällig herausgegriffen, der dann im nächsten Schritt als Informant und neuer Ego interviewt wird.« (92) Berzborn bezieht sich auf Klovdahl, Large urban social networks, 1990.
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Die Koinonia in Jesus Christus zeichnet sich gegenüber anderen Formen auch traditionaler Vergemeinschaftung dadurch aus, dass sie die gegebenen Sozialverhältnisse von Herkunft, Geschlecht und sozialem Stand, die ebenfalls gemeinschaftsbildend wirken, transzendiert. Was es heisst, dass die bestehenden Sozialverhältnisse keine Gültigkeit im Sinne eines Herrschaftswissens haben, sondern durch die Zugehörigkeit zu Jesus Christus relativiert werden, muss ins Alltagshandeln hinein übersetzt werden. 2.2.4 Diakonia – das uneigennützige Suchen nach Lebensfülle Die Gemeinde verdankt sich auch in ihrem Beziehungsfeld als Diakonia dem Wort Gottes. Indem sie Lebensfülle für alle Menschen sucht, ist sie offen für ein Zusammenwirken mit Partnerinnen und Partnern. Das sind Menschen, die ebenfalls die Sorge um Lebensfülle für alle teilen. Die diakonische Initiative kann von Gemeindegliedern ausgehen, sie können aber auch Anfragen und Angebote zur Mitwirkung wahrnehmen. Diakonisches Handeln zielt nicht auf Gemeindeentwicklung. Gemeindeglieder wenden sich Menschen zu, um ihnen zur Lebensfülle zu helfen. Ob diese dadurch zu Mitgliedern der Gemeinde werden, ist kein Kriterium gemeindlichen Handelns. Gemeinde kann in ihrem diakonischen Handeln von staatlichen oder gesellschaftlichen Einrichtungen leichter als Partnerin akzeptiert werden, wenn sie nicht ihren Selbsterhalt sucht. ➤
➤
Gemeinde wirkt im Suchen der Lebensfülle mit Partnerinnen und Partnern zusammen. Kommunikationstheoretisch kommt hier der oben beschriebenen dialogischen Struktur der Gemeinde Bedeutung zu.54 Das diakonische Engagement wird von den Beteiligten als Gewinn für einzelne Menschen oder das Gemeinwesen, aber nicht als Profilierung kirchlicher Gruppierungen verstanden.
2.2.5 Die sachliche Reihenfolge der Beziehungsfelder Die Kommunikation der Gemeinde in ihren verschiedenen Beziehungsfeldern bleibt auf die Feier des Gottesdienstes bezogen. Wolfgang Bittner begründet die Reihenfolge der gemeindlichen Kommunikation als sachliche, nicht unbedingt biographische:
54 Kap. II.2.4 Kirche als Weggemeinschaft hat eine dialogische Struktur.
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»Die oben skizzierte Reihenfolge ist nicht biographisch, wohl aber sachlich gemeint. Auch wer Kirche im Lauf seines Lebens ganz anders erfährt, der weiß doch um die sachliche, man müsste genauer sagen: um die theologische Begründung von Kirche: Aus der Anbetung allein ergibt es sich, dass wir Lebensgemeinschaft und Dienstgemeinschaft sind und es auch bleiben. Die […] Reihenfolge ist also theologisch gemeint. Sie ist, auch wo sie lebensgeschichtlich anders erfahren wird, theologisch nicht veränderbar.«55
Die wechselseitige Verschränkung der drei Beziehungsfelder ist deutlich. Sowohl die Koinonia als auch die Diakonia der Gemeinde haben ihren Grund darin, dass sich die Gemeinde den Taten Gottes verdankt.56 Dass Gemeindeglieder persönliche Identität bilden, geschieht im Zusammenspiel der drei Beziehungsfelder. Mit einer gewissen Zurückhaltung kann man sagen, dass den Gemeindegliedern in der Leiturgia Identität zugesprochen wird, dass sie in der Koinonia affektiv erfahren wird und sich in der Diakonia situationsbezogen bewährt. Die drei Beziehungsfelder der Gemeinde bleiben also aufeinander bezogen: Wenn sich das Alltagshandeln oder das diakonische Handeln vom Gottesdienst der Gemeinde lösen, wird auch der Gottesdienst als Lebenswelt der Gemeinde Schaden nehmen.
3
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Der Wandel der gesellschaftlichen Sozialverhältnisse lässt sich in einer zweifachen Weise beschreiben: Zum einen verändern sich die Bedingungen, unter denen Gemeinde als Lebenswelt kommuniziert. Zu diesen Bedingungen gehört die schwindende Bedeutung gesellschaftlicher Institutionen. Institutionen stabilisieren eine Gesellschaft. Sie repräsentieren Plausibilitätsstrukturen und entlasten die Einzelnen im Umgang mit Erlebnissen und Erfahrungen und ihrer Deutung. Berger und Luckmann verstehen Institutionen »als Folge von Habitualisierungsprozessen«, die zur Konstruktion von Sinn beitragen.57 Strukturen der Gesellschaft werden zu Strukturen des Bewusstseins.58 Institutionen vergegenständlichen Handeln und weisen auf tradierte Sinnzusammenhänge. In der Perspektive von Handlungstheorien weisen Institutionen auf das Handeln von Personen zurück und sind als verfestigte Handlungsvollzüge zu erkennen: »Auch die Institutionalisierungen und Vergegenständlichungen menschlichen Handelns weisen zurück auf ›ursprüngliche, sinnstiftende Akte reflexiver Auslegung, 55 56 57 58
Bittner, Kirche, das sind wir, 3. Aufl. 2006, 59. Kunz, Theorie des Gemeindeaufbaus, 1997, 137. Ludwig, a. a. O., 121. Berger/Luckmann, a. a. O., 46.
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nachfolgender Wiederauslegungsakte und deren Habitualisierung in Sinn-Selbstverständlichkeiten …‹ (Schütz/Luckmann 1975:34)«59
Institutionen sind für ihre Reproduktion langfristig auf Lebenswelt angewiesen. Reproduzieren können sich dauerhaft nur Sinnwelten, in denen Menschen tatsächlich handeln. Im Zusammenhang mit postmodernen Lebensweisen wurden die Merkmale persönlicher Sinntheorien beschrieben.60 Sie sind anders als Institutionen durch einen hohen Grad an Offenheit und Prozesshaftigkeit gekennzeichnet. Anders als Institutionen stellen sie kein verfestigtes gesellschaftliches Sinnreservoir dar.
3.1
Der Bedeutungsverlust der Kirche als Institution
Ihr hoher Grad der Institutionalisierung machte es bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein möglich, die evangelischen Kirchen als Volkskirche zu verstehen: Eine Bevölkerungsmehrheit wusste ihre weltanschaulichen Übereinkünfte durch die Institution der christlichen Kirchen gesichert und repräsentiert. Der Bedeutungsverlust der evangelischen Kirche als Institution vollzog sich über lange Zeiträume hin. Im Deutschland des 19. Jahrhunderts und damit im Zuge von Industrialisierung, Landflucht und Umzug in die Städte fühlten sich grosse Teile der Bevölkerung nicht mehr der evangelischen Kirche zugehörig. Die Kirchenregimente versuchten mit Hilfe sozialer Aktivitäten und städtischer Kirchenbauprogramme, die Arbeitermassen in den Schoss von Monarchie und Kirche zurückzuholen. Die Vereine der Inneren Mission verstanden sich als Angebot, Lebenswelt für die der Kirche entfremdeten Bevölkerungsschichten zu sein. Sie wollten die dem dörflichen Leben entrissenen Menschen erneut am Leben der evangelischen Kirche beteiligen. Heinrich Wichern beispielsweise betrachtete die Wohltätigkeit und die Verbesserung der Lebensumstände nur als einen »Durchgangspunkt« dafür, dass Menschen erneut Erfahrungen mit kirchlicher Gemeinschaft machen.61 Wichern hat die gesellschaftlichen Umbrüche nicht zuerst als Krise der Kirche wahrgenommen, sondern als Sozial- und Lebenswelt, in der die evangelischen Kirchen gefordert sind, ihre Gestalten neu zu finden und zu entwickeln.
59 Gabriel, Analysen der Organisationsgesellschaft, 1979, 131. 60 Kap. I.2.4 Erwerb von Lebensdeutung in der Postmoderne. 61 Petersen, »So wie ich euch geliebt habe!« 2012, 144.
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3.1.1 Mitgliedschaft wird zugeschrieben Die evangelischen Kirchen in Deutschland sind zum Teil aus einer Staatskirche hervorgegangen und tragen deren Implikationen in. Dieses historische Erbe bringt es mit sich, dass sich die evangelischen Kirchen in Deutschland auch nach 1919 kaum um die Begründung von Mitgliedschaftsverhältnissen bemühen mussten. Hübner nennt es eine der Kirche innewohnende Desintegration, dass Menschen sich in einem Mitgliedschaftsverhältnis finden, auch wenn sie keine für Mitgliedschaftsverhältnisse zu erwartende Sozialisation erfahren haben. »Seitdem sie Staatskirche und Religion der Gesellschaft wurde, ist die Kirche von der latenten Desintegration eines solchen Sozialsystems mit durch die Kindertaufe ›zugeschriebener Mitgliedschaft‹ herausgefordert. Solange sie nicht manifest wurde, trat sie kaum in das Bewusstsein.«62
Der Erwerb von Mitgliedschaft ist auch heute überwiegend nicht an Sozialisierung und Erfahrungen von Zugehörigkeit gebunden. Die beschriebene Desintegration charakterisiert auch die gegenwärtige Mitgliedschaftssituation in den Gliedkirchen der EKD und den reformierten Kirchen der Schweiz. Wenn sich die Mitglieder der Kirche über lange Zeiträume hin nicht handelnd am Leben der Kirche beteiligen, verliert das Sinnreservoir, das die Institution Kirche darstellt, an Bedeutung. Auch Kirchenmitglieder erfahren dann die evangelische Kirche nicht länger als gesellschaftliches Sinnreservoir. 3.1.2 Die Gefährdung einer geschwächten Institution In Zeiten einer starken Institutionalisierung ist die Kirche versucht, ihren gesellschaftlichen Einfluss zweckrational einzusetzen, heisst eigene Anliegen durchzusetzen. Der Pastoraltheologe Rainer Bucher weist darauf hin, dass auch der Bedeutungsverlust der Kirche als Institution mit Gefährdungen verbunden ist: Müssen sich die Kirchen auf dem gesellschaftlichen Markt der Lebensdeutungen positionieren, stehen sie in der Gefahr, den Gesetzmässigkeiten des Marktes zu viel Raum zu geben: Wie die Kirche in »vormodernen Zeiten in den Kontexten der Feudalgesellschaft ›an die Macht‹ geraten war, in eine Situation, der sie weder entkommen konnte noch einfach verfallen durfte, so steht die Kirche heute vor dem Grundproblem, aus einer reinen Marktperspektive herauszukommen, ohne ihren Wahrheitsgehalt, nämlich tatsächlich ›auf dem Markt‹ zu sein, zu übergehen.«63
62 Hübner, a. a. O., 306. 63 Bucher, Mehr als Adressaten, in: Ebertz/Hunstig, Hinaus ins Weite, 2008, 70.
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3.1.3 Die ›kleinen Lebenswelten‹ stärken Berger/Luckmann hatten dafür plädiert, in einer pluralistischen Gesellschaft, in der die grossen Institutionen an Bedeutung verlieren, unbedingt die intermediären Institutionen zu stützen. In diesen vollziehen sich Prozesse von Sinnfindung, die früher durch die grossen Institutionen dargestellt wurden. Benita Luckmann hat für sie den Begriff der ›kleinen Lebenswelten‹ geprägt. In der Moderne haben sich die ›kleinen Lebenswelten‹ von gesamtgesellschaftlichen Institutionen gelöst und werden nicht mehr von ihnen repräsentiert.64 »Die intermediären Institutionen müssen dort gestützt werden, wo sie nicht ›fundamentalistische‹ Haltungen verkörpern, sondern die ›kleinen Lebenswelten‹ […] der Sinn- und eventuell auch Gesinnungsgemeinschaften stützen und zugleich ihre Angehörigen zu Trägern einer pluralistischen ›civil society‹ heranbilden. In den ›kleinen Lebenswelten‹ werden die unterschiedlichsten Sinnangebote der Sinnvermittlungsanstalten nicht einfach ›konsumiert‹; sie werden dort vielmehr kommunikativ angeeignet und selektiv zu Bestandteilen der Sinngemeinsamkeiten von Lebensgemeinschaften verarbeitet.«65
Kirchgemeinden können und müssen ihre Möglichkeiten als intermediäre Institutionen wahrnehmen. Das geschieht, wenn Gemeindeglieder einander an der Vielfalt ihrer Lebensformen Anteil geben und dabei das Gespräch mit der Wissenstradition der Kirche suchen. Die »Ausdifferenzierung der Gesellschaft« ist dabei die »Bezugsperspektive«.66 Ob ein intermediäres Handeln tatsächlich stattfindet, ist dem Soziologen und Theologen Wolf-Dietrich Bukow zufolge erst am »sozialen Handeln« der Beteiligten zu erkennen.67
3.2
Gemeinde kommuniziert zunehmend als Subkultur
Wenn die evangelischen Kirchen die Marktsituation ignorieren und weiterhin mit dem Anspruch einer starken Institution kommunizieren und ein Monopol an Lebenswissen beanspruchen, kann das andere Marktteilnehmer irritieren. Alex Kurz macht das am Beispiel des interreligiösen Dialogs deutlich: Die re64 Luckmann, The Small Life-Worlds of Modern Man, in: Luckmann, Phenomenology and Sociology, 1978, 275–290. 65 Berger/Luckmann, Modernität, 1995, 71. 66 Bukow, Zur Selbstrekonstruktion des Religiösen im systemischen, lebensweltlichen und kommunikativen Kontext, in: Failing u. a. (Hg.), Religion als Phänomen, 121–143, 124. Bukow zufolge entfernen sich religiöse Vorstellungen zwar von »traditionellen Formen institutionalisierter wie damit korrespondierender alltäglicher Religion«, erlangen aber »im Lebenszusammenhang« und »innerhalb der öffentlichen Auseinandersetzungen« neue Bedeutung. Bukow, a. a. O., 122. 67 Ebd., 124–125.
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formierten Kirchen in der Schweiz verstehen sich oft noch als gesamtgesellschaftlich relevante Institutionen. Sie setzen sich zum Beispiel regulierend und vermittelnd im Gespräch der Religionen ein. Dabei übersehen sie, dass sie innerhalb der Gesellschaft nicht mehr das Sinn- und Deutungsmonopol innehaben und selbst zu Marktteilnehmerinnen geworden sind. Kurz rät den reformierten Kirchen, ihre gesellschaftliche Selbstwahrnehmung zu schärfen, um ihren gesellschaftlichen Beitrag adäquat zur Sprache bringen zu können. Nur wer die Gesetze des Marktes und ihre Logik kennt, hat Kurz zufolge auch die Möglichkeit, sich gegen die Logik des Marktes und entsprechend der Logik des Evangeliums zu verhalten.68 Die evangelischen Kirchen werden ihre lebensweltliche Kommunikation zunehmend als Kommunikation einer Subkultur verstehen müssen und damit wieder ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit entsprechen. 3.2.1 Lebensweltliche Kommunikation einer Subkultur Subkultur ist zum einen ein systemischer Begriff. Er weist die Kirche als Teilsystem innerhalb der Gesellschaft aus. Gleichzeitig ist die Kirche auch als Subkultur Lebenswelt ihrer Glieder. Wie lassen sich die Bedingungen kommunikativen Handelns für eine als Lebenswelt verstandene Subkultur beschreiben? Die Forschungslage zur Theorie von Subkulturen ist übersichtlich: Eine ausführliche und bis heute meines Wissens nicht überholte Untersuchung zur Eigenart von Subkulturen legte der Sozialwissenschaftler und Schriftsteller Rolf Schwendter 1970 mit Theorie einer Subkultur vor.69 Eine Subkultur ist »Teil einer konkreten Gesellschaft, der sich in seinen Institutionen, Bräuchen, Werkzeugen, Normen, Wertordnungssystemen […] in einem wesentlichen Ausmaß von den herrschenden Institutionen etc. der jeweiligen Gesamtgesellschaft unterscheidet.«70 In Schwendters Theorie einer Subkultur nehmen sogenannte pivot-players eine zentrale Rolle ein. Pivot-player ist ein Begriff aus dem Sport und wird in der Soziologie mit Drehpunktperson übersetzt. Pivot-players bilden Drehpunkte und stehen sowohl mit der Hauptkultur als auch mit einer Subkultur in Interaktion. »Wichtig dabei ist, dass es sich nicht um reine Sozialisationsagenten des Establishments handelt, sondern dass sie die Instabilität zwischen Establishment und Subkultur in ihrer Person austragen.«71
68 69 70 71
Kurz, Zeitgemäß Kirche denken, 2007, 121. Schwendter, Theorie einer Subkultur, 4. Aufl. 1974. Wagner, a. a. O., 70. Wagner zitiert Schwendter, a. a. O., 11. Hervorhebung von Wagner. Schwendter, a. a. O., 62.
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Dass Subkulturen erfolgreich kommunizieren und im pluralen Gesamt der Gesellschaft wahrgenommen werden, hängt wesentlich an Personen, die Drehpunkte in der Kommunikation mit der jeweiligen Hauptkultur bilden. Wer diese Rolle einnimmt, vollzieht Schwendter zufolge die Verunsicherungen, Widersprüche und Entwicklungen einer Gesellschaft am eigenen Leib mit. 3.2.2 Subkulturen verändern Hauptkulturen In Subkulturen sind Menschen einander durch ein gemeinsames Handeln verbunden. Ihr Handeln wurzelt tief, folgt eigenen Normen und Wertordnungssystemen und vermag daher der Dynamik einer Hauptkultur zu begegnen. »Die eigentliche Alternative, die dem industriellen Goliath entgegengesetzt werden müsse, sei aber nicht wirtschaftlicher, sondern kultureller Natur; es gehe letztlich um ein neues Wertesystem. Die Herausbildung neuer Kulturen gehe zudem immer auf jene Bewusstseinsschichten zurück, die man traditionell als religiös bezeichne.«72
Subkulturen haben das Potenzial, durch Wertorientierungen gesellschaftliche Veränderungsprozesse in Gang zu bringen. Hitzler beobachtet allerdings, dass sich Subkulturen in den letzten Jahrzehnten verändert haben. Sie übernehmen zunehmend Züge von gesellschaftlichen Szenen. Klassische Subkulturen wie die Studenten- oder Frauenbewegung verlieren an Bedeutung bzw. werden zu reinen Gesinnungsgemeinschaften.73 Sie verstehen sich kaum mehr als gesellschaftliche Gegenentwürfe. »Hinzu kommt, dass […] subkulturelle Gesellungsformen ihren Charakter bzw. ihr Selbstverständnis als gesellschaftliche Gegenentwürfe immer stärker verloren haben […].«74
Im Zuge einer Verszenung von Subkulturen gewinnt das Erleben von gemeinsamer Gesinnung und Ästhetik an Bedeutung. Szenen haben einen prototypischen Charakter und wirken auch auf traditionale Formen von Gemeinschaft. »Ihr prototypischer Charakter erweist sich […] darin, dass auch das Miteinander in herkömmlichen Gemeinschaften immer mehr symptomatische Elemente posttraditionaler Vergemeinschaftung übernimmt.«75
Hitzler beobachtet also, dass Subkulturen ihre Kraft verlieren, wenn gemeinsame Interessen und Meinungen und eine gemeinsame Ästhetik an Gewicht gewinnen. Ihr Proprium, nämlich dass aus ihren affektiv-normativen Bestandsvorausset72 Wagner, a. a. O., 76. Kursiv im Original. 73 Weitere Beispiele in Kap. II.2.3.1 Die evangelische Kirche als Erfahrung von Weggemeinschaft. 74 Hitzler, Brutstätten traditionaler Vergemeinschaftung, in: Hitzler u. a. (Hg.), Posttraditionale Gemeinschaften, 2008, 57. 75 Hitzler/Niederbacher, Leben in Szenen, 2010, 16.
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zungen ein gemeinsames Handeln erwächst, tritt in den Hintergrund. Mit dem gemeinsamen Handeln verlieren Subkulturen ihre kritisch-transformative Kraft.
3.3
Organisationen gewinnen an Bedeutung
In postmoderner Gesellschaft treten zunehmend Organisationen an die Stelle von Institutionen und helfen in handlungssoziologischer Perspektive zu Entscheidungen, die die Lebensführung betreffen: »Generell davon betroffen sind diejenigen Institutionen, die nicht Teil der wirtschaftlichen und politischen Megastrukturen sind. Institutionen also, die beispielsweise das Privatleben der Menschen regeln oder […] in den Bereich der ›Zivilgesellschaft‹ fallen und für Familienfragen, […] zwischenmenschliche Beziehungen, Bildung und Erziehung, ästhetische Normen und Religion zuständig sind.«76
In erster Linie stellen Organisationen klar definierte Leistungen zur Verfügung. Die bzw. der Einzelne orientiert sich in einem Netz von privaten und öffentlichen Organisationen, die ihre Ziele mit Hilfe von Programmen und dem Angebot von Mitgliedschaft verfolgen. In postmoderner Gesellschaft gibt es eine Fülle an zweckrationalen Beziehungen. Für die evangelische Kirche hat das zur Folge, dass ihr Organisationen Konkurrenz machen, die sich ebenfalls der Lebensdeutung und -begleitung widmen. Aber auch eine andere Folge ist nicht zu übersehen. Die evangelische Kirche organisiert das ihr Aufgetragene selbst in der Gestalt von Organisationen. Ein Rückblick auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt deutlich, dass die Gliedkirchen der EKD eine funktionalistische Spezialisierung vollzogen und eine Vielzahl eigener Fachstellen eingerichtet haben.77 Ziel der Organisationswerdung war der Versuch einer inhaltlichen und strukturellen »Neuausrichtung der Kirche an den Verhältnissen der Gegenwart und an den Interessen der Mitglieder«.78 Die evangelische Kirche hat sich im Zuge ihre Organisationswerdung dabei weitgehend neoliberalen Reformen unterzogen: »As an organization, the Church is dependent on funding and thus is greatly affected by neoliberal reforms. […] Current empirical investigations show that within schools, hospitals and other facilities run by the Church, the process of internal and external marketization has been well under way since the middle of the 1990s.«79 76 Berger, Sehnsucht nach Sinn, 1999, 180. 77 Huber u. a. (Hg.), Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge, 2006, 19. 78 Hermelink/Wegner, Die Evangelische Kirche in Deutschland, in: Hermelink/Wegner (Hg.), Paradoxien kirchlicher Organisation, 2008, 13. 79 Schlamelcher, The Decline of the Parishes, in: Tuomas/Gauthier (eds.), Religion in the Neoliberal Age, 2013, 53–67, 53.
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Schlamelcher entdeckt dabei einen interessanten Widerspruch. Auch wenn die Kirchen als Organisationen kommunizieren, verhalten sie sich trotzdem so, als wären sie ›Inseln der Gemeinschaft‹ in einer neoliberalen Welt, als würden sie die Einzelnen als Menschen und nicht als Kunden wahrnehmen.80 Schliesslich würde die Kirche als Organisation immer noch behaupten, dass sie Glaubensgemeinschaft generieren könne: »The Church organizations, now modernized bureaucracies, have declared community to be the goal of their organizational programme.«81
Schlamelcher hält es für unmöglich, Gemeinschaft zu organisieren und bestätigt die soziologische Theorie.82 Historisch versucht wurde diese Unmöglichkeit trotzdem: Schlamelcher verweist auf die vergeblichen Versuche der Gemeindereformbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts. 3.3.1 Organisationen treten an die Stelle von Lebenswelten Organisationen können Funktionen von nahen sozialen Beziehungen übernehmen. Lebenswissen, das durch Primärsozialisation nicht mehr zugänglich ist, wird durch »ein Netz von öffentlichen und privaten Organisationen« vermittelt.83 Der Soziologe Peter Berger beschreibt in Sehnsucht nach Sinn, wie mit dem Wegfallen persönlicher Gemeinschaften zum Beispiel in Fragen der Kindererziehung eine der Erziehung und Betreuung gewidmete ›Industrie‹ an die Stelle des familiär vermittelten Wissens tritt.84 Was vor einigen Generationen als allgemein vorausgesetztes Lebenswissen galt, eignen sich Menschen in pluralistischer Gesellschaft zunehmend mit Hilfe von Organisationen an. »Dass Handeln in konkreten Situationen in einfachen Sozialbeziehungen immer weniger von selbstverständlichen und allgemein anerkannten Vorgaben geregelt und typisiert wird, hat nach Luhmanns Ansicht zur Folge, dass es zunehmend unter den Einfluss von Organisationen gerät und deren Vorgaben bedarf. Organisationen bilden damit so etwas wie einen Ersatz von Lebenswelten, für selbstverständliche, soziale, gesamtgesellschaftliche Deutungs- und Handlungsmuster.«85
Kirchenmitglieder nehmen in der Folge auch die evangelische Kirche zunehmend als eine Dienstleisterin wahr:
80 Ebd., 1. 81 Ebd., 7. 82 Weil Gemeinschaft kein zweckrationales Wollen zugrunde liegt, lässt sie sich nicht organisieren, siehe Kap. I.3.2 Gemeinschaft – was für ein Sozialverhältnis ist das? 83 Berger, Sehnsucht nach Sinn, 1999, 181. 84 Ebd., 181. 85 Niethammer, a. a. O., 67.
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»Während Geld als Mittel dazu diente, die Ziele der Organisation (Bildung etc.) umzusetzen, versucht man nun, diese ehemaligen Ziele bzw. Funktionen als Dienstleistungen anzubieten. Mit der Priorisierung der Zahlungsunfähigkeit als Leitprogrammatik geht damit die Kommodifizierung der Funktion, ihre Transformation in eine Dienstleistung, einher. Dies wiederum transformiert die Sozialbeziehung der Organisation zu Individuen in ihrer Umwelt in Anbieter-Kunden-Verhältnisse. Neben der internen Vermarktlichung umfasst der Prozess der Ökonomisierung also auch eine externe Vermarktlichung, insofern Organisationen auf Dienstleistungserbringung und Kundenorientierung umstellen. Zugespitzt formuliert: Strukturelle Ökonomisierung bedeutet die interne und externe Vermarktlichung einer Organisation.«86
Habermas hatte davor gewarnt, dass sich gesellschaftliche Subsysteme verselbständigen können und schliesslich nicht mehr die ihnen zugrunde liegende Lebenswelt repräsentieren. Vielmehr würden sie die Lebenswelt von Menschen normativ dominieren. »Das eine Moment, die einseitige Rationalisierung der Alltagskommunikation, geht auf die Verselbständigung von mediengesteuerten Subsystemen zurück, die sich nicht nur jenseits des Horizonts der Lebenswelt zu einer normfreien Realität versachlichen, sondern mit ihren Imperativen in die Kernbereiche der Lebenswelt eindringen.«87
3.3.2 Organisationskirche versus Gemeindekirche? Die Entwicklung der evangelischen Kirchen in Deutschland ist durch einen Ausbau ihrer Organisationen und Dienstleistungen gekennzeichnet: »In der Tendenz […] baut die Kirche dort ihre Strukturen aus, wo Anbieter-KundenBeziehungen dominieren. Sie baut dort ab, wo eher gemeinde- und gruppenförmige Sozialbeziehungen vorliegen.«88
Das hat Folgen für Gemeinde als Lebenswelt ihrer Mitglieder. Sie schwindet und bekommt selbst den Charakter einer Veranstaltung. »[E]s gibt durchaus Anhaltspunkte dafür, dass […] die geistliche Kommunikation zurücktritt, die Organisation dagegen hervortritt, bis schließlich geistliche Kommunikation als eine Amtspflicht, eine Art organisierte Veranstaltung begriffen wird.«89
Schlamelcher betont, dass die Hinwendung zur Kirche als Organisation (parishas-organization) in Deutschland zu einer deutlichen Schwächung der Kirche als Gemeinschaft (parish-as-community) beiträgt. Beispielhaft nennt Schlamelcher, dass die Verwaltung von Kirchgemeinden ebenso wie die Arbeit von Gemein86 Schlamelcher, Ökonomisierung der Kirchen, in: Hermelink/Wegner (Hg.), Paradoxien kirchlicher Organisation, 2008, 145–177, 151. Kursiv und Absatz im Original. 87 Habermas, Theorie kommunikativen Handelns, Bd. II, 1988, 483. 88 Schlamelcher, Ökonomisierung, 2008, 145–177, 172. 89 Ebd., 159. Schlamelcher zitiert Luhmann, Funktion der Religion, 1977, 288.
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deschwestern ausgelagert wird, dass Pfarrstellen nicht wiederbesetzt und Gebäude verkauft werden.90 Damit würde sich die Kirche nicht als die menschenfreundliche und der Solidarität verpflichtete Gegenkultur zeigen, als die sie sich selbst oft darstellt. Eine Gefährdung sieht Schlamelcher darin, dass kirchliche Leitungsgremien die Sozialform der Organisation an die Stelle gemeinschaftsbildender Prozesse in der Kirche stellen: »Für eine tiefenstrukturell profilierte Kirche ist soziale Schliessung – sind Vergemeinschaftung und Gemeindeentwicklung – unabdingbar. Entsprechend besteht die Gefahr, dass die Kirchenleitungen durch die diskursive Abwertung und infrastrukturelle Schwächung geschlossener Sozialformen die kirchliche Basis untergraben. Gemeinschaft und Gemeinde sind die zentralen, für die Kirche unverzichtbaren Sozialformen; nur in diesen, und nicht in den bürokratisierten Leitungsgremien, findet religiöse Kommunikation statt.«91
3.3.3 Bietet die Organisation nicht doch Möglichkeiten, um Gemeinschaft zu generieren? Es drängt sich die Frage auf, ob eine als Organisation kommunizierende Kirche nicht auch die Möglichkeit von Gemeinschaftserfahrungen bietet. Organisationen zielen zwar nicht auf Gemeinschaftserfahrungen. Sie setzen aber Lebenswelt voraus. Luhmann nennt Organisationen eine »Annahme« darüber, wie es sich mit der Wirklichkeit verhält. »Organisationen sind insofern soziale Systeme, die sich erlauben, menschliches Verhalten so zu behandeln, als ob es ein Entscheiden wäre. Die soziale Realität des Entscheidens in Organisationen wird somit als eine bloße Annahme oder Unterstellung oder Suggestion der am System Beteiligten aufgefasst. Ein Mindestmaß an psychisch fundierter Realität muss natürlich vorliegen – so wie alle Generalisierungsleistungen ›real assets‹ (Parsons) voraussetzen. […] Organisation ist nach diesem Begriff keineswegs eine bloße Fiktion ihrer selbst, wohl aber auf der Ebene ihrer Elemente eine erfolgreich durchgesetzte Unterstellung mit einer dafür ausreichenden Deckung durch Realverhalten.«92
Organisationen können also durchaus zu Orten der Gemeinschaftserfahrung werden. Sie tragen die Möglichkeit zur Interaktion im Luhmannschen Sinne in sich. Luhmann hatte sich zwar gegen eine Analogisierung der Interaktion zum Lebenswelt- und damit zum Handlungsbegriff gesperrt. Organisation und In-
90 Schlamelcher, The Decline of the Parishes, 2013, 59–61. 91 Schlamelcher, Kirchliche Vergemeinschaftungsformen, in: Evangelische Theologie 6/2010, 439–450, 449. 92 Luhmann, Organisation und Entscheidung, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 3, 1981, 335–389, 354.
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teraktion sind aber keine in sich geschlossenen Entitäten. Lediglich aus dem Fokus des Beobachters, aus der Theorieperspektive, ergibt sich die Abgrenzung. Auch wenn Gemeinschaft nicht angestrebt wird, kann sich in organisierten Veranstaltungen eine Erfahrung von Gemeinschaft einstellen. Schlamelcher stellt das am Beispiel eines Citykirchen-Angebots dar. Die von ihm empirisch untersuchten Veranstaltungen können Gemeinschaftsgefühle entstehen lassen, behalten aber grundsätzlich den Charakter einer warenförmigen Sozialbeziehung.93 Schlamelcher zufolge beruhen die Veranstaltungen der von ihm untersuchten Citykirche auf dem Verhältnis von Anbieter und Kunde. Das Gemeinschaftsgefühl bleibt auf das Ereignis und die Zeit, in der es stattfindet, beschränkt. Die mit dem Ereignis verbundenen Erfahrungen lassen sich wiederholen, indem man die Teilnahme am Ereignis wiederholt.94 Die Erwartung, dass sich Menschen über das Citykirchenangebot hinaus an weiteren Sozialverhältnissen beteiligen, trifft nicht zu: »This is due to the fact that people attracted by the events of the city church will not then move on into any of the ›inner spaces‹ of the church, for example, by becoming a member of the parish; people who are attracted will simply return to these regular events and become regular guests. Thus, instead of functioning as a threshold, the city church actually creates a new space within the church. This space is characterised by a genuine social form and genuine religious content.«95
Deutlich höhere Erwartungen an die Möglichkeiten einer Citykirche formuliert der Zürcher Pfarrer Christoph Sigrist. In Citykirchen kommen Menschen »zum Dialog und zur Auseinandersetzung« zusammen.96 Das wäre soziologisch gesprochen bereits eine Teilhabe an einem gemeinsamen Wissensbestand der Kirche und deutlich mehr und anderes, als Schlamelcher beobachtet.
4
Merkmale der Gemeinde als Lebenswelt
Gemeinde lässt sich systemisch – also in ihrer Kommunikation als gesellschaftliches Teilsystem – und als Lebenswelt ihrer Glieder betrachten. Wir haben von zwei verschiedene Perspektiven auf ihr kommunikatives Handeln gesprochen.97 Was sind Kennzeichen dafür, dass eine Gemeinde tatsächlich als Lebenswelt ihrer Mitglieder kommuniziert? Wie gestaltet sich die Kommunikation aus Sicht der Gemeindeglieder?
93 94 95 96 97
Schlamelcher, Kirchliche Vergemeinschaftungsformen, 2010, 439–450, 448. Schlamelcher, The Decline of the Parishes, 2013, 53–67, 65. Ebd., 64. Sigrist, a. a. O., 40 und 43. Kap. III.1 Unterscheidung von lebensweltlicher und systemischer Kommunikation.
200 4.1
Gemeinde als Lebenswelt verändert sich
Gemeinde als ein Ort ganzheitlichen Lebens
Wenn die Kirche als Organisation kommuniziert, kann das nie in einer Perspektive von Ganzheit und Fülle geschehen. Organisationen kommunizieren spezialisiert und zweckorientiert. Als Lebenswelt ihrer Mitglieder aber kann und muss eine Gemeinde auf die Fülle Gottes verweisen und Teilhabe an Erfahrungen von Fülle ermöglichen.98 Das Verständnis von Ganzheit ist theologisch begründet, denn alle Glieder der Gemeinde werden als Glieder am Leib Christi verstanden.99 In ihrem Handeln machen sie Erfahrungen mit der Ganzheit und Fülle in Jesus Christus. »Um es praktisch auszudrücken: in einer Gemeinde gehören Singen, Theologisieren, Arbeiten, Feiern, Lieben, Betreuen, Lehren usw. zu den Tätigkeiten, die allen offen stehen, die von allen auch praktiziert werden sollten, wie unprofessionell es auch ist.«100
So lässt sich die Teilhabe in evangelischer Perspektive beschreiben.101 Die Gemeinde wird von ihren Mitgliedern als ein Ort symbolischer Interaktion und Ganzheit erfahren. Sie erleben Gemeinde als »Aufhebung gesellschaftlicher Differenzierungen«.102 Ihre Mitglieder kennen einander als ›ganze‹ Menschen und nicht in der Festlegung auf ihre gesellschaftlichen Rollen. Die Beteiligung der Gemeindeglieder an den Grundvollzügen gemeindlichen Lebens beruht nicht auf Voraussetzungen.103 Das meint vor allem, dass Gemeinde als Lebenswelt einer Professionalisierung ihrer Grundvollzüge widersteht. Das meint aber auch, dass Erfahrungen von Ganzheit nicht eine umfassende soziale Einbindung der Einzelnen voraussetzen. Die kirchlichen Sozialformen dürfen keinen Anspruch auf das ganze Leben der Gemeindeglieder erheben: »Die Einsicht, dass die christliche Botschaft den ganzen Menschen meint, darf nicht mit einem Anspruch der kirchlichen Sozialformen auf das ganze Leben von Menschen verwechselt werden.«104
Gemeinde versteht sich zwar als Lebenswelt ihrer Mitglieder, wird aber diese Lebenswelt nicht mit einer Fülle von Sozialformen durchdringen. Erfahrungen 98 Kap. II.1.5.2 Alle Gemeindeglieder haben an Jesus Christus teil. 99 Zur Teilhabe am Leib Christi siehe Frage 55 im Heidelberger Katechismus, Péry (Hg.), 1963, 75. 100 Wagner, a. a. O., 117. 101 Teilhabe stellt sich konfessionell unterschiedlich dar. Die Liturgie der orthodoxen Kirchen verspricht Erfahrungen der Fülle durch die Teilhabe der Gottesdienstgemeinde an der Feier des himmlischen Gottesdienstes. Zur Göttlichen Liturgie, siehe Diedrich, Das Glaubensleben der Ostkirche, 1989, 49. 102 Wagner, a. a. O., 117. 103 Vgl. Kap. II.2.8.1 Das Amt ruht auf der Gemeinde und Kap. II.2.8.2 Gemeindeglieder beteiligen sich an pastoralen Aufgaben. 104 Pohl-Patalong, Von der Ortskirche zu kirchlichen Orten, 2. Aufl. 2006, 135.
Merkmale der Gemeinde als Lebenswelt
201
von Ganzheit werden durch die Deutung der Beteiligung als einer ›Teilhabe am Ganzen‹ begründet.
4.2
Gemeinde schützt ihre Kommunikation vor Systeminteressen
Der Gemeinde als Lebenswelt droht wie auch anderen Lebenswelten eine Fremdbestimmung durch wirtschaftliche Imperative. Kirchgemeinden sind dem Druck durch sinkende Mitgliedsbeiträge und Haushaltseinnahmen ausgesetzt. Sie stehen vor der Frage, mit welchen Mitteln sie die gegenwärtige Gestalt ihrer Gemeinde aufrechterhalten können. Das sind Systeminteressen. Die Spannung zwischen Systeminteressen und Lebenswelt, kann man auch anhand zweier Pole beschreiben, die Kunz Ökonomisierung und Gemeindeaufbau nennt.105 Wenn Systeminteressen bzw. Ökonomisierung die Kommunikation der Gemeinde bestimmen und auf eine Suche nach Problemlösungen reduzieren, ist die Gemeinde als Lebenswelt ihrer Mitglieder gefährdet. Kirchenmitglieder sind mit dem Erhalt der Systemgestalt beschäftigt und zweckrationale Begründungszusammenhänge gewinnen an Gewicht.106 Möglicherweise gewichten Gemeindeglieder den Erhalt der Systemgestalt so hoch, dass sie das Bestehen der Gemeinde davon abhängig glauben.107 Schlamelcher weist auf ein zweites Phänomen hin. Gemeinden würden Systeminteressen nicht nur zu hoch bewerten, sondern sie andererseits auch ignorieren. Das geschieht, wenn sie sich durch die offensichtliche Unwirtschaftlichkeit ihres Tuns nicht beeindrucken lassen.108 Gemeinde als Lebenswelt kann ihre ökonomischen Gegebenheiten nicht übergehen. Kirchen müssen »›markttauglich‹ werden, ohne ihr Bekenntnis zu verlieren«.109 Ob Gemeinden markttauglich sind zeigt sich für den Theologen Alex Kurz darin, dass sie den Kriterien von Verständlichkeit und »Tauglichkeit« bei der Gestaltung von Lebenspro-zessen Genüge tragen.110 Ralph Kunz will den Zwang zur Ökonomisierung nicht als ein Diktat verstehen, sondern als eine Gelegenheit dafür, dass Gemeinden Strukturanpassungen in den Blick nehmen. 105 Kunz, Grenzen der Vermarktung, in: Famos/Kunz, Kirche und Marketing, 2006, 29–46. 106 So argumentiert auch Hermelink, vgl. Kap. II.3.2.3 Gefährdungen, wenn die Kirche als Organisation zum Ausgangspunkt einer Kirchentheorie wird. 107 Die Beschreibung dieser Gefährdung ist nicht neu. Bonhoeffer schreibt: »Die Kirche kann ihren Raum auch nur dadurch verteidigen, dass sie nicht um ihn, sondern um das Heil der Welt kämpft.« Bonhoeffer, Ethik, 1981, 215. 108 Schlamelcher, Ökonomisierung der Kirchen?, in: Hermelink/Wegner (Hg.), Paradoxien kirchlicher Organisation, 2008, 145–177, 163. 109 Kurz, Zeitgemäss Kirche denken, 2007, 121. 110 Ebd., 121.
202
Gemeinde als Lebenswelt verändert sich
Auch er sieht es nicht als zwangsläufig, dass ökonomische Anpassungen zu einer Marktförmigkeit der Kirchen führen.111
4.3
Gemeinde als Ort mit Konfliktfähigkeit
Stellt Gemeinde tatsächlich eine Lebens- und Sozialwelt von Menschen mit unterschiedlichen Lebensformen dar, dann wird sie mit Notwendigkeit ein Ort sein, an dem Konflikte ausgetragen werden. Mitglieder der Gemeinde leben mit unterschiedlichen Wertorientierungen, zeichnen sich durch unterschiedliche Herkunft und Lebensführung aus – und teilen als Gemeinde Lebenswelt. Eine solche Gemeinde muss Timothy Keller zufolge sensibel (»extremely cultural sensitive«) sein.112 Das meint, dass Mitglieder der Gemeinde kein Verhalten für selbstverständlich halten dürfen; dass zudem jedes Missverständnis für möglich gehalten werden muss. Ähnlich formuliert das John T. Finney, ehemaliger Bischof der Church of England.113 Unterschiedliche Lebensformen lösen Irritationen oder Widerspruch aus, so dass es Gemeinden in postmoderner Gesellschaft nicht ohne ein hohes Mass an Konfliktfähigkeit geben kann. Gemeinden erweisen sich als Lebenswelt ihrer Mitglieder, ➤
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indem diese an der symbolischen Ganzheit in Jesus Christus beteiligt werden. Die Darstellung von Ganzheit geschieht nicht durch eine möglichst umfassende Beteiligung der Einzelnen an Aufgaben und Diensten, sondern fragmentarisch und durch die geglaubte Teilhabe ›am Ganzen‹. indem ihre Mitglieder einem Zwang zur Professionalisierung gemeindlicher Grundvollzüge widerstehen. indem die tatsächlichen Lebensvollzüge der Gemeinde dem Erhalt der aktuellen Systemgestalt vorgeordnet werden. indem die Mitglieder die Verschiedenheit ihrer Lebensformen für ›normal‹ halten und einander mit Sensibilität und Geduld begegnen.
111 Kunz, Grenzen der Vermarktung – Marketing zwischen Ökonomisierung und Gemeindeaufbau, in: Famos/Kunz, Kirche und Marketing, 2006, 29–46, 39. 112 Keller, Urban Mission, 2010, Vortrag: http://missionalchurchnetwork.com/tim-keller-urban-mission. 113 Finney, Wie Gemeinde über sich hinauswächst, 2007, 149.
Neue Formen von Vergemeinschaftung entstehen
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203
Neue Formen von Vergemeinschaftung entstehen
Dass sich Gemeinde als Lebenswelt verändert, wurde vor allem unter dem Aspekt betrachtet, dass die Kirche in ihrer Sozialgestalt als Institution an Bedeutung verliert und Kirchgemeinden die Aufgabe zuwächst, sich in die lebensweltliche Kommunikation einer Subkultur einzuüben.114 Gesellschaftliche Sozialverhältnisse verändern sich aber auch dahingehend, dass Menschen sich anderen Formen von Vergemeinschaftung zuwenden.115 Im Zusammenhang der Grossthematik Religion sind Szenen Ausdruck der Neigung, »religiös-charismatische Erfahrungen ›auf eigene Faust‹ und in erlebnisaffinen Formen zu suchen, ausserhalb oder auch innerhalb der Kirchen«.116
5.1
Szenen als postmoderne Form von Vergemeinschaftung
Neue Formen von Vergemeinschaftung werden in der Soziologie vor allem unter dem Stichwort der Szene abgehandelt. Szenen sind an einzelne Lebensphasen gebundene Formen von Vergemeinschaftung. In der Darstellung von Szenen beziehe ich mich auf Veröffentlichungen von Ronald Hitzler und der Dortmunder soziologischen Forschungsgemeinschaft.117 »Unter einer Szene soll verstanden werden: Eine Form von lockerem Netzwerk; einem Netzwerk, in dem sich unbestimmt viele beteiligte Personen und Personengruppen vergemeinschaften. In eine Szene wird man nicht hineingeboren oder hineinsozialisiert, sondern man sucht sie sich aufgrund irgendwelcher Interessen selber aus und fühlt sich in ihr eine Zeit lang mehr oder weniger ›zu Hause‹. Eine Szene weist typischerweise lokale Einfärbungen und Besonderheiten auf, ist jedoch nicht lokal begrenzt sondern, zumindest im Prinzip, ein weltumspannendes, globales – und ohne intensive InternetNutzung der daran Beteiligten zwischenzeitlich auch kaum noch überhaupt vorstellbares – Gesellungsgebilde.«118
114 Vgl. Kap. III.3 Gemeinde als Lebenswelt verändert sich. 115 Das zeigt sich möglicherweise auch an neuen, praktisch-theologisch wenig untersuchten Gottesdienstformen. Kunz, Neue Gottesdienste braucht das Land, in: Schweyer, Stefan (Hg.), Freie Gottesdienste zwischen Liturgie und Event, 2012, 59–73, 60. 116 Gebhardt u. a. (Hg.), Megaparty Glaubensfest, 2007, 215. 117 Hitzler, Brutstätten traditionaler Vergemeinschaftung, in: Hitzler u. a. (Hg.), Posttraditionale Gemeinschaften. 2008. Hitzler/Niederbacher, Leben in Szenen, 2010. Hitzler u. a. (Hg.), Posttraditionale Gemeinschaften, 2008. 118 Hitzler/Niederbacher, Leben in Szenen, 15. Beispiele für gesellschaftliche Szenen stellt Hitzler in alphabetischer Folge im 2. Kapitel Szenedarstellungen dar, 33–182.
204
Gemeinde als Lebenswelt verändert sich
5.1.1 Szenen verführen zur Zugehörigkeit und sind instabil Die Zugehörigkeit zu Szenen beruht auf Freiwilligkeit und auf gemeinsamer Gesinnung der Beteiligten. Wer sich einer Szene anschliesst, kann sie mit geringem Aufwand auch wieder verlassen. Mitgliedschaftsfragen sind kein vorrangiges Thema: »In posttraditionale Gemeinschaften tritt der Einzelne typischerweise freiwillig, absichtlich und ohne viel Aufhebens ein und ebenso (relativ) problem- und folgenlos tritt er auch wieder aus ihnen aus. Die zeitlichen ebenso wie die sozial-räumlichen Grenzen posttraditionaler Gemeinschaften verfliessen folglich nach Innen ebenso wie nach Außen. Nicht nur deshalb können posttraditionale Gemeinschaften die Frage der Mitgliedschaft nicht wirksam sanktionieren.«119
Die Beteiligung in Szenen setzt nicht unbedingt konkrete Interessen voraus. Szenen können auch dazu verführen, Interessen zu haben. Manche Soziologen sprechen im Blick auf Events sogar von einem gezielten »Aufbau von Erwartungen«.120 Unter Events werden Höhepunkte gemeinsamen Erlebens verstanden. Sie erzeugen Interesse durch den starken affektiven Zusammenhalt der Beteiligten.121 »Zur Teilhabe an Szenen werden Menschen […] vielmehr ›verführt‹, weil in Szenen bestimmte Interessen, Neigungen, Orientierungen gepflegt und unterstützt werden, die sich im wesentlichen im Rahmen von Großthematiken wie Musik, Sport, Mode und neue Medien verorten lassen.«122
Anders als Institutionen sind Szenen instabil. Ihre Grenzen sind fliessend. Die Einzelnen müssen ihre Zugehörigkeit nicht erklären, können sich beteiligen und wieder distanzieren. Ob Szenen Zulauf haben, ist vor allem für diejenigen von Interesse, die Szenen organisieren. Szenen bestehen oft aus ›Organisationseliten‹, die wirtschaftlich von der Teilnahme der Anderen profitieren und um die herum sich sogenannte ›Freunde‹ und Szenegänger gruppieren.123
5.1.2 In Szenen vergewissern sich Menschen ihrer Identität So wie Institutionen ein gesellschaftliches Sinnreservoir darstellen und auch Organisationen der Lebensbewältigung und -deutung dienen können, helfen auch Szenen zur Konstruktion von Sinn. Sie können zu einer Ablösegestalt von Institutionen werden. 119 Ebd., 17. 120 Schmidt/Binder/Deppermann, Wie ein Event zum Event wird, in: Gebhardt u. a. (Hg.), Events. Soziologie des Aussergewöhnlichen, 2000, 115–136, 117. 121 Kirchner, Eventgemeinschaften, 2011, 24. 122 Ebd., 20. 123 Hitzler, Leben in Szenen, 2010, 23 (Schaubild zur inneren Struktur von Szenen).
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Szenen sind Erfahrungsräume, die »die Entwicklung von Werthaltungen, (Entscheidungs-) Kompetenzen, Verhaltensweisen, Deutungsmustern oder gar von ganzen ›Sinnwelten‹ (vgl. Hitzler 1988) angesichts dieser anspruchsgeladenen und zugleich risikoanfälligen Situation massgeblich beeinflussen.«124
Weil Szenen instabil sind, müssen sich die Beteiligten fortwährend ihrer gemeinsamen Identität versichern. Das geschieht bevorzugt durch Events, die eine verdichtete Erfahrung darstellen. Events kommt in Szenen eine ähnliche Funktion zu wie den Kasualien in einer als Institution wahrgenommenen Kirche. Events markieren einen herausgehobenen, erinnerbaren Moment. Sie helfen bei der Lebensdeutung und grenzen Teilnehmende von Nicht-Teilnehmenden ab: »Populäre Events nehmen keine zentrale Position in der Gesellschaft ein, jedoch verfügen sie durchaus über dominierendes Potenzial für einen Teil der Gesellschaft, nämlich für Szenen oder spezielle Fankulturen, da sie hier aktuelle und situative Sinndeutungen anbieten. […] Events harmonisieren nicht die Gesellschaft wie Feste, sondern polarisieren, da sie einen Kulminationspunkt für segmentär-kulturelle Verdichtungen darstellen. Sie festigen Beziehungs- und Kommunikationsnetzwerke innerhalb jener Verdichtungen und ziehen gleichzeitig strikte Grenzen aufgrund ihrer Exklusivität.«125
Identität bildet sich in Szenen anders als in traditionalen Gemeinschaften. Mit Bellah/Merz-Benz hatten wir in traditionalen Gemeinschaften das Entstehen einer zweifachen Identität beschrieben.126 Wir hatten unterschieden zwischen einer ersten Sprache, die Menschen in Gemeinschaften lernen. Diese haben wir als die des selbstbewussten Individuums bezeichnet. Die zweite Sprache war die der Erinnerungsgemeinschaften und ihrer Loyalitäts- und Verpflichtungsmuster: die des ausgebildeten Selbst. In Szenen wird – anders als in traditionalen Gemeinschaften – die Sprache des selbstbewussten Individuums eingeübt. Loyalitäts- und Verpflichtungsmuster spielen eine schwache oder völlig untergeordnete Rolle.127 Unter Loyalität und Verpflichtung wird die Übernahme von
124 125 126 127
Hitzler/Niederbacher, Leben in Szenen, 2010, 14. Kirchner, a. a. O., 23. Vgl. Kap. I.3.6 Gemeinschaften erneuern sich im Vollzug des Erinnerns. Identitätsbildung geschieht abhängig davon, in welchen gesellschaftlichen Zusammenhängen Menschen ihr Selbst ausbilden. Bilden die Einzelnen ihr Selbst überwiegend (1) in traditionalen Gemeinschaften (beispielsweise der Familie), dann können sie die soziale Verpflichtung schwer kündigen. Diese wird aber auch als tragend empfunden. Bilden die Einzelnen ihr Selbst wesentlich (2) mit Hilfe von Organisationen (beispielsweise in einer wöchentlichen MeditationsGruppe), dann dürfte die soziale Verpflichtung auf denjenigen ›Bereich‹ bezogen bleiben, für den die Gruppe verpflichtet und bezahlt wird. Verpflichtungen gegenüber Organisationen sind an die Dauer der Mitgliedschaft gebunden, so dass es um zeitbedingte Verpflichtung und nicht um Loyalität im eigentlichen Sinne geht. Wird das »ausgebildete Selbst« wesentlich (3) durch Zugehörigkeit zu einer Szene gebildet, bestehen die Verpflichtungsmuster und Loyalitäten gegenüber den Werten und Ausdrucksformen, die in der Szene verkörpert werden. Die Loyalität drückt sich in der Treue zur eigenen Gesinnung aus.
206
Gemeinde als Lebenswelt verändert sich
sozialer Verantwortung in der Alltagskommunikation verstanden. Kommen Menschen neu zur Szene hinzu, entsteht daraus keine soziale Verpflichtung für diejenigen, die der Szene angehören. Wird in Szenen Verantwortung übernommen, dann entscheidet das ›selbstbewusste Individuum‹ – und nicht das ›ausgebildete Individuum‹ – für wen und wann es Verantwortung übernimmt.128 Gesinnungsgemeinschaften wohnen kaum soziale Verpflichtungen inne. Hitzler spricht deswegen von Genossenschaften statt von Gemeinschaften, um die niedrige Verbindlichkeit auszudrücken.129
5.2
Szenen und Milieus
Szenen sind als soziales Verhältnis in der Praktischen Theologie weniger erforscht als die Bedeutung von sozialen Milieus.130 Milieustudien sollen helfen, Lebensstile wahrzunehmen und zu verstehen.131 Gesellschaftliche Milieus beschreiben gruppenspezifische Verbindlichkeiten, die wesentlich durch soziale Herkunft gebildet, also vorgefunden werden. Sie geben Auskunft über das Zusammenspiel von sozialen Verhältnissen, Wertorientierungen und Gewohnheiten. »Mit dem Ausdruck ›Milieus‹ sind Kontexte und Zusammenhänge bestimmter Bevölkerungsgruppen gemeint, die sich durch ähnliche Lebensbedingungen (soziale Lage im vertikalen sozialen Raum), Lebenserfahrungen, Lebensauffassungen, Lebensweisen, Lebensstile und Lebensführungen (drei kulturelle Lagen im horizontalen Raum) ausweisen.«132
Milieus und soziale Lagen beschreiben ähnliche »objektive Bedingungen«, aber berücksichtigen gleichzeitig die »subjektive Interpretation dieser Bedingungen«.133 Mit Hilfe von Sinus-Milieu-Studien lassen sich gesellschaftliche Veränderungen erkennen.134 Szenen stellen dagegen eine Form von Vergemeinschaftung dar, die auf gemeinsamen Interessen, gemeinsamer Gesinnung und Ästhetik und einer Entscheidung zur Teilnahme beruht. In Szenen kommunizieren Menschen miteinander, gerade um in bestimmten Lebensphasen Gemeinschaft zu erleben und 128 Vgl. Kap. I.4.1 Nicht Unverbindlichkeit, aber selbst gewählte Verbindlichkeit. 129 Hitzler/Niederbacher, Leben in Szenen, 2010, 14. 130 Ein Überblick über die sogenannten Sinus-Milieus in der Schweiz findet sich in Diethelm u. a. (Hg.), Lebenswelten, 2012, 99. 131 Bieger u. a., Pastoral im Sinus-Land, 2. Aufl. 2008, 142. 132 Ebertz, Anlassgottesdienste, 2006, 10. Quelle: www.milieus-kirche.de/dokumente/ Anlassgottesdienste.pdf. 133 Groß, Klassen, Schichten, Mobilität, 2008, 105. 134 Für Deutschland siehe Veränderungen der »Milieu-Landschaft« zwischen 2001 und 2010 bei Hempelmann, Gott im Milieu, 2013, 56–68. Hempelmann meint, dass die Veränderungen etwas über die »Gewinner und Verlierer der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der letzten Dekade« sagen. Ebd., 67.
Neue Formen von Vergemeinschaftung entstehen
207
sich dabei ihrer Identität zu vergewissern. Szenen sind Lebenswelten, die vom Handeln ihrer Akteure bestimmt werden. »Szenen sind […] bestehende soziale Gruppen, die in Beziehung zueinander stehen und in der Realität auffindbar sind – im Gegensatz zum Lebensstil, der auf einen fiktiven personalen Prototypus rekurriert und keine Beziehungsmuster zwischen Subjekten impliziert.«135
Szenen können zum Gegenstand einer Handlungstheorie werden. In systemischer Perspektive wiederum nehmen Szenen ähnliche Funktionen wie Milieus wahr. »Sie stellen jeweils einigermassen plausibilisierbare Repertoires an Relevanzen, Regeln und Routinen zur Verfügung […].«136
5.3
Kommunikations- und Wissensgemeinschaften
Wir haben traditionale Gemeinschaften als Wissensgemeinschaften charakterisiert. Nur wo Wissen kommuniziert wird, kann eine Gemeinschaft als Erinnerungsgemeinschaft im Sinne Bellahs fungieren, denn Vergewisserung bedarf des Wissens.137 Szenen dagegen sind vorrangig Kommunikationsgemeinschaften, in denen Zugehörigkeit nicht auf Traditionen und gemeinsamem Wissen beruht.138 Prozesse gemeinsamen Erinnerns treten in Szenen zugunsten des gemeinsamen Erlebens in den Hintergrund. »Der Begriff der Szene markiert vor allem die zentrale Bedeutung von Kommunikation und Interaktion. Da nämlich Szenen nur selten – und auch dann allenfalls bedingt – aus kollektiv auferlegten Lebensumständen resultieren, ist ihre Existenz gebunden nicht nur – wie die aller Peer-Groups – an die ständige kommunikative Vergewisserung, sondern vielmehr an die ständige kommunikative Erzeugung gemeinsamer Interessen seitens der Szenegänger: Im – sinnlich erfassbaren – Gebrauch szenetypischer Symbole, Zeichen und Rituale inszenieren diese ihre eigene Zugehörigkeit und konstituieren tatsächlich zugleich, sozusagen ›beiläufig‹, die Szene.«139
Robert Bellah hat gefragt, was eine Kultur zusammenhält, die nicht mehr durch Traditionen verbunden ist. Er nennt zwei Formen der Integration, die sich aus utilitaristischem und expressivem Individualismus ableiten lassen: Die erste Form des Individualismus ist durch den Traum vom persönlichen Erfolg gezeichnet. Konsumgüter werden zu Symbolen unserer Auffassung vom guten Leben. In der zweiten Form, nämlich im expressiven Individualismus, entstehen 135 136 137 138 139
Hitzler, Brutstätten traditionaler Vergemeinschaftung, 2008, 59. Hitzler u. a., Zur Einleitung: ›Ärgerliche‹ Gesellungsgebilde?, 2008, 18. Frettlöh, a. a. O., 63. Hitzler u. a., Zur Einleitung: ›Ärgerliche‹ Gesellungsgebilde?, 2008, 21. Hitzler/Niederbacher, Leben in Szenen, 2010, 17.
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Gemeinde als Lebenswelt verändert sich
Verbindungen durch die mediale Portraitierung von Gefühlen lebendiger Menschen: In ihrem Denken mögen sich Menschen voneinander unterscheiden, aber in ihren Gefühlen wissen sie sich einander verbunden.140 In Szenen leben Menschen überwiegend einen expressiven Individualismus. Die Kirche befindet sich in einer gesellschaftlichen Situation, die zumindest im Bereich der Freizeitgestaltung durch einen Zuwachs an Kommunikationsgemeinschaften bestimmt wird. Die Kirche bleibt aber genuin eine Wissensgemeinschaft, obwohl sie – vielleicht sogar von ihren eigenen Mitgliedern – als Teil der Freizeitgestaltung verstanden wird.
140 Bellah u. a., Gewohnheiten des Herzens, 320. Ähnliche Beobachtungen zum expressiven Individualismus macht Ebertz, Kirche im Gegenwind, 1997,129–130.
Teil B: Zur Praxis lebensweltlicher Kommunikation
Zugehörigkeitserfahrungen wurden als eine Frage nach der Gemeinschaftsgestalt der Kirche behandelt und diese stand als eine Erfahrungswirklichkeit im Zentrum der Untersuchung. Methodisch wurde Gemeinde deshalb als Lebenswelt ihrer Mitglieder in den Blick genommen. Theologisch habe ich die Kirche in ihrer Gemeinschaftsgestalt als Weggemeinschaft der Hoffnung präzisiert, die sich für ihre Mitglieder in den Beziehungsfeldern der Gemeinde als Leiturgia, Koinonia und Diakonia konkretisiert.1 Im Praxisteil der Arbeit werden Handlungsorientierungen für eine in den kommunikativen Strukturen einer Weggemeinschaft der Hoffnung verstandenen Gemeinde vorgestellt (Kapitel V). Im Schlusskapitel bespreche ich Formen der Kommunikation, die mobilen Menschen einen Zugang zu Gemeinschaftserfahrungen erleichtern können (Kapitel VI). Das sind • medial vermittelte Kommunikation in Internetforen und Chats usw. • als Weggemeinschaften verstandene Kleingruppen innerhalb einer Ortsgemeinde, in denen sich die Beteiligten ihren Lebensformen entsprechend selbst organisieren. • Eventvergemeinschaftungen wie Kirchentage Den Handlungsorientierungen ist eine Beschreibung laufender Praxis beigefügt. Ich habe Mitglieder der Berliner Kirchgemeinde Berlinprojekt nach ihrem Ortswechsel befragt, wie sie die neue Kirchgemeinde gefunden haben. Wie hat sich aus ihrer Sicht der Erwerb von Zugehörigkeit zur neuen Gemeinde vollzogen?
1 Kap. III.2.2 Gemeinde als Lebenswelt ihrer Glieder – ihre drei Beziehungsfelder.
IV
Eine Beschreibung laufender Praxis
Methodisch erheben die Interviews keinen Anspruch auf Theoriebildung. Sie sind eine Beschreibung laufender Praxis.1 Die in drei Interviewgruppen befragten Mitglieder der Gemeinde Berlinprojekt haben über ihre Suche nach einer neuen Gemeinde, über ihre Erfahrungen mit dem Gottesdienst, besonders mit der Predigt und der Feier des Abendmahls gesprochen. Ich habe von meinen Interviewpartnerinnen und -partnern Angaben zum Alter, Beziehungsstatus und Beruf, zum genauen Wohnort, den Gründen für den Zuzug nach Berlin und zur Kirchenmitgliedschaft erfragt. Für eine quantitative Befragung im Anschluss an Gottesdienste oder grössere Veranstaltungen der Gemeinde war ich auf die Genehmigung durch die Gemeindeleitung angewiesen. Diese wurde mir nicht gegeben – dazu später. Mir wurden aber Interviews mit den Gemeindegliedern ermöglicht: Die Gemeindeleitung stellte mir die Kontaktdaten von Ansprechpartnerinnen und –partnern in Bibelgesprächsgruppen (›Sofagruppen‹) zur Verfügung. Die in den Kapiteln V und VI angeführten Interviewauszüge können und sollen die Handlungsorientierungen nicht verifizieren. Sie können aber illustrieren, wie nach einem Ortswechsel Gefühle von Zugehörigkeit zu einer Kirchgemeinde entstehen.2
1 Das wäre in einer explorativen Studie der Fall. Eine solche wird durchgeführt, wenn der zu untersuchende soziale Bereich relativ unbekannt ist, und man Hypothesen gewinnen will. Vgl. Diekmann, Empirische Sozialforschung, 20. Aufl. 2009, 34. 2 Pohl-Patalong befragt in Gottesdienst erleben, 2011, 22 Personen auf ihre Gottesdiensterfahrungen. Sie entwickelt Kategorien für die Auswertung der Interviews, indem sie unter Einbeziehung ihres Vorwissens, der gegenwärtigen gottesdienstlichen Diskurskultur und der durchgeführten Interviews herauszuhören sucht, welche »Themen und Aspekte [sich] herauskristallisierten, die potentielle Kategorien darstellten«. Ebd., 77.
212
1
Eine Beschreibung laufender Praxis
Das Berlinprojekt – eine Gemeinde mit mobilen Menschen
Die Wahl der Kirchgemeinde entscheidet bereits mit darüber, welche Kriterien die Befragten für den Erwerb von Zugehörigkeit in den Interviews nennen werden. Ich suchte Kontakt zu einer Kirchgemeinde, in deren Territorium tatsächlich ein hoher Anteil an mobilen Menschen zu erwarten ist. Die Gemeinde Berlinprojekt hat ihren Sitz in einem Berliner Bezirk mit einer hohen jährlichen Fluktuation der Einwohnerinnen und Einwohner.3 Die Einwohnerstatistik des Bezirks Berlin-Prenzlauer Berg weist aus, dass im Laufe eines Kalenderjahres jeder vierte Einwohner im Stadtteil zu- oder fortzieht. «Pro Jahr gibt es im Stadtteil rund 40‘000 Zu- und Fortzüge.« Bei 155.336 Einwohnern (30. Juni 2014) betrifft das etwa 25 % der Bevölkerung. Berlin-Prenzlauer Berg hat zudem einen sehr hohen Prozentsatz an jungen Bewohnerinnen und Bewohnern.4 In der Statistik sind die nicht-gemeldeten Zuzüge nicht mit berücksichtigt. Mindestens ein Viertel der Einwohnerinnen und Einwohner gehört damit der Gruppe von Menschen an, deren Lebensführung durch Umzugsmobilität beeinflusst ist. Die Merkmale der von mir interviewten Gemeindeglieder widerspiegeln die Einwohnerstruktur des Bezirks: Die Befragten sind überwiegend zwischen 20 und 35 Jahre alt, sind überwiegend akademisch gebildet und nicht verheiratet. Fast alle der von mir Befragten, nämlich 15 von 17 Personen, sind tatsächlich im Zuge der Ausbildung und Berufsfindung nach Berlin zugezogen.5 3 Die Gemeinde Berlinprojekt ist eine evangelische Freikirche und gehört dem Bund Freier evangelischer Gemeinden an. 4 Vgl. den wikipedia Artikel ›Berlin-Prenzlauer Berg‹ [Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/ Berlin-Prenzlauer_Berg. Stand vom 24. 10. 2014]. Im Abschn. ›Bevölkerung‹ heisst es: »Prenzlauer Berg als Ortsteil hat mit 155.336 Einwohnern (30. Juni 2014) die Dimension einer eigenen Grossstadt auf dem relativ kleinen Gebiet von 10,955 km². Die Bevölkerungsdichte gehört mit 14.179 Einwohnern/km² zu den höchsten in Berlin. […] Die Sozialstruktur des Gebiets befindet sich seit der Wende im Umbruch: Das ursprüngliche Berliner Arbeitermilieu wird zunehmend verdrängt. Auch die nachgezogene »alternative Szene« beginnt langsam höheren Einkommensschichten zu weichen – nicht zuletzt wegen der steigenden Mieten im Zuge umfangreicher Sanierungen (Gentrifizierung). Pro Jahr gibt es im Stadtteil rund 40.000 Zu- und Fortzüge. Seit der Wende hat nach Schätzungen 80 % der Bevölkerung gewechselt.[6] Seit Anfang der 1990er -Jahre hat sich die Anzahl der Bewohner mit Hochschulreife verdoppelt, in den teuersten Gegenden um Kollwitz- und Helmholtzplatz sind heute drei Viertel der erwachsenen Bewohner Akademiker. […]« Im selben Artikel, Abschn. ›Altersstruktur‹, heisst es: »In Prenzlauer Berg leben relativ viele junge Menschen: Vor allem Personen zwischen 20 und 44 Jahren sind im Vergleich zum Rest Berlins überdurchschnittlich oft vertreten (siehe Grafik). Dementsprechend gibt es auch einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Kindern unter drei Jahren. 47,9 % der Bevölkerung ist zwischen 25 und 45 Jahre alt (Berlin: 30,5 %; Deutschland: 25,8 %). […] Der Anteil an ledigen Personen (1991: 46,2 %) ist hoch.« 5 Nur zwei Personen in ›Sofagruppe B‹ sind nicht nach Berlin zugezogen.
Das Berlinprojekt – eine Gemeinde mit mobilen Menschen
213
Man wird die in den Interviews genannten Kriterien für den Erwerb von Zugehörigkeit also nicht ohne weiteres auf Menschen anderer Bevölkerungsschichten übertragen können. Die in den Interviews genannten Kriterien sind von jungen berufstätigen Menschen genannt worden, die sich als individualisiert, kreativ, mobil und entscheidungsgewohnt bezeichnen. Dass die Gemeinde Berlinprojekt bevorzugt mit ihnen als jungen und akademisch gebildeten Menschen Umgang pflegt, ist den Befragten bewusst. Sie verfügen über einen hohen Grad an Selbstreflexion. Sie unterstellen der Gemeindeleitung und besonders den Pastoren in dieser Hinsicht allerdings weniger Selbstreflexion. Diese hätten in den Jahren der Gründung (ab 2006) das Berlinprojekt auch als Nachbarschaftskirche – das heisst territorial bezogen – verstanden: Interviewerin: Ist das Berlinprojekt auch etwas für Leute aus der Nachbarschaft? Cäsar: Sie wären es gerne, aber sie sind es nicht. Arlette: Dafür ist Berlin auch zu flexibel. […] Die Leute wollen schon immer noch selber aussuchen. Wenn man eine Kirche hat und daneben einen Garten, dann geht das vielleicht (Pause).6 Wir haben das Kino und an der andern Stelle die Büros. Durch die Galerie vielleicht ein bisschen. Aber das Kino Babylon, wo man zum Gottesdienst hingeht, da hat man keinen Anknüpfungspunkt. [Sofagruppe A]
1.1
Die Gemeindeleitung lehnt eine quantitative Befragung ab
Die ursprüngliche Idee der Befragung war, in den zahlenmässig gut besuchten Veranstaltungen der Gemeinde – der sonntägliche Gottesdienstbesuch am Vormittag liegt verlässlich bei etwa 250–300 Personen – Daten zu erheben und die Teilnehmenden schriftlich auf ihre Umzugsmobilität und den Verlauf der Kontaktaufnahme zur Gemeinde hin zu befragen. Ich wollte sozialstatistisch das Alter, den Beziehungsstatus und Beruf, die Gründe für den Zuzug nach Berlin und die Kirchenmitgliedschaft erfragen. Das wurde mir verwehrt. Ich habe diese Absage im Nachhinein als einen Schlüssel zum Selbstverständnis der Gemeinde verstanden. Eine Befragung, die öffentlich wahrgenommen werden kann, wurde mir untersagt. Dabei meine ich, die Wertschätzung der Gemeindeleitung zu geniessen.7 6 Arlette meint, dann wäre es möglich, eine »Nachbarschaftskirche« zu sein. 7 Als Pfarrerin mit einem eigenen Gottesdienstprojekt in Berlin (bis 2013) bin ich mit den Gründungsmitgliedern der Gemeinde bekannt.
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Eine Beschreibung laufender Praxis
Im gleichen E-Mail wurde mir jedoch gestattet, in den Bibelgesprächskreisen der Gemeinde – den sogenannten ›Sofagruppen‹ – Interviews durchzuführen: ich solle selbst mit den Gruppen in Kontakt treten und mich mit den potenziellen Interviewpartnerinnen und -partnern einigen. Die Gemeindeleitung hat mir die Kontaktdaten zur Verfügung gestellt. Weil der E-Mail Verkehr aufschlussreich für das Selbstverständnis und die Struktur der Gemeinde Berlinprojekt ist, gebe ich Auszüge aus einer E-Mail wieder, die mir einer der beiden Pastoren im Zuge der Kontaktaufnahme geschrieben hat:8 Pastor: Liebe …9, danke für deine Email. Wir haben im Leitungskreis darüber gesprochen. Wir können dir vielleicht einen Kompromiss anbieten – lass mich vorher kurz erklären, was uns beschäftigt. Beim BP ist es uns extrem wichtig, die Leute nicht direkt zu befragen, wo sie stehen. Stehen in Bezug auf Jesus, die Gemeinschaft, das BP, den Glauben, ethische Punkte etc. […] Also im vertrauten Gespräch, wenn eine Nähe gewachsen ist, auf jeden Fall schon. Aber nicht einfach so durch Fremde oder unvertraute Funktionsträger oder Sonstige. Auch nicht institutionell. Wir vermeiden Formen und Situationen, wo die einen auf der einen und die anderen auf der anderen Seite stehen. Oder wo man sich unerwartet und plötzlich outen muss – es sei denn, man will sich outen. Es sei denn, man will das Bekenntnis machen. Oder will den nächsten Schritt zum BP suchen etc. […] Das ist ein Wert, der uns prägt. Deswegen fällt es uns sehr schwer, wenn Leute reinkommen und Dinge beobachten oder abfragen – und dabei eben Menschen befragen müssen. Aber wir haben über deine Liste geredet – und ich denke, wir können da eine Lösung finden. Ich schreibe mal meine Kommentare hinein. Immer hinter ein paar ****** Wenn du dir das angeschaut hast, kannst du ja einfach selbst entscheiden, ob es dann überhaupt noch interessant oder möglich für dich ist… LG, XX10 […] (Interviewerin hatte geschrieben:) Dabei wäre es für mich statistisch interessant, wieviel Prozent eurer Gottesdienstgemeinde z. B. in diesem Jahr zugezogen sind oder wegziehen werden und ähnliches. Beweglichkeit auch quantitativ an Zahlen festzumachen. Gerne würde ich eurem Gottesdienstheft eine (von euch vorher geprüfte und von mir bezahlte) Fragen-Ankreuzseite beilegen. Wenn ihr das nicht möchtet, dann nicht. 8 E-Mail vom 21. April 2010, 12.25 Uhr von XX, Pastor im Berlinprojekt, an die Verfasserin. 9 Mein Name als Interviewpartnerin. 10 Name eines Pastors des Berlinprojekts.
Das Berlinprojekt – eine Gemeinde mit mobilen Menschen
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Pastor:**** Hier kommt genau das Problem. Das würde genau etwas abfragen. Selbst wenn es anonym ist. Es würde danach riechen, als ob wir versuchen wollen, die Gemeinde zu durchleuchten. Für dich als Aussenstehende klingt das u. U. übertrieben, aber es widerspricht einfach unserer Gemeindekultur. Wir würden noch nicht mal selbst eine Umfrage machen für unsere Zwecke […] Leider haben wir selbst auch überhaupt keinen Überblick darüber – wir können das nicht abschätzen. Von daher ist die Frage, ob es überhaupt möglich ist für dich, das BP zu nehmen als Beispiel. Weil es praktisch nicht möglich sein wird, qualifizierte Daten zu erheben […]. Die Gemeindeleitung des Berlinprojekts will Menschen nicht auf ihren Glauben, ihre Einstellungen und ethischen Überzeugungen hin befragen. Sie will Situationen vermeiden, in denen sich Menschen als beurteilt erfahren. Solange sich die Teilnehmenden nicht selbst zu erkennen geben und ihren Wunsch nach Zugehörigkeit nicht selbst zur Sprache bringen («es sei denn, man will sich outen. Es sei denn, man will das Bekenntnis machen. Oder will den nächsten Schritt zum BP suchen etc.«), werden sie nicht in ein Gespräch gezogen. Erst wenn die Teilnehmenden selbst den Wunsch nach Zugehörigkeit äussern, wird ihnen die Möglichkeit zum Kontakt angeboten. Für diesen Kontakt gibt es dann sorgfältig entwickelte Sozialformen.
1.2
Den Wandel aus Sicht der Beteiligten beschreiben
Im Bereich des christlichen Glaubens haben sich festgefügte soziale Lebensformen und -welten aufgelöst – das ist Thema meiner Arbeit. Qualitative Befragungen dienen dazu, den gesellschaftlichen Wandel aus Sicht der Beteiligten zu beschreiben. Interessiert bin ich an Beschreibungen des «nicht mehr so Selbstverständlichen und des Neuen« und diese erhält man vor allem durch qualitative Forschung.11 Wenn sich «fest gefügte soziale Lebenswelten und -stile auflösen«, dann braucht es Forschungsstrategien, die «genaue und dichte Beschreibungen« sozialen Lebens liefern.12 Es gibt unterschiedliche Methoden, die Alltagspraxis zu unterschiedlichen Formen der Selbstdarstellung anzuregen. Das sind zum Beispiel die teilnehmende Beobachtung und das Gruppeninterview.13
11 Vgl. Lüders, Beobachten im Feld, 390. 12 Flick u. a., Was ist qualitative Forschung?, in: Flick u. a., Qualitative Forschung, 2003, 17. 13 Zur Geschichte der teilnehmenden Beobachtung vgl. Lüders, Beobachten im Feld, 385–389. Seit den 1960er Jahren wurde die teilnehmende Beobachtung zu einer eigenständigen sozialwissenschaftlichen Forschungsmethode. Die Entwicklung lässt sich nachlesen bei Christian
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Eine Beschreibung laufender Praxis
Ich habe keine qualitative Befragung im wissenschaftlichen Sinne gemacht; den Aufwand konnte ich nicht leisten. Ich habe die Gemeinde Berlinprojekt zwischen 2010 und 2013 mehrfach besucht, war in fünf Gottesdiensten, in drei Bibelgesprächskreisen – den sogenannten ›Sofagruppen‹ – und habe mich dreimal mit einem der beiden Pastoren zum Gespräch getroffen. Ich habe an einem Seminartag der Gemeinde (Berlinprojekt im Detail) teilgenommen und lese bis heute die regelmässig als E-Mail geschickten Nachrichten der Gemeinde. Die Interviews mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der ›Sofagruppen‹ habe ich als Hördateien aufgenommen und transkribiert; die Gottesdienste und den Seminartag habe ich erst deskriptiv, dann analytisch protokolliert. In den drei befragten Gruppen war jeweils etwa die Hälfte der Teilnehmenden tatsächlich anwesend; das waren 5 Personen (Sofagruppe A), 7 Personen (Sofagruppe B) und nochmals 5 Personen (Sofagruppe C). Ich habe das Interview als Leitfadeninterview gestaltet. Weil die Teilnehmenden auch untereinander ins Gespräch gekommen sind, meine ich, Sprachgewohnheiten und Denkstrukturen erkennen zu können.14 Als Leitfadeninterviews sind die Interviews durch meine Interessen und Fragen strukturiert. Die erste Frage habe ich so gestellt, dass sie zum Assoziieren einlädt und die Befragten selbst einen Schwerpunkt setzen konnten: • Man hört Gutes über eure Gemeinde, warum? • Warst du vor der Zeit im Berlinprojekt schon einmal in einer Gemeinde? • Wie bist du selbst zur Gemeinde Berlinprojekt gekommen? Was war dein Erstkontakt? • Warum hast du diese Gemeinde als ›deine‹ Gemeinde gewählt? • Was wären Gründe für dich, dich einer Gemeinde nicht anzuschliessen? Die Interviews schlossen jeweils an ein gemeinsames Abendessen an und dauerten etwa 90 Minuten. Ich habe den Anlass für das Interview erklärt und noch vor der eigentlichen Befragung die Teilnehmenden gebeten, sich kurz vorzustellen. Ich habe die Regeln des Interviews erklärt und mittels eines Fragebogens sozialstatistische Daten zum persönlichen Hintergrund der Befragten erfragt.15
Lüders, Von der teilnehmenden Beobachtung zur ethnographischen Beschreibung, in: König/ Zedler (Hg.), Bilanz qualitativer Forschung, Bd. 2: Methoden, 311–342. 14 »Elict useful ›natural language discourse‹ that allows the researcher to learn idiomatic expressions, common terminology, and communication patterns in the community in a rapid and concise manner.« Schensul u. a., Enhanced ethnographic methods, 1999, 52. 15 Alter, Beruf, Beziehungsstatus, Kirchenmitgliedschaft, Wohnort, Datum des Zuzugs nach Berlin.
Erste Beobachtungen
2
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Erste Beobachtungen
In den Gruppeninterviews war der Umgang der Teilnehmenden miteinander aufschlussreich.16 Sie haben einander aufmerksam zugehört und einander interessiert nach ihren Meinungen gefragt. Oft trat meine Anwesenheit als Interviewerin in den Hintergrund. Mir fiel das ernsthafte Bemühen der Befragten um eine angemessene Beschreibung ihrer Gemeinde auf. Die Befragten haben viel gelacht. Ich hatte den Eindruck, dass die Fähigkeit, die eigene Sichtweise zu relativieren, hoch ist. Auffallend war auch die Wertschätzung, die die Befragten den beiden Pastoren ihrer Kirchgemeinde entgegen bringen. Beim Lesen der Kleingruppen-Interviews fällt auf, dass sich die Befragten übereinstimmend über eher wenige, aber zentrale Anliegen der Gemeinde äussern. Ich spreche im Folgenden von ›Core Commitments‹ bzw. Grundentscheiden.17 Zu den übereinstimmenden Äusserungen gehört, dass die Befragten meinen, dass Gottesdienstteilnehmerinnen und -teilnehmer in ihrer Gemeinde über Nähe und Distanz selbst entscheiden können. Es erscheint ihnen als ein Grundentscheid ihrer Gemeinde, dass Menschen im Gottesdienst nicht angesprochen, auch nicht persönlich begrüsst werden: Carola: Gleichzeitig fällt nicht so ein Honk am Eingang über dich her und sagt: Wie schön, dass du da bist, wie heisst du denn? Cäsar: Du kannst frei entscheiden, ob du bleibst oder nicht. Da kommt keiner und sagt: Hey, kommst du nächstes Mal wieder? Da ist kein Begrüssungskomitee. (Pause) Viele kritisieren das, es gibt keinen Weg in die Gemeinde hier rein. Das kommt erst durch die Sofagruppen. Mir war es angenehm, dass ich nicht gleich überrumpelt wurde. Annika: Wobei es so ist, dass man aufgenommen wird, wenn man will. Für die Zeit des Gottesdienstes hat man auch offene Gesichter da, die einen einladen, einen anzusprechen. Das Cliquenverhalten ist nicht da. Das habe ich auch so erlebt. Wenn man sich in so eine Reihe reinsetzt, und zwei, drei Sätze sagt, dann ist die Atmosphäre so freundlich, dass man in ein Gespräch verwickelt wird, und dann ist da vorne noch jemand, der kennt wiederum jemand, der 16 »Allow the researcher to record and analyze group members‘ reactions to ideas und to each other. [..] Produce data and insights that would be less accessible without the interaction found in a group«. Vgl. Schensul, Enhanced ethnographical methods, 1999, 52. 17 »Core Commitments«, manchmal auch »Values«, meinen in englischsprachiger Gemeindeentwicklungstheorie die Festlegung auf einige zugrunde liegende Prinzipien. Siehe dazu Martin Alex, Einleitung: Was kann aus England schon Gutes kommen?, in: Gemeinde im Kontext, 2012, 35–46, 39.
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Eine Beschreibung laufender Praxis
hinter dir sitzt. Es ist so, dass eine freundliche offene Kommunikation da ist, aber nur wenn man sie sucht. Du kannst auch sagen: Nee, lasst mich alle in Ruhe, ich bin alleine und will nicht angesprochen werden. [Sofagruppe A] Übereinstimmend äussern sich die Befragten auch darüber, dass Gottesdienstteilnehmerinnen und -teilnehmer selbst aktiv werden müssen, wenn sie andere Menschen in der Gemeinde kennenlernen wollen. Das führt ihrer Meinung nach zu einer Auswahl, nämlich zur Gemeinde als einer Auswahl derjenigen, die fähig sind, selbst aktiv zu werden. Murielle: Ich mach ja nun auch den Kaffeedienst und es war total … (denkt nach). Einmal konnte ich Sonntag nicht, und ich fand es total klasse, dass ich es nicht machen musste, das fand ich gut. Aber wenn du das jetzt so sagst – das ist mir grad so aufgefallen – es fragt eigentlich auch keiner, wenn du nicht da bist. Klara: Es ist unverbindlich. Mike: Das soziale Netz, durch das du fallen kannst, ist relativ grob gestrickt. Das ist in andern Gemeinden dichter. Klara: (unterbricht) Es ist nicht für Sozialfälle geeignet. Mike: Das kann als unangenehm empfunden werden, so wie ihr es erlebt habt, und jetzt kommt es einfach drauf an, was du für ein Typ bist. Wenn du dir selber zu helfen weisst oder wenn du mit den Kontakten, mit Nähe und Distanz gut umgehen kannst, dann ist es sicherlich gut. Aber wenn du vielleicht drauf angewiesen bist, dass du angesprochen wirst, weil du nicht der Typ bist, der auf andere zugeht, dann ist das Berlinprojekt eher schwierig. [Sofagruppe B] Meine Interviewpartnerinnen äussern sich in zentralen Fragen – wie dem Wunsch, selbst über Nähe und Distanz bestimmen zu können – überraschend einmütig. In der soziologischen Grundlegung der Arbeit habe ich mit Bezug auf Amitai Etzioni über die Konstruktion sozialer Wirklichkeit gesprochen. Etzioni zufolge müssen drei Bedingungen, die die Internalisierung von Werten fördern, erfüllt werden, damit Menschen eine soziale Wirklichkeit ähnlich wahrnehmen.18 Nun haben die Befragten als zugezogene Gemeindeglieder meines Erachtens kaum Zeit gehabt, um Werte zu internalisieren. Die Befragten vermitteln den 18 Etzioni, Die Verantwortungsgesellschaft, 1997, 222.
Erste Beobachtungen
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Eindruck, auch nach ihrem Anschluss an die Gemeinde dort eher wenig Lebenszeit zu verbringen. In den Interviews scherzen sie darüber, dass sie nur unregelmässig an den Veranstaltungen ihrer eigenen Gemeinde teilnehmen: Klara: Das ist so eine coole Situation. War jemand beim Kerntreffen? 19 Kein einziger war beim Kerntreffen! (Alle lachen) Sind wir überhaupt noch Berlinprojekt? (Alle lachen) Geht ihr zum Gottesdienst? Ich hab euch nie gesehen. Das war so klasse, also, weil das Kerntreffen, das ist das Ding, die Gemeindeversammlung, und keiner war da. Richard: Das letzte Mal waren wir da. Und das nächste Mal gehen wir auch. […] Michelle: Ich war da noch nie. Ich wusste das nicht, bis ihr in Norwegen gesagt habt: «Das ist für die Leute, die dableiben wollen.« Klara: Das steht in unserem Programmheft. Kerntreffen ist für die, die ihre Gemeinde als ihre Gemeinde sehen. Und da (betont) bin ich dann dahin gegangen, weil ich dachte: Ja! Das war vor drei Kerntreffen oder vor vier so. Wie oft ist das denn? Mike: Das ist nicht so oft, so vierteljährlich oder so. Kommt drauf an. [Sofagruppe B] Ich habe in den Interviews den Eindruck bekommen, dass die Grundeinstellungen der Gemeinde in den Gottesdiensten bewusst genannt und auch erklärt werden. Ich mache das an zwei Beispielen deutlich. Als einer der Befragten im Interview von der ›kulturellen Relevanz‹ des Berlinprojekts spricht, frage ich nach: Interviewerin: Darf ich fragen: Ist ›kulturelle Relevanz‹ dein eigener Begriff ? Richard: Das benutzen sie so. Der wird so benutzt vom Berlinprojekt. Das ist einer der Grundsätze glaube ich. Klara: Das habe ich nicht so im Kopf. Richard: Das ist einer der Grundsätze, glaube ich. [Sofagruppe B] 20 19 Das ist die Gemeindeversammlung als Ort für diejenigen, die sich als Mitglieder der Gemeinde verstehen. 20 Timothy Keller, Gründer der New Yorker Muttergemeinde des Berlinprojekts, unterscheidet in seiner Kirchentheorie in fünf Modellen, wie sich Kirchen der Kultur ihrer Zeit zuordnen. Er
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Eine Beschreibung laufender Praxis
Die Gemeindeglieder erzählen von gottesdienstlichen Handlungen, die mit den immer gleichen Formulierungen eingeleitet und erklärt werden. Tina: Bei der Kindersegnung hat er [das ist der Pastor, U.B.] extrem den gleichen Text genommen. Ist mir letzten Sonntag aufgefallen. Richard: Nee, ist nicht schlimm, aber es ist einfach aufgefallen. Die Erklärung der Kindersegnung war genau identisch der gleiche Text wie beim letzten Mal, der Erklärungstext war identisch, das war einfach witzig. [Sofagruppe B] Die Befragten sagen, dass im Gottesdienst feste Formulierungen verwendet werden. Im weiteren Verlauf der Interviews wurde deutlich, dass im Gottesdienst Wiederholung und Erklärung dominieren. Im Gespräch wird später einer der Pastoren sagen, dass gottesdienstliche Formulierungen wichtig sind und dass deshalb die Verantwortung für die als wesentlich empfundenen Stücke der gottesdienstlichen Liturgie – wie die einleitenden Worte zur Feier des Abendmahls – ausschliesslich an Mitglieder der Gemeinde übertragen wird.
3
Zugehörigkeit auf Zeit
Wir haben gesagt, dass sich in einer Gemeinde, die sich als Weggemeinschaft der Hoffnung versteht, Menschen für eine begrenzte Zeit und in vorläufigen Formen zusammenfinden.21 Das heisst, dass Beginn und Ende des gemeinsamen Unterwegsseins thematisiert werden können. In den Interviews sagen die Gemeindeglieder, dass sie in der Gemeinde Berlinprojekt nur begrenzt beteiligt sind und begrenzt Verantwortung übernehmen: Hella: Da fällt mir ein, ich glaube attraktiv im Berlinprojekt ist auch, dass es als Gemeinde angelegt ist, wo du eine Zeit (betont) sein kannst, weil das gerade Leute sind, die wieder wegziehen, oder aus irgendwelchen Gründen. Du kannst dadurch ganz schnell reinkommen, wenn du willst (betont) und Kontakt suchst, und du kannst aber auch ohne… (Pause). Du bist nicht so fest integriert, dass du nicht gehen kannst. [Sofagruppe B] unterscheidet: Christ against culture; Christ of Culture; Christ above Culture; Christ and Culture in Paradox; Christ transforming Culture. Ders., Center Church, 2012, 194–222. 21 Vgl. Kap. II.2.5.2 Eine kommunizierende Kirche ist Weggemeinschaft der Hoffnung.
Zugehörigkeit auf Zeit
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Hella ist die Möglichkeit, dass sie für eine begrenzte Zeit am Leben der Gemeinde teilnehmen kann, wichtig. Sie selbst will entscheiden, was jeweils an der Zeit ist («wenn du willst«). Richard: Ich habe ein paar Aufgaben übernommen im Berlinprojekt, was Musik betrifft und es ist total – (zögert) – helferfreundlich, sage ich mal. Erstmal sagen die Leute, pass auf, du bist nicht vollzeitlich im Dienst hier, du studierst oder arbeitest nebenbei. Mach nur was einmal im Monat. Das ist erstmal. Und zweitens… Hella: (unterbricht) Und wenn sich die Lebenssituation ändert, ist das o.k.. Richard: Es ist o.k. wenn sich etwas ändert; und es wird neu besetzt und es geht einfach nur darum, wenn du dich einbringen kannst, kannst du dich einbringen, aber mach dich nicht kaputt dabei. Wir wollen dich nicht kaputt machen dabei, und es soll eben noch sinnvoll sein, auch die Arbeit. Und das heisst, ich habe keinen Druck, wenn ich denke, dass ich jetzt nicht mehr da bin, dann fällt das alles zusammen, weil ich weiss, ich bin nicht der, der es überhaupt aufrechterhalten muss. Das ist wirklich eine ganz gute Sache. Das kannte ich eben aus der Gemeinde davor. [Sofagruppe B] Die Befragten schätzen es, dass sie mit dem Übernehmen von Aufgaben keine tragenden Funktionen in der Gemeinde haben («dann fällt das alles zusammen«). Sie nehmen ergänzende Aufgaben wahr. Das ermöglicht ihnen, sich ohne Konflikt auch wieder von ihrer Aufgabe, sogar von der Gemeinde zu lösen. Denise: Man kann selber bestimmen, wieviel man will. Auch was das Mitarbeiten betrifft. Man wird nicht darauf hingewiesen: Wir suchen da und da Leute. Macht endlich mit. Sondern man hat die Freiheit. Es steht im Programmheft, und wenn man mithelfen will, kann man sich melden und wird wirklich ernst genommen und eingesetzt. [Sofagruppe A] Die befragten Gemeindeglieder betonen, dass sie das Mass ihres Engagements selbst bestimmen und mit dem von ihnen angebotenen Mass auch wahrgenommen werden («ernst genommen und eingesetzt«). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Gemeindeglieder mit Erfahrungen von Umzugsmobilität es schätzen, dass ihnen persönliche und berufliche Veränderungen und damit auch das Zurückgeben von einmal übernommener Verantwortung ermöglicht wird. Sie fühlen sich nicht in einen Gewissenskonflikt
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Eine Beschreibung laufender Praxis
gebracht, in dem sie zwischen der Wahrnehmung von gemeindlichen Aufgaben und ihrer Lebensführung wählen müssen. Die Befragten sagen recht grundsätzlich, dass es umfassende und auf lebenslange Dauer angelegte Sozialverhältnisse und Erfahrungen von Zugehörigkeit kaum mehr gibt. Das würde auch für Kirchgemeinden gelten. Es gibt Erfahrungen von zeitlich begrenzter Zugehörigkeit bzw. die Erfahrung der Kirchgemeinde als einer Dienstleistung. Thomas: Ich denke, weil wir das alle so sagen, muss man vielleicht drüber nachdenken: Was bedeutet heutzutage Zugehörigkeit? In einer Zeit, die extrem zersplittert ist. Wo man irgendwie ganz viele verschiedene Sachen gleichzeitig betreibt und so. […] Da muss man generell überlegen: Was bedeutet Zugehörigkeit? Ist vielleicht dieser Anspruch von diesem ganzheitlichen Aufgefangensein nicht mehr realistisch? Ist vielleicht so ein gewisser Service-Gedanke mehr an dem dran, wie es heute ist? Mein Gedanke dazu. [Sofagruppe C]
4
Zugehörigkeit und Mitgliedschaft
In den Interviews habe ich nach Erfahrungen von Zugehörigkeit gefragt. Eine Frage nach Mitgliedschaft hätte sich schwierig gestaltet: Was die Gemeinde Berlinprojekt unter einem Mitgliedschaftsverhältnis versteht, wurde mir gegenüber zum Zeitpunkt der Befragung von der Gemeindeleitung als «nicht geklärt« und «offen« bezeichnet. Als aufschlussreich habe ich den etwa vierteljährlich stattfindenden Se-minartag der Gemeinde erlebt (Berlinprojekt im Detail). Im Gottesdienst werden Menschen zu diesem Seminartag eingeladen, die das Berlinprojekt als «ihre Gemeinde« verstehen wollen. Am Seminartag selbst wurde wertschätzend über die vielen guten («tollen«) Kirchgemeinden in Berlin-Mitte gesprochen.22 Das sage aber nichts darüber aus, welche Gemeinde man als ›seine‹ Gemeinde betrachten würde. Wer das Berlinprojekt als seine Gemeinde ansieht, möchte das zum Ausdruck bringen, indem er oder sie an den etwa halbjährlichen stattfindenden Gemeindeversammlungen (›Kerntreffen‹) teilnimmt. Dort werden Fragen besprochen, die den Weg und die Entwicklung der Gemeinde betreffen und dort wird die Gemeindeleitung gewählt.23 Im Interview habe ich die Äusserung einer Befragten aufgegriffen: 22 Ort und Zeit: Galerie Ecke Saarbrücker Strasse/Strassburger Strasse, Samstag, 24. 4. 2010, 10– 15 Uhr. Es waren etwa 35 Personen anwesend. 23 In den ersten Jahren ab 2006 hat das Gründungsteam die Gemeindeleitung gebildet. 2013
Zugehörigkeit und Mitgliedschaft
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Interviewerin: Das ist doch interessant, dass sie euch die Entscheidung überlassen: Für die, die ihre Gemeinde als ihre (betont) Gemeinde sehen. […] Hella: Aber das provoziert auch, dass man sich selber darüber Gedanken macht, wenn es so formuliert ist. Wenn es so ist, dann ist es ein guter Ort dahin zu kommen. Das heisst, ich muss darüber nachdenken, ob es so ist. Und das ist schön. […] Interviewerin: Und du, Tina? Tina: Ja, ist noch ein Prozess. In der Sofagruppe fühle ich mich schon zugehörig. Und generell würde ich auch sagen, dass ich mich im Berlinprojekt mehr – ich sag mal – Zuhause fühle als in meiner eigentlichen Kirchgemeinde, wo ich formell als Mitglied drinstehe. Ja, weil ich mich da einfach mehr, eher ankomme, so. Aber generell ist es glaube ich ein Prozess. [Sofagruppe B] Ob sich die Befragten als Mitglieder der Gemeinde empfinden, wird an ihren eigenen Entscheid delegiert. Die Befragten sprechen miteinander darüber, was eine Festlegung gegenüber der Gemeinde für sie bedeuten würde und bringen einen fiktiven ›Zettel‹ ins Spiel: Kerstin: Es ist ein bisschen die Frage, was Mitgliedschaft heisst. Zum Beispiel einen Zettel zu unterschreiben. Ich fände das eine grosse Hürde für mich. Wenn ich einen Zettel unterschreiben müsste. Greg: Einfach hingehen ist die eine Sache. Aber wenn ich sage, ich gehöre dazu und unterschreibe einen Zettel, dann ist das schon anders. [Sofagruppe C] Die andern Befragten äussern sich ähnlich. David: Ich finde es schwierig, diesen Zettel, weil ich gar nicht wissen würde, wo ich wohnen würde in ein paar Jahren. Weil, wenn ich wissen würde, ich würde hier für immer bleiben, dann hätte ich kein Problem. Greg: Aber du kannst doch Mitglied werden und wieder austreten. […]
wurde die Leitung erstmalig von der Gemeindeversammlung (dem sogenannten Kerntreffen) gewählt.
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Eine Beschreibung laufender Praxis
Thomas: Ich finde der symbolische Schritt ist schon gross, auch offiziell Mitglied zu werden. Da ich auch gar nicht abschätzen kann, was in zwölf Monaten ist, würde ich das auch nicht machen. Das würde sich so anfühlen, wie sich eine Verpflichtung auferlegen, die man eventuell überhaupt nicht halten kann. Und auch nicht einhalten will, weil einen die Wege anderswohin führen. [Sofagruppe C] Die Befragten unterscheiden ihr Tun («einfach hingehen«) von einer schriftlichen Festlegung zur Mitgliedschaft («Zettel«). Als Grund dafür, sich nicht festlegen zu wollen, geben sie ihre als offen empfundene Zukunft an. Sie erwarten Veränderungen der eigenen Lebensform und lehnen es ab, Mitglied einer Kirchgemeinde zu werden, wenn sie die Mitgliedschaft unter veränderten Lebensbedingungen voraussichtlich nicht praktizieren können. Die Befragten argumentieren nicht mit Vorbehalten gegenüber einer Verbindlichkeit, sondern damit, dass sie Verbindlichkeiten unter sich verändernden äusseren Bedingungen vielleicht nicht leben können.
V
Der Gottesdienst als Praxis lebensweltlicher Kommunikation
Im Folgenden werden Handlungsorientierungen für den Gottesdienst als Praxis lebensweltlicher Kommunikation aufgezeigt. Ein erster Abschnitt gilt der Predigt, ein zweiter Abschnitt der Feier des Abendmahls. In einem dritten Abschnitt wird vorausgesetzt, dass der Gottesdienst in der Wahrnehmung der Teilnehmenden zu einem ›Ort der Wahl‹ geworden ist.1 Versteht sich die gottesdienstliche Gemeinschaft in soziologischer – nicht in theologischer – Perspektive als Ort der Wahl, dann gewinnt die Gestaltung von Zugängen, das Angebot von Handlungsoptionen und das Engagement von Gemeindegliedern, die vermittelnd als ›Drehpunktpersonen‹ wirken, an Bedeutung. Im Anschluss an jeden dieser drei Abschnitte kommen die von mir befragten Gemeindeglieder zu Wort.2 Das geschieht mit dem Anspruch einer Beschreibung laufender Praxis. Die Gemeindeglieder haben in Interviews über ihre Erfahrungen mit dem Gottesdienst, besonders mit der Predigt und der Feier des Abendmahls gesprochen. Die Befragung soll die vorgestellten Handlungsorientierungen nicht verifizieren. Sie lässt aber plausibel erscheinen, wodurch Predigt und Abendmahl für die Befragten zu einer Erfahrung gemeinsamer Lebenswelt geworden sind.
1
Die Predigt
Wird der Gottesdienst als lebensweltliche Kommunikation einer Subkultur verstanden, dann wird auch Hörerinnen und Hörern ohne Vorwissen Beteiligung ermöglicht. Denn der Wissensbestand einer Subkultur ist naturgemäss einer Mehrheit von Menschen fremd. Die Predigt wird also biblisches Wissen als ein anschlussfähiges Deutungsangebot im Blick auf ein gesellschaftlich akzeptiertes, 1 Kap. III.3.2 Kirche kommuniziert als Subkultur. 2 Zu den Bedingungen der Befragung siehe Kap. IV.1.1 Das Berlinprojekt – eine Gemeinde mit mobilen Menschen.
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Der Gottesdienst als Praxis lebensweltlicher Kommunikation
sich ständig aktualisierendes Wissen darstellen müssen. Habermas hatte von der Wichtigkeit des zugrunde liegenden Weltkonzeptes gesprochen, in das sich neues Wissen integrieren lässt. »Weltkonzepte und die korrespondierenden Geltungsansprüche bilden das formale Gerüst, mit dem die kommunikativ Handelnden die jeweils problematischen, d. h. einigungsbedürftigen Situationskontexte in ihre als unproblematisch vorausgesetzte Lebenswelt einordnen.«3
Das einer Predigt zugrunde liegende Weltkonzept ist eng mit der biblischen Grosserzählung verbunden. Nun hat sich aber gerade die Rezeption von Grosserzählungen in postmoderner Gesellschaft verändert und damit auch die Predigtaufgabe. Die biblische Grosserzählung selbst wird als »einigungsbedürftig« (Habermas) empfunden. Diese Veränderung hat bereits Grözinger thematisiert, indem er auf die Bedeutung und Chancen der sogenannten ›kleinen‹ Geschichten der Bibel in postmoderner Gesellschaft hinweist.4 Es ist die Behauptung der Postmoderne, dass die sogenannten grossen Erzählungen im Zuge der gesellschaftlichen Pluralisierung ihre Kraft verloren haben.5 Lebensdeutung geschieht aber weiterhin im Hören auf Erzählungen, die das eigene Leben übersteigen und deutend in sich schliessen: »Sich selbst zu finden bedeutet unter anderem, eine Geschichte oder Erzählung zu finden, die dem eigenen Leben Sinn gibt.«6
Auch der postmoderne Mensch möchte seiner Lebensgeschichte ansichtig werden und zwar so, dass sie nicht in blossen Funktionen aufgeht. Grossen MetaErzählungen stehen Predigthörerinnen und -hörer aber misstrauisch gegenüber. Was heisst es dann, biblische Geschichten unter den Bedingungen der Postmoderne zu erzählen?
1.1
Biblische Geschichten hören unter den Bedingungen der Postmoderne
Die biblische Geschichte – von der Schöpfung, der Geschichte Israels, dem Heil in Jesus Christus, der Vollendung des Lebens – ist eine der grossen Erzählungen im Sinne Lyotards.7 Über sie meinte Lyotard »in äusserster Vereinfachung« sagen zu
3 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, 1988, 107. 4 Grözinger, Protestantismus in der Postmoderne, in: Grözinger/Stegemann (Hg.), Das Christentum an der Schwelle zum 3. Jahrtausend, 2002, 9–21, 20. 5 Artikel ›Postmoderne‹ in: Lexikon philosophischer Grundbegriffe der Theologie, Franz u. a. (Hg.), 2003, 319f. 6 Bellah u. a. (Hg.), Gewohnheiten des Herzens, 1987, 109. 7 Zum Verlust der legitimierenden Funktion der Narrative, siehe Lyotard, Das postmoderne
Die Predigt
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können, dass Postmoderne bedeutet, dass man »den Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr schenkt«.8 Die Kirche beruft sich aber auf eine solche grosse Erzählung. Sie verdankt sich den geschichtlichen Taten Gottes und vergewissert sich ihrer Identität im erzählenden Weitergeben dieser Geschichte. Die biblische Geschichte wird im gegenwärtigen Erfahrungshorizont immer neu erinnert und gedeutet und dadurch angeeignet, wird also immer neu als eine gemeinsame Geschichte vergegenwärtigt. Lebensdeutung geschieht in postmoderner Gesellschaft wesentlich durch die Inanspruchnahme subjektiver Sinntheorien.9 Diese entstehen pragmatisch und prozesshaft und können sich aus unterschiedlichen Subtheorien und Konzepten zusammensetzen. Grözinger nennt die Inanspruchnahme solcher Sinntheorien eine »lebensgeschichtlich-synkretistische ›Ketzerei‹«, die zum »Normalfall der Religion« geworden ist.10 ›Kleine‹ Geschichten sind nicht einfach die Fragmente einer nicht mehr durchzuhaltenden ›grossen‹ Geschichte. ›Klein‹ bedeutet, dass Geschichten einfach, lebensnah, nicht triumphalistisch usw. sind. Insofern sind viele Geschichten der Bibel ›kleine‹ Geschichten. Grözinger meint nun, dass die ›kleinen‹ Geschichten der Bibel ausserordentlich anziehend auf postmoderne Menschen wirken. »Der postmoderne Mensch, der die Geschichten so dringend braucht, und der zugleich aus guten Gründen den starken Groß-Erzählungen misstraut, könnte er nicht seinerseits eine Schwäche entwickeln für jene kleinen – wenn man so will: schwachen – Geschichten der Bibel?«11
Die Predigt stellt den Hörerinnen und Hörern also weiterhin Bilder und Symbole zur Verfügung, von denen her sie ihr Leben interpretieren und ihre Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten erweitern können.12 Nun stehen die kleinen Geschichten durchaus in einem Zusammenhang mit der einen grossen biblischen Erzählung. Dass es in jeder kleinen Geschichte um die eine grosse Erzählung geht, gilt auch dann, wenn postmoderne Menschen der grossen biblischen Erzählung zunächst einmal in einzelnen, kleinen Geschichten begegnen. Das war schon immer so. Die Möglichkeit zum selektiven Hören war immer schon gegeben. Sie ist kein Spezifikum postmoderner Gesellschaften. Damit sich die biblische Erzählung postmodernen Hörerinnen und Hörern als Gross-Erzählung erschliessen kann, müssen die kleinen Geschichten der Bibel
8 9 10 11 12
Wissen, 1986, 92–93. Zum Verständnis der Narrative bei Lyotard, siehe auch Williams, Lyotard, 1998, 27ff. Lyotard, Das postmoderne Wissen 1986, 14. Siehe Kapitel I.2.4 Erwerb von Lebensdeutung in der Postmoderne. Grözinger, Kirche im Zeitalter der Globalisierung, 2002, 41. Grözinger, Protestantismus in der Postmoderne, in: Grözinger/Stegemann (Hg.), Das Christentum an der Schwelle zum 3. Jahrtausend, 2002, 9–21, 20. Grözinger, Kirche im Zeitalter der Globalisierung, 2002, 4 und 27.
228
Der Gottesdienst als Praxis lebensweltlicher Kommunikation
erzählt, und vor allem präzise erzählt werden.13 Erst im präzisen Erzählen kann die hörende Gemeinde Zusammenhänge entdecken. Zusammenhänge werden in erster Linie gehört und nicht erklärt. Dass Überblickswissen entsteht, beruht nicht auf einem vormodernen »So-ist-es-eben«, auch nicht vorrangig auf Erklärungen, sondern auf dem eigenen Entdecken vom Zusammenhang der Narrative. Im präzisen Erzählen stellen sich die kleinen Geschichten wechselseitig und immer neu ins Licht ihrer je eigenen Deutungen. Die biblischen Geschichten lassen sich nicht beliebig reduzieren, korrigieren oder umdeuten. Indem die kleinen biblischen Geschichten präzise erzählt werden und dabei möglichst wenig selektiv vorgegangen wird, kann sich die biblische Grosserzählung prozesshaft erschliessen.
1.1.1 Erfolg und Misserfolg von Grosserzählungen Es stellt sich die Frage, ob postmoderne Menschen tatsächlich keinen Zugang zu starken Grosserzählungen mehr finden. Mythische Erzählungen wie der Herr der Ringe, Der Hobbit oder Die Tribute von Panem sind als Filme ausgesprochen erfolgreich. Fernseh-Soaps erzählen Geschichten, die sich über mehrere Generationen hin erstrecken – gleichsam als Meta-Erzählungen von Heil und Unheil: »Das neue Serienfernsehen fordert und bindet den Zuschauer ähnlich wie ein Computerspiel, und es eröffnet ähnliche fiktionale Räume, indem es die Illusion erzeugt, man könnte im New York der Mad Men, im Baltimore von The Wire oder in dem Land Westeros in Game of Thrones hinter jede Ecke schauen, jedes Whiskey-Glas und jeden Stein umdrehen.«14
Geschichtenerzählerinnen und -erzähler bieten den Zuschauern und Leserinnen an, Teil der Geschichte zu werden. Neu sind dabei die Formen der Umsetzung, beispielsweise das Versprechen, durch Teilhabe am Kauf von »Marken« zum Teil der erzählten Geschichte zu werden.15 Rezeptionsschwierigkeiten gegenüber Grosserzählungen entstehen – auf dem Hintergrund der bisherigen Beobachtungen – dort, wo ihnen bereits im Voraus eine verpflichtende Kraft, also eine allgemeine Geltung, zugesprochen wird. Mit der postmodernen Auflösung eines Werte-Konsenses ist der Anspruch auf eine allgemeine verpflichtende Geltung kaum mehr nachzuvollziehen.16 13 In der Kunst des Story-Telling werden verschiedene Erzählperspektiven als möglich zugrunde gelegt, vgl. Bal/Jobling (Hg.) On Story-Telling, 1991, 73–170. 14 Horst, Bügeln geht nicht mehr, in: ZEITonline (2. 7. 2012) Quelle: www.zeit. de/2012/27/ Fernsehen-Amerikanische-Serien. 15 Ebd., ohne Seitenzahl. 16 Zur Problematik von Verbindlichkeitsansprüchen siehe Kap. I.2.4 Erwerb von Lebensdeutung in der Postmoderne.
Die Predigt
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Ein Rezeptionsproblem für postmoderne Hörerinnen und Hörer entsteht, wenn die Grosserzählung der Bibel als durch die Institution Kirche verwaltet wahrgenommen wird. Institutionen verkörpern den Anspruch auf eine allgemeine gesellschaftliche Geltung. Solche Geltung wird der Kirche als Institution aber weitgehend nicht mehr zugeschrieben. Ihre Kontrolle wurde zudem »als belastend empfunden«.17 Damit ist auch die Geltung der biblischen Erzählung als einer verpflichtenden Sinnstiftung in eine grundsätzliche Kritik geraten. Wir stehen dann vor einem Problem postmoderner Rezeption, wenn die Bibel im Besitz der Institution Kirche und ihrer Deutungshoheit erscheint. 1.1.2 Biblische Erzählungen erneut als fluide erleben Wie kann es geschehen, dass biblische Erzählungen erneut zu einem Beitrag für ›Gespräche über das Leben‹ werden? 18 Für die Soziologie hat Luckmann in Die Unsichtbare Religion (1991) beschrieben, dass und vor allem wie sich der kulturelle Ausdruck der Religion gewandelt hat.19 Sein frühes Fazit war, dass Religion vermehrt in nicht-institutionalisierten Formen auftritt. Beispiel für eine Praxis biblischen Erzählens in nicht-institutionalisierten Zusammenhängen ist das Storytelling. In Regionen, in denen es kaum institutionalisierte Kirchen gibt, beginnen Menschen erneut und gezielt mit dem Erzählen biblischer Geschichten. In einigen ländlichen Regionen Chinas beispielsweise gibt es weder eine den Bedürfnissen entsprechende Zahl von Kirchgemeinden noch von Bibeln. Chinesische Christinnen und Christen lassen sich als Storyteller ausbilden, geben ihre Anstellung in städtischen Verhältnissen auf und ziehen um des Storytellings willen zurück in ländliche Gegenden. Sie nehmen Arbeit in einer Fabrik an, die ihnen das Überleben sichert und geben ihren Kolleginnen und Kollegen ein Grundrepertoire an biblischen Geschichten weiter. Die Weitergabe biblischen Wissens geschieht ohne sichtbare Anbindung an eine bestehende Gemeinde. Die Hoffnung richtet sich darauf, dass das Wort Gottes im Erzählen die Gemeinde entstehen lässt, von der es erzählt. Damit wird das Storytelling als ein Anfang von Gemeindeentwicklungsprozessen verstanden.20 Die biblischen Geschichten lassen, indem sie erzählt werden, die Gemeinschaft entstehen, von der sie erzählen.21 17 Campiche spricht von einer »zunehmend als belastend« empfundenen »Kontrolle« durch die Institution. Vgl. Campiche, a. a. O., 18. 18 Kap. II.2.6.1 Offenheit für neue pastorale Orte und für Gespräche über das Leben. 19 Kap. I. 4.2.2 Religion erscheint in neuen Sozialformen. 20 Es gibt kaum missionstheologische Veröffentlichungen zum Storytelling. Ich beziehe mich auf einen Vortrag von Jayne Wilkins beim 4. Lausanner Kongress für Weltevangelisation in Kapstadt (2010). Quelle: http://simplythestory.org/oralbiblestories/index.php/medicalmissi ons.html [Stand: 04. 08. 2014]. 21 Verschiedene Theoriekonzepte zum Storytelling stellen die Kulturtheoretikerin Mieke Bal und der Künstler David Jobling vor, in Bal/Jobling (Hg.) On Story-Telling, 1991, 73–170.
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In Deutschland und der Schweiz wird die Bedeutung des Storytellings vor allem in organisationstheoretischen Zusammenhängen entdeckt: Nicht nur zweckrationales Handeln bindet Menschen aneinander, sondern die diesen Zwecken oder Aufgaben zugrunde liegenden Geschichten.22 Also beginnen Unternehmenskulturen erneut, sich auf die ihnen – tatsächlich oder scheinbar – zugrunde liegenden Erzählungen zu berufen. 1.1.3 Die Deutungskompetenz der Gottesdienstgemeinde Wenn in postmoderner Gesellschaft die Institution Kirche und die in ihr verkörperten Sinnstrukturen an allgemeiner Plausibilität verloren haben, dann verständigen sich Gemeindeglieder zunehmend selbst über Sinnzuschreibungen.23 Wird den Gemeindegliedern das Deuten der biblischen Geschichten übereignet, ist damit ein Abschied vom stellvertretenden Hören durch die Pfarrperson verbunden. Pfarrpersonen befähigen vielmehr die Gemeinde, die in ihrer Gesamtheit Hörgemeinschaft ist, zum Hören und Deuten der biblischen Erzählungen in ihrer je eigenen Lebenswirklichkeit.24 Die skizzierte Verlagerung hauptamtlicher Kompetenzen trifft in pastoraltheologischer Perspektive auf Zuspruch und Widerspruch. Herbert Lindner sieht es als Aufgabe von Pfarrpersonen, die Gemeindeglieder darin zu unterstützen, die Kompetenz der stellvertretenden Lebensdeutung zu erwerben. Sie vermitteln ihnen aber diese Kompetenz nicht.25 In der Zürcher Orientierungshilfe Lebenswelten wird die Kompetenz des Pfarrers als facilitator (Ermöglicher) beschrieben: »Und er regt sie an, ihre eigene Version im Dialog mit den biblischen Erzählungen zu finden.«26
Eine konträre Position bezieht Wilhelm Gräb, der meint, dass die gottesdienstliche Feier eine zunehmende Professionalisierung und die Pfarrperson als Profi braucht.27 Ein Modell für das Einüben der Deutungskompetenz durch die Gemeinde als Hörgemeinschaft stellt die Gottesdienstform der Meditativen Abendfeiern dar. Spezifisch für diese Gottesdienstform ist, dass sich Gemeindeglieder im Hören der biblischen Geschichten üben.28 Voraussetzung dafür ist eine sorgfältige 22 23 24 25 26 27 28
Thier, Die Entdeckung des Narrativen für Organisationen, 2004, 60. Kap. I.2.5 Erwerb von Lebensdeutung in der Postmoderne. Kap. II.1.2 Gemeinde ist Hörgemeinschaft. Zimmermann, a. a. O., 74. Diethelm u. a. (Hg.), Lebenswelten, 2012, 32. Gräb, Predigtlehre, 2013,10. Die ›Übung‹ ist ein Kommunikationsprozess zwischen Gott und Mensch, geschieht in verschiedenen Formen und beginnt immer mit der »Vergegenwärtigung« des Wortes. Vgl. Harms, Glauben üben, 2011, 127f.
Die Predigt
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exegetische und theologische Einführung in den biblischen Text.29 Die Pfarrperson hilft der Gemeinde zum eigenständigen Hören und zum Eintreten in einen mündigen Deutungsdiskurs. Die Gemeindeglieder geben einander an dem teil, was sie mit Hilfe des angebotenen Zugangs an den biblischen Texten wahrnehmen. Das Ziel der Predigt besteht nicht im Herbeiführen einer einheitlichen Deutung. Vielmehr nimmt die Gottesdienstgemeinde die Vielfalt ihres je persönlichen Hörens wahr und erfährt, dass sich Gemeinschaft gerade im Diskurs und im Teilgeben an der Vielfalt des Gehörten einstellt.
1.2
Predigt – eine Beschreibung laufender Praxis
Die in den ›Sofagruppen‹ befragten Gemeindeglieder nennen die Predigt einen wichtigen Grund dafür, dass sie sich nach ihrem Ortswechsel der neuen Gemeinde angeschlossen haben: Hella: Bei mir war es so, dass ich, nachdem wir überlegt haben, ob das Berlinprojekt unsere neue Gemeinde werden soll, war ich besonders berührt von der Art des Gottesdienstes, vor allem von den Predigten. (Die andern stimmen verbal und nonverbal zu.) Das war nach langer Zeit für mich so toll, dass ich wieder Input bekommen habe, der für mich relevant ist. Und da habe ich gesagt, ich möchte, dass das meine Gemeinde wird aus diesem Grund. (Die andern stimmen nonverbal zu.) Dann, ein zweiter Schritt, um mich noch zugehöriger zu fühlen, war das mit den Sofagruppen, wie du gesagt hast, Klara. [Sofagruppe B] In allen drei Interviewgruppen beschreiben die Gemeindeglieder präzise und auf dem Hintergrund früherer Predigterfahrungen, wodurch sich die Predigten ihrer Meinung nach auszeichnen. 1.2.1 Die Lebensrealität berühren Als Kennzeichen lebensweltlicher Kommunikation haben wir genannt, dass sich die Wissenstradition der Kirche als anschlussfähig für persönliche und existentielle Fragen und für »neue Weltzustände« erweist.30 Eine der Befragten erzählt wie überrascht sie war, als im Gottesdienst des Berlinprojekts für Politikerinnen und Demonstranten des zeitgleich stattfin29 Bittner, Hören in der Stille, 2009, 40. 30 Kap. III. 2.1.2 Lebenswelt erneuert sich.
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denden G8 Gipfels in Heiligendamm gebetet wurde.31 Es war ihr erster Gottesdienstbesuch nach dem Umzug nach Berlin gewesen und sie war berührt zu hören, dass »Gott ein Anliegen für die Welt hat«: Annika: Was für mich das wichtigste ist und mich am meisten reizt am Berlinprojekt ist, dass das Evangelium im Zentrum steht, die Art und Weise, wie das vermittelt wird durch ne geistig anspruchsvolle Predigt, die mich gleichzeitig berührt und in meine Lebensrealität reinspricht. […]. Glaube ist nicht so was, was man ab und zu mal macht. Ich und mein Jesus, unser kleines Ding, sondern da geht es um die Welt. Da merkt man, dass Gott ein Anliegen für die Welt hat und das hat das Berlinprojekt glaube ich auch. Das ist nicht so weltfremd. [Sofagruppe A] Für die Befragte ist es Gott selbst, der sich »für die Welt« engagiert. Die Gottesdienstgemeinde vollzieht dieses Engagement Gottes mit. Richard: Und was ich auch finde ist, einer der Grundsätze vom Berlinprojekt ist auch, kulturell relevant zu sein im Stadtteil und ich glaube, das ist auch ganz wichtig, der Aktualitätsbezug und diese kulturelle Relevanz innerhalb des Umfeldes, in dem das Berlinprojekt ist. Das ist – eigentlich – das zieht sich durch alle Bereiche im Berlinprojekt. [Sofagruppe B] Die Befragten erwarten von der Predigt nicht nur die Befriedigung ihrer persönlichen Bedürfnisse oder Kontingenzerfahrungen.32 Sie nehmen Gott als jemanden wahr, der sich für eine Mehrheit von Menschen engagiert, die nicht ›sie selbst‹ sind. Die Gemeinde erfahren sie als einen Ort, um in dieses Engagement mit einstimmen zu können. 1.2.2 Verständlich und nachvollziehbar sein Die Befragten heben hervor, dass sie die Predigten im Berlinprojekt als verständlich und nachvollziehbar empfinden. In den Interviews polemisieren sie über frühere Predigterfahrungen: 31 Treffen von acht Staats- und Regierungschefs vom 6.–8. Juni 2007 im Ostseebad Heiligendamm (D). 32 Der Befriedigung persönlicher Kontingenzerfahrungen durch die Predigt schreiben beispielsweise Rainer Preul und Edgar Wunder grosse Bedeutung zu. Siehe: Preul, Die soziale Gestalt des Glaubens, 84; Wunder, Religion in der postkonfessionellen Gesellschaft, 2005, 42.
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Carola: Es ist auch, man nimmt halt was mit. Es ist nicht so: Hier ist noch eine schöne Bibelstelle. Und da noch ein bisschen Liebe und ein bisschen Gnade. Sondern da wird ein Text durchgeackert. Denise: Ich finde es eher einfach. Ich habe sonst immer das Gefühl gehabt – in der … ist immer alles so kompliziert.33 Carola: Nicht so: Da noch ein Text, und dann fällt mir noch ein: Johannes und übrigens in der Apostelgeschichte. Denise: Für mich ist es das erste Mal, dass ich das Gefühl habe: Yeah, ich verstehe es. Es gibt einen roten Faden, ist ein bisschen was Wissenschaftliches. Wir analysieren einen Bibeltext. In andern Gemeinden ist es so: Thema Liebe. Ich habe hier 15 Bibelstellen rausgesucht, wo steht, dass Gott uns liebt und dass wir einander lieben sollen. Also das ist so. Arlette: Man lernt immer etwas Neues. Ja genau. Man hat ein Aha-Erlebnis. Nicht nur: Was kann ich daraus für mein Leben mitnehmen, sondern das ist wissenschaftlich. Annika: Aber auch nicht immer. Arlette: Aber so ist der Ansatz. [Sofagruppe A] Die Befragten kontrastieren ihre gegenwärtigen Predigterfahrungen mit Erfahrungen von einem assoziativen und willkürlichen Umgang mit biblischen Texten. (»Hier ist noch eine schöne Bibelstelle. Und da noch ein bisschen Liebe und ein bisschen Gnade.«) Sie möchten, dass der Predigtaufbau nachvollziehbar ist und am besten gleich zu Beginn der Predigt vorgestellt wird. Carola: Es hilft auch voll am Ball zu bleiben, denn sie sagen vorher immer schon, wie die drei Punkte heissen. Und wenn das während der Predigt wieder kommt, bleibt man am Ball und du denkst nicht: krass, wo sind wir gelandet? [Sofagruppe A] Die Befragten wollen sich beim Hören der Predigt vom biblischen Text leiten lassen. Die Lebenspraxis soll sich dabei vom Bibeltext her erschliessen: Richard: Und am Anfang steht der Bibeltext. Der Bibeltext steht erst mal da direkt aus der Bibel und das ist der Ausgangspunkt, von dem die praktischen 33 Deborah nennt ihr Herkunftsland.
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Sachen abgeleitet werden. Nicht andersrum, was ich auch oft erlebt habe, wir reden über das und das. Jetzt suchen wir uns mal die Bibelstellen, wo das steht. Tina: Stimmt. Richard: Sondern es ist eher anders rum. Wir nehmen uns eine Bibelstelle. Vielleicht auch zu einem bestimmten Thema. Aber die Bibelstelle steht am Anfang und daraus entwickeln wir dann die Predigt. [Sofagruppe B] Die Befragten legen Wert auf die historische Zuordnung des Predigttextes und auf die Wahrung der biblischen Zusammenhänge. Sie schätzen es, wenn der Umgang mit dem Bibeltext sie in neue Erfahrungen und zu »Aha-Erlebnissen« führt. Hella: Der Bibeltext wird oft sehr gut in dem historischen Kontext, in dem er aufgeschrieben wurde, erklärt. Was viele Dinge aus alten Denkmustern zurechtrückt bei mir und ich habe so Aha-Erlebnisse, wenn mir jemand bewusst sagt: In dem und dem Kontext ist das gesagt. Da werden christliche Traditionen, traditionelle Denkmuster korrigiert, was eine schöne Erfahrung ist. Und dann ist sehr schön finde ich, dass es Predigtreihen sind, dass die Predigten aufeinander aufbauen, dass man sich am Stück mal einen ganzen Brief in der Bibel anguckt oder einen bestimmten Themenkomplex und nicht so willkürlich einen Vers mal und dann ziehen wir ihn aus dem Zusammenhang heraus und sagen etwas, was uns dazu einfällt. Macht die Sache auch sehr schön. [Sofagruppe B] Die Befragten äussern in den Interviews mehrfach den Wunsch nach einer »wissenschaftlichen« Auseinandersetzung mit dem Bibelwort. Wissenschaftlichkeit ist dabei wohl eine Chiffre für die Bereitstellung eines Wissens, das die Predigthörerinnen und -hörer als mündige Menschen behandelt. Der Predigttext soll sich unabhängig von ihren weltanschaulichen Voraussetzungen verstehen lassen. 1.2.3 Das Evangelium ins Zentrum stellen Die befragten Gemeindeglieder legen Wert darauf, dass ihnen in der Predigt das Evangelium zugesprochen wird. Evangelium heisst für sie, dass Christus »Interesse« an Menschen hat und sie »annimmt«.
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Annika: Was immer wieder klar wird und was für mich lebensverändernd war, dass es um Gnade geht, dass Gott einen annimmt und es ist nicht (betont) so: Hier sind ganz viele Regeln und wenn ihr die einhaltet, könnt ihr zu Gott kommen. (Pause) Es ist ganz nah an der Bibel. Und es wird vermittelt: Christus hat Interesse an uns. Das ist, was für mich – (Pause) dass alles so fest verwurzelt ist. [Sofagruppe A] Der Erfahrung von »Gnade« korrespondiert die Einsicht, keine Voraussetzungen erfüllen zu müssen, um in den Genuss dieser Erfahrung zu kommen. Interviewerin: Fällt euch ein Bibelvers ein, mit dem ihr das Berlinprojekt beschreiben könnt? Annika: Ich weiss einen, und ich kann nicht viele. (Alle lachen) Römer 8,1. Dass es keine Verdammung mehr gibt. Da, ich habe ne Bibel in der Tasche. (Alle nehmen eine Bibel und suchen den Vers.) Annika: Ich meine, wie befreiend es ist, wenn du Gott in dein Leben lässt. Das habe ich im Berlinprojekt gelernt. Und nicht, dass es eine Menge Regeln gibt: Wenn du die einhältst, dann kannst du irgendwie Christ sein. Carola: Der Glaube macht dich gerecht. Und Gott liebt dich mit deinen Fehlern. Ich könnte keine genauen Bibelstellen nennen, aber das sind die beiden zentralen Punkte, die ich im Berlinprojekt mitbekommen habe. [Sofagruppe A] Was die Befragten theologisch als Rechtfertigung durch Glauben beschreiben, empfinden sie als einen empathischen und ermutigenden Umgang mit ihnen als der Gottesdienstgemeinde. Hella: Und dann ist es so, dass jede Predigt eigentlich fast ausschliesslich Mut macht und Hoffnung gibt. Und das auf eine ganz wertschätzende Art und Weise kommuniziert wird, die sehr empathisch und aufbauend ist. (Pause) Das ist alles. [Sofagruppe B] Bei mir als Interviewerin entstand die Frage, wodurch die Befragten die Fähigkeit erworben haben, Predigten so präzise zu beschreiben. Die Interviewten unterscheiden eine Predigt, die dem Evangelium Raum gibt, von Predigten ohne Rechtfertigungsbotschaft.
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1.2.4 Die Predigt verstehen, auch ohne einverstanden zu sein Die Befragten beschreiben den Gottesdienst des Berlinprojekts als eine Hörgemeinschaft von Menschen mit unterschiedlichen Vorerfahrungen. Die Predigt setzt nicht voraus, dass die am Gottesdienst Teilnehmenden den Glaubensinhalten bereits zustimmen. Annika: Was noch ein Aspekt ist, dass das Berlinprojekt so erfolgreich ist. Es gibt wenige Gemeinden, in denen eine so grosse Diversität herrscht bezüglich dessen, wie weit man schon im Glauben ist. Also nicht in Form eines Wettbewerbs, sondern es gibt Leute, die sich rein intellektuell damit befassen und es sind nicht alles wie in manch andern Gemeinden Leute, die seit Kindertagen reingewachsen sind. Und die sagen, ich habe so einen engen Draht mit Gott und alles ist supi, sondern es gibt total viele, die kritisch sind, die schlechte Erfahrungen mit dem Glauben gemacht haben, und jetzt das erste Mal seit Jahren einen Bezug dazu kriegen. Also solch eine Diversität! Man kann ganz offen sagen, ich hatte in den letzten zehn Jahren damit nichts zu tun. Ich nähere mich dem ganzen wieder an. Ich tue das auf einer intellektuellen Ebene. So sind auch die Predigten konstruiert. Dass man nicht diese christlichen Insider-Floskeln: Da hat der Herr mir gesagt. (Pause) Deshalb kann man glaube ich auch Leute mitnehmen. [Sofagruppe A] In der Wahrnehmung der Befragten nimmt die Predigt Einwände und kritische Fragen auf. Den kirchlich sozialisierten Predigthörerinnen und -hörern hilft sie, für selbstverständlich gehaltene Denkmuster zu erkennen und neue Sichtweisen kennen zu lernen: Carola: Ich bin Pastorentochter. Ich bin damit gross geworden und habe mich irgendwann nicht mehr getraut, irgendwelche Fragen oder Zweifel zu haben. Dachte, eigentlich müsste ich schon alles wissen. Hier in der Gemeinde kann ich einfach … (Pause). Ich finde es eine Herausforderung sich mit Leuten zu unterhalten, die damit gar nicht gross geworden sind und die die einfachsten Dinge fragen: Was soll dieser Jesus am Kreuz? Wäre das nicht ein viel grösseres Opfer gewesen, wenn er nicht (betont) wieder auferstanden wäre? So Fragen, die sich in andern Gemeinden keiner wagen würde zu stellen. Viele Dinge nimmt man, wenn man damit gross geworden ist, als gegeben hin: Das ist so! Das glaube ich! (Pause) Man hinterfragt das gar nicht. Durch all diese Worte, die sich vielleicht einfach nur auseinandersetzen, wird man herausgefordert. Das ist toll. Das habe ich noch nie erlebt. [Sofagruppe A]
Die Predigt
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Die Befragten fühlen sich als Predigthörerinnen und -hörer herausgefordert. Sie fühlen sich mit ihren eigenen Fragestellungen ernst genommen. Richard: Aber dabei ist es praktisch nicht, es ist nicht so konservativ, oder, oder – in der Hinsicht, dass es engstirnig ist oder dich verurteilt für das, was du bist. Sondern du bist erstmal, egal wer (betont) du bist, egal, was du für Überzeugungen hast, bist du erstmal angenommen, du kannst kommen und du bist nicht weniger Mensch, weil du irgendwelche bestimmten Überzeugungen hast. (sucht Worte) Das ist vielleicht, was du meinst. Klara: Es ist offen für Leute und ich glaube, das spricht sich rum unter den Christen. Dass es so eine Offenheit gibt für Leute, die auch mal (Pause) anders denken – oder so. [Sofagruppe B]
1.2.5 Die Predigt als Beginn eines Gesprächs erleben Die bisherigen Äusserungen zur Predigt wurden pointiert und wiederholt formuliert. Bei den folgenden zwei Beobachtungen handelt es sich um vereinzelte Wahrnehmungen der Befragten. Eine der Befragten erlebt die Predigt als den Beginn eines Gesprächs, das über den Gottesdienst hinausgeht. Klara: Mir fällt da eher bei dem Prozess, bei den Predigten eher etwas Negatives ein, also ein Aspekt. Wir lesen den Text am Anfang und die Texte werfen bei mir meistens ziemlich viele Fragen auf. Ich lese sie meistens ziemlich kritisch und denke mir: Warum steht denn so was da drin? Oder das klingt doch irgendwie komisch. Während der Predigt wird leider oft nicht auf meine Fragen eingegangen. Ich habe die Fragen oft nicht beantwortet am Ende der Predigt. Aber die Predigt war für mich oft trotzdem bereichernd und gut, aber meine Fragen und meine kritischen Fragen und, die sind oft nicht beantwortet, weil XY und XZ…34 Murielle: [unterbricht] Schreibst du die auf ? Klara: Nee. Murielle: Bring die Fragen doch mal mit. Klara: Könnte ich machen. Ich vergesse die manchmal, am Ende habe ich sie oft schon wieder vergessen. 34 Klara nennt die beiden Pastoren beim Vornamen.
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Murielle: Am besten, wenn du viele Fragen vergisst: So ein Heft machen. Dann bring sie mal mit. Klara: Das ist ein nettes Angebot, also so viel zum Prozess. [Sofagruppe B] Die Befragten sind sich einig darüber, dass die Predigten Fragen aufwerfen und Fragen auch unbeantwortet lassen. Sie diskutieren, wie sie das bewerten wollen. Sie ermutigen einander, die Fragen in die ›Sofagruppe‹ mitzubringen oder dem Pastor ein Mail zu schicken: Hella: Es ist in jedem Gottesdienst die Möglichkeit, den Pastor hinterher anzusprechen auf die Predigt. Richard: Ja, aber das ist nicht nur die Predigt. Hella: Aber alleine die Tatsache, dass jemand das zulässt und sagt: Wenn ihr irgendwelche Fragen oder Probleme oder irgendetwas habt, dann fragt mich. Dass das Angebot da steht. […] Murielle: Hast du das schon mal gemacht? Hella: Ich habe schon mal ne E-Mail geschrieben, weil so Face-to-Face ist nicht so mein Ding. Murielle: Wissen die dann, dass du das bist? Richard: Bestimmt. Hella: Ist mir eigentlich egal. Interviewerin: Du hast Antwort gekriegt? Hella: Sofort. [Sofagruppe B] Im Hören der Predigt kommt in der Wahrnehmung der Befragten die eigene Existenz (»meine Fragen, meine kritischen Fragen«) zur Sprache. Diese überschreitet den Raum des gottesdienstlichen Zusammenseins. Die Befragten empfinden es als ermutigend, dass die Möglichkeit zur Fortsetzung des Gesprächs besteht.35 35 Michael Herbst nennt die Predigt den Anfang eines Gesprächs, das auf Fortsetzung drängt. Vgl. Herbst, Wie sollen wir denn heute noch predigen?, in: Reppenhagen (Hg.), Kirche zwischen postmoderner Kultur und Evangelium, 206–230, 228.
Das Abendmahl
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1.2.6 Die Predigt als Ort der Veränderung Eine Interviewpartnerin erzählt, dass die Predigten im Berlinprojekt auf ihr Leben wirken und sie verändern. Sie spricht von der den biblischen Geschichten innewohnenden kommunikativen Kraft.36 Murielle: Ich gehe meistens Sonntag hin, […] aber meistens habe ich mich da vorher mit meinem Mann gestritten. (Pause) Doch, wir sind glücklich, so ist es nicht, aber jedenfalls liegt es meistens auch an mir. Weil, ich kenne mich. (Pause) Ja? Das Coole ist: Ich frage mich dann immer. Also wenn – es ist nicht immer so, dass ich sonntags so geladen zum Gottesdienst gehe, auf keinen Fall, aber wenn so was ist, frage ich mich immer: Wie kriegt die Predigt jetzt mich wieder gerade? Oder wie kriegt Gott mich jetzt wieder so, dass ich anders denke? Ich kann mir ja nicht vorstellen, dass ich jetzt nach Hause fahre, danach und alles wieder toll ist. Und komischerweise hat sich dann immer alles umgedreht. Lustigerweise ist es oft zugeschnitten. Ich hatte zwar mal eine Predigt, da dachte ich, nee, die ist es für jemand andern. Also, da konnte ich gar nichts mitnehmen, aber meistens passt das so. Irgendwie finde ich das dann lustig. [Sofagruppe B] Im Hören der Predigt erfährt die Befragte die kommunikative Kraft des biblischen Wortes (»Wie kriegt Gott mich jetzt wieder so, dass ich anders denke?«) In den Interviews haben die Befragten auch von Erfahrungen mit einem manipulierenden Reden von Predigern berichtet. Sie unterscheiden zwischen der dem Wort Gottes eigenen Kraft und einer als manipulierend empfundenen Predigt.
2
Das Abendmahl
In soziologischer Perspektive reproduzieren und erneuern sich Gemeinschaften im Vollzug des Erinnerns, und ihre Glieder bilden dabei ihre Identität aus.37 Die Kirche hat den Vollzug des Erinnerns in der Feier des Abendmahls institutionalisiert. Sie erinnert in der Mahlfeier einen Weg Gottes mit den Menschen, der in die Selbsthingabe Jesu Christi für die Seinen mündet. In der Feier des Abendmahls treten Gemeindeglieder in eine Geschichte hinein. Denn Erinnern ist Vergegenwärtigung, und zwar die Vergegenwärtigung sowohl des Vergangenen 36 Johannes Fischer unterscheidet die dem Text innewohnende kommunikative Kraft von Applikationen und Interpretationen. Vgl. Fischer, Leben aus dem Geist, 194. 37 Kap. I.3.7 Gemeinschaften erneuern sich im Vollzug des Erinnerns.
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Der Gottesdienst als Praxis lebensweltlicher Kommunikation
wie die des Kommenden.38 Die abendländische Tradition versteht memoria nicht als einen rein kognitiven Akt, sondern als Vergegenwärtigung dessen, was die sich Erinnernden heute noch bestimmt. Die Aufforderung »Tut das zu meinem Gedächtnis« (vgl. Luk 22,19; 1. Kor 11,24) meint nicht, dass die gottesdienstliche Gemeinde historisierend an Vergangenes zurück denkt. Vielmehr werden das, was einmal war, und das, was einmal sein wird, im Moment des Erinnerns zur Gegenwart. Gemeinde feiert das Vergangene und mit ihm das Kommende als ihre eigene Gegenwart. In der Feier des Abendmahls konstituiert sich Gemeinde als eine Subkultur, denn sie bildet ihre Identität aus der Teilhabe an Jesus Christus – und nicht von einem gesellschaftlichen Konsens her. Sich als eine gesellschaftliche Minderheit zu erfahren, ist Abendmahlsgemeinschaften in postmoderner Gesellschaft mit denen im frühen Christentum gemeinsam. Über diese schreibt Schlamelcher: »Weiterhin geht man seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nach, doch im gemeinsamen Mahl konstituiert sich diese neue Form von Vergemeinschaftung. […] Das frühe Christentum […] ist eine Gemeinschaft innerhalb der Gesellschaft.«39
Abendmahlsgemeinschaften zeichnen sich zudem durch eine grosse kritischtransformative Kraft, also ihr Veränderungspotenzial, aus: Den Feiernden wird Lösung aus bestehenden Bindungen zugesprochen. Das kritisch-transformative Potenzial ist gross, weil die Bestandsvoraussetzungen des Glaubens gezielt erinnert werden und weil der Feier ein hoher Grad an Personalisierung und damit an direkter Ansprache zueigen ist – »Christi Leib für dich gegeben«.
2.1
Abendmahl feiern unter den Bedingungen der Postmoderne
Was heisst es, das Abendmahl unter den Bedingungen der Postmoderne zu feiern? Die Taufe ist in postmoderner Gesellschaft zu einer zunehmend exklusiven Voraussetzung für die Teilnahme an der Mahlfeier geworden. In einer Zeit, in der die evangelische Kirche als Institution eine hohe gesellschaftliche Bedeutung hatte, schloss die Taufe als Zulassungsvoraussetzung zum Abendmahl den Grossteil der Gottesdienstgemeinde ein – meist unabhängig von ihrer tatsächlichen Lebensführung.
38 Zur Nachwirkung des scholastischen Verständnisses von lateinisch memoria, siehe Anh. 1 in Teresa von Avila, Das Buch meines Lebens, 3. Aufl. 2001, 632–633, und Johannes vom Kreuz, Die Dunkle Nacht, Dobhan u. a. (Hg.), 4. Aufl. 1995, 206. Den Charakter des Vergegenwärtigens tragen auch hebräisch sachar und griechisch mimnesko. 39 Schlamelcher, Kirchliche Vergemeinschaftungsformen, in: Evangelische Theologie 6/2010, 439–450, 441.
Das Abendmahl
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Heute wirkt die Taufe als Zulassungsvoraussetzung zum Abendmahl zunehmend exklusiv. Denn mit dem Bedeutungsverlust der Institution gehen auch die selbstverständliche Inanspruchnahme der Taufe und die mit ihr verbundene Begründung der Kirchenmitgliedschaft zurück. Wie feiert man das Abendmahl, wenn (v. a. an Festtagen) ein bedeutender Teil der Gottesdienstgemeinde die formalen Voraussetzungen für die Teilnahme nicht erfüllt? Setzen wir den gesellschaftlichen Normalfall voraus, nämlich dass bei den am Gottesdienst Teilnehmenden eine Diversität in Bezug auf Mitgliedschaftsverhältnisse und Zugehörigkeitserfahrungen besteht. Menschen sind zwar getauft, aber nicht mehr Mitglied der evangelischen Kirche. Andere wurden nicht (mehr) getauft, verstehen sich aber als glaubende Menschen.40 Wieder andere wissen nicht, wie sie sich verstehen können oder sollen, auch wenn sie Mitglied der evangelischen Kirche sind. Es stellt sich die sensible Frage nach der Formulierung von Kriterien für die Teilnahme an der Mahlfeier. Eine theologisch nicht reflektierte Offenheit würde sich darin zeigen, dass voraussetzungslos jede und jeder zur Teilnahme an der Mahlgemeinschaft eingeladen wird. Solche Praxis würde die evangelischen Kirchen auf Dauer in eine Identitätskrise führen. Denn wie können die Mitglieder ihre Identität bilden, wenn sie sich unterschiedslos angesprochen erfahren? Wird die Kirche als eine Weggemeinschaft der Hoffnung verstanden, dann können Taufe und Kirchenmitgliedschaft als Ausgangspunkt und als Zielpunkt für Erfahrungen von Zugehörigkeit reflektiert werden. Für die Einen wird die Mahlfeier zum Ort der Vergewisserung und Aktualisierung ihrer Mitgliedschaft. Die Anderen werden gefragt, ob sie Erfahrungen mit Zugehörigkeit machen und damit auf Mitgliedschaft zuleben wollen. In der Mahlfeier rückt das Auf-demWege-sein mit Christus und der Gemeinde in den Mittelpunkt. Menschen kommen von ihnen unsicher gewordenen Mitgliedschaftsverhältnissen her oder leben auf ein ihnen noch nicht sicheres Mitgliedschaftsverhältnis hin.
2.1.1 Erklären, aber nicht entscheiden Wird der Gottesdienst als lebensweltliche Kommunikation verstanden, dann befinden die Beteiligten selbst darüber, ob sie sich als Glieder der Gemeinde Jesu Christi verstehen. Mit einer Formulierung von Merz-Benz wissen sie selbst, ob sie »in und mit der Gemeinschaft geworden sind«.41 Nicht die Gemeindeleitung oder die Pfarrpersonen entscheiden darüber, wer am Abendmahl teilnimmt. Dass Menschen selbst über ihre Zugehörigkeit entscheiden, setzt voraus, dass ihnen 40 Beobachtungen zum Zusammenhang von Zugehörigkeitserfahrungen und Mitgliedschaftsverhältnissen bei Niethammer, Kirchenmitgliedschaft in der Freikirche, 1995. 41 Merz-Benz, a. a. O., 35.
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Kriterien zur Verfügung stehen. Kriterien zur Verfügung zu stellen ist Aufgabe der Verkündigung und schliesst die hinführenden Worte zur Feier des Abendmahls ein. Wenn eine Gemeinde sich als Weggemeinschaft der Hoffnung versteht, dann trägt auch die Feier des Abendmahls den Charakter einer Weggemeinschaft.42 Dass Menschen sich mit der Frage nach ihrer Zugehörigkeit befassen, braucht Zeit und Raum. Es wird als ›normal‹ betrachtet, dass sich Menschen ihrer Identität nicht gewiss sind, und darüber kann im Gottesdienst in einer nichtbewertenden Weise auch gesprochen werden. In einer Weggemeinschaft der Hoffnung können Menschen an der Feier des Abendmahls teilnehmen, auch wenn sie noch nicht wissen, wie sie ihre Zugehörigkeit zu Jesus Christus verstehen wollen oder können. Die Erfahrung der Christuswirklichkeit kann erst noch erwartet werden. 2.1.2 Handlungsalternativen und liturgische Differenzierungen entwickeln In einer Weggemeinschaft der Hoffnung wird damit gerechnet, dass Menschen noch nicht oder nicht mehr wissen, wie sie sich in Bezug auf den Glauben und die Kirche verorten. Nun lassen sich für den Gottesdienst Formen des Zuspruchs entwickeln, die der Prozesshaftigkeit der Identitätsbildung und dem prozesshaften Entstehen von Zugehörigkeit entgegen kommen. Kehl spricht von einer liturgischen Differenzierung. Er nimmt eine wachsende Asymmetrie zwischen aktiven und inaktiven Kirchenmitgliedern wahr und hat daraufhin die Sakramentspastoral überdacht: »Die Motivation vieler Menschen, in der Kirche den Segen Gottes für bestimmte Lebensabschnitte zu suchen, reicht vielfach nicht aus, um darauf immer schon mit dem erbetenen Sakrament zu antworten.«43
Liturgische Differenzierung meint, dass beispielsweise parallel zur Feier des Abendmahls oder in diese integriert die Möglichkeit besteht, dass Gottesdienstteilnehmerinnen und -teilnehmer sich segnen lassen und ihren Weg unter dem Zuspruch der Liebe Gottes fortsetzen. Gemeinde entwickelt Formen, in denen Menschen der Vielfalt ihrer Lebensführung entsprechend die Begleitung Gottes zugesprochen wird. Liturgische Differenzierung ermöglicht es, auch Menschen einer anderen Konfession oder Religion willkommen zu heissen. Denn Segenshandlungen sind, anders als die Feier des Abendmahls, nicht an ein Bekenntnis gebunden.
42 Kap. II.2.3 Kirche als Weggemeinschaft, Basisgemeinde, neues Gottesvolk. 43 Kehl, Wohin geht die Kirche?, 4. Aufl. 1996, 139.
Das Abendmahl
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Von der Anlage her findet sich der Hinweis auf die Notwendigkeit liturgischer Differenzierung bereits bei Jürgen Moltmann. In Kirche in der Kraft des Geistes nennt Moltmann Kinder- und Erwachsenentaufe als parallele Möglichkeiten der Gemeinde, sieht für Kinder aber explizite Segnungshandlungen im Gottesdienst vor.44
2.2
Abendmahl – eine Beschreibung laufender Praxis
Für die Befragten ist die Feier des Abendmahls an ein tatsächliches Erleben gebunden. In jedem Morgengottesdienst der Gemeinde Berlinprojekt wird das Abendmahl gefeiert. In jedem Gottesdienst wird neu erklärt, was das Abendmahl ist. David: Der Gottesdienstablauf, da hat man glaube ich, wenn man neu hinkommt, nicht so stark das Gefühl, dass man da in so einer fremden, komischen, traditionellen Veranstaltung sitzt, sondern ich glaube, es wird relativ gut erklärt. Also zum Beispiel wird das Abendmahl immer neu erklärt, was das jetzt soll und wer da jetzt dran teilnehmen darf oder sollte und ach – ja. [Sofagruppe C] Die Befragten kontrastieren die Abendmahlsfeier, wie sie ihnen in ihrer Gemeinde begegnet, mit Erfahrungen von einer »fremden, komischen, traditionellen Veranstaltung«. Sinn und Ablauf des Abendmahls erschliessen sich ihnen – obwohl akademisch gebildet – nicht von selbst, sondern sie sind auf Erläuterung angewiesen. Die in jedem Gottesdienst formulierte Einführung und Erklärung der Abendmahlsfeier wird von den Befragten als Hilfe und als Herausforderung erfahren. Thomas: Das Abendmahl ist noch ganz gut gemacht finde ich. Es ist sehr persönlich. Man kann selber entscheiden, ob man mitmachen will oder nicht. Es ist sehr transparent. Das fand ich einen guten Begriff, weil es gibt ja auch diesen Ablaufplan, diesen gedruckten. Man kann immer gucken, was kommt als Nächstes, was kommt danach? Es gibt auch Fussnoten, wo Dinge erklärt werden. ›Lamm Gottes‹. Dann wird erklärt: warum steht das hier? Was hat das Lamm da zu suchen? [Sofagruppe C]
44 Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes, 1975, 266.
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Der Gottesdienst als Praxis lebensweltlicher Kommunikation
Die Einzelnen entscheiden über ihre Beteiligung am Abendmahl. (»Man kann selber entscheiden, ob man mitmachen will oder nicht.«) Nicht die Gemeindeleitung entscheidet darüber, wer am Abendmahl teilnimmt, aber sie stellt den Anwesenden Kriterien zur Verfügung. Diese Kriterien sind verständlich. (»Es ist sehr transparent.«) Kriterien zur Verfügung zu stellen ist Aufgabe der Verkündigung und schliesst die hinführenden Worte zur Feier des Abendmahls ein. Indem die Gemeindeleitung nicht über die Zugehörigkeit von Menschen befindet, nimmt sie die Teilnehmenden als Subjekte der Kommunikation ernst. Interessant scheint mir, dass die Befragten das Nachdenken über die eigene Zugehörigkeit nicht als belastend, sondern als eine gute Erfahrung beschreiben: Hella: Aber das provoziert auch, dass man sich selber darüber Gedanken macht, wenn es so formuliert ist. Wenn es so ist, dann ist es ein guter Ort, dahin zu kommen. Das heisst, ich muss darüber nachdenken, ob es so ist. Und das ist schön. [Sofagruppe B] Im Vollzug der Abendmahlsfeier befinden die Beteiligten selbst, ob sie sich als Mitglied der Gemeinde Jesu Christi verstehen. In der Selbstdarstellung der Gemeinde – beim Seminartag Berlinprojekt im Detail – wird die Feier des Abendmahls als eine Gelegenheit zur Selbstverortung verstanden. »Abendmahl ist der eine besondere Moment im Gottesdienst, wo den Leuten die Gelegenheit gegeben wird zu sagen: Wo stehe ich eigentlich? Es ist so viel Umhergehen und bewusste Unübersichtlichkeit, dass nicht auffällt, was der Einzelne macht. Der Einzelne soll sich nicht beobachtet fühlen.«45
Jeweils zwei Mitglieder der Gemeinde teilen an sechs Orten im Raum, auch direkt im Türbereich, das Brot und den Wein in Einzelkelchen aus. Einige Menschen verlassen den Gottesdienstraum, andere bleiben am Platz und lesen in den Programmheften. Während der Feier des Abendmahls spielt eine Band Lieder aus dem Programmheft. Die Nicht-Teilnahme am Abendmahl wird als gleichberechtigte Möglichkeit dargestellt: »Wir ermutigen, sitzen zu bleiben und nicht teilzunehmen. Damit der Gottesdienst für die Nicht-Teilnehmenden nicht zu Ende ist, öffnen wir für diejenigen auch einen Raum mit Texten im Programmheft.«46
45 Aus der Transkription des Seminartags Berlinprojekt im Detail. Ort und Zeit: Galerie Ecke Saarbrücker Strasse/ Strassburger Strasse, Samstag, 24. 4. 2010, 10–15 Uhr. Die etwa 35 Anwesenden haben sich per e-Mail angemeldet. 46 Ort und Zeit: ebd.
Als Wahlgemeinschaft ins Gespräch kommen
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Es sind verschiedene Formen der Beteiligung möglich – auch für diejenigen, die nicht an der Feier des Abendmahls teilnehmen möchten. Damit wird ernst genommen, dass Identitätsbildung prozesshaft und auf Hoffnung hin geschieht.
3
Als Wahlgemeinschaft ins Gespräch kommen
Menschen beteiligen sich zunehmend aufgrund persönlicher Entscheidungen am Leben einer Kirchgemeinde.47 Karl Gabriel ist überzeugt, dass die Zukunftsfähigkeit der Kirchen mit daran hängt, dass sie dem Wahlverhalten ihrer Glieder entgegen kommen. »Vieles wird davon abhängen, ob es der christlichen Tradition gelingt, neue Wahlligaturen und Wahlvergemeinschaftungen als Reaktion auf gesellschaftliche Individualisierung hervorzubringen.«48
Eine praktisch-theologische Herausforderung besteht darin, dass Kirchgemeinden lernen, auch als Wahlgemeinschaften zu kommunizieren. Auch heisst, dass sie zwar in theologischer Perspektive keine Wahlgemeinschaften sind, es in soziologischer Perspektive aber zunehmend werden. Der Soziologe Michael Hochschild hat in einer Befragung von 2012 festgestellt, dass selbst klösterliche Gemeinschaften als Wahlgemeinschaften wahrgenommen werden: »Letztlich sucht man – ob als Mönch oder Sympathisant – nach seinesgleichen und hört dort auf, wo man fündig wird. Wahlverwandtschaften sind anscheinend das Erfolgsgeheimnis florierender Klöster.«49
In soziologischer Perspektive kann eine Kirchgemeinde ein Spektrum an Beteiligungsmöglichkeiten zur Wahl stellen. In theologischer Perspektive gilt es, diese im Lichte des Erwähltseins durch Jesus Christus zu präsentieren. Grözinger weist darauf hin, dass es in theologischer Perspektive eine Wahl nicht gibt. Nicht der Mensch wählt, sondern es ist Gott, der den Menschen zur Gemeinschaft mit sich ruft. »Man mag in der Erlebnisgesellschaft zwar ›Religion‹ wählen, aber man geht dabei zugleich immer das Risiko ein, dass einem dort nicht das Vertraute, sondern das Heilige in seiner Andersartigkeit begegnet. Nicht wir wählen schlussendlich das Heilige, sondern das Heilige wählt uns. Eine der Erlebnisgesellschaft zutiefst fremde Erfahrung lauert so am Grund aller religiösen Wahl.«50 47 Dass moderne Gesellschaften sich durch Pluralität und die Möglichkeit, bzw. den Zwang zur Entscheidung auszeichnen, wird in Kapitel II.2 besprochen, besonders in Kap. I.2.2.3 Das Wählen unterliegt Voraussetzungen. 48 Gabriel, Tradition im Kontext enttraditionalisierter Gesellschaft, in: Gabriel u. a., Wie geschieht Tradition?, 1991, 69–88, 84–85. 49 Hochschild, Elastische Tradition, 2013, 139–140. 50 Grözinger, Das Heilige in der Erlebnisgesellschaft, 1996, 22.
246
Der Gottesdienst als Praxis lebensweltlicher Kommunikation
Die Theologie darf sich nicht dahin verirren, den Menschen als den grundlegend Wählenden zu verstehen. Natürlich wählt er. In der Rückschau erkennt er – und zu diesem Erkennen hat ihm die Theologie zu helfen –, dass seine Wahl nicht der Grund, sondern die Folge von Gottes Wählen ist. Wäre es anders, würde die Zugehörigkeit zur Gemeinde Jesu Christi zu einer Option des Lebens werden. In postmodernem Empfinden ist sie das. Theologisch kann sie das nicht sein. Gemeinde spricht dem Einzelnen zu, dass er im Entscheid Gottes mit seinem Entscheiden immer schon gemeint ist.
3.1
Beteiligung ermöglichen
Es liegt nahe, Menschen, die das Wählen als Lebenshaltung verinnerlicht haben, ein Spektrum an Formen und Beteiligungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Modelle, die eine zukunftsfähige Kirche zeichnen, befürworten eine mixed economy of church, eine Vielfalt und Mischung von Sozialformen.51 Als ein Beispiel dafür, dass Menschen eine Beteiligung am Gottesdienst möglich gemacht werden soll, können Theorie und Praxis inklusiver Gottesdienste gelten: Inklusive Gottesdienste haben von ihrem ursprünglichen Anliegen her Menschen mit Behinderung vor Augen. Sie klären die Bedingungen, unter denen eine gemeinsame Feier des Gottesdienstes möglich ist. Inklusion wird damit zu einem Paradigma für den Umgang mit Menschen in postmoderner Gesellschaft schlechthin: Ohne die aufmerksame Wahrnehmung von Menschen und ihren Lebensformen, ihren Gewohnheiten und Möglichkeiten, lässt sich eine auf eigener Wahl beruhende Beteiligung kaum verwirklichen.52 Es bedarf eines Wissens um die Zeiten, Orte, Möglichkeiten usw. derjenigen Menschen, für die eine Kirchgemeinde bzw. ein Gottesdienst gemeinsame Sozialwelt sein will.53 »Jede Ortsgemeinde, jede Bildungseinrichtung und jede andere kirchliche Organisationsform kann (und sollte!) daraufhin überprüft werden, auf welche Lebensstile sie faktisch ausgerichtet ist und welche Faktoren dafür eine Rolle spielen. In den Blick
51 Diethelm u. a. (Hg.), Lebenswelten, 2012, 29. 52 Inklusive Theologie nennt vorgängige gemeinsame Alltagserfahrungen als Voraussetzung für gelingende Gottesdienste. »Ohne informelle Begegnungen im gemeindlichen Alltag fehlt dem Miteinander am Sonntag die nötige Vertrautheit mit der Andersartigkeit des Anderen.« (Kunz, Inklusive Gottesdienste, 2012, 93, unter Bezugnahme auf Christiane Bindseil.) Weitere Kriterien sind für Kunz der inkludierende Charakter der Liturgie und die Beteiligung einzelner Personen, die eine Art Mittlerrolle einnehmen. Ebd., 93–94. 53 Kap. I.2.4.2 Leben in einer Vielzahl strukturgleicher Lebensformen.
Als Wahlgemeinschaft ins Gespräch kommen
247
genommen werden müssen dafür die Sozialformen, Inhalte, regionale Orientierung, Gemeinschaftskonzept, Leitungsstil, implizite Normen etc.«54
Es sind verschiedene Faktoren, die es Menschen ermöglichen, sich am Leben einer als Subkultur kommunizierenden Kirchgemeinde zu beteiligen. Die Bedeutung von sogenannten ›Drehpunktpersonen‹ gewinnt an Bedeutung. Auch in inklusiven Gottesdiensten kommt einzelnen Personen eine Art Mittlerrolle zu, durch die Anderen erst eine Beteiligung möglich wird.55 Es braucht in Gottesdiensten, die Feiern einer gesellschaftlichen Minderheit sind, ›Drehpunktpersonen‹, falls man es nicht als Aufgabe der Pfarrpersonen betrachtet, den Kontakt zu Menschen in anderen Sozialwelten herzustellen.56 Im Modell einer kommunizierenden Kirche beruht der Erwerb gemeinsamer Sozialwelt auf den WirBeziehungen potenziell aller Mitglieder der Gemeinde.57 Nun können Gemeindeglieder nicht ungefragt in die Sozialwelt anderer Menschen eindringen. Gemeinsame Lebenswelt entsteht in Sozialwelten, in denen Gemeindeglieder selbst Zuhause sind. Das sind soziale Orte, an denen sie sich sicher fühlen und sich als kompetent erleben. Dringen Gemeindeglieder in fremde Sozialwelten ein, kann Unbehagen an übergriffig empfundenen (›missionarischen‹) Versuchen der Kontaktaufnahme entstehen. Der Sozialwissenschaftler Rolf Schwendter war Künstler und selbst in unterschiedlichen Sozialwelten zuhause. Er weist in seiner Theorie einer Subkultur auf die ausserordentliche Bedeutung von Menschen, die in verschiedenen Sozialwelten unterwegs und dort anerkannt sind. Er bezeichnet sie als Drehpunktpersonen oder Pivot-players.58 ›Drehpunktpersonen‹ stehen sowohl mit der Hauptkultur wie auch einer Subkultur in Interaktion, beispielsweise einer Kunstszene und einem christlichen Freundeskreis. Sie tragen die Instabilität zwischen Establishment und Subkultur in ihrer Person aus.59 ›Drehpunktpersonen‹ haben eine kybernetische Bedeutung: »Menschen also, die helfen, die exkludierenden Dynamiken der Gesellschaft einzudämmen und inkludierende Dynamiken der Gemeinde Jesu zu fördern und zu nutzen.«60
54 Pohl-Patalong, Differenzen wahrnehmen – Differenzen gestalten, in: Ebertz/ Hunstig (Hg.), Hinaus ins Weite, 2. Aufl. 2008, 118. 55 Kunz, Inklusive Gottesdienste, in: Pastoraltheologie 3/2012, 87–101, 93–94. 56 Kap. II.2.8.2 Beteiligungskirche. Siehe auch Spielberg, a. a. O., 84–91. 57 Zur Koinonia-Dimension der Kirchgemeinde vgl. Kap. III.2.2 Gemeinde als Lebenswelt ihrer Glieder – ihre drei Beziehungsfelder. 58 Schwendter, Theorie der Subkultur, 1970, und Kap. IV.3.2.1 Lebensweltliche Kommunikation einer Subkultur. 59 Ebd., 62. Instabilität meint zum Beispiel, eine zunächst fehlende Akzeptanz oder Anerkennung auszuhalten. 60 Kunz, Inklusive Gottesdienste, in: Pastoraltheologie 3/2012, 87–101, 96.
248
Der Gottesdienst als Praxis lebensweltlicher Kommunikation
Verstehen sich Gemeinden als Lebenswelt einer Subkultur, ist es naheliegend, dass sie eine Sensibilität für diejenigen ihrer Mitglieder entwickeln, die sich in verschiedenen Sozialwelten bewegen und engagieren. Die Redeemer Presbyterian Church beispielsweise bezieht Drehpunktpersonen aktiv in ihr Kommunikationskonzept ein. Die Gemeindeleitung sieht sich angewiesen darauf, dass einige ihrer Mitglieder Kontakte mit Studierenden oder mit Menschen in verschiedenen Berufsgruppen (Medienleute, Geschäftsleute, Künstler usw.) pflegen. Sie bemühen sich in besonderer Weise um jene Mitglieder, die sie als Drehpunktpersonen im Leben der Stadt erleben. Timothy Keller zufolge hat seine Gemeinde von der Jewish Community in New York gelernt, wie wichtig eine Institution in der Gemeinde ist, die Drehpunkt-Personen hilft, in der Stadt bleiben zu können. Sie würden dafür Sorge tragen, dass Mitglieder der Gemeinde, die sie als wichtig für die Kommunikation in der Stadt erleben, Arbeit und Wohnung finden.61 Damit ist ein ungewohnter Aspekt der Koinonia als Beziehungsfeld der Gemeinde angesprochen. Die Sorge um Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten würde man als praktische Hilfeleistung eher dem Beziehungsfeld der Diakonia zurechnen. In einer in viele Sozialwelten auseinanderfallenden Gesellschaft kann die Sorge um Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten aber zum wesentlichen Bestandteil der kirchlichen Koinonia werden. Sie kann eine Voraussetzung für ein verbindliches Miteinander der Gemeindeglieder im Alltag darstellen.
3.2
Beteiligung ermöglichen – eine Beschreibung laufender Praxis
In evangelischen Gottesdiensten besteht für die Einzelnen zumeist eine mögliche Form der Beteiligung. Im Regelfall nehmen sie als Gottesdienstgemeinde zur festgelegten Zeit in Holzbänken oder Stuhlreihen Platz. Sie können diese vor dem Ende des Gottesdienstes kaum verlassen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Vielleicht ist der Sitzabstand, den Gemeindeglieder in evangelischen Gottesdiensten oft einhalten, als Ausdruck dafür zu verstehen, zumindest über den Raum des Sitzens selbst bestimmen zu können. Alternative Formen der Beteiligung können dabei denkbar schlicht sein: Sie schliessen ein späteres Kommen oder früheres Gehen, überhaupt die Bewegung im Raum ein. Beteiligung zu ermöglichen kann bereits in dem Angebot bestehen, Gemeindegliedern ein ›Festhalten‹ am Kaffee- oder Teebecher und die damit verbundenen Gefühle von Sicherheit zu ermöglichen. Im Berlinprojekt ist etwa eine Stunde vor Gottesdienstbeginn das Foyer des Kinos, in dem der Gottesdienst stattfindet, geöffnet, und es werden Kaffee und 61 Vortrag Keller, Urban Mission, 2010.
Als Wahlgemeinschaft ins Gespräch kommen
249
Tee angeboten. Manche Besucherinnen und Besucher nehmen ihre Becher mit in den Gottesdienstraum. Mike: Ein ganz wesentlicher Punkt ist, dass mich niemand anpflaumt, wenn ich meinen Tee im Gottesdienst trinke. […] Hella: Ich kann sogar meine Thermoskanne mitbringen. Mike: Da regt sich keiner drüber auf. [Sofagruppe B] Die Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten wird dann als echt empfunden, wenn sie als gleichwertig gilt. (»Da regt sich keiner drüber auf.«) Die bzw. der Einzelne wird auch bei abweichendem Verhalten nicht bewertet oder beschämt. Beteiligung zu ermöglichen meint, dass Menschen sich auch von ihrer Beteiligung distanzieren können, ohne über ihre Gründe Auskunft geben zu müssen. Cäsar: Du kannst frei entscheiden, ob du bleibst oder nicht. Da kommt keiner und sagt: Hey, kommst du nächstes Mal wieder? 62 [Sofagruppe A] Beteiligung zu ermöglichen schliesst ein, dass auf die Gottesdienste anderer christlicher Konfessionen und Gemeinden hingewiesen wird. Im Gottesdienst des Berlinprojekts wird konkret und einladend von den Gottesdiensten der benachbarten Kirchgemeinden erzählt. Es wird mit der Möglichkeit gerechnet, dass andere gottesdienstliche Orte den nach Beteiligung fragenden Menschen mehr entsprechen als der Gottesdienst der eigenen Gemeinde. Das ist Ausdruck dafür, dass sich eine Gemeinde ihrer eigenen kulturellen Begrenztheit und der Ausschnitthaftigkeit ihres theologischen Profils bewusst ist.63
3.2.1 Lebensformen wahrnehmen Nimmt eine Gemeinde die Lebensformen ihrer Mitglieder wahr, kann sie ihnen eine mit der Lebensform kompatible Form der Beteiligung ermöglichen.64 62 Der Befragte spricht vom Gottesdienst. 63 Kap. VI.1.2.1 Begrenzung als heilsame Voraussetzung von Gemeinschaft. Erst die Wahrnehmung der geschöpflichen Begrenztheit – die sich auf einzelne Menschen wie auch auf eine Gemeinde als ganze bezieht – macht Gemeinschaft und ein konfessionsübergreifendes Miteinander möglich. 64 Kap. V.3.1 Beteiligung ermöglichen.
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Der Gottesdienst als Praxis lebensweltlicher Kommunikation
Die Befragten beschreiben den Gottesdienst ihrer Gemeinde als leicht zugänglich für Menschen mit ihrer Lebensform, nämlich für junge, überwiegend akademisch gebildete Singles. Cäsar: Also die allein erziehende Mutter ist nicht in der Zielgruppe. Weil wir nicht so eine super Kinderbetreuung haben. Sonst hätten wir Sonntagsbetreuung für die Kinder und Räume. Ihre Auskunft offiziell ist, dass wir eine Gemeinde für Singles sind. Das war schon ihr Ziel – für Singles. Es gab keine Gemeinde für Singles. Das wurde bei ›Berlinprojekt im Detail‹ schon so gesagt.65 Annika: Es ist schon sehr ausgelegt auf eine Altersgruppe zwischen 20 und 40, auf Akademiker, und es sind extrem viele Singles. Ja, aber das ist Berlin. […] Carola: Ich glaube, das Hauptziel ist es, eine Gemeinde zu haben, in die man seine Freunde mitbringen kann. Cäsar: Wenn du Erfolg haben willst, musst du ein Zielpublikum haben. 2 bis 80 ist schwierig. Sie sagen ja nicht, sie sind gegen (betont) die Pärchen. (Alle lachen) Die Familien ziehen wieder raus. Arlette: Wenn der Pastor eine Freundin hat, dann laufen die Singles weg. (Alle lachen.) Ein Single-Pastor ist eine Möglichkeit, Frauen zu akquirieren. (Alle lachen.) Die Ausrichtung war anfangs ausgelegt auf Singles. Da sie aber niemanden rausschmeissen, richten sie sich nach dem Bedarf aus. Ausser die ursprüngliche Ausrichtung ist anders. Denise: Wie über Sex und Partnerschaft geredet wird, ist auf Singles ausgelegt. [Sofagruppe A] Der Gottesdienst der Gemeinde wirkt in den Augen der Beteiligten wenig einladend auf Familien. Die Befragten empfinden die Lebensform des Pastors, der selbst alleinstehend ist, und seine Art, über seine und ihre Lebensform zu reden, als einladend. Trotzdem fällt auf, dass die Befragten nach ihrem Ortswechsel keine Gottesdienstgemeinde mit Menschen ihrer eigenen Lebensform gesucht haben. Klara: Und ich habe auch von Bekannten, also Christen davon gehört und mir wurde von zwei Seiten gesagt, dass es eine sehr junge Gemeinde ist, die ziemlich homogen ist, Akademiker, gebildet, junge Menschen. Und ich habe 65 Berlinprojekt im Detail ist ein etwa vierteljährlich durchgeführter Seminartag, an dem interessierten Gottesdienstbesucherinnen und -besuchern die Gemeinde näher vorgestellt wird.
Als Wahlgemeinschaft ins Gespräch kommen
251
mir gedacht: Nee, ich geh nicht hin und ich habe mir ein paar Monate lang andere Gemeinden angeschaut, weil ich eine durchwachsene Gemeinde haben wollte. Ja, und irgendwann bin ich dann doch hingegangen – lacht – und dann hat es mir sehr gut gefallen und dann bin ich auch da geblieben. Ich war zunächst skeptisch am Anfang. Gottesdienst war der Erstkontakt. [Sofagruppe B] Obwohl sie den Wunsch nach einer Gemeinde mit einer Vielfalt von Lebensformen hatten, haben sich die Befragten gleichwohl der Gemeinde Berlinprojekt angeschlossen. Der Wunsch nach Vielfalt liess sich offenbar nicht mit dem Wunsch vereinbaren, in seiner eigenen Lebensform angesprochen zu werden. 3.2.2 Orientierungshilfen anbieten Den Befragten ist es wichtig, über Inhalt und Ablauf des Gottesdienstes orientiert zu werden. Sie schätzen es, dass im Gottesdienst situativ ein gemeinsamer Wissensstand erzeugt wird. Richard: Was mir noch aufgefallen ist. So Begriffe, kirchliche Begriffe wie Sünde, wie Glaube usw. werden sehr oft erklärt. Und nicht einfach nur: ›Sünde‹, man kennt das Wort auch aus dem alltäglichen Sprachgebrauch. Aber die werden oft erklärt und aus dem Hintergrund heraus, was es heisst. Wenn wir sagen, Christus, unser Passalamm, wurde für uns geschlachtet, dann steht ein Sternchen dran. Es wird noch mal kurz erklärt, was ist denn das überhaupt, was wir da sagen. Also eine kurze Erklärung und das finde ich eigentlich auch sehr gut, obwohl ich das nicht jetzt für mich bräuchte, aber ich finde es sehr schön. Im Programmheft. [Sofagruppe B] Gottesdienstliche Orientierungshilfen werden von den Befragten auch dann als hilfreich empfunden, wenn nicht sie selbst auf die Information angewiesen sind: »obwohl ich das nicht jetzt für mich bräuchte«. Die christliche Tradition würde, wenn sie unerklärt bleibt, die Predigthörerinnen und -hörer befremden. Ein Befragter spricht chiffreartig von den »mittelalterlichen Bestandteilen des Christentums«: Thomas: Du hast jetzt vom Sonntagmorgen–Gottesdienst gesprochen. Morgens bin ich nie da, ich bin immer nur abends da. Und, ähm, da würde ich einige Sachen unterschreiben. Der Gottesdienst findet im Café statt, das heisst, er ist sehr offen. Der Raum an sich ist – ein Kirchenraum an sich ist für manche
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Der Gottesdienst als Praxis lebensweltlicher Kommunikation
Menschen schon eine Barriere – denke ich. Und das ist da nicht. Und, ähm, was ich auch sehr gut finde: Die erklären sehr stark, was passiert, und warum (betont) passiert das jetzt gerade, was passiert. Und damit vermeiden die eine Sache, die ich ganz oft erlebe bei Freunden oder Bekannten, die Katholiken waren meistens, dass die irgendwann eine totale Abneigung entwickeln gegen diese ganzen mittelalterlichen Bestandteile des Christentums, die noch so mitgeschleift werden. Besonders im Katholischen und wie die katholische Kirche auch heutzutage mit – weiss nicht – Abtreibungen oder Homosexualität oder weiter so umgeht. Die eine totale Abneigung dann dagegen entwickeln und sich dann an solchen Themen total verbeissen. Ich finde das Berlinprojekt schafft es sehr gut – sie haben natürlich auch Glück, weil sie irgendwie neu angefangen haben – aber sie schaffen es sehr gut, solche Nebenthemen (betont) auch als Nebenthemen zu belassen und den Blick auf das zu fokussieren, was ihnen wichtig ist. [Sofagruppe C] Interessant ist hier die Koppelung zweier Aussagen: Die Wertschätzung der gottesdienstlichen Orientierung wird in einem Atemzug mit der Wertschätzung des offenen gottesdienstlichen Raums genannt. Orientierungshilfen und Offenheit ermöglichen es den am Gottesdienst Teilnehmenden, sich innerlich und äusserlich selbst zu verorten. Indem die Befragten die Verständlichkeit des Gottesdienstes wertschätzen, folgen sie einem reformatorischen Grundanliegen. Für Ernst Lange war »Verständlichkeit ein theologisches Kriterium, an dem die Sprache und die Handlungen der Gemeinde gemessen werden.«66 3.2.3 Ästhetische Normen beachten In postmoderner Gesellschaft werden Gefühle von Verbundenheit zunehmend über ein gemeinsames ästhetisches Empfinden hergestellt, das wir expressiven Individualismus genannt haben.67 Ebertz hatte gefragt, ob zahlreiche Kirchgemeinden nicht deshalb auf viele Menschen »abstossend« wirken, weil sie in alltagsästhetischer Hinsicht – das meint Liedgut und Liedtempo, Raum-, Fest-, Pfarrbrief- und Schaukastengestaltung – von bestimmten Erlebnismilieus ›regiert‹ werden.68 66 Großklaus, a. a. O., 45. Großklaus meint, dass Ernst Lange mit der Forderung nach der Verständlichkeit des Gottesdienstgeschehens an Bonhoeffer anknüpft. Ebd., 51. 67 Ebertz, Kirche im Gegenwind, 2. Aufl. 1998, 129/130. Zum expressiven Individualismus vgl. auch Kap. III.6 Kommunikationsgemeinschaften treten neben Wissensgemeinschaften. 68 Ebertz, a. a. O., 136. Wer in US-amerikanischen Gottesdiensten junge säkularisierte Menschen ansprechen will, muss sich an deren ästhetische Normen halten. Eine »inclusive gender
Als Wahlgemeinschaft ins Gespräch kommen
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Denise: Was ich sehr mag ist, dass man Leute mitnehmen kann. Dass man sich nicht schämen muss, dass so sektenhafte Verhaltensweisen auftreten. Wie, dass jemand nach hinten fällt. Interviewerin: Was wäre für dich noch zum Schämen? Denise: Wenn alle so halb in Trance sind. Da hat mich mal eine Freundin mitgenommen in die beliebteste Gemeinde in Zürich, das ICF, unter den Jungen, und das hat sie so abgelöscht. Für mich scheint es so ein bisschen showmässig, und für mich ist es auch so rübergekommen alles. [Sofagruppe A] Nike: Ich glaube, dass für Aussenstehende allein die Form, das Äusserliche, das spricht an, weil es so ästhetisch ist und es ist, irgendwie sehr – was ihr vorhin auch gesagt habt – es ist intellektuell auf einem sehr hohen Niveau. Auch die Musik, da gibt es keinen blöden Kinderchor, der singt, keinen Kirchenchor, der sich ganz schrill anhört und wo immer jemand daneben singt. Es ist alles sehr sehr professionell und auch der ganze Gottesdienst ist sehr professionell. Ich glaube, dass das zum Beispiel für Aussenstehende unglaublich beeindruckend wirkt, weil es wenig so was Selbstgemachtes hat, so etwas Peinliches (betont), was man dann manchmal erlebt, wenn der Pastor vor mir steht und so eine komische Stimme hat und so leise redet. Oder das Mikro ist zu leise. Und dann kommt jemand und zittert und liest dann den Bibeltext vor oder so etwas. Also das ist alles extrem professionell, auch die Leute, die die Texte zum Beispiel vorlesen. Die werden ausgesucht, die sprechen sehr schön und es hat nichts Peinliches. Man fühlt sich nicht irgendwie so (Pause), also sehr selten zumindest. (Alle lachen) [Sofagruppe C] Für die Befragten trägt der sichere Umgang mit Sprache und Musik zum ästhetischen Gelingen des Gottesdienstes bei. Eine unproblematisch empfundene Ästhetik wiederum erleichtert denjenigen Menschen die Beteiligung, die den Gottesdienst als Ort der eigenen Wahl erleben.
language« ist beispielsweise normativ. Alles, was »too polished, too controlled, too canned« klingt, erinnert an eine Verkaufsveranstaltung und widerspricht ihrer ästhetischen Norm. So Keller, Center Church, 178.
VI
Mit mobilen Menschen ins Gespräch kommen
Es gibt Formen der Kommunikation, die es mobilen Menschen erleichtern, sich einer Kirchgemeinde zugehörig zu fühlen. In einem ersten Abschnitt werden die Möglichkeiten, die medial vermittelter Kommunikation zukommen, in den Blick genommen.1 In einem zweiten Abschnitt wird die Bedeutung von gemeindlichen Kleingruppen für mobile Menschen erfragt.2 Ein dritter Abschnitt widmet sich der Bedeutung, die situative – das heisst punktuelle – Gemeinschaftserlebnisse für mobile Menschen haben können.3 Jedes dieser Kapitel geht in eine Reflexion gegenwärtiger Praxis über.
1
Zum Verhältnis leibhafter und medial vermittelter Kommunikation
Die Pastoral im Sinus-Land war noch davon ausgegangen, dass Gemeinden, deren Mitglieder überwiegend Face-to-Face kommunizieren, sich den Weg zu den Menschen einer Mediengesellschaft verstellen. »Auf jeden Fall ist die Vorstellung einer personalen Nahraumkommunikation eine gesellschaftsferne Idee, die mit den Kommunikationsstrukturen einer Mediengesellschaft nichts mehr zu tun hat und der Kirche den Zugang zu den jüngeren soziokulturellen Milieus geradezu versperrt.«4
Hier wird ein Entweder-Oder postuliert, das es so nicht geben kann. Verschiedene Weisen lebensweltlicher Kommunikation können und müssen nebeneinander bestehen. In vielen evangelischen Kirchen in Deutschland wird bereits heute eine experimentelle Vielfalt lebensweltlicher Kommunikation angestrebt: 1 2 3 4
Kap. VI.1 Zum Verhältnis leibhafter und medial vermittelter Kommunikation. Kap. VI.2 Kleingruppen als Sozialform lebensweltlicher Kommunikation. Kap. VI.3 Die Bedeutung von Event-Gemeinschaften für mobile Menschen. Bieger u. a., Pastoral im Sinus-Land, 2. Aufl. 2008, 39.
Zum Verhältnis leibhafter und medial vermittelter Kommunikation
255
Aus »dem Mittelpunkt gerückt muss die klassische örtliche ›Territorialgemeinde‹ […] ihr Profil entwickeln als lebensräumlich und wohnraumnah verortete Gemeinde im Sinne der basiskirchlichen Ansätze, die weltweit ausgereift sind und in den vergangenen Jahren im deutschen Sprachraum in experimentalen Entwicklungsprozessen wachsen.«5
So wie die frühe Kirche sich auf die Kommunikationswege im römischen Reich der Kaiserzeit und die damaligen Hauptverkehrswege und Knotenpunkte der Kommunikation eingelassen hat, ist kirchliche Kommunikation in postmoderner Gesellschaft nicht mehr ohne die Nutzung der elektronischen Medien zu denken.6 In einem ersten Schritt wird medial vermittelte Kommunikation definiert.7 Was ist darunter zu verstehen? Was kann sie im Blick auf das Zugehörigkeitsgefühl mobiler Menschen zur evangelischen Kirche leisten? Daran schliesst sich die Frage nach den Leistungen und Grenzen medial vermittelter Kommunikation.8 Um diese zu erkennen, nehmen wir noch einmal Bonhoeffers Sanctorum Communio in den Blick. Bonhoeffer definiert das Personsein im wesentlichen dadurch, dass die bzw. der Einzelne aktuell Verantwortung übernehmen.9 Allein der in seine geschichtliche Verantwortung gerufene Mensch ist Bonhoeffer zufolge zur Gemeinschaft fähig.
1.1
Was ist medial vermittelte Kommunikation?
Unter virtueller bzw. medial vermittelter Kommunikation wird eine Kommunikation verstanden, die nicht von Angesicht zu Angesicht geführt, sondern die in einem Medium deponiert wird. Ein vormodernes Medium waren Briefe; heute werden Daten mehrheitlich im WorldWideWeb deponiert.10 Die Soziologin Gabriela Eiden untersucht, wie sich Interaktionsrituale verändert haben, indem sie Face-to-Face-Interaktionen und virtuelle Kommunikation im Internet vergleicht.11 Während Eiden sich auf einen systematischen Vergleich beider Interaktionsweisen konzentriert, untersucht Birgit Knatz Internetkommunikation in pastoraltheologischer Perspektive als einen Spezialfall der Seelsorge. Sie unter5 Elhaus/Hennecke, Gottes Sehnsucht in der Stadt. in: Elhaus/Hennecke (Hg.), Gottes Sehnsucht in der Stadt, 2011, 17–37, 19. 6 Kap. I.2.2.2 Die frühe Kirche nutzt bestehende Mobilitätsstrukturen. 7 Kap. VI.1.1: Was ist medial vermittelte Kommunikation? 8 Kap. VI.1.2 Medial vermittelte Kommunikation – Leistung und Grenzen für die Gemeinde. 9 Zur Übernahme von ›Verantwortung‹ in medial vermittelter Kommunikation siehe eben dieses Kap. VI.1.2. 10 Die Zugänglichkeit bzw. Unzugänglichkeit von Informationen in der Internetkommunikation problematisieren Marx/Schwarz-Riesel (Hg.) in Sprache und Kommunikation im technischen Zeitalter, 2013. 11 Eiden, Soziologische Relevanz der virtuellen Kommunikation, 2004. Quelle: http://www. socio.ch/intcom/t_eiden.htm (10. Juli 2012).
256
Mit mobilen Menschen ins Gespräch kommen
sucht was geschieht, wenn Seelsorgerin und Klient nicht Face-to-Face miteinander reden, sondern sich ausschliesslich in Texten begegnen. Eiden unterscheidet synchrone und asynchrone Kommunikation. Erste zeichnet sich durch die »Simultanität von Ereignis und medialer Rezeption« aus.12 Videokonferenz und Internet-Telephonie »schaffen durch eine zumindest rudimentäre Illusion von Körperlichkeit Kommunikationssituationen, die der Face-to-Face-Situation deutlich näher kommen als andere Übermittlungstechniken.«13 Asynchrone Kommunikation dagegen deponiert Nachrichten und macht einen flexiblen Umgang mit Raum und Zeit möglich.
1.1.1 Erfahrungen von Raum und Zeit verändern sich Lassen sich im Netz deponierte Informationen in Sekundenschnelle abrufen bzw. sind sie jederzeit verfügbar, entstehen neue Erfahrungen im Umgang mit der Zeit. Dass Dinge Zeit brauchen und welche Zeit sie brauchen, entzieht sich zunehmend der unmittelbaren Erfahrung. »Raum und Zeit als wesentliche Dimensionen unseres Wirklichkeitsverständnisses verlieren an Bedeutung, denn der Nutzer kann in Sekundenschnelle Informationen von einem Rechner auf einem anderen Kontinent abrufen und zu jedem beliebigen Zeitpunkt mit Nutzern am anderen Ende der Welt kommunizieren. Kommunikation in dieser imaginierten Welt kann als virtuell charakterisiert werden, weil sie zwischen körperlosen, selbst konstruierten virtuellen Identitäten und somit unter anderen Bedingungen stattfindet als Alltagskommunikation.«14
Wer asynchron kommuniziert, entscheidet beispielsweise selbst, wann er den Predigt-Download hört oder wann sie im Chat diskutiert. Es ist für mobile Menschen ein Vorteil, den »Zeitpunkt des Schreibens, Lesens und Antwortens […] selbst bestimmen« zu können.15 Gleichzeitig lassen sich im Internet deponierte Nachrichten nicht auf ihre Realität in Raum und Zeit hin überprüfen. Die im WorldWideWeb zugänglichen Gottesdienste einer Joyce Meyer oder die Hour of Power werden möglicherweise zur Referenzgrösse für die leibhaft erfahrenen Gottesdienste von Ortsgemeinden16 Gemeinden, die ihre Gottesdienste im Netz deponieren, inszenieren ihre Selbstdarstellung in Bezug auf Orte und Zeiten. Die Predigt kann zum Beispiel 12 13 14 15 16
Eiden, Soziologische Relevanz, Abschn. 4.1.2 (ohne Seitenzahl). Ebd., Abschn. 4.1.1 (ohne Seitenzahl). Ebd., Abschn. 4: Face-to-Face versus Medial vermittelte Kommunikation. Knatz, Handbuch Internetseelsorge, 2013, 63–64. Joyce Meyer ist eine auch im deutschsprachigen Raum bekannte amerikanische Predigerin mit eigenem Missionswerk. Hour of Power ist der Titel eines christlichen amerikanischen Fernsehprogramms, das von der Familie Schuller geführt wird. Quelle: www.joyce-meyer.de; www.hourofpower.de.
Zum Verhältnis leibhafter und medial vermittelter Kommunikation
257
auf ihre Höhepunkte hin zugeschnitten werden. Auch die Darstellung im Raum lässt sich in medial vermittelter Kommunikation kaum auf ihre Realität hin überprüfen. In der Bearbeitung des Videos wird entschieden, welche Menschen (Lebensalter, sozialer Status) und welche Bereiche des Raums (vordere Stuhlreihen usw.) zur Darstellung kommen und welche nicht.
1.1.2 Körpererfahrungen verlieren an Bedeutung Mit einer veränderten Darstellung und Rezeption von Raum und Zeit treten Erfahrungen von Körperlichkeit in den Hintergrund. Die Kommunizierenden treffen einander nicht mehr an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Verfassung. Stimme, Aussehen, Geruch und biographische Merkmale der Kommunizierenden bleiben zunehmend verborgen. Diese Verborgenheit bildet den Boden für eine Fülle von Selbstinszenierungen. Menschen können unverbindlich mit Selbstkonzepten experimentieren. »Wer sich als dem anderen Geschlecht zugehörig oder auch als promiskes Pelztier ausgibt, braucht im Cyberspace im Gegensatz zum real life keine Konsequenzen oder gesellschaftlichen Sanktionen, in den meisten Fällen noch nicht einmal die Entdeckung seines Tuns zu befürchten. Wesentliche Voraussetzung für das Spiel mit dem ›Cyberself‹ ist dabei die komplette Loslösung von der eigenen Körperlichkeit, die durch Computertechnologie erstmals möglich geworden ist.«17
Die Loslösung von der eigenen Körperlichkeit, der Verlust von Körpererfahrungen hat Konsequenzen. Sie betreffen zum einen die Übernahme von Verantwortung, zum anderen Erfahrungen von Gewissheit. »Gemeinsam ist diesen genannten Kommunikationsanwendungen die völlige Abwesenheit des konkreten Körpers und seiner Ausdrucksmöglichkeiten. Wir sehen niemanden, wir hören keine Stimme, wir fühlen keinen anderen Körper und wir nehmen auch nicht den Geruch unseres Gegenübers wahr. Identität hat mit der Abwesenheit des Körpers ihre Authentizität aufgegeben – oder mit Wittgenstein gesprochen: Sie hat ihre ›Gewissheit‹ verloren. Es gibt keine Möglichkeit, den einzelnen Kommunikationspartner am anderen Ende des Computernetzes eindeutig zu identifizieren, solange keine Internet- (Bild-)Telefonie genutzt wird.«18
Was hier medienpsychologisch als Verlust an Gewissheit beschrieben wird, haben wir bereits in soziologischer Perspektive beschrieben. Die Sorge um den anderen kommt in individualisierten Lebensläufen durchaus vor. Es handelt sich aber weitgehend um eine selbst gewählte Sorge. Wir haben von einem Verlust nicht an 17 Eiden, a. a. O., Abschn. 6, ohne Seitenzahl. 18 Krüger, Die mediale Religion, 2012, 387. Mit Kommunikationsanwendungen meint Krüger EMail-Verkehr, Mailinglisten, Chat-Rooms und Diskussionsforen.
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Mit mobilen Menschen ins Gespräch kommen
Verbindlichkeiten, aber von einem Verlust an Gewissheit gesprochen.19 Die bzw. der Einzelne kann nicht mehr voraussetzen, dass die verbindliche Sorge in jedem Falle auch ihr bzw. ihm gilt. Wer im Internet kommuniziert, kann durchaus Fürsorge erfahren – er kann aber nicht mit Erfahrungen von Fürsorge rechnen. 1.1.3 Medial vermittelte Kommunikation funktioniert wie eine Bühne Die Vorstellung von einer ›Bühne‹ illustriert, wie sich eine Identität im Vollzug medialer Kommunikation darstellt und ausbildet. »Jeder Mensch füllt eine Rolle aus und orientiert sich dabei an den Erwartungen, die seine Interaktionspartner – auch unbewusst – an ihn stellen, denn erst diese Orientierung ermöglicht erfolgreiches Interagieren. So können sich schliesslich sogenannte ›Ensembles‹ bilden, Gruppen also, die sich eine ›Bühne‹ teilen, und zwischen deren Mitgliedern eine gewisse Vertrautheit herrscht.«20
Eiden spricht vom Entstehen von Ensembles im Internet, wo sich ein »bestimmter Teilnehmerkreis regelmässig zu kommunikativen Zwecken versammelt«.21 Ensembles entstehen in Chatrooms, Foren, News-Groups, virtuellen Welten usw. Sie dienen den Einzelnen als Bühne, auf der sie Aspekte ihrer Identität entwerfen und erproben können. Es sind vor allem Selbstentwürfe, die die Kommunizierenden einander auf der Bühne medialer Kommunikation zeigen. Die Kommunizierenden setzen sich übereinander ins Bild – da sie eben nicht durch leibhafte Begegnungen oder gar einen gemeinsamen Alltag übereinander ins Bild gesetzt sind.22 Eiden spricht in Anlehnung an Sherry Turkle von »Experimenten mit IchKonstruktionen«, die in postmoderner Gesellschaft üblich geworden sind und die dem Einzelnen zur Bildung seiner Ich–Identität helfen.23 »Turkle geht also davon aus, dass der einzelne Nutzer im Internet mit bestimmten Facetten seiner multiplen Identität experimentiert und auf diese Weise sein postmodernes Selbst überhaupt erst schafft. Die unterschiedlichen Aspekte der eigenen Persönlichkeit werden im Internet zu selbständigen Identitäten.«24 19 Kap. I.4.1.2 Nicht Unverbindlichkeit, sondern die selbst gewählte Verbindlichkeit ist Kennzeichen einer postmodernen Lebensführung. 20 Eiden, Soziologische Relevanz, Kap. 4.2 (ohne Seitenzahl). 21 Ebd., Kap. 4.1.3 (ohne Seitenzahl). 22 Der Schweizer Wirtschaftswissenschaftler und Experte für Online-Kommunikation Matthes Fleck kommt in seiner Dissertation über Dialogorientierte Kommunikation im Internet zum Ergebnis, dass »echte« Dialoge durchaus möglich sind, weil die »Basis eines jeden Dialogs […] nicht das Medium […] sondern die Selbstverpflichtung des Unternehmens« zu einem Interessenausgleich ist. Siehe: Fleck, Dialogorientierte Kommunikation im Internet, 2011, 159–160. 23 Eiden, Soziologische Relevanz, Kap. 5.2.1. Eiden zitiert die amerikanische Soziologin Sherry Turkle, Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet, 1998, 290. 24 Eiden, a. a. O., Abschn. 5.2.1 (ohne Seitenzahl), Kursiv ist im Orginal fett.
Zum Verhältnis leibhafter und medial vermittelter Kommunikation
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Dem wohnen Chancen zur Selbstfindung inne. Ein Problem kann dabei der nahezu unbegrenzt mögliche Rollenwechsel darstellen. Es geht nicht um die Darstellung eines »wahren Selbst«, sondern »lediglich um potentielle Selbstbestände«.25 In vormoderner und moderner Gesellschaft waren traditionelle Rollenwechsel oft rituell an besondere Zeiten und Orte gebunden. Das sind sie in medial vermittelter Kommunikation nicht mehr.26 Rollenwechsel sind potenziell immer möglich und nicht an ein bestimmtes gesellschaftliches Setting gebunden.
1.1.4 Erfahrungen mit sich selbst machen In virtueller Kommunikation verorten sich die Einzelnen ihrer Selbstwahrnehmung entsprechend. Die Teilnehmenden machen also vor allem Erfahrungen mit sich selbst – vermittelt über die Weise, in der die Gesprächspartnerinnen und -partner auf ihre Selbstentwürfe reagieren. Die Selbstentwürfe sind der Überprüfbarkeit durch die Andern weitgehend entzogen: »Im virtuellen Kommunikationsraum ist es möglich, sehr intimen und emotionalen Bedürfnissen nachzugehen und gleichzeitig eine soziale Distanz zum Empfänger der eigenen Botschaften zu wahren. […] Virtuelle Kommunikation erfüllt weniger die Funktion, soziale Beziehungen herzustellen, sondern wird ich-bezogener.«27
Natürlich werden auch in medial vermittelter Kommunikation Vorstellungen von Leibhaftigkeit geweckt. Diese Vorstellungen sind aber kaum zu überpüfen und im Regelfall nicht von Alltagserfahrungen gedeckt. »Virtuelle Identität beinhaltet damit sehr wohl körperliche und sogar körperlich ideale Dimensionen, die in ihrer textlichen und fotografischen Form für den Anderen nicht überprüfbar sind.«28
In medial vermittelter Kommunikation können Menschen Selbstentwürfe in Bezug auf ihre christliche Lebensführung ausprobieren. Sie können ihre Lebensführung als glaubende alleinerziehende Mutter oder als glaubender homosexuell empfindender Mensch darstellen und mit anderen diskutieren. Die mit der Selbstdarstellung verbundenen Ansprüche brauchen nicht eingelöst zu werden. Im Internet sind die User allenfalls mit den Schwächen ihrer Selbstinszenierungen konfrontiert. Weil sich im Internet eine Vielzahl von Gesprächspartnerinnen und -partnern anbieten, können sich Menschen – auch Kirchenmitglieder – fast unbegrenzt im Argumentieren über Fragen des Glaubens und christlicher Lebensführung üben. 25 26 27 28
Ebd., Abschn. 5.2.1 (ohne Seitenzahl). Krüger, a. a. O., 392, Anm. 633. Eiden, a. a. O., Kap. 5.2 (ohne Seitenzahl), kursiv ist im Original Fettdruck. Krüger, a. a. O., 391.
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Mit mobilen Menschen ins Gespräch kommen
In der leibhaft erfahrenen Ortsgemeinde müssen Gemeindeglieder dagegen zuerst Gesprächspartnerinnen und -partner finden. Zudem kennen sich Menschen in einer Ortsgemeinde oft gut, so dass sich tendenziell wenige Möglichkeiten zum Erproben neuer Selbstentwürfe anbieten. Anders wäre es, wenn gemeindliche Kleingruppen den experimentellen Selbstentwurf zum Gegenstand ihres gemeinsamen Unterwegsseins machen würden.29 1.1.5 Kontakt ist niedrigschwellig Virtuelle Kommunikation ist niedrigschwellig, da sie nicht Face-to-Face geführt wird. Darauf deutet die gängige Bezeichnung der Kommunizierenden als ›User‹. Wo Menschen auf eine im Netz deponierte Kommunikation zugreifen können, benutzen (= to use) sie diese. Eine Entpersonalisierung der Kommunikation findet statt, weil sie – da im Medium deponiert – nicht persönlich angefragt und entgegengenommen werden muss. Menschen können Kontakt aufnehmen und müssen keine persönlichen Angaben machen, sind somit schwer zu behaften. Die Schwelle, die eine Kontaktaufnahme für viele darstellt, sinkt. Knatz unterscheidet dabei äussere und innere Niederschwelligkeit. Erste meint, dass Nachrichten deponiert werden können, dass es beispielsweise keine Öffnungszeiten gibt. Auch nachts stehen Seelsorgerinnen und Seelsorger im Chat zur Verfügung. Innere Niederschwelligkeit meint, dass nicht einmal die Schwelle besteht, beispielsweise die eigene Stimme hören zu müssen.30 Ausserdem gibt es scham-, angst- und schuldbesetzte Themen, die eine Face-to-Face-Kommunikation zur Hürde machen können.31 1.1.6 Zusammenfassung ➤ ➤
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Medial vermittelte Kommunikation ermöglicht es den Kommunizierenden, das Gespräch in ihre eigene Zeit und ihren eigenen Raum hinein zu holen. Die eigene Körperlichkeit spielt eine untergeordnete Rolle. Die bzw. der Kommunizierende kann einen Selbstentwurf präsentieren und muss die mit dem Selbstentwurf verbundenen Ansprüche nicht einlösen. Die bzw. der medial Kommunizierende kann versuchshalber bestimmte Meinungen und Lebenshaltungen vertreten und durch die Resonanz der Gesprächspartnerinnen und -partner Erfahrungen mit ihren bzw. seinen Selbstentwürfen machen.
29 In Fasten- oder Pilgergruppen beispielsweise sind Menschen unterwegs, die es einander zugestehen, einen neuen Selbstentwurf zu wagen. 30 Knatz, a. a. O., 58–60. 31 Ebd., 61–62.
Zum Verhältnis leibhafter und medial vermittelter Kommunikation ➤
261
Die bzw. der medial Kommunizierende kann Ängsten und Belastungskonstellationen ausweichen, die leibhafte Begegnungen möglicherweise auslösen.
1.2
Leistungen und Grenzen medial vermittelter Kommunikation
Was kann medial vermittelte Kommunikation leisten, wenn eine Gemeinde Lebenswelt ihrer Mitglieder, also gemeinsame Sozialwelt sein will? Wir haben gesagt, dass ihrer Koinonia eine Alltagsverbindlichkeit innewohnt: Gemeindeglieder übernehmen Verantwortung füreinander und in der Diakonia auch für Dritte.32 Von dieser Voraussetzung ausgehend darf die medial vermittelte Kommunikation der Gemeinde die aktuelle Übernahme von Verantwortung nicht dauerhaft verdrängen. Daran sind ihre Leistungen und Grenzen zu messen. Medial vermittelte Kommunikation kann durchaus einzelne Aspekte lebensweltlicher Kommunikation erfüllen. In Foren und Chatrooms können WirGefühle und starke Empfindungen von Zugehörigkeit entstehen.33 Dass sich Mail-Kontakte über lange Zeiträume hin erstrecken, dass Emoticons und Inflektive zum Ausdruck von Gefühlsregungen benutzt werden, deutet auf Gefühle von Zugehörigkeit hin.34 Ein »Beziehungsaufbau mit steigender Komplexität der Inhalte« ist auch möglich.35 Jedoch müssen sich Wir-Gefühle und Empfindungen von Zugehörigkeit normalerweise nicht im Alltagshandeln bewähren.36 Medial vermittelte Kommunikation kann leibhafte Kommunikation ergänzen – wobei das Verhältnis komplex gedacht werden muss. Das mediatisierte Kommunikationsnetz steht der Face-to-Face-Kommunikation nicht gegenüber, sondern beide Kommunikationsarten müssen als »unentwirrbar verschränkt« begriffen werden. Menschen machen das Netz zu »ihrem Lebensraum, während es umgekehrt die Menschen als soziale Wesen in ihrem Handeln durchdringt.«37 Wir halten fest, dass medial vermittelte Kommunikation nicht an die Stelle von Face-to-Face Kommunikation treten kann, ohne dass entscheidende Aspekte lebensweltlicher Kommunikation aufgegeben werden.38 Die Frage ist also die 32 33 34 35 36
Kap. III.2.2 Gemeinde als Lebenswelt ihrer Glieder – ihre drei Beziehungsfelder. Beispiele aus Seelsorge-Protokollen finden sich bei Knatz, Handbuch Internetseelsorge, 2013. Knatz, a. a. O., 27–30. Fleck, Dialogorientierte Kommunikation im Internet, 2011, 166. Das sieht Matthes Fleck anders und spricht von »dialogischer Selbstverpflichtung« im Netz (ebd., 166). Eine Frage an Fleck wäre, wie sich diese Selbstverpflichtung bewähren soll, wenn die Kommunizierenden einander im Alltag nicht begegnen. 37 Beide Zitate aus der Einleitung von Krotz u. a., Die Mediatisierung sozialer Welten, 2014, 12. 38 Offen bleibt, wie viele User auf christlichen Internetplattformen einer Kirchgemeinde angehören und (nur) ergänzend zu ihrem Engagement in der Kirchgemeinde in Foren und Chats unterwegs sind. Oder werden christliche Portale auch von Menschen genutzt, die weitgehend keinen Bezug zu einer Ortsgemeinde haben?
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Mit mobilen Menschen ins Gespräch kommen
nach einer Gewichtung beider Kommunikationsarten. In praktisch-theologischer Forschung hebt beispielsweise Christian Grethlein das Primat personaler Medien für die Glaubenskommunikation hervor.39 Er begründet den Vorrang damit, dass die Evangeliumsverkündigung grundsätzlich nicht von der ihr innewohnenden Sozialität gelöst werden kann. »Das Evangelium ist von seinen Ursprüngen an – über Schriftlesung, Predigt, Glaubensgespräch sowie Taufe und Abendmahl – bis heute wesentlich durch personale Medien vermittelt worden.«40
Der Theologe und Medienethiker Thomas Zeilinger stellt an Grethlein die Frage, ob dieser nicht übersehen würde, dass auch in nicht-leibhafter Kommunikation Aspekte lebensweltlicher Kommunikation vorkommen.41 Anders als Grethlein und Zeilinger geht die Theologin Ilona Nord gar nicht auf den lebensweltlichen Aspekt des Evangeliums ein. Sie fragt nach einem praktisch-theologischen Verständnis virtueller Realitäten und konzentriert sich »auf die durch Sprache – also wiederum medial – entworfenen, bewohnbaren Welten der Kommunikation des Evangeliums«.42 »Virtuelle Realitäten eröffnen Kommunikationsräume, die dazu genutzt werden, dass man in Gruppen von Menschen hineinfindet, die im World Wide Web bereits bestehen oder im Entstehen begriffen sind und deren Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich aus ähnlichen Interessen, Bedürfnissen oder Überzeugungen zusammenfinden.«43
In Nords Rede von »ähnlichen Interessen, Bedürfnissen oder Überzeugungen« kommt zum Ausdruck, was ich als szenetypische Formen von Vergemeinschaftung beschrieben habe.44 Unbeantwortet bleibt hier, inwieweit es sich überhaupt um eine Kommunikation des Evangeliums handelt, wenn leibhafte Kommunikation und damit die wechselseitige Übernahme von Verantwortung nicht mehr vorausgesetzt werden.
1.2.1 Begrenzung als heilsame Voraussetzung von Gemeinschaft Bonhoeffers Ekklesiologie wurde bereits als Beispiel dafür angeführt, wie mit der Offenbarung Jesu Christi auch die Kirche als Offenbarungswirklichkeit verstanden werden kann. Dem von Gott gerufenen Menschen wird Bonhoeffer zu39 Timothy Keller betont in seiner Grossstadt-Theologie ebenfalls den Vorrang personaler Kommunikation. Ders., Center Church, 2012, 167. 40 Grethlein, Kommunikation des Evangeliums in der Mediengesellschaft, in: FORUM Theologische Literaturzeitung 10, 2003, 23. 41 Zeilinger, Netz.Macht.Kirche, 2011, 204. 42 Nord, Realitäten des Glaubens, 2008, Vorwort XIII. 43 Ebd., 35. 44 Kap. III. 5.1 Szenen als postmoderne Form von Vergemeinschaftung.
Zum Verhältnis leibhafter und medial vermittelter Kommunikation
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folge mit dem Glauben auch die Gemeinschaft der Kirche – heisst eine neue Erfahrung von Sozialität – geschenkt.45 Bonhoeffer nennt die Begrenztheit des Ichs eine wesentliche Voraussetzung für das Entstehen von Gemeinschaft.46 Er nimmt eine für uns interessante Diskussion vorweg, nämlich die Frage nach dem Personverständnis, das das Entstehen von Gemeinschaft möglich macht. Bonhoeffers Anliegen besteht darin, im Angesicht der politischen Herausforderungen seiner Zeit Menschen aus einer idealistisch verstandenen Zeit- und Ortlosigkeit herausholen. Zeit- und ortlos, also ausserhalb einer sozialen Sphäre, sei der Mensch nicht zur Verantwortung fähig und damit auch nicht vollgültig Person zu nennen. Erst indem er seine konkrete Situation, seine geschöpflich bedingte Schranke wahrnimmt, erfährt er Ansprache und erkennt sich als ethische Person. Bonhoeffer wendet sich gegen einen Personbegriff, der von der Erkenntnistheorie und Metaphysik des Idealismus bestimmt ist.47 Er entwirft einen Personbegriff, der sich durch seine Geschichtlichkeit, das heisst durch geschöpfliche Begrenzung und aktuelle Verantwortung, auszeichnet. Damit nimmt Bonhoeffer unbeabsichtigt die Problematik virtueller Kommunikation vorweg, denn diese beruht wesentlich auf der Inszenierung einer vorgestellten Wirklichkeit. 1.2.1.1 Gemeinschaftsfähige Personen gibt es nur in sozialen Situationen Der Personbegriff ist bei Bonhoeffer durch das geschichtliche Moment der Ansprache charakterisiert, das heisst durch die Person in ihrer jeweiligen sozialen Sphäre. Bonhoeffer wehrt sich dagegen, eine Person als »in zeitloser Wertfülle und Geistigkeit« zu verstehen. Es gibt nur die Person »in konkreter Lebendigkeit und Besonderheit«.48 Von einer Person lässt sich nur in ihrer konkreten sozialen Situation und der durch die Situation entstehenden Ansprache und Verantwortung sprechen. »Damit sind wir dicht an das Problem der Realität, der realen Schranke und damit der sozialen Grundbeziehungen herangeführt. Es ist christliche Erkenntnis, dass im Augenblick des Bewegtseins, des Stehens in der Verantwortung, des leidenschaftlichen ethischen Kampfes, der Heimsuchung des Menschen durch den ihn überwältigenden Anspruch die Person als bewusste erzeugt wird; dass also aus der konkreten Situation die konkrete Person erwächst […] Nur aus der absoluten Zweiheit von Gott und Mensch entspringt die christliche Person; nur im Erlebnis der Schranke entspringt die Selbsterkenntnis der ethischen Person. Je deutlicher die Schranke erkannt wird, desto tiefer tritt die Person in den Stand der Verantwortung. Die christliche Person ist nicht Träger
45 46 47 48
Kap. II.3.3 Die Kirche als Gemeinschaft denken (Dietrich Bonhoeffer). Bonhoeffer, Sanctorum Communio, 1986 (1930), 19–35. Ebd., 28. Ebd., 28.
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höchster Werte, sondern der Wertbegriff ist allein auf ihre Personhaftigkeit, d. h. auf ihre Geschöpflichkeit zu beziehen.«49
Diese anthropologische Sicht finden wir für die Geisteswissenschaften herausgehoben in Martin Bubers dialogischer Philosophie, vor allem in seiner Schrift Ich und Du (1923). Der Mensch wird zum Ich erst am Du. Bonhoeffer hat Bubers Denken um den Begriff der Verantwortlichkeit erweitert und damit dessen Weiterführung durch Emanuel Lévinas vorweg genommen.50 1.2.1.2 Wertschätzung der menschlichen Begrenztheit Dass Bonhoeffer die Begrenztheit der menschlichen Person so wertschätzt, hat einen starken Rückhalt in der jüdisch-christlichen Tradition. Begrenztheit und das damit gegebene wechselseitige Aufeinander-angewiesen-Sein erscheinen in jüdisch-christlicher Theologie nicht als Defizit. Sie werden als heilsame Grundvoraussetzung von Gemeinschaft verstanden. Bereits die Schöpfungsgeschichte lässt diese Sichtweise plausibel erscheinen. Die Schöpfungsgeschichte stellt heraus, dass es ›nicht gut‹ ist, dass der Mensch ›allein‹ sei (Gen 2, 18). Hier verbirgt sich eine Kritik an der dem Menschen gegebenen Möglichkeit zur Autarkie. Deshalb wird der zweite geschaffene Mensch als ›Hilfe‹ und ›Gegenüber‹ des ersten Menschen bezeichnet. Wird dem ›Adam‹ in der Gestalt der Rippe etwas weggenommen, wird er noch in der Schöpfungserzählung zum Mangelwesen. Was ihm fehlt, wird ihm von aussen und in Gestalt des anderen Menschen erneut zugeführt. Die wechselseitige Angewiesenheit ist damit in der Schöpfung begründet und reflektiert und wird hier für ›gut‹ befunden. Auch die Tradition der Alten Kirche führt das Entstehen von Gemeinschaft mit Verweis auf die Schöpfung auf die Bedürftigkeit der Einzelnen zurück: »Das Zusammenleben mit mehreren […] ist in vielfacher Hinsicht von Nutzen. Erstens ist keiner von uns imstande, allein die Bedürfnisse des Leibes zu befriedigen, zu deren Beschaffung wir einander nötig haben. Denn wie der Fuß das eine vermag, das andere aber nicht, und ohne die Hilfe der anderen Glieder sein Vermögen sich weder stark noch ausdauernd genug zeigt, und auch, was ihm mangelt, nicht aus sich selbst zu ersetzen vermag, so wird auch in dem einsamen Leben […], das, was wir haben, für uns unnütz und das Fehlende unbeschaffbar, da Gott der Schöpfer es so bestimmt hat, dass einer des andern bedarf, wie geschrieben steht«.51
49 Ebd., 29. 50 Lévinas, Die Spur des Anderen, 3. Aufl. 1998. Weil jedes handelnde Subjekt endlich ist, »besitzt es sich nicht selbst« und darum ist die Frage nach der Bedeutung von Verantwortlichkeit neu zu stellen (Einleitung, 10–11). 51 Vgl. Basilius von Caesarea, in: Ritter, Adolf Martin (Hg.), Alte Kirche, Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Bd. I, 1977.
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265
Bonhoeffers Wertschätzung der Begrenzung des Menschen durch die soziale Sphäre stellt einen sozialphilosophischen Entscheid dar. Nicht nur im theologischen, auch im soziologischen und ethischen Diskurs finden sich solche Grundentscheide. Robert Bellah hatte in postmoderner Gesellschaft die Annahme eines ontologischen Individualismus wahrgenommen.52 Er selbst hat dieser Annahme widersprochen und einen sozialphilosophischen Entscheid dahingehend getroffen, dass Individuen immer schon eine Vorstellung vom Gemeinsamen in sich tragen. Darum gelte es, die soziologischen Möglichkeiten dafür zu schaffen, dass die Individuen die Vorstellungen vom Gemeinsamen nun auch verwirklichen können.53 In der theologischen Ethik war Johannes Fischer von denselben Grundannahmen ausgegangen wie Bonhoeffer und Bellah.54 Die Ethik versucht Fischer zufolge allzu oft, normative Orientierungen argumentativ zu begründen. Dabei haben diese ihren Ursprung in der »Verfasstheit der sozialen Welt«.55 1.2.2 Verlust von Alltagserfahrungen und Verantwortung Medial vermittelte Kommunikation schliesst im Regelfall keine leibhaften Begegnungen ein und führt darum zu einem Verlust an Erfahrungen mit dem anderen. Denn solche setzen ein Anteilhaben an der Sozialwelt des anderen und nicht nur an seinen Selbst-Entwürfen voraus. Nun haben sich Menschen schon immer voreinander inszeniert; das ist nicht neu. In postmoderner Gesellschaft steigt aber das Ausmass der Selbstinszenierungen. Es ist zu vermuten, dass sich Menschen auch dann zunehmend selbst zu inszenieren suchen, wenn sie leibhaft miteinander kommunizieren. Selbstinszenierungen sind nicht ›schlecht‹. Es geht nicht um Wertungen, sondern um die Folgen einer auf Selbstinszenierungen beruhenden Kommunikation. Wer sich in medial vermittelter Kommunikation inszeniert, muss sich nicht im Alltagshandeln bewähren. Gespräche in Internet-Ensembles stellen im Regelfall keine soziale Nähe im Sinne einer Übernahme von wechselseitiger Verantwortung her. Zeilinger beobachtet, dass Internetkommunikation als »Katalysator einer fortschreitenden radikalen Individualisierung« wirkt. Für Zeilinger stellt sich nicht nur die Frage, wie Menschen für das, was sie sagen oder hören, Verantwortung übernehmen. Zeilinger fragt in ekklesiologischer Perspektive nach den Folgen medial vermittelter Kommunikation für die Ökumene:
52 Bellah, Community Properly Understood. in: Etzioni (ed.), The Essential Communitarian Reader, 1998, 15–19, 17. 53 Kap. I.3.3 Gemeinschaft für wirklich halten und sie dadurch verwirklichen. 54 Fischer, Verstehen statt begründen, 2012, 19. 55 Ebd., 18.
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Wie können die Kirchen unter »geänderten medialen Bedingungen ihre Einheit erhalten und darstellen«? 56 1.2.3 Internetensembles als Koinonia-Ersatz? Bilden Menschen im Internet Ensembles, dann handelt es sich weitgehend um Formen synchroner Kommunikation. Menschen führen per Video-Telefonie oder im Chat zeitnah Gespräche. In Internetportalen überschneiden sich synchrone und asynchrone Kommunikation. Gemeindeglieder kommen in Foren oder Chats mit Menschen ins Gespräch, die im realen Leben derselben Gemeinde wie sie, anderen Gemeinden oder gar keinen Gemeinden angehören. An Ensembles im Internet können sich auch Menschen beteiligen, die aufgrund ihrer Mobilität wenige Möglichkeiten zur leibhaften Glaubenskommunikation haben. Es können Menschen teilnehmen, die solche Leibhaftigkeit nicht wollen oder nicht (mehr) ertragen, weil sie beispielsweise an Depression erkrankt sind. Wer nicht das Haus verlassen kann, kann immer noch ›ins Internet gehen‹ und sich dort als gesunden Menschen entwerfen. Medial vermittelte Kommunikation bietet Gemeindegliedern ausserdem die Möglichkeit, dem Druck von Verantwortung und Zuständigkeit in der leibhaft erfahrenen Gemeinde auszuweichen. Virtuelle Räume können zum Fluchtort für Menschen werden, die im realen Leben unter einem als zu hoch empfundenen Mass an Verantwortung leiden. Medial vermittelte Kommunikation kann auch für diejenigen zum alternativen Kommunikationsort werden, die vom leibhaften Umgang einer Gemeinde enttäuscht worden sind. Werden die Arbeitslosen, die Übergewichtigen, die kinderlos Alleinstehenden und Geschiedenen von der Erfahrung leibhafter Gemeinschaft ausgeschlossen, können sie ins Netz ausweichen. Hier können sie wählen, was sie von sich preisgeben, und sich als Teil der Koinonia fühlen. Kriterien lebensweltlicher Kommunikation können dabei durchaus erfüllt werden: Menschen haben mithilfe von Predigt-Downloads und Gesprächen in Chatrooms und Foren am Wissensbestand des Glaubens teil. Sie kommen mit ihren persönlichen Fragen oder Erlebnissen zur Sprache und entwickeln ›Wir-Gefühle‹. Die lebensweltliche Kommunikation findet im Regelfall darin ihre Grenze, dass die Kommunizierenden keine Verantwortung füreinander übernehmen müssen und das Gesagte sich nicht im verbindlichen Alltagshandeln bewähren muss.57
56 Zeilinger, a. a. O., 99. Kursiv im Original. 57 Ausnahmen sind natürlich möglich: Menschen können im Internet jemanden kennen lernen, für den sie sich auch im Alltag engagieren. Und umgekehrt kommt es vor, dass Menschen einander leibhaftig als Gemeinde begegnen und keine Verantwortung übernehmen.
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1.3
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Die Bedeutung von leibhafter und medial vermittelter Kommunikation für den Erstkontakt – eine Beschreibung laufender Praxis
In den Interviews habe ich gefragt, wie nach dem Ortswechsel der Erstkontakt zur Gemeinde Berlinprojekt stattgefunden hat.58 Meine Interviewpartnerinnen und -partner haben mehrheitlich gesagt, dass persönliche Kontakte und Empfehlungen den Ausschlag dafür gegeben haben, den Gottesdienst der Gemeinde zu besuchen. Die Website der Kirchgemeinde wird nur von zwei der Befragten erwähnt.59 Elektronische Medien scheinen für den Erstkontakt der Befragten keine erwähnenswerte Rolle gespielt zu haben. In der V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft wurde festgestellt, dass Kirchenmitglieder sich kaum mit Hilfe des Internets orientieren würden. Sie würden elektronische Medien seltener nutzen und sich seltener in Online-Communities aufhalten als Konfessionslose.60 Die Studie vermutet als Grund dafür das tendenziell hohe Alter der Befragten. Ich aber habe Interviews mit auschliesslich jungen Menschen geführt, die sich im Gebrauch der neuen Medien ausdrücklich als geübt bezeichnen und zum Teil in medienaffinen Berufen arbeiten.61 Für die Mehrheit der Befragten ist der Kontakt zur Gemeinde Berlinprojekt aufgrund von persönlichen Empfehlungen zustande gekommen. Denise und Cäsar sind als befreundetes Paar miteinander nach Berlin gezogen: Denise: Bei uns war es der Cousin von Cäsar. Der hat einige Gemeinden abgeklappert und geguckt. Und gesagt, das sei die beste Gemeinde. Sie konnten aber nicht bleiben, weil sie Kinder haben und Betreuung brauchen. Und haben eine Gemeinde gesucht, die für sie näher ist. Cäsar: Dann haben wir uns die Gemeinde angeguckt und gesagt: Das ist genau das, was wir suchen. Wir haben keine weitere Gemeinde gesucht. Carola: Bei mir war es durch meine Schwester. Sie wohnt schon lange hier in Berlin. Ich war, wenn ich meine Schwester besucht habe, mit ihr im Berlinprojekt. Die andere Schwester ist in einer Jugendkirche in Lichtenberg. Arlette: Ich bin über eine Freundin dazu gekommen, die beim Startprojekt dabei war. Das war Meike. [Sofagruppe A] 58 Zu den Bedingungen und Zielen der Befragung siehe Kap. IV.1 Das Berlinprojekt – eine Gemeinde mit mobilen Menschen. 59 Der Internetauftritt findet sich unter http://www.berlinprojekt.com [Stand: 16.11. 2014]. 60 V. EKD-Erhebung zur Kirchenmitgliedschaft, 2014, 50. Quelle: http://www.ekd.de/download/ ekd_v_kmu2014.pdf [Stand: 0.4.08.2014]. 61 Ich habe die Befragten um Angabe ihrer Berufe gebeten. Die Befragten sind zwischen 20 und 35 Jahren alt.
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Mit mobilen Menschen ins Gespräch kommen
Dem befragten Paar ist die Gemeinde von einem Verwandten empfohlen worden, der selbst gesucht hat (»abgeklappert und geguckt«). Bereits der erste Besuch führt zur Entscheidung zu bleiben. Die beiden anderen Frauen schliessen sich bei der Wahl der Gemeinde einer nahen Verwandten bzw. einer Freundin an. Bei allen vieren helfen nahestehende Personen zum Entscheid. Ähnliche Auskünfte geben die Befragten der beiden anderen Interviewgruppen. Hella: Als wir in Marzahn-Hellersdorf waren, da hat sich eine junge Frau verabschiedet und ist ins Berlinprojekt gegangen. Dadurch wusste ich vom Berlinprojekt. Richard: Wir wussten dann, dass es das Berlinprojekt gibt und irgendwann haben wir gemerkt, dass wir uns eine andere Gemeinde suchen müssen. Wir haben dann eine Gemeinde gesucht und sind dann einfach mal, weil wir wussten, dass es das gibt, ins Berlinprojekt gegangen. Und da hat’s uns gefallen. Hella: Ja. Michelle: Über eine Mitschülerin, in eine Sofagruppe. Stimmt, Tabea. (Pause) Dann war ich erstmal eine Weile in der Sofagruppe und dann in Gottesdiensten. Mir hat schon ein Kumpel erzählt, dass es die gibt. Der studiert auch Theologie und hat mir erzählt und ich habe gedacht, ich würde gerne etwas anderes ausprobieren. […] [Sofagruppe B] Wieder gibt der Rat von persönlichen Bekannten den Ausschlag. Es fällt auf, dass der Begriff des Suchens bei den Befragten prominent vorkommt, auch, dass die Festlegung relativ schnell erfolgt ist, wenn die Gottesdiensterfahrung gut war. Nur eine einzige Befragte hat die neue Wohnsitzgemeinde in ihr Suchen einbezogen, obwohl mehr als die Hälfte der Befragten Mitglieder der evangelischen Kirche sind. In der dritten Interviewgruppe liegt eine andere Situation vor. Einige Mitglieder dieser ›Sofagruppe‹ kannten sich bereits aus Studienzeiten und haben erst nach dem Studium begonnen, den Gottesdienst der Gemeinde Berlinprojekt zu besuchen. Auch sie sind durch persönliche Kontakte, bzw. zufällig zur Gemeinde Berlinprojekt gekommen. Zwei von ihnen genannte Gründe für den Anschluss an die Gemeinde sind der hohe Anteil von attraktiven Frauen und der »gute Service« der Gemeinde für diejenigen, die sich nicht fest engagieren möchten.
Kleingruppen als Sozialform für mobile Menschen
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Thomas: Ich bin auch aufgewachsen in der evangelischen Landeskirche, bis dreizehn, vierzehn. […] Und hier habe ich dann irgendwann das Berlinprojekt über einen Zivi-Kollegen kennen gelernt. Ich bin dann (Pause), habe mir alles mal angeschaut. […] Und dann lag es für mich nahe, wieder hinzugehen, weil ich wusste, die haben halt einen netten, guten Service. Greg: Es gibt auch mehr Frauen als Männer beim Berlinprojekt. Das ist auch ganz gut. Nike: Wie überall, oder? Greg: Gut aussehende (betont, Pause, alle lachen) Christinnen. [Sofagruppe C] Unter den jungen, beruflich gut qualifizierten Befragten spielen bei der Suche nach einer Gemeinde persönliche Empfehlungen und damit ihre Freundeskreise eine entscheidende Rolle. Internetrecherche ist – wenn überhaupt – eine flankierende Massnahme. Es lässt sich zusammenfassen: ➤ ➤ ➤ ➤
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Es sind Menschen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis, an deren Empfehlungen sich die Befragten orientieren. Die Befragten orientieren sich an Menschen, die zuvor selbst die Gemeinde gewechselt habe. Die Befragten werden initiativ, indem sie Gemeinden »anschauen« und vereinzelt im Internet recherchieren. Die Entscheidung, sich einer Gemeinde dauerhaft anzuschliessen, wird überwiegend schon nach einem gelungenen gottesdienstlichen Erstkontakt getroffen. Die Befragten sind sich ihrer Ansprüche an die Qualität der gesuchten Gemeinde bewusst.
Kleingruppen als Sozialform für mobile Menschen
Die evangelische Kirche wurde in ihrer kommunikativen und partizipativen Grundstruktur als eine Weggemeinschaft der Hoffnung besprochen. Weggemeinschaften der Hoffnung setzen der Individualisierung von Menschen nichts entgegen, sondern begegnen ihr durch eine Vertiefung durch Personalisierung.62 Sie stellen eine überschaubare und beteiligungsoffene Form der Gemeinde dar. Die Beteiligten haben die Möglichkeit, einander in ihren Lebensformen wahr62 Kap. II.2.6.2 Der Individualisierung durch Personalisierung begegnen.
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Mit mobilen Menschen ins Gespräch kommen
zunehmen, kennenzulernen, einen gemeinsamen Weg zu entwerfen oder sich wieder zu trennen.63 In der Kybernetik wird statt von Kleingruppen oder Weggemeinschaften oft von geistlichen Zellen gesprochen.64 Die Bezeichnungen sind austauschbar, sind aber teilweise mit einem Kirchenbild konnotiert, das nicht den Vorstellungen einer Weggemeinschaft entspricht. Im Kleingruppenmodell von Michael Herbst werden Prozesshaftigkeit und Dialog als unaufgebbares Kriterium für den Charakter von Kleingruppen genannt.65 Herbst will die Eigenart von Kleingruppen nicht im Vorfeld definieren. Er will mit »verborgenen Geschichten des Glaubens« rechnen und mit Gemeindegliedern, die Bereitschaft signalisieren, »neugierig und offen ein Stück gemeinsamen Weges […] gehen«.66 Erst im Prozess der Wegfindung einigen sich die Beteiligten, ob und in welchen Formen sie Bibelgespräche, Gebet, gemeinsame Unternehmungen usw. pflegen. In der von mir befragten Gemeinde Berlinprojekt werden solche Kleingruppen ›Sofagruppen‹ genannt. Sie treffen sich in Privatwohnungen, beginnen den Abend mit einem gemeinsamen Essen und sprechen dann über einen im Voraus festgelegten Bibeltext.67
2.1
Kleingruppen als Möglichkeit zur Beziehungsstabilität
In übersichtlichen Gruppen können die Beteiligten einander die Umstände ihrer Lebensführung mitteilen. Es braucht keine Rechtfertigungen, Entschuldigungen usw. für Lebensumstände, die die Teilnahme an leibhafter Gemeinschaft erschweren. Berufsbedingte Abwesenheit erscheint dann nicht als Indifferenz gegenüber der Gemeinde. Das mobile Gemeindemitglied muss sich nicht für berufliche und gesellschaftliche Zwänge, für eine oft mangelnde Vereinbarkeit von Lebensform und leibhafter Beteiligung am Leben der Kirchgemeinde entschuldigen. 2.1.1 Vereinbarkeit von Lebensform und Glaube Mobile Menschen müssen eine Vorstellung von der Vereinbarkeit von Lebensform und Glauben entwickeln können. Ferdinand Tönnies hat die ›Vorstellungen‹, die Menschen sich in Bezug auf eine Gemeinschaft machen, als ein notwendiges, der leibhaften Gemeinschaft vorausgehendes Artefakt genannt.68 Weit 63 64 65 66 67 68
Weth, ›Barmen‹ als Herausforderung der Kirche, 1984, 166. Herbst, Missionarischer Gemeindeaufbau, 3. Aufl. 1993, 350. Kap. II.2.4 Kirche als Weggemeinschaft hat eine dialogische Struktur. Herbst, a. a. O., 351 und 352. Mehr Informationen auf www.berlinprojekt.com. Kap. I.3.3.2 Gemeinschaft begegnet immer in vorfindlichen Sozialformen.
Kleingruppen als Sozialform für mobile Menschen
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verbreitet dürfte die Vorstellung sein, dass Glauben vereinbar ist mit dem Leben von Frauen jenseits der 70, die ›genug Zeit haben‹, sich sonntags in den Gottesdienst zu setzen. Vorstellungen sind dann entstanden, wenn auch Nicht-Beteiligte erkennen können, dass sich ihre Lebensformen und leibhafte Beteiligung am Leben einer Kirchgemeinde vereinbaren lassen. Menschen – die beispielsweise berufsbedingt pendeln – können an ihren Kolleginnen und Kollegen sehen, dass diese sich ihrer Gemeinde trotz häufiger Abwesenheit und ihrer kleinen Ressourcen an Zeit zugehörig fühlen.
2.1.2 Eine kybernetische Herausforderung In kybernetischer Hinsicht stehen Gemeindeleitungen vor neuen Herausforderungen, wenn in einer Gemeinde eine Pluralität von Lebensformen – und nicht ein innerkirchlicher »Milieuethnozentrismus« besteht – und sich Gemeindeglieder selbst über die Gestaltung ihres Miteinanders verständigen und selbst einen Konsens in Bezug auf Zeiten, Orte, Abläufe und Zuständigkeiten ausbilden.69 Aufgabe der Gemeindeleitung wird sein, die Einheit der Gemeinde zur Darstellung zu bringen. Es wird Orte brauchen, an denen sie ihrer selbst als ganzer ansichtig wird.70 Das können besondere Gottesdienste, Kleingruppenvormittage oder Sommerlager für die ganze Gemeinde sein: »Es ist daher zu empfehlen, im Bereich der Gemeinde die Möglichkeiten und Grenzen christlicher Pluralität durch konziliare und themenzentrierte Kommunikation auszuloten. Konkret heisst dies. Die Verantwortlichen sind mit den verschiedenen Gruppen im Gespräch. Alle Gruppen treffen sich untereinander. Und es gibt Anlässe, an denen sich alle kennenlernen und mindestens einmal im Jahr sehen und Gemeinschaft erfahren können.«71
Kleingruppen stossen dann an ihre Grenzen, wenn die Lebensführung zu vieler ihrer Glieder durch Abwesenheit oder Unregelmässigkeiten geprägt ist. Wenn jedes Treffen neu mit einer Vorstellungsrunde beginnen muss, kommt die Alltagskommunikation der Gemeindeglieder zum Erliegen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Kleingruppen eine Sozialform darstellen, in der mobilen Gemeindegliedern Koinonia-Erfahrungen ermöglicht werden. Die Beteiligten haben die Möglichkeit, experimentelle und vorläufige Formen des Miteinanders zu entwerfen, die ihrer Lebensführung entsprechen. Übernehmen Gemeindeglieder in Kleingruppen selbst die Verantwortung für die 69 Wortschöpfung von Medard Kehl, in: Kehl, Wohin geht die Kirche?, 4. Auflage 1996, 131. 70 Kap. III.4.1 Gemeinde als ein Ort ganzheitlichen Lebens. 71 Antrag und Bericht an die Kirchensynode betreffend Pluralität, verabschiedet am 19. August 2009, in: Krieg/Kunz (Hg.), a. a. O., 28.
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Mit mobilen Menschen ins Gespräch kommen
Abläufe und die Gestaltung ihrer Glaubenskommunikation, verändert das die Kommunikation der Gesamtgemeinde und es entstehen neue Anforderungen an die Gemeindeleitung. Die Herausforderung besteht darin, die Gemeinde in ihrer Ganzheit punktuell sichtbar und erfahrbar werden zu lassen.
2.2
Kleingruppen – eine Beschreibung laufender Praxis
In der Gemeinde Berlinprojekt treffen sich Gemeindeglieder in Kleingruppen von etwa 8–15 Menschen, den sogenannten ›Sofagruppen‹. Das sind Bibelgesprächskreise, die von den Teilnehmenden gemeinsam geleitet werden. Sowohl der Gottesdienst als auch die ›Sofagruppen‹ stellen für die Befragten einen wichtigen Grund dafür dar, sich der Gemeinde zugehörig zu fühlen. Meine Gesprächspartnerinnen und -partner haben in den Interviews darüber zu diskutieren begonnen, was sie unter Zugehörigkeit verstehen und haben zwei Formen von Zugehörigkeit entwickelt und unterschieden. Die Möglichkeit, Zugehörigkeit unterschiedlich zu verstehen, scheint mir ein nicht unwesentlicher Grund dafür zu sein, dass sich die Befragten nach ihrem Ortswechsel gerade dieser Gemeinde angeschlossen haben. Es scheint, dass die Gemeinde Berlinprojekt verschiedene Zugehörigkeitstypen gleichberechtigt zur Verfügung stellt. 2.2.1 Sich zugehörig fühlen durch die Kleingruppe Von fast allen Befragten werden die ›Sofagruppen‹ als ein wesentlicher Grund dafür genannt, dass sie sich der Gemeinde zugehörig fühlen. Carola: Bei mir war es in dem Moment, wo ich eine Sofagruppe hatte, wo ich Dienste in der Gemeinde übernommen habe, und wo ich einen Dauerauftrag eingerichtet habe. Sobald man materiell was zufliessen lässt – (Pause) das bindet. Cäsar: Das ist der letzte Punkt von fünf. Denise: Stimmt. Es gibt fünf Zugehörigkeitspunkte. Der letzte Punkt war der finanzielle Bereich. Und die andern weiss ich nicht mehr. (Alle lachen) Bei uns war es die Sofagruppe. Wir haben [im Gottesdienst] keine Leute kennengelernt (lacht) Dann wurden wir Sofagruppe und dann waren wir sofort dabei.
Kleingruppen als Sozialform für mobile Menschen
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Cäsar: Für mich sind Sofagruppe und Gemeinde zwei Sachen. Für mich war die Gemeinde eher da. Wir wurden zu einem Intensivseminar eingeladen.72 Ab da habe ich mich mit der Kirche selbst identifiziert. Arlette: Es deckt sich mit euren Punkten. Sofagruppe. Und als ich gemerkt habe, dass ich dem Gottesdienst in meiner Woche eine gewisse Priorität einräume, dass ich drum herum plane. Es war mir wichtig, dass ich den Gottesdienst mitkriege. Dann kam die Sofagruppe. Als ich ein Jahr weg war von Berlin habe ich versucht, eine Gemeinde zu finden, die denselben Stellenwert hat. Ich habe mich wahnsinnig gefreut, als ich wieder zurückkam. [Sofagruppe A] Das Interview macht deutlich, dass die Befragten über Kriterien für die Zugehörigkeit zur Gemeinde Bescheid wissen – sonst würden sie nicht von »fünf Zugehörigkeitspunkten« sprechen. Ein Teil der Befragten empfindet den Besuch des Gottesdienstes und die Teilnahme am »Intensivseminar« – gemeint ist das Berlinprojekt im Detail – als ausschlaggebend für das eigene Empfinden von Zugehörigkeit. Für eine Befragte wird die ›Sofagruppe‹ zum Wendepunkt, weil sie hier »Leute kennengelernt« hat. Ähnliche Erfahrungen werden in der zweiten Interviewgruppe genannt. Klara: Also, als ich zum ersten Mal in eine Sofagruppe gegangen bin. Also, ich kannte in der Gemeinde noch gar keinen zu dem Zeitpunkt. Ich bin ziemlich schnell in eine Sofagruppe gegangen. Als ich dann mit den Leuten zu Abend gegessen habe und dann Bibel gelesen habe, da war schon so ein Gefühl von: Ich meine es ernst und ich gehöre irgendwie auch schon dazu, weil ich sitze bei den Leuten zuhause in irgendeiner fremden Wohnung und esse mit denen zu Abend und rede mit denen über Gott und, und, ja das hat mich dann schon so (Pause). Das fand ich schon Zugehörigkeit so. Das war der erste Schritt. [Sofagruppe B] Indem die Befragten gemeinsam zu Abend essen und die Bibel lesen, stellt sich für sie eine Erfahrung von Zugehörigkeit ein.
72 Der Befragte meint den bereits vorgestellten Seminartag Berlinprojekt im Detail.
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Mit mobilen Menschen ins Gespräch kommen
2.2.2 Zwei Zugehörigkeitstypen Die Befragten unterscheiden zwei Möglichkeiten, Zugehörigkeit zu erfahren. Vereinfachend gesagt, besteht die eine Möglichkeit darin, den Gottesdienst der Gemeinde zu besuchen und weitgehend anonym zu bleiben. Die zweite Möglichkeit besteht darin, sich einer ›Sofagruppe‹ anzuschliessen und damit ein persönliches Verhältnis mit anderen Gemeindegliedern einzugehen. Die Befragten halten ›Sofagruppen‹ dann für wichtig, wenn Suchende die Zugehörigkeit zur Kirche mit Vorstellungen von »sich Fallenlassen können, Aufgefangen werden, Freundeskreis« verbinden. David: Aber irgendwie hat ja jeder das, wo er sich aufgefangen fühlt. Und wenn es die Freundin oder ein Freundeskreis ist. Irgendwas hat ja jeder. Und wer es nicht hat, der sucht es halt. Nike: Also dann definierst du Zugehörigkeit über sich Fallenlassen können, Aufgefangen werden, Freundeskreis? David: So dieses. Ja, die Richtung. [Sofagruppe C] Die Befragten sind übereinstimmend der Meinung, dass es ohne die Beteiligung an einer ›Sofagruppe‹ eher schwierig ist, in ihrer Gemeinde von anderen Menschen wahrgenommen zu werden. Nike: Das sind dann so zwei verschiedene Sachen. Zugehörigkeit einerseits als Gesehenwerden und Wahrgenommenwerden. Ich glaube, das ist im Berlinprojekt tendenziell schwieriger, wenn man sich nicht selber bewusst auch seinen Kreis sucht. Oder das auch als Ziel mitnimmt jeden Sonntag, selber auf jemanden zuzugehen. Dann ist auch die Frage, wie nachhaltig ist das. Es passiert nicht einfach so in der Gemeinde. [Sofagruppe C] Der bereits zitierte David stellt heraus, dass die Gemeinde für ihn selbst nicht Lebensmittelpunkt ist. Er findet die Gemeinde »ganz gut«: David: Ich fühle mich zum Berlinprojekt zugehörig in dem Sinne, dass ich das alles ganz gut finde und auch sage: Ist toll da. Und das andere ist irgendwie so was, in die Richtung Lebensmittelpunkt. Ist vielleicht ein bisschen krass, aber so die Richtung. [Sofagruppe C]
Kleingruppen als Sozialform für mobile Menschen
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Zugehörigkeit kann auch – und das ist die zweite von den Befragten angebotene Definition – als ein blosses Einstimmen in die Ziele und die Struktur der Gemeinde verstanden werden – »dass ich das alles ganz gut finde und auch sage: Ist toll da.« Dafür bedarf es nicht naher persönlicher Beziehungen. Die Gemeinde wird als eine Art Projekt verstanden, das man bejaht und unterstützt. Die Befragten betrachten diese Form von Zugehörigkeit als gut und nicht rechtfertigungsbedürftig. Nike: Das andere ist aber für mich auch Zugehörigkeit, das ist das, was ich eben meinte, dass Identifikation, gemeinsame Vision, ein Ziel teilen. Dass man sich in dem Sinne zugehörig fühlt. In dem Sinne fühle ich mich da schon sehr zugehörig. Alles, was wir am Anfang aufgezählt haben, was das Gemeindeleben ausmacht, was die Vision ist. Dass man bewusst ein bisschen Anonymität schafft oder zulässt, um Leute integrieren zu können, die Berührungsängste haben, da eben nicht den Gemeindekuschelclub hat, wo sich alle kennen und man ist die einzige, die jetzt neu ist und man muss sich gleich rechtfertigen, vorstellen und findet das vielleicht alles unangenehm so. Das ist etwas, was ich als Ziel, als Ziel für Gemeinde – als Perspektive – mit teile. Dann muss ich bewusst für mich auch gucken, natürlich, wenn man jetzt länger dabei ist oder denkt, man ist ein Stück weit drin, man möchte dazu gehören, dann ist man selber mehr in der Verantwortung, sich das zu schaffen oder zu suchen und eben durch kleinere Kreise nochmals. Und man muss dann vielleicht damit leben, dass eben am Sonntag nicht das grosse ›Wir sind zwanzig Leute und alle kennen sich und gehen auf dich zu‹ Gefühl da ist. [Sofagruppe C] Die Befragten schätzen diese zweite Form von Zugehörigkeit, weil sie »Anonymität schafft oder zulässt«. Erfahrungen von Anonymität würden es ermöglichen, Menschen zu integrieren, für die eine Kontaktaufnahme einen längeren Prozess darstellt. Im Blick auf sich selbst schätzen die Befragten Formen der Beteiligung, die sich in neuen Lebenssituationen oder Zeiten eigener Belastung als handhabbar darstellen: Nike: Deswegen ist das Gefühl, dass sich die Definition von Zugehörigkeit schon verändert. Man guckt: Wie passt das jetzt? In einer vollen Woche: Wo ist Gemeinschaft, wo ist ein Glaubensmittelpunkt und Input? Ich finde es eher angenehm, wenn auch Formen der Mitarbeit angeboten werden, die vielleicht auch ein bisschen anonymisierter sind. [Sofagruppe C]
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Mit mobilen Menschen ins Gespräch kommen
Die Interviewpartnerin beschreibt ihre Lebenssituation durch eine »volle Woche«. Die Beteiligung am Leben der Gemeinde soll für sie zum Engagement im Studium oder Beruf »passen«. Zusammenfassen lässt sich, dass die Befragten unterschiedliche Bedürfnisse in Bezug auf Zugehörigkeit anerkennen und unbewertet nebeneinander stehen lassen. Die bzw. der Einzelne entscheidet selbst, welches Verständnis von Zugehörigkeit ihrer bzw. seiner Lebensform entspricht. 2.2.3 Kleingruppen erfüllen unterschiedliche Bedürfnisse Den Befragten ist der gemeinsame Glaube an Jesus Christus wichtig. Den Glaubenden werden aber vielfältige und sehr unterschiedliche Bedürfnisse und Ausdrucksweisen des Glaubens zugestanden. Calvin: Ich wäre beim Berlinprojekt nicht so gut aufgehoben. Andere Menschen, andere Bedürfnisse. Aber das heisst nicht, dass jede Kirche einen gut aufhebt. […] Sondern man ist nur gut aufgehoben, wenn man wirklich irgendwo ist, wo Jesus im Zentrum ist. […] Aber trotzdem, manche Leute brauchen etwas, wo man eher emotional dabei ist, manche brauchen eher intellektuelles Dabeisein, manche wollen nur sitzen und zuhören und dann nach Hause gehen und manche Leute wollen wirklich sehr viel Leben. Aber das kann man alles sehr gut machen. Und immer läuft der Fokus auf Jesus in der Bibel. [Sofagruppe C] Calvin betrachtet den Glauben an Jesus Christus als »Zentrum« der Gemeinde. Die Formen, in denen sich der Glaube ausgestaltet, empfindet er als zweitrangig. (»Andere Menschen, andere Bedürfnisse«.) In den drei Gruppeninterviews habe ich tatsächlich ein Nebeneinander von verschiedenen Bedürfnissen und damit auch Lebensstilen erlebt. Manche der Gemeindeglieder, bei denen ich zu Gast war, leben verheiratet, andere unverheiratet zusammen; manche trinken in den ›Sofagruppen‹ viel Alkohol, andere keinen. Ich war von der Pluralität der Lebensstile überrascht, nachdem ich die Äusserungen in Bezug auf die ›Core Commitments‹ der Gemeinde als recht übereinstimmend empfunden habe.
Die Bedeutung von Event-Gemeinschaften für mobile Menschen
3
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Die Bedeutung von Event-Gemeinschaften für mobile Menschen
Bei der Gemeinde Berlinprojekt handelt es sich klar nicht um eine Event-Gemeinschaft. Zu deutlich steht der Wissensbestand dieser Kirchgemeinde im Mittelpunkt der Kommunikation, nicht das Erlebnis. Die Predigten sind anspruchsvoll und die zahlreichen ›Sofagruppen‹ sind Bibelgesprächskreise – soziologisch geht es um die Reproduktion kulturellen Wissens.73 Man könnte das Berlinprojekt für eine situative Vergemeinschaftung halten, weil die Gemeinde in hohem Masse auf die Lebenssituation ihrer Mitglieder eingeht. Ihre situative Anpassung besteht aber (nur) darin, dass unterschiedliche Zugehörigkeitstypen möglich sind.74 Die Bedeutung von Event-Gemeinschaften für die Kommunikation mit mobilen Menschen nehme ich in den Blick, weil auch hier Erfahrungen von Zugehörigkeit entstehen. Vielleicht kann sich das Organisieren von Events für eine Kirchgemeinde als ein ›Mittel zum Zweck‹, als ›Vorstufe‹ oder ›flankierende Massnahme‹ erweisen, wenn Kirchgemeinden doch eigentlich ein traditionales Gemeinschaftsverhältnis unter ihren Mitgliedern anstreben? 75
3.1
Was sind Event-Gemeinschaften?
Dass Gemeinschaft punktuell, das heisst situativ erlebt wird, kam im Zuge der bisherigen Untersuchung kaum in den Blick. Auf Michael Nüchterns Kirche bei Gelegenheit habe ich verwiesen.76 Hier treffen im Moment der Begegnung kirchliches Handeln und thematische bzw. biographische Anlässe aufeinander.77 Kirche bei Gelegenheit versteht sich nicht als Event, weil die Begegnung weniger das Erlebnis als eine Aktualisierung der Kirchenmitgliedschaft meint. Losgelöst vom Alltag der Ortskirchengemeinde gibt es zahlreiche Gelegenheiten, christliche Gemeinschaft punktuell zu erfahren. Menschen ziehen sich beispielsweise zu Exerzitien in ein Kloster zurück oder sind miteinander auf Pilgerwegen unterwegs. Sie fahren zu evangelischen Kirchentagen oder ökumenischen Treffen nach Taizé.
73 Kap. III.2.1.2 Lebenswelt reproduziert sich. 74 Kap. VI.2.2.2 Zwei Zugehörigkeitstypen. 75 Der Begriff ›traditional‹ bezeichnet Gemeinschaft im von Tönnies definierten Sinne. Eine posttraditionale Gemeinschaft dagegen wird aktiv gewählt und zeichnet sich durch gemeinsame Interessen, einen hohen Erlebniswert und eine geringe Verbindlichkeit aus. 76 Kap. II.2.6.1 Offenheit für neue pastorale Orte und für Gespräche über das Leben. 77 Nüchtern, a. a. O., 10.
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Mit mobilen Menschen ins Gespräch kommen
3.1.1 Ausseralltäglich und punktuell Zum Charakter eines kirchlichen Events gehört, dass Gemeinde punktuell und in einer ausseralltäglichen Situation erlebt wird. Einzelne verlassen ihren Alltag, um sich ins Kloster zurückzuziehen oder sich auf einen Pilgerweg zu begeben. Die Theologin und Exerzitienleiterin Silke Harms weist darauf hin, dass ausseralltäglich in bezug auf Exerzitien nicht stimmt, weil der Alltagsbezug in Exerzitien durchaus eine Rolle spielt. Denn geistliche Übungen konzentrieren sich in evangelischer Tradition auf das »Alltägliche und Gewöhnliche«.78 Zum Event aber gehört der punktuelle Charakter des Erlebens. Harms streicht heraus, dass sich Exerzitien von einmaligen Erlebnissen darum unterscheiden, weil sie sich durch »Dauer und vor allem die Wiederholung« auszeichnen.79 Die Zeitdimension ist laut Harms nicht der Kairos, sondern der Chronos! 80 Wegen der Rückbindung an den Alltag und der durativen Dimension kann man Exerzitien nicht als Events bezeichnen. Das gleiche gilt für das Pilgern als einen geistlichen Weg. Auf Pilgerwegen erlaufen Menschen sich eine neue oder vertiefte Wahrnehmung ihrer Alltagserfahrungen.81 3.1.2 Der Erlebnischarakter Szenen wurden bereits als eine Form posttraditionaler Vergemeinschaftung vorgestellt.82 In Events erfahren Szenen eine zeitlich-räumliche Verdichtung. Hitzler beschreibt die Steigerung des Erlebens folgendermassen: »Während Treffpunkte sozusagen die alltäglichen Interaktionsorte darstellen, sind Events ganz und gar aus dem Alltag herausgehobene, raum-zeitlich verdichtete, interaktive Performance-Ereignisse mit hoher Anziehungskraft für relativ viele Menschen. Events bieten den Teilnehmern die aussergewöhnliche Chance, sich sozusagen in einem Kollektiv-Vehikel aus den Lebens-Routinen heraustransportieren zu lassen und in verdichteter Weise am symbolisch vermittelten Sinn-Ganzen der Szene zu partizipieren.«83
Menschen nehmen an einem Event mit der Erwartung an bestimmte Erfahrungen teil. Der Körper wird dabei zum »Erlebnismedium« instrumentalisiert.84 Körpererfahrungen gehören untrennbar zum Event dazu und können in eksta78 79 80 81
Harms, Glauben üben, 2011, 237. Ebd., 236. Kursiv im Original. Ebd., 236. In der Belletristik hat das Pilgern die Verwandlung des Protagonisten zum Thema, vgl. Rachel Joyce, The unlikely Pilgrimage of Herald Frey, 2012. Indem sich der alte Mann, der Protagonist der Erzählung, zu Fuss auf den Weg zu seiner krebskranken Kollegin macht, beginnt der Prozess seiner eigenen Verwandlung. 82 Kap. III.5.1 Szenen als postmoderne Form von Vergemeinschaftung. 83 Hitzler, Leben in Szenen, 2010, 188. 84 Ebertz, Kirche im Gegenwind, 2. Aufl. 1998, 129.
Die Bedeutung von Event-Gemeinschaften für mobile Menschen
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tische Zustände übergehen. Event-Gemeinschaften zeichnen sich durch die Erfahrung von Ganzheitlichkeit im »Erlebnis des ganz Anderen« aus: »In ihnen wird die Aufsplitterung der menschlichen Identität in unterschiedliche Rollen und Positionen, die für das alltägliche Leben typisch ist, überwunden.«85
Was in Events geschieht, trägt häufig den Charakter des Unerwarteten. Das gilt sowohl für die inhaltliche wie für die soziale Dimension des Geschehens.86 Die Teilnehmenden sind offen für ein Erleben und bringen eine eine Offenheit bzw. Bereitschaft für neue soziale Kontakte mit. Es ist beispielsweise üblich, dass bei Musik-Festivals einander fremde Menschen im selben kleinen Zelt übernachten. 3.1.3 Beispiel Weltjugendtag Als Beispiel für eine Event-Gemeinschaften wird ein Weltjugendtag der katholischen Kirche (2005) vorgestellt.87 Der Grund dafür, eine römisch-katholische Event-Gemeinschaft zu wählen und nicht etwa den Evangelischen Kirchentag, ist die Studie Megaparty Glaubensfest (2007). In dieser Studie untersuchen Soziologinnen, Medien- und Erziehungswissenschaftler, wie beim Weltjugendtag die Erfahrung von Zugehörigkeit entsteht und von den Teilnehmenden empfunden wird.88 Für die Verfasser der Studie dient der Weltjugendtag beispielhaft als »Anschauungsobjekt für gesamtgesellschaftlich relevante Wandlungsprozesse«, nämlich für die Frage, was »religiöse Vergemeinschaftung für Jugendliche und junge Erwachsene« heute bedeutet.89 In der Studie wird die These vertreten, dass die römisch-katholische Kirche Event-Gemeinschaften bewusst organisiert, um einer zunehmenden Verszenung des römisch-katholischen Glaubens begegnen zu können. Der Studie zufolge bedient sich die römisch-katholische Kirche beim Weltjugendtag gezielt der Elemente einer populären Event- und Jugendkultur. Multioptionslust und Erlebnisorientierung führen dazu, dass sich die Kirche der Pluralisierung stellen muss und sich »selber in ihrer internen Struktur weiter ausdifferenziert und pluralisiert« als je zuvor.90 Mit dem Event würde die Kirche darauf antworten, dass sie von vielen Mitgliedern zunehmend als blosse Organisation wahrge85 Beide Zitate bei Gebhardt, Flüchtige Gemeinschaften, in: Lüddeckens/Walthert (Hg.), a. a. O., 182. 86 Zur Wirklichkeitskonstruktion in Events siehe Scharnberg, Event-Jugend-Pastoral, 2010, 23. 87 Gebhardt u. a. (Hg.), Megaparty Glaubensfest, 2007. Weltjugendtage finden seit 1984 jährlich in einem Gastgeberland statt und wollen als Zielgruppe junge Menschen zwischen 15 und 30 Jahren erreichen. 88 Für den Deutschen Evangelischen Kirchentag oder für die ökumenischen Treffen von Taizé liegen meines Wissens keine entsprechenden Untersuchungen vor. 89 Gebhardt u. a. (Hg.), Megaparty Glaubensfest, 2007, 16. 90 Ebd., 213.
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Mit mobilen Menschen ins Gespräch kommen
nommen werde. Dabei sei es aber eine gesellschaftliche Tendenz, »religiös-charismatische Erfahrungen ›auf eigene Faust‹ und in erlebnisaffinen Formen zu suchen, ausserhalb oder auch innerhalb der Kirchen«.91 Die römisch-katholische Kirche hat der Studie zufolge mit dem Weltjugendtag eine Form gefunden, um auch in pluralistischer Gesellschaft ihre Einheit feiern zu können. Der Weltjugendtag dient also nicht einer Hinführung der Jugendlichen an die überlieferten Formen kirchlichen Lebens, sondern die Jugendlichen feiern bereits ihre Einheit mit der Kirche der Tradition. Plausibel wird diese Sicht meines Erachtens dadurch, dass der Weltjugendtag als Event-Gemeinschaft ein hochgradig traditionales Element, nämlich die Feier des Abendmahls, integriert. 3.1.3.1 Die Teilnehmenden kommen aus traditionalen Gemeinden Die im Rahmen der Studie befragten Jugendlichen sind überwiegend in der institutionalisierten Kirche beheimatet. Am Weltjugendtag nehmen Jugendliche teil, die ihren Kontakt zur Pfarrgemeinde zu mehr als 60 % als sehr eng oder eng beschreiben und zu weiteren 21 % als mittel. Fast 60 % der Jugendlichen (59,4 %) sind zusammen mit ihrer Jugendgruppe angereist.92 Es werden also Jugendliche über ihre Wahrnehmung eines Events befragt, die überwiegend in traditionalen Pfarrgemeinden beheimatet sind. Die Studie gibt keine Auskunft darüber, in welcher Weise der Weltjugendtag auch nicht religiös sozialisierte Jugendliche anspricht und ihnen Glaubens- und Gemeinschaftserfahrungen ermöglicht. Es wird vielmehr beschrieben, dass sich gemeindeorientierte Sozialformen hin zu »situativen Formen von religiöser Gemeinschaft« verlagern.93 Das Gemeinschaftsgefühl wird dabei als ein wesentlicher Bestandteil des Events beschrieben. »›Das Gemeinschaftsgefühl ist ein wichtiger Bestandteil von Kirche‹, so beschreibt Ulrich Hennes, ein leitender Mitarbeiter aus dem Organisationsstab des Weltjugendtagsbüros, das allgemeine Credo des Weltjugendtags in Köln. […] Trotz oder gerade wegen der Pluralität des Katholischseins erzeugte der Weltjugendtag als Event bei allen Teilnehmern einen regelrechten ›Gemeinschaftshype‹. Fast ausnahmslos bekamen wir auf die – relativ offene – Frage nach den persönlichen Eindrücken und Highlights auf dem Weltjugendtag die Antwort: ›Miteinander sein‹, ›Gemeinschaft erleben‹, ›Teil einer Menge sein‹ oder ›Mit anderen zusammenkommen‹.«94
Die Befragten haben den Wunsch, ihr Katholisch-sein als Einheit zu erleben.95 Ihnen ist wichtig, »integraler Teil einer grossen, fröhlichen und selbstbewussten Gemeinschaft zu sein […].«96 Es geht dezidiert um Erfahrungen von Einheit. 91 92 93 94 95 96
Ebd., 215. Ebd., 37. Ebd., 15. Ebd., 82–83 Ebd., 19. Ebd., 33.
Die Bedeutung von Event-Gemeinschaften für mobile Menschen
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Diese werden nicht auf dem Wege einer Kommunikation von Wissen gesucht. Der Weltjugendtag thematisiert kaum den Wissensbestand des Glaubens und sucht auch nicht die geistige Auseinandersetzung mit sozialen und politischen Themen: »Nicht kritische Diskussion und theologische Reflexion waren angesagt, sondern den jugendlichen ›Pilgern‹ sollte das ›schöne‹ Erlebnis von raum-zeitlich entgrenzter Zugehörigkeit zu einer ›universalen religiösen Gemeinschaft […] ermöglicht werden.«97
Beim Weltjugendtag wird eher gefördert, was wir unter einer szenetypischen Gesinnung verstanden haben.98 Die Jugendlichen fühlen »sich den universellen Werten der christlichen Botschaft, insbesondere der Nächstenliebe, der Humanität und der Solidarität, verpflichtet«.99 Nicht die Wahrnehmung aktueller Verantwortung steht im Zentrum der Zusammenkunft, sondern das Erleben und das Ausdrücken einer gemeinsamen Gesinnung. 3.1.3.2 Authentizität und Performanz Den befragten Jugendlichen ist ihr persönlicher Glaube wichtig. Über die Formen des Glaubens aber, wie die Teilnahme an Gottesdiensten, wollen die Jugendlichen selbst bestimmen. Sie suchen eine authentische Spiritualität, die es ihnen ermöglicht, existentielle Erfahrungen und Bedürfnisse zu artikulieren. Es gibt eine »Fülle von ästhetischen und religiösen Ausdrucksformen, mit denen das Religiöse gleichsam ›stilistisch gerahmt‹ wird.«100 Die Interaktionsstrukturen sind unmittelbar und hoch affektiv und ermöglichen es den Jugendlichen dadurch, sich als authentisch zu erleben.101 In der Gemeinschaftsform des Events ist Religion nicht zuerst an die Wortverkündigung gebunden, sondern schliesst die Performanz der Gläubigen und die gemeinsame mediale Inszenierung ein.102 3.1.3.3 Der Weltjugendtag integriert traditionale Elemente Ich habe das Wählen als eine Lebenshaltung beschrieben, die viele Menschen in postmoderner Gesellschaft verinnerlicht haben. Die Teilnahme an einem Event ist Ausdruck einer Wahl. Beim Weltjugendtag werden die Teilnehmenden aber als Erwählte angesprochen. Der Weltjugendtag mündet in eine Eucharistiefeier und damit in das Ursprungsgeschehen der Kirche. Die Event-Gemeinde vergegenwärtigt in der Eucharistiefeier, dass sie sich der Selbsthingabe Jesu Christi für die 97 98 99 100 101 102
Ebd., 13. Vgl. Kap. III.5.1 Szenen als postmoderne Form von Vergemeinschaftung. Ebd., 32. Ebd., 57. Ebd., 15. Ebd., 15.
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Mit mobilen Menschen ins Gespräch kommen
Seinen verdankt.103 Spannungsvoll bleibt dabei die Frage, ob sich die EventGemeinde tatsächlich der Selbsthingabe Jesu Christi verdankt oder ob das Zusammenkommen auf anderen, nämlich den oben genannten Voraussetzungen eines Events beruht. Im ungünstigen – weil nicht zukunftsträchtigen Fall – würde die Teilnahme an der Eucharistiefeier selbst zum Event werden – zur Feier eines ›Wir-Gefühls‹, das keine Verpflichtungen für die Alltagskommunikation mit sich bringt. Dieser Konflikt wiederum wäre nicht neu. Man kann fragen, ob dieser Konflikt in der gegenwärtigen Kasualpraxis bei Taufen nicht bereits zu Tage tritt: Menschen, die den Glauben für ihre Alltagspraxis ausdrücklich ablehnen, feiern die Taufe als Erlebnis der Zugehörigkeit zu einer grösseren Wirklichkeit, die sie übersteigt. Ohne Alltagspraxis aber reproduziert sich Zugehörigkeit mittelfristig nicht.
3.2
Das Verhältnis von Events und traditionalen Gemeinschaften
Gebhardt und das Forschungskonsortium führen die Zunahme von Event-Gemeinschaften gradlinig auf einen Rückgang an traditionalen Gemeinschaften zurück. »Wenn ›gemeinschaftliche Lebensformen‹ im spätmodernen Alltag nicht mehr oder nur noch bedingt dauerhaft lebbar und herstellbar sind – und diese Einsicht zieht der spätmoderne Mensch aus der Summe seiner Lebenserfahrungen – dann muss die Sehnsucht nach Gemeinschaft eben ›ausseralltäglich‹ befriedigt werden.«104
Event-Gemeinschaften dienen als Ersatzhandlungen für alltägliche Gemeinschaftserfahrungen. Die »gemeinschaftliche Vision des ›sinnvoll und ziervoll geordneten Ganzen‹« wird »situativ, also auf Zeit und gleichsam spielerisch« in der Gegenwart umgesetzt. Am »Wochenende unter Gleichgesinnten auf Mittelaltermärkten, im Heiler-Seminar oder in meditativen Tanzkreisen«.105 Menschen verzichten nicht einfach auf Gemeinschaftserfahrungen. Sie suchen diese in einer ihnen zugänglichen Gestalt. 3.2.1 Event-Gemeinschaften und die Alltagskommunikation der Gemeinde Gemeinschaftserfahrungen im von Tönnies/Merz-Benz definierten Sinne wirken auf den Alltag der Glieder einer Gemeinschaft und schliessen die Übernahme sozialer Verantwortung füreinander ein.106 Event-Gemeinschaften aber gründen 103 104 105 106
Kap. V.2 Das Abendmahl. Gebhardt, Flüchtige Gemeinschaften, 2010, 185. Zitate ebd., 185. Kap. I.3.6 Zum Verhältnis von Eigeninteresse und sozialer Verpflichtung.
Die Bedeutung von Event-Gemeinschaften für mobile Menschen
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anders als traditionale Gemeinschaften nicht in kollektiv auferlegten Lebensumständen und führen nicht zur Übernahme von Verantwortung in der Alltagskommunikation. »Posttraditionale Vergemeinschaftungsangebote belassen also – nicht nur faktisch, sondern sozusagen dezidiert – die Chancen ebenso wie die Risiken der ›existentiellen Sorge‹, d. h. der Lebensführung, der Sinngebung und (vor allem) der materiellen ›Ausstattung‹ dem einzelnen Akteur – letztendlich auch im Hinblick auf seinen Status als ›Mitglied‹ (sofern sich ein solcher Status überhaupt noch in einem analytisch vernünftigen Sinne definieren lässt).«107
Für die Dauer eines Events sorgen Menschen möglicherweise füreinander. Vielleicht sind sie sogar in einer Weise füreinander da, die zeitweise die Verbindlichkeit des Alltagshandelns übersteigt und erzeugen so ein Gefühl von gemeinsamer Lebenswelt. Mit dem Beenden des Events sind aber im Regelfall auch die Verbindlichkeiten beendet. Weil keine Verantwortung im Alltag übernommen wird, lässt sich für Event-Gemeinschaften nicht von einer wirklich Koinonia- bzw. Diakonia-Dimension der Gemeinde sprechen. Weil Event-Gemeinschaften kaum Konsequenzen für den Alltag zeitigen, spricht Gebhardt sogar von »Gemeinschaften ohne Gemeinschaft«.108 3.2.2 Events als Beteiligungsmöglichkeit für mobile Menschen Dass die Kommunizierenden kaum Verantwortung füreinander übernehmen, habe ich bereits als ein Kennzeichen medial vermittelter Kommunikation benannt. Dieses Kennzeichen tragen auch Events. Wo Lebenswelt als eine Erfahrung leibhafter und verpflichtender Sozialwelt nicht gewollt, nicht ertragen oder als belastend empfunden wird, können sowohl medial-vermittelte Kommunikation als auch Events niederschwellig und entlastend wirken. Die Teilnahme am Event ist möglich, ohne Voraussetzungen erfüllen zu müssen. Wer an einen Wohnort zugezogen oder durch berufsbedingte Mobilität verlässlich abwesend ist, bleibt oft genug von der Kommunikation der Ortsgemeinde ausgeschlossen. Um an einem Event teilzunehmen, muss ein mobiler Mensch weder Mitglied der Kirche sein noch vorgängige Erfahrungen mit der Kirche als Sozialwelt haben. Erfahrungen von gemeinsamer Lebenswelt stellen sich bei der Teilnahme am Event von selbst ein.
107 Hitzler, Leben in Szenen, 2010, 15. 108 Gebhardt, Flüchtige Gemeinschaften, 2010, 186.
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Mit mobilen Menschen ins Gespräch kommen
3.2.3 Gibt es Übergänge vom Event zur Gemeinde? Werden Menschen, die mit Tausenden an einem Taizé-Treffen teilgenommen haben, den Versuch machen, nach ihrer Rückkehr am Gottesdienst der Ortsgemeinde teilzunehmen? Oder führt die herausgehobene Erfahrung allenfalls zu einer wiederholten Fahrt nach Taizé? Die Frage spitzt sich dahingehend zu, ob es Kirchgemeinden möglich ist, Übergänge zwischen situativen Events und dem Zusammenleben ihrer Mitglieder zu schaffen. Naheliegend wäre es, im Anschluss an ein Taizé-Treffen in der eigenen Kirchgemeinde Taizégebete anzubieten. Die Frage ist, welche Elemente des Events sich ›transportieren‹ lassen. Es wird ein Unterschied sein, ob junge Menschen mit 500 Jugendlichen singen oder mit fünfen; ob sie einander fremd sind und darum neugierig aufeinander oder ob die ehemalige Konfirmationsklasse zusammensitzt. Vielleicht lässt sich der Transfer von einzelnen Elementen durch die schon genannten Organisationseliten beeinflussen.109 Haben Organisationseliten ein Interesse daran, dass die evangelische Kirche in ihren traditionalen Formen vom Event profitiert, können sie vielleicht Übergänge in die Alltagskommunikation vorbereiten und unterstützen – beispielsweise bereits während des Events den Alltag vorwegnehmend imaginieren. Es bleibt wohl dabei, dass sich Übergänge von posttraditionaler Vergemeinschaftung hin in traditionale Gemeinschaften kaum planen lassen. Es scheint diese Übergänge eben so wenig zu geben, wie es Tönnies zufolge Übergänge zwischen gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Sozialformen gibt.110
109 Zur Definition von Organisationseliten siehe: Hitzler, Leben in Szenen, 23 (Schaubild). Auch christliche Szenen und Events unterliegen Steuerungsprozessen und werden von Kerngruppen geleitet. 110 So bereits Merz-Benz, a. a. O., 43.
Epilog und Perspektiven
Medial vermittelte Kommunikation und Kommunikation in Events haben Wesentliches gemeinsam: Beide gehen nicht mit Verbindlichkeitsansprüchen einher, die aus dem »Rekurs auf (wie auch immer geartete) Traditionen und/oder auf ähnliche soziale Lagen resultieren«.1 Die Teilnahme an medial vermittelter Kommunikation und an Events ist mit wenig Aufwand bzw. wenigen Vorleistungen verbunden. Im Internet können Gemeindeglieder sich schnell orientieren, Ensembles bilden und den Austausch über Fragen des Glaubens und der Lebensführung üben. Auch in Events können sich Menschen unaufwändig innerhalb des Grossthemas Religion bewegen. Auch hier können sie spontan Ensembles bilden, in denen sie – ohne dass sie zuvor Teil der Wissensgemeinschaft Kirche werden müssen – über ›Gott und die Welt‹ ins Gespräch kommen. In beiden Formen gemeinschaftlichen Erlebens werden die Teilnehmenden zur Selbstdarstellung, das heisst zur Entwicklung ihres expressiven Selbst, angeregt. Dabei können durchaus Wir-Gefühle entstehen und einige Kriterien lebensweltlicher Kommunikation erfüllt werden. Solchem Gemeinschaftserleben fehlen aber Erfahrungen der geschöpflichen Begrenztheit, der wechselseitigen Angewiesenheit und der gelebten Verantwortung. Diese Alltagstauglichkeit und -verbindlichkeit sind in einer als Koinonia verstandenen Kirche auf Dauer unverzichtbar.
Weggemeinschaften als Gemeinschaftsgestalt in postmodernen Gesellschaften Kleingruppen, deren Mitglieder sich als Weggemeinschaft der Hoffnung verstehen, ermöglichen mobilen Gemeindegliedern Koinonia-Erfahrungen, die auf der Wahrnehmung der geschöpflichen Begrenztheit, also ihrer tatsächlichen Res1 Hitzler/Niederbacher, Leben in Szenen, 2010, 14.
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Epilog und Perspektiven
sourcen an Zeit und Kraft beruhen. Als Weggemeinschaften entwerfen Gemeindeglieder Formen des Miteinanders, die sie mit ihrer berufsbedingten Mobilität vereinbaren können. Die Beteiligten entscheiden selbst über den Rhythmus und die Häufigkeit ihrer Treffen, über den Modus ihrer Kommunikation und die Leitungsstrukturen ihrer als Weggemeinschaft verstandenen Kleingruppe. Damit kommen Gemeindeglieder in Weggemeinschaften zumindest potenziell als ›Subjekte‹ der Postmoderne vor. Ihrer Individualisierung wird mit einer vertieften Personalisierung begegnet.2 Standpunkt, Gewissen, Biographie usw. der Beteiligten kommen im persönlichen Umgang miteinander zur Sprache – wie es in postmodernen Prozessen der Sinnfindung ohnehin geschieht und damit vielen Menschen vertraut ist.3 Gleichzeitig tragen Weggemeinschaften durch ihre überschaubare Grösse dem gestiegenen Bedarf an Kommunikation Rechnung.4 In einer als Weggemeinschaft der Hoffnung verstandenen Kirche wird nicht länger vorausgesetzt, dass Menschen sich ihrer Zugehörigkeit sicher sind oder Fragen der Mitgliedschaft geklärt haben. Das wurde unter dem Titel Abendmahl feiern unter den Bedingungen der Postmoderne besprochen.5 Weggemeinschaften zu bilden heisst, dass die Einzelnen ihr Verständnis von Zugehörigkeit und Mitgliedschaft erst noch bilden und klären dürfen – unter dem Zuspruch des Segens.6 Die persönliche Identität – die ›Kirchlichkeit‹ – der Weggefährtinnen und -gefährten ist nicht Voraussetzung für gelebte Sozialität. Sie ist auch nicht Zielpunkt des gemeinsamen Weges, so dass die Einzelnen zum Gegenstand missionarischen Handelns würden. Zugehörigkeit wird weder vorausgesetzt noch als Ziel des Miteinanders intendiert. Sie wird im gottesdienstlichen Geschehen und in der Beteiligung an der Abendmahlsfeier ›erinnert‹ und ›erhofft‹. Der Charakter des ›Erinnerns‹ hat sich dabei als bedeutend erwiesen: Es sind die Ereignisse der Vergangenheit bzw. der Zukunft, die sich im Vollzug der ›memoria‹ vergegenwärtigen – und zur Erfahrung werden können.7
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Kap. II.2.6.2 Individualisierung zulassen. Kap. I.2.4.1 Verlust einer letzten Einheit und Sinnhaftigkeit? Kap. I.2.4.3 Der Bedarf an Kommunikation wächst. Kap. V.2.1 Abendmahl feiern unter den Bedingungen der Postmoderne. Im Blick auf den Gottesdienst wurde von der Notwendigkeit liturgischer Differenzierungen gesprochen, siehe Kap. V.2.1.2 Handlungsalternativen und liturgische Differenzierungen entwickeln. 7 Ausgeführt in Kap. V.2 Das Abendmahl.
Epilog und Perspektiven
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Gemeinde ist Weggemeinschaft und hat Weggemeinschaften Die Erfahrung einer Kirchgemeinde als Weggemeinschaft kann sich unterschiedlich gestalten. An manchen Orten werden sich Gemeindeglieder in kleiner Zahl ohne Pfarrperson zum Gottesdienst treffen. Pohl-Patalong hat das für ländliche Gemeinden im sogenannten Modell der kirchlichen Orte vorgedacht. Sie meint einen »in erster Linie auf die eigene Gruppe bezogenen Zusammenschluss von Menschen, der von Selbstorganisation und von Gemeinschaft und Geselligkeit geprägt ist.«8 Sie weist auf die unbedingte Ergänzungsbedürftigkeit solcher kleinen Gemeinschaften durch ein professionelles kirchliches Handeln in nicht-parochialen Strukturen hin. Die Gemeinde Berlinprojekt besteht dagegen aus einer Vielzahl kleiner und selbständig organisierter Weggemeinschaften. Ihre Formenvielfalt macht es möglich, dass sich Menschen mit ihren lebensgeschichtlichen Merkmalen – dazu gehört auch ihre Mobilität – an den Gruppen und damit am Leben der Gemeinde beteiligen können. Sie können sich einer bestehenden Gruppe anschliessen, die ihren gegenwärtigen Voraussetzungen und Erwartungen entspricht oder selbst eine Gruppe beginnen.
Gemeinde leiten und ihre Einheit zur Darstellung bringen Übernehmen Gemeindeglieder in Weggemeinschaften selbst die Verantwortung für die Abläufe und die Gestaltung ihrer Glaubenskommunikation, hat das vor allem Folgen für das Leitungsverständnis einer Gemeinde.9 Eine kybernetische Aufgabe wird darin bestehen, die Formenvielfalt von Weggemeinschaften innerhalb einer Ortsgemeinde zu ermöglichen und zu fördern. Leiten wird dann heissen, auch innerhalb einer Gemeinde das Leben in verschiedenen Frömmigkeitstypen und -formen zu ermöglichen. Es wird Aufgabe der Gemeindeleitung sein, das Verständnis von Einheit zu reflektieren und die Kirchgemeinde in ihrer Einheit punktuell sichtbar und erfahrbar werden zu lassen.10 Es wird Orte und Zeiten, Feste und Abendmahlsfeiern brauchen, an denen diejenigen Menschen, die sich als der Gemeinde zugehörig verstehen, ihrer selbst als Leib Christi ansichtig werden. Die Bedeutung, die der Gemeindeleitung im Blick auf die Ermöglichung einer experimentellen und angstfrei gelebten Formenvielfalt im Raum der evangelischen Kirche zukommt, ist wohl kaum zu unterschätzen. 8 Pohl-Patalong, Von der Ortskirche zu kirchlichen Orten, 2. Aufl. 2006, 139. 9 Kap. VI.2.1.2 Eine kybernetische Herausforderung. 10 Unterschiedliche Einheitsvorstellungen wurden mit Bezug auf Bonhoeffer in Kap. II.2.4.3 Kirche als Weggemeinschaft und die Frage nach der Einheit besprochen.
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Epilog und Perspektiven
In meiner Arbeit habe ich nach Gemeinschaftsgestalten der evangelischen Kirche in einer postmodernen Gesellschaft gefragt. Kirche, die als Gemeinschaft erfahren werden will, bleibt an ihre Gestalten als Institution und Organisation gewiesen. Diese aber sind abhängig von der kritisch-transformativen Kraft tatsächlich miteinander geteilten Lebens.
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E:
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F:
Lexika und Hilfsmittel
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Personenregister
Arend, Michael
11, 38
Barth , Hans-Martin 151 Barth, Karl 159, 170 Bauer, Antje 34 Baumgartner, Doris A. 40 Beck, Ulrich 89 Bellah, Robert N. 25 f., 71 f., 76–79, 82–86, 90, 116, 205, 207 f., 226, 265 Berger, Peter L. 25, 27, 46 f., 58, 62, 95, 189, 192, 195 f. Bertsch, Ludwig 14, 129, 133–137 Berzborn, Susanne 65, 187 Bieger, Eckard 42, 135, 206, 254 Biermann, Kai 34 Bittner, Wolfgang 25, 106, 157, 185, 188 f., 231 Bonhoeffer, Dietrich 17, 27, 71 f., 104, 113–115, 139 f., 155, 167–172, 175, 201, 252, 255, 262–265, 287 Boudon, Raymond 69, 97 Bourdieu, Pierre 46, 51 Braun, Eberhard 49 Bucher, Rainer 191 Bukow, Wolf-Dietrich 192 Burkart- Günter 40 Buser, Benjamin 34 Calvin, Johannes 105, 107, 109, 152–154, 158, 276 Campiche, Roland J. 25, 52, 92, 178, 229 Daiber, Karl-Fritz
122, 165, 167, 178
Daum, Matthias 39 Descartes, René 49 Diekmann, Andreas 211 Dubach, Alfred 52 Durkheim, Émile 80, 92 f., 98 f., 146 Easthope, Hazel 34 Ebertz, Michael 65, 124 f., 145 f., 191, 206, 208, 247, 252, 278 Eiden, Gabriela 255–259 Elhaus, Philipp 15, 19, 255 Etzioni, Amitai 25 f., 71–74, 76–82, 85 f., 181, 218, 265 Fischer, Johannes 71, 239, 265 Flick, Uwe 215 Frankl, Viktor 58 Fresacher, Bernhard 120 Frick, Roman 39 Friese, Mike 37, 42 Gabriel, Karl 16, 23, 25 f., 46 f., 52, 116, 163, 190, 245 Gebhardt, Winfried 22, 67, 97, 128, 203 f., 279, 282 f. Gielen, Marlies 125 Goebel, Johannes 91 Golova, Tatiana 176 f. Gräb, Wilhelm 94, 230 Grethlein, Christian 15 f., 18, 60, 84, 118, 120, 131, 262 Grieco, Margaret 11, 33 Groß, Martin 206, 227
310
Personenregister
Großhans, Hans-Peter 103 Großklaus, Beate 163, 252 Groß, Martin 22, 45, 121, 140, 226 f. Grözinger, Albrecht 52, 89, 91, 226 f., 245 Grundmann, Matthias 21, 64 Habermas, Jürgen 12, 23 f., 53, 131, 178– 184, 197, 226 Hartmann, Klaus 52 Hegel, G.W.F. 159 Held, Klaus 180 Hermelink, Jan 19 f., 23, 27, 98, 122, 161, 163–167, 184, 195, 197, 201 Hitzler, Ronald 22, 59, 62, 67 f., 194, 203– 207, 278, 283–285 Holl, Karl 154 Horst, Sabine 228 Hübner, Eberhard 108, 159 f., 170 f., 191 Ignatius von Antiochien
124
Karle, Isolde 19, 166 Kehl, Medard 13, 16–18, 26, 45, 55 f., 90, 101, 116–120, 133, 137, 139–145, 147 f., 156, 173, 242, 271 Keller, Timothy J. 19, 157, 202, 219, 248, 253, 262 Kellerhals, Sr. Doris 105 f., 150, 173, 185 Kirchner, Babette 204 f. Knepper, Claudia 64 f. Knoblauch, Hubert 24, 57, 73, 146, 177 Kramer, Caroline 41 Krieg, Matthias 12, 14–16, 18, 43, 106, 271 Krotz, Friedrich 22, 261 Krüger, Oliver 257, 259 Kunz, Ralph 6, 12, 15–18, 26 f., 43, 64, 102– 104, 106, 116, 118–120, 131, 140 f., 160 f., 171–175, 178 f., 189, 201–203, 246 f., 271 Kunze, Iris 64 Kurz, Alex 59, 192 f., 201 Ladewig, Rebekka 36 Lang, Stefanie 65, 120, 130 f., 187, 252 Lange, Ernst 120, 130 f, 252 Liebsch, Burhkard 114
Locher, Gottfried W. 107, 146, 152 Lohauß, Peter 89, 97 Luckmann, Thomas 21, 25, 27, 46 f., 52 f., 58, 60, 62, 94 f., 101, 146, 176, 178 f., 189 f., 192, 229 Lüddeckens, Dorothea 22, 95, 97, 279 Lüders, Christian 215 f. Ludwig, Holger 20 f., 101, 103, 113, 135, 149 f., 152, 157, 159, 161–163, 165, 177, 189 Luhmann, Niklas 20, 25, 47, 49 f., 58, 70, 97, 162, 165 f., 196–198 Luther, Martin 105–107, 114, 150 f., 154– 156, 158 Lyotard, Jean-François 13, 25, 45, 53 f., 226 f. Mannheim, Karl 78 Manthey, Helga 96 Marconi, Davide 41 Markschies, Christoph 124 f. Martikainen, Tuomas 21, 44 Merz-Benz, Peter-Ullrich 13, 16, 22, 25, 64–66, 71–77, 80–87, 96 f., 111, 181, 205, 241, 282, 284 Meschnig, Alexander 36, 56, 90, 96 Moltmann, Jürgen 243 Mück-Raab, Marion 37 Nassehi, Armin 21, 93 Negt, Oskar 90 Niesel, Wilhelm 105, 152–154 Niethammer, Hans-Martin 177, 196, 241 Nord, Ilona 28, 262 Obenauer, Silke
155
Paulus 49, 108 f., 111, 122, 124 f., 136 Pindl, Theodor 136–138 Pohl-Patalong, Uta 12 f., 18, 132, 159, 175, 200, 211, 247, 287 Pollack, Detlef 146 Preul, Reiner 20, 149, 154, 156, 161 f., 232 Raeder, Sabine
37
311
Personenregister
Reuschke, Darja 34 Ritter, Adolf M. 17, 124, 264 Rüegger, Heinz 168 Schaeppi, Werner 60 f. Schensul, Jean J. 216 f. Schlamelcher, Jens 21, 44, 67 f., 73, 89, 156, 174, 195–199, 201, 240 Schleiermacher, Friedrich 159, 164 Schlink, Edmung 104, 107 f. Schmid, Peter 41 Schmuki, Fabienne 33 Schneider, Gerhard 11, 14, 25, 35, 37 f., 40 f., 44–46, 48, 56, 131 Schöllgen, Georg 112 Schütz, Alfred 25, 27, 52 f., 60, 70, 101, 176, 178 f., 190 Schwendter, Rolf 27, 193 f., 247 Selznick, Philip 77 Spielberg, Berhnard 65, 143, 147, 156 f., 247 Stolz, Jörg 20 Taylor, Charles 77 f., 94 Tönnies, Ferdinand 13, 21, 25, 28, 64, 66– 73, 75, 87, 96–98, 116, 160, 168 f., 270, 277, 282, 284
Track, Joachim 14, 43, 164 Turkle, Sherry 258 van der Veer, Peter 49 von Stritzky, Maria-Barbara
124
Wagner, harald 24, 53, 113, 132, 176 f., 179, 181 f., 184, 186 f., 193 f., 200 Weber, Max 12, 15 f., 64, 69–71, 92 f., 116, 118, 128, 146, 149 f., 160, 165 Weber, Ines 112 Wegner, Gerhard 19 f., 122, 165–167, 195, 197, 201 Welker, Michael 131 Welsch, Wolfgang 25, 45 f., 49, 51, 54 f. Wittekind, Folkart 89 Wohlrab-Sahr, Monika 21, 178 Wunder, Edgar 93 f., 232 Zimmermann, Johannes 101, 108, 164 f., 167, 171 f., 174, 230 Zulehner, Paul M. 47, 58 f., 97 f., 132, 135 Zwingli, Huldrych 105–107, 146, 152