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German Pages 457 [460] Year 1989
Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung
w DE
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Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Begründet von
Mazzino Montinari • Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel Herausgegeben von
Ernst Behler • Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel
Band 21
1989 Walter de Gruyter • Berlin • New York
Umwertung aller Werte? Deutsche Literatur im Urteil Nietzsches von
Matthias Politycki
1989
Walter de Gruyter • Berlin • New York
Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Ernst Behler Comparative Literature GN-32 University of Washington Seattle, Washington 98195, U.S.A. Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter Klopstockstraße 27, D-1000 Berlin 37 Prof. Dr. Heinz Wenzel Harnackstraße 16, D-1000 Berlin 33 Redaktion: Johannes Neininger Ithweg 5, D-1000 Berlin 37
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CIP-Titelaufnahme
der Deutschen Bibliothek
Politycki, Matthias: U m w e r t u n g aller Werte? : deutsche Literatur im Urteil Nietzsches / v o n Matthias Politycki. — Berlin ; N e w York : de Gruyter, 1989 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Bd. 21) Zugl.: München, Univ., Diss., 1987 u. d. T.: Politycki, Matthias: Deutsche Literatur im Urteil Nietzsches ISBN 3-11-011709-6 NE: G T
© Copyright 1989 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Printed in Germany Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechtes der Herstellung v o n Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten. Satz und Druck: A r t h u r Collignon G m b H , Berlin 30 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin 61
Vorbemerkung „Welche Marter sind deutsch geschriebene Bücher für Den, der das dritte Ohr hat" (5/189) — , dieser Stoßseufzer des späten Nietzsche, der über weite Strecken vorliegender Untersuchung gewissermaßen als unterirdisches Leitmotiv all seiner literarischen Wertungen mitzudenken ist, hat — hundert Jahre nach Artikulation in „Jenseits von Gut und Böse" — keinen Deut an Berechtigung verloren. Im Gegenteil, eine „Kunst des Stils" und womöglich „des grossen Rhythmus", wie sie Nietzsche noch im „Ecce homo" fordert (6/304), wird in der deutschen Literatur gegenwärtig wohl am allerwenigsten gepflegt. Ganz zu schweigen von der Sekundärliteratur. Worunter auch vorliegende Arbeit zu rechnen wäre: trotz bzw. gerade wegen ihrer gelegentlichen Anfalle von „fröhlicher Wissenschaft", die den „langen (...) unterirdischen Ernst" (5/255) der (Text-)Lage nur desto deutlicher verspüren lassen. So mag es nicht von Nachteil sein, daß besagte „Arbeit" gar nicht in vollständiger Fassung „vorliegt": Die besten Passagen eines Textes sind, wie der Leser vielleicht aus anderen Büchern weiß, stets die ungeschriebenen —, in diesem Fall also all jene Ausführungen, die Nietzsches „Entdeckung der Langsamkeit", des langen Atems und all dessen, was in seinen Augen auch immer „lang" noch gewesen, darzulegen gehabt hätten. Ein derartiges Kapitel über die Aufwertung Stifters, die der schwerkranke Nietzsche bezeichnenderweise vornimmt, als er fast täglich seinen letzten Nachsommer zu erleben wähnte, hätte den Titel tragen müssen: „Über Nutzen und Nachteil der Langeweile für das (Über-)Leben" — , gleichwohl es fehlt. Trotz dieses Mankos, das am schicklichsten wohl durch einige leere Seiten am Ende oder auch inmitten des Bandes anzudeuten gewesen wäre, wurde die Arbeit im März 1987 als Dissertation an der „Philosophischen Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaft II" der Universität München eingereicht. Daß damit eine jahrelange Auseinandersetzung nicht etwa nur mit deutscher Literatur im Urteil Nietzsches, sondern mehr noch mit dessen Denken überhaupt sowie seiner sprachlich ebenso eingängigen wie abgründigen Präsentation ein glückliches Ende fand, ist nicht zuletzt folgenden Personen zu verdanken:
VI
Vorbemerkung
— Herrn Professor Dr. Walter Müller-Seidel, der die Arbeit anregte, betreute und mit seinem Engagement auch über kritische Phasen hinweghalf, — Herrn Professor Dr. Dr. Reinhard Low, dem meine ständigen Angriffe auf seine Nietzsche-Interpretation nicht die Laune verdarben, der stets zu freundschaftlichem Gespräch bereit war und mit gewissen Einwänden manch heilsamen Schock versetzte, — Herrn Dr. Ulrich Dittmann, der solche und ähnliche Irritationen stets wieder auszugleichen verstand, — Michaela Wiesner, die neben der Überarbeitung eines eigenen Buches — „Lou Andreas-Salomé. Vom ,Lebensurgrund' zur Psychoanalyse" — die Zeit fand, das Register anzulegen — und, last not least, meinen Eltern, deren Anteilnahme an der Entstehungsgeschichte dieses Buches mit dem Prädikat „tatkräftig" nur unzureichend gewürdigt wäre. Hiermit also sei betont, daß insbesondere die genannten Personen wesentliche Voraussetzungen für die Fertigstellung dieser Arbeit beigesteuert haben. Dafür sei ihnen nun ohne weitere Umschweife gedankt. München, im Juli 1988
Matthias Politycki
Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung
V
Einleitung
1
Kapitel I: Das Problem des Widerspruchs bei Nietzsche
20
1. Die acht verschiedenen Möglichkeiten, Nietzsche ay* lesen a) Die rigoristische Methode b) Die streng philologische Methode c) Die Periodisierungsmethode d) Die Kardinalisierung der Widersprüche e) Die perspektivistische Methode f) Ästhetisierender Ansatz 2. Nietzsche, Sophist oder Erzieher? a) „Mein ehrliches Gesicht" b) Unfreiwillige „Ewige Wiederkehr des Gleichen" c) „Nietzsche als Erzieher" d) Nietzsche als Selbsterzieher 3. Was eigentlich heißt „Perspektivismus"? a) Widerspruch, Gegensatz, Dialektik u. ä b) „Perspektivismus" als Struktur des Denkraumes? c) Perspektivismus in der Philosophie der Moderne d) Perspektivismus in der Literatur der Moderne e) „Du widersprichst heute dem, was du gestern gelehrt hast — Aber dafür ist gestern nicht heute, sagte Zarathustra." 4. Schlußbemerkung %um ersten Kapitel: Perspektivismus — Mittel oder Zweck?
25 25 26 27 28 30 31 32 37 39 42 43 47 48 54 58 60 64 71
Kapitel II: Zum Umgang mit „Widersprüchen" im Hinblick auf Nietzsches Beurteilung deutscher Literatur
74
1. Die triadische Einheit des Werkes 2. Esoterik — Exoterik a) Radikalsprache b) Leidenschaft vs. Objektivität c) „Gute" und „schlechte" Rache d) Mit dem Hammer philologisiert
75 85 86 88 94 95
VIII
Inhaltsverzeichnis
e) Zwei Nietzsches? f) „Bildersprache"
96 100
3. Umbegreifung der B e g r i f f e a) Eindeutige oder zweideutige Begriffe? b) Dialektische Fassung der Begriffe c) Die perspektivische Fassung der Begriffe
101 103 110 116
4. Experimentalphilologie a) Der Versuch der Selbstüberwindung b) Die Theorie-Praxis-Schere c) Dialektik als Zweifrontenkrieg
118 120 131 139
5. Fließende und feste Wertungen a) „Mihi scribo"? b) Jeder Autor ein Typus
145 145 149
6. Kampf als Wettkampf a) Ungerechtigkeit als Prinzip der Subjektivität b) Lüge als eine Form der Wahrhaftigkeit c) Verschweigen und Nicht-wissen-Wollen d) Die Maske aus Stärke, die Maske aus Schwäche
159 162 166 170 176
7. Schlußbemerkung %um %weiten Kapitel: „Gelegentliche Unstimmigkeiten" . . 184 Kapitel III: Umbegreifung der Epochenbegriffe
188
1. Aufstieg und Fall: Renaissance vs. Barock
198
2. Das 18. fahrhundert: Aufklärung vs. Sturm und Drang — Empfindsamkeit — Sturm und Drang — Abwertung des Genies
205 211 213 215
3. Goethe-Zeit: Klassik vs. Romantik — Klassik — Romantik — Biedermeierliche und jungdeutsche „Romantik"
220 220 230 243
4. „Moderne": Realismus vs. décadence — L'art pour l'art — Realismus — Naturalismus
253 254 256 258
Inhaltsverzeichnis
IX
5. Schlußbemerkung s^um dritten Kapitel: Dialektische Abfolge literarischer Epochen 262 Kapitel I V : T r e n n u n g v o n P e r s o n u n d Werk
266
1. „Umgekehrter Biographismus"
270
2. Sittlichkeit, christliche und nationale Gesinnung als ästhetische Werte a) Neues Goethebild als exemplarischer Ausdruck eines neuen Literaturverständnisses — Sinnlichkeit — Heidentum — Kosmopolitismus b) Neues Heinebild: Ausdruck fester oder fließender Wertungen? . . — Dauer im Wechsel: Die perspektivische Dialektik der Beurteilung Heines
276 279 280 283 284 286 292
3. Goethe als Mensch, Goethe als Künstler 295 a) Vereinzelung Goethes zur „grossen Ausnahme" 295 b) Idealisierung Goethes zum Typus 299 c) Versuch der Selbstüberwindung: Goethe als „höheres Selbst" . . . 307 d) Kritik des Werkes 312 — Faust 318 4. Trennung von Ästhetik und Moral a) Ablösung des Schönen vom Wahren und Guten b) Relativierung der Schönheit zu Schönheiten — Die „schöne Seele" — Das Erhabene c) Aufwertung des Häßlichen, der Lüge und des Bösen — Das Häßliche — Das Böse d) Schiller und Nietzsche: die Distanz der Nähe — „Moral" vs. „Leben" — Wohlgefallen am Schönen — mit und ohne Interesse
328 333 343 347 349 352 352 355 364 367 373
5. Schlußbemerkung %um vierten Kapitel: Das Verhältnis von Form und Inhalt 377 Kapitel V: Dialektik des K r a n k e n
384
1. Vom Gesunden über das Kranke %ur ,großen Gesundheit" — Die große Gesundheit
391 398
X
Inhaltsverzeichnis
2. Autoren „an der Grenze" a) „Auf dem schönsten Wege": Kleist b) Hölderlin, der „Ultra-Platoniker" — Genie und Wahnsinn — „Der verfluchte ,Idealismus'"
400 401 410 414 419
3. Schlußbemerkung %um fünften Kapitel: Krankheit als bloße Schwäche . . . . 427 Literaturverzeichnis
431
Register
440
Einleitung In der Entwicklung der Nietzsche-Philologie markiert die „Kritische Gesamtausgabe", 1967 ff. herausgegeben von Colli/Montinari 1 , eine Zäsur: Der völlig neu (nämlich chronologisch) gegliederte und um etwa 1500 Seiten ergänzte Nachlaß verändert das traditionelle Nietzsche-Bild in entscheidenden Punkten, rechtfertigt, ja fordert geradezu eine Neubeschäftigung mit Werk und Person — selbst unter solchen Aspekten, die bereits ausreichend bearbeitet scheinen. Auch und gerade Nietzsches Urteile über andere Philosophen und Schriftsteller werden durch eine Vielzahl von — meist schärfer formulierten, weil in dieser Form (noch) nicht durch Rücksichten auf ein wie auch immer geartetes Leserpublikum überlagerten — aphoristischen Äußerungen der Notizhefte ergänzt, z. T. auf überraschende Weise kontrastiert, z. T. geradezu revidiert. Ältere Arbeiten, die sich mit Nietzsches literarischen Werturteilen befassen, müssen unter diesem Gesichtspunkt — so verdienstvoll sie im einzelnen auch heute noch sein mögen — als überholt gelten; und das nicht nur aufgrund des natürlichen (Ver-)Alterungsprozesses, wie ihn W. Müller-Seidel für jede wissenschaftliche Publikation feststellt 2 , sondern insbesondere wegen der unheilvollen Rolle, die Nietzsches Schwester auch für den wissenschaftlichen Leser früherer Werkausgaben spielte. Das gilt im speziellen für I. Beithan, deren 1933 veröffentlichte Abhandlung über „Friedrich Nietzsche als Umwerter der deutschen Literatur", der Natur der gefälschten Sachlage entsprechend, ein z. T. verfälschendes Bild ihres Untersuchungsgegenstandes (nach-)zeichnen muß, es gilt — mit Einschränkungen — selbst noch für E. Kunne-Ibsch und ihre 1972 publizierte Untersuchung über „Die Stellung Nietzsches in der Entwicklung der modernen Literaturwissenschaft". Bezugnahmen auf jene zwei themenverwandten Werke werden entsprechend häufig sein; trotz zahlreicher kritischer Gegen-
1
2
Sämtliche Quellenangaben beziehen sich auf die textidentische „Kritische Studienausgabe" (Bandangabe in arabischen Ziffern/Seitenzahl); in Ausnahmefallen wird auf die dreibändige Werkausgabe, herausgegeben von K. Schlechta, zurückgegriffen (Bandangabe in römischen Ziffern). Zusätze wie „Musarion" oder „Beck" verweisen auf die entsprechenden Ausgaben (s. Literaturliste); Briefe werden im allgemeinen zitiert nach der „Kritischen Gesamtausgabe" (KGB Band/Seitenzahl). Sämtliche Hervorhebungen innerhalb der Zitate vom Verfasser dieser Arbeit. Probleme der literarischen Wertung
2
Einleitung
darstellungen im folgenden soll ihr historischer Wert hier ausdrücklich anerkannt werden. Deren historisch bedingten Mangel wieder wettzumachen, versucht die vorliegende Arbeit, indem sie Nietzsches anhaltend mehrschichtige, auf verwirrende Weise mehrdeutige Auseinandersetzung mit deutscher Literatur unter Einbeziehung aller fragmentarischen und brieflichen Äußerungen nachzeichnet. — Nicht bezweckt ist dabei allerdings, inhaltliche oder formale Parallelen zwischen Nietzsches Werk und demjenigen anderer Autoren zu ziehen; das bleibt Aufgabe entsprechender Einzeluntersuchungen. Werden derartige Parallelen in einzelnen Fällen doch wenigstens angesprochen, so ist damit keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit verknüpft: Nicht Gemeinsamkeiten schließlich mit anderen Schriftstellern, sondern Unterschiede sollen herausgearbeitet werden — und zwar zwischen Nietzsche und der zeitgenössischen Philologie. Das Unzeitgemäße demnach allein gibt den Ausschlag, ob eine Äußerung Nietzsches zum Materialobjekt der Untersuchung gerechnet wird oder nicht —, mögen dabei auch zahlreiche Stellen unberücksichtigt bleiben, die höchst aussagekräftig wären im Hinblick auf eben jenes Parallelisierungsverfahren. Zentrales Anliegen also der Arbeit ist nicht Nietzsches Beziehung zu deutscher Literatur, sondern seine Stellung in der deutschen Literatur»'««»schaft, wie sie das 19. Jahrhundert betreibt. Daß diese Stellung sich zunächst einmal durch geradezu marktschreierische Umwertungen dokumentiert als Gegenüber-Stellung, ist hinlänglich bekannt; Äußerungen wie diejenige über Jean Paul als „Verhängniss im Schlafrock" (2/597), über „Kant: oder cant als intelligibler Charakter" (6/111), gar die berühmte Abwertung Schillers zum „Moraltrompeter von Säckingen" (ebd.) sprechen für sich. Für sich, will heißen: jedem zeitgenössischen Urteil Hohn —, selbst demjenigen noch der gegenwärtigen Literaturgeschichtsschreibung, die unter dem Druck langatmiger Gegenbeweisführung nur selten solch aphoristischen Blitzlichtern die Leuchtkraft nehmen kann: „Das Halbwissen ist [eben] siegreicher, als das Ganzwissen", kann man hier nurmehr Nietzsche gegen sich selbst ins Feld führen: „es kennt die Dinge einfacher, als sie sind, und macht daher seine Meinung fasslicher und überzeugender." (2/335) Nun äußert sich Nietzsche des öfteren, im Spätwerk geradezu mit besonderer Vorliebe, über Werten und Umwerten, und nur geringfügiger Interpretationsarbeit bedarf es, um aus diesbezüglichen Selbstaussagen seine Methode literarischer Umwertung herauszukristallisieren, genauer: seine „Methode". Nietzsches „heimlicher Kampf mit Gedankenpersonen" (2/390) nämlich — und als solcher ist seine Auseinandersetzung mit jedem Autor zunächst aufzufassen — läßt nur vier Möglichkeiten der Beschäftigung mit Literatur zu, die im Aphorismus „Aus der innersten Erfahrung des Denkers" preisgegeben
Einleitung
3
werden (2/389 ff.): zwei extreme (sich dagegen wehren, sich unterwerfen) und zwei gemäßigtere (angelesene Ideen weiterspinnen oder gar angeregt werden zu eigenen Gedanken). Auch in einem anderen Aphorismus, der sechs „Ursprünge des Geschmacks an Kunstwerken" aufzählt (2/428 f.), geht es niemals um das Kunstwerk an sich, sondern stets um die höchstpersönliche Stellungnahme dazu. „Was liebst du an Anderen? — Meine Hoffnungen", ist bezeichnenderweise eine der programmatischen Reflexionen, mit denen das dritte Buch der „Fröhlichen Wissenschaft" schließt (3/519); und auch Nietzsches Liebe zu bestimmten Künstlern oder Kunstwerken gilt natürlich im Grunde jenen kulturpolitischen Erneuerungs-Hoffnungen, denen bereits in der „Geburt der Tragödie" Ausdruck verliehen wird. Literarische Umwertungen dürfen demnach ebensowenig wie Umwertungen von Metaphysik, Strafrecht, Sexualität etc. isoliert betrachtet werden; sie resultieren aus dem Leiden an alten Werten (12/375 f.), entstehen instinktiv 3 , um im Akt nachträglicher Verrationalisierung funktionalisiert zu werden zum Teil eines ganz und gar unliterarischen Programms. Der Schaffende, „der immer eine fertige Welt zu verschenken hat" (4/78) und nicht selten eine fertige Meinung dazu, noch ehe er sie sich gebildet — über den „grossen Chinesen aus Königsberg" (5/144) ebenso wie über manch andere Geistesgröße, die (fast) ungelesen einem Verdikt Nietzsches anheimfallt —, der Schaffende, dessen literarische Wertungen kaum je als Selbstzweck gefallt werden, sondern als Mittel im Kampf für ein utopisches Kulturideal: dieser Schaffende, als der sich Nietzsche zeitlebens versteht, muß naturgegebenermaßen im Kontrast stehen zur Philologie, die insbesondere in ihrer zeitgenössischen Spielart als bloß „antiquarische Historie" zunächst dem untersuchten Kunstwerk gerecht zu werden strebt — zunächst und vor allem anderen. Die historistische Literaturwissenschaft, deren zwei Leitideen H. R. Jauß umschreibt als: Segmentierung der teleologisch strukturierten Universalgeschichte in nationale Einzelepochen und „objektive" Motivierung aller kulturellen Erscheinungen aus ihren geschichtlichen Rahmenbedingungen 4 —, jenes, die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts dominierende geisteswissenschaftliche Verfahren bildet geradezu die Folie, auf deren Hintergrund sich Nietzsches „philologische Methode" scharf abhebt: insbesondere deren stets auf einen übernationalen Gesamtverlauf der Kultur fokussierte Blickrichtung, seine programmatische Subjektivität, sprich: Ungerechtigkeit des Urteils (1/269), schließlich sein ahistorisch-typologischer Zugang zu allen kulturellen Fragen. 3
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Lesen als „Instinkthandlung" (30. 7. 1881 an F. Overbeck, K G B 6/111); vgl. den Brief v o m 2. 1. 1875 an E. Guerrieri-Gonzaga, in dem er ihr empfiehlt, „einen neuen Gesichtswinkel (iGefühlswinkelÌ)" für die dritte „Unzeitgemässe Betrachtung" zu gewinnen. ( K G B 5/5) Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, insbesondere S. 1 4 4 — 1 5 3 ; vgl. Nietzsches Polemik gegen die damit verwandte Milieutheorie des Naturalismus (Kap. III.4)
4
Einleitung
In der vorliegenden Arbeit jedoch soll vornehmlich die praktische Dimension von Nietzsches Umwertungsverfahren dargestellt, allenfalls passim nach ihren theoretischen Grundlagen gefragt werden. Denn daß sich dabei wohl am allerwenigsten eine wissenschaftliche Umwertungstheorie herauskristallisieren ließe, wie sie beispielsweise H. Jaumann aufstellt5, liegt nach dem Gesagten auf der Hand —, handelt es sich im Falle der Umwertungen Nietzsches doch stets um „rücksichtslos interessirte Zurechtmachung der Dinge" 6 , um ein bewußtes Interpretieren auf Kosten der Texte und schon gar ihrer Verfasser. Auf eine Kritik freilich jenes Umwertungsverfahrens wie seiner Ergebnisse im einzelnen, so sehr sie sich anböte, wird in vorliegender Arbeit von vornherein verzichtet; diese beschränkt sich — in Anlehnung an W. MüllerLauters Ausführungen 7 — auf eine immanente Darstellung von Nietzsches kulturkritischen Reflexionen, soweit sie sich vom zeitgenössischen Wertungshorizont abheben lassen. Allerdings sollen nicht nur detaillierte Interpretationen von philologisch relevanten Nietzsche-Stellen gegeben, sondern vor allem auch deren zugrundeliegende Denkstrukturen herausgearbeitet werden —, also Nietzsches VerJahren der Wertung und Umwertung literarischer Texte. Hierin sehe ich die eigentliche Aufgabe meiner Untersuchung: eines der zentralen philosophischen Anliegen Nietzsches — „Umwertung aller Werte" — aus philologischer Sicht nachzuvollziehen, d. h. dessen vielfaltige praktische Durchführungen aus einer gemeinsamen Wurzel heraus zu begründen. Ganz im Sinne Nietzsches, eines aufmerksamen Goethe-Lesers, der nicht müde wird zu betonen: „Es giebt keine einzelnen Urtheile"8, bereits „das Kleinste trägt das Ganze" (12/316).
Nun gibt es solch eine Fülle von philologischen Bemerkungen, insbesondere in den Notizbüchern, daß man H. Pfotenhauers Rubrizierung Nietzsches unter die „Viel-Leser"9 auf den ersten Blick zuzustimmen geneigt ist. Stellt man jedoch in Rechnung, daß der Student Nietzsche seine Aufmerksamkeit vornehmlich antiker Dichtung zuwandte, daß der Professor Nietzsche schon bald die französische Literatur entdeckte, späterhin auch die russische, berücksichtigt man darüber hinaus die zahlreichen Polemiken gegen Deutschland, das Deutsche und deutsche Literatur im speziellen, wie sie sich ab den späten
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9
Die deutsche Barockliteratur, Wertung — Umwertung, insbesondere S. 41, 507, 509 12/226; vgl. 12/192 und Kap. II.2.b) vgl. das Vorwort zu seinem Nietzschebuch 12/265; vgl. 12/307 f., wo die Auffassung vom Zusammenhang aller (theoretischen) Urteile entsprechend in ihrer praktischen Dimension vertreten wird: Wie im Denken, so auch in „allem Dasein [...] steht nichts für sich". Die Kunst als Physiologie, S. 10; ähnlich M. Montinari (W. Müller-Lauter, Ständige Herausforderung, S. 46)
Einleitung
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siebziger Jahren in seinem Werk häufen 10 , so wird man jenes Etikett kaum auf Nietzsche anwenden können, sofern man ihn als Leser deutschsprachiger Bücher kennzeichnen will. 11 — Und in der Tat, nach einem zweiten Blick können viele der Stellen, in denen deutsche Autoren Erwähnung finden, aus dem engeren Kreis der Interpretation ausgeschieden werden, sei es — wie im Falle Seumes —, daß gewisse Zitate als bloße Anregung aufgegriffen werden für eigene Reflexionen (6/62), sei es — wie im Falle Ernst Moritz Arndts —, daß auf manche Texte nur spitzfindig angespielt (6/64), sei es schließlich, daß von einigen Autoren nicht mehr als der Name 12 , allenfalls stets dasselbe Diktum vermerkt wird: im Falle Hebbels z. B. ein einziger Vers, während der Verfasser selbst — immerhin seinerzeit schon fast ein Theaterriese — keinerlei Eingang findet in Nietzsches Betrachtungen, nicht einmal in dessen dramentheoretische Erörterungen. Eine derartige „indirekte Wertung" im Sinne W. Müller-Seidels, also „eine literarische Wertung, die in ... Verschweigen vollzogen wird" 13 , ist natürlich kein Zufall und ihrerseits wieder interpretationswürdig: Schließlich ist bereits die „Verwendung von Zeit und Aufmerksamkeit auf einen Dichter [...] eine Art Wertung". 14 Auch Nietzsches emotionsloses Desinteresse an Klopstock sollte unter dieser Optik interpretiert werden. Andere Autoren allerdings, die nur in einem ganz spezifischen Textzusammenhang von Nietzsche wahrgenommen werden — Hoffmann von Fallersleben 15 ebenso wie A. W. Schlegel 16 —, können aus dem Materialobjekt gänzlich ausgeschlossen werden. Selbst Spitteier, über den sich Nietzsche vor allem brieflich sehr aufschlußreich äußert, wird unter vorliegender Themenstellung nicht (mehr) Erwähnung finden: aus dem einfachen Grunde, weil Nietzsche den späteren Nobelpreisträger nur als Journalisten kannte 17 und seine Urteile über denselben demnach als solche über „deutschsprachigen Journalismus" zu behandeln wären. Nun nimmt Nietzsches Auseinandersetzung mit Literatur im Lauf der Jahre in erstaunlichem Maße ab, der Blickwinkel verengt sich auf wenige 10
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Verrecchia deutet diese Flucht vor deutscher Kultur als ein Verhaftet-Bleiben in derselben und rügt entsprechend Nietzsches „kulturellen Provinzialismus". (Zarathustras Ende, S. 59) In einem Brief an H. Köselitz gesteht er ja selbst, ihm sei „das Beste" der deutschen Literatur unbekannt geblieben (20. 3. 1883, K G B 6/345). z. B. derjenige Salomon Geßners (7/233) Probleme der literarischen Weitung, S. 20 Wellek und Warren, Theorie der Literatur; zit. nach W. Müller-Seidel, Probleme der literarischen Wertung, S. 21 der nicht als Schriftsteller rezipiert wird, sondern nur als Verfasser einer einzigen, freilich der „blödsinnigsten Parole, die je gegeben worden ist" (11/77) 1/53 f., 1/525, 1/59, 7/274: Alle Stellen befassen sich ausschließlich mit Schlegels ChorDefinition. In Nietzsches Bibliothek findet sich zwar dessen Epos „Prometheus und Epimetheus", Nietzsche selbst äußert sich aber ausschließlich über Spitteier als Redakteur. Er hat jenes Buch also wahrscheinlich — wie manches andere auch — nur besessen.
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Einleitung
Probleme und verhindert weitgehend den Kontakt mit neu erscheinender deutscher Literatur; ja, während der frühe Nietzsche sich gerne „Verstärkung" holt bei den deutschen Klassikern, werden diese in ihrer Eigenschaft als Anreger und Gewährsmänner zunehmend vertuscht im Spätwerk. Mit Ausnahme Goethes, dessen Rezeption durch Nietzsche schon für sich allein den Stoff abgibt zu einer Unzahl bereits geschriebener und sicherlich noch anstehender Einzeluntersuchungen. Da meine Arbeit jedoch, wie bereits erwähnt, keine umfassenden Autorenvergleiche bezweckt, sondern die autorenbergreifende Gesamtdarstellung von Nietzsches literarischer Umwertungstendenz, können selbst im Falle seiner Beschäftigung mit Goethe etliche Aspekte ausgeklammert werden. Im übrigen führt die vorliegende Untersuchung meine bereits 1981 veröffentlichte Arbeit „Der frühe Nietzsche und die deutsche Klassik" gleichermaßen thematisch wie methodisch fort, kann sich also gerade im Falle Goethes — aber auch Hölderlins wie Schillers — mit Querverweisen auf die entsprechenden Passagen begnügen. Auf diese Weise wird hier zwar das Gesamtwerk Nietzsches behandelt, schwerpunktmäßig jedoch dessen Schriften nach 1876, das als Jahr der „Krisis und Häutung" 18 eine gewisse Zäsur markiert. Ahnliches gilt für die Berücksichtigung der Sekundärliteratur: Um unnötiges Aufblähen der Arbeit zu verhindern, wird auf erneute Diskussion von Texten verzichtet, die schon in meine frühere Untersuchung Eingang fanden. Und schließlich: Was für den Umgang mit Nietzsche wie der Nietzsche-Philologie gelten soll, muß auch der eigenen Gedankenentwicklung zugrunde gelegt werden: Die in der Analyse von Nietzsches Bewertung deutscher Klassiker detailliert bereits dargestellten Umwertungen der literarischen Gattungen 19 sollen hier nicht erneut nachgezeichnet werden. Obwohl sie sich durch Einbezug zahlreicher Reflexionen späterer Schaffensphasen weit schärfer ausleuchten ließen, ergäbe sich kein wesentlich anderes Bild. Der Vollständigkeit halber soll dieses Bild wenigstens umrißhaft wiedergegeben werden, d. h. in den Umrissen, wie sie sich in Nietzsches Gesamtwerk abzeichnen: Auf den ersten Blick am auffallendsten ist sicherlich die Neubewertung des Dramas, beschränkt sie sich doch keinesfalls nur auf eine Umbegreifung 20 des tragischen Mitleidens bei gleichzeitiger Schiller-Abwertung, sondern läuft in ihrer Tendenz, das Pathos anstelle der Handlung ins Zentrum der theatralen Darbietung zu rücken, auf eine neue nichtaristotelische Dramentheorie hinaus. Spätere Abwertungen von Schauspiel und Schauspieler ändern an dieser grundsätzlichen Umwertung nichts: einer Umwertung, die zu Lasten Schillers, 18 19 20
19. 2. 1888 an G. Brandes, K G B 8/260 Der frühe Nietzsche und die deutsche Klassik, Kap. III.4. und IV.2. nicht: Umwertung! S. Ausführungen unter II.3.
Einleitung
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Lessings, selbst Goethes geht —, zu Gunsten allerdings des von Zeitgenossen kaum verstandenen Kleist, den Nietzsche als Repräsentanten des Dionysischen begreift (also ungemein aufwertet). — In einer weiterführenden Untersuchung allerdings genauer zu berücksichtigen wäre Nietzsches Abkehr von Wagner, die sich natürlich gleichzeitig als eine solche vom Theater auswirkt. Der frühen Aufwertung des (Dionysisch-)Häßlichen wird nunmehr ein klassizistisch anmutender, im Grunde apollinisch ausgerichteter Schönheitskult entgegengesetzt, der aus der bewegten Welt des Dramas in die ruhigere der Prosa drängt. Die gewollte Ruhig-Stellung des eigenen „tragisch-pessimistischen" Gemüts wirkt sich auch insofern aus, als selbst die Domäne des Tragischen, eben die Tragödie, nunmehr mittels eines Formanspruchs gebändigt werden soll, der eindeutig von der französischen Tradition inspiriert ist: vom Heiteren, Hellen also und vom Vollendet-Klaren. Da jene Wende die frühere Umwertung teilweise rückgängig macht, indem sie eine stark klassizistisch eingefarbte Regelpoetik vertritt, und damit wieder dem „Zeitgeist" zu huldigen scheint, kann auf eine weitere Darstellung verzichtet werden. Im übrigen geht die von Nietzsche bewußt inszenierte Akzentverschiebung hin zum „Prosaischen" in Leben wie Kunst nicht nur zu Lasten des Dramatischen, sondern ebensosehr des Lyrischen, das im Vergleich zur zeitgenössischen Favorisierung von Reim und Rhythmus allerdings bereits im Frühwerk deutliche Abstriche hinnehmen muß. Vollends erscheinen seine späteren Abwertungen desselben zur bloßen „Schauspielerei" (12/121 f.) oder „Trunkenboldigkeit des Gefühls" (5/188) als bedeutsame Umwertung. — Restlos nachvollziehbar wird diese freilich erst durch den (hier im zweiten Kapitel vorgestellten) Mechanismus der „Selbstzerfleischung", der Nietzsche all das angreifen läßt, was ihm lieb und teuer ist: Seine vielfach heftigen Angriffe auf das Lyrische exemplifizieren die dahinter stehende Denkstruktur aufs deutlichste, verfaßt er doch bis zu seinem geistigen Zusammenbruch (also in allen Lebensphasen) selbst Gedichte. Die Abwertung Mörikes (8/128) oder C. F. „Bieder-Meyers" (13/540) bleibt hier zwar ebenso eindeutig wie einseitig — die ambivalente Beurteilung Heines als gleichermaßen „größten Lyrikers" (6/286) wie „größten Betrügers" (13/500) spiegelt jene Dialektik deutlicher. — Entsprechende Ausführungen zu Nietzsches Versuch der Selbstüberwindung (II.4) verstehen sich also auch als Nachtrag zum Thema „Abwertung von Lyrik bzw. Drama". In wechselseitigem Abhängigkeitsverhältnis damit steht, wie gesagt, die Aufwertung des Epischen; lapidare Hinweise auf verkannte bzw. regional erst bekannt Autoren wie Stifter oder Keller sind ganz in solchem Sinne zu lesen. Die Umwertung Goethes zum Epiker schließlich sprengt das zeitgenössische Literaturverständnis vollständig, ist verbunden mit einer seinerzeit ein-maligen Aufwertung von dessen Alterswerk, das im 19. Jahrhundert
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ausnahmslos als esoterisch-unkünstlerische „Sophisterei des reflectierenden Verstandes", d. h. als „durchaus verfehlt" verdammt wird 21 . Auffallig ist die Neuinterpretation Goethes als Weltweiser schon in „Menschliches, Allzumenschliches", wo dessen Unterhaltungen mit Eckermann als bestes deutsches Buch gepriesen werden (2/599) —, kein eigentliches Werk also von Goethe, sondern (durch das Medium der literarischen Aufzeichnung gewissermaßen hindurch) die Summe seines Denkens, genauer: seine Person. Es sei auch hier noch einmal betont, daß die Aufwertung von Goethe zu einer „Cultur" für sich (2/607) weitgehend an dessen Schriften vorbeizielt auf den nicht allein idealisierten, sondern in zunehmendem Maße geradezu verklärten Menschen Goethe. Dessen Hochstilisierung zu einer von Nietzsche neu geschaffenen Kultfigur läuft demnach auf eine Reduktion der historischen Persönlichkeit Goethes hinaus: Manche Züge seines Wesens sind, z. T. sogar bewußt die historische Wahrheit verfälschend, überbetont; sein ursprünglich als apollinisch dargestelltes Menschenbild wird schließlich sogar mit einem dionysischen gleichgesetzt (6/151 f.)! Alles in allem genommen muß die solcherart entworfene Kunstfigur „Goethe" gedeutet werden als sehnsuchtsvoll konstruiertes Gegenkonzept zur eigenen, ursprünglich „unklassischen" Natur. — Dazu als Nachtrag zu lesen sind die allgemein gehaltenen Ausführungen des zweiten Kapitels über Lügen, Verschweigen und Nichtwissenwollen. Ein dritter Gesichtspunkt zur Neubewertung von Gattungen läßt sich in der Aufwertung des Aphorismus ausmachen, einer Form, die nach ihrer ersten Blütezeit um 1800 rasch herabsank auf das Niveau von AlbumblätterWeisheiten. Nietzsches wiederholte Hinweise auf Lichtenberg ebenso wie seine seit „Menschliches, Allzumenschliches" anhaltende Auseinandersetzung mit dem Wesen des Aphorismus belegen die beginnende „Renaissance" dieser Gattung, wie sie sich in seinem Werk bereits praktisch vollzieht, auch von theoretischer Seite. — Wenn Nietzsche nun im folgenden als „Systemdenker" vorgestellt werden soll, so ist eine derartige Bezeichnung nicht nur in provokativer Absicht gewählt. Natürlich hat er sich zeitlebens den Ansprüchen systematischer Philosophie entzogen — gleichzeitig löst er sie aber, zieht man einmal die Verkettung einzelner Aphorismen zu thematisch strukturierten Reihen und ganzen Büchern in Betracht, auf seine spezifische Weise ein als organisches System 22 , das zwar nicht dem Werden den Stempel des (in Katego21
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Derartige Wertungen, wie sie die Literaturgeschichte von H. Kurz vertritt (3/535, 534), sind durchaus repräsentativ; die stets nach gleichem Muster vollzogene Abwertung Goethes setzt im übrigen manchmal schon bei der Beurteilung von Wilhelm Meisters Lehrjahren ein (E. Hoefer, Deutsche Literaturgeschichte für Frauen und Jungfrauen, S. 174)! Und insofern zielen alle Angriffe auf seine „zusammenhanglose" Aphoristik, wie sie schon von C. Wagner anläßlich ihrer Lektüre von „Menschliches, Allzumenschliches" vorgebracht werden (9. 3. 1879 an E. Nietzsche; zit. nach: A. Verrecchia, Zarathustras Ende, S. 141), ins Leere.
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rien geordneten) Seins aufdrückt 23 , jedoch dieses sein gedankliches „Sein", seine im Grunde recht feste und stets sich verfestigende Weltanschauung, immer neu sich entrollen läßt als „Werden" einer mit-reißenden Gedankenentwicklung. Und nicht 2uletzt darauf beruht seine unverminderte Wirkung bis in unsere Tage. Doch zurück zu der hier vorgelegten Arbeit; zur Abgrenzung des Philologen Nietzsche vom zeitgenössischen Wertungshorizont. — An Selbstzbgrenzungen, an Ausfällen gegen literarhistorische Werke wie deren Verfasser, fehlt es in seinem Werk ja wahrlich nicht: Der „platte und dumme Gervinus" (7/ 20) wird in den frühen Notizheften — bezeichnenderweise nicht in den publizierten Werken! 24 — als ständige Zielscheibe des Spotts gewählt; R. Gottschall und Julian Schmidt — so nimmt sich ein tabellarisches Fragment der Jahre 1872/73 vor — seien ebenso „anzugreifen" (7/500 f.) wie die „lächerlich-enge, altjungfernhafte" Literaturgeschichte A. F. C. Vilmars (14/ 125). Selbst „in der Philosophie nicht heimische Hayme" 25 werden nicht geschont und die „Idioten-Urtheile" des — wie Nietzsche im „Ecce homo" freimütig bekennt (6/359) — „zum Glück verblichenen ästhetischen Schwaben Vischer" sogar in einem Frühwerk, der „Geburt der Tragödie", öffentlich (!) angeprangert (1/72 f.). Beliebig noch zu verlängern wäre die Liste der geschmähten Philologen, beispielsweise mit den Namen K. Lachmanns (8/25) und Max Müllers, dessen „undeutsche, freche und ignorante" Essays zwar seitenlang exzerpiert und als willkommene Anregung genommen werden für eigene Überlegungen (7/99 — 109), letztendlich aber „an den Pranger zu stellen" seien (7/109). Das mag im Einzelfall kaum weiter verwundern, hatte sich laut E. Behler 26 doch bereits der Schüler Nietzsche mit R. Haym und G. G. Gervinus auseinanderzusetzen — nicht zu vergessen mit A. Koberstein, der nicht nur eine berühmte Literaturgeschichte schrieb, sondern als Nietzsches Deutschlehrer dessen Ansichten von Literatur z. T. recht direkt zu prägen suchte 27 . Jedoch als Ganzes genommen ist die massive Kritik am Wissenschaftsbetrieb mehr als ein nachträglicher Ablösevorgang vom Musterschüler- und -studententum. Nietzsches vielmehr philosophisch begründete Distanz zur Philologie 28 war denn auch der Ausgangspunkt für vorliegende Arbeit; zu 23 24 25
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wie es das Signum des höchsten Willens zur Macht wäre (12/312) mit einer Ausnahme: 1/135 Oktober 1868 an P. Deussen, K G B 2/328; gemeint ist natürlich Rudolf Haym, der als Literarhistoriker seinerzeit großes Ansehen genoß. Vgl.: August 1866 an C. v. Gersdorff; K G B 2/160 Nietzsche und die Frühromantische Schule, S. 70 f. R. Bohley, Über die Landesschule zur Pforte, S. 312 als bloßer „Mißgeburt der Philosophie" (Oktober 1868 an P. Deussen, K G B 2/329)
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erwarten stand, daß sich zur „Vergötterung der Mediokrität", wie sie lt. H. Widhammer in Kulturgeschichten des Realismus allenthalben vorgenommen wird 29 , eine stringente Gegenposition 30 herauskristallisieren lassen würde. — Mitnichten. Selbst Nietzsches literarische Wertungen erwiesen sich, wie H. Pfotenhauer darlegt, zum großen Teil als durch zeitgenössische Bildung geprägt 31 , ja als exemplarisch für den Ausgang des 19. Jahrhunderts 32 . Zahlreiche Parallelen zu den Ansichten der so heftig befehdeten Philologen, selbst denjenigen eines Gervinus, legten geradezu die Möglichkeit nahe, die Tendenz der Arbeit vom Umwerter Nietzsche auf den Prototypen einer klassizistischen Ästhetik zu verlagern; und H. Pfotenhauers Rubrizierung von dessen Kunstanschauung als „Klassizismus [...] cum grano salis" 33 hätte sich dabei vorzüglich ergänzt mit G. Collis Hinweis, Nietzsche habe seine „Unzeitgemäßheit" schließlich doch als zeitgemäß zu verkaufen gesucht 34 . Und nicht zuletzt ist es Nietzsche selbst, der immer wieder seinen Traditionalismus betont 35 —, zu fragen freilich ist in jenem Zusammenhang ausdrücklich, ob es mit einem derartigen „Traditionalismus" nicht ganz anders bestellt ist als mit demjenigen des 19. Jahrhunderts, und im speziellen: ob der angebliche Klassizist Nietzsche nicht aus ganz anderen Gründen zu einer literarischen Wertung kommen kann, die derjenigen der herrschenden Philologie zum Verwechseln ähnlich scheint, im Grunde aber kategorial von ihr geschieden ist? — Jedenfalls durfte der naheliegende Weg, Nietzsche habe neben sehr viel tatsächlich Umwertendem eben auch etliches Zeitgemäße von sich gegeben 36 — er sei also gespalten, zerrissen, widersprüchlich, „modern" oder wie derart besiegelnde Attribute heißen mögen — dieser inzwischen
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Realismus und klassizistische Tradition, S. 82; s. auch seine Ausführungen über J. Schmidts pädagogisch ausgerichtete Ästhetik zugunsten einer „literarischen Kultur der Vielen und notwendig Mittelmäßigen" (S. 20) Gemäß zahlreicher Äußerungen wie: „Der Geschmack der höheren Natur [als die sich Nietzsche selbstverständlich sieht] richtet sich auf Ausnahmen" (3/375). Nietzsche als Leser Baudelaires, S. 124 a. a. O., S. 128 Die Kunst als Physiologie, S. 144 6/450. Was Nietzsches „zeitgemäße Unzeitgemäßheit" betrifft, so werden immer wieder zahlreiche Parallelen zu Dostojewskij oder zu Gide (insbesondere zu dessen elitärem Immoralismus, s. Claude Martin, André Gide, S. 85) betont. Sie ließen sich auch zu P. Valéry oder A. Rimbaud oder ... ziehen (s. W. Müller-Lauter, Ständige Herausforderung, S. 44); die Frage ist, ob solche Parallelisierungsversuche nicht das nur sanktionieren, was die Kulturgeschichtsschreibung stets praktiziert: nämlich alle „Unzeitgemäßen" als eigentlichen Ausdruck ihrer jeweiligen Zeit für allein überlieferungswürdig zu halten. z. B. 6/149 Und I. Beithan kommt tatsächlich gegen Schluß ihrer Untersuchung nur zu dem bescheidenen Ergebnis, „daß dem Urteil über die deutsche Literatur durch Nietzsche keineswegs eine eindeutig bestimmte Richtung gegeben ist." (Friedrich Nietzsche als Umwerter der deutschen Literatur, S. 186)
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recht ausgetretene Weg der Interpretation durfte nicht erneut beschritten werden; schließlich ging und geht die Arbeit davon aus, daß sich Nietzsches vielbeschworene Einheit der Person nicht — wie in der Sekundärliteratur fast ausschließlich betont — hinter seinen Widersprüchen verbirgt, sondern im Gegenteil: daß durch eben diese Person bereits eine Einheit des Wertungsverhaltens verbürgt ist, sei sie auch erst in tieferen Schichten seines Denkens nachzuweisen. Ohne dem im zweiten Kapitel behandelten Problem der Werkeinheit vorgreifen zu wollen, möchte ich hierzu die folgende Bemerkung Nietzsches zitieren: Wir glauben nicht daran, daß ein Mensch ein Anderer wird, wenn er es nicht schon ist: d. h. wenn er nicht [...] eine Vielheit von Personen [...] ist. In diesem Falle erreicht man, daß eine andere Rolle in den Vordergrund tritt, daß „der alte Mensch" zurückgeschoben wird ... Der Anblick ist verändert, nicht das Wesen... (13/332) Geht man nun von einer solchen, für jeden Menschen zu konstatierenden „Fatalität seines So-und-So-seins" (13/333) aus, so heißt das insbesondere, daß auch Nietzsches Spätschriften ohne Abstriche einbezogen werden müssen in den Rahmen der Untersuchung, weist doch deren veränderte Tonlage auf alles andere als den ausbrechenden Wahnsinn hin. 37 Statt Untersuchungen jüngeren und jüngsten Datums, z. B. der tendenziösen „Dokumentation" A. Verrecchias über „Zarathustras Ende", sollte man den zeitgenössischen Berichten mehr Gehör schenken, z. B. demjenigen J. Kaftans, der im Sommer 1888 während eines dreiwöchigen Aufenthaltes in Sils-Maria „niemals irgendwelche Spur einer beginnenden geistigen Erkrankung wahrgenommen" an Nietzsche 38 . In dieser Zeit nämlich werden die altbekannten Inhalte — und entsprechende literarische Wertungen — lediglich in veränderter Form dargeboten: radikaler formuliert, ohne „störende" Differenzierungen, wie sie
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Auch G. Abel plädiert gegen eine Ausgrenzung irgendwelcher Nietzsche-Texte. (Nietzsche contra „Selbsterhaltung", S. 388 f.). Wo könnte denn da eine klare Grenze gezogen werden? — Natürlich sollen hier die Ereignisse von Turin nicht beschönigt oder gar geleugnet werden, und auch die Diskussion um eventuelle Symptome des sich ankündigenden Wahnsinns in Nietzsches Texten möchte ich nicht fortführen. Allerdings bin ich — mit Nietzsche — von der Konstanz jeder menschlichen Entwicklung überzeugt, sehe also am 9. 1. 1889 keinen abrupten „Bruch", sondern ein monatelang, vielleicht jahrelang andauerndes Hinein- und Hinübergleiten in das, was allgemein als „Wahnsinn" bezeichnet wird. Jener Zustand ist jedoch von dem der „Normalgeistigkeit" nicht kategoriell geschieden; berücksichtigt man den Verlust einer geistigen Kontrollinstanz, so war Nietzsche wesensmäßig auch nach dem Zusammenbruch derselbe. Es ist einzig eine Frage der Perspektive, wie man ihn sehen will: als pathologischen Fall, der er bereits in den Jahren vor seinem Zusammenbruch, oder als (ein und dieselbe) große Persönlichkeit, die er selbst am Jahreswechsel 1888/89 noch war. Aus der Werkstatt des Übermenschen, (Zeitungsartikel) 1905; zit. nach: Janz 2/620
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für das Mittelwerk charakteristisch sind, euphorischer39, schriller, aber auch klarer (H. Pepperle)40. W. Kaufmann, dessen große Monographie ebenfalls eine „wesentliche Kontinuität von Nietzsches Denken" herausarbeitet41, scheut deshalb nicht einmal davor zurück, ein so umstrittenes Werk wie den „Ecce homo" geradewegs als „Höhepunkt seiner Philosophie"42 zu bezeichnen. — Jedenfalls verknappen sich die Inhalte bloß, anstatt in wirre Einzelbemerkungen zu zerfallen: In den Fragmenten der späten achtziger Jahre wiederholen sich Argumentationsmuster, Werturteile und Belegstellen z. T. wörtlich43 —, es scheint, daß Nietzsche hier an seine natürliche Denkgrenze stieß, die essentiell neue, gar vom Wahnsinn bereits überschattete Vorstellungen ausschloß: „Die Menschen sind ihren Gedankenbildern viel anhänglicher als ihren geliebtesten Geliebten."44 Auch die Vorarbeiten zum „Willen zur Macht"45 sind als Teil einer umfassenden Kulturkritik zu interpretieren, belegen nicht mehr und nicht weniger als Nietzsches Perspektivenverengung, d. h. den Tatbestand, daß eben auch er nicht „um [seine] Ecke sehen konnte" (3/626).
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Die offensichtliche Exaltation der späten Aufzeichnungen geht jedoch bloß zum Teil auf das Konto Nietzsches, hat er doch zahlreiche Äußerungen seiner Briefpartner nahezu unbearbeitet übernommen: Strindbergs Begeisterung über die „Götzen-Dämmerung" z. B. — „ohne Zweifel haben Sie der Menschheit das tieffste Buch gegeben, das sie besitzt" (November 1888; zit. nach: A. Verrecchia, Zarathustras Ende, S. 173) — taucht im Spätwerk wiederholt auf —, allerdings modifiziert zur Lobeshymne auf den „Zarathustra" (z. B. 6/259). Das berühmte Diktum „Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit" (6/365) geht auf eine Rezension von „Jenseits von Gut und Böse" durch V. Widmann zurück (Nietzsche's gefahrliches Buch. In: Der Bund, 16./17. 9. 1886; in: Janz 3/257-264, insbesondere S. 258); und die brieflich bezeugten „Ekstasen des Lernens" seitens des „Jüngers" H. Köselitz schließlich führen zu allerhand „größenwahnsinnigen" Formulierungen — Nietzsches! (Zu jenem Zitat vgl. das am 25. 10. 1888 an ihn gerichtete Schreiben mit „Ecce homo", 6/302.) Revision des marxistischen Nietzsche-Bildes? S. 941; in der sich anschließenden Begründung seiner Auffassung greift H. Pepperle offensichtlich auf W. Müller-Lauter zurück, der die Exaltiertheit von Nietzsches Spätwerk bereits in seinem Aufsatz „Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht" als Konsequenz des lebenslangen Nicht-gehört-werdens auffaßt (S. 51). Nietzsche, S. 475; vgl. S. 80 und Pepperle, a. a. O., S. 942 a. a. O., S. 474 — eine, so will es scheinen, unfreiwillige Demonstration von Nietzsches Lehre der Ewigen Wiederkehr des Gleichen; s. Kap. I.2.b) 2/588; vgl. zur Konstanz seines Denkens auch folgende Überlegung: Selbst während der angeblich kunstfeindlichen „zweiten Phase" findet sich der in der „Geburt der Tragödie" mehrfach formulierte „anzügliche Satz" wieder, „dass nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist" (1/17): „Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch erträglich" (3/464). Zwar ist die Stellungnahme wesentlich zurückhaltender, die Tendenz jedoch bleibt dieselbe — und damit das herkömmliche Dreiphasenmodell von Nietzsches geistiger Entwicklung zu modifizieren, (s. Kap. II.l.) bzw. zur „Umwertung aller Werte", wie Nietzsches Hauptwerk ab Herbst 1888 heißen sollte, (vgl. Montinari, Kommentar zur kritischen Studienausgabe, 14/398)
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Daß vor allem der Bruch von 187646 besonderer Berücksichtigung bedarf —, ein Bruch, der die z. T. emphatischen Bewertungen von Autoren wie Schiller, Hölderlin, Kleist in ihr Gegenteil verkehrt 47 —, daß also die „plötzliche und im Tiefsten entscheidende Veränderung [sjeines Geschmacks" (6/ 335) einer eingehenden Interpretation bedarf, um die These der Werkeinheit aufrechtzuerhalten, versteht sich. Dabei wird die früher entwickelte Auffassung von Nietzsche als triadischem Denker aktualisiert werden: und zwar nicht nur auf der Ebene von dessen (z. B. kulturkritischen) Gedankenkonzeptionen 48 , sondern ebenso auf derjenigen seiner philosophischen Entwicklung als Ganzes. Im einzelnen gehe ich dabei wie folgt vor: Kapitel I: Innerhalb der Abhandlung von Nietzsches literarischen Umwertungen nimmt das erste Kapitel eine Sonderstellung ein, zum einen deshalb, weil hier bereits viele Aspekte angesprochen werden, die erst im weiteren Verlauf der Arbeit zum Tragen kommen, zum anderen, weil sich das grundsätzlich philologisch ausgerichtete Projekt zunächst der Frage zu stellen hat, die von der weitgehend philosophisch orientierten Forschungsliteratur immer aufs neue aufgeworfen wird: Wie in zahlreichen Monographien, letzthin in derjenigen von R. Low, betont, „ist das Widerspruchs- und das Gegensatzproblem für jeden Interpreten der Philosophie Nietzsches eine notwendig zu lösende Aufgabe." 49 Würde man nämlich der gegenwärtig herrschenden Meinung zustimmen, Nietzsche habe unter philosophisch-systematischer Perspektive kaum mehr zu bieten als eine Serie ermüdender Selbstwidersprüche, dann erübrigte sich jeder ernsthafte Deutungsversuch seiner Gedanken; auch die zur Diskussion stehenden literarischen Umwertungen zerfielen in eine beliebige Summe disgregierender Teile, die keinen Rückschluß zuließen auf eine dahinterstehende kulturkritische bzw. ästhetische Position. — Jene, seit Elisabeth Förster-Nietzsche und den Philologen des George-Kreises dominierende Interpretationsrichtung 50 kann von einer um Aktualität bemühten Arbeit nicht einfach stillschweigend übergangen werden, erfordert vielmehr eine 46
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, die Abkehr zunächst einmal von Wagner, in seinen Konsequenzen dann auch eine bewußte Distanzierung vom Frühwerk bei gleichzeitigem „Einhängen" einer neuen, angeblich wissenschaftsfreundlichen Lebensperspektive, Gemäß späteren Reflexionen könnten freilich bereits jene begeisterten Urteile als Abgrenzungsversuche gegenüber den literarischen Vorbildern verstanden werden, d. h. als „Dankbarkeit: als welche, kurz gesagt, die gute Rache ist". (3/131; vgl. 3/197 und Kap. II.2.c) s. M. Politycki, Der frühe Nietzsche und die deutsche Klassik, S. 152 — 172 Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 78 wie W. Kaufmann überzeugend im „Prolog" seines Nietzsche-Buches darlegt
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umfassende Auseinandersetzung mit dem anschließenden Versuch der Widerlegung. In diesem Bemühen gilt es auch, Nietzsches Begriff des „Perspektivismus" zu modifizieren, der — mißverstanden als synchroner Perspektivismus, also als Zweck des Denkens — schon viel Verwirrung stiftete. Meiner Meinung nach handelt es sich nämlich „nur" um einen diachronen Perspektivismus, um ein bloßes Mittel also eines grundsätzlich teleologischen Denkansatzes. Kapitel
II:
Eine meiner Hauptaufgaben sehe ich darin, eine philologisch exakte Methode zu erarbeiten, mit der sich Nietzsches angebliche Widersprüchlichkeiten als bloße Oberflächenstruktur seiner Texte ablösen lassen von deren tieferem Zusammenhang. Leider fehlt eine solche Methode nämlich bislang, es blieb bei der (zweifelsohne aufrichtigen) Beteuerung — z. B. W. Kaufmanns —, durch Stellenvergleich und Kontextinterpretation ließen sich alle Widersprüche bereinigen 51 ; wie das im einzelnen vor sich zu gehen habe, war allerdings jedem Leser selbst anheimgestellt. Da aber im Falle Nietzsches herkömmliche Interpretationsverfahren kaum ausreichen, wird damit indirekt einem intuitiven Textverständnis das Wort geredet. — Insbesondere eine Untersuchung von Nietzsches „Umbegreifung der Begriffe", die Äquivokationen zurückzuführen sucht auf ein durchgängig dialektisch bzw. perspektivisch besetztes Begriffsraster, kann jenes Textverständnis auch auf wissenschaftlicher Ebene ausweisen, indem sie das Problem des Widerspruchs von der inhaltlichen auf die sprachliche Ebene zurückzieht. Ergänzt soll dieser Ansatz werden durch entsprechende Überlegungen zu Nietzsches radikalem Sprechstil, seinem experimentellen Denken, zu seinen „fließenden" und „festen" Wertungen 52 und schließlich zu den sophistischen Methoden im engeren Sinne. Kapitel
III:
Das dritte Kapitel verengt den vorübergehend auf Nietzsches grundsätzlichen Umgang mit deutscher Literatur geweiteten Blickwinkel auf seine Handhabung der Epochenbegriffe, wie sie im gesamten Werk auf ebenso eindrucksvolle wie verwirrende Weise demonstriert wird. Bereits hier bestätigt sich die Notwendigkeit der vorangegangenen allgemeinen Überlegungen, läßt sich sein Gebrauch von solch scheinbar fest umrissenen Ausdrücken wie 51 52
Nietzsche, S. 15 u. a. im Anschluß an Kap. II des „frühen Nietzsche..."
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„Barock", „Romantik", „Moderne"53 usw. doch nur verstehen, wenn man zunächst einmal von deren (meist stillschweigender) Umbegreifung ausgeht: Sämtliche Epochenbegriffe werden dabei ihres historischen Kontextes beraubt und als ahistorische Wesensbezeichnungen verwendet — allerdings nicht ohne ihre ursprüngliche Bedeutung vereinzelt zu wahren, so daß sich (wie im Falle der Klassik) schon auf rein sprachlicher Ebene eine bis zu sechs Schichten aufweisende Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Phänomen ergibt. Jene hier eigens notwendige Rekonstruktion von Nietzsches perspektivischer Auseinandersetzung mit Epochenbezeichnungen auf der Begriffsebene ist indes kein Selbstzweck: Vielmehr läßt sich erst anhand solcher Rekonstruktionen erklären, warum beispielsweise selbst ein Catilina als „Romantiker" rubriziert wird 54 — ebenso Schopenhauer, der aber ausnahmsweise auch in die Kategorie „Barock" eingeordnet werden kann (12/69) —, ja, warum nicht allein Klassik und Romantik als Gegensätze begriffen werden, sondern ebensosehr Aufklärung und Romantik (7/301). Kapitel IV: Als ein von der Forschung bislang kaum zur Kenntnis genommener Neuansatz der philologischen Methodik muß Nietzsches ausdrückliche Scheidung von Person und Werk angesprochen werden. 55 Immer wieder demonstriert er sein Verfahren des psychologisierenden Hinterfragens, indem er vom Kunstwerk auf dessen Verfasser rückschließt —, allerdings nicht in Form einer direkten Rekonstruktion, sondern unter Zuhilfenahme mehrerer charakteristischer Umkehrfiguren, deren häufigste unter dem Begriff der „Theorie-Praxis-Schere" bereits im zweiten Kapitel dargestellt ist: Was in der Theorie (also: im Kunstprodukt) beispielsweise als „gesund" erscheint, „muß" in der Praxis (also: im Künstler) auf „kranken" Ursachen beruhen —, ansonsten hätte der Urheber des Werkes ja nicht gerade ein „gesundes" Werk nötig gehabt, gewissermaßen als Selbst-Therapie56. Freilich trifft die TheoriePraxis-Schere auch auf Nietzsche selbst zu, dessen lebenslange Klassiksehnsucht nur allzudeutlich auf seine wesensmäßige Klassikferne hinweist. — Sein dem zeitgenössischen Biographismus insofern entgegengesetztes Verfahren, 53
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Dabei handelt es sich, entsprechend der historischen Situation, zumeist um den während Nietzsches Schaffenszeit aufkommenden Naturalismus —, aber auch um Spätromantik und l'art pour l'art! 12/59; aber auch Piaton (12/112) und Epikur (3/621), Hegel (12/148) und Carlyle (13/21 f.) gelten Nietzsche je nach Bedarf als Repräsentanten der Romantik. Jene Trennung ist natürlich nicht identisch mit derjenigen zwischen textinternen und textexternen Bezügen, wie sie der Strukturalismus kennt. Zum „Zauber des Gegentheils" s. auch 12/111 (sehr aufschlußreich für Nietzsches eigene literarische Produktion) und 12/318 f.
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als es ja nicht das Werk unter Zuhilfenahme der Dichterbiographie interpretiert, sondern gerade umgekehrt: den Urheber aus seinem Werk rekonstruiert —, sein in eine binomische Künstlertypologie mündendes Verfahren führt beispielsweise im Falle der Wertung Goethes nicht allein zu dessen heftiger Verteidigung gegen die im 19. Jahrhundert erhobenen moralisierenden Vorwürfe, sondern begründet auch die bereits angesprochene Diskrepanz der Beurteilung: die stete Idealisierung der Person Goethes bei unvermindert scharfer, was den „Faust" betrifft sogar vernichtender Kritik seiner Werke. — Im engen Zusammenhang mit der philologischen Trennung von Text und Verfasser steht die philosophische von Moral und Ästhetik; erst aus Nietzsches grundsätzlicher Abkehr von idealistischen Anschauungen läßt sich seine späte Verurteilung des einst verehrten Schiller zum „Moral-Trompeter" (6/11) in ihrer ganzen Reichweite erfassen: als radikaler Vorzeichenwechsel einer stets gleichbleibenden Analyse von dessen Person. Kapitel V: In einem letzten Kapitel soll der für das 19. Jahrhundert zentrale Begriff des Gesunden im Mittelpunkt stehen. Ausgehend von Nietzsches Umbegreifung desselben zur „großen Gesundheit", wird die damit verknüpfte, seinerzeit ungeheure Aufwertung der Krankheit näher untersucht. — Ein solch grundsätzlicher Perspektivenwechsel hat natürlich direkte Auswirkungen auf die Beurteilung von Literatur: Insbesondere Hölderlin und Kleist werden im Zuge einer sehr differenzierten Relativierung des im 19. Jahrhundert pauschal favorisierten Gesunden von dem außerästhetischen Vorurteil befreit, daß erst der Humor einer Dichtung Kraft, also Wert verleihe. Daß weiterführende Entfaltungen jenes Ansatzes jedoch nicht unproblematisch sind, ja daß der gesamte Themenbereich Gesundheit/Krankheit äußerst besorgniserregende Aspekte aufweist, sei hier schon angedeutet. In einer Schlußbemerkung war vorgesehen, einen Blick hinter all jene Wertungen zu werfen, auf die physiologischen Ursprünge derselben, wie sie in den letzten Schaffensjahren unter dem Stichwort „Physiologie der Kunst" offen thematisiert werden 57 : „Daß die aesthetischen Werthe auf biologischen 57
Der „Fall Wagner" (6/26) kündigt ein entsprechend tituliertes Kapitel des geplanten „Hauptwerks" an; bereits die „Genealogie der Moral" verspricht, auf die „bisher so unberührte, so unaufgeschlossene Physiologie der Ästhetik" zurückzukommen (5/356): Diesbezügliche Notizen finden sich in Bd. 12 und 13 der „Kritischen Studienausgabe" in großer Anzahl. — Daß fraglicher Untergrund aller Kunst wie Kunstkritik seinerzeit freilich gar nicht mehr so „unberührt" dalag, daß sich seine Thematisierung im Laufe des Jahrhunderts nachgerade zu einem Gemeinplatz entwickelte, spricht H. Pfotenhauer gleich zu Beginn seiner Untersuchungen an. (D. Kunst als Physiologie, S. 1)
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W e r t h e n ruhen", ist f ü r Nietzsche indessen seit jeher „das F u n d a m e n t aller A e s t h e t i k " 5 8 ; seine f ü r die Literaturwissenschaft so bedeutsamen U m w e r t u n gen sind i m G r u n d e nichts w e i t e r als I n d i k a t o r e n einer ( v o m Durchschnittsw e r t a b w e i c h e n d e n , 3/407) „grossen V e r n u n f t des Leibes" 5 9 , also reine G e schmacksurteile: „ D e r Instinkt ist das Beste am Intellekt." 6 0 Nämlich dessen tatsächliches u n d alleiniges M o v e n s ; er selbst — der Intellekt — sei nicht m e h r als ein W e r k z e u g d e r Triebe, das die „ v o r n e h m e n " Instinktentscheidungen im nachhinein mit rationalen, „ u n v o r n e h m e n " B e g r ü n d u n g e n zu v e r s e h e n habe, sprich: durchzusetzen g e g e n ü b e r anderen I n d i v i d u e n . 6 1 D i e „intellectuelle M a s k e r a d e " (3/406) der M e i n u n g e n sei lediglich der „phantastische C o m m e n tar" zu einem u n b e w u ß t e n — aber im d o p p e l t e n W o r t s i n n entscheidenden (3/485) — p h y s i o l o g i s c h e n V o r g a n g 6 2 , dessen p r o g r a m m a t i s c h e Ungerechtigkeit 6 3 jedwedes „Schätzen" als „ S c h a f f e n " u n d alle solcherart neugeschaffenen W e r t e als „ W a f f e n " v e r s t e h e 6 4 , als A u s d r u c k eines höchstpersönlichen, streng schichtspezifisch orientierten W i l l e n s z u r M a c h t (4/74): „Ich bin ein Gesetz n u r f ü r die M e i n e n , ich bin kein G e s e t z f ü r A l l e " 6 5 . D . h. f ü r v o r l i e g e n d e T h e m e n s t e l l u n g , daß auch literarische Urteile Nietzsches b l o ß als Teil einer
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13/511, s. auch 3/616, 12/285; damit rutscht die Ästhetik eine weitere Stufe „tiefer": Bei Novalis wird sie noch der „Psychologie" subsumiert (Fragmente, Werke, S. 390). Übrigens ist Nietzsches These, so G. Abel, alles andere als „biologistisch"! (Nietzsche contra „Selbsterhaltung", S. 377) 4/39; S. Grätzels Ausführungen (Physiologie der Kunst ..., S. 395) ist in diesem Punkt direkt zu widersprechen: Die „große Vernunft" kann sich sehr wohl „argumentativ-reflexiv" erweisen, nicht etwa nur „bildhaft" —, allerdings eben auf indirekte Weise! 3. 4. 1868 an E. Rohde, KGB 2/265; s. auch 3/406 f. 3/98 f.: Zunächst einmal findet der Kampf der Triebe natürlich innerhalb eines Individuums statt. — Nietzsches Reduktion der Philosophie auf eine Auslegung des „Leibes" drückt sich im Spätwerk bereits auf sprachlicher Ebene aus durch einen geradezu inflationären Gebrauch des Wortes „Instinkt": Nicht nur von „Aufgangs-" und „Niedergangs-Instinkten" (13/323), vom „nihilistischen" (13/528) oder „gottbildenden Instinkt" (13/525) ist da die Rede —, sondern selbst vom „Instinkt der Wahrheit" (13/344) resp. dem „der Verleumdung, Verkleinerung, Verdächtigung des Lebens" (13/355), vom „Sklaven-Instinkt" (13/367: nämlich dem „Feigheits-, Schlauheits- und Canaillen-Instinkt", ebd.), dem „Instinkt für Mißrathen-sein" (13/232) ... und nicht zuletzt dem Instinkt der Feindseligkeit gegenüber Büchern (13/623)! — S. auch Kap. V., Anm. 264 3/113; christliche Anschauungen z. B. seien nichts weiter als Symptome von Verdauungsbeschwerden und Kopfschmerzen (3/179)! — Vgl. 3/118 ff. — Daß das Denken völlig vom Magen abhänge, meinte freilich schon (der von Nietzsche als "einer der grössten Befreier des Geistes" — 2/10 — verehrte) Voltaire. Nicht einmal diese Ungerechtigkeit sei freilich ein Zeichen freier Willensentscheidung, sondern durch die spezifische Subjektivität jedes einzelnen zwangsläufig vorgegeben: Das „Zurecht-Fälschen" der (literar.) Um- und Vorwelt (2/14) sei zwar Ausdruck der Kraft (3/ 404) — nicht etwa der Bosheit —, allerdings bloß einer „im Gefangniss" der Sinneswahrnehmungen festgesetzten (3/110)! — S. Kap. 1.3. und II.6. 4/75 f., 130; in 5/213 ist die Rede vom „eigentlichen Herrenrecht, Werthe zu schaffen"! 4/354, vgl. 4/359: Der Anspruch der Allgemeinverbindlichkeit, wie ihn die Wissenschaft gegenüber (Um-)Wertungen erhebt, wird also von vornherein abgewiesen.
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j W t o g e s e t z g e b u n g zu v e r s t e h e n sind, als A u s d r u c k v o n L u s t - b z w . U n l u s t g e f ü h l e n (13/33), d e r e n „ i m p e r a t i v i s c h e A b k ü r z u n g e n " (ebd.) i m L a u f
der
Jahre zunehmend auf vordergründige Verrationalisierungen verzichten: „Das W ö r t c h e n , d e n n ' c o m p r o m i t t i r t in g e w i s s e n Fällen, m a n w i d e r l e g t sich m i t u n ter s o g a r d u r c h ein einziges ,denn' ". 6 6 D a m i t ist das P r i n z i p „ o b e r f l ä c h l i c h — aus d e r T i e f e " 6 7 f ü r den B e r e i c h literarischer U m w e r t u n g e n als e n t s p r e c h e n d G e i s t ist ein
Magen"68,
k o n s t i t u t i v anzusetzen:
„Der
selbst u n d v o r allem d e r des P h i l o l o g e n Nietzsche:
D e s s e n ästhetische V e r d i k t e e n t w i c k e l n sich „ a m L e i t f a d e n des L e i b e s " 6 9 , n ä m l i c h an d e m j e n i g e n v o n d e r E r n ä h r u n g bis z u r V e r d a u u n g (3/407). I n s o f e r n sie in seinem Fall a u f eine s t r e n g e „geistige D i ä t " h i n a u s l a u f e n , a u f eine S u c h e n a c h ,,[s]einer A r t G e s u n d h e i t d u r c h den U m w e g [s]eines K o p f e s " 7 0 , w e r d e n die H i n t e r g r ü n d e seiner L i t e r a t u r k r i t i k e b e n s o o f f e n s i c h t l i c h 7 1 w i e
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13/289; Nietzsche macht hier aus dem „Nothstand", daß er sein ästhetisches Empfinden „nicht recht mehr zu begründen" weiß (19. 4. 1887 an H. Köselitz, KGB 8/60), eine Tugend. 3/352, vgl. S. 116, 517; das berühmte Diktum ist wahrscheinlich durch (den vom jungen Nietzsche eifrig studierten) Schiller angeregt, der sich in seinen theoretischen Schriften mehrfach für ein Primat der (Ober-)Fläche gegenüber der Tiefe ausspricht (Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen u. a.; Sämtliche Werke, 5/611, 687). 4/258; ein derartiger Zusammenhang wird bereits im Jugendgedicht „Entflohn die holden Träume" angesprochen (Gedichte, S. 11). Die Erkenntnis, es stünde dem „Philosophen nicht frei, zwischen Seele und Leib zu trennen" (3/349, s. auch: Juli 1882 an E. Rohde, KGB 6/ 226; 3/347), hat natürlich ebenfalls konkrete „leibliche" Ursachen, wie man Nietzsches jahrelanger Krankheitsgeschichte entnehmen kann: Der „Gehirnsmagen" (4. 4. 1867 an P. Deussen, KGB 2/206), die „Eingeweide seines Herzens" (4/18), die „Verdauung" der Erlebnisse durch Vergessen, das „dyspeptische" Element gewisser Philosophien (2. 1. 1886 an R. und I. v. Seydlitz, KGB 7/134) usw. —, solche Formulierungen sind nicht etwa von der puren Lust an Polemik eingegeben, sondern einer bitteren Lebenserfahrung abgewonnen. — Aufschlußreich auch 13/616, 14/478 (Wagner als „Magner"!) und, wie in so vielen Punkten, L. Sternes, des „freiesten Schriftstellers" (2/424), „Tristram Shandy": „Unsere Ansicht vom Himmel [...] ist nichts als die Ansicht, die unsere jeweilige Eßlust oder Verdauung darüber hat." (S. 577, s. auch S. 174, 576) 12/29; 13/297: „Man liest selbst noch mit den Muskeln" —, die physiologische Rezeption von Kunst ist damit nicht wesentlich unterschieden von ihren „physiologischen Vorbedingungen" beim Künstler: dem (vor allen Dingen sexuellen) „Rausch" (6/115; s. Kap. V.3.). 3/346, vgl. 12/352; seine gesamte Philosophie sei „im Grunde der Instinct für eine persönliche Diät" (3/323) —, entsprechend empfindet er einen „physiologischen Widerstand" gegen gewisse Literatur (6/113) bzw. Musik (5/200). Die Gleichsetzung von Geist und Magen läßt sich ja auch von der anderen Seite her lesen: Jeder Körper brauche eine spezifische geistige Nahrung, ein kranker wie z. B. derjenige Nietzsches bedürfe ganz spezieller „heilkräftiger" Lektüre-Eindrücke. Das wirft ein bezeichnendes Licht auf die Hochschätzung des „Nachsommers", wie sie im Jahre 1879 einsetzt (nämlich kurz vor dem 5. 11. 1879, wie dem Brief gleichen Datums an H. Köselitz zu entnehmen ist, KGB 5/461) —, zu einem Zeitpunkt also, da ihr Leser „118 schwere Anfallstage" pro Jahr hatte (29. 12. 1879 an E. Nietzsche, KGB 5/475) und vor allem eines wollte: „Erholung von mir selber, Ausruhen von meinen Gedanken" (11.9. 1879 an H. Köselitz, KGB 5/443).
Einleitung
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die seines lebenslangen Augenmerks auf gerade die scheinbar nebensächlichen Dinge des alltäglichen Daseins 72 . Aufgrund von H. Pfotenhauers Publikation über „Die Kunst als Physiologie", die jenem Themenbereich ein ganzes Buch widmet, erübrigte sich eine solche Schlußbemerkung. Deren Vorarbeiten sind, zumindest z. T., eingeflossen in frühere Abschnitte der Arbeit, schließlich ist die „Physiologisierung der Philologie" einer der folgenreichsten Denkanstöße, die Nietzsches Philosophie für die Germanistik gibt bzw. geben könnte, ist, wenn nicht der End-, so doch der unumgängliche Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen — „wissenschaftlichen" — Auseinandersetzung mit seinem Werk.
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Zu Nietzsches „Philosophie der Ernährung", nämlich einer solchen über „die moralischen Wirkungen der Nahrungsmittel" (3/379) s. 2/542, 3/179, 491, 6/279 ff., 12/317, 13/616. Wie eine Parodie auf dieselbe liest sich eine Maxime W. Serners: Quantum und Qualität deiner Mahlzeiten überwache mit größter Genauigkeit. Ißt du weich gekochte Winterkartoffeln und gar noch zu viel davon, so darfst du dich nicht wundern, wenn dir an diesem Tag alles schief geht. (Letzte Lockerung, S. 120)
Kapitel I: Das Problem des Widerspruchs bei Nietzsche Philosophie hat im Grunde nichts anderes zu tun, als das, was die Gemüsefrau schon immer wußte, in Schutz zu nehmen gegen den fortgesetzten Versuch einer gigantischen Sophistik, es ihr auszureden. (R. Spaemann)1 Mit jedem Jahr an Länge, an beträchtlicher Länge gewinnt die Liste der Nietzsche-Interpretationen, und je zahlreicher die Gemeinde der Exegeten, desto raffinierter deren Deutungsversuche, um sich überhaupt noch abzuheben vom Hintergrund eines nicht enden wollenden Nietzsche-Booms: So spitzfindig mitunter werden dessen Texte gedeutet, daß man darin oft kaum eine Spur wiederzufinden vermag des ursprünglichen Verfassers 2 . Wohl aber deren etliche von unserem so spitzfindig-widersprüchlichen Jahrhundert, das eben diese seine Widersprüche hineinzulegen trachtet in jeden, den es als Vorläufer beansprucht 3 —, und selbst in einer derartigen Grundhaltung sich auf Nietzsche zu berufen wüßte: Wir haben das Schicksal absichtlich auszunützen: denn an und für sich sind Ereignisse leere Hülsen. Auf unsre Verfassung kommt es dabei an; den Werth, den wir einem Ereigniß beilegen, hat es für uns.4 Eines der Schlüsselworte für solche „Textanalysen" findet sich in den Schriften Nietzsches recht häufig und wird von Interpreten teils als Entschuldigung gebraucht für die tatsächlich zunächst einmal frappierenden Diskrepanzen seiner Aussagen, teils als Hauptargument — wohl eher: mißbraucht, um die angeblich „unauflösliche Widersprüchlichkeit und Sprunghaftigkeit 1 2
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Philosophie als institutionalisierte Naivität, S. 139 Geflissentlich übersehen wird dabei Nietzsches briefliche Äußerung: „Es ist das Geheimniß der guten Schriftsteller, nie für die subtilen und spitzen Leser zu schreiben." (20.—27. 7. 1878 an C. Fuchs, K G B 5/341) neben Nietzsche mit besonderer Vorliebe auch in Kleist; neuestes Bsp.: der Einführungsvortrag von H. J. Kreutzer zur Jahresversammlung der Kleist-Gesellschaft, der die „unaufhebbaren Paradoxien" von Person und Werk in den Mittelpunkt seiner Darlegungen rückte, (nach: F. Apel, Revisionsverfahren in Sachen Kleist) Entsprechend faßt auch F. Apel den Tenor der gesamten Tagung zusammen: „Wie kein anderer hat er [Kleist] die Widersprüche neuzeitlicher Probleme experimentell durchgespielt." (ebd.) 20. 2. 1967 an C. v. Gersdorff, K G B 2/201; vgl. die Ausführungen unter II.6.
Das Problem des Widerspruchs bei Nietzsche
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des Standpunktes" nicht nur, wie C. P. Janz es tut 5 , als Launenhaftigkeit und Bösartigkeit herab, sondern geradezu hinauf zu spielen: zum Spezifikum nämlich der solcherart anbrechenden Moderne. — Nichts wäre wohl abwegiger als der Versuch, Nietzsche jene Vorläuferrolle streitig zu machen; ich meine jedoch, seine Modernität liegt in anderen Punkten weit mehr als in seinem „Perspektivismus". So nämlich lautet das Reiz- bzw. Zauberwort; die Nietzschephilologie versteht darunter in der Regel eine bewußte, ja methodische Widersprüchlichkeit durch systematischen Standortwechsel des Denkens, in dessen solcherart nur recht weit zu fassenden Rahmen sie — die Philologen — fast jeden Interpretationsansatz einfügen können und das auch getan haben: Das Spektrum reicht von faschistischen zu sozialistischen, von ästhetizistischen bis nihilistischen Deutungsvarianten, die augenscheinlich bloß eine Gemeinsamkeit noch aufweisen: mehr nämlich in Nietzsches Texte hinein- als herausgelesen zu haben. „Schlimm! Schlimm!" möchte man sich angesichts jener künstlichen Verwirrung einem Aphorismus der „Morgenröthe" anschließen: „Was man [...] am hartnäckigsten beweisen muss, das ist der Augenschein. Denn allzuvielen fehlen die Augen, ihn zu sehen. Aber es ist so langweilig!" (3/205) Das ist hier natürlich ein wenig grob gesagt, soll auch späterhin, selbst auf die Gefahr der Langeweile, verfeinert werden —, zunächst einmal freilich gilt es, die Grundthese des ersten Kapitels vorwegzunehmen: Ein Mensch, so die These, hat zwar die verschiedensten Seiten, erweist sich jedoch gerade in dieser (je seinen) Viel-Seitigkeit immer als ein (individueller) Mensch. Sein Denken zwar kennt die verschiedensten Ansätze, mag von Zeit zu Zeit sich ändern, bisweilen von einer Stunde zur nächsten — aber in jedem Moment seiner Entwicklung gibt es nur dieses sein Denken; ein Mensch, der zu ein und demselben Zeitpunkt zwei oder gar mehrere Ansichten vertreten kann hinsichtlich einer bestimmten Fragestellung — also z. B. einen ästhetizistischen ebenso wie einen nihilistischen, einen faschistischen wie einen sozialistischen —, solch ein Mensch ist kein Selbstdenker, sondern allenfalls Sophist, dessen verschiedene Logoi sich nach dem aktuellen Marktwert richten, wie es Piaton im „Kratylos" darstellt: Da gibt es den Vortrag für 50 Drachmen, in dem man erschöpfend über ein Problem informiert wird, sowie denjenigen für eine Drachme, der den wahren Sachverhalt kaum einmal streift —, je nach Gelegenheit und Nachfrage zieht der Sophist die Meinungen aus der Tasche und sich selbst aus der Affare. In dieser ganz anders gearteten
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Friedrich Nietzsche, 1 /335; letztlich führt auch Janz die Widersprüche auf Nietzsches angebliche „Doppelbödigkeit der Existenz" zurück (1 /406 ff.) —, „Doppelbödigkeit" wohl verstanden im Sinne von G. Benns „Doppelleben"? Oder meint Janz gar, Nietzsches Philosophie arbeite stets mit „doppeltem Boden"? Oder — ?
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Das Problem des Widerspruchs bei Nietzsche
als der oben genannten „Viel-Seitigkeit" erweist er sich, laut Piaton, als „eine Art Großhändler [...] mit [...] Waren, welche der Seele zur Nahrung dienen." 6 Solch ein Zentrums-, also charakter-loser Ideenhändler7 war Nietzsche freilich nicht. „Die wertvollsten Einsichten sind die Methoden", liest man in einem Aphorismus des „Antichrist" 8 —, aber bevor ich mich jenen Einsichten zuwende, gilt es zu klären, warum eine Reflexion des methodischen Vorgehens nicht nur wertvoll, sondern im Falle einer Nietzschearbeit immer noch unumgänglich ist —, obwohl mein Thema zunächst einmal ohne theoretischen Überbau auszukommen scheint: Laufen dessen Vorarbeiten doch „lediglich" auf eine Stellensammlung hinaus, die dann, nach Autoren oder ästhetischen Oberbegriffen geordnet, abgehoben werden könnte vom zeitgenössischen Wertungshorizont, wie er beispielsweise in den Literaturgeschichten von G. G. Gervinus oder W. Scherer gezogen wird. Das soll in späteren Abschnitten der Untersuchung auch geschehen, das Problem der Materialsammlung allerdings steckt im Wort „geordnet", und „wer zeigen möchte, was Nietzsche wirklich gemeint hat, muß dies Problem lösen"(R. Low 9 ). Denn nach welchen Kriterien sollen solch widersprüchliche Urteile denn geordnet werden, wie sie sich zu fast allen relevanten Autoren finden, was ist — um bloß ein Beispiel zu zitieren10 — davon zu halten, wenn man im „Ecce homo" die lapidare Feststellung liest: „Den höchsten Begriff vom Lyriker hat mir Heinrich Heine gegeben" 11 , in einer gleichzeitigen und ebenso lapidaren Tagebuchnotiz dagegen: „Wagner und Heine: die beiden größten Betrüger, mit denen Deutschland Europa beschenkt hat." (13/500) Im übrigen wird die Frage nach dem größten Lyriker an andrer Stelle mit der Gegenfrage beantwortet: „Ist es nicht ein Verbrechen dumm zu sein, wenn man hier also Goethe nicht als den größten empfindet oder empfinden will?" (8/128) Dem Leser Nietzsches wiederum drängt sich spätestens dann die Frage auf, was anderes denn als Dummheit oder Bosheit es sein könne, wenn er im selben Quartheft, nur knapp zwei Seiten später, wieder auf eine Reflexion über Goethe stößt, allerdings des Inhalts: „Ganz falsch, in ihm den größten Lyriker zu sehen." (8/130) 6 7
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Piaton, Protagoras, in: Sämtliche Werke; 1/63 als den ihn neben Low (s. u.) vor allem J. Derrida begreift (nach B. Taurek, Destruktivistischkonstruktivistische Nietzsche—Zerstörungsversuche, S. 467) 6/179; noch deutlicher 2/360 Zur Aktualität von Nietzsches Wissenschaftskritik, S. 399 Weitere Beispiele, s.: Der frühe Nietzsche..., Kap. I 6/286; eine derartige Perspektive wird bereits in einer Tagebuchnotiz des Jahres davor eingenommen —, wenn auch in abgeschwächter Form: „der Gipfel der modernen Lyrik, von zwei Bruder-Genies erstiegen, von Heinrich Heine und Alfred de Musset". (12/475)
Das Problem des Widerspruchs bei Nietzsche
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Nun ließe sich die Liste derart antagonistischer, aber je apodiktisch verkündeter Urteile beliebig erweitern —, insbesondere die Berücksichtigung von Widersprüchen zweiten Grades bietet die annähernde Sicherheit auch für den hartnäckigsten „Sinnhuber"12, an den Texten Nietzsches völlig irre zu werden: Nicht mehr als die entsprechenden Urteile gälte es zu segmentieren in ihre Bestandteile, die nunmehr — wie kaum anders zu erwarten — vielfache Gegensätze entfalteten zum jeweiligen Satz, der eine ursprüngliche Aussage zu treffen schien: Dummheit nämlich gilt Nietzsche als ein Attribut des Edlen13, das Verbrechen als entschuldbar, ja im Spätwerk gar als Akzidenz aller menschlichen Größe14, Lyrik wird teils — ganz im Sinne des zeitgenössischen Literaturverständnisses — in die Nähe der (höchst positiv besetzten) Musik gerückt 15 , teils als „göttliches Hopsasa" bespöttelt16. — Wie also ist vorhin zitierte Frage nach dem größten Lyriker eigentlich zu lesen — „Ist es nicht ein Verbrechen dumm zu sein, wenn man hier also Goethe nicht als den größten empfindet oder empfinden will?" —, noch dazu deren eigenartige, für Nietzsches Verhältnis zur Literatur übrigens charakteristische Unterscheidung zwischen einer gewissermaßen intuitiven Empfindung und dem wohl phasenversetzt eintretenden Wollen einer Empfindung, das natürlich dem ersten, unreflektierten Gefühl völlig entgegengesetzt sein kann — und es im Falle Nietzsches auch sehr oft ist?17 Angesichts einer solchen Textlage hat der Interpret zunächst einmal zwei Möglichkeiten: Entweder auch ihm zerfallen die literarischen Wertungen Nietzsches in Sätze, die Sätze in Worte, die Worte wiederum „wie modrige
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also einen übertrieben deutungsfreudigen Vertreter der Philologie, wie er in F. Th. Vischers „Faust. Der Tragödie dritter Teil" karikiert ist (S. 135 f.) „Die Vornehmheit der Seele ist nicht am wenigsten an der [...] stolzen Dummheit zu erkennen." (12/75) 12/406! Vgl. 12/522, wo die Querverbindung gezogen, d. h. die Nachbarschaft des Vornehmen zum Verbrecher betont wird. z. B. 1/43, 50, aber auch noch 13/300: Da Nietzsche dort wie andernorts von „Lyrik in Ton und Wort" redet, sollten bezüglich seines Urteils über Lyrik auch alle Aussagen über Musik einbezogen werden. Eine ähnliche „Themenentgrenzung" legt die Wendung vom „lyrischromantischen Geist" nahe, wie sie in einem Brief an H. Köselitz fallt (24. 3. 1883, K G B 6/ 350). Somit sind Ausführungen über Romantik (Kap. III.3.) gleichermaßen als solche über Nietzsches Verständnis der Lyrik zu lesen wie als solche über seine Stellung zur Musik: Die drei Begriffe gehören eng zusammen, akzentuieren nur verschiedene Facetten ein und desselben Phänomens: der decadence. 3/442; vgl. die in der Einleitung bereits zitierten Abwertungen von 5/188 und 12/121 f. Noch einen Schritt weiter, und Nietzsches zweiphasige — nämlich zunächst emotionale, dann rationale — Urteilsgewinnung geht über in eine von L. Sterne (natürlich nur ironisch) empfohlene Methode, „jede Angelegenheit von einiger Wichtigkeit in zwei entgegengesetzten Gemütsverfassungen durchzusprechen: zuerst betrunken und dann nüchtern." (Tristram Shandy, S. 513)
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Das Problem des Widerspruchs bei Nietzsche
Pilze" —, und die Interpretation vollzieht sich letztendlich im Verschweigen derselben. Ein nicht unbeträchtlicher Teil „inwendiger Meisterwerke" (P. Valéry 18 ) dürfte aus derartigen Gründen der „International Nietzsche Bibliography" von Reichert/Schlechta entgangen sein ... Oder — und diese zweite Möglichkeit wird vielleicht ebenso häufig gewählt — nicht der Text setzt sich gegenüber dem Thema durch, sondern das Thema auf Kosten des Textes. Selbst hierbei bildet Schweigen noch einen wesentlichen Bestandteil des „wissenschaftlichen" Verfahrens (nämlich in seiner oft sehr wortreichen Form des Verschweigens): Bekanntermaßen besteht es darin, den Text erst einmal zu „frisieren", d. h. also zurechtzustutzen, häufig auch einzufarben oder einzulegen in die eigene Weltanschauung — so in überraschender Naivität stets aufs neue die marxistische Forschung 19 —, um ihn anschließend, bei Bedarf, mit einigen spekulativ-biographistischen Toupets zu ergänzen, bevor er als Nietzsches „eigentliche" Position präsentiert wird. Und, wie im wirklichen Leben auch, entscheidet da oft gerade das Toupet über den Effekt der ganzen Frisur —, also beispielsweise Nietzsches angebliche Syphilis über Wert oder Unwert des „Zarathustra" (so bei P. J. Möbius), „Zarathustras Ende" über Wert oder Unwert sämtlicher Schriften Nietzsches (so bei A. Verrecchia 20 ). Sogar Autoren vom Range eines Heidegger bedienen sich bisweilen solch frisiertechnischer Methoden, sei es auch — wie im Falle des Existentialphilosophen — aufgrund interpretatorischer Kraft, die Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht aus nur 60 Aphorismen herauszukristallisieren vermag. 21 Und selbst Jaspers setzt an einer Stelle seiner — im übrigen vorzüglichen — Monographie leider die Schere an: dort nämlich, wo in einem ursprünglich geplanten Kapitel „das Irren Nietzsches in naturalistischen und extremisti-
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Monsieur Teste, S. 17 W. Harich hat jene Methode erst unlängst wieder in einem wahrhaft haarigen Pamphlet exemplarisch demonstriert. („Revision des marxistischen Nietzsche-Bildes?" S. dazu Kap. V.3. und W. Müller-Lauter, der Harichs Reduktion Nietzsches zum Kriegsverherrlicher überzeugend widerlegt: durch Berücksichtigung des Kontextes von Nietzsche-Zitaten! Ständige Herausforderung, S. 69 ff.). Aber auch sein wissenschaftlicher Kontrahent, H. Pepperle, rät am Schluß seines Aufsatzes über Nietzsche, den Blick „nur auf Brauchbares und Positives" in dessen Werk zu richten: „Von anderen Seiten ist abzusehen, insbesondere lasse man den Gesamtzusammenhang aus dem Auge"! (Revision des marxistischen Nietzsche-Bildes? S. 967) Die Tendenz von A. Verrecchias „Dokumentation" über Nietzsches Turiner Zusammenbruch zielt eindeutig darauf ab, das Gesamtwerk Nietzsches als dasjenige eines (immer schon) Wahnsinnigen zu diskreditieren. (S. 11 f., 16, 104, 152 u. a.) — Selbst A. v. Schirnding rügt diese neueste Veröffentlichung über Nietzsche als „kapitale Entgleisung" und den Verfasser derselben als „neuen, italienischen Möbius". (Wie verrückt war Nietzsche?) Allerdings scheint in der Forschung inzwischen gar Konsens darüber zu bestehen, daß Heidegger auch kräftig eingefärbt — sprich: in seinem Nietzsche-Buch die beste Darstellung seiner eigenen Philosophie gegeben habe.
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Die acht verschiedenen Möglichkeiten, Nietzsche zu lesen
sehen Wendungen belegt [werden sollte.] [...] Aus Achtung vor Nietzsche habe ich es weggelassen." 22 Der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einem Autor allerdings kann Verschweigen bisweilen mehr schaden als bloßes Schweigen; ich komme deshalb, wie angekündigt, zu den Methoden im engeren Sinne — nicht ohne zu betonen, daß mit der Wahl einer der folgenden „Standorte des Interpreten" 23 bereits die Entscheidung über alle zu erwartenden Interpretationsergebnisse gefallen, besser: gefallt ist.
1. Die acht verschiedenen Möglichkeiten,
Nietzsche
lesen,
das wird nach dem bislang Ausgeführten kaum verwundern, unterscheiden sich vornehmlich in der Art und Weise, wie sie mit den Widersprüchen in seinen Texten umgehen. Da diese diversen Ansätze der Sekundärliteratur schon des öfteren zusammengefaßt wurden 24 und schließlich für vorliegende Arbeit kein primäres Interesse an Methodendiskussion besteht, übernehme ich die formale Aufgliederung jener Ansätze von R. Low, nicht jedoch deren Benennung, Bewertung und Anwendung auf Autoren. R. Löws 1984 veröffentlichte Habilitationsschrift nennt als Hauptströmungen bisheriger Forschungsarbeit die folgenden sechs:25
a) Die rigoristische Methode Sie argumentiert z. T. medizinisch 26 , z. T. philosophisch, läuft dabei stets auf eine Ablehnungsstrategie hinaus, die sich Nietzsches Werks entledigt, indem es dieses wegen seiner evidenten Widersprüchlichkeit nicht ernst 22
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Nietzsche, Vorwort zur 2. Auflage, S. 6. Im übrigen hat natürlich gerade Jaspers ernst gemacht mit Nietzsches Widersprüchen und sie auf vorbildliche Weise gedeutet; meine Kritik zielt allein auf jenen einen Scheren-Schnitt. — Vgl. ähnliche Angriffe bei Kaufmann (Nietzsche, S. XXI) und Low (Nietzsche, S. 137) — Auch M. Montinaris Interpretation scheint von jener reduktionistischen Tendenz nicht ganz frei zu sein, sieht er in Nietzsche doch vornehmlich den aufklärerischen Freigeist (W. Müller-Lauter, Ständige Herausforderung, S. 37), also den Nietzsche der veiten „Phase" (vgl. dazu Kap. II. 1.). Müller-Seidel, Wertung und Wissenschaft im Umgang mit Literatur, S. 25 u. a. von W. Müller-Lauter, Nietzsche, S. 2 ff., dessen Aufgliederung der bisherigen Ansätze in elf Richtungen sich im wesentlichen mit derjenigen Löws in sechs Tendenzen deckt. Nietzsche, S. 9 ff. Neben italienischem und deutschem Möbius (s. Anm. 20) ist hier erstaunlicherweise auch G. Colli zu nennen, der in einem Rückblick auf Nietzsches „zweifach anomale [...] Unzeitgemäßheit" von dessen „pathologischer Struktur [spricht], wie sie sich bereits seit der ,Geburt der Tragödie' in gemäßigter Form bemerkbar macht" (6/449 f.)! Allerdings nimmt Colli die Texte Nietzsches natürlich trotzdem ernst...
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Das Problem des Widerspruchs bei Nietzsche
nimmt. 27 Wie C. P. Janz bemerkt 28 , deckt sich solch z. T. radikale Pathologisierung, zumindest: Entmündigung von Nietzsche als philosophischem Denker mit Tendenzen der Wagnerianer, bereits dessen Werke nach 1876 — also diejenigen nach dem Bruch mit Wagner! — dem Wahnsinn zuzuordnen. Daß eine derartige Meinung, wenn auch in gemilderter Form, vor allem im gebildeten Laienpublikum weit verbreitet ist, zeigen Redebeiträge auf öffentlichen Nietzsche-Symposien immer wieder. 29 — Als Grundlage einer philologischen Arbeit ist sie wohl kaum erwägenswert, wohl aber, wie der Name schon sagt,
b) die streng philologische Methode Sie versucht, selbst tieferreichende Widersprüche aufzulösen, meist durch eingehende Textvergleiche; für Wissenschaftler jedoch, die ihr nicht verpflichtet sind, führt ihr angeblicher „Willen zur Harmonie" zu bloßer Problemverschiebung 30 . R. Low rechnet in seinem Buch namentlich vor allem W. Kaufmann zu der solcherart mißbilligten Richtung 31 , obschon auch W. MüllerLauter 32 , V. Gerhardt und, zumindest bedingt, G. Colli dazuzuzählen wären —, letzterer z. B., wenn er im Nachwort zu „Menschliches, Allzumenschliches" beteuert: H i e r w i e in a n d e r e n S c h r i f t e n läßt s i c h in N i e t z s c h e s D e n k e n jenseits d e r antinomischen,
eine
innere
Ü b e r e i n s t i m m u n g entdecken, ein d u r c h g e h e n d e r F a d e n , an H a n d
widersprüchlichen,
heterogenen
Äußerungen
dessen
sich die krassesten G e g e n s ä t z e [...] o r d n e n . 3 3
Ein derartiger Ansatz, den vorliegende Arbeit trotz und gegen R. Low im folgenden vertreten wird, leidet vielleicht einzig daran, daß er zwar alle Widersprüche aufzulösen verspricht, dies Versprechen selbst jedoch nicht wissenschaftlich durchleuchtet, also die Methoden seiner Methode nicht ausreichend transparent macht. Jenen Mangel zumindest ansatzweise zu beheben, habe ich mir im zweiten Kapitel vorgenommen.
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In diese Richtung neigt L o w ja selbst im siebten Kapitel seines Buches. Nietzsche, 2/332 z. B. auf der Tagung der Katholischen Akademie in Bayern zum Thema „Nietzsches fortdauernde Provokation" (5-/6. 12. 1981; vgl. dazu den von E . Biser herausgegebenen Band „Besieger Gottes und des N i c h t s " mit den entsprechenden Vortragsreden) R. L o w , Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 10 a. a. O., S. 10 Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, S. 5 4 f f . ; vgl. Anm. 19, aber auch K a p . 1.1.d! 2/705; vgl. 3/659, wo Colli einmal andersherum argumentiert: Alle Widersprüche der „Fröhlichen Wissenschaft" würden gar nicht in ihr als solche erscheinen.
Die acht verschiedenen Möglichkeiten, Nietzsche zu lesen
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c) Die Periodisierungsmethode Deren erster Vertreter, Lou Andreas-Salomé, wird zwar immer ihr bedeutendster bleiben, und die in der Tat berühmte, wenngleich heutzutage nichts weniger als gerühmte Schematisierung von Nietzsches Denken in drei Phasen mag auch einzelne Fälle von Widersprüchlichkeit lösen, in der Regel verschiebt sie jene nur in Nietzsches Leben. Spätestens dann, wenn sich ein Widerspruch wie der oben andiskutierte auf einer Spanne von nur zwei Notizseiten — also derjenige von höchstens einigen Tagen — entfaltet, ist die biographistische Methode am Ende. Daß ihre grobe Schematisierung von Nietzsches Leben und Werk einem differenzierten Textverständnis entgegensteht, soll allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß ihr Ansatz in gewisser Weise auch fruchtbar zu machen ist. Schließlich geht die berühmte bzw. berüchtigte Dreiteilung gar nicht auf L. Andreas-Salomé zurück, wie man überall liest 34 , sondern auf Nietzsche selbst! So äußert er sich seiner damaligen Freundin gegenüber in zwei Briefen des Sommers 188235, daß eine zweite Entwicklungsphase, diejenige der Jahre „1876 —1882"36, mit Niederschrift der „Fröhlichen Wissenschaft" zum Abschluß gekommen sei. Deren Leitidee übrigens sei „Bild und Ideal des Freigeistes" gewesen — eine wesentlich aussagekräftigere Etikettierung denn die als „wissenschaftsfreundliche Phase", wie sie leider weit verbreitet ist 37 . „Erst hat man Noth, sich von seinen Ketten zu emancipiren", so beschreibt Nietzsche die programmatische Wendung vom „gebundenen" zum „freien" Geist, „und schließlich muß man sich noch von dieser Emancipation emancipiren!" 38 Die hier angesprochene freiwillige Rück-„Bindung" an seine erste Entwicklungsphase — auf höherer Ebene selbstverständlich — ist es, die jene drei Perioden zu einem organischen Entwicklungsprozeß zusammenfügt; 39 und aus derartigem Blickwinkel betrachtet, ständen Werkeinheit und -dreiheit 34
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Eine der zahlreichen Legenden um Nietzsches Person und Wirkung, deren berühmteste — aber erst ab 1900 „belegt"! — diejenige des Ausbruchs von Nietzsches Wahnsinn ist. Vgl. dazu 13/350 und den interessanten Hinweis A. Verrecchias auf das literarische Vorbild: Dostojewskijs „Schuld und Sühne" (Zarathustras Ende, S. 76) 27./28. 6. 1882, KGB 6/213; 3. 7. 1882, KGB 6/217. Auch gegenüber Overbeck äußert er brieflich seine Überzeugung, er habe mit dem vierten Buch der „Fröhlichen Wissenschaft" „einen Wendekreis überschritten" (9. 9. 1882, KGB 6/255): Und in der Tat, nicht erst mit dem „Zarathustra" beginnt ein dritter Schaffensabschnitt, sondern bereits mit jenem „Sanctus Januarius", der sich von früheren Büchern der „Fröhlichen Wissenschaft" stilistisch und inhaltlich deutlich abhebt! Tatsächlich gibt bereits Nietzsche selbst diese Daten exakt an (im ersten der an Lou AndreasSalomé gerichteten Briefe). Zur ausführlichen Widerlegung jenes gängigen Klischees s. Kap. II.l. August 1882 an Lou Andreas-Salomé, KGB 6/247 f.; vgl. 4/29 ff. Genaueres s. Kap. II.l.
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Das Problem des Widerspruchs bei Nietzsche
allenfalls im formalen Widerspruch, wie es P. Gast andeutet: „Nietzsches Tenden^ bleibt [...] durch alle drei Perioden dieselbe." 40 Das oben angesprochene Scheitern einer rein biographistisch-diachronen Werkinterpretation verschiebt
d) die Kardinalisierung der Widersprüche von der Ebene der Sekundärliteratur zurück in den Text. Anstatt sich aus dessen „Ungereimtheiten" doch noch mühsam einen Reim machen zu wollen, faßt sie die verwirrende Oberflächenstruktur von Nietzsches Werk als getreues Abbild seiner zutiefst innewohnenden Inkonsequenzen. Indem diese in der Philosophie dominierende Interpretationsmethode die Unauflöslichkeit von Diskrepanzen im Denken Nietzsches betont — also K. Löwith z. B. derjenigen zwischen den Lehren vom Übermenschen und vom Willen zur Macht 41 , E. Fink zwischen letzterer und der „Ewigen Wiederkehr" 42 , W. Müller-Lauter zwischen vermeintlich %wei Typen des Übermenschen 43 —, indem diese und andere Interpreten Nietzsches Aphoristik nicht allein ins System zu bringen, sondern dessen fundamentalen Widerspruch gleich mit aufzudecken suchen, erwecken sie Mißtrauen spätestens insofern, als nicht etwa Konsens bestünde in der Konstatierung welchen Denkfehlers auch immer, sondern die verschiedenen Interpreten die verschiedensten Antinomien ansetzen: und damit gleichzeitig allen anderen — nämlich sowohl Nietzsche-Forschern wie insbesondere deren Widerspruchsmodellen — widersprechen. Widerspruchsmodellen also, die im einzelnen viel beigetragen haben zum Verständnis Nietzsches, im speziellen aber auch von des seh Aphorismus: „Die sogenannten Paradoxien des Autors, an welchen ein Leser Anstoss nimmt, stehen häufig gar nicht im Buche des Autors, sondern im Kopfe des Lesers." (2/163) Und genau an jenem Punkt wiederum nimmt die philologische Interpretationsrichtung Anstoß, vertreten durch W. Kaufmann, der die Vereinbarkeit von „Willen zur Macht", „Ewiger Wiederkehr" und Übermensch schlichtweg dekretiert 44 , aber auch ein Teil der philosophischen: z. B. E. Biser, der in der 40
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Vorbemerkung zum „Zarathustra", S. 1. Freilich entwirft P. Gast einige Seiten später ein vom herkömmlichen ( = inzwischen kanonisierten) Dreiphasenmodell abweichendes System (S. 6). Nietzsches Philosophie von der Ewigen Wiederkunft des Gleichen. Nietzsches Philosophie. Stuttgart 4 1979; A. Verrecchia meint, (neben vielen anderen insbesondere) einen Widerspruch zwischen Übermensch und Ewiger Wiederkehr konstatieren zu müssen (Zarathustras Ende, S. 132). Nietzsche (vor allem im siebten Kapitel). — Widerlegt zuletzt durch R. Low, Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 63 Nietzsche, S. XV und 359
Die acht verschiedenen Möglichkeiten, Nietzsche zu lesen
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Idee vom „großen Mittag" „die Zusammenfassung dessen [sieht] [...], was in der Vorstellung vom Übermenschen und der ewigen Wiederkehr zunächst in ganz unterschiedliche Perspektiven auseinanderbrach" 45 —, der also nicht etwa nur einen neuen Akzent betont im Spannungsfeld von Nietzsches Denken, sondern dessen mehr als symbolischen Zusammenhalt. Eine spezielle Variante, die nicht bloß einen fundamentalen Widerspruch aufzuweisen sucht, sondern das Prinzip des Widerspruchs selbst als fundamental ansetzt 46 , bleibt nachzutragen. Sie nämlich nimmt Nietzsches nunmehr methodisch begründete Widersprüchlichkeit 47 gar nicht als zu kritisierende, gar zu beseitigende, sondern im Gegenteil: deutet sie als Zeichen der Zeit, als „schicksalhaften Ausdruck einer Spätsituation", wie es M. Landmann beispielhaft versucht 48 . Widersprüchlichkeit wird damit anstelle des negativen mit einem positiven Vorzeichen versehen, wird zur historisch bedingten Zerrissenheit 49 deklariert und als solche zum Signal einer in Nietzsche beginnenden Moderne. — Ich bin jedoch der Meinung, das ist nur „eines jener schlagenden Argumente, das den schlägt, der es anwendet" (12/134); gerade andersherum, so glaube ich, würde die Denkfigur erst fruchtbar: Weil sich „Friedrich, der Unzeitgemäße", wie er sich in einer Bildunterschrift einmal nennt, seiner Zeit so radikal zu entziehen suchte — was ihm natürlich allenfalls bedingt gelang, nämlich als bloße Negation derselben —, also weil er nicht seine Zeit nur passiv widerspiegelte, konnte er Ansätze zu einer neuen liefern, nämlich der Moderne. Das soll in späteren Teilen der Arbeit durch einen Vergleich seiner literarischen Wertungen mit denen des ausgehenden 19. Jahrhunderts ja gerade belegt werden. Nichts weniger als einen vollendeten Circulus vitiosus beschreibt man demgegenüber, wenn man glaubt, die beginnende Moderne könne zu gleicher Zeit schon dagewesen sein, nämlich als Summe all dessen, was sich in Nietzsches Werk abzeichne, und auch wieder nicht, indem sie sich letztlich erst von ihm ableite (und einigen wenigen anderen). Nietzsche selbst polemisiert ja des öfteren gegen den „Aberglauben", daß jede herausragende Erscheinung einer Epoche immer auch „Ausdruck dieser Zeit wäre" (13/468); im Falle einer Rezension von „Jenseits von Gut und Böse", die „das Buch als Zeichen der Zeit" verstanden wissen will, mokiert er sich gar ausdrücklich über deren Verfasser (13/544).
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Die Reise und die Ruhe, S. 111; vgl. S. 117 So bereits in Ansätzen bei F. Kaulbach: Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, z. B. S. 74 aufgrund dessen sie ihn deklariert als Geist, der alles und jedes verneint (natürlich auch seine eigenen — früheren — Thesen), stets das Wahre will, und doch nur das Moderne schafft zit. nach W. Müller-Lauter, Nietzsche, S. 8 freilich einer ganz anders gearteten als z. B. derjenigen Heines
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Das Problem des Widerspruchs bei Nietzsche
Andrerseits ist ihm „.der Begriff .Urheber'" — und als Urheber einiger „literarischer Renaissancen" kann man Nietzsche unter Verwendung eines Ausdrucks von P. Böckmann 50 wohl bezeichnen — ist ihm jener Begriff „so vieldeutig, daß er selbst die bloße Gelegenheits-Ursache für eine Bewegung bedeuten kann: man hat die Gestalt des Gründers in dem Maaße vergrößert, als die Kirche wuchs" (13/469). In unserem Fall: Man hat die Vorreiterrolle Nietzsches hinsichtlich literarischer Umwertungen in dem Maße akzentuiert, als eben diese Umwertungen sich im allgemeinen (philologischen) Bewußtsein etablierten ... Und schließlich, um zum Problem des Widerspruchs bei Nietzsche zurückzukehren: Was wäre mit einer Ausweitung der Widersprüchlichkeit auf einen textexternen Rahmen viel gewonnen? Ich habe den Eindruck, daß eine textimmanente Interpretation den konkreten, also interessanten Fragestellungen ganz einfach näher kommt; O. Marquards schöne Polemik gegen die Semiotik zugunsten der Hermeneutik läßt sich — rein formal — auch auf die meine gegen eine sozialgeschichtliche Literaturgeschichtsschreibung übertragen. Marquards Bergsteigerbild 51 modifiziert sich dann wie folgt: Während die Textanalyse ihr Basislager der Vorverständnisse — dank der Geschichte, die es dorthin transportierte — immer schon knapp unter der Kammhöhe der konkreten Verständnisprobleme hat, muß die sozialgeschichtliche Wissenschaft ständig in der Tiefebene der Täler am Fuß der Problemberge auf Null [...] anfangen; sie [...] legt dann zwar [...] unentwegt jene Strecken zurück, auf denen man viele Apparate, Sherpas und wissenschaftliche Hilfskräfte braucht; aber die Frage ist allemal, ob sie wirklich und häufig auf jene Problemhänge hinaufkommt, auf denen die Textanalytiker stets fast sofort [...] unterwegs sind: in kleinen Seilschaften oder allein.
Ich übergehe hier
e) die perspektivistische Methode — ihr soll ein längerer Abschnitt gewidmet sein 52 — und komme zum
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s. dessen gleichnamigen Essay Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in: Abschied vom Prinzipiellen, S. 137 f. s. Kap. 1.3.
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f) ästhetisierenden Ansatz, der Nietzsche vornehmlich als Künstler versteht, allerdings auf Kosten des Denkers. Interpreten dieser Richtung, z. B. G. Benn 53 , betrachten ihn als Stilisten, dessen dominierendes Interesse an der Form bisweilen bzw. häufig auf Kosten des Inhalts sich auslebe, eventuell dabei riskierte Widersprüche seien nicht weiter von Interesse. Selbstverständlich läßt sich eine derartige Verkürzung Nietzsches zum Sprachspieler, die auf eine geradezu wohlwollende Diskreditierung seiner Philosophie hinausläuft — J. Hermand behauptet z. B. in bester Absicht, Nietzsche lasse sich „oft zu Gewagtheiten hinreißen [...], die er inhaltlich gar nicht teilte" 54 , ja daß „alles, was er sagt, nur Augenblickserkenntnis" sei 55 —, selbstverständlich läßt sich sogar eine solche Reduktion Nietzsches zum Artisten mit ihm selbst belegen: M a n ist u m den Preis Künstler, daß man das, w a s alle Nichtkünstler ,Form' nennen, als Inhalt, als ,die Sache selbst' empfindet [...], — unser Leben eingerechnet. (13/9 f.)
Bedenklich indessen stimmen die zahlreichen anderen Stellen, die gerade den Aspekt eines unlöslichen Miteinanders von Form und Inhalt betonen — „Den Stil verbessern — das heisst den Gedanken verbessern, und gar Nichts weiter!" (2/610) —, und der oben zitierte Aphorismus unterstreicht ja auch das künstlerische Forminteresse ausschließlich gegenüber einer hauptsächlich inhaltsorientierten Rezipientenhaltung. Dagegen und nur dagegen will der Künstler Nietzsche sich absetzen — ein vorweggenommenes Beispiel seines „adressierten Schreibstils"! 56 —, der Künstler Nietzsche wohlgemerkt, der nicht schon für den ganzen Nietzsche genommen werden darf. Dieser hat sich, wie bekannt, mindestens ebenso häufig auch als Psychologe, Philosoph, freier Geist, ja selbst als Wissenschaftler bezeichnet, „und der Gedanke, zuletzt gar unter die Schriftsteller gerechnet zu werden! gehört zu den Dingen bei denen es mich schüttelt." 57 Als positiv festzuhalten bleibt von jener Methode, daß sie die Notwendigkeit betont, Nietzsches Texte als bloße Oberfläche zu verstehen, deren scheinbar so leicht und schnell zu konsumierende Inhalte bereits bei Berücksichti53
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Nietzsche — nach fünfzig Jahren (in: Gesammelte Werke, S. 482—493); auch die „Abrechnung" A. Verrecchias läßt Nietzsche nur noch als „großen Meister des Stils" gelten (Zarathustras Ende, S. 13), um dann selbst diesen — mit Tolstois Worten — als „koketten Feuilletonisten" zu enttarnen (a. a. O., S. 119; vgl. S. 94f.). in: Friedrich Nietzsche, Gedichte, S. 136 ebd. S. 137 s. Kap. II.2. November 1883 an E. Nietzsche, K G B 6/451
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Das Problem des Widerspruchs bei Nietzsche
gung der weitgehend metaphorischen Darstellungsweise 58 eine abgründige Tiefe gewinnen: „Wenn man bei seinen spruchhaften Gebilden jeden Ausdruck wörtlich nehmen würde, hätte man Nietzsche nur zur Hälfte verstanden", resümiert der eben kritisierte J. Hermand 59 , und hier ist ihm voll beizupflichten. Somit wären die sechs traditionellen Möglichkeiten, das Problem des Widerspruchs zu bewältigen, wenigstens genannt. R. Low führt noch zwei weitere an, deren erste, „systemkonstitutive", die er in der „Frage Wozu" vertritt 60 , von seiner drei Jahre später erschienenen Habilitationsschrift wieder verworfen wird 61 . Es bleibt die dort vorgestellte, die sophistische, die nun in einem eigenen Abschnitt untersucht werden soll.
2. Nietzsche, Sophist oder
Erzieher?
Löws Standpunkt, als Ausgangspunkt seines mehrfach bereits angesprochenen Werkes „Nietzsche. Sophist und Erzieher" (1984) gewählt, im übrigen aber schon 1982 vertreten in seinem Vortrag „Zur Kritik des objektiven Mechanismus: Nietzsche und Hegel" 62 — Low ist mit diesem Standpunkt vergleichbar demjenigen, der sich nicht damit begnügt, den Stier bei den Hörnern zu packen, sondern den Spieß außerdem erst einmal herumdreht, mit dem er den Braten dann auf überraschende Weise wendet: Mit herkömmlichen Aufspießtechniken sei das Problem des Widerspruchs nämlich gar nicht zu lösen, denn Nietzsche sei ja kein Philosoph, sondern lediglich Erzieher wie einst die Sophisten im vorsokratischen Griechenland —, und für jene ebenso wie für ihn gelte der Satz vom Widerspruch schließlich nicht 63 . Im Gegenteil: Gerade Widersprüchlichkeiten seien als bewußt gehandhabtes pädagogisches Prinzip zu begreifen, nämlich als eines konsequenter Indirektheit, und, so verstanden, keinesfalls dem Kommunikator anzulasten. Im übrigen setze sich das vorrangig praktische Wirkungsinteresse eines Sophisten souverän hinweg über die Notwendigkeit konsistenter Theoriebildung, deren fallweise Ansätze 58 55 60
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s. Kap. II.2. a. a. O., S. 136 f. Spaemann/Löw; Die Frage Wozu, S. 194—211, z. B. S. 207; Low versucht hier, Nietzsches „System" als ein solches „des Irrtums" darzustellen. als letztendlich nicht konsequent rekonstruierbar (Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 3) insbesondere auf S. 33 Eigenartigerweise macht Low an einer Stelle seiner Ausführungen die anschließende Einschränkung: „ ,Für ihn': das heißt aber nicht, daß der Satz des Widerspruchs nicht für seine Logik, für sein Denken gälte." (a. a. O., S. 105) — Sollte das etwa dahingehend zu verstehen sein, daß sich das gesamte Werk Nietzsches — verstanden als sein verschriftlichtes Denken — doch nach jenem Satz des Widerspruchs richte?
Nietzsche, Sophist oder Erzieher?
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und Bruchstücke als Begründung eines entsprechend fallorientierten Handelns völlig ausreichten; wer hieraus einen Gesamtrahmen sophistischen Denkens rekonstruieren wolle, müsse zwangsläufig genauso scheitern wie derjenige, der aus den Äußerungen eines Vortragsredners dessen wirkliche Meinung abzuleiten suche. — Damit aber wird jeder Widerspruch zum gewollten und seiner für den Exegeten beunruhigenden Dimension enthoben —, allerdings auf Kosten Nietzsches, der nunmehr zum bloßen Widersprechenden reduziert erscheint64, und zwar zu einem solchen, der prinzipiell allem und jedem widerspräche, wenn es der je konkret-praktischen Überredungsstrategie zunutze käme: einschließlich dem früher selbst vertretenen Standpunkt. Seine Philosopheme, solcherart enttarnt, erhalten zunächst — bei Low, der sie als Gänsefüßchen-Philosophie65 summarisch abtut — das Recht auf Narrenfreiheit, in einem zweiten Schritt — bei Löws Rezensent A. v. Schirnding — das Todesurteil, die vernichtende Zusammenfassung unter dem Schlagwort „AntiPhilosophie"66. Nun, das ist eine recht bedrängende, weil endgültige Abrechnung mit Nietzsche —, endgültig insofern, als sie jede weitere Auseinandersetzung mit dessen Denken an den Rand der Lächerlichkeit drängt: Wäre es doch pure Zeitverschwendung, seine Meinungen weiterhin zu durchforschen auf der Suche nach der endgültig verlorenen Meinung — in meinem Fall nach einer durchgängigen Wertungs- und Umwertungstendenz —, denn diese gibt es und gab es ja nie. Die einzige Möglichkeit, einer derartigen Lächerlichkeit zu entgehen, „scheint darin zu bestehen, daß man den Versuch [des Suchens] nicht [mehr] macht — also die Frage, was Nietzsche .wirklich' gemeint hat, als eine unangemessene Frage herausstellt" (R. Low 67 ), sprich: seine bemerkenswerten Äußerungen über Goethe, Schiller, Stifter etc. allenfalls noch bemerkt —, also als Anregung nimmt zum Selberdenken. Die vorhin aufgeworfene Frage, ob Goethe der größte Lyriker sei oder Heine oder womöglich ein Dritter, beantwortet sich damit von selbst —, nämlich bei jedem Lesen derselben und in jedem Leser aufs neue.
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Gewissermaßen auf die erste Hälfte seiner Aussage: „Ich widerspreche, wie nie widersprochen worden ist und bin trotzdem der Gegensatz eines neinsagenden Geistes" (6/366, vgl. 13/ 640), denn um bloße Radikalisierung des Widerspruchs ist es Nietzsche nie gegangen, vielmehr um die teleologische Einbettung desselben in eine übergreifende Bejahungstendenz (s. u.)! a. a. O., S. 4, 197; bei A. Verrecchia, der ebenfalls abstreitet, daß Nietzsche „im strengen Sinne des Wortes Philosoph war" (Zarathustras Ende, S. 11), gelten sie bereits als krankhaft (ebd.). Blick zurück in die Zukunftsphilosophie. — Mit demselben, wenn nicht mit mehr Recht, ließe sich allerdings Schirndings Artikel seinerseits als exemplarische „Anti-Rezension" abtun. Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 121
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Das Problem des Widerspruchs bei Nietzsche
Nietzsche als bloßer „Wiedererwecker der Sophistik"68, seine Philosophie als bloße Selbstaufhebung derselben69 —, das erschien als Ausgangsbasis vorliegender Untersuchung nicht tragfahig. Unzweifelhaft, „Nietzsche hat viele Gesichter", wie H. E. Gerber feststellt 70 , jene aber als Masken eines Januskopfes zu interpretieren, der im Grunde zu jeder Sache (nur) zwei entgegengesetzte Logoi vorträgt 71 , mutet fast ebenso willkürlich an, wie W. Gehringers Aufspaltung von dessen gesamter Person in „Zwei Nietzsches, die Sonne betrachtend"72. — Wie, wenn solch Interpretation Nietzsches als Sophist selbst nur sophistisch wäre? Und Low darin, dem Vorbild Heideggers wie insbesondere auch der dritten und vierten „Unzeitgemässen Betrachtung" folgend 73 , sein bestes Buch über sich selbst geschrieben habe: „Low. Sophist und Erzieher"? Eine derartige Unterstellung ist natürlich zunächst einmal nicht mehr als ein bloßer Appell an Evidenz, trägt den Charakter einer außerwissenschaft68 69 70 71
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a. a. O., S. 4, vgl. S. 32 R. Low, Zur Kritik des objektiven Mechanismus: Nietzsche und Hegel, S. 33 Nietzsche und Goethe, S. 121 Manche Belegstellen jener These erscheinen im übrigen recht einseitig interpretiert, z. B. Nietzsches Aphorismus „Zweimal sagen" (2/548; bei Low, Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 200, Anm. 16): Eine Wahrheit, die auf zwei Füßen geht, ist immerhin noch eine Wahrheit; deren zwei Füße deuten nicht unbedingt auf einen widersprüchlichen Charakter! Zwei Nietzsches, die Sonne betrachtend Treibend in trächtiger goldener Schale, Gleichmut des Glückes, nach Osten zurück, schlafend auf glitzerndem Rücken Okeanos', kehrt sie in nächtlichem Schweigen. Schon ankernd in bergspitzend Ferne, Als Zentrum zu zäumen den Tag, Aufpeitschend Weltrad Einmaligkeit: Ewige Wiederkehr des Gleichen. Radschlagend Anfang des Anfangs im Traum, Nachtschatten, Würfelwurf wagend, die Lichtpflanze keimend zu setzen zum Ziel, reift sie in glimmernder Stille, Entsargend lichtlosen Flügel der Zeit, Rotflimmernd tanzend am Abgrund Zwischenfrage im Morgenstrahl: Dieser Blitz aber heißt Übermensch. Bereits herbeigerollt der Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; jedoch noch immer blinzelt einer der Hoffnung nachtbrechenden Hahnrufs hinterher. Bei aller Vorsicht, die bei der Betrachtung gerade derartiger Texte angebracht ist, muß doch immerhin die formal gleichwertig gestaltete Thematisierung von Ewiger Wiederkehr und Übermensch auffallen — als verkörperten jene zwei Lehren auch „zwei Nietzsches" —, deren (scheinbare?) Antithetik jedoch im Bild des (wohl: großen) Mittags aufgehoben wird: vergleichbar den theoretischen Darlegungen E. Bisers (Die Reise und die Ruhe, S. 111)! vgl. 6/314, 317
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liehen Vorentscheidung, die erst im nachhinein — dann allerdings mit wissenschaftlichen Mitteln — plausibel gemacht werden kann. Im übrigen entspricht solch zweistufiger Meinungsbildungsprozeß ganz dem Ablauf, in dem sich alle Wertungen Nietzsches vollziehen — man erinnere sich seiner Frage, ob man Goethe nicht als den größten empfinde oder empfinden wolle —, und immer erst das Wollen der Empfindung versucht, diese, die Primärempfindung, rückwirkend zu begründen. Daß jene Aufarbeitung von instinktiven Geschmacksurteilen für den Leser der interessantere der beiden Teile ist, insofern sich hier subjektive Physiologie in scheinbar objektive Urteile verwandelt, das ist in Nietzsches Augen natürlich kein Grund, sich von vornherein um Gründe wie Gegengründe zu scheren. Im Gegenteil: Ausgehend von einem prinzipiellen Mißtrauen gegen jede Form von Wissenschaft und „Rationalität" wie gegen Gründe im besonderen 74 , weiß er nur zu gut, daß „derselbe Text [ebenso wie jede einzelne literarische Wertung] unzählige Auslegungen [erlaubt]: es giebt keine ,richtige' Auslegung" (12/39), da sie wesensmäßig nie mehr als „Auslegung des Leibes" (3/348) sein kann, bezeichne man sie auch als Ästhetik oder Ethik, als Philologie oder Philosophie. Das trifft natürlich auf seine eigenen Interpretationen ebenso zu wie auf R. Löws oder meine Deutung derselben; trotzdem muß man bereits hier eine der beiden Alternativen wählen, und viel spricht dafür, daß man Löws These den Vorzug gibt. Daß ich mich trotzdem anders entschied, will ich im folgenden begründen — „begründen"! —, indem ich die griechische Sophistik schrittweise gegen Nietzsche abzuheben suche. Leider ist bereits die antike Vorstellung vom Sophisten nicht ganz eindeutig 75 , von der heutigen ganz zu schweigen. So werden beispielsweise selbst Homer und Orpheus als verkappte Sophisten bezeichnet — von Protagoras, der ja schließlich wissen mußte, wovon er sprach76. Sogar Piaton rechnet man bisweilen unter diesen Sammelbegriff, und zwar nicht erst sein später Kritiker Nietzsche77, sondern bereits sein Zeitgenosse Lysias 78 — und das, obwohl er die Figur des Sokrates in einigen Reden als erbitterten Gegner 74 75
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2. 12. 1878 an G. Brandes, K G B 8/206 vgl. die Vielschichtigkeit des Terminus bereits bei Piaton (Der Sophist, 2/686), der diese Bezeichnung den eigentlichen Sophisten sogar ab- und dem Hades zuspricht, letzteres allerdings in ironischer Absicht. (Kratylos, 1/569) Piaton, Protagoras, 1/67. W. Jaegers „Paideia" betont entsprechend, daß die antike Sophistik „an die erzieherische Tradition der Dichter" anknüpft. (1/375) s. dazu R. Low, Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 192 W. Capelle, Die Vorsokratiker, S. 321. Formal stimmt das übrigens, denn Piaton übernahm schließlich die durch ihn berühmt gewordene Form des philosophischen Dialogs von Protagoras. (ebd. S. 326)
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Das Problem des Widerspruchs bei Nietzsche
derselben auftreten läßt. Beispielsweise im D i a l o g „ D e r S o p h i s t " —, w o er deren B e t ä t i g u n g e n z u s a m m e n f a s s e n d charakterisiert als Nachahmerei in der 2um Widerspruch bringenden Kunst des verstellerischen Teiles des Dünkels, welche in der trügerischen Art von der bildnerischen Kunst [...] als die [...] tausendkünstlerische Seite der Hervorbringung in Reden abgesondert ist. 79 D u r c h solche u n d ähnliche P o l e m i k e n , nicht n u r in den D i a l o g e n „ P r o t a g o r a s " u n d „ G o r g i a s " , ist Piaton sicherlich einer der H a u p t v e r u r s a c h e r des n e g a t i v e n B e i g e s c h m a c k s g e w o r d e n , den das Wort „ S o p h i s t " gleichermaßen in der A n t i k e 8 0 w i e — trotz N i e t z s c h e s 8 1 u n d R . L ö w s 8 2 U m w e r t u n g e n — in der M o d e r n e 8 3 erregt. D a s m a g eine historisch b e d i n g t e U n g e r e c h t i g k e i t sein 8 4 — zumindest z. T., denn auf G o r g i a s träfe ein solches K l i s c h e e des Sophisten als reinen R h e t o r i k e r s w o h l eher zu —, bedenklich bleibt die E t i k e t t i e r u n g eines P h i l o s o p h e n unserer Z e i t mit einem derart v o r g e p r ä g t e n S c h l a g w o r t allemal: u n d z w a r nicht allein, w e i l jenes pejorativ, sondern s c h o n deshalb, w e i l es p o l y m o r p h ist. D o c h z w i s c h e n einem angeblichen „ N e o s o p h i s t e n " N i e t z s c h e 8 5 u n d antiken V o r l ä u f e r n g i b t es selbstverständlich auch Unterschiede in der Sache 8 6 ,
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Sämtliche Werke, 2/740 Schon Xenophon bezeugt, daß „Sophist" als Schimpfwort gilt, und Aristoteles bezeichnet die Sophistik lapidar als „Scheinwissenschaft" (W. Capelle, Die Vorsokratiker, S. 323). Die „Sophisten-Cultur" als „Realisten-Cultur" gilt ihm ja — im Gegensatz zur herrschenden Meinung — als eine „unschätzbare Bewegung inmitten des [...] Moral- und Ideal-Schwindels der sokratischen Schulen." (13/625, ähnlich 13/331 f.) Schon auf S. 4 seiner Abhandlung betont R. Low: „Nietzsche als Wiedererwecker der Sophistik zu interpretieren, hatte in keiner Hinsicht abwertenden Charakter." s. H. J. Störing, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, 1/145. Auch Cosima Wagners Etikettierung von „Menschliches, Allzumenschliches" als „Sophistik" ist natürlich abschätzig gemeint, (zit. nach C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, 1/830) — eine Ungerechtigkeit, der in der neueren Forschung auch entgegengearbeitet wird: z. B. in T. Buchheims Dissertation „Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens." R. Low, Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 55 ebenso selbstverständlich, wie es Gemeinsamkeiten gibt: 1. das vorrangig praktische Interesse, wie es R. Low ja auch betont, als den Nutzenansatz des Denkens gegenüber selbstzweckhafter Theorie (W. Capelle, Die Vorsokratiker, S. 318), 2. die evidente Umwertungsitndtnz hin zu Individualismus und „Herrenmoral" (W. Capelle, a. a. O., S. 320), 3. die Relativierung der Wahrheit zu Wahrheiten — „der [je einzelne] Mensch sei der Maßstab aller Dinge" — (Protagoras, in: Piaton, Theaitetos, 2/576) — und damit verknüpft eine Sprach- und Erkenntniskritik, die erstaunliche Parallelen zwischen Nietzsches „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" und des Gorgias Schrift „Vom Nichtseienden" ziehen ließen (insbesondere zu deren These: „Wir teilen also unseren Mitmenschen nicht die Dinge mit, sondern Worte, die von den Dingen [selber] gan% verschieden sind", zit. nach W. Capelle, a. a. O., S. 350). In zumindest diesen drei Punkten, so meine ich, ist Nietzsches Denkweise derjenigen der Sophisten ähnlich — ohne sich damit freilich prinzipiell mit ihr zu decken.
Nietzsche, Sophist oder Erzieher?
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die im Rahmen vorliegender Arbeit 2war nicht vollständig herausgearbeitet werden können 87 , deren wichtigste aber bereits den ganzen Vergleich fragwürdig machen 88 :
a) „Mein ehrliches Gesicht" 89 „Angesichts des existentiellen Engagements, mit welchem [nicht nur in den Augen E. Bisers] Nietzsche sein Lebenswerk betreibt" 90 , erscheint es schlichtweg ungerecht, ihn als bloßen Ideenhändler abzuwerten, als welcher der Sophist ja eingangs charakterisiert wurde. Eine solche Abqualifizierung, wie sie ähnlich übrigens bereits Tolstoi vornimmt 91 , übersieht meines Erachtens Nietzsches „extreme Lauterkeit" und „rücksichtslose Aufrichtigkeit" 92 , seine „Instinkt und Leidenschaft gewordene" (6/208) Redlichkeit „in geistigen Dingen bis zur Härte" (6/167), oft von ihm betont als oberste (6/367), ja eigentliche (5/162) Tugend des freien Geistes —, „übersieht" sein leidenschaftliches Streben also nach „gnadenloser Wahrhaftigkeit", wie es C. P. Janz geradezu als „Kern seiner Persönlichkeit" definiert 93 . Eine „Rechtschaffenheit" übrigens, wie sie Nietzsche als „freien Blick vor der Realität", als „vorsichtige Hand f...], Geduld und [...] Ernst im Kleinsten" (6/248), als „Sinn für Reinlichkeit" (2/498), Selbstbescheidung 94 und Strenge gegenüber gefühlsmäßigen Prädispositionen im eigenen Urteil (6/230) spezifiziert. Ausdrücklich festzuhalten ist bereits hier, daß die programmatische Ehrlichkeit auch seine philologischen Urteile umfaßt: „Gegen ein Buch [...] lässt man sich gehen, wenn man sich auch noch so sehr gegen Menschen zurückhält" (2/439) —, ein vorweggenommener Hinweis gleichzeitig auf die nicht bloß
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R. L o w seinerseits betont z. B. den Unterschied hinsichtlich der jeweiligen Auffassung von Sprache und Sprechen. (Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 47, 80, 82) Einige der folgenden Ausführungen sind den Hinweisen T. Buchheims zu danken. Nietzsche an P. Rèe, Juni 1877, K G B 5/247 E. Biser, „Gott ist tot", S. 80 Von ihm ist der Ausspruch überliefert: „Er [Nietzsche] ist doch gar kein Philosoph und hat gar nicht den ehrlichen Willen, die Wahrheit zu suchen und auszusprechen." (in: A . Verrecchia, Zarathustras Ende, S. 1 1 9 ) 12. 5. 1887 an M. v. Meysenbug, K G B 8/69 bzw. 70; vgl. 20. 1. 1883 an F. Overbeck, K G B 6/319: eine Aufrichtigkeit, die bereits der junge Nietzsche an Schopenhauer bewundert und die in der Maxime gipfelt: „Betrüge niemanden, nicht einmal dich selbst!" (1 /346) Nietzsche, 1/153; s. auch R. Bluncks ursprünglich für diese Biographie geplantes V o r w o r t (in C. P. Janz, a . a . O . , 1/19) — Jenes Ideal programmatischer Aufrichtigkeit findet sich überraschender(?)weise bei E. Blass wieder: in der Vorrede zu seiner Gedichtsammlung „Die Straßen komme ich entlanggeweht" (S. 9 ff.). 6/234, vgl. 238
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Das Problem des Widerspruchs bei Nietzsche
für Nietzsches Leseverhalten so bedeutsame „Theorie-Praxis-Schere". 95 — Erhandelt hat sich der angebliche Neosophist mit jener „bisher höchsterreichten Form der .intellektuellen Rechtschaffenheit' " 9 6 lediglich ein erbärmliches Leben in Einsamkeit und Armut, in dessen Verlauf er seine Ideen so gut wie nicht verkaufen konnte, ja im Gegenteil: in jeder Hinsicht teuer für sie bezahlen mußte —, schließlich sogar, um die Metapher konkret werden zu lassen, die Druckkosten für seine letzten Werke. Im verzweifelten Versuch, „trotz allem und allem" ein Publikum zu gewinnen für seine Ideen, konnte er es am allerwenigsten sich erlauben, damit (im sophistischen Sinne) zu „handeln", sprich: es auch noch abzuschrecken durch methodischen Selbstwiderspruch. Nietzsche wollte gehört, wollte endlich verstanden werden, und nicht allein das, er wollte selbst „für Jahrtausende Recht behalten" 97 : Schon deshalb trägt er seine An- und Absichten „so unzweideutig wie nur möglich" vor (W. Kaufmann 98 ). Das aber wäre für den echten Sophisten, der stets mehr überreden als überzeugen will, geradezu abwegig, beinhaltet sein „Ethos" ja insbesondere auch bewußte Täuschung als eines der Mittel zum Zweck. Und einer der Zwecke wiederum, ganz nebenbei, bestand in der Anhäufung eines teilweise sagenhaften Reichtums... Wenn W. Ross nun im Vorwort seiner Nietzsche-Biographie den soeben geschilderten Tatbestand mit folgenden Worten zu umreißen versucht: „Nietzsche entschied sich gegen den Wahrheitsanspruch jedweder Lehre, sogar seiner eigenen. Dafür ersehnte er Wirkung" 9 9 , so ist das eine nicht ganz unbedenkliche Verkürzung des Sachverhalts. Das „Pathos des WahrheitSuchens" (im Gegensatz zu demjenigen, „dass man die Wahrheit habe", 2/ 359), darf meines Erachtens keinesfalls so verstanden werden, als würde es hinter einem (zweifelsohne vorhandenen) Wirkungsanspruch zurücktreten, gar von vornherein, sondern allenfalls so, daß es Hand in Hand mit ihm geht. Im übrigen beansprucht Nietzsche zwar nicht, die absolute Wahrheit zu verkünden, wohl aber relative Wahrheiten (im Sinne von „unwiderlegbaren Irrthümern" 100 ; darin ist er dann allerdings „durchaus nicht,liberal'" (3/629), dem „erkenntnistheoretischen .Relativismus'", wie ihn laut W. Jaeger die
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s. Kap. H.4.; spätere Ausführungen über die erzieherische Lüge (Kap. II.6.) beziehen sich stets ausschließlich auf die Oberflächenstruktur seiner allzu verletzlichen Ehrlichkeit. 29. 7. 1888 an C. Fuchs, K G B 8/375 20. 9. 1886 an P. Deussen, K G B 7/252 Nietzsche, S. 17 Der ängstliche Adler, S. 7 3/518; s. dazu R. Bittners geistvolle Einwände gegen Nietzsches Wahrheitskritik, in der er das Streben nach Wahrheit sogar gegen dessen Polemik verteidigt. (Nietzsches Begriff der Wahrheit, S. 70 - 80) Ob Nietzsche freilich die Wahrheit - bzw. Wahrheiten - als bloße Geschmackssache vertritt (a. a. O., S. 89 f.), wage ich zu bezweifeln.
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Sophisten begründen101, eher feindlich denn verpflichtet.102 „Ich kann nicht anders"103 —, jener häufige Stoßseufzer aus Nietzsches Munde spricht durchaus für sein selbstbewußt reklamiertes „Privileg [...], die Wahrheit zu sagen" 104 , bezeugt er im selben Atemzug doch „das schreckliche Gefühl der Verantwortlichkeit"105, auf dem es beruhe. Wer diese selbstauferlegte „stellvertretende Verantwortlichkeit ,für viele'" (E. Biser106) aus dem Blickwinkel verliert, eine hypertrophische „Stärke des Gewissens" also, die ihn gerade aus Redlichkeit dazu zwingt, „sich auch in seinen Schriften beständig und fast in jedem Puñete zu widersprechen"107, der allerdings wird seine Werke nicht anders lesen können denn als wirkungsvoll inszenierte Oberfläche — ohne Tiefe. b) Unfreiwillige „Ewige Wiederkehr des Gleichen" Das im Vordergrund von Leben und Lehren stehende Wirkungsinteresse der Sophisten bedingt zwangsläufig eine weitgehende Abstinenz rein theoretischen Problemen gegenüber: Schließlich komme aufs Handeln es an, dazu brauche und könne man bekanntermaßen nicht alles, schon gar restlos, begründen, sondern finge eben irgendwo zu denken an und höre auch bald wieder auf. H. J. Störing nennt jene antiken Pädagogen denn auch „keine Philosophen im eigentlichen Sinne sondern Praktiker" 108 , deren Rhetorik sich — so W. Capelle — selbst auf Kosten der (etwaig philosophischen) Inhalte, ja geradezu als Selbstzweck entfalte109. Solch „totale" Sophistik, die völlig aufgeht in sprachartistischem Schein, wäre hinter ihrer glänzenden 101 102
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Paideia, 1/382 und S. 373 Der Perspektivierung aller Wahrheit ist der prinzipielle Anspruch, die Wahrheit zu sagen, ja stets vorgeordnet! — Daß hierin nicht etwa ein Widerspruch zu sehen sei, betont auch W. Müller-Lauter (Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, S. 49). z. B. in einem Brief an P. Rèe, Juli 1878, K G B 5/342; vgl. 13/640: „mein [Loos will], daß ich [...] rechtschaffener in die Fragen der Zeit hinunterblicken muß [als] je ein Mensch bisher" 10. 11. 1882 an H. Levi, K G B 6/275 29. 7. 1883 an I. Overbeck (Entwurf), K G B 6/411, vgl. 29. 8. 1883 an E. Nietzsche, ebd., S. 441, 25. 2. 1884 an H. Köselitz, ebd. S. 480 „Gott ist tot", S. 87 3/453: Dieser Satz ist, lt. „Ecce homo" wie alle entscheidenden Aussagen über Schopenhauer, mit mindestens demselben Recht auf seinen einstigen Jünger selbst anzuwenden. — Bezeichnenderweise hebt Nietzsche ausgerechnet eine derartige „Reinlichkeit" ( = Redlichkeit) an Heine hervor (9/326) — , an einen Schriftsteller also, den E Sengle mit den Worten charakterisiert, man könne eine Anthologie zusammenstellen, „in der auf der rechten Seite immer ungefähr das Gegenteil von dem stünde, was er auf der linken behauptet." (Biedermeierzeit, 3/544) Kleine Weltgeschichte der Philosophie, 1/144 Die Vorsokratiker, S. 325
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Fassade nichts weniger als nihilistisch 110 —, der Gegensatz könnte gar nicht krasser gedacht werden als zu Nietzsches bohrendem Umkreisen gewisser, z. T. sehr abstrakter Fragestellungen (etwa nach dem Verhältnis von Subjekt und Objekt, von Qualität und Quantität), könnte formal gar nicht deutlicher gemacht werden als durch sein aphoristisch beharrliches Einkreisen, das im spätesten Spätwerk zu einer verzweifelten Demonstration von „Ewiger Wiederkehr des Gleichen" zu werden droht. Nicht Zweck, sondern Mittel ist seine zugegebenermaßen z. T. schon als solche mit-, hin-, zu ihm hinüberreißende Rhetorik; dahinter ziehen sich freilich ganz feste gedankliche Linien durch sein Werk 111 — „aristokratischer Individualismus" 112 , Erschütterung religiöser und moralischer Normen, insbesondere derjenigen des Mitleids als einer Tugend, das Denken in polaren Strukturen 113 usw. —, Konstanten, die sich auch in seinen philologischen Umwertungen aufzeigen lassen werden 114 . Selbst R. Low räumt ein, daß „Nietzsches Angriffe auf das Falsche in Erziehung, Ethos, Praxis [...] alle Zeit eindeutig' sind 115 , daß sich zu seinen Gedanken zum Edlen, Vornehmen, Aristokratischen „nirgends und nie die Gegenthese finden läßt" 116 ; eine derartig zentrale „Inkonsequenz" aber innerhalb eines angeblichen „Systems" der Inkonsequenz und der Antinomie, also eine (zumindest partiell konzedierte) Konsequentwiderlegt die These systematischer Widersprüchlichkeit bereits. Der Eindruck einer „souveränen Sophistik Nietzsches" 117 , die bloß verwirren will 118 , kann meines Erachtens nur entstehen, wenn man dessen vielfältige Äußerungen zum perspektivischen „Experimentaldenken" — wie es die Vorrede zu „Menschliches, Allzumenschliches" (2/13 ff.) als Methode reklamiert und wie sie von F. Kaulbach auch überzeugend nachgezeichnet wird — schon für die Sache selbst nimmt und nicht, wie es mir richtiger erscheint, als eingebettet in einen teleologischen Gesamtzusammenhang seines
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vgl. W. Capelle, a. a. O., S. 344 so bereits K. Jaspers, Nietzsche, S. 19; Nietzsches Aphorismenbücher stellen denn auch auf formaler Ebene mehr als die Summe beliebig zusammengestellter Teile dar, nämlich „Organismenverbände". (W. Müller-Lauter im Rückgriff auf K. Schlechta, Ständige Herausforderung, S. 77 f.) in Abwandlung von G. Brandes' berühmter Präzisierung der philosophischen Tendenz Nietzsches als „aristokratischer Radikalismus" (in einem Brief vom 26. 11. 1887 an Nietzsche; z. B. in: A. Verrecchia, Zarathustras Ende, S. 47) s. Kap. II.3. und 4. konstante Polemik gegen „Volkskunst"; Kampf gegen (deutschen) Idealismus, insbesondere Schiller; Aufwertung Stifters gegenüber Wagner usw. Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 151 a. a. O., S. 9 a. a. O., S. 5 a. a. O., S. 11
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Denkens 119 : einen z. T. „unterirdischen" Zusammenhang, den Nietzsche nicht müde wird zu betonen —, sein „ruhiges Wachsen" 120 im Gegensatz zu einer als unmännlich und schwächlich empfundenen „Veränderlichkeit" 121 , die durchgehende u n b e w u ß t e u n g e w o l l t e [!] G e d a n k e n - C o n g r u e n z und - Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t in der buntgeschichteten Masse meiner neueren Bücher [...]: man kann v o n sich nicht los, deshalb soll man es w a g e n sich weiterhin gehen zu lassen. 1 2 2
„Weiterhin", das will heißen: auf spontanen Abwegen der Reflexion, auf z. T. mutwilligen Seiten-Sprüngen seiner ansonsten sehr geradlinigen Philosophie. Einer Philosophie nicht nur in Anführungszeichen, denn R. Löws Philosophie-Begriff — ähnlich rigoros wie derjenige E. Horneffers, der Nietzsche den Rang des Philosophen ebenfalls abspricht, weil er kein Systematiker sei 123 — erscheint mir in dieser Hinsicht etwas eng. Zwar lehnt Nietzsche selbst, zumal in „Menschliches, Allzumenschliches" und „Morgenröthe", die Bezeichnung „Philosoph" für seine Person ab, nennt sich stattdessen schlicht „Denker", etwas weniger schlicht „Soldat der Erkenntniss" 124 , erst eine Verbesserung jedoch der Sentenzen L. v. Salomés im sogenannten „Stibber Nestbuch" 125 weist auf die tiefere Ursache der Aversion gegen jenen Begriff: „Vielleicht würde der ehrlichste Philosoph nicht bis zur Philosophie kommen", hatte L. v. Salomé notiert 126 — und Nietzsche streicht den Begriff „Philosophie" und ersetzt ihn durch „System" 127 ! Seine Abneigung gegen den Begriff „Philosophie" gründet also in der das 19. Jahrhundert ungebrochen beherrschenden Vorstellung, dieselbe ziele zwangsläufig auf Erstellen von Systemen —, eine Auffassung, die auch heute noch bisweilen vertreten wird. Nun heißt „Philosophie" zunächst einmal nichts anderes als Weisheitsliebe — Nietzsches spitzfindige Definition des Philosophen als eines 119
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Auch K . Jaspers zielt mit seiner überraschenden Aufforderung an den Interpreten, „nirgends zufrieden zu sein, wo man nicht auch den Widerspruch gefunden hat" (Nietzsche, S. 17), scheinbar in jene Richtung, die R. Low vertritt. Im folgenden betont jedoch gerade Jaspers die „systematischen Zusammenhänge" (S. 20) von Nietzsches Philosophie. 10. 9. 1878 an M. Baumgartner, K G B 5/351 November 1883 an E. Nietzsche, K G B 6/451 16. 8. 1883 an H. Köselitz, K G B 6/429; zusätzliche Belege in Kap. II.l. lt. M. Montinari, Nietzsche lesen (Vortrag am 14. 6. 1982); Montinari bezieht sich wahrscheinlich auf A. Horneffers Schrift „Nietzsches letztes Schaffen" (1907). z. B. 3/329 s. dazu die Ausführungen von E. Pfeiffer in: Friedrich Nietzsche, Paul Rèe, Lou v. Salomé. Die Dokumente ihrer Begegnung, S. 444 a. a. O., S. 194 Der vollständig korrigierte Aphorismus lautet dann: „Der redlichste Philosoph würde vielleicht nicht bis zum ,System' kommen dürfen." (ebd.) — Man beachte, daß Nietzsche den Begriff „System" in Anführungszeichen setzt; er möchte ihn dadurch abgrenzen als pejorative Variante eines grundsätzlich gerechtfertigten Strebens nach gedanklicher Konsistenz.
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„einsiedlerisch Liebenden" 128 ändert hier 129 wenig — und nicht etwa „Systemliebe", noch nicht einmal „Wahrheitsliebe"! R. Spaemann definiert sie denn auch ganz allgemein als „Selbstdenken" 130 , als einen „kontinuierlichen Diskurs über letzte Fragen" 131 . Darüber hinaus trägt ein derart enger Philosophiebegriff, wie ihn R. Low ansetzt, nur schwer der Entwicklung seiner Inhalte Rechnung — im speziellen Fall Nietzsches moderner Auffassung von Sprache, deren immanenten, sowohl grammatikalisch-syntaktisch wie semantisch vorgegebenen Widersprüchen sich das Denken (allerdings bloß auf dieser formalen Ebene) nicht entziehen könne. In jedem Fall wird man Nietzsche „nicht gerechter, wenn man ihn völlig aus dem Bereich der Philosophie herauslöst" (G. Colli 132 ), ja ihn philosophisch gar nicht mehr ernst nimmt: wie E. Rohde in einem Brief vom 1. 9. 1886 an F. Overbeck 133 und wie sogar R. Low am Schluß seiner Abrechnung bekennt 134 —, mag man andererseits W. Kaufmann auch nicht völlig zustimmen, der Nietzsche „vor allem [als] einen Philosophen" deuten möchte 135 . Der Mangel jedenfalls an terminologischer Exaktheit hinsichtlich der Bezeichnung eines Denkansatzes darf zuallerletzt als Einwand verwendet werden gegen den Ansatz selbst.
c) „Nietzsche als Erzieher" 136 Kennzeichnend für jenen Denkansatz ist das über weite Strecken vorrangig pädagogische Interesse, die Erziehung der Leserschaft zwecks Vorbereitung eines „höheren Typus", der durch den Terminus „Übermensch" in der Tat zu großer Popularität kam, allerdings nicht zu einer solchen im Sinne seines Erfinders 137 . Im Vergleich dazu setzen die vorsokratischen Sophisten ein wesentlich niedrigeres Erziehungsziel an, die zweckbewußte Bildung des jungen Griechen zu einem im besten Sinne „angepaßten" Staatsbürger 138 : 12/158; vgl. auch die eigenwillige Umbegreifung des Philosophen zu „einem, der weise Männer gern hat" (12/177) 129 nämlich im Zusammenhang einer Begriffsbestimmung; für Nietzsches Verständnis von Philosophie ist sie allerdings sehr aussagekräftig, setzt sie sich doch in bewußten Gegensatz zum geselligen Philosophieren etwa eines Sokrates. 130 Die kontroverse Natur der Philosophie, in: Philosophische Essays, S. 104—129; S. 126 131 ebd. S. 106 132 2/709 133 abgedruckt in A. Verrecchia, Zarathustras Ende, S. 142 f. 134 Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 198 135 Nietzsche, S. XXII 136 Titel einer Schrift von Max Havenstein, Leipzig, 1922 137 Trotz Goethes Faust und anderer früherer Belege muß Nietzsche als derjenige angesehen werden, der das (zweifellos bereits vorhandene) Wort „auf den Begriff bringt". 138 vgl. W. Capelle, Die Vorsokratiker, S. 319 f.
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Schaffung des Ausnahmemenschen also auf der einen, Schulung des Durchschnittsmenschen auf der anderen Seite. Während letztere auf das Alltägliche rekurriert und — nach einer Formulierung von T. Buchheim — allein das propagiert, was sowieso schon da ist, zielt Nietzsches unbedingte Leidenschaft auf ein fernes Menschheitsideal 139 . Darin aber erweist er sich als „Verkünder" (W. Müller-Lauter 140 ), genauer gesagt: als triadischer Denker 141 , während der sophistische Logos immer hautnah an der vorhandenen Realität bleibt. Und genau aus seinem ins Utopische erweiterten Erziehungsinteresse gewinnen auch rein theoretische (Vor-)Überlegungen für Nietzsche ein Gewicht, das für den Sophisten erdrückend, wenn nicht untragbar (gewesen) wäre.
d) Nietzsche als Selbsterzieher Der ins Unendliche zielende pädagogische Eros ist es, der einer Etikettierung Nietzsches als sophistischem Erzieher am deutlichsten widerspricht: Denn gesetzt selbst, Sophistik wäre gleichbedeutend mit einer Aufhebung des Satzes vom Widerspruch 142 , und zwar aus vorrangig praktischem Interesse, so wäre doch immer noch zu fragen: Bleibt er selbst dann aufgehoben, wenn es gilt, zunächst einmal und vor allem die „Erzieher [zu] erziehn" 143 ? Also zuallererst die eigene Person —, und Nietzsches Werk ist über weite Strecken „moralische Selbsterziehung" 144 , wie er des öfteren betont, wie es K. Jaspers bereits wiederholt 145 und wie sich auch in vorliegender Arbeit zeigen lassen wird 146 . Ist aber ein Selbsterzieher in eben dieser „schrecklichen Bemühung, sich selbst zu erziehen" (7/711), nicht kategoriell vom „bloßen" Erzieher unterschieden, also darin, daß er nicht nur ein Publikum zu überzeugen hat, sondern zunächst einmal und vor allem sich selbst —, was wesentlich schwieriger fallt, da eventuelle Denkwidersprüche nicht einfach rhetorisch überblendet werden können, sondern bewältigt werden wollen? — „In der Kunst heiligt der Zweck die Mittel nicht, aber heilige Mittel können hier den Zweck heiligen" (2/435), verkündet Nietzsche zwar recht unumwunden, und was er hier über das Form-Inhalt-Problem der Kunst sagt, ließe sich auf alle anderen Lebensbereiche übertragen. Freilich: Rein rhetorischer, nicht mit „fern" weniger im zeitlichen als im qualitativen Sinne 140 Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, S. 51 141 s. Kap. II.l. 142 wie es W. Capelle ausführt, Die Vorsokratiker, S. 329 143 8/47; das Zitat heißt im vollständigen Wortlaut: „Erzieher erziehn! Aber die ersten müssen sich selbst erziehn! Und für diese schreibe ich." 144 7. 8. 1886 an E. W. Fritzsch, K G B 7/225 145 Nietzsche, S. 454 ff. 146 z. B. anhand seiner charakteristischen Denkfigur der „Selbstzerfleischung", s. Kap. II.4. 139
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gewissen Denkinhalten errungener Erfolg wäre für ihn kein „heiliges Mittel" —, nämlich eines der Überzeugung und vor allem Selbstüberzeugung von jenen Inhalten. 147 Seine eben zitierte Maxime darf ja nicht vereinzelt betrachtet werden, gewinnt ihre Tiefe erst im Umfeld thematisch verwandter Reflexionen wie der folgenden: „Je abstrakter die Wahrheit ist, die du lehren willst, um so mehr mußt du noch die Sinne dazu verführen" (5/95). — „Verführen", zugegebenermaßen, aber zur „Wahrheit", selbst wenn sie an anderer Stelle als diejenige „Art von Irrthum" enttarnt wird, „ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte" (11/506). Auch Nietzsche gehört schließlich zu dieser „bestimmten Art", seine spitzfindige Relativierung von Wahrheit zu „Wahrheit" ändert an seinem Bedürfnis derselben, an seinem lebenslangen Streben danach nichts, wie ein gern von ihm — ebenso allerdings von Zeitgenossen — zitiertes Lessing-Wort 148 bestätigt. Ich meine, das ist der springende Punkt —, daß Nietzsche sich nämlich zumindest in seiner Eigenschaft als Selbsterzieher der Widersprüche ernsthafter annehmen mußte, als es einige seiner markigen Aussprüche vermuten lassen, und daß er es auch getan hat, wie zahlreiche — je konsistente — Entwürfe der achtziger Jahre bezeugen, nach denen er seine Philosophie systematisch darzulegen beabsichtigte. Ein derartiger Systemanspruch, dem er sich widerstrebend schließlich zu stellen versuchte, hat ja geradezu denjenigen der Widerspruchsfreiheit zur Voraussetzung —, die Frage, ob schon letzterem der Erfolg abzusprechen sei, gilt es hier noch gar nicht zu klären, will doch zunächst einmal das Bemühen darum ernst genommen werden. Voraussetzung des Ernstnehmens allerdings ist, daß man sich auf sein metaphorisches Sprechen 149 einläßt, anstatt rein sprachlich-formale Widersprüche bereits als solche auf inhaltlicher Ebene zu nehmen. Nur wer Nietzsche nicht beim Wort nimmt — wie erklärtermaßen J. Figl 150 —, sondern beim spezifischen Begriff hinter den allgemein üblichen Worten, nur wer ihm stets auf beiden Ebenen seiner Texte entgegenkommt bzw. zu folgen bereit ist, wird mit E. Heller feststellen können: „Noch durch die wildesten Widersprüche [...] zieht sich eine erstaunliche Folgerichtigkeit." 151 Daß Nietzsche auf der Bahn eines
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zum Zwecke der Steigerung —, einem Zweck allerdings, der in Nietzsches Augen nicht erst durch die entsprechenden Mittel „geheiligt" werden müßte z. B. 1/197 f., wo sich Nietzsche nur gegen die „lindernde" Interpretation durch D. F. Strauß verwahrt, nicht gegen den von ihm angeführten Ausspruch. — Von diesem nämlich leitet sich seine Einschätzung der Person Lessings als „ehrlichster theoretischer Mensch" (1/99) direkt ab. s. Kap. II.2. nach: G. Abel, Nietzsche contra „Selbsterhaltung", S. 401 Nietzsche und Goethe, S. 65; andernfalls wird man mit G. Lukäcs nicht mehr als „ein wüstes Chaos der grellsten, einander schroff ausschließenden, willkürlichen Behauptungen" sehen (zit. nach W. Müller-Lauter, Ständige Herausforderung, S. 62).
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12 000 Seiten umfassenden Denkens verschiedene Anläufe nahm, jene in seinen Gedanken immer gegebene Folgerichtigkeit im Medium der Sprache darzustellen, darf ihm nicht ins Gegenteil verkehrt werden, er wolle schließlich gar nichts anderes, als eben all die Anläufe allein deshalb vorzuführen, um bei deren jeweiligem Absprung bewußt zu übertreten. Durch solche Erhebung der philosophischen „Grenzüberschreitung" zum Prinzip würde er tatsächlich zum destruktiven Denker reduziert (R. Low 152 ), zum „Stänkerer", als den ihn E. Jünger sehen will 153 . Zwar ist, um eine recht einseitige Bemerkung Hofmannsthals anzuführen, „in Nietzsche [...] die freudige Klarheit der Zerstörung, wie in dem reinen Lodern großer Flammen"154, Zweck dieser Flammen — den Hofmannsthal meines Erachtens ebenso verkennt wie George155 oder auch K. Hillebrand156 — ist aber nicht das Verbrennen alter Werte, sondern das Leuchten, das Ja-Sagen zu neuen Werten, das Nietzsche spätestens seit der erschütternden Neujahrsreflexion zum Jahre 1882 als seine eigentliche Aufgabe begriff: „Ich will irgendwann einmal nur noch ein Jasagender sein!" (3/521) Jene selbsterzieherische Ermahnung kam nicht von ungefähr, betont Nietzsche in seinem Lebensrückblick doch gleich an zwei verschiedenen Stellen: „Der Ekel am Menschen [...] war immer meine grösste Gefahr."157 „Mein Geschmack", so führt er bereits in der „Götzen-Dämmerung" aus, „sagt überhaupt nicht gern Ja, lieber noch Nein"158; umso bedeutsamer werden die über das Gesamtwerk verstreuten Absichtserklärungen, „so wenig als möglich Nein zu sagen" (6/292), und die Beteuerungen, er sei eigentlich „zum Ja-sagen geschaffen", es tue ihm „immer leid, Nein sagen zu müssen."159 Dies geht natürlich zunächst einmal160 darauf zurück, daß Ja-sagen von 152 153 154
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R. Low, Zur Kritik des objektiven Mechanismus: Nietzsche und Hegel, S. 34 Autor und Autorschaft V, S. 40 Aufzeichnungen aus dem Nachlaß, 1891, (Bd. 2168, S. 329); vgl. Nietzsches Gedicht „Ecce homo" (3/357) und die darin anklingende Selbst(!)-Zerstörung. — Schon Hofmannsthals Behauptung, die Zerstörung würde mit Freude vollzogen, wird durch eine Notiz zum „Willen zur Macht" widerlegt: 12/256; s. u. — Das Geschäft des Umwertens erschöpft sich eben keineswegs in der Entwertung! Werke 1/231; die erste Strophe seines Gedichtes über Nietzsche sieht in ihm hauptsächlich einen an den ergrimmten Zeus gemahnenden Zerstörer. in seiner Rezension der zweiten „Unzeitgemässen Betrachtung", die Nietzsches „positive" Seite hinter dessen angeblich dominanter „Negativität" völlig übersieht (in: C. P. Janz, Nietzsche, 1/663) 6/276 und S. 371; das Konzept des Übermenschen ist demnach auch begreifbar als bejahende Gegenkraft zu einer ursprünglich empfundenen Verneinung des (normalen) Menschen. 6/154; vgl. S. 258: „Götzen [...] umwerfen [also: Verneinen alter Ideale] [...] gehört schon eher zu meinem Handwerk." — „Schon eher", nicht etwa: „Das Götzen umwerfen ist mein eigentliches Hauptanliegen"! Juni 1884 an M. v. Meysenbug, KGB 6/510 Unter einem anderen Gesichtspunkt läßt sich auch jene gewollt forcierte Bewegung vom Nein zum Ja als Versuch der Selbstüberwindung interpretieren (s. Kap. 11.4.).
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Nietzsche als vornehmer (6/350), im Grunde heidnischer (6/239) Instinkt (6/ 243) einer als tragisch (6/312) bzw. dionysisch (6/160) bezeichneten Stärke verstanden wird, das Verneinen dagegen als „Degenerierten-Idiosynkrasie" (6/87), als Ausdruck des Schmerzes (12/256), sprich: der Schwäche. Nicht uninteressant ist es im Rahmen vorliegender Arbeit, daß eine derartig verneinende „Weibs-Rachsucht" als romantischer Wesenszug herausgearbeitet — und als plebejisches „ressentiment" entsprechend angeprangert wird (6/112). Allerdings sind Bejahen und Verneinen bei Nietzsche gar nicht so kategorisch geschieden, wie es seine polare Interpretation dem Leser zunächst nahelegt, ist doch „das verborgene Ja in euch" — und Nietzsche spricht mit einem derartigen, an eine fiktive Jüngerschaft appellierenden „euch" in Ermangelung der Alternative stets sich selbst an — „stärker als alle Neins und Vielleichts" 161 . Gerade in der Verneinung also demonstriert sich der ihr zugrundeliegende Wille zur Bejahung 162 , beide Momente eines utopischen Denkansatzes sind dergestalt aufeinander bezogen, daß in seinen Büchern — „lauter ja sagenden Thaten", wie sie der Verfasser selbst charakterisiert 163 — die Verneinung „bloß ein Schluß [ist], sie folgt, sie geht nicht voran." 164 „Jener Übergang vom Nein zum Ja" 1 6 5 , den Nietzsche gegenüber J. Kaftan als seine „große Wandlung" bezeichnete, „das ist die Wurzel aller seiner Reden und Lehren" 166 , auch und gerade, wenn man nicht deren zeitliche Aufeinanderfolge, sondern ihre qualitative Struktur begreifen will. Und ohne weiteren Erörterungen vorzugreifen 167 , läßt sich hier mit P. Gast schon zusammenfassen: „Nietzsche negierte stets aus dem Positiven heraus." 168 Solch ein fanatischer Selbsterzieher aber, als der er sich auch darin erweist, daß er sich vom Ja-Sagen- Wollen der „Fröhlichen Wissenschaft" 169 zum tat3/631, auch 12/168 162 w j e umgekehrt natürlich auch gilt: „Im Jasagen ist Verneinen [...] Bedingung" (6/368) —, Verneinen hier in engem Zusammenhang gesehen zum Vernichten. 163 Vorstufe zum „Ecce homo", in 14/494; vgl. 6/330, das dann immerhin die „Morgenröthe" als „jasagendes Buch" hervorhebt. 164 ebd.; vgl. eine Passage der „Genealogie der Moral", die ausgerechnet die Inkarnation der Verneinung, den Priester, als eine der „Ja-schaffenden Gewalten des Lebens" interpretiert (5/366). 165 Gemeint ist der rein historische mit dem vierten Buch der „Fröhlichen Wissenschaft". 166 Aus der Werkstatt des Übermenschen, in: C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, 2/621 167 s. Kap. II.l. 168 Vorbemerkung zu „Also sprach Zarathustra", S. 5; vgl. auch den Schluß eines Aphorismus der „Morgenröthe": „B: [...] du verneinst — A: ,Und damit habe ich wieder Ja-sagen gelernt.'" (3/284) — Auf oberflächliche Weise ließe sich in jenem bewußten Umweg des Denkens eine Parallele zur Theoriebildung der programmatischen Realisten entdecken, die sich — laut H. Widhammer — „in der Negation viel klarer definieren [konnten] als in dem, was sie positiv wollte[n]" (Realismus und klassizistische Tradition, S. 140). Es ist jedoch sehr die Frage, ob dieser Mechanismus nicht jedem auf ein Neues hin orientierten Denkansatz zugrunde liegt, zumindest unterstellt werden könnte. 169 Der Wille zum Ja-Sagen, so R. Low in einer mündlichen Mitteilung, deutet auf Spinoza zurück. 161
Was eigentlich heißt „Perspektivismus"?
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sächlichen, ja zum pauschalen Ja-Sagen des Spätwerkes hinentwickelt, gespiegelt in dessen Propagierung des „amor fati": solch ein konsequent an sich arbeitender Selbsterzieher aber, als der sich Nietzsche damit erweist, ist — im Unterschied zum Erzieher, zum Nachhilfelehrer großen Stils — nicht zu bezahlen, seine Gedanken sind nicht käuflich, seine Denkrichtung nicht bestechlich —, auch um den Preis philosophischer Narrenfreiheit nicht, den R. Low ihm letztendlich verleihen will. Somit wäre Nietzsche in meinen — wie übrigens auch in Hofmannsthals170 — Augen kein Sophist, wohl aber einer, der sich sophistischer Methoden bedient. Ähnliches ließe sich ja auch über Positivismus oder Sensualismus sagen, deren Ansätze er sicherlich verarbeitet hat —, ohne darin aufzugehen; entsprechendes gilt schließlich ebenso für seine überraschende Nähe zur idealistischen Erkenntnistheorie171, die ihn noch lange nicht in die Reihe der Idealisten stellt, gar der „deutschen", wie für seine Beziehung zum Materialismus, dem er seit der Lektüre F. A. Langes in einigen Aspekten recht nahe steht172. Fast aus jeder beliebigen geistigen Bewegung oder Epoche könnten eine Reihe von Gesichtspunkten herauskristallisiert werden, die sich in Nietzsches Denken wiederfinden —, bis zurück selbst zum Kynismus, wie es sich P. Sloterdijks feuilletonistisch aufgeplusterte „Kritik der zynischen Vernunft" nicht nehmen läßt. Im selben Atemzug allerdings von einer „positivistischen Phase", einer „sensualistischen Erkenntniskritik" oder gar vom „Neokyniker Nietzsche"173 zu sprechen, halte ich für eine unglückliche Reduktion seines „pluralistischen" Denkansatzes. Entsprechende Etikettierungen mögen im Einzelfall erhellend wirken — in demjenigen R. Löws sogar sehr erhellend —, dürfen jedoch nicht verabsolutiert werden bei einem Autor, der £wischen allen Fronten steht: was vielleicht als deutlichstes Kennzeichen beginnender „Moderne" anzusprechen wäre.
5. Was eigentlich heißt „Perspektivismus" ? Im nun folgenden Punkt taucht das soeben behandelte Problem — dasjenige des Widerspruchs und seiner Auf- bzw. Nichtauflösung — zwar nicht in seiner radikalsten, dafür in seiner populärsten Form auf. Es wird zu zeigen 170 171 172 173
Buch der Freunde, in: Gesammelte Werke, Bd. 2168, S. 244 s. insbesondere 1/885 vgl. R. Low, Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 33 P. Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 1/317; zu Sloterdijks Nietzsche-Deutung s. deren vernichtende Analyse bei B. Taurek, Destruktivistisch-Konstruktivistische NietzscheZerstörungsversuche, S. 473—476
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Das Problem des Widerspruchs bei Nietzsche
sein, daß beide Formen am Ende in eins fallen, obwohl erstere — diejenige R. Löws — aus der Ablehnung Nietzsches, die nun zu behandelnde eher aus Bewunderung sich ableitet. Die Rede also wird sein von der vorhin übersprungenen Interpretationsrichtung, Widersprüche zu begründen durch ein dahinter stehendes „perspektivisches" Denkmodell, und ihr Grundtenor wurde soeben schon angestimmt, als ich ein generelles Unbehagen aussprach gegenüber Etikettierungsversuchen aller Art. Jener Grundtenor moduliert hier entsprechend in: Ein „Perspektivist" — wie in weiten Teilen der Sekundärliteratur behauptet — ist Nietzsche meines Erachtens kaum, wohl aber einer, und sicherlich einer der ersten, der sich perspektivischer Erkenntnismethoden bedient. — Um diese These im einzelnen plausibel zu machen, scheint eine knappe Begriffsabgrenzung vorab unerläßlich, denn im weiten Assoziationshorizont, den der Terminus „Perspektivismus" vor den Augen der Interpreten eröffnet, zerfließen wichtige Worte wie
a) Widerspruch, Gegensatz, Dialektik u. ä. nicht selten in nebulösen Tiefen der Argumentationsführung: Ohne grundsätzlichen Ausführungen vorgreifen zu wollen, gilt es also, den Blick zurückzuholen auf die Oberflächenstruktur von Nietzsches Werk —, und seltsamerweise ist sich bei deren Betrachtung die Forschung einig: Zwar sieht man mitunter, wie M. Montinari, „das Einheitliche — wenn auch nicht Systematische" darin (14/386), niemand jedoch käme auf die Idee, Nietzsche als „Systemdenker" zu titulieren —, allenfalls W. Kaufmann auf diejenige, ihn wenigstens als „Problemdenker" zu retten174. Und jene kanonische Meinung, sein Denken sei zumindest unsystematisch, kann sich — wie kaum anders zu erwarten — nicht nur auf eine Reflexion Nietzsches berufen, die er seinem Denken angedeihen läßt: „Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit" (6/63), „Vorsicht vor [...] [der] Schauspielerei der Systematiker" (3/228), „geht aus dem Wege allen solchen Unbedingten!" (4/ 365) — so tönt es ab der „Morgenröthe" immer wieder durch seine Aphoristik: um sich bezeichnenderweise in den Fragmenten zum „Willen zur Macht" an Intensität und Häufigkeit noch zu steigern175. Und mag man Nietzsche selbst dann noch zustimmen, wenn er den „Willen zum System" geradezu als
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Nietzsche, S. 96. Die Frage allerdings erhebt sich, ob mit solchen Wortspielen der NietzscheLeser nicht eher geblendet als erleuchtet wird. Denn geht man einmal davon aus, daß sich jeder Denker mit gewissen Problemstellungen befaßt —, was eigentlich sagt die Charakterisierung als „Problemdenker" dann noch aus? z. B. 13/410, 570
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„eine Form der Unmoralität" geißelt176, so ist G. Collis Lesart solcher Ausfalle als unfreiwilliges „Eingeständnis eines Unvermögens, einer Schwäche" (13/ 667), sicherlich nicht von der Hand zu weisen, noch dazu, wo sie ausgerechnet in einem und gegen einen Textkorpus vorgenommen werden, der als sein systematisches Hauptwerk bekanntermaßen nicht über die Vorarbeiten dazu hinauskam. Die Konsequenz eines, sei's niemals ernsthaft intendierten (J. Figl 177 ), sei's am Ende nur gescheiterten (H. Baier178) Systemdenkens muß aber nicht darin bestehen, dessen Gegensatz zur Struktur zu wählen, die reine Willkür (G. Abel179); immerhin hat Nietzsche seinen „so guten Glauben an [s]eine Meinung und ihren unterirdischen Zusammenhang"180 dermaßen oft beteuert, daß man letzteren nicht nur oberirdisch — auf der Ebene der Sprache — suchen sollte. Sein Wille zum System, sein „Plan, eine systematische Philosophie zu erarbeiten" (G. Colli181), ist spätestens seit 1886182 vielfach zu belegen und als entsprechender Hinter-, besser: Untergrund angeblicher Widersprüche immer zu berücksichtigen. Wie aber, wenn diese vielfaltigen Antinomien nicht einmal als prophylaktische Gegenmaßnahmen zu jedem „heimlichen" Anflug von Systemdenken183 zu lesen wären, sondern schlichtweg als — unbeabsichtigt? Und die Nietzsche gern unterstellte „dualistische Zerrissenheit"184, abgesehen davon, daß jener Terminus romantisch „vorbelastet" ist, sich als (philologisches Interpretations-)Produkt des Zufalls entpuppte, d. h. als Produkt rein zufälliger Inkonsequenzen eines Denkers, dessen heftige Krankheitsanfalle ihn bisweilen auch aus der Haut seines „Gedankengewebes"185 fahren ließen? Nietzsches „Charakter auf Stunden"186, aus der Not geboren, im Perspektivismus-Modell zur Tugend umstilisiert, wäre somit als vorübergehende Erscheinungsform nicht schon für den eigentlichen Charakter seines Denkens zu nehmen... Wie 176 177
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13/477, 533 In seiner Studie „Nietzsche und die philosophische Hermeneutik des 20. Jahrhunderts" behauptet J. Figi unter Berufung auf W. Dilthey, Nietzsche habe von vornherein „auf jede Systematik" verzichtet. (S. 424 f.) Im Prinzip sei er nämlich „systematisch tragfahig"! (Zit. nach G. Abel, Nietzsche contra „Selbsterhaltung", S. 399 f.) In seinen Augen unterwirft sich Nietzsche weder „dem letzten [!] Wahrheitskriterium" noch „dem Satz vom Widerspruch", (a. a. O. S. 383) 14. 6. 1874 an E. Guerrieri-Gonzaga, KGB 4/235 6/456, vgl. 13/653, 658 Dezember 1886 an E. W. Fritzsch, KGB 7/297 zur Polarität von Systemfeindlichkeit und „heimlichem Systemdenken" vgl. auch E. Biser, „Gott ist tot", S. 19 so S. Vitens, Die Sprachkunst Friedrich Nietzsches in Also sprach Zarathustra, S. 143; auch bei G. Colli, zumindest hinsichtlich des Spätwerks, 13/666 18. 8. 1881 an E. Nietzsche, KGB 6/115 20. 3. 1881 an H. Köselitz, KGB 6/73
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Das Problem des Widerspruchs bei Nietzsche
schließlich, wenn ausgerechnet solche „Ausreißerwerte" von ihm selbst herausgestrichen würden 187 als Kurvenlinie seines Denkens —, als Maske damit des „verstecktesten aller versteckten" (10/149) Systemdenker?188 Zufällige Inkonsequenzen allerdings können immer nur den geringsten Teil seiner Selbstwidersprüche erklären —, nämlich als vernachlässigbar; ein wesentlich größerer Anteil derselben erst läßt sich begreifen als Inkonsequenzen auf begrifflicher Ebene. Bereits im Medium der Sprache nämlich sind ja, so beweist die frühe Abhandlung „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne", alle Irrtümer und Widersprüche angelegt, die das Denken „dann" nach-vollzieht; und zum „gelegentlichen Willen des Geistes, sich täuschen zu lassen", kommt noch derjenige, „andere Geister zu täuschen". Solch „Lust an aller [...] Mehrdeutigkeit", an aller „Masken-Vielfältigkeit" 189 sprachspielerischen Denkens geht bei Nietzsche indessen Hand in Hand mit wiederholter Polemik gegen die „verächtliche Zweideutigkeit der Worte"190, gegen dunkle (2/381), zerfließende (11/445f.) oder gar „faule [...] Begriffe" (13/100): Sein polares Verhältnis zum Systemdenken findet hier ein notwendiges Pendant.191 — Nun läßt sich mit der Untersuchung von Äquivokationen in der Tat ein weiterer Teil von scheinbaren Unstimmigkeiten bereinigen192 — und die entsprechende Untersuchung soll auch späterhin vorgenommen werden193 —, der Großteil der „Unstimmigkeiten" entzieht sich allerdings auch einer rein formalen Auflösung. Im Gegenteil, er verweist auf die inhaltliche Ebene des Werks, auf intendierte Disharmonien darin; und wenn H. Mann in seinem Essay über Nietzsche mehrmals betont, derselbe „hielt mit Recht sehr viel auf seine Widersprüche"194, so können sie kaum ungewollter Art sein. Die „Lust an aller [...] Mehrdeutigkeit" (5/168) entpuppt sich auf jener Ebene dann als „Lust an der Willkür" (2/17) und Nietzsche als „Einer, der Sprünge und Seitensprünge liebt" (4/366) —, auch und gerade jenseits der 187
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3/281: Gelegentliche Widersprüche als Geste der Menschlichkeit —, um besser wirken zu können! Im übrigen betont die Vorrede zur „Genealogie der Moral", daß jeder Erkennende der eigenen Person „nothwendig fremd" bleiben müsse (5/247); die Polemik gegen den Systemanspruch von Philosophie mag sich also — unbewußt? — gegen das innerste Wollen richten: eine Art „Selbst-Überwindung" auch dies. alle Zitate 5/168 13/96, vgl. S. 221, 243 „Systemdenken" und dessen sprachliche Gestaltung, also Inhalt und Form, begreift er — im Gegensatz zur zeitgenössischen Literaturgeschichtsschreibung — als un(ab)trennbare Seiten ein und derselben Sache. z. B. hinsichtlich der ambivalent verwandten Metapher vom Hammer, die eben nicht nur Härte und „Lust [...] am Vernichten" (6/349) impliziert, sondern gleichermaßen eine solche am „bloßen" Hinterfragen: am Ton einer (an „Götzen" jedweder Art) effektvoll zum Schwingen gebrachten Stimmgabel (6/57 f.). s. Kap. II.3. Nietzsche, S. 279; vgl. S. 291
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rein formalen: „Hat man angefangen öffentlich zu denken, so muß man sich erlauben, sich öffentlich zu widersprechen" (8/376) —, diese Maxime eines frühen Nachlaßfragmentes gilt keineswegs nur für die Theorie, das Denken, sondern ebenso für die tägliche Praxis: „Es geht in meinem Leben nichts ohne Seitensprünge ab"195. Und das hat seine Ursache. „Ich nehme mir die Freiheit, mich zu vergessen", notiert Nietzsche in ein Folioheft des Winters 1887/88: „Übermorgen will ich wieder bei mir zu Hause sein." (13/43) Warum jedoch nimmt sich ein Denker, der zeitlebens die Einheitlichkeit seines Werkes betont, jene Freiheit: wenn nicht aus physischer oder intellektueller Not, aus Gründen also, die auf ein als konstant anzusetzendes Leiden hinweisen? Dem Leiden nämlich am eigenen Gesundheitszustand bzw. an der erdrückenden Last der Aufgabe — Nietzsche hatte sich Zug für Zug immerhin die Verantwortlichkeit für das gesamte Weltgeschehen aufgebürdet! 196 Insofern können solche Seitensprünge nicht bloß, wie es ein Aphorismus von „Jenseits von Gut und Böse" nahelegt, als „Anzeichen der Gesundheit" interpretiert werden197. Sondern ebensosehr als eines der — „großen Gesundheit", um einen umbegriffenen Term hier bereits einmal anzuwenden198. Da derartige Seitensprünge, im übrigen meist leicht an Diktion und Textumfeld zu erkennen, der Natur der Sache entsprechend stets nur die Ausnahme sind, nicht etwa die Regel, kann die in Kap. 1.2. vorgenommene Zurückweisung eines Interpretationsansatzes erneut bekräftigt werden, der Widersprüchlichkeit zum eigentlichen Inhalt von Nietzsches Denken zu erklären versucht und dieses damit als destruktiv und sophistisch. Der Begriff des (Selbst-)Widerspruchs, angesiedelt zwischen Irrtum und Willkür, wäre demnach auf Nietzsches Denken gar nicht anzuwenden, wohl aber ein mit jenem verwandter: „denn Gegensätzliches wäre etwas ganz Artiges und Einfaches — ich liebe Gegensätzlichkeit"199. Solch Denken in Gegensätzen, von der „Geburt der Tragödie" bis in die Wahnsinnszettel200 fast unter jedem Gesichtspunkt auszumachen, muß im Unterschied zur reinen Widersprüchlichkeit als konstruktiv interpretiert werden —, propagiert es Nietzsche selbst doch geradezu als „Erziehungsmaaßregel" (12/10): „Man ist nur fruchtbar um den Preis, an Gegensätzen reich zu sein" (6/84), belehrt er in der „Götzen-Dämmerung" zunächst einmal sich selbst —, schließlich implizierten
24. 11. 1885 an R. und I. v. Seydlitz, K G B 7/112 196 v gi Kulmination derartiger Beteuerungen, ausgehend vom kategorischen Imperativ der Ewigen Wiederkehr, mündend schließlich in den Gedanken über „Große Politik"! (insbes. 13/637 ff.) 197 5/100; vgl. 5/110 198 Genaueres s. Kap. V.l. 199 Januar 1888 an E. Förster (Entwurf), K G B 8/238 200 in denen Nietasches Bewußtsein sich zwischen Dionysos und „dem Gekreuzigten" aufspaltet 195
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antithetische Denkstrukturen Dynamik, die seine Philosophie des Werdens als Voraussetzung aller Steigerung und Höherentwicklung stets erstrebt201. Insofern wäre also nicht „das Sich widersprechen [...] der Grundzug Nietzscheschen Denkens" (K. Jaspers 202 ), sondern das Denken in Gegensätzen, an Angriffen auf bloße Gegensätzlichkeit fehlt es in seinem Werk freilich nicht203. „Die Lehre von einer doppelten Wahrheit lehnte er in jeder Form ab", stellt W. Kaufmann lapidar fest204; und wenn H. Mann dessenungeachtet nahelegt, „man höre diesem Nietzsche eindringlicher zu, als dem, der anders spricht"205, so ist das eine gefahrliche Scheidung und Ausscheidung von Texten, die unangenehm gemahnt an die eingangs erwähnten „frisiertechnischen" Interpretationsmethoden206. Denn ebenso wie die „Zugänglichkeit zum Entgegengesetzten" kennzeichnend ist für „die höchste Art alles Seienden" (6/344), so auch deren Kraft, diese Gegensätze wiederum in sich zu vereinen —, das ist ja geradezu das höchste Rangabzeichen eines schaffenden Willens zur Macht! Frühzeitig dokumentiert im synthetischen Konzept der Tragödie, bis zuletzt festgehalten in der Idee des all(es)-umfassenden Dionysischen207, erinnert eine derartige Denkweise nicht von ferne nur an Hegels Dialektik: „Wir Deutsche sind Hegelianer, auch wenn es nie einen Hegel gegeben hätte"208, verkündet Nietzsche denn auch unter ausdrücklicher Einbeziehung seiner Person —, und daran ändern selbst spätere Ausfalle gegen die „Unnatur" (13/19 f.), die „entsetzlich selbstgefällige und kindliche" (13/ 625) Rückständigkeit (13/377), die „abscheuliche und pedantische Begriffsklauberei" (13/169) einer derartigen Denkweise nichts. Im Gegenteil, je heftiger seine Angriffe, desto heftiger seine (ursprüngliche) Liebe zu dem Angegriffenen 209 ; im übrigen ist die Wertung von Dialektik natürlich selbst wieder dialektisch: Einerseits bezeuge sie eine gedankliche „Klarheit par excellence", andrerseits sei sie gerade wegen des dabei demonstrierten RaffineDer Gedanke der Entwicklung, allerdings weniger einer solchen der gewollten, sondern eher einer monadologisch-organischen, ist ja bereits für Nietzsches „Emeher" Goethe zentral — einen „Erzieher", der für ihn nach 1876 zunehmend an die Stelle Schopenhauers tritt: und in dieser singulären Stellung von der Nietzsche-Forschung bisher kaum wahrgenommen wurde. 202 Zit. nach H. Pepperle, Revision des marxistischen Nietzsche-Bildes? S. 939 203 z. B. 6/357 204 Nietzsche, S. 104 205 Nietzsche, S. 297 206 Nietzsche selbst scheint sie allerdings nahezulegen, wenn er — kurz vor dem Zusammenbruch! — sein „Kunststück" rühmt, sich „gleichsam zu zertheilen" (13/595). Allerdings meint er natürlich nicht: in „Zwei Nietzsches" (vgl. Anm. 72), sondern in eine leidendteleologische und eine menschenfreundlich-präsentische Hälfte. 207 Zahlreiche weitere Belege in Kap. II.4., wo die hier ausschließlich als Denkkonzept untersuchte Dialektik auch in ihrer praktischen Dimension nachvollzogen werden soll. 208 3/599; V gi. d a z u M. Politycki, Der frühe Nietzsche und die deutsche Klassik, S. 185 ff. 209 s. Kap. II.4. 201
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ments als „decadence-Symptom" abzuwerten, wie es ein Fragment des Herbstes 1888 im selben Atemzug auch tut (13/630). Nietzsche ist eben sogar darin „konsequenter Dialektiker" (W. Kaufmann 210 ), daß er ein grundsätzliches „Mißtrauen gegen Dialektik" 211 stets wieder mit Bewunderung derselben 212 austariert; ihre Anwendung allerdings, das Denken in komplementären Wertungen, findet völlig unbehelligt von jener ambivalenten Einstellung statt, d. h. durchgehend. Entsprechend gespiegelt auf stilistischer Ebene als, — so zeigt D. Borchmeyer anläßlich Nietzsches Wagnerkritik — „Verschränkung von Polemik und Panegyrik" 213 , erscheint es bisweilen so streng und geradezu schematisch, daß man P. Pütz' Verwunderung über dasselbe gut verstehen kann: Warum muß eigentlich immer alles in sein Gegenteil umschlagen? Warum nicht einmal quer oder irgendwo daneben? Was legitimiert diese gravitätische Ordnungsliebe für Antithesen? 214
Immerhin rühmt sich Nietzsche des öfteren als einer, der „die Gegensätze wegnimmt, als Freund der Zwischenfarben" (12/144) —, und die dahinterstehende Denkstruktur nicht als Dialektik, sondern als Perspektivismus. — Es wird zu zeigen sein, daß beide Methoden nicht im Widerspruch zueinander stehen, sondern sich ergänzen, genauer: daß Nietzsches Perspektivismus als seine spezielle Version, als seine Auflockerung der Dialektik anzusehen ist —, ganz unabhängig davon, ob man sich mit G. Colli dafür entscheiden sollte, das im Grunde nur als „neue, gewagtere Darlegung der Schopenhauerschen Theorie von der ,Vorstellung'" zu empfinden (13/653), als „Aufhebung des Wahrheitsbegriffs" (E. Biser 215 ) oder, wie P. Heller, gerade nicht 216 . Festzuhalten zuvor bleibt von jener Sichtung der Begriffe, die im Zusammenhang mit dem Widerspruchsproblem bei Nietzsche immer wieder auftauchen, daß hinsichtlich desselben allein derjenige des „Denkens in Gegensätzen" aufrechterhalten werden kann, nicht dagegen der des (sophistischen) „Chaos" 217 , der „Zerrissenheit", der „Widersprüchlichkeit" o. ä.
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Nietzsche, S. 98, vgl. S. 94, 96, 154, 241, 294, 4 5 5 f.; 468, - ja „ein dialektischer Monist" (S. 273)! 2. 12. 1887 an G. Brandes, K G B 8/206 s. 13/434, w o er der systematischen Antithetik ganz unverhohlen huldigt — „aus Erziehungszwecken" natürlich! Nietzsches Wagner-Kritik, S. 225 Nietzsche im Licht der kritischen Theorie, S. 188 „Gott ist tot", S. 152 P. Heller, Multiperspektivisches Interpretieren, S. 631: „Wahr" sei eben eine progressive „Summierung v o n möglichen Perspektiven". Leider benutzt diesen Terminus, natürlich in abwertender Absicht, selbst H. Mann. (Nietzsche, S. 278)
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b) „Perspektivismus" als Struktur des Denkraumes? Grundlegend für Bejahung wie Verneinung der Frage ist zunächst einmal die Beschreibung des Verfahrens, so wie Nietzsche sie gibt —, eines Verfahrens, das er zwar bereits in „Menschliches, Allzumenschliches" praktiziert218, jedoch erst nach seiner Lektüre G. Teichmüllers219, also ab dem Sommer 1885, mit dem entsprechend plakativen Terminus versehen kann: Es giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches „Erkennen"; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Wort kommen lassen, je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, umso vollständiger wird unser „Begriff" dieser Sache, unsre „Objektivität" sein. (5/365)
Perspektivismus ist damit zunächst einmal zu verstehen als eine erkenntnistheoretisch fundierte „Relativitätslehre" (13/371), eine Reflexion auf die Standortbezogenheit jeder Aussage —, weiter nichts. Insofern alle Perspektiven ein je spezifisches Interesse vertreten (13/234), relativieren sie in ihrer Gesamtheit einen ansonsten übermächtig empfundenen Erkenntnistrieb, ja mehr noch als das: enttarnen ihn als bloße Vektorenresultante der verschiedensten „Willen zur Macht" (12/190) und wirken solcherart befreiend: Die Mehrheit der Hypothesen genügt [...], um jenen Schatten von der Seele zu nehmen, der aus dem Nachgrübeln über eine einzige, allein sichtbare und dadurch hundertfach überschätzte Hypothese so leicht entsteht. 220
Wie in direktem Anschluß formuliert liest sich darauf die Konklusion eines früheren Aphorismus: Vom Feuer erlöst, schreiten wir dann, durch den Geist getrieben von Meinung zu Meinung, durch den Wechsel der Parteien, als edle Verräther aller Dinge (2/362).
Nietzsche also ein „edler Verräther" nicht nur aller Dinge, sondern auch aller Erkenntnis, die man von ihnen unter Umständen gewinnen könnte —, aus solchen und manch verwandten Äußerungen ließe sich leicht eine Auffassung seiner Denkweise ableiten, wie z. B. P. Pütz sie vertritt: „Da der Versuch, das Ganze eines Phänomens zu begreifen, erfolglos bleibt, reduziert sich das Erkennen auf relative Einzelurteile, die sich gegenseitig anfechten können."221 218
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„Daß die bisherigen Interpretationen perspektivische Schätzungen sind [...] — dies geht durch meine Schriften" (12/114): bis 1885 meist unter Verwendung der Fenster-Metapher (z. B. 2/522). lt. C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, 2/399 2/544; daß jene „Mehrheit der Hypothesen" im Grunde nichts anderes ist als die Abwesenheit jeder Meinung, belegt ein Aphorismus der „Morgenröthe" (3/78) —, allerdings wird die Abstinenz von Urteil und Wertung hier nicht als Mangel empfunden. Friedrich Nietzsche, S. 26
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Das ist — sieht man einmal ab vom bedenklichen Gebrauch des Wortes „reduziert" — zunächst richtig; die Charakteristik von Nietzsches theoretischem Experimentieren ließe darüber hinaus sich ergänzen durch den Hinweis auf sein ebensolches Experimentieren in stilistischer Hinsicht 222 , auf sein lebenslanges „Tasten" schließlich in Fragen der Lebenspraxis 223 . Allzuschnell freilich könnte dabei die sicherlich jedem Leser eigene Beunruhigung über die Gegensätzlichkeit von Nietzsches Aussagen abgetan werden mit — nichts anderem als dem lapidaren Hinweis auf dessen perspektivisches Erkenntnisverfahren 224 : so daß sich, wie beispielsweise für R. W. Leonhardt, der ebenso vorschnelle wie bequeme Schluß anböte, seine Denkweise erlaube es eben von vornherein nicht, „jene Kompromisse einzugehen, die notwendig gewesen wären, um auch nur seine eigenen Gedanken miteinander zu versöhnen." 225 Nun ist zwar „für jede Seele [...] jede andre Seele eine [am Ende unergründliche] Hinterwelt" (4/272) und nicht zuletzt diejenige Nietzsches für seine Interpreten, nichts jedoch kann weniger überzeugen 226 , als eine derart vorschnelle Kapitulation vor dem Text, wie die soeben referierte. Eine Kapitulation, wie W. Kaufmann überzeugend darlegt 227 , die auf den erfolgreichen Propaganda-Feldzug Elisabeth Förster-Nietzsches wie des Georgekreises zurückzuführen ist, der die Nietzsche-Legende vom typisch Zweideutigen, Rätselvollen, Widersprüchlichen erst in Umlauf setzte —, selbstredend aus eigenen Interessen 228 . Dabei ist Nietzsche im Grunde gar nicht mißzuverstehen, wenn er an über 200 Stellen seine „PerspektivenOptik" (5/26) als bloße Methode des Erkennens beschreibt, die nicht mit der Sache selbst zu verwechseln sei! So heißt es in unmittelbarer Nachbarschaft der vorhin zitierten Passage: „Dergestalt einmal anders sehn, anderssehn-»W/e« ist keine kleine Zucht und Vorbereitung des Intellekts zu seiner einstmaligen .Objektivität'" 229 —, also Perspektivismus als Mittel eines teleologischen Gedankenganges, genauer gesagt: als zweite Stufe einer triadischen SelbstBelehrung bis -Bekehrung. „Sich selbst gegenüber den eingefahrenen Denk222
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wie bei S. Vitens, Die Sprachkunst Friedrich Nietzsches in Also sprach Zarathustra, S. 148 u. a. — hinsichtlich Ortswahl, Ernährung etc.; s. dazu seine Briefe vom 23. 6. 1881 an H. Köselitz (KGB 6/95) und vom 7. 7. 1881 an E. Nietzsche (KGB 6/98) P. Pütz, Friedrich Nietzsche, S. 24 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, S. 297 Schon F. Kaulbach wehrt sich gegen eine solche Trivialisierung des Perspektivismus. (Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, S. 75) Nietzsche, S. 18; vgl. G. Colli, Vorwort zur „Kritischen Gesamtausgabe der Briefe", S. XI Entsprechende „Vorarbeiten" finden sich natürlich schon bei Nietzsche selbst, z. B. 13/492, wo er (im Königs-Wir) „unsere Räthsel-Natur, unsre Widersprüche" als eigentliche Grundlage „unsrer tieferen [...] Weisheit" nahelegt. 5/364; vgl. die (mehrfach bereits aufgefallene) Betonung des „Wollens" auch in 13/165.
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mustern beim Ausplaudern verbotener Wahrheiten zu überraschen" —, mit solchen Worten den Zweck einer im Grunde qualvollen Erkenntnismethode 230 zu bezeichnen, wie es H. Pfotenhauer tut 231 , zielt zwar auf eine ähnliche Deutung des Verfahrens, verleiht ihm aber eine gemütliche, geradezu „gutbürgerliche" Atmosphäre, die mir unangemessen erscheint. Bevor ich das existentiellere Verständnis von Nietzsches Denkfiguren genauer darstelle, möchte ich die landläufige Version seines perspektivischen Modells beim Wort nehmen und ad absurdum führen. Insbesondere die damit eng verknüpfte Auflösung des Subjekts, der Einheit in eine Vielheit 232 , der Person in mehrere Personen 233 , ja Masken bzw. Rollen, die beliebig sich abstreifen ließen (11/248) —, insbesondere also Nietzsches wiederholtes Bekenntnis gilt es zu untersuchen, er sei „glücklich darüber [...] nicht ,Eine unsterbliche Seele', sondern viele sterbliche Seelen in sich zu beherbergen" 234 . Und wenn er sich selbst gar als „Vielfachen" bezeichnet 235 , dessen „Mittelpunkt [...] sich beständig verschiebt" (12/391), so scheint er darin einer literarischen Gestalt verwandt, die etwa zeitgleich mit ihm zu wirken beginnt, wenngleich auf ein anderes Zielpublikum. Gemeint ist die Titelfigur aus L. Carrolls — des „Kirchenvaters aller modernen Literatur" (A. Schmidt 236 ) — „Alice im Wunderland", die das Problem des Perspektivismus am eigenen Leibe erfährt —, am „Leitfaden des Leibes" (12/106), den Nietzsche ja gerade in erkenntnistheoretischem Zusammenhang zu konsultieren rät. „Wer bist denn du?" wird jene Alice von einer Raupe gefragt, nachdem sich dieser ihr „Leib" — was in einem Märchenbuch ja nichts anderes bedeutet als ihre gesamte Persönlichkeit — durch mehrmaliges Wachsen und Schrumpfen innerhalb sehr kurzer Zeit in solch extrem überdehnte bzw. verkümmerte Perspektiven zur umgebenden Welt gesetzt hat, daß man mit Fug und Recht
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Nietzsche spricht im Zusammenhang derselben immer wieder von Krankheit, Leiden und Entbehrung: Perspektivismus ist der Kern seiner, in der Vorrede zu „Menschliches, Allzumenschliches II" vorgestellten „Gesundheitslehre" (2/371), ist „Diätetik und Zucht" (2/ 375) —, nicht etwa eine Serie Freud'scher Versprecher am Stammtisch... Die Kunst als Physiologie, S. 68 von Nietzsche vielfach dokumentiert, z. B. in 12/465, 13/36 12/162, 491 f., 13/60; vgl. 3/232, 235 2/386; eine solche Selbstdefinition nämlich beinhaltet ja keinesfalls einen Verzicht, sondern einen Gewinn —, letztendlich den der ganzen Welt, wie er in einem Jugendgedicht bereits ahnt: „Dies Alles bin ich" (An die Melancholie; 7/390). 13/632; allerdings bezieht sich diese Selbstcharakteristik auf seine Begabungen und Interessenschwerpunkte, nicht etwa auf seine „500 000 Meinungen" (in 11 /423 erwogener Titel der „Fröhlichen Wissenschaft") bzw. „fünfhundert Überzeugungen" (6/236), die er unter, d. h. hinter sich zu haben glaubt. Sylvie & Bruno, in: Trommler beim Zaren, S. 257
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behaupten kann, er habe sich „verschiedene Augen [...] für dieselbe Sache einzuset2en" gewußt 237 : „Wer bist denn du?" — „Ich — ich weiß es selbst kaum", [erwidert Alice zaghaft,] „nach alldem — das heißt, wer ich war, heute früh beim Aufstehen, das weiß ich schon, aber ich muß seither wohl mehrere Male vertauscht worden sein." „Wie meinst du das?" fragte die Raupe streng. „Erkläre dich!" „Ich fürchte, ich kann mich nicht erklären", sagte Alice, „denn ich bin gar nicht ich, sehen Sie." „Ich sehe es nicht", sagte die Raupe. „Leider kann ich es nicht besser ausdrücken", antwortete Alice sehr höflich, „denn erstens begreife ich es selbst nicht, und außerdem ist es sehr verwirrend, an einem Tag so viele verschiedene Größen zu haben." „Gar nicht", sagte die Raupe.238 Dem beruhigenden Bescheid zum Trotz nimmt die Verwirrung kein Ende, die sich an der symbolischen Größen- sprich: Perspektiven-Veränderung der Hauptfigur entzündet239; ist der Standpunkt erst einmal verloren, von dessen — relativer — Unverrückbarkeit her sich die Umwelt strukturieren läßt, ergibt sich als letzte Konsequenz nur noch: „Hier sind alle verrückt. Ich bin verrückt. Du bist verrückt." 240 Perspektivismus also nichts anderes als eine Vorstufe des Wahnsinns? Nichts wäre zynischer, als diese Frage mit dem Hinweis auf Nietzsches Lebenslauf zu bejahen, hat sich dessen Denken doch zeitlebens und deutlich gegen einen solch verstandenen Perspektivismus ausgesprochen, jenen dadurch heraufbeschworenen „Irrsinn" geradezu als „die grösste Gefahr" angeprangert: Ueber ihr [Nietzsche meint die gesamte Menschheit; seine generalisierende Aussage läßt sich aber auch auf das Schicksal von Alice anwenden als dessen, freilich nichts weniger als beabsichtigte Interpretation.] schwebte und schwebt fortwährend als ihre grösste Gefahr der ausbrechende Irrsinn — das heisst eben das Ausbrechen des Beliebens im Empfinden, [...] der Genuss in der Zuchtlosigkeit des Kopfes.241 Und er fährt auf bezeichnende Weise fort: 237 238 239
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vgl. die oben zitierte Stelle aus der „Genealogie der Moral", 5/365 Alice im Wunderland, S. 4 7 Schließlich „tritt an die Stelle der Logik [, die] die allgemeinverbindliche Gesamtschau des Seienden zu begründen sucht, die [bloße] .Optik'". Diese Analyse des philosophischen Perspektivismus durch E. Biser („Gott ist tot", S. 150) läßt sich natürlich auch auf die hier ins Plastisch-Überdeutliche projizierte Situation von Alice anwenden. a. a. O., S. 67; und Alice wird es ja auch beinahe, wie man an ihren konfusen Gedichtrezensionen ablesen kann. (a. a. O., S. 107 ff.) 3/431; vgl. 13/511: „Wechsel der Optik" als „Verderbniß"
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Das Problem des Widerspruchs bei Nietzsche Nicht die Wahrheit und Gewissheit ist der Gegensatz der Welt des Irrsinnigen, sondern die [...] A l l v e r b i n d l i c h k e i t eines Glaubens, kurz das NichtBeliebige im Urtheilen.
Beide Aspekte sind hier in Beziehung zueinander gesetzt, der Verzicht auf einen dogmatischen, sich für alleingültig ausgebenden Standort einerseits, die teleologische Einbettung des perspektivischen Denkens im Glauben andrerseits, im Wollen, das jenes Denken zu einer „großen Linie" 242 bündelt. „Das Nichtfesthalten-können einer bestimmten Optik" (ebd.) dagegen wird von Nietzsche stets als „Mangel an Größe" (12/436) — an Größe wohl nicht nur im übertragenen Sinne! — angesehen, als Symptom der Erschöpfung (13/ 411), sprich: der decadence. Eine perspektivische Weltsicht erweist sich somit „als Frage der Kraft", die sämtlich Sub-Perspektiven „unter der Perspektive ihres Wachsthums ansieht." (12/127) Und, um es noch prägnanter auszudrücken: Perspektivismus ist letztlich nicht mehr als die Oberflächenstruktur eines im Grunde eminent teleologischen Denkens.
c) Perspektivismus in der Philosophie der Moderne Bevor die noch immer im Raum stehende These eines für das Denken Nietzsches konstitutiven „absoluten" Perspektivismus auch mit Methoden der Wissenschaft widerlegt wird, nicht nur mit denjenigen einer „fröhlichen Wissenschaft" 243 , soll sie zunächst einmal einem anderen Philosophen unterstellt werden, einem „nonkonformistischen" Gelehrten „der südhessischen Grundlagenfolklore" 244 , der dem Perspektivismus zumindest ebenso verpflichtet ist wie Nietzsche: nämlich O. Marquard, dessen programmatischer Skeptizismus nicht müde wird, als Ziel zu betonen, „alle Philosophien zu haben oder jedenfalls möglichst viele, um immer gerade die andere zu haben." 245 Ganz in diesem Sinne reduziert sich Marquards Denkanspruch zur fallorientierten Produktion von „Einweggedanken", d. h. von Gedanken, die „nur einmal gedacht und gebraucht [werden] und dann nie wieder auftauchen" 246 , seine an aphoristischen Höhepunkten entsprechend reiche 242
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13/135; vgl. 13/146, das sich eindeutig für „Consequenz" ausspricht — im Leben wie im Denken. die freilich, als Resultat eines „langen, tapferen, arbeitsamen und unterirdischen Ernstes" (5/ 255), von Nietzsche bevorzugt werden! wie er sich selbst bespöttelt (Inkompetenzkompensationskompetenz? in: Abschied vom Prinzipiellen, S. 27) ebd., S. 35 Ende des Schicksals, in: a. a. O., S. 67. Nicht weiter verwundern wird es, wenn diese Vorstellung in einem Bestseller unserer Tage „vermarktet" wird, der von Hauff über Nietzsche bis zu O. Marquard so ziemlich alles aufgegriffen hat, dessen er nur habhaft
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„Transzendentalbelletristik" 247 steht unter dem durchaus ernst zu nehmenden Motto: „Hier stehe ich und kann auch immer noch anders" 248 . Unwillkürlich fallt einem der Satz von L. Sterne ein, der — von Nietzsche explizit als „freier Geist" gerühmt (2/424) — ja sicherlich nicht aus der Warte des Dogmatikers argumentiert, wenn er schreibt: Z u was f ü r einem Wetterhahn m ü ß t e nicht der g r ö ß t e Philosoph w e r d e n , w e n n er n u r [...] solche G e d a n k e n denken wollte, dank denen er dauernd g e z w u n g e n w ä r e , den Gesichtspunkt zu wechseln! 2 4 9
Ich meine, ein Wetterhahn ist Marquard sicherlich am allerwenigsten, denn — und hierin liegt sein Unterschied zu Nietzsche — er postuliert den Perspektivismus zwar in seiner Reinform, den „Vielfall" anstelle des bloßen Einfalls 250 , jedoch — und in solchem Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis liegt wieder eine Gemeinsamkeit mit Nietzsche — jedoch er vertritt diese Ansicht lediglich auf theoretischer Meta-Ebene. In der Praxis dagegen (also dort, wo es nicht mehr darum geht, wie, sondern: was zu denken sei) bezieht er sehr wohl einen ziemlich fest umrissenen Standort — denjenigen des Skeptikers nämlich 251 . Und die angeblichen „Momentaufnahmen" 252 seiner angeblichen „Einweggedanken" 253 tauchen an anderer Stelle ebenso wieder auf wie die Idee des Einweggedankens selbst: als „Wegwerftheorem" 254 . Es erhebt sich die Frage, ob ein als absolut sich ausgebender Perspektivismus nicht bloß als Maske aus „dreihundert Vordergründen" (5/231) verwandt wird, hinter der sich ein recht konsequenter Denkprozeß verbirgt: „Hat man ihn [einen starken Glauben], so darf man sich den schönen Luxus der Skepsis gestatten", bestätigt Nietzsche in der „Götzen-Dämmerung" (6/119), und so, aus derart übergreifender Perspektive gesehen, reduzieren sich Anspruch und Gültigkeit je einzelner Perspektiven beträchtlich: Wir können nicht um unsre Ecke sehn: es ist eine hoffnungslose Neugierde, wissen zu wollen, was es n o c h f ü r andre A r t e n Intellekt und Perspektive geben könnte. (3/626)
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werden konnte: in U. Ecos „Name der Rose", dessen Schlußerkenntnis von O. Marquard diktiert sein könnte: „Die einzigen Wahrheiten, die etwas taugen, sind Werkzeuge, die man nach Gebrauch wegwirft." (S. 626) Abschied vom Prinzipiellen, in: a. a. O., S. 9 Lob des Polytheismus, in: a. a. O., S. 111 Tristram Shandy, S. 271 Lob des Polytheismus, in: a. a. O., S. 110 Und im Gegensatz dazu wäre Nietzsche geradezu als Dogmatiker zu bezeichnen, der in seinen perspektivisch, sprich: skeptisch vertretenen „Interims-Standpunkten" ja keineswegs aufgeht: „Wir sind durchaus nicht .liberal'" (3/629) —, dies Selbstbekenntnis des späten trifft natürlich bereits auf den „mittleren" Nietzsche zu (und auf den frühen allemal). Vorbemerkung in: Abschied vom Prinzipiellen, S. 3 Ende des Schicksals? in: a. a. O., S. 67 ebd., S. 86
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Geht man aber erst einmal davon aus, daß selbst der Freigeist gebunden ist — eben an seine Perspektive des freien Geistes —, so fallt um so deutlicher ins Auge, daß es allein „das Freiblicken^ö»»««" (13/23), das „Anders-sehnwollen" (5/364) ist, das Nietzsche propagiert 255 , niemals das ziellose „Freiblicken" resp. „Anders-Sehn"! Und eingeräumt werden muß, daß selbst diese Ideale, wie Ideale generell, nur „eine Form von Traum, Ermüdung, Schwäche" darstellen (13/106)... Ist Perspektivismus also bestenfalls eine Maske des Dogmatikers und, um die hiermit aufgeworfene Frage zu generalisieren: Ist Perspektivismus überhaupt in der philosophischen Praxis möglich oder ist das je subjektive Standort-beziehen-Müssen ebensowenig zu umgehen wie die durch Grammatik vorgezeichneten Denkstrukturen 256 ? Oder käme ein solch programmatischer — wohlgemerkt weder von O. Marquard noch gar von Nietzsche praktizierter — Skeptizismus in realiter herab zum „kosmopolitischen Affektund Intelligenz-Chaos" (13/17), zum „Bordell der Möglichkeiten", um ein krasses Wort von P. Valéry einmal anzuwenden 257 ?
d) Perspektivismus in der Literatur der Moderne Das wäre die eine — die sich selbst prostituierende — Variante, allerdings nicht die neueste: Schon L. Börne weiß ja Theorie und Praxis bequem zu trennen, indem er — der politisch engagierte Jungdeutsche — eine Position bezieht, wie sie von einem O. Wilde oder jenem anderen Ästhetizisten der Jahrhundertwende eher zu erwarten wäre: Seiner Handlungsweise m u ß man ergeben bleiben; dem D e n k e r aber ist ein Harem erlaubt, damit er dem Z u g e der Schönheit folge, nicht dem Z w a n g e des Systems. 2 5 8
Eine zweite Variante — und die gibt sich wesentlich seriöser — besteht im Nihilismus, in den der Skeptizismus über den Umweg des Zynismus sehr schnell in der Lage ist umzukippen. Denn läßt sich das saloppe Diktum von K. Kraus —
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Der Antagonismus von Wille und Sein, wie er mehrfach bereits angesprochen wurde, zeichnet sich als Leitmotiv seiner praktischen Philosophie ab, als eine Art kategorischer Imperativ ständiger Selbst-Überwindung, der mindestens ebenso stark „nach Grausamkeit riecht" wie derjenige Kants (5/300). vgl. dazu das fundamentale Diktum: „Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben..." (6/78) Monsieur Teste, S. 78 Aphorismen und Miszellen, Nr. 215, in: Sämtliche Schriften, 2/290
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Es kommt schließlich nur darauf an, daß man überhaupt [...] nachdenkt. Widersprüche, die man zwischen seinen eigenen Resultaten finden mag, beweisen nur, daß man in jedem Falle recht hat. 259
— läßt sich diese Offenbarung der Selbstzufriedenheit nicht etwa lesen als Offenbarungseid des Denkens, ist das Recht-Haben nicht ebenso „unrettbar verloren" mit dem Hinfall seines Gegenteils, des Unrecht-Habens, wie das „Ich", dessen Individualität sich schließlich durch Nicht-Beliebigkeit seiner Ansichten auszeichnet? Und würde bei völliger Freizügigkeit der Reflexion das urmenschliche Bedürfnis nach Erkenntnis nicht verhungern zwischen seinen gleich-wertigen Meinungen wie Buridans Esel zwischen den (allerdings inzwischen unübersehbar vielen) Heuhaufen? — Kaum von ungefähr kommt es ja, daß der angebliche Perspektivist Nietzsche seine Hauptaufgabe gerade darin sieht, einem dergestalt aufziehenden Nihilismus neue Werte entgegenzusetzen —, nicht zuletzt auch deshalb, weil sich in jenem bereits eine dritte Variante ankündigt: Ist man nämlich einmal „keine Person mehr, höchstens ein Rendezvous von Personen" (13/518), weil sich das „Rendezvous von Erfahrungen" (13/540), Anschauungen und Begriffen nicht mehr zur Einheit einer Persönlichkeit zusammenfassen läßt, so gewinnt das für den „Starken" 260 so reizvolle Spiel mit sämtlichen Aus- und Einsichten den Charakter tödlichen Ernstes, genauer: einer präpathologischen Ichspaltung 261 : „Unsere Art, die Tyrannen [die den Gesamtcharakter dominierenden Leitbegriffe und -ideen] zu morden [mittels „Demokratie der Begriffe in jedem Kopf" 262 ], — wir winken nach dem Irrenhause hin." (2/657) All seinen Warnungen zum Trotz, wie bekannt, verdüstert der zunächst so verheißungsvolle „Nihilismus der tausend Möglichkeiten" sehr schnell den Kulturhimmel des anbrechenden Jahrhunderts — selbst für abgebrühte „Taschenspieler des Geistes" 263 vom Schlage eines Walter Serner, dem es in 259 260
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zit. nach M. Wiesner, Lou Andreas-Salomé: Die Erotik, S. 4 der sich durch die Kraft auszeichnet, alle disgregierenden Tendenzen seines Innenlebens zusammenzufassen in einem Willen. — Insofern betrachtet ist „Perspektivismus" ein exklusives, geradezu elitäres Konzept — für Übermenschen nur und allenfalls solche, die es werden wollen. nicht im Sinne Freuds; das „Ich", wie er es versteht, ist nur zum Teil bewußt, umfaßt auch unbewußte Mechanismen wie Wahrnehmung oder Verdrängung, sein Zerfall (in zwei antagonistische, nicht: in perspektivisch zersplitternde Teile) wird von ihm immer als psychotisch gewertet. Dagegen impliziert das „/^^pathologische" einer Ichspaltung im Sinne Nietzsches ja gerade die bewußte Entscheidung dafür! — Zur genaueren Abgrenzung s. Freuds Aufsatz „Die Ichspaltung im Abwehrvorgang", in: Gesammelte Werke, 17/59 ff.; vgl. J. Laplanche u. J. B. Pontalis, Ichspaltung, in: Das Vokabular der Psychoanalyse, 1/207 — 210 vgl. in diesem Zusammenhang O. Marquards föderalistischen „Sinn für Gewaltenteilung" im Denken (Abschied vom Prinzipiellen, in: a. a. O., S. 19), der ihm zufolge die Freiheit des Denkers verbürgt! S. auch: Lob des Polytheismus, in: a. a. O., S. 98 W. Serner, Letzte Lockerung, S. 76
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seinem dadaistischen „Handbrevier für Hochstapler und solche die es werden wollen" bloß scheinbar leicht fallt, „sich zuzugeben, daß man im Grunde gar keine Einstellung hat" 264 . Ebenso für einen derart redlichen Künstler wie Benn, der ohne Beschönigung gesteht: „Welches ist nun der Standpunkt des Ichs? Es hat keinen" 265 . Jene zeitgenössische Verlorenheit in der Überfülle projiziert Benn nun allerdings bereits in Nietzsche hinein, indem er ihn als prototypisch modernen „Menschen ohne Inhalt" sehen will, ihn zum reinen Sprachartisten reduziert und die rhetorische Frage „Verkündete er eine Philosophie?" beantwortet mit einem glatten „Keineswegs" 266 . Dabei kann die Fehlinterpretation gar nicht einseitiger sein, wenngleich kaum produktiver. Benns Artistentum ist zwar an demjenigen Nietzsches orientiert, nichtsdestoweniger kategoriell davon geschieden, ist die notwendige Konsequenz eines falsch verstandenen Perspektivismus —, falsch nämlich im Sinne von R. Spaemanns Ausspruch: „Originell sind wir ohnedies nur in bezug auf das Falsche." 267 Solch produktives Mißverständnis, zusammen mit manch anderen 268 , ist ganz wesentlich mitverantwortlich für die Entstehung unserer literarischen Moderne, die Perspektivismus nicht als Mittel, sondern als Zweck begreift. Denn was sich in der philosophischen Praxis schließlich selbst widerlegt —, in der literarischen „funktioniert" es bestens, wie z. B. C. Einsteins „Bebuquin", Schnitzlers „Reigen" 269 , Gides „Falschmünzer" 270 beweisen — oder gar Calvinos grandios polyperspektivisch geschichteter Roman „Wenn ein Reisender in einer Winternacht", der Autor 271 , Figuren 272 wie Fabelführung 273 auflöst bzw. vervielfacht nach dem Motto: „Paß auf, Leser, hier ist alles anders, als es zu sein scheint, hier hat alles zwei Gesichter..." 274 . Daß sich aber die 264 265 266 267
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a. a. O., S. 46 Roman des Phänotyp, in: Gesammelte Werke, 2/185 Nietzsche — nach fünfzig Jahren, in: a. a. O., S. 488 zit. nach: R. Low, Leben aus dem Labor, S. 223; vgl. 13/85: „Nur durch Mißverständnisse befindet sich alle Welt im Einklang. Wenn man, unglücklicherweise, sich begriffe, so würde man sich nie mit einander verstehen". Erstaunlich ist z. B. auch die glatte „Umkehrung" von Nietzsches Idee des Übermenschen, wie sie durch die expressionistische vom „neuen Menschen" vorgenommen wird. Obwohl offenkundig vom Postulat Nietzsches abgeleitet, stellt letzterer hinsichtlich seiner mitmenschlichen Verantwortlichkeit, seiner geradezu „sozialistischen" Mitleidsfahigkeit, das glatte Gegenstück dar zur Inkarnation des Willens zur Macht, wie sie Nietzsche im höheren Typus ersehnt. vgl. auch „Fräulein Else", in: Das erzählerische Werk, 5/253: Perspektivismus als (die verschiedensten Möglichkeiten antizipierendes) Probedenken Perspektivismus als Wechsel des £>£ii/«rstandorts wird von A. Gide expliziert reflektiert (z. B. S. 77). vgl. insbes. S. 189 S. 196, 201, 259 Intendierte Widersprüchlichkeit der Fabelführung insbesondere im Abschnitt „Rings um eine leere Grube" a. a. O., S. 264
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Hochschätzung von Widerspruch und doppeltem Boden seitens der Künstler nicht nur beschränkt auf die Kunstwerke und insofern selbst nicht ganz unproblematisch ist, belegt eine Äußerung Musils, die stellvertretend steht für eine Unzahl ähnlicher, geradezu modischer (Lippen-P)Bekenntnisse der Jahrhundertwende: „Es gibt Wahrheiten, aber keine Wahrheit. Ich kann ganz gut zwei völlig entgegengesetzte Dinge behaupten und in beiden Fällen recht haben." 275 Dabei ist es nicht erst „der moderne Mensch", der „in einem Athemzug Ja und Nein" sagt — um einmal ein Nietzschewort aus seinem Kontext zu lösen und sinnentstellend zu zitieren 276 — ; schon Molière kennt das Prinzip der „doppelten Optik" recht gut, wenn er einer seiner Dramenfiguren die ebenso zynisch wie modern anmutende Bemerkung in den Mund legt: „Les uns disent que non, les autres disent que oui: et moi je dis que oui et non." 277 Ist es da wirklich noch als Zeichen der Moderne zu lesen, wenn Gide genau jene Willkür der Positionswahl zu seiner Position erwählt —, oder handelt es sich um bloße Bequemlichkeit, als die Robert Walser solch „Persönlichkeitsspaltung" deutet? 278 Oder läuft der große Weltriß noch immer mitten durchs Herz des Dichters wie zu Zeiten Heines 279 und spaltet sein Innerstes in These und Antithese? — Ist es also Modernität oder Zynismus, Unsicherheit, Zerrissenheit oder von jedem etwas, wenn Gide notiert: „Auf die rechte Seite schreibe ich eine Meinung, doch immer erst dann, wenn ich auf die linke Seite, genau gegenüber, die entgegengesetzte Meinung setzen kann" 280 ? Das Jahrhundertwende-Ideal der „vielfachen Person" (Hofmannsthal 281 ) soll hier nicht länger untersucht werden, offensichtlich ist es nur innerhalb, nicht außerhalb des Kunstwerks einzulösen. Der gegenüber Transzendentalbelletristen à la Marquard bereits ausgesprochene Verdacht muß jedenfalls auf Belletristen aller Art ausgedehnt werden —, einschließlich der Person Benns, dessen (rein theoretischer) Grundsatz, das moderne Ich habe schlichtweg keinen Standort, selbst schon als Standort zu verdächtigen ist: Assoziiert man bei seinem Namen doch nicht irgendeine Beliebigkeit an Stil- und
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Aphorismen, in: Gesammelte Werke, 7/811 ff. s. dazu Anm. 324 nach Hofmannsthal, Buch der Freunde, in: Gesammelte Werke, Bd. 2168, S. 236. Eine groteske, wenngleich nur spielerisch vorgeführte Steigerung jenes Desinteresses an Urteilsbildung und Wahrheitsfindung bei L. Sterne: „Da das gegen meine Hypothese spricht, so geht es mich nichts an!" (Tristram Shandy, S. 724) Der Gehülfe, S. 43: „Der Mensch besteht nicht aus zweierlei Dingen [= Verhaltensweisen bzw. den zugrundeliegenden Meinungen], sonst wäre wahrhaftig das ganze Erdenleben eine zu bequeme Sache." Bäder von Lucca, in: Sämtliche Schriften, 3/405 Die Falschmünzer, S. 169 Buch der Freunde, in: Gesammelte Werke, Bd. 2168, S. 235
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Gedankenrichtungen, sondern eben, mehr oder weniger genau, diesen einzigartigen Benn! Wird der radikale Perspektivismus indessen einmal erkannt als nicht praktikabel, so relativieren sich die vielfachen Bekenntnisse zu ihm — wenn auch erst auf den zweiten Blick — in Bekenntnisse zu einem diachronen Verfahren der Ich-Segmentierung: Ich bin immer nur das, was ich zu sein glaube, und das wechselt so unablässig, daß — wäre ich nicht da, um den Verkehr zu vermitteln — oft mein Wesen vom Abend das vom Morgen nicht wiedererkennen würde. Nichts kann verschiedener von mir sein als ich selbst. (Gide) 282
Das erinnert an E. Machs Ich-Dissoziation, vielleicht gar an Descartes —, mit Sicherheit wiederum an Nietzsche, der derartige Selbst-Verwandlungen, „bloße" Meinungsänderungen im Lauf der Zeit, nachgerade zum Programm erhebt:
e) „Du widersprichst heute dem, was du gestern gelehrt hast — Aber dafür ist gestern nicht heute, sagte Zarathustra."283 So schnell jedoch wird ein Meinungswechsel bei Nietzsche, der ja nicht zu verwechseln ist 284 mit seinem „Sohn" Zarathustra 285 , gar nicht vollzogen 286 . Eine wie auch immer geartete Dynamisierung allerdings der (Selbst-) Widersprüche 287 von solchen innerhalb des Denkraumes zu solchen hinsichtlich seiner verschiedenen Entwicklungsstadien, seiner im Medium der Zeit Die Falschmünzer, S. 63, vgl. S. 175; selbst ein diachroner Perspektivist wäre aber noch zu fragen, welches „Ich" denn den „Verkehr" vermittelt: Ein rein physisches kann es nicht sein, da es ja das „Wesen" ist, das hinübergerettet werden soll vom Morgen in den Abend, eine „Meta-Instanz" andrerseits, ein Ich des Ichs gewissermaßen, würde das Axiom ständiger Selbst-Verschiedenheit von vornherein widerlegen... 283 9/598; wohl als Vorstufe zu 4/52: „Ich verwandele mich zu schnell: mein Heute widerlegt mein Gestern." 284 w j e e s a Verrecchias Dokumentation über Nietzsches Turiner Zusammenbruch schon im Titel nahelegt 285 7. 5. 1885 an E. Nietzsche, KGB 7/48; vgl. selbst dessen — Zarathustras — Polemik gegen den Schauspieler, dem er gerade das vorwirft, was er für sich selbst wenige Seiten zuvor reklamierte: „Morgen hat er einen neuen Glauben und übermorgen einen neueren." (4/65) Es gibt also, wie nicht anders zu erwarten, zweierlei Art des Meinungswechsels: den bloßen ( = negativen) und den teleologisch eingebetteten (Zarathustras). 286 Immerhin liebt er „die kurzen Gewohnheiten" (3/535), die zwar keine unbegrenzt dauernden, aber dennoch — Gewohnheiten sind! 287 Zu berücksichtigen bleibt, daß sich zahlreiche (positive) Äußerungen Nietzsches zum Widerspruchsproblem keinesfalls auf interne Denkwidersprüche beziehen, z. B. 3/537: „WiderspruchVertragen-können [ist] ein hohes Zeichen von Cultur" —, nämlich in dem Sinne, „dass der höhere Mensch den Widerspruch gegen sich wünscht und hervorruft"! Die Anspielung auf Piaton ist offensichtlich. (Gorgias, in: Sämtliche Werke, 1/334)
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sich vollziehenden Meinungs-Bildung, entbehrt jeglichen revolutionären Anspruchs, mit dem sie unter dem Namen „Perspektivismus" bislang gehandelt wurde. Vielmehr in jeder Epoche läßt sie sich nachweisen und im Werk — um ein paar beliebige Beispiele zu nennen — von so unterschiedlichen Autoren wie Balzac288, G. Keller289 oder S. Nadolny, der den Gesinnungswandel eines Indianerhäuptlings mit ähnlich drastischen Worten begründet wie Nietzsche denjenigen Zarathustras: „Ich esse meine Worte. Es waren die Worte für Sommer und Herbst, jetzt aber wird es Winter."290 Einzig an der Zeitspanne scheint es zu liegen, ab wann ein (prinzipiell gerechtfertigter) Meinungswechsel als Willkür empfunden wird, als Schwanken im Urteil, das niemand mehr ernst nimmt291; und Nietzsche, der sich nicht nur auf dem Papier dem Werden verschrieb, hat weniger dazu beigetragen, die als „normal" nachempfindbare Zeitspanne zu verkürzen292, als vielmehr das Werden auch im Bereich philosophischen Denkens vorzuexerzieren gegen eine bis dato ungebrochene Tradition statischer Systemphilosophie.293 Das Risiko, „fürderhin inconsequent genannt zu werden", bewußt in Kauf nehmend294, bemüht er sich geradezu ein wenig krampfhaft um Weiterentwicklung; seine allzu zahlreichen Beteuerungen, er „habe die Hand dafür, Perspektiven umzustellen"295, legen den Verdacht nahe, er könne dies vielleicht gar nicht296 —, nämlich im Sinne eines beliebig wechselnden, d. h. verantwortungslos spielerischen Umstellens. Sein Zusammenbruch vom Januar 1889 als Resultat einer Jahre vorher schon einsetzenden Perspektivenverengung und vereinseitigung belegt den Verdacht aufs erschütterndste: Ist der „Umwerter aller Werte" spätestens doch seit Niederschrift der „Götzen-Dämmerung" ein Gefangener seines bereits allzu vollständig errichteten Wertesystems. Bis dahin allerdings war es ein wechselvoller Weg, und Nietzsches „Psychologie des ,Um-die-Ecke-sehns'" (6/266) führte immerhin dazu, daß er zweimal um ganz entscheidende Ecken seines jeweiligen Gedankengebäudes
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Das Chagrinleder, S. 61 Die Leute von Seldwyla, in: Sämtliche Werke, 3/11: hier allerdings in parodistischer Absicht Die Entdeckung der Langsamkeit, S. 230 Diese Art der Unbeständigkeit wirft A. Verrecchia dem Denken Nietzsches tatsächlich vor. (Zarathustras Ende, S. 192, 206) Mehrfach betont er ja: „das Dauerhafteste [in einer Welt des Werdens] sind noch unsere Meinungen". (12/100) ab „Menschliches, Allzumenschliches", z. B. in 2/349 2/131, vgl. 4/81 6/266, vgl. 355, 13/630 f. Schließlich bleibt seine Maskentheorie hier zu berücksichtigen und sein Wille, stets „das Gegentheil davon dar[zu]stellen, was man ist" (13/476).
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auch ging2t)1\ ein je praktischer Perspektivenwechsel 298 , der die Philosophie des Werdens, der konstanten Veränderlichkeit der Außenwelt, ergänzt: Heraklits „Fluß der Dinge" findet in Zarathustras Lehre ihre Steigerung im Fluß der Meinungen und Werte —, selbst deren „Geländer und Stege" seien „in's Wasser gefallen" 299 . „Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt", dieser Tenor des „Nachgesangs" „Aus hohen Bergen" (5/243) hallt freilich schon durch die früheren Werke Nietzsches, schlägt sich dort nieder vornehmlich in der Metapher der Schlangenhäutung: Die Schlange, welche sich nicht häuten kann, geht zu Grunde. Ebenso die Geister, welche man verhindert, ihre Meinungen zu wechseln; sie hören auf, Geist zu sein. 300
Die „Schlangenklugheit [...], die Haut zu wechseln" (2/372) — eine „Forderung der Reinlichkeit" in geistigen Dingen (2/701) und damit die Vorbedingung jeden Schaffens 301 —, ist natürlich keine beliebig abrufbare; „es steht uns Philosophen nicht frei, zwischen Seele und Leib zu trennen" (3/ 349), wie oben bemerkt, und allein wer „den Gang durch viele Gesundheiten gemacht hat [...], ist auch durch ebensoviele Philosophien hindurchgegangen" 302 . Ein solcher „Gang durch „viele Gesundheiten" (ebd.) ist natürlich kein anderer als der durch ebensoviele Krankheiten, durch Krisensituationen, die „Häutungen" von Körper und Geist möglich, geradezu nötig machen: „Erst der grosse Schmerz ist der [...] Befreier des Geistes" (3/350), nur aus dem Kampf gegen die Krankheit kommt man „als ein anderer Mensch heraus" (ebd.). Ein Perspektivenwechsel demnach ist alles andere als reine Willkür des Erkennenden, eher eine lebensnotwendige Sofortmaßnahme durch Abstoßung all dessen, „das sterben will" 303 .
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diejenigen von 1876 und 1881/82 (näheres dazu in Kap. II.l.). — „Kannst du um die Ecke sehn?" — das heißt ja nicht mehr als: den eignen, eng begrenzten Standort als solchen wahrnehmen mittels Blick auf andere mögliche Wertungen und Standpunkte: „das Perspektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen" samt der „nothwendigen Ungerechtigkeit" darin. (2/20) Um die Ecke gehen —, das erst ist Aufbruch und Weiterentwicklung des Denkens. Zum Meinungen-Verdauen s. auch 5/180 4/252. Man lese unter diesem Gesichtspunkt Zarathustras frühere Selbstcharakteristik, die seine Lehre entsprechend relativiert: „Ich bin [ebenfalls nichts anderes als] ein Geländer am Strome: fasse mich, wer mich fassen kann!" (4/47) 3/330, vgl. S. 351, 354 4/110, vgl. S. 106 f. ebd. — Balzacs bloße Versicherung, „daß wir in jedem Augenblicke neue einzigartige Wesen sind, ohne jede Ähnlichkeit mit denen, die wir sein werden, und denen, die wir gewesen sind" (Das Chagrinleder, S. 221), erscheint im Vergleich zu Nietzsche verhältnismäßig naiv. 3/400. Gerade auch unter diesem Aspekt muß ein „starker [also fester] Charakter" als dumm erscheinen. (5/92; vgl. Kap. I., S. 22f.)
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Eine zweite Metapher für das organische Wachsen des menschlichen Innenlebens findet sich in der „Fröhlichen Wissenschaft" ebenso wie im „Zarathustra": Wir wachsen wie Bäume — [...] nicht an Einer Stelle, sondern überall, nicht in Einer Richtung, sondern ebenso hinauf, hinaus wie hinein und hinunter, [...] es steht uns gar nicht frei, irgend etwas Einzelnes noch zu sein ... 3 0 4
Allerdings geschehen Wachsen und Werden nicht völlig willenlos und zwangsläufig; ein Aphorismus der „Morgenröthe" scheint jene Metapher geradezu vorwegzunehmen, wenn er den Antagonismus zwischen Naturnotwendigkeit und freier Selbstbestimmung auf folgende Weise auflöst: „Man kann wie ein Gärtner mit seinen Trieben schalten", sie entweder „fruchtbar und nutzbringend ziehen" oder bloß „die Natur walten lassen" (3/326) —, dabei ist der Zusammenhang zwischen „Trieben" und ihrer jeweiligen „perspektivischen Abschätzung alles Geschehens" (12/25) stets mitzudenken. Auf diese und ähnliche Weise begründet Nietzsche immer wieder, daß nicht nur jede Meinung, sondern der gesamte Mensch sich in ständigem Werden befindet — „du bist immer ein Anderer" 305 —, allerdings „nicht beliebig [...], sondern aus einer gemeinsamen Wurzel heraus, aus einem in der Tiefe gebietenden [...] Grundwillen der Erkenntniss." (5/248) Einzig ein solch tiefer wie baum-„hoher starker Wille" 306 könne die „lange Logik" 3 0 7 verbürgen, die einzelnen Wertungen und Meinungen ebenso notwendig heranreifen lassen wie „ein Baum seine Früchte" (ebd.). Daß es sich im Falle seiner aphoristischen Philosophie „nicht um ein Durcheinander von hundert beliebigen Paradoxien und Heterodoxien" 308 handelt, daß auch all sein „Loben und Tadeln [...] perspektivisch [ist, nämlich:] von einem Willen zur Macht aus" (12/27), das hat Nietzsche so zahlreich beteuert, insbesondere in seinen Briefen 309 , daß die Betonung seiner „sprunghaften Weltbetrachtung" 310 in der 304 305
306 307 308 309
310
3/623, vgl. 4/51 3/544; in diesem Punkt in Konsens mit (einem allerdings größenwahnsinnigen) Anatol („Hast du übrigens etwas dagegen, wenn ich das Gegenteil von dem behaupte, was ich vor einer Minute sagte?", Schnitzler, Anatols Größenwahn, in: Das dramatische Werk, 1/107) und der Philosophie E. Machs. Die Übereinstimmung endet freilich spätestens da, wo das Phänomen der ständigen Selbst-Veränderung verankert wird bei Nietzsche in demjenigen einer dauerhaften Selbst-Beständigkeit. 4/348: Auch die Huldigungsrede des „Königs zur Rechten" greift jene Metapher auf, vergleicht Zarathustra dezidiert mit einer Pinie. 8. 1. 1888 an G. Brandes, KGB 8/228 s. Anm. 307 und 111 z. B. an H. Köselitz, 20. 8. 1882, KGB 8/238, an E. Rohde, Dezember 1882, KGB 6/291, an E. Nietzsche, 10. 7. 1883, KGB 6/395, an F. Overbeck (Entwurf), 14. 8. 1883, KGB 6/425 f., vgl. S. 428 H. Landsberg, Friedrich Nietzsche und die deutsche Litteratur, S. 46
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Das Problem des Widerspruchs bei Nietzsche
Sekundärliteratur, ja die Behauptung, er „habe kein Ich, kein bleibendes Zentrum" 311 , lediglich befremden kann. Zwar liebte er es, um ein drittes seiner in entsprechendem Zusammenhang mehrmals auftauchenden Gleichnisse aufzugreifen, „bald aus diesem, bald aus jenem Fenster zu blicken" 312 —, aber anstatt ausschließlich die zweifelsohne vorhandene Vielheit seiner Denkansätze zu betonen, sollte man besser im Auge behalten, daß all die verschiedenen Fenster zu ein und demselben Gedankengebäude gehören. Einem Gedankengebäude, das selbstverständlich die Kulturkritik beinhaltet; dem Schlußergebnis von I. Beithans Untersuchung — Nietzsches Urteil über die deutsche Literatur [steht] [...] immer vereinzelt da, ist lediglich D o k u m e n t eines scharfen [...] Geistes [...], nicht D o k u m e n t eines eindeutig gerichteten Willens und auch nicht Zeugnis eines neuen Zeitgeistes. 3 1 3
— kann bereits aufgrund des bisher Gesagten nicht zugestimmt werden. Ganz entsprechend muß mit Nietzsches vielfach dokumentierter Auflösung des Subjektbegriffes 314 verfahren werden: Wenn dabei, etwa seit Konzeption seines „Jenseits von Gut und Böse", die Seele als „Subjekts-Vielheit", als „Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte" interpretiert wird 315 , so ist doch als „das Höchste und Verehrungswürdigste" immer noch die gewaltsame Synthetisierung sämtlicher „Unterwillen oder Unter-Seelen" (5/33) hervorgehoben 316 , deren Bändigung in ein „ganzes vielfaches Ich" 317 . Prägnanter läßt sich der Sachverhalt nicht fassen, als in jener paradox anmutenden Formulierung; eine bloße „Mehrheit der ,Person'" gilt Nietzsche ebenso wie bloße Meinungs-Vielheit als „Schwäche des Willens" 318 und Zeichen von „Niedergangsnaturen", denen das koordinierende „Schwergewicht" einer Aufgabe ermangele. 319 311 312 313 3,4 315
316
3,7
318
319
K. Joel, Nietzsche und die Romantik, S. 169 12/143, vgl. S. 142 Friedrich Nietzsche als Umwerter der deutschen Literatur, S. 216 z. B. 12/465, 13/258, vgl. die zahlreichen Ausführungen zu „Thun und Thäter" 5/27, s. bereits Novalis (Blütenstaub, in: Werke in einem Band, S. 332), der das Bild ähnlich verwendet. Vgl. auch die polemische Vervielfältigung von Fausts „zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust" in „Jenseits von Gut und Böse", 5/184 12/36, in anderem Kontext — in einer Polemik gegen christliches Denken — wird die „Kraft, das Verschiedenste in einander wachsen zu lassen" als „erstaunliche Grobheit und Genügsamkeit" des Intellekts abgewertet. Dies Urteil ist jedoch ein „flüssiges", s. Kap. II.5. 13/249, vgl. schon Diderot, dessen „Traum d'Alemberts" lt. E. Sander jedes Lebewesen als „momentane Summe von Tendenzen" deutet. (Nachwort zu: Jacques der Fatalist..., S. 349) 13/290, vgl. 5/203, 13/394 und besonders 13/294: Bloße Widersprüchlichkeit ist geradezu „häßlich" —, eine der stärksten Abwertungen, die Nietzsches ästhetisch ausgerichtete Philosophie zuläßt. 13/327; zumindest sei sie naiv. (13/306) — Erst das Ziel bündelt ja alle Unterabsichten und -meinungen zum „Gesamtaspekt der Welt der Werthe", wie ihn Nietzsche für seinen Fall in mehreren Nachlaßfragmenten des Jahres 1888 darzustellen bemüht war. (13/303, 316)
Was eigentlich heißt „Perspektivismus"?
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Dialektik aber von Vielheit und Einheit erst trifft in den Kern von Nietzsches Philosophie; deren „Ganzheit im Vielen"320 verbürgt Geschlossenheit des Werks selbst dort, wo sie aufgrund oberflächlicher Offenheit höchstens in den Tiefen seiner Person vermutet wird, in der berühmten „Einheit von Leben und Lehre", die den Zusammenhalt schon schaffe.321 Derartig wohlwollende Rettungsversuche freilich hat das Werk Nietzsches gar nicht nötig; dessen Konzeption der „Ewigen Wiederkehr" als „extremster Annäherung einer Welt des Werdens an das Sein"322, also die Vermittlung von dynamischer Vielfalt und statischer Einheit, wird gerade auch in diesem Zusammenhang belegt. Nun läßt sich zwar von der „Unschuld des Werdens" ein Bogen spannen zur „Lehre von der Unschuld der Meinungen" (3/5§), solch „geistiges Nomadenthum" (2/469) indessen — stilgerecht dokumentiert in „Wanderbüchern" (2/376) — entbehrt aller Unschuld, wenn das „Herumziehn" und „Wechseln" nicht Äußerungsform einer Suche ist (2/375): „Auf jeder Möglichkeit [zu] tanzen" (13/476) dürfen sich lediglich diejenigen leisten, deren „gesammtes Denken streng und unerbittlich" verläuft (3/303): „Sie drehen sich zehnmal um eine Sache [...], aber endlich gehen sie ihren strengen Weg weiter." (ebd.) Voraussetzung der vorübergehenden Verzehnfachung der Perspektive ist somit, daß eine bisherige Einstellung dezidiert als Irrtum erkannt wird 323 ; bloß versuchsweises Glauben an wechselnde, eventuell gar in sich widersprüchliche Werte324 wird dagegen als Symptom des modernen Nihilismus geächtet (13/ 56 f.). Wenn der Weg im Falle Nietzsches wider Erwarten zwei entscheidende „Kehrtwendungen" markiert, wie vorhin bereits angedeutet, und die geradlinig teleologische Entwicklung verkompliziert zur dreiphasigen, so ist diese(r) 320
321 322
323 324
5/146; der Aphorismus gipfelt in folgender Definition: „Dies eben soll Grösse heißen: ebenso vielfach als ganz, ebenso weit als voll sein können." (S. 147) So schon P. Gast in seiner Vorbemerkung zu „Also sprach Zarathustra", S. 5; s. o. 12/312; vgl. L. Andreas-Salomé, die mit ihrer Idee v o m „Kreislauf des Lebens" (Die Erotik, S. 137) allerdings nur Stellung bezieht für den Wechsel —, nicht für „Dauer im Wechsel"! Eventuell wurde Nietzsche in dieser Hinsicht auch von der Schlußwendung des Gedichts angeregt, das Goethe unter eben jenem Titel geschrieben (Gedenkausgabe der Werke, 1/85 bzw. 512)... vgl. 2/355 6/122, vgl. 12/16 und 6/52: „Der moderne Mensch stellt, biologisch, einen Widerspruch der Werthe dar, [...] er sagt in Einem Athem Ja und Nein." Die Stelle, aus dem Kontext herausgelöst, wird gerne angeführt f ü r Nietzsches programmatische Widersprüchlichkeit; dabei steht sie in einem Argumentationszusammenhang, der sich auf ein spezielles Problem konzentriert, die instinktive (nicht: gedankliche) Gespaltenheit zwischen Herren- und Sklavenmoral. Nietzsche verurteilt sie selbstredend. — Ähnlich mißverständlich, für sich genommen, ist sein Entwurf eines neuen Menschen mit zwei getrennten Gehirnhälften —, einer künstlerischen, einer wissenschaftlichen (2/209). Denn nicht zuletzt zielt er gerade damit auf eine „neue Einheit" (2/420)!
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Das P r o b l e m des W i d e r s p r u c h s bei Nietzsche
nichts weniger als „streng": Handelt es sich doch um einen triadischen Ablauf, wie er im Vorwort zu „Menschliches, Allzumenschliches" beschrieben und am Anfang folgenden Kapitels nachgezeichnet wird. Vorweggenommen soll hier nur das plötzliche Abweichen und Abbiegen („Um die Ecke biegen") des Weges sein, das in eben jenem Vorwort als die „grosse Loslösung" (2/ 15) bezeichnet wird, als erster Schritt in Richtung „freier Geist". Daß ein derartiger Schritt keineswegs freiwillig erfolgt, braucht nicht erst biographisch begründet zu werden (durch den Bruch mit Wagner), es versteht sich schon aus dem oben Gesagten. Die sich anschließenden „Versuchs-Jahre", das Experimentieren mit den verschiedensten Denkweisen, wird von Nietzsche denn auch als „krankhaft" charakterisiert (2/17) — im Gegensatz zur gewissermaßen ungebrochen naiven Gesundheit, wie sie sich im Frühwerk abspiegelt, und derjenigen, die er Anfang der achtziger Jahre wieder verspürt: der „grossen Gesundheit" (2/18). Perspektivismus im Rahmen seiner Gesamtentwicklung ist also, theoretisch gesehen, „eine Gesundheitslehre" (2/371), praktisch eine Form aktiven Vergessens 325 früherer zugunsten späterer Blickpunkte 326 . Nicht mehr und nicht weniger ist er als „ Willen (!) zur Gesundheit" (2/18), ist eine Zwischenlösung; und lediglich wenn man jene isoliert betrachtet, ergibt sich das schillernde Bild Nietzsches als Perspektivist. Oder, als dessen Spielart, dasjenige des Zynikers, der „innerlich laviert und äußerlich panzert", wie es P. Sloterdijk sehen möchte 327 : eine Ansicht, die so ziemlich den Gegensatz dessen aufzeigt, was Nietzsche wirklich war. Auch bei ihm nämlich ist der Weg des Geistes der Umweg, auf dem er sich in allerlei Abwegen zu verirren scheint... Scheint! 328 Ebenso, wie man zum Schein nur „einen Charakter darstellen [kann], der es verbirgt, daß man fünf sechs andere hat" (13/476); einzig eine literarische Figur verfügt über die Möglichkeit, wie gezeigt, „eine ganze Menge schöner Leben [zu] führen" 329 —, bereits der Verfasser dieses Satzes, L. Sterne, mußte auf eben das seinige sich beschränken. Für einen Menschen nämlich mit einer — einer! — festumrissenen Kontur, wie wir sie nun einmal alle nach dem er sich allen G r u n d hatte zu sehnen; vgl. 13/557: „Wirf dein Schweres in die Tiefe! Mensch, v e r g i ß ! Mensch, v e r g i ß ! G ö t t l i c h ist des Vergessens K u n s t ! " (vgl. 3/354 und die lange A b h a n d l u n g über das Vergessen als „eine F o r m der starken Gesundheit", 5/291 ff.) 326 £) e n Gesamtablauf seines Denkens zeichnet ein A p h o r i s m u s aus „Menschliches, Allzumenschliches" II hinsichtlich der Genese einzelner G e d a n k e n nach: „Wenn man erst sich selber gefunden hat, muss man verstehen, sich von Zeit Zeit zu verlieren — und dann wieder zu finden" (2/689). Triadisches D e n k e n ist also bei Nietzsche auch b e w u ß t gehandhabte Methode. 3 2 7 K r i t i k der zynischen V e r n u n f t , S. 12 3 2 8 Zarathustra n i m m t auf die Diskrepanz zwischen Sein und Schein deutlich Bezug, w e n n er seufzt: „ A c h , w e r meinen Willen erräth, erräth w o h l auch, auf welchen k r u m m e n Wegen er gehen muss!" (4/148) 3 2 9 Tristram Shandy, S. 3 4 7 325
Schlußbemerkung: Perspektivismus — Mittel oder Zweck?
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haben, läßt sich der ernsthafte Versuch des Nachdenkens nicht vereinbaren mit einer kokett-perspektivisch sich einkleidenden „Taschenspielerei des Geistes" ä la Serner330: „Philosophie ist, wenn man trotzdem denkt." (O. Marquard330*)
4. Schlußbemerkung %um ersten Kapitel: Perspektivismus
— Mittel oder Zweck?
Abschließend gilt es, das bislang Erarbeitete kurz zusammenzufassen und dabei durch einige weiterführende Überlegungen zu ergänzen. In Anbetracht des oben Gesagten ist die hier gestellte Frage nach Mittel oder Zweck sicherlich zugunsten des ersteren zu entscheiden; eine perspektivische Weltsicht als Zweck anzusetzen, das hieße nichts anderes, als Nietzsches Philosophie ihrer Tiefendimension zu berauben —, des einen Willens, der alle Wertschätzungen in seinen Dienst zwingt (13/45) —, und ihn selbst abzustempeln zum „Don Juan der Erkenntniss"331. Interpretationen, die sich beschränken auf jene Oberflächenstruktur seiner Texte, sind, um eine Reflexion Nietzsches anzuwenden, „über alle Maaßen historisch falsch, aber — modern, wahr" (13/140), im übrigen bloß weitere Belege für W. Müller-Seidels Warnung, „Forschung [...] decke nicht nur auf, sie decke auch zu." 332 Nämlich die „zusammenfassende Kraft" von Nietzsches Erkenntnisstreben, die L. Andreas-Salomé im Tautenburger Tagebuch für P. Ree als geradezu „religiös" deutet333 —, die zumindest jedoch als richtung-weisend angesehen werden muß für sein Denken ebenso wie für Deutungsversuche desselben. Jeder sich selbst genügende Perspektivismus dagegen, so hat B. Noll nachgewiesen334, ist allein die u. U. sophistisch glänzende335 Außenfassade des Nihilismus; und bereits der angeblich nur und vor allem „freie Geist" Nietzsche bekämpft eine derart „ungebundene, unangebundene" (13/39) „Vielheit des Charakters" (13/126) ebenso wie jedwede damit gekoppelte „Ungewißheit im Geistigen" (13/407) als Symptom der Erschöpfung (13/418), als krankhaft, weiblich336, dekadent337, ja als geradezu pervers (13/126). 330 330a 331
332 333 334 335 336
337
Letzte Lockerung, S. 76 O. Marquard / W. Schmid: Der Philosoph als Stuntman 3/232; vgl. Nietzsches Polemik gegen einen „Erkenntnißbetrieb ohne Auswahl", den er einem „wahllosen Geschlechtstrieb" gleichsetzt — als „Zeichen der Gemeinheit" (7/419)! Die Erforschung der deutschen Literatur und ihre Leser, S. 516 in: Friedrich Nietzsche, Paul Rée, Lou von Salomé. Die Dokumente ihrer Begegnung, S. 186 Das Wesen von Friedrich Nietzsches Idealismus, S. 53 W. Capelle, Die Vorsokratiker, S. 344 13/366; zum Perspektivismus als weiblichem Prinzip vgl. M. Wiesner: Lou Andreas-Salomé: Die Erotik, S. 41, 121 13/591, 604, 638 u. a.
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Das Problem des Widerspruchs bei Nietzsche
Und um es noch einmal zu betonen: Gäbe es einen derart selbstzweckhaften Perspektivismus tatsächlich, so erübrigte sich jede ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Gesamtwerk Nietzsches 338 , das solcherart weniger wäre als die Summe seiner disjunktiven Teile. Nun ist die perspektivische Brechung und Auf-Teilung dieser Summe nicht zu leugnen; Perspektivismus muß also ein Mittel zum Zweck der Summenbildung sein —, ein Zurechtfindungsmodell in einer verlorengegangenen Welteinheit, ein kreatives ,Herumspringen des Subjektpunktes' (W. Müller-Lauter 339 ) nach der trial-error-Methode 340 , gewissermaßen nach dem Motto: „Gebunden Herz, freier Geist". (5/89) Skepsis somit als Fassade des Dogmatikers 341 , viele vorübergehend eingenommene — und verbrauchte (13/23) — Perspektiven, „um die Welt-Perspektive einzuüben" (12/222): Das erst entspannt die Polarität, innerhalb derer Nietzsche „auf jedem Gleichniss reitet" (4/231) und „mit allen Winden" segelt (3/353). So gesehen, erweist sich Perspektivismus als bloße Vorbedingung allen Philosophierens 342 , das schließlich „fünfhundert Überzeugungen unter sich sehn, — hinter sich sehn" müsse (6/236), um der Gefahr doktrinärer Erstarrung 343 vorzubeugen, das aber nicht schon gleichzusetzen sei mit einer fünfhundertfachen Hypothesenvielfalt ohne deren bindende Synthese 344 . Daraus aber folgt ganz generell: Teleologisches Denken 345 kann nicht vereinbart werden mit einem intrapersonellen Polyperspektivismus, der sich zwar föderalistisch gibt, in Wirklichkeit, als Ganzes genommen, selbst wieder totalitär wird. Gerade seine quasi-göttliche Allumfassenheit wäre es ja, die eine Denkentwicklung überflüssig machen würde — und nicht nur überflüssig: 338
339 340
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E. Rohde entschließt sich denn auch spätestens nach der Lektüre von „Jenseits von Gut und Böse", „diese ewigen Metamorphosen", die er als „kindische, [...] alberne und weltunkundige" „Diskurse eines Übersättigten nach dem Essen" abtut, einfach nicht mehr „ernst zu nehmen". (1. 9. 1886 an F. Overbeck; zit. nach: A. Verrecchia, Zarathustras Ende, S. 142) Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, S. 58 wenn auch bei Nietzsche nicht in sein Gegenteil verkehrt wie in O. Marquards Diktum: „I like fallacy". (Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in: Abschied vom Prinzipiellen, S. 138) 13/377; diese These ist gar nicht so weit entfernt von der Auffassung W. Müller-Lauters, die von G. Abel immerhin mit den Worten zitiert wird: „Nietzsches Perspektivismus erhebt den Anspruch, kein bloßer Relativismus zu sein", (a. a. O., S. 402) 5/144; und jede fallweise Meinung bzw. Wertung ist demnach zu sehen als bloße Stufe einer Gesamtentwicklung. (6/68) vgl. dazu 2/316 ff. 3/558f.; vgl. 6/321, 343 und Novalis (Distichen, in: Werke, S. 95): Hypothesen sind nur Net^e des Erkenntnisstrebenden, nicht bereits der Fischzug selbst. Dazu bedarf es immerhin noch der (übergeordneten) Person des Fischers, der beliebig über seine Netze verfügt. Der Wille %ur Macht ist ja nicht nur ein metaphysisches Prinzip (wie G. Colli mehrfach betont, 5/415, 13/655), sondern auf Grund seiner ontologischen Dimension ein teleologisches'. radikaler Ausdruck eben des Steigerungsgedankens, der alle Phänomene beseelt, also naturgemäß auch das Denken Nietzsches.
Schlußbemerkung: Perspektivismus — Mittel oder Zweck?
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„Perspektivismus ist ein anderes Wort für [...] Statik" (Benn 346 ); die ins Unendliche hinausreichende Statik aber würde dynamisches Denken geradezu verhindern. Ein theoretisch so faszinierender Perspektivismus ist eben als praktischer nicht zu realisieren, es sei denn, man begriffe ihn als reine Methode 347 , nicht als Inhalt des Denkens: und zwar als eine vorübergehend bloß einzusetzende, die zwar kausal 348 motiviert, aber allein teleologisch 349 gerechtfertigt ist. Ein letztes gilt es noch zu bedenken: den oben bereits erwähnten Anspruch des Polyperspektivismus, eine allumfassende Offenheit des Denkraumes zu gewährleisten, einen Anspruch somit, der lt. E. Biser übersieht, daß jede „Aussage über die perspektivisch aufgefächerte Wahrheit nur im Vorgriff auf einen überperspektivischen Denkhorizont möglich ist" 350 . In praktischer Dimension heißt das indessen nichts anderes, als daß die je einzelne Perspektive lediglich ergriffen bzw. fallengelassen werden kann in einem ganz begrenzten Rahmen, demjenigen nämlich des „freien Geistes" 351 . Nietzsches „gelebte Experimentalphilosophie", so schließt R. Low denn auch, ist eine „absolut sichere Verhinderungsstrategie für das Machen bestimmter Erfahrungen" 352 —, denjenigen nämlich des „gebundenen Geistes", die einer weitgehend totalen Hingebung bedürfen. Nur: Nietzsche selbst hat solch „perspektivische Beschränktheit" (12/36) bereits wahrgenommen, hat das „perspektivische Sehen als perspektivisches" durchaus reflektiert (12/241): „Einige große Perspektiven [...] sind meine mächtigste Lebensquelle", schreibt er im Juni 1882 an L. v. Salomé 353 , um an anderer Stelle gewisse Standpunkte von vornherein auszuschließen. 354 Somit wäre das Perspektivismus-Modell selbst wieder bloß eine Perspektive und entsprechend perspektivisch zu interpretieren —, nicht jedoch als endlich gefundenes Modell moderner Wirklichkeit mit dieser gleichzusetzen.
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„Statische Gedichte", in: Gesammelte Werke, 3/236 „Nietzsches methodisches Bewußtsein wird im allgemeinen bei weitem unterschätzt." (F. Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, S. 88) durch den Pluralismus der Triebe und der daraus abgeleiteten Standpunkte vgl. G. Colli, 13/660 „Gott ist tot", S. 152 Eine Perspektiven-Gebundenheit des Perspektivisten betont auch G. Abel. (a. a. O., S. 376) Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 202. — Selbst F. Kaulbach scheint diesen Gesichtspunkt nicht angemessen zu berücksichtigen. 12. 6. 1882, K G B 6/204 13/126. In einer brieflichen Äußerung gegenüber H. Köselitz erscheint Perspektivismus geradezu als bloß nachträgliches Experimentieren hinsichtlich einer im Grunde längst gewonnenen Erkenntnis. (18. 7. 1880, K G B 6/28) Perspektivismus also — auf dem Hintergrund eines verkappten Dogmatismus — als „Komödie" und „Bühnenspiel" (3/402)!
Kapitel II: Zum Umgang mit „Widersprüchen" im Hinblick auf Nietzsches Beurteilung deutscher Literatur Wenn nun im folgenden den philosophischen „Bewältigungsstrategien" bezüglich des Widerspruchsproblems eine philologische entgegengesetzt wird, so läßt sich das bereits mit einer allgemein gehaltenen Reflexion der „Morgenröthe" begründen: „Es giebt keine alleinwissendmachende Methode der Wissenschaft! Wir müssen versuchsweise mit den Dingen verfahren" 1 , und eben dieser Versuch soll hiermit unternommen werden. Eine zweite spezifische Begründung legt der von H. Pfotenhauer 2 unlängst hervorgehobene Umstand nahe, in Nietzsches Werk verquicke sich die philosophische ständig mit der künstlerischen Rede: Ein solches Sprechen auf zwei Ebenen bedarf der philologischen Interpretation, wie selbst der Philosoph E. Biser einräumt 3 . Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei noch einmal betont, daß Auflösung von Widersprüchen nicht gleichzusetzen ist mit deren Abschaffung, wie es R. Low, oder mit deren Verharmlosung, wie es P. Heller 4 befürchtet; vielmehr gilt es allein, jene formal sehr leicht aufzuzeigenden „Inkonsequenzen" als sinnvoll nachzuweisen, d. h. zu begründen in der Vielschichtigkeit von Nietzsches Denken. Insbesondere nicht aufgelöst werden sollen selbstverständlich strukturelle Dichotomien, im Gegenteil: Wesentliches Anliegen der Arbeit ist es, Nietzsches dialektisches Denken herauszuarbeiten, und zwar sowohl — was dessen zeitlichen Ablauf betrifft — in seiner triadischen, als auch — was den Ablauf innerhalb des Denkraumes betrifft — in seiner perspektivischen Durchführung. Daß die dabei gewählte Vorgehensweise transparent, also ebenso nachvollziehbar wie kritisierbar gemacht wird, halte ich trotz W. Kaufmanns großer Monographie 5 für eine noch einzulösende Forderung an die philologische Nietzsche-Interpretation gegenüber Kritikern aus dem Lager der Philosophie, nicht zuletzt deshalb, um das Interpretationsverfahren selbst ins rechte Licht zu rücken:
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3/266, fast dieselbe Formulierung im Brief vom 26. 8. 1888 an C. Fuchs, K G B 8/400 Die Kunst als Physiologie, S. 10 f. „Gott ist tot", S. 17 Multiperspektivisches Interpretieren, S. 635; vgl. S. 642 denn Kaufmanns Methode ist nur in Ansätzen ausgewiesen, z. B. auf S. 15 (Berücksichtigung des ursprünglichen bzw. eines größeren Kontextes)
Die triadische Einheit des Werkes
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Im Ganzen sind die wissenschaftlichen Methoden mindestens ein ebenso wichtiges Ergebniss der Forschung als irgend ein sonstiges Resultat: denn auf der Einsicht in die Methode beruht der wissenschaftliche Geist". (2/ 360)
1. Die triadische Einheit des Werkes Kein Geringerer als G. Colli ist es, der in einem seiner hervorragenden Nachworte zur „Kritischen Studienausgabe" ein Verfahren vorstellt, „dem Anschein nach unerklärbare Widersprüchlichkeiten in seinem [Nietzsches] Denken zu entschlüsseln, ohne dabei zu interpretatorischen Kunststücken greifen zu müssen." (13/651) Allerdings befaßt er sich dabei mit Nietzsches „doppelter", nämlich exoterischer resp. esoterischer Optik (13/652) —, also mit der Schichtspezifik seiner Texte, die es in vorliegender Arbeit erst noch nachzuzeichnen gilt. Als Voraussetzung nämlich eines derartigen Entschlüsselungsverfahrens — und der Herausgeber jener Texte scheint stillschweigend von ihr ausgegangen zu sein — gilt mir die Hypothese einer umfassenden Werkeinheit, ohne die selbst bei G. Collis Betrachtungsweise nur wieder einmal „Zwei Nietzsches" 6 zur Diskussion ständen: derjenige der veröffentlichten Werke für die Allgemeinheit, derjenige der Notizbücher für die Eingeweihten. Nun wird diese Einheit ebenso lange schon betont wie in Frage gestellt, und insofern ist ihre interpretatorische Herausarbeitung durchaus umstritten; jedoch es gibt gute Gründe, eine solche „innere Einheit" (G. Colli 7 ) jenseits verwirrender Oberflächenstrukturen immer aufs neue wieder zu suchen. Man muß dabei nicht so weit gehen wie Th. Mann, der die „vollkommene Einheitlichkeit" von Nietzsches Denken darin sieht, es habe im Grunde allein um einen einzigen Gedanken gekreist 8 , und der zu dem entsprechenden Schluß kommt: Nietzsche „war von Anfang an da, war immer derselbe." 9 Daß sogar einer derart frappierenden These in gewissem Sinne recht zu geben ist, wird sich am Schluß des Abschnitts zeigen; hier ist zunächst bloß die 6 7 8 9
s. Kap. I, Anm. 72, und Kap. II.2.e. 4/411, vgl. 12/658 Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, S. 18 a. a. O., S. 17: eine überraschende Parallele zu einer späten Notiz Nietzsches über P. Rèe: „Er war immer kein Anderer" (13/582). Vgl. M. Wiesner, die in ihrem Aufsatz „,Leben in seinem Ursinn' — Lou Andréas-Salomés Essays zur Erotik" Nietzsche als „monistischen Denker" (S. 43 f.) bezeichnet: völlig zu Recht, denn monistisches Denken (im Falle Nietzsches die Zurückführung aller Phänomene auf das Prinzip des Willens zur Macht) schließt eine Entwicklung desselben nicht aus. — Im übrigen findet sich in Friedells „Kulturgeschichte der Neuzeit" derselbe Gedanke: Nietzsches „,System" läßt sich auf die Formel bringen: die Welt als Wille zur Macht." (in: Das Friedeil Lesebuch, S. 227)
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„Widersprüche" bei Nietzsches Beurteilung deutscher Literatur
Betonung der Einheit(lichkeit) seines Denkens festzuhalten, wie sie für die Interpretationen von L. Andreas-Salomé10, Th. Mann und E. Friedell11 ebenso konstitutiv ist wie für diejenigen von C. P. Janz 12 , G. Colli, W. Kaufmann13 und E. Behler14. Nicht erst eines P. Sloterdijks bedarf es da, dessen Nietzsche-Essay15 in einem ganz anderen Sinne „aufregend" ist, als es sein erstaunlich kongenialer Rezensent A. v. Schirnding meint, es bedarf also nicht erst modisch-salopper Neuinterpretationen, um „den Indianerpfad [zu entdecken], der von der .Geburt der Tragödie' zur .Fröhlichen Wissenschaft' führt." 16 Nietzsche hat einen derartigen „Pfad" ja selbst stets betont, und zwar sowohl am Beginn desselben — „doch fühle ich mich immer auf einer Bahn — es giebt keine Verwirrung" 17 — als auch an dessen Ende: „Jetzt habe ich die absolute Überzeugung, daß Alles [...] von Anfang an [...] Eins ist und Eins will." 18 Ebenfalls aus dieser Einstellung heraus erklärt sich die Tatsache, daß die historische Ab- und Aufeinanderfolge seiner Werke in seinem (generell ahistorischen) Blick verschwimmt; so sieht er die „Götzen-Dämmerung" als nachträgliche „Gesammt-Einführung in [sjeine Philosophie"19, die „Geburt der Tragödie" ihrerseits bereits als „erste Umwerthung aller Werthe" (6/160), also im Zusammenhang stehend mit seinem allerletzten Buchprojekt. Da er, wie ein Brief an G. Brandes berichtet, „seine Philosophie wie ein Biber" baut20, hängt notwendigerweise jeder Abschnitt seines Denkens mit jedem anderen zusammen: nicht nur die „Geburt der Tragödie" mit dem Spät-21 und „Der Fall Wagner" mit dem Gesamtwerk22, sondern insbesondere „Menschliches, 10
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Friedrich Nietzsche in seinen Werken, insbes. Abschnitt III: Das „System Nietzsche", S. 151 ff. s. Anm. 9 Friedrich Nietzsche, 1/103 Nietzsche, S. 142 Er stimmt einem, seinem Referat über „Nietzsche und die Frühromantische Schule" folgenden Diskussionsbeitrag ausdrücklich zu, in dem W. Kaufmann jene Einheitlichkeit der Philosophie Nietzsches betont. (S. 91) Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus, Frankfurt/M. 1986 A. v. Schirnding, Erkenntnis als Ereignis 26. 8. 1872 an E. Rohde, K G B 4/48 22. 12. 1888 an H. Köselitz, K G B 8/545; diese Selbstdeutung entspricht wohl nicht ganz zufallig seiner philosophischen „Absicht, die absolute Homogenität in allem Geschehen zu zeigen" (12/542). 9. 9. 1888 an C. Fuchs, K G B 8/415; vgl. 20. 10. 1888 an G. Brandes, K G B 8/457: „Diese Schrift ist meine Philosophie in nuce". Ähnlich auch der Brief vom 14. 10. 1888 an H. Köselitz, K G B 8/450. Die Redaktion von Kindlers Literatur Lexikon deutet die „GötzenDämmerung" zu Recht als „Mikrokosmos des Gesamtwerks" (S. 4021). 4. 5.1888, K G B 8/310 10. 10. 1887 an E. Nietzsche, K G B 8/165. Jenen großen Bogen — und auf noch überraschendere Weise — schlägt auch ein Brief vom 21. 6. 1888, der ausgerechnet seine „mittleren Bücher" als die ihm sympathischsten bezeichnet, (an K. Knortz, K G B 8/340) 15. 9. 1888 an C. G. Naumann, K G B 8/198
Die triadische Einheit des Werkes
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Allzumenschliches" mit der „Genealogie der Moral" (5/248) und „Ecce homo" mit dem „Zarathustra" (6/373). Was letzteren betrifft, so wird er nicht bloß angekündigt durch ein früheres Werk 23 , sondern zieht das komplette „Jenseits von Gut und Böse" als Exegese auf theoretisch-abstrakter Ebene unmittelbar nach sich 24 , eine Exegese, die ihrerseits mit einem erklärenden „Anhang' 75 — der „Genealogie der Moral"! — ergänzt werden sollte 26 . Was in solch globaler Weise behauptet wird, ein Zusammenhang des Gesamtwerkes, läßt sich auf der Ebene einzelner Gedanken präzis nachweisen: Gedanken, die durch Äußerungen wie „Es giebt keine einzelnen Urtheile!" (12/265) als allesamt in das „System" eines hierarchisch 27 strukturierten Denkraumes eingegliedert, durch die Behauptung, „Werthschätzungen sind angeboren" 28 , als notwendigerweise auch in zeitlicher Hinsicht konstant begriffen werden. Im einzelnen gilt das ebenso für Nietzsches „pessimistische Perspektive von Anbeginn", von der er noch im September 1886 beteuert: „bis zu diesem Zeitpunkt halte ich an ihr fest" (2/377), wie für seine „Gedanken über die Herkunft unserer moralischen Vorurtheile" (5/248), die er (angeblich) schon vor der Niederschrift von „Menschliches, Allzumenschliches" hegt und (nachweislich) über die „Genealogie der Moral" hinaus verfolgt. 29 Weiterhin gilt es für seine Meinung betreffs des „entgeistigenden Einflusses unsres jetzigen Wissenschafts-Betriebs", den er, wie er in der „Götzen-Dämmerung" rückblickend schreibt (6/105), „seit siebzehn Jahren angeprangert" habe, es gilt in gleichem Maße für seine Erziehungskritik, deren früheste Reflexionen „Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten" bereits auf „Theile des Systems"(!) zielten, nämlich desjenigen der „Geburt der Tragödie" 30 . Hierher gehört auch eines der Turiner Briefzeugnisse, das dem überraschten Leser mitteilt: „Der .jüngere' Nietzsche ist niemals über den Punkt — Wagner — mit dem .älteren' Nietzsche in Widerspruch gewesen" 31 ... Nicht ganz zufallig 23
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durch die „Fröhliche Wissenschaft" (3/571); auch seine Lehre der Ewigen Wiederkehr wird dort ja bereits vorweggenommen (3/570). 22. 9. 1886 an J. Burckhardt, K G B 7/254 14. 2. 1888 an C. G. Naumann, K G B 8/255; derselbe Tenor schon im Brief an F. Overbeck, 30. 8. 1887, K G B 8/140, und in demjenigen an J. Burckhardt, 14. 11. 1887, K G B 8/198. Das Aufheben, das Nietzsche um jenes Werk machte, ist wohl nicht ganz unberechtigt; allerdings verführte es P. Gast zu der sicherlich nicht berechtigten Annahme, alle Werke Nietzsches seien im Grunde Kommentare zum „Zarathustra" (Vorbemerkung zu „Also sprach Zarathustra", S. 4). Dies Attribut ist sicherlich nicht unproblematisch, wird aber von einer späten NietzscheNotiz (12/312) nahegelegt. 12/15 — und insofern sollte man ihnen auch treu bleiben (12/36). Damit verwandt ist die Rückschau der „Götzen-Dämmerung": „Dies ist das grosse [...] Problem, dem ich am längsten nachgegangen bin: die Psychologie der ,Verbesserer' der Menschheit." (6/102) 7. 10. 1889 an E. Rohde, K G B 3/63 10. 12. 1888 an F. Avenarius, K G B 8/517
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.Widersprüche" bei Nietzsches Beurteilung deutscher Literatur
spricht dieser andernorts einmal vom „Refrain [sjeiner praktischen Philosophie" (11/76) — und eine stattliche Anzahl seiner Interpreten, zu recht, vom „monotonen Kreisen seiner Grundgedanken" 32 . Nun ist jene soeben zitierte Äußerung Nietzsches bezüglich seines Verhältnisses zu Wagner alles andere als unproblematisch; nicht bloß ein solch intimer Freund wie E. Rohde spürte nach der Lektüre von „Menschliches, Allzumenschliches" sehr wohl einen Bruch 33 —, und zwar nicht allein im Verhältnis zu Wagner, sondern zu praktisch allem, mit dem man nur brechen kann. „Alles, was wir geliebt haben, als wir jung waren, hat uns betrogen", gesteht sich denn auch der gereifte Nietzsche in seinen Notizbüchern 34 und unterzieht sein Frühwerk dezidierter Kritik 35 . Daß sie auch seine literarischen Urteile umfaßt, versteht sich von selbst; er habe, eröffnet die Vorstufe zu einem Aphorismus der „Morgenröthe", in Fragen der Kunst ganz einfach seinen Geschmack geändert 36 . So einfach, wie man das bei Nietzsche liest, ist es denn nun auch wieder nicht. Erst unlängst konnte D. Borchmeyer nachweisen, und zwar bis ins Detail 37 , daß „das Lebenswerk [...] Nietzsches von der Beziehung zu der [für ihn] paradigmatischen Kunst [...] Wagners — in Affirmation und Kritik nicht ablösbar" ist 38 ; und die bekannte „Krisis und Häutung" 39 zwischen den „Unzeitgemässen Betrachtungen" und „Menschliches, Allzumenschliches" spiegelt ja gerade besagte Kehre von der Affirmation zur Kritik. 40 „Zu sich selber kommen", schreibt R. Low in diesem Zusammenhang, „heißt abfallen von dem, was man als Ideal über sich fand" 41 , und unter Berücksichtigung der späteren Beteuerung Nietzsches, er habe sich mit „Menschliches, Allzumenschliches" „vom Unzugehörigen in [s]einer Natur freigemacht" (6/322), erscheint der Abfall von Wagner eher als Rückfall zu sich selbst. 32 33
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z. B. E. Biser, „Gott ist tot", S. 17; vgl. G. Colli, 13/664 f., 667 nach C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, 1 /820; vgl. Nietzsches eigene, fragmentarisch nachgelassene Vorrede zu „Menschliches, Allzumenschliches" (12/70) 12/242; das Fragment 12/117 räumt sogar ausdrücklich Fehler und Mißverständnisse seiner früheren Weltanschauung ein. Davon zeugt neben 12/117 vor allem die partielle Distanzierung von seinem Erstling im nachträglichen „Versuch einer Selbstkritik" (1/11 ff.); vgl. auch 12/115 ff. Im Vergleich von erster Niederschrift (14/226) und druckfertigem Manuskript (3/304) fallt die Ent-Subjektivierung der aphoristischen Reflexion auf: Darin ist der entscheidende Schritt hinaus aus der Privatsphäre der Quart- und Oktavhefte zu sehen; fast überall, wo in den veröffentlichten Texten „wir" oder „man" steht, liest man in der ersten Niederschrift noch „ich". — Zur literarischen Geschmacksänderung siehe auch 2/487. Das Theater Richard Wagners, S. 87, 102 ff. ders., Richard Wagner und Nietzsche, S. 114 19. 2. 1888 an G. Brandes, K G B 8/260 Allerdings wohl schon ab 1870/71 sich abzeichnend, wo eine Distanzierung von Wagners Musiktheorie zu spüren ist (D. Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners, S. 104). Vgl. C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, 1/754 Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 187
Die triadische Einheit des Werkes
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Ein wie auch immer gearteter Bruch bleibt festzuhalten — und zu ergänzen durch einen zweiten, weniger spektakulären, aber nicht minder bedeutsamen: den der Jahre 1880—1883, wie K. Jaspers 42 , den zwischen „Menschliches, Allzumenschliches" und „Also sprach Zarathustra", wie Nietzsche selbst nahelegt (6/287). Ich meine, jene zweite Wende läßt sich, zumindest wie sie im Werk sich niederschlägt 43 , ziemlich exakt lokalisieren —, und zwar im Neujahrsaphorismus zum Jahr 1882, der das vierte Buch der „Fröhlichen Wissenschaft" eröffnet (3/521). Die hierin programmatisch vollzogene Kehre vom Nein- zum Ja-Sagen, die sich entsprechend in einem Wechsel der Stillage ausdrückt, ist ebenso grundlegend wie die von 1876, die das emphatische JaSagen der frühen durch ein vielfaches und kritisches Nein der mittleren Werke ablöst. — Mag man nun den von mir so klar empfundenen Zeitpunkt einer zweiten Wende um einige Monate, ja ein ganzes Jahr verschieben 44 , das Faktum einer zweiten Wende wird man ebensowenig bestreiten können wie das der ersten 45 . Wie allerdings läßt sich der offensichtliche Tatbestand eines zweimaligen Standortwechsels vereinbaren mit dem soeben auch für Nietzsches geistige Entwicklung reklamierten Grundsatz, „daß keine Natur Sprünge macht" (2/640)? Eine erste Antwort gibt er selbst: Wenn der Mensch sich noch so stark fortentwickelt und aus einem Gegensatz in den anderen überzuspringen scheint: bei genaueren Beobachtungen wird man doch die Verzahnungen auffinden, w o das neue Gebäude aus dem älteren herauswächst. 46
Hetzuswächst — in diesem Wort klingt die Metapher des Baumes noch einmal an, die jede geistige Entwicklung als eine organische, die sogar krasse Perspektiven- und Meinungswechsel als „höhere" Konsequenz eines „feineren und tieferen Geistes" 47 sehen will. Das zumindest, so fahrt der oben zitierte 42 43 44
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Nietzsche, S. 94 Im Menschen Nietzsche mag sie langsamer herangereift sein. Für nicht mehr nachvollziehbar allerdings halte ich den Versuch H. Landrys, erst „Jenseits von Gut und Böse" „an der Schwelle einer dritten Schaffensperiode" sehen zu wollen, (in: Kindlers Literatur Lexikon, S. 4983) Nietzsche kündigt in einem Brief vom 19. 4. 1887 an H. Köselitz (KGB 8/61) gar einen neuen — also vierten! — Abschnitt an; dieser wäre jedoch — abgesehen davon, daß die Ankündigung nicht mehr eingelöst wurde — rein formaler Natur gewesen: Dasjenige, was in der dritten Phase bereits verschiedentlich angesammelt und ausgesprochen wurde, sollte als System ausgearbeitet werden, (vgl. 14. 12. 1887 an C. Fuchs, KGB 8/209, 20. 12. 1887 an H. Köselitz, KGB 8/213, 3. 1. 1888, an P. Deussen, KGB 8/221) 2/640; eine weitere, wenn auch nur formal befriedigende Antwort in einem nachgelassenen Gedichtentwurf: „Krumm gehn große Menschen [...]/ krumm, aber zu ihren Ziele" (13/ 550). 3/158 f.; interessant in diesem Zusammenhang auch 12/312: „Vernichtet wird die überwundene V[orstellung] nicht, nur zurückgedrängt oder subordiniert." Das gilt es insbesondere bei der Bewertung Schillers oder Hölderlins, die scheinbar von einem Extrem ins andere fällt, zu berücksichtigen.
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,Widersprüche" bei Nietzsches Beurteilung deutscher Literatur
G e d a n k e n g a n g aus „ M e n s c h l i c h e s , A l l z u m e n s c h l i c h e s " f o r t , sei A u f g a b e d e r B i o g r a p h e n —, u n d L. A n d r e a s - S a l o m e , als V e r f a s s e r i n einer d e r ersten Nietzs c h e - M o n o g r a p h i e n , hat sich i h r e r a u c h a n g e n o m m e n u n d jenes D r e i p h a s e n m o d e l l ü b e r L e b e n u n d D e n k e n ihres b e r ü h m t e n V e r e h r e r s gestülpt, das bereits J . K a f t a n 4 8 u n d nach i h m eine ganze Reihe v o n Wissenschaftlern angeg r i f f e n h a b e n 4 9 . Insbesondere die Etikettierung der mittleren Phase als „wissenschaftsfreundlich" bzw.
„kunstfeindlich"
bleibt
mehr
als f r a g w ü r d i g 5 0 —,
a b e r auch die Tendenz eines d e r a r t i g e n Interpretationsansatzes
insgesamt:
d e r den „ B r ü c h e n " v o n Nietzsches geistiger E n t w i c k l u n g z w a r ihre S c h ä r f e n i m m t , d e r E n t w i c k l u n g als ganzes j e d o c h andrerseits keine n e u e E i n h e i t zu
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nach C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, 2/627 f. Auch der bislang letzte große Nietzsche-Biograph, C. P. Janz, lehnt jene Dreiteilung ab (1/ 811). Es ist zu vermuten, daß sie aus der Biographie Goethes modellhaft übernommen wurde: Nietzsche akzentuierte seine „Verwandtschaft" mit Goethe ja recht gern. Schon G. Colli wehrt sich gegen die Kennzeichnung der zweiten Entwicklungsphase als „aufklärerisch", „rationalistisch" oder „positivistisch" (3/658 und 2/709), an anderer Stelle enttarnt er die von Nietzsche in „Menschliches, Allzumenschliches", „Morgenröthe" und „Fröhliche Wissenschaft" evident häufig propagierte „Wissenschaftlichkeit" in ihrer Alibifunktion (3/656) — als nichts anderes nämlich denn bloße „Intuition auf der Grundlage einer normalen, unmittelbaren oder mittelbaren Erfahrung" (ebd.). Eine derartige „Wissenschaftlichkeit", die sich in allem anderen dokumentiere als fleißiger „Erforschung des Durchschnittsverhaltens", „Suche nach Normen" und „Zurückhaltung beim Aufstellen von Hypothesen" (3/661): als in all den Kriterien also, durch die sich eine wohlverstandene Wissenschaftlichkeit definiere —, Nietzsches „ächte Wissenschaft", basierend auf der Technik der Hinterfragung (3/20), soll ja auch nichts anderes darstellen, als „Nachahmung der Natur in Begriffen" (2/61). Nicht: in Zahlen, gar Naturgesetzen; das „Schlüsselwort" der mittleren Werke scheint gar nicht die Naturwissenschaft zu beinhalten, sondern — die Definition könnte deutlicher nicht sein — „wissenschaftliche Philosophie" (2/124)! Gleichzeitige Polemik gegen letztere darf hier nicht mißverstanden werden, richtet sie sich doch nur gegen eine gewisse Spielart von Philosophie; die antithetische Begriffsverwendung jener Jahre trägt übrigens meist selbst zu einer Klärung bei: „Philosophie" bezeichnet die parareligiöse (2/ 111), „metaphysisch-mystische" (2/392), „Wissenschaft" die exakte, physiologische bzw. psychologisierende Richtung (3/263, genaueres s. Kap. II.3.): ein vorweggenommenes Beispiel für Nietzsches „Umbegreifung der Begriffe", die sich auf Piaton (Siebenter Brief, in: Sämtliche Werke, 3/744) und Schiller (Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen, in: Sämtliche Werke, 5/627 f.) direkt berufen könnte. Ohm Berücksichtigung derselben kann seine „wissenschaftliche" Phase nie angemessen verstanden werden und spätere Selbstcharakteristika als „wissenschaftlicher Mensch", z. B. in „Jenseits von Gut und Böse" (5/130) — also der „wissenschaftsfeindlichen" Zeit! —, bleiben ein stetes Ärgernis. Im übrigen ist diese zweite Phase natürlich alles andere als „kunstfeindlich", allenfalls feindlich gegenüber einer ganz bestimmten Art von Kunst (2/466), über die zu sprechen sein wird. Auch der Autor der „Fröhlichen Wissenschaft" rechnet sich unter die Künstler (3/422ff.), weiß um die Notwendigkeit der Kunst (3/464f., 2/185 f.), die ihm die Welt zwar nicht mehr „rechtfertige" wie zu Zeiten der „Geburt der Tragödie", aber immerhin noch „erträglich" werden ließe (3/464). Dagegen fällt selbst der Wert der „Wissenschaft" deutlich ab: „Wenn wir nicht in irgend einem Maasse unwissenschaftliche Menschen geblieben wären, was könnte uns auch nur an der Wissenschaft liegen!" (2/418) Eine derartige „Hochschätzung" der Wissenschaft als „zeitweiliges" Mittel zu einem höheren Zweck (2/212): Ist das nicht eine indirekt zum Ausdruck gebrachte „Kunstfreundlichkeit"? — Vgl. Anm. 496
Die triadische Einheit des Werkes
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geben vermag. So verwischt das Modell nur die Konturen, indem es sie hervorzuheben verspricht, es opfert die unbestreitbare Werkkonstanz zugunsten eines Schubladensystems, vor dem schon Nietzsche warnte: „Die Kürze des Lebens sollte uns vor dem pedantischen Scheiden der Lebensalter bewahren — als ob jedes etwas neues brächte" (2/493). Solch explizite Trennung der Lebensphasen kann deren gegensätzliche Standorte allenfalls aufzeigen, nicht aber versöhnen und als Gegensätze aufheben51 —, also als notwendige Abfolge eines Denkpro^esses ausweisen. Aus dem Dilemma hilft allein ein Modell, das Einheit wie Gegensätzlichkeit gleichermaßen zu Recht kommen läßt, und auf das mehrfach bereits hingewiesen wurde: das triadische System. Jenes, zur Zeit des deutschen Idealismus in Blüte stehende Entwicklungsdenken in drei Schritten — genannt seien neben Hegel52 und Schiller vor allem Kleists „Marionettentheater"-Modell53 und dasjenige von Hölderlins „exzentrischer Bahn" —, jenes fast als konstitutiv für abendländisches Denken überhaupt54 anzusehende teleologisch-lineare bzw. -zirkuläre Prinzip strukturiert auch Nietzsches Denken zwischen Vergangenheitssehnsucht und Zukunftsutopie; da ich diese These schon in meiner Arbeit über dessen Frühwerk55 ausführlich darstellte, kann ich mich hier auf einige wenige Ergänzungen beschränken: „Zum Segnenden bin ich worden und zum Ja-sagenden: und dazu rang ich lange [...], dass ich einst die Hände frei bekäme zum Segnen." (4/209) Also spricht 51
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Es sei denn, man schlösse sich Nietzsches polemischer Deutung des Meinungswechsels an, der immer bloß den Eindruck einer Konversion vorspiegeln wolle — zugunsten des „ursprünglichen" Glaubens. (2/694) Die überraschende Nähe zu Hegel in jenem Punkt seines Denkansatzes wird von Nietzsche nie verleugnet: „Der Deutsche selbst ist nicht, er wird" (5/185) —, aufgrund dieser Überzeugung ist selbst er „Hegelianer, auch wenn es einen Hegel nie gegeben hätte" (3/599). S. dazu G. Reiss, Sündenfall-Modell und Romanform. — Auf interessante Weise wird es ergänzt in Kleists Abhandlung „Von der Überlegung". (Sämtliche Werke und Briefe, 3/337) Selbst bei Handke (z. B. im „Kurzen Brief zum langen Abschied") oder Hofmannsthal, dort als Entwicklung von der „Praeexistenz" in die „Existenz" — mittels Tat, Werk oder sozialer Bindung einerseits, durch „Selbst-aufgabe" oder „Zu-sich-selber-Kommen" andrerseits (Ad me ipsum, Bd. 2168, S. 601 f., Der Kaiser und die Hexe, Bd. 2159, S. 477 f., s. dazu die Ausführungen D. Brenigs über die Entwicklung Hofmannsthals vom Lyriker zum Dramatiker als seines spezifischen Weges aus der Praeexistenz ins „reale Leben", in: dies., Sprachlose Kunst in Hofmannsthals dramatischer Dichtung, S. 13—19) —, läßt sich triadisches Denken nachweisen, läßt sich herauskristallisieren noch aus Kunsttendenzen oder -produkten, die mit philosophischem Denken scheinbar überhaupt nichts mehr zu tun haben: z. B. aus Oskar Schlemmers „Triadischem Ballett" (vgl. dessen Tagebuchaufzeichnungen der zwanziger Jahre, in: H. Eckstein, Oskar Schlemmer und die abstrakte Bühne, S. 29 ff.). Ist es bloßer Zufall, daß eine triadische Denkstruktur auch bei L. Andreas-Salomé aufgezeigt werden kann, wie es M. Wiesner unlängst getan hat („Leben im Ursinn" — Lou Andreas-Salomés Essays zur Erotik, S. 40)? Der frühe Nietzsche und die deutsche Klassik, S. 154—172
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.Widersprüche" bei Nietzsches Beurteilung deutscher Literatur
Zarathustra und löst damit die oben zitierte Neujahrsreflexion — „ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein!" (3/519) — wenig später ein. Solch Ja-Sagen ist natürlich kein plötzlich intoniertes, ist als eigentlicher Urgrund aller Negation ständig mitzudenken: gerade in der vorangehenden „Phase des leidenschaftlichen Neins und Neinthuns: in ihm entladet sich die aufgespeicherte Begierde nach Bejahung" 56 . Daß eine Phase der Entwertung 57 notwendige Vorbedingung jeder Umwertung ist, spricht Zarathustra im Gleichnis ebenso deutlich aus — „Wahrlich, lange muss als schweres Wetter am Berge hängen, wer einst das Licht der Zukunft zünden soll!" (4/287) — wie es eine späte Notiz ganz unmetaphorisch darstellt: Eine solche Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe 58 , nimmt versuchsweise selbst die Möglichkeiten des grundsätzlichen Nihilismus vorweg: ohne daß damit gesagt wäre, daß sie bei einem Nein, [...] bei einem Willen zum Nein stehen bliebe. Sie will vielmehr bis zum Umgekehrten hindurch — bis zu einem dionysischen Jasagen zur Welt (13/492).
Die letzte Formulierung erinnert an die Zeit der Tragödienschrift, und in der Tat ist Nietzsches Frühwerk — trotz aller Gegenwartskritik — vornehmlich eines der Bejahung: der griechischen Antike, der Musikdramen Wagners, der Personen (mehr noch als der Werke) Schillers, Goethes, Hölderlins usw. Die ausführliche Beschäftigung mit (und teilweise Neufassung) der „Geburt der Tragödie" im Jahre 1888 (13/224 ff. u. a.) schließt aber nicht etwa nur den Kreis seines Nachdenkens, wie es so häufig — z. B. bei E. Biser und K. Löwith 59 — heißt, sondern zeigt dessen, des Nachdenkens, triadische (Höher-)Entwicklung (deren „zyklische" Struktur 60 allenfalls spiralförmig vorstellbar ist). Schließlich strebt es, sei's mit dem Schwung von „sieben Pferden" 61 , sei's mit „bittrer Entschlossenheit" 62 nach „hohen, sehr hohen
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13/139; vgl. die bereits zitierte Selbstanalyse in „Ecce homo" (6/366) nämlich Entwertung der „grossen Tugend-Meister und Heiligen und Dichter und WeltErlöser" (4/247) Diese Selbstanalyse muß vornehmlich auf Nietzsches mittlere Phase bezogen werden, wie aus den späteren Vorreden zu „Menschliches, Allzumenschliches" hervorgeht. Nach dem „Zarathustra" läßt sich ja, wie dargestellt, geradezu eine Verengung der Perspektive feststellen. E. Biser spricht in Anlehnung an entsprechende Ausführungen K. Löwiths von einer „zyklischen Einheitsstruktur" Nietzsches, „die ihn am Ende ,zu seinem Ausgang' [Löwith] %urückkehren" ließe. (Die Reise und die Ruhe, S. 101) Die Betonung des „Zurück" überdeckt aber Nietzsches programmatisches „Hinauf"! E. Biser, s. Anm. 59 16. 3. 1883 an P. Deussen, KGB 6/342 13. 3. 1881 an H. Köselitz, KGB 6/68
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Zielen" 6 3 : also „vorwärts aufwärts" 6 4 , wie Nietzsche in Briefen an die Freunde nicht müde wird zu betonen. 6 5 Und an anderer Stelle zeichnet E . Biser jenen Denkprozeß auch als einen keinesfalls rein zyklischen nach —, sondern als einen, der von jugendlicher Verehrung und affirmativer Stilisierung 66 über das kritische Hinterfragen und Zerbrechen pietätvoller Bindungen bis in die Weltverantwortung des Schaffenden führt. 6 7 Und lediglich weil bereits der „freie Geist" im Grunde „Seher" 6 8 und Schöpfer neuer, bindender Ideale ist, darf — und muß! — er „ein Vernichter erst sein und Werthe zerbrechen" (4/ 149). Innerhalb aber eines solcherart utopistischen Gesamtkonzepts stellen seine Schriften nicht bloß „eine fortlaufende Entwicklung" dar, wie sie Nietzsche selbst 69 und zahlreiche seiner Biographen 7 0 betonen, sondern geradezu eine notwendige Aufeinanderfolge 71 , deren Stufen durchaus „wohlverwahrt" sind in der jeweils nächsthöheren: Mit seiner „zweiten Natur", so schreibt Nietzsche an H. v. Bülow 7 2 , sei er „erst in den eigentlichen Besitz; [s]einer ersten Natur getreten"; und daß dies entsprechend für die Beziehung zwischen zweiter und dritter Natur gilt 73 — dem mehrmals schon herausgestrichenen bloßen Wollen und dem Einlösen desselben im Sein74 —, soll in vorliegender Arbeit gezeigt werden: Nietzsches literarische Wertungen der späten unterscheiden sich nämlich so gut wie nicht von denen der mittleren Jahre, ja sie formulieren nur immer krasser, was in wesentlich ausgewogeneren Analysen längst niedergelegt ist. Eine abschließende Schematisierung von Nietzsches triadischer Entwicklung 7 5 dient dem groben Überblick; die Ver63
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16. 11. 1880 an G. Krug, K G B 6/46; allein die „großen kühnen und sehr idealen Ziele" (18. 10. 1872 an C. v. Gersdorff, K G B 4/69) halten ihn überhaupt am Leben, wie Nietzsche mehrfach beteuert (Juli 1883 an I. Overbeck, K G B 6/406); s. auch die „Kehrseite" jener Medaille: November 1880 an F. Overbeck, K G B 6/49 10. 1. 1883 an H. Köselitz, K G B 6/318 s. u. a. folgende Briefzeugnisse: 13. 7. 1882 an M. v. Meysenbug, K G B 6/223; Juli 1882 an E. Rohde, K G B 6/226; Dezember 1882 an P. Rèe, K G B 6/309; 17. 4. 1883 an F. Overbeck, K G B 6/361; 14. 8. 1883 an F. Overbeck, K G B 6/424; 22. 10. 1883 an F. und E. Nietzsche, K G B 6/449; 22. 5. 1884 an H. v. Stein, K G B 6/508; April 1884 an P. Lanzky (Entwurf), K G B 6/578 — um nur die Belege aus diesen zwei Jahren zu nennen! Sie gilt es insbesondere von seinen oft überschwenglichen literarischen Urteilen „abzuziehen". „Gott ist tot", S. 81 4/179; zahlreiche seiner Bücher — insbesondere die der mittleren Phase — enden mit utopischen Visionen; s. auch 3/146 f. 7. 8. 1886 an E. W. Fritzsch, K G B 7/225 auch C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, 1/618 29. 8. bis 1. 9. 1886 an E. W. Fritzsch, K G B 7/237 Dezember 1882, K G B 6/290 Nietzsche bezeichnet in einem Brief vom 20. 12. 1887 an C. v. Gersdorff seine Gedankenarbeit der dritten Schaffensphase als bloßes „Zusammenaddiren von Vergangnem"! ( K G B 8/214) der Entwicklung also vom Löwen des „Ich will" zum unschuldigen Kind des „Ich bin" (4/ 29 ff.) nicht zu verwechseln mit derjenigen, wie er sie selbst — gewissermaßen als kulturhistorisches Weltkonzept — entwirft! Diese wurde bereits in meiner Arbeit über den „frühen Nietzsche..." „auf die Skizze gebracht" (S. 162).
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.Widersprüche" bei Nietzsches Beurteilung deutscher Literatur
Wendung z. T. plakativer Begriffe soll deren Differenzierung im Text freilich nicht nachträglich verwischen: 1876
1881/82
1. Phase
2. Phase
3. Phase
Nietzsche als
(vor allem an Schopenhauer und Wagner) gebundener Geist
freier Geist
(an seine eigene Weltperspektive) gebundener Geist
Entwurf seiner Philosophie als
ästhetische Metaphysik (Ganzheitsentwurf)
„Wissenschaft" (Detail-Psychologie)
Metaphysik: Wille zur Macht (Ganzheitsentwurf)
Struktur seines Denkens
dialektischsynthetisch 76
perspektivisch
monistischantithetisch 77
Thematischer Schwerpunkt seines Denkens
vornehmlich rückgewandt 78
gegenwartsorientiert
utopistisch 79
Inhaltliche Tendenz seines Denkens
(Auf-)Werten 80
Entwerten
Umwerten
Dieses Denken insgesamt — auf die Formel gebracht als
Ja-Sagen
Nein-Sagen
amor fati
— forma] gespiegelt als
Essayistik
Aphoristik
(Wille zum) System81
— in literarischen Urteilen niedergeschlagen als
„Romantik von Ehedem"82
Wille zu Klassizität83
Klassizität84
Nietzsches triadische
76 77 78
79
Entwicklung
Der Gegensatz von Dionysischem und Apollinischem wird im Erlebnis des Tragischen fallweise aufgehoben. Das Prinzip allen Seins bzw. Werdens, der Wille zur Macht, führt zur Kategorienbildung Stark-Schwach (s. Kap. II.3.). insofern nämlich, als es ein romantisches ist (1/21), dessen Fortschritts-Gedanken ab 2/45 immer wieder beschrieben werden als an der Vergangenheit orientiert. Man beachte allerdings den „indirekten" Utopismus der Jugendschriften (Der frühe Nietzsche..., Kap. IV.3.). Natürlich bleibt der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart erhalten, die Tendenz der Spätschriften ist aber vornehmlich diejenige des neuen „Erlösers", (wie er sich spätestens in seiner Turiner Zeit sieht), mit dem eine neue Zeitrechnung beginne (Dezember 1888 an G. Brandes, Entwurf, KGB 8/500). In der Person Zarathustras sind diese Hoffnungen bereits seit 1882 Gestalt geworden.
Esoterik — Exoterik
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2. Esoterik — Exoterik D a ß Nietzsches „ a r i s t o k r a t i s c h e r R a d i k a l i s m u s " 8 5 sich nicht n u r in seinen philosophischen
Konzeptionen
niederschlägt
— e r selbst bezeichnet
P h i l o s o p h e n g e r a d e z u als „ K r i e g s m a n n d e r E r k e n n t n i ß " 8 6
den
—, daß er als
„ p h i l o s o p h u s radicalis" 8 7 a u f f o r m a l e r E b e n e gleichfalls z u m
„maximalen
E f f e k t " n e i g t 8 8 , ist als seine „ L u s t z u r P o l e m i k " (W. K a u f m a n n 8 9 ) h i n l ä n g l i c h b e k a n n t . B e v o r z u g t k o m m t sie in seinen U r t e i l e n ü b e r geistesgeschichtliche G r ö ß e n z u r G e l t u n g ; W e r t u n g e n w i e diejenige L . A n d r e a s - S a l o m e s als „ d ü r r e s c h m u t z i g e ü b e l r i e c h e n d e Ä f f i n m i t [...] f a l s c h e n B r ü s t e n " 9 0 o d e r des A b b é s G a l i a n i als „ v i e l l e i c h t [...] s c h m u t z i g s t e n M e n s c h e n seines J a h r h u n d e r t s " (5/ 4 5 ) s p r e c h e n f ü r sich, w e n n auch w e n i g e r f ü r d e r e n Verfasser. N u n steckt h i n t e r s o l c h e n Ä u ß e r u n g e n , d e r e n R e i h e fast beliebig sich f o r t s e t z e n l i e ß e 9 1 , z u n ä c h s t einmal n i c h t m e h r als b l o ß e W i r k u n g s a b s i c h t ; in A n l e h n u n g an eine g e r n v o n i h m zitierte M a x i m e S t e n d h a l s 9 2
provoziert
Nietzsche seine Leser g l e i c h e r m a ß e n d u r c h Inhalt w i e F o r m : „ E i n W e r k , das n i c h t [...] i m S t a n d e ist, Partei zu m a c h e n , v o r allem Parteien zu beleidigen, k o m m t n i c h t m e h r an's L i c h t d e r W e l t " 9 3 . W e i l „ e t w a s Feines u n d V e r s c h w i e -
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Zwar scheinen die „Unzeitgemässen Betrachtungen", vornehmlich die beiden ersten, auf polemische Abwertungen hinauszulaufen; sie sind jedoch eingebettet in einen übergreifenden positiven Wertehorizont, der schon mit der „Geburt der Tragödie" vollständig gesetzt ist. Nicht nur an den geplanten „Willen zur Macht" ist hier zu erinnern, sondern insbesondere auch daran, daß „Also sprach Zarathustra", „Jenseits von Gut und Böse" und die „Genealogie der Moral" eine zusammenhängende Kette von Werken bilden, daß die „Götzen-Dämmerung" einen „Mikrokosmos" derselben darstellen soll (s. o.). 2. 9. 1886 an B. und E. Förster, KGB 7/239 In jener gewaltsamen Umerziehung entspricht Nietzsche ganz der Tendenz der Zeit, die eine neue Klassik geradezu erwartete (H. Widhammer, Realismus und klassizistische Tradition, S. 143). Daß diese Klassizität nicht mit derjenigen zu verwechseln ist, wie sie das ästhetische Urteil des 19. Jahrhunderts beherrschte, wird sich im folgenden zeigen. G. Brandes im Brief vom 26. 11. 1887 an Nietzsche; in diesem Sinne auch G. Colli 2/714 f. 13/51 und 491 14. 11. 1886 an F. Overbeck, KGB 7/282; s. auch 12/197 E. Biser, „Gott ist tot", S. 19; vgl. W. Kaufmann, Nietzsche, S. 7 ff. Nietzsche, S. 427 Juli 1883 an G. Rèe (Entwurf), KGB 6/402 Bezeichnenderweise verschärfen sich selbst derartige Radikalurteile noch einmal in den späten achtziger Jahren: Der bis dato äußerste Vorwurf mangelnder „Reinlichkeit" wird übertroffen durch die Unterstellung körperlicher Defekte oder sexuellen „Fehlverhaltens"; Nietzsche arbeitet hier offensichtlich Wagners „tödliche Beleidigung" auf. diejenige nämlich, „seinen Eintritt in die Gesellschaft mit einem Duell zu machen" (6/319 u. a.) 13. 2. 1887 an H. Köselitz, KGB 8/24. Die bewußte Radikalisierung seiner Texte wirkte natürlich zunächst auf extreme Gesellschaftsgruppen, wie Nietzsche selbst noch erkennen mußte (24. 3. 1887 an F. Overbeck, KGB 8/48).
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genes [heute] [...] nicht mehr verstanden" würde (12/41), bedürfe es eben „brutaler Deutlichkeit", „Vergröberung" und „tausendfacher" Übertreibung (13/448) schon auf sprachlicher Ebene —, Nietzsche entschuldigt sich dafür gegenüber brieflichen Adressaten oft mit einem nachträglichen „Pardon"94 und bisweilen empfindet selbst er seine „Kerbholz-Worte" (12/75) als „zu grob, um mir zu gefallen" (12/58). a) Radikalsprache Die von ihm lebenslang verfochtene „Kritik der großen Worte"95 schließt demnach diejenige seiner eigenen ein; selbst sie hätten „nur Werth im Kampf, als Standarte: [...] als Prunkworte für etwas ganz anderes (ja Gegensätzliches!)"96, und fallen unter die Kategorie „höherer Schwindel" 97 . Der „Schwindel" jedoch, der „Vorzug für militärische Worte" (12/401), entbehrt nicht der sprachkritischen Rechtfertigung, d. h. der gleichzeitigen Kritik an einer „schändlich vermoralisirten Sprechweise" der zeitgenössischen Moderne (5/385), und begründet solcherart sich als Ausbruchsversuch unzeitgemäßer Rechtschaffenheit: „Schlimmer als ,starke Ausdrücke' sind — ,schwache Ausdrücke'!" belehrt Nietzsche seine Verleger denn auch recht selbstbewußt98, schließlich habe er „diese starken Gegen-Begriffe nöthig, die Leuchtkraft dieser Gegen-Begriffe, um in jenen Abgrund von Leichtfertigkeit und Lüge hinabzuleuchten" (13/602). Tabuverletzungen, wie sie R. Low und H. Pfotenhauer als „offensichtliches Stilmittel" erklären99, sind also Teil eines umfassenden Kampfes gegen modernen Sprachverfall, deren weiteres wesentliches Gegenmittel bereits andernorts100 behandelt wurde: die Mündlichkeit der Sprache101. Radikales Sprechen allerdings ist immer auch Ausdruck eines radikalen Denkens und das wiederum — im Jahre 1888 gesteigert „bis zum VerbreJuli 1883 an G. Ree, K G B 6/402, Juli 1883 an M. v. Meysenbug, K G B 6/403, 14. 8. 1883 an F. Overbeck, K G B 6/425 95 13/466; vgl. 6/294 96 13/62; die eingeklammerte Präzisierung des Sachverhalts weist auf die noch zu behandelnde Diskrepanz zwischen exoterischem und esoterischem Sprechen voraus. 97 z. B. 13/332 98 2. 4. 1883 an E. Schmeitzner, K G B 6/356; bezeichnenderweise schlägt sich sein polares Denken in Kategorien (Stark vs. Schwach) entsprechend auf sprachlicher Ebene nieder, (s. Kap. II.3.) 99 R. Low, Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 137; vgl. H. Pfotenhauer, Die Kunst als Physiologie, S. 92; aufschlußreich auch ein Hinweis W. Kaufmanns auf die Parallele zu Freuds aggressiver Sprache (Nietzsche, S. 287) ,0 ° Der frühe Nietzsche..., S. 79ff. 101 S. dazu auch Nietzsches „Lehre vom Stil", die er während seiner Tautenburger Zeit für L. v. Salome notierte (8./24. 8. 1882, K G B 6/243 f.). 94
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chen"102 — Ausdruck einer Frontstellung gegen die gesamte Um- und Mitwelt: „Kampf! Kampf! Kampf! Ich brauche den Krieg", so schreibt schon der Verfasser der „Geburt der Tragödie"103, „meine Denkweise erfordert eine kriegerische Seele" (3/403), derjenige der „Fröhlichen Wissenschaft", und noch als Propagator der „großen Politik" kündigt er an: „Ich bringe den Krieg". (13/637) So versteht sich der junge ebenso wie der mittlere und späte Nietzsche stets und vornehmlich als „Kämpfer" —, nämlich als „Vorkämpfer für ein kommendes Saeculum"104. Seine gesamte Philosophie als „Kriegsschule der Seele" (13/531), seine einzelnen Werke als „Kriegserklärungen" 105 ebenso wie seine „Lehr- und Wehr-Meinungen" 106 im speziellen ist bzw. sind daher wohl kaum, wie Th. Mann nahelegt, auf „infantilen Sadismus"107 zurückzuführen, vielmehr Ausdruck der „Eroberung" neuen Gedankenlandes 108 unter (selbst-)erzieherischer Absicht. Zwar ist auch jeder sprachliche „Front-Angriff 1 0 9 zunächst bloß Zeichen von Stärke wie Gesundheit 110 —, und bisweilen scheint es Nietzsche mehr um eine Demonstration seiner gedanklichen (Spreng-)Kraft gegangen zu sein als um den damit Attackierten: Die versteckte Egozentrik allerdings gerade in literarischen Abwertungen ist stets zu berücksichtigen. Zu berücksichtigen gilt es freilich ebenso die Kehrseite jener „Kriegsund Siegsgewißheit" 111 , die doppelte Unsicherheit hinter solcherart zur Schau getragener Absolutheit und Eindeutigkeit, wie sie ein Aphorismus der „Morgenröthe" bekennt: „Unsere Mittheilung ist mitunter zu deutlich [...], weil 20. 10. 1888 an G. Brandes, KGB 8/457; bedenklich bis „verbrecherisch" in der Tat sind insbesondere Nietzsches Gedanken zur „Moral der Ärzte" (6/134 ff.), nicht erst deren Realisierung als nationalsozialistische „Rassehygiene" ... (s. Kap. V.l. u. V.3.) 103 27. 5. 1872 an E. Rohde, KGB 4/4; daß dieser Krieg auch von der Gegenseite aktiv geführt wird, begreift Nietzsche explizit in einem Brief an C. Spitteier. (25.7. 1888, KGB 8/370; ähnlich am 14. 9. 1888 an E. Förster, KGB 8/429). 104 18. 11. 1871 an C. v. Gersdorff, KGB 3/242: Damit lokalisiert er selbst sich im zweiten Abschnitt seines triadischen Kulturbewußtseins. 105 so Nietzsche über den „Fall Wagner" (14. 9. 1888 an P. Deussen, KGB 8/425; vgl. KGB 8/ 434, 440, 447), jedoch auch über denselben hinausgehend: 10. 12. 1888 an F. Avenarius, KGB 8/517, 11. 12. 1888 an C. Spitteier, KGB 8/523 106 30. 6. 1888 an C. Fuchs, KGB 8/345; die Bezeichnung erscheint mir weit treffender für Nietzsches Gedanken selbst, denn für diejenigen von Fuchs, obwohl sie ursprünglich auf diese gemünzt ist. 107 Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, S. 37 108 6. 12. 1883 an F. Overbeck, KGB 6/460 109 25. 1. 1884 an F. Overbeck, KGB 6/467 1 , 0 denn der dazu nötige Mut ist bedingt durch einen „Überschuß an Kraft" (6/311); insbesondere Grobheiten werden in einem Brief an B. und E. Förster (2. 9. 1886, KGB 7/241; vgl. 12. 10. 1886 an F. Overbeck, KGB 6/265) als Ausdruck der Gesundheit gedeutet. 111 s. „Der frühe Nietzsche...", S. 157ff. und Nietzsches Selbstcharakteristik als „der alte Artillerist, der ich bin" (6/357; vgl. 27. 9. 1888 an H. Köselitz, KGB 8/443 und 18. 10. 1888 an F. Overbeck, KGB 8/453, 20. 11. 1888 an G. Brandes, KGB 8/482), kulminierend in der berühmten (wenn auch nicht eigentlich von Nietzsche geprägten) Formel: „Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit." (6/365) 102
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„Widersprüche" bei Nietzsches Beurteilung deutscher Literatur
Die, welchen wir uns mittheilen, uns sonst nicht verstehen", mitunter aber bereits, weil „wir" selbst uns noch nicht völlig begreifen bzw. mißtrauisch bleiben gegenüber der eigenen (neuen) Meinung 112 . Z. T. also erproben Nietzsches „militärische Ausdrücke" (13/196) und eindeutige Stellungnahmen lediglich gewisse Gedanken, indem sie diese „auf die Spitze (der Formulierungsmöglichkeiten) treiben", z. T. betäuben sie geradezu eine innere Zerrissenheit des Erkenntnisvorgangs (2/336). „Martialische" Eindeutigkeit beim (Um-)Werten, wie er sie gegenüber allem „Halb und Halben"113, insonderheit gegenüber allen „schwebenden, vermittelnden Standpunkten"114 stets fordert — auch hinsichtlich literarischer Urteile! —, dient demnach gleichermaßen als Überredungs- wie als Ji/^/überredungsstrategie; kraß vorgetragene Ablehnung von Autoren, etwa von Schiller, ist noch lange nicht die (Ab-) Wertung selbst, dynamisiert bloß den Konflikt zwischen Pro und Contra: und zwar als Mittel eines dialektischen Meinungsbildungsprozesses115, dessen endgültiges Urteil sich oft nicht mehr auf der Textebene niederschlägt. Zwar gilt die Maxime Zarathustras — „wo man nicht mehr lieben kann, da soll man vorübergehn!" (4/225) — für dessen „Vater"116 entsprechend. Vorüber aber geht dieser im Falle literarischer Abwertungen gerade nicht, seine z. T. ungeheuerlichen Ausfalle deuten nur allzu beredt auf eine (unglückliche resp. frühere) Liebe zu den solcherart Abgekanzelten und auf eine wenn auch gebrochene Achtung vor ihnen.117 Nietzsche, der feinfühlige, in viele Richtungen gleichzeitig fühlende Psychologe, ist hier in seiner selbstauferlegten Rolle als „Gesetzgeber" (5/145) verdammt zur (fallweise ihren Akzent verschiebenden) Eindeutigkeit —, ein Nietzsche, der gleichzeitig jedoch stets sich bewußt bleibt: „Niemals noch hängte sich die Wahrheit an den Arm eines Unbedingten."119 b) Leidenschaft vs. Objektivität Unbedingt indes erscheint er nicht allein im Ab-, sondern auch im Aufwerten; und der Reiz seiner positiven Stellungnahmen liegt ebensosehr 112
1,3 114 1,5 116
117 118 119
3/245 f. Die Verwunderung Benns darüber, daß Nietzsche „sich und seine Erkenntnisse erstaunlich absolut" denkt, (Nietzsche — nach fünfzig Jahren, in: Gesammelte Werke 1/484), ist folglich damit zu erklären, daß dieser seine differenzierten Einsichten eben bloß als absolute plakativ hinstellt... 4/208 und 2 2 7 Oktober 1868 an P. Deussen, K G B 2/328 vgl. dazu 3/289 Nietzsche bezeichnet Zarathustra des öfteren als seinen Sohn: 22. 5. 1 8 8 4 an H. v. Stein; 12. 7. 1884 an F. Overbeck, 15. 11. 1 8 8 4 an E. Nietzsche, K G B 6/508, 5 1 1 , 557 Nur gegen das Große, so lehrt Zarathustra, sei es weise, „stachlicht zu sein". (4/212) vgl. Kap. II. 2. e und II. 4. 4/66, vgl. 365
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in der provokativen Pointierung wie es derjenige seiner Ab- und Verurteilungen tut. Wer blickt nicht überrascht auf, wenn er liest, daß Goethes Unterhaltungen mit Eckermann „das beste deutsche Buch" seien (2/599) —, besser also noch als dessen „eigentliche" Werke? Und wer blickt nicht überrascht zurück auf besagte Stelle in „Menschliches, Allzumenschliches", wenn er bei seiner Lektüre von „Jenseits von Gut und Böse" auf einen Passus stößt, der als „das beste deutsche Buch" — die Bibel nennt (5/191)? Solch emphatische Äußerungen dürfen nach all dem Gesagten nicht gegeneinander aufgerechnet werden, allenfalls miteinander; zu lesen sind sie in jedem Fall als Dokumentation von Nietzsches Leidenschaftlichkeit hinsichtlich literarischer Wertungen. Ohne einer ausführlichen Diskussion dieser Leidenschaft vorgreifen zu wollen, sei hierzu folgendes bemerkt: „Ein Ja, ein Nein, [...] ein Ziel": Mit derart knappen Worten umreißt eine Stelle aus dem „Antichrist" die „Formel unsres Glücks" 120 , letzteres verstanden als Machtzuwachs (6/170). Eine dezidierte Aus- und Abgrenzung bestimmter Werte, wie sie Nietzsche übrigens als Zeichen „vornehmer [...] Cultur" deutet 121 , ist demnach immer Äußerungsform eines höchst subjektiven Willens zur Macht — und damit alles andere als vorurteilsfrei und sachlich begründet. Die von Wissenschaftlern wie H. R. Jauß erhobene Forderung nach „voller Objektivität" 122 wäre für Nietzsche geradezu eine „Unverschämtheit" (13/201), da bloße Maske (13/ 12), zumindest aber „Blindheit" bzw. „Indifferentism" (13/126) gegenüber einer dekadenten „Willensdisgregation" (13/263), die sich hinter jener scheinbaren Tugend verbirgt. 123 Als Gegensatz zum „unkünstlerischen Zustand" der Objektivität 124 verkündet er nicht nur „das Recht auf Affekte [...] für den Erkennenden" 125 , sondern geradezu eine „Vergöttlichung der Leidenschaft" 126 — und in deren Gefolge programmatische Ungerechtigkeit des Urteils 127 , die eine höhere Gerechtigkeit einzig durch Liebe des Urteilenden gewähre: „Gehört nicht Wärme und Schwärmerei dazu, einem Gedankendinge Gerechtigkeit zu schaffen?" 128 Die Argumentation ist natürlich ganz
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6/169; gemeint ist also die teleologische Einbettung sämtlicher Werturteile z. B. 5/158 Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, S. 150 Eine ähnliche Problematisierung der Objektivität bei Diderot, Jacques der Fatalist und sein Herr, S. 62 13/530, 298 12/221; schließlich entspränge jede Denkweise einer „Passion". (26. 11. 1886 an R. v. Seydlitz, Entwurf, K G B 7/269) 13/159; schon die „Geburt der Tragödie" zielt in ihrem Entwurf des Dionysischen in jene Richtung. — S. auch die entsprechenden Ausführungen der Einleitung. s. Kap. II.6. 3/308; vgl. S. 51, 13/216 und 4/76: „Liebende waren es stets und Schaffende, die schufen Gut und Böse".
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„Widersprüche" bei Nietzsches Beurteilung deutscher Literatur
platonisch und gilt für die Umwertungen Nietzsches 129 ebenso wie für die („wissenschaftliche") Bewertung derselben: „Wer mir nicht mit einem Hundertstel von Leidenschaft und von Liebe entgegenkommt, hat keine Ohren für mich..." 1 3 0 — Euphorische oder kraß ablehnende literarische Urteile sollten zumeist also verstanden werden als (Zwischen-)Ergebnisse einer ersten spontanen Auseinandersetzung, als bewußt gehandhabter „Kunstgriff, die Seele einer Sache herauszulocken" 131 . Erst in einem zweiten Schritt der Meinungsbildung kommt dann der Verstand zum Zuge —, d. h. zu Papier: Und nicht wenige „Widersprüchlichkeiten", selbst solche auf engstem Raum in den Notizbüchern, können mit einer derartigen Zweiphasigkeit des Meinungsbildungsprozesses erklärt werden: als „Ebbe und Fluth" (2/320). Von Liebe oder Haß diktierte Wertungen finden vor allem sich im Frühund Spätwerk; und zwar die liebenden eher im Früh-, die hassenden im Spätwerk. Nicht verwundern wird es da, wenn sich der gemäßigte Nietzsche der „mittleren Phase" gegen frühere Urteile abgrenzt, gegen deren „heiligste und innerlichste Erschütterung, wie sie jedem Grade von Verständnis erst vorangegangen sein müßte!" 132 Insbesondere in „Menschliches, Allzumenschliches" unterzieht er jenen Prozeß von Ebbe und Flut, der auch als ein solcher zwischen verschiedenen Leidenschaften verstanden werden kann, eingehender Kritik: „Der Wechsel von Liebe und Hass bezeichnet für eine lange Zeit den inneren Zustand eines Menschen, welcher frei in seinem Urtheile über das Leben werden will" (2/233). Bzw. in seinem Urteil über literarhistorische Phänomene —, denn der Weg zum „freien Geist", auf den hier angespielt wird, ist zunächst einmal der Weg aus der Bindung an sich selbst. Die Egozentrik, die seine frühen literarischen Wertungen beherrscht, spricht Nietzsche in allgemeiner Form ja deutlich aus: „Jünglinge wechseln, in Bezug auf die selbe Person, mit Hingebung und Unverschämtheit ab: weil sie im Grunde nur sich in dem Anderen verehren und verachten" (2/495). Ob das tatsächlich
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Beachtlich in diesem Zusammenhang ein Aphorismus aus „Menschliches, Allzumenschliches" (2/688): Je gründlicher über eine Person/Sache nachgedacht wird, desto stärker gerät man in Distanz zu ihr. Liebe im Urteil sich wahren heißt also nichts anderes, als ein Vorurteil für (end-)gültig erklären! (vgl. S. 370 und 689 f.) Die intensive Auseinandersetzung mit Goethe wäre damit ein Hinweis darauf, daß Nietzsche ihn nicht liebt, sondern allenfalls verehrt! 12/574 f.; ähnlich 12/219; 11. 11. 1887 an E. Rohde, KGB 8/195; 12. 11. 1887 an F. Overbeck, KGB 8/196; Januar 1888 an E. Förster, KGB 8/237 f. 2/350; so ist Th. Manns Meinung, „Nietzsches Verhältnis zu den Vorzugsgegenständen seiner Kritik [sei] schlechthin das der Leidenschaft" (Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, S. 16), sogar insofern zu erweitern, als es ein solches hinsichtlich aller, auch scheinbar nebensächlicher Gegenstände ist. Das Zitat bezieht sich zwar auf das (erwünschte) Verständnis seiner eigenen Schriften, zeigt aber gerade deshalb, wie Nietzsche selbst mit Literatur umgeht. (August 1885 an H. Druskowitz, Entwurf, KGB 7/83)
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bloß für den „Jüngling" Nietzsche gilt, mag dahingestellt bleiben 133 ; zu berücksichtigen sein wird die spezifische Verquickung von nuancenloser „Unschuld der Bewunderung" 134 mit tendenziell „verbrecherischen" Abwertungsmechanismen aus Notwehr (2/444) allemal, wenn es darum geht, aus „widersprüchlichen" Einzelurteilen das dahinterstehende Gesamturteil zu erschließen. Zu bedenken zunächst gilt es freilich zahlreiche Reflexionen des mittleren und späten Nietzsche, die sich prinzipiell gegen alle Formen von Leidenschaftlichkeit aussprechen, eine Umwandlung und Besänftigung derselben zu „Freundschaften" (2/569) fordern, ja eine phasenweise Abstinenz von jeglicher „Gefühls-Trunksucht" 135 , andernfalls (philosophisches) Denken unmöglich sei 136 . Solch „Überwindung der Leidenschaften" als Mittel zum Zwecke eines tatsächlichfreien Geistes 137 wird propagiert bei gleichzeitigem Hinweis auf Goethes „weise Mässigung", d. h. seine („wissenschaftliche"!) „Tugend der vorsichtigen Enthaltung" von Überzeugungen (2/357), die nur auf sprachlicher Ebene noch einen Bogen um den Begriff „Objektivität" schlägt. Der Selbsterziehungsversuch Nietzsches ist überdeutlich, sprechen seine Briefe doch unumwunden von seinem Leiden an der Leidenschaftlichkeit — „die Affekte fressen mich auf" 138 —; und wenn er stattdessen eine „liebevolle [...] Neutralität" des Geistes anstrebt (13/157), so relativiert bereits deren „platonische" (s. o.) Präzisierung den eigentlichen Impetus entscheidend. Das gilt auch für den Philologen im besonderen: „Einen Text ablesen können, ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen", wird zwar angepeilt als Ideal —, allerdings im Bewußtsein, daß dies kaum je zu erreichen ist. (13/460) Nietzsche führt die Auseinandersetzung mit dem Problem somit auf seine typische Art, als „Zweifrontenkrieg" gleichermaßen gegen eine verselbständigte Ratio- wie Irrationalität: Deine großen Gedanken, die aus dem Herzen kommen, und alle deine kleinen — sie kommen aus dem Kopfe — sind sie nicht alle schlecht gedacht?139 133 134 135
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Der Aphorismus 2/233 kennt die Dialektik der Leidenschaft ja im Prinzip noch für den „reifen" Mann, wenn auch in gemilderter Form! 5/94, vgl. S. 49 16. 11. 1882 an H. Köselitz, KGB 6/262; vgl. die lyrische „Trunkenboldigkeit des Gefühls", von der er sich in „Jenseits von Gut und Böse" (5/188) distanziert; seine Abwertung der Lyrik ist also eine solche auch zugunsten der Philosophie (s. Anm. 136)! 2/695, vgl. S. 581 und 12/210 2/576, vgl. S. 593, 13/452, 556 20. 12. 1882 an P. Rèe und L. v. Salomé (Entwurf), KGB 6/306; entsprechend gelten ihm seine Werke vielfach als „^u leidenschaftlich" (13/540); vgl. 13. 5. 1887 an E Overbeck, KGB 8/74; 20. 12. 1887 an H. Köselitz, KGB 8/213 13/554; „mit dem Herzen zu denken", wie es Hofmannsthal im Chandosbrief anvisiert (in: Gesammelte Werke, Bd. 2165, S. 469), kommt für ihn also nicht in Frage: Nietzsche ist kein Antirationalist (um den vorbelasteten Terminus „Irrationalist" hier gar nicht erst wieder ins Spiel zu bringen).
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Bloße Leidenschaftlichkeit, also „ausschweifende Gefühlsamkeit" (13/175) bzw. Schwärmerei (13/181), wird von ihm eindeutig verurteilt — und zwar als krankhaft140. Indessen empfände er es als „Moralisten-Wahnsinn", deshalb gleich „die Exstirpation der Leidenschaften" zu verlangen (13/347); gerade darin sähe er vielmehr „ein Symptom bereits von Schwäche"141. Nur „Herrschaft über die Leidenschaften, nicht deren Schwächung oder Ausrottung" 142 gälte es ins Auge zu fassen, sprich: deren zeitweiliges Aufstauen durch Askese (12/75). Erst eine derart produktive Verarbeitung der Leidenschaft zu Liebe (13/308) verleihe einer Sache Wert, die als solche betrachtet negativ zu beurteilen sei —, Nietzsche zeigt sich in dieser „funktionalistischen" Tendenz zum wiederholten Male als der große teleologische Denker, als der er oben beschrieben ist und als der er sich bei der Beurteilung literarischer Phänomene entsprechend erweisen wird. Wie aber ist die Leidenschaftlichkeit zu bändigen, in der auch Nietzsche zu verbrennen droht (13/618)? — Durch „Kälte", die ab Niederschrift des „Zarathustra" als „conservirendes Element" gepriesen wird 143 . Abgesehen davon, daß sich jene Kälte ganz konkret verstehen läßt144, ist sie natürlich geistiger Natur, eine Metapher für Willensstärke, für „Härte", wie es in seinem Sprachgebrauch auch gerne heißt. Nun ist es aber nicht so, daß Wille und Vernunft in (traditionellem) Gegensatz zur Leidenschaft gesehen werden, vielmehr bedingen sie einander und durchdringen sich gegenseitig 145 : zur „geistigen Leidenschaft"146, vor der Nietzsche geradezu „zittert"147. Auf solche Weise verstanden, werden selbst Ausschweifung und Ekstase zu einem „Vorrecht" (12/483) des Starken: „Je größer die Herren-Kraft des Willens ist, um so viel mehr Freiheit darf den Leidenschaften gegeben werden." 148 Bereits hier ist eine sehr differenzierte Auseinandersetzung Nietzsches mit dem Phänomen der Leidenschaft festzustellen, die es bei der literarischen
140 13/175 J eine ähnliche Tendenz auch in 13/341 141 142 143 144
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13/341, vgl. S. 606 12/414, vgl. 13/154 12. 5. 1887 an M. v. Meysenbug, K G B 8/70; vgl. 13/618 Als ideal für ihn bezeichnet Nietzsche Temperaturen zwischen 8 und 15° C (30. 7. 1887 an H. Köselitz, K G B 8/117): einer der zahlreichen Belege, daß seine Erfordernisse als Denker von denen des (alltäglichen) Lebens nicht zu trennen sind. 13/131; ein Vorgriff auf die für Nietzsches Denken konstitutive Auflösung traditioneller Gegensatzpaare (s. Kap. II.3.); dazu explizit auch 13/447 18. 10. 1888 an F. Overbeck, K G B 8/454; vgl. einen Brief Nietzsches an H. Köselitz, in dem er „Leidenschaft und Emst" als „ H a u p t a f f e k t " seiner Philosophie bezeichnet. (27. 10. 1887, K G B 8/179) 11. 12. 1888 an C. Spitteier, K G B 8/525 12/414, vgl. S. 4 1 3 und 13/341 f., 484 f.; genauere Ausführungen zu Nietzsches schichtspezifischem Denken im folgenden
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Wertung Kleists und insbesondere Stifters noch aus anderen Gesichtspunkten nachzuzeichnen gälte. Kleist, als der Verdrängungslos-Leidenschaftliche schlechthin149 ,wird im Frühwerk sogar Goethe gegenüber bevorzugt.150 Stifter, als der (scheinbar) Leidenschaftslose, repräsentiert die apollinische Seite in Nietzsche —, und zwar zu einem Zeitpunkt, wo dieser von Emotionen regelrecht übermannt zu werden droht: Seine Lektüre des „Nachsommers" und die damit verknüpfte „Entdeckung der Langsamkeit"151 erfolgen aus therapeutischen Gründen —, und manches in Nietzsches Goethe-Rezeption deutet auf ähnliche Zusammenhänge: forciert sie doch ganz bewußt ein unzeitgemäßes Bild des „Dichterfürsten", das Entsagung, Mäßigung und Altersweisheit in den Blickpunkt rückt... Vorläufig läßt sich zusammenfassen, daß Nietzsches Stellungnahmen zum Affekt zwar keineswegs zweideutig, wohl aber zweiseitig sind: Er bekämpft ihn, insofern er sich als „falsche Leidenschaft" (13/513), als selbstzweckhafte „Rührung"152 sofort ausleben will, bejaht ihn hingegen in dem Moment, wo er sich als „große Leidenschaft" der Aufgabe 153 anstaut, deren „kategorischer Imperativ" (13/23) regelrecht als sein „Centrum" angesehen werden kann154. Selbstverständlich haben literarische Wertungen — und sie sind immer von Emotionen diktiert! — ein ganz anderes Gewicht, wenn sie unter der Perspektive der letzteren denn als bloße Perspektiven der ersteren gefallt werden.
Nietzsche sieht ihn als Repräsentanten des Tragischen (s. „Der frühe Nietzsche...", S. 98ff.), vor dem sich eine so untragische Natur (8/515) wie diejenige Goethes nur fürchten könne (8/513). — L. Andreas-Salomé wertet überraschend ähnlich, bezeichnet Kleist in ihren „Eintragungen" der letzten Jahre als den „geborenen Verdrängungslosen" (S. 44) und stellt die provozierende Frage: „Kleist bleiben oder am Leben bleiben?" (S. 47) 150 Das hängt mit Nietzsches Interesse für das Drama zusammen, wie es bis zum Bruch mit Wagner vorrangig ist. Bei Erwägungen über das Wesen des Tragischen gilt ihm Kleist stets als exemplarisches Beispiel, als „der volle Dramatiker" (7/211), wohingegen Goethes — wie Schillers — Tragödienkonzeption auf apollinischem Urgrund (eben dem Antikebild Winckelmanns) basiere und daher „verfehlt und unnatürlich" (7/10) sei. 151 Verknüpft ist sie mit einer Entdeckung der Langeweile, selbstverständlich einer schöpferischproduktiven, wie auch mit derjenigen aller langen Zeitmaße: Der lange Atem, der lange Wille etc. werden konstitutiv für seine Lebenskonzeption, sie berühren sich — als Ausdruck der Stärke — mit sämtlichen Umbegreifungen durch das Attribut „groß" (s. Kap. II.3.). — Im übrigen ließen sich mannigfaltige Parallelen ziehen zwischen Stifters „sanftem Gesetz", dessen „Kodifikation" in der Vorrede der „Bunten Steine" Nietzsche aller Wahrscheinlichkeit nach nie zur Kenntnis nahm, und der praktischen Philosophie seines (in Ermangelung eines besseren Gesundheitszustandes) begeisterten Lesers. 149
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(12/481) oder als „volle Leidenschaft" des Plebejers (12/403): zusammenzufassen eventuell als „kleine Leidenschaft" 12/23; in brieflichen Äußerungen setzt Nietzsche seine „Leidenschaft" geradezu gleich mit seiner „Aufgabe": 14. 12. 1887 an C. Fuchs, KGB 8/210; 20. 12. 1887 an C. v. Gersdorff, KGB 8/214; zur „großen Leidenschaft" s. 13/398, 400 („tiefe Leidenschaft"), 404 3. 1. 1888 an P. Deussen, KGB 8/221
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c) „Gute" und „schlechte" Rache Auf dem Hintergrund jener vorläufigen Begriffsbestimmung läßt sich nun eine Spielart von Leidenschaftlichkeit beleuchten, die für die Themenstellung vorliegender Arbeit geradezu zentral ist: das begeisterte Lob eines Autors bzw. — und dies geht bei Nietzsche keinesfalls Hand in Hand 155 — eines Werkes. Es wird sich ergeben, daß seine enthusiastischen Äußerungen — z. B. zum „edlen" Schiller, wie sie sich im Frühwerk häufig finden — oft im Grunde das Gegenteil dessen ausdrücken, was sie bei unbefangenem Lesen auszudrücken scheinen: Distanz zum Gegenstand der Bewunderung, die auf einen dahinterstehenden Selbst- und Umerziehungsprozeß weit eher weist — also auf die Leidenschaft Nietzsches — denn auf naiv-ungebrochene Zustimmung. Ist es erklärtermaßen doch seine Maxime — und die Belege sind hier in allen Entwicklungsphasen ganz eindeutig —, „immer nur da zu loben, wo man nicht übereinstimmt: — im andern Falle würde man ja sich selbst loben, was wider den guten Geschmack geht" 156 , bzw. sich über den Gelobten stellen, da man ihn — im vollständigen Lob — zu übersehen vorgibt (2/167). Insofern trage jedes Lob Züge der Zudringlichkeit 157 oder der geistigen Faulheit (5/91), sprich: Dummheit (2/665), stets allerdings auch solche des Irrtums (2/583): „Was wir thun, wird nie verstanden, sondern immer nur gelobt" (3/518). Gleichviel aus welchen Motiven letztendlich ein Lob ausgesprochen wird, im Grunde liefe es durchweg auf „die gute Rache" hinaus, die darin zum Ausdruck kommt, auf eine ausgleichende Machtbezeugung des Lobenden 158 , vor der sich derjenige, der seinen eigenen Weg sucht, hüten solle159. Denn ein derart indirektes Quälen anderer aus Minderwertigkeitsgefühlen (3/646) sei, offen ausgesprochen in einem Turiner Nachlaßfragment, nichts anderes als — „Brutalität" (13/597)! All das gilt es zu berücksichtigen, wenn man Nietzsches ästhetische Affirmationen der ersten Veröffentlichungen 160 , aber auch die späteren Auf155
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Geradezu exemplarisch zu verdeutlichen ist sein „Doppelblick" auf Werk und Autor an der scharfen Faust-Kritik, die sich ebenso durch alle seine Schaffensphasen zieht wie die entsprechend deutliche Verehrung der Person Goethes. S. dazu Kap. IV.3. 5/231; daß solch generalisierende Aphorismen immer als Selbstbekenntnisse gelesen werden dürfen, zeigen deren Vorstufen in „Ich"-Form, hier: 14/373; vgl. 20. 3. 1881 an H. Köselitz, K G B 6/73; 2/665 und 3/504. Im übrigen geht jene Denkfigur auf Goethe zurück: „Wen jemand lobt, dem stellt er sich gleich". (Maximen und Reflexionen 688, in: Gedenkausgabe 9/591) 5/102 — also der Schmeichelei (4/67); aufschlußreich in Bezug auf seine eigene „Zudringlichkeit" als Philologe 2/407 12/376, ja geradezu auf einen „Sieg" (3/214); vgl. den Brief vom 25. 9. 1879 an E. Nietzsche, K G B 5/447 2/518, vgl. 3/499, 4/337, 12/348 Stellt man das soeben Gesagte in Rechnung, dann empfindet man den „Meinungswandel" hinsichtlich der Person Schillers, wie er im Vergleich von frühen und späten Schriften zunächst überdeutlich ins Auge fallt, gar nicht mehr als so überraschend.
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Wertungen Stifters, Kellers und selbst Goethes auf ihre Motive und Ursachen hin befragen will: Am allerwenigsten sind sie philologischer, eher noch physiologischer Natur... Und entsprechend zu bedenken gilt es Autoren und Werke, die er nicht (herab-)würdigt: Ob er sie nun verschweigt oder tadelt, diese ,gehen ihm wirklich nahe und tun ihm wohl' 161 . Sehr die Frage aber ist es da, ob explizite bzw. implizite ^¿»Wertungen, insbesondere diejenigen der Spätzeit, nicht einfach eine Form der „schlechten Rache" sind...
d) Mit dem Hammer philologisiert Nach all dem bisher Ausgeführten zu radikalem Sprechen und Urteilen, zur Leidenschaftlichkeit beim (literarischen) Umwertungsgeschäft und zum martialischen Gebaren in Inhalt und Form — alles Parameter, welche die extreme Kurve seiner literarischen Urteile an beiden Enden noch zusätzlich betonen — mag Nietzsche als die Inkarnation dessen erscheinen, der selbst die Philologie „mit dem Hammer" betreibt: und zwar, um mit ihm zu zerstören, nicht, wie die Vorrede zur „Götzen-Dämmerung" nahelegt, um ihn als Stimmgabel zu benutzen, als akustisches Fragezeichen an einen überkommenen Lektürekanon generell und an veraltete Klassiker im speziellen162. Dem aber ist nicht so. Im Gegenteil: Hinter dem „Exzess von Härte", den Nietzsche seinen eigenen Schriften bescheinigt, verbirgt sich — wie er im selben Atemzug fortfahrt — „ein Zustand von chronischer Verwundbarkeit", an dem er „in guten Zuständen eine Art Revanche" nimmt163. Seine offensichtliche Vorliebe fürs Heroische, Männlich-Strenge bei gleichzeitiger Verachtung alles Femininen ist also nie mehr als momentaner Triumph über sich selbst — und seine Kriegs Verherrlichung, wie C. P. Janz ausführt, bloß „die Sehnsucht des Ohnmächtigen nach Kraft und Härte, die er im Leben nie besaß"164. Dort nämlich hatte er seinen täglichen „Kampf 1 6 5 zu führen, das „Kleingewehrfeuer [s]eines Leidens166 hielt ihn in Schach, selbst „kriegerische Fußmärsche"167 führten da keinen erträglichen Gesundheitszustand herbei — 161
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19. 7. 1881 an F. Laban, K G B 6/106; vgl. Dezember 1882 an H. v. Bülow, K G B 6/290; 11. 9. 1887 an J. V. Widmann, K G B 8/149 Diese Frage, allerdings höchst feinsinnig, stellt ein Aphorismus aus „Menschliches, Allzumenschliches" ja in der Tat! (2/606 ff.) 1. 2. 1888 an H. Köselitz, K G B 8/239; vgl. 17. 2. 1888 an F. Nietzsche, K G B 8/256 Friedrich Nietzsche, 1/500; noch drastischer A. Verrecchia, Zarathustras Ende, S. 55, 129 27. 10. 1881 an H. Köselitz, K G B 6/136 22. 10. 1879 an F. Overbeck, K G B 5/456 6. 2. 1884 an F. Overbeck, K G B 6/475; Nietzsche ging bekanntermaßen täglich mehrere Stunden spazieren: eine Gewohnheit, aus der sich zahlreiche seiner Metaphern ableiten.
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allenfalls eben „eine gewisse Härte der Haut" 168 , auch und gerade eine solche in metaphorischer Hinsicht: Transposition der radikalen Lebenspraxis auf die Ebene von Gedanke und Stil, dahinter allerdings eine „Zartheit und Delikatesse", die H. Köselitz sogar noch dem umnachteten Nietzsche bescheinigt 169 —, also doch im Grunde „syvei Nietzsches", deren einer, mit markigen Aussprüchen über Kunst und Literatur den anderen, psychologisch Feinfühligen, nur übertönend, gemäß einer Reflexion der „Genealogie der Moral" 170 zu vernachlässigen wäre?
e) Zwei Nietzsches? Sicherlich, so einseitig darf ein zweiseitiger Interpretationsansatz nicht gehandhabt werden; ein Mißverhältnis immerhin zwischen Theorie und Praxis, zwischen Werk und Person Nietzsches bleibt festzuhalten. Und ebenso jenes Janusgesicht seiner Wertungen, hinter deren Grobheit und Einseitigkeit sich eine weit vielschichtigere Auseinandersetzung mit dem betreffenden Phänomen verbirgt. Genauer: von ihm bewußt dort verborgen wurde, weiß er doch nicht allein um die Mißverständlichkeit seiner Werke 171 , sondern tut geradezu „Alles, um [...] schwer verstanden zu werden" (5/45): Unsre höchsten Einsichten müssen — und sollen! — wie Thorheiten, unter Umständen wie Verbrechen klingen, wenn sie unerlaubterweise Denen zu Ohren kommen, welche nicht dafür geartet und vorbestimmt sind. (5/48)
Das mutet wie eine Zusammenfassung verschiedener Äußerungen Piatons an, der sich stets gegen die „unverschleierte" Verbreitung seiner Philosophie ausspricht, ja grundsätzlich die „Profanierung höherer Wahrheiten durch [allgemein zugängliche] Schriften" beklagt. Jene — die „Wahrheiten" —
'« 11.8. 1875 an M. v. Meysenbug, KGB 5/104 169 und daraus, zu Recht schließt, diese seien ihm „innerlich angeboren" (26. 2. 1892, in: C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, 3/143) 170 „Ein Geist [...], der seiner selbst gewiss ist, redet leise". (5/354) Den Philologen, der an Nietzsches literarischen Umwertungen interessiert ist, dürften ja dessen „Ungewißheiten" nicht weiter interessieren... Ein derart dualistischer Nietzsche, wie soeben (falsch) entworfen, würde an La Fontaines Fabel „Le chameau et les bâtons flottants" erinnern, deren Schlußmoral die Sachlage noch einmal vereinfacht: „De loin c'est quelque chose, et de près ce n'est rien." (Fables, S. 130). — Oder, um es im Sinne einer fröhlichen Wissenschaft zu verbildlichen: Ein solcher Nietzsche, wie soeben geschildert, wäre nichts weiter als ein „Scheinriese": furchterregend aus der Ferne, bei näherem Kennenlernen jedoch überängstlich und „délicat". (M. Ende, Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, 16. und 17. Kapitel) 171 und in diesem Wissen schwingt Bedauern mit: 5. 11. 1879 an H. Köselitz, KGB 5/461
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müßten vielmehr im mündlichen Dialog an „wenige Auserwählte" weitergegeben werden. 172 Nietzsche, der sich der Möglichkeit zu derartigen Dialogen mit zunehmendem Alter selbst beraubte, führt Piatons Konzept nun innerhalb der Texte selbst durch: Weil es ebenso gefahrlich wie beleidigend wäre, von den Falschen „verstanden" zu werden 173 — nicht zuletzt deshalb die oben dargestellte Polemik gegen Loben, d. h. Gelobt-werden! —, „vertheidigt" (12/99) er seine eigentlichen Ansichten durch eine nur uneigentlich zu nehmende „Vordergrunds-Philosophie" (5/234), d. h. auch seine literarischen Wertungen durch drastische Verkürzungen, Übersteigerungen, Verzerrungen derselben. Die „Radikalsprache", deren er sich dabei bedient, ist bloß „Teufelstücke, Teufelswitz und Teufelskleid", wie es sein Gedicht „Der verkappte Heilige" beschreibt 174 , richtet lediglich „abschreckende Warnschilder" auf für „harmlose Gemüter" gleichermaßen wie für „neue Barbaren" 175 . Denn, so betont er des öfteren, seine Schriften seien „deutlich genug" (5/255) — nicht etwa »¿«•deutlich —, indessen käme es auf das richtige, „wiederkäuende" (5/256) Leseverhalten an. Freilich, „nicht Jeder hat das Recht zu jedem Lehrer" (6/49), und Nietzsches programmatisches „Pathos der Distanz" 176 schließt eher aus als ein: „lärmendes Gezwerge" 177 in erster Hinsicht, sprich: „Pöbel, [...] populi, [...] Parteien aller Art" (2/584), denn als Künstler dürfe niemals man auf ein breites Publikum wirken wollen 178 . Indem Nietzsche hier auf die abendländische Tradition eines zwar nicht volksfeindlichen, so immerhin -verachtenden Elitarismus auf die (vorläufige) Spitze treibt 179 , verkörpert er gerade in seiner Rolle als Umwerter, als Verkünder neuer (literarischer) Werte die krasse Gegenposition zu dem in Max Weber inkarnierten Dogma strenger Wertungs172
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Alle Zitate aus Piatons Siebentem Brief (Sämtliche Werke, 3/743), s. aber z. B. auch Phaidros, 2/476 12/51: Selbst den Freunden will Nietzsche „einen reichlichen Spielraum zum Mißverständniß zugestehen" —, um sich als erhaben über sie zu erweisen! (vgl. 13/14, 69) — Die Gefahr des Verstanden-Werdens seitens der Falschen (hier: der „unkünstlerischen und schwachkünstlerischen Naturen") führt Nietzsche im Zusammenhang seiner Erörterung der „monumentalischen Historie" ausführlich vor Augen. (1 /263 f.) 3/360, vgl. „Meine Rosen", 3/355 R. Low, Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 119 definiert in 6/138 Das frühe Bild der (Geistes-)Riesen, die über das „muthwillig lärmende Gezwerge" der Zeitgemäßen hinweg ein (literarisch vermitteltes) Gespräch führen (1/317), wird in 2/286 wieder aufgegriffen. also auf Unreife, Empfindsame, Krankhafte usw. (2/620); vgl. S. 422 und 4/262: „Geht eure Wege! Und lasst Volk und Völker die ihren gehn!" W. Jaeger weist darauf hin, daß bereits Theognis — über den Nietzsche wissenschaftlich arbeitete — gegen die nivellierende Macht der Masse polemisiert (Paideia, 1/270). — U. Eco ist auch in diesem Punkt ein so vorzüglicher Nietzsche-Kenner, daß er sich dessen Position bis in die Formulierung hinein zu eigen macht: „Nicht alle Wahrheiten sind für alle Ohren". (Der Name der Rose, S. 53; vgl. Nietzsche, 13/25)
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freiheit: „Weil nicht jede Wertung für jeden ist", begründet W. Müller-Seidel den Standort des letzteren, „hat er sie grundsätzlich aus dem Raum der Wissenschaft verbannt." 180 Für seinen Antipoden dagegen ließe sich diese Denkfigur folgendermaßen abwandeln: Weil nicht jede Wertung für jeden ist, hat er sie so formuliert, daß ihr Kern den meisten verschlossen bleibt —, kürzer: hat er fast jeden aus dem (eigentlichen) Raum seines Denkens verbannt. Fast jeden, denn zumindest einige „Auserlesene" will er an sich „heranziehen" 181 , schließich konzipiert er seine Werke als „Elite-Schriften für EliteMenschen" 182 , in denen er zu seinesgleichen sprechen kann: „so heimlich, daß alle Welt es überhört" (12/88). In Anbetracht solcher und ähnlicher Äußerungen — Selbstermahnungen, zumeist in Briefen und Notizen, die seinen ursprünglich grenzenlosen Wirkungswillen bewußt verengen 183 — ist E. Bisers Bemerkung voll zuzustimmen, daß seine Texte ausnahmslos „unter dem Vorbehalt [stehen], nicht schon durch sich selbst, sondern erst für den Eingeweihten verständlich zu sein" 184 . Daß deren Logoi lediglich für eine sehr geringe Anzahl von „Auserwältesten" (6/260) bestimmt sind — „Zuletzt kommt es mir ja allein auf 6 — 7 Leser an" 185 —, für „vollkommene Leser", von denen Nietzsche sehr genaue Vorstellungen hat 186 , während weite Partien der Schriften (zum Schutze eben der Logoi) sich an „unvollkommenere" Leser richten, macht sein Werk zu „einem ununterbrochenen Dialog mit wechselnden Partnern" (C. P. Janz): „Und es wäre eine eigene Aufgabe der Nietzsche-Philologie, diese für jeden Fall und für jedes Nietzsche-Urteil ausfindig zu machen", (ders. 187 ) Ein derart schichtspezifisches Sprechen bzw. Schreiben 188 , das seine frühen Publikationen für den philologisch Interessierten in den Hintergrund treten 180 Probleme der literarischen Wertung, S. 9 181
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August 1885 an H. Druskowitz, K G B 7/84; ohne daß diese aber gleich „Blutsverwandte" sein müßten, wie es P. Gast im Falle der Zarathustra-Leser fordert (Vorbemerkung zu „Also sprach Zarathustra", S. 31) 15. 8. 1885 an E. Förster, K G B 7/81; „als Aufhellung für Einige als tiefste Verdüsterung für Viele" wird ein zweiter Teil von „Jenseits von Gut und Böse" ins Auge gefaßt (12/101) ein Beleg gleichermaßen für seine Selbsterziehung wie seine weiter unten zu behandelnde Denkfigur der „Selbstzerfleischung"; kein Zufall ist es, daß zur Jahreswende 1888/89, also bei fortgeschrittenem Verlust der geistigen Kontrollinstanz, der hypertrophe Wirkungswillen wieder ungebändigt hervorbricht. „Gott ist tot", S. 12 10. 10. 1874 an R. Wagner, K G B 4/265 6/303, vgl. 12/156 und 2/443 Friedrich Nietzsche, 2/627 und 1/812 Rhetorische „Rücksichtnahme" auf den je angezielten Adressaten findet man nicht erst bei Piaton und Aristoteles (W. Jaeger, Paideia, 1/146), sondern bereits bei Lysias (R. Low, Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 46): alles Autoren, die Nietzsche als Philologe gut kannte. — Der Gedanke findet sich übrigens in Lichtenbergs „Sudelbüchern" wieder, die Nietzsche bekanntlich mit ähnlicher Akribie studierte wie die griechischen Klassiker. (Schriften und Briefe, 1/192)
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läßt zugunsten späterer Schriften, da die literarischen Wertungen ersterer immer an ein breites, diejenigen letzterer aber an das „eigentliche" Publikum gerichtet sind, — ein solch explizites Kommunikationsgefalle zwischen Exoterik und Esoterik 189 kennt nicht bloß zwei, wie G. Colli nahelegt 190 , sondern viele Stufen und Abstufungen: deren letzte konsequenterweise 191 ins Monologisieren führt, in Selbst-Belehrung und -Erziehung nach dem Vorbild Schopenhauers (1 /346). „Ich achte die Leser nicht mehr: wie könnte ich für Leser schreiben? ... Aber ich notire mich, für mich." (12/450) Eine derartige, ausgerechnet in der nachträglich geplanten Vorrede für Nietzsches populärstes Buch, den „Zarathustra", publik gemachte Abwendung vom Lesepublikum ist keineswegs erst Resignation der späten achtziger Jahre, zieht sich als leitmotivisches „mihi ipsi scripsi"192 bzw. „sibi scribere" (2/446) durch Briefe und Werke gleichermaßen, bis zurück zur Zeit der „Unzeitgemässen Betrachtungen". „Das erklärt denn auch", resümiert E. Biser in anderem Zusammenhang, warum Nietzsche im Grunde nur [...] in der Werkstätte seiner Entwürfe und Skizzen [...] schlicht mitteilend spricht, während das an die Öffentlichkeit gerichtete Wort entweder bewußt verhüllt oder aber den Hörer mit einer Heftigkeit anspringt, daß die provokatorische Absicht der Aussage das faktisch Mitgeteilte oft bis zur Unkenntlichkeit verfremdet. 1 9 3
Dennoch kann ein entsprechend geschärftes Lesebewußtsein, wie selbst R. Low einräumt 194 , etliche „Widersprüche" auflösen, und zwar — methodisch unumgänglich — oft zugunsten der Äußerungen in den Notizbüchern! 189
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Ausgehend von der Ungleichheit aller Menschen (nicht etwa wie Gobineau: aller Rassen), reflektiert Nietzsche praktisch jedes Phänomen, d. h. jede seiner diesbezüglichen Erkenntnisse auf verschiedene „Kasten" (wie er sich gerne ausdrückt): Auch „die Ästhetik [und als deren Teil: die Literaturkritik] ist unauflöslich an diese biologischen Voraussetzungen gebunden" (6/50, vgl. 12/554); die zumeist dialektische Polarisierung der Leser- bzw. Gesellschaft in „Oben" und „Unten" (13/346) markiert nur deren Eckpunkte, setzt ihre Zwischenstufen aber immer stillschweigend voraus. — Beispiele für jenen „fall-bezogenen", bloß auf den ersten Blick dichotomen Denkansatz bieten u. a. die Themenkomplexe: Gesundheit/Krankheit (13/297; s. Kap. V.), Lust/Unlust (13/34), Egoismus (13/231), „Muße, Abenteuer, Unglaube, Ausschweifung" (12/357), Disziplin (13/71), Moral (August 1882 an P. Rèe, KGB 6/ 246), Tugend (4/212: „Für kleine Leute sind kleine Tugenden nöthig"), Ideale (12/195; 20. 8. 1880 an H. Köselitz, KGB 6/36), Wahrheit (12/183, 208), Denken allgemein (7. 6. 1882 an L. v. Salomé, KGB 6/200) Seine glänzende Interpretation des Untertitels von „Also sprach Zarathustra" (4/414 f.) würde ich nur dahingehend ergänzen, daß dieser ein Buch virtuell „für alle" ankündigt, de facto (noch) „für keinen". — Zu Exoterik/Esoterik s. auch 5/48 Selbst die „Auserwähltesten" sind ja noch lange nicht zu jeder Erkenntnis befähigt, wie Zarathustra erkennen muß —, deshalb zieht er sich stets ja aufs neue in seine Höhle zurück. Ein nachgelassenes Gedichtfragment beklagt ganz unverhohlen die notwendige Vereinsamung jeder großen Erziehergestalt: „Ich wollte ihnen Licht sein, aber ich habe sie geblendet". (13/553) Juli 1882 an E. Rohde, KGB 6/226; vgl. 19. 7. 1882 an H. Köselitz, KGB 6/208 „Gott ist tot", S. 21 Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 61
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f) „Bildersprache" Ein Mittel, schichtspezifische Texte zu schreiben und dabei möglichst viele Leser vom Verständnis auszuschließen, ist mit jenem bislang dargestellten, möglichst plastisch-radikale Ausdrucksformen zu wählen, insofern verwandt, als beide darauf zielen, einen Sachverhalt zu verdeutlichen, indem sie ihn verschlüsseln. Gemeint ist Nietzsches metaphorisches Sprechen, das seine philosophischen Abstraktionen ständig ergänzt, ja überlagert. Ausgehend von einer Sprachkritik, die jedes Wort zur Metapher, jeden Begriff zur Metonymie erklärt 195 — zum ersten Mal schriftlich fixiert in der faszinierenden Frühschrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" —, wird ihm jeglicher Wahrheitsanspruch der Sprache obsolet. Doch nicht nur seine Kritik allen Sprechens nimmt diejenige der Moderne, wie sie im Chandos-Brief vorgebracht wird, voraus 196 , die Konsequenzen zieht Nietzsche ebenfalls weit radikaler. Anstatt in resignatives Schweigen zu verfallen, dreht er den Spieß einfach um, wirft „mit schöpferischem Behagen die Metaphern durcheinander 197 und verrückt die Gränzsteine der Abstraktion" (1/888). Er bedient sich also keiner starren Begrifflichkeit 198 , wie bei einem Philosophen in der Regel zu erwarten, sondern einer künstlerisch-beweglichen Ausdrucksform mit „lauter verbotenen Metaphern und unerhörten Begriffsfügungen" (1/889), die es beim Lesen stets zu hinterfragen und zu dechiffrieren gilt. — Das bezieht sich keinesfalls etwa auf den Bereich lyrischen Sprechens allein, dessen Bildervorrat in Nietzsches Gedichten übrigens erstaunlich knapp bemessen ist 199 ; und ebensowenig ist es erst das Spätwerk, wie H. Pfotenhauer meint, das sich am Rande einer hermetischen, „nicht mehr kommunizierenden Privatsprache" 200 bewegt. Jene Privatsprache vielmehr ist bereits in den frühen Texten zu vernehmen —, die „unerhörten Begriffsfügungen" 201 ebenso wie die „verbotenen Metaphern": Gerade dadurch aber wird sie überschaubar, 195 196
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Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 140 u. a. Eigentlich läßt sie den Chandos-Brief, der ja über ein (zwar grundsätzlich, aber eben doch recht schwammig empfundenes) Unbehagen am Verhältnis von sprachlicher Form und gedanklichem Inhalt kaum hinauskommt, weit hinter sich. Die Berufung der Moderne auf den „Brief" Hofmannsthals anstelle von Nietzsches Essay kann sich kaum anders als in Unkenntnis des letzteren begründen. nämlich nicht allein die herkömmlichen Worte, sondern auch die Metaphern zweiten Grades, die im üblichen Sprachgebrauch erst als solche bezeichnet werden. Darin verkörpere sich ja nur eine „vermeintliche Wissenschaft" (2/30). Die wesentlichen Formeln haben darüber hinaus durchaus Bezüge zur lyrischen Tradition: der Vogel als Verkörperung der Freiheit (bzw. des freien Geistes); Licht als Sinnbild der Erkenntnis; „Süden" als Sammelbezeichnung von Daseinsfreude, Leichtigkeit und Sinnlichkeit; der Wanderer als ..., die Wüste ..., das Meer... Die Kunst als Physiologie, S. 228 denen im Abschnitt II.3. nachgespürt wird
Umbegreifung der Begriffe
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einsehbar und durchaus kommunikativ. Nur gilt es, rhetorische Oberschicht, Stillage und „Stilbezug" 202 der jeweiligen Aussage zu berücksichtigen, und zwar bei philologischen ebenso wie bei philosophischen Umwertungen. Das Problem allerdings besteht darin, daß sich Nietzsches Bilderrede meist schon auf engstem Raum entfaltet, nicht mehrere Worte zu einer (herkömmlichen) Metapher zusammenstellt, sondern ein Wort seiner traditionellen Konnotationen entkleidet, wenigstens weitgehend, bzw. sie überlagert durch eine nahezu willkürlich gesetzte „Privatsemantik": „Verbotene" Metaphorik und bislang „unerhörte" Begriffsfügung fallen in eins. Paradigmatisch nachgewiesen hat das W. Kaufmann bezüglich des „Willens zur Macht" 203 , desgleichen hinsichtlich weiterer formelhafter Wendungen wie „Jenseits von Gut und Böse"204, „dionysisch" oder „Krieg" 205 . In dieselbe Richtung zielt freilich schon P. Gast, dessen Einführung in den „Zarathustra" eine rein symbolische Deutung des Terminus „Übermensch" anregt, beim „Schreckwort ,Immoralist'" auf den dahinterstehenden tiefen, moralischen Anspruch weist206 ... Und so noch lange ließe sich die Liste verlängern von äußerst mißverständlichen Formulierungen Nietzsches: Formulierungen, die keineswegs bloß die Oberflächenstruktur seiner Texte abgeben, vielmehr hinabweisen ins Zentrum seines Denkens. Deshalb soll ihnen im folgenden auch noch etwas mehr abgelesen werden als ihr „metaphorischer" Charakter.
3. Umbegreifung der Begriffe Es bleibt kein andres Mittel, die Philosophie wieder zu Ehren zu bringen: [...] wir verändern ihren Begriff, wir lehren Philosophie als lebensgefährlichen Begriff (13/602).
Diese Reflexion aus der Zeit kurz vor dem geistigen Zusammenbruch zeigt den Weg in ein tieferes Verständnis der Schriften Nietzsches, und zwar nicht allein derjenigen der späten achtziger Jahre. Denn schwerlich erst „der reife Nietzsche war dazu bestimmt ungewöhnliche Dinge mit ungewöhnlichen 202 203
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E. Biser, „Gott ist tot", S. 22 der ja nicht als „rücksichtslose Selbstdurchsetzung" (W. Kaufmann, Nietzsche, S. XIV) zu verstehen ist, selbst nicht von P. Sloterdijk! W. Kaufmanns Parallelisierung des Willens zur Macht zum platonischen Eros (a. a. O., S. 298) wäre vielleicht nur dahingehend zu ergänzen, daß es sich bei Nietzsche nicht um ein Streben aus Liebe, sondern vor allem um ein solches aus Selbst-Liebe handelt. für: „schöpferische Überschreitung aller Normensysteme" (a. a. O., S. 291) a. a. O., S. 480, 450 Vorbemerkung zu „Also sprach Zarathustra", S. 3, 24; zur strengen Moral des „Immoralismus" vgl. Nietzsches entrüsteten Briefentwurf an P. Ree (Dezember 1882, KGB 6/309)
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Worten zu sagen", wie S. Vitens meint 207 ; meine Arbeit über den „Frühen Nietzsche und die deutsche Klassik" schloß mit dem Hinweis, daß bereits dessen Umwertungen z. T. „reduziert" werden könnten auf rein sprachliche Umbegreifungen der entsprechenden Begriffe. Ersichtlich wurde jener Terminus gewählt in der Absicht, seine Nähe zu dem der „Umwertung aller Werte" zu betonen, steht er mit ihm doch in unmittelbarem Wechselspiel: Individuelle Umbegreifung eines Begriffes nämlich beinhaltet ja schon die sich anschließende „eigentliche" Umwertung, zumindest deren Tendenz —, oder, um den Kausalzusammenhang deutlicher herauszustreichen: Sie bildet deren, des öfteren leider nur stillschweigend vollzogene Vorarbeit, indem sie das zur Diskussion stehende Wort erst einmal auf den Begriff bringt. Da die hierbei zu überwindenden Zwischenergebnisse des Erkenntnisprozesses bei Nietzsche, anders als etwa bei Hegel, nicht unbedingt wohlverwahrt sind im endgültigen Begriff, sondern je nach Argumentationszusammenhang als fallweise „Endergebnisse" aktualisiert werden, möchte ich die Sachlage vorläufig folgendermaßen festhalten: Seine Denkleistung liegt zum großen Teil bereits darin, das jeweilige Wort auf seine (verschiedenen) Begriffe gebracht zu haben. Bevor dies verdeutlicht werden kann anhand einer genaueren Auseinandersetzung mit seiner Terminologie, muß noch — um die bald einsetzende systematische Verwirrung wenigstens auf der Ebene der Interpretation zu begrenzen — mein Begriff von „Umbegreifung" abgegrenzt werden, und das ist auch schnell geschehen: wird er doch mit demjenigen der „individuellen Neudefinition" hinreichend erklärt. In der Sache beinhaltet er eine rein formale Setzung von Sinn, die keinerlei Rechtfertigung bedarf —, anders als eine Umwertung, von der rational überprüfbare oder zumindest rhetorische Argumentationsmuster erwartet werden. Wenn Nietzsche z. B. im „Ecce homo" folgende Begriffsbestimmung der Moral gibt: „Moral — die Idiosynkrasie von décadents, mit der Hinterabsicht, sich am Leben zu rächen [...]. Ich lege Werth auf diese Definition" (6/373), so ist das vom Leser erst einmal hinzunehmen. Anders steht es mit seiner Umwertung der Moral, deren Keim zwar in der Umbegreifung schon enthalten ist, nichtsdestoweniger erst in zahlreichen Aphorismen oder Essays 208 vollzogen wird, indem traditionelle Vorstellungen von „Moral" hinterfragt und schrittweise durch neue ersetzt werden. Daß solch Umwertung in der Denkpraxis Hand in Hand geht mit der entsprechenden Umbegreifung, daß man nachgerade, in Anlehnung an Kleists 207
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Die Sprachkunst Friedrich Nietzsches in „Also sprach Zarathustra", S. 148; schon der Verfasser der zweiten „Unzeitgemässen Betrachtung" empfindet es als seine "Mission [...], die Begriffe, die jene Gegenwart von .Gesundheit' und ,Bildung' hat, zu erschüttern". (1/ 331) vor allem natürlich denjenigen der „Genealogie der Moral"
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Aufsatz, von einer „Verfertigung der Begriffe beim Umwerten" reden könnte und somit meine einseitige Ableitung des einen aus dem anderen rein formallogischer Natur ist, verändert die Sachlage in diesem Zusammenhang nicht: Schließlich geht es hier um nicht mehr als eine prinzipielle Scheidung von Umwertung und Umbegreifung, mag man letztere dabei als (praktisches) Endergebnis 209 oder als (theoretischen) Ausgangspunkt der ersteren verstehen. — Nun aber gar von einer „Umwertung der Begriffe" zu sprechen, hieße mir, die beiden Aspekte unnötigerweise wieder zu vermischen, ja, bei genauerer Betrachtung, um einen dritten zu bereichern: denjenigen der Bewertung allein der Klanggebilde, die einen Begriff zum Ausdruck bringen —, also eben der Worte als bloßer Abfolge von Lauten: Denn etwas anderes ließe sich an Begriffen ja nicht werten.
a) Eindeutige oder zweideutige Begriffe? Es mag im folgenden den Anschein haben, als wollte ich den zunächst einmal so einfachen Zugang zu den Texten Nietzsches unnötigerweise erschweren —, und in der Tat: Erschweren möchte ich ihn, nur nicht, wie ich glaube, unnötigerweise. Hat deren Verfasser selbst doch mehrfach den Wunsch bekundet, „ich will Zäune um meine Gedanken haben und auch noch um meine Worte-, dass mir nicht in meine Gärten die Schweine und Schwärmer brechen!" (4/237). Letzteres konnte er, wie bekannt, nicht verhindern —, und das begründet sich, so meine These, nicht zum wenigsten in der Eigenart jener „Zäune": Eigenart insofern, als man sie erst bemerkt, wenn man sie längst durchbrochen hat. Begriffstrüffel wie „Willen zur Macht", „blonde Bestie", „Herrenmoral" machen Nietzsches „kritische Wälder" ja auch wirklich so verführerisch, daß man den Schaden erst sehr spät zur Kenntnis nimmt, den man mit einem allzu stürmischen Zugang zum Text verursacht hat —, und mit dem allzuschnellen Einverleiben solcher Begriffe allemal. Da kann es schon zu gewissen Magenverstimmungen kommen, sogar noch beim Leser von Nietzsches Lesern —, z. B. dem von Botho Strauß, der den Willen zur Macht nur als das seelenlose „Böse auf Erden" zu verdauen wußte 210 , oder bei dem von P. Sloterdijks „Kritik der zynischen Vernunft", deren Etikettie-
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2,0
im Sinne Hegels etwa, für den das Begreifen erst am Schluß einer langen gedanklichen Entwicklung steht Der Park, S. 54
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rung eben jenes metaphysischen Prinzips 211 als „faschistisch"212 selbst wohl in die Geschichte der zynischen Vernunft einzureihen ist 213 . Dabei gilt Nietzsches Warnung vor den Evangelien ohne Einschränkung auch für seine eigenen Werke 214 : Auch diese „kann man nicht behutsam genug lesen; sie haben ihre Schwierigkeiten hinter jedem Wort" (6/218). Noch dazu, weil sie sich einer Sprache bedienen, die jeder auf Anhieb versteht — nämlich so, wie er, der Leser, sie (miß-)verstehen will 215 —, und Nietzsches Klage über den „steifen Ernst, der über ein Wort stolpert und zu Falle kommt" 216 , z. B. über sein Wort „Übermensch", dessenthalben ihn „gelehrtes Hornvieh [...] des Darwinismus verdächtigt" habe 217 , wird im Spätwerk geradezu leitmotivisch: „Viele Worte haben sich bei mir mit andren Salzen inkrustiert", schreibt er am 2. 12. 1887 an G. Brandes: „und schmecken mir anders auf der Zunge als meinen Lesern" 218 . Dezidiert mahnt er letztere nun 2,1
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dazu 12/97: „Aller Sinn ist Wille zur Macht (alle Beziehungs-Sinne lassen sich in ihm auflösen)." — Die Schwierigkeiten, die der Begriff bereitet, spiegeln sich in der konträren Interpretation derselben durch die beiden Herausgeber von Kritischer Studien- bzw. Gesamtausgabe der Werke. Während ihn G. Colli als metaphysisches Prinzip deutet (5/416), lehnt M. Montinari das andernorts dezidiert ab: „Dieser Wille zur Macht ist kein metaphysisches Prinzip [...], sondern er ist ganz einfach eine andere Art, .Leben' zu sagen" (14/384). Montinaris reduktionistische Begriffsdefinitionen — kurz darauf erklärt er das Dionysische zur „Chiffre der ewigen Wiederkunft" (S. 387) — halte ich jedoch für nicht unproblematisch, im übrigen widerspricht ihm Nietzsche selbst (13/301)! S. 446, vgl. S. 94, 144, 9. Ein derart pervertierter Wille zur Macht wäre im übrigen glänzend parodiert in Doderers „Merowinger" (Chlodwig III.!). Vgl. Robert Walsers wesentlich feinsinnigere Erklärung des Willens zur Macht als „Ressentiment des .gekränkten' Knechts" (in einem Gespräch mit C. Seelig, in: V. Zmegac, Geschichte der deutschen Literatur, II/2, S. 387). Als faschistisch interpretiert wird auch gern der Terminus „Übermensch" —, leider selbst von Th. Mann (Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, S. 38 f.). ... falls man den Verfasser nicht gleich als „Ritter von der traurigen Gestalt" abtun will und dessen Werk als bloßes „Wortgeklingel", wie es E Busch in seiner Rezension von Sloterdijks Nietzsche-Buch erfreulich unumwunden tut. (Geschmack von Freiheit und Abenteuer) Ähnlich peinlich übrigens auch Sloterdijks Verständnis der „blonden Bestie" (S. 438) als rücksichtsloser Schlägeraristokrat. Hierzu Nietzsche: „Durch Worte [...] werden wir [...] fortwährend verführt, die Dinge uns einfacher zu denken, als sie sind." (2/547) gemäß dem Prinzip der Selbstaussprache durch die Maske (s. Kap. H.6.); den „Zarathustra" bezeichnet er sogar einmal selbst als „Evangelium"! (12/234) Im Hinblick auf obige Ausführungen gilt hier Zarathustras (Selbst-l)Belehrung: „Den Schweinen wird Alles Schwein!" (4/256) Weniger polemisch ein Brief vom 4. 7. 1877 an C. Fuchs (KGB 5/253) 12/99; ... und im Aufstehen Text wie Autor verflucht: „Nietzsche ist nicht zu entschuldigen" —, dies Verdikt fällt ausgerechnet E. Jünger! (Autor und Autorschaft, S. 44) 6/300; weniger gelehrte, dafür gewitztere Leser „verdächtigten" ihn darob der Phrasendrescherei und parodierten deren Tenor: „Seht Freunde, ich lehre Euch das Überornament: das Ornament ist etwas, das überwunden werden soll." (in einer Kneipzeitung zum Stiftungsfest des Akademischen Architekturvereins München, 1898; abgedruckt in: Rudolf Herz: August Endell in München, S. 38) Noch F. Martinis Literaturgeschichte beklagt den Umstand, daß viel „Schindluder" getrieben worden mit jenem Wort (S. 526). KGB 8/206
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vor einem allzu wörtlichen Verständnis seiner Schriften, man müsse vor allem auf deren „Ton" hören219 und sie als Kunstwerke lesen —, als „Kunst, die errathen sein will, sofern der Satz verstanden sein will!" 220 Während er mit derartigen Formulierungen einem intuitiven Textverständnis das Wort redet221 und, lediglich einen Gedankenschritt weiter, sein Werk zum „Tummelplatz des Missverständnisses" deklariert (5/46) — wenn auch bloß für solche Leser, auf die er als „gute Freunde" keinen Wert legt —, beklagt er sich andrerseits, nämlich echten bzw. erwünschten Freunden gegenüber: „Man pflegt mich zu verwechseln" (12/159). Und im nämlichen Atemzug, in dem er die tiefere Ursache aller Fehlinterpretation erkennt: seinen Verzicht auf eine präzise, den Zugang zunächst einmal erschwerende, letztendlich aber erleichternde Fachterminologie, die Verwendung allgemein üblicher Begriffe trotz deren teilweise impliziter Umbegreifung 222 —, gesteht er sich ein, daß nur er selbst seinen Texten „zu Hülfe kommen" könne (ebd.): durch explizite Definitionsversuche nämlich, wie sie sich in den Aufzeichnungen der letzten Jahre weit häufiger finden denn zuvor. Dort zeigt sich dann zumindest, daß in Nietzsches Sprachgebrauch beispielsweise die Worte „Mitleid" (5/160 f.), „Laster" (6/307), „Geist" (6/12) mit z. T. erheblich vom Allgemeinverständnis abweichenden Inhalten besetzt sind, daß er seinen „Begriff ,Philosoph' meilenweit abtrenn[t] von einem Begriff, der sogar noch einen Kant in sich schliesst" (6/320), ja daß sein Terminus „freier Geist" geradezu das Gegenteil dessen bezeichnet, was man unter einem „Freigeist" gemeinhin versteht223. Der dionysische Künstler — und als solcher hat sich Nietzsche schließlich auch verstanden — sei der „Wortfinder und Ausdruckspräger katexochen", schreibt A. Mette in seiner „Psychologie des Dionysischen"224. Umprägungen und Neubegreifungen indes sind bei einem teleologischen Denker verständlicherweise kein Selbstzweck: Er habe sich manchen Begriff „zum Kampf zurecht gemacht", liest man in einer Vorrede zum geplanten Werk „Der Immoralist" (13/603), und seine zur „Formel"225 verhärteten Begriffe zwecks Bezeichnung „noch unge-
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6/259, vgl. S. 203; P. Gast wiederholt die Warnung in seiner Vorbemerkung zu „Also sprach Zarathustra" (S. 4). 5/189, vgl. S. 157 Vgl. bereits die eindeutige Parteinahme seiner Frühschrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne": zugunsten eines intuitiven Sprachverständnisses, gegen den „Notbehelf einer starren Begrifflichkeit (1/888). An seine Schwester schreibt er am 20. 5. 1885, „daß meine Worte andere Farben haben als dieselben Worte in andern Menschen, daß es bei mir viel bunten Vordergrund giebt, welcher täuscht" (KGB 7/52 f.): eine Begriffs-„Maske" also! 6/319; leider verwendet er beide Begriffe bisweilen synonym, (s. u.) S. 216; das gilt m. E. freilich für Künstler und Selbstdenker generell. 6/297 u. a.
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faßter und oft kaum faßbarer Zustände"226 beschränken sich keineswegs auf jene oben zitierten Schlag-Worte. Von „Immoralismus"227 und „Umwerthung aller Werte" 228 über „Egoismus", „Objektivität" 229 und „Selbst-Überwindung" (12/73) reicht die Skala der „umempfundenen" (12/477) Worte bis hinab in die allergemeinsten und aller Welt verständlichen Vokabeln wie „Schauspieler"230, „Idiot" 231 , „schlecht"232. Eine derart umfassende „EinNietzschung"233 der Sprache zu einem (Waffen-)Arsenal von „nahezu ausschließlich ,selbsterworbenen Zeichen' " 234 umfaßt natürlich auch Worte, wie sie für vorliegende Arbeit von zentraler Bedeutung sind: Das „Faustische" z. B., so konnte H. Schwerte nachweisen, „kommt bei Nietzsche [...] immer in schon übertragenem Sinn einer ,modernen' Kulturepoche [vor], wodurch .faustisch' bei ihm von vornherein einen negativen, mindestens einen stark ironischen Klang erhielt". 235 Diesem Hinweis wird genauer nachzugehen sein, hier gilt es den Blick zu wenden von Nietzsches eindeutigen auf seine zweideutigen, vieldeutigen Umbegreifungen, die G. Colli sogar vom „Fehlen einer begrifflichen Stütze" (6/455) sprechen läßt: Seine „abstrakte" Terminologie verbärge „hinter denselben Namen bei jeder Gelegenheit andere Inhalte." (3/663) Stimmt das? Wenn ja, dann würde das Problem des Perspektivismus bereits auf sprachlicher Ebene auftauchen; und in der Tat hat es allen Anschein, daß Nietzsches Formulierungen vielfach in sich schillern, glitzern und — blenden: In Umkehrung einer typischen Denkfigur seiner Moralphilosophie, die unter den verschiedensten Namen ein und dieselbe Sache nachzuweisen sucht 236 , läßt sich 226 227 228 229 230 231
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4. 2. 1888 an J. V. Widmann, KGB 8/244; vgl. 22. 8. 1888 an M. v. Salis, KGB 8/397 13/603; zu „Moral" s. 13/26, zu „Tugend" s. 12/477 „dies ist meine Formel für einen Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit" (6/365)! deren Begriffe sich Nietzsche zu „berichtigen" vornimmt in Plänen zum „Willen zur Macht" (13/196) in zunehmendem Maße abgelöst von der ursprünglichen Berufsbezeichnung und als „SchauSpieler" (Heuchler) verwandt, z. B. 12/324 „Jesus ist [...] ein Idiot" (13/237) bzw. „Parsifal [...], dieser typische Idiot" (13/599) —, zwei Beispiele für allzu plakative Wertungen, die im Grunde nur stillschweigende — ihre antiken (vgl. C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, 2/651) und modernen (Dostojewski)!) Quellen verschweigende — Neubegreifungen sind: „Weltanschauungen sind [manchmal eben nicht mehr als] Vokabelmischungen". (W. Serner, Letzte Lockerung, S. 16; vgl. S. 44!) 13/290; das gesamte „Jenseits von Gut und Böse" sei ja, so eine fragmentarische Vorrede dazu (12/234), nicht mehr als ein „Glossarium" für Zarathustras „wichtigste Begriffs- und Werth-Neuerungen"! eine von Nietzsche selbst — allerdings in anderem Kontext — geprägte Formel (3. 9. 1878 an E. und F. Nietzsche, KGB 5/350) M. Kommerell, zit. bei H. H. Henschen (in: Kindlers Literatur Lexikon, S. 2699) Faust und das Faustische, S. 318 f.: und „nur" deswegen die sich anschließende Fehldeutung von Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Phänomen durch O. Spengler (S. 319)! als bloße „Umtaufungjen] des Namens" (12/421); von U. Eco aufgegriffen als „geheime Weisheit, dank welcher Phänomene sehr verschiedener Art mit den gleichen Worten benannt werden können" (Der Name der Rose, S. 319)
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mit Fug und Recht (d. h. mit G. Colli) behaupten, daß in seinen Texten unter einem Wort die verschiedensten Sachverhalte auftauchen. Da wird selbst solch explizite Umbegreifung wie diejenige von „Philosophie" in eine Kunst nicht allein des Denkens, sondern vor allem des Lebens 237 wieder problematisch: weil sie daneben fallweise ein pejoratives Wortverständnis, das den Philosophen als „versteckten Priester" begreift 238 , als „Typus der décadence" (13/503), beibehält —, ja zunehmend radikalisiert: „Der Verbrecher der Verbrecher ist [...] der Philosoph." 239 Als nicht minder verwirrend entpuppt sich auch Nietzsches zunächst so eindeutig negatives Verständnis des „Freigeists", das knappe fünfzehn Seiten, nachdem es an dem einst so heftig befehdeten D. F. Strauss demonstriert wird, in sein Gegenteil umkippt —, dort nämlich (6/334), wo die „Lieder des Prinzen Vogelfrei" mit dem „Freigeist" provensalischen Ursprungs in Verbindung gebracht werden: also nichts anderem als dem freien, nämlich „freigewordenen" Geist 240 . Hat man den Blick freilich erst einmal geschärft für derart trügerische Äquivokationen, so gewinnt fast jedes Nietzsche-Wort einen zumindest doppelten Boden, zentrale Ausdrücke wie „Wissenschaft" 241 , „Wille" 242 , „Maske" 243 eingerechnet. Sogar die Bezeichnungen „Über-" bzw. „höherer Mensch" schwanken von einem Extrem ins andere. 244 „Die Worte bleiben", liest man in einem Oktavheft der Jahre 1885/86: „die Menschen glauben, auch die damit bezeichneten Begriffe!" (12/34) Solch sprachkritische Reflexionen aber durchziehen nicht etwa nur die Notizbücher wie der sprichwörtliche rote Faden, der lediglich vielleicht als Ariadnefaden begriffen werden müßte, um sich in Nietzsches labyrinthisch anmutender Sprachpraxis besser zurecht237
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6/258, 12/363, 13/197 und 492; vgl. die ebenfalls eindeutig positive, wenngleich grundsätzlich verschiedene Definition als Psychologie (6/371) 6/331; vgl. 13/376, 380 6/254; zur Auflösung der Problematik s. Anm. 50 2/15 ff., 6/322, 6/208; vgl. P. Valéry (Monsieur Teste, S. 20), der ganz entsprechend auch die (Selbst-)Zucht des freien Geistes betont gegenüber einer bloßen, wie Nietzsche es ausdrückt: „verächtlichen" Libertinage (13/594; vgl. 12/552, 12/558: „Freidenker"). — Freilich tauchen die Begriffe „Libertinage" (13/624) und „Freigeisterei" (19.11.1877 an P.Rée, KGB 5/ 291, 20.6. 1878 an E. Schmeitzner, KGB 5/334 f.) bei Nietzsche bisweilen mit positiver Konnotation auf... Eine Aufzeichnung vom Frühjahr 1888 macht die Äquivokation explizit: 13/314. Im übrigen s. Anm. 50 Definitionen beispielsweise im „Antichrist" (6/180), die sich auf „das alte Wort ,Wille' " beziehen und es als psychologische „Fälschung" entlarven (13/425), sind natürlich nicht anzuwenden auf Nietzsches neuen Begriff vom Willen (zur Macht) (explizit dazu 13/301). vgl. die Abwertung in 2/270 bei sonst durchgängiger Aufwertung Der „höhere Mensch", im „Zarathustra" als negatives Gegenstück zum Ubermenschen konzipiert, ist in einem Nachlaßfragment plötzlich identisch mit demselben (12/426)! — Gemeint ist natürlich der „höhere Typus" (6/171 und 12/462), der nur aus Nachlässigkeit der Diktion mit dem „höheren Menschen" gleichgesetzt wird, im Grunde dessen positives Gegenstück benennen soll.
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zufinden. Auch seine Worte sind eben nichts anderes als „Taschen, in die bald dieses, bald jenes gesteckt wird" (2/564) —, beinhalten darin selbstverständlich nicht bloß wechselnde, vom normalen Sprachgebrauch abweichende Umbegreifungen, sondern, je nach Argumentationszusammenhang, bisweilen noch deren allgemein übliche Inhalte. Entsprechend lang ist die Liste der Aquivokationen 245 , der Worte, die Nietzsche als reine „Erleichterung des Ausdrucks" wählt (2/68); und in diesem Zusammenhang nichts weniger als bedrängend mutet die dreifach wiederholte Frage am Schluß des „Ecce homo" an, die Abschlußfrage gewissermaßen eines rastlos sich verzehrenden Sendungsbewußtseins: „Hat man mich verstanden?" 246 Denn nicht allein jede seiner Meinungen ist „auch ein Versteck", sondern schon „jedes Wort [...] eine Maske" (5/234) —, und ich glaube, daß die irritierende „Philosophie der Masken" nur den geringsten Teil der Verwirrung bewirkt durch Rollen-Spiel ihres Verfassers, dessen Mechanismen anläßlich der Retrospektive seiner Werke ja „verraten" werden 247 und also recht leicht in den einschlägigen Fällen nachzuvollziehen sind. Vielmehr bin ich der Ansicht, daß jene „Philosophie der Masken" sich vor allem verschiedener Sprach- und Begriffsschichten bedient —, hier allerdings noch lange nicht restlos zu lüften sein wird. Folglich ließen sich eventuelle Widersprüchlichkeiten, ähnlich wie es D. Wellershoff für das Werk Benns vorschlägt 248 , als „Formulierungsvarianten" auflösen; die Ambiguität der Texte Nietzsches, die bereits Benn betont 249 , wäre rein sprachlicher Natur: und korrelierte im übrigen mit dem „zweideutigen Charakter unserer modernen Welt" 250 . Doch die gereizten Ausfälle gegen „abscheuliche und pedantische Begriffsklauberei" ä la Piaton (13/169) oder Kant 251 , gegen eine verfestigte Terminologie (6/204), die der Natur des
Erste konkrete Ansätze dazu finden sich bereits in Nietzsches späten Aufzeichnungen, wo er z.B. die Begriffe „Mut" (13/349) und „Pessimismus" (12/131, 242, 409f.) vielfältig aufsplittert, wo er zumindest zyvei Spielarten von Askese (12/387) und Priestertum (12/330) unterscheidet —, aber auch insofern, als er auf engstem Raum die Worte „natürlich" (12/ 449) oder „oberflächlich" (12/46, 49) in entgegengesetzter Bedeutung gebraucht. — Abgesehen davon stößt man im Spätwerk auf bislang eindeutig negativ besetzte Ausdrücke manchmal plötzlich unter positivem Vorzeichen: „ressentiment" (13/473 f.), „Tugend" (12/496, 518), „Wahrheit" (13/228, 12/566, s. schon 3/266). — R. Low weist auf die „souveräne Äquivokation des Seins-Begriffs" hin (Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 73) und W. Müller-Lauter darauf, daß Nietzsche grundsätzlich „mit dem gleichen allgemeinen Begriff dessen verschieden bewertete Besonderungen benennt" (Nietzsche, S. 1). 246 6/371 ff. Vgl. dazu schon 2/230 247 Vertauschung seines Namens mit demjenigen anderer Autoren, 6/317, 319 f. 248 in: Gottfried Benn, Gesammelte Werke, 1/645 249 Nietzsche — nach fünfzig Jahren, in: Gesammelte Werke, 1/484 250 (12/468) und darin wiederum mit dem „höchsten Menschen, [...] welcher den GegensatzCharakter des Daseins am stärksten darstellt" (12/519) 251 „Kant, eine Begriffsmaschine" (13/442) 245
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Werdens niemals gerecht werden könne252, zeigen nur die eine Seite seiner Sprachkritik. Mindestens ebenso häufig wendet er sich gegen das andere Extrem, das völlige Zerfließen der Worte zu „ungestalteten schwimmenden Klecksen von Begriffen"253: „Die Sprache ist undeutlich geworden, weil so große Unklarheit in der Umgrenzung der Begriffe gewüthet hat und das Bedürfniß nach fester Bestimmung nicht gepflegt ist. Also ist die Aufgabe klar." (9/167) Auf daß wenigstens seine Werke und Gedanken „unter den Begriff ,Liebigscher Fleischextract' " 254 fallen mögen, „zersinnt" sich Nietzsche „mit Leibeskräften [...] über .Ausdrücke'" 255 ; seine Polemik gegen die „verächtliche Zweideutigkeit der Worte"256 macht auch vor sich selbst nicht halt: dort nämlich, wo sein dichterisches Bedürfnis nach lebendiger Vielschichtigkeit im Ausdruck mit dem des Philosophen nach Exaktheit aufeinanderprallt. „Du mußt immer zwei- drei- vier- und fünfdeutig sein!" beschimpft Zarathustra257, der Denker und Erzieher258, einen höheren Menschen —, den „Zauberer", hinter dem sich (wie aus mehreren Nachlaßnotizen hervorgeht, 14/333 f.), schlichtweg der „Dichter" verbirgt. Der hier literarisch dargestellte Konflikt im „Dichter-Philosophen" Nietzsche, wie er sich einmal bezeichnet (12/240), kann somit nicht dadurch gelöst werden, daß man ihn auf seine „dichterische" Seite reduziert —, schließlich wird der von ihm so deutlich gesehenen Gefahr auf der anderen Seite, der „philosophischen", prophylaktisch entgegengearbeitet: indem die scheinbar bis ins Beliebige dehnbare Begrifflichkeit sehr wohl und sehr exakt fixiert wird —, allerdings mehrfach. Mittels solch Überbesetzung des einzelnen Terminus ist schließlich beiden Seiten seiner Person259 Rechnung getragen, und P. Gast kann zu Recht behaupten, daß , jedes Wort Nietzsches einen eignen, einen tieferen, durchgearbeiteteren Sinn [hat], als bei den bisherigen Philosophen"260. Diese seine R. Low weist auf Heraklit als den Ursprung jener Denkfigur hin. (Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 31) 253 11/445; vgl. 12/32, 13/237, 497; im speziellen s. 13/398 254 28. 3. 1884 an F. Overbeck, KGB 6/488 255 13. 2. 1879 an E. Schmeitzner, KGB 5/385 256 13/96; zur Zweideutigkeit vgl. 13/466, 582, 619, 625; April 1886 an C. Fuchs, KGB 7/176; 20. 11. 1888 an G. Brandes, KGB 8/482 257 4/318; vgl. dessen Begegnung mit dem „letzten Papst", in der er die Vieldeutigkeit des christlichen Gottes als Undeutlichkeit anprangert (4/324) 258 der selbst ja als „Eindeutiger" gepriesen wird (4/319)! 259 H. v. Stein faßt diese Doppelnatur in die Worte: „Er ist ein Künstler, aber ohne künstlerischproduktive, dagegen mit intellektuell produktiver Virtuosität" (28. 11. 1881 an P. Rèe, in: Friedrich Nietzsche, Paul Rèe und Lou von Salomé, Dokumente ihrer Begegnung, S. 87). Die intellektuelle Virtuosität eines Künstlers aber rekurriert stets auf einen philosophischen Wesenszug. 260 Vorbemerkung zu „Also sprach Zarathustra", S. 2; H. Landrys Auffassung, selbst seinen „Leitbegriffen" sei trotz „ihrer rhetorischen Überredungskraft eine merkwürdige begriffliche Schwäche eigen" (in: Kindlers Literatur Lexikon, S. 946), mutet daher selbst ein wenig merkwürdig, wenn nicht schwach an. 252
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Worte aber zu „Gänsefuß-Begriffen" 261 zu verflüchtigen und „cum grano salis" zu lesen wie Th. Mann 262 oder, wie G. Colli, als „Symbole für etwas, das kein Antlitz hat"263, kann als Möglichkeit der (allzu schnellen) Auseinandersetzung mit seinen Texten nun nicht mehr gewählt werden.
b) Dialektische Fassung der Begriffe Die Grundlage aller, nur bei langsamem Lesen — und zwar als gleichzeitig mehr- wie eindeutig — wahrzunehmenden Umbegreifungen besteht, so paradox es zunächst auch klingen mag, in der Zersetzung jeglicher Grundlage: in der nahezu prinzipiellen Auflösung traditioneller Begriffsgegensätze mittels Reduktion scheinbar antithetischer Qualitäten zu bloßen Gradationen ein und derselben Qualität 264 : Die „falschen Gegensätze" nämlich, so Nietzsches lebenslange Überzeugung, „sind immer gefahrliche Fußfesseln für den Gang der Wahrheit gewesen" (13/358), und insofern empfindet er es als „Fortschritt", „überhaupt keine Gegensätze mehr [zu] brauchen" (13/447). Seine „Reduktionslogik" (R. Low 265 ), die dichotome Begriffsstruktur der Sprache zurückführend auf eine zirkuläre 266 , „enttarnt" dergestalt „Wahrheit als eine Form des Irrtums" 267 , Moral als „Spezialfall der Unmoralität" 268 , Ruhe als Bewegung (12/384), Lust als Schmerz 269 etc. 270 : Am Ende erscheint ihr „jedes
261 Nietzsche bezeichnet in einer Vorstufe zum „Ecce homo" den Ausdruck „Freund" selbst als einen solchen. (14/481) 262 Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, S. 46 f. 263 Freilich bezieht sich Colli ausschließlich auf den „Zarathustra" (4/412). 264 passim seit „Menschliches, Allzumenschliches", z. B. 5/41 265 Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 99; zur Auflösung der Gegensätze s. auch S. 83 ff. — Reduktion ist jedoch nur die eine Hälfte des Verfahrens, die andere besteht in perspektivisch vervielfältigender Auflösung (12/15) und Komplizierung von Begriffen wie „Wollen" (5/32), „Einheit" (12/205), „ich" (12/32, 13/593), „Frieden der Seele" (6/84), „Nihilismus" (13/47 ff.), „Unglaube" (13/51), „Pessimismus" (13/89 f.) usw. 266 „Es giebt keine Gegensätze: nur von denen der Logik her haben wir den Begriff des Gegensatzes" (12/384, vgl. S. 406): Nietzsche als „Freund der Zwischenfarben" (12/144)! 267 5/53; bzw. als „eine Falschheit mehr" (13/488); vgl. dazu I. Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht, S. 181 268 13/321, vgl. S. 291, 12/415, 490; bzw. als „eine ehrwürdige Form der Dummheit" (13/ 491, vgl. S. 545) oder als „bösartigste Form des Willens zur Lüge" (13/603). Indem der Auflösungsprozeß hier über den Bereich des „eigentlichen" Gegensatzpaares hinausgreift, weist er auf dessen Endstufe voraus: Alles ist Wille zur Macht. (12/303) 269 12/96, 13/358; im Sinne des in Anm. 265 Gesagten vgl. aber auch 12/30 270 die Gattung als bloße Mehrheit von Individuen (12/417, 533), Keuschheit als „Präexistenzform" der Sinnlichkeit (12/506), Altruismus als Egoismus (12/489, 13/546, 593, 596f.) ... H. Pfotenhauer führt einige weitere Polaritäten an, die von Nietzsche eingeebnet werden: Vernunft/Vernunftloses, Empfindendes/Totes, interesseloses Anschauen/begehrliches Wollen ... (Die Kunst als Physiologie, S. 64).
Umbegreifung der Begriffe
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Wort [bloß als] [...] ein Vorurtheil"271; der Abrechnung mit überkommenen Werten geht diejenige mit überkommenen Worten voraus, die „Wort-Demontage", wie selbst A. v. Schirnding erkennt272. Absolut zentral für ein Verständnis der Technik nivellierenden Hinterfragens ist es jedoch, sie nicht bereits als Hauptanliegen anzusehen, andernfalls man den „Worte-macher", wie er sich in einem Gedichtfragment einmal bezeichnet (13/575), zum bloßen Worte-Zerstörer und die damit gekoppelte Umwertungs- zur Entwertungstendenz verkürzen würde. Nietzsche versteht sich vielmehr, wie vorhin angesprochen, als „Ja-sagender Geist", als „Schaffender", dessen „Kriegs-[...]Erklärung an alle alten Begriffe" (6/279) nur deshalb zur Destruktion traditioneller Denkfundamente führt, weil es ihm neue zu errichten gilt. Sein solcherart nicht anders als dialektisch zu bezeichnendes Verhältnis zur Dialektik kommt also gerade in der Auflösung alter bei anschließender Bildung neuer Begriffspaare zum Ausdruck: Und da er jede Vokabel „streng [...] biologisch [...] nehmen" möchte (13/302), schafft er sich als tragende Stütze neu zu errichtender Dichotomien die Polarität Schwach vs. Stark273. In dieser Hinsicht wendet er ganz einfach seine Sprachtheorie an, wie sie schon 1873 voll entwickelt ist: Wenn die gesamte Terminologie selbst lediglich auf Konvention, nicht auf Wahrheit beruht —, also nicht von der Außenwelt zwingend induziert, sondern von einer kreativen Menschheit gesetzt ist, dann wird es für den einzelnen zu nicht mehr als einer „Lüge im aussermoralischen Sinne", den Sprachschöpfungsprozeß nach eigenem Gutdünken zu korrigieren: In beiden Fällen sind „unsere Begriffe [...] von unserer Bedürftigkeit inspiriert" (12/97) bzw., anders herum ausgedrückt, sind Äußerungen der Willenskraft (11 /449), des Willens zur Macht274. Und ein „Hauptgesichtspunkt" besteht für Nietzsches individuelles Sprach-/ Machtbewußtsein eben darin, daß die Struktur der Gegensätze, bislang zum Ausdruck gebracht durch %wei antithetische Begriffe, in das Wort selbst hineingenommen wird 275 und ihm dadurch jene „Zwielicht-Farbe" (5/234) verleiht, die G. Colli mit folgendem fiktiven Ausruf Nietzsches erklärt: „Nehmt mich nicht so wörtlich, es kann sein, daß das, was ich denke, das Gegenteil von dem ist, was ich sage." (5/420) Schließlich sind sogar seine eingängigsten Formulierungen vom Leser nachträglich wieder zu differenzie271 272 273
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275
2/577, vgl. S. 579 Erkenntnis als Ereignis „Stark" im Sinne von „lebensbejahend" (13/595) und „wohlgeraten" (13/608); interne Wortpolarisierung, folgt man H. Widhammer, liegt scheinbar in der Zeit, die z. B. zwischen „falschen" und „echten" Formen von Idealismus, Realismus, Klassizismus unterscheidet. (Realismus und klassizistische Tradition, S. 102) Eine rein passive Sprachkritik wie die des Lord Chandos verwiese unter einer solchen Betrachtungsweise auf den „Willen zur Ohnmacht". als interne „Distanz", nicht als eigentlicher Gegensatz (12/494)
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„Widersprüche" bei Nietzsches Beurteilung deutscher Literatur
ren durch die immer implizit mitzudenkende Grundfrage: Handelt es sich, beispielsweise beim Wort „Pessimismus" um bloßen „Entrüstungspessimismus" der „Schlechtweggekommenen" 276 oder um dessen Gegensatz, „prachtvolle Neinsagerei" 277 „der Stärke" (1/12)? Beinhaltet das Wort „Lust" eine solche aus überschüssiger oder aus mangelnder Macht 278 ? Ist ein „guter Mensch" zu verstehen als „herrschender Typus" oder als „Gebilde der décadence" (13/393)? Usw.; selbst die Idee der Ewigen Wiederkehr kann sowohl in pantheistisch-bejahender als auch in verneinender Version gedacht werden, wie es eine Aphorismenkette zum „europäischen Nihilismus" vorführt. 279 Somit sind fast sämtliche Zentralbegriffe Nietzsches nicht nur stillschweigend umbegriffen, sondern zusätzlich in sich polarisiert —, und zwar ebenfalls meist stillschweigend ... Doch damit nicht genug; das „Problem der Stärke und der Schwäche" 280 , des Dionysischen und des Dekadenten 281 , das sich hier auf sprachlicher Ebene abspiegelt, potenziert sich insofern, als ein zur Diskussion stehender Terminus bisweilen unter teleologischer, bisweilen unter nicht-teleologischer Perspektive betrachtet wird: Demnach unterscheidet die „Götzen-Dämmerung" einen Egoismus des aufsteigenden von einem des absteigenden Lebens 282 . „Stete Phänomen-Beurteilung unter praktisch-teleologischem Interesse" (R. Low 283 ) steht im Hintergrund sogar des scheinbar so einseitig gefaßten Dekadenz-Begriffs, wie D. Borchmeyer zeigt 284 , oder der Sammelbezeichnung „Nihilismus" (G. Colli 285 ), die deswegen eben gerade nicht immer Pessimismus und décadence beinhaltet, wie M. Montinari glauben machen möchte (14/394). Und jene Differenzierung gilt es schließlich selbst bei Nietzsches „Reizwort" „Christentum" zu beachten: Wird letzteres an sich 276 277
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13/423; vgl. S. 30, 114 22. 3. 1884 an H. Köselitz, K G B 6/487; vgl. 13/90; verwandt damit natürlich die „zweideutige" Auffassung von „Nihilismus" (12/350 f., 367) 13/361; dementsprechend gibt es „%wet Ausgangspunkte des Rausches". (13/253) 12/211—217; Hofmannsthal greift Nietzsches Denkschema auf, wenn er im „Buch der Freunde" unterscheidet: „Es gibt ein Enthusiastisches aus Schwäche und eines aus Stärke", (in: Gesammelte Werke, Bd. 2168, S. 269) 12/397; vgl. November 1883 an E. Nietzsche, K G B 6/451 10. 12. 1888 an F. Avenarius, K G B 8/517 6/131; vgl. auch 4/98 mit 4/238: „Kranker" Egoismus im Gegensatz zur „seligen [...],gesunden Selbstsucht"; zum „Kinder-" und „Katzen-Egoismus" einige bemerkenswerte Briefaußerungen der Jahre 1882/83 — stets im Zusammenhang mit L. v. Salomé! (Dezember 1882 an L. v. Salomé, Entwürfe, K G B 6/296 und 298; 1. 1. 1883 an M. v. Meysenbug, K G B 6/315; November 1883 an E. Nietzsche, K G B 6/452); s. schließlich 13/481, das dem „Typus des aufsteigenden Lebens" den „des Verfalls, [...] der Schwäche" entgegen-, also Dekadenz und Schwäche gleichsetzt. Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 57 Nietzsches Wagner-Kritik, S. 214 13/662
U m b e g r e i f u n g der B e g r i f f e
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untersucht, was stets auf eine Verurteilung hinausläuft, oder etwa seine Bedeutung für die Menschheitsentwicklung insgesamt —, eine in seinen Augen durchaus positive nämlich, immerhin habe es die „prachtvolle Spannung" des (geistigen) Bogens geschaffen, mit dem „nunmehr nach den fernsten Zielen" geschossen werden kann (5/12 f.)? — Das Begreifen eines hierbei im Mittelpunkt stehenden Begriffs wie „Tugend" spielt sich folglich in zwei Phasen ab: 1. Handelt es sich um „moralinfreie Tugend" „im Renaissance-Stil" (13/21), also um Stärke —, oder um christliche Tugend, die ausnahmslos als décadence-Symptom interpretiert wird? 2. Handelt es sich, z. B. bei letzterer, nur um die Sache selbst, d. h. um ein grundsätzlich verlogenes Ideal des „höheren Menschen" —, oder um die notwendige Vorstufe einer sich anschließenden Steigerung: nämlich um die Verfeinerung des menschlichen Intellekts als Vorbedingung des „höheren Typus"? 286 Ähnlich kompliziert verhält es sich mit dem, auch für literarische Umwertungen relevanten Begriff der Krankheit; erst dessen fallweise teleologisches bzw. nicht-teleologisches Verständnis erklärt die Diskrepanzen zwischen den ungeheuren rassehygienischen Forderungen der „Götzen-Dämmerung" (6/ 134; s. Kap. V. 1) einerseits und der ebenso ungeheuren Aufwertung der Krankheit zur „lustigeren Gesundheit". Stärke und Schwäche, in Nietzsches Terminologie Willen zur Macht bzw. décadence, sind damit die Kriterien, die nicht bloß ein und dasselbe Phänomen bisweilen positiv, bisweilen negativ bewerten, sondern bereits dessen entsprechende Bezeichnung dialektisch begreifen lassen —, aber eben nicht willkürlich, sondern immer unter der Perspektive der Höherentwicklung gesehen. Ein Indiz für solch vielschichtigen Umbegreifungsprozeß eines Wortes kann übrigens bisweilen dessen Beiwort liefern: „Großer Verbrecher" (13/109), „große Gesundheit" 287 , „großer Stil" 288 , „große Leidenschaft" (12/472), „große Vernunft" (4/39) etc., das alles sind für den weiteren Verlauf der Arbeit wichtige Neufügungen, die den Sinn des Substantivs bis in sein 286
Ä h n l i c h v e r h ä l t es sich mit der „ m o r a l i n f r e i e n " Tugend: A l s statische tendiert sie trot\ ihrer grundsätzlichen Stärke ins N e g a t i v e , w e i l rein Barbarische, erst als Mittel der H ö h e r e n t w i c k l u n g g e w i n n t sie ihre d u r c h g ä n g i g p o s i t i v e Fassung. — I m ü b r i g e n sind die z w e i Phasen, einen B e g r i f f zu begreifen, n u r in der T h e o r i e zu t r e n n e n , v e r g l e i c h b a r denjenigen v o n U m b e g r e i f e n u n d U m w e r t e n : In der Praxis w i r d ein P h ä n o m e n ja meist gerade dann v o n Nietzsche als „stark" b e g r i f f e n , wenn es teleologisch v e r f a ß t ist.
287
z. B. 3 / 6 3 5 f f . , 5/336; s. K a p . V . l . ein zentraler Terminus nicht n u r f ü r die Ä s t h e t i k des späten Nietzsche, z. B. als „ g r o ß e r Stil im Handeln", 12/457
288
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Gegenteil verkehren können — wie im Falle der Vernunft289 —, jedoch nicht zwangsläufig müssen. — Abgesehen von einigen nicht gerade unwesentlichen Vorläufern, taucht das Adjektiv erst in den Spätschriften auf, um sich kurz vor dem geistigen Zusammenbruch in einer wahren Flut von „Größen-Wahn" zu ergießen.290 Die Skala reicht von „großer Müdigkeit"291 und „großem Stil" der Kopfschmerzen292, also einem Wortgebrauch, der über den privaten Anlaß nicht hinausreicht, bis hin zu völligen Neuprägungen wie dem „großen Mittag"293; dazwischen lassen sich etwa vier weitere Abstufungen herauskristallisieren: 1. Pathetische Überhöhung des Substantivs durch sein Adjektiv, wie sie an die Umgangssprache erinnert: „großer Mensch"294 bzw. „Mann"295, „große Furcht" (13/575), „großer Versuch" (13/588) etc. 2. Loslösung des Substantivs aus dem begrenzten semantischen Rahmen durch sein Adjektiv, meist im Sinne einer (zeitlichen) Ausdehnung: zur „großen Aufgabe"296 resp. „Bestimmung" (13/633), deren „großes Wollen" (13/254) von „großer Verantwortung" (13/159) geprägt ist —, und deren „große Logik" (13/407) letztendlich zum „großen Glück" (13/607) führen soll. 3. Adjektivische Ergänzung des (im Prinzip noch immer traditionell verstandenen) Substantivs mit neuen Akzenten: Eine „große Organisation"297, „große Zeiten"298, oder gar die berühmt-berüchtigte „große Politik" sind freilich vom Leser ohne Vorwissen schon nicht mehr zu dechiffrieren. Meiner Kenntnis nach taucht letztgenannte Wendung in einem Brief an 289
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erwartungsgemäß nicht ohne Ausnahme: Die „große Vernunft im Fatalismus" (13/618) geht natürlich nicht durch den Magen oder sonstige Organe, ebensowenig wie diejenige „in aller Erziehung zur Moral" (13/288). Im übrigen kennt Nietzsche auch eine „große Vernunft des Lebens" (13/600), die geradezu^«» die „große Vernunft" des Leibes auszuüben ist ... „Superlativische" Wortwahl als Indiz des nahenden Wahnsinns? 6. 3. 1883 an F. Overbeck, KGB 6/338 10. 10. 1879 an E. Nietzsche, KGB 5/454 der bereits mit dem „Zarathustra" anbricht (4/102), s. auch 13/214, 256 und das Fragment 13/536, das damit in Zusammenhang „die große Selbstüberwindung der Moral" rückt. Zweifelsohne ist mit der „großen Wahl" (13/257) bzw. der „großen Stunde" (13/569) gleichfalls jener „Augenblick des kürzesten Schattens" (6/81) gemeint; und auch die „große Hoffnung" (13/569) ist eben diejenige, die im „Zarathustra" angesprochen wird. 12/469, 13/73 — abgesehen natürlich davon, daß sich Nietzsche einen „großen Menschen" ganz anders vorstellt als seine Zeitgenossen. Dies ist allerdings auf der Ebene der Begriffe nicht weiter zu berücksichtigen. 13/606; auch hier gilt das unter Anmn. 294 Gesagte: Nietzsche dreht die Tendenz des Begriffes in sein Gegenteil um —, ohne aber deswegen den Begriff umzubegreifen! 13/66, 597, 644; gemeint ist die Lebensaufgabe des einzelnen bzw. diejenige mehrerer, ja aller Generationen: (Selbst-)Erziehung zum „höheren Typus" die auf den Bau zukunftsträchtiger Gesellschaftsformen zielt (13/409) im Sinne von: Zeiten „der starken Affekte" (13/369 f.)
Umbegreifung der Begriffe
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F. Overbeck zum ersten Mal auf und beinhaltet dort nicht mehr als einen (weltpolitischen) „Vogelschau-Blick"299. Ab „Ecce homo" umfaßt sie auch das kriegerische Element (allerdings zunächst keines zwischen Staaten — 13/637 —, sondern zwischen Gesellschaftsschichten; 6/366), das in den späten Briefen zunehmend konkreter, aggressiver gefaßt wird im Hinblick auf eine „Erdregierung" 300 . In den gleichzeitigen Notizen zum „Willen zur Macht" erhält das Idiom schließlich rassehygienische Färbung (13/ 637 f.) ... All den Bedeutungsschattierungen gemeinsam ist ihre polemische Spitze gegen das zeitgenössische Schlagwort von der „großen Politik" 301 , das nur insofern mit demjenigen Nietzsches übereinstimmt, als es sich in sämtlichen Fällen302 um Machtpolitik handelt. 4. Adjektivische Beifügung von Sinninhalten, die dem konventionellen Verständnis des Substantivs „eigentlich" entgegenstehen: Neben den bereits angeführten Neufügungen, die für spätere Kapitel zentrale Bedeutung haben, finden sich darunter zumeist solche, die auf den Affekt-Bereich zielen —, auf „große Affekte" (13/262), versteht sich: Namentlich genannt werden „große Heiterkeit"303 und „Entzückung" 304 , „das große Mitleiden neben der großen Verachtung"305. Derartige und ähnliche Gefühlsmischungen, die stets auf eine Synthese von Leid und Lust hinauslaufen, können ihre romantischen Ursprünge kaum verleugnen. In jedem Fall beinhaltet das Adjektiv „groß" eine — wie auch immer geartete — Aufwertung des Substantivs, während die Beifügung „klein" natürlich die entsprechende Abwertung impliziert306. Ansonsten läßt sich keine generelle Aussage über das Attribut „groß" treffen; sieht man einmal ab vom fallweise metaphorischen307, fallweise auch ironischen308 Gebrauch 259 300
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21. 4. 1884, KGB 6/497 Dezember 1888 an G. Brandes, Entwurf, KGB 8/500, 502; vgl. dazu die sogenannten „Wahnsinnszettel", z. B. KGB 8/551, 556, 569 13/540 und 640 Auf Seiten Nietzsches ist das „Schlagwort" ja mehrfach besetzt; jener um- und umbegriffene Begriff spiegelt allein schon recht deutlich die Problematik eines Sprachgebrauchs, der sich unter der gleichen Worthülse verschiedenster Inhalte bedient. die zu Tränen rührt! (22. 12. 1886 an H. Köselitz, KGB 7/292) 13/521: deren eine Form das Leiden ist! Vgl. Nietzsches „Begriff von der großen Ökonomie, die des Übels nicht zu entrathen weiß —." (13/372) 5/223: Nicht zufällig sind gerade jene beiden (gegenläufigen) Gefühle hier in einem Atemzug genannt. Selbstverständlich hat das daraus resultierende „Mischgefühl" nichts mehr zu tun mit einem herkömmlichen „Mitgefühl" —, eher schon mit dem „großen Ekel" (13/75) oder der „großen Toleranz" (13/542). „Der kleine Sinn" ist geradezu „Mangel an Sinn" (13/213); s. auch „das kleine Verhängniß" (13/350), das „kleine Glück" (13/607) Ideale als „große Narcotica" bzw., je nach Perspektive, „große Falschmünzerei" (13/606) „die große Nullität" (13/264); vgl. den „großen Durchschnittlichen" (13/209), der als Begriff eigentlich schon eine contradictio in adjecto verkörpert —, und das wohl auch soll: Denn gemeint ist der Priester.
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„Widersprüche" bei Nietzsches Beurteilung deutscher Literatur
des Wortes, so zeigen sich immerhin sechs begriffliche Seiten desselben —, ein Tatbestand, der die These vom dialektischen Verständnis der Begriffe zu sprengen scheint.
c) Die perspektivische Fassung der Begriffe Dabei wäre die doppelt dialektische Verwendung eines unter Umständen zuvor umbegriffenen, und meist nicht einmal explizit umbegriffenen Begriffs wahrlich „Maske" genug, um jedweden Inhalt zu verbergen — allein: Nietzsches spezifische Handhabung der Dialektik besteht in deren perspektivischer Ausweitung, wie vorhin zu zeigen versucht, und mitunter vervielfältigt sich sein prinzipiell antithetischer Denkansatz schon auf rein begrifflicher Ebene ins Perspektivische. Damit soll jedoch nicht das Vorangegangene als nunmehr falsifiziertes Zwischenergebnis abgetan werden, vielmehr findet sich in seinem Werk sowohl streng dialektischer wie auch vielfaltig perspektivischer Wortgebrauch —, beide Möglichkeiten stehen dabei nicht im Verhältnis der Konkurrenz zueinander, sondern eher in demjenigen der Komplementarität. Wie bereits angesprochen, ist ja selbst ein facettenreiches Begreifen von Begriffen nichts anderes als die praktische Handhabung dessen, was in der Frühschrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" theoretisch erörtert wird —, nur findet man dort anstelle des Terminus „Perspektivismus", der zu diesem Zeitpuntk in Nietzsches Vokabular noch fehlt, die nicht minder aussagekräftige Metapher vom „Würfelspiel der Begriffe": Innerhalb dieses Würfelspiels der B e g r i f f e heißt [...] „Wahrheit" — jeden W ü r f e l so zu gebrauchen, w i e er bezeichnet ist; genau seine A u g e n zu zählen, richtige R u b r i k e n zu bilden und nie gegen [...] die Reihenfolge der Rangklassen zu Verstössen. (1/882)
Wahrheit, solcherart reduziert zur bloßen Konvention, wird damit ihres verpflichtenden Charakters enthoben; ein Kommunikator könnte mit demselben Recht sich des Mediums erstarrter Metaphern bedienen — eben der traditionellen Begriffe —, wie er sie „mit schöpferischem Behagen" (1/888) durcheinander werfen dürfte, „erlogen" seien sie allemal309. Nietzsche läßt es nun mit der Bezeugung, „der Begriff, knöchern und 8eckig wie ein Würfel [...] [, sei] versetzbar wie jener" (1/882), nicht auf sich beruhen, sondern die Würfel auch de facto kräftig rollen —, ohne allerdings 309
Natürlich „nur" im außermoralischen Sinne: denn der sprachschöpferische Akt vor Urzeiten, sei er auch inzwischen kanonisiert zur „Wahrheit", unterscheidet sich ja durch nichts als seine Historizität von dem des individuell-kreativen Sprechens. — Zu Nietzsches Sprachtheorie sehr ausführlich R. Low, Nietzsche, Sophist und Erzieher, 2. und 3. Kap.
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die Augen jeden Wurfs zu zählen, die Rubriken zu nennen, unter die er zu rechnen sei etc. Dabei würde man sich an den acht Ecken eines derartigen Würfels noch am allerwenigsten stoßen —, aber die sechs Seitenflächen! Die sind's, die dem Interpreten mächtig zu schaffen machen —, z.B. jene des für vorliegende Arbeit zentralen Würfelwortes „Klassik": Das läßt sich, zumal mit den Augen eines Germanisten, zunächst einmal lesen als „deutsche Klassik" —, und in der Tat, es gibt Fälle, in denen es so gelesen werden muß, allerdings sehr seltene. Weit häufiger sind da solche, wo mit dem Wort „Klassik" die griechische Antike angesprochen wird, die ja besonders in Nietzsches Frühwerk Ausgangsmaterial für zahlreiche Überlegungen liefert 310 . Nicht unerheblich ist die Verschiebung der Blickpunktes durch den Bruch mit Wagner von Athen nach Rom; an zahlreichen Stellen — natürlich nicht an allen — ist fortan von der römischen Antike die Rede 311 : falls der Ausdruck „Klassik" überhaupt im Sinne von „Antike" verwandt wird. Die vierte Bedeutung nämlich ist diejenige einer ahistorisch-wertenden Klassifizierung, gewissermaßen ein Gütesiegel, das im Aphorismus „Giebt es .deutsche Classiker'"? (2/606) einem Klopstock oder Lessing zu verleihen genauso erwogen wird wie Schiller oder Goethe. Nietzsche verwendet diesen Begriff von Klassik ganz im traditionellen Sinne, der Vollendetes jeder Stilrichtung oder Epoche umfaßt 312 ; dabei setzt er freilich seine frühere Umwertung vorübergehend außer Kraft, in der er Klassiker noch keineswegs als „Vollender" begreift 313 , sondern ganz im Gegenteil, als „ .Suchende' nach der ächten ursprünglichen deutschen Kultur" 314 . Das ergibt bereits fünf Flächen des Begriffs, drei historisch-begrenzte und zwei ahistorisch-wertende; nichtsdestoweniger zeigt erst die sechste Seite des Wortwürfels die entscheidende: Auf ihr ist Nietzsches typologische Fassung von „Klassik" verzeichnet, die — völlig abstrahiert von kulturellen Konnotationen und verwendet „zur psychologischen Abgrenzung" der gesunden, vornehmen und in jeder Beziehung wünschbaren Art von Leben überhaupt — immer im Gegensatz gedacht wird 310
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Der zeitgleich von den realistischen Autoren verwandte Begriff des „Classischen" weist ja entsprechend, so H. Widhammer, in die griechische Antike zurück. (Realismus und klassizistische Tradition, S. 89) Auch das z. T. eine A r t Rache an Wagner. Dieser war bekanntlich kein Freund des römischen Altertums. vgl. H. Cysarz, Klassik, S. 852 wie in 2/608; dies ganz im Sinne zeitgenössischer Literaturgeschichtsschreibung: S. z. B. A . F. C. Vilmar, der Goethes „heiter siegende" bzw. „in seliger Ruhe befriedigte Energie" rühmt (Litteraturgeschichte, S. 396), mit der er jedes Werk praktisch von selbst hervorbringe (ebd., S. 418). 1/167; unter einem solchen Gesichtspunkt überraschend wirkt eine Passage in A. F. C. Vilmars „Litteraturgeschichte" über Lessing, die ihn als „Suchenden und Nichtfindenden" charakterisiert — und damit als Prototyp der Moderne (S. 362): Die Analyse bei Nietzsche ist dieselbe, die Wertung konträr...
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Widersprüche" bei Nietzsches Beurteilung deutscher Literatur
zu einem ebenso ahistorisch-typologischen Verständnis von „Romantik" (13/ 229). — Festzuhalten bleibt, daß alle sechs Bedeutungen 315 des Wortes nebeneinander benutzt werden und zwar ohne hinweisende Attribute, in den Notizen oft auch ohne jegliches Textumfeld.
4.
Experimentalphilologie
Mit dem Hinweis auf F. Kaulbachs große Monographie, die Nietzsches Denken als „Experimentalphilosophie" würdigt, wird deren sprachliche Ebene verlassen samt all ihren Schwierigkeiten. Auf der inhaltlichen indessen sind der Probleme nicht weniger, sogar dann, wenn es „nur" die dort inkrustierten literarischen Wertungen herauszuarbeiten gilt. Kann man doch nachgerade von einer „Experimentalphilologie" sprechen, gewissermaßen als „konsequenter" 316 Anwendung der experimentalphilosophischen Methode 317 , so vielfaltig sind ihre Denkansätze, so kontrovers deren Durchführung und Auswertung. Aber nicht erst die Untersuchungen von F. Kaulbach, W. Kaufmann oder G. Colli (13/664) verwenden den Begriff der „Experimentalphilosophie", um Nietzsches empirisches Einkreisen gedanklicher Probleme zu charakterisieren; er selbst bereits prägt jenen Neologismus 318 in Bezug auf sein Denken (13/492). Fast spürt man ein wenig Stolz mitschwingen, wenn er sich im doppelten Wortsinn als „Versucher" tituliert (12/37) und diesen seinen „Trieb zum Versuchen" (12/282) als „Beweis der Kraft" 319 , des Temperaments und der Abenteuerlust 320 deklariert. Was steht hinter einer solchen, zur Entwicklung der zeitgenössischen Naturwissenschaft parallel sich entwickelnden Hochschätzung des Experiments auch in den Geisteswissenschaften? Zunächst einmal, auf der Ebene des Denkens selbst, nicht etwa bloße Lust am (planlosen) Herumexperimentieren; die Versuchsanordnung jeden, auch des „reinen" Gedankenexperimentes 315 316
317 318 3,5 320
E. Kunne-Ibsch nennt in ihrer Untersuchung über „Die Stellung Nietzsches in der modernen Literaturwissenschaft" nur deren vier. (S. 225) „Konsequent" erscheint sie natürlich nur in den Augen des Interpreten, der mit dieser in germanistischen Arbeiten so beliebten Wendung dem untersuchten Textkorpus bereits eine (bewußte) Folgerichtigkeit, ja Harmonie aufoktroyiert, die in derart oberflächlicher Weise sicherlich niemals vom Verfasser intendiert ist. — Das besagt natürlich am allerwenigsten etwas gegen eine (in sich differenzierte) Einheitlichkeit, wie sie in vorliegender Untersuchung dem Denken Nietzsches unterstellt wird. W. Kaufmann spricht von „Experimentalismus" als „Nietzsches Methode". (Nietzsche, S. 106) wohl nicht ohne polemischen Impetus gegen die zeitgenössisch noch herrschende Systemphilosophie 13/618; vgl. 6/243 13/462; s. auch 17. 12. 1888 an J. Bourdeau (Entwurf), KGB 8/534
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ist ja konzipiert von einem dahinter, nämlich davor stehenden (Wunsch-) Ergebnis: Experimente sind immer bereits Mittel zum Zweck. Freilich, mit Überraschungen muß stets gerechnet werden —, und Nietzsche gesteht seinen perspektivischen „Tentativen" auch das Recht auf „Fehlgriffe" zu (13/343). Beharrlich allerdings betont er deren Ziel, „die Ernte" „langer Perioden des Experimentierens" (13/390), den „Vernunft-Ertrag" (6/245) in Form von „Selbst-Werthsetzung" (2/17): Das „Noch-Fort-Experimentiren, die Fortdauer des flüssigen Zustands der Werthe" währt nicht „in infinitum" (6/ 241), sondern lediglich innerhalb eines „Interregnums" (3/274) dauerhafter Perspektiven. Da letztere ab einem gewissen Zeitpunkt nicht nur fest, sondern „felsenfest" zu werden drohen — und damit tendenziell schwachsinnig (13/ 345), bedarf es immer wieder des „Muths zum Angriff auf seine Überzeugungen" (13/344): Das Experimentieren mit Philosophemen ebenso wie mit literarischen Werten verbürgt eine ständige Weiterentwicklung — und damit Leben im weitesten Sinne. Insofern sind Nietzsches Gedankenversuche geradezu das Gegenteil von intellektueller Willkür, Widerspruchsfreude und Chaotik, hängen vielmehr „organisch miteinander zusammen" (W. Kaufmann321): Ihre Struktur ist nicht allein vorgegeben durch das dahinterstehende (theoretische) Prinzip, sondern durch die schmerzliche Erfahrung täglicher Lebenspraxis —, eine Struktur, die nicht treffender charakterisiert werden könnte denn als „ExperimentalPhilosophie, wie ich sie lebe" (13/492). Jene für Nietzsche so bezeichnend innige Verflechtung von Theorie und Praxis, von Denken und Tun322, legt geradezu den Schluß nahe, sein krankheitsbedingtes „Herumexperimentieren mit Schinken"323, Wohnungen324, „Klima, Helligkeit des Himmels, Trockenheit der Luft" 325 etc. sei vielleicht notwendige Bedingung, ohne die Versuche auf „rein"326 intellektueller oder künstlerischer Ebene327 gar nicht zu denken wären. „Das Leben ist ein Experiment"328 —, so Nietzsches durchaus unfrei321 322
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Nietzsche, S. 106 Nicht unwahrscheinlich dürfte es sein, daß sie — wie so vieles — von Goethe angeregt wurde: „Denken und Tun, Tun und Denken, das ist die Summe aller Weisheit". (Wilhelm Meisters Wanderjahre, in: Gedenkausgabe, 9/285) 11. 9. 1887 an F. Nietzsche, K G B 8/148 Dezember 1885 an F. Overbeck, K G B 7/115 17. 9. 1887 an F. Overbeck, K G B 8/157 Aber das eben gäbe es ja in seinen Augen niemals: deshalb die Anführungszeichen. z. B. im Hinblick auf seine musikalische Überzeugung, die er ja nicht nur als Zuhörer, sondern auch als Ausführender vertritt: Dem „über alle Maaßen gefährlichen Experiment", Wagnerianer (gewesen) zu sein (14. 12. 1887 an C. Fuchs, K G B 8/210), entspricht die Vorliebe, selbst am Klavier zu phantasieren. Im übrigen wird der „Zarathustra" in der Forschung gern als „Experiment mit dem Dithyrambus" bezeichnet. — Zu Nietzsches angeblich „ständigem Experimentieren mit verschiedenen Stilen" s. W. Kaufmann, Nietzsche, S. 108 ff. 7. 2. 1886 an E. Förster, K G B 7/149
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willig gemachte Erkenntnis, in deren Folge er sich zumindest (d h.: im nachhinein) „auf das Kunststück [...] [verstehen muß,] sein ,Übel' zu rechtfertigen" 329 , seinem Leiden Sinn zu geben: „Wir selber wollen unsere Experimente und Versuchs-Thiere sein." (3/551) Mit einer derart radikalisierenden Wendung geht er bereits weit über den persönlichen ,Anlaß' hinaus, macht die Theorie wiederum zur Grundlage der Praxis: „Wir verstehen alles, wir leben Alles" 330 , „wir wären im Stande, ein Verbrechen zu begehen, nur um zu sehen, was es mit einem Gewissensbiß auf sich hat." 331 Doch die grelle Perspektive, den Menschen zum „Versuch" (4/100), die Menschheit insgesamt zur „ungeheuren Experimentir-Werkstätte" 332 zu funktionalisieren (sprich: zu reduzieren!) 333 , wirft noch längere Schatten: Schließlich ist sie ja keine solche aus (gesunder) Freiwilligkeit! Sondern eine der Krankheit 334 sowohl wie der Pflicht (5/153), auf gedanklicher Ebene als Last (ebd.), auf lebenspraktischer Ebene als Gefahr empfunden, vor der sich Nietzsche eingestandenermaßen fürchtet 335 . Steht als Movens dahinter doch stets das ewige „Unbefriedigt-sein" (13/607), das Leiden an der eigenen Person 336 , das sich selbst nur allzu klar als Zeichen des Verfalls zu deuten weiß (12/62)...
a) Der Versuch der Selbstüberwindung ..., gleichzeitig aber als Zeichen der Gesundheit, des ewigen Werdens und Hinaufentwickelns; da sich Nietzsche bekanntermaßen im selben Atemzug als décadent tituliert und als dessen Gegensatz (6/266), scheint solch dialektische Deutung dem Phänomen auch einzig adäquat. Die Dialektik findet sich entsprechend wieder, wo es darum geht, Experimentalphilosophie und -philologie umzusetzen in die Tat, sprich: in die konkrete Wertung. Dabei bleibt der Versuchsaufbau allerdings für alle Experimente der gleiche — bzw.: 329 330 331
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dazu — zwar in anderem Zusammenhang, doch f ü r sein Denken durchaus typisch — 5/304 Entsprechendes bei I. Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht, S. 28, 126 ff., 175 12/310; vgl. S. 480, 516; eine solch radikale Erwägung steht in gewissem — experimentellem! — Widerspruch zur Maxime, keine „Wahrheit um jeden Preis" anzustreben (3/352). 13/408, vgl. S. 641 „Wir sind Experimente" (3/274) —, wie leicht läßt sich die nüchterne Bestandsaufnahme durch ein gedachtes „nur" ergänzen: „Es ist alles nicht so wichtig!" (3/294) In der „Genealogie der Moral" gesteht sich Nietzsche eine solche Auffassung menschlichen Lebens als grausame Hybris ein. (5/357) 2/17, 12/335 18. 10. 1888 an F. Overbeck, K G B 8/454; deshalb verzichtet er auch auf manch Experiment. (22. 8. 1888 an F. Nietzsche, K G B 8/395) August 1881 an H. Köselitz, K G B 6/122: alle Werke Nietzsches als „Abbilder eines leidenden [...] Geschöpfes"!
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Alle Experimente laufen im Grunde auf ein einziges hinaus, das einer „langen langen Kette von Selbst-Überwindungen" 337 . Dieses seinem Wesen nach christliche Motiv (L. Klages 338 ), von Novalis als „Akt des sich selbst Überspringens" charakterisiert 339 , wird für Nietzsches (literarische) Umwertungen nach 1876 prägend, in der sich seine ursprünglich „zur Verehrung gestimmte [...] Geistigkeit" (Th. Mann 340 ) gewaltsam abwendet von den „Götzen" des Frühwerks. Aufgrund einer derart masochistischen Tendenz 341 , ausgerechnet und eigentlich immer dort „Nein zu sagen, wo er bejahen, lieben, anbeten möchte", entwickelt er sich schließlich — wie angeblich jeder „Erkennende" — zum „Verklärer der Grausamkeit" 342 : „Ah, ich bin fürchterlich von der Natur zum ,Selbstquäler' ausge —rüstet [sie]", schreibt er an F. Overbeck 343 , und das trifft nicht bloß auf seine physische, sondern ebenso stark auf seine geistige Konstitution zu. Während er jenen Tatbestand zum einen heftig beklagt, verherrlicht er den .Tyrannen in sich' 344 auf der anderen Seite geradezu: „Meine Selbst-Überwindung ist im Grunde meine stärkste Kraft: ich dachte neulich einmal über mein Leben nach und fand, daß ich gar nichts weiter gethan habe." 345 Bezeichnenderweise aber schickt er zehn Tage nach dieser brieflichen Bestandsaufnahme folgenden Spottvers an H. Köselitz: „Mit Wagner bliebe man gern Freund / War' er sich nicht selber sein größter Feind." 346 Das zeigt meines Erachtens deutlich, daß sogar die Abkehr von Wagner — und darin ist ja bekanntermaßen der Auslöser aller weiteren Angriffe auf bislang geliebte Philosophen bzw. Künstler zu sehen —, daß also selbst die Neu- und Wegorientierung von Wagner nach einem Muster abläuft, das vom „Meister" übernommen wird! Insbesondere die heftige Befehdung desselben ist als „Panegyrikus mit umgekehrtem Vorzeichen" 347
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in Briefen mehrfach so bezeichnet, z. B. in demjenigen vom 14. 8. 1883 an F. Overbeck (KGB 6/425), dem vom 26. 8. 1883 an dens. (KGB 6/437) Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches, 1926; dort spricht Klages mehrfach vom „Christen in Nietzsche" (Kap. 9 u. a.). in: Th. Mann, Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, S. 28 a. a. O., S. 6 von Th. Mann und L. Andreas-Salomé bereits betont, von W. Ross in einem Zeitungsartikel herausgearbeitet (Schreib mir doch recht bald und streng) 5/167; die „Lust an der Grausamkeit" wird entsprechend an Kleist gerühmt. (9/474) 22. 2. 1883, K G B 6/336 14. 8. 1883 an F. Overbeck, K G B 6/425 31. 12. 1882 an F. Overbeck, K G B 6/314 10. 1. 1883, K G B 6/317 Th. Mann, Leiden und Größe Richard Wagners, in: U. Dittmann: Thomans Mann. Tristan, S. 73; Nietzsches Aphorismus über „Musik als Fürsprecherin" scheint sich unter diesem Gesichtspunkt direkt an Wagner zu adressieren: „Aber ich glaube an deine Sache und halte sie für so stark, dass ich Alles, Alles sagen werde, was ich noch gegen sie auf dem Herzen habe." (3/464)
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mittlerweile berühmt, als „der größte Liebesdienst" an ihm (D. Borchmeyer348); und wenn man in Rechnung stellt, daß der mittlere und späte Nietzsche sich in schmerzliche Opposition zwingt zum „Wagnerianer", der er einst gewesen (6/11), dann muß man D. Borchmeyers Interpretation uneingeschränkt zustimmen, seine Wagner-Urteile hingen allein davon ab, wie weh er sich selbst damit tun wolle. 349 Nun ist das dabei zu beobachtende „plötzliche Umschlagen von grellem Hohn in emphatische Rührung oder von Huldigung in Schmähung" (D. Borchmeyer350) keineswegs auf die Thematisierung jener heimlichen Hauptfigur seines Lebens beschränkt; die gewaltsame Abkehr von ästhetischen Positionen des Frühwerks führt zu geistigen Selbstverstümmelungen (Benn351), zu einer regelrechten „Götzen-Dämmerung" auch in literarischer Hinsicht: Insbesondere die Figur Schillers, in Tribschen nicht bloß mit alljährlichen (Geburtstags-)Gedächtnisfeiern verehrt, wird in der Folge fortschreitender Entfremdung von Wagner gnadenlos „enttarnt" —, und daß sich hier wieder einmal Nietzsches Willen gegen sein ursprüngliches Gefühl durchsetzt, sollte bei der Thematisierung dieses Perspektivenwechsels stets berücksichtigt werden. Noch die im Spätwerk sich häufenden, ins Sexuelle zielenden Vorwürfe an Autoren wie Hölderlin frönen einer heimlichen Lust an „Selbst-Vergewaltigung" 352 : Bestand die „tödliche Beleidigung", die er an geliebten Autoren abreagierte und dadurch sich selbst gegenüber immer wieder aufs neue wiederholte, doch darin, daß Wagner an den Arzt des ehemaligen Verehrers und Freundes geschrieben hatte, dessen veränderte Denkweise in „Menschliches, Allzumenschliches" sei die Folge ausschweifender Onanie.353 Die z. T. „verzweifelte Grausamkeit, mit der Nietzsche über vieles, eigentlich alles ihm Ehrwürdige gesprochen hat" (Th. Mann354), seine z. T. ironische
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Nietzsches Wagner-Kritik, S. 223 mündliche Mitteilung, 26. 6. 1985 Nietzsches Wagner-Kritik, S. 2 1 1 Nietzsche — nach fünfzig Jahren, in: Gesammelte Werke, 1/489 So, im Anschluß an Selbstaussagen Nietzsches, die Ausführungen M. Montinaris zu dessen „Begegnung mit Lou von Salomé", S. 20; dort auch eine knappe und sehr erhellende Übersicht zu jener Denkhaltung unter sexuellen Gesichtspunkten (S. 19 f.) von Nietzsche nicht ganz unwesentlich verändert in: „die Folge unnatürlicher Ausschweifungen, mit Hindeutungen auf Päderastie" (21. 4. 1883 an H. Köselitz, K G B 6/365). Vgl. zu diesem Thema neuerdings E. Bisers Aufsatz „Glaube und Mythos", D. Borchmeyers Replik „Wodurch hat Wagner Nietzsche tödlich beleidigt" und wiederum E. Biser „Der .beleidigte' Nietzsche und der .bekehrte' Wagner". Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, S. 15; natürlich in unterschiedlichem Maße: Über Kleist z. B. findet sich auch in späteren Reflexionen manch Positives; nur rückt er als Inkarnation des Tragischen zunehmend in den Bereich des Pathologischen (8/513), während er zuvor gerade deshalb als „voller Dramatiker" (7/211) gepriesen wird. Genaueres s. Kap. V.2.a
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Abwertung jugendlicher Standpunkte vom „A und O" zum „Ah! und Oh!"355 darf indessen nicht nur als Sadomasochismus und Nietzsche demzufolge als „Tausendkünstler der Selbstüberwindung" abgetan werden, wie es L. Andreas-Salomé bzw. E. Rohde aus der Distanz versuchen.356 Denn schließlich ist es weder bloße Lust am Schmerz, noch bloße Kunstfertigkeit des Intellekts357, aufgrund derer ihr (Ex-)Freund plötzlich eine (Denk-)Haltung einnimmt, die ihn nicht allein seine früheren Worte, sondern sogar die je aktuellen bekämpfen läßt —, eine Denkhaltung mithin, aus der heraus er sowohl das einst favorisierte „Dionysische" zu „apollinisieren" versucht, wie sich besonders deutlich an seinen literarischen Wertungen ablesen läßt358, als auch vorübergehend sogar die geliebten Griechen überwinden will359, sich in Distanz setzt zum „Sohn" Zarathustra360 und zum Gedanken der Ewigen Wiederkehr361. Wie fast jede seiner Erkenntnisse, so geht jenes kriegerische Prinzip, unter dem sich Nietzsche „seit 1876 in mancherlei Betracht, des Leibes und der Seele, [als] ein Schlachtfeld mehr als ein Mensch" fühlt362, weit über den
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3/361; schon Cosima Wagners Tagebuch vermerkt an ihm „einen bedenklichen Zug, wie eine Sucht des Verrats, gleichsam um sich gegen einen großen Eindruck zu rächen". (13. 5. 1871) L. Andreas-Salomé, In der Schule bei Freud, S. 155 f., bzw. Nietzsche an P. Ree, Dezember 1882 (Entwurf), KGB 6/285; vgl. auch Dezember 1882 an M. v. Meysenbug (Entwurf), KGB 6/303 also „raffinierte Selbstverleugnung", wie es P. Sloterdijk unterstellt (Kritik der zynischen Vernunft, S. 195) Zwar verschwindet der Begriff des Apollinischen fast völlig im Spätwerk, aber einzig deshalb, weil dessen Attribute z. T. in den des Dionysischen einfließen: „Dionysische" Charakterisierungen Goethes (6/151 f.) bei gleichzeitiger Bevorzugung epischer Autoren, die man ebensowenig wie ihr Vorbild als dionysisch bezeichnen kann (Stifter, Keller), sprechen für sich. Darüber hinaus wird der Begriff des Apollinischen auch von der anderen Seite her aufgesogen: vom „Klassischen", (s. Kap. III.3.) 3/570; eigentlich läßt sich dies Bestreben ja zurückverfolgen bis zur „Geburt der Tragödie", bis zur Bekämpfung Piatons also, der ihm im Grunde „so nahe" steht (8/97), daß er fürchtet, neben ihm als Philosoph nicht bestehen zu können (Und R. Low fallt das befürchtete Verdikt denn auch am Schluß seines Nietzsche-Buches). Ein weiteres Motiv für Nietzsches „selbstverletzende Haßliebe" (H. Schwerte, Faust und das Faustische, S. 318) ist also — der Agon! (s. Kap. II.6.) August 1883 an H. Köselitz, KGB 6/443 den er sich bewußt als „grösstes Schwergewicht" an- bzw. auferlegt (3/570) — gegen seinen persönlichen Willen (Dezember 1885 an F. Overbeck, KGB 7/116): „Ich mache die große Probe: wer hält den Gedanken der ewigen Wiederkehr aus?" (11/85) Mit einer derartigen Fragestellung deklariert er diesen zentralen Gedanken seiner Philosophie ausdrücklich als „Versuch" —, was ihn gegenüber der Lehre vom Übermenschen, den Nietzsche als Ideal niemals bezweifelt, m. E. stark zurücktreten läßt. — Die Reflexion: „Vielleicht ist er nicht wahr: — mögen Andere mit ihm ringen" (10/521) ist jedoch eine „Beruhigung" Zarathmtras, nicht eine solche Nietzsches! 25. 7. 1882 an H. Köselitz, KGB 6/230; vgl. den Abschnitt über seine kriegerische Diktion (Kap. II.2.)
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biographischen Anlaß hinaus: enttäuschte Liebe363, die sich als Rache364 am Geliebten auslebt365, ihn von sich „fortbeleidigt" (3/289), um den verletzten Stolz wiederherzustellen. Bzw. neuen Stolz, der eine Feindschaft „aus ganzem Holz" der „geleimten Freundschaft" vorzieht366, ohne deshalb die ursprüngliche Liebe zu verleugnen367; doch während sich der Kompensationsprozeß normalerweise eben darin erschöpft, durchläuft er bei Nietzsche weitere vier Stufen, ehe er in einer fünften umkippt in sein Gegenteil: 1. Relativierung der ursprünglichen Enttäuschung durch zusätzliche (Selbst-) Verletzungen gemäß der „grossen Klugheit", daß selbst „in der Verwundung [...] noch Heilkraft" läge (6/57). Spätestens in dieser Phase wird Nietzsche vom Passiv-Leidenden zum Aktiv-Angreifenden 368 ; seine „antiromantische Selbstbehandlung" versteht sich als militante „Gesundheitslehre" (2/371), die, ausgehend von jenem einen Initialpunkt, Partei nimmt „gegen alles Kranke an mir" (6/12) —, also nicht mehr nur gegen das, was in unmittelbarer Beziehung zu seiner „Liebes-Krankheit" steht. „Wolle ein Selbst, so wirst du ein Selbst"369 —, das ist seine heilkräftige Maxime, deren Tendenz darauf hinausläuft, eine neue Rolle so lange zu spielen, bis der Schein zuletzt zum Sein sich verwandelt (2/71 f.). Das Problem dabei besteht allerdings, „Herz und Kopf' 370 — d. h. ursprünglichen und „nachträglichen" Willen — wieder zusammenzubekommen; und indem eine therapeutische Favorisierung des zweiten, „nachträglich" aufgesetzten Wollens ausschließlich als zeitlich begrenzter Kunstgriff eingesetzt wird (2/524), verläuft auch der idealtypische Gesundungsprozeß nach triadischem Schema. 2. Demonstration der geistigen Unabhängigkeit mittels Zwangsausübung gegen alle emotionalen „Abhängigkeiten". Der Wille, Freigeist zu sein, geht dabei, so Th. Mann371, oft über Nietzsches eigentliches Können hinaus; 363
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Eine solche Enttäuschung muß nicht passiv erlitten, sie kann auch aktiv „verschuldet" werden durch einen überproportionierten Erkenntnistrieb (wie er in Nietzsche ja wirkte): 2/ 318 s. dazu 5/43; auch als Rache im Lob (3/197) Vgl. F. Th. Vischer, der seine Goethekritik im „Faust. Der Tragödie dritter Teil" mit den Worten rechtfertigt: „Verstehen kannst du meines Spottes Born: / Erkrankte Liebe ist mein ganzer Zorn." (S. 176) 17. 2. 1882 an H. Köselitz, K G B 6/171 14. 10. 1883 an I. Overbeck, K G B 6/421 s. Anm. 363 2/524; vgl. Pindars „Werde, der du bist", das vom Studenten Nietzsche zum Lebensmotto erkoren und mit Niederschrift des „Ecce homo" als eingelöst betrachtet wird: „Wie man wird, was man ist." (6/255) 2/631, vgl. Anm. 139 Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, S. 12, 28
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aber sein Wunsch, „unbesiegbar" zu werden durch Selbstkasteiung372, zieht eben die Notwendigkeit nach sich, im Lauf der Zeit sämtliche Freunde zu opfern373: Um nicht an menschlichen Bindungen dereinst zu zerbrechen, gilt es, sich rechtzeitig zu flüchten hinter die Maske des ungebundenen Geistes 374 ... 3. Ein derartiges Bestreben, ins Positive umgedeutet, erweist sich nicht mehr bloß als eines, das drohenden (Selbst-) Verlusten entgegenzusteuern hat, sondern als eines, das steten Gewinn verbürgen soll, eine Zuwachsrate an Persönlichkeit gewissermaßen: „Meine Schriften reden nur von meinen Ueberwindungen" (2/369) —, Überwindungen insbesondere der eigenen Person: „Ich greife nur Dinge an, [...] die ich bis zu einem gewissen Grade selber gewesen bin"375, also unter der Maske der Schiller-Abwertung beispielsweise einenjüngeren Nietzsche, dessen Idole376 überwunden werden wollen zugunsten des dominanten Steigerungsprinzips377, zugunsten der „Aufgabe" (72/273), die den Schaffenden vom Schlage Zarathustras zum „schlimmsten Feind" des bislang geschaffenen Selbst verdammt (11/394). Bei der Analyse literarischer Urteile wird somit immer zu berücksichtigen bleiben, daß „angreifen [...] ein Beweis des Wohlwollens, unter Umständen der Dankbarkeit" ist (6/275), daß es heimliche Liebe sein kann, die in offne Gegnerschaft zu einem Künstler treibt.378 4. „In seinem Freunde soll man seinen besten Feind haben"379 —, solch „göttliches Widereinanderstreben" (4/131) schließlich wird erhoben zur Methode des Philosophierens schlechthin. Denn aus der Perspektive des nach Erkenntnis Strebenden muß jede (ihrem Wesen nach „blind" verehrende, unkritische) Liebe als ein „arges Verbrechen an der Wahrheit" (3/284) erscheinen: „so lange man noch liebt, [...] ,betrachtet' [man] noch nicht" (2/370), da hierzu Distanz, ja „eine geheimnisvolle Gegnerschaft" notwendige Voraussetzung sei (ebd.). Das dialektische Umschlagen von liebender in „gestrenge Freundschaft"380 demonstriert folglich vor allem das Bestre3. 9. 1887 an M. v. Meysenbug, K G B 5/284 6. 9. 1885 an F. Nietzsche und E. Förster, K G B 7/92; auch Zarathustra macht einen ähnlichen Lernprozeß durch, stellt bereits in einer seiner ersten Reden die Frage (an sich wie an andere): „Kannst du an deinen Freund dicht herantreten, ohne zu ihm überzutreten?" (4/71) 374 Dazu gehört auch eine oberflächlich zur Schau gestellte Heiterkeit. (12/79 f.) — Die oft schroff vorgetragene Abwertung gewisser Autoren ist also weniger „der verdeckte, mittelbare Ausdruck angeeigneter Kenntnisse", wie H. Pfotenhauer meint (Die Kunst als Physiologie, S. 93), sondern eher ein solcher des tiefsten Schmerzes. 375 14/474, Vorstufe zu 6/275 376 dazu 3/216, 221 377 so auch R. Low, Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 196 378 4/148, vgl. S. 140 379 4/71; zum Bedürfnis nach einem Freundfeind vgl. P. Valéry, Monsieur Teste, S. 80 380 20. 3. 1881 an H. Köselitz, K G B 6/72 372
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ben, durch zumindest zweiseitige Ungerechtigkeit dem in Frage stehenden Gegenstand gerechter zu werden 381 : Die ursprünglich aus schmerzhafter 382 Erfahrung abgeleitete Theorie wird aller zukünftigen Praxis wieder vorgeordnet als (final funktionalisierter) Wille zur Grausamkeit 383 , und insofern sind nicht allein Selbstwertgefühl, Gesundheit und Unabhängigkeit „gegen die eigene Natur [...] erkämpft", sondern, wie H. Mann schreibt, Nietzsches komplette „Lehre" 384 . 5. Jene Denkfigur des Sich-Selbst-Entgegensetzens, zum heuristischen Prinzip des Sich-Auseinandersetzens erhoben, figuriert am Ende als Ausbängeschild des Philosophen; in ihr demonstriert sich sein „Stolz, jederzeit noch selber der Gegner und Todfeind seiner eigenen Lehre werden zu können" (3/312). Ein Perspektiven Wechsel, und sei es auch ein derart fundamentaler, wie er sich seit 1876 in den literarischen Umwertungen früherer Umwertungen widerspiegelt, ist daher lediglich für Außenstehende eine „Tragödie" (3/327), wird völlig von seinem ursprünglichen Anlaß abgehoben: „Ich greife nie Personen an", sondern „nur Sachen" 385 . Inwiefern Nietzsche in solcher Erziehung zur „bedingten Zustimmung" ebenso wie zur „wohlwollenden Gegnerschaft" 386 Erfolg beschieden war, mag dahingestellt bleiben. Das methodische Mißtrauen 387 gegenüber geliebten Personen, lebenden wie historischen, führt aufgrund des dadurch schrittweise gewonnenen Erkenntniszuwachses zu einem Phänomen, das bei oberflächlicher Betrachtung paradox anmutet: zur „Verachtung gegen das, was man liebt" (13/387). Aber mit fortschreitender Reflexion lerne man eben, an allem und jedem etwas zu verachten (5/152), ja zu hassen 388 ; wo jenes Etwas freilich einmal erkannt sei, müsse man redlicherweise die systematische Suche nach wunden Punkten zum philosophischen Prinzip erheben: „Unsere Weisheit [sei] durch ein Sieb 381
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2/409; Nietzsches Hochschätzung dialektischer Strukturen drückt sich also nicht nur darin aus, daß er sie überall aufspürt und fördert, sondern daß er sie geradezu schafft. Ähnlich R. Low, Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 188 s. auch 6/122, 159 „Ich bin es, der aus allen Zufallen sich Grausamkeiten gemacht hat." (10. 2. 1883 an F. Overbeck, K G B 6/326) Vgl. 13/127: Nietzsches Immoralismus richtet sich gegen seinen „Erbreichthum an Moralität"! Nietzsche, S. 279 6/274 und 13/622; vgl. aber Nietzsches eigene Umdrehung der Argumentation in 13/443 3/150: Insbesondere seien „unbedingte Huldigungen vor Personen", wie sie seine Jugendschriften ja kennzeichnen, „etwas Lächerliches". Dazu auch: 20. 3. 1882 an E. Fincke, K G B 6/181 31. 7. 1879 an F. Overbeck, K G B 5/432; vgl. den von Nietzsche gern zitierten Ausspruch Talleyrands „Méfiez-vous du premier mouvement; il est toujours généreux." (12/500, s. dazu S. 506f.!) 6/401, vgl. 2/16
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der Verachtung geseiht" (13/88), schreibt Nietzsche im typischen „KönigsWir"-Stil und erwägt als Motto der „Genealogie der Moral": „Tout comprendre, c'est tout — mépriser?"389 Dabei weise die (punktuelle) Verachtung immer auf eine dahinterstehende (generelle) Achtung 390 bzw. Verehrung391; Verquickung insbesondere von Liebe mit Verachtung392 ist geradezu ein Leitmotiv seines Denkens nach dem „Zarathustra", sie läuft — wie jedes seiner Philosopheme — auf einen dadurch in Gang gesetzten Schaffensprozeß hinaus (4/82): auf einen inneren Wachstumsprozeß mithin, dessen Parallelen zu dem im „Symposion" Piatons entwickelten evident sind... Eine derart angewandte Steigerungsmethode, die „das grosse [!], das liebende Verachten" inszeniert393 als Mittel zum Zweck „ferner Perspectiven" (3/288) — sprich: um aus erzwungener Distanz wieder zu einem positiven Urteil zu kommen!394 —, läßt ausgerechnet die negativen Urteile über Literatur und Literaten als die bedeutsamsten erscheinen, steht hinter gewaltsamer Selbst-Ernüchterung doch leidenschaftliche Liebe oder eine von Nietzsche empfundene Wesensverwandschaft395. Sein pädagogischer „Zwang gegen [s]ich" (6/266) beschränkt sich aber nicht nur darauf, Geliebtes anzugreifen, sondern versucht in gleichem Maße, „aus seinen Schwächen die Folie seiner Tugenden [...] zu machen" (3/193). Also ausgerechnet z. B. aus Kunstprodukten zu lernen, die ihm mißfallen — denn in jeder Ablehnung drückt sich ja eine ursprüngliche Verständnisschwäche aus, die überwunden sein will —, und sie dadurch am Ende gar zu lieben (2/488)! Dies ist der Hintergrund von Nietzsches Aufwertungen ihm wesensfremder Epiker wie Stifter und Keller! Systematische Hochschätzung von „Feinden", als unverzichtbares Pendant zur Abwertung von „Freunden" oft beschworen396, ist somit zunächst 389
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14/377; vgl. zu diesem Zitat ungewissen Ursprungs (14/732) auch die Abwandlung in 12/ 298 5/405: „Der Verachtende ist immer noch Einer, der ,das Achten nicht verlernt hat'". 4/17, 357; vgl. obige Ausführungen zur gegenseitigen Bedingtheit von Ja- und NeinSagen. — Zum Verhältnis von Verachtung und Sehnsucht s. 4/52, zu demjenigen von Verachtung und Mitleid 5/223 s. dazu auch 4/224, 12/240 und 14/325. — Eine Erklärung dieses Phänomens, die derjenigen Nietzsches sehr verwandt ist, kann man aus R. Walsers „Gehülfen" herauslesen: Was einer gern hatte, an was einer sich gebunden und geschlossen fühlte, das machte ihm eben zu schaffen, mit dem stritt er sich, an dem paßte ihm vieles nicht, das haßte er gelegentlich, weil er sich mächtig von ihm immer angezogen gefühlt hatte. (S. 283) 4/278, vgl. S. 216, 332: Ein solcherart umbegriffener Begriff von „Verachten" darf nicht gleichgesetzt werden mit „Verachten", wie es beispielsweise in 5/271 oder 5/355 beschrieben ist. Ganz zu schweigen von der Rousseau unterstellten „unverschämten Verachtung alles dessen, was er nicht selbst war." (12/448) „Man kann einer Sache nicht besser nützen als indem man sie verfolgt und mit allen Hunden hetzt..." (12/515): Auch hierin erweist sich Nietzsche als triadischer Denker. „Wenn [...] je erkannt werden soll, so gewiß nur das Gleiche durch das Gleiche." (11/424) 4/378, 11/66 u.a.
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nicht mehr als purer Egoismus, der den Kontrahenten stärkt, um an ihm selber stark zu werden (12/523): „Sich vollkommene Gegner wünschen" (3/165) oder schaffen (12/172) gilt bereits als erster Schritt zur eigenen Vollkommenheit; alles weitere Wachstum verriete sich „im Aufsuchen eines gewaltigeren Gegners" (6/274). Der Weise schließlich könne es sich leisten, jeden Widersacher zu idealisieren: Denn indem er ihn zum „Gott mit leuchtenden Waffen" erhöbe, erwiese er selbst sich erst in seiner ganzen Größe. Funktionalisierung des Gegensatzes also hier ebenfalls zwecks Erkenntnis- (4/101) wie Machtzuwachs397; und parallel dem soeben Ausgeführten über Nietzsches Verhältnis zum „Freund" lassen sich auch in demjenigen zum „Feind" die entsprechenden Gradationen aufzeigen: 0. ein damit verknüpfter Leidensprosyß (13/167), der die Schädlichkeit bestimmter Erkenntnisse bewußt in Kauf nimmt, um sich über sie hinaus zu Gegenerkenntnissen („Gegengiften") aufzuschwingen (2/385) 1. aktive Suche nach weiteren Widerständen, deren Überwindung nicht mehr nur als Sieg über „innere Verletzungen" angestrebt wird, sondern als Lust(13/360), sprich: als Machtgefühl (s. o.): „Euren Feind sollt ihr suchen, euren Krieg sollt ihr führen und für eure Gedanken!" (4/58) 2. Unabhängigkeitsstreben mittels willkürlicher Perspektivenverdrehung: ,,[D]er [Freigeist] muss dort lieben lernen, wo er bisher hasste" (2/280). Im Unterschied zum biblischen „Liebet eure Feinde"398 ergänzt Nietzsche seine Maxime aber durch ein: „und umgekehrt", zielt also letztlich auf egozentrische Abhärtung und Umerziehung, die einem christlichen Verstehens- und Verständigungsprozeß allein formal noch ähneln. Im übrigen soll seine Denkfigur nicht bloß von positiven, sondern natürlich auch von negativen emotionalen „Bindungen" befreien wie Eifersucht (2/405), Furcht (4/85) oder Streitsucht (5/211) —, versteckten Motiven scheinbar rein ästhetischer Urteile, die in seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit dem als übermächtig empfundenen Goethe sicher keine geringe Rolle spielen. 3. Der damit verknüpfte Persönlichkeitsgewinn wird im Vergleich zu demjenigen, der aus der Auseinander-Setzung mit „Freunden" resultiert, als der entscheidendere empfunden (11/15): „Angreifen oder eingreifen" heißt hier die Alternative (2/337); entschiede man sich gar für letzteres, so würde man die „veräußerlichte Seite" der befehdeten Parteien oder Personen 397
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13/300, vgl. dazu 2/131: Das „Bedürfniss, [...] Gewalt und Herrschsucht auszuüben", kann sogar derart anwachsen, daß es sich gegen die eigene Person wendet. Matthäus 5.44.; s. in dieser Tendenz überraschenderweise auch W. Serner (Letzte Lockerung, S. 118)
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durchdringen und nicht selten sich selbst im anderen erkennen 399 . Das gälte natürlich vornehmlich für literarische Gegner, die den Leser nicht nur erfreuten und bestätigten wie dessen Lieblingsautoren, sondern geradezu „über sein Wesen hinaus, von ihm weg" erzögen (2/525). Aufgrund der dadurch bewirkten Dynamik der Persönlichkeitsentwicklung gibt Nietzsche, solch „komplementärer" Literatur 400 bewußt den Vorzug. Aber eben lediglich „bewußt"... 4. Funktionalisierung alles Zufalligen und Feindseligen in Theorie und Praxis für den Erkenntnisprozeß 401 wird schließlich zur Methode entsprechend der systematischen Anfeindung von ursprünglich Geliebtem: Beides markiert im Grunde bloß zwei Seiten ein und derselben Bewältigungsstrategie 402 . Das hierfür konstitutive Postulat, „dass das Leben selber Feindschaft nötig" (4/125) und folglich auch das Bekämpfte sein „gutes Recht" hat (12/33), ja geradezu „nothwendig" ist (13/427), wird selbstredend nicht ganz uneigennützig aufgerichtet: Denn Nietzsche versteht sich durchaus als Teil jener Menschheit, der er in einem Aphorismus von „Menschliches, Allzumenschliches" den Rat gibt, aus , jeder großen Kraft [...] ein Werkzeug ihrer Absichten zu machen" (2/290), denkt also immer an den indirekten Nutzen einer „in's Große" getriebenen Feindschaft 403 . Sein „Selbsterhaltungs-Interesse" als unzeitgemäßer Denker besteht schließlich darin, daß die kritisierte „Gegenpartei nicht von Kräften kommt" 404 : Nur durch den Gegensatz kann er sich als „nothwendig" fühlen, bisweilen bringt ihn gar „eine starke Feindschaft" — diejenige mit Wagner! — erst richtig zur Geltung (2/333) oder setzt ihn in Freiheit 405 . Liebevolle „Einverleibung" der Gegensätze und Widerstände darf demnach niemals total sein 406 , muß trotz des ursprünglichen Dranges nach Überwältigung „gerade das [...] Feindseligste mit der größten Milde [...] behandeln" 407 .
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ebd.; schon insofern wären Feinde „die besten Gesellschafter" im Sinne W. Serners (s. Anm. 398) vgl. ein lyrisches Nachlaßfragment, das jenes Verlangen nach Entgegengesetztem darstellt in der für ihn so bezeichnenden Gebirgsmetapher (Gedichte, S. 106) 3/542; m. E. werden in diesem Aphorismus nicht eigentlich „%wei Glückliche" beschrieben, sondern die zwei Seiten Nietzsches —, die im Grunde ebenso unlösbar verquickt sind wie Aufwertung von Feinden und Kampf gegen Freunde. zum Zusammenhang von Freundschaft und Feindschaft s. z. B. 4/71, 5/211 6. 2. 1884 an F. Overbeck, K G B 6/474 6/84, vgl. 2/326 „Gegen einen Feind giebt es kein besseres Gegenmittel als einen zweiten Feind" (12/57): Diese Maxime weist gleichermaßen zurück auf die antike Kultur- und Staatsraison, die jedes drohende Übergewicht eines großen einzelnen auszubalancieren suchte durch entsprechende Gegengewichte, wie voraus auf O. Marquards „föderalistisches" Denken (Kap. I.3.c). vgl. z. B. 13/428, 424 30. 4. 1884 an F. Overbeck, K G B 6/498
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Und das bezieht sich nicht allein auf gesellschaftliche Entwicklungen, die Nietzsche bekämpft, indem er sie scheinbar fördert 408 , sondern auch und gerade auf das gesamte Feld literarischer (Auf-)Wertungen 409 , deren egoistische Hintergedanken stets zu berücksichtigen sind. 5. Und zu berücksichtigen ist schließlich, daß jenes Prinzip der nachträglich gewollten (!) Aufwertung ebenso idealisiert wird wie das liebender Abwertung: Art und Weise des Umgangs mit dem Gegner liefere ein „ , indicium' [...] für Vornehmheit oder nicht" 410 , immerhin sei ein Feind eine „Auszeichnung" 411 und insbesondere die Feindschaft mit ihm, dem „ersten Geist des Zeitalters" 412 , eine „Ehre" für den Angegriffenen (13/641): Da sie interpretiert werden kann als ein Hinweis auf Gleichrangigkeit der Opponenten, betont Nietzsche in der Euphorie vor dem Zusammenbruch natürlich des öfteren, er habe überhaupt keine Feinde (mehr) 413 , und nach all dem Gesagten mag das ebenso einleuchten wie die entgegengesetzte Behauptung. Selbst die Passage der „Genealogie der Moral", in der er die Notwendigkeit von (in seinem Sinne verstandenen) Feindschaften betont, da sie „immer wieder zum Dasein" verführten (5/349), wird verständlich als implizite Rechtfertigung des amor fati: Denn zusammengenommen mit seiner Überwindung aller ursprünglichen Freundschaften, die unter ihrer verneinenden Oberfläche stets auf vergangene oder verdrängte Liebe verweist, läuft auch die Vereinnahmungstendenz seiner Feindschaften auf ein umfassendes Ja-Sagen hinaus (13/167). Das aber heißt für das Untersuchungsanliegen dieser Arbeit: Literarische Auf- wie Abwertungen können gleichermaßen auf positive oder negative Hintergründe verweisen; jede dezidierte Parteinahme Nietzsches zeigt seine Nähe zu dem beurteilten Werk bzw. Autor (12/44) und ist grundsätzlich als „Gütesiegel" zu verstehen 414 . In anderen Fällen — denjenigen einer „echten", sprich: eindeutigeinseitigen Abwertung — erspart er sich nämlich die Mühe differenzierter Auseinandersetzung, weicht allem als schlecht oder mittelmäßig Verdächtigen „sofort aus dem Wege [...], ohne es zu bekämpfen" (2/459): „Wegsehen
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vgl. dazu sein Verhältnis zum Sozialismus (2/308) oder zur decadence-Problematik s. in diesem Zusammenhang auch den Aphorismus 2/168, der sogar schlechte Schriftsteller für notwendig zu erklären weiß 12/381, vgl. 5/273 5/273, vgl. S. 70 9. 10. 1888 an H. v. Bülow, K G B 8/449 bereits in einem Brief vom 1. 1. 1887 an M. v. Salis, K G B 8/6; s. auch: 18. 10. 1888 an F. Overbeck, ebd., S. 454 „Wo man nicht mehr lieben kann, da soll man — Vorübergehn!" (4/225) Diese Maxime Zarathustras ist ja auch dergestalt zu lesen, daß man nur dort vorüberzugehen habe, wo man nicht mehr liebt: Auseinandersetzung mit Literatur (welcher Form auch immer) beruht also auf Liebe zu ihr.
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sei meine einzige Verneinung!" 415 So führt er die Auseinandersetzung mit bestimmten Autoren indirekt (3/552), indem er sie einfach verschweigt — zumindest in den publizierten Werken. 416 Dies wird zwar von ihm selbst als „unbilligste" Form des Urteils erkannt 417 , nichtsdestoweniger bzw. gerade deshalb praktiziert 418 : Und entsprechend tauchen einige seinerzeit hochrangig eingestufte Dichternamen kaum auf in seinem Werk, also fast völlig unter.
b) Die Theorie-Praxis-Schere Nietzsches Versuch der Selbstüberwindung philosophischer (wie im speziellen philologischer) „Primärurteile" 419 , seine Methode der schrittweisen Auseinander-Setzung mit „ersten Eindrücken" kehrt auf einer anderen Ebene wieder: der von Theorie und Praxis, die zugunsten experimenteller Überprüfung seiner Philosopheme zunächst strikt getrennt werden, um sie unter anderen Aspekten — die natürlich seiner Philosophie als Ganzes positiv angerechnet werden sollen — wieder zusammenzuführen. Ein Überraschungsmoment liegt dabei für den Leser im Tatbestand, daß solcherart Geist und Charakter (2/512), theoretische und praktische Vernunft in ein Spannungsverhältnis gesetzt werden, wie es insbesondere nach Kants Widerlegung des „Gemeinspruches: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis" 420 kaum zu erwarten noch war. Mit der Maxime „ein Anderes ist der Gedanke, ein Anderes die That" (4/45) scheint sich Nietzsche ausdrücklich gegen dessen Schrift wie die gesamte Goethezeit zu stellen 421 ; in einer derartigen Haltung entspricht er freilich beispielhaft der von H. Widhammer
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3/521, vgl. 5/68 z. B. Mörike: Dessen Abwertung in einer Notiz des Sommers 1875 (8/128) geschieht gewissermaßen en passant, ist für Nietzsches kulturkritischen Standort nur insofern von Bedeutung, als sie an eine Beurteilung der Lyrik Goethes gekoppelt ist. 4/115, vgl. S. 340 aus Wirkungsinteresse! Darüber hinaus ist eine derartige Einstellung zu erklären als prophylaktischer Selbstschutz (5/98) gegen ein mögliches Abfärben jeder Mittelmäßigkeit auf das eigene Denken und Schreiben. Beide sind bei ihm ja unlöslich verknüpft, wie er in seiner Basler Antrittsvorlesung deutlich macht: Damit soll ausgesprochen sein, daß alle und jede philologische Tätigkeit umschlossen [...] sein soll von einer philosophischen Weltanschauung, in der alles Einzelne und Vereinzelte als etwas Verwerfliches verdampft und nur das Ganze und Einheitliche bestehen bleibt. (III/174) Werke in zehn Bänden, 9/127 ff. insbesondere gegen Goethe selbst (s. Anm. 322)
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konstatierten422 „nachrevolutionären Trennung des Zusammenhangs von Theorie und Praxis".423 Andererseits heben ihn Maximen wie „Sehen und doch nicht glauben"424, in denen er sich geradezu gegen eine gewisse Praxis zu sträuben scheint, wie Selbstbildnisse seiner „dionysischen Natur, welche das Neinthun nicht vom Jasagen zu trennen" wüßte (6/366), vom zeitgenössischen Umfeld ab; indem er die Gefährlichkeit gewisser Gedanken und diejenige eines (un-)gewissen Lebensstils »¿¿¿«einanderhält (3/143), spielt er Theorie und Praxis bewußt gegene\na.nd&t aus.425 „Spinozas Einsicht, daß man nur dann alles denken darf, wenn man nicht alles tun darf (O. Marquard426), scheint auch für Nietzsche zuzutreffen, insbesondere den „Immoralisten" in ihm, dessen theoretischer Radikalismus ja bekanntlich nicht in die Tat umgesetzt wurde427: „Unser .Wissen' und unser ,Thun' in diesem Falle liegen kalt auseinander"428. Jedoch nicht bloß „in diesem Fall" und nicht bloß „auseinander", denn Nietzsche funktionalisiert die zunächst nur konstatierte Polarisierung, verwendet die Gegensätze in beiderlei Richtung: deren unauffälligere von der Praxis zur Theorie läuft, sprich: hinausläuft auf ein „Primat der praktisch-aristokratischen Vernunft" (R. Low429). Eine Priorität derselben gälte nun nicht etwa allein für den Künstler430, sondern insbesondere für den Denker, den Theoretiker par excellence, dessen „vita contemplativa" erst dann als fruchtbar einzustufen sei, wenn ihr eine „vita practica" voranginge (3/269) —, ein Durch-
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Realismus und klassizistische Tradition; S. 27; H. Widhammer bezieht sich vornehmlich auf die „Entfremdung von Literaturtheorie und Dichtung" im Realismus (a. a. O., S. 2 f.). bzw. steht in einer geistesgeschichtlichen Tradition, die darüber gleichermaßen hinaus- wie zurückweist: zurück bis mindestens Aristoteles (vgl. R. Spaemann: Aus der Laudatio zum 80. Geburtstag von Hans Jonas, S. 104), voraus zumindest bis P. Valéry (Monsieur Teste, S. 56). — Vgl. insbesondere die Maxime von Jacques, dem Fatalisten: „Ich denke auf eine Art und vermöchte mich nicht daran zu hindern, auf eine andere Art zu handeln." (Diderot, Jacques der Fatalist und sein Herr, S. 103) 10/394, vgl. 2/537 „Diskrepanzen zwischen seinen Grundsätzen und seiner Lebensführung", wie sie A. Verrecchia mehrfach anprangert (Zarathustras Ende, S. 31, vgl. S. 9), sind deshalb alles andere als Selbstwiderlegungen! Abschied vom Prinzipiellen, S. 11 s. dazu das schöne Bild der Fliege vor dem Glasfenster: 3/270; vgl. auch die Selbstreflexion in 12/316 Das Zitat steht zwar in speziellem Kontext (12/249), ist aber ohne Einschränkung generalisierbar. Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 128 f. der ja als Prototyp des Nicht-wissen-Wollenden fungiert (3/351); unter Verzicht auf langwierige Begründungsversuche, aber deswegen nicht weniger überzeugend, äußert sich Nietzsche in einem Brief an G. Krug: „Wie unvergleichlich ist, gegen jedes Theoretisiren gehalten, jedes wirkliche Produziren!" (24. 7. 1872, KGB 4/29)
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schnittsieben und -handeln mithin, währenddessen Theoriebildung bewußt hintan zu stehen habe431. Eine derart konkret eingebettete Suche nach „abstrakten" Denkergebnissen, nach Gesetzen, Prinzipien und Werten, bedarf aber auch weiterhin der Rückbindung an die Lebenspraxis, deren Erfahrungswerte täglich aufs neue gegen scheinbar ausreichend bereits gesicherte Erkenntnisse zu stellen sind: „Kleine abweichende Handlungen" dienen dabei als Gradmesser ebenso der freigeistigen wie der konservativen Denkmuster (3/141) — und nicht selten als deren „Experimental-Widerlegung"432: Das Sein ist es, das letztendlich das Bewußtsein zu bestimmen hat.433 In jedem Falle ist den Resultaten experimenteller Lebensführung 434 der Vorzug zu geben gegenüber Theoriebildung deduktiver oder spekulativer Art; und entsprechend richtet sich Nietzsches Augenmerk bei der Beurteilung andrer Philosophien stets auf die dahinterstehende Person des Philosophen: Eine derartige Einstellung, wie sie sich im Gedicht „Arthur Schopenhauer" exemplarisch dokumentiert: „Was er lehrte, ist abgethan; / Was er lebte, wird bleiben stahn"435 —, also eine Rezeptionshaltung, die Werk und Urheber zu trennen weiß, führt gerade im Bereich philologischer Wertungen zu überraschenden Ergebnissen: Dann nämlich wenn z. B. Goethes Lebensweise zum Ideal stilisiert, sein Werk aber fast ausnahmslos vehementer Kritik unterzogen wird 436 . Die Bevorzugung der Praxis, laut. W. Jaeger 437 schon im vorsokratischen Griechenland Ausdruck einer pädagogisch orientierten Philosophie und beim Erzieher Nietzsche darüber hinaus einer (seinerzeit ungeheuren) Aufwertung des „Leiblichen", ist hingegen — wie kaum anders zu erwarten — nicht ungebrochen; in Reflexionen wie derjenigen der „Fröhlichen Wissenschaft" (3/422), die den Schaffenden als Vernichter einer traditionellen (falschen) Theorie preist, kündigt die Schlußwendung einen heimlichen Vorrang der letzteren an. Er offenbart sich vollends, wenn andernorts einem lebenslangen 2/659, 687; s. auch entsprechende Ausführungen über Schopenhauer (1/350 f.) und die Definition des Philosophen (1 /409 f.) 432 14/471; v o n Nietzsche „am eigenen Leibe" schmerzlich erfahren, wie er in einem Brief an H. Köselitz berichtet (3. 9. 1883, K G B 6/444). « 3 2/544, vgl. 3/408, 4 1 5 f., 471 4 3 4 vorausgesetzt, sie dient einem Ziel: dem Erkenntnisgewinn. Andernfalls wird der „ArtistenGlaube", „ungefähr alles zu können, ungefähr jeder Rolle gewachsen zu sein" (3/596), scharf verurteilt. 435 11/303; vgl. die gleichzeitige Notiz: „Alle [also auch die antiken] Systeme sind überwunden: die Griechen strahlen [dennoch] in größerem Glänze als je" (11/159). 4 3 6 Natürlich ist literarisches Schöpfertum eine Form der Lebenspraxis, ein künstlerisches Werk aber steht zu seinem Urheber im selben Verhältnis wie es ein philosophisches tut, es repräsentiert allenfalls eine „Praxis zweiten Grades" — die hier der Einfachheit halber der „Theorie" subsumiert wird. (Genauers im Kap. IV) 4 3 7 Paideia 1/236, vgl. S. 206; vgl. W. Capelle, Die Vorsokratiker, S. 3 1 8 431
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„Honigsammeln" an Geist der Vorzug gegeben wird vor jedem „Erlebnis" (5/ 247), ja gefordert wird, das gesamte Leben in den Dienst der philosophischen Reflexion zu stellen (3/276). Das Bewußtsein, so gesehen, bestimmt folglich auch das Sein 438 ! Jene Tendenz, die immerhin so weit geht, daß sie eine ziemlich umfassende Abstinenz von der Lebenspraxis fordert 439 , läßt G. Colli von einem „Vorrang des Erkennens über das Handeln" sprechen (3/659) und Th. Mann gar von Nietzsche als dem „theoretischen Menschen par exellence" 440 ; zumindest ist eine „Zerstörung des Theoretischen", wie sie R. Low bei ihm sieht 441 , nicht jedem ersichtlich. Daß andrerseits die Flucht vor Erlebnissen in (bloßes) philosophisches Erkenntnisstreben nicht ganz unproblematisch ist, wird im Aphorismus „Die Wirklichkeit ehren" (3/271) zwar indirekt, doch immer noch deutlich genug ausgesprochen; von der Zerstörung — nämlich Verhinderung — des Praktischen kann erst recht keine Rede sein. Eventuell ist die ganze Problematik vom Primat des Theoretischen bzw. Praktischen wieder einmal nicht mehr als eine solche von Nietzsches Terminologie (s. u.)? Zumal sich in dessen Werk eine erhebliche Anzahl von Aussagen vorfinden, die jedwede Bevorzugung von Theorie gegenüber Praxis ebenso ablehnen wie deren Hintanstellung, Aussagen, deren Tendenz auf eine Reduktion beider Begriffe zu einem einzigen hinausläuft: „Zuletzt rede ich nur von Erlebtem, nicht bloß von .Gedachtem'", gibt Nietzsche in einer Vorstufe zum „Ecce homo" (14/485) zu verstehen, „der Gegensatz von Denken und Leben fehlt bei mir", ja sei im Grunde eine ebenso „verhängnißvolle Unterscheidung" (13/325) wie die zwischen Geist und Körper 442 . Jedes Reflektieren sei bereits eine Art des Handelns 443 —, und zwar etwa nicht ausschließlich eines solchen, das unser heutiger Sprachgebrauch als „Probehandeln" spezifizieren würde: Das Verhältnis von Bewußtsein und Sein vielmehr sei in ergänzender Umkehrung der bekannten These Descartes' ein wechselseitiges (3/521), indes jedweder Trennungsversuch des Theoretischen vom Praktischen auf einen völlig falschen Gegensatz abziele (13/325 f.). Und so, wie
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2/683, 688 2/234f., 3/324; als „Ausgleich" sucht sie wiederum gewisse Erlebnisse (2/687) und diktiert der Lebenspraxis darüber hinaus Werte (3/296) und Ablauf (August 1884 an F. Overbeck, K G B 6/518). Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, S. 48 Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 101 13/346; „beide" Unterscheidungen laufen am Ende auf ein und dieselbe hinaus: Nietzsches Angriff auf den Leib-Seele-Dualismus hat dieselbe Stoßrichtung wie derjenige auf die unkünstlerische (sprich: bürgerliche) Unterscheidung von Form und Inhalt bzw. wie der auf die Ansicht des Nicht-Denkers (sprich: Bürgers), Theorie und Praxis seien zwei getrennte Sphären, (vgl. 13/9 f.) 13/285, 12/14
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der Erfahrungshorizont jede Erkenntnisfahigkeit eng begrenze 444 , so sei (theoretische) Philosophie kein Produkt intellektueller Freiheit, sondern im Grunde reine Temperaments- 445 , also Veranlagungssache: „Man bejaht, was man ist, man verneint, was man nicht ist" (13/637), beziehungsweise, was man nicht sein will (s. u.). Hatte das im wesentlichen bereits Fichte verkündet 446 , so ist eine damit verknüpfte Umbegreifung des Erlebnisbegriffs spezifisch Nietzsche zu eigen: „Geist ist das Leben, das selber in's Leben schneidet" (4/ 134) —, einzig aufgrund einer derartigen Aufwertung des innen weltlichen 447 Erlebens zu einer den Außenwelt-Erfahrungen gleichrangigen Form von Praxis kann er behaupten, er habe „mehr erlebt [...] als irgend ein Mensch" (13/613), „fast hinter jedem Wort [des „Zarathustra"] steh[e] ein persönliches Erlebniß" 448 . Auch „Theorie" und „Praxis" versteht er demnach als „Gänsefuß-Begriffe" 449 , seine Gedanken 450 ebenso als „Thaten" wie seine Werke (14/ 494), nämlich als konkrete Pädagogik 451 bzw. Bewältigung realen Leidens 452 : Insofern gilt ihm jede gedankliche Betätigung, wie R. Low am Beispiel der Sprache ausführt, „als eine Form der Praxis" 453 , und zwar als deren Vorform (13/60) gleichermaßen wie als deren Resultat 454 , Objektivität dagegen — Ergebnis „reiner" Theoriebildung! — als un-menschliche Fiktion 455 . — Den Sachverhalt verdeutlicht vielleicht am besten die Metapher der „TheoriePraxis-Schere", deren Spitzen oft — nicht immer — auseinanderklaffen, deren Drehpunkt jedoch stets die Zusammengehörigkeit beider Hälften verbürgt. Als Angelpunkt in Nietzsches Leben wie Werk wäre der Steigerungsgedanke
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3/328, 12/195 f. 2/592, vgl. 3/577 „Was einer für eine Philosophie habe, hängt davon ab, was für ein Mensch er sei." (zit. nach R. Low, Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 22) nämlich eines nur geträumten (11 /52 f.) 29. 8. 1883 an E. Nietzsche, K G B 6/439 Der Terminus wird von Nietzsche selbst geprägt (und auf den Begriff „Freund" angewandt), 14/481. z. B. seinen „Begriff .dionysisch' " (6/343) s. u. a. einen Brief an E. Rohde, in dem er betont, er schreibe immer mit „praktischer .Tendenz'" (Februar 1872, K G B 3/295) 4/48; vgl. dazu O. Marquard, der jede Theoriebildung als (neues, nachträgliches) „Glück im [primären, „praktischen"] Unglück" interpretiert —, analog dem Lachen, das dieselbe Erleichterungsfunktion übernähme. (Glück im Unglück, S. 111) Insbesondere seine kleine Anmerkung über das Lachen ist Nietzsche („Also sprach Zarathustra"!) natürlich ebenso verpflichtet wie die Kernthematik von U. Ecos „Der Name der Rose": Hier (insbes. S. 602 ff.) ist die Anlehnung an das Original allerdings zum („postmodernen") Programm geworden. Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 52 „Nur der Thäter lernt" (4/331), sprich: Allein die Tat ermöglicht Höherentwicklung. „Als ob es einen eigenen Erkenntnißtrieb gäbe"! (13/325)
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zu betrachten, das Prinzip der (Selbst-)Erziehung oder, in seinen eigenen Worten, der Wille zur Macht. Beide Aspekte der „Schere" dienen demnach immer demselben Zweck; Diskrepanz bzw. Einheit von Theorie und Praxis sind keine statischen, absoluten Zustandsformen, sondern — und hier zeigt sich die Grenze der Metapher — im zeitlich-dynamischen Wechselspiel aufeinander bezogen: Die „Kluft" wird stets nur dann aufgerissen, wenn es gilt, neue gedankliche Einschnitte vorzunehmen... Eine derartige Schere wäre für vorliegende Untersuchung kaum interessant, sähe man ausschließlich ihre Einschnitte, die tatsächlichen philosophischen wie philologischen Umwertungen: Daß Theorie und Praxis hier unlösbar miteinander verbunden sind, ließe sich an zahlreichen Beispielen belegen, und zwar solchen, die beide Aspekte schon innerhalb des Denkens zusammenbringen456, als auch solchen, die Einheit erst als jene vielbeschworene von Denken und Leben reklamieren457. Allein Nietzsche zeigt eine Vorliebe dafür, im Bewegungsablauf der Theorie-Praxis-Schere kurz vor dem betreffenden Einschnitt innezuhalten, und seine „theoretisch" postulierten Werte markieren oft bloße „Spitzen-Werte", (noch) weit entfernt von den „praktisch" gefühlten. Nun wird dieses SpannungsVerhältnis von ihm selbst bisweilen explizit dargestellt, indem er im selben Atemzug beide Extrempositionen nennt458, oder es ist vom Leser leicht zu rekonstruieren durch Stellenvergleich o. ä.459. 456
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also im selben Gedankengang einen unlösbaren Zusammenhang von körperlicher und geistiger Sphäre z. B. beim Künstler (13/356), beim Frommen (13/438), beim Dekadenten (13/290) konstatieren als „Einheit von Sänger, Ritter und Freigeist" (6/333 f.) so oft beteuert (2./3. 8. 1882 an J. Burckhardt, KGB 6/235; 5. 6. 1882 an F. Overbeck, KGB 6/199), daß sich kurz vor dem Zusammenbruch, wie es G. Colli darstellt (6/452), Nietzsches Denken geradewegs „identifiziert" mit seiner Person. Insbesondere zu beachten wäre die Tatsache, daß freigeistige Erkenntisse nicht nur „mit dem eignen Blut bezahlt" sind (3/289) und entsprechend negative Folgen in der Lebenspraxis nach sich ziehen (2/344), sondern daß die willkürliche Veränderung der Denkweise ab 1876 auch extrem positive, lt. Nietzsche sogar lebensrettende Auswirkungen zeitigt. (Dezember 1882 an H. v. Bülow, KGB 6/290) und zwar im Gedicht (Entflohn die holden Träume, Gedichte, S. 11) wie im philosophischen Aphorismus: „Logische Weltverneinung" ließe mit „praktischer Weltbejahung" sich ebenso vereinen (2/50, auch 13/234; vgl. dazu G. Colli, 13/661) wie gelebter Sensualismus mit einer gegensätzlichen Theorie (3/623); Mut zur „Unmoralität der That" sei geradezu Voraussetzung für den Moralisten (13/453)... Vgl. schon den meisterhaft in der Figur Jacques, des Fatalisten, gestalteten Widerspruch zwischen „objektiver" Weltauffassung und gefühlsmäßiger Humanität. z. B. dasjenige zwischen gewollt heroischer Einstellung zum Leben" und seinem tiefen Leiden daran (lt. R. v. Schirnhofer, in C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, 2/269). S. auch seine Propagierung von Maske und Lüge, die das Verhüllte nur noch deutlicher hervortreten läßt (G. Colli, 6/458), seinen Kampf schließlich gegen Metaphysik und Erkenntnistheorie, obwohl sich Ansätze zu beiden in seinem eigenen Denken — und sehr weitreichende Ansätze bisweilen! — problemlos nachweisen lassen. Auch bei aller Kritik an einer ahistorischen (z. B. 12/160) oder prinzipiell verneinenden (ab 3/521) Denkhaltung bleibt Nietzsches (z. T.) gegenläufige Praxis stets zu berücksichtigen.
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Problematisch jedoch bleiben dagegen all die Momentaufnahmen seines Philosophierens, die nur die eine Hälfte der experimentell geöffneten Schere zeigen — das theoretische „Thunwollen" —, während die andere, das tatsächliche „Thun" 460 , Empfinden, Denken bewußt ausgeklammert bleibt. Leider sind solche Fälle gerade im Bereich der Urteile über Kunst und Künstler keine Ausnahme; die eingangs zitierte Frage, ob man nicht Goethe als den größten Lyriker empfinde oder zumindest empfinden wolle, steht durchaus repräsentativ für eine „Selbstüberlistungsstrategie" Nietzsches, die sich dazu überreden möchte, die eine Scherenhälfte bereits für die ganze Schere zu nehmen. „Das Eine bin ich, das andere sind meine Schriften" 461 —, eine derart lapidare Begründung dafür, daß er „so gute Bücher" schreibe, erhält seine (unfreiwillige) Pointe erst durch zahlreiche Briefzeugnisse, die jene Diskrepanz zwischen Philosophie und tatsächlichem Leben als durchaus schmerzlich darstellen —, Briefe und -entwürfe, in denen der Schreiber eingesteht, er sei ,,[s]einen Schriften nicht immer gewachsen" 462 und bleibe häufig „in bedauerlicher Weise hinter [s]einen besten Absichten zurück" 463 . Das gilt nun für gewisse Philosopheme, die er in der täglichen Lebenspraxis nicht einzulösen vermag — das „rechtschaffene Kriegführen und FeindseinöW/tf«"464 z. B., namentlich gegen das Christentum (6/275) oder die Frauen 465 —, ja nur allzuschnell bereit ist, um den „Preis von [mitmenschlicher] Liebe" 466 aufzugeben; letztendlich gilt es für seine gesamte Philosophie: Als „ein alter geriebener Moralist der Praxis" 467 steht er oft in krassem Widerspruch zum Immoralismus seiner Schriften, als freier Geist in demjenigen zu einer erbärmlichen Unfreiheit
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Nietzsche weiß hier sehr wohl zu unterscheiden, wie ein Brief an P. Ree dokumentiert (20. 10. 1878, K G B 5/356). 6/298; schon J. Kaftan betont, daß Nietzsche „im persönlichen Verkehr so ganz anders war, als wie er sich in seinen Schriften ausspricht." (Aus der Werkstatt des Übermenschen, in: C. P. Janz, 2/620). Interessanterweise hat D. Borchmeyer jene Schere auch bei Wagner nachgewiesen, dessen Kompositionspraxis sich an alles andere hielte als an die entsprechende Theorie von „Oper und Drama" (mdl. Mitteilung, 26. 6. 1985): Und Nietzsche selbst wirft seinem ehemaligen „Mystagogen in den Geheimlehren der Kunst und des Lebens" (21. 5. 1870 an dens., K G B 3/122) das auch vor (3/617)! November 1882 an Unbekannt (Entwurf), K G B 6/282 28. 5. 1882 an I. Overbeck, K G B 6/196 13/163; dagegen steht eine Reihe von brieflichen Beteuerungen, er sei „ganz und gar nicht gemacht zur Feindschaft": Juli 1883 an E. Nietzsche, K G B 6/416; Juli 1883 an E. Nietzsche, K G B 6/407; 14. 8. 1883 an F. Overbeck (Entwurf), K G B 6/425; 29. 8. 1883 an E. Nietzsche, K G B 6/440). C. P. Janz geht sogar so weit, die stete Propagierung des Kampfes auf eine dahinterstehende Entschlußschwäche zurückzuführen. (Friedrich Nietzsche, 2/248) Nietzsche führte ja zahlreiche Freundschaften mit Frauen, die von allen Seiten rühmend erwähnt wurden. (C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, 2/485, 597) 20. 8. 1880 an H. Köselitz, K G B 6/37 14. 8. 1883 an F. Overbeck, K G B 6/427; s. auch 14. 8. 1883 an I. Overbeck (Entwurf), K G B 6/422; 2/553
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seines „Leibes"468, dessen physiologische Schwäche er durch angebliche Gedanken-Heiterkeit therapiert — bzw. therapieren m// m ; als „untäterischer"470, ja weltfremder 471 , bisweilen geradezu lebensuntüchtiger472 Mensch kontrastiert er zu seiner Philosophie der Tat ebenso scharf 473 wie zu derjenigen der psychologisch hellsichtigen Hinterfragung: „Jeder ist sich selbst der Fernste" (5/248) —, diese Umkehrung des bekannten Terenz-Ausspruchs führt direkt in den Angelpunkt zwischen Nietzsches Willen und seinem tatsächlichen Sein; eine Behauptung wie in „Ecce homo", er habe nie nach etwas gestrebt, nie „einen ,Wunsch' im Auge" gehabt (6/294 f.), darf dagegen als verklärende Selbststilisierung abgetan werden. Ist die Theorie-Praxis-Schere aber einmal als Prinzip der Komplementarität bzw. als Überlebensprogramm erkannt, so können auch literarische Urteile, insbesondere ab 1876, kaum mehr als solche genommen werden. Nicht erst die Bizet-Aufwertung des Jahres 1888 „gehört in das Gebiet des Gewollten" (R. v. Schirnhofer 474 ), schon die frühere Stilisierung Wagners zum „Erneuerer der Kultur" erscheint — wenigstens aus der Perspektive H. Manns 475 — eher „gewollt" als tatsächlich empfunden, und man wird die Liste derartiger Willensakte beliebig fortsetzen können. Vor allem die gewaltsame Hinwen468
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28. 10. 1878 an M. Baumgartner, KGB 5/358; vgl. dazu 27./28. 6. 1882 an L. v. Salomé, KGB 6/213 3. 7. 1882 an L. v. Salomé, KGB 6/216; 18. 12. 1879 an E. Schmeitzner, KGB 5/471; 6/265, 13/629; bisweilen allerdings empört sich seine „große Vernunft" gegen derartige gedankliche „Vergewaltigung" —, beispielsweise gegen die Philosophie des Werdens, die Nietzsche als äußerst gesundheitsschädlich empfindet. (22. 9. 1881 an H. Köselitz, KGB 6/131; vgl. aber auch 25. 12. 1880 an F. u. E. Nietzsche, KGB 6/55) C. P. Janz, Friedrich Nietzsche 1/237; daß er „kein .Mensch der That'" ist, darüber macht er selbst sich ja keinerlei Illusionen (28. 5. 1882 an I. Overbeck, KGB 6/196; s. auch 10. 6. 1882 an L. v. Salomé, KGB 6/203) — Wie eine autobiographische Notiz Nietzsches liest sich die Selbstcharakteristik einer Figur Balzacs: „Ich war kühn — aber nur in der Seele, nicht in den Umgangsformen." (Das Chagrinleder, S. 122) 14. 8. 1883 an I. Overbeck, KGB 6/420; übrigens ist der Philosoph der griechischen Frühzeit — die für ihn ja Ausgangspunkt allen eigenen Nachdenkens und Nachlebens ist — als weltfremd überliefert. (W. Jaeger, Paideia, 1/210 f.) In seiner Schwerfälligkeit und Ungeschicklichkeit (13. 11. 1886 an F. Nietzsche, KGB 6/280) sehnt sich Nietzsche verständlicherweise nach dem Ideal eines tankenden Zarathustras: dessen willkürlich-launenhafte, spielerisch-künstlerische Art des Tanzes ja, so D. Brenig (Sprachlose Kunst in Hofmannsthals dramatischer Dichtung, S. 110 f.), nicht zu verwechseln ist mit dem dionysisch-ekstatischen Tanz, der wohl eher Nietzsches Sache ist: Auch in dieser Hinsicht will er sich nach der Devise „Oberflächlich — aus Tiefe" erziehen — gegen seinen (gleichermaßen metaphorisch zu verstehenden) „Geist der Schwére". (vgl. 4/139 f.) „Ich weiß mich mit keiner Art Realität mehr zu arrangieren. Wenn ich es nicht zu Stande bringe, sie zu vergessen, bringt sie mich um." (15. 1. 1888 an H. Köselitz, KGB 8/231) Hierin gibt er das Gegenbild ab zur Titelfigur von Diderots „Jacques der Fatalist": deren äußerst lebenstüchtige und tatenfrohe Praxis ihrer theoretischen Weltanschauung geradezu Hohn spricht. (Vgl. dazu das Nachwort von E. Sander, S. 349) „Vom Menschen Nietzsche", 1937; zit. nach C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, 2/273 Nietzsche, S. 285
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dung zur epischen Literatur nach dem Bruch mit Wagner mag von anderer als künstlerischer Wertschätzung veranlaßt worden sein; entsprechend sollten die sich steigernden Idealisierungsversuche bezüglich der Person Goethes immer auch als (selbst-)erzieherische Maßnahme gesehen werden — und literarische Wertungen letztendlich als tendenziöse Einseitigkeiten, die auf dialektische Weise gegen andere Einseitigkeiten bewußt ins Feld geführt werden.
c) Dialektik als Zweifrontenkrieg —, ein letztes Mal also gilt es, jene These zu beleuchten, jetzt nämlich nicht mehr: Dialektik als zugrundeliegende Idee von Nietzsches Denken, sondern: als Erscheinungsform derselben, als dialektische Wertungsstruktur, so wie sie sich im Werk konkret nachweisen läßt. Ausfalle gegen die als ebenso „selbstgefällig und kindlich" (6/155) wie pöbelhaft (6/69) empfundene „Dialektik-Trunkenheit" (12/112) wurden oben bereits kontrastiert mit einer gleichzeitigen Hochschätzung der „Dialektiker-Klarheit" (6/265) als „vornehm" (5/28), die der offensichtlichen Abwertung eine dezentere Aufwertung entgegensetzt. Die „zwiespältige" Textlage betonend, konstatieren manche Forscher476 offensichtliche „Züge [...] der dialektischen Philosophie" in Nietzsches Experimentalmethode (F. Kaulbach477); D. Borchmeyer hebt vor allem den „dialektischen Lichtwechsel" in den Wagner-Streitschriften478 bzw. in der allgemeiner gehaltenen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der décadence479 hervor. Nun liegt dieser Tatbestand — Verurteilung der Dialektik bei gleichzeitiger Rehabilitierung — zwar auf der Hand, in den Kopf des Interpreten will er deshalb noch lange nicht. Nach dem bisher Gesagten liegt ihm da näher schon die Frage, ob sich unter der Vokabel „Dialektik" nicht mehrere Begriffe verbergen, ob Angriffe auf dieselbe nicht einem ganz anderen Sachverhalt gelten könnten als Lob- bzw. Verteidigungslogoi. Denn schließlich ist „Dialektik" ein fast so weiter Sammelbegriff wie derjenige der „Philosophie", dessen äquivoke Verwendung im Werk Nietzsches ja repräsentativ steht für einen prinzipiellen Umbegreifungsprozeß.
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aber auch schon Th. Mann, Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, S. 16 Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, S. IX Das Theater Richard Wagners, S. 114 Richard Wagner und Nietzsche, S. 133
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Die Geschichte der Dialektik beginnt spätestens bei Heraklit480 und den Sophisten481, führt über eine völlige Neudefinition innerhalb des scholastischen Denkens in eine Vielzahl „moderner" Verständnisvarianten, die den Terminus, so W. Risse, gerade im 19. Jahrhundert „unter einem Berg von Mißverständnissen fast völlig verschüttete"482. Selbstverständlich kann eine angemessene Erörterung aller seiner Bedeutungsschichten, die sich im „Historischen Wörterbuch der Philosophie" immerhin über 62 Spalten erstreckt, hier nicht vorgenommen werden483; einzig herausgegriffen werden soll Piaton, dessen Auffassung von „Dialektik" fast den theoretischen Hintergrund abgeben könnte für Nietzsches praktische Handhabung derselben: Als Zerlegung nämlich eines (z. B. des in Frage stehenden) Begriffes in seine zwei Seiten484 bzw. als „die aus der Diskussion gegenteiliger Meinungen erwachsene Theorie des Wissens", wie W. Risse die sokratische „Dialektik" definiert485, bildet sie gewissermaßen den Ausgangspunkt seines Denkens in Gegensätzen486, deren innere Dynamik zur Synthese drängt. Jener Vorgang nun ist, formal demjenigen bei Hegel ähnelnd, prinzipiell unendlich487; bei Nietzsche ist er es jedoch, wie gezeigt, aufgrund seiner perspektivischen Vervielfältigung, nicht wegen seiner gestuften Struktur. Solch verstandene Dialektik488, also das leidenschaftliche Bewegen in vielfältigen Antithesen489, nicht etwa nur, um der Widersprüchlichkeit der 480
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wenn auch mehr auf der praktischen Ebene des Denkens: „Alles Geschehen erfolge in Form des Gegensatzes." (zit. nach: W. Capelle, Die Vorsokratiker, S. 140) Man beachte Nietzsches — allerdings einmalige — Gleichsetzung von Sophistik und Dialektik (13/292): Darin faßt er die sophistische Dialektik aber wohl kaum als bloßen Streit um Worte, wie es Piaton andernorts stets versucht. Dialektik, 2/196 Darauf hingewiesen soll nur werden, daß Nietzsches „Erzieher" Schopenhauer die Tradition der aristotelischen Topik „unter dem Titel einer ,eristischen Dialektik'" erneuerte. (W. Risse, Dialektik, 2/196) Phaidros, in: Sämtliche Werke, 2/463 f. Dialektik, 2/164 f. (unter — allerdings recht vager — Bezugnahme auf Piaton, Der Sophist, 2/717) in stetem Hinblick auf das „Doppelgesicht [...], welches alle grossen Erkenntnisse haben" (2/61); zur Auflösung herkömmlicher — „plumper vierschrötiger" (3/628) — und Aufrichtung neuer Gegensätze s. Kap. II.3., relevante Stellen darüber hinaus 2/23, 5/16, 41, 6/51 u. a. Sehr von Nietzsche geprägt liest sich schließlich folgender Passus aus L. AndreasSalomés „Erotik": „Zwei Gegensätze stehen eben, an der Oberfläche unvereinbar auseinanderwachsend, in der Wurzel in tiefster wechselwirkender Zusammengehörigkeit und [...] ergeben, auf ein höchstes umfassendes Verlangen gebracht, den gleichen Sinn." (S. 116) Nietzsche bezeichnet sich ja trotz seiner sonstigen, von Schopenhauer übernommenen Polemik gegen die „schöne grüne Hegelei" (1/423) als „Hegelianer" (3/599), seine „Geburt der Tragödie" als „anstössig Hegelisch" (6/310). S. dazu: Der frühe Nietzsche..., S. 185ff. und keinesfalls bloß ein „Standpunkt der [...] Duplizität", wie H. Akiyama meint (Nietzsches Idee des, großen Stils' S. 109): Dieser wäre ja statisch! Auch in jenem methodischen Vorgehen — das ebensosehr auf rationaler wie auf emotionaler Ebene (3/414 f.) zu beobachten ist — scheint Nietzsche dem „Freigeist" L. Sterne verwandt (vgl. Tristram Shandy, S. 646).
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Welt Genüge zu tun, oder gar, wie E. Bertram meint, um sich als „typisch Zweideutiger" zu präsentieren 490 , sondern vielmehr, um über sämtliche Gegensätze hinaus zu einer Höherentwicklung zu gelangen 491 —, solch „dialektische Strenge" ist auch für Nietzsche „ächt philosophisch", nämlich das notwendige Pendant zum „ausgelassenen" Gedanken-Experiment (5/147). — Sieht man seine gleichzeitigen Angriffe gegen „Dialektik" daraufhin noch einmal durch, so wird man feststellen, daß sie sich in der Tat keineswegs gegen diese selbst so souverän gehandhabte Praktik richten, daß sich hinter einem abfällig verwandten Wort „Dialektik" in der Tat ein anderer Begriff verbirgt, als der soeben explizierte: wenngleich kein individuell umbegriffener, denn eine Gleichsetzung mit „Logisiren", wie sie Nietzsche vornimmt (13/327), ist durchaus traditionell. Damit aber ist „Dialektik" in polemischen Passagen nicht mehr als ein anderer, meist pejorativer Ausdruck für Logik, für „Vertrauen zur Vernunft" (12/352) überhaupt 492 —, pejorativ deshalb, weil nur instinktives Handeln von Stärke und Gesundheit zeuge 493 , während die „Selbstentwicklung einer kalten, reinen, göttlich unbekümmerten Dialektik" immer bloß „ein abstrakt gemachter [...] Herzenswunsch" des Philosophen sei, reine Maske emotionaler „Eingebungen" 494 . Dialektik demnach als „Instinkt-Ablösung" 495 , sprich: als „eine Form der Ermüdung" (13/228) einerseits, als unverzichtbare Struktur allen Erkenntnisstrebens andrerseits —, Nietzsche scheint auch in diesem Punkt ebenso ein décadent zu sein wie „dessen Gegensatz" (6/266). Décadent, weil natürlich gerade er auf die Macht logischer Argumentation vertraut (d. h. auf sie „hereinfällt", anstatt seinen Instinkten „blind" zu gehorchen); dessen Gegensatz, weil er in selbsterrichteten, instinktiv postulierten Antithesen abseits vorgegebener begrifflicher Strukturen denkt, auf seine spezifische Weise die Dialektik handhabend: und zwar ebenso im Frühwerk — Apollinisches vs. Dionysisches, „Idealismus" vs. Lebensbejahung (6/311) — wie in der zweiten Schaffensphase, deren oft zitierte Antithetik von Wissenschaft und Kunst
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außer in dessen bezeichnenderweise als „Versuch einer Mythologie" angelegtem NietzscheBuch! Zur Widerlegung des Klischees s. Kap. I Gerade deshalb empfiehlt er ja dem Jüngling, der sich zum Mann entwickeln solle, „den Andersdenkenden" mehr als „den Gleichdenkenden" (3/221). Vgl. 3/537: „WiderspruchVertragen-Können" als „hohes Zeichen von Cultur" „meist": denn selbstverständlich ist die pejorative Tendenz nicht ungebrochen, „Dialektik" kann auch als frei-geistig (13/248) oder wissenschaftlich (im Sinne einer psychologisch feinfühligen Detail-Philosophie) empfunden werden (13/268, 324). vgl. 13/330, 5/403 5/18 f. (vgl. 12/107, 203) - und zwar selbst dann, wenn sie, die Dialektik, alle Affekte auszuschließen vorgibt! (13/311) 13/272 - und Instinkt-„Auflösung" (13/288)
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versöhnt wird im Ideal eines „Doppelgehirns"496; das Spätwerk schließlich ist geprägt vom Widerspiel zwischen dem (hinabziehenden) „Schwergewicht" der Ewigen Wiederkehr und dem (aufwärts ziehenden) Ideal des Übermenschen497. Konstitutiv für alle drei Phasen ist dabei, wie bereits dargestellt498, das Kategoriendenken Gut/Schlecht bzw. Stark/Schwach und ein damit verknüpfter Zweifrontenkrieg gegen nahezu jede herkömmliche Antithese: gegen Determinismus/teleologische Weltsicht499 ebenso wie gegen Optimismus/Pessimismus500, gegen Moralismus/Nihilismus (12/126) wie Idealismus/Realismus501 usw.502, desgleichen gegen Leidenschaft/Objektivität503, abgespiegelt im Kampf gegen Lyrik bzw. Drama. Kehrseite des Zweifrontenkrieges aber ist die direkte oder indirekte Unterstützung beider Seiten, die Liebe zu Licht und Schatten, wie sie Nietzsche in der metaphorischen Rahmenerzählung des zweiten Nachtrags zu „Menschliches, Allzumenschliches" bekennt (2/538); und in jener Eigenschaft als liebender Gegner504 zieht er die dialektische Denkstruktur nicht selten bis in die Betrachtung des Einzelphänomens hinein, akzentuiert dessen positive Seite ebensosehr wie seine negative: So also, wie (laut H. Mann505) fast „jede seiner Erkenntnisse [...] Ergänzung im geraden Gegenteil" findet, so schlägt seine „Wertung bei der Beschreibung eines und
Etliche Aphorismen sprechen von der stets aufs neue zu bewältigenden „Aufgabe, die einander widerstrebenden Mächte von Kunst und Wissenschaft zur Eintracht [...] zu zwingen". (2/228; vgl. S. 209) Allein schon jene wiederkehrende, leider bislang nicht adäquat zur Kenntnis genommene synthetische Tendenz der sogenannten „zweiten Phase" widerlegt das Klischee einer einseitigen, angeblich von „Menschliches, Allzumenschliches" bis zur „Fröhlichen Wissenschaft" dokumentierten „Wissenschaftsfreundlichkeit" (bei gleichzeitiger „Kunstfeindlichkeit"). — Vgl. Anm. 50 497 bzw. zwischen diesen beiden und seiner „Gegenbewegung" (12/462), dem „normalen" resp. „höheren" Menschen, dessen Ewige Wiederkehr ja Zarathustras schwerster Gedanke ist (4/ 270 ff.)! 498 und im Abbreviaturstil definiert zu Beginn des „Antichrist": „Was ist gut? — Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? — Alles, was aus der Schwäche stammt." (6/170) Genaueres s. Kap. II.3. 499 12/386, 12/383 f.; s. dazu Spaemann/Löw, Die Frage Wozu, S. 194ff. 500 dazu bereits Th. Mann, Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, S. 19; zur produktiven — triadischen! — Funktionalisierung der Antithese vgl. 2/375 501 12/235, 300 502 Weitere „Zweifrontenkriege" wären diejenigen gegen Masse und Individuum (12/280), Regel und Ausnahme (3/432). - Auch Lust und Leid (3/240, 4/402, 12/96), Wachsen und Vergehen (12/468), Lüge und Wahrheit (2/646), Einsamkeit und Geselligkeit („du mußt wieder ins Gedränge", 13/552; vgl. Zarathustras pendelnde Gesamtentwicklung) sieht Nietzsche in ähnlicher Verschränktheit, in den angeführten Quellen freilich nicht in einer solchen, deren beide Seiten bekämpft, sondern gefördert werden. 503 s. dazu Kap. II.2. 504 4/58; vgl. obige Ausführungen über Liebe und Verachtung 505 Nietzsche, S. 299
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desselben Sachverhalts [zumeist] in ihr Gegenteil um" (D. Borchmeyer506): Bei der Analyse von Metaphysik507 ebenso wie bei derjenigen von Moral,508 bei der Betrachtung des Christentums509 wie bei derjenigen deutscher Kultur 510 usw.511 —, immer fühlt sich Nietzsche „zwiesam im eigenen Wissen" (6/390), sieht (mit Vorliebe aus teleologischer oder schichtspezifischer Perspektive) selbst „die Kehrseite der Dinge als nothwendig" (12/519), d. h. er %n>ingt sich zumindest zu einer solchen Sichtweise. Beide Aspekte der für ihn so typischen dialektischen Vorgehensweise — also die Frontstellung gegen %wei polare Tendenzen wie die je „interne" dialektische Betrachtung — finden sich ganz ausgeprägt in seinen literarischen Wertungen wieder: Erstere beispielsweise, wenn er gleichermaßen Goethe angreift wie die bisherige Kritik an ihm (dem Fall Wagners entsprechend512), wenn er Hölderlin geradezu verurteilt (11/257) —, aber seine Verurteilung durch die Philologie des 19. Jahrhunderts nicht minder (1/171 ff.). Die zweite, „interne" Art von Dialektik, natürlich bei vorherrschender Trennung beider Logoi durch (Text-)Raum oder Zeit kann letztlich in der Beurteilung aller für Nietzsche wichtigen Autoren festgestellt werden. Und auch die anderen Formen dialektischen Argumentierens, wie sie in diesem Kapitel dargestellt sind, lassen sich in seinen literarischen Urteilen nachweisen: Dialektik als experimentelle Extrembewertung (der Prosa Wielands513), als gewaltsame XX Nietzsches Wagner-Kritik, S. 210 507 die er als Wissenschaft abwertet, „welche von den Grundirrthümern des Menschen handelt" (2/40), doch zwei Aphorismen später, unter historischer Perspektive, als „grösste Förderung der Menschheit" preist (2/41); vgl. dazu auch G. Colli, 13/655, 659 508 Trotz grundsätzlichem lebenslangem Krieg gegen dieselbe bekundet er „tiefste Dankbarkeit für das, was die Moral bisher geleistet hat" (12/206), als „das große Gegenmittel gegen den [...] Nihilismus". (12/211; vgl. S. 277, 5/53, 6/98; zum „schlechten Gewissen" 5/323, 326) 509 „Christenthum ist Piatonismus für's ,Volk'" — das wohl, aber immerhin: „Mit einem so gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten Zielen schiessen." (5/12 f.) S. auch die schichtspezifische Teil-Aufwertung des Christentums in 13/232 wie den „Antichrist" generell, dessen radikale Abwertung der Kirche mit einer genialen Aufwertung der Person Jesus' gekoppelt ist. Zum Protestantismus s. 3/604 f. und 12/484 510 2/508, 6/41, 103 511 Die Liste wäre beliebig fortzuführen, über „Armut, Demuth und Keuschheit" (12/108 f.), Arbeitsamkeit (12/48) und Wissenschaftlichkeit (3/614 f., 12/470; 5/134 bei gleichzeitiger Berücksichtigung von 14/361) bis hin zu Verbrechen (12/477), Krieg (2/289) und zur Bewertung verschiedener Gesellschaftssysteme (2/306, 13/256) bzw. Kulturstufen (2/634, 675; 3/595, 5/120 f.): An „allen grossen geistigen Mächten" sieht Nietzsche „neben ihrer befreienden Wirkung auch eine unterdrückende". (2/218). 512 zur Struktur von Nietzsches Doppelkritik vgl. Spaemann/Löw, Die Frage Wozu, S. 204 f. 513 Innerhalb einer Spanne von wenigen Seiten findet man die beiden konträren Wertungen: „Wieland hat besser, als irgend Jemand deutsch geschrieben" (2/599) und: „A: ,Die deutsche Prosa ist noch sehr jung: Goethe meint, dass Wieland ihr Vater sei.' B: So jung und schon so häßlich!" (2/593 f.) Der Widerspruch löst sich insofern, als die Tendenz des letztgenannten Aphorismus nicht gegen Wieland, sondern gegen die deutsche Sprache gerichtet ist (Nietzsche kokettierte
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Auseinandersetzung (mit Romantik generell 514 ), als Versuch der Selbstüberwindung (in Richtung auf das Ideal „Goethe" 515 ), als Angriff auf geliebte Autoren (vor allem auf Schiller und Hölderlin 516 ), als Verachtung in der Liebe (zu Heine517), als Starkmachen antipodischer Naturen (wie Keller oder Stifter 518 ), als Theorie-Praxis-Schere schließlich, wenn man Nietzsches abfallige Äußerungen zur Lyrik vergleicht mit seiner (un-)gebrochenen Liebe zu ihr, wie sie sich Zeit seines bewußten Lebens dokumentiert in zahlreichen Gedichtniederschriften. — Bei der Beschäftigung mit all den dialektischen Strukturen und den daraus hervorgehenden Auf-, Ab- und Umwertungen gilt es freilich nicht zuletzt stets zu berücksichtigen, daß es ihm wie manch anderem „Autor eben [mitunter allein] auf den Einwand ankommt, und dass Manches in ihm [seinem Werk] zu lesen ist, was nicht gerade darin geschrieben steht." 519
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bekanntlich in späteren Jahren damit, er schreibe im Grunde zu gut für das Deutsche): Selbst Wielands elegante Diktion wirke im internationalen Vergleich (vor allem mit deren Vorbild, dem Französischen) „häßlich". — Eine solch weitreichende Umwertung richtet sich natürlich gegen G. G. Gervinus, der die „Gallicismen" der Prosa Wielands ebenso scharf verurteilt wie ihre gleichermaßen altkluge wie frühreife, jedenfalls „zügellose Geschwätzigkeit". (Geschichte der Deutschen Dichtung, 4/267 f.) Gleichfalls als „glatt", „einschmeichelnd", „leichtsinnig" und „schlüpfrig" geißelt sie übrigens Nietzsches Lehrer A. Koberstein (Grundriss der Geschichte der deutschen Nationalliteratur, 4/138); sein Urteil steht stellvertretend für dasjenige seiner Zeit. s. Kap. III.3. s. dazu Kap. IV.2. u. 3. Hierunter fallen auch die weit heftigeren auf Schopenhauer oder Wagner, die allerdings die „interne" Ambivalenz des Urteils wahren. (2/370, 3/206ff., 456, 6/12, 38, 46, 125) Trotz aller offensichtlichen Bewunderung von dessen Sprachbeherrschung — und berücksichtigt man die Begeisterung des Schülers Nietzsche für den „prachtvollen Stil" F. v. Gaudys (März/April 1859 an W. Pinder, KGB 1/55), eines Autors, der von der Literaturgeschichte O. v. Leixners in die „heinisierende Schule" eingereiht wird (S. 856), so sind frühe Notizen, die Heine als „Urvater des schlechten Stils" anprangern (7/598), als „Palimpsest" zu lesen —, trotz einer sich steigernden Bewunderung also von dessen sprachlicher Meisterschaft, verachtet Nietzsche den Menschen Heine als Lügner (7/657) und Schauspieler (11/84): Beides Vorwürfe, die in gleicher Weise gegenüber Wagner erhoben werden! Ist die Parallele aber erst einmal gezogen, dann setzt sie auch dem stilistischen Lob Grenzen: Frühzeitig geäußerte Kritik an „Hans Wurst"-artiger Virtuosität und mangelnder Einheit (7/595, 8/281) weist bereits auf die spätere Charakteristik aller decadence-Kunst; das kaum verhohlene SelhstXob, „dass Heine und ich bei weitem die ersten Artisten der deutschen Sprache gewesen sind" (6/286), zielt damit vornehmlich auf die dekadente Hälfte (6/266) der eigenen Person. Im übrigen dienen gerade Äußerungen über Heine nicht selten als „fließende" Wertungen (s. u.), polemisch eingesetzt als Mittel zum K a m p f f ü r (im Frühwerk) bzw. gegen (im Spätwerk) deutsche Kultur und Sprache. Das soll Nietzsches (was den Künstler Heine betrifft) völlig aus dem Rahmen der zeitgenössischen Literarhistorie fallende Wertung allerdings nicht grundsätzlich in Frage stellen. i e $? n a ' l e romantische Kunst, insbesondere gegen Wagner 2/455, vgl. S. 497: „Verehrung in zehn Puncten und stillschweigende Nichtbilligung in anderen zehn" ist für Nietzsches Literaturrezeption nicht untypisch! S. dazu auch 3/193 f.
Fließende und feste Wertungen
5. Fließende und feste
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Wertungen
Eine derart mehrschichtige „Experimentalphilologie", deren einzelne literarische Urteile z. T. lediglich tentativen Charakter haben, nicht dagegen denjenigen tatsächlicher Umwertungen, soll im folgenden noch auf einer weiteren, trügerisch den Eindruck der Trittfestigkeit vermittelnden Textebene begangen werden, derjenigen von „fließenden" bzw. „festen" Wertungen. Ausführungen über Nietzsches egozentrisches Leseverhalten, seine Verfremdung von vorgegebenen Sachverhalten, insbesondere Zitaten, führten bereits früher zu dem Schluß 520 , daß präsentische Argumentationsmotive oft in beträchtlichem Ausmaß die grundsätzlichen Perspektiven überlagern, daß seine „festen" Meinungen zu bestimmten Autoren oder Werken bisweilen unter einer schillernd fluktuierenden — „fließenden" — Wertungsoberfläche liegen: aus rein rhetorischen oder Gründen des Kontextes scheinbar nicht nur verdeckt und verborgen, sondern vorübergehend geradezu „vergessen", aufgegeben zugunsten ephemerer Argumentationsstrategien. — Der Schein jedoch trügt; und schon in meiner damaligen Untersuchung galt es Oberfläche von Tiefe zu scheiden, bloß „fließende" von „festen" Meinungen 521 ; hier gilt es, den Ansatz ein wenig zu vertiefen.
a) „Mihi scribo" 522 ? Solche und ähnliche Briefzeugnisse, in denen die „monologisirende Art" seiner Schriften 523 beschworen wird, sind keine Seltenheit, man möchte meinen, Nietzsche mache aus der Not schlicht eine Tugend, wird er doch bis zu seinem geistigen Zusammenbruch kaum rezipiert. Aber ebenso der umgekehrte Schluß, er mache aus einer Tugend eine Not, hat seine Berechtigung —, eine Not sogar noch für den Interpreten, wie sich aus folgender Überlegung der „Fröhlichen Wissenschaft" ableitet: Diese Genie's [wie z. B. Schopenhauer — o d e r Nietzsche!] konnten nicht über sich hinausfliegen, aber sie glaubten sich v o r z u f i n d e n , wiederzufinden, w o h i n sie auch n u r flogen, — das ist ihre .Grösse'!" (3/292 f.)
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Der frühe Nietzsche, S. 51 Genaueres zu diesem Abgrenzungsversuch in meinen Ausführungen zum „frühen Nietzsche", Kap. II.; Nietzsche bevorzugt selbst solch plastische Klassifikationen, spricht neben „unschuldiger und schuldiger Musik" (3/207), „warmen und kalten Tugenden" (3/215) auch von „tröpfelnden" und „fließenden" Denkern (8/418). 26. 9. 1875 an H. Romundt, K G B 5/116 11. 8. 1875 an E. Schure, K G B 5/107
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„Widersprüche" bei Nietzsches Beurteilung deutscher Literatur
Der Selbstdenker, gefangen in seinem eignen Gedankensystem 524 , seinen „Perspektiven", könne auch bei der Betrachtung anderer nur „Jedem das Seine geben" (4/88), nämlich nicht das, was speziell jenem zukomme, sondern das, was er eben jedem gebe —, Züge seines eigenen Denkens, seiner eigenen Persönlichkeit: „Wie wollte ich gerecht sein von Grund aus! Wie kann ich Jedem das Seine geben! Diess sei mir genug: Ich gebe Jedem das Meine." (ebd.) Eine derartige, von der oben genannten fundamental verschiedene Einsamkeit, eine existentielle im Gegensatz zu einer solchen, in der man sich „bloß" vom „sozialen Gespräch" 525 ausgeschlossen fühlt — „ich bin die Einsamkeit als Mensch" (13/641) —, führt zwangsläufig in eine Rezeptionshaltung, die nichts eigentlich rezipieren mehr kann aus eigner Uberfülle. Mündet in eine Verschlossenheit gegenüber Leseeindrücken, die sich allein auf theoretische Weise noch zu öffnen weiß im „Seufzer des Erkennenden" über sein „Alles begehrendes Selbst, welches durch viele Individuen wie durch seine Augen sehen [...] möchte". (3/515) Spätestens damit aber wird die „Tugend" eigener Gedankenfülle zur „Not", für die sich Nietzsche durch die „Habsucht" eines „auch die ganze Vergangenheit noch zurückholenden Selbst" (ebd.) zu entschädigen sucht, kulminierend in der euphorischen Autosuggestion des Zusammenbruchs, „daß im Grunde jeder Name in der Geschichte ich bin" 526 . Die so berühmt gewordene Dokumentation eines allerletzten, allerdings alles andere als „freigeistig" gewählten Perspektivenwechsels liest sich wie ein erschütterndes, in Komplementärfarbe übermaltes Armuts-Zeugnis. Jene grundsätzliche Ambivalenz kennzeichnet natürlich insbesondere die Beschäftigung mit Literatur und Literaten — „man sei auf der Hut, wenn ich Namen nenne" (14/525) —, die aufgrund der proteushaften Vorliebe Nietzsches, aus allen Masken zu sprechen, immer auch als Selbst-Beschäftigung verstanden sein will; und vorgeschobene Namen wie „zufällige Realitäten" (6/315), die lediglich „das Wörtchen ,ich"' zu umgehen suchen (6/327), von den Fällen zu sondern, wo er sich zumindest bemüht, einer historischen Persönlichkeit gerecht zu werden —, das ist die oben angesprochene Not des Interpreten 527 . 524
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„System" hier keinesfalls im engen Wortsinn verstanden; auch ein organisches System, selbst ein solches aus „größter Umfänglichkeit der Seele, die je ein Mensch gehabt" (13/639), hat freilich seine Grenzen, wie im Schluß-Abschnitt über „Perspektivismus" gezeigt. (Kap. 1.4.) Ein Terminus von Zeitungswissenschaftlern wie H. Wagner oder H. Starkulia; er umfaßt alle Kommunikationsbeiträge jenseits der rein privaten. 6. 1. 1889 an J. Burckhardt, K G B 8/578; wie eine ironische Abspiegelung dieser Position mutet die des Erzählers in G . Grass' Roman „Der Butt" an. (S. die entsprechende Interpretation v o n G . Stern, Der Butt as an experiment in the structure of the novel, S. 52) A u f g r u n d solch theoretischer Überlegungen erscheint sie vielleicht größer, als sie es de facto ist. Um jedoch nicht jede literarästhetisch relevante Äußerung Nietzsches bereits für seine tatsächliche Meinung zu nehmen, muß die „Not" zunächst einmal verspürt werden.
Fließende und feste Wertungen
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Ehe das hier angeschnittene Problem der Maske resp. dasjenige der Demaskierung freilich in seiner ganzen Breite vorgelegt werden kann, gilt es, die These vom monologisierenden Charakter literarischer Wertungen auszutarieren durch eine Ansicht, die sich bereits in Zusammenhang mit Nietzsches schichtspezifischem Schreiben dargestellt findet. Dort nämlich wurde der dialogisierende Impetus seiner Schriften betont, und wenn man berücksichtigt, daß adressiertes Sprechen kein Widerspruch sein muß zu einem monologisierenden Denken, da es gewissermaßen letzteres nur marktgerecht zubereitet, dann können beide Thesen weiterhin nebeneinander bestehen. Wie aber sieht ein dialogisierender Monolog in der (literarischen) Praxis aus? „Nietzsche, im Großen und Ganzen von eiserner Consequenz, ist im einzelnen ein gewaltsamer Stimmungsmensch", charakterisiert L. v. Salomé ihren damaligen Freund im Tautenburger Tagebuch für P. Rèe 528 , und das mag manch hervorstechende, d. h. (aus dem Rahmen seiner sonstigen kulturkritischen Anschauungen) herausfallende Bemerkung der Notizbücher erklären. Nicht jedoch Passagen der veröffentlichten, insbesondere der frühen Werke, in denen Autoren lobend erwähnt oder zitiert werden, die ansonsten scharfer Kritik ausgesetzt sind. „Man umarmt aus Menschenliebe bisweilen einen Beliebigen", scheint sich Nietzsche durch einen Spruch aus „Jenseits von Gut und Böse" für derartige „Schwächeanfalle" (s. o.!) zu entschuldigen (5/102); spontane Literatur(mes)allianzen wären demnach von den grundsätzlichen nicht anders zu unterscheiden als „Sonntags-" von „Alltags-Werthen" (12/252). Allerdings sind solch qualitative Sprünge seiner ästhetischen Urteilskraft mit emotionaler Sprunghaftigkeit allein nicht mehr zu erklären; daß der Wechsel von festen zu fließenden Urteilen durchaus Methode hat, wurde bereits früher hinlänglich erwiesen 529 : Auch Nietzsche gehört eben zu jenen „Männern, welche ihren [zukünftigen] Ruhm nöthig haben", und die deshalb „Verbündete und Freunde nie mehr ohne Hintergedanken" wählen (3/ 401 f.) — als wechselnde Mittel ihrer (dauerhaften) Absichten. Tarnung bzw. Ausschmückung der letzeren kann Grund genug sein, einen befehdeten Autor kurzfristig zu rehabilitieren 530 ; die Suche nach einem zeitgemäßen, möglichst als Klassiker kanonisierten Verbündeten oder der Versuch, eigenes Ideengut indirekt zu verbreiten hinter einem Anschein zitierfreudiger Wissenschaftlichkeit, zeitigt bisweilen unerwartete Früchte ...
528 Friedrich Nietzsche, Lou von Salomé, Paul Ree. Die Dokumente ihrer Begegnung, S. 181 529 S. „Der frühe Nietzsche", Kap. II.l 530 „Um eine Wahrheit zu entdecken, die er in diesem Augenblicke dringend braucht", muß also nicht nur der Teufel, sondern auch der „Antichrist" Nietzsche „eine Wahrheit opfern, die er in diesem Augenblicke nicht braucht." (A. P. Gütersloh, Die Fabel von der Freundschaft, S. 65)
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„Widersprüche" bei Nietzsches Beurteilung deutscher Literatur
Die Hauptrolle namentlich des Zitats im „Bühnenspiel" des Selbstdenkers (3/402) decouvriert sich hinter der Bühne, dort, wo es um das eigentliche Selbstdenken geht, als eine durchaus nebensächliche; sie gehört ins Ensemble rhetorischer Figuren, über deren polemisch brillantem Einsatz Nietzsche zu keinem Zeitpunkt sein Hauptanliegen vergißt. Demzufolge können funktionsbedingte Ab- oder Aufwertungen von Autoren niemals auf der Ebene „unabhängiger" Urteile 531 gelesen werden —, so etwa die willkürliche, im übrigen durch G. G. Gervinus 532 angeregte Uminterpretation von Winckelmanns Lebenslauf ins Fast-Tragische 533 und seines Wesens ins Heidnische 534 , die nur die „Stumpfheit" der Deutschen bzw. damaliger Philologen im Auge hat, nicht Winckelmann selbst. Derselbe Autor muß ja, was seine Deutung der Antike anbelangt, fundamentale Kritik über sich ergehen lassen —, und zwar eine ausnahms- und pausenlose. 535 Nun erfahren andere Autoren eine solche ebenfalls, und weit heftigere als Winckelmann; diesen betreffend ist jedoch selbst die Kritik bloß Mittel zum Zweck: der Postulierung eines eigenen Kulturideals wie vor allem der Camouflage einer tieferliegenden Hochschätzung des Autors als immerhin eines „Wegweisers jenes wahren deutschen Geistes" 536 , die Nietzsche geradezu in Verteidigungsstellung gehen läßt: „Socrates, um es nur zu bekennen, steht mir so nahe, dass ich fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe." 537 Kritik an diesem wie jenem ist also — im Sinne der oben explizierten Befehdung des Geliebten — primär ein Mittel, sich selber zu behaupten 538 . Ja, wenn sogar eine so zentrale Lehre wie die von der Ewigen Wiederkehr lediglich als „Mittel der Züchtung und Auswahl" zu verstehen ist 539 — als Mittel eines alles dominierenden Steigerungsgedankens
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Zwar gibt es sie lt. Nietzsche sowieso nie, es lassen sich jedoch immerhin gewichtige Gradationen von „Abhängigkeit" des Urteils festmachen. Geschichte der Deutschen Dichtung, 4/392; daß Nietzsche viel von Gervinus übernommen hat, den er in Schulpforta zu studieren hatte, wird sich im weiteren Verlauf der Arbeit immer wieder zeigen. 1/183, 724 8/53, 75 1/129, 6/159, 7/176, 238, 11/140, 235, 424, 627, 682, 13/132, 140, 235; als „Führer und Wegweiser jenes wahren deutschen Geistes", sprich: als Person wird Winckelmann andrerseits zu den „großen Genien" und „himmlischen Geschenken" gezählt (1/723): ein weiterer Hinweis auf Nietzsches (in Kap. IV. 1. untersuchten) „umgekehrten Biographismus". 1/723; s. Anm. 535 8/97; fast wie die Fortsetzung des Gedankenganges mutet eine Notiz des Jahres 1881 an, in der sich Nietzsche nach (begeisterter) Lektüre eines Werkes von Emerson („Essays") mit den Worten ermahnt: „Ich darf es nicht loben, es steht mir zu nahe." (9/588) Die Frage ist natürlich, ob Kritik je etwas anderes will oder sein kann. — S. auch R. Low, Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 196 ff. 12/343; auch diese Notiz zum „Willen zur Macht" legt eine Prävalenz des Ideals vom „höheren Typus" über die (nur als „Schwergewicht" dagegen gehaltene) Ewige Wiederkehr nahe.
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—, dann wird die sekundäre Rolle en passant eingestreuter literarischer Wertungen 540 offensichtlich: Niemals reiner Selbstzweck (wie in der wissenschaftlichen Philologie), sind sie Teil eines umfassenden Gedankengebäudes, ohne das auch dessen Bausteine kaum adäquat zu verstehen sind. — „Bausteine" bzw. „Gebäude": Nietzsches Philosophie des Werdens ist nämlich gar nicht so bewegt, wie sie sich gibt, entwickelt sich, besonders ab dem „Zarathustra", mehr in die Breite bzw. Tiefe, als „tatsächlich" —, und insofern haben viele Autoren und Werke im Grunde relativ fixe Plätze in seinen Argumentationsstrukturen, die bloß einmal, durch den Bruch von 1876, ins Rutschen geraten. Abgesehen davon aber ist ihm fast jeder literarische Fall, der ihn näher beschäftigt, ein feststehender, mit der Zeit ins Formelhafte verkrustender Modellfall und
b) jeder Autor ein Typus: „Zuletzt kann niemand aus den Dingen, die Bücher eingerechnet, mehr herauslesen, als er bereits weiss" (6/300) —, wenn nicht sich selbst als Ganzes (s. o.), so doch zumindest gewisse Ansichten, die er in das scheinbar nur rezipierte Werk, und gewisse Eigenschaften, die er in den Autor desselben hineinprojiziert: Diese im „Ecce homo" vorgetragene Einsicht trifft auf Nietzsche (wegen der gerade dargestellten geistigen Barrieren jeden Selbstdenkers) fast noch stärker zu denn auf den normalen Leser; des letzteren wie insbesondere des ersteren „Verehrung" bestimmter Schriftsteller 541 , „löscht die originalen, oft peinlich-fremden Züge [...] an dem verehrten Wesen aus — sie sieht sie selbst nicht." (6/202) Sieht stattdessen, was sie eben sehen kann — bzw. will\ —, und „erdichtet" sich solcherart „den grössten Theil des [Lese-] Erlebnisses" (5/114) wie auch des dahinterstehenden Autors 542 . Nun beklagt Nietzsche jenen produktiven Aneignungs- und Verfremdungsprozeß 543 nicht etwa — einen Prozeß im übrigen, dem die weit prinzipiellere Verfälschung jeden Sprechens bzw. Schreibens ja vorangeht —, sondern empfindet es
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„sekundäre Rolle": für Nietzsche; ihr „beiläufiger" Umwertungscharakter läßt sie für jeden seiner Leser, einschließlich des wissenschaftlichen, Eigenwert gewinnen. im Falle Nietzsches natürlich vor allem diejenige bis 1876 „Immer erfinden und erdichten wir erst den Menschen, mit dem wir verkehren — [und um wieviel mehr erst einen, von dem wir nur lesen — ] und vergessen dann sofort, daß wir ihn erfunden und erdichtet haben." (6. 2. 1884 an Frl. Simon, K G B 6/476) Sein „ungewöhnliches Adaptionsvermögen" (C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, 1/432), ist damit weniger als Einfühlungsvermögen zu verstehen, als Fähigkeit, sich in fremdes Gedankengut hineinzudenken, denn als eine solche, jenes Fremde umzuinterpretieren in ein Eigenes, also: dieses zu adaptieren —, nicht etwa sich selbst.
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„Widersprüche" bei Nietzsches Beurteilung deutscher Literatur
geradezu als sein „schönstes Vergnügen [...], die Dinge in's Ideal zu heben"544. Nicht allein Demokrit ist es, den er sich auf diese Weise „ganz neu reconstruirt"545; im Grunde wird jede historische Persönlichkeit unter der Optik monumentalischer Vergangenheitsbetrachtung „in's Schöne umgedeutet" (1 / 262), „zurecht gemacht"546, wenn nicht gar: gefälscht547, und zwar unter der Optik eines „vergrößernden und abrundenden Auges"548. Denn ebenso wie „unsere Begriffe [...] von unserer Bedürftigkeit inspirirt" seien (12/97), so auch die literarischen Werturteile, die „im Grunde die an uns wahrgenommenen Veränderungen" erfaßten, mehr nicht549. Jene Veränderungen spiegeln sich z. T. überdeutlich in Nietzsches Idealisierungstendenz, die jedes „Gestirn" des Kulturhimmels als (vorübergehenden) Orientierungs-, wenn nicht Leits t e r n " betrachtet (3/359): bewußt in Distanz von sich rückt, um sich mit seiner Leuchtkraft messen zu können, um sich von seinem Licht empor\titen zu lassen550. Bestes Beispiel: der „Begriff,Goethe'" (13/634). Die Technik des Hinterfragens, die im Falle der Ablehnung unbarmherzig die „allzumenschlichen" Abgründe eines Autors auslotet, wird also im Falle der Zustimmung ergänzt durch eine der Erhöhung: Sie „sieht namentlich sofort Vieles hinzu, um das Gegenwärtige zu vervollständigen und zur ganzen Wirkung zu bringen."551 Eine derart beschönigende Abrundung wird jedoch 544 545 546
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2/519; das schließt die Behandlung seiner Gegner natürlich ein (3/265)! 9.12. 1868 an E. Rohde, KGB 2/350 Wenn andere allerdings nach derselben Methode verfahren — beispielsweise die Wagnerianer mit der Person Wagners (6/21) —, dann gilt ihm das als Selbstbetrug und psychologische Plumpheit, die er nicht müde wird anzuprangern. Denn einzig das Ziel rechtfertige die Täuschung, und dasjenige der Wagnerianer ist in seinen Augen selbstverständlich verwerflich! und zwar nach der offen ausgesprochenen Devise, daß, „wo ich nicht fand, was ich brauchte, es mir künstlich erzwingen, zurecht falschen, zurecht dichten musste". (2/14; s. dazu die Ausführungen in Kap. II.6.) — Wenn seine „Fälschungen", vor allem in brieflichen Mitteilungen, die ja, lt. M. Montinari, der Natur der Sache bzw. angeschriebenen Person entsprechend von jeher „gezielte Täuschung, zuvorkommende Rücksichtnahme, gewollte Provokation" sind (Vorwort zur Kritischen Studienausgabe der Briefe, 1/IX, vgl. Nietzsches Briefentwurf an die Mutter, 26. 10. 1888, KGB 7/268), wenn also solch „Erdichtungen" von A. Verrecchia z. T. minutiös nachgewiesen werden — gegen Nietzsche, so ist mit ihm doch immer noch zu fragen: Was bringt das — außer einer neuen Fälschung? 2/531; damit hatte schon einer der ersten Leser Nietzsches, G. Brandes, keine geringen Probleme: Vieles in den reifen Büchern verstehe ich noch nicht recht, [schreibt er am 3.4.1888 an Nietzsche,] Sie scheinen mir oft ganz intime, ganz persönliche Data umzudeuten oder zu generalisiren und geben dem Leser einen schönen Schrein ohne den Schlüssel, (zit. nach A. Verrecchia, Zarathustras Ende, S. 61) 12/98; das zitierte Fragment handelt über Erkenntnis von Dingen allgemein, kann aber — wie alle anderen derartigen Passagen — auf die Erkenntnis literarischer Sachverhalte mühelos spezifiziert werden. Darüber hinaus dient Distanzierung, wie zwei Aphorismen der „Fröhlichen Wissenschaft" detailliert ausführen, auch stets dem Objekt der Verehrung, das solcherart seine Größe zu wahren weiß. (3/388, 425) 3/305; dieser Aphorismus empfiehlt im übrigen beide Vorgehensweisen.
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meist nur unter einer einzigen Perspektive vorgenommen —, und ganz entsprechend konzentrieren sich die negativen Kontrastbilder auf den „springenden Punkt": Dessen ausschmückende Ergänzung ist damit bloße Kehrseite einer vorangegangenen umfassenden Reduktion 552 ; jeder habe nicht mehr als „Eine hohe Eigenschaft", versichert ein Aphorismus der „Morgenröthe", „über den Rest seines Wesens — es ist fast alles Rest! — gleitet [der] Blick verächtlich hin." (3/300) Auch der Blick Nietzsches konzentriert sich auf die „in die Augen springende Einzelheit, welche den Eindruck bestimmt" (3/ 247), und erweist sich damit als derjenige eines „Denkers: das heisst, er versteht sich darauf, die Dinge einfacher zu nehmen, als sie sind." (3/504) Keinesfalls aus reiner Bequemlichkeit; im vereinfachenden „Hervorheben des Typischen" (12/226) und anschließenden „Ausdichten zum Ähnlichen, Gleichen" demonstriere sich vielmehr die „Entwicklung der Vernunft" (13/ 334), deren Vergröberungstendenz geradezu (über-)lebensnotwendig sei: Allein durch gewaltsames Rubrizieren würden die Dinge „für uns berechenbar". Nietzsches literarische Schlagworturteile sind folglich unmittelbarer oder mittelbarer Ausdruck seines Willens zur Macht, hervorgegangen aus einer, so H. Pfotenhauer553, auf Reizvokabeln ausgerichteten Rezeptionshaltung, die in Werken wie Autoren lediglich (nachträgliche) Belege einer umfassenden Kulturkritik sieht: „Ich bediene mich der Person nur wie eines starken Vergrösserungsglases" (6/274), d. h. als Mittel, um einen allgemeinen Sachverhalt besser darstellen zu können. Diesen auf den Begriff zu bringen heißt für ihn buchstäblich, den entsprechenden (Repräsentanten-)Namen dafür zu finden, den „Prototypen"554 einer Eigenschaft oder eines Verhaltensmusters zu benennen: „Man kann einen guten Theil der andren Musiker in den Begriff Brahms subsumieren", schließt die zweite Nachschrift zum „Fall Wagner"555, — und jenem Rezeptions verhalten haftet nicht nur etwas Ahistorisches, sondern (wie B. Noll nahelegt 556 ) geradezu etwas Apriorisches an. Daß Nietzsche in seinen literarästhetischen Darstellungen entsprechend wenig Raum für individuelle Besonderheiten einräumt, läßt somit sich begrün552
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Nietzsches Reduktionslogik ist ja auf allen Ebenen nachweisbar, auf rein sprachlicher (s. Kap. II.3.) ebenso wie auf lebenspraktischer (24. 10. 1880 an F. u. E. Nietzsche, K G B 6/51), und mündet am Ende in eine Rückführung aller Phänomene auf den Willen zur Macht. Nietzsche als Leser Baudelaires, S. 139 W. Kaufmann, Nietzsche, S. 85 6/48; indem hier Brahms als Sammelbegriff für eine ganze Reihe von Musikern verstanden — und entsprechend mit allen anderen geistesgeschichtlichen Größen verfahren wird, ohne zwischen diesen wiederum durch „Aehnlichseherei und Gleichmacherei" vermitteln zu wollen (3/511), läßt sich die Gleichung „Jeder Autor ein Typus" auch in der anderen Richtung lesen: Jeder Typus ein — ein einziger! — Autor. Nietzsches literarische Urteile befassen sich also niemals nur mit dem jeweils konkret im Blickpunkt stehenden Künstler..., und dies verdeckte Hauptanliegen seiner Kulturkritik schlägt natürlich auf die Künstler zurück! Das Wesen von Friedrich Nietzsches Idealismus, S. 43
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„Widersprüche" bei Nietzsches Beurteilung deutscher Literatur
den durch ein vorrangiges Augenmerk auf den Typus, auf „MenschheitsSorten"557, deren überhistorische Konstanz stillschweigend unterstellt wird 558 . Nun hat der junge Nietzsche ja eine unbestreitbare Vorliebe für große einzelne, für Ausnahmemenschen von Homer559 bis Wagner; mit seinem (pädagogischen!) Interesse am Typus, insbesondere am „höheren", gerät er jedoch zusehends in die Notwendigkeit, auch die Regel rechtfertigen zu müssen560: Denn ohne Regel kein Typus. Bezeichnenderweise löst er die scheinbare Aporie dadurch, daß er die Ausnahme zur Regel erklärt, nämlich zu einer wünschbaren, deren Prototypen als Leitbilder für zukünftige Generationen aufgerichtet werden. Das „ ,individuum' [ist] ein Irrthum" 561 : Eine solch „klassische" Grundeinsicht, nicht von allzuferne an das antike Erziehungsprinzip erinnernd, das niemals vom einzelnen ausgeht, sondern von der Idee des Menschen562, solch radikale Ablehnung von Originalitätsstreben563 und (modernem!) Individualitätsbewußtsein564 ist also verantwortlich für den in zunehmendem Ausmaß hervortretenden simplifizierenden und schematisierenden Zug seines Denkens —, im vorliegenden Fall: seiner Ansichten über Literatur. Noch einige Worte zur Kategorisierung, wie sie mittels einer extrem gehandhabten Analogiebildung betrieben wird: „Krämer, Christen, Kühe, Weiber, Engländer und andre Demokraten" (6/139 f.) —, bei derart marktschreierisch anmutenden Aufzählungen handelt es sich trotz allem niemals um reine Rhetorik. Vielmehr ist ein gemeinsames, hypertrophisch vergrößertes Merkmal, das als je dominierend begriffen werden soll, verantwortlich für die ungewöhnliche Zusammenstellung: in vorliegendem Fall das utilitaristisch557 Der Begriff fällt in einem Brief an E. Nietzsche. (20. 5. 1885, KGB 7/52) 558 3/32: in erstaunlichem „Gegensatz" zu Nietzsches sonstiger Philosophie des Werdens! 559 Im Falle Homers hält er den einen großen Dichter sogar in seiner Antrittsvorlesung gegen den Stand der Wissenschaft aufrecht, die mehrere Verfasser der unter seinem Namen überlieferten Epen nachwies: „Homer als Dichter der Ilias und Odyssee ist nicht eine historische Überlieferung, sondern ein ästhetisches Urteil". (III/169) — Auf diesem Weg noch weitergehend, „destilliert" er aus Schopenhauer und Wagner „eine Art Einheit"! (19. 2. 1888 an G. Brandes, KGB 8/260) 560 Und so, wie er das Ganze über das einzelne zu stellen sich zwingt (12/54), die Regel über die Ausnahme (z. B. 12/56), so erwägt er sogar, die von ihm bevorzugte „heroische" Geschichtsbetrachtung durch eine sozialgeschichtliche zu ergänzen. (2/461 f.) 561 12/349; damit zusammenhängend Nietzsches vielfache Polemik gegen den Subjektbegriff, etwa 12/398: „Das .Subjekt' ist ja nur eine Fiktion". 562 vgl. dazu W. Jaeger, Paideia, 1/14, 19 563 gerade auch im künstlerischen Bereich! (S. 2/604, 609, 618: „Vornehmheit der Convention"!) Nietzsches diesbezügliche Ansichten knüpfen an die Tradition der Weimarer Klassik an. (Genaueres s. Kap. III.3.) — Vgl. deren weitere Fortführung bei R. Spaemann („Originell sind wir [...] nur in bezug auf das Falsche", zit. nach R. Low, Leben aus dem Labor, S. 223); überhaupt scheint es sich um eine lange abendländische (insbesondere vom Christentum geprägte) Tradition zu handeln. 564 3/592 f., 2/443
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verweichlichte „größte Glück der größten Zahl", ein demokratisch-gleichmacherisches Glücksverständnis, wie es für den Herdenmenschen bezeichnend sei." Die monumentale Historie täuscht durch Analogien" (1/262); Nietzsche selbst beschreibt sein Verfahren der „geistigen Einmagazinirung" (13/67 f.) im charakteristischen Abbreviaturstil der Notizbücher folgendermaßen: D a s Material der Sinne v o m Verstände zurechtgemacht, reduzirt auf g r o b e H a u p t s t r i c h e , ä h n l i c h g e m a c h t , s u b s u m i r t u n t e r V e r w a n d t e s . A l s o : die U n deutlichkeit u n d das Chaos des Sinneseindrucks wird gleichsam
logisirt.
(12/395)
Typologisches Denken demnach als praktische Konsequenz einer sensualistisch anmutenden Erkenntnistheorie. Und indem sich die je spezifische Typologisierung mit allen anderen verbindet zu einer regelrechten Typenlehre — neben dem „Typus .freier Geist'" 5 6 5 und dem als „Übermensch" besser bekannten „höheren Typus" 5 6 6 konstatiert Nietzsche sogar so befremdlich wirkende Sammelbegriffe wie „Typus J e s u s ' " 5 6 7 , „Typus Gottes" (13/ 225) oder gar „Typus Mensch" 568 —, indem er damit auch im rein Geistigen seiner Vorliebe für Kastenordnung 569 frönt, müssen seine festen Werturteile zwangsläufig erstarren zu einem (dualistischen) Werteschema570: Und seine induktive Aphoristik erweist sich als die (formale) Maske eines deduktiven Denkers, dessen alles beherrschende Kategorien ihm nicht nur überraschende Einsichten ermöglichen, sondern deren etliche verhindern. „Stereotype Wiederholung von Phrasen", wie sie schließlich seine fortschreitende Umnachtung indiziert 571 , ist folglich nicht mehr als die konsequente „Weiterentwicklung" eines Geistes, der sich bereits im Spätwerk zusehends verfangt, ja gefangen setzt in den Maschen einst selbstgestrickter Erkenntnismuster. Zwischen ihm und dem Gegenstand seiner Lektüre stehen, wie H. Pfotenhauer in einer Untersuchung über „Nietzsche als Leser Baudelaires" zeigt, oft „Vorbehalte und Idiosynkrasien wie eine Schutzmauer" 565 566
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20. 7. 1886 an H. Köselitz, K G B 7/212 explizite Gleichsetzung in 13/191; eine lapidare Definition des oft mißverstandenen Begriffs gibt 13/317. (Das hierin aufgestellte Ideal „coordinirter" „Complexität" kann als weiterer Einwand gegen die landläufige Perspektivismus-These genannt werden.) 13/237, 6/199, 201 ff.; vgl. damit den „Typus .Christ' " (13/161): Als ob die Etikettierung als „Christ" nicht schon typologisierend genug wäre! 13/220: Spätestens in solchen Wendungen wird eines der beiden Substantive wirklich redundant! Vgl. Nietzsches „Familien-Typ", wie er in einem Brief an die Schwester charakterisiert wird (7. 2. 1886, K G B 7/147). Man beachte die offene Bewunderung für das Gesetzbuch des Manu, das eine Dreiklassengesellschaft statuiert. (6/242 u. a.) 13/265 f., d. h. Stärke vs. Schwäche, Tragisches, vs. Christliches, J a vs. Nein etc.; zu dessen Anwendung im literarästhetischen Bereich s. K a p . III.5. C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, 3/156, 154; darunter auch — rein zufällig? — das Goethesche „mehr Licht"!
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(S. 141) —, eine Schutzmauer wohl insofern, als jede vereinfachende Interpretation, jede philologische „Farbenblindheit" zwar den Erkenntnisraum eng begrenze, auf der anderen Seite aber „ein reicheres Sehen und Unterscheiden" im Detail gewährleiste (3/262). Nietzsches vielgerühmte Rezeptionsbeflissenheit wäre somit allerdings weniger „bereitwillige Einfühlung" in Neues und Andersgeartetes, wie H. Pfotenhauer ausführt, sondern weit eher „Kampf um Selbstbehauptung" und „Jagd nach Bestätigung für eigene Vorurteile"572. Als zwei mögliche Strategien des Widerstandes gegen einen Autor, der sich dem binomischen Wertungs-Zugriff zu entziehen droht, kennt er bereits diejenige des Verschweigens (H. Pfotenhauer573) und die der „dramaturgisch raffinierten Manipulation der Fakten" (D. Borchmeyer574), die über Vereinfachung575 und Vergrößerung576 (als die zwei grundsätzlichen Verfahrensweisen seiner literarischen Kritik) weit hinausgeht. Man mag diese systematische Perspektivenverengung nun als Zeichen der décadence interpretieren, wie es der von Nietzsche eifrig studierte E. Scherer tut577, oder (im Sinne der TheoriePraxis-Schere) als „allzumenschlichen" Hintergrund einer im Grunde unmenschlichen Favorisierung ständigen Perspektivenwechsels: Hofmannsthals Aufzeichnung des Jahres 1891 — „Nietzsches Philosophie verführt wie Poesie: sie individualisiert Allgemeines in willkürlichen historischen Personen"578 — ist in jedem Falle auch zu lesen als: Seine Philologie verführt wie Poesie, sie individualisiert eine übergreifende Kulturkritik in marionettenhaft herbeizitierten Autoren, deren jeder einzelne ein von ihm „vollkommen zu Ende gedachter und ausgearbeiteter Typus Eines Triebes"579 bzw. Charakteri-
572 Nietzsche als Leser Baudelaires, S. 126 573 a. a. O., S. 141; oder warum sonst fehlen die Namen der deutschen Romantiker in seiner globalen Romantik-Kritik fast ganz —, obwohl er sich zumindest in Schulpforta mit den entsprechenden Texten nachweislich beschäftigte? 574 Nietzsches Wagner-Kritik, S. 211 575 Das von G. Colli hinsichtlich der Spätschriften konstatierte „Bedürfnis, seinen Feind [...] zu vereinfachen, die Polemik auf ein einziges Angriffsziel zurückzuführen" (6/451), trifft m. E. — nicht zuletzt wegen der oben geschilderten inneren Ambivalenz seiner Freund/Feind-Strukturen — auf Nietzsches Auseinandersetzung mit Literatur generell zu. 576 Entsprechend generalisierbar (allerdings nicht bezüglich des Satzbaus) halte ich H. Manns Feststellung: „Damit er [Nietzsche] Gegenspieler haben und sie bekämpfen darf, vergrößert der Vereinzelte, Vereinsamte ihren Wuchs, sie wären unzulänglich." (Nietzsche, S. 281; vgl. dazu 3/265 und 12/573) 577 Etudes sur la littérature, 8/S. III: „Le livre est jugé sur une page [...]; vous avez rencontré un Anglais, vous nous direz comment ils sont tous". Beide Phasen sind hier angesprochen, diejenige induktiver Urteilsgewinnung und die der deduktiven Verabsolutierung. 578 21. 10. 1891; Gesammelte Werke, Bd. 2168, S. 338 579 3/203: Das Zitat bezieht sich zwar nur auf Napoleon, das darin bezeugte Interpretationsverfahren jedoch ist als Nietzsches „Methode" in allen Fällen dasselbe.
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stikums ist: „Wagner resümirt die Romantik" 580 —, nach derart generalisierendem Muster ordnen sich sämtliche kulturellen Erscheinungen dahinterstehenden Ideen zu, und zwar hierarchisch. Baudelaire beispielsweise, dessen Bedeutung für Nietzsche jedenfalls als nicht so zentral anzusetzen ist wie diejenige Wagners, gerinnt ihm während der Lektüre zum ,,R[ichard] W[agner] ohne Musik" (11/476), er repräsentiert also seinerseits wiederum den Repräsentanten der decadence, letztere demnach nur mit gewissen Abstrichen, wohingegen der „Meister" selbst immer als ihr „Typus" 581 schlechthin propagiert wird. Als ebensolche Grundtypen fungieren in Nietzsches Vorstellungswelt u. a. Luther (12/271), Pascal (13/220), H. Taine 582 oder Rousseau 583 , der als angebliches Urbild allen Moralismus die entscheidenden Konturen abgibt für die spätere Karikatur Schillers als „Moral-Trompeter"! Aber auch literarische Figuren, beispielsweise diejenige Don Quixotes 584 und insbesondere die des Tartüff 585 , dienen als Vorlagen seines typologischen Denkens, allerdings bleibt es hier im Rahmen des allgemein üblichen Sprachgebrauches 586 , faßt dessen Bedeutungsspielräume allenfalls weiter 587 . Auf eine ausführlich schon referierte Eigenart seines Philosophierens, sein dualistisches Kategoriendenken, weist dagegen ein anderer (wenngleich nicht bloß bei ihm) zum Schlagwort verformelter Begriff: Gemeint ist die dem Schluß des „Faust" entnommene Wendung vom „Ewig-Weiblichen", die — der Prägung Goethes gleichermaßen konträr wie seiner zeitgenössischen Verwendung — als Formel „des idealisirten Sklavensinns" (12/22) rein abwertende Bedeutung gewinnt. Die Aneignung des Terminus kommt damit einer glatten Umkehrung seines
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(13/133) — also eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung, die zumindest z. T. erst von dessen Person abstrahiert wurde; Nietzsche deutet Wagner somit gleichermaßen als Urbild wie Repräsentanten derselben. Zum Problem der zweiphasigen Meinungsbildung (Induktion und anschließende Deduktion) s. „Der frühe Nietzsche...", S. 216 10. 12. 1888 an F. Avenarius, K G B 8/518 19. 5. 1887 an E. Rohde, K G B 8/76 2/651: Der Vorwurf an die Deutschen, sie hätten sich eine „Idealfigur" aus ihm „erdichtet", schließt Nietzsche natürlich ein (wenn auch seine „Erdichtung" in wesentlichen Punkten von derjenigen seines Jahrhunderts abweicht). Von ihr leitet sich der in Notizen und Briefen häufiger auftauchende Terminus „Don Quixoterie" ab (z. B. 12/569). „Tartüfferie" — ein Begriff, der mit einer derartigen Penetranz angewandt wird (allein in Bd. 12 auf den Seiten 49, 204, 349, 356, 412, 422, 438, 497), und zwar nicht nur in seiner Bedeutung als moralische (5/164; Mai 1884 an M. v. Meysenbug, K G B 6/504), sondern auch als wissenschaftliche (12/204) oder ästhetische Heuchelei, daß er sich bereits auf der Ebene der Nietzsche-Interpretation auszubreiten beginnt (z. B. bei M. Montinari, Zu Nietzsches Begegnung mit Lou Andreas-Salomé, S. 18). Bereits bei L. Sterne ist „Tartüfferie" als ein vom literarischen Original unabhängig verwandter Begriff nachweisbar (Tristram Shandy, S. 403, 635) und im zeitgenössischen Büchmann — ebenso wie „Don Quixoterie" — gar als „geflügeltes Wort". bis hin zur „Gerechtigkeits-Tartüfferie der Impotenz" (5/407)!
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Inhaltes gleich 588 — derjenigen der berühmten Schlußverse von „Faust II" vergleichbar 589 —, und Nietzsche rühmt sich entsprechend als „der erste Psycholog des Ewig-Weiblichen"590; im gedanklichen Spannungsfeld von „Stark" und „Schwach" repräsentiert ihm der „Feminismus" natürlich die negative Seite. 591 Daß aber solche Typologisierung von Autoren — und sie geht z. T. so weit, daß Chamfort als „Italiäner" (3/450), Schopenhauer als „englisch" (3/ 453) und Stendhal als eine Mischung aus „Deutschem und Engländer" (3/450) gesehen wird! bzw. werden soll... 592 —, daß die verfremdende Aneignung literarischer Figuren und sogar einzelner Formulierungen kein Einzelfall ist, Ihr geht die Entwertung voraus: Eine Vorstufe zur „Götzen-Dämmerung" bezeichnet das „Ewig-Weibliche" als „bloß imaginären Werth, an den nur der Mann glaubt" (14/412). Selbst die „Blindheit" freilich des Mannes, seine an den Tatsachen vorbeigehende Idealisierung der Frau, sei unter teleologischer Optik — und das ist ja diejenige Nietzsches — zu rechtfertigen: bedinge sie doch über den Umweg der Sublimation die gesamte kulturelle Entwicklung. (Diese Schlußfolgerung wird durch den Spruch der „Götzen-Dämmerung", 6/61, zwar nicht gezogen, um so deutlicher aber nahegelegt.) Die Umwertung beginnt bereits in 5/173. 589 Ni c ht erst mit dem polemischen Gedicht „An Goethe" (3/639), das sich vor allem gegen den ebenso „erschlichenen" wie „verfänglichen" „deus ex machina" der Tragödie wendet, beginnt Nietzsches Faust-Kritik, sie setzt massiv bereits in der dritten „Unzeitgemässen Betrachtung" ein (1/369 ff.): dort übrigens F. Th. Vischers „oft angestimmter Klage, daß Faust [...] es an Mannhaftigkeit und Tatkraft fehlen lasse" (F.Martini, in: F. Th. Vischer, Faust. Der Tragödie dritter Teil, S. 196), durchaus verwandt. Auch die mehrfache Beanstandung von Fausts Himmelfahrt ist derjenigen Vischers überraschend ähnlich, (s. dazu F. Martini, a. a. O., S. 206 ff.).
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Nietzsches Beteuerungen, sein Eindruck von Goethe sei vor allem von dessen epischen Werken bestimmt, müssen als Ausdruck eines für ihn typischen Wunschdenkens zurückgewiesen werden: Denn während er sich mit Goethes Prosa de facto so gut wie nie wirklich auseinandersetzt, zielen seine Reflexionen über „Faust" immer ins Zentrum des eigenen Denkens; schon allein an Zahl übertreffen sie die Bemerkungen über alle anderen Werke Goethes bei weitem. — Die letzte Notiz Nietzsches vor seinem Eintritt in die „große Politik", also in den Wahnsinn — sie beschäftigt sich gewiß nicht ganz zufällig mit seinem übermächtigen, antipodisch konzipierten „Idol" —, spiegelt den Sachverhalt deutlich: Einsetzend mit einem (übrigens sehr „unzeitgemäßen") Hymnus auf die „Löwen-Novelle", kippt sie recht bald um in eine wesentlich differenziertere Kritik an „Faust"! Ein kritisiertes Kunstwerk aber steht Nietzsche bekanntlich ja wesentlich näher als eines, das er lobt... (vgl. die entsprechenden Ausführungen in Kap. II.2.C und II.4.a) 590
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6/305 f.; nicht gan% zu unrecht: Folgt man seinem Gedankengang, so war Wagner „in alten Tagen" durchaus „feminini generis". (6/51, vgl. S. 43) Zum „Feminismus" s. z. B. 6/43, 303, 327, 12/546; zum „Ewig-Weiblichen" 5/171, 6/18, 113, 13/16 u. a.; interessant der von Nietzsche konstatierte Zusammenhang mit der Musik (13/ 42) Allerdings teile ich die Auffassung von C. P. Janz (Friedrich Nietzsche, 2/506) nicht, daß Dostojewski von Nietzsche zum „Haupt der ,Pariser Romanciers'" stilisiert wird; in dem betreffenden Brief an H. Taine vom 4. 7. 1887 (KGB 8/106) wird nur von dem prägenden Einfluß dieses Autors gesprochen. — Die Argumentation mit Nationalitätstypen ist auch außerhalb des Feldes literarischer Wertungen gang und gäbe. Namentlich der „Chinese" — als Formel für den „letzten Menschen" (14/284) — kommt hierbei schlecht weg, natürlich auch Piaton: sei's als „Antihellene und Semit" (13/114), sei's als „Brahmanist" (13/378)...
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zeigt sich vor allem im Briefwerk. Hier nämlich wird ganz ungeniert von „Reealismus"593 ebenso wie von „Cagliostricismus"594 gesprochen; ja die Ideologisierung von Einzelpersonen zu künstlerischen oder gar weltanschaulichen Gallionsfiguren kennt eine ganze Serie derartiger Ismen: von „Berninismus" 595 und „Mussetisme"596 über „Carlylismus"597 und „Pascalisme"598 reicht die Skala bis hin zu „Bizetismus"599 und dem bekannten „Platonismus"600; selbst ein „Zarathustrismus"601 wird vorausgeahnt! Zwar fehlen Begriffe wie „Stifterismus" oder „Kellerismus" in Nietzsches Aufzeichnungen —, nicht jedoch die dahinterstehende Denkfigur. Gerade jene zwei Autoren sind als Leitbilder einer ganzen Kunstrichtung gezeichnet; bisweilen im selben Atemzug genannt (12/454), repräsentieren sie beide den gegenromantischen Typus der Stärke und Fülle602. Allerdings stehen sogar Stifter und Keller nicht bereits für sich bzw. die (repräsentierte) Sache; ihre programmatische Aufwertung muß vielmehr als Teil einer übergreifenden, binomischen Künstlertypologie verstanden werden: Denn der Gegensatz, der alle literarischen Wertungen nach 1876 beherrscht, ist der zwischen Goethe und Wagner (13/411); bis zu den „letzten Erwägungen" (13/644) des Turiner Zusammenbruchs wird jene Antithese nur noch zusätzlich verdeutlicht durch verschiedene andere Namen und damit durch Wertungen (Schillers, Hölderlins, Kleists etc.), die denen des Frühwerks z. t. gewolltermaßen entgegenlaufen. Abgesehen von dieser alles beherrschenden polaren Denkstruktur, die sämtliche unzeitgemäßen Literaturbetrachtungen nach sich zieht, indem sie aus der nahezu existentiellen Not einer unglücklichen Liebe zu Wagner die „Tugend" einer neuen philologischen Methode macht: diejenige psychologisch 593
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Juli 1878 an P. Ree, K G B 5/342; 10. 8. 1878 an dens., ebd., S. 345; selbst der Name Rees in einem Brief an die Schwester (November 1883, K G B 6/452) zur „Gattung" erhoben! — erweist sich am Ende als nicht mehr denn eine der zahlreichen Masken Nietzsches. (6/328) 25. 7. 1882 an H. Köselitz, K G B 6/231; vgl. 13. 7. 1882 an M. v. Meysenbug, ebd. S. 224 9. 9. 1888 an C. Fuchs, K G B 8/415: Nietzsches Bestreben zu klassifizieren äußert sich hier besonders auffallig (nämlich dreifach), schreibt er doch von „einer Art Typus von ,Berni-
n ismus'"!
596 November 1883 an M. v. Meysenbug, K G B 6/454 597 12/537; auch 12/202 spricht vom „Typus Carlyle". 598 12/529, 537 599 als polemischer Gegenbegriff zum „Wagnerianismus" geprägt 600 6/12; jener Terminus hat freilich schon eine jahrtausendealte Tradition; Nietzsches Umbegreifung desselben führt zu einer besonders trügerischen Äquivokation. — Sein Verfahren der Abbreviatur von Eigenschaften und Denkmustern durch historische Namen wird geradezu visuell nachvollziehbar in 13/487: „Moral-Fanatismus (kurz: Plato)" 601 25. 7. 1884 an H. Köselitz, K G B 6/515; insbesondere dieses Briefzeugnis belegt, daß Nietzsches klassifizierendes Denken auch vor der eigenen Personen nicht halt macht: Die Gestalt Zarathustras verkörpert das Ideal des Übermenschen derart überzeugend, daß selbst ihr Urheber dagegen abfällt, d. h. ihr erster Parteigänger zu werden droht... 602 ebd.; die Romantik wird ja immer als Mangelkrankheit diagnostiziert, (z. B. 12/469)
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hinterfragender Typisierung603 —, abgesehen also von der Tatsache, daß keine einzige (Um-)Wertung für sich vorgenommen, sondern in eine Schlachtordnung eingereiht wird, die von Wagner auf der einen, von Goethe auf der anderen Seite angeführt wird 604 , kommt allen erwähnten Autoren vornehmlich die Funktion von Charakter- und Eigenschaftsrepräsentation zu605. Ein derartiges, durch Zuteilung knapper, „treffender" Adjektive sich manifestierendes Reduktionsverfahren ist aber in der zeitgenössischen Literaturgeschichtsschreibung gang und gäbe, ja z. T. direkt von ihr beeinflußt: Wenn in der „Geburt der Tragödie" z. B. Geliert als „ehrlich" und „gut" erwähnt wird 606 , so scheint das nur eine Variation der Etikettierung zu sein, wie sie G. G. Gervinus vornimmt607 —, im übrigen schon ganz in jener leutselig überheblichen Art 608 , die Nietzsches Urteil immanent ist, selbst noch nachdem es einige Jahre später das Vorzeichen gewechselt. Wird dann der „servile Idealismus Gellerts" gerügt (9/369), so bleibt sogar der sanft-vernichtenden Abwertung ein beinahe wohlwollender Unterton zu eigen: Man nimmt Geliert im ausgehenden 19. Jahrhundert einfach nicht mehr ernst.609 Ehrlichkeit ist im übrigen eine Eigenschaft, die für Nietzsche besondere Bedeutung besitzt: Auch Grillparzer (1/182) und Lessing610 werden zu Repräsentanten derselben erkoren, und die entsprechende Hochschätzung des Menseben Lessing bleibt trotz dessen vorübergehender Abwertung als Denker und Künstler immer
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Überraschend ähnlich versucht einige Jahrzehnte später L. Andreas-Salomé, ihre Liebesbeziehung zu Rilke zu bewältigen: durch Postulierung eines binomischen Typenrasters, das den „verdrängungslosen" Kleist ausspielt gegen den „verdrängerischen" Rilke. (Eintragungen, S. 61; s. dazu R. Görner; Über die Kraft der reinen Bewegung, S. 88) Z. T. souverän über die historischen Gegebenheiten sich hinwegsetzend, erhebt Nietzsche — hierin seiner frühen Darstellung des Apollinischen und Dionysischen als logische Konstruktionsprinzipien eigenen Philosophierens gewissermaßen methodisch verpflichtet — Goethe und Wagner zum Gegensatz schlechthin; sein dialektisches Denken bedient sich nur einer anderen Semiotik als im Frühwerk. s. dazu die entsprechenden Ausführungen im „Frühen Nietzsche", S. 33 ff.; eine phasenversetzte Parallele läßt sich in der Literatur selbst beobachten, deren einstmals individuell gestaltete Charaktere im Drama des Expressionismus gern zu Repräsentanten und Chiffren gerinnen. G. Sterns „Prolegomena zu einer Geschichte der deutschen Nachkriegsprosa" sehen jene Tendenz auch in der Literatur nach 1945. (S. 243) 1/92, vgl. 1/630, 7/156 „der gute Geliert" (Geschichte der Deutschen Dichtung, 4/88) Schließlich empfindet er Geliert als „ohne Saft und Kraft" (ebd.). Die relevanten Literarhistoriker sind hier einhelliger Meinung (vgl. W. Scherer, Geschichte der Deutschen Litteratur, S. 401, R. Koenig, Deutsche Literaturgeschichte, 1/326, A. F. C. Vilmar, Litteraturgeschichte, S. 335 f.). — Im übrigen dokumentiert sich in der Rezeptionsgeschichte Gellerts eine zunehmende Abwertung seines Werks bei gleichbleibender Hochschätzung seiner Person —, eine Wertungshaltung, die sich ganz ausgeprägt auch bei Nietzsche nachweisen lassen wird. (s. Kap. IV)
610 | jC)9. (j e r Hinweis, daß Lessing „mehr am Suchen der Wahrheit als an ihr selbst gelegen sei" (ebd.), findet sich in fast allen Literaturgeschichten des Jahrhunderts.
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gewahrt. 6 1 1 Abgesehen von der binomischen Wertungshaltung, die stets zwischen Werk und Verfasser desselben zu unterscheiden weiß, bleibt hier festzuhalten, daß ein Großteil von Nietzsches Äußerungen über Literatur der zeitgenössischen Philologie verpflichtet ist, z. T. bis ins Detail 612 —, und zwar in solchen Fällen, w o er kein spezifisches Interesse empfindet. Zeitgemäße, zur kurzen Formel geronnene Urteile aber, die auf ein dahinterstehendes Desinteresse weisen, müssen trotz ihres teilweise affirmativen Charakters immer als implizite Abwertungen gelesen werden.
6. Kampf als Wettkampf Bevor jene Äußerungen im einzelnen untersucht werden, gilt es eine letzte Überlegung zu Nietzsches Wertungshaltung im allgemeinen anzustellen; und so, wie ein früherer Abschnitt dessen kämpferisch-kriegerische Tendenz darstellte in ihrer Hauptstoßrichtung gegen die eigene Person, so soll hier sein „tatsächlicher" Kampf im Mittelpunkt stehen, derjenige gegen philosophische und literarische Gegner, d. h .für eine eigene Anhängerschaft. Schon der 1867 gehaltene Vortrag „über den Sängerkrieg auf Euböa" streicht die Lust am Wettkampf als wesentliches Charaktermerkmal der Griechen heraus 613 , die „Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern" 614 , 1872 als Weihnachtsgabe für C. Wagner verfaßt, betonen ihn entsprechend. Das neuzeitliche Bild der Antike aber beinhaltet traditionellerweise — und Nietzsche war sich dessen voll bewußt — nicht zuletzt ein kaum verhülltes Selbstbildnis bzw.
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Die Verdikte gegen Lessing, so wie sie sich in den Frühschriften bisweilen finden — z. B. die Kritik an seinem „spitzfindigen, übermässig beweglichen und [...] ziemlich undeutschen" Stil (1/347 f.) — sind meines Erachtens „fließender" Natur: richten sich weit mehr gegen den zeitgenössischen Lessing-Kult (1/181 ff.!) als gegen diesen selbst. Gleichzeitige wie spätere Privatnotizen finden manch positive Seite an Lessing als Erzieher (11/496), Gelehrtem (7/49) und Intellektuellem (8/321) freilich weniger am Schriftsteller (1/80, 608) oder Philosophen (8/222, 9/345). Man beachte, daß selbst der späte Nietzsche Lessing nicht preisgibt, was im Vergleich zu seiner sonstigen Radikalisierung des Urteils durchaus eine (indirekte) Wertung beinhaltet: Das Verhältnis zu ihm ist eben zu keinem Zeitpunkt ein wahrhaft persönliches, sondern von Anfang bis Ende leidenschaftslos-distanziert. Noch am 20. 7. 1888 kann ein Briefentwurf deshalb zu der überraschenden Wendung kommen, daß „die Deutschen Lessing [...] mehr verdanken dürfen, als sie z. B. Goethe verdanken"! (an F. Avenarius, KGB 8/359 f.)
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besonders auffällig bei der Charakterisierung F. Schlegels als „Meister der Romantik" (13/ 495), die auf diejenige als „Koryphäen der Schule" in G. G. Gervinus' „Geschichte der Deutschen Dichtung" (5/554) zurückweist. (Vgl. auch H. Kurz' Bewertung Schlegels als „eigentlichen Repräsentanten" der Romantik; Geschichte der deutschen Literatur, 3/154) vgl. dazu C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, 1/193 insbesondere „Homer's Wettkampf' (1/783 ff.)
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dasjenige eines Ideals 615 , und so taucht das Prinzip des Agons erwartungsgemäß auch in anderem Kontext, eingekleidet bzw. verkleidet in die verschiedensten historischen oder psychologischen Analysen, als das Ureigenste seines Wiederentdeckers auf. Dessen „Heraklitismus" (3/362) richtet sich naturgemäß nicht nur gegen Freunde und Mitmenschen, sondern vornehmlich gegen Konkurrenten in Literatur und Philosophie: Sein Kampf mit den Rivalen um Leser-, sprich: Anhängerschaft wird dabei mit Gesichtsmaske und Florett geführt 616 —, mit der Maske des Selbstschutzes, indem er den jeweiligen Gegner gar nicht erst „genauer kennen zu lernen [strebt], um sich ihm überlegen fühlen zu können" (3/210), mit dem Florett polemischer Sticheleien und Seitenhiebe, um alle ihn bedrohenden Geistesgrößen zumindest in der „Vorstellung herabzusetzen und zu verkleinern" (2/79). „Agonale" Literaturrezeption und -kritik 617 will ja — so L. Andreas-Salomé im Tautenburger Tagebuch — „nicht belehren sondern bekehren" 618 , zumindest will sie beides: „Es ist noch nicht genug, eine Sache zu beweisen, man muss die Menschen zu ihr auch noch verführen" (3/234). Insbesondere auf Diskreditierung anderer großer Erzieher — allen voran natürlich Piaton 619 — muß eine derart agonal ausgerichtete Rhetorik abzielen, da sie den eigenen Absichten und Ideen einfach zu nahe stehen. Aus der Heftigkeit der späten Schillerabwertung spricht dergestalt Angriffslust gleichermaßen wie Selbstverteidigungsbedürfnis ... und in der Verurteilung Heines schließlich als „größten Betrügers" (13/500) klingt kaum verhohlene Bewunderung von dessen „agitatorischer Grazie" mit, wie sie selbst F. Gundolf eingestehen wird 6 2 0 ... Daß im Zuge solch umfassenden Agons Erkenntnis nicht mehr als oberstes Ziel des Denkens (noch weniger: des Sprechens und Schreibens) bewahrt wird, manifestiert sich neben ihrer Subsumtion unter rhetorische Schönheit 621 in einer Reihe weiterer Relativierungen von Ratio und Vernunft: deren
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In beiderlei Hinsicht ist es mehr Abbild als Bild, „ein blanker Spiegel, der immer Etwas wiederstrahlt [sie!], das nicht im Spiegel selbst ist." (2/471) „Ich verstehe mich [...] auf zwei Waffen: Säbel und Kanonen — und, vielleicht, noch auf eine dritte..." ( 1 0 . 4 . 1 8 8 8 an G.Brandes, K G B 8/289): So der späte Nietzsche, dessen hypertropher Wirkungswille nach gröberen Waffen verlangt. Auch H. Pfotenhauer charakterisiert sie mit diesem Adjektiv. (Die Kunst als Physiologie, S. 121) Friedrich Nietzsche, Paul Rèe, Lou von Salomé: Die Dokumente ihrer Begegnung, S. 187 dazu R. Low, Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 196 ff.; W. Jaeger charakterisiert Piaton „als ersten [,der] das Wesen der Philosophie in der Erziehung eines neuen Menschen sah" (Paideia, 1/206) —, während, wie man ergänzen muß, die vorsokratische Erziehungsarbeit noch keinerlei utopische Tendenz aufwies. George, S. 1 1 ; zwar geißelt auch er Heines Sprache als „hybride Mischung [...] verschiedener Stile" — man erinnert sich an die „Hans Wurst Jacke", die ihm Nietzsche überstreifen will (7/595) —, empfindet sie nichtsdestoweniger als „reizend", (ebd.) s. dazu auch 3/61, 4/118
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Ausgangsaxiom, die Prävalenz des Wirkungs- vor dem Erkenntnisinteresse622, läßt Nietzsches Vorstellung der Wahrheit(en) ebenso an einen Wertbegriff gekoppelt erscheinen wie diejenige Goethes. Während letzterer aber jede Einsicht unter dem Gesichtspunkt prüft, ob sie überhaupt wissenswert sei, so fragt sich sein kritischer Bewunderer immer: „Dient sie dem Leben?"623 Nämlich einer Steigerung des Lebens; Wahrheit dergestalt wird, wie R. Low ausführt, „operationalisiert"624 für ein Telos, das Erziehungsideal des „höheren Typus", und der Inhalt aller (theoretischen) „Lehren" bleibt praktischen Zielen — Wirkung auf adressierte Lesergruppen — stets untergeordnet: „Jede Auslegung [von Einzelphänomenen wie von Welt ingesamt] hat soviel Recht, wie sie Macht hat." (W. Müller-Lauter 625 ) Des „Willens Zeuge- und Werdelust" (4/111) also, der vielbeschworene „Wille zur Macht [,] wandelt auch auf den Füssen [des] [...] Willens zur Wahrheit". (4/148) Und eine Vorstufe zu jenem Diktum Zarathustras fahrt fort: „Denn, wenn die Wahrheit sich nicht die Welt neu bauen will — was liegt auch an der Wahrheit!" (14/302). Weitere Abwertungen derselben unter Stolz (4/27 f.) oder Kraft 6 2 6 , ja sogar unter physiologische Zwänge (4/157) und die Forderung, „daß es nicht nur darauf ankomme, wahr zu sein, sondern daß man überdies spaßig sein müsse"627, laufen alle hinaus auf den oben genannten, für das 19. Jahrhundert so bezeichnenden Perspektivenwechsel vom Primat der Vernunft zu demjenigen des Willens: Das Wahre „als die unkräftigste Form der Erkenntniss" (3/469) gilt es nun nicht mehr zu entdekken, allenfalls zu schaffen. 628 Damit aber wird die Sicherheit, die eine rein 622
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Ist das Wirkungsinteresse in Nietzsches Augen freilich ein schlechtes — wie bei Wagner —, so greift er eine solche Haltung als diejenige bloßen Schauspielertums natürlich an. (6/31) Ein Aphorismus von „Menschliches, Allzumenschliches" hält ausdrücklich fest, Philosophie müsse „nützen". (2/48; vgl. 5/18) — Die gleichzeitige Polemik gegen einen derartigen Hintergedanken bei der Beurteilung von Wahrheit (2/191) richtet sich ausschließlich gegen einen falschen Nutzenansatz: denjenigen der „gebundenen Geister", der über den egoistischen Rahmen nicht hinausgreift. Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 126; gegen die Gleichsetzung von wahr und nützlich polemisiert R. Bittner (Nietzsches Begriff der Wahrheit, insbes. S. 82 f.) Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, S. 48; s. dazu auch den schönen Aphorismus 2/ 581 f., der Wahrheit als Funktion übergeordneter Interessen begreift. 2/482; sehr ähnlich A. Gide, der in seinen „Falschmünzern" behauptet, „daß [...] letzten Endes dasjenige für mich wahr wird [...], was mir den besten Gebrauch meiner Kräfte [...] ermöglicht." (S. 170) Dies ein Grundsatz von „Jacques, dem Fatalisten" (Diderot, S. 19), den Nietzsche sich sehr frühzeitig zu eigen macht. Bei ihm heißt es dann z. B.: „Falsch heisse uns jede Wahrheit, bei der es nicht Ein Gelächter gab!" (4/264) Ja er geht bis zu einer völligen Abwertung der „Weisheit" zugunsten der „Narrheit" (4/209). — Selbstredend wurde auch dieser Gedanke in U. Ecos „Der Name der Rose" verwertet (S. 624 und pass.) Solch Umbegreifung von „Wahrheit" — eng gekoppelt an diejenige vom „Wesen der Philosophie" als „Einen Sinn hinein legen" (12/359) — führt zu einer ganzen Reihe trügerischer Äqui vokationen.
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re2eptiv-logische Welterfassung verspricht, als „thierhaft" aufgegeben 629 ; wie im „Systemprogramm des deutschen Idealismus" vorausgeahnt 630 , gibt es bei Nietzsche keine Philosophie im herkömmlichen Sinne mehr, sondern die für einen Denker revolutionäre Selbstverunsicherung: „Gesetzt, wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit?" 631
a) Ungerechtigkeit als Prinzip der Subjektivität Wie eine Antwort auf seine rhetorische Frage nimmt sich da ein Aphorismus aus, der nur wenige Seiten nach der implizit vorgenommenen Abwertung des traditionellen Erkenntnisstrebens seinen Platz fand: Die Falschheit eines Urtheils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urtheil [...]. Die Frage ist, wie weit es lebenfördernd [...], vielleicht gar Artzüchtend ist632. Nietzsche beschränkt sich also nicht etwa auf eine Relativierung des „Wahren" zu perspektivischen Wahrheiten (wie sie schon Protagoras vorgetragen 633 ), sondern wertet es unter dem Primat des Entwicklungsgedankens ebenso grundlegend ab wie „das Gute" 6 3 4 ; ja er geht sogar so weit, zu behaupten, „dass Verzichtleisten auf falsche Urtheile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens wäre." (5/18) In jenem Punkt ist er stets derselbe, seine frühen Ausführungen „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" decken sich mit den letzten zum „Willen zur Macht". Ist allerdings „die Welt, die uns etwas angeht", erst einmal ihres Anscheins positivistisch feststellbarer Faktizität entkleidet und „als eine sich 629
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3/37; die Enttarnung jeder Wahrheit als „menschlich sanktionierter Konvention", als „Wegweiser für praktische Orientierungszwecke" weist gleichermaßen zurück auf „Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" wie voraus auf L. Andreas-Salomés „Erotik" (der die soeben zitierten Wendungen entnommen sind, S. 86). Hölderlin, Werke, 2/648 5/15, ähnlich S. 30 5/18; die Vorstufe dazu in 11/526 f. Indem dieser den Menschen zum „Maßstab aller Dinge" deklariert, spricht er ihn schließlich als Individuum, nicht als Gattungswesen an. (vgl. W. Capelle, Die Vorsokratiker, S. 327) Vom platonischen Schönen, Guten, Wahren bleibt Nietzsche nur das Schöne (wenn auch nicht als Idee, sondern als bloßer Schein); die Reduktion von Erkenntnisstreben und Ethik auf eine ästhetische Position ist bereits in den Frühschriften vollzogen. — Die von W. Schmidt referierte Ansicht P. Klossowskis, das ethische Moment sei im Apollinischen verkörpert, muß hier zurückgewiesen werden. Überhaupt scheint Klossowskis Buch über Nietzsche (Nietzsche und der Circulus vitiosus deus) ja eher eines mit diesem zu sein, wie W. Schmid einräumt, also nur eine weitere der zahlreichen Selbstinterpretationen anhand von Nietzsche! (Was heißt heute philosophisch leben?) — Vgl. die zahlreichen (Selbst-)Aufforderungen „im Ganzen Guten Schönen / resolut zu leben" (beispielsweise im Brief vom 28. 5. 1882 an L. v. Salomé, KGB 6/197) und Kap. IV.4.
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immer neu verschiebende Falschheit" erkannt (12/114), relativiert sich jeder Blick auf äußeres Geschehen zur aktiv verkürzenden (12/17), nämlich auslesenden und zusammenfassenden (12/38) Interpretation desselben: „Alles Wissen ist für Nietzsche Auslegung, alles Wissen um dieses Wissen ist Auslegung von Auslegung" (W. Müller-Lauter 635 ). Damit wird einer schrankenlosen Subjektivität das Wort geredet, wie sie sich im Vergleich einer ZarathustraRede mit Kleists „Gebet des Zoroaster" deutlicher nicht abzeichnen könnte: „Stähle mich mit Kraft [...], mit Besonnenheit und Klugheit", gibt der damalige Redakteur der „Berliner Abendblätter" in der Maske des persischen Religionsstifters am 1. 10. 1810 als programmatische Erklärung ab 636 : „auf daß ich jedem, wie es ihm zukommt, begegne." 637 Fast wie eine bewußte Replik liest sich Nietzsches ebenso grundsätzliches (bereits oben zitiertes Bekenntnis, das er seinem „Sohn" 638 in den Mund legt: „Aber wie wollte ich gerecht sein von Grund aus! Wie kann ich Jedem das Seine geben! Diess sei mir genug: ich gebe jedem das Meine." (4/88) — Erkenntnistheoretisch fundierte Subjektivität also als Antwort auf den das 19. Jahrhundert prägenden Verlust des Glaubens an einen übergreifenden, „objektivierbaren" Sinnhorizont; das Fehlurteil wird zur Regel (2/252), die Selbsttäuschung zur letzten Gewißheit 639 , der Irrtum zum Medium der „Erkenntnis". Freilich nur zum Medium derselben, denn sogar eine „Philosophie des Irrtums" 640 versucht, die unerreichbare Wahrheit zu umkreisen, einzukreisen durch subjektive Wahrheiten, diese verstanden als „unwiderlegbare Irrtümer" 641 . Doch Nietzsches amor fati ist niemals ein rein passiver, und den beengenden Horizont, den seine Erkenntniskritik dem ganzen restlichen Philosophieren zu ziehen droht, transzendiert er mittels qualitativer Potenzierung eben jener Ausgangslage: Die von jedem anderen (nicht zuletzt von Kleist) als schmerzlich empfundene Einschränkung des Erkenntnistriebes wird damit — eine weitere Art „Selbstüberwindung" des Philosophen Nietzsche — umfunk-
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Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, S. 43 nach dem — allerdings nur in der zweibändigen Ausgabe enthaltenen — Kommentar von H. Sembdner (Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, 2/857) Kleist, Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, 3/326 s. Anm. 116; sehr aufschlußreich 13/395: „Man hat einen Sohn nöthig, weil nur ein Sohn erlöst..." u. U. sogar zu einer damit verbundenen Glückserfahrung (4. 8. 1882 an H. Köselitz, KGB 6/235) in notwendiger Folge einer bereits im Frühwerk vertretenen, von Schopenhauer herrührenden „Philosophie des Scheins" Unnütze (13/453) oder gar bewußte (13/492) Irrtümer gelten begreiflicherweise auch Nietzsche als ebenso kraftlos wie feige. Um als indirekte Erziehungsmaßnahmen (August 1881 an H. Köselitz, KGB 6/123) Wert zu erhalten, müssen sie — ähnlich den sogenannten „Widersprüchen" — immer in einer übergreifenden Gesamtstruktur eingebettet sein.
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tioniert zum Ausgangspunkt schöpferisch-„künstlerischen" Denkens642; Zarathustras Seufzer „wie wollte ich gerecht sein!" dynamisiert sich dergestalt zur rhetorischen Frage: „müssen wir nicht auch Betrüger sein?" (2/17) Wird aber die Notwendigkeit des Ungerechtseins einmal zugestanden, ja als Prinzip des Lebens akzeptiert — und dafür finden sich zahlreiche Belegstellen im gesamten Werk643 —, so sucht ein ins Große getriebener amor fati den üblicherweise bloß erduldeten Fälschungsprozeß jeder Urteilsbildung noch zu überbieten, sozusagen durch einen aktivischen „Willen zum Ungerechtsein": „Was man nicht mag, pflegt man gewöhnlich auch ungerecht zu behandeln." (2/74) Aufs deutlichste belegt wird jene Reflexion durch die Person des Reflektierenden selbst, dessen Stärke — die teleologische Denkweise — gleichermaßen seine Schwäche impliziert: Einseitigkeit und Ausschließlichkeit (2/223). All seine Wertungen stehen, wie gesagt, unter dem Diktat des Steigerungsprinzips644, und darunter kann seine antithetische Urteilskraft kaum je sich „für etwas Gutes und Grosses erwärmen, ohne schweres Unrecht nach irgend einer Seite hin zu thun". 645 Der Umgang mit Literatur demonstriert den Sachverhalt aufs überdeutlichste; insbesondere Verdikte und Abwertungen spiegeln — ungeachtet der konstant erhobenen Forderung nach exakter Philologie 646 — häufig lediglich ein triebhaftes Verlangen (3/472), persönliches Leid abzureagieren als „öffentlicher Übelthäter".647 „Ein fader Nachgeschmack bleibt", läßt sich W. MüllerSeidels allgemein gehaltene Betrachtung über literarische Wertungen leider allzuoft auf diejenigen Nietzsches beziehen, „wenn der Eindruck entsteht, daß der in Grund und Boden Verurteilte nur der Anlaß für den Urteilenden war, sich selbst in Szene zu setzen"648, sich also nicht allein zu rehabilitieren, sondern geradewegs zu profilieren. „Jede Vergangenheit" kommt ihm da gerade recht, um „verurtheilt zu werden" (1/269), und der grundsätzlich 642
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Er will seine „feinere Falschmünzerei", wie sie im folgenden dargestellt wird, denn auch als „Kunst" verstanden wissen! (2/14) z. B. 1/269, 2/20, 51 f., 64, 12/37 Folglich sind selbst seine Ungerechtigkeiten niemals desinteressiert und ziellos, wie sie beispielsweise der Protagonist von C. Amerys „Königsprojekt" begeht: im Wissen, „daß er ungerecht war, aber es kam ihm nicht darauf an, gerecht zu sein." (S. 185) 3/253; ein Briefzeugnis stellt den komplementären Sachverhalt dar: „Man thut viel Unrecht, unvermeidlich — aber man hat ja auch die herrliche Gegenkraft, wohlzuthun". (24. 11. 1882 an L. v. Salomé, K G B 6/281) am deutlichsten — wie nicht anders zu erwarten — im Spätwerk, z. B. im „Antichrist" (6/ 233); die Forderung gilt selbstverständlich nur f ü r einen Philologen, als der sich der „werteschaffende" Nietzsche schon lange nicht mehr verstand. (26. 3. 1885 an M. v. Meysenbug, K G B 7/30) 3/254; die Aufgabe des Interpreten von Nietzsches Interpretationen muß also zunächst darin bestehen, letztere auf persönliche Hintergründe zu befragen; literarische Umwertung um der bloßen Umwertung willen ist dem Denken Nietzsches völlig fremd. Probleme der literarischen Wertung, S. 16
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berechtigte Ansatz „kritischer" Historie pervertiert — weniger noch im Früh-, denn im Spätwerk 649 — zur puren Demonstration seines Willens zur Macht. — Jedoch auch in positiver (sprich: aufwertender) Hinsicht gelten ihm gerechte Urteile schlicht als „absurd" (6/129), „Neu-Interpretieren" sei prinzipiell nichts anderes als „Überwältigen und Herrwerden" 650 , d. h. Ausdruck des Willens zur Macht. Vergröberung des Urteils diene dabei einer existentiellen „Nützlichkeit" 651 , denn ausschließlich ein „zurechtgemachter" Text sei „berechenbar und handlich" 652 : „Weise wie ich lieben nur Gespenster" 653 —, Nietzsches vorhin angesprochene Idealisierungstendenz erweist sich somit als weniger auf verklärende Selbsttäuschung abzielend denn auf klärende Gewaltanwendung. Noch bei anderen Autoren — z. B. Goethe und Winckelmann bezüglich ihrer Antikedeutung — wird interpretative Willkür als unphilologisches, ja antiphilologisches Vorgehen in Schutz genommen, das zwar „Alles über alle Maaßen historisch falsch [darstelle], aber — modern, wahr!" (13/140) Verfremdende Aneigung und Aktualisierung diene freilich nicht bloß dem eigenen Selbstverständnis wie der eigenen Epoche, sondern sei der einzige Garant für das Fortbestehen älterer Werke: „Denn nur dadurch, dass wir ihnen unsere Seele geben, vermögen sie fortzuleben [...]. Der wirklich ,historische' Vortrag würde gespenstisch zu Gespenstern reden." (2/431) Wissenschaftlichkeit und ihr Ideal der Objektivität, gegen die sich Nietzsche hier — ausgerechnet in einer „wissenschaftsfreundlichen" Publikation! — abgrenzt, bleiben ihm zeitlebens treffsichere Ziele seiner Polemik; ist das Erleben von Literatur „viel mehr Das, was wir hineinlegen, als Das, was darin liegt" (3/114), ist (scheinbar passives) Lesen in Wirklichkeit ein „Erdichten" 654 , das den Text
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Nietzsches permanente Jugendlichkeit erweist sich gerade in diesem Punkt. — Vgl. die von W. Müller-Seidel im Zusammenhang zitierte Briefstelle Th. Manns: „Junge Leute genießen gern ihr bißchen Gegenwarts-Überlegenheit über das große Alte, und Pietät ist eine Sache der Reife." (a.a.O., S. 16) „Pietät" aber spiegelt sich ausgerechnet in Nietzsches frühen Werken; unter jenem Gesichtspunkt scheint er von Jahr zu Jahr jünger zu werden! 5/314; „daß jedes Interpretieren Willkür ist und dem Text Gewalt antut" —, diese nietzscheanische Position vertritt auch I. Calvino in seinem Roman „Wenn ein Reisender in einer Winternacht" (S. 82). 13/334, vgl. S. 336 13/334: Die Stelle bezieht sich zwar auf die Interpretation von nichtliterarischer Wirklichkeit, aber... es gilt hier das in Anm. 549 Dargelegte. — Schon aus dem urmenschlichen Verlangen nach Berechenbarkeit des anderen erklärt sich Nietzsches auffallige Voreingenommenheit gegen zeitgenössische Autoren: „Das Genie ist am ungerechtesten gegen die Genie's, falls sie seine Zeitgenossen sind" (2/463) —, denn sie sind ihm aufgrund ihrer Größe und Komplexität am undurchschaubarsten! 25. 12. 1882 an F. Overbeck (Entwurf), K G B 6/311 ebd.; in diesem Punkt ist er Kants „Kritik der reinen Vernunft" (ungewollt) verpflichtet; allerdings gilt dessen „a priori" für menschliches Erkennen allgemein, während Nietzsche die je subjektive Verfälschung der Außenwelt betont, (lt. R. Löws Vorlesung zur „Einführung in die Transzendentalphilosophie", WS 85/86, 26. 11. 1985)
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unter Umständen erst erträglich macht (5/56), so muß sich das zeitgenössische Ideal der Objektivität als „Mangel an Willen", als „Unfähigkeit zur Liebe" (12/432), ja als Zeichen von Unvornehmheit (6/109) und abnehmender Lebenskraft 655 entblößen. Aus der Warte der Wissenschaft wiederum erscheint Nietzsches werteschaffende „Macht des philosophischen Blicks", der „die Objektivität allenfalls als Maske" sich vorhält 656 , durchaus problematisch, ist sie, die Wissenschaft, doch an interesselosen ( = dekadenten! 6/133) Wertungen interessiert. Im Gegensatz zur „wählerischen Grausamkeit" der Literaturkritik, die — wie W. Müller-Seidel ausführt 657 — Altes herabwürdigt, um Neues durchzusetzen, verfolgt Philologie keine weiterreichenden Ziele, versucht, den Text aus Verfasserintention und Zeitgeist zu deuten 658 und nicht etwa das eigene ästhetische Vorverständnis zur impliziten Norm aller künstlerischen Produkte zu erheben (H. R. Jauß 659 ). Im Bewußtsein jener unüberbrückbaren Kluft zwischen einer solchen, von Nietzsche als „antiquarisch" verurteilten Historie und seiner eigenen extremen Parteilichkeit im Umgang mit Literatur muß der Einfluß, den seine diesbezüglichen Umwertungen im wissenschaftlichen Bereich ausübten, leicht verwundern. b) Lüge als eine Form der Wahrhaftigkeit Gewissermaßen eine rein graduelle Steigerung der Ungerechtigkeit stellt in Nietzsches Augen die Lüge dar; im „außermoralischen" — nämlich erkenntniskritischen — Sinn gibt es für ihn gar keine andere Möglichkeit der Kommunikation, und sogar die allgemein anerkannten Wahrheiten gelten ihm nur als von Konventionen sanktionierte, gewissermaßen erstarrte Lügen 660 . Die unbewußte Lügenhaftigkeit, die insbesondere Idealisten und 655 656 657 658 659 660
12/59, ähnlich 2/406 6/113, s. auch 13/231 Wertung und Wissenschaft im Umgang mit Literatur, S. 18 W. Müller-Seidel, a. a. O., S. 26 Literaturgeschichte als Provokation, S. 184 f. 1/880 ff.; wie eine glatte Umkehrung der These muß eine Sentenz in Hofmannsthals Drama „Gestern" anmuten: „Lüge wird die Wahrheit, die erstarrt!" (Gesammelte Werke, Bd. 2159, S. 218; vgl. Aufzeichnungen 1891, ebd., Bd. 2168, S. 330) - Allerdings ist das pure „Ineinanderfließen von [...] Wahrheit und Lüge" (Schnitzler, Jugend in Wien, S. 27), wie es für die Wiener Moderne eines der Grundaxiome ihrer Weltsicht abgibt, wie es aber schon als „Grundgedanke" von Calderons Dichtung hervorgehoben werden könnte (s. E. Jünger, Autor und Autorschaft V, S. 58), von Nietzsches vollständiger Reduktion allen Wahrheitsanspruchs auf ihren lügenhaften Kern sorgfältig zu scheiden. Dasselbe gilt für Goethes „Ragout von Wahrheit und von Lügen". (Paralipomena zu Faust I, Gedenkausgabe, 5/546) — Mögliche Einwände gegen Nietzsches Konzeption von Wahrheit (und Lüge) bringt R. Bittner vor. (Nietzsches Begriff der Wahrheit, insbes. S. 71—80)
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Tugendhafte befangen und gefangen hielte in einem „guten Gewissen"661, die aber in ihrer Spielart der Verehrung (bestimmter Kunstwerke wie Künstler) auch für Nietzsche selbst „die hohe Probe der intellektuellen Rechtschaffenheit" darstelle662 —, die grundsätzliche bzw. unreflektierte Verfälschung der Außenwelt663 sei natürlich kategorisch geschieden von der wissentlichen, willentlichen: „Im Bewußtsein der Lüge zu lügen" (R. Low 664 ) sei nämlich nicht allein Zeichen von Tugendhaftigkeit (13/638), und zwar derjenigen unbedingter Redlichkeit665, sondern geradezu notwendige Voraussetzung, die Wahrheit zu reden666. Selbstredend auf indirekte Weise667; und während offensichtliche Überzeugungen als „gefährlichere Feinde der Wahrheit"668 gebrandmarkt werden, erfahren Rhetorik (als kunstvolle Art des Redens)669 wie Kunst allgemein eine ungeheure Aufwertung: „Die Kunst und nichts als die Kunst" — die leitmotivische (Selbst-)Versicherung des späten Nietzsche670 ist auch zu lesen als ein Bekenntnis zum Lügen671, dieses verstanden als „Künstler-Vermögen des Menschen par excellence"672. Freilich wahrt der Terminus „Lügen" eine äquivoke Natur, „zuletzt kommt es darauf an, zu welchem Zweck gelogen wird." (6/239) Erst ein „heiliger" Zweck rechtfertige 661 662
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vgl. dazu M. Montinari, Zu Nietzsches Begegnung mit Lou von Salomé, S. 17 Die Notiz des Frühjahrs 1888 (13/287) ist ganz besonders im Hinblick auf seine frühen Publikationen zu lesen — und eventuell auch mit dieser Blickrichtung geschrieben. — Vgl. Zarathustras Definition der Wahrhaftigkeit als Überwindung des „verehrenden Herzens" (4/ 133)! s. auch 3/223; der „Wahncharakter" aller Vorstellungen gilt L. Andreas-Salomé ganz entsprechend als „Ausweis für den echten Lebenscharakter selbst". (Die Erotik, S. 114) Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 139 also von Nietzsches oberstem Ideal! S. dazu 9/585 und die Ausführungen in Kap. 1.2. „Der Dichter, der lügen kann / wissentlich willentlich, / der kann allein Wahrheit reden." (Gedichte, S. 124) als „dahinterstehende Wahrheit", so wie sie z. B. Ludmilla, die weibliche Hauptfigur in I. Calvinos „Wenn ein Reisender in einer Winternacht", erhofft von der Literatur: Im Gegensatz zu Maraña, der von einer geschriebenen Seite nur Fiktion und Lüge erwartet (S. 289), versucht sie — darin dem „Leser" des Schlußdialogs verwandt —, durch „Löcher und Ritzen" des Textes auf dessen „innere Wahrheit" zu blicken (S. 307). — Vgl. auch ein Diktum von Th. Bernhard: „Ich habe zeitlebens immer die Wahrheit sagen wollen, auch wenn ich jetzt weiß, es war gelogen. Letzten Endes kommt es nur auf den Wahrheitsgehalt der Lüge an." 13/343, vgl. 345 Zur Rhetorik, insbesondere zu Äquivokation und Umbegreifung dieses Begriffs, s. R. Low, Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 40 ff. z. B. 13/194, 521 „Denn wer Kunst sagt, sagt Lüge." (Balzac, Das Chagrinleder, S. 163) 13/520; vielfache Polemik gegen die „auf Lügen-Regenbogen" „herumsteigenden" Dichternarren (6/378; s. auch 4/163 ff.) zielt ausschließlich auf Unwissenheit und Eitelkeit als Kern eines derartigen Lügens. Stets zu berücksichtigen ist dabei, daß sich Zarathustra nicht nur selbst als Dichter bezeichnet (4/163), sondern sogar die Lehre vom Übermenschen als „Dichter-Erschleichniss" (4/164)! Beides, Lehre wie Lehrender, wollen eben nicht Recht haben, sondern Recht behalten (13/345).
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die Lüge (ebd.) — als unschuldiges Mittel673 der Erhaltung und Förderung der Menschheit im Gegensatz zur zerstörenden Lüge (6/245). Nur aufgrund ihres Telos sei sie kein „schlimmes Ding"674, und wenn sich ein Nachlaßfragment des Frühjahrs 1888 fragt: „Welcher Unterschied bleibt zwischen einem Überzeugten und einem Belogenen?", so antwortet es sofort im doppelten Sinne: „Keiner, wenn er gut belogen ist." (13/344) Bewußtwerdung der anthropomorphisierenden Ungerechtigkeit bei aller Erkenntnis und Kommunikation rechtfertige die Lüge somit als aktivierte Form des Irrtums, als gleichermaßen notwendig wie nützlich (13/450) — allerdings bloß insofern sie Teil ist eines umfassenden Wahrheitsstrebens, in Nietzsches Worten: „einet großen Rechtschaffenheit." (13/587) Ist sie es nicht, so erweise sich der Lügner schlicht als unverschämt675 oder bösartig676, sei er nun Inder (13/439) oder Grieche677, sei er Priester (13/433 f.), Antisemit (13/611) oder gar „Genie der Lüge" wie R. Wagner678. Sieht man die entsprechenden Stellen durch, so werden lediglich drei Spielarten des Lügens genannt, die vertretbar erscheinen, z. T. sogar mehr als das; und alle drei finden sich in Aussagen über Literatur wieder: 1. die Lüge aus Liebe679 einschließlich der aus Mitleid680 oder Gefälligkeit681. Insonderheit ein Teil der frühen Kunstkritik sollte in seiner engen Beziehung zur Wagnerliebe jener Jahre gesehen werden als „der freien Erdichtung angenähert" (1 /262), zumindest als einseitig und stilisiert. Daß manch überraschende Umwertung höchst persönliche Ursachen hat, darf indessen nicht gegen sie selbst ins Feld geführt werden. 2. „die Lüge als Supplement der Macht"682, als Ausdruck der Lebensfreude683 ebenso wie konkreter Unterdrückungsmechanismen (13/445): Unter einem derartigen Gesichtspunkt „geht die Philosophie vom Willen zur Macht in
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2/146; unschuldig ist es indessen vor allem als Teil der übergreifenden „Unschuld des Werdens". 13/476: was sie im alltäglichen (Sprach-)Gebrauch natürlich ist! Als „unverschämtesten Lügner" bezeichnet ein Brief an M. v. Meysenbug jeden „innerlich corrumpirten" Menschen wie P. Lanzky. (30. 7. 1887, KGB 8/119) „Moral die bösartigste Form des Willens zur Lüge" (13/603) 23. 2. 1887 an F. Overbeck, KGB 8/28 im Gegensatz zum „Genie der Wahrheit", als das sich Nietzsche im selben Briefe bezeichnet (18. 10. 1888 an M. v. Meysenbug, KGB 8/452; vgl. 13/439) 3/304, 13/299, vgl. 6/148 Diese Art der Menschenliebe ist nicht nur Zarathustras, sondern zeitlebens auch Nietzsches „grösste Gefahr". (4/233) 26. 10. 1886 an F. Nietzsche (Entwurf), KGB 7/268 13/439, 12/273: Schließlich sei Lügen „sehr anstrengend" (12/274), also Kraftsache. 13/194; Lügen also gewissermaßen als „Spieltrieb im außerschillerschen Sinne"!
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die Philosophie der Lüge über", meint G. Colli 684 ; und sicherlich prägt letztere viele der späten literarischen Abwertungen... (s. Punkt 1) 3. „die erzieherische Lüge" (12/202); insofern Erziehung zunächst einmal Selbsterziehung meint, diese aber nichts anderes als Machtausübung gegen sich selbst und alles Geliebte, beinhaltet eine Rechtfertigung der Lüge als erzieherische Maßnahme auch die beiden zuvor genannten. 685 Da Echtheit in Massen- und „Niedergangs-Culturen" wie der unseren nämlich von Nachteil sei (6/37), genauer: da Nietzsche seinen Ansichten „Autorität zu schaffen" wünscht, anstatt sie lediglich zu beweisen (6/241), wählt er unter Umständen die direkte Lüge als „Maske" einer indirekt nur zu vermittelnden Wahrheit. Das reicht von Zitatfalschungen, -Verdrehungen und „-Verbesserungen" (2/87), wie sie nicht allein im Frühwerk zahlreich nachzuweisen sind 686 , bis zur bewußten Neuschöpfung von Zitaten 687 oder historischer Wahrheit 688 : z. B. der „dramaturgischen Erfindung" des Parsifal-Schocks (D. Borchmeyer 689 ). Und nicht bloß die polemische BizetAufwertung im „Fall Wagner" ist letzten Endes kaum mehr als eine „ironisch"-indirekte Abwertung der Titelfigur 690 , auch die frühere, ebenso plötzlich einsetzende Hochschätzung Stifters wirkt gewollt —, und zwar aus ähnlichen Gründen. 691 Sogar die zunehmende Stilisierung Goethes scheint von selbsterzieherischen Lügen nicht ganz frei zu sein, ähnlich diejenige G. Kellers: alles zweckgebundene Aufwertungen, die nicht Nietzsches „wahre" literarische Präferenzen spiegeln —, die'mehr über seine eigenen Mängel aussagen als über die tatsächlichen Vorzüge der gepriesenen Autoren. 13/661; allerdings glaubt er, Nietzsches späte Philosophie der Lüge habe ihn herausführen sollen aus der Sackgasse seiner Lehre vom Willen zur Macht (13/666). Dagegen bin ich der Meinung, jene Philosophie der Lüge ist von Anfang an in der umfassenden Philosophie des Willens zur Macht enthalten als eine Erscheinungsform derselben. 685 Nietzsches Selbstüberwindung findet ja immer im Hinblick auf ein Ideal statt, d. h.: in der Liebe zu jenem. 68« Meinen diesbezüglichen Erläuterungen im 1. Kapitel des „Frühen Nietzsche" soll wenigstens ein plastisches Beispiel nachgetragen werden: „Sei ein Mann und folge mir nicht nach" — einer der Verse, die der zweiten Auflage des „Werther" als Motto vorangestellt wurden, um die Selbstmordwelle, die der Roman ausgelöst hatte, wieder einzudämmen (Hamburger Ausgabe, VI/528) — wird von einem Aphorismus der „Fröhlichen Wissenschaft" in einer Weise zitiert, als wolle sich das lyrische Ich gegen bloße Nachahmer eines gewissen Lebensstils verwahren (3/457) —, wie es Zarathustra ja programmatisch tun wird! 684
als rhetorische Mittel, denn sie klingen (d. h. wirken) wie echte Zitate. Im übrigen verweisen sie auf die allem scheinbaren Monologisieren Nietzsches zugrundeliegende Dialogform. Bsp.e in 3/66 ff. , 76 f. u. a. 688 V gj (j en gleichnamigen Abschnitt in Kap. II.2. des „Frühen Nietzsche" 689 Richard Wagner und Nietzsche, S. 119, ähnlich in: Wodurch hat Wagner Nietzsche tödlich beleidigt, S. 151 690 wie ein Brief an C. Fuchs einräumt (27. 12. 1888, KGB 8/553) 691 s. dazu D. Borchmeyer, Stifter contra Wagner 687
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c) Verschweigen und Nicht-wissen-Wollen Ist die Lüge ein Mittel im Kampf gegen wie für gewisse Künstler und Philosophen — im Grunde sind das zwei Seiten ein und desselben Kampfes —, so ist es das Verschweigen nicht minder: „Von grossen Dingen [...] / soll man schweigen / oder gross reden", fordert der Dithyrambus „Ruhm und Ewigkeit" (6/404); da jedoch die überragende Mehrzahl der „Dinge" (d. h. der Gesprächsthemen) alles andere als „groß" sind 692 , erweist sich die Möglichkeit direkter, ungebrochener Rede als eng begrenzt. Die einzig akzeptabel erscheinende Alternative liegt im anderen Extrem: Demgemäß sollte sich die Diktion „am liebsten 693 entschlüpfend, ausweichend, fortflatternd" geben 694 , trainiert Nietzsches Wille seine (ursprünglich nicht sehr ausgebildete) Fähigkeit des „Schweigen-Könnens" 695 , letzteres verstanden als durchaus aktive Tätigkeit 696 . Selbstverständlich gilt jenes „notwendige Ideal" 697 für direkte wie indirekte Rede; im persönlichen Verkehr als auch in dem mit abstrakten Lesern stilisiert er sich 698 — einer Äußerung M. v. Meysenbug gegenüber — etwas gewaltsam zu „Friedrich dem Schweigsamen" 699 . Abgesehen davon, daß er nach den Enttäuschungen mit Wagner und L. v. Salomé schlichtweg vereinsamt — „Ich fand noch Niemanden
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Im Sinne von Nietzsches rezipientenorientiertem Sprechen mag man Entsprechendes für Zuhörer bzw. Leser ergänzen. „am liebsten": Nietzsche zwingt sich zu dieser Vorliebe, die ursprünglich nicht mehr als eine Notlösung darstellt: ein Selbstüberwindungsversuch des äußerst kommunikationsbedürftigen Nietzsche (wie oft klagt „das einsamste aller Thiere" — 29. 11. 1885 an B. u. E. Förster, K G B 7/105 — über mangelnde Ansprache, Langeweile und insbesondere darüber, daß er „von Kindesbeinen an Niemanden gefunden, mit dem [er] dieselbe N o t h auf Herzen und Gewissen hätte"! — 20. 5. 1885 an E. Nietzsche, K G B 7/512), der in seiner Struktur an die hausgemachte Sprachkrise Hofmannsthals erinnert, des größten Sprachkünstlers der Wiener Moderne. (2/18) und am allerliebsten nicht nur seine Schreibweise, sondern auch das dahinterstehende („freigeistige") Denken: das erst mit den Gedankenstrichen seiner Texte beginne! (20. 5. 1885 an E. Nietzsche, K G B 7/53) (13/66) bis er sich phasenweise von einem „Schreibethier in ein Schweigethier verwandelt!" (5. 7. 1885 an E. Förster, K G B 7/65) Über P. Rèe z. B. „schweigt" er Seite an Seite mit M. v. Meysenbug (17. 4. 1887 an P. Rèe, K G B 5/229), sehnt sich auch nach „gemeinsamem Schweigen" mit H. Köselitz (25- 2. 1884 an dens., K G B 6/480). Es taucht bezeichnenderweise erst nach dem Bruch mit Wagner auf —, in einer Zeit zunehmender Vereinsamung, unter der Nietzsche sehr gelitten hat, wie sich aus manchen Briefen unschwer herauslesen läßt. Ein zweites Mal überlebensnotwendiger Selbstschutz wird es in der Lou-Affäre. aus Gründen der Krankheit (6. 4. 1881 an H. Köselitz, K G B 6/79 f.), des schlechten Gewissens (18. 12. 1881 an C. v. Gersdorff, K G B 6/149) oder welch bedrückender Ausgangslage auch immer 14. 3. 1879, K G B 5/394
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[mehr], vor dem ich reden könnte, wie ich mit mir selber rede" 700 —, was sind die Gründe, die er der selbstauferlegten Zwangslage 701 unterschiebt, um sie zur einzig angemessenen Lebensform des ebenso tiefen 702 wie freien Geistes zu deklarieren? — Wenn man ihm selber Glauben schenken will, dann vor allem seine oft beteuerte Menschenliebe 703 , die ihn die „Kunst des schnellen Verstummens" (12/200) ausüben läßt aus „humaner Heuchelei" 704 , aus Rücksicht auf „Blinde", „Esel" und „kuhwarme Milchherzen" (ebd.), denen er zum Verhängnis werden könnte: Es kann Höhe der Seele sein, wenn ein Philosoph schweigt; es kann Liebe sein, wenn er sich widerspricht; es ist eine Höflichkeit des Erkennenden möglich, welche lügt. 705
Dieser Aphorismus der „Götzen-Dämmerung" faßt drei Hauptgesichtspunkte indirekter Erziehungsarbeit prägnant zusammen; daß nicht zuletzt derjenige taktischen Verschweigens für vorliegende Themenstellung relevant ist, bezeugt der Einschub, den ein Aphorismus aus „Jenseits von Gut und Böse" erfährt, als er für die Sammlung „Nietzsche contra Wagner" redigiert wird: Dessen einleitende Aufzählung „grosser Dichter", die u. a. Kleist nennt, wird nun ergänzt durch die entscheidende Relativierung: „Ich wage es nicht, viel grössere Namen zu nennen, aber ich meine sie" 706 , eine Bemerkung, die den noch im Spätwerk geschätzten Kleist 707 als für Nietzsche nur von zweitrangiger Bedeutung erscheinen läßt. — In solch kaum verkapptem Elitarismus steckt ein gutes Stück Egoismus; nicht allein Rücksichtnahme auf „die Vertrauenden, die Einfachen, die Friedlichen" (12/200) ist es, sondern ebensosehr Klugheit, die ihn manch Ansicht verschweigen läßt, auf daß der Leser „die letzte Quintessenz unsrer Weisheit selber auszusprechen" habe 708 ; im übrigen sind „Schweigsamkeiten" aus der Perspektive der Vorrede zur „Fröhlichen Wissenschaft" (2/352) immer anzusehen als bloße OberflächenMai 1884 an M. v. Meysenbug, KGB 6/500 Seit der Lou-Episode häufen sich die brieflichen Bekenntnisse, er sei „zum Stillschweigen [...] verurtbeilt". (14. 8. 1883 an I. Overbeck, KGB 6/424) 702 Ein Aphorismus aus „Jenseits von Gut und Böse" (5/45) sieht den Zusammenhang ausdrücklich. Auch Zarathustra spricht von der „Heimlichkeit tiefer Seelen" (4/233, vgl. 4/65 ff., 189) 703 in dem hier angeführten Zusammenhang z. B. in einem Brief vom März 1884 an M. v. Meysenbug (KGB 6/490) 704 14. 8. 1883 an I. Overbeck, KGB 6/424 705 6/148; ein ähnlicher Hintergedanke scheint sich in folgendem Passus von P. Valérys „Monsieur Teste" anzudeuten: „Ich wage nicht alles zu sagen, was mein Gegenstand mir sagt. Die Logik gebietet mir Einhalt." (S. 22) Sicherlich nicht die reine Logik des Erkenntnisstrebenden! 706 Q l e Stelle findet sich — ohne Zusatz — zunächst in 5/224, dann — mit Zusatz — in 6/434. 707 13/249, 502; dessen Hochschätzung, die bemerkenswerterweise das seinerzeit verkannte Drama „Penthesilea" einschließt (wenn auch nur implizit), richtet sich ausdrücklich gegen Wagner. — 708 1 0. Aphorismus „Zur Lehre vom Stil" (8-/24. 8. 1882 an L. v. Salomé, KGB 6/245) 700 701
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strukturen einer sehr beredten Tiefe: „Man kommt über viele Dinge gar nicht anders weg als daß man nicht mehr daran rührt." 709 Neben humanitärem und rhetorischem Schweigen wie demjenigen aus Gründen von Unsicherheit 710 oder Selbstschutz 711 kennt Nietzsche ein sprachkritisch bedingtes Verstummen, so wie es einige Jahrzehnte später Hofmannsthals „Chandos-Brief' nachvollziehen wird —, allerdings nicht in der Differenziertheit, wie sie sich bereits in den wenigen diesbezüglichen Bemerkungen seines „Wegbereiters" abzeichnet. Im Prinzip laufen letztere zumeist darauf hinaus, daß die Statik eines Textes dem Fluß des Werdens inadäquat sei 712 , lediglich das absterbende Leben (z. B. eines Gedankens!) abzukonterfeien vermöge, niemals das Leben selbst (5/239): „Wofür wir Worte haben, darüber sind wir auch schon hinaus." (6/128) Teile man sich trotzdem mit, so sei das Mitteilen stets retrospektiv zu verstehen 713 , und zwar vom Standpunkt dessen aus, der seine einstigen Erkenntnisse nicht mehr hochschätze (5/100), oder, im entgegengesetzten Fall, nur sein „Durchschnittliches, Mittleres" der Allgemeinheit zugänglich mache (6/128). In jedem Fall freilich beklagt werden Vieldeutigkeit (!) und Mißverständlichkeit des geschriebenen Worts, das deshalb eines „Commentars durch Blicke und Händedrücke bedürftig" sei 714 . Die für die beginnende Moderne so entscheidene Aufwertung von Nonverbalität 715 einerseits, die auf Goethe zurückweisende Hochschätzung von mündlicher Sprache 716 andererseits kulminieren im typisch Nietzscheanischen Habitus der Verachtung, der ja immer dann gewählt wird, wenn es eine extreme Leidenschaft zu bemänteln gilt: hier diejenige zur deutschen Sprache 717 . Erstaunlicherweise wird jedoch deren spezifische Bändigungsstrategie ebenfalls in Zusammenhang mit der Verachtung gebracht (2/245), im „Ecce homo" heißt es gar: Schweigen ist ein E i n w a n d , Hinunterschlucken macht n o t h w e n d i g einen schlechten Charakter, — es v e r d i r b t selbst den Magen. A l l e Schweiger sind dyspeptisch. (6/271)
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7.3 714 7,5 716 717
21. 12. 1884 an F. u. E. Nietzsche, K G B 6/570 24. 11. 1882 an L. v. Salomé, K G B 6/281 s. dazu einen Brief an L. v. Salomé (27./28. 6. 1882, K G B 6/213) Deshalb solle man, so Nietzsche in einem Brief an P. Rèe, „von allem Werdenden schweigen". (10. 6. 1882, K G B 6/202) als ein Mitteilen von bereits Überwundenem! (2/369) 5. 7. 1885 an E. Nietzsche, K G B 7/65 s. dazu D. Brenig, Sprachlose Kunst in Hofmannsthals dramatischer Dichtung s. dazu „Der frühe Nietzsche", S. 79 ff. 6/128; Ausfalle gegen deutsche Sprache sind Legion, natürlich sind auch sie als „Panegyrikus mit umgekehrtem Vorzeichen" zu lesen.
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Demgegenüber propagiert Nietzsche die „Grobheit" als „eine unsrer ersten Tugenden"718, eine Sprechweise also, die — radikalisiert zum Äußersten — ebenso indirekt den eigentlichen Gedankengang vermitteln will wie das andere Extrem, das bloße Schweigen. Das Adjektiv „bloß" allerdings nimmt die Lösung des Problems vorweg: So, wie sich Nietzsches Mitteilungsbedürfnis eine „Kunst des Schweigens" (6/351) antrainiert, um über den Umweg rhetorischer und mehr-als-rhetorischer Pausen zum adressierten Empfanger wirklich vorzudringen719, so bedarf das Schweigen seinerseits des Redens, um sich nicht als Kirschweigen zu verraten (4/220). Die Indirektheit des Kommunikationsakts ist demnach eine doppelte, deren beide Varianten sich wiederum durch die je gegenteilige abtarnen: Das daraus resultierende ,/ei»e Schweigen" 720 im Unterschied zum „ressentimentalen" (5/272 f.) sei ausschließlich dann vornehmer Natur, wenn es ein vornehmes Ziel verfolge (6/128) und darin einen langen Atem verrate (5/250). Wird aber das Reden vornehmlich „zum Schweigen und Verschweigen" gebraucht721, ist das Schreiben nur noch „Symptom" des Nichtgeschriebenen722, so muß nicht nur Nietzsches Philosophie als reine „VordergrundsPhilosophie" gelesen werden723, sondern insbesondere auch deren literaturkritischer Anteil als „Vordergrunds-Philologie". Ebenso naheliegend ist der Schluß, daß sich in seinen zeitgemäßen Urteilen, wie sie im Frühwerk oft unvermutet neben unzeitgemäßen zu denselben Autoren stehen, lediglich sein „Verstummen" ausspricht, „indem er irgend einer Vordergrunds-Meinung ausdrücklich zustimmt"724. D. Borchmeyers Bevorzugung fragmentarischer 718
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ebd.; im Hintergrund tönt es aus dem „hochgewölbten, engen gotischen Zimmer" des „Faust II": „Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist." (Gedenkausgabe, 5/356) Ehrlicher noch deuten zahlreiche Briefe die oft frappierende Radikalität als Heiterkeit (30. 10. 1888 an H. Köselitz, K G B 8/463), Lebens-Stimulans (27. 3. 1888 an G. Brandes, K G B 8/279) und Zeichen der Gesundheit: also als Beweis der Kraft (vgl. 6/57)! Damit schließt sich der Kreis, denn Kraft („Männlichkeit") gilt Nietzsche ja in der Tat als oberste „Tugend", das Wort freilich in umbegriffener Bedeutung genommen. Es klingt paradox, aber das läuft auf eine Aufwertung von Leerzeilen (Wie oft mahnt er dazu, seine Schriften auch zwischen den Zeilen zu lesen!) und Gedankenstrichen (s. Anm. 694!) hinaus —, von Elementen, die bis dato nur den notwendigen Untergrund jeden Textes ausmachten! auf das sich ganz besonders angeblich Goethe verstand (5/184 f.) —, ein Autor, der immerhin so mitteilungsfreudig war, daß die Gesamtausgabe seiner Schriften diejenige Nietzsches um (optische!) Längen schlägt! 5/58, 102 5/38, s. auch 5/117 und Anm. 719; wenn Nietzsche rhetorisch fragt: „Schreibt man nicht gerade Bücher, um zu verbergen, was man bei sich birgt?" (5/234), so klingt es wie eine verspätete Antwort, wenn man bei I. Calvino liest: „Schreiben [heißt] immer etwas verbergen, so daß es später entdeckt wird"! (Wenn ein Reisender in einer Winternacht, S. 232) 5/234, dessen Vorstufe (14/374) wieder einmal den autobiographischen Ursprung seines Philosophierens verdeutlicht. 5/223; eine derartige Taktik erinnert schon gewaltig an Benns „Doppelleben".
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Notizen gegenüber den „vielfach aus persönlichen Rücksichten verklausulierten" Veröffentlichungen725 weist dem Briefwerk wohl implizit eine mittlere Stellung zu: eine Aufgliederung der Schriften in verschiedene Unmittelbarkeitsstufen, die auf jeden Fall schon weiterhilft. Letztendlich wird man indes nicht umhin können, gestützt auf die Kenntnis des Gesamtwerkes, alle Passagen über Literatur und Literaten mehr zwischen den Zeilen zu lesen als Wort für Wort. So hat H. Pfotenhauer unlängst eine intensive Beschäftigung Nietzsches mit Baudelaire nachweisen können726 —, eine in den Notizbüchern vorgenommene Auseinandersetzung, durch die briefliche Abwertungen des französischen Lyrikers zum „bizarren Dreiviertels-Narren"727 wie insbesondere die öffentlichen zum „décadent"728 in einem anderen Licht erscheinen. Ähnliche Ursachen, so legt ein Vortrag E. Behlers über „Nietzsche und die Frühromantische Schule" nahe, hat das fast völlige Verschweigen Fr. Schlegels (S. 92) —, eine implizite Abwertung ganz im Sinne zeitgenössischer Literaturgeschichten729, die auf eine dahinterstehende (unzeitgemäße!) Aufwertung schließen läßt. — Die Methode des Zwischen-den-Zeilen-Lesens — eine Spielart der Technik psychologischen Hinterfragens — wird ja nicht nur von Nietzsche selbst angewandt, beispielsweise wenn er den „allzeit gegenwärtigen Gedanken" aus Senecas Lehrvorträgen herauskristallisiert, „auch wenn kein Wort davon dasteht"730, sondern entsprechend als Lektüreanweisung der eigenen Werke weiterempfohlen1^. „Ach, ich bin so schweigsam, so versteckt!" scheint der Leser Nietzsche sich über den Autor Nietzsche zu beklagen732
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Richard Wagner und Nietzsche, S. 115 und überraschende, weil fundamentale Gemeinsamkeiten beider Autoren (zur Ewigen Wiederkehr, zur Erkenntnis „Gott ist tot" etc.); Nietzsche als Leser Baudelaires, S. 108 f. 26. 2. 1888 an H. Köselitz, KGB 8/263 6/289, vgl. S. 112 f. wo sie natürlich explizit vorgetragen wird: Namentlich die „Lucinde" wird in solch bürgerlich ausgerichteten Literaturgeschichten wie derjenigen R. Koenigs als „künstlerisch höchst mangelhafter Roman" kritisiert. (2/164; Koenig ist übrigens naiv genug, die eigentliche, natürlich moralische Begründung seines ästhetischen Verdikts sofort hintanzuhängen.) Aber auch R. Gottschall verurteilt F. Schlegel als charakterlos und eitel, spricht ihm (deshalb?) den Rang eines Dichters ausdrücklich ab (Die deutsche Nationallitteratur des neunzehnten Jahrhunderts, 1/394 f.); sogar R. Haym beurteilt ihn (allerdings im Vergleich mit Hölderlin) deutlich zurückhaltend. (Die romantische Schule, S. 322) 24. 5. 1880 an I. Overbeck, KGB 6/20; dasselbe Verfahren bezeugt er bei seiner ThukydidesLektüre (13/625) und derjenigen der „Menschen des 18. Jahrhunderts." (18. 8. 1880 an dies., ebd., S. 35). Juli 1881 an E. Nietzsche, KGB 6/108; insonderheit H. Köselitz wird wegen einer derart den Text durchleuchtenden „Les-art" gelobt. (3. 8. 1883, KGB 6/417 f.) in einem Brief an F. Overbeck (April 1883, KGB 6/355); er bezieht sich hier dezidiert auf sein „höchstes", d. h. ,,tiefstes"(!) Buch (6/259), vor dem er andernorts noch deutlicher warnt: „Glaube ja nicht, daß mein Sohn Zarathustra meine Meinungen ausspricht." (7. 5. 1885 an E. Nietzsche, KGB 7/48) — Das aber heißt noch lange nicht, dieser stünde zu Nietzsches Denkweise im Gegensatz oder gar Widerspruch, schließlich gilt er ihm als einer der „Vorberei-
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und gibt seinen Freunden immer wieder den Wink, als „Räthselrater" an seine Bücher heranzutreten, um jenen die beredt verborgenen „Hintergedanken" abzugewinnen 733 : Und sogar einem „wissenschaftlichen" Leser bleibt keine andere Wahl, als sich mit ihm dergestalt „anzufreunden" 734 ; obwohl solch Vorgehen äußerst unwissenschaftlich anmutet, ist es bei einem „unterirdisch" Philosophierenden (3/11) wohl das einzig angemessene. Zarathustras Ratschlag: „Im Errathen und Stillschweigen soll der Freund Meister sein: nicht Alles musst du sehn wollen." (4/72) fügt dem bisher Gesagten noch einen weiteren Akzent hinzu, das Nicht-sehen- Wollen als Korrelat des Verschweigens. Auch diese vielfach mittlerweile angesprochene Selbstbeschränkung des Erkenntnistriebes hat Relevanz für vorliegende Themenstellung, kündigt sie doch eine bewußt fragmentarische Literaturrezeption an. Nietzsche liest, schon bedingt durch sein chronisches Augenleiden 735 , vergleichsweise wenig, bildet sich aber dessenungeachtet ein scharfes, bisweilen überscharfes Urteil —, das sich nicht zuletzt infolge seiner weitreichenden Unkenntnis des beurteilten Gegenstandes vom zeitgenössischen Wertungshorizont abzeichnet: „Unwissenheit giebt Vorrechte", verrät ein Aphorismus aus „Menschliches, Allzumenschliches" (2/490), und gerade bezüglich philologischer Urteilsgewinnung demonstriert Nietzsche die Berechtigung seiner Annahme, es sei schlichtweg „vortheilhafter, gewisse Dinge ersichtlich nicht zu verstehen" (ebd.): Andernfalls er kaum zu solch überraschenden Einsichten bezüglich der zeitgenössischen Gegenwartskunst gelangt wäre —, vor allem hinsichtlich Naturalismus und L'art pour l'art, deren Texte er so gut wie nicht kannte! 736 Du Bois-Reymonds „Ignoramus et ignorabimus" scheint bei ihm ins Positiv-Aktive gewandt zu sein 737 ; die als „Auszeichnung" empfuntungen und Zwischen-Akte" (ebd.) zum geplanten Hauptwerk. Nietzsche fühlt sich eben noch nicht in der Lage, alles offen darzulegen, Zarathustras Sentenzen sind gewissermaßen erst Teilmengen im Gedankenraum des „Willens zur Macht". 733 4/72; 20. 9. 1886 an H. Taine (Entwurf), KGB 7/253; desgleichen: 23. 6. 1879 an F. Overbeck, KGB 5/420 oder 27. 10. 1886 an dens., KGB 7/272 734 Vielleicht liegt dem ganzen Komplex aus Hinterfragen und Selbst-hinterfragt-werden-Wollen ein Gedanke aus Goethes Prosa zugrunde, die Nietzsche ja eifrig studierte: „Freunde offenbaren einander gerade das am deutlichsten, was sie einander verschweigen". (Wilhelm Meisters Wanderjahre, Gedenkausgabe, 8/444) 735 Wenn er die „kluge Blindheit" seines Erkenntnistriebes rühmt (4/243), verdeutlicht sich sehr plastisch der quälende Ursprung des Ideals. 736 Freilich sind seine Einsichten oft nicht mehr als überraschend; nicht allein die Angriffe auf Darwin, Spinoza, Kant usw. zielen ins Leere, da er deren Positionen nur unzureichend kennt (W.Müller-Lauter, in: G.Abel, Nietzsche contra „Selbsterhaltung", S. 397)... (vgl. z.B. Anm. 768) 737 analog seiner Sprachkritik, die — im Gegensatz zur beginnenden Moderne — die Defizite jeder Begriffsbildung fruchtbar zu machen rät für ein künstlerisches Sprechen; generell kann man wohl sagen, daß es in seiner Natur liegt, allem negativ Empfundenen — wie Krankheit,
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dene Lage, „daß ich von so Vielem nicht weiß und nicht zu wissen brauche"738, ist ja keineswegs eine passiv eingenommene: „In fünf Sachen wissen, und mit zarter Hand es ablehnen, sonst zu wissen..." (6/234) umreißt mit knappen Worten ein ebenso umfassendes wie durchaus eigen-williges Konzept, es ergänzt das „Nicht-sehen-Wollen" der Stärke739 durch ein instinktives (6/142) „Nicht-verstehen-Wollen"740 aus Gründen der Redlichkeit741 und Weisheit742, begrenzt dadurch das virtuell „kranke" Perspektivismuskonzept auf gesunde Weise743: ganz im oben ausgeführten Sinne. „Vieles niemals sehn, Vieles falsch sehn, Vieles hinzusehn...", in jener späten Definition von Lebensklugheit744 summiert Nietzsche sein Nichtwissen-Wollen mit bewußtem Ungerecht-Sein und Lügen zur Methode. Wie sie im speziellen Anwendung findet in einer „fröhlichen [Literatur-] Wissenschaft", wie sich Distanzierung (1), Komplettierung (2), Segmentierung (3), Idealisierung (4) und ab-schließende Neudichtung (5) als Teilschritte einer „gelenkten" Literaturrezeption aneinanderreihen, läßt sich aus folgender Zusammenfassung herauslesen: Sich v o n den D i n g e n entfernen, bis man Vieles v o n ihnen nicht m e h r sieht [1] u n d Vieles hinzusehen muss, u m sie noch zu sehen [2] — oder die D i n g e u m die Ecke u n d w i e in einem Ausschnitte sehen [3] — [...] o d e r sie durch gefärbtes Glas [...] anschauen [4] — o d e r ihnen eine O b e r f l ä c h e und Haut geben, welche keine v o l l e Transparenz hat [5]: das A l l e s sollen w i r den K ü n s t l e r n ablernen (3/538).
d) Die Maske aus Stärke, die Maske aus Schwäche Über Nietzsches „Philosophie der Masken" ist viel geschrieben worden und z. T. auf eine Weise, daß man ernsthaft versucht ist zu relativieren: So undurchsichtig sind seine Texte nun auch wieder nicht. Vieles in seinen Schriften zwar „ist dunkel geredet, aber nicht dunkel gedacht"745; „Widersprüchlichkeiten", Paradoxien und andere Maskierungstechniken bleiben un-
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décadence, „Sprachgrenzen" oder im vorliegenden Fall seinem Augenleiden — etwas Positives abzugewinnen. 6. 2. 1884 an F. Overbeck, K G B 6/474 Selbstverständlich gibt es auch ein dekadentes „Nicht-sehn-Wollen" der Schwäche. (13/606) 6/17; und letzteres konsequenterweise durch ein „Nicht-verstanden-werden-Wollen" (Januar 1886 an H. Credner, Entwurf, K G B 7/143; s. obige Ausführungen zur Schichtspezifik) „Wo meine Redlichkeit aufhört, bin ich blind und will auch blind sein." (4/312) 6/59, vgl. 2/532, 550 „Selbstvermauerung [gegen Literaturl] gehört zu den ersten //»-//»^/-Klugheiten der geistigen Schwangerschaft"! (6/284) 13/193, 521; vgl. die nahezu gleichlautende Definition von Leben schlechthin (5/22). 7. 7. 1881 an E. Nietzsche, K G B 6/97
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durchschaubar nur für den, der Philosophie bereits auf der begrifflichen Ebene beim Wort nehmen will. — Immerhin hat die Theorie der Maske ihren allzumenschlichen Anlaß, genauer: ihre zwei verschiedenen Anlässe, und entsprechend wahlweise werden zwei grundverschiedene Masken aktualisiert. Zum einen diejenige der Stärke, wenn es gilt, Schwäche zu verbergen, eine physische ebenso wie eine psychische: Verbale Kraftmeierei soll nicht bloß, wie oben dargestellt, Krankheit und körperliches Leiden an diversen Dekadenzsymptomen übertönen, die „Kunst der Verkleidung" (5/151) durch harte Worte und Ansichten 746 ist viel mehr schon Selbstschutz einer äußersten Sensibilität und Verletzbarkeit der Seele. Das vorrangige Interesse daran bezeugt sich insofern, als Nietzsche in die Rolle des stolzen, „einsiedlerischen Kranken" zunehmend hineinwächst — also sein physisches Leiden noch betont —, um „Schüchternheit und Angreifbarkeit" zu verbergen 747 ; sogar die Steigerung seiner Radikalität vor dem Zusammenbruch „bis zum Verbrechen" 748 , sein In-Szene-Setzen als Gewaltherrscher über ganz Europa 749 , ist nicht mehr als Erfüllung einer Rolle 750 und sollte stets im Sinne Zarathustras demaskiert werden: „Wer aus sich kein Hehl macht, empört: so sehr habt ihr [und hat auch der „Vater" Zarathustras] Grund, die Nacktheit zu fürchten!" (4/72) Zum anderen — durchaus allerdings zur selben Zeit, gegenüber denselben Personen — verbirgt Nietzsche seine eigentliche Stärke hinter gespielter Schwäche: Früh schon übt er, so C. P. Janz, die „Kunst der Verstellung" gegenüber der religiösen Mutter 751 , spielt eine „Doppelrolle" 752 als Philologe 753 und Freund 754 , um sein unzeitgemäßes Gedankengut vor zeitgemäßer Kritik zu schützen — und umgekehrt, um der (im Grunde längst demaskierten und verurteilten) Mitwelt Scham zu ersparen 755 . „Die Mediocrität ist die
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Zarathustra fordert eine „harte Schale" sogar vom Freund. (4/72) wie sich aus seiner Deutung Spinozas (5/19) unschwer — nämlich unter Berücksichtigung von 6/319 f. — für seine eigene Person ergibt 20. 10. 1888 an G. Brandes, K G B 8/457 s. die ins Maßlose sich steigernden Dispositionen zur „großen Politik" (13/637 ff.) Eine interessante Variation zu Zarathustras Ausführungen über die Selbststilisierung gegenüber Freunden (4/72) findet sich in L. Andreas-Salomés „Erotik": dort über die wechselseitig sich bedingende Selbst- bzw. „Partner"-Stilisierung in einem Liebesverhältnis. (S. 103) Friedrich Nietzsche, 1/147, 187, 383 a.a.O., 1/383 März 1885 an E. Nietzsche (Entwurf), K G B 7/24 f. selbst gegenüber C. Wagner, z. B. seine Religionskritik betreffend (s. C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, 1/388 f.) d. h., in Folge derselben, sich selbst. (5/85) Noch P. Gasts Bekenntnis am Grabe Nietzsches akzentuiert diesen Punkt als einen Hauptcharakterzug des Verstorbenen, (in: C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, 3/357)
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glücklichste Maske, die der überlegene Geist tragen kann"756, hinter ihr verbergen sich seine Tiefe (5/57), sein Mitleid (2/627) wie sein Menschenüberdruß757, und zwar „aus Instinkt"758. Daß die Selbstbeherrschung bis hin zur Selbstverleugnung nur Mittel zum Zweck ist759, kann auch ihre späte Idealisierung zum „heiteren und spitzbübischen Laster" 760 nicht mehr verhehlen; daß dieser Zweck aber nicht allein im prophylaktischen Umwelt-, sondern vorrangig im Selbstschutz liegt, demonstriert ein Aphorismus der „Morgenröthe" sehr deutlich: „Zunahme der ,Verstellung' gemäß der aufwärtssteigenden Rangordnung der Wesen" (12/550) ist ihm zufolge nichts anderes als notwendige Selbsterniedrigung, um Neid oder Feindschaft zu verhindern (3/272). Zu solch „Mimikry des Kampfes ums nackte Dasein" rät indessen bereits — wie W. Jaeger darstellt761 — der vorsokratische Dichter Theognis, über den der Student Nietzsche im „Philologischen Verein", vor F. W. Ritsehl und der „gesamten gelehrten Welt seines Faches"762 brillierte. „Lebe im Verborgenen, damit du dir leben kannst!" (3/568) —, ein derartiges Inkognito-Ideal763, die für den Durchschnittsbürger undurchdringliche Maske seines getreuen Abbilds, eines ebenso durchschnittlichen, ebenso gegenwartsbehafteten Zeitgenossen (3/497), wie eine „schwarze Brille" anzulegen (5/231): eine derartig distanzierende Stilisierung des „äußeren Menschen" (W. Lennig 764 ) hat nicht erst Benn perfekt nachgelebt im Sinne seines „Erziehers"; schon dieser steht in einer Tradition, wie sie für das Genie der Antike ähnlich kennzeichnend ist wie für dasjenige der Moderne. Die vielfache Beschwörung der Maske ist für den Leser also meist gar nicht weiter von Belang, da sie schichtspezifisches Understatement lediglich 2/627; eine konsequente Ausbeutung des Gedankens liefert W. Serner in seinem „Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen", kulminierend in der letzten „Elementar"Maxime: „Dein größter Vorteil? Nicht zu sein, was du scheinst; ja nicht einmal scheinen zu wollen, was du nicht bist." (Letzte Lockerung, S. 76) — Der Zweck von W. Serners Täuschungsmanövern ist freilich rein hedonistischer Natur, also demjenigen Nietzsches geradezu konträr. 757 30. 3. 1885 an H. Köselitz, KGB 7/32 758 5/58: Ansonsten wäre sie ja nicht Zeichen der Vornehmheit! 759 „bis man endlich stark genug ist, um zu sagen: ,was habe ich mit euch zu schaffen?' und seines Weges geht" (12/278) 760 12/74 und 5/231; die aus Mitleid übergezogene Maske gespielter Höflichkeit trägt auch L. Sterne, freilich nur, um sie sich desto effektvoller abreißen zu können. Mit der Aufforderung: „Trauen sie mir schon aus Höflichkeit ein wenig mehr Weisheit zu, als ich nach außen zeigen mag", verschiebt er das Problem der Höflichkeit nicht ganz zufallig gleich zu Beginn seines Romans auf Seiten des Lesers (Tristram Shandy, S. 14). 761 Paideia, 1/266 762 so I. Frenzel, Nietzsche, S. 27; immerhin war Nietzsches Veröffentlichung über Theognis ganz maßgeblich an seiner frühen Berufung nach Basel beteiligt. 7 « s. dazu auch 3/279 f., 282, 302 764 Benn, S. 24, vgl. S. 154 756
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für die Lebenspraxis propagiert. Freilich, Nietzsche wäre nicht Nietzsche, würde er davon nicht eine Maskierungstechnik seines Werkes ableiten —, eine ebenso dialektische, die gleichwohl mit der gerade explizierten nicht in eins gesetzt werden darf. Hier nämlich, auf der Ebene des Textes, modifiziert sich die Maske der Stärke wie diejenige aus Stärke: Erstere bedient sich mit Vorliebe eines „Wir", wo in der spontanen Niederschrift noch ein „Ich" steht 765 , um die eigene, oft unsicher experimentierende Privatansicht zur Perspektive einer unüberschaubar breiten gesellschaftlichen Strömung aufzuwerten. Im Verlauf der Entfaltung des Denkens und des damit verknüpften Selbstbewußtseins scheint das „Wir" zu einer Maske aus Stärke zu werden — „ich sage höflicher Weise wir", behauptet Nietzsche in der „Götzen-Dämmerung" (6/77) —, die ursprüngliche Funktion wird jedoch durch derartige Leutseligkeit allenfalls ihrerseits verborgen, nicht außer Kraft gesetzt. Eine zweite, wesentlich schwieriger durchschaubare Maskierungstechnik erlernt er in den Krisenjahren von „Menschliches, Allzumenschliches": „die Kunst, mich heiter, objektiv, [...] vor allem gesund und boshaft zu geben" (2/374) —, also ganz im Sinne seiner Idealvorstellung des Klassischen. Wenn aber nicht allein Heiterkeit 766 , sondern jede Art intellektueller Begeisterung (5/233) inszeniert wird, um als eigentlicher Pessimist (der Stärke) «^verstanden zu werden, wenn wissenschaftliche Terminologie (1/890) wie künstlerische Diktion (1/888) bloß gewählt werden, um eine „tiefe Traurigkeit" (5/229), vielleicht gar ein „zerbrochenes stolzes unheilbares Herz" (5/226) zu verbergen 767 , so macht es den Interpreten Nietzsches nicht nur skeptisch und nachdenklich, sondern des öfteren ratlos. Hier nämlich liegt das eigentliche Problem: Inwiefern sind damit auch die emphatischen Aufwertungen bestimmter Werke und Künstler reiner (Selbst-)Betrug im eben geschilderten Sinne, inwiefern z. B. soll die ebenso plötzlich einsetzende wie abbrechende Begeisterung für Stifter 768 nicht ausschließlich die Enttäuschung hinsichtlich 765
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oder der entsprechende Satz wird in unpersönliche Rede umformuliert (z. B. 5/159 aus 14/ 365, 5/175 aus 14/367, 5/231 aus 14/373 —, um nur einige wenige Stellen aus „Jenseits von Gut und Böse" mit ihrer ersten Fassung zu vergleichen); s. dazu auch Anm. 156 u. a. 5/226, 229 Eine Bemerkung von H. Köselitz, die in dieselbe Richtung zielt, notiert sich Nietzsche extra in ein Oktavheft: „Aus Ihren Themen klingt immer etwas heraus wie Verzweiflung." (10/ 150) Die eigentliche Auseinandersetzung mit ihm beschränkt sich auf Lektüre des „Nachsommers" (und Teile der „Bunten Steine"), schlägt sich in der Zeit von „Menschliches, Allzumenschliches" in einigen ästhetischen Reflexionen nieder (z. T. ohne Hinweis auf die Funktion von Stifters Roman als Quelle mancher Anregung, s. E. Bertram, Nietzsche, die Briefe Adalbert Stifters lesend, S. 8) — und gerinnt sehr schnell zum Klischee. Wenn Nietzsche auch weiterhin den „Nachsommer" als Urbild der „verklärt-reinen", „goldenen und versüßenden" Kunst (13/634) in sich bewahrt, ja für ein Adagio P. Gasts keinen enthusiastischeren Titel zu finden weiß als „Nachsommer-Musik" (29. 8. 1886 an E. W. Fritzsch, K G B 7/236; 2. 9. 1886 an
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„Widersprüche" bei Nietzsches Beurteilung deutscher Literatur
Wagners Person und Werk überstrahlen? Und ist die zunehmende Bewunderung Heines nicht erst als „Bewunderung" angemessen zu verstehen, als Kehrseite eines gleichermaßen zunehmenden Leidens an allem Deutschen? Sind etwa sämtliche Aufwertungen nach 1876 nicht mehr als ein immer erneut und immer „heiterer" (sprich: verzweifelter) gehandhabter Versuch, der alles beherrschenden Bayreuther „Götzendämmerung" und ihren „hohl" nun klingenden Idealen von Lyrik und Musik, Griechentum und Tragödie, Schopenhauer und Schiller neue Leitbilder entgegenzustellen, entgegenzustemmen? Wesentlich einfacher ist da die Maske aus Stärke zu enttarnen, das proteushafte Hineinschlüpfen in die verschiedensten Gestaltungen der Weltgeschichte, deren tatsächliche oder fingierte Meinungen diejenigen Nietzsches zu kaschieren dienen. „Höflichkeit des Erkennenden" beinhalte wie die der täglichen Lebenspraxis zunächst Schweigen, Verschweigen und Lügen (6/148); die eleganteste Methode aber des literarischen Understatements sei die in „Ecce homo" geschilderte (6/319 f.). Ergänzt wird eine dergestalte, von Piaton bereits als Prinzip praktizierte 769 , nunmehr perspektivisch vervielfältigte „Nutzbarmachung" marionettenhaft herbeizitierter „berühmter [...] Typen" (ebd.) durch die „Eitelkeit des Gut-Schreibens: welches jedenfalls ein Gesellschafts-Kleid ist und uns auch versteckt." (12/56) Die rhetorische Maskierung durch verschiedenste Stillagen und durch z. T. umbegreifendes Jonglieren mit Begriffen ist den obigen Ausführungen zufolge sogar wesentlich besser geglückt als die „semiotische" (6/320). Sei es, daß Nietzsche andere Autoren — im Spätwerk in zunehmenden Maße Goethe! — als Sprachrohre eigener Ansichten, sei es, daß er sie als „Kloaken der Seele" 770 benutzt: Fast immer scheint er selbst nur desto deutlicher durch seine Masken hindurch, demonH. Köselitz, K G B 7/243), so spricht das gerade für meine These: Das Nachsommerliche löst sich in Nietzsches Vorstellung sofort vom eigentlichen Werk ab — wie dieses von seinem Urheber, über den sich keine einzige Bemerkung findet (Die Notiz 12/454, die Stifter als Verkörperung von Stärke und „innerem Wohlsein" darstellt, kann nur aus einer für Nietzsche ansonsten sehr untypischen, ohne jeden psychologischen Scharfblick geführten Betrachtung resultieren.) — und verfestigt sich zum „Nachsommer-Glück" (10. 10. 1886 an H. Köselitz, KGB 7/261), also ins Typologische. Selbst dessen letzte Beschwörung kurz vor dem Zusammenbruch — vielleicht wiederum aus therapeutischen Erwägungen? — betont den Zusammenhang mit dem ,,Begriff[!] .Goethe'" (13/634), fügt zu den zehn Jahre zurück liegenden Erkenntissen aber keine einzige hinzu: Das Werk bleibt auch jetzt noch vornehmlich Mittel, eine bewußt stilisierte Oberfläche zu Nietzsches dionysischen Abgründen (A. Mette expliziert den Begriff des Dionysischen ja nicht von ungefähr am „Nachsommer": Zur Psychologie des Dionysischen, S. 191 — 199); die Begeisterung nährt sich, wenn auch redlich, von einem einmaligen Lesegenuß und wirkt fassadenhaft-gewollt. — In summa: Stifter, als Person, verhält sich zu Goethe wie Baudelaire zu Wagner: ist zwar Vertreter eines Typus —, allerdings bloß ein solcher zweiten Grades, (vgl. obige Ausführungen, S. 155) Der „Nachsommer" freilich als Roman, steht zu den Werken Goethes in umgekehrtem Verhältnis. 769 770
5/111, 6/320 2/574, vgl. auch S. 251
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striert sein von taktischen Überlegungen nie völlig freier Umgang mit Literatur stets unfreiwilligerweise das Wort A. Gides: „Nur wenn ich Gesichter schneide, bin ich aufrichtig!" 771 Ist „täuschen" wirklich „im Kriege Alles" (13/568), so muß die Maske der Stärke wesentlich erfolgversprechender erscheinen als jene viel berühmtere aus Stärke. Vier abschließende Bemerkungen sollen das von Nietzsche sichtlich überschätzte Rollenspiel weiterhin relativieren —, nicht jedoch in gleichem Maße das von seinem Leser leicht »«/irschätzte Spiel mit rhetorischer Begeisterung und Sprache im allgemeinen: 1. Eine Theorie der Maske wird, abgesehen von einigen Ansätzen in „Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne", erst ab „Menschliches, Allzumenschliches" entwickelt; die Handhabung derselben in der literarischen Praxis ist zwar, wie es der Lebensrückblick darstellt, schon im Frühwerk ausgebildet, beschränkt sich dort aber im wesentlichen auf überschaubare Bereiche 772 . Generell ist zu bemerken, daß sie allenfalls in Einzelfällen täuscht, aus der Kenntnis des Gesamtwerks nahezu restlos aufgelöst werden kann: Wie gesagt, die ewige Wiederkehr des Gleichen beginnt bereits innerhalb von Nietzsches Schriften, dessen „wahrhaftiges" Anliegen, spezifisches Leiden und spezifische Leidensbewältigung durch jede Maskerade hindurchschimmern —, und das auch sollen (3/257). Namentlich die Formeln „Heine" und „Goethe", desgleichen „Keller" oder „Stifter" können aus einem Verständnis ihres Interpreten 773 weit eher interpretiert werden als aus dem der entsprechenden Autoren; am Tatbestand literarischer Aufwertungen darf das Wissen um ihre Ursache vorerst jedoch nicht zweifeln. 2. „Ich bin der Versteckteste aller Versteckten", rühmt sich Nietzsche in einer Notiz zum „Zarathustra" (10/149), unterschätzt dabei offensichtlich die grenzenlose „Aneignungslust" seines „Ichgefühls" (3/217): Zwar vermischt er, wie E. Biser zeigt, die eigene Identität in zunehmendem Maße „ins weltgeschichtlich Vieldeutige" 774 , fühlt sich in den Tagen ausbrechenden Wahnsinns als Jesus ebenso wie als dessen Gegensatz (6/374), Dionysos, identifiziert sich mit Buddha, Caesar, Shakespeare, Wagner... 775 Aber die 771 772
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Die Falschmünzer, S. 323 Neben Schopenhauer und Wagner, die Nietzsche selbst als „Formeln, Zeichen, Sprachmittel" eigener Ansichten anführt (6/319 f., vgl. S. 317), ist sicherlich auch der Typus des antiken Griechen („Geburt der Tragödie"!) zu nennen. vor allem des Nietzsches, wie er nach 1876 gern erscheinen, wenn nicht gar sein wollte Die Reise und die Ruhe, S. 99 s. die sogenannten „Wahnsinnszettel", KGB 8/567 ff.; gerade die im Zusammenhang stehende Stelle der „Morgenröthe" (3/217) belegt, daß Nietzsche bis zum Zusammenbruch keine anderen als seine spezifischen Inhalte vertritt: Nur deren Einkleidung wird immer extremer.
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„Widersprüche" bei Nietzsches Beurteilung deutscher Literatur
Beschränktheit des Geistreichen, wie sie eine Reflexion der „Morgenröthe" allgemein konstatiert, gilt auch für deren Verfasser im speziellen: „Wenn er andere schätzen will, so muss er sie immer erst in sich verwandeln." (3/255) Insofern schlüpft Nietzsche gar nicht von einer Rolle in die nächste, sondern im Gegenteil: prägt all diesen Rollen sein spezifisches Gesicht auf: „Leg ich mich aus, so leg ich mich hinein" —, ein derartiges „Interpretations"-Prinzip 776 bleibt immer egozentrisch; kehrt man die Maxime um — leg ich mich hinein, so leg ich mich aus —, wird noch deutlicher, daß ein Spiel mit „300 Vordergründen" 777 kaum hintergründiger ist als unverhohlene Selbstaussprache: Der Vorwurf „früher Onanie" z. B. gegenüber den einst so geliebten — also in gewissem Sinne zum eigenen Selbst gehörenden — Hölderlin und Leopardi (11/451) versucht ganz offensichtlich, Wagners „tödliche Beleidigung" aufzuarbeiten; die Abqualifikation Schillers zum „Moral-Trompeter" wendet sich gegen den eigenen, vielfach bezeugten und gerade als „Immoralismus" nur desto deutlicher zutage tretenden Moralismus usw. Dergestalt produktiv anverwandelte „Vordergründe" mögen nun einzelne geistesgeschichtliche Gestalten oder ganze Epochen sein 778 , immer werden sie vom Hintergrund überstrahlt: Und auf jene Weise maskiert Nietzsche die eigene Person weit weniger als seine Masken... 3. Wohl will er sich „dunkel und unverständlich" 779 geben, unter Umständen aus Gründen der Humanität 780 , gerade die ständige Betonung solchen Wollens indiziert dagegen ein davon grundverschiedenes Sein. Zwar beteuert er gegenüber seiner Schwester 781 : „Wenn ich nicht ein gut Stück von einem Schauspieler wäre, so hielte ich's nicht eine Stunde aus, zu
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Überraschend einleuchtend übrigens erscheint die Konzeption der „Ewigen Wiederkehr" als „Schwergewicht" (3/570), hält man die Auflösungstendenzen des Jahres 1888 neben eine Briefstelle des Jahres 1880: Nietzsche lobt darin seine physischen Notzustände als „Gegengewicht gegen sehr allgemeine, sehr hochfliegende Triebe, die mich so beherrschen, daß ich ohne große Gegengewichte zum Narren werden müßte." (November 1880 an F. Overbeck, KGB 6/49) — Von Kopfschmerzen und anderen körperlichen Leiden berichten die Turiner Briefe allerdings nicht mehr, ebensowenig wie von der niederdrückenden Last bestimmter Gedanken... aufgestellt im Gedicht gleichen Titels (3/357; vgl. 9/572) 5/231; Nietzsche ist dabei sicherlich nicht unbeeinflußt von seiner Lektüre Stendhals, dem K. Ringger in seinem Essay „Die Masken des Henri Beyle" immerhin 200 schreibstrategisch gewählte Masken bescheinigt. — Eine Notiz des Frühjahrs 1886 zitiert ausdrücklich eine Passage der Napoleon-Biographie Stendhals, die einen Zusammenhang zwischen Maske bzw. Lüge und Stärke zieht — ganz im Sinne Nietzsches (12/177)! 8/532; s. Kap. III 1. 4. 1874 an C. v. Gersdorff, KGB 4/215 14. 4. 1887 an F. Overbeck, KGB 8/57 genau genommen: will er beteuern, denn die folgende Stelle ist einem Brief«»*»'»)/entnommen (März 1885, KGB 7/25).
Kampf als Wettkampf
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leben." Dem Leser der „Götzen-Dämmerung" — und das ist nach dem oben Ausgeführten zunächst einmal stets der Verfasser selbst — stellt er freilich die „Gewissensfrage", ob er nicht doch etwa „bloss ein nachgemachter Schauspieler" sei (6/65), also den Schauspieler allenfalls schauspielern könne. Die beste Maske biete denn auch das eigene Gesicht, lehrt Zarathustra (4/153). Und sein „Vater", dessen „letzte Meinung über Meinungen" sich nachweislich von „Menschliches, Allzumenschliches" bis zur „Genealogie der Moral" gleichbleibt: „Entweder verstecke man seine Meinungen, oder man verstecke sich hinter seinen Meinungen. Wer es anders macht, der [...] gehört zum Orden der heiligen Tollkühnheit."782 Zu genau diesem Orden aber muß Nietzsche nicht etwa bloß gerechnet werden, er steht als dessen leuchtendstes Beispiel weit an der Spitze: Denn zu Recht traut er „seinem Talent als Schauspieler nicht und zieht die Redlichkeit vor, die ,Wahrspielerei'" (3/256) —, eine höhere, indirekte Form der Wahrhaftigkeit, wie gezeigt, deren gewollte Maskierung lediglich die harte „Schale" ist (4/243) eines in vieler Hinsicht allzuweichen Kerns. 4. Noch ein Nachtrag, der sich aus dem bisher Gesagten fast von selbst ergibt: Natürlich ist selbst „Semiotik" nicht mehr als ein Mittel, dessen Bewertung letztlich allein von ihrem Zweck abhängt. Geht es um romantische „Verstellung der Seele" (13/494), um „Moral-Maskerade"783 oder diejenige „moderner Ideen" des Fortschritts (13/413), so fallt ihre Verurteilung ebenso eindeutig wie scharf aus. Gerade jedoch in der fallweisen Verfluchung784 der Maske — meist sprachlich schon ablesbar an der Wahl pejorativer Bezeichnungen wie „Larve" und „Tartüfferie"785 —, klingt eine generelle mit an: „Es ist mein Loos, mich nur unter Masken zu zeigen", will sich Nietzsche in einem Briefentwurf gegenüber H. v. Stein beklagen786, in einem tatsächlich abgesandten Brief an F. Overbeck wehrt er den Versuch, ihn wieder nach Basel zu locken, mit den Worten ab: „Eine solche Rolle und Verkleidung kostet jetzt meinem Stolze zu viel." 787 Sein Stolz indessen ist in letzter Instanz dafür verantwortlich, daß er nicht bloß bisweilen aus der Haut fährt, sondern mit Regelmäßigkeit aus der Maske. Aus derjenigen willkürlich (um-)geformter Geistesgrößen, die ja trotz allem noch als 782
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2/517; die Schlußwendung des Aphorismus wird nicht rein zufallig von der „Genealogie der Moral" aufgegriffen. (5/386) 13/479, vgl. 5/156 Gedichte, S. 111 Ein Briefentwurf an die Schwester zeigt die Dialektik der Begriffe deutlich: Erst wählt Nietzsche den von ihm in zunehmendem Ausmaß bevorzugten Terminus „Tartüfferie", in der Umformulierung entschließt er sich — denn schließlich geht es um ihn selbst — für „Maske". (März 1885, K G B 7/25) März 1885, K G B 7/26 12. 7. 1884, K G B 6/511
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„Widersprüche" bei Nietzsches Beurteilung deutscher Literatur
Konkurrenten des Erziehers gesehen werden müssen: Im Kampf um den Leser ist jeder — und gerade ein Nietzsche — sich selbst der Nächste.
7. Schlußbemerkung ^um ^weiten Kapitel:
ngelegentliche
Unstimmigkeiten"
Die hier in groben Zügen umrissene Methode, dem Verständnis philologischer Umwertungen näher zu kommen, indem man sich zunächst mit deren impliziten Umbegreifungen auseinandersetzt und dabei das Problem des Widerspruchs als ein primär sprachliches auffaßt —, jene Methode, die in einem zweiten Schritt ergänzt wurde durch Überlegungen zu Nietzsches Philosophieren (im allgemeinen bzw. über literarästhetische Phänomene im besonderen), mag in der theoretischen Darstellung ziemlich aufwendig erscheinen, in der praktischen Anwendung ist sie jedoch recht unkompliziert. Immer nur ist es ja eine Minderzahl an Äußerungen, die Probleme bereiten —, falls man sich nicht jetzt noch entschließen sollte, sie als Widersprüchlichkeiten einfach entgleiten zu lassen. Um sie allerdings einbegreifen zu können in den Gesamtzusammenhang der Darstellung, und zwar ausnahmslos, bedarf es eben derart übergreifender Betrachtungen —, Betrachtungen im Hinblick auf eine materialadäquate Lesetechnik, die sich spätestens dann bezahlt machen sollen, wenn es gilt, literarische Umwertungen nicht mehr nur als eine Summe mehr oder weniger disgregierender Einzelurteile zu betrachten, sondern als Ganges: als zwar perspektivisch gebrochene, aber durchaus wieder in ein gemeinsames Wollen (!) zu bündelnde Kulturkritik Nietzsches. Der soeben dargestellte Versuch, dessen Eigenheiten in Terminologie und Denken ein wenig transparenter zu machen, ist freilich stets auf den „Umwerter literarischer Werte" fokussiert und hat seine Grenzen —, nicht erst dort, wo es gilt, seine gesamte Philosophie „in den Griff zu bekommen. Bereits innerhalb des relativ eng begrenzten Feldes ihrer Kulturkritik kann der Ansatz — ich bin allerdings der Ansicht, es gälte fürjeden — nicht hundertprozentig greifen; manch „brüchige Argumentation" (H. Pfotenhauer788) wird man trotz aller methodisch angewandten Einfühlungsgabe nicht erklären können. So schwingt in E. Bisers Konstatierung einer „von der sprachlichen Meisterschaft freilich prunkvoll verhüllten Unsicherheit" Nietzsches789 der leise Vorwurf dessen mit, der nicht „Chaos und Labyrinth" (3/552), sondern (christliche) Ordnung als Daseinsprinzip sehen will; und noch ein W. Kaufmann schwächt den stereotyp gewordenen Vorwurf bloß ab, indem er „gele788 789
Die Kunst als Physiologie, S. 226 „Gott ist tot", S. 21
Schlußbemerkung: „gelegentliche Unstimmigkeiten"
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gentliche Unstimmigkeiten" konzediert 790 . Doch sogar statistische „Ausreißerwerte" 791 bedürfen einer den Gesamtrahmen des Untersuchungsansatzes nicht etwa sprengenden Begründung; und Nietzsche selbst gibt deren dreierlei: Erstens müsse man „edel genug [sein] zum Widerrufen" (4/95), vor allem „Phantastereien" des Frühwerks (2/466), deren Berechtigung innerhalb der Gesamtentwicklung des Denkens trotzdem unbestritten sei: als Stufe nämlich auf dem Weg zum „Kosmopolitismus des Geistes" (ebd.). Daß sich eine synoptische Gesamtschau seiner Ansichten über Literatur somit erübrigt, liegt auf der Hand 792 ; darüberhinausgehend sollten aber nicht allein gewisse Unsicherheiten bei der Entwicklung seiner Philosopheme, insbesondere der wertenden, zugestanden werden 793 , sondern desgleichen solche an den Schnitt- und Bruchstellen dieser Entwicklung, also an bestimmten Entwicklungspunkten.794 Zum zweiten dürfe man, so Nietzsche in einem Brief an P. Deussen, keines seiner Worte „zu tragisch nehmen" 795 , er sei nun einmal „lax und nachlässig in den Nebensachen" 796 , liebe „Sprünge und Hopsasa's" 797 —, ohne deshalb in seinen eigentlichen Reflexionen inkonsequent zu sein798. Gedankliche Strenge ist für ihn — vergleichbar der allenfalls perspektivisch einzulösenden terminologischen Exaktheit — lediglich insofern philosophische Kardinaltugend, als sie auch einmal hintangestellt werden kann. Allerdings sollte man seine „vorübergehenden Marotten", wie C. P. Janz betont, deswegen nicht gleich überbewerten 799 ; nicht bloß sein „impulsives Wesen" (ebd.), sondern oft schon die Heftigkeit seiner Krankheitsanfalle ist dafür verantwortlich, daß viele Briefentwürfe 800 und Notizen nur als Momentaufnahmen 801 eines verzweifelten inneren Kampfes zu lesen sind. Nietzsche, S. 87 s. dazu „Der frühe Nietzsche", S. 52 ff. 792 Daß sein Defizit an übergreifender Systematik sehr vielen Interpreten zum Ärgernis gereichen würde, war sich Nietzsche völlig im klaren: „Wenn wir über Jemanden umlernen müssen, so rechnen wir ihm die Unbequemlichkeit hart an, die er uns damit macht." (5/95) 793 wie es H. Pfotenhauer (Die Kunst als Physiologie, S. 225) und W. Müller-Lauter (Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht S. 58 f.) vorschlagen 794 Ein Beispiel hierfür wäre die Passage über Wagner, deren eindeutig negative Vorstufe (14/ 477 f.) die überraschend positive Wendung, die sie dann in „Ecce homo" erhält (6/288), noch vollständig vermissen läßt. Nietzsche schwankt eben zwischen zwei extremen Meinungen nicht nur im Laufe von Jahren, sondern in demjenigen von Tagen. 795 19. 12. 1869, KGB 3/81 ™ 21. 12. 1874 an C. Fuchs, KGB 4/281 797 25. 1. 1882 an H. Köselitz, KGB 6/160 798 s. Anm. 796 799 Friedrich Nietzsche, 2/639 800 w e j t mehr a l s die im Zusammenhang mit der Lou-Affäre, die C. P. Janz bereits „entschuldigt" (a. a. O., 2/166) 801 zur Situationsbedingtheit des Erkennens s. 3/307 f. 790 791
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Und drittens sind verschiedene, zumeist im privaten Rahmen vorgetragene Äußerungen nicht zu unterschätzen, in denen ein starkes Erholungsbedürfnis beteuert wird, ein Verlangen nach vorübergehender Befreiung von der Last der Aufgabe: „Ich habe mich so satt", resümiert Nietzsche im Krisenjahr 1877 einen Zustandsbericht an F. Overbeck 802 , und seit jener Zeit des Umbruchs versucht er wieder und wieder gewaltsam, sich nicht allein physisch, sondern auch psychisch zu regenerieren. Vor allem das Vergessen rühmt er als „göttliche" Kunst, als aktive Fähigkeit der geistigen Verdauung 803 und damit als „Form der starken Gesundheit" 804 . Während manch frühere Meinung aus therapeutischen Gründen verdrängt wird, so ist der Übermacht gegenwärtiger, als drückend „wahr" empfundener Anschauungen lediglich mit willkürlich eingestreuten Irrtümern zu begegnen: „Von Zeit zu Zeit eine Dummheit — oh wie einem sofort wieder die eigne Weisheit schmeckt!" 805 Das eben geschilderte Nicht-wissen-Wollen erfährt solcherart eine weitere Steigerung zum Getäuscht-werden- 806 bzw. Das-Falsche-wissen-Wollen; vorübergehende „Tollheit" wird als „Erlösung" gepriesen und gerade deshalb als eine höhere Form der Klugheit. 807 Im übrigen müsse sich nicht nur die Person Nietzsches „im Unwahren ab und zu erholen können", sondern die „Wahrheit" selbst bedürfe der ergänzenden Kontrastierung: Sonst würde „sie uns langweilig, kraft- und geschmacklos werden und uns eben dazu auch machen." (3/ 297). Müdigkeit 808 und Selbstschutz 809 —, hierin also sind die Ursachen für eine Art aktiven „Müssiggangs" 810 zu sehen, der sich in den Erscheinungsformen willentlichen Irrtums und phasenweiser Gedankenlosigkeit 811 demonstriert. „Ich nehme mir die Freiheit, mich zu vergessen. Übermorgen will ich wieder 802
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25. 9. 1877, K G B 5/286; ähnlich am 11. 9. 1879 an H. Köselitz, K G B 5/443, am 22. 9. 1879 an F. Overbeck, K G B 5/445 Gedichte, S. 117; 5/291; 30. 3. 1881 an H. Köselitz, K G B 6/77; vgl. Anm. 325 zu Kap. I 5/292, s. auch 3/354 13/478, vgl. 2/521; die Aufwertung des Irrtums beginnt bezeichnenderweise in „Menschliches, Allzumenschliches" —, nicht ohne sich auf den „größten Befreier des Geistes" (2/10) zu berufen, auf Voltaire: 2/382 indirekt propagiert bereits in 2/381 13/488; das entspricht ganz der „Philosophie des Scheins", wie sie Nietzsche bereits in seinen ersten Werken vertritt: Auch hier rechtfertigt natürlich nur der Zweck das Mittel. Vgl. dazu 2/415 Sogar „die Stärksten haben müde Stunden" (13/27): Die sollte der Interpret auch Nietzsche zubilligen! „Ich muß mich von mir selber abziehn, meine Gedanken fressen mich auf." (22. 2. 1881 an H. Köselitz, K G B 6/64) s. dazu auch 13/51, 491 Nietzsche verordnet sich z. B. im Frühjahr 1880 eine „geistige Diät" (3. 5. 1880 an E. Nietzsche, K G B 6/18) - und läßt sich deshalb Stifter (11. 4. 1880 an F. Overbeck, K G B 6/16) und G. Keller (28. 4. 1881 an dens., K G B 6/87) vorlesen!
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bei mir zu Hause sein" (13/43): Das ist die willkürliche, die zeitlich begrenzte Möglichkeit. — Doch wie in fast allem, so geht Nietzsche auch hier bis ins Extrem: „Ich habe [...] den Inhalt meiner früheren Schriften fast vergessen", schreibt er am 30. 3. 1881 an H. Köselitz (KGB 6/77) —, und zumindest will er sich auf solche Weise befreien von der Last der Vergangenheit. Wer dennoch Inhalte früherer gegen diejenigen späterer Entwicklungsphasen ausund deren Diskrepanzen zu Widersprüchen hochspielt, wird einem derart „organischen" Denkansatz kaum gerecht. Mit dieser bereits eingangs zum Leitmotiv erhobenen Bemerkung schließt sich der Gedankenkreis des zweiten Kapitels: der immerhin einen Umfang von 114 Seiten beanspruchte. Um die weitere Arbeit nicht zum vielbändigen Fluche auf die verlorene Zeit anwachsen zu lassen, verzichtet sie auf Methodendiskussion „vor Ort" 812 . Dem nämlich von literarischer Umwertung und Umbegreifung im engeren Sinne, den es im folgenden einzukreisen gilt.
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unter Ausnahme natürlich der problematischen Fälle; daß mit dieser Methode gearbeitet wurde, belegen die Ergebnisse der anschließenden Kapitel in ausreichendem Maße; wie mit ihr gearbeitet wurde, ergibt sich aus der Methode selbst.
Kapitel III: Umbegreifung der Epochenbegriffe Keine eigentlichen Umwertungen, dafür aber nicht minder interessante Umbegreifungen lassen sich an Nietzsches Handhabung der Epochenbegriffe ablesen. Nichts wäre freilich falscher, als sie auf umfassende und akribische Studien der deutschen Literatur zurückzuführen; über diese äußert er sich mehrfach sehr abfällig, beschäftigt sich nach 1876 zunehmend mit französischen und russischen Autoren —, auch das zweifellos eine gewollte Abkehr von Deutschland, dessen Kultur schließlich in den Bayreuther Festspielen kulminiere1, in einer Kunst also, die seinen eigenen Vorstellungen (angeblich) völlig entgegengesetzt sei. „Vor einem deutschen Buche wäscht man sich die Hände", bringt er in einer späten Notiz seinen ganzen Abscheu zum Ausdruck —, und zwar ausgerechnet in einer Passage, die den „Fall Wagner" behandelt2. Der Natur seiner Entwicklung entsprechend fehlen derart krasse Abwertungen im Frühwerk; jedoch schon an den brieflich fixierten Weihnachts- und Geburtstagswünschen des Schülers Nietzsche läßt sich ablesen, daß deutsche Literatur eher eine sekundäre Rolle für ihn spielt. Allerdings orientiert sich sein Wunschzettel in der Regel noch am konventionellen Klassiker-Kanon der Zeit, hat eine „allgemeine Bildung" 3 mehr im Blickpunkt als eventuelles Lesevergnügen. Das Konzept einer Selbsterziehung, die sich vernünftigerweise zunächst einmal die allgemein geschätzten Kunstwerke und -werte aneignet4, bevor sie sich über die Phase aufbegehrender Verdikte Freiheit zu neuen Wertsetzungen
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Die Hochschätzung Bayreuths wird — unabhängig von der wechselnden Beurteilung Wagners und der Wagnerianer — über einen Zeitraum von fast zwanzig Jahren gewahrt; sogar die metaphorische Einkleidung seiner Bewunderung bleibt dieselbe, von der vierten „Unzeitgemässen Betrachtung" bis zur Vorrede einer geplanten philosophischen Streitschrift „Jenseits von Gut und Schlecht?": — „Für uns bedeutet Bayreuth die Morgen-Weihe am Tage des Kampfes." (1/451) — „Bayreuth bedeutet den größten Sieg, den je ein Künstler errungen hat". (12/233) 14/506 (als Vorstufe zu 6/361); er meint natürlich: „Nach einem deutschen Buche...": Die Hände vor der Lektüre zu waschen würde Ehrfurcht implizieren, während ja auch in 6/361 die „Instinkt-Unsauberkeit" alles Deutschen angeprangert wird. — S. obige Ausführungen über Nietzsches „Laxheiten im Kleinen". (Kap. II.7.) 3. 12. 1860 an F. Nietzsche, KGB 1/133 Ein solches Bildungskonzept legt er ganz ausdrücklich auch seiner Schwester nahe. (April 1862, KGB 1/203)
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schafft 5 —, solch phasenbedingter, funktionalisierter „Traditionalismus" 6 reicht bis in die Zeit der „Morgenröthe", zumindest als theoretisch weiterhin aufrechterhaltenes Ideal 7 . Erst in den späten achtziger Jahren dreht sich Nietzsches Perspektive um: Nun empfiehlt er gerade ein Werk der Beachtung, das den zeitgenössischen Erwartungshorizont sprengt; indem er jetzt das Unverständnis des Publikums zum „eigentlichen Abzeichen des wahrhaft Neuen und Originalen" 8 erklärt, signalisiert er eine deutliche Abkehr von der selbstgenügsam-statischen Praxis klassizistischer Kunstrezeption: und nimmt damit einen wesentlichen Aspekt moderner Philologie vorweg, wie sie in einem 1970 veröffentlichten, noch immer maßgeblichen Aufsatz von H. R. Jauß vertreten wird. Der Verfasser fordert darin von jeder neuen Literaturgeschichtsschreibung, die „ästhetische Distanz" zwischen Innovation und traditioneller Leseerwartung als Gradmesser anzusetzen für den Kunstcharakter eines Werkes 9 —, ganz in dem Sinne, wie Nietzsche seinerzeit nicht nur die künstlerischen Mißerfolge P. Gasts als vorläufig erklärt 10 , sondern sich dezidiert von einer Gegenwartsliteratur abwendet, die keinerlei Horizontwandel beim Leser erfordert. Der Weg in ein elitäres Kunst- und Künstlerverständnis, das ebenso unvolkstümlich sein will wie einsam sein muß — George! —, wird damit nicht allein durch Nietzsches lebendes Vorbild, sondern auch durch seine Lehre geebnet. Euphorische Aufwertungen bestimmter Autoren sind im übrigen kaum mehr als Indizien jener Einsamkeit, die mit dem „Einsiedler von Sils-Maria" beginnt; abgesehen von der Notwendigkeit, sich wenigstens vorübergehende Verbündete in den Personen Stifters, Lichtenbergs, selbst eines Jung-Stillings zurechtzudichten, ist dieser ja gegenüber „allen Größen der Vergangenheit" bloß ein „bedingter" Anhänger: „Ich billige sie durchaus, kenne aber einen höheren Standpunkt" 11 , verkündet bereits der Basler Professor; noch deutlichere Töne schlägt er nach seiner Amtsentbindung an als freier Geist: „Unter den Lebenden so wenig als unter den Todten habe ich Jemanden, mit dem ich mich verwandt fühlte", schreibt er an F. Overbeck 12 , und seine Beteuerung 5 6
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ganz im Sinne von 4/29 ff. I. Beithans Behauptung: Nietzsche fordere nur „Gestaltung eines Neuen, Einmaligen", „nicht Anlehnung an die Tradition" (Friedrich Nietzsche als Umwerter der deutschen Literatur, S. 10), halte ich für einseitig. z. B. 3/156; bezüglich praktischer Aneignung überlieferter Kulturwerte ist es zu diesem Zeitpunkt wohl hinreichend eingelöst. 12. 2. 1887 an F. Overbeck, KGB 8/20 Literaturgeschichte als Provokation, S. 177 s. Anm. 8 6. 8. 1878 an M. Maier, KGB 5/344 5. 8. 1886, KGB 7/223; eine wenn auch indirekte, so immer noch deutliche Abwertung seiner engsten Freunde, wie sie kurze Zeit später im sogenannten „Paraguay-Zettel" offen vorgetragen wird (14/506 f.)
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gegenüber der Schwester, er könne niemanden lieben — „das würde voraussetzen, daß ich — einmal — Wunder über Wunder! — einen Menschen meines Ranges fände" 13 , schließt selbst die einst verehrten Schopenhauer und Wagner ein. Um so mehr die Verfasser deutschsprachiger Literatur — sogar Goethe (6/343)! —, deren mangelnde Tiefe für ihn derart offenkundig sei (6/361), daß er sie, zumindest im Spätwerk und zumindest nach außen hin, gar nicht mehr ernst zu nehmen vorgibt (6/284). „Selbst-Vermauerung" gegen störende Außenreize (ebd.) allerdings ist schon für den jungen Nietzsche charakteristisch, wenn auch noch ohne Akzidens der Verachtung. „Ich bin sehr abgeneigt, mich wie eine Maschine mit Kenntnissen zu überladen", läßt sich der Zweiundzwanzigjährige sehr selbstbewußt vernehmen, „vieles Lesen stumpft den Kopf entsetzlich ab" 14 . Daß dies kein reines Lippenbekenntnis ist, belegen die zahlreichen „Kurzen Biographien und Proben aus seinen [des entsprechenden Autors] Werken", die einen Großteil von „Nietzsches Bibliothek" deutschsprachiger Autoren ausmachen 15 , belegen eine weitreichende Textunkenntnis, aus der heraus er auf subjektiv-geniale Weise zu nicht nur seinerzeit überraschenden Wertungen gelangt: „Meine Art, Historisches zu berichten, ist eigentlich, eigene Erlebnisse bei Gelegenheit vergangener Zeiten und Menschen zu erzählen." (8/532) Daß sie nicht auf gleiche Weise vorgingen, so fahrt nämliches Nachlaßfragment fort, sei das Manko der Philologen: „Unsere Litterarhistoriker sind langweilig, weil sie sich zwingen, über alles zu reden und zu urtheilen, auch wo sie nichts erlebt haben." Und in einer unvollendeten Demokritstudie, die ausgerechnet als Festschrift für F. W. Ritsehl geplant war, gibt er der Literarhistorie den direkten Rat, zu „lernen, mehr im Großen zu urteilen, um das Feilschen um einzelne Stellen mit den großen Erwägungen der Philosophie zu vertauschen." 16 Das heißt hier jedoch nichts anderes als: Nietzsches vereinzelte Urteile über Gedichte, Dramen, Romane müssen als (untergeordnete) Bestandteile seines Philosophierens rezipiert werden 17 ; eine geisteswissenschaftlich exakte Vorgehensweise, gewissermaßen um ihrer selbst willen, ist dabei ebensowenig zu erwarten 18 wie bei seiner Antike-Interpreta13 14 15 16
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März 1885 (Entwurf), K G B 7/24 4. 4. 1867 an P. Deussen, K G B 2/206 M. Oehler (Hrsg.): Nietzsches Bibliothek, S. 35 ff. zit. nach C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, 1/230; die Einbettung der Literaturwissenschaft in Philosophie erinnert an diejenige der Historie bei Schiller (Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? in: Sämtliche Werke, 4/763). Damit möchte ich I. Beithan ausdrücklich widersprechen, die Nietzsches Umwertungen von seiner Philosophie getrennt sieht, ja „in ausgesprochenem Widerspruch" dazu. (Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 2) Im übrigen widerspricht sie sich bereits selbst... (a. a. O., S. 17 f.) Schließlich wertet er deren Kardinaltugenden, Objektivität und Historizität, als Dekadenzerscheinung ab. (s. o.)
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tion, deren „Freizügigkeit" bekanntermaßen schon von U. v. WilamowitzMoellendorff angeprangert wurde —, und aus seiner Warte zu Recht. „Wie! Man müsse ein Werk gerade so auffassen, wie die Zeit, die es hervorbrachte?" klingt der einstige Streit um „Zukunfts-" bzw. „Afterphilologie" in der „Morgenröthe" nach: „Aber man hat mehr Freude [...] und auch mehr zu lernen daran, wenn man es gerade nicht so auffasst!" (3/296). Damit setzt sich Nietzsche nicht nur in Gegensatz zum weitverbreiteten Biographismus seiner Zeit — wie übrigens schon vor ihm F. Th. Vischer 19 —, sondern zu jeder Art von „historischem Gesindelpack" (7/108), deren Theorien das Geistesleben des ausgehenden 19. Jahrhunderts immerhin in einem Ausmaß zu beherrschen beginnen, daß sie sogar auf die Praxis, die Kunst selbst zurückschlagen 20 . Mehr noch: Mit seiner keinesfalls bloß in der zweiten „Unzeitgemässen Betrachtung" erhobenen Forderung nach einer wertsetzenden Historie, die das Geistig-Schöpferische zu betonen habe gegenüber sozialgeschichtlichen Einflüssen, mit der durchgehend sogar in seiner zweiten Phase gewahrten Distanz zum Siegeslauf des Positivismus grenzt sich Nietzsche implizit gegen die entsprechende Literaturgeschichtsschreibung ab, wie sie durch W. Scherer 1883 aus der Taufe gehoben wird. 21 Indem er das Primat der Philosophie vor jeder, einschließlich der literarischen Geschichtsschreibung bekräftigt — eine Vorherrschaft, die abzuschütteln Scherer sich gerade befleißigt —, wahrt er die Tendenzen der Wissenschaft, wie sie unter dem Einfluß des deutschen Idealismus bestanden hatten. Aber die Art seines philosophischen Gesichtspunkts trennt ihn doch wieder entscheidend von dem Geiste dieser Bewegung. (I. Beithan) 22
Bevor besagte weltanschauliche Trennung genauer nachgezeichnet wird, soll Nietzsches Frontstellung gegen Positivismus und Historismus noch einmal ausdrücklich festgehalten werden; seine „lebensphilosophische Fundierung der Literaturgeschichte" (H. Pfotenhauer 23 ), die Aufgabe des Richtens gegenüber derjenigen der Objektivität stets betonend (13/12), hat sich aus der Warte späterer Generationen als fruchtbarer erwiesen: Nicht allein die Philologen des Georgekreises, die seine Forderung nach wertsetzender Histow 20 21
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Faust. Der Tragödie dritter Teil, S. 133ff.; vgl. Kap. IV z. B. in der Theaterreform der Meininger, die historische Treue der Requisiten und Kostüme bis zur (Über-)Perfektion steigern Allerdings führt Nietzsche den Kampf nicht explizit, wie I. Beithan es sehen will (Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 6 u. a.): Der Name Scherers taucht in seinem Werk nirgends auf; außerdem hätte der späte Nietzsche, der sich sowieso zunehmend gegen Neues verschließt, eher noch eine russische oder französische denn eine deutsche Literaturgeschichte in die Hand genommen. Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 4 Die Kunst als Physiologie, S. 133
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rie noch radikalisieren24, sogar Geisteswissenschaftler wie H. Cysarz und E. Troeltsch, die mehr dem Hegelianismus nahestehen, integrieren diesbezügliche Anregungen in ihre Vorgehensweise25. Die erstaunliche Fertilität Nietzsches soll durch einen gelegentlichen Blick auf ihre Hinter- und Untergründe ja auch in vorliegender Arbeit nicht geleugnet werden. Als befremdlich muß freilich eine weitverbreitete Bereitschaft unseres Jahrhunderts anmuten, die zugegebenermaßen ins Auge springenden Früchte seiner „wie aus dem Boden gewachsenen" Umwertungen bereits für die Sache selbst zu nehmen, als ob ein organisches Gedankensystem, das seine kaum weniger als das jedes anderen, nicht hauptsächlich aus ganz gewöhnlichen Blättern, Zweigen und, vor allem, Wurzeln bestünde. Erstaunen muß die einstimmige Bereitschaft, eine — zweifelsohne in vielen Bereichen evidente — Umwertungstendenz in alle Aspekte seines Nachdenkens hineinzulesen, insbesondere, als sie sich selbst auf wissenschaftlicher Ebene lediglich zu einem nicht mehr hinterfragbaren Kanon der Bewunderung „entfaltet" hat.26 Dabei wäre von einer vorurteilsfreien Forschung doch zu erwarten, daß sie immer wieder und in jedem einzelnen Punkt aufs neue die Frage an ihn herantrüge, ob er tatsächlich nur „das Erdbeben der Epoche" gewesen, wie ihm Benn einmal plakativ huldigt 27 , oder zu gewissem Teil, wie I. Beithan als eine der wenigen bemerkt28, ganz diese Epoche selbst: also verwurzelt im Denken und Werten des wilhelminischen Zeitalters. Eine weitere Verengung des interpretatorischen Blickwinkels ist insofern zu konstatieren, als ausgerechnet Nietzsches zumeist aus identifikatorischer, therapeutischer oder taktischer Absicht vorgenommene literarische Aufwertungen noch heute in aller Germanistenmunde sind — namentlich diejenigen Stifters und Hölderlins sollen den Beginn einer neuen philologischen Blickweise markieren —, während {dieselbe Geschmacksrichtung dokumentierende) 24
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Ihre bedenklich gegenwarts- (sprich- George-)orientierte Mythisierung des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes schlägt in Form von E. Bertrams Nietzsche-Buch auf ihren geistigen Ahnherrn zurück, zeigt damit recht deutlich die Grenze, an der ein ursprünglich berechtigter Ansatz in sein Gegenteil umkippt. dazu ausführlich I. Beithan, Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 2 0 f f . ; scheinbar wendet sich die Literaturgeschichtsschreibung unserer Tage wieder einem Konzept zu, das demjenigen Scherers zumindest verwandt ist: einem freilich .ro^/a/geschichtlich orientierten. Doch die Ergebnisse sprechen nicht f ü r sich... Die Philologie scheint tatsächlich das Armutszeugnis bestätigen zu wollen (wie es ihr Nietzsche in einem Brief an E. Rohde ausstellt), „daß wir alle aufklärenden Gedanken in der Literaturgeschichte v o n jenen wenigen großen Genien empfangen haben, die im Munde der Gebildeten leben [...], daß mithin das Schöpferische in der litterarischen Forschung v o n solchen stammt, die selbst derartige Studien nicht oder wenig trieben". (1. —3. 2. 1868, K G B 2/248 f.) Nietzsche — nach fünfzig Jahren, in: Gesammelte Werke, 1/483 Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 4
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Abwertungen verschmäht werden bzw. „übersehen" im obigen Sinne. Dabei sind sie als notwendige Vorbereitung der Aufrichtung neuer, eigener Werte zumeist weit aussagekräftiger als affirmative (Lippen-)Bekenntnisse, in ihnen reift das eigene Denken gewissermaßen heran, wenn auch unter einer z. T. unscheinbaren, z. T. geradezu abschreckenden Oberfläche. Das gilt für die Abwertung einzelner Autoren wie für die ganzer Epochen; Nietzsches Auseinandersetzung z. B. mit „Romantik", die sich auf den ersten Blick nichts weniger als unzeitgemäß ausnimmt, was — im Hinblick auf R. Hayms epochemachenden „Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes" — hier heißen soll: als regelrechter Rückschritt in die Goethezeit —, gerade seine ein ganzes Jahrzehnt währende Kontrastierung des „Romantischen" mit dem „Klassischen" nimmt weitreichende Aspekte der späten Philosophie vom Willen zur Macht vorweg. Und als eine ebensolche Vorwegnahme muß die Verurteilung der zeitgenössischen Philologie gelten, als praktische Antizipation nämlich der Lehre einer Ewigen Wiederkehr: Was also wird an den Literarhistorikern des 19. Jahrhunderts angegriffen und, zunächst einmal, wer wird namentlich attackiert? In erster Linie natürlich „der platte und dumme" Gervinus (7/20), dessen „Geschichte der deutschen Dichtung" noch von den führenden Realisten der Gründerzeit als „That", nämlich als „Empörung des gesunden Menschenverstandes" (J. Schmidt 29 ) hochgeschätzt wird. Nietzsche entleiht sich jene die zeitgenössische Philologie beherrschende Literaturgeschichte zu Beginn seiner Basler Professur aus der dortigen Universitätsbibliothek — und kommentiert sie (während seiner Lektüre, aber auch später) mit ebenso zahlreichen wie polemischen Seitenbemerkungen. Auffallig ist der Tatbestand, daß die privat notierten Angriffe gegen ihren Verfasser, diese „sentimentalische" 30 „alte Jungfer", einen entsprechenden Niederschlag in Nietzsches Veröffentlichungen finden —, berücksichtigt man das späte Bekenntnis, er „greife nur Sachen an, die siegreich sind" (6/274), dann wahrscheinlich gerade wegen des „Aufhebens, das die Deutschen von dem in allen Kunstfragen wahrhaft albernen Gervinus gemacht haben." (7/506) Daß im gleichen Atemzug J. Schmidt, der über seine Bewunderung desselben alles andere als Stillschweigen bewahrt, abgewertet wird (1/685), überrascht nicht; noch die Verurteilung der „Litteraturgeschichte" A. F. C. Vilmars als „altjungfernhaft" (14/125) weist in ihrer Wortwahl auf eine — unterstellte! — Geistesverwandtschaft mit Gervinus. Bemerkenswerter erscheint dagegen der (wenngleich über das Planungsstadium 29 30
Geschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert, 3/436 7/50; daß der Terminus bereits zur Zeit der „Geburt der Tragödie" in pejorativem Sinne gebraucht wird, weist auf die spätere Schiller-Abwertung voraus: Dieser selbst prägte den Begriff, allerdings in wertfreier Absicht, bekanntlich unter Bezugnahme auf seine eigene Person.
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nicht hinausgekommene) Angriff auf den „ewigen Gymnasiasten" R. Gottschall (7/504), dessen philologischer Ansatz schließlich um Abgrenzung gegen J. Schmidt 31 — und damit indirekt gegen Gervinus — bemüht ist. Bezeichnenderweise wird auch der „Bildungsphilister" F. Th. Vischer öffentlich kritisiert (1/172 f.), d. h. eine weitere Gallionsfigur der aufblühenden Germanistik, die — sogar in Nietzsches vereinfachender Betrachtungsweise — kaum als Parteigänger von Gervinus aufgefaßt werden kann. Was also ist das Gemeinsame all der solchermaßen Attackierten, was verbindet sie gleichermaßen mit dem breiten Strom der populären Literaturgeschichten, z. B. denen O. v. Leixners oder R. Koenigs, wie mit derjenigen A. Kobersteins von 1827 und idealistischer Denkweise generell? Es scheint mir das teleologische Prinzip zu sein, das all die ansonsten differierenden Darstellungen beherrscht 32 , der mehr oder weniger versteckte Optimismus beim Abschildern eines Entwicklungsprozesses und ein darin sich manifestierender Fortschrittsglaube, der mit wohlwollendem Blick über die Jahrhunderte vornehmlich sich selbst rechtfertigt: „Es soll euch durchaus nicht erlaubt sein, Lessing zu glorifizieren, da ihr doch nur euch meint", schimpft Nietzsche unter direkter Bezugnahme auf seinen Hauptgegner Gervinus (7/540), dem er andernorts verallgemeinernd vorwirft, er setze sich „mit anmaßlicher Brütegeschäftigkeit" auf alle Kunstschöpfungen, „als ob diese Eier nur für [...] [ihn] gerade hingelegt wären." (7/480) — Aber nicht allein wegen des außerliterarischen Zieles, anhand einer „Geschichte der Dichtwerke die Idee der nationalen Individualität auf ihrem Wege zu sich selbst darzustellen" (H. R. Jauß 33 ), greift er die zeitgenössische Philologie an 34 , es geht ihm natürlich gleichzeitig um die Beurteilung der Kunst selbst, deren Eigengesetzlichkeit von einer derartigen, an W. v. Humboldt orientierten Geschichtstheorie nicht adäquat erfaßt werden könne. Literaturgeschichte, anvisiert nämlich aus der Optik literarischer Evolutionstheorie 35 , erweist sich zunächst zwar als dynamischer Prozeß der Selbstvollendung; am Ende der Berichterstattung jedoch muß der retrospektive Optimismus einem kaum zu verhehlenden
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in der Vorrede zur zweiten Auflage seiner „Deutschen Nationallitteratur des neunzehnten Jahrhunderts", Bd. 1, S. X Für das Denken des deutschen Idealismus wird es exemplarisch vertreten in Schillers Antrittsvorlesung (nämlich im Hinblick auf Historie im allgemeinen; Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? In: Sämtliche Werke, 4/764). Lit. gesch. als Provok., S. 144 Das Primat „nationaler Fortbildung" bemängelt er ausdrücklich an der Denkweise von Gervinus. (7/108) Noch H. R. Jauß betrachtet Innovation als entscheidendes Merkmal aller echten Kunstwerke (Lit. gesch. als Provok., S. 190) und spricht infolgedessen von einer „literarischen Evolution" (a. a. O., S. 192). Regressionsphasen sind in seinem ansonsten sehr überzeugenden „rezeptionsästhetischen Entwurf einer Literaturgeschichte" (a. a. O., S. 189 ff.) nicht vorgesehen.
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Pessimismus Platz machen: Denn wo jede Romantrilogie genauso wie jedes Distichon als mehr oder minder hohe Stufen einer, sei's national-, sei's universalgeschichtlichen Treppe interpretiert wird 36 , ist die Frage nach dem Ende jener Treppe nicht fern —, nach dem „Ende der Kunstperiode" also, das bekanntlich schon Hegel konstatierte. Freilich etwas voreilig, wie nicht erst dem Leser einer Kafka-Erzählung oder eines Hofmannsthal-Gedichtes scheinen mag, sondern eben bereits Nietzsche, der „Kunst und nichts als die Kunst" (13/521) auch für zukünftige Generationen als „großes Stimulans" (ebd.), ja als einzige „Rechtfertigung des Daseins" (1/17) gewahrt sehen will. Und obwohl er wie G. G. Gervinus 37 um 1800 eine vorerst nicht mehr erreichbare „Blütezeit" ansetzt, auf die eine nachklassische Kunst als bloße Verfallserscheinung folge, ist die Parallele rein oberflächlicher Natur: Denn während Gervinus aus der Logik einer kulturgeschichtlichen Entwicklungslehre heraus argumentiert 38 , kommt Nietzsche zum gleichlautenden Schluß aufgrund eines nachgerade konträren Modells. Dem alten Denkmuster verpflichtet ist übrigens sogar die zeitgenössische Kritik an selbigem, im speziellen die Mißbilligung der „vielverbreiteten, von großen Autoritäten gestützten Ansicht [...], daß unsere Nationallitteratur seit Schiller und Goethe nichts Bedeutendes hervorgebracht habe", wie sie R. Gottschall 39 stellvertretend vorträgt: In dem bemängelten Ansatz ist er insofern noch befangen, als er das „Ende der Kunst" einfach auf der Zeitachse in eine unabsehbare Zukunft verschiebt. Nietzsches Einwände dagegen wie seine fallweisen Übereinstimmungen sprengen den herkömmlichen Denkrahmen: indem sie dem Stufenmodell ein zirkuläres entgegenstellen, das in seiner annähernd gleichförmigen Wellenstruktur von Aufstieg und Verfall nicht von ferne erst an die Lehre der Ewigen Wiederkehr erinnert 40 . Vielmehr gilt das grundsätzliche „Gesetz" des Werdens 41 auch im speziellen: „Jeder grossen Erscheinung folgt die Entartung nach, namentlich im Bereiche der Kunst." (2/148) Sogar Wagner muß, „gegen Goethe's Ideal gehalten", als „tief zurückstehend" erscheinen (8/491), wie überhaupt „die Abnahme an Geist in diesem Jahrhundert" (11/21) von Nietzsche stets heftig beklagt wird. Das aber 36
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Erst die historische Schule bringt, so H. R. Jauß, „das teleologische Modell der idealistischen Geschichtsphilosophie in Verruf", indem es den universalen „Evolutions"-Prozeß in verschiedene Nationalgeschichten aufsplittert, (a. a. O., S. 149) Geschichte der Deutschen Dichtung, 5/664; s. auch H. R. Jauß, a. a. O., S. 150 freilich nicht im engeren Sinn: „Ideengeschichte" bzw. „Geistesgeschichte" als eine Disziplin der Geschichtswissenschaft wurde ja erst durch W. Dilthey entwickelt, also im ausgehenden 19. Jahrhundert. Die deutsche Nationallitteratur des 19. Jahrhunderts, Bd. 1, S. II f. und damit W. Scherers Wellenmodell vorwegnimmt Ansätze zu Zarathustras Lehre finden sich schon in „Menschliches, Allzumenschliches" (2/ 205 f.), ja bereits im Jugendgedicht „Entflohn die holden Träume", (Gedichte, S. 11).
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empfindet er andererseits gerade als „das Aufregende" in der Geschichte der Kultur: „dass der Bogen brechen muss" (2/433), daß auf Blütezeiten Jedesmal" Zeiten periodischen Abblühens folgen (2/438) und umgekehrt: Während er die Kunst seiner Epoche zwar dezidiert als „wieder einmal im Rückgange" befindlich einschätzt (2/446), d. h. im besonderen: während er unter Anspielung auf Kleists „Penthesilea" ein „Ende" des Dramas „wieder in der Nähe" sieht42, zeichnet er gleichzeitig doch43 einen Weg in die „Dichtung der Zukunft". Bezeichnenderweise wird dessen Ausgangspunkt im alten Goethe lokalisiert44, einem zum tragischen Kleist antithetisch entworfenen Künstlerideal des Epikers, das mit der Abwendung von Wagner seinen herz-zerreißenden Siegeszug im Denken Nietzsches beginnt. Unabhängig davon folgt er in (literatur-)geschichtlicher Hinsicht immer einem triadischen Schema45; Kritik an zeitgenössischer Kunst ist folglich niemals resignativ, geschweige rückwärtsgewandt: „Vielleicht bauen wir nur die Grundlagen, auf denen spätere Menschen auch wieder den Tempel der Freude errichten." (2/462). Eine derartige Betrachtungsweise der Kunstgeschichte ist im Gegensatz zur linearen der zeitgenössischen Wissenschaft zyklisch 46 und ihre Durchführung anhand einzelner Epochen fügt sich der periodischen Gesamtschau ausnahmslos ein. Allerdings zu beachten bleibt, daß sich damit keinesfalls die Absicht dokumentiert, systematische Literarhistorie zu betreiben: „Nichts Zusammenhängendes — einzelnes ist mir aufgegangen, anderes nicht." (8/ 532) Ästhetische Urteile, selbst wenn sie sich in das Gewand von Epochenwertungen kleiden, sind stets am Einzelwerk orientiert bzw. an dessen Verfasser: „Ich glaube nur an einzelne Individuen" 47 —, diese Prämisse gilt nicht etwa bloß für den Erzieher, sondern gleichermaßen für den Leser Nietzsche. So steht hinter seinen Analysen der „Romantik" immer diejenige Wagners48,
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2/420; bedenkt man die Wiedergeburt der antiken Tragödie, wie sie die vierte „Unzeitgemässe Betrachtung" noch 1876 von Wagner erhofft, dann könnte die Kehrtwendung Nietzsches gar nicht auf engerem Raum vollzogen, d. h. vorgeführt werden. nämlich im benachbarten Aphorismus (2/419 f.) In 2/420, wie in zahlreichen anderen Passagen seines Werkes, fordert er ausdrücklich eine „reife" und „mäßige" Kunst. — Für Goethes Jugendwerk findet er, im krassen Gegensatz zu seinen Zeitgenossen, kaum ein lobendes Wort: Goethe figuriert von Anfang an als eine der Vaterfiguren, die man sich „anschaffen" solle, wenn man — wie Nietzsche bereits ab dem fünften Lebensjahr — „keinen guten Vater [mehr] hat". (2/266) s. dazu „Der frühe Nietzsche und die deutsche Klassik", S. 152 ff. und weist damit auf das Geschichtsdenken z. B. eines W. Flitner voraus, (s. W. Müller-Seidel: Goethe im Spätwerk — eine rückblickende Betrachtung, S. 358) 1 1 . 3 . 1874 an M. Maier, K G B 4/209; daß Nietzsche immer wieder versucht, „die Regel [zu] rechtfertigen" (13/202), ja „Abfall, Verfall, Ausschuß" der Menschheit (13/255 f.), belegt seine Vorliebe für den großen einzelnen nur auf reziproke Weise, (s. Kap. II. 5.b.) Der frühe Nietzsche..,, S. 2 1 4 f f .
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„Klassik" reduziert sich weitgehend auf die Person Goethes49; sogar (für sein Denken) weniger zentrale Epochenbegriffe wie etwa „Biedermeier" oder „Junges Deutschland" sind nur Verallgemeinerungsformeln für einen Vertreter derselben, im vorliegenden Fall für C. F. Meyer50 bzw. Gutzkow 51 . Das Ideal des Historismus, Geschichtswissenschaft als Epochendarstellung52, spiegelt sich damit zwar oberflächlich ab auf Nietzsches, von Schiller inspirierter53 „kritischer Historie", deren induktive Urteilsgewinnung führt jedoch weniger zu einer historischen als zu einer typologischen Perspektive54. Abgesehen davon, daß der Terminus „Epoche" in seinen Schriften z. T. vom üblichen Sprachgebrauch abweichend gefaßt ist55, sind die diversen Umbegreifungen der Epochenbegriffe (bevor mit ihnen dann wertend operiert wird) weit eher das Signum philosophischen als philologischen Selbstdenkens. Daß literarhistorische Periodisierungskriterien, wie sie G. Stern in seinen „Prolegomena zu einer Typologie der Exilliteratur" ganz allgemein aufstellt56, darin keinen Eingang finden, liegt auf der Hand; ebenso unbekümmert, wie er als Spaziergänger einen schönen Berg einfach tauft, ohne sich um dessen wirklichen Namen zu kümmern57, erlaubt es sich Nietzsche, seine induktiv gewonnenen Epochenbegriffe als ahistorische Schlagworte auf die Erscheinungswelt zu deduzieren. Daß infolgedessen Händel als „Italiäner" figurieren muß und Gluck als Franzose58, daß Offenbachs Musik als „klassisch" rubriziert wird59, 49
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nämlich innerhalb einer Betrachtungsweise, die sich auf den Raum deutschsprachiger Kultur beschränkt; andernfalls wären die Namen mancher antiker Autoren, aber auch derjenige Napoleons (der wohl eher als inkarnierter Willen zur Macht figuriert) zu bedenken. Er wird schlichtweg zum exemplarischen „Bieder-Meyer" erklärt. (13/540) Heine wird von Nietzsche nicht dem Jungen Deutschland zugerechnet, da er ihn positiv (zumindest ambivalent) wertet, politisch engagierte Literatur wie diejenige im „Vormärz" aber eindeutig negativ (dazu bereits 2/419). dazu H. R. Jauß, Lit. gesch. als Provok., S. 150 vgl. dessen in der Jenaer Antrittsvorlesung aufgestellte Forderung, „das Vergangene mit dem Gegenwärtigen zu verknüpfen" (Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? In: Sämtliche Werke, 4/764, vgl. 4/762) ganz analog seiner Auseinandersetzung mit einzelnen Schriftstellern, s. Kap. II.5.; auch hier ist man genötigt, I. Beithans Darstellung aufs entschiedenste zu widersprechen —, ihre Behauptung: „Die Erkenntnis der individuellen Eigenart [von Autoren gleichermaßen wie Epochen] ist Nietzsches Ziel der Betrachtung und nicht die Auffindung gewisser Gesetzmäßigkeiten" (Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 14) müßte meines Erachtens ins direkte Gegenteil verkehrt werden, um den Sachverhalt zu treffen. (Vgl. ihre Ausführungen über „Typisierung und Nivellierung", a. a. O., S. 31) „Epochen", wie sie z. B. 2/638 f. definiert, seien „jene kurzen Zeiten des Stillstandes, mitten innen zwischen dem Aufsteigen und Absteigen eines regierenden Gedankens oder Gefühls" —, also bloße Augenblicke! Er nennt u. a. Einstellung zur Tradition, Ballung um geographische Zentren ebenso wie um geistige Gesichtspunkte, Vorliebe für bestimmten Gattungen. (S. 6 ff.) 28. 8. 1877 an R. v. Seydlitz, KGB 5/280 10. 11. 1887 an H. Köselitz, KGB 8/191 21. 3. 1888 an H. Köselitz, KGB 8/275
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obwohl man sie landläufig der Spätromantik zurechnet, ist symptomatisch für sein weitgehend „autonomes" Denken —, ein Denken, das sich schließlich in den Äußerungen über Literatur in seiner ganzen Kraft zu überraschender Zuordnung dokumentiert. 60 Allerdings ist er nicht der einzige, der so verfahrt, gar mancher Philologe der Zeit dehnt und verkürzt die zur Verfügung stehenden Kategorien — vor allem „Klassik" und „Romantik" — auf eigenwillige Weise. 61 Müssen von Nietzsche verwandte Epochennamen somit als reine „Wesensbegriffe" (im Sinne von H. Cysarz 62 ) angesehen werden, die mit den gleichlautenden „Ordnungsbegriffen" der Philologie nichts zu tun haben? Das wohl kaum, immerhin sind sie von entsprechenden historischen Erscheinungen abgeleitet —, „Aufklärung" z. B. von Voltaire, der ja zweifelsohne einer Aufklärung auch ohne Anführungsstriche, nämlich einer des allgemeinen Sprach Verständnisses, zuzurechnen ist. 63 H. P. H. Teesings Kompromißvorschlag, „alle solche Begriffe als conceptus cum fundamento in re zu betrachten, als dem erkennenden Geist entsprungene, aber in der Wirklichkeit verankerte, nicht nur ideelle Sinngebilde" 64 , halte ich im Falle Nietzsches am ehesten anwendbar —, freilich mit einer starken Akzentuierung des „nicht nur". Aufgrund des Doppelcharakters seiner Epochenbezeichnungen ist eine Behandlung derselben, die der Reihenfolge geschichtlicher Ordnungsbegriffe entspricht, meines Erachtens trotz allem angeraten: Tatsächlich bleiben sie mehr oder weniger auf einen historischen Gesamtrahmen rückbezogen, wie sich zeigen wird.
1. Aufstieg und Fall: Renaissance vs.
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Ein für die engere Themenstellung nicht besonders ergiebiges, für Nietzsches Philosophieren allerdings paradigmatisches, aller weiteren Epochenab60
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Das Verformeln historischer Sammel- zu überhistorischen Substanzbegriffen ist freilich nicht auf das Feld musik- und literaturgeschichtlicher Epochenbezeichnungen beschränkt: „Stoicismus" z. B. wird von Nietzsche in einer entgrenzenden Weise verwendet — und immerhin versteht er sich (u. a.) als Philosoph! —, die mit der philosopischen Schule gleichen Namens selten etwas zu tun hat (z. B. 5/399). z. B. O. v. Leixner, wenn er Jean Paul „trotz seiner Eigenart als Stürmer und Dränger bezeichen" will (Gesch. d. dt. Litt., S. 755) vgl. seinen Artikel über „Klassik" Noch in heutigen Lexika (z. B. im Großen Brockhaus) wird er — ganz dem Pars pro totoPrinzip Nietzsches entsprechend — als „die vollkommenste Verkörperung der Aufklärung" bezeichnet. zit. nach G. Stern, Prolegomena zu einer Typologie der Exilliteratur, S. 4 Da es im folgenden nur noch um Nietzsches Terminologie geht, kann auf Anführungszeichen (zur Unterscheidung von den philologisch üblichen Begriffen) verzichtet werden.
Aufstieg und Fall: Renaissance vs. Barock
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folge als Modell zugrundeliegendes Schema von Aufstieg und Verfall geben Renaissance und Barock ab. Zugrundeliegend in doppelter Hinsicht: einmal aus historischer Perspektive, zum anderen setzt sein Denken in antithetischen Klassifikationen an diesem Punkt ein66 und nicht etwa mit der Gegenüberstellung von „Klassik" und „Romantik", die erst das Spätwerk beherrscht. „Die Renaissance bleibt mir [...] die Höhe dieses Jahrtausends", bezeugt ein Brief des Jahres 1882 an F. Overbeck67, und obwohl sich Ansätze zu einer derartigen Wertung bereits früher finden, wird sie doch nicht eher als in „Menschliches, Allzumenschliches" manifest: nach dem Bruch also mit Wagner; und wenn Nietzsche im folgenden nicht müde wird, jene zwei Jahrhunderte als „ersten Frühling" der Menschheit (2/47) zu interpretieren, so ist das zunächst kaum mehr als eine polemische Spitze gegen den einstigen Freund, der sie ja geradezu als Verhängnis und Verderbnis der europäischen Kultur empfindet68: Nun läßt sich zwar vieles in Nietzsches Denken nach 1876 erklären als Wende gegen Wagner — der grundsätzliche Kampf gegen „Deutschland" und für eine kosmopolitische Gesinnung ebenso wie der gegen Schiller und für Heine im speziellen —, indessen kann kein Impuls gleichgesetzt werden mit der Bewegung, die aus ihm folgt, und sei er auch noch so kraftvoll. Nietzsches Wille, sein starkes Streben nach umfassender Selbst-Überwindung, führt in eine weitgehende Eigendynamik des Entwicklungsprozesses und zu einem Renaissance-Ideal im besonderen, das der persönlichen Animosität als eines kontrastierenden Hintergrunds im weiteren gar nicht bedarf, um sich in seinem Gedanken-,, System" zu konturieren. Wenn dabei stets der Gegensatz von „moralinfreiem" (6/170) „.Individualismus' jener Epoche"69 und verzärtelter Menschlichkeit unserer Zeit (6/136 f.) hervorgehoben wird, tritt ein außerkünstlerisches Interesse in den Vordergrund: das vornehmlich dem „Renaissancz-Menscben" (12/223) gilt, der als „höherer Typus" die Progressionsthese zeitgenössischer Kulturgeschichten widerlege 70 . Indem Nietzsche noch einen Gedankenschritt weitergeht und „Umwerthung der christlichen Werthe" als dessen zentrales Anliegen sehen will, setzt er ihn in eine zweite Opposition — und zwar zur Reformationsbewegung 71 —, die im Rahmen vorliegender Untersuchung freilich nicht weiter nachgezeichnet zu werden braucht: Daß sich sein Begriff von Renaissance
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nämlich in den entsprechenden Passagen von „Menschliches, Allzumenschliches", s. u. 10. 11. 1882, K G B 6/276 (nach C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, 2/99) und seine Lektüre von „Menschliches, Allzumenschliches" entsprechend mit den Worten kommentiert, „Nur um von mir sich zu befreien, ergibt er sich allen Platitüden" (ebd.). s. A n m . 67; vgl. 13/419 ebd.; s. auch das nachgelassene Fragment „Der Übermensch", 13/191 6/250 f., 13/419, 587
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Umbegreifung der Epochenbegriffe
nämlich erst in den späten achtziger Jahren auf den religionsphilosophischen Aspekt verengt, während er ursprünglich weitgehend kulturelle Gesichtspunkte beinhaltet, verdeutlicht eine Notiz aus Nietzsches „Umbruchszeit", die dem mächtigen Wagner-Ideal erstmals ein noch mächtigeres GoetheIdeal entgegenzusetzen versucht. Nach dem oben Gesagten wird es kaum überraschen, daß Goethe hier als „Nachzügler" „aller Renaissance-Cultur" gezeichnet wird 72 , als „Glied in der grossen noch fortlaufenden Kette der 73 Renaissance" ; erstaunlich dagegen ist es, daß W. Flitner ebenfalls, wie W. Müller-Seidel zusammenfaßt, Renaissance als „Konstante geschichtlicher Abläufe [versteht], die im Spätwerk Goethes deutlich hervortritt" 74 . Eine Anregung durch die Lektüre Nietzsches ist, zumindest was diesen Punkt betrifft, nahezu ausgeschlossen 75 ... Die „Wiederentdeckung der Renaissance als der gleichsam modernen Antike", so H. Widhammer 76 , ist im übrigen keinesfalls auf J. Burckhardts wahrhaft epoche-machende Veröffentlichung 77 beschränkt oder gar auf die aphoristischen Derivationen seines Kollegen, sondern auch mit Namen wie H. Hettner 78 und G. Semper 79 verknüpft, scheint sich ganz allgemein im kulturellen Leben des 19. Jahrhunderts zu vollziehen 80 . Selbst die damalige Gegenwartskunst spiegelt die grundsätzliche Aufwertung wider, „die ästhetischen Dogmen des programmatischen Realismus decken sich tatsächlich in vielen Zügen frappierend genau mit den Stilprinzipien der Hochrenaissance" (Widhammer 81 ). Das mag dahingestellt bleiben; was die hier vorgestellte ahistorisch-entgrenzende Umbegreifung von „Renaissance" anbelangt, so ist sie keinesfalls gekoppelt mit einer Umwertung; vielmehr ist Nietzsche in
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8/274; sogar „Faust" wird ausdrücklich zur „Renaissance-Cultur" gezählt: wohl etwas zu gewollt. 2/646 f.; allerdings wird er im weiteren Verlauf des Aphorismus gegenüber den französischen Moralisten, die zur französischen „Renaissance" zusammengefaßt sind, als „dunkel", „uebertrieben" und „klapperdürr" abgewertet! Da Nietzsches Interesse dabei jedoch vornehmlich dem französischen Klassizismus von Stil und Gedankenführung gilt, ist die polemische Kontrastierung durch Goethe keinesfalls als „feste Wertung" zu verstehen. Goethe im Spätwerk — eine rückblickende Betrachtung S. 358 Das entsprechende Nachlaßfragment ist in damaligen Nietzsche-Ausgaben — Flitners Betrachtungen über „Goethe im Spätwerk" erschienen 1957 — in Ermangelung eines Personenregisters kaum auffindbar, wenn nicht gar in unseren Tagen erst veröffentlicht. Realismus und klassizistische Tradition, S. 160; Nietzsche sieht die Analogie bereits explizit (2/646 f.) Cultur der Renaissance in Italien, 1860 Italienische Studien zur Geschichte der Renaissance, 1879 weniger mit dessen Veröffentlichung über den „Stil", 1860—63, als mit seiner nüchternen, an der italienischen Renaissance orientierten Bauweise Vgl. auch die Bewunderung, die J. A. de Gobineau in seinen „historischen Szenen" über „Die Renaissance" (1877) ganz unverhohlen dem Gewaltmenschentum jener Epoche zollt. Realism.m. klassiz. Trad., S. 162
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jenem Punkt nur Teil eines Prozesses, der schon zur Mitte des Jahrhunderts anhebt und ihn erst in seiner Basler Zeit erfaßt: in der Person J. Burckhardts, der ihn immerhin so nachhaltig beeinflußt, daß er sich in einem letzten großen Brief vor dem endgültigen Zusammenbruch ausgerechnet ihm gegenüber zu rechtfertigen sucht. Beginnt der Umwertungsprozeß im Falle der Renaissance also bereits vor Nietzsche, so geht er in demjenigen des Barock wenigstens unter anderem von ihm aus. Zwar verwendet er den Terminus auch im umgangssprachlich abwertenden Sinne, etwa als „barock-unvernünftig" 82 , zwar ist ihm „Barock" im engeren Wortverständnis der Stil einer Spätzeit und — ganz den Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts entsprechend 83 — Symptom des stärksten künstlerischen Verfalls, daneben kennt er jedoch eine wesentlich differenziertere Analyse des Phänomens, die eine prinzipielle Ablehnung ergänzt durch partielle Anerkennung. Seine Wertungen scheinen ja ganz generell auf den ersten Blick denen der zeitgenössischen Philologie konform zu sein — Hochschätzung von Renaissance und Klassik bei gleichzeitiger Ablehnung von Sturm und Drang, Romantik und eben Barock —, solche Parallelen erweisen sich aber zumeist als oberflächlich: Wohl kommt Nietzsche zu Ergebnissen, die denen der Wissenschaft sehr ähneln, indessen auf völlig verschiedenem Wege. Ob man allerdings im vorliegenden Fall seine Vorgehensweise als ein „verständnisvolles Eindringen in das Phänomen des Barockstils" bezeichnen kann, wie es I. Beithan tut 84 , mag zumindest anzweifelbar sein —, nicht zuletzt deswegen, weil er gar keine deutschen Texte des 17. Jahrhunderts gelesen hat. Bzw. lesen konnte, wie E. Kunne-Ibsch erläutert 85 , denn zu seiner Zeit lagen sie kaum in verfügbaren Ausgaben vor. Ob sich sein Urteil stattdessen tatsächlich an Hand der Dramen Racines, Corneilles und Molieres bildete, wie sie weiter ausführt, erscheint mehr als zweifelhaft: Nichts wäre ihm ferner gelegen, als den Höhepunkt klassischer französischer Bühnenkunst zum Zeichen des Verfalls zu deklarieren 86 . Glaubhafter erscheint mir hier wiederum I. Beithan, die Nietzsches „unmittelbares Interesse für den barocken Kunststil" auf seine 82
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5/213, vgl. S. 118; daß die ahistorisch-pejorative Wortverwendung allgemein üblich war, läßt sich z. B. auch mit E. T. A. Hoffmanns „Serapionsbrüdern" belegen (sämtliche Werke, 3/ 52). Insofern ist J. Burckhardt also nicht „der erste, der den Barockbegriff überzeitlich, typologisch verwendet", wie E. Kunne-Ibsch glauben machen möchte (D. Stellung Nietzsches in d. Entwickl. d. mod. Lit.wiss., S. 213). vgl. dazu I. Beithans ausführliche Zusammenfassung der zeitgenössischen Urteile (Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 107 ff.) Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 113 D. Stellung Nietzsches in d. Entwickl. d. mod. Lit.wiss., S. 171 Noch eine Vorstufe zu „Jenseits von Gut und Böse" bemüht Corneille und Racine als Beispiele für „die gelungensten Werke und Menschen"! (14/364)
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Umbegreifung der Epochenbegriffe
Beschäftigung mit der Musik Wagners zurückführt 87 —, demnach als mittelbar mehr denn als unmittelbar erscheinen läßt. In der Tat, seine wenigen Äußerungen über Barock finden sich fast ausnahmslos in „Menschliches, Allzumenschliches", stehen z. T. explizit im Zusammenhang mit einer Analyse „moderner" Musik 88 , und es mag nicht unerheblich sein, daß in der Verurteilung des Barock ein resignierendes Bedauern mitschwingt, während eine verwandte Abwertung, die der Romantik, stets aggressiv und polemisch vorgetragen wird. 89 Daß auf die Kunst Wagners zunächst ein Begriff wie der des Barock angewandt wird, bezeugt ein Bemühen, die Entfremdung zu begrenzen, gewissermaßen abstrakt zu halten —, die Verurteilung jener Epoche ist ja eine aus rein ästhetischen Gründen; daß die Formel späterhin keine Verwendung mehr findet, sondern stattdessen die vom „Romantischen", indiziert die Ausweitung der Distanzierungsversuche schon auf sprachlicher Ebene: Während „Barock" ein kunstkritisches Verdikt beinhaltet, zielt „Romantik" auf eines, das nicht zuletzt das Menschliche umfaßt... 9 0 Zurück zur partiellen Aufwertung des Barock: „Nur die Schlechtunterrichteten und Anmaßenden", so scheint Nietzsche sich direkt an die einhellige Ablehnungsfront seiner Zeitgenossen zu wenden, „werden [...] bei diesem Worte sogleich eine abschätzige Empfindung haben." (2/437 f.) Und er zeichnet im folgenden und andernorts das Bild einer Epoche, die jedesmal beim Abblühen jeder grossen Kunst" entstünde 91 und deren „Köstlichkeiten" dann geradezu als „Wohlthat" (2/433) empfunden würden. Wenn er dabei einen Gegensatz zwischen klassischer und barocker Kunst entwirft — unter ausdrücklichem Bezug auch auf „Poesie" wie „Prosastil" —, so doch im Grunde bloß einen rein zeitlichen: „Dieselbe Summe von Talent und Fleiss, die den Classiker macht, macht, eine Spanne Zeit spät, den Barockkünstler." 92 Während Romantik für ihn eine reine Verfallsepoche ist, trägt ihm der Barockstil also immerhin noch „die Kunst der Höhe mit sich herum und verbreitet 87 88
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Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 108, 111 f. 2/438; eine kurze Notiz des Sommers 1878 beginnt mit den Worten „Barockstil — es muß gesagt werden", um sich dann — quasi nach einleitender Selbstüberwindung — „dem Gang der inneren Entwicklung Wagner's" zuzuwenden! (8/546 f.) Auf diesen Sachverhalt machte zuerst E. Kunne-Ibsch aufmerksam (D. Stellung Nietzsches in d. Entwickl. d. mod. Lit.wiss., S. 208), allerdings ohne die beiden Abwertungsvarianten in Beziehung zu setzen zu Nietzsches jeweiligem Verhältnis zu Wagner. Indem Nietzsche den Begriff des Barocken in seinen späten Überlegungen ein einziges Mal zu aktualisieren sucht (12/69) — und solch Einmaligkeit ist bereits als Scheitern des Versuchs zu lesen, denn andernfalls fanden sich dazu zahlreiche Kopien und Variationen —, fließt in ihn auch ein Aspekt ein, der zuvor nur in der Romantik gesehen wird: derjenige der Schwermut, vielleicht in Zusammenhang zu bringen mit Zarathustras Polemik gegen die „Nachtschatten-Weisheit: als welche immer seufzt: ,Alles ist eiteil'" (4/239, vgl. S. 256). 2/438, s. auch S. 433 Musarion IX/417
Aufstieg und Fall: Renaissance vs. Barock
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sie", was er ausdrücklich und im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen als „Verdienst" würdigt. 93 All solche Überlegungen verwenden die zur Diskussion stehenden Begriffe erwartungsgemäß in ahistorisch-typologischem Sinne. Im konkreten geschichtlichen Ablauf zwar wäre dem Barock vornehmlich die Renaissance antithetisch zugeordnet; daß sie in diesem Zusammenhang nicht namentlich erwähnt wird, zeigt die weitgehend historische Begrenztheit des Terminus, der gewissermaßen nicht mehr als eine „Teilmenge" des Klassischen umfaßt. Die bereits des öfteren angesprochene Bedingtheit dagegen des Barocken als Verfallsstufe klassischer Kunst 94 läuft auf einen exemplarischen Auflösungsprozeß letzterer hinaus: Bändigung in Form und Inhalt kippe ab einer höchstmöglichen „Selbstbeschränkung" um in „nothwendige" Entspannung. 95 Auf die entschiedene Dialektik der Gedankenführung folge das Rhetorische (2/437), auf Beherrschung der Leidenschaften deren Entfesselung 96 , auf die strenge Form eine überreiche, überladen-unorganische 97 . Zwei Gesichtspunkte eines dermaßen durchgängigen künstlerischen Sündenfalls 98 , dessen modellhafter Ablauf bis hierhin den kulturgeschichtlichen Vorstellungen der Gründerzeit entspricht, sind gesondert hervorzuheben: Zum einen Nietzsches dionysische Interpretation barocker Kunst, die insbesondere den Aspekt des „Häßlich-Erhabenen" an ihr herausstreicht (2/438) —, eine hellsichtige Hinterfragung ihrer Oberflächenstruktur, in deren Abwertung sicherlich noch ein Gutteil Faszination dessen mitschwingt, der in der „Geburt der Tragödie" genau jenen Zustand verherrlicht: Die dialektische Neuinterpretation griechischer Klassik zieht also eine ebensolche von (antikem wie modernem) Barock nach sich. — Zum zweiten zu nennen wäre der von Nietzsche hervorgehobene Wirkungsansatz barocker Kunst, der sie im Gegensatz zur „unschuldigen [...] Vollkommenheit" „ursprünglicher Natur-Kunst" (2/438) gleichermaßen berechnend wie schuldig erscheinen ließe. Daß ihre formalen und inhaltlichen Experimente angeblich „vom Künstler für den Künstler kräftig unterstrichen" würden (ebd.), rückt sie in überraschende Nähe zur L'art pour l'art-Bewegung, die zur Zeit Nietzsches gerade ihre französische Blüte erlebt und in seinem Spätwerk mit ganz ähnlichen Vorwürfen bekämpft 93 94
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s. Anm. 92 Diese sei der „reinere und grössere Stil" (2/439), während das Barock nur in gewisser Hinsicht — seiner ungeheuren Wirkung wegen — „Grösse" habe (2/438). 2/433; s. auch 8/547 2/438; vgl. das in Kapitel II.2. dazu Gesagte 2/433, vgl. auch 12/329; in diesem „qualitativen Sprung" kündigt sich der Gegensatz Artistik — Virtuosität an. Die Anspielung auf die berühmte Paradies-Szene (2/438) ist von Nietzsche durchaus in allen Implikationen beabsichtigt. Später, unter dem Oberbegriff des Romantischen, prangert er sogar offen die „ekelhafte" Sexualität der Dekadenzkunst an (s. u.).
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Umbegreifung der Epochenbegriffe
wird." Nicht aus verständnisloser Distanz heraus, sondern aus allzugroßer Nähe, und etwas von diesem Verständnis kündigt sich eben bereits in der unzeitgemäßen Charakterisierung des Barock an. Daß dabei die Begriffe letztlich wieder zu zerfließen drohen, „Renaissance" ins „Klassische", „Barock" in „Romantik", „décadence" (13/247) und „L'art pour l'art", sollte nicht als Einwand gegen die Umwertungstendenz als solche verstanden werden: sondern als Hinweis auf deren übergreifendes Gesamtkonzept. Ein Einwand freilich muß rekapituliert werden: Nicht nur das Ergebnis, auch der Ausgangspunkt von Nietzsches Beschäftigung mit dem Barock ist ahistorischer Natur; seine partielle Aufwertung desselben kann nicht auf deutsche Texte des 17. Jahrhunderts bezogen werden — im Gegenteil: Opitz, Fleming und Greiffenberg werden ja, wahrscheinlich ungelesen, abgewertet100 — , wohl allerdings auf Shakespeare101 und sogar auf Schopenhauer102. Im übrigen muß hinsichtlich seiner Umbegreifung und Umwertung des Barokken ebenfalls auf den Einfluß J. Burckhardts hingewiesen werden: Der Schweizer Kulturhistoriker spricht in seinem „Cicerone" zwar zumeist von „Rokoko", H. Pfotenhauer weist aber zu Recht daraufhin 103 , daß dessenungeachtet wesentliche Teile seiner Michelangelo-Kritik104 in „Menschliches, Allzumenschliches" — bezeichnenderweise ohne Quellenangabe — verarbeitet werden zu einer Analyse des Barocken.105 Beide Hälften des Begriffspaares Renaissance-Barock sind also zumindest z. T. von Burckhardt inspiriert; daß sich davon ihrerseits die Barockphilologie des beginnenden 20. Jahrhunderts anregen ließ, kann I. Beithan überzeugend nachweisen: „Bis zu einem gewissen Grad hat Nietzsche dieser [neuen, vorurteilsfreien] Auffassung des Barock
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Die Gleichung Baudelaire = ,,R[ichard] Wjagner] ohne Musik" (11/476) bestätigt implizit die weitgehende Parallelisierung zweier so entlegener Epochen; H. Pfotenhauers Darstellung von Nietzsches Verhältnis zu Baudelaire führt sogar expressis verbis des letzteren „barocke Psychologie und Sinnlichkeit" ins Feld (Die Kunst als Physiologie, S. 106). 11/585: ein typischer Fall v o n „fließender Wertung", vorgetragen durch die Maske „Leibnitz" (sie!) Das weisen E. Kunne-Ibsch (Die Stellung Nietzsches in d. Entwickl. d. mod. Lit.wiss., S. 222) und I. Beithan (Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 1 1 1 ) gleichermaßen überzeugend nach. 12/69: Bei der Anwendung des Terms auf die „Zopf- und Begriffs-Spinngewebe" der deutschen Philosophie taucht die bekannte Dialektik des Begriffs, unverändert gegenüber der zehn Jahre zurückliegenden Definition, wieder auf —, auch jetzt noch ausdrücklich von der Musik inspiriert. D. Kunst als Physiol., S. 134 vorgetragen im „Cicerone" — 1855! Beide Termini liegen im Verständnis der Zeit ja sehr eng beieinander —, und auch in demjenigen Nietzsches: Sein Rokoko-Begriff orientiert sich gleichfalls an der Musik, betont die Verfallstendenz im allgemeinen ebenso wie das „Geschnörkelte" im besonderen (29. 8. 1887 an E. W. Fritzsch, K G B 8/136) und ist, insgesamt betrachtet, entsprechend ambivalent gefaßt (5/187 f.): also ein Quasi-Synonym zum Barocken.
Das 18. Jahrhundert: Aufklärung vs. Sturm und Drang
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[von F. Strich, A. Hübscher, H. Cysarz u. a.] als eines Stil- und Weltanschauungstypus vorgearbeitet." 106 Daß er das mehr indirekt als direkt tat, nämlich durch die Aufwertung des Dionysischen, ist eher durch die Rezeptionsgeschichte seiner Werke bedingt als durch ihn selbst; I. Beithans These jedoch, daß bereits die Form seiner Texte — nämlich eine angeblich barocke! — jenes neue Verständnis nahegelegt hätte 107 , muß ausdrücklich zurückgewiesen werden.
2. Das 18. Jahrhundert:
Aufklärung
vs. Sturm und Drang
Die folgenden Umbegreifungen variieren und ergänzen das soeben nachgezeichnete Modell, indem sie es mit verschiedenen historischen oder typologischen Aspekten anreichern. Dabei können z. T. wesentliche Gesichtspunkte des „Urbildes" übergangen werden, denn dessen wichtigster ist es allein, der die Struktur verbürgt: Stärke vs. Schwäche, Aufstieg vs. Verfall. Die daraus resultierende Charakterisierung von Epochen — also die Summe von Umwertungen auf der Basis von Umbegreifungen — hebt Nietzsches Urteile denn auch gegenüber denen der Zeitgenossen hervor, obwohl sie ansonsten so trügerisch weitreichende Ähnlichkeiten aufweisen. Das ist im Fall der Bewertung des 18. nicht anders als in dem der Beurteilung des 17. bzw. 16. Jahrhunderts. Hier ist seine Position gleichermaßen eindeutig, so eindeutig, daß man auf ein geringeres Interesse für die entsprechenden Epochenbegriffe, schon gar für die Epochen selbst, zurückschließen muß: Aufklärung erscheint als ein durchgängig positiv, Empfindsamkeit bzw. Sturm und Drang als durchgängig negativ besetzter Begriff. Von den summarischen Abwertungen des 18. Jahrhunderts im Ganzen, so wie sie sich im Werk Nietzsches mitunter finden, lasse man sich dabei nicht irreführen: Sie rekurrieren, wie aus einer Kurzcharakteristik des Nachlasses (12/440) sofort hervorgeht, auf die Situation im französisch-, nicht auf diejenige im deutschsprachigen Raum, sind somit allenfalls auf eine Phase der deutschen Aufklärung zu beziehen: auf die Empfindsamkeit (s. u.). Freilich ist Aufklärung im engeren Sinne, d. h. deren rational-diesseitig ausgerichtete Hauptlinie, für den frühen Nietzsche noch kein Thema; als er im Zusammenhang seiner eigenen Weltsicht 108 einmal auf sie zu sprechen kommt, begreift er den Terminus geradezu in sein Gegenteil um: „Die grosse Aufklärung" sei nämlich eine philosophisch, künstlerisch oder religiös 106 107 108
Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 115 a.a.O., S. 109, 114 nämlich derjenigen „Schopenhauers" — im Sinne von 6/319 f.
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Umbegreifung der Epochenbegriffe
inspirierte, transzendiere die Welt der Erscheinungen und verkläre sie in Schönheit. (1/380) An einer nicht solcherart verstandenen Aufklärung moniert er andererseits genau das, was er durch seine Umbegreifung zu „germanisieren" sucht: das „ächt romanisch Flache und Unmetaphysische" an ihr (1/773). Indem er hier eine Linie zieht zur französischen Revolution und jeder „liberaloptimistischen Weltbetrachtung" in deren Folge (ebd.), nimmt er den wesentlichen Aspekt seiner späteren Aufklärungs-Kritik vorweg —, einer Kritik allerdings, die dann eingebettet sein wird in grundsätzliche Zustimmung zu, ja Identifizierung mit ihr. Dazwischen liegt der gewaltsame Perspektivenwechsel der späten siebziger Jahre, mit dem das wert- und haltsuchende Umkreisen der Aufklärungsbewegung recht abrupt, d. h.: gewollt einsetzt, und in jenem Zusammenhang mag P. Sloterdijks „zynische Vernunft" den Nagel einmal auf den Kopf treffen, indem sie weit ausholend verkündet: „Aufklärung war immer schon Enttäuschung im positiven Sinn"109. Nietzsche selbst spricht ja bereits von der „pessimistischen Färbung" derselben (11/571) und, noch deutlicher, interpretiert an anderer Stelle die Musik Wagners als „den allerletzten Kriegs- und Reactionszug [...] gegen den Geist der Aufklärung". 110 Die gewollte Entdeckung dieser Epoche spiegelt also deutlich eine Wende vom Metaphysischen zum Physischen, Diesseitigen —, und solch explizite Wende muß in einem Jahrhundert, das noch immer weitgehend von der Philosophie des deutschen Idealismus beherrscht wird, per se als bedeutsame Umwertung empfunden werden: allerdings als eine, die vom Positivismus gleichzeitig und weit radikaler vollzogen wird, so radikal, daß sie im 20. Jahrhundert wiederum auf starke Ablehnung stößt. Nietzsches „aufklärerische" Tendenz dagegen ist eng begrenzt, allein schon zeitlich: Nur in seiner zweiten Phase, auf der „exzentrischen Bahn" vom Früh- zum Spätwerk 111 , richtet er den Blick konstant auf „die Morgenröthe der Aufklärung" 112 ; sein pragmatischer Rationalismus jener Jahre 113 scheint in der erzieherischen Tendenz 109 110
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Kritik der zynischen Vernunft, S. 26 2/451; umgekehrt wird genau jener Geist, wie ihn „Menschliches, Allzumenschliches" neu zu beleben wähnt, als „Kriegs- und Reactionszug" gegen Wagner aktualisiert. — Daß dabei schon der Vorwurf der Sinnlichkeit gegenüber seiner Musik geäußert wird, bestätigt deren Oppositionsstellung zur Aufklärung: Ihr wirft Nietzsche späterhin übertriebene Sittlichkeit vor (s. u.)! im Sinne Hölderlins, Fragment von Hyperion (Werke und Briefe, 1/439 f.) 2/200; insofern sind seine „Gedanken über die moralischen Vorurtheile" von 1881 programmatisch betitelt. Die „Fröhliche Wissenschaft" dagegen kann nur z. T. noch zu dieser Phase gerechnet werden (s. Kap. II.l.). Späte Notizen belegen, daß er nicht mehr als eine vorübergehende Methode abzugeben hat; die Vorarbeiten zum „Willen zur Macht" greifen gerade das Verrationalisierungsbestreben des 18. Jahrhunderts als „schwächlich" an (z. B. 12/445). — Nietzsches Philosophie ist eben weder irrationalistisch, wie oft behauptet wird, noch rationalistisch; ihr Spezifikum ist es vielmehr, zwischen beiden Polen zu vermitteln.
Das 18. Jahrhundert: Aufklärung vs. Sturm und Drang
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der vor-idealistischen Denkungsart ein neues Leitbild gefunden zu haben: Ausschaltung aller metaphysischen Bestandteile aus der Grundlage der „Erfahrungsphilosophie", Lösung irdischen Glücks von jeglichem transzendenten Bezug, Dominanz naturwissenschaftlicher Methodik im geistigen Bereich 1 ' 4 , lebendig-konkretes Reflektieren ohne Systemzwang, Bevorzugung analytisch-induktiver Aposteriori-Schlüsse gegenüber dem Ideal apriorischer Deduktion: Das alles sind Wesenselemente einer „Philosophie der Aufklärung", wie sie E. Cassirer hervorhebt115 und wie sie sich ganz entsprechend in Nietzsches Denken nach 1876 durchsetzen. Und doch, wenn sich der einstige Schwärmer und „Jünger eines noch ,unbekannten Gottes'" (1/14) jetzt einreiht in die Phalanx nüchterner Aufklärer, so geschieht das nicht vorbehaltlos: Im selben Satz, der die neugefundene Einheit beschwört116, setzt er sich in eine unerwartete Distanz zu solcherart „Aufgeklärten", und auch an manch anderer Stelle spart er mit Kritik keinesfalls: Zwar interpretiert er ihr Streben nach „geistiger Unabhängigkeit" (2/ 310) als vornehm (5/67), das nach politischer und sozialer Selbstbestimmung indessen geradezu als „letzten grossen Sklaven-Aufstand" (ebd.). Nietzsche wird nicht müde, die „demokratische Aufklärung" 117 und namentlich deren Schlüsselereignis, die französische Revolution, als „pöbelhafte" (11/544) „Gleichmacherei"118 anzuprangern; seine unzeitgemäß-fortschrittliche Aufwertung der philosophischen Bewegung ist also gepaart mit einer ebenso unzeitgemäßen, allerdings reaktionären Abwertung derselben auf (gesellschafts-)politischer Ebene. Solch ambivalente Interpretation ist im übrigen picht erst Sache des Spätwerks, schon „Menschliches, Allzumenschliches" sieht die „Gefährlichkeit der Aufklärung" in ihrer „Verunreinigung" mit revolutionärem Gedankengut 119 , wendet sich darüber hinaus gegen deren Überschätzung „historischer Betrachtungsart" (2/47) (lies: Objektivitätsstreben!) und ihre „ungerechte" Religionskritik (2/109). Wenn gar die „Morgenröthe" direkt gegen „schönthuerische Aufklärer" Position bezieht, weil sie angeblich die Machtlo114
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E. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S. 59; St. Atkins weist sie — die Dominanz naturwissenschaftlicher Methodik — sogar in der Kunst selbst nach (Zeitalter der Aufklärung, S. 76). a. a. O., S. 85, S. 2, 68 2/75: „Wir Aufgeklärten". — Dies ist die einzige Epoche bzw. kulturelle Bewegung, mit der sich Nietzsche in derart direkter Form identifiziert. K o m m t das v o n ungefähr? — „In den weltanschaulichen Lehren des Protestantismus", so legt H. M. Wolff auch für seinen Fall nahe, „liegen die Wurzeln der Weltanschauung der deutschen Aufklärung." (Die Weltanschauung der Aufklärung in geschichtlicher Entwicklung, S. 11) 5/13, vgl. 11/570 Musarion X I V , S. 282 2/654, s. auch S. 299
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Umbegreifung der Epochenbegriffe
sigkeit der Wahrheit verkennen (3/306), wird die Kluft zwischen Nietzsche und dem „schwächlich-optimistischen" 18. Jahrhundert (12/445) immer deutlicher. Vor seinen unzeitgemäßen Urteilen über „Aufklärung" steht schließlich die entsprechende Umbegreifung; indem er diese „mit den drei Namen: Petrarca, Erasmus, Voltaire" umreißt (2/47), schließt er mit ihr selbst noch Humanisten des 14. bzw. 15. Jahrhunderts ein. Ja, seine ahistorische Vorstellung von Aufklärung beinhaltet auch eine des „griechisch-römischen Alterthums" (2/310), postuliert einen „Ring der Cultur" (ebd.), der mit dem zeitgenössisch linearen Epochendenken nichts gemein hat. Mithin bezieht sie sich vorrangig auf den einzelnen, „an sich selber" habe man das Werk einer durch die gesamte Kulturgeschichte reichenden geistigen Aufklärung fortzusetzen 120 bzw. „von neuem" zu beginnen 121 : Ein direkter Bezug zum 18. Jahrhundert, gar zur Literatur desselben, ist in einer derartigen Aufforderung allenfalls indirekt enthalten. So ergibt sich folgendes Bild: Einer plötzlich einsetzenden Hochschätzung von Aufklärung als überhistorischer Bewegung steht die gleichzeitige Kritik an der historischen Epoche selben Namens gegenüber. Jene Kritik, die nicht auf ein ins Typologische umbegriffenes Verständnis von Aufklärung rekurriert (das für Nietzsches Denken gleichwohl das gewichtigere ist), gilt es ein wenig noch zu verfolgen: Immerhin führt sie zu einer Reihe von Abwertungen, die zur zeitgenössischen Einschätzung des 18. Jahrhunderts deutlich kontrastieren. Im kulturellen Fortschrittsdenken der Gründerjahre nimmt Aufklärung einen wenn auch nicht glanzvollen, so doch unabdingbaren Platz ein: als notwendige Vorbereitungsstufe der deutschen Klassik. Ganz anders bei Nietzsche: „Man muß die Höhepunkte nicht historisch am Ende erwarten wollen", notiert er bereits 1871 und wertet Schiller und Goethe als bloße „Dichter der Aufklärung" ab — zumindest versuchsweise! 122 Demnach empfindet er Aufklärung und Klassik nicht als wesensmäßig geschieden; in seinem damaligen triadischen Geschichtsmodell gelten sie ihm in gleichem Maße als Verfallserscheinungen des Sokratismus 123 . Und obwohl sich sein Kunst- und Ge120
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2/299, 654; natürlich müsse das stets unter Anreicherung mit neuen Elementen, z. B. mit einem richtigen historischen Sinn und „neu erregter Leidenschaft des Gefühls und der Erkenntniss", geschehen (3/172). 2/47, 451; in den Notizbüchern Nietzsches finden sich mehrfach Aufzeichnungen zu einer „neuen Aufklärung". (Musarion XIV/282, 289, 291) Die Notiz 7/328 f. steht in ihrer Tendenz völlig vereinzelt, trägt somit den Charakter eines einmaligen Gedankenexperiments. Wenigstens Goethe wird ansonsten aus jeder Epoche ausgeklammert, H. E. Gerbers Untersuchung über „Nietzsche und Goethe" (S. 51) scheint den „fließenden" Charakter der Wertung zu verkennen. Auch die Bemerkung 7/328 f. spricht den „von Sokrates begonnenen Weg" als den der „Aufklärung" an; zum triadischen Geschichtsbild s. „Der frühe Nietzsche...", S. 154ff.
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schichtsverständnis nach 1876 deutlich wandelt, bleibt der abwertende Aspekt unterschwellig erhalten: In einem Fragment über gesellschaftliche „Corruption" erklärt er diese als „Symptom der Aufklärung" (3/395) — das ist noch positiv gemeint —, am Schluß seines Gedankenganges jedoch als „Schimpfwort für die Herbstzeiten eines Volkes" (3/398), sprich: für décadence 124 . Aufklärung folglich als „Herbst", freilich als ein solcher, der zukünftigen „Frühling" in sich birgt (ebd.), den „Frühling" der Renaissance (2/ 47) —, man kann nicht umhin, Klassik als „Sommer" und Romantik als „Winter" dazuzufügen. Im ewig wiederkehrenden Zyklus der kulturellen Jahreszeiten ergäbe sich, selbstverständlich ohne jedwede Berücksichtigung historischer Gegebenheiten, die typologische Abfolge Renaissance — Klassik — Aufklärung — Romantik! Die Metapher ist natürlich nur bedingt tragfahig; allein die Konstatierung eines Zusammenhangs zwischen Renaissance und Aufklärung, wie sie im Frühwerk vorgenommen wird 125 , verdient schon Beachtung insofern, als sie die historische Perspektive des 19. Jahrhunderts verläßt und erst in modernen Geschichtswerken wiederkehrt: So bei E. Cassirer, der der Aufklärung — allerdings, im Gegensatz zu Nietzsches intuitiver Analogiebildung, aufgrund exakter Nachforschungen — bescheinigt, sie führe schlichtweg das „zu Ende, was die Renaissance begonnen" habe". 126 Zurück zur oben erwähnten Eingliederung Goethes und Schillers in die Epoche der Aufklärung. Daß dies im Falle des ersteren rein tentativen Charakter trägt, wurde bereits gesagt; in einem Aphorismus zur „Feindschaft [...] gegen die Aufklärung" (3/171 f.) ist ja u . a . auch Goethe als deren Antipode genannt. Als dezidiert unaufgeklärt wird dabei seine Auffassung der Naturwissenschaft angeprangert —, ganz im Sinne eines Goethe-Bildes, wie es übrigens nicht auf das 19. Jahrhundert beschränkt ist. Doch während Goethe in den Betrachtungen Nietzsches zunehmend herausgelöst erscheint aus seinem „goethe-zeitlichen" Bezugsrahmen, wird mit Schiller nicht so verfahren. Daran lassen sich zwei bedeutsame Umwertungen ablesen: Zum einen die Re-Individualisierung Goethes und Schillers zu eigenständigen und durchaus unterschiedlichen Persönlichkeiten, wie sie in der zeitgenössisch beliebten Verschmelzung zum deutschen Dioskurenpaar kaum noch wahrge-
Dieser Begriff wird nur deswegen nicht verwandt, weil er 1881 noch in Nietzsches Vokabular fehlt —, der Gedanke nichtsdestoweniger ist bereits der nämliche wie im Spätwerk. 125 und zwar in abwertender Absicht (7/328 f.), während über beide (typologisch verstandene) Epochen nach der Selbst-Befreiung von Wagners pejorativem Urteil ausschließlich positiv gesprochen wird: Fortan besteht ihr Zusammenhang in beider Nähe zum Klassischen. 126 j ) i e Philosophie der Aufklärung, S. 65 124
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nommen werden127. Das in den Literaturbetrachtungen des 19. Jahrhunderts gängige „Goethe und Schiller" — „ich fürchte, sie sagen: .Schiller und Goethe'" (6/122) — verkürzt sich allerdings in der Folge von Nietzsches fortschreitender Perspektivenverengung auf ein „Goethe und — sonst gar nichts." Zum zweiten: Indem Schiller die Etikettierung als Klassiker verweigert wird (2/608), bleibt er ein (wesentlicher) Teil der Aufklärung —, und zwar der historischen, die, wie gesagt, recht scharfe Kritik erfahrt. Insbesondere deren „Moral-Fanatism" (12/403), wie sie auch St. Atkins in einem aktuellen Artikel einräumt128, wird von Nietzsche immer wieder wütend attackiert —, vom „Immoralisten" Nietzsche, der sich in solchen Angriffen freizumachen sucht für eine „höhere Moral". Die gleichermaßen unzeitgemäße wie unhistorische Einreihung Schillers in die Epoche der Aufklärung hat also hier und nur hier ihre Ursache; sie wird in einem späteren Kapitel (IV.4.) noch unter anderem Gesichtspunkt zu beleuchten sein. Ebenfalls aus dem historischen Rahmen fallen die diversen Stellungnahmen zu Lessing. Auch dieser — neben Schiller das Lieblingskind zeitgenössischer Literaturgeschichtsschreibung — wird darin nicht als Teil der Aufklärung, sondern als Einzelwesen angegriffen: schon das ein Indiz für eine gewisse Hochschätzung seitens Nietzsches, wenngleich ein indirektes129. Während er Lessing nämlich „trotz allem und allem" als Klassiker akzeptiert130, spricht er Gottsched einen derartigen Rang ab (1/325) — und schließt sich hierin dem Urteil seiner Zeit an, das wiederum auf Lessings 17. Literaturbrief131 rekurriert. Sicherlich kannte er Gottscheds „Critische Dichtkunst vor die Deutschen" nicht aus eigener Lektüre — es darf bezweifelt werden, ob er sie wenigstens aus zweiter oder dritter Hand vermittelt bekam —, ansonsten hätte ihm dessen „Versuch, ein klassizistisches Stilideal zu retten" (H. Steinmetz132) einige individuellere Stellungnahmen abgenötigt: in der Zeit der
Nicht selten wird die Schilderung beider Lebensläufe abschnittsweise zusammengefaßt zu einer einzigen Darstellung! Dabei bezeichnet man allenfalls den einen als naiv und organisch, den anderen als sentimentalisch und philosophisch, bleibt also in dem von Schiller selbst vorgegebenen Bezugsrahmen, der den Blick auf weiterreichende Charakterisierungen fast vollständig verstellt. 128 Er spricht von „gelegentlichem Moral-Radikalismus". (Zeitalter der Aufklärung, S. 64) 129 Ahnliches gilt für Jung-Stilling, der immerhin zum „Schatz der deutschen Prosa" beigetragen habe (2/559): Solch ungeheure Aufwertung erfolgt natürlich aus denselben (therapeutischen) Gründen wie diejenige Stifters. 130 Seine Abwertung in 2/608 fällt vergleichsweise zurückhaltend aus, steht als solche in einer Reihe von „fließenden", nur gegen den zeitgenössischen Lessing/fc»// gerichteten Abwertungen (s. o.). Dem Menschen Lessing — und der Verfasser ist für Nietzsche ja stets entscheidender als sein Werk — zollt er ausnahmslos, auch in den frühen Publikationen (1/99, 183, 724 u. a.), seine Hochachtung! 131 Briefe, die neueste Literatur betreffend, in: Werke, 3/82—84 132 N a c hwort zu Gottscheds „Schriften zur Literatur", S. 381 127
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„Geburt der Tragödie" natürlich ablehnende, nach seiner Abkehr vom Gesamtkunstwerk jedoch, überraschenderweise, zustimmende: Denn so wie Gottsched der erste Vertreter des französischen Klassizismus auf deutschem Boden ist, so Nietzsche — derjenige der „Wanderjähre"133 — vielleicht der letzte; dessen Vorstellungen vom Theater sind dann — man muß es in aller Deutlichkeit aussprechen — ebenso konservativ, elitär und rückschrittlich, wie sie einst revolutionär gewesen.
Empfindsamkeit Dem Kampf gegen die historische Aufklärung geht der gegen ihre dialektische Ergänzung, die gefühlsbetonten Bewegungen von Empfindsamkeit wie Sturm und Drang134, Hand in Hand; der für Nietzsche so bezeichnende „Zweifrontenkrieg" richtet sich im vorliegenden Fall gleichzeitig gegen einseitige Vorherrschaft des Intellekts wie gegen eine solche des Gefühls (12/ 453). Wenn er dabei die tjpologische Aufklärung geradezu als Ideal einer „fortschreitenden Vermännlichung der Menschheit" (2/142) verkündet, so erscheint ihm das historische 18. Jahrhundert als „vom Weibe beherrscht, schwärmerisch" und „flach" (12/441). Das Begriffspaar Stark-Schwach, in traditioneller Umkleidung als „Vermännlichung" bzw. „Verweiblichung", kehrt damit auf der Ebene der Auseinandersetzung mit Epochen an entscheidender Stelle wieder; daß Nietzsches Verdikt eines geistigen „Feminismus" (12/440) zunächst dasgan^e 18. Jahrhundert treffen soll, erklärt sich aus seiner vorwiegend auf die französische Kultur ausgerichteten Perspektive: Sieht er doch den Ursprung aller „Verweichlichung, Schwächung, Vermoralisirung"135 jenes „decadence-Jahrhunderts" (6/360) stets in Rousseau; und sicherlich ist es der letztgenannte Aspekt, die „Vermoralisirung", in dem sich ihm Aufklärung und Empfindsamkeit berühren —, und zwar auf typologischer wie auf historischer Ebene. Gleichfalls von Rousseau freilich leitet Nietzsche die
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Die kritische Studienausgabe der Briefe umfaßt damit den Zeitraum von 1880—1889. Die „angebliche Opposition von Aufklärung und Empfindsamkeit", wie sie Doktor/Sauder (Empfindsamkeit, S. 144) als zählebigen Gemeinplatz anprangern, findet ihre Entsprechung in derjenigen von Aufklärung und Sturm und Drang. Auch sie ist vor allem eine oberflächliche. — Alle genannten Tendenzen sind schließlich emanzipatorische, arbeiten von verschiedenen Seiten an einem neuen Welt- und Menschenbild. Erst die Klassik bringt den entscheidenden Niveaugewinn, indem sie auf den umfassenden „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" bereits zurückblicken kann. 12/454, vgl. S. 402 f., 440; allerdings geht er nie so weit wie F. Th. Vischer, in dessen „Aesthetik" unverhohlen von „der krankhaften [...] Sentimentalität" die Rede ist. (2/513)
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Romantik ab136, die er schon früh als „Widerspiel der Aufklärung" (2/109 f.) interpretiert. Das deutet auf eine historisch ausgerichtete Reflexion, denn in seinem typologischen Denken steht der Romantik ja ausnahmslos die Klassik gegenüber! Andernorts (und auch hier handelt es sich um konkrete geschichtliche Zusammenhänge!) wird Romantik im selben Atemzug mit Empfindsamkeit genannt (12/442) — und der Bogen schließt sich: So, wie Schopenhauer bisweilen als Romantiker (2/110) empfunden wird, dann wieder als der „Periode der Empfindsamkeit" zugehörig137, stehen auch die genannten Oberbegriffe in innigem Zusammenhang. Was heißt das de facto? Abgesehen von der Hochschätzung typologischer Aufklärung, wird die Epoche gleichen Namens also kaum weniger angegriffen 138 als diejenige der Empfindsamkeit139, zumindest auf den ersten Blick. Bei summarischen Abwertungen des 18. Jahrhunderts als Ganzes kommt das in eben dem Maße sinnbildlich zum Ausdruck wie bei der Abwertung einzelner Autoren: Indem Nietzsche den „servilen Idealismus Geliert's" (9/ 369) belächelt oder in Klopstock den „moralischen Erwecker seines Volkes" (2/441), meint er damit nichts anderes als den „empfindsamen Tugendidealismus" (St. Atkins140) — einen Vorläufer des „romantischen Idealismus" (12/ 442) —, den er auf der anderen, der rational dominierten Linie des Jahrhunderts ebenso heftig attackiert als „Vermoralisirung" (12/454). Auf den zweiten Blick erweisen sich seine systematischen Angriffe gegen „ e m p f i n d s a m e Eckensteher"141 als wesentlich schärfer, werden diejenigen gegen Aufklärer im 136
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12/454; nicht etwa den Sturm und Drang, für den Rousseau ja in der Tat die Stellung eines wesentlichen Anregers hatte: „Sturm und Drang" ist ein in Nietzsches Denken völlig aus dem historischen Umfeld herausgelöster Begriff. 12/375. Bedenkt man, daß ein Nachlaßfragment Schopenhauer dem Barock zurechnet (12/ 69), so scheint er — denn mit „décadence" verhält es sich nicht anders (13/395) — alle negativen Epochenbegriffe auf sich zu vereinen. Zwar betonen diese jeweils andere Aspekte, gehören jedoch ebenso untrennbar in Nietzsches Denken zusammen, wie ihm naturgegebenermaßen auch die Person Schopenhauers nur immer die eine ist. I. Beithan trennt die verschiedenen Ebenen der Epochenbegriffe nicht; nur so ist ihre Ansicht zu erklären, Nietzsche beurteile Aufklärung — und Klassik — prinzipiell positiv. (Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 134) Indem Empfindsamkeit mit der (von Doktor/Sauder — Empfindsamkeit, S. 199 — zwar als „stereotyp" abqualifizierten) Formel eines säkularisierten Pietismus annähernd umschrieben wird, kann Nietzsches Angriff gegen dieselbe mit einigem Recht auch als ein solcher gegen den Protestantismus gelesen — und die Frage von Anm. 116 wiederholt werden: Kommt das von ungefähr? Zeitalter der Aufklärung, S. 73 13/494; selbst dieser Vorwurf fällt in engem Zusammenhang mit Romantik und Wagner! — Ob als „Eckenstehen" jedweder Ansatz zu Weltflucht und Entsagung angeprangert werden soll? Das ergäbe einen schier unglaublichen Bogen bis hin zum alten Goethe, dessen Entsagungstendenz einem Goethekenner wie Nietzsche kaum entgangen sein dürfte... Oder gäbe es tatsächlich, so grotesk es sich auch ausnimmt, ein „Eckenstehen" der Stärke (Goethe) und eines der Schwäche...?
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engeren Sinne doch oft überlagert, gemildert, sogar ins Gegenteil verkehrt durch den Blick auf ihr Anliegen im weiteren, weitestmöglichen Sinne. Während Nietzsche nämlich Autoren von Lessing bis Jung-Stilling aufmerksam liest und beurteilt, hat er für einen Hölty 142 oder den „harmlosen" Geßner (7/233) nichts übrig als die bloße Namensnennung. Und selbst in der Beurteilung Klopstocks folgt er dem jüngsten Trend seiner Zeit, die sich in zunehmenden Maße — wenn auch natürlich längst nicht in der Radikalität wie der seinen — von ihrem ersten „Klassiker" abzuwenden beginnt. Er sei eben „schon bei Lebzeiten" veraltet (2/607), gibt Nietzsche seinem emotionslosen Desinteresse diesem Autor gegenüber das Wort, allerdings käme er, mit allen Abstrichen, „in der deutschen Litteratur in Betracht" 143 . Mit jenen zwei bis drei Bemerkungen geht er an Klopstock vorüber 144 , an einem Autor, der seinerzeit immerhin noch als kanonisch gehandelt wird. Deutlicher aber als durch Verschweigen hätte er sein abwertendes Urteil gar nicht aussprechen können...
Sturm und Drang Wird man somit bezüglich Empfindsamkeit, abgesehen von der (noch) unzeitgemäßen Abwertung einzelner Autoren, nicht von Umwertung sprechen können, so doch von einer entgrenzenden Umbegreifung. Weit differenzierter stellt sich der Sachverhalt im Falle des Sturm und Drang dar —, und das, obwohl er nur viermal im Gesamtwerk namentlich erwähnt wird. Das heißt: Natürlich ist es nicht die Zeit von etwa 1767 bis 1785, die Nietzsche an den entsprechenden Stellen bedenkt; sein Begriff von Sturm und Drang wird auf Wagner ebenso angewandt wie auf „die französische Spätromantik der Vierziger Jahre" (5/202): Seine „Stellung zum Sturm und Drang und seinen Vertretern" ist in der Tat, wenn auch nicht, wie Beithan glaubt, „endgültig aus [seiner] Stellung zur Romantik zu erklären". 145 Ähnlich seinem Umgang mit anderen Epochenbezeichnungen, so dehnt er den Term vielmehr ins Ahistorische: Während er zum einen vom „Sturm und Drang" religiöser Erregungen „in rohen Zuständen der Cultur" (3/178) schreibt, beklagt er sich zum anderen über den ,jet%t noch wüthenden Sturm und Drang des 142
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8/194; er wird in A. F. C. Vilmars „Literaturgeschichte" ziemlich abgewertet (S. 448) —, Hölty, der Name durchaus stellvertretend zu lesen für den gesamten Hainbund und sogar über diesen hinaus. 10. 4. 1888 an G. Brandes, K G B 8/288 ganz im Sinne Zarathustras (4/225) (Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 134); Stellungnahmen zum Sturm und Drang sind ja nicht bereits identisch mit denjenigen zu seinen Vertretern oder umgekehrt —, „Vertretern" selbst im „außergermanistischen Sinne"!
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,National-Gefühls"' (5/182), nimmt den Begriff also bloß beim Wort anstatt — wie seinerzeit üblich — als feststehende Bezeichnung: Er, der typologische Begriff, bedeutet ihm „ungestümen Naturalismus", wie aus einem frühen Nachlaßfragment über Goethes Entwicklung hervorgeht (7/686); daß er solches jedoch bedeutet, schlägt einen Bogen bis hin zur Kunstrichtung selbigen Namens, einen Bogen aus quasisynonym verwandten Epochenbezeichnungen, die im wesentlichen nur verschiedene Schattierungen eines Oberbegriffs abgeben: desjenigen der Schwäche. Nun aber mit I. Beithan zu meinen, Nietzsche sei „ein prinzipieller Verurteiler des Sturm und Drang" 146 , übersieht meines Erachtens einen wesentlichen Aspekt seiner diesbezüglichen Gedanken —, einen derart wesentlichen, daß man ihn als echte Umwertung auf der Basis der soeben nachgezeichneten Umbegreifung verstehen kann: Der oben erwähnte Aphorismus aus „Jenseits von Gut und Böse" nämlich (5/202) spricht von den romantischen Stürmern und Drängern als den „letzten grossen Suchenden!" In eben diesem Sinne charakterisiert eine Passage aus „David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller" bereits die „Klassiker" (1/167); Klassik und Romantik flössen demnach im Aspekt des Suchens nach der „ächten ursprünglichen Kultur" (ebd.) zusammen bzw. genauer: Sturm und Drang sei ein wesentliches Akzidenz beider Richtungen — der Begriff wird ja, wie gesagt, beim Wort genommen — und somit nicht allein historisch notwendige Vorstufe der Klassik, als die er in der zeitgenössischen Philologie implizit abgewertet wird, sondern tjpologisch notwendiges Attribut jeder Blütezeit. Daß der Sturm und Drang als Epoche dagegen eindeutig negativ gewertet wird, sollte man nicht gegen seine typologische Aufwertung ausspielen; im übrigen war Nietzsche die „vorklassische" Literatur, von ihm eher als „vorromantisch" begriffen, kaum bekannt. Die Frage z. B., inwiefern seine weitreichende Polemik gegen Herder auf solider Textkenntnis basiert, muß offen bleiben; die differenzierte Auseinandersetzung mit Schiller und Goethe jedenfalls bezieht sich ausschließlich auf deren klassische bzw. nachklassische Zeit. Seine vielfachen Stellungnahmen schließlich gegen Rousseau und Shakespeare können ebensowenig zum Materialobjekt gerechnet werden wie die einmalige gegen Hamann 147 ; indirekt untermauern sie immerhin, so I. Beithan, den Kreuzzug des mittleren und späten Nietzsche gegen die „Verwilderung der künstlerischen Form". 148 Daß er im Zeichen eines an Frankreich orientier146 147
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Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 135 Nietzsche beurteilt ihn in einem Brief an E. Rohde als „sehr tief und innig, aber nichtswürdig unkünstlerisch." (31. 1. 1873, K G B 4/121) (Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 133); allerdings spiegelt sich darin weniger die „Opposition des Aufklärers", wie I. Beithan meint (a. a. O., S. 134), sondern eher die des „Klassikers" —, vielleicht gar diejenige des Klassizisten.
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ten Stilideals steht (2/595), ist jedoch nicht erst für die Zeit nach 1876 zu belegen: Schon Aufzeichnungen des Jahres 1873 entwerfen ein triadisches Idealschema kultureller Entwicklung, dessen zweiter (d. h. für die Gegenwart relevanter) Schritt in die „Schule der Franzosen" führen müsse (7/685). Im Umkreis jener Reflexion kommt Nietzsche auch auf die „vorbildliche" Selbststilisierung Goethes vom Stürmer und Dränger bis hin zum würdevollen Weltweisen zu sprechen (7/686). Selbst die Vorliebe für den alten Goethe erweist sich dabei „bloß" als eine relative, als eingebettet in ein teleologisches Konzept, dessen „höchstes und letztes Ziel der Cultur" (7/685) weder in seiner Person, noch gar im Sturm und Drang zu erblicken sei: v o n da [Goethes „edler F o r m " im A l t w e r d e n ] bis zur Einfachheit und G r ö s s e ist freilich n o c h ein grosser Schritt, aber w i r sollten n u r gar nicht glauben G o e t h e überspringen zu können, sondern müssen es immer, w i e er, w i e d e r anfangen. (7/686)
Abwertung des Genies So scheint Nietzsches Standpunkt bezüglich der Sturm und Drang-Periode dem der Literaturwissenschaft zu ähneln 149 , insofern selbst die historische Rechtfertigung bei letzterer nicht mehr als die Oberfläche abgibt einer tiefgreifenden, „unterirdisch" immer mitschwingenden Ablehnung der unvollendeten Form 150 . Erstaunen muß es daher um so mehr, daß gerade das in unserem Jahrhundert neu erwachte Interesse für diese Epoche, z. B. in H. A. Korffs „Geist der Goethezeit", nicht vom Einfluß Nietzsches getrennt werden kann, insbesondere wohl von dessen Ideal des Übermenschen, in zweiter Linie auch von seiner Entdeckung des Dionysischen. Daß eine derartige Vereinnahmung weitgehend auf vulgarisierender Verkürzung seiner Philosopheme beruht, daß sich vor allem die neue Genieverehrung der Jahrhundertwende zu Unrecht auf ihn beruft 151 , läßt sich bei genauerer Analyse entsprechender Nietzsche-Stellen belegen. Der Hochschätzung des großen einzelnen steht dort nämlich eine differenzierte Relativierung des Genies — nicht etwa: gegenüber, sondern: zur Seite; indem sich schon der Verfasser der „Unzeitgemässen Betrachtungen" gegen die „Zudringlichkeiten geniesüchti149
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scheint! Denn die folgende Passage wird zeigen, daß er keineswegs „in den Vorurteilen seiner Zeit" (I. Beithan, a. a. O., S. 134) befangen war. Die allgemeine Hochschätzung des jungen Goethe ist hierzu kein Widerspruch, argumentiert die Philologie des 19. Jahrhunderts doch ähnlich „inkonsequent" wie andernorts Nietzsche: Goethe ist ihr als Goethe gerechtfertigt, nicht eigentlich als Stürmer und Dränger! G. v. Wilpert stellt den Tatbestand, nicht dessen Bewertung, lapidar in seinem „Sachwörterbuch der Literatur" fest. (S. 305)
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ger Original-Narren" verwahrt 152 , stellt er sich der ungebrochenen Genieverehrung seiner wie jeder künftigen Zeit entgegen. Daß es sich dabei um eine wenngleich implizite, so doch nicht weniger manifeste Umwertung handelt, wird in W. Müller-Seidels Kafka-Buch betont 153 und durch einen Blick auf die herrschenden ästhetischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts bestätigt: Zwar ist die Verurteilung des Kraftgenies allgemein, z. B. bereits in der Literaturgeschichte des Gervinus, zwar ist, wie H. Widhammer zusammenfaßt, auch die „Zerstörung des romantischen Geniekults ein wichtiges Anliegen" der Gründerzeit 154 , solch Bekämpfung konkreter kultureller Erscheinungen geht indes nicht Hand in Hand mit einer Frontstellung gegen deren zugrundeliegende Idee. Ein Blick in die führende Ästhetik der Epoche, diejenige F. Th. Vischers, zeigt recht plastisch, daß die Sturm und Drang-Periode zwar abgewertet wird zu „Flegeljahren des modernen Ideals" (2/514), das „Vollblut" des Genies (2/393) dagegen ungebrochene Verehrung genießt: als „reines und ungetheiltes Wirken der Phantasie", als Einfalt und (Winckelmannsche) „stille Tiefe" ,als „Naivität" (wahrscheinlich im Schillerschen Sinne; ebd.). Ja, an manchen Stellen verflüchtigt sich die Verehrung in vernebelnder Verklärung: „Das Genie ist eine Urkraft, kündigt sich an wie eine Naturmacht." (ebd.) Eine derart mystifizierende „Wissenschaft des Schönen" empfindet Nietzsche schlichtweg als „dummes Gerede vom Genie" (11/127); in allen Phasen seiner triadischen Entwicklung wird er nicht müde, den „Aberglauben vom Genie" als „Superstition unseres Jahrhunderts" anzuprangern (12/436). Und zwar als eine aus zwei Quellen gespeiste: aus der Eitelkeit des Massenmenschen einerseits, dessen Selbstliebe eine (vor Vergleichen schützende) Distanz zum Ausnahmemenschen wünsche (2/151 f.), als „Genie-Schauder" eben jenes Ausnahmemenschen andererseits (2/154), hinter dessen übersteigertem Selbstwertgefühl sich Krankheit und Ermattung verbärgen (2/122). Erstaunlicherweise deutet er nicht nur diese zweite Spielart — also den Glauben des Genies an sich selbst — als „gefahrlichstes Kennzeichen" der „Müdigkeit" (3/310), sprich: der décadence; indem er andernorts die „Prostration vor dem ,Genie' " als eine romantische abqualifiziert (3/222), weitet er die entsprechende Abwertung auf Ästhetiker vom Schlage Vischers aus. Seine schrittweise Hinterfragung des Geniebegriffs beginnt allerdings schon mit der Überlegung, daß ebenso wie das einzelne Kunstwerk 155 das
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1/195; die Berufung auf Lichtenberg dürfte dabei als Topos angesehen werden, findet sich u. a. auch in der Literaturgeschichte seines Lehrers A. Koberstein (4/82). Die Deportation des Menschen, S. 67 Real. u. klassiz. Trad., S. 82 2/141 f., 146 f.
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Genie156 gemacht, daß folglich in beiden Fällen ein vollendetes Sein vorgespiegelt werde, wo es im Grunde ein schrittweises Werden zu konstatieren gäbe (2/152). Die für Nietzsches Philosophie so bezeichnende Reduktion von Phänomenen auf ihre „allzumenschlichen" Ursachen stellt damit auch in vorliegendem Fall die Frage nach den konkreten Entstehungsbedingungen: F. Th. Vischers statische Vorstellung vom Genie, das gewissermaßen als Meister vom Himmel gefallen157, wird dynamisiert durch die Frage, „welche rein menschlichen Eigenschaften in [ihm] zusammengeflossen sind, welche Glücksumstände hinzutraten" (2/155). Neben einem teleologischen Lebenskonzept, Energie und Mut (ebd.) als den gewissermaßen persönlichen Voraussetzungen nennt Nietzsche vor allem historische (1), genealogische (2), physiologische (3) und soziologische (4) Einflüsse „von außen"158. Im einzelnen interpretiert er den „Cultus des .Genius'" als Nachklang der „Götter-FürstenVerehrung" (2/298) (1), das Genie selbst als „Schlussergebniss der accumulirten Arbeit von Geschlechtern"159 (2), als Menschen mit körperlichen Mängeln (2/194) und „rapidem Stoffwechsel"160 (3). Dem träten als soziologische Faktoren Mißhandlung durch Mitmenschen (2/195) und, nicht zuletzt, der Kairos (5/228) zur Seite (4), so daß sich das zeitgenössisch so hochgeschätzte Genie am Ende als „subtile und unter höchstem Druck arbeitende Maschine"161 decouvrieren, d. h. vollständig erklären ließe. Dessen „Schaffenszwang", von dem F. Th. Vischer ehrfürchtig spricht (2/393), erschiene nach einem „Blick hinter die Kulissen" „durchaus nicht als etwas Grundverschiedenes von der Thätigkeit des mechanischen Erfinders" (2/152): Noch der „Geniale" „wird,
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2/417, s. auch 3/558 „ Das Genie ist originell", heißt es in seiner Ästhetik schlicht (2/394) —, als ob es das immer schon gewesen wäre bzw.: als ob es „Originalität" überhaupt gäbe unter der entmystifizierenden Perspektive psychologischer Hinterfragung! Und „außen" beginnt für die Seele des Künstlers ja bereits beim eigenen Körper, sofern dessen Funktionen (wie bei Nietzsche) in störender Weise von der „Norm" abweichen. 6/148, s. auch S. 145 und eine späte Nachlaßnotiz, die das Endergebnis jener „Arbeit" verzeichnet: „Das Genie sitzt im Instinkt" (III/824). — Ganz ähnliche Überlegungen zur historischen Bedingtheit des klassischen Nationalautors finden sich in Goethes Horen-Beitrag von 1795, „Literarischer Sansculottismus" (Gedenkausgabe, 14/179 ff.)! 6/282; derartige Formulierungen sind keinesfalls bloße Polemik oder Ausdruck beginnenden Wahnsinns, sind nicht mehr als die formelhafte Verkürzung eines weitgehend physiologisch ausgerichteten Menschenbildes, wie es spätestens seit „Menschliches, Allzumenschliches" vertreten wird. — Bedenkt man, daß Nietzsche selbst „das langweiligste Gedärm von der Welt" hatte (Juli 1885 an E. Förster, K G B 7/73), das ihn — wie angeblich schon Epikur — mittels wechselnder Diät „das Glück eines Dyspeptikers" erstreben ließ (2. 1. 1886 an R. und I. v. Seydlitz, K G B 7/134), so zeigt sich gerade in der Definition des Genies sein Versuch der Selbstkasteiung und -Überwindung. Auch die zahlreichen „Intestinal-Injurien" Wagners erklären sich damit, zumindest z. T., als verkappte Selbstbeschimpfung. 6/130, vgl. III/742
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was er ist", durch unermüdliche Arbeit 162 , wie am Falle des Novellisten Schritt für Schritt abzulesen sei. 163 Hat Nietzsche nunmehr zwar das Genie aus seinen Entstehungsbedingungen erklärt als bloße Variationsform des Durchschnittsmenschen, so wäre er doch nicht Nietzsche, wenn er jener nüchtern-eisigen Abrechnung 164 nicht nachträglich einige polemische Pointen abgewönne. Es ist freilich zu beachten, daß Abwertungen des Genies zum „Feind der Wahrheit" (2/361), zum unbeherrschten, unzufriedenen (3/55), „halbgestörten, phantastischen, fanatischen" 165 „Genie" in Anführungszeichen, daß dessen Lokalisierung auf der Ebene von „Lügenerzählern, Hanswürsten" (3/608) und „Halbverrückten" (3/55) nichts essentiell Neues bringt. 166 Sogar die dem „Journal des Goncourt" entlehnte (14/734) Definition des Genies als einer „Form der Neurose" 167 basiert auf Überlegungen, wie sie im „Mittelwerk" bereits vorgetragen sind; nur verschiebt sich eben das Schwergewicht im Lauf der Entwicklung von psychologisierender Hinterfragung zur Umwertung —, im speziellen Fall: von analytischer Relativierung zur vernichtenden Verurteilung unter der Optik des Lebens. Im übrigen braucht man letztgenannte Definition lediglich von rechts nach links zu lesen — und erhält vorab einen Beitrag zur Aufwertung des (zeitgenössisch verachteten bis verurteilten) Kranken. Und Nietzsche wäre auch nicht Nietzsche, fänden sich in seinem Werk nicht zahlreiche höchst positive Äußerungen über das Genie. Vor allem im Frühwerk verteidigt er es gegenüber den „Kärrnern" wissenschaftlicher Gelehrsamkeit 168 , sein elitäres Kulturideal kulminiert geradezu in der Forderung, alles und jeden in den Dienst des Ausnahmemenschen zu stellen (1/ 403). Es hat den Anschein, als ob ihn erst die Enttäuschung über Wagner, 162
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2/219, s. auch S. 147; Nietzsches Autobiographie belegt die frühe Variation seines (von Pindar entlehnten) Wahlspruchs denn auch in genau den entsprechenden (genealogischen, physiologischen, soziologischen, geographisch-klimatischen) Schritten. 2/153; in den „Leuten von Seldwyla", die Nietzsche ja zur Entstehungszeit von „Menschliches, Allzumenschliches" liest, findet sich eine ganz ähnliche (wenngleich weniger differenzierte) Denkfigur: Die Dichter der „neuen Sturm und Drangperiode" (Sämtliche Werke, 2/ 327) werden in der Erzählung „Die mißbrauchten Liebesbriefe" durch einen Oberkellner blamiert, der auf „Bildung und Schule" setzt anstatt auf Genialität (2/331). In „Menschliches, Allzumenschliches", so meint er im Rückblick, „erfriere" das Genie, indem es „gelassen aufs Eis gelegt" werde. (6/323) 3/64, vgl. S. 210 innerhalb von Nietzsches Denkansatz; für die literarische Moderne ist die — wie W. MüllerSeidel ausführt — gegen den Sozialdarwinismus gerichtete Umwertung des Genies zum „Entarteten" und „Degenerierten" höchst folgenreich. (Die Deportation des Menschen, S. 66 f.) 13/298; man beachte auch 6/22: „Wagner est une névrose"! 1/301, s. auch S. 358
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das leibhaft in die Erscheinung getretene Genie169, an der Idee desselben zweifeln läßt; und da er sich erst im Spätwerk wieder unter positiver Optik mit dieser Idee auseinandersetzt, z. B. mit den „Erhaltungsbedingungen des Genies"170, ließe sich hier erneut seine triadische Entwicklung belegen. Allenfalls jedoch in groben Zügen, denn selbstverständlich finden sich sogar innerhalb der drei Entwicklungsphasen, namentlich der letzten, divergierende Äußerungen, die allein dann schlüssig aufzugliedern sind, wenn man der Umwertung eine Umbegreifung vorordnet: Mehrfach spricht Nietzsche ja von „zwei Arten des Genie's"171, in anderem Zusammenhang gar von deren drei (2/147), einmal umschreibt er dessen psychische Konstitution als „intellectuale Reizbarkeit" (3/399), ein andermal, wie gesagt, als Neurose. Immer allerdings wehrt er sich gegen die seinerzeit übliche Begriffsfassung: „das Genie — ein Wort, das ich bitte, ohne allen mythologischen und religiösen Beigeschmack zu verstehen" (2/194), sondern eben in seinem Sinne, und das heißt vor allem: als Äquivokation für das unmoralische Genie der Stärke (12/523) wie für dasjenige der Krankheit und der Schwäche (13/365 f.). Natürlich erstreckt sich Nietzsches Abwertung ausschließlich auf letzteres, das mit einem künstlichen „Anschein [...] von Schulung und Cultur" sich wie andere zu täuschen suche (3/616); und so, wie Mangel an innerer „Zucht" hier ausschlaggebend erscheint für die Verurteilung, so dort erfolgreiche „Bändigung" für die Bewunderung als „echtes" Genie: dessen Dienstbarmachung der Kraft durch die Vernunft erhebe es selbst zum Kunstwerk 172 , während die „Gleichgültigkeit gegen jede strenge, vornehme, gewissenhafte Schulung im Dienste der Kunst" nur zum „frechen Dilettantismus" führe (6/ 42). So ist die zunächst so eindeutig erscheinende Abwertung des Genies implizit stets an eine dialektisch strukturierte Umbegreifung geknüpft, die innerhalb ihrer positiv besetzten Begriffshälfte verschiedenste Aufwertungen mit sich bringt. Daß das Genie des öfteren als „Genius" und damit als ein solches der Stärke gekennzeichnet173, andernfalls in pejorativ zu verstehende Gänsefüßchen gesetzt wird, bietet zwar aufgrund der bekannten formalen Inkonsequenz Nietzsches kein sicheres Indiz für die Tendenz, die jeweils in den Begriff gelegt ist, ein Indiz aber liefert es allemal. Die oben dargestellte
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4. 8. 1869 an C. v. Gersdorff, K G B 3/35; 25. 8. 1869 an P. Deussen, K G B 3/46 13/39, s. auch 12/76 5/191, s. auch S. 133 3/318 f., s. weiterführende Erläuterungen in Kap. IV. 1. In einem Aphorismus der „Morgenröthe", der den „Genius" eines Plato, Spinoza oder Goethe zu charakterisieren anhebt, wählt Nietzsche in dem Moment, wo er ihn durch ein negatives Beispiel (Schopenhauer) kontrastieren will, den Ausdruck „Genie"! (3/292; vgl. obige Ausführungen zu „Maske" bzw. „Larve")
220
Umbegreifung der Epochenbegriffe
Abwertung der zeitgenössischen Genievorstellung wird jedenfalls von der Schwierigkeit, die der Begriff für den Leser (ver-)birgt, nicht beeinträchtigt, im Gegenteil: Die damit verknüpfte Aufwertung des Genies der Stärke sprengt den Denkansatz einer Ästhetik wie derjenigen F. Th. Vischers ebenfalls völlig.
3. Goethe-Zeit:
Klassik vs. Romantik
Mehr als manch anderer und mehr insonderheit als die meisten seiner Zeitgenossen empfindet Nietzsche die Dekaden um 1800 als Goethe-Zeit im wahrsten Sinn des Wortes, sieht er doch einzig in dessen Person das Ideal klassischen Dichtertums verkörpert. Bereits Schiller, im 19. Jahrhundert als der größere der beiden „Dioskuren" geschätzt bzw. überschätzt 174 , wird in seinen Interpretationen diversen abwertenden Gegenkategorien zugeordnet, als deren Sammel- und Oberbegriff „Romantik" fungiert. Daß beide Termini, der des Klassischen ebenso wie der des Romantischen idealtypisch zu verstehen sind, also ahistorisch, wird nach dem Gesagten nicht überraschen; im übrigen sind sie schon ausführlich in meiner Untersuchung über den „Frühen Nietzsche und die deutsche Klassik" behandelt und bedürfen hier nur einiger Ergänzungen im Blick auf Mittel- und Spätwerk.
Klassik Insofern G. Lukäcs die Klassizität eines Kunstwerks daran messen will, ob es „imstande ist, den wesentlichsten und allertypischsten Verhältnissen den maximalen Ausdruck der Versinnlichung, der Individualisierung zu geben" 175 , stellt er sich in eine philologische Tradition, die weit eher für das 19., als für das 20. Jahrhundert charakteristisch ist. H. R. Jauß spricht in seinem Aufsatz über „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft" denn auch lapidar vom „Klassizismus der orthodoxen marxistischen Ästhetik" (S. 160): Der ahistorische Blickwinkel des Klassizisten erweist sich selbst als ahistorisches Phänomen. Das erinnert zwar an Nietzsches Standpunkt „kritischer" Geschichtsbetrachtung, und insbesondere die Idee des Klassischen als eine solche der Individualisierung des Typischen kommt manchen seiner Überlegungen sehr nahe, jedoch die zweifellos evidenten Parallelen zwischen ihm und einer (im engeren wie weiteren Sinne) klassizistischen 174 175
s. Kap. IV.3. nach H. R. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation., S. 160
Goethe-Zeit: Klassik vs. Romantik
221
Philologie sind wieder einmal rein oberflächlicher Natur. Gewiß, die Klassizisten operieren ebenfalls, so W. Müller-Seidel, „mit Begriffen wie Dekadenz, Entartung oder Nihilismus"176, aber ihre Verdikte zielen auf ganz andere Autoren und Werke als es diejenigen Nietzsches tun. Solch weltanschaulich eingebettete Kunstkritik ist natürlich, um den Oberflächenvergleich noch einen Schritt weiter zu treiben, in beiden Positionen — der zeitgenössischen und der „unzeitgemäßen" — nicht ablösbar von einer Hochschätzung des Klassischen: Abgesehen von den Jahren zwischen 1849 und 1870, so H. Widhammer, also abgesehen ausgerechnet von den für Nietzsche prägenden Jugendjahren, in denen durch J. Schmidt und G. Freytag eine vehemente Klassik-Abwertung inszeniert wird 177 , ist die Verherrlichung derselben/desselben ebenso kritiklos wie allgemein. Schließlich, so Widhammer weiter, stünde Klassik seinerzeit „als symbolischer Garant für die geistige Einheit Deutschlands"178, die es als Ersatz bzw. ab 1871 als Ergänzung der politischen zu demonstrieren gälte. Entsprechend groß sei der Bedarf an literarisch-kulturellen Leitbildern; H. Jaumann spricht in einer Studie über die Wieland-Rezeption jener Jahre geradezu von einer „Inflation deutscher Klassiker"179. Daß im Terminus „Klassik" eine ahistorische Wertformel mit einer nur äußerst vagen zeitlichen Lokalisierung zusammenfließt, begründet sich nicht zuletzt durch die Tatsache, daß sich „Weimarer Klassik" als präzise Epochenbezeichnung erst im 20. Jahrhundert durchsetzt (B. Allemann180); bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ist es „eine weithin zeitlos verstandene Klassik, die an Schulen und Universitäten verbreitet wird" (W. Müller-Seidel181) —, und man darf ergänzen: auch in Nietzsches Werk. Sobald es jedoch darum geht, den Klassik-Begriff mit Leben zu erfüllen, scheiden sich die Geister sehr schnell. Hat die zeitgenössische Philologie bei der Aufstellung ihres Literaturkanons eine Muster-Sammlung im Auge, deren unveränderliche Schönheit als Vorlage für eigene Stilübungen empfohlen wird 182 , so greift Nietzsche eine derart „behagliche" Aneignung auf Kosten „alles lebendig Produzirenden" gerade an (7/603): Seine Vorstellung von Schönheit wie die von gutem, gar „grossem" Stil ist erwartungsgemäß
176 177
178 179 180 181 182
Die Geschichtlichkeit der deutschen Klassik, S. 25 Real. u. klassiz. Trad., S. 99 und 105; R. Gottschalls Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts, deren zwei Bände 1854 erscheinen, zeigt Spuren jener Kritik — „Unsere Klassiker gehören in ihrer Entwickelung mehr dem vorigen Jahrhundert an" (Bd. 1, S. VII) —, die sich ihrer Form nach gleichfalls bei Nietzsche findet! a. a. O., S. 98 Vom „klassischen Nationalautor" zum „negativen Classiker", S. 17 Das Klassische, S. 854 D. Geschichtlichk. d. dt. Klass., S. 22 nach H. Jaumann, Vom „klass. Nat.autor" zum „neg. Class.", S. 17 ff.
222
Umbegreifung der Epochenbegriffe
dynamisch 183 , das bloße „Aufsaugen" von Autoren wie Winckelmann oder Goethe empfindet er als Entleerung derselben (8/576). Entsprechend provokativ beantwortet er die allerorten gern gestellte (rein rhetorisch gemeinte) Frage, „giebt es .deutsche Classiker'P" mit einem fast glatten Nein (2/606 ff.). Zwar ist diese Antwort bereits durch Goethes Horenbeitrag über „Literarischen Sansculottismus" vorgegeben — und Nietzsches Philosopheme sind ja oft in überraschender Deutlichkeit von Gedanken des älteren und alten Goethe inspiriert, um nicht zu sagen: vorweggenommen —, zwar läuft die Begründung seines Neins auf eine merkwürdig hegelisch klingende Definition des Klassikers hinaus 184 : die Abwertung selbst von Autoritäten wie Schiller, Lessing und Wieland, von derjenigen Gutzkows und „einer ganz neuen [...] Schaar von ,Klassikern'" (1/221) zu schweigen, weist jedoch eher auf die Literaturbetrachtung unseres Jahrhunderts voraus als in die des deutschen Idealismus zurück. Daß Nietzsche die Adjektive „klassisch" und „deutsch" als a priori unvereinbar bewertet 185 — übrigens in direkter Anlehnung an Sainte-Beuve (2/606 f.) —, ist als polemische Spitze gegen seine Zeitgenossen zu bewerten, die gerade die deutschen Klassiker, so I. Beithan, „als Vorkämpfer und Schöpfer der nationalen Größe" reklamieren 186 . Spricht Nietzsche dagegen von „unseren sogenannten Classikern" (2/603) bzw. bezeichnet er sie geradeheraus als den Gegensatz dessen, was man unter einer derartigen Bezeichnung begreift (13/490), so ist er doch offensichtlich bestrebt, selber als ein solcher zu erscheinen: zumindest auf dem Papier — im wahrsten Sinne des Wortes —, wie u. a. aus seiner Korrespondenz mit dem „Verleger" C. G. Naumann hervorgeht. 187 Erneut erweist sich sein Kampf gegen ein gewisses Phänomen gleichermaßen als ein solcher für dieses; indem er eine seines Erachtens falsche Vorstellung des Klassischen angreift, führt er seine eigene ins Feld. Die Angriffe markieren demnach nicht mehr als die philologisch interessante Spitze eines kulturphilosophischen Eisberges, dessen ganzes Gewicht an Umwertung hinter respektive unter dem Wellenschlag der Polemik zu suchen ist: Die rein philologisch fundierte Ansicht I. Beithans, Nietzsche versuche, „Klassik im Sinne der Romantik [ = des Dionysischen] zu deuten" 188 , muß als entspreDie Mustergültigkeit der Klassiker, wie sie in der ersten „Unzeitgemässen Betrachtung" auf überraschend zeitgemäße Art ins Feld geführt wird (1/221), ist also eine begrenzte. 184 „Classiker sind [...] Vollender und höchste Lichtspitzen" „von intellectuellen und litterarischen Tugenden" (2/608). — Vgl. dazu 2/640, wo auch die problematische Seite jener „höchsten Lichtspitzen" — die unabwendbare Regradation zu „Spitzchen" in der nächstfolgenden Generation — angesprochen wird. 185 6/279, 13/615 f. 186 p r Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 127 187 26. 6. 1888 an dens., K G B 8/343; vgl.: 22. 8. 1888 an M. v. Salis, K G B 8/396 188 Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 122 183
Goethe-Zeit: Klassik vs. Romantik
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chend oberflächlich zurückgewiesen werden; vielmehr wird dessen unzeitgemäße Abwertung der Epoche bzw. ihrer Autoren erst verständlich aus seiner eigenen Idee von Klassik. Deren sechs Facetten wurden im zwejten Kapitel aufgezeigt; wenn sie im folgenden noch einmal zu beleuchten sind, so ausschließlich unter inhaltlichem, nicht unter sprachlichem Interesse. Nietzsche ist ja kein strenger analytischer Denker, seine Vorstellung des Klassischen ergibt sich erst aus sämtlichen Seiten des Problems bzw. fließt in jene zurück. — Behauptet er beispielsweise in einer Vorstufe zum „Ecce homo", er habe „die Begriffe .heidnisch', .klassisch',,vornehm' neu entdeckt" (13/493) — und ein derartiges Wortfeld weist bereits auf einige unzeitgemäße Inhalte voraus —, so preist er sich damit schließlich keineswegs nur als Umbegreifer, sondern auch als Umwerter, und seine über das Gesamtwerk verstreuten Beiträge zum „Klassisch-Hellenischen" (1/687) demonstrieren solch Verflechtung der verschiedenen Ebenen recht deutlich: Die Re-Dämonisierung der Antike — der Hinweis auf „das furchtbar-schöne Gorgonenhaupt des Klassischen" in seiner Antrittsvorlesung (III/159) und vor allem die dionysische Neuinterpretation des Griechentums in seiner Erstlingsschrift — weist auf eine Idee des Klassischen, die als notwendiger Hintergrund jeder diesbezüglichen Umwertung zu berücksichtigen ist — namentlich derjenigen Winckelmanns: Zwar kritisiert schon G. G. Gervinus dessen „streng antiken Geschmack" als „einseitig"189, seine „geniale Divination des reinsten hellenischen Stils" (W. Scherer190), sichert ihm jedoch bis zur Jahrhundertwende den Ehrenplatz unter deutschen Klassikern. In den populären Literaturgeschichten gar wird er stolz gefeiert als einer „der Marksteine des Weges [...], auf dem der deutsche Geist dahingeschritten ist, um ein Bahnbrecher für die ganze Menschheit zu sein." (O. v. Leixner191) — Nun beanstandet bereits J. Burckhardts „Griechische Kulturgeschichte" solch „bahnbrechende" Vorstellung von den glücklichen Griechen als „eine der allergrößten Fälschungen des geschichtlichen Urteils"192; E. M. Butler geht noch einen Schritt weiter zurück und behauptet, es sei „in fact Heine and not Nietzsche who gave the coup de gräce to Winckelmann's Greece" 193 ... Der Vor- und Mit-Läufer mögen sogar etliche 189 190 191 192
193
Geschichte der poetischen Nationallitteratur der Deutschen, 4/397 Geschichte der Deutschen Littetatur, S. 451 Gesch. d. Dt. Litt., S. 468 zit. nach I. Beithan, Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 121. — Daß diese Kulturgeschichte erst 1898 — 1902 publiziert wird, ist kein Einwand gegen das „bereits": Burckhardt vertritt seine These nachweislich schon in Nietzsches Basler Zeit und dessen späte Behauptung, er sei der erste Interpret eines dionysischen Griechentums, geht verräterischerweise im selben Atemzug in eine Lobeshymne auf J. Burckhardt über (6/158). zit. nach H. Spencer, Heine and Nietzsche, S. 150; zu beachten bleibt immerhin Nietzsches dezidierte Kritik an Heines „bequem sensualistischer" Griechendeutung. (7/352)
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Umbegreifung der Epochenbegriffe
mehr gewesen sein, aufgrund der epochemachenden Wirkung der „Geburt der Tragödie" liest sich indessen M. Heideggers Beurteilung der Sachlage am überzeugendsten: „Nietzsche ist der erste, [...] der das ,Klassische' wieder aus der Mißdeutung des Klassizistischen und Humanistischen gelöst hat." 194 Immerhin findet sich, neben den schon genannten Schriften, quer durchs Gesamtwerk eine Fülle von Überlegungen, die eine rein apollinische Antikedeutung als „über alle Maaßen historisch falsch" (13/140) anprangern; und es ist interessanterweise nicht nur die Idee des Dionysischen, die darin mit der landläufigen Vorstellung einer „vierschrötigen Gesundheit" der Griechen (2/174) kollidiert 195 , sondern auch diejenige der Ewigen Wiederkehr 196 . Nicht übersehen allerdings sollte werden, daß selbst die programmatische Betonung von Leiden und Unmaß immer dialektisch verbunden wird mit einer Rechtfertigung der {relativ traditionell anmutenden) apollinischen Oberfläche, um zur Vorstellung des Klassischen zu gelangen: Dessen abgründige Tiefe bedürfe geradezu einer — bislang freilich vereinseitigend betonten — Oberflächenstruktur; das Dionysische allein würde Nietzsche ebenso wie Leidenschaft an sich (d. h. ohne anschließende — im Spätwerk: gleichzeitige — Bändigung derselben, s. Kap. II.2.) verwerfen als bloßen Ersatz einer (Winckelmannschen) Einseitigkeit durch eine andere —, nämlich die seine. 197 Daß auch Goethe und Schiller zu „jenen Kämpfern" gerechnet werden, die nicht „in den Kern des hellenischen Wesens einzudringen" vermochten (1/129), versteht sich aus deren historischer Situation; dennoch findet man sie mehrfach als „Lehrmeister" für das (Vor-)Verständnis der Antike beschworen 198 —, was eine Verwandtschaft zwischen griechischen und deutschen „Klassikern" belegt, die Nietzsche trotz aller Einschränkungen konzediert. Während sich diesbezügliche Kritik an Goethe noch in recht engen Grenzen hält 199 , fällt die an Schiller zwangsläufig umfangreicher aus: Dessen Schrift „Über naive und sentimentalische Dichtung" nimmt schließlich selbst eine ausführliche Antike-Deutung vor, zu deren „naiver" Tendenz nicht bloß die 194
195 196
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Nietzsche, 1/150; Heideggers Einschub, „Nietzsche ist der erste, wenn wir von Hölderlin absehen", darf in diesem Zusammenhang übergangen werden; Hölderlins Griechenliebe stößt im 19. Jahrhundert auf breites Desinteresse, ist darüber hinaus völlig anderer Natur als diejenige Nietzsches. 11/424, 13/235, 627 13/628; beide „Ideen" hängen natürlich eng zusammen, sollten jedoch der besseren Handhabbarkeit wegen auf theoretischer Ebene getrennt bleiben. Diese Gefahr sieht er m. E. sehr wohl: Bereits im dualistischen Konzept eines tragischen Griechentums beginnt sein lebenslanger Versuch der Selbst-Überwindung, die spätere Forcierung des Episch-Apollinischen weist nur desto deutlicher auf eine ursprüngliche („wesensmäßige") Nähe zum (einseitig!) Dionysischen. 1/129, 686 Er wird im selben Atemzug mit Winckelmann genannt —, darin erschöpft sich die Kritik zumeist, (z. B. 6/159, 11/424, 13/132, 235, 627)
Goethe-Zeit: Klassik vs. Romantik
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Kategorie des Dionysischen, sondern auch und gerade die des Apollinischen im Widerspruch steht.200 Im übrigen sieht der späte Nietzsche Schiller als einen „Beethoven ohne Musik" 201 , d. h. als Romantiker202; auf der anderen Seite löst er sogar Goethe aus „dem, was man gemeinhin als Deutsche Klassik bezeichnet" (H. E. Gerber203): Diese Facette des Begriffs wird in seinem Denken ebenso kurz nur wie grell angeleuchtet, um im Auge des Betrachters als weißer Fleck zurückzubleiben.204 Geben die ersten beiden Seiten des Terminus „Klassik" neben Aspekten der Vollendung und des Vornehmen vor allem denjenigen der Dämonisierung ab205, so der dritte — Klassik im Sinne römischer Antike — den der stilistischen Mustergültigkeit: Sprachartistik als Minimierung der Ausdrucksmittel bei gleichzeitiger Maximierung der darin eingeschlossenen Energie (6/155) —, Nietzsches spät entdeckte, selbstverständlich sofort rückdatierte „Ambition nach römischem" ist keine andere als die nach „grossem Stil" 206 , projiziert ins Lateinische. Wenn er anschließend die „klassische" Statik römischer Literatur lobt207, andernorts deren „Vergeistigung der Begehrlichkeit" (13/ 467), so sind solch späte Aufwertungen des Apollinischen als indirekt gegen Wagner gerichtete Spitzen zu lesen: Dieser empfindet die lateinische Antike bekanntlich als dekadent; Nietzsche seinerseits polemisiert seit Ende der siebziger Jahre mit Nachdruck gegen die „unendliche Melodie" und deren kaum verhüllte „Sinnlichkeit"208. Zwar gilt ihm jede klassische Kunst, die römische wie die französische, als „auf dem Boden des geschlechtlichen Interesses aufgewachsen" 209 , ein dergestaltes Aufwachsen freilich ist im wörts. den ausführlichen Vergleich in „Der frühe Nietzsche...", S. 117ff. Formulierung in Anlehnung an seine Deutung Baudelaires (11/476) 202 13/133, 411; s. auch 5/187 auf der Basis von 13/248 203 Nietzsche und Goethe, S. 127 204 s. dazu Kap. IV.3. und „Der frühe Nietzsche...", Kap. III.l. 205 Eine umfassende Darstellung von Nietzsches Antike-Umwertung kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht gegeben werden; aufgeführt werden ausschließlich die Aspekte, die für seine Umwertung von Klassik generell von Interesse sind. — Entsprechendes gilt für die folgenden Abschnitte. 206 6/154; genauer: Der große Stil gilt ihm als der höchste innerhalb des klassischen Ideals. (13/ 63) 207 Die frühe Betonung einer über-historischen Mustergültigkeit klassischen Stils (1/221) ist gleichfalls tendenziell restriktiv, entwicklungshemmend. Solch Statik „von außen" ruht allerdings auf einer Dynamik „von innen" (s. u.) —, ganz in dem Sinne, wie die apollinische Oberfläche einen dionysischen Urgrund nur begrenzt und verdeckt. 208 Wenn er das Adjektiv „klassisch" als „unanwendbares Wort in der Musik" (11 /548) empfindet, so sicherlich aus verwandten Gründen: Musik ist ihm ja zunächst und fast ausschließlich, trotz aller Selbst-Überwindungsversuche, diejenige Wagners. Daß er ausgerechnet H. Köselitz als „neuen .Klassiker'" tituliert (29. 12. 1888 an M. v. Salis, KGB 8/562 und 20. 10. 1888 an M. v. Meysenbug, KGB 8/459) bzw. tituliert wissen will, ist geradezu ein (indirekter) Beleg dieser These. 209 6/126; vgl. 13/295 200 201
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Umbegreifung der Epochenbegriffe
liehen Sinne zu verstehen: als Darüberhinauswachsen, Emporwachsen ins Apollinische. Wenn also von weiten Teilen der Nietzsche-Philologie behauptet wird, dessen späte Philosophie sei rein aufs Dionysische ausgerichtet, so kann sich das einzig in einer Dominanz jenes Wortes begründen. Auf rein sprachlicher Ebene taucht das Apollinische in der Tat kaum mehr auf; dessen Attribute werden z. T. vom späten Verständnis des Dionysischen vereinnahmt, z. T. von anderen Begriffen — alle aus dem Umfeld von Vergeistigung, Sublimation, Ruhe 210 u. ä. — übernommen. Der inhaltliche Aspekt des Apollinischen ist damit im Spätwerk nicht minder präsent als beispielsweise in der „Geburt der Tragödie", sein Quasi-Synonym „Bändigung" benennt geradezu den zentralen Aspekt des Klassischen. 211 Derart überraschende Querverbindungen sind bei Verwendung des Terminus „klassisch" im ahistorisch-wertenden Sinn nicht zu erwarten. Schreibt Nietzsche von einem „klassischen Schneider" 212 , einem „klassischen Kriminalfall" 213 oder gar dem „klassischen Pflaster" 214 des „klassischen Ortes" Turin 215 , so weicht er in solch gleichermaßen superlativischen wie typisierenden Konnotationen keinen Deut ab vom allgemein üblichen Sprachgebrauch seiner wie jeder anderen Zeit. Das ändert sich erst, und zwar grundsätzlich, wenn der ahistorisch-wertende Wortsinn sich wieder verengt auf den Bereich der Kunst: Die Umbegreifung der Klassiker von Findenden zu Suchenden wurde bereits genannt. 216 Nun ist der Aspekt des Suchens durchaus in manch zeitgenössischer Literaturgeschichte hervorgehoben, mit Vorliebe bei Behandlung der Person Schillers: Diesen erklärt R. Gottschall regelrecht zur Inkarnation des „rastlosen Strebens" 217 , sogar E. Hoefers „Literaturgeschichte für Frauen und Jungfrauen", störende „Dissonanzen" der Darstellung für seine zarte Leserschaft ansonsten behutsam vermeidend, betont 210
211
212 2,3 214 215
216 217
Im Denken des frühen Nietzsche ist das Sein (die Ruhe) noch völlig dem Werden (der Bewegung) untergeordnet, insofern wertet er klassische Schriftsteller, deren überzeitliche Sprachmuster ebenso vorbildlich wie „todt" seien, geringer als „grosse Schriftsteller" und deren „lebenden" (nicht: lebendigen) Sprachvollzug. (8/321) — Für den späteren Nietzsche verschmelzen die Worte „groß" und „klassisch" in zunehmender Weise; er versteht dann unter einem klassischen Schriftsteller etwas Grundverschiedenes als in seinen Jugendschriften: Eventuelle „Widersprüche" lösen sich auf durch Berücksichtigung des Begriffswandels. Einen direkten Zusammenhang der Begriffe „Apollinisch", „Klassisch" und „Ruhe" sieht ein Aphorismus des Jahres 1888 (13/240); s. Kap. IV.3. 13. 11. 1888 an F. Overbeck, K G B 8/469 und 6. 12. 1888 an E. Fynn, K G B 8/506 8. 12. 1888 an A. Strindberg, K G B 8/508 14. 4. 1888 an R. v. Schirnhofer, K G B 8/296 7. 4. 1888 an H. Köselitz, K G B 8/285; der Wortgebrauch häuft sich auf stupende Weise in der Zeit vor dem Zusammenbruch. Weitere Beispiele: 3/397; 16. 3. 1883 an P. Deussen, K G B 6/342; 4. 7. 1885 an F. Overbeck, K G B 7/63 s. Kap. III.2. und „Der frühe Nietzsche...", Kap. III.l. D. dt. Nat.litt 1/90
Goethe-Zeit: Klassik vs. Romantik
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dessen „mühseligstes Ringen" (S. 165). Schon seltener interpretiert man Goethe als einen „Zeit seines Lebens [...] Suchenden" (J. Schmidt 218 ), noch Wieland, Herder und Lessing will man aber eine ähnliche Dynamik nicht ganz absprechen. 219 Trotzdem wirken zeitgenössische Darstellungen der „Klassiker" merkwürdig statisch — konzedieren sie deren Suchen ja einzig als Vorbedingung des Findens, ohne es je zu konkretisieren — zugunsten der nach wie vor dominanten Bewunderung ihrer Kunst als einer genial, sprich: mühelos erreichten Höhe. Entsprechend eng verknüpft ist Nietzsches Umwertung des „Klassikers" mit der des Genies; Suchen und Ringen werden zur existentiellen Ausgangssituation des Künstlers erklärt und damit von außen (Lebensumstände, „Schicksalsschläge") nach innen genommen: Es sei „eine Noth, nicht eine ,Natur'" (13/626), die jenen antreibe; „ein großer Mensch wird gestoßen, gedrückt, gedrängt, hinaufgemartert in seine Höhe." (12/50) Frühe gleichermaßen wie späte Aufzeichnungen wenden sich gegen das herrschende Mißverständnis eines solchen „Martyriums des Aufsteigens" (ebd.), sei es bei der Analyse griechischer (2/471), sei es bei derjenigen deutscher (1/167) Klassizität. Daß ab 1880 wieder häufiger die „Vollendung" klassischer Kunst in den Mittelpunkt der Überlegung rückt (2/608), indiziert nur scheinbar einen Rückfall in ästhetische Vorstellungen nach Art des Gervinus 220 . Nietzsches Perspektivenwechsel ist kein beliebiger, richtet den Blick jetzt eben vornehmlich auf das „Gefundene", das künstlerische Ergebnis des Suchens, ohne deshalb das vorangegangene Suchen zu leugnen: Statische Vollkommenheit eines Kunstwerks, wie sie bereits im Abschnitt über römische Klassik angesprochen wurde, ist ihm niemals von ihrem dynamischen Entstehungsprozeß getrennt; ein Kunstprodukt „ströme" aus dem Künstler „als Ueberschuss einer weisen und harmonischen Lebensführung" (2/453) — weniger im Sinne Hegels, wie E. Kunne-Ibsch vermutet 221 , sondern als Endprodukt einer Weisheit, die selbst wiederum Endprodukt jenes inneren Martyriums sei 222 . Auch in dieser Hinsicht wirke jede klassische Kunst aktiv (12/400), d. h. vorwärtsführend nicht allein im Rahmen der kulturellen Gesamtentwicklung, sondern insbesondere dem einer individuellen Entfaltung als Künstler; und I. Beithans Ausführungen ist zuzustimmen, daß Nietzsche angesichts des (Lebens-) Weges
218 2,5 220 221 222
Gesch. d. Dt. Lit. ..., 1/34 R. Gottschall, D. dt. Nat.litt. ..., 1/90 vgl. dessen Gesch. d. Dt. Dtg., 5/370! D. Stellung Nietzsches in d. Entwickl. d. mod. Lit.wiss., S. 229 Nietzsche wendet sich in dem angeführten Aphorismus (2/453) ausschließlich gegen eine seismographische „Kunst der Ueberspannung", also eine solche, die ihr (jugendliches) Suchen direkt im Medium des Wortes abbildet.
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Umbegreifung der Epochenbegriffe
zur Klassizität das Ziel recht vernachlässigt: die klassische Form, die in seinen Vorstellungen tatsächlich weitgehend klassizistisch gesehen wird. 223 Damit weist die lapidare Umbegreifung aber schon tief in das Feld der Umwertung — einer Umwertung des Klassikverständnisses, die sich noch in der philologischen Diskussion unseres Jahrhunderts niederschlägt: Vertritt auf der einen Seite H. G. Gadamer eine an Hegel orientierte Position — „was .klassisch' heißt, ist nicht erst der Überwindung des historischen Abstandes bedürftig — denn es vollzieht selber in beständiger Vermittlung diese Überwindung" 224 —, so H. R. Jauß auf der anderen eine solche, die an Nietzsche zumindest erinnert. Aus seiner zentralen These, jedes inzwischen als klassisch geltende Werk sei ursprünglich gegen den Erwartungshorizont der Leser geschrieben225, hört man die hundert Jahre zurückliegende Polemik gegen deutsche „Bildungsphilister", an deren selbstgenügsam-erbaulicher, jedem Suchen feindlicher (1/168) Literaturrezeption manch (später als Klassiker vereinnahmter) Schriftsteller zu Grunde gegangen (1/171 f.), deutlich heraus. Im Vergleich dazu blieb die typologische Seite von Nietzsches Klassikbegriff relativ wirkungslos, allein F. Gundolfs Goethe-Monographie greift einige ihrer Aspekte auf 226 . Dabei ist, wie betont, gerade die Auseinandersetzung mit Klassik als einem „absoluten Wertbegriff" (H. E. Gerber227) die für Nietzsche entscheidende: In ihm erst verschmelzen all die bislang aufgezeigten Seiten des Wortes zu umfassender Einheit228; und wird unter den verschiedenen historischen Perspektiven vorwiegend all das Unvollendete, das Nochnicht-Vollendete als Voraussetzung bzw. Untergrund des Klassischen hervorgehoben, so hier dessen „Oberflächlichkeit", die bruchlos glatte Erscheinung, das Gefunden-Haben. Beide Schritte, jeder für sich als auch vor allem in ihrem Aufeinander-Bezogensein zu interpretieren als den herrschenden Klassizismus weit hinter sich lassend, sind wie These und Antithese Teil einer dialektischen Schrittfolge. Da sie ins Zentrum von Nietzsches Denken führt, in das Problem von Macht und Stärke, fällt dabei natürlich die ansonsten richtungweisende Spezifikation durch den Zusatz „aus Schwäche" bzw. „aus Stärke" weg; diese Art binomischer Aufspaltung des Klassischen wäre geradezu eine contradictio in adjecto. Schließlich ist „Klassik" auf typologischer Ebene schlichtweg ein anderes Wort für „Macht", alle weiteren Attribute desselben leiten sich daraus erst ab. 223 224 225 226 227 228
Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 123f. Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, S. 274 Lit.gesch. als Provok., S. 1 8 7 nach I. Beithan, Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 1 2 6 Nietzsche und Goethe, S. 126 bzw. leiten sich aus solch grundlegender Einheit ab: Das Wechselverhältnis läßt sich ebenso berechtigt als ein werkhistorisch-induktives darstellen wie als systematisch-deduktives.
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Desgleichen die Tatsache, daß nicht einmal Goethe ohne Einschränkung als Klassiker empfunden wird; dessen Person — d. h. der Mensch Goethe, wie ihn Nietzsche sehen will — sei eben, im Gegensatz zu Napoleon, keine reine Inkarnation des Willens zur Macht, weise bloß einen Teil der Charakteristika auf, die in der späten Aphoristik gewissermaßen extrahiert werden aus dem jahrzehntelangen Umkreisen des Klassischen: vornehmes229 Wohlgeratensein230, Ruhe231, „unchristliches"232 Ja-Sagen233 anstelle romantischer Moralität234, Bändigung „aller starken [...] Begierden"235 —, aber nur zum „interessantesten Chaos, das es vielleicht bisher gegeben hat" (12/404). Genau an jenem Punkt erweist sich für Nietzsche die Klassizität Goethes als unklassisch: Zwar habe er den Willen zur Einheit, jedoch nicht diese selbst.236 Indem er nämlich ganz ausdrücklich als „vielfacher Mensch" gesehen wird (ebd.), kann ihm der für den Klassiker absolut notwendige synthetisierende Gesamtzustand nicht attestiert werden (12/433), von Eigenschaften wie „Verhärtung", „Verböserung" (13/132), „Kälte", „Lucidität" und „Logik" (13/ 131) ganz zu schweigen. Weiterhin abgesprochen werden muß dem Menschen bzw. dem Gelegenheitslyriker Goethe ein klassischer „Haß gegen Gefühl, Gemüth, [...] gegen das Kurze Spitze Hübsche Gütige [!]" (13/132); sein „angebliches Olympier-thum"237, wie es das 19. Jahrhundert als tatsächliches, und zwar in zunehmendem Maße, verklärt, steht ausgerechnet wegen seiner gemeinhin als „klassisch" empfundenen Humanität (13/451) im Widerspruch zu Nietzsches neuem enthumanisierten Klassikerbegriff.238 Bereits „SchopenDie Antworten in „Jenseits von Gut und Böse", die Nietzsche auf die Frage „Was ist vornehm?" gibt (5/205 f£), könnten mit geringen Abstrichen auch auf diejenige nach dem Wesen des Klassischen gegeben werden. — Goethe als der Gegensatz Wagners wird immer als edel bzw. vornehm charakterisiert. (2/501, 8/496, 548, 11/60) 230 13/63; das Ideal Goethes wird in den Tautenburger Aufzeichnungen als das „der harmonischen All-Entwicklung" gepriesen. (10/37) 231 13/240; auch hinsichtlich der Ruhe wird Goethe einmal als Gewährsmann zitiert. (11/215) 232 i3/44 ; a n Goethe wird die „heidnische" Frömmigkeit dezidiert gerühmt. (11/605, 3/597; vgl. III/571 und Kap. IV.2.a) 233 12/433; vgl. die zahlreichen Fragmente zum „amor fati" mit einer Nachlaßnotiz über Goethes „Willen zur Vergöttlichung des Alls und des Lebens", über seine „Art von fast freudigem und vertrauendem Fatalismus" (12/443) 234 12/434; zum Thema Goethe und Moral s. Kap. IV.2. 235 12/433; vgl. dazu H. Pfotenhauer, D. Kunst als Physiol., S. 134 236 Daß ein „weltanschaulicher, soziologischer und ästhetischer Einheitsgedanke" von Nietzsche für das Phänomen des Klassischen vorausgesetzt wird, betont auch E. Kunne-Ibsch. (D. Stellung Nietzsches in d. Entwickl. d. mod. Lit.wiss., S. 234) — Im übrigen läßt sich Nietzsches Argumentation natürlich unschwer auf ihn selbst anwenden und seine gewollte Philosophie... 237 12/127, s. auch S. 404 238 Die mangelnde Moralität, wie sie Goethe seinerzeit ja vorgeworfen wird und die Nietzsche hinwiederum gerade als Kennzeichen des Klassischen anführt (12/434), macht den „Überfluß" an Humanität also nicht wett: Nietzsche wendet sich mit allem Nachdruck gegen den 225
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hauer als Erzieher" interpretiert Goethes Menschenbild als rein beschaulich (1 /370), d. h. als Gegensatz zu jeder Philosophie der Tat, sprich: der Gewalt 239 . Gerade diese aber rückt zunehmend ins Zentrum von Nietzsches Interesse, auch unter ästhetischem Gesichtspunkt, und wenn er trotzdem weiterhin Goethe als Ideal verehrt — weniger den Dichter als vielmehr den „grossen (!) Menschen" Goethe, der immerhin eine ganze „Cultur" verkörpere (2/607) —, so scheint er damit seine abstrakten Zielvorstellungen unbewußt zu relativieren. — Da letztere zwar in zahlreichen Reflexionen zum „klassischen Typus" seine fortschreitende geistige Radikalisierung getreulich abspiegeln, den Begriff aber im ursprünglichen Wortsinn, also rein wertend fassen 240 , ohne ihn zu deutscher Literatur in Beziehung zu setzen, gilt es sie hier nicht weiter zu verfolgen. 241
Romantik Seit K. Joels großer, durchaus kritisch zu lesender Abhandlung wurde Nietzsches Verhältnis zur Romantik stets aufs neue thematisiert, zuletzt in Beiträgen von E. Behler und P. Heller. Auch meine Arbeit über sein Frühwerk gibt entsprechenden Perspektiven, insbesondere auf eventuelle Beziehungen zur deutschen Früh-, zur Spät- und französischen Romantik, breiten Raum. Hiermit stehen die folgenden Überlegungen in direktem Zusammenhang, versuchen, damals gewonnene Thesen auf Mittel- und Spätwerk anzuwenden, ohne die Sekundärliteratur erneut im einzelnen zu diskutieren. Festgehalten werden soll diesbezüglich nur, daß der Topos eines romantischen Nietzsche, so wie er sich in Arbeiten von H. Landsberg bis I. Frenzel und P. Pütz 242 immer wieder vorfindet, verquickt ist mit dem vom „mystischen" Nietzsche: K. Joels Untersuchung über dessen „neu-romantisches" Wesen 243 benennt
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240 241 242
243
herrschenden Idealismus seiner Zeit, dessen Wurzeln im 18. Jahrhundert lägen —, einem Dekadenzjahrhundert in Nietzsches Augen nicht zuletzt aus diesem Grunde. ebd.; Nietzsche entwickelt zwar in den „mittleren" Jahren auch einen (durch seine Stifterlektüre angeregten) Begriff von Kraft, der sich „in der Milde und Stille", nicht „in Härte und Grausamkeit" offenbare (9/357), ja er demonstriert den Begriff ausdrücklich an Goethe (ebd.) —, die Überlegungen allerdings, in denen er ihn als „frauenhaft" (7/607, vgl. 1/375) abqualifizieren will, überwiegen: Zumindest in einem Punkt versucht er, sein Ideal zu relativieren (9/182); zwar habe Goethe mehr Kraft als man gemeinhin in ihm vermute (s. o.), aber eben noch lange nicht genug und vor allem keine teleologisch funktionalisierte (8/ 237 f.), um sie bzw. ihn als klassisch zu empfinden. vgl. dazu B. Allemann, Das Klassische, 4/Sp. 835 s. als Ergänzung Kap. VI.3. des „Frühen Nietzsche..." H. Landsberg: Friedrich Nietzsche und die deutsche Litteratur, S. 44; I. Frenzel: Nietzsche, S. 23, 28; P. Pütz: Nietzsche, S. 42 Nietzsche und die Romantik, S. 199
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ihn einmal ganz unverblümt als „fernsten, allerfernsten der Mystiker" 244 ; demonstrativ veranschaulicht den Zusammenhang H. E. Gerber, indem er an einer Stelle seiner Dissertation vom „romantisch-mystischen Zug" seines Denkens spricht.245 Romantisierungs- wie Mystifizierungstendenz derartiger Deutungen haben beide ihren Ursprung in dem noch grundlegenderen Klischee von Nietzsche als dem Rätsel- und Geheimnisvollen, dessen permanent sich in neue, aphoristisch geschürzte Gewänder hüllende Philosophie ebenso esoterisch wie un(be)greifbar sei. All die vernebelnden Interpretationsansätze zeigen, wie im ersten Kapitel demonstriert, eher den Standort des Interpreten als den des interpretierten Autors, und nicht von ungefähr ist es gerade W. Kaufmann, der gegen sämtliche Auswüchse solcher „Interpretationskunst" ins Feld zieht. Wenn man ihm zwar glauben möchte, daß Nietzsche angeblich „schon in seinen ersten drei Büchern ein Gegner der Romantik" 246 sei, so evoziert er mit einem derart begrenzten Einwand doch auch die bohrende Frage nach dessen viertem Buch, dem fünften allemal („Richard Wagner in Bayreuth"!), darüber hinaus erscheint er als nicht weniger plakativ argumentierend denn die von ihm zurückgewiesenen Exegeten. Immerhin kulminiert der späte „Versuch einer Selbstkritik" in einer auf merkwürdige Weise offengelassenen Frage nach der Romantizität der „Geburt der Tragödie", immerhin spricht der Rückblick auf „Menschliches, Allzumenschliches" als von einer „antiromantischen Selbstbehandlung" (2/371), dokumentiert ein Nachtrag zur „Fröhlichen Wissenschaft" die zurückliegende Überwindung der Romantik zugunsten der Erkenntnis247. Und keinesfalls nur retrospektiv zu lesen ist ein lapidares Geständnis gegenüber G. Brandes, wie es der Brief vom 27. 3. 1888 festhält: „Ich fürchte, ich bin zu sehr Musiker, um nicht Romantiker zu sein."248 — Eine ursprüngliche Affinität zu dieser Epoche bzw. Geisteshaltung wird also noch nicht einmal von Nietzsche bestritten; andrerseits kann ein Denker, der eben jene Neigung lebenslang bekämpft249, nicht kurzerhand mit ihr gleichgesetzt werden. Hinsichtlich des hier zur Debatte stehenden Punktes sollte die oben skizzierte Figur der Selbst-Überwindung in Anschlag gebracht werden; aufgrund der weitreichenden Synonymität von Romantik und décadence läßt sich das dialektische Selbst-Verhältnis Nietzsches bereits mit einem 244 245 246 247
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a. a. O., S. 193 Nietzsche und Goethe, S. 115 Nietzsche, S. 144; vgl. S. 162 3/633: Indem Nietzsche die Romantik als „sein Leiden an der Zeit, seine Zeit-Ungemässheit" umschreibt, scheint er direkt Bezug zu nehmen auf seine „Unzeitgemässen Betrachtungen"! K G B 8/279 f.; zum engen Verhältnis von Romantik und Musik s. u. E. Behler spricht sogar von einem „Feldzug gegen die Romantik", hinter dem sich „eine gegen die eigenen Inklinationen vertretene Selbstbehauptung" verberge. (Nietzsche und die Frühromantische Schule, S. 64)
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entsprechend abgewandelten Bekenntnis aus „Ecce homo" belegen: „Abgerechnet nämlich, dass ich ein Romantiker bin, bin ich auch dessen Gegensatz." (6/266) Genau diese bewußt inszenierte lebenslange Auseinander-Setzung führt ja dazu, daß der modifizierende Zusatz „aus Stärke" bzw. „aus Schwäche" in seinem Denken eingeführt wird: Ohne ihn wären sämtliche Überlegungen zum Pessimismus, zum Rausch etc. in der Tat romantischer Natur; mit ihm allerdings kehren sie sich wie durch einen einfachen Handgriff sämtlich in ihr Gegenteil. Zumindest, was die Oberflächenstruktur der Argumentation betrifft; darunter gibt es in allen Phasen, wie sich Nietzsche eingesteht, viel „verborgenes Schwärmen" (2/375). Der offene Angriff gegen das Romantische charakterisiert demnach, wie E. Biser ausführt, auf indirekte Weise — und zwar „mehr noch als das analysierte Phänomen selbst — Grundzüge seines eigenen Denkens"250, eines Denkens, das sich namentlich in den Jugendgedichten als stark versetzt mit romantischem Ideengut erweist: Kaum schon als expressive Gedankenlyrik zu bezeichnen wie vielleicht die „Dionysos-Dithyramben" (P. Pütz251), beschränken sie sich keineswegs auf antikisierende Versuche252: Schmerz über die Vergänglichkeit253 und romantische Todessehnsucht254 lassen sich in zahlreichen seiner Verse nachweisen; die typisch romantische Verknüpfung von Liebe und Tod255, von Leid und Glück256 findet sich darüber hinaus in allen Phasen des (Prosa-)Werkes. Manche Formulierungen, wie die von der „schwermütigen Heiterkeit" (12/395), vom „freudig schmerzlichen Gefühl der Wehmut"257 oder „der Traurigkeit des tiefsten Glücks" (3/502) erinnern geradezu an Mörike und die biedermeierliche Spätzeitlichkeit der Epoche. Vielleicht handelt es sich hierbei auch schlichtweg um überhistorische Topoi bzw. um subtilen Masochismus, den sich insonderheit W. Ross — im Rückgriff auf Th. Mann — nachzuweisen bemüht258. Einzig fest steht die Tatsache, daß Nietzsche etliche Züge mit den Romantikern gemein hat, daß aber — wie I. Beithan im selben Atemzug versichert — damit „noch nicht die Berechtigung gegeben [ist], ihn auch der romantischen Schule zuzuzählen".259 250 251 252
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255
„Gott ist tot", S. 88 Nietzsche, S. 61 wie z. B. das Gedicht „Sage mir, theurer Freund, warum du so lang nicht geschrieben?" (6. 3. 1860, K G B 1/95 f.) Gedichte, S. 5, 22, 35 Gedichte, S. 4, 10 f., 15 3/265, 4/157, 5/225; vgl. 6/396 12/440, 13/226, 229; vgl. 31. 12. 1871 an G. Krug, K G B 3/268; 14. 3. 1879 an M. v. Meysenbug, K G B 5/394; Gedichte, S. 13, 20 April/Mai 1859 an W. Pinder, K G B 1/59 Schreib mir doch recht bald und streng; faßt man Masochismus im weiteren Sinne (was aber weder Th. Manns Nietzsche-Essay noch der Artikel von W. Ross beabsichtigen), so mündet jene These in die oben angeführte von Selbstbekämpfung und -Überwindungsstreben. Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 177; vgl. die Schlußbemerkung zu Kap. 1.2.
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Der Beginn von Nietzsches Breitenwirkung fallt in die Zeit der Wiederentdeckung der Romantiker, daraus erklären sich wohl nicht wenige der oben geschilderten „Einfarbungsversuche" seiner Philosophie als durchaus wohlmeinend. Ganz und gar nicht wohlmeinend dagegen sind die philologischen Urteile über Romantik, so wie sie sich im 19. Jahrhundert ungebrochen tradieren, von G. G. Gervinus bis — hin zu seinem aufmerksamen Basler Leser: auf dessen binomische Kategorienbildung die Philologendoktrin seiner Zeit vergleichbar stark abfärbt wie wenige Jahre später das moderne Romantikverständnis auf das seiner eigenen Person. — Daß sich Nietzsche ein zeitgenössisches (Vor-)Urteil zunutze macht, um seine Theorie der Dekadenz innerhalb eines pejorativ eingefarbten allgemeinen Vorstellungshorizontes von Romantik zu entwickeln, zeigt schon ein kursorischer Überblick über die Literarhistorie, wie sie sich vom Idealismus zum Positivismus entwickelt: Der Gebrauch des Wortes „romantisch" ist, so R. Haym in seinem damals bahnbrechenden„Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes", bereits bei F. Schlegel in mehreren Bedeutungen nachweisbar, deren eine, die umgangssprachliche 260 , sich auch bei Nietzsche 261 oder dessen zeitweiligem Lieblingsautor G. Keller 262 vorfindet: Überstrahlt allerdings wird dieser eher verharmlosende durch einen eindeutig pejorativen Wortgehalt, wie er sich lt. H. J. Lüthi und F. Schultz 263 trotz Herders epochenspezifischer Neudefinition bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hält, und dafür mögen Goethes mehrfache Gleichsetzungen des Romantischen mit dem Kranken 264 eine wesentliche Ursache bilden. Nietzsche als einer von vielen, die sich die Kritik Goethes zu eigen machen, exzerpiert sich dessen abfällige Bemerkungen (13/495) bzw. übernimmt seine Vorwürfe stillschweigend 265 . Die Deutung der ^¿«romantischen als einer bildungsphiliströsen Bewegung des „geistigen Mittelstandes", wie er sie ganz nebenbei in der ersten „Unzeitgemässen Betrachtung" (1/168) vorlegt, entspricht im übrigen völlig der heute aktuellen: Gemäß H. Widhammers Studie über „Realismus und klassizistische Tradition" ist es das erstarkende Bürgertum, das „Romantik" zum „negativen Schlagwort" (um-)prägt (S. 73), zu einem Schlagwort nämlich, das — ganz im Sinne Nietzsches — nicht allein eine gewisse literarische Strömung, sondern ein Prinzip treffen soll. In jenem Bestreben finden sich die herrschenden positivistischen, die
260 261 262 263 264 265
Die romantische Schule, S. 251 f., 258 z. B. im Brief vom 21. 12. 1877 an C. v. Gersdorff, K G B 5/295 Die Leute von Seldwyla, Sämtliche Werke, 2/255, 292, 302 Romantik, S. 579 ff. Maximen und Reflexionen, Nr. 1031 (Gedenkausgabe, 9/630) vor allem den der Sinnlichkeit: s. Goethes Gespräch mit Riemer am 28. 8. 1808 (a.a.O., 22/ 501)
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linksliberalen wie programmatisch realistischen Kreise (J. Schmidt, G. Freytag), auch „Unzeitgemäße" vom Schlage eines Schopenhauer. Ausgerechnet die einzigen als „grosse Verdienste" allgemein266 gewürdigten Anliegen der Romantik, diejenigen in wissenschaftlicher resp. volkstümlich-patriotischer Hinsicht, werden von Nietzsche nun als antiquarische Historie267 bzw. als Nationalitätenwahnsinn268 stets und gleichbleibend heftig bekämpft. Obwohl er das bloß z. T. im Zusammenhang seines nominalen Kampfes gegen Romantik tut, weitet er damit den Katalog der Vorwürfe an sie durch zwei wesentliche Punkte aus. Mit Ausnahme von R. Gottschall, der die Romantik als „chaotische Unpoesie"269 und deren Autoren als „Ritter der blauen Blume"270 wohl nicht ganz ernst nimmt, vereinen sich die Philologen des 19. Jahrhunderts zu einer überraschend einheitlichen Phalanx gegen die romantische Bewegung. Sieht man einmal ab von der Kritik an der romantischen Ironie, die sich einzig im Lager der programmatischen Realisten nachweisen läßt271 und die bezeichnenderweise von Nietzsche nicht aufgegriffen wird, so lassen sich meines Erachtens ein Dutzend Punkte herauskristallisieren, die als Vorwürfe in nahezu sämtlichen Literaturgeschichten der Zeit erhoben werden. Alle zwölf, und das ist das Überraschende, finden sich entsprechend wieder im Werk Nietzsches: Aber während sie ursprünglich nur in bezug auf literarische Werke formuliert wurden, bilden sie dort einen wesentlichen Bestandteil einer typologisch ausgerichteten Polemik. Wohlgemerkt: nicht mehr als einen wesentlichen Bestandteil, der noch dazu durch eigene Überlegungen (insbesondere in zwei Fällen: Nr. 4 und Nr. 9) entscheidend modifiziert und darüber hinaus durch andere ebenso gewichtige Gesichtspunkte (s. u.) ergänzt wird. Jener Bestandteil, der formale und inhaltliche Aspekte aufweist, vor allem solche zu Moral und Lebensunfahigkeit, umfaßt also die Punkte: 1. „Formlosigkeit, die sich [vom Sturm und Drang] auf so viele Romantiker vererbte" (W. Scherer272). — Auch Nietzsche wendet sich vielfach gegen die „Zuchtlosigkeit" (12/432) des romantischen „Virtuosentums" (im 266
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269 270 271 272
Der Hinweis auf J. Schmidts „Gesch. d. Dt. Lit." (1/327) ist hier in der Tat nur ein willkürlich gewählter Beleg. zweite „Unzeitgemässe Betrachtung", s. auch 3/145 Während sich Nietzsches Kosmopolitismus erst ab „Menschliches, Allzumenschliches" langsam zu konturieren beginnt, um im Spätwerk auf eine Weise zur Schau gestellt zu werden, die geradezu als „Panegyrikus mit doppeltem Boden" zu bezeichnen wäre, sind die Stellungnahmen gegenüber Volkslied und -dichtung bereits im Frühwerk ablehnender Natur, (s. die Ausführungen in Kap. IV.2.) Poetik; zit. nach H. Widhammer, Real. u. klassiz. Trad., S. 136 D. Dt. Nat.litt. ..., 1/426 Belege bei H. Widhammer, Real. u. klassiz. Trad., S. 82 Gesch. d. Dt. Litt., S. 692; vgl. J . Schmidt, Gesch. d. Dt. Lit. ..., 1/325ff.
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Gegensatz zur Regelgebundenheit des klassischen „Artistentums"); ein Hinweis auf den Sturm und Drang fehlt in seiner Argumentation ebenfalls nicht273. 2. Eklektizismus (F. Th. Vischer274); Nietzsches „Haß gegen das Vielfache" romantischer Kunst ist allerdings nicht rein ästhetisch bedingt, geht über einen formalen Vorwurf weit hinaus: „Man soll nicht mit künstlerischen Formeln spielen: man soll das Leben umschaffen, daß es sich nachher formulieren muß." (13/132) 3. Den Logos vom unabdingbaren Zusammenhang der Kunst mit dem Leben einmal herausgelöst aus obigem Gedankengang, ergibt sich bereits Nietzsches Frontstellung gegen „L'artpour l'art" als künstlerische Verkleidung romantischer Schwäche und Enttäuschung (III/882). Überraschenderweise bezeichnet schon J. Schmidt die Romantik deshalb als „Verirrung", weil sie „die Kunst blos um der Kunst willen [...] betreibt".275 4. Ein mit besonderer Vorliebe erhobener Vorwurf ist derjenige der Unsittlichkeit und Prinzipienlosigkeit276, der frivolen (F. Th. Vischer277) Stillosigkeit der Kunst wie des Lebens (J. Schmidt278), die nicht allein „nachteilig [...] auf die Entwickelung der Literatur", sondern „selbst auf die Zustände des Volks gewirkt" habe (H. Kurz279). — Nietzsches Angriff scheint buchstäblich auf das Gegenteil hinauszulaufen: Indem er die Romantiker, sehr im Unterschied zu seinen Zeitgenossen, als „moralische Monstra" tituliert (12/434), prangert er gerade deren übertriebene Sittlichkeit an. Das ergibt freilich erst die Oberfläche seiner Argumentation, darunter verbirgt sich bzw. kommt zutage der auch für seine eigene Person aufschlußreiche Ausfall gegen Laster, Ausschweifung und „krankhafte Sexualität", wie sie sich in romantischen Kunstwerken offenbare.280 Allerdings sind hier Motive persönlicher Natur im Spiel — Rache für 273
274 275 276
277 278 279 280
Romantik als „Nachschlag des 18. Jahrhunderts", als „eine Art aufgethürmtes Verlangen nach dessen Schwärmerei großen Stils", (12/441); vgl. E. Kunne-Ibsch, D. Stellung Nietzsches in d. Entwick. d. mod. Lit.wiss., S. 173 Aesthetik, 2/518 Gesch. d. Dt. Lit. .... 1/326 dazu im Überblick I. Beithan, Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 174 ff., bzw. H. Widhammer, Real. u. klassiz. Trad., S. 80 Aesthetik, 2/518 Gesch. d. Dt. Lit 1/327 Gesch. d. Dt. Lit 3/148 13/19, 414, 600; die Stellungnahmen gegen romantische „Sinnlichkeit" sind Legion; daß damit tatsächlich die Sexualität im engeren Sinn gemeint ist, belegt u. a. 13/600 f.: Wagners Musik überrede „die untersten Instinkte" zu sich, bewirke eine „Sinnlichkeits-Epidemie" usf. - Als „Fürsprecher des Lebens" (22. 2. 1883 an F. Overbeck, KGB 6/337) kennt Nietzsche natürlich auch eine positive Form von „Sinnlichkeit" und „Diesseitigkeit": Wie nicht anders zu erwarten, ist sie ebensosehr Zeichen von Stärke und Klassizität, wie die negative eines von Schwäche und Romantik.
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Wagners „tödliche Beleidigung" —, die jene abstrakteren Überlegungen derart häufig überlagern, daß man ihren „fließenden" Wertungscharakter leicht vergißt. Aus diesem Grund aber ist die soeben aufgestellte Behauptung umzudrehen: Nietzsches Polemik gegen „romantischen Idealismus" findet nicht etwa bloß auf der Oberfläche seiner Argumentation statt, sie kommt direkt aus der „Tiefe" einer festen „immoralistischen" Attitüde, die sich von derjenigen seiner Zeitgenossen als direkte Umwertung abhebt. Den Sexualtrieb nämlich sieht er als Ursprung jeder, auch der klassischen Kunst an;281 ein „fröhlicher Unterleib" (6/303) wird in seiner Philosophie^««?//aufgewertet gegenüber der sprichwörtlichen wilhelminischen Prüderie. Vorwürfe gegen die „schwüle Kunst" Wagners (2/373) sind folglich rein privater Natur bzw. zielen auf eine „Sexualität der Schwäche"282; sie müssen, so zahlreich sie sind, von der eigentlichen Beurteilung des Romantischen abgehoben werden. 5. Eine Spezifikation der globalen moralischen Verurteilung findet sich in F. Th. Vischers Ästhetik, die der romantischen Schule Unehrlichkeit unterstellt (2/519). — Nietzsches vielfache Kritik am bloßen Schauspielertum der Romantiker und sein entsprechender Hinweis auf die vor allen Dingen metaphorisch zu verstehende „Nacktheit" klassischer Kunst283 schließen sich, wenngleich unbeabsichtigt, direkt an —, kulminierend in der Notiz: „Wagner und Heine: die beiden größten Betrüger, mit denen Deutschland Europa beschenkt hat." (13/500) 6. Vielleicht der gewichtigste Einwand der älteren Philologie gegen romantische Literatur richtet sich gegen die darin sich manifestierende „inhaltlose"284 Phantasterei ihrer Urheber, so wie sie dem mit der Elle klassizistisch-realistischer Doktrin messenden Rezipienten wohl erscheinen muß. Indem dieser in aller Regel dem „Prinzip des Rationalismus" (J. Schmidt285) huldigt, ergibt sich die Abwertung wirklichkeitssprengender Kunstkonzepte ganz von allein: Es ist die Angst vor dem gerade erst durch aufklärerische (bzw. klassische) Bestrebungen „gebändigten" Irrationalismus, die solch ästhetisch maskierte Verdrängungsmechanismen evoziert. Dessen globale Verurteilung als Wirklichkeitsschwäche286, als 281
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„Ohne eine Überheizung des geschlechtlichen Systems" ist ihm ja selbst der verehrte Raffael nicht zu denken! (13/295) nämlich aus Schwäche; s. A n m . 280 Daß „Nacktheit" keinesfalls direkt zu verstehen ist, belegt ein Aphorismus der „Fröhlichen Wissenschaft" (3/588). — Auch in jener Hinsicht, so ein Fragment des Jahres 1884 lapidar, stünde Goethe „gut da". (11/151) s. dazu H. Widhammer, Real. u. klassiz. Trad., S. 80 zit. nach H. Widhammer, a. a. O., S. 66 F. Martini, in: F. Th. Vischer, Faust. Der Tragödie dritter Teil, S. 202
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Träumerei bzw. gar als Aberglaube287, die Verdammung „vernebelnder Schöngeisterei" (J. Schmidt288) als „besinnungslos, gefühlstrunken, narkotisiert" (F. Th. Vischer289) verformelt sich im 19. Jahrhundert schnell zum nicht mehr hinterfragbaren Topos. Auch im Werk Nietzsches taucht er immer dann auf, wenn von Schwärmerei und Rausch der Romantik die Rede ist (1/168), wenn deren „Sinnen-Wirrwarr [...] sammt seinen Aspirationen nach dem [...] Verschrobenen" gegeißelt wird (3/351). Nietzsche hingegen bleibt nicht in zeitgenössischen Klischees verhaftet, wenn er sich ihrer bedient. Seine Analysen des Romantischen sind derart feinfühlig und umfassend, daß dies hier gar nicht mehr belegt zu werden braucht; daß sie sich aber T. zeitgemäßer Formeln bedienen, um von ihnen ausgehend zu unzeitgemäßen Begründungen, Ergänzungen, Differenzierungen derselben zu gelangen, gilt es festzuhalten. 7. Das bestätigt sich bis ins Detail: Wenn R. Haym Unmännlichkeit als einen der Vorwürfe gegen die Romantik anführt290, wenn jener z. B. bei F. Th. Vischer als Willens- und Tatenschwäche spezifiziert wird 291 , so findet er sich noch direkter, noch drastischer formuliert bei Nietzsche vor: als „Ekel vor dem Femininischen [...] dieser Romantik" (2/372), d. h. vor deren Verweichlichung im Gegensatz zur „Zucht" von Aufklärung und Klassik. Wie gezeigt, findet das bis in unser Jahrhundert beliebte, keineswegs wertfreie Argumentieren mittels des Begriffspaars männlich/weiblich in seinem Denken besonders ausgeprägten Niederschlag. 8. Eng verknüpft mit der allgemeinen Verachtung alles Romantischen als schwach und unmännlich ist die Beanstandung vorgeblicher Maß- und Besinnungslosigkeit1^2-. — Bindung der Kunst an strenge, möglichst im Einzelfall gar zu übersteigernde Kunstgesetze293, die Verteidigung der Regel gegenüber sogenannter künstlerischer Freiheit ist aber auch ein Kernpunkt in Nietzsches Ästhetik294; gerade hierin scheint er den klassizistischen Theorien am nächsten zu kommen —, ohne sich im übrigen bei seinen praktischen Urteilen stets daran zu halten. 9. Das meines Erachtens bedenklichste Verdikt gegen die Romantik ist dasjenige der Krankhaftigkeit; der „gesunde" Menschenverstand des 19. Jahrhunderts, am aggressivsten verkörpert in F. Th. Vischer, schreckt 287 288 289 290 291 292 293
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F. Th. Vischer, Aesthetik, 2/518 zit. nach H. Widhammer, Real. u. klassiz. Trad., S. 66 Aesthetik, 2/519 Die romantische Schule, S. 4 Faust. Der Tragödie dritter Teil, S. 61 z. B. bei F. Th. Vischer, Aesthetik, 2/518 Das Ideal, „in Ketten [zu] tanzen" (2/612, vgl. S. 618), ist im übrigen einem Brief Voltaires direkt entlehnt. (14/192 f.) 12/432, 434; s. dazu auch 2/372
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Umbegreifung der Epochenbegriffe
nicht einmal davor zurück, die gesamte Epoche mit Wahnsinn und Opiumrausch in direkte Verbindung zu rücken.295 Bereits R. Haym wehrt sich implizit gegen solch massive Anwendung eines außerästhetischen Kriteriums, mit dem allem Romantischen als dem, „was zu leben nicht fähig ist und zu leben nicht verdient" 296 , ganz offen literarische Sterbehilfe geleistet werden soll. Wesentlich grundsätzlicher jedoch sind erst Nietzsches Überlegungen zur Krankheit, die anläßlich seiner Umwertung Hölderlins und Kleists noch ausführlich zu referieren sind (s. Kap. V); nicht von ungefähr kommt es sicherlich, daß er in derartigem Zusammenhang ausgerechnet die „Gesundheit" eines F. Th. Vischer als „cynisch" maskierte Schwäche enttarnt (1/171 ff.). Allerdings gilt es schon jetzt zu vermerken, daß sich seine Aufwertung der Krankheit keineswegs auf das gesamte Phänomen erstreckt, dessen romantische Abart bekämpft er stets — im Spätwerk mit besonderer Vehemenz297 — als Dekadenzerscheinung ohne jede Einschränkung. Er hat damit nicht bloß eine dem zeitgenössischen Denken geradezu konträre Vorstellung von Krankheit, diese ist darüber hinaus nach bekannter Manier polarisiert. In vorliegendem Zusammenhang zunächst von Bedeutung erscheint der Umstand, daß selbst und gerade seine literarischen Wertungen weitgehend mit außerästhetischen Kategorien operieren.298 10. Wenn der führende Ästhetiker seiner Epoche, eben E Th. Vischer, an der romantischen Schule bemängelt, es fehle ihr der Instinkt299, so könnte solch Unterstellung direkt von Nietzsche stammen; noch die Ausweitung derselben auf moderne Kunst generell ist beiden Denkern gemeinsam300. Auch hier sind die Begriffe natürlich unterschiedlich gefaßt; wenn der Basler „Unzeitgemäße" schon vor seiner ersten Publikation notiert: „Die Romantiker ermangeln des Instinktes" (7/104), so zielt er zwar ganz im Sinne des „Zeitgemäßen" aus Schwaben auf deren Taten-, letztlich Kraftlosigkeit (7/510). Damit jedoch sei eine immer wieder deutlich angeprangerte Unvornehmheit (13/11) verknüpft, denn der große, edle Mensch gäbe sich ja nicht zuletzt durch seine „triebhafte", „instinktive" Handlungsweise zu erkennen301: „Der vollkommene Automatismus des 295 296 297 298
299 300
301
Aesthetik, 2/518 Die romantische Schule, S. 3 s. die gesamte nachträgliche Vorrede zu „Menschliches, Allzumenschliches" II Das entspricht ganz dem Gesamtkonzept, alles im Hinblick auf seine lebensfördernde resp. -verneinende Funktion zu beurteilen; der Neuansatz einer derartigen Philosophie zeigt hier bereits seine Grenzen. Aesthetik, 2/518 F. Th. Vischer, a. a. O., 2/521; bei Nietzsche werden die Termini „Romantik" und „Moderne" grundsätzlich quasisynonym verwandt, (s. u.) 5/217 f., 220; vgl. die lapidare Behauptung: „Alles Gute ist Instinkt". (6/90)
Goethe-Zeit: Klassik vs. Romantik
239
Instinkts [...] [ist die] Voraussetzung zu jeder Art [...] Vollkommenheit in der Kunst des Lebens" (6/242) ebenso wie in der Kunst im engeren Sinne: „Das Genie sitzt im Instinkt". (13/421) — Derartige Gedankenkonstruktionen indes übersteigen das Maß des „Bildungsphilisters" (1/172) um ein erhebliches. 11. Pessimismus und Weltschmerz —, das sind die wesentlichen Ingredienzen des Verdikts „Zerrissenheit', wie es der „bekannte Aesthetiker" (ebd.) stellvertretend für viele über die Restaurationszeit fallt 302 , wie es die „Grenzboten" G. Frey tags und J. Schmidts fast in jeder Nummer wiederholen. 303 Daß Nietzsche den „romantischen Pessimismus" (2/374) als einen der Schwäche — im Gegensatz zu seinem eigenen der Stärke — bekämpft, wurde einleitend verdeutlicht; das romantische „Ungenügen am Wirklichen" (12/119) mitsamt seinen „nihilistischen Consequenzen" (12/127) steht buchstäblich im Zentrum seiner späten philosophischen Betrachtungen: Daß der Vorwurf der Zerrissenheit sowohl dort als auch in den Schriften der Zeitgenossen auf inhaltlicher wie formaler Ebene erhoben wird 304 , macht die Feinheit der Analogie aus. Nietzsches produktive Anverwandlung von Bourgets Dekadenz-Theorie, die eine „Disgregation des Willens" (6/90) im ästhetischen Bereich nachweist als Disgregation des Ganzen zu kleinen, nahezu verselbständigten Einheiten —, die Anverwandlung und Anwendung jener Theorie auf romantische Kunstwerke wurde ebenfalls bereits nachgewiesen. 305 12. Der letzte Gesichtspunkt des landläufigen Romantik-Klischees hängt mit dem nun zu nennenden eng zusammen: demjenigen von Verfall und Niedergang, wie er sich als Zerrissenheit, Pessimismus etc. eben ankündige. Abgesehen davon, daß sich eine derartige Romantik-Ablehnung in direkter Folge der Klassik-Hochschätzung gewissermaßen von alleine ergibt, sich also aus der „Leistung" der Klassiker das „Versagen" der Romantiker ableitet als historisch klar umrissener Rückschritt 306 , ist insbesondere die Deutung des letzteren als entwicklungsgeschichtlich notwendige Verfallsstufe von Interesse: „Sie [die Romantik] ist nach jeder Abblüte irgend einer Dichtung, in welcher Periode und welcher Nation es sei, immer zu beobachten" —, diese Behauptung stammt keinesweg aus dem Umkreis „menschlich, allzumenschlicher" Erwägungen zum 302 303 304
305 306
Aesthetik, 2/518 nach H. Widhammer, Real. u. klassiz. Trad., S. 12 O. v. Leixner z. B. moniert am „Ofterdingen", er sei kein Ganzes. (Gesch. d. Dt. Litt., S. 781) Der frühe Nietzsche..., S. 213 f. dazu „Der frühe Nietzsche...", S. 217, und I. Beithan, Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 174 ff.
240
Umbegreifung der Epochenbegriffe
zyklischen Ablauf literarischer Entwicklungen 307 , sondern aus G. G. Gervinus' „Geschichte der Deutschen Dichtung" (5/555), die der junge Professor Nietzsche ja aufmerksam studierte. Weitere Hinweise auf organisches Geschichtsdenken im allgemeinen, auf W. Scherers Wellentheorie 308 im speziellen scheinen der überhistorischen Dekadenzthese vollends jede Originalität zu nehmen; zyklisches Denken lag einfach in der Luft und liegt es noch immer, wenn der Glaube an Fortschritt und kulturelles Wachstum zum Credo einer ganzen Nation zu werden droht. Wenn er von „Niedergangs-Culturen" (6/37) wie der eigenen im Plural spricht, gehört Nietzsche immerhin zu einer unzeitgemäßen Minderheit. Vollends originär erscheint er, wenn er das generelle Geschichtsbild einer Ewigen Wiederkehr mit spezifisch historischen Inhalten füllt; nur: Das zugrundeliegende Modell selbst, wie er es wieder und wieder an der Romantik exemplarisch demonstriert, benützt er nicht als einziger... Soweit die Übereinstimmungen Nietzsches mit Literarhistorikern seiner Zeit, einschließlich deren fallweiser Diskrepanzen. Für „unzeitgemäßes" Denken ist es generell bezeichnend, daß es hinter gängigen Begriffen, Formulierungen, Argumentationsmustern weit von der „Norm" allgemeinen Verständnisses abweichende Denkinhalte, ja regelrechte Umwertungen verbirgt. Eher: „verbirgt", denn für einen Selbstdenker gibt es ausschließlich die eigene Terminologie und innerhalb derselben kein eigentliches Verbergen von Inhalten. Weil jedoch Umwertung und Umbegreifung bei Nietzsche auf unlösbar wechselseitige Weise verknüpft sind, gilt es zusätzlich zum expliziten Vergleich mit dem Denken seiner Zeitgenossen auch noch seinen Begriffswürfel ins Spiel zu bringen, will man die Umwertungen in ihrer Gesamtheit ablesen: einen Begriffswürfel „Romantik", der über fünf historische Seiten (Früh-, Spät-, biedermeierliche, jungdeutsche und französische Romantik) auf seine sechste, die typologische, zu rollen ist: Bereits der Name Schulpforta verbürgt seinerzeit eine starke Berührung mit der Romantik, der Deutschlehrer A. Koberstein nämlich ist ihr als einer der ganz wenigen philologischen Autoritäten durchaus zugetan 309 —, insbesondere als ein Freund von Tieck, wie K. Gründer mitteilt 310 . Auch Nietzsches Universitätslehrer F. W. Ritsehl gehört zu jenen Unzeitgemäßen, kennt 307 308
309 310
s. die Ausführungen auf S 195 f. Nietzsche liest nicht allein Goethes Werke mit großer Aufmerksamkeit — hierin ist seine intensive Berührung mit einem organischen Geschichtsbild zu sehen —, auch W. Scherers Literaturgeschichte entleiht er sich in Basel zweimal (Sommersemester 1878, Wintersemester 1878/79: allerdings „nur" dessen „Geschichte der deutschen Dichtung im 11. und 12. Jahrhundert"; nach: M. Oehler, Nietzsches Bibliothek, S. 25). E. Behler, Nietzsche und d. Frührom. Schule, S. 70 in: E. Behler, a. a. O., S. 93
Goethe-Zeit: Klassik vs. Romantik
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A. W. Schlegel persönlich und bekennt sich öffentlich selbst zu dessen Bruder. 311 — Angesichts seiner sonstigen Radikalität des Urteils erscheint es durchaus von Bedeutung, daß sich Nietzsche hinsichtlich der genannten Frühromantiker, die er nachweislich las, merkwürdig selten und dann stets sehr zurückhaltend äußert; ein Tieck-Zitat führt er sogar (brieflich) gern im Munde 312 . Noch in Basel erinnert er sich früherer Studien über die Romantiker ohne jedes Ressentiment 313 , das in späteren Jahren so bezeichnend wird; aus der einst entliehenen 314 Arbeit R. Hayms über „Die romantische Schule" entlehnt er wahrscheinlich — trotz gegenteiliger Beteuerungen (6/317) — das Wort „Bildungsphilister". 315 Seine Kritik an der Frühromantik ist eher indirekter Natur; anstatt mit Autorennamen operiert sie mit relativ abstrakten Logoi 316 , die auf drei — wenngleich mittelbare, so kaum weniger relevante — Abwertungen hinauslaufen. Diese mit Rücksicht auf seine Lehrer in allgemeiner Form vorgetragenen, nichtsdestoweniger sehr spezifischen, fest umreißbaren Abwertungen müssen als echte Umwertungen verstanden werden, greifen sie doch genau die Punkte heraus, die von der damaligen Romantik-Verurteilung ausgespart bleiben: Neben der schon genannten „Todtengräberliebe" zum Vergangenen (13/570), die Nietzsche aufgrund ihres einseitig rückwärts gewandten Utopismus 317 als Vorstufe des Nihilismus (12/127) brandmarkt, und dem ebenfalls verworfenen Romantikerglauben an Volk und Volkspoesie zugunsten des Genies 318 ist es natürlich die christliche Tendenz, die er stets als „romantische Rückkehr und Fahnenflucht" 319 bekämpft. Zwar sind jene drei Abwertungen auch späterhin Kernpunkte seiner umfassenden, Jahr für Jahr eskalierenden Romantikkritik, es ist jedoch zu beachten, daß sich letztere nur allzuschnell von ihrem historisch lokalisierbaren Ausgangspunkt löst: Nietzsches Spott ist dann, wie E. Behler ausführt, gar nicht auf diese Frühromantiker gemünzt, sondern erweist sich bei näherem Zusehen als Persiflage der sogenannten Romantiker der ,dreißiger und vierziger Jahre', genau gesprochen der Bewegung des J u n g e n Deutschland. 3 2 0 E. Behler; a. a. O., S. 71; F. Schlegels „Lucinde" wird im 19. Jahrhundert von weiten Kreisen als geradezu „obszön" empfunden. 312 20./21. 11. 1872 an E. Rohde, K G B 4/94; 5. 10. 1879 an H. Köselitz, K G B 5/450 313 7. 6. 1871 an E. Rohde, K G B 3/196 314 E. Behler, Nietzsche u. d. Frührom. Schule, S. 71 3 , 5 lt. Colli/Montinari, 14/163 316 In seinen Skizzen zur Romantik fehlen nicht allein die konkreten Namen, wie E. Behler ganz richtig feststellt (Nietzsche u. d. Frührom. Schule, S. 66 f.), selbst der Begriff „Romantik" muß dort stillschweigend ergänzt werden. 317 s. dazu „Der frühe Nietzsche...", S. 209 u. a. 318 12/14, 358; das Wort „Genie" wird hier selbstverständlich in Nietzsches spezifischem Sinne gebraucht (vgl. die obigen Ausführungen). 319 2/108, vgl. 12/529 320 Nietzsche u. d. Frührom. Schule, S. 59 311
242
Umbegreifung der Epochenbegriffe
Selbst eine derartige Behauptung wird noch zu prüfen sein; der damit gestützte, auf bloße Problemverschiebung hinauslaufende Versuch E. Behlers, möglichst zahlreiche gemeinsame Merkmale zwischen der Frühromantik und Nietzsche zu konstruieren321, muß allerdings schon hier als gleichermaßen begrenzt wie willkürlich zurückgewiesen werden: Gerade die „Technik der unendlichen Reflexion", wie sie im Rückgriff auf W. Benjamins Dissertation („Der Begriff der Kunst-Kritik in der deutschen Romantik") so aufschlußreich für beider Aphoristik erschiene322, kann den „Sprüchen und Pfeilen" des letzteren nicht unterstellt werden; und ebensowenig ist dessen Konzeption des Dionysischen romantisch... Solche und weitere „Parallelen", wie sie von I. Beithan323 und natürlich, allen voran, von K. Joël 324 konstruiert werden, sind andernorts ausführlich widerlegt 325 ; deshalb kann hier bereits E. Behlers Hinweis auf Spätromantik und Junges Deutschland nachgegangen werden. Wie gezeigt326, gehört Heine in Nietzsches Augen nicht zur romantischen Bewegung; vielmehr löst er ihn aus jedwedem historischen Kontext — vergleichbar etwa seiner Goetherezeption — und reflektiert über ihn als Einzelperson: was trotz aller Kritik immer als grundsätzliche Aufwertung zu verstehen ist. Von E. T. A. Hoffmann wünscht sich der Vierzehnjährige zu Weihnachten eine zweibändige Novellenausgabe327, die er auch bekommt328; wenige Monate später demonstriert er seine genaue Kenntnis derselben329 in einem Brief an den Jugendfreund W. Pinder, gelangt freilich in seiner Einschätzung nie über das zeitgenössische (und noch in unserem Jahrhundert anhaltende) Klischee vom „SchauerHoffmann" (11/250) hinaus. Von Uhlands und Eichendorffs Werken las Nietzsche nicht mehr als kurze Proben330, wie er es wegen seiner schlechten Augen gerne tat; von den Brüdern Grimm, Brentano oder Arnim höchstwahrscheinlich nicht einmal das331. Trotz seiner relativ geringen Belesenheit be-
321 322
323 324
325 326 327 328 329 330 331
a.a.O., S. 60 ff. E. Behler, a. a. O., S. 61; die Analogiebildung mündet des übrigen sehr schnell in den Topos, die Frühromantiker ebenso wie Nietzsche dächten gleichermaßen in unauflöslichen, geradezu paradoxen Gegensätzen (S. 81): S. dazu Kap. I. ... Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 176 f. Der Polemik halber ist zu ergänzen, daß selbst die Gegensätze, die K . Joel zwischen Romantikern und Nietzsche sieht (Nietzsche u. d. Rom., S. 6—65), wohl nur von seinem historischen Standpunkt aus wahrzunehmen sind. Der frühe Nietzsche..., S. 201 ff. a.a.O., S. 210 f. 3. 12. 1858 an F. Nietzsche, K G B 1/35 M. Oehler, Nietzsches Bibliothek, S. 36 Februar 1859, K G B 1/48 vgl. M. Oehler, Nietzsches Bibliothek, S. 35, 38 Die wenigen, sich zumeist auf Namensnennung beschränkenden Stellen über sie zeugen jedenfalls nicht von einer ernsthaften Lektüre.
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teuert er gegenüber G. Brandes, die gan^e deutsche Romantik sei als Literatur lediglich „ein großes Versprechen" gewesen, einzig als Musik sei sie „zum Ziel gekommen." 332 In seinen Notizen verfährt er entsprechend, bildet Analogien zwischen Hoffmann und Wagner, desgleichen zwischen Hoffmann und Schumann333, der überhaupt sämtliche Spätromantiker zu repräsentieren scheint: neben Hoffmann auch Eichendorff, Uhland, Heine... 334 Selbstverständlich zielt der Vergleich auf eine Charakteristik der romantischen Musiker, verfahrt dabei recht oberflächlich und willkürlich mit den Literaten; und ebenso selbstverständlich wird der ganze Vergleich in abwertender Hinsicht unternommen: Der einst geliebte Schumann335 fungiert seit „Menschliches, Allzumenschliches" nur noch als „alte Jungfer" (2/619) und „süsslicher Sachse" (6/286); die Urteile über Wagner sind differenzierter, dabei aber nicht weniger vernichtend. So ließe sich eine summarische Abwertung der Spätromantiker über Umwege belegen, die jedoch nicht überschätzt und, vor allem, keinesfalls gleichgesetzt werden dürfte mit einer wesentlich differenzierter vorgetragenen Abwertung von Romantik im allgemeinen: Erstere nämlich zielt auf die Spätzeitlichkeit der Epoche, auf Verfall und Abstieg, während die literarische Romantik immerhin als „grosses Versprechen", d. h. als Aufbruch gesehen wird. Darin deckt sich Nietzsches Ansicht übrigens wieder mit derjenigen zeitgenössischer Philologen336, was sie ansonsten in puncto Romantik allenfalls oberflächlich tut: Ein Zeichen dafür, wie nebensächlich dieser Aspekt in seiner Romantikkritik ist.
Biedermeierliche und jungdeutsche „Romantik" Nun wird der Begriff des „Romantischen" nach 1848, wie H. Widhammer darstellt337, stark ausgeweitet, umfaßt schließlich die gesamte Literatur der Restaurationszeit. Dessen eindeutig abwertender Gebrauch erstreckt sich 332 333
334 335
336
337
27. 3. 1888 an G. Brandes, K G B 8/279 13/133; Brief an Brandes (Anm. 332) und Notiz datieren beide aus derselben Zeit —, ein weiterer Beleg dafür, wie stark Nietzsches Überlegungen „von außen" angeregt werden (in diesem Fall von Brandes' Abschnitt über Romantik in seinen später veröffentlichten „Hauptströmungen der europäischen Litteratur im 19. Jahrhundert"), ohne daß derartige Anregungen dann explizit genannt werden. ...und den Frühromantiker Tieck (13/133) September/Oktober 1861 an F. u. E. Nietzsche, K G B 1/178; November 1861 an E. Nietzsche, K G B 1/187; 6 . 9 . 1863 an F. u. E.Nietzsche, K G B 1/254: Klavierauszüge von Schumann gelten in jenen Jahren als „Leibesnothdurft"! Die Ausführungen I. Beithans, Nietzsche verstünde Romantik ausschließlich als „Ausdruck [...] einer Spätzeit [...], nicht als eine Jugendbewegung" (Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 179), sind also, gelinde gesagt, mißverständlich. Real. u. klassiz. Trad., S. 74
244
Umbegreifung der Epochenbegriffe
dadurch mehr oder weniger stillschweigend auch auf Junges Deutschland338 bzw. Biedermeier (J. Hermand339):
A l l e s e b e n ist „ R o m a n t i k " ,
und
deren
biedere Variante w i r d genauso belächelt, wie die jungdeutsche trotz
vieler
g e m e i n s a m e r Z i e l e r e g e l r e c h t b e k ä m p f t w i r d (H. W i d h a m m e r 3 4 0 ) .
Entspre-
chendes gilt f ü r Nietzsche, der i m S p ä t w e r k die B e g r i f f e „ B i e d e r m a n n " bzw. „ B i e d e r m ä n n e r e i " 3 4 1 g a n z i m S i n n e d e r Z e i t g e n o s s e n als r e c h t u n s p e z i f i s c h e , natürlich pejorative Schlag-Worte gleichermaßen gegen
„Treuherzigkeit"342
w i e R e s i g n a t i o n 3 4 3 v e r w e n d e t , o h n e sich i m g e r i n g s t e n u m d e n historischen Kontext
derselben
zu
bekümmern344,
während
seine
Kritik
am
Jungen
D e u t s c h l a n d (s. u.) z u m i n d e s t u m e i n i g e s d i f f e r e n z i e r t e r u n d h e f t i g e r a u s f ä l l t . I m ü b r i g e n s i n d s e i n e S t e l l u n g n a h m e n z u b i e d e r m e i e r l i c h e n Autoren reserviert345
recht
— , m i t A u s n a h m e d e r j e n i g e n z u ( d e m g e m e i n h i n als „ R e a l i s t e n "
e m p f u n d e n e n ) C . F. M e y e r , d e n er, s i c h e r l i c h w e n i g e r a u s ä s t h e t i s c h e n Ü b e r l e g u n g e n als a u s p r ä s e n t i s c h e n A r g u m e n t a t i o n s m o t i v e n
und sicherlich
nicht
z u l e t z t u m d e s W o r t s p i e l s w i l l e n , als „ B i e d e r - M e y e r " a b k a n z e l t . 3 4 6 338 339 340 341
342
343
344
345
346
a. a. O., S. 77 nach H. Widhammer, ebd. a. a. O., S. 92 z. B. 12/381, 577; Nietzsche spricht dabei offensichtlich aus der Warte des Künstlers, dem „der ,Biedermann und bourgeois' [nur] zur Carikatur" gereicht (12/521). Aus diesem Gegensatz heraus (vgl. 14/484) erhellt sich seine bissige Bemerkung, der Tannhäuser-Marsch schiene ihm „der Biedermännerei verdächtig" (6/29): Das Biedermännische ist ihm — und hierin übertrifft er die zeitgenössische Abwertung noch deutlich — Sammelbezeichnung alles Unkünstlerischen. Daß sein Wortgebrauch ahistorisch zu verstehen ist, belegt ein Aphorismus zur Kunst in Restaurationszeiten, der sie, die Kunst, immerhin als zart und selten zu schätzen scheint —, um sie dann als dekadent zu entlarven (2/456f.): Gerade in jener Rückwärtsgewandtheit treffen sich sein ahistorischer Begriff „Biedermeier" und seine Vorstellung von der Epoche gleichen Namens, die ansonsten keinerlei Beziehung zueinander aufweisen. 12/133; gesteigert zur Tolpatschigkeit in einem Briefentwurf vom Dezember 1887 an E. Förster, K G B 8/218 12/457; mittels der Gleichung: „Biedermännerei" der sokratischen Philosophie = décadence (6/157) wird jener Aspekt auf eine für Nietzsche typische Weise übersteigert. Allerdings wird der Begriff „Biedermeier" erst seit Anfang unseres Jahrhunderts als historischer Epochenbegriff verwandt (veranlaßt vor allem durch M. v. Boehns 1911 veröffentlichtes Buch „Biedermeier, Deutschland von 1815 — 1847"); Nietzsches ironisch-abschätzige Verwendung des Wortes entspricht ganz derjenigen seiner Zeitgenossen. Den „Münchhausen" Immermanns zwar verschlingt der Fünfzehnjährige mit „viel Amüsement" ( J u n i 1860 an F. Nietzsche, K G B 1/110): „Es ist doch ein prächtiges Buch." (17. 6. 1860 an dies., K G B 1/112) Allerdings wird dieser Eindruck von prägenderen überlagert — er liest zu jener Zeit auch Kleist und Hölderlin — und spielt in seinem literarästhetischen Denken späterhin keine Rolle mehr. Ebensowenig Rückerts Gedichte, die bereits den Vierzehnjährigen „nicht so angesprochen haben, wie ich erwartete". (6. 2. 1859 an W. Pinder, KGB 1/47) — Noch eine Spur zurückhaltender verhält sich Nietzsche gegenüber Justinus Kerner, dessen Spuren er in seinem Werk — „Zarathustra" II paraphrasiert eine Anekdote aus der „Seherin von Prevorst" (14/305) — völlig verwischt. — Die emotionslose Distanz zu Biedermeier-Autoren paßt übrigens sehr gut zu seiner ambivalenten, auf jede Polemik verzichtenden Darstellung der Restaurationskunst im allgemeinen, (s. Anm. 341) 13/540: Der Angriff soll indirekt G. Keller zugute kommen.
Goethe-Zeit: Klassik vs. Romantik
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Ist Nietzsches Urteil über die Restaurationskunst also im wesentlichen dem seiner Zeitgenossen verwandt, im einzelnen indessen durchaus eigenständig und unzeitgemäß, so wiederholt sich die oberflächliche Konsonanz auf der Basis „unterirdischer" Dissonanz in gleicher Weise bezüglich der jeweiligen Stellungnahmen zum Jungen Deutschland. Allerdings sind diese weit schärferer Natur —, nicht ohne sich in ihrer jeweiligen Schärfe frappant zu unterscheiden: Die heftige Ablehnung seitens des Realismus als „frech", grundsatzund ehrfurchtslos347 läuft auf eine moralische Verurteilung hinaus, während Nietzsche die „gesunde Sinnlichkeit" der jungdeutschen Bewegung als nachgerade erlösend hervorhebt (5/342). Auch in einem zweiten Punkt reagiert er abweichend, ja konträr zu seiner Zeit: Spätestens ab Mitte der siebziger Jahre eine direkte Frontstellung einnehmend zu allen nationalistischen Kreisen der Philologie, die den unausstehlichen Manierismus" einer im Banne Heines stehenden Literatur als undichterisch abkanzeln348, spendet er ausgerechnet — nämlich durchaus in berechnender Weise — für diesen höchstes Lob. Freilich bleibt er darin stets personenzentriert und -gebunden; das Junge Deutschland als Ganzes, dem er Heine nicht zuordnet — selbst nicht als Vorbild bzw. repräsentativen Typus —, wird als „Vertreter einer französirenden Aufklärung in plumper Nachmacherei" (7/510) bereits im Frühwerk programmatisch angegriffen (7/500). Die darin zu Buche geschlagenen Hoffnungen hinsichtlich einer deutschen Kultur sind schließlich von Anfang an utopistisch, d. h. eng verknüpft mit einer Verurteilung epigonaler (1/746) „Gegenwartsliteratur" wie eben der jungdeutschen; daran ändert nicht einmal die spätere Hinwendung zu Frankreich349 wie zur Aufklärung etwas. In zwei Punkten hingegen berührt sich Nietzsches Kritik direkt mit derjenigen zeitgenössischer Philologie: in seiner Stellungnahme gegen politisch engagierte Literatur350 zum einen, zum anderen in seiner Einschätzung des Jungen Deutschland als „Degenerations"-Erscheinung im engeren Zusammenhang mit der Romantik351. Allerdings ist im Vergleich dazu die glatte Rubrizierung des literarischen Vormärz als Phase der Romantik, wie sie J. Schmidt exemplarisch für seine Zeit vornimmt352, wesentlich konkreter 347 348 349
350 351
352
nach H. Widhammer, Real. u. klassiz. Trad., S. 90 V. Hehn, Gedanken über Goethe, S. 185 Zu beachten ist, daß Nietzsche nach eigener Aussage schon 1873 „als Bewunderer der Franzosen" gilt (31. 12. 1873 an E. Rohde, K G B 4/187): Nicht jeder Aspekt seiner „grossen Loslösung" (2/15) hängt mit Wagner zusammen. 2/308, vgl. 3/157 8/248; daß der Name Goethes (der im selben Fragment auch als Vertreter der „Progeneration" angeführt wird) ebenfalls in jene „Degenerations"-Linie Eingang findet, liegt sicherlich an Nietzsches damaliger (wenngleich nicht mehr ungebrochen) nationalistischer, auf Wagner gerichteten Perspektive. — Zum Zusammenhang Junges Deutschland — Romantik s. auch 7/266 nach: H. Widhammer, Real. u. klassiz Trad., S. 77
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Umbegreifung der Epochenbegriffe
und parteiischer gemeint: Mit dem negativen Schlagwort „Romantik" wird z. B. Büchners Werk belegt353, obwohl ihm immerhin „die poetische Wahrhaftigkeit eines echten Talentes" zugestanden sein solle.354 Überhaupt ist die Beurteilung Büchners im 19. Jahrhundert recht schwankend; zwar empfindet man seine Stücke meist als „widerwärtig", will sich ihrer „ungeberdigen Kraft", ihrem „titanischen Anlauf" 355 jedoch nicht völlig entgegenstellen. — Nun finden sich in den frühen Notizen Nietzsches zwei Bemerkungen, die ganz auf jener Linie lägen, wenn ihre Zielrichtung nicht eine völlig andere wäre: Denn „der böse Kraftmensch Büchner", den ein Nachlaßfragment aus dem Umkreis der „Unzeitgemässen Betrachtungen" (7/740) zitiert, kann nicht der bekannte Schriftsteller Georg Büchner sein, sondern nur sein Bruder, der Arzt und (materialistische) Philosoph Ludwig Büchner. Indem er wenige Zeilen später als „fanatischer Freund des Stoffs" charakterisiert wird, ist sogar noch deutlicher auf dessen seinerzeit berühmtes Buch „Kraft und Stoff" angespielt; eine Notiz des Schülers Nietzsche verzeichnet übrigens für das Jahr 1861 die Lektüre Büchners, d. h. seiner „Anregungen für die Kunst" (III/101), die beim jungdeutschen Dramatiker nicht nachlesbar sind. Selbst die andere Bemerkung über Büchner, die ihn als „Klassiker des Pöbels" etikettiert (7/596), ist zumindest problematisch: Hier könnte zwar auf seine Verfasserschaft von „Dantons Tod" angespielt sein — Nietzsche bekämpft bekanntlich die französische Revolution als pöbelhaft —, aber der Textzusammenhang ist wiederum philosophischer Natur. Das ansonsten recht zuverlässige Register J. Salaquardas zur „Kritischen Studienausgabe" sollte in puncto Büchner (15/ 287) überprüft werden. Die weiteren Zeugnisse Nietzsches zu Autoren des Vormärz sind zwar spärlich, dafür unproblematisch in der Zuordnung: So überliefert seine Schwester, er habe Freiligrath mit der Bemerkung abgefertigt: „Den hält also der Deutsche für einen Dichter"356; an Grabbe bekundet er zumindest Interesse357, mit Börne einmal sogar Übereinstimmung358. Daß er als Student an Laubes Reisenovellen Gefallen findet359, liegt sicherlich an deren gesuchter Nähe zum Prosa-Stil Heines; das damals äußerst populäre Drama „Graf Essex" nämlich kanzelt er als „Machwerk" und seinen Verfasser als „Zukunfts353 354
355 356 357
358 359
a. a. O., S. 93 A. Stern, verantwortlich für den letzten Teil von A. F. C. Vilmars „Litt.gesch.", S. 517; auch O. v. Leixners „Gesch. d. Dt. Litt." konzediert „eine ungewöhnliche Begabung" (S. 861) —, mehr nicht. R. Gottschall, D. dt. Nat.lit. ..., 3/299 zit. nach: C. P. Janz, Fr. Nietzsche, 2/340 durch eine Bestellung seiner „Gesammelten Werke" (19. 3. 1881 an E. Schmeitzner, K G B 6/ 71), von denen er immerhin die Hälfte ausgeliefert bekommt September 1865 an R. Granier, K G B 2/83 wie ein Brief an H. Mushacke bezeugt (30. 8. 1865, K G B 2/82)
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direktor" ab. 360 Tatsächlichen Eingang in Nietzsches Publikationen freilich findet einzig und allein Gutzkow, dessen allgemeine Hochschätzung — O. v. Leixner vergleicht ihn mit Lessing 361 — erst von wenigen unterminiert wird 362 : Öffentliche Beteuerungen, man könne „das widrige Stil-Monstrum Gutzkow" (1/221) „einfach vor Ekel nicht mehr lesen" (1/684), werden die zeitgenössischen Leser bzw. Zuhörer entsprechend vor den Kopf gestoßen haben. Die rein ästhetisch argumentierende Kritik basiert freilich auf einer inhaltlichen: „Gutzkow als mißrathener Philosoph" sei „eine Karrikatur des [...] Verhältnisses von Philosophie und Poesie", seine Schriftstellerei „eine Frucht der Hegelei" (7/164) —, endgültiger kann ein Autor von einem Schopenhauerianer nicht verworfen werden. Dabei spezifiziert sich an Gutzkow im übrigen ein Einwand, der ansonsten gegen das Junge Deutschland als Ganzes erhoben wird — der des „litterarischen Gymnasiasten-" bzw. „desperaten Studententums" 363 —, und demonstriert damit zweierlei: Zum einen, daß Nietzsche, wie im Falle des „Sturm und Drang", Epochenbegriffe ganz wörtlich versteht, zum anderen seine philologische Vorgehensweise, die sich mit Vorliebe auf einen „berühmten und ganz und [gar] noch unfestgestellten Typen" (6/319 f.) konzentriert, um an ihm eine weit übergreifende Kulturkritik zu exemplifizieren. Gerade in einer derartig willkürlich zu- wie umfassend ausgreifenden Analyse „unserer entarteten litterarischen Kunst" (1 /747) münden seine Überlegungen zum Jungen Deutschland in solche zur Spätromantik; der zentrale Aspekt rückwärtsgewandten (ebd.) Verfalls erweist ihm das erstere als bloße Unterart der letzteren. Diese ihrerseits steht natürlich ebenfalls nicht isoliert, ist Teil einer gesamteuropäischen décadence und durch ihr (oben dargestelltes) „Übergewicht der Musik" (12/287) auch mit der französischen Romantik verknüpft. Daß Nietzsche im Hinblick auf all die unterschiedlichen Begriffe von Romantik nur die verschiedenen Aspekte ein und desselben Phänomens erfaßt, wurde bereits gesagt; richtet er dort sein Hauptaugenmerk auf Musikalität, so hier — bei seinen Betrachtungen französischer Romantik — auf Plebejer- und Virtuosentum: Der „Kampf gegen die Romantik", in der für ihn — entgegen den historischen Realitäten! — die „Ideale Rousseaus zusammenkommen" (12/454), läuft in „ewig wiederkehrenden" Argumenta360 361 362 363
9. 11. 1868 an E. Rohde, K G B 2/336 Gesch. d. Dt. Litt., S. 866 z. B. von A. Stern (in: A. F. C. Vilmar, Litt.gesch., S. 507 f.) 1/746, vgl. 7/266; der „lebens- und thatenlüsterne" Idealismus des literarischen Vormärz (9/ 369) ist ganz in jenem pejorativen Sinne zu verstehen. — Hier wie andernorts (7/164) wird übrigens eine Beziehung jungdeutscher Autoren zu Schiller konstruiert: vielleicht schon ein Indiz dafür, wie letzterer schrittweise in ein negatives Beziehungsgeflecht abgedrängt wird.
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tionsschleifen auf ein soziologisch, letztendlich physiologisch begründetes Zweiklassendenken hinaus: „denn unter allem romantisme grunzt und giert der Pöbel nach ,Vornehmheit' " 364 . — Das Virtuosentum andrerseits, wie es Nietzsche mit Vorliebe an Wagner, damit im Zusammenhang aber eben auch an französischen Romantikern demonstriert (zu denen schon einmal ein Balzac dazugezählt wird, 13/15), ist das zweite große Schlagwort, das dem Angriff weniger als der Verteidigung eigener Artistik dient: Daß dessen, des Virtuosen, stilistischer Fanatismus im Gegensatz zu dem seinen auf Krankheit (6/ 289) und Realitätsmangel (13/494) beruhe, wird er nicht müde zu betonen; indem er in einer späten Notiz den „bunten Tapeten-Stil" G. Sands moniert, greift er sogar einen Vorwurf auf, den er zwölf Jahre früher gegenüber Heine geäußert365: Die Namen wechseln, der Vorwurf bleibt der gleiche... Der flüchtige Seitenblick auf Nietzsches Verhältnis zur französischen Romantik genügt meines Erachtens, um I. Beithans Meinung zurückzuweisen, er verurteile die Romantik „nach ebendenselben Maßstäben, wie sie in der älteren Literaturwissenschaft bestanden"366. Selbst das differenziertere Urteil E. Kunne-Ibschs, er lege jene Strömung/«/ auf bestimmte Aspekte der deutschen Spät- wie der französischen Romantik 367 , ist seinem weitgehend typologischen Denken ähnlich „angemessen" wie die Titulierung seiner Person als „spätromantischer Sturmgeist" 368 . Allein die Dekadenztheorie, die Nietzsche dem Umfeld seiner Studien französischer Romantik entnimmt, weist nach ihrer anverwandelnden Weiterentwicklung deutlich über ihr ursprüngliches Materialobjekt hinaus: indem sie auf Wagner regelrecht zugeschnitten wird. 369 — Dessen Person liefert denn auch eine entscheidende Bereicherung des Terminus „Romantik", die in den bislang geschilderten Umbegreifungen als einzige nicht enthalten ist. Alle weiteren Aspekte, wie 13/11, vgl. S. 14 8/281; Heine ist ja generell der Grenzgänger in Nietzsches binomischer Kulturphilosophie: Schwingt in den Abwertungen der Basler Zeit schon viel verstecktes Lob mit (Das stilistische Ideal des Schülers Nietzsche besteht immerhin darin, „so schillernd und [...] lebhaft, so ergreifend wie möglich [zu] schreiben, kurz etwas brillant. Gedichte natürlicherweise können eingeflochten werden"; April/Mai 1859 an W. Pinder, KGB 1/61), so tritt die Bewunderung nach dem Bruch mit Wagner offen zutage, ruht aber ihrerseits nun auf gegenläufigen Meinungstendenzen. Die konstante Dialektik von Nietzsches Heinebild, die stark an diejenige bezüglich Wagner erinnert, ist dabei das Wesentliche, nicht der von „fließenden" Argumentationsmotiven herbeigeführte bzw. lange Jahre verhinderte Vorzeichen Wechsel. (Genaueres s. Kap. IV.2.) 366 p r Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 181; seine angebliche „Voreingenommenheit" (ebd.) bezüglich allem Romantischen ist, ganz im Gegensatz zur zeitgenössischen Philologie, kaum verifizierbar; mit einigem Recht mehr könnte man von „Nacheingenommenheit" sprechen. 364
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D. Stellung Nietzsches in d. Entwickl. d. mod. Lit.wiss., S. 168 C. P. Janz, Fr. Nietzsche, 1 /565; von dieser Charakterisierung Nietzsches scheint P. Hellers Vortrag inspiriert zu sein. Wie das im einzelnen geschieht s. „Der frühe Nietzsche...", S. 213 f.
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sie die späte Vorrede zu „Menschliches, Allzumenschliches II" prägnant zusammenfaßt (2/372 f.), sind ebensosehr von Wagner induziert wie nachträglich gegen ihn deduziert370; einzig die „Sinnlichkeit" aller Romantik habe in ihm ihr Urbild. Nietzsches vielfache Polemik gegen Wagners „schwüle Kunst" (2/373), der wieder und wieder beteuerte Ekel vor deren „krankhafter Sexualität" (13/600) wäre freilich ohne die Berücksichtigung all dessen, was unter dem Schlagwort der „tödlichen Beleidigung" zwischen ihm und dem „Meister" stand, kaum erklärbar: Ist er ansonsten doch nachgerade etwas krampfhaft bemüht, seine Sinnenfreude zu demonstrieren. Folglich gibt es sogar zu diesem Thema eine antithetische Differenzierung nach üblichem Muster; ähnlich wie im Bereich sexueller Sublimation Grundtypen des (künstlerischen) Menschen gegeneinander ausgespielt werden — eben der Artist und der Virtuose —, so auch im Bereich der Sexualität selbst.371 Da Wagner zum „letzten Romantiker" (14/161) erklärt wird, in dem sich alle Gesichtspunkte des Phänomens verkörpern, kann die Untersuchung übergehen zu Nietzsches tjpologischer Romantikbetrachtung: die nicht mehr jedoch als angedeutet werden soll. Hat sie schließlich mit dem eigentlichen Thema einzig insofern zu tun, als sie allen Urteilen über Romantiker und insbesondere denen über Heine unausgesprochenermaßen zugrunde liegt.... Einen Großteil der Aspekte des Romantischen ist bereits in meiner Arbeit über den „frühen Nietzsche" aufgeführt (S. 217 f.), zumeist kamen sie bei den vorangegangenen Begriffsbestimmungen zur Sprache und sind deshalb hier bloß zum Teil noch belegt. In einen logisch-deduktiven Zusammenhang gebracht ergeben sie eine Einheitlichkeit seines Romantikbildes, die nur Forschern wie E. Kunne-Ibsch, „die hier viel mehr Verschiedenheit sehen, bewundernswert vorkommen dürfte." 372 Sogar solch überraschende Parallelisierungen von Romantik mit Altruismus, Sentimentalität, Feminismus und Sozialismus (6/152), wie sie im Spätwerk gern im selben Atemzug vorgenommen werden, sind ja allein rhetorische Verkürzungen der jahrelangen, man 370
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Wie 1/168 belegt, beginnt die Abwertung der Romantik bereits lange vor derjenigen Wagners. — Zur wechselseitigen Beeinflussung beider Begriffsfacetten s. „Der frühe Nietzsche...", S. 216 f. s. Anm. 280; berücksichtigt man, daß Wagner in Nietzsches Augen ursprünglich das „Bild dessen [verkörpert], was Schopenhauer ,das Genie' nennt" (4. 8. 1869 an C. v. Gersdorff, KGB 3/35; vgl.: 28. 9. 1869 an dens., ebd., S. 61), so erweist sich noch die Antithetik des Genie-Begriffs als bedingt durch einen Ablösungsprozeß vom „geliebten Meister" (25. 7. 1872 an dens., KGB 4/37). Er beinhaltete die Hauptschwierigkeit, alle Gemeinsamkeiten aufkündigen zu wollen, ohne dabei in gleichem Maße sämtliche Hauptgesichtspunkte des eigenen Denkens zu verlieren. Nietzsche behalf sich, wie mehrfach dargestellt, durch innere Differenzierung ein und derselben These, Eigenschaft, Tendenz etc. D. Stellung Nietzsches in d. Entwickl. d. mod. Lit.wiss., S. 184
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ist versucht zu sagen: „folgerichtigen" Entwicklung eines typologischen Romantikbegriffes. Auch dessen Ausgangspunkt ist im Kategorienpaar Stark/ Schwach zu lokalisieren: Die aus Kraftlosigkeit resultierende Instinkt-Entartung, die beharrlich als unvornehm und plebejisch charakterisiert wird 373 , äußere sich im Verlust von Persönlichkeitseinheit wie -gleichgewicht 374 . Mit anderen Worten: Die vielfach schweifende, unsichere und chaotische Innenwelt des Romantikers sei Ausdruck mangelhafter Selbstzucht (2/372) — Nietzsche spricht gern von „Feminismus" 375 —, der einheitsstiftende lange Wille, die „große Leidenschaft", zerfiele in verschiedenste kleine Leidenschaften, die gern als „Sentimentalismus" zum Ausdruck kämen. In seinem Kern ist ein derartiges Verständnis von Romantik rein biologistisch, d. h. an P. Bourget orientiert; der wesentliche Aspekt von dessen Dekadenzbegriff findet sich entsprechend wieder in Nietzsches Kunsttheorie im engeren Sinne: derjenige vom Zerfall der Einheit in Teile. Der Auflösungsprozeß äußere sich als „künstlerische Freiheit", die als Spielart der Unsicherheit weit unter die „klass(izist)ische" Bindung an poetologische Regeln zu stellen sei (12/432); das daraus folgende Virtuosentum sei gekennzeichnet durch Individualität bzw. Originalität als auch durch Verengung der Perspektive von der Gesamtkomposition auf das Detail. — Eine überraschende Variante „schwärmerischen Hornviehs" (12/201) zeigt Nietzsche im Bereich der Wissenschaft auf: Verurteilt er das Prinzip des künstlerischen Subjektivismus auf der einen Seite als unklassisch, so deren (der Wissenschaft) Objektivitätsstreben auf der anderen Seite nicht minder, deutet es als Zeichen unvornehmer Unsicherheit (6/109) — jemand, der von seiner Sache überzeugt sei, sei gegen alle anderen ungerecht —, als „Blick zurück" anstatt nach vorn. Daß sich unter dem Deckmantel antiquarischer Geschichtsbetrachtung bloß ein subtiler Subjektivismus berge 376 , stünde nicht im Widerspruch zum Verlust der Willenskraft: Dieser sei bei einem Romantiker ja niemals vollständig, erfasse „nur" einen (Groß-)Teil seiner verschiedensten „Unter-Willen", deren z. B. 13/11; das Unvornehme bzw. Vornehme besteht nicht etwa erst in gewissen Handlungen, Eigenschaften, Attitüden; diese hängen bereits von dem kardinalen Differenzkriterium ab, welche Art von Instinkt darin zum Ausdruck kommt. Auch das Problem der Vornehmheit verschiebt sich dadurch in den Bereich des Physiologischen. 374 12/434; das Klassische definiert sich dagegen durch Seelenbalance und -synthese (also durch Ruhe „der Stärke"), die selbst einem Goethe nicht vorbehaltlos zuerkannt werden (s. o.). Im Ausbruch des „Wahnsinns" allerdings der eigenen Person: „Ich [...] habe nur das goldne Gleichgewicht aller Dinge zu sein". (4. 1. 1889 an J. Burckhardt, K G B 8/574) 375 Yg[ ¿ig Ausführungen zur Empfindsamkeit. — Den „männlichen" Epochen, Aufklärung und Klassik, stehen die „weiblichen" entgegen: Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Romantik. 376 aber eben keiner der Stärke, wie aus 2/347 f. hervorgeht: Nietzsches damaliger „Feldzug gegen den unwissenschaftlichen Grundhang jedes romantischen Pessimismus" ist ein und derselbe wie der gegen dessen Methode, „einzelne persönliche Erfahrungen zu allgemeinen Urtheilen [...] aufzubauen"! 373
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Rest sich eben hinter dem Ideal der „Wissenschaftlichkeit" zu verstecken suche. Dabei allerdings sei von einem eigentlichen Willen zum Leben nicht mehr zu sprechen, der einzig durch teleologische Bündelung aller TriebVektoren zur „klassischen" Vektorenresultante verbürgt werde. Gerade „der ganze romantische Aufruhr und Sinnen-Wirrwarr" (3/351) sei äußerst beredtes Zeugnis einer Leidenschaftlichkeit, die auf mehrfache Weise von sich selber ablenke, vor sich selber fliehe: Sei es aus einer ernüchternden Wirklichkeit in exotische Vorstellungsräume, selbst solche fiktiver Natur377, sei es aus einer mißvergnüglichen Gegenwart in entlegenste Epochen und heile (Kunst-) Welten378, sei es von der eigenen, ungenügenden Person hin zum anderen, zum „Nächsten". Aber sogar altruistische Tendenzen seien, vergleichbar denjenigen zur „Objektivität", nicht mehr als eine geschauspielerte Oberfläche, unter der vielfache Egoismen regierten. Sowohl die sozialistisch-demokratische379 als auch die christlich-moralisierende Variante des Altruismus scheinen Nietzsche erlogen; insbesondere hinter der letzteren ortet er eine hemmungslose („kleine") Leidenschaftlichkeit, die sich als Sinnlichkeit erschöpfe. Gerade hierin aber begründen sich seine zahlreichen Ausfalle gegen den „romantischen Idealismus"380, gegen die „Erhabenheit der moralischen Fragwürdigkeiten" (5/192), ja Lügnereien. 381 Wegen jener Doppelgesichtigkeit, die er unter vielen Gesichtspunkten aufdeckt, entzieht sich das Romantische seinem eindeutigen Verdikt; neben der soeben entwickelten Abwertungsreihe läßt sich gleichfalls eine solche der Aufwertung zusammenstellen, die in seinen Stellungnahmen zur romantischen Musik bereits durchschimmert.382 Zentral erscheint mir dabei, daß sich die Aufwertung auf den ästhetischen Bereich begrenzt, wohingegen die Abwertung schwerpunktmäßig auf physiologische, moralische, soziologische — also außerästhetische — Aspekte ausgerichtet ist.383 — Während erstere in einem späteren Kapitel dargestellt werden soll384, gilt es hier, den Kreis der Abwertungen zu vervollständigen, d. h. in seinen Anfangspunkt zurückzuführen: 377 378 379 380
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diejenigen nämlich von „Unendlichkeit und Mystik" (12/60) 12/117, 119 Nietzsche unterscheidet zwischen den beiden Bewegungen so gut wie nicht. 12/131; indem Nietzsche vor der „Moral-Tarantel Rousseau" (3/14) warnt, stellt er implizit die Gleichung auf: Moralismus = Plebejertum! 2/372, 6/432 Deren Hochschätzung ist im Frühwerk ganz offensichtlich; wenn Nietzsche z. B. zur Romantik notiert, sie sei „Reaktion der Musik gegen eine kalte Plastik" (7/510), läßt sich seine spätere Hinwendung zu „klassischer" Kälte und Härte wie auch zur „Plastik" epischer Literaturformen ohne Einschränkung als reine Selbst-Überwindung interpretieren. Die physische Entartung als Stimulans sei geradezu Vorbedingung für ästhetische Verfeinerung! (12/304) im Zusammenhang der Aufwertung des Kranken (s. Kap. V.): Dieses ist ja für Nietzsche — im Rückgriff auf Goethes Definition — weitgehend synonym mit dem Romantischen.
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Der soeben für alles Romantische konstatierte Verlust des Lebenswillens rechtfertige sich nämlich schließlich in dessen theoretischer Verneinung, weswegen Nietzsche die Romantik als „Vorbereitung des Nihilismus" 385 deklariert —, wenn ihm nicht gar das eine schon als Spielart des anderen gilt. Erschöpfung, Lebensmüdigkeit (2/375) und Krankheit, zunächst nur als psychische Phänomene konstatiert, würden dabei physisch greifbar; das instinktlos gewordene, „entartete" 386 Leben ziehe sich von der Welt in sich selbst zurück: Dekadenz 387 der Moderne 388 führe auf den verschiedensten Ebenen zu immer dem gleichen Endergebnis. Abschließend soll noch einmal hingewiesen werden auf einen Umstand, der bereits früher Erwähnung fand: So wie Nietzsche romantische Musik als „Musik zweiten Ranges" (5/188) einschätzt und den romantischen Künstler als den Zweitvornehmsten 389 , so ist ihm das Romantische insgesamt ein Sekundärphänomen, d. h. stets im Hinblick auf das klassische Ideal entworfen 390 : In seinem zyklischen Geschichtsbild folgt Dekadenz notwendig auf jede Blütezeit, während diese aus sich selbst erstehe, d. h. aus ihren Keimen, die nicht im romantischen Umfeld gediehen. Weitgehende Parallelen beider Phänomene sollten dabei über ihre grundsätzliche Geschiedenheit nicht hinwegtäuschen; vor allem der romantische und der dionysische Pessimismus haben nichts als den Namen gemein. 391 Daß er in beiden Kunstrichtungen eine so zentrale Rolle einnimmt, erklärt sich aus der Zeitsituation: „Gerade die Jahre um 70 herum", so führt K. Joël aus 392 , „bedeuten [...] in Deutschland den Höhepunkt der tragischen Stimmung und des Pessimismus, dessen 12/127, s. auch S. 201 f., 285 386 £)er Terminus fallt häufig in Passagen über Romantik; daß dort aber nicht in präfaschistischer Grausamkeit argumentiert wird, wenn jenes später berüchtigt gewordene Wort fallt, belegt z. B. ein Nachlaßfragment über Wagner (12/55). 387 Die Synonymität der Begriffe décadent und Romantiker bestätigt ein Textvergleich zwischen 2/372 und 6/431: In dem ansonsten wörtlichen Selbstzitat sind einzig diese beiden Worte ausgetauscht. 388 Auch die Termini Moderne und Romantik werden synonym verwandt. (14. 10. 1881 an F. Overbeck, K G B 6/184) 389 12/156; allerdings wird er hier dem „vollkommenen" Christen nachgeordnet und nicht dem Klassiker. Das Fragment bezieht sich nämlich auf Nietzsches tatsächliche Lebenserfahrung, in der jener Terminus keine Anwendung auf Personen gestattet: Schließlich geizt er mit der Auszeichnung „Klassiker" sogar Goethe gegenüber, d. h. um so mehr — und wohl zu Recht — gegenüber seinen Mitmenschen. 390 Ähnlich auch E. Kunne-Ibsch, D. Stellung Nietzsches in d. Entwickl. d. mod. Lit.wiss., S. 166; das Romantische wird von Nietzsche öfter direkt als „reaktiv" angesprochen im Gegensatz zum „aktiven" Klassischen. (12/434) 391 s. dazu 2/376; ähnlich verhält es sich mit dem Verlangen nach Ruhe, das in beiden Kategorien auftaucht. Während das „romantische" Ruhebedürfnis aber eines nach Erlösung sei, phasenweise die rauschhafte Selbstbetäubung ablösend (3/620), so das klassische ein Zeichen freiwilliger Selbstbändigung: „Ruhe der Stärke" vs. „Ruhe der Erschöpfung" (III/782) 392 Nietzsche u. d. Rom., S. 84 385
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lauteste Verkünder, Hartmann, Bahnsen, Mainländer damals auftraten." Nietzsches unzeitgemäße Umwertung eines zeitgemäßen Denkschemas mündet also mit seinen beiden Spitzen gleichermaßen zurück in den Strom zeitgenössischen Denkens. Daß sie dabei in einer gängigen Form höchst ungewöhnliche Inhalte transportiert, versteht sich nach dem bisher Gesagten von allein.
4. „Moderne" : Realismus vs. décadence Zu den Topoi literarischer Kritik gehört die Ablehnung zeitgenössischer Veröffentlichungen, insbesondere wenn sie von einem Denker vorgebracht wird, der sich selbst vornehmlich als Künstler versteht. Zwar wertet auch W. Scherers „Geschichte der Deutschen Litteratur" das 19. Jahrhundert ab (S. 720), zwar wird es bereits 1855 von J. Schmidt als Verfallsepoche interpretiert 393 , Nietzsches Urteile gehen indes über die allgemeine, stets mit Blick auf die Weimarer Klassik formulierte Klage der Philologen weit hinaus, sind einerseits umfassender, pauschaler, andrerseits pointierter und schärfer. Schon in „Menschliches, Allzumenschliches" deklariert er die Autoren seiner Zeit zu „Narren der modernen Cultur", rügt ihren Feuilletonismus 394 als „halbvernünftig, witzig, übertrieben, albern" und erklärt sie abschließend als „nicht ganz zurechnungsfähig" 395 . Ein Aspekt seiner Klugheit, so will er es in „Ecce homo" sehen, bestehe geradezu in einer instinktiven „Feindschaft gegen neue Bücher" (6/285), und daß sich diese vornehmlich gegen deutschsprachige Publikationen richtet, ergibt sich nicht erst aus dem Umkreis der angeführten Stelle. Was seine Kunstkritik freilich von der zeitgenössischen unterscheidet, ist ihre Verknüpfung mit einer Kritik gleichen Tenors am modernen Leben generell: Angriffe auf dessen maßlos-unruhiges kulturelles Kosmopolitentum münden in eine an Hegel erinnernde Prophezeiung, die Kunst bewege sich „ihrer Auflösung entgegen" 396 ; daß die Analyse des Verfalls zunehmend mit Begriffen wie Krankheit (13/503 f.), „Lust an der Nüance" (12/289), décadence397 operiert, macht allerdings mißtrauisch: Ist „Moderne" wieder nur ein anderes Wort für Romantik, äußert sich Nietzsche eventuell gar nicht Gesch. d. Dt. Lit. .... 1/S. X Der Begriff wird zwar erst v o n H. Hesse im „Glasperlenspiel" geprägt (das 20. Jahrhundert als „feuilletonistisches Zeitalter"), hier hat er jedoch seinen Ursprung. 395 alle Zitate 2/165; eine interessante Zukunftsprognose der Literatur des 20. Jahrhunderts findet sich im Nachlaß zum „Willen zur Macht" (13/120): In vielen Punkten kündigt sie m. E. Tendenzen an, die sich schon mit dem Aufbruch der beginnenden Moderne bestätigt haben. 396 2/183 ff.; zum Zusammenhang v o n Kunst- und Lebensverfall s. auch 2/173 f., 3/446 397 Die Synonymität von „modern" und „décadent" in seinem Sprachgebrauch bezeugt Nietzsche ausdrücklich in einem Brief an C. Fuchs. (29. 7. 1888, K G B 8/374) Vgl. A n m . 387 und 388 393
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über die herrschenden literarischen Strömungen, wenn er sie als „modern" angreift? „Die décadence [...] gehört zu allen Epochen der Menschheit" 398 , entzieht sich seine Kulturphilosophie in bekannter Manier zunächst der Antwort; beachtet man jedoch, daß zahlreiche seiner Analysen der Moderne mit dem Hinweis auf Wagner schließen 399 , so muß der erste Teil der Frage mit Ja beantwortet werden: Indem Wagner zum Prototypen der Moderne erklärt wird — im gleichen Wortlaut wie andernorts zu dem der Romantik 400 —, ist die Gleichsetzung Romantik = décadence = Moderne nicht mehr anzweifelbar. 401 G. Colli konstatiert in den Reflexionen der späten achtziger Jahre eine entsprechend „schwindelerregende Ausweitung des Bereichs der Modernität" (6/454), führt die „Intoleranz gegen die moderne Kunst" auf ein „konkretes [d. h. physiologisches!] Unwohlsein im Wagnerschen Milieu" zurück (6/ 452). — Nun sind ähnliche Begriffsentgrenzungen und -Vermischungen gleichermaßen bei Nietzsches Zeitgenossen 402 oder seinen geistigen Nachfahren 403 zu beobachten; aufgrund der zeitlichen Nähe zur historischen Romantik sind sie auch nicht weiter verwunderlich. Gerade deshalb aber kann der zweite Teil der oben gestellten Frage nicht uneingeschränkt verneint werden; Aufgabe des Interpreten ist es erneut, die eigentlichen Umwertungen moderner Literatur hinter der Umbegreifung ihrer Sammelbegriffe aufzuspüren.
L'art pour l'art In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überlagern sich die verschiedensten literarischen Bewegungen: spätromantische, klassizistische und biedermeierliche mit programmatisch realistischen, naturalistischen samt deren Gegenströmungen. Durch seine regelmäßige Lektüre des „Journal des Goncourt", in zahlreichen Exzerpten dokumentiert 404 , zeigt sich Nietzsche insbesondere über letztere gut informiert —, besser jedenfalls, als es ein Leser deutschsprachiger Zeitschriften damals sein kann. Sein Begriff von Moderne 358 359 400 401
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13/87, vgl. III/779 6/52f., 12/118, 473 6/12: „Wagner resümiert die Modernität." — 13/133: „Wagner resümiert die Romantik". Erst durch ein derart weites Konnotationsfeld werden Passagen ja verständlich, in denen sich Nietzsche als „Modernster der Modernen" o. ä. bezeichnet. (12/165, vgl. S. 180) beispielsweise bei E. Scherer, dessen „Études sur la littérature contemporaine" (s. insbesondere 8/292 ff.) Nietzsche nur deswegen so zahlreiche Anregungen zur décadence- bzw. romantischen Kunst entnehmen kann, weil sie ihr Materialobjekt ähnlich großzügig „begrenzen" E Gundolfs George-Monographie rubriziert das gesamte 19. Jahrhundert als Romantik. (S.6) s. vor allem die Notizbücher der letzten zwei Jahre
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reicht folglich bis hin zur Kunst des L'art pour l'art; weniger jedoch die relativ farblosen Äußerungen über Th. Gautier und die Deklaration der Goncourt zu seinen „Unmöglichen" (6/111) spiegeln die Auseinandersetzung mit dem neuen Kunstverständnis als vielmehr Reflexionen allgemeiner Natur: Die Kritik an der Sache läuft bei Nietzsche nicht Hand in Hand mit derjenigen an ihren Vertretern. Im Gegenteil, indem er selbst L'art pour l'art mit Romantik in Bezug setzt (12/298), löst er das Prinzip von seinem begrenzten historischen Kontext ab und ordnet es einer gesamtkulturellen Entwicklung zu. Dadurch verliert es an Inhalt — die bedeutsame Trennung von Ästhetik und Moral z. B., in der es seinem eigenen Denken vorangeht405, wird von ihm an keiner Stelle wahrgenommen —, gewinnt statt dessen an Handhabbarkeit und Wirksamkeit. Natürlich zielt die Tendenz der Begriffsaneignung ins Negative: „Die Kunst ist das grosse Stimulans zum Leben: wie könnte man sie als zwecklos, als ziellos, als l'art pour l'art verstehen?" (6/127) — das ist der Haupteinwand, den Nietzsche gegen diese Richtung erhebt, ohne ihre Ziele im einzelnen zu reflektieren. Wieder einmal nimmt er den Begriff beim Wort und — seine kulturphilosophischen Reflexionen laufen immer nach demselben Muster — betont dagegen den Zusammenhang von Kunst und Leben; ohne diesen erscheint ihm sogar die „Fähigkeit zu artistischen Leidenschaften, zu Hingebungen an die ,Form' " 406 , die immerhin Voraussetzung jeder klassischen Kunst sei, lediglich als „aufgeputzte Skepsis und Willenslähmung" (5/139). Das ist der basso ostinato seines späten Leitmotivs „Die Kunst und nichts als die Kunst" (13/194), das besonders in seiner Durchführung „Eine Kunst für Künstler, nur für Künstler!" (3/351) sehr nach dem Programm des L'art pour l'art klingt. Und in der Tat: Gerade aufgrund jener Nähe, d. h. um nicht verwechselt zu werden (6/257), zieht Nietzsche einen unüberwindbaren Graben zwischen sich und seinen „Nächsten"407: Reiner Ästhetizismus, soweit kann hier schon zusammengefaßt werden408, wird von ihm als Nihilismus bekämpft (12/557) — als „virtuoses [!] Gequak kaltgestellter Frösche, die in ihrem Sumpf desperiren" (13/300) —, und zwar nicht etwa, wie E. Kunne-Ibsch meint, weil er als „an und für sich richtiges Prinzip" in sein Gegenteil umkippe, indem er „extrem wird" 409 , sondern weil er von vornherein als einseitig anzuprangern sei. Damit setze sich schließlich in
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s. Kap. IV.4. 5/199: Hier entgrenzt Nietzsche den Terminus „L'art pour l'art" dergestalt, daß er alle Literatur „in Frankreich seit drei Jahrhunderten" umschließt! d. h. denen, die seinen Vorstellungen am nächsten kommen Da sich sein K a m p f gegen L'art pour l'art keinesfalls auf die historisch begrenzte Kunstströmung beschränkt, sondern sich gegen ein überhistorisches Prinzip richtet, sind weitere Ausführungen zu diesem Themenkomplex hier nicht angebracht. S. dazu Kap. IV. D. Stellung Nietzsches in d. Entwickl. d. mod. Lit.wiss., S. 76
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der Moderne (im engeren Sinne) die Linie der Dekadenzkunst fort, und indem Nietzsche sie scharf verurteilt, verurteilt er vorab deren deutschen Ableger in gleichem Maße —, pikanterweise also ausgerechnet seinen späteren Verehrer George. 410 Realismus Doch über Realismus wie Naturalismus äußert er sich keineswegs freundlicher, es scheint, daß sein grundsätzlicher Zweifrontenkrieg sich geradezu exemplarisch an der Kritik „moderner" Kunst darlegen ließe. Die ausgeprägte, über ein Jahrzehnt anhaltende Hochschätzung allerdings, die er als einem der wenigen ausgerechnet G. Keller zollt 411 , macht stutzig. Wie hinsichtlich des L'art pour l'art, so auch bezüglich des „Realismus" klaffen in Nietzsches Kulturphilosophie historische und typologische Begriffe weit auseinander —, ebenso wie seine Äußerungen zum Phänomen selbst und zu dessen Vertretern. 412 Daß letztere in zeitgenössischen Darstellungen (soweit sie sich überhaupt schon damit befassen) fast einhellig positiv beurteilt, ja zunehmend zum Maßstab von Kunst und Künstlern erhoben werden, kann nicht überraschen. Wichtige Literaturkritiker wie A. F. C. Vilmar oder G. Freytag bekennen sich ganz offen zum programmatischen Realismus; von „unabhängigeren" Literarhistorikern, vor allem solchen, die ihre prächtig ausgestatteten Werke auf bürgerliche wie kleinbürgerliche Leserkreise hin konzipieren 413 , wird realistische Literatur als zwar epigonale, aber immerhin \>ost-klassische geschätzt. Vor allem G. Freytag erfreut sich nahezu ungeteilter Hochschätzung —, nahezu, weil ihn z. B. Nietzsche gerade deshalb 414 heftig attackiert: „Dieser mit steifen Hosen geborene Dichter" (8/26) gibt ihm regelrecht das Paradigma des schlechten Epikers ab, erst in zweiter Linie das des Dramatikers; schon in seiner Basler Zeit sieht er ihn in unversöhnbarer „Opposition 410
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Das Gespräch zwischen „Geistesriesen", wie es Nietzsche grundsätzlich idealisiert, ist schließlich nur einseitiger Natur: Drehte man das Verhältnis einmal um, so würde er sich ebensowenig auf George berufen haben wie etwa Goethe auf Nietzsche. Daran ist abzulesen, wie eng begrenzt der Raum an Übereinstimmung ist, auf den sich — auch und gerade im Falle Nietzsches — eine literarische A u f w e r t u n g gründet. eine Hochschätzung, die jener übrigens nicht erwiderte: S. dessen Brief v o m 18. 11. 1873 an E. K u h , in dem er Nietzsche als „Spekulierburschen" und „Kardinalphilister" verurteilt. (Sämtliche Werke, 3/1194 f.) Auch an diesem Punkt der Untersuchung wird also versucht, I. Beithans Auffassung zu widerlegen, die sie folgendermaßen zusammenfaßt: „Das künstlerische Prinzip des Realismus sowohl als dessen einzelne Vertreter in der modernen Dichtung lehnt Nietzsche [...] gleichmäßig ab." (Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 191) v o r allem O. v. Leixner, R. Koenig, E. Hoefer seiner „Kriegs-Praxis" gemäß, nur Personen anzugreifen, „die siegreich sind" (6/274)
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gegen die imperativische Welt des Schönen und Erhabenen" (7/266). Auffallenderweise geht kein einziger seiner Angriffe in damalige Publikationen ein; aus den bereits dargestellten Gründen 415 hält Nietzsche seine unzeitgemäße Meinung im Raum privater Notizen zurück. Nichtsdestoweniger ist die Umwertung eminent; dagegen fallt selbst die späte Polemik gegen den „vermaledeiten Instinkt der Mediokrität", der einen C. F. Meyer oder gar G. Ebers und E Dahn goutiere (13/540), recht harmlos aus. Über Hebbel, dessen Dramen sicherlich für die „Geburt der Tragödie" einiges Material geboten hätten, schweigt er sich dagegen aus; eine der wenigen Textveränderungen der zweiten Auflage besteht ausgerechnet darin, den Namen Hebbels völlig aus dem Werk zu tilgen 416 : Wahrscheinlich kannte Nietzsche dessen Dramen kaum 417 — und empfand das als alles andere denn eine „Bildungslücke". Seine Urteile über realistische Autoren sind somit, wie zu erwarten, divergent; daß er G. Keller allen zeitgenössischen deutschen Autoren vorzieht, hängt für ihn in keiner Weise mit seiner Verurteilung anderer Realisten zusammen: Die Meinung über diese wie jenen ist die eine Seite seiner Literaturkritik, die andere besteht in der Auseinandersetzung mit der Richtung als solcher. Das heißt mit einer Richtung, wie er sie sehen will, und so hängt sie mit der philosophischen Schule gleichen Namens aufs engste zusammen: Wenn der Realismus als „Sophisten-Cultur" gelobt wird 418 auf Kosten eines angeblich feigen Idealismus 419 , so hat das zum literarischen Realismus lediglich indirekten Bezug 420 . — Der Epoche im engeren Sinne gewinnt Nietzsche ebensowenig Interesse ab, wie immer dehnt er den Terminus ins Stiltypologische. Zwar spricht er in einigen Reflexionen seiner zweiten Phase den Realismus als gegenwärtige Kunstrichtung direkt an, lobt ihn sogar einmal als angemessenen Ausdruck eines „wissenschaftlichen" Glücksgefühls der Epoche (2/266), in seinem Bewußtsein weist er dagegen stets bis in die Antike zurück. Die philosophische Kontrastierung mit dem Idealismus findet ihr Pendant auf literarischer Ebene in derjenigen mit allem (romantisch-!)phantastischen 4,5
416 417
418
419 420
Der frühe Nietzsche sucht ja noch hauptsächlich Verbündete, (s. „Der frühe Nietzsche...", Kap. II) vgl. 1/26 und 14/45 f. Ein Brief v o m 18. 2. 1865 zwar berichtet von einem Theaterbesuch der „Nibelungen", jedoch scheint sein Interesse ausschließlich der weiblichen Hauptdarstellerin gegolten zu haben, (an F. und E. Nietzsche, K G B 2/43) 6/156, 13/625; freilich wird auch jener Begriff auf typisch Nietzscheanische Weise gedehnt, so daß er noch einen Thukydides einschließt. vgl. auch 13/299 ff. nämlich über Schillers Abhandlung zur „naiven und sentimentalischen Dichtung", seit der das Naive dem Realistischen, das Sentimentalische dem Idealistischen gleichgesetzt wird. — Selbst solch entlegene Äußerungen wie die über Thukydides (s. Anm. 418) können somit für eine Vervollständigung v o n Nietzsches Schiller- bzw. Goethebild herangezogen werden.
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Umbegreifung der Epochenbegriffe
Erzählen. 421 Indem Nietzsche andererseits weite (nämlich all^u realistische) Bereiche des Lebens von der literarischen Bearbeitung ausgeschlossen wissen, ja allein eine „gewählte Wirklichkeit" dargestellt haben will (2/426), rückt er in bedenkliche Nähe zu klassizistischen, regelpoetologisch fixierbaren Kunstvorstellungen. Freilich nur für eine begrenzte Zeit: Schon in der „Fröhlichen Wissenschaft" beginnt er, sich von der „Leere" eines realistischen Weltbildes zu distanzieren, enttarnt es als „geheime [...] Trunkenheit" und Phantastik 422 , ohne sich allerdings in eigentliche Opposition zu ihm zu stellen. Was einiges heißen will, geht er ansonsten doch mit Vorliebe auf Konfrontationskurs! Seine modifizierte Einschätzung des Realismus als „Auswahl, Verstärkung, Correctur" der Fakten und Tatsächlichkeiten (6/79) mündet zurück in philosophische Überlegungen, von denen sie ihren Ausgang genommen. Indem er hier realistische Kunst verstanden wissen will als Realitätsverdichtung zum künstlerischen Schein, zeigt er gerade in solch sanften Begriffsverschiebungen ein stetes, wenn auch nicht leidenschaftliches Engagement für jene Stilrichtung. — Daß C. P. Janz da zu der Auffassung kommen kann, „Realismus, Naturalismus [sind] nicht Nietzsches Stile, er steht dem Impressionismus nahe" 423 , mag als Fragebzw. Ausrufezeichen angehängt werden.
Naturalismus Aber vom Naturalismus zumindest distanziert sich Nietzsche in der Tat: Nichts könnte seinen Kunstvorstellungen stärker zuwiderlaufen als dessen verhäßlichende, desillusionistische, sozialistische, positivistische ... Tendenzen —, dies aus der Warte Nietzsches gesprochen. Indessen täuscht gerade seine einhellige Ablehnung leicht darüber hinweg, daß er unter dem Terminus „Naturalismus" grundverschiedene Sachverhalte subsumiert; immerhin verfügt sein polyedrischer Wortgebrauch auch an jener Bezeichnung über sechs verschiedene Seiten: Ist vom „moralistischen Naturalismus" die Rede 424 , so bezieht sich das nur auf die eigene Methode des Philosophierens; wird an manch anderer Stelle mit dem nicht näher spezifizierten Begriff Naturalismus operiert, so ist damit ebensowenig — und W. Kaufmann hat meines Erachtens als erster auf die betreffende Äquivokation hingewiesen 425 — eine literarische 421 422
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2/426, 435 3/421; entsprechend bezeichnet er seine eigene „wissenschaftlich"-realistische Literatur jener Jahre als „verborgenes Schwärmen". (2/375) Fr. Nietzsche, 2/517; vgl. A . Verrecchia, Zarathustras Ende, S. 94: „Impressionistisch, wie die Prosa Nietzsches nun einmal ist" —, die unzutreffende Kurzcharakteristik seines Stils hat hier eindeutig negativen Beigeschmack. 12/380, vgl. S. 33, 342 Nietzsche, S. 1 1 8 f.
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Epoche angesprochen, sondern eine philosophische Lehre 426 . Eine Lehre, so G. Gawlick, die „in irgendeiner Form die Natur zum Grund und zur Norm aller Erscheinungen" erklärt 427 und deren verschiedenen Varianten — metaphysischem, ethischem, theologischem und ästhetischem Naturalismus — hier nicht näher nachgegangen werden muß, da ihre Ablehnung durch Nietzsche eben philosophischer, nicht philologischer Natur ist. Relevant fürreine Untersuchung über seine literarästhetischen Umwertungen wird der Ausdruck „Naturalismus" erst auf der dritten Seite: als „Pariser naturalisme", dessen Vertreter hier als „zierlichste und dünnste Nachwüchse der Romantik von 1830" im doppelten Sinne verzeichnet sind 428 . Die Sammelrubrik „Romantik" scheint auch diejenige des „Naturalismus" als Teilmenge zu beinhalten, an beiden — „beiden" — moniert Nietzsche das Chaotische, Nihilistische (12/ 444), das willensschwache „Bedürfniss nach Glauben" (3/582) wie nach Objektivität (13/446). Andere Fragmente jedoch sprengen die romantische Fassung des Terminus zur Gänze; dort ist in einer völlig neuen, vierten Wortbedeutung die Rede vom „Naturalismus" des Sturm und Drang, d. h. von dessen „Shakespearomanie" (2/181). Ein derartiger Wortgebrauch läßt sich übrigens als zeitgenössisch durchaus üblicher belegen; J. Schmidts Literaturgeschichte versieht das kraftgenial-shakespeareske Theater vor 1791 mit der Etikette „Naturalismus" (1/102) und Nietzsches Lehrer A. Koberstein definiert letzteren als „eine von aller wahren Kunst abführende" „Ausartung jener Realistik" im 18. Jahrhundert. 429 Die Verurteilung der fraglichen „Revolution in der Poesie" (2/180) durch seinen berühmten Schüler steht ganz im Zeichen eines am französischen Klassizismus orientierten Kunstverständnisses; das Verdikt: „Naturalismus — das heisst in die Anfange der Kunst zurück" (2/181) kann deshalb höchstens über Umwege auf die literarischen Bestrebungen der Zeit angewandt werden. Obwohl die Naturalisten des 19. Jahrhunderts, wie schon R. Koenigs Literaturgeschichte vermerkt, mit derartiger Vorliebe Nietzsche zitieren, daß er zeitweilig als ihr „Mystagoge" gilt (2/543), sieht er selbst — so vermutet R. Gottschall zu Recht — in deren Werken „nur eine pöbelhafte Auflehnung gegen das Kunstgesetz" 430 . Die weltanschauliche Kluft zwischen ihm und dem literarischen Naturalismus wird besonders deutlich, wenn man nicht bloß die wenigen Stellen konsultiert, in denen der Begriff in seiner fünften, epochenspezifischen Bedeutung gebraucht, sondern desgleichen solche, in denen ein wesentlicher Gesichtspunkt seiner Kunstdoktrin behandelt wird, 426 427 428 429 430
z. B. 5/27 Naturalismus, 6/Sp. 5 1 7 Das geht aus einem Textvergleich 3/582 mit 14/273 hervor. S. auch 13/530. Grundriss d. Gesch. d. dt. Nat.litt., 4/906 D. dt. Nat.litt. ..., 4/632
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Umbegreifung der Epochenbegriffe
ohne daß der Bezug zu der entsprechenden Zeitströmung bzw. den entsprechenden Autoren direkt niedergelegt ist. Gemeint sind die späten Stellungnahmen zur Milieutheorie, der gegenüber Abscheu und Widerwillen zu bekunden Nietzsche zu den stärksten Formulierungen greift. Freilich, den „CloakenGestank von Großstadt" (11/46) wittert er nicht erst bei Zola (6/111), sondern bereits bei Balzac und — natürlich Shakespeare (11/46); sein Kampf gegen „naturalistische" Milieudarstellungen zielt also wieder ins Überhistorische. Möglichst umfassende Motivierung der Phänomene durch Rückgang auf ihre soziologischen Ursachen, die der Germanist W. Scherer und der Geschichtsphilosoph H. Taine gleichermaßen fordern, muß einem teleologischen Denker wie Nietzsche immer mechanistisch erscheinen431; schon in seiner Antrittsvorlesung verwahrt er sich ausdrücklich gegen eine derartige Literaturgeschichtsschreibung (III/168 f.). Zwar kennt auch er ähnliche Überlegungen, ergänzt sie jedoch nicht nur durch genealogische und historische Komponenten432, sondern vor allem durch den individuellen künstlerischen Willen: Die innere K r a f t ist unendlich überlegen [...] G e n a u dieselben milieu's k ö n n e n entgegengesetzt ausgedeutet und ausgenutzt w e r d e n [...] Ein G e n i e ist nicht erklärt aus solchen Entstehungs-Bedingungen (12/154).
Interessanterweise ist die Polemik gegen die Milieutheorie mit der gegen Darwin verknüpft (13/315), z. T. vermengt Nietzsche beide Lehren regelrecht, indem er sie kurzerhand auf eine einzige (verwerfliche) Theorie der Anpassung verkürzt (12/306). Ähnlich erfolgt seine Argumentation, die Literatur betreffend; auch im engeren Sinne verurteilt er „Naturalismus als Verkörperung des wissenschaftlichen Prinzips" 433 , dessen „photographischer" Objektivismus eher Ausdruck verlogener Schwäche sei als eigentliche Schöpferkraft demonstriere: „Beschreibung ohne Perspektiven, eine Art chinesischer Malerei, lauter Vordergrund und alles überfüllt." (11/57) Die Kritik am „Zusammen-Addirten, Unruhigen, Farbenschreienden" naturalistischer Kunst (6/115) zielt dabei in die gleiche Richtung wie die am reinen Realismus: Nietzsche fordert die gehobene Ebene der Darstellung, stilistisch wie thematisch, die Nähe „grossstädtischer Kloaken" vergälle ihm jede „unschuldige und schöne Empfindung" (2/423). Das anläßlich seiner Realismuskritik Gesagte ist an 431
432
433
Charakteristischerweise nimmt er H. Taine, immerhin den Schöpfer der Milieutheorie, von sämtlichen Angriffen auf dieselbe aus, im Gegenteil, er verteidigt ihn heftig gegenüber E. Rohde (19. 5. 1887, K G B 8/76). Die Hochschätzung einer Person ist bei Nietzsche — so wurde es des öfteren schon angesprochen und wird noch systematisch zu zeigen sein (Kap. IV) — keinesfalls durch diejenige des Werkes bedingt. die sich z. T. ausdrücklich gegen eine Denkweise wenden, die den einzelnen nur als Produkt von Umwelteinflüssen verstehen will (13/468); Nietzsches Perspektive favorisiert die genealogische (12/342), ja „rassistische" (12/306) Blickweise geradezu. I. Beithan, Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 193
.Moderne": Realismus vs. décadence
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dieser Stelle demnach in verschärfter Form zu wiederholen, schließlich verschärft er selbst die Antithese entsprechend: auf der einen Seite die unwahre, d. h. übertreibende, verzerrende, lückenhafte Natur, auf der anderen das künstlerische „Sehen, was [dahinter, sprich: eigentlich] ist" (12/399). Seine Ästhetik, so diesseitig sie sich gerne gibt, hat hier ihren metaphysischen Hintergrund; gegenüber einem unwürdigen „Im-Staube-Liegen vor petits faits" fordert sie das „Idealisiren" der Erscheinungen zur Idee. (6/115 f.) Darin stimmt er übrigens mit den „wahren" Realisten überein, die immerhin — so H. Widhammer 434 — zwischen Realität und Idealität vermitteln wollen: In deren Augen ist Naturalismus schlichtweg „schlechter" Realismus, da sein rein materialistisches Konzept ohne Ideale auskommen wolle. Der Unterschied allerdings zwischen programmatischem Realismus und Nietzsche besteht darin, daß letzterer eine Idealisierungstendenz des Künstlers qua Instinkt fordert (6/115). Dessen Abwesenheit ist ihm bekanntlich Zeichen der Schwäche —, naturalistische Kunst also eine solche der décadence. Ihre „brutale Colportage" der Tatsachen wird entsprechend mit einem romantischen (!) „Mangelgefühl" in Verbindung gebracht (12/469), als Reizmittel interpretiert (12/284), hinter dem sich sensationsgierige Willensschwäche verberge (13/ 366 f.), d. h. eine defizitäre Persönlichkeit. Theorie und Praxis des Naturalismus werden somit gleichermaßen als Symptome des Nihilismus (12/398) angeprangert, die „Neurotiker-Theorie" (6/145) vom Milieu insbesondere als Beweis einer „verhängnißvollen Disgregation der Persönlichkeit" gewertet (13/468), als ,,décadence-Theorie" (ebd.); und wenn am Ende auch Wagners Libretti als „naturwahr bis zum Widerlichen" (13/465) geschildert werden, schließt sich der Kreis der Argumentation: Der historisch eng begrenzte Begriff von Naturalismus fließt über in einen typologischen. Dennoch richtet sich Nietzsches Augenmerk hier — mehr als bei den meisten anderen Punkten seiner Auseinandersetzung mit literarischen Stilrichtungen — ganz wesentlich auf die Epoche selbst; daß er ausschließlich die Entwicklung in Frankreich beobachtet, liegt an seiner bewußt antideutschen Perspektive. Als er, von Overbeck angeregt, einmal ein Werk K. Bleibtreus zur Hand nimmt — mehr wird es wohl nicht gewesen sein —, kommentiert er es dem Freund gegenüber mit den Worten, er wolle dem Autor „nicht einen Moment treu bleiben". Für ihn, der „für nichts als für ,Litteratur' Sinn und Auge" habe, schriebe „dieser Bl[eibtreu] wie ein Schwein inmitten des allergewöhnlichsten Zeitungs-Düngers, vollkommen stumpf gegen alle nuances der Worte." 435 Und obwohl er seinem Verriß noch einige Ausrufungszeichen bezüglich philosophischer und „psychologischer Armseligkeit" des Verfassers anhängt, beschränkt er sich im wesentlichen auf stilistische 434 435
Real. u. klassiz. Trad., S. 1 1 9 und 122 13. 5. 1887, K G B 8/74
262
Umbegreifung der Epochenbegriffe
Einwände: Darin ganz an seine Kritik realistischer Autoren anknüpfend. In beiden Fällen wird die dahinterstehende Programmatik unabhängig von deren Vertretern behandelt, ob aus Unkenntnis der Zusammenhänge oder aus einer feinsinnigen Dialektik heraus, mag dahingestellt bleiben. Erinnert werden muß freilich daran, daß auch die jeweiligen Analysen von Aufklärung, Romantik, Jungem Deutschland usw. nur bedingt etwas mit deren Autoren zu tun haben: und zwar deshalb, weil Nietzsche letztere eben allenfalls „bedingt" zur Kenntnis nimmt.
5. Schlußbemerkung
%um dritten Kapitel: Dialektische
Abfolge literarischer
Epochen
Wenn im folgenden die bisherigen Ergebnisse in einem notwendigerweise vereinfachenden Schema dargestellt sind, so möge man berücksichtigen, daß es sich allein auf literarische Epochen bezieht. Nietzsches typologische Einschätzungen, obwohl ihm selbst die wesentlicheren, konnten darin ebensowenig Eingang finden wie seine oft völlig „autonomen" Bewertungen einzelner Autoren. Was im zweiten Kapitel unter dem Stichwort „dialektisches Denken" recht allgemein entwickelt wurde, läßt sich dafür geradezu exemplarisch konkretisieren. Ebenso wie über einzelne Kunstwerke, so fallt Nietzsche seine Urteile über ganze Epochen im Hinblick darauf, ob sie Aufstieg bzw. Höhepunkt einer Entwicklung repräsentieren oder deren Verfall. 436 Daß — trotz einer statistisch deutlichen Mehrheit an Reflexionen über das Romantische — „die Zeitalter des klassischen Geschmacks" (13/247) Ausgangs- und Mittelpunkt seiner Kulturphilosophie markieren, wurde bereits betont. Das Klassische steht, wie E. Kunne-Ibsch zusammenfaßt 437 , „im Gegensatz zu allen anderen, nicht-klassischen Kunstformen, ist das schlechthin Vorbildliche und entspricht dem Idealtypus von Kunst, den Nietzsche vor Augen hat." Das gilt in abgeschwächter Form entsprechend für die historische Epoche der Weimarer Klassik. Sogar die vorübergehende Verschiebung des Blickpunktes hin zur Aufklärung während der „exzentrischen" Jahre 1877 — 81 tut der Vorrangstellung der Klassik keinen Abbruch, handelt es sich bei dieser doch um innere wie äußere Vollendung, deren Gesamtcharakter so kraftvoll sei, daß er zu vorübergehender Statik gelange, „dem Werden den Charakter des Seins" aufpräge (12/312). Aufklärung dagegen ist immer ein dynamischer Vorgang innerhalb des Bereichs menschlicher Vernunft, zeigt also den Weg der Vollendung, nicht sie selbst. Die „große Loslösung" von 1876 ist somit — unter 436 437
vgl. I. Beithan, Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 196 D. Stellung Nietzsches in d. Entwickl. d. mod. Lit.wiss., S. 237
Schlußbemerkung: Dialektische Abfolge literarischer Epochen
263
genereller Perspektive wie unter der speziellen hinsichtlich beider Epochen — komplementärer, nicht kontradiktorischer Art. Und auch der zweite Perspektivenwechsel, derjenige zur Jahreswende 1881/82, bringt weniger Korrekturen als Ergänzungen: Neben Stellen, die das Klassische direkt thematisieren, finden sich fürderhin nämlich solche, und zwar in zunehmendem Maße, die es auf indirekte Weise präzisieren — als „Dionysisches" (3/622)! Daß dabei verschiedene Komponenten in Nietzsches Vorstellung von Klassik eingehen, die vorher nicht darin enthalten gewesen, daß ihm der Begriff zusehends unter einer Flut von äußerst subjektiven Konnotationen zu zerfließen droht, muß hier nicht eigens noch einmal dargestellt werden. So wie die Klassik sich nicht allein durch künstlerische Komponenten definiert, sondern Ausdruck umfassender Gipfelkultur ist, so versteht Nietzsche die Romantik als allgemeine „Reaktions-Bewegung gegen die Classicität" (13/248): Und wie diese der Aufklärung folge, so jene dem Barock, das mit seinen „Dämmerungs-[...]lichtern" immerhin „der Nacht [erst] voranläuft" (2/438) —, während vergleichbare Schilderungen der Romantik düster, um nicht zu sagen: rabenschwarz ausfallen. Nun betonen zahlreiche Stellen, „die Romantiker in Deutschland [...][hätten] nicht gegen den Classicismus, sondern gegen [ ] [die] Aufklärung" protestiert 438 . Abgesehen davon, daß ein dergestaltes Herauslösen der Klassik aus jedem historischen Kontext eine ähnlich taktisch bedingte Idealisierung bezweckt wie diejenige Goethes, so ist in den jeweiligen Passagen stets Vernunft bzw. mangelnde Vernunft ausschlaggebendes Kriterium der Antinomie. Romantik wird darin nur als Denkhaltung angesprochen, und zwar als „unwissenschaftlich"-gefühlvolle, metaphysisch oder mystisch vernebelnde; soll deren Schwäche — das Prinzip als Ganzes — angeprangert werden, so liefert den wahren Gegensatz erst das Klassische bzw. Dionysische. In der dialektischen Zuordnung von Aufklärung und Romantik berührt sich Nietzsche übrigens mit der Philologie seiner Zeit 439 ; allerdings sprengt er deren enge (und darüber hinaus unoriginelle) Antithetik von Rationalismus und Irrationalismus, indem er recht ungewöhnliche Querverbindungen von beiden Polen zu den verschiedensten Epochen zieht 440 : insbesondere von der Romantik zum Biedermeier, zu Empfindsamkeit und Sturm und Drang, 441 in zweiter Linie auch von der Klassik zur Renaissance —, ohne freilich beider Kreuzungspunkt mehr als anzudeuten:
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440 441
13/132; s. auch 2/110, 3/171 f., 222, 8/382, 13/248 z. B. mit W. Scherer, (Gesch. d. Dt. Litt., S. 615) und V. Hehn (Gedanken über Goethe, S. 172) ungewöhnlich weniger deren Postulierung, sondern vor allem ihre Begründung! Auch W. Scherers Literaturgeschichte sieht die Romantik als Fortsetzung des Sturm und Drang. (S. 501, 615)
264
Umbegreifung der Epochenbegriffe
wie er nämlich im Barock zu lokalisieren wäre, das als Schwundstufe des Klassischen bereits eine Vorform des Romantischen abgibt. 442 . Darüber hinaus kann Nietzsche sein dialektisches Raster als solches — also nicht: in der Anwendung auf einzelne Autoren oder Kunstwerke — kaum überwinden. Der Mangel eines derartigen literarischen Epochendenkens liegt in der Unvermitteltheit seiner Setzungen; Nietzsche reflektiert nun einmal im wesentlichen ahistorisch und ist am tatsächlichen Geschichtsprozeß — beispielsweise an den Verflechtungen zwischen Aufklärung, Empfindsamkeit und Sturm und Drang, die als Phasen ein und derselben Entwicklung angesprochen werden könnten 443 — nicht interessiert. Zwar bildet er auch „schräge" Antithesen, also nicht allein solche von Klassik und Romantik, Aufklärung und Empfindsamkeit, sondern desgleichen von Romantik und Aufklärung, Romantik und Rokoko (5/187) o. ä. Daß die verschiedenen Termini dabei „über Gebühr identifiziert" werden (E. Kunne-Ibsch 444 ), trifft wohl zu, jedoch sollten über (herbeikonstruierten) „epochalen" Gemeinsamkeiten nicht deren Differenzen übersehen werden, die sich ja gerade in der Wahl der Begriffe — „Romantik", „Barock", „Dekadenz", „Moderne" — abspiegeln. Behält man all jene Einschränkungen im Auge, so läßt sich das zur Epochenwertung Gesagte auf einen Blick erfassen als:
aufsteigende bzw. „Gipfellinie"
absteigende bzw. „Tallinie"
Renaissance
Barock
Aufklärung
Empfindsamkeit Sturm und Drang
Klassik
Romantik Biedermeier Junges Deutschland
Realismus
Naturalismus L'art pour l'art
Indem Nietzsche Romantik, Biedermeier und Junges Deutschland im selben Atemzug ablehnt, nimmt er eine ähnliche Position ein wie die programmati442
443
444
Dagegen weist E. Kunne-Ibsch darauf hin, daß die Antithese (!) von Klassik und Barock ausdrücklich zu beziehen sei auf den antiken Gegensatz v o n Attizismus und Asianismus. (D. Stellung Nietzsches in d. Entwickl. d. mod. Lit.wiss., S. 217) als „Ausgang des Menschen" aus einer zunächst rein Verstandes-, dann immer stärker auch gefühlsmäßig empfundenen „Unmündigkeit" D. Stellung Nietzsches in d. Entwickl. d. mod. Lit.wiss., S. 16
Schlußbemerkung: Dialektische Abfolge literarischer Epochen
265
sehen Realisten445; allerdings sind seine Motive von denen der Zeitgenossen grundverschieden: Daß unter allen rationalen Begründungen immer — und je später die Aufzeichnungen, um so deutlicher — die pure Selbstbehauptung ausgewittert werden kann, hat er als „Physiologe" deutlich wahrgenommen; daß der Kampf gegen sämtliche Epochen der Leidenschaft kein anderer ist als derjenige gegen die eigene Person, läßt sich nicht zuletzt an der Tatsache ablesen, daß sich ausgerechnet der Expressionismus — als eine extrem leidenschaftliche Strömung — auf Nietzsche beruft446. — Will man aufsteigende und absteigende Kurvenlinien von dessen (sicherlich „zu wenig nuanciertem"447, meines Erachtens aber deswegen kaum weniger fruchtbarem) Epochendenken diachron aneinanderfügen, so ergäbe sich das folgende „Wellenbild". Daß es in seinen Schriften so nicht skizziert wird, geschweige unter Berufung auf W. Scherer, liegt an seiner philosophischen Perspektive, die an rein philologischer Theoriebildung bzw. literarästhetischer Geschichtsschreibung kein originäres Interesse hat.
Renaissance
—^ ^Realismus Aufklärung Sturm u. Drang ' Empfindsamkeit Barock Romantik
Schwäche
445 446
447
Biederm. Junges Dtl.
L'art p. l'a. Naturalismus
zu deren Position im einzelnen s. H. Widhammer, Real. u. klassiz. Trad., S. 1 s. dazu A. Oldenbourg: Die Rezeption Nietzsches in den Zeitschriften des Frühexpressionismus E. Kunne-Ibsch, D. Stellung Nietzsches in d. Entwickl. d. mod. Lit.wiss., S. 191.
Kapitel IV: Trennung von Person und Werk Die Leiden u n d Schmerzen, die er [Hölderlin] uns darstellt, sind seine eigenen; was er schreibt, ist mit seinem Herzblut geschrieben (H. K u r z ) 1 : Er ist selbst H y p e r i o n , und e w i g w i r d er H y p e r i o n bleiben. (R. H a y m ) 2
Solche und ähnliche Darstellungen, die den Verfasser eines Werkes mit dessen Hauptfigur identifizieren, sind in den Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts keine Seltenheit, im Gegenteil, sind die Regel, obwohl sich die zeitgenössische Geisteswissenschaft in zwei grundsätzliche gespaltene Lager aufteilt: Hier die traditionelle Philologie im Geiste des deutschen Idealismus, inkarniert in G. G. Gervinus, aber auch in A. Koberstein, trivialisiert in den meisten populären Literarhistorien (wie z. B. derjenigen von R. Koenig oder E. Hoefer); dort die neue positivistische Schule um W. Scherer. Ist das interpretatorische Interesse der ersteren am Autor bisweilen größer als an dessen Werk — schließlich geht sie „methodisch" von einem Zusammenhang zwischen Literatur und Philosophie aus, der beim Kunstgenuß stets sofort nach der Weltanschauung des „dahinterstehenden" Künstlers zu fragen drängt —, so erweist sich die biographische Motivierung fiktionaler Produkte für letztere sogar als noch dringlicher: In einem deterministischen Weltbild muß selbst das Genie restlos kausal erklärbar sein — und dessen Werk allemal: als notwendige Konsequenz seiner Entstehungsbedingungen. Aber auch eine dritte Interpretationsrichtung, die geistesgeschichtliche W. Diltheys, die sich im ausgehenden Jahrhundert als die herrschende durchsetzen wird, betont den Zusammenhang von Erlebnis und Dichtung; die in ihr lauernde Gefahr — die Reduktion poetischen Sprechens auf eine (mittelbar) darin sich manifestierende Weltanschauung, die eigentlich der Transformation ins künstlerische Medium entbehren könnte — hat bereits W. Flitner prägnant umrissen 3 . — Jedenfalls ist „das Erlebte" 4 , der biographische Hin-
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Geschichte der deutschen Literatur..., 3/585 Die romantische Schule, S. 291 Goethe im Spätwerk, S. 9 f. Neben dem „Ererbten" und dem „Erlernten" liefert das „Erlebte" die dritte notwendige Komponente jeder Biographie im Sinne W. Scherers (nach: I. Beithan, Friedrich Nietzsche als Umwerter der deutschen Literatur, S. 9). Schon hier ist auf Nietzsches wesentlich elaboriertere (Kausal-l)Motivierung des künstlerischen Lebenslaufs zu verweisen; s. Kap. III.2. (Abwertung des Genies).
Trennung von Person und Werk
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tergrund literarischer Werke, für sämtliche Forschungsrichtungen der zeitgenössischen Philologie zentral; Darstellungen der Lebensläufe nehmen in den Literaturgeschichten 5 breiteren Raum ein als solche der Werke und selbst in diese dringen außerliterarische Überlegungen ein: Fast ist der herrschende Biographismus ein Synonym für Moralismus 6 , gilt die Trennung von Dichtung und Leben — von Theorie und Praxis — schlichtweg als unmoralisch, für J. Schmidt gar als „romantisch" und „artistisch" 7 : Sei es um der „Nachforschung nach dem hinter einer Figur der Dichtung stehenden Modell" willen, wie bei W. Scherer 8 , sei es zur Ergänzung der Lebensgeschichte durch literarische „Bekenntnisse", stets wird ein „tiefer Zusammenhang zwischen dem Menschen und dem Dichter" (O. v. Leixner 9 ) beschworen, und zwar ein direkter: Zu den Ausnahmen zeitgenössischer Literaturgeschichtsschreibung gehört es, daß einmal der Mensch höher gewertet wird als der Autor —, so in der Darstellung Gellerts durch A. F. C. Vilmar oder derjenigen Gutzkows durch A. Stern 10 . Zu berücksichtigen bleibt jedoch, daß sich der Biographismus, so schnell die Linie vom Werk zum Verfasser auch immer gezogen sein mag, als philologische Methode versteht, d. h. von einem primären Interesse am Text aus- und dorthin wieder zurückgeht. Nicht überall wird das so klar ausgedrückt wie in R. Gottschalls Literaturgeschichte, die z. B. Kleists Leben dezidiert als bloßen „Kommentar zu seinen Schriften" verstanden wissen will 11 ; meist sogar ist der entsprechende Kausalzusammenhang genau anders herum formuliert: „In dem .Prinzen von Homburg' hat sich Kleist wahrscheinlich selbst gezeichnet" (H. Kurz 12 ), „Agathon" „enthält zum großen Teil die Geistesgeschichte Wielands" (O. v. Leixner 13 ), Heine „unterhielt den Leser in der Regel nur von seiner eigenen Person" (W. Scherer 14 ) —, das sind drei Beispiele von vielen, die das Urteil über ein Werk eng verknüpfen mit demjenigen über eine Person. Und obwohl es allgemein für unmöglich
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am deutlichsten in den populären, die desgleichen auf Bild- und Schriftproben jeden Autors großen Wert legen (R. Koenig; O. v. Leixner) s. dazu die überzeugenden Ausführungen von I. Beithan, Friedrich Nietzsche als Umwerter der deutschen Literatur, insbes. S. 8 zit. nach: H. Widhammer, Realismus und klassizistische Tradition, S. 80; indem Nietzsche das Verhältnis von Theorie und Praxis weit nuancierter sieht (vgl. Kap.II.4.), kann er das Wort „artistisch" von seinem negativen Beigeschmack befreien, ohne es im eigentlichen Sinne umbegreifen zu müssen. nach I. Beithan, Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 9 Geschichte der Deutschen Litteratur, S. 544 in: A. F. C. Vilmar, Litteraturgeschichte, S. 335 ff. bzw. 507 ff. Die deutsche Nationallitteratur des 19. Jahrhunderts, 1/551 Gesch. d. dt. Lit. ..., 3/466 Geschichte der Deutschen Litteratur, S. 512 Geschichte der Deutschen Litteratur, S. 662
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erachtet wird, aus Goethes „Werken den Charakter seines Geistes und seines Gemüths bestimmt anzugeben" 15 , bieten gerade seine Texte zahlreiche Gelegenheiten, die biographistische Methode unter Beweis zu stellen 16 : Nicht allein Faust und Mephisto verkörpern da „die beiden kontrastierenden Seiten in des Dichters eigenem Wesen" (V. Hehn 17 ), auch „Werther" und „Meister" schildern dann vornehmlich „die Geschichte seines eigenen Denkens und Empfindens" (J. Schmidt 18 ). Selbst „Faust II" „allegorisiere seinen Lebenslauf (G. G. Gervinus 19 ), der Weislingen im „Götz" sei nicht weniger als ein direktes „Abbild seiner selbst", Fernando in „Stella" und Clavigo trügen zumindest seine Züge, und Orest wiederum —, „das ist Goethe selbst" (W. Scherer 20 ). Die „Wahlverwandtschaften" beschrieben sein Leben, der „West-Östliche Diwan" immerhin einen Abschnitt davon (R. Koenig 21 ); R. Gottschall schreckt nicht einmal davor zurück, Goethes Lyrik als „biographischen Zettelkasten" zu deklarieren, „in welchem jedes Erlebnis sein dichterisches Motto gefunden" 22 ... Wenn W. Flitner dagegen hält, Goethes Werk — und vor allem das „nachklassische" — müsse als „höchst artifizielle Poesie" immanent interpretiert werden 23 , wenn W. Müller-Seidel über jedes literarische Kunstprodukt vermerkt, es erkläre sich nicht einfach aus der Biographie des Verfassers, spiegele weder dessen private noch eine gesellschaftliche Wirklichkeit direkt ab 24 , so scheint die methodische Ausgangssituation heutiger Philologie von der des 19. Jahrhunderts grundverschieden zu sein. Ein solcher Paradigmenwechsel fand begreiflicherweise nicht auf einen Schlag statt; bereits in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts kündigt sich ein Umdenken an — und findet auch in Nietzsches Schriften mannigfachen Niederschlag: „Alle Welt pflegt den Autor und sein Werk zu verwechseln", moniert ein Aphorismus aus „Menschliches, Allzumenschliches" (2/442), um insbesondere
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H. Kurz: Gesch. d. dt. Lit. ..., 3/99; freilich widerspricht er seiner These schon wenige Seiten später, wenn er anläßlich der Behandlung Schillers die Behauptung aufstellt: „Wir lernen den Dichter [Schiller] durch den Menschen lieben, während wir umgekehrt bei Göthen [...] den Menschen erst durch den Dichter liebgewinnen." (a. a. O., 3/116) Auf gelungene Weise parodiert derartige „Stoffhuber" bereits F. Th. Vischers Nachspiel zu „Faust. Der Tragödie dritter Teil." (bes. S. 138 f.). Gedanken über Goethe, S. 170; W. Scherers „Gesch. d. Dt. Litt." bietet eine ausführliche Parallelisierung von „Faust" mit Goethes Jugendjahren. (S. 717 f.) Geschichte der Deutschen Literatur im 19. Jahrhundert, 1/225; auch O. v. Leixner betont den biographischen Wert der „Lehrjahre". (Gesch. d. Dt. Litt., S. 658) Geschichte der Deutschen Dichtung, 5/656 Gesch. d. Dt. Litt., S. 485, 493, 536 Deutsche Literaturgeschichte 1/120, 123 Die dt. Nat. Litt. ..., 1/174 Goethe im Spätwerk, S. 11, 13 Wertung und Wissenschaft im Umgang mit Literatur, S. 14
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den „Sentenzen-Leser" einer Neugierde zu bezichtigen, die vom allgemein gehaltenen Diktum zurückzuraten suche auf dessen persönlichen Anlaß (2/ 432). „Wie kann man vom Werk auf den Künstler zurückschließen!" entrüstet sich Nietzsche darüber25, und es wäre billig, seinen Ausruf mit der TheoriePraxis-Schere erklären zu wollen: auf deren anderer Scherenhälfte genau jener „Rückschluß vom ,Werk' auf den Künstler" (12/284) von ihm selber praktiziert würde. In der Tat, er bedient sich einer täuschend ähnlichen Technik, doch seine zahlreichen Ermahnungen, man solle „einen Künstler nie nach dem Maaße seiner Werke messen" (12/517), seine gleichlautenden Bekenntnisse auf rein persönlicher26, auf philosophischer und sogar auf philologischer27 Ebene sollten nicht ausgespielt werden gegen seine Methode der (verfälschenden) Typologisierung, wie sie in Kap. II.5. vorgestellt wurde. Im Gegenteil, Formulierungen wie: „Ursachen (innere Zustände) aus denen die Kunst wächst: und, sehr verschieden davon, die Wirkungen]" (12/320) deuten bereits ein wesentlich differenzierteres Verfahren an, nämlich ein indirektes gegenüber dem direkten des Biographismus. Künstlerische Schaffensprozesse seien keine „Personal-" sondern „Epidermal-Handlungen" (12/491), von deren Ergebnissen man keinesfalls auf den ganzen Menschen zurückrechnen dürfe 28 : Der „erbärmliche Ausgangspunkt" eines Werkes und dieses selbst lägen meilenweit auseinander (12/318), nur eine „Fluthwelle" von Glück und Gesundheit befähigten den Menschen zu Ausnahmehandlungen wie der Niederschrift eines Buches. (12/517) Derartige Überlegungen wenden sich mehr oder weniger direkt gegen den zeitgenössischen „Heroenkult", wie er mit Vorliebe auch die deutschen 25 26
12/318; vgl. 8/576, 13/197 In einem Brief vom 24. 7. 1872 an M. v. Meysenbug äußert er Befürchtungen, mit der Publikation der ersten „Unzeitgemässen Betrachtung" den Leser der „Geburt der Tragödie" zu verschrecken: „Denn so sind die meisten Leser — sie construiren sich nach einem Buche den Autor, und wehe, wenn er in einem nächsten Buche ihrer Construction nicht entspricht!" (KGB 4/33) Noch deutlicher wird er andernorts im Rückblick auf eine fünfzehnjährige Schriftsteller-Existenz: Ich habe bei meinen Kritikern häufig den Eindruck von Canaille gehabt: Nicht, was man sagt, sondern daß ich es sage und inwiefern gerade ich dazu gekommen sein mag, dies zu sagen — das scheint ihr einziges Interesse, eine Juden-Zudringlichkeit, gegen die man in praxi den Fußtritt als Antwort hat. Man beurtheilt mich, um nichts mit meinem Werke zu thun [zu] haben: man erklärt dessen Genesis — damit gilt es hinreichend für — abgethan. (12/465 f.) Während Nietzsche den statischen Biographismus also zunächst aus einem grundsätzlichen Entwicklungsdenken heraus ablehnt, verschiebt sich seine Aufmerksamkeit in der späten Notiz vom Autor eindeutig auf dessen Werk.
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In seiner Antrittsvorlesung wendet er sich dezidiert gegen den „Mechanismus" der biographistischen Methode, die trotz vielfacher Kausalerklärungen „das undefinierbar Individuelle [eines Autors bzw. Werkes] nicht als Resultat herausbekommen" könne. (III/168 f.) 12/491, 517; schon hier soll bemerkt werden, daß dies auch für den Verbrecher in Anschlag gebracht wird: der sich durch die Tat über sich selbst erhebe, jene im nachhinein kaum noch ertrage. (4/46; s. Kap. I V A ) .
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„Klassiker" vereinnahmt; mit grimmigem Vergnügen enttarnen sie alle „grossen Dichter" als „sinnlich, absurd, fünffach, [...] leichtfertig", gebrochen und rachsüchtig29 —, als „kleine schlechte Dichtungen" (ebd.), die als Menschen weit hinter die „Hautrelief-Thaten", ihre eigentlichen („großen") Dichtungen, zurückfielen30: Indem Nietzsche so das K u n s t w e r k v o n seinem realen Vorbild trennt, w i e er bereits den K ü n s t l e r v o n seinem Milieu abgerückt hat, n i m m t er der Literaturwissenschaft ein weiteres Hilfsmittel zur E r f o r s c h u n g des K ü n s t lers. (I. Beithan) 3 1
Indessen nimmt er ihr nicht nur ein Mittel, er gibt ihr statt dessen auch ein neues — dasjenige psychologisierender Hinterfragung —, und insofern ist I. Beithans plakatives Resümee sicher mißverständlich. Nietzsche ist kein Vorkämpfer eines werkimmanenten Interpretationsverfahrens, im Gegenteil, er bleibt noch im Umwerten der philologischen Methode auf dem Boden seiner Zeit: „Die Gestalten, welche ein Künstler schafft, sind nicht er selbst", verkündet er zwar in der vierten „Unzeitgemässen Betrachtung", fährt dann jedoch fort: „Aber die Reihenfolge der Gestalten, an denen er ersichtlich mit innigster Liebe hängt, sagt allerdings Etwas über den Künstler selber aus." (1/437 f.) Wenn auch nicht (mehr) direkt; indem Nietzsche den Biographismus ersetzt durch eine Psychologisierung (in seinen Worten: Physiologisierung) der Ästhetik, dreht er das vorgegebene Denkmuster „nur" um, anstatt es vollständig zu verlassen: Das Interesse am Zusammenhang von Dichter und Dichtung ist im 19. Jahrhundert vorgegeben — weit stärker als in dem unseren —, und Nietzsche teilt es. Allerdings wechselt sein „umgekehrter" Biographismus die Blickrichtung und, vor allem, ersetzt das übliche Denken in Analogien durch eine Vorstellung der Komplementarität von Werk und Verfasser. Wie sieht diese im einzelnen aus?
1. „Umgekehrter
Biographismus"
Der oben zitierte Gedanke Fichtes, „was einer für eine Philosophie habe, hänge davon ab, was für ein Mensch er sei"32, also das Axiom, jedes Werk 29
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6/434, vgl. 3/48; das Sinnliche weist ebenso wie das „Fünffache", Vielfache auf die Romantizität jener Dichter: auf das „Unsynthetische" ihres Wesens nämlich, auf das Unklassische (s. Kap. IV.3.). — Auch von Nietzsches Theorie des Klassischen her wäre die landläufige Perspektivismus-These zu falsifizieren. 12/480, vgl. S. 516 f.; genau derselbe Gedankengang findet sich in Schillers „Philosophischen Briefen" (Sämtl. Werke, 5/347). Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 13 Zit. nach: R. Low, Nietzsche, Sophist und Erzieher, S. 22
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trage Bekenntnischarakter (5/19), könnte geradezu als methodische Leitidee des Philologen Nietzsche angesehen werden. Stets aufs neue setzt er Temperament und Erkenntnis des Menschen in Beziehung33, den Philosophen und dessen „nothwendige" Philosophie 34 . Sei letztere reine „Auslegung des Leibes" (3/348), so ein Kunstwerk nicht minder —, z. T. würde es vom (eitlen) Künstler sogar bewußt als solche konzipiert, als „Vergrösserungsglas" der eigenen Persönlichkeit35. — Ein derart personenbezogenes Verständnis literarischer Produkte, die „Reduktion der philosophischen Systeme" ebenso wie der belletristischen Schöpfungen „auf Personal-Acten ihrer Urheber"36, ist freilich bloß auf seiner Oberfläche biographistischer Natur, im übrigen läßt es sich bei vielen Denkern vor und nach Nietzsche aufzeigen37. Interessant wird es folglich erst auf den zweiten Blick, in seinen Varianten und Schwundstufen, die ab einem gewissen Punkt in ihr Gegenteil umkippen: „Das Eine bin ich, das Andere sind meine Schriften" (6/298) — solch strikte Trennung von Person und Sache38, von Nietzsche genauso deutlich postuliert wie deren Zusammenhang, scheint in direktem Widerspruch zu stehen zu seiner Ausgangsthese, noch dazu, wenn sie zugunsten des Werks vorgenommen wird: „Man soll sich fürderhin nie um mich bekümmern", schreibt er wenige Tage vor dem endgültigen Zusammenbruch an C. Fuchs, „sondern um die Dinge, derentwegen ich da bin"39; und schon in den Jahren um 1880 intoniert er immer wieder ein leidenschaftliches40 Absehen von der eigenen Person zugunsten der Erkenntnis: „Was liegt an mir!"41 33 34
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2/54, 345 3/347; das Wechselverhältnis sei so unauflösbar, daß ein bewußtes Anders-denken-Wollen — sprich: methodischer Perspektivismus! — auf die Dauer jeden Denker krank mache. (3/294) Das wird von Nietzsche selbstverständlich abgelehnt, sei es im Einzelfall (3/514), sei es in demjenigen eines ganzen Jahrhunderts (12/446). 16. 9. 1882 an L. v. Salomé, KGB 6/259 z. B. in einem Brief Kleists vom 25. 4. 1811 an Friedrich de la Motte Fouqué (Sämtl. Werke, 4/861), z. B. in Hofmannsthals „Buch der Freunde", das gleich an zwei Stellen versichert: „Ein Kunstwerk ist eine [...] Handlung, durch die ein Charakter, der des Autors, erkennbar wird." (Gesammelte Werke, Bd. 2168, S. 289; vgl. S. 271) In seinem „Rat für Schaffende" nimmt George dieselbe Perspektive ein (Werke, 1/529). S. auch W. Kaufmann, der u. a. den deutlich an Fichte — bzw. Nietzsche — gemahnenden Ausspruch des amerikanischen Philosophen W. James zitiert: „Eine Philosophie ist der Ausdruck des innersten Charakters eines Menschen." (Nietzsche, S. 93) wie sie Nietzsche ausdrücklich an seinem (einstigen) Rezensenten K. Hillebrand lobt (6/318); im übrigen trennt er beide auch noch von ihrer Wirkung, weiß beispielsweise hinsichtlich der Personen Schopenhauers, Piatons und Jesus' sehr wohl die Urheber von ihren Werken und diese wiederum von ihren Anhängern zu unterscheiden, (s. dazu W. Kaufmann, Nietzsche, S. 464) 27. 12. 1888, KGB 8/553; ein nachgelassenes Fragment verlangt vom Rezipienten „Ehrfurcht" für seinen „Sohn" Zarathustra, über ihn selbst dagegen, „seinen ,Vater' — darf man lachen". (12/234) 9/326, 349, 354, 3/291, 318 9/344, vgl. 9/338, 31. 10. 1880 an F. Overbeck, KGB 6/43: „Dies ist die Art, mir Muth zu machen."
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Trennung von Person und Werk
Gehe es also ums Werk, so habe man vom „allzumenschlichen" Autor 42 grundsätzlich abzusehen43, gehe es um letzteren — und das ist bei Nietzsche die Regel —, so sei selbstverständlich das Werk heranzuziehen, wenngleich nicht als direkter Schlüssel zur Persönlichkeit des Verfassers: Auf diese Weise läßt sich der eben entwickelte „Widerspruch" mühelos auflösen; und während Nietzsche im erstgenannten Fall in offene Opposition zum Biographismus geht, so im anderen doch immerhin in eine verdeckte. Verdeckt insofern, als er sich „nur" in Bezug auf Richtung (1) wie Mechanismen (2) des „Rückschlusses" in Gegensatz setzt zum biographistischen Verfahren: 1. In der Regel, wie gesagt, ist sein Rückschluß nicht von philologischem, sondern von psychologischem Interesse diktiert, ist identisch mit demjenigen „von der That auf den Thäter, vom Ideal auf Den, der es nöthig hat"M. Damit rückt das Problem der Selbst-Bewältigung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, das Problem der „Bändigung" (3/319) eines „kommandirenden Bedürfnisses" (3/621). Nietzsche versteht eben bereits den Autor 45 als Kunstwerk, und so, wie er ihn aus seinem Buch rekonstruiert, so letztlich den Menschen aus dem Künstler 46 : Wenn er dem Schriftsteller „zwischen die Zeilen und auf die Finger" blickt (5/17), ist er schließlich nicht am künstlerischen Produktionsprozeß interessiert, sondern an der „Gebärde", die hinter jedem Wort stünde (6/219), d. h. an der schauspielerischen Attitüde, die auf ihre „Ursache" zu untersuchen (6/14) eigentliche Aufgabe des Philologen sei (6/226): „Ich frage, in jedem einzelnen Falle,
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Um Wagners Musikdramen weiterhin hochschätzen zu können, muß sich Nietzsche das „Allzumenschliche" ihres Urhebers ab einem gewissen Zeitpunkt „vom Leibe halten". (10. 9. 1878 an E. Schmeitzner, KGB 5/352) bzw. die Beschäftigung mit ihm sei nicht mehr als ein (notwendiger) Umweg zu derjenigen mit dem Werk (1/356) 3/621; die Suche nach dem „Thäter" wird von Nietzsche andernorts in direkten Zusammenhang gebracht mit dem Bestreben des Rezipienten, durch Lob der „That" die eigene Macht zu bezeugen (12/376): was gegenüber dem Kunstwerk als solchem ja unmöglich wäre. Vgl. Kap. II.2. 3/319 - bzw. dessen Leben: 7/712, 804 3/452: Daß dies keinesfalls durch eine direkte („biographistische") Gleichsetzung geschieht, belegt ein Umstand, den C. P. Janz mitteilt: Nur als Künstler wird H. Köselitz von Nietzsche mit „Peter Gast" angesprochen, als Mensch hingegen immer mit seinem richtigen Namen. (Friedrich Nietzsche, 2/72) Und während der sogenannte Paraguay-Zettel „Köselitz" zur „Verkörperung des Gesetzes der Schwere" erklärt, also völlig abwertet (14/507), wird dieselbe Person als „maestro Pietro" (4. 1. 1889 an dens., KGB 8/575) wegen seiner „leichtfüßigen" Musik (14/507) stets hochgeschätzt: „Dieser Musiker, Herr Peter Gast, scheint mir der neue Mozart." (10. 11. 1882 an H. Levi, KGB 7/310) - Eine ähnliche Differenzierung nimmt A. P. Gütersloh vor, der in der „Fabel von der Freundschaft" mitteilt: „Wir [...] halten mehr vom Charakter eines Denkers, als von der Tiefe seiner Gedanken. Jener kann auch diese erreichen, diese aber nie jenen verursachen." (S. 28)
.Umgekehrter Biographismus"
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,ist hier der Hunger oder der Überfluss schöpferisch geworden?' " 4 7 Wie Nietzsche selbst ausführt, ist jene binomische Künstler-Psychologie mit der Frage nach Sein und Werden eng verknüpft (3/621); der klassische Künstler z. B. nach Art Goethes charakterisiere sich, wie gesagt, durch eine „Apotheosenkunst" der Ruhe aus Überfluß und Stärke, während die romantische Ruhe aus Entbehrung und Schwäche heraus gestaltet sei 48 : Ein und dieselbe künstlerische Erscheinung könne folglich völlig konträre Ursachen haben 49 ; und läuft besagter Rückschluß in der Regel auf ein Umkehrverfahren hinaus — etwa nach dem Muster: wie krank muß ein Autor sein, um ein derart „gesundes" Werk nötig zu haben 50 als SelbstBeruhigung, Selbst-Erlösung? 51 —, so in der Ausnahme gerade nicht: Ein „klassisches" Werk nämlich wird von ihm nie auf einen unklassischen Anlaß zurückgeführt, auf einen „romantischen" Autor; in seiner Interpretation der „Wahlverwandtschaften" beispielsweise analysiert Nietzsche Goethes schriftstellerisches und menschliches Understatement durch direkte Parallelisierung mit dem „Goethe-verwandten Eduard" 52 , seine Hochschätzung gilt hierbei der Figur gleichermaßen wie deren Autor. Die scheinbare Inkonsequenz der Methode löst sich jedoch, wenn man deren Abfolge genauer segmentiert: 2. Zunächst einmal ist das soeben konstatierte Umkehrverfahren nicht allein im oben nachgezeichneten Modell recht häufig zu verifizieren, die entgegengesetzte Frage — wie gesund muß ein Autor sein, um ein krankes Werk nötig zu haben bzw. sich „leisten" zu können, ohne an ihm Schaden zu nehmen? — scheint ebenfalls mehrfach belegbar: u. a. wenn Nietzsche jede skeptische Philosophie, einschließlich der eigenen, als Außenfassade des dogmatischen Denkers erklärt 53 , wenn er die Menschen Piaton 54
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ebd.; er ist also auch in dieser Hinsicht bestrebt, „das Typische und Unterscheidende" (2/ 277) zu sehen, stellt sich dazu bewußt in Distanz zum betrachteten Werk (ebd.): Ein Autor ist ihm am Ende nur ein „Gedanken- und Gefühlssystem", ein „Vertreter verschiedener Culturstufen" (2/226) —, also kein Individuum, sondern ein Typus, (s. Kap. II.5.) 3/622, 12/111 und — entsprechend dem psychologischen Scharfblick der Interpreten — „unzählige Auslegungen" (12/39) „gesund" natürlich lediglich in den Augen eines Kranken, d. h. auf einen oberflächlichgenügsamen Blick hin: Echte „Gesundheit" ist für Nietzsche ein komplexes Balanceverhältnis aus (herkömmlicher) Gesundheit und Krankheit, das von einem dekadenten Künstler nie zu gestalten, geschweige zu erreichen wäre. Genaueres s. Kap. V. Die „Geburt der Tragödie" stellt sich selbst die Frage, inwiefern „der dionysische Grieche [es] nöthig hatte, apollinisch zu werden" in seiner künstlerischen Produktion. (13/225) — Vgl. auch 12/530, 547, 13/626 März 1875 an M. v. Meysenbug, K G B 5/35 f. s. die entsprechenden Ausführungen in Kap. 1.3. 16. 9. 1882 an L. v. Salomé, K G B 6/259
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oder Schopenhauer55 weit über ihre Systeme stellt. Auch der „ehrliche Grillparzer" (1/182) wird gegenüber seinen „knöchernen Versen" (7/563) deutlich bevorzugt, ähnlich Hölderlin gegenüber seinen „viel zu strengen" Gedichten56. Schließlich, wie gezeigt, bezieht sich die Abwertung Lessings allein auf dessen Werke, als Mensch (1 /99) und Erzieher (11 /496) bleibt er ebenso wie (der in seinen Ansichten radikal kritisierte) Winckelmann stets einer der „großen Genien" (1/723). Die Technik des Hinterfragens scheint also bisweilen sogar zu positiven Ergebnissen für den Autor zu führen; ich meine allerdings, daß es sich in den eben genannten Fällen wie im oben angeführten, Goethe betreffend, nicht um Nietzsches herkömmliche „Motivschnüffelei"57 handelt. Sondern vielmehr um Kritik an klassischen Werken, die das Maß herkömmlicher Gesundheit, Ruhe oder Stärke sowieso weit überträfen: Solche Kunst sei „Ueberschuss einer weisen und harmonischen Lebensführung" (2/453), nicht etwa Kompensation; dieser Terminus würde bei einem „gesunden" Menschen ja gar nicht greifen. Dessen eigentliches Werk sei, weit mehr als einzelne Publikationen, die eigene Persönlichkeit —, Goethe als „stilisierter Mensch" dient Nietzsche hier als leuchtendes Beispiel58. Nicht umsonst zieht er dessen „Gespräche mit Eckermann" allen anderen seiner Werke vor (2/599), die seine Persönlichkeit allenfalls indirekt, fragmentarisch, „verzerrt" enthalten —, und da es einen Künstler einzig nach „seiner höchsten Vision, die er zu sehen und darzustellen vermochte", zu beurteilen gälte (2/351), läuft jenes Urteil eben auf eine Hochschätzung der Person hinaus. Daß deren Publikationen nicht auf gleicher Höhe anzusetzen seien, liege am begrenzten Reservoir an Kraft, das der große Mensch nun einmal vornehmlich zur Selbst-Erziehung verwende, erst in zweiter Linie zur Gestaltung schöner Werke (2/421). — Zum wiederholten Male zeigt sich das Prinzip typisierender Verstärkung im Denken Nietzsches: Ist ein Autor als klassisch-gesund „erkannt", so macht ihn der Kampf gegen seine Schriften bloß desto unangreifbarer als Person; weisen diese seine Texte in Nietzsches Augen aber auch nur die geringsten Spuren von Dekadenz 55 56
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19. 12. 1876 an C. Wagner, K G B 5/210; vgl. 1/350 11 /60; auch das Fragment 11 /232, das Hölderlin auf eine Ebene mit Uhland und Freiligrath stellt, ist eindeutig abwertender Natur. Indessen hat sich die jugendliche Hochschätzung Hölderlins bereits zu diesem Zeitpunkt in ihr Gegenteil verkehrt, gerade der Mensch Hölderlin wird in einigen Fragmenten der achtziger Jahre heftig attackiert, (s. Kap. V.2.b). ein Ausdruck von L. Sterne (Tristram Shandy, S. 540) Seine Unsicherheiten bei der Beurteilung Goethes, die eine wechselnde Lokalisierung von dessen Person knapp über, unter oder auf der Grenzlinie zum Klassischen bedingt, sei hier einmal hintangestellt (nämlich in Kap. IV.3.). Zurückzufragen ist allerdings bereits jetzt, ob es nicht erst Nietzsche ist, der Goethe dergestalt stilisiert zum „Ideal, in dem alle menschlichen Tüchtigkeiten sich vereinigen" (9/153), und vor allem: warum er ein solches Ideal nötig hat.
.Umgekehrter Biographismus"
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und Krankheit auf, so werden sie als indirektes Geständnis alles dessen gelesen, was der (wesentlich kränkere!) Autor „am meisten braucht" 59 . In jedem Fall ist ein geistiges bzw. künstlerisches Produkt „eine Frucht", an der es den Boden zu erkennen gelte, aus dem es gewachsen (13/256), und man „thut [...] gewiss am besten, einen Künstler in so weit von seinem Werke zu trennen, dass man ihn selbst nicht gleich ernst nimmt wie sein Werk." (5/341) Denn jenes sei ausnahmslos stärker als sein Urheber, „der grosse Dichter schöpft [...] aus seiner Realität — bis zu dem Grade, dass er hinterdrein sein Werk nicht mehr aushält" (6/287). Nicht allein die Kunst ist damit vom Künstler, sondern — namentlich im Falle des großen Künstlers, des Klassikers — bereits er selbst vom dahinterstehenden, „ursprünglichen" Menschen zu sondern 60 : Und so wie letzterer im Normalfall „nur die Vorausbedingung seines Werks" sei, so ist er auch im klassischen Ausnahmefall bloß der Boden, unter Umständen der Dünger und Mist, auf dem, aus dem es wächst [nämlich das Werk des stilisierten Menschen], — und somit, in den meisten Fällen, Etwas, das man vergessen muss, wenn man sich des Werks selbst erfreuen will. (5/341)
Denn „mit der Einsicht in den Ursprung nimmt die Bedeutungslosigkeit des Ursprungs zu" (3/52), die den Kunstgenuß erheblich beeinträchtigen, ja verhindern könne (3/279). Das Zentralaxiom von Nietzsches „umgekehrtem Biographismus" — Werke seien immer mehr wert als ihre Schöpfer, da sie „Quintessenzen" (2/443) derselben darstellten, gewissermaßen ihr „höheres Selbst" (2/351), die Ausnahme zur alltäglichen Regel 6 1 —, jene relativ einfache, aber seinerzeit revolutionäre Begründung psychologisierender Literaturwissenschaft läßt demnach drei verschiedene Arten der Hinterfragung zu: — Klassische Kunst sei zu verstehen als Nebenprodukt eines Menschen, dessen wahre Leistung in der Selbststilisierung zum Kunstwerk läge 62 . Hier setzt der Prozeß der Hinterfragung erst dann ein, wenn es vom „Kunstwerk" der Persönlichkeit zurückzuschließen gelte auf dessen ursprüngliches Wesen. (6/434 f.) 59
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(Juli 1881 an E. Nietzsche, K G B 6/108) — selbst wenn dieser A u t o r Nietzsche selbst ist: Das Werk, das er seiner Schwester dergestalt zu lesen rät, ist die „Morgenröthe"! s. dazu Anm. 46 12/43, 57; er bezieht die eigene Person auch unter jenem Gesichtspunkt in seine Überlegungen ein: Wer ihn nach den „Licht- und heiterer-Himmel-Ausgeburten" mancher Werke beurteile, beurteile ihn — der „schwarzgallig und bösartig" sei — „hundert Mal zu günstig". (August 1883 an E. Nietzsche, K G B 6/431, s. auch 6/342) Sehr ähnlich Hofmannsthal, der als „Hauptwerk" eines gewissen Dichtertypus — des großen einzelnen v o m Schlage Georges — die „Umschöpfung seines Ichs" benennt, dergegenüber alle seine tatsächlich geschriebenen Werke nur als bloße „Prolegomena" zu werten seien. (Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, Gesammelte Werke, Bd. 2168, S. 33) Vgl. auch sein Gedicht „,Werke' sind totes Gestein..." (a.a.O., Bd. 2159, S. 135)
Trennung von Person und Werk
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— Handele es sich dagegen bloß um einen gesund erscheinenden Text, wie im Falle mancher Romantiker (s. o.), so habe man auf ein Bedürfnis nach Gesundheit, also auf einen kranken Autor zurückzuschliessen 63 . Keinesfalls indessen sei ein großes Werk mit einem großen Schriftsteller gleichzusetzen, es „erfinde" in der Vorstellung der Masse erst „Den, welcher es geschaffen hat", als jemanden, der es „geschaffen haben soll" (5/224). In Wirklichkeit sei nicht von einer Analogie auszugehen, sondern von einem Heroenkult aus Schwäche, der als „Falschmünzerei" (ebd.) zu enttarnen sei: Dann nämlich ließe sich die „Kritik der reinen Vernunft" deuten als „Präexistenz-Form des Cretinismus", das System Spinozas als „Phänomenologie der Schwindsucht" (13/504) usw. Im übrigen kann eine derartige Hinterfragung auch auf Leser und ihre spezifischen Lesebedürfnisse angewandt werden —, nicht zuletzt auf Nietzsche selbst. — Ein krankhaftes, schwaches, „romantisches" Werk deute natürlich nicht auf einen gesunden, starken, „klassischen" Autor, sondern auf einen noch schwächeren: Die bereits zitierten Äußerungen über Gutzkow oder Freytag demonstrieren den Sachverhalt deutlich, indem sie zur Verurteilung der Person weit drastischere Formulierungen wählen als zu derjenigen ihrer Schriften: Werden „Die Journalisten" Freytags als „ein recht modernes Drama" auf fast sublime Weise verurteilt (1/687), so deren Verfasser immerhin als „alte Jungfer" 6 4 und „Goethescher homunculus" (7/164). Schließlich spiegele der Verfall der Kunst den der Künstler, dieser wiederum einen „Charakterverfall" (6/26): Ein häßliches Werk könne auf nichts anderes deuten als auf eine „Verhässlichung der Seele" 65 .
2. Sittlichkeit,
christliche und nationale Gesinnung als ästhetische
Werte
Wie sieht nun jene neue Theorie in der Anwendung aus, d. h. welche alten literarästhetischen Denkmuster kann sie überwinden, zu welchen Neubewertungen trägt sie bei? — Nicht untersucht werden sollen die Ergebnisse der Hinterfragung „großer Namen" — außer Goethe müssen hier alle deutschsprachigen Autoren mehr oder weniger Federn lassen —, gefragt ist vielmehr 63
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Das Modell der Hinterfragung entspricht demjenigen zur Enttarnung jeglicher Tugend und Moral: In beiden Fällen werden die egoistischen — „physiologischen" — Beweggründe gegen das Endprodukt ausgespielt. — Vgl. H. Manns Bemerkung, große Bücher wüßten nicht nur mehr als der Autor, sie seien geradezu dessen „unheimliches Gegenteil". (Nietzsche, S. 278) 7/504: Auch Schumann wird andernorts einmal als „alte Jungfer" abgetan (2/619) —, innerhalb der übergreifenden Dialektik von Nietzsches Wertungen bilden sich im Laufe der Zeit stereotype Wendungen: feminin, romantisch, sinnlich; männlich, klassisch, „golden"... 3/200; zur Dialektik des Häßlichen s. Kap. IV.4.
Sittlichkeit, christliche und nationale Gesinnung
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nach einem Umdenken während der Urteilsgewinnung: Führt die prinzipielle Trennung von Autor und Text, wie sie Nietzsches eben aufgezeigter psychologisierender Verknüpfung stets voranläuft, zu einem philologischen Blickwinkel, der durch die biographistische Identifikation des Dichters mit seiner Dichtung bislang verstellt gewesen? Liest man in den verschiedenen Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts, so fallt der moralische Anspruch ins Auge, der die vornehmlich inhaltsorientierten Werkdarstellungen durchwaltet. Nicht nur F. Schlegels „Lucinde" wird da als „künstlerisch höchst mangelhafter Roman" bewertet, weil er einem „raffinierten Kultus der Sinnlichkeit" huldige (R. Koenig 66 ), nicht bloß Gutzkows Roman „Wally, die Zweiflerin" wird als „unsauberes Buch" empfunden 67 , und nicht allein die Lektüre von Kleists „Penthesilea" ist es sicherlich, aufgrund deren sich H. v. Treitschke — „dieser arme Historiker" (5/192), der in Nietzsches Spätschriften mit wenigen bissigen Bemerkungen bloßgestellt wird 68 — zu erklären bemüßigt fühlt, Sexualität sei kein Thema für die Kunst 69 . Selbst die (harmlose) „Herbstfeier" Mörikes sei „unsittlicher als die freieste Erzählung von Boccacio" (H. Kurz 70 ), sogar vor Schillers „Kabale und Liebe" bezeugt man „äußersten moralischen Widerwillen" und, im Anschluß daran, „ästhetischen Ekel" (A. F. C. Vilmar 71 ): „Eine gewisse Prüderie [scheint] geradezu Mode zu sein", summiert H. Widhammer 72 ; auch der ansonsten sehr tolerante W. Scherer kann sich ihrem Diktat bisweilen nicht entziehen 73 . Es versteht sich von alleine, daß „sittliche Reinheit" 74 und „ideale Gesinnung" 75 dagegen hoch im Kurs stehen: Man setzt ein direktes Wechselverhältnis von Leben und Kunst an, vertritt einhellig die Meinung, „daß mit der Aufgebung des sittlichen Lebensprincips auch die Kraft der Poesie allmälig erlischt." (J. Schmidt 76 )
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Deutsche Literaturgeschichte, 2/164 R. Koenig, a. a. O., 2/309; die allgemeine Empörung führte sogar einen Bundestagsbeschluß herbei, der G u t z k o w wegen Verführung zu „Unzucht und Irreligiosität" zu zehn Wochen Gefängnis verurteilte. — Schon O. v. Leixner verteidigt den Roman freilich gegen moralische Vorwürfe, obwohl er ihn aus künstlerischen Gründen verwirft. (Gesch. d. dt. Litt., S. 867 f.) Indem er ihm seine „überhandnehmende Frömmigkeit" (8/488) und reichsdeutsche Gesinnung (6/359) ankreidet, projiziert Nietzsche genau die V o r w ü r f e auf Treitschke — und zu Recht —, die er der (Literatur-)Geschichtsschreibung im allgemeinen v o r w i r f t (s. u.). H. Widhammer, Real. u. klassiz. Trad., S. 69 Gesch. d. dt. Lit. ..., 4/159 Geschichte der deutschen Nationallitteratur, S. 423 Real. u. klassiz. Trad., S. 69 So verurteilt er Gellerts „Leben der schwedischen Gräfin v o n G." als „ziemlich widerwärtig". (Gesch. d. dt. Litt., S. 401) A . F. C. Vilmar über Stifter, Litt.gesch., S. 576 R. Koenig über Hebbels „Gyges und sein Ring", Dt.Lit.gesch., 2/522 Gesch. d. dt. Lit. . . . , 1 / 4 9
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Trennung von Person und Werk
Abgesehen von Kleists „Penthesilea" verurteilt auch Nietzsche die genannten Werke bzw. Autoren, jedoch aus rein ästhetischen oder philosophischen Überlegungen heraus, für die „Sinnlichkeit" zwar ebenfalls als anstößig gilt, ausschließlich allerdings eine heimlich-sublimierte aus Schwäche. Daß er hier wohl zu unterscheiden weiß, wird die Kontrastierung des zeitgenössischen Goethe-Urteils mit dem seinen belegen; hier gilt es festzuhalten, daß sich ein Literaturverständnis, das vor einem „sittlich wie ästhetisch gleich widerwärtigen Buch" 77 warnt, nirgends im Werk Nietzsches nachweisen läßt —, im Gegenteil, möchte man eingedenk seiner Schiller-Abwertung anfügen. Die Dramen des letzteren erfreuen sich im 19. Jahrhundert freilich nicht allein aufgrund ihres Idealismus allgemeiner Beliebtheit, das patriotische Pathos des erstarkenden Nationalstaates bemächtigt sich ihrer in zunehmendem Mäße. Ein Kosmopolitismus dagegen, wie ihn Nietzsche nach seinem Bruch mit Wagner vertritt, wirkt für die Zeitgenossen geradezu provozierend, halten sie ihn doch, vor allem ab der „antifranzösischen .Psychose' um die Jahreswende 1860/61" (J. Ludwig 78 ), für einen lebensgefahrlichen Wahn. Bereits Jahrzehnte freilich vorher, in der Person des G. G. Gervinus, verkörpert sich der Patriotismus im allgemeinen und der Vorwurf „nationaler Abstinenz" gegenüber der deutschen Klassik im besonderen 79 : Philologische Wertungen sind auch in dieser Hinsicht „traditionell" vorbelastet; während z. B. Klopstock in J. Schmidts Literaturgeschichte gerade (oder bloß) deshalb gefeiert wird, weil ein „Vaterlandsgefühl" „durch ihn im eigentlichsten Sinn des Worts hervorgebracht worden" (1/7), so bedauert ein derart nationalistischer Germanist wie W. Scherer selbst dessen Dichtung als unpatriotisch 80 . — Daß im Zuge jener Favorisierung des Nationalen das Volkstümliche, namentlich die „Volkskunst", hoch im Kurs steht, daran soll hier nur noch einmal erinnert werden — ebenso wie an Nietzsches vielfache (bereits zusammengefaßte) Polemik dagegen. Und nicht mehr als erwähnt werden soll ein weiterer zeitgemäßer Vorwurf, der mit den beiden anderen eng verknüpft ist: derjenige mangelnder Religiosität. Bei R. Koenig fließen mitunter alle drei außerästhetischen Kriterien gleichzeitig in die philologische Betrachtung ein, beispielsweise wenn er sein „Gesamturteil" über jungdeutsche Literatur fallt, die stets aller wahren Dichtung ebenso feindlich gewesen ist, wie aller tieferen Sittlichkeit und Gottesfurcht. A b e r auch unpatriotisch und undeutsch w a r diese Poesie 8 1 usw.
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R. Koenig, Dt. Lit.gesch., 2/164 nach H. Widhammer, Real. u. klassiz. Trad., S. 51 s. dazu H. Widhammer, a. a. O., S. 96 Gesch. d. dt. Litt., S. 427 Dt. Lit.gesch., 2/347
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Was Nietzsche von einer derartigen Literaturauffassung hält, soll nunmehr genauer an einem Autor exemplifiziert werden, an dem sich die Geister im 19. Jahrhundert in der Tat scheiden: an Goethe. Wie W. Flitner darlegt, gehört dieser „in die Tradition hinein, in der das künstlerische Element mit dem ethischen und religiös-philosophischen Streben aufs engste verknüpft ist" 82 ; sein — wenngleich ganz anders intendiertes und vorgelebtes — Ganzheitsmodell scheint somit entsprechende Vorwürfe nachgerade zu provozieren. a) Neues Goethebild als exemplarischer Ausdruck eines neuen Literaturverständnisses Bevor die Diskussion um den Weimarer „Dichterfürsten", wie sie einen wesentlichen Akzent des damaligen philologischen Lebens setzt, im einzelnen nachgezeichnet wird, soll betont werden, daß Nietzsche keineswegs der einzige ist, der für ein modernes, vorurteilsfreies Verständnis von dessen Werk und Person eintritt. V. Hehns 1887 veröffentlichte „Gedanken über Goethe", die seinen erklärten Lieblingsautor vor allem gegenüber den Vorwürfen der Sittenlosigkeit und des Vaterlandsverrats verteidigen, mag hier stellvertretend für eine Strömung stehen, die sich ab Mitte des Jahrhunderts ankündigt. Allerdings geht V. Hehns Entlastung der Person Goethes stets auf Kosten derjenigen Heines, so fortschrittlich er im einen Fall argumentiert, so befangen zeigt er sich im anderen in den Denkmustern seiner Epoche. Nietzsche liest das erfolgreiche Werk des Kulturhistorikers zwar genau, wie Colli/Montinari nachweisen 83 , sein Urteil steht jedoch zu diesem Zeitpunkt — die Lektüre ist für das Frühjahr 1888 belegt — längst fest: Es ist also Teil einer Umwertung, wie sie sich an verschiedenen Orten auf verschiedene Weise vollzieht, z. B. in der Literaturgeschichte O. v. Leixners, die Goethe niemals aus sittlichen Erwägungen verurteilt, sich anläßlich des „Werthers" sogar dezidiert für eine „ästhetische Beurteilung des Buches" ausspricht 84 . Allerdings ist dasselbe Votum, sobald es von Nietzsche vorgebracht wird, Ausdruck einer systematischen, d. h. übergreifenden Umwertungstendenz, was von Hehns oder Leixners Darstellung, die einzig Goethe aus dem Zugriff außerästhetischer Wertmaßstäbe befreien möchten, nicht gesagt werden kann. Insofern steht Nietzsches Umwertung doch wieder allein, d. h. — als exemplarischer Ausdruck eines grundsätzlich neuen Literaturverständnisses — sogar gegen das philologische Denken seiner Zeit: 82 83 84
Goethe im Spätwerk, S. 12 14/403f. u . a . Gesch. d. dt. Litt., S. 636; vgl. die Verteidigung der „Wahlverwandtschaften", S. 667
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Sinnlichkeit Der Kampf gegen Goethe aus sittlichen Gründen beginnt, so V. Hehn bzw. A. Koberstein, mit Klopstock und Herder 85 , deren „unanständigste Art der Gegnerschaft" von Nietzsche entsprechend gebrandmarkt wird: Ihr Beschnüffeln des Gegners nach „Hunde-Art" „von Hinten und Unten" wolle ja bloß das eigene Christentum beweisen, indem es die „Ersten der Welt" zu beschmutzen trachte. (13/452 f.) Doch auch ein Novalis „stieß sich an dem Mangel an moralischer Kraft, welcher in Goethes Dichtung zu bemerken sei", wie A. F. C. Vilmar — ein konservativer Protestant — nicht ungern überliefert 86 , Schiller hatte gegen die sinnliche Natur des späteren Freundes seine Vorbehalte, von „Wilhelm Meisters Wander jähren" des schriftstellernden Pfarrers J. F. W. Pustkuchen, von jungdeutscher (Börne) oder anti-jungdeutscher (W. Menzel) Polemik im Zeichen moralischer Erneuerung ganz zu schweigen. — So sind der Vorbilder und Anlässe genug, um gegen Goethes Werke von den verschiedensten Standpunkten aus zu Felde zu ziehen; neben den „Römischen Elegien", nach deren Erscheinen bereits Herder äußerte, „die Hören müßten jetzt mit einem u geschrieben werden" 87 , und dem „krankhaften", weil angeblich die Bigamie verherrlichenden Schauspiel „Stella" (H. Hettner 88 ) gilt der Feldzug vor allem „Wilhelm Meisters Lehrjahren" 89 und den „Wahlverwandtschaften": Letztere seien nicht etwa deswegen „ein gefahrliches Buch", begründet J. Schmidt seine ablehnende Haltung, „weil bedenkliche und anstößige Dinge drin vorkommen, sondern weil es eine Folge sittlicher Acte wie einen Naturprozeß behandelt." 90 Im Vergleich zu dieser interessanten Begründung, die unter dem Mantel realistischer Literaturbetrachtung noch immer idealistische Denkmuster wahrt, die Willensfreiheit gegen den Determinismus verteidigt, klingen die Urteile eines R. Koenig, die sich z. B. damit begnügen, Ottilie „sowohl sittlich wie ästhetisch abstoßend" zu empfinden 91 , relativ plump. Natürlich werden moralische Vorwürfe nicht nur auf dem Umweg der Kritik an gewissen Figuren erhoben, sondern
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V. Hehn, Gedanken über Goethe, S. 68; A. Koberstein, Grundriss der Geschichte der deutschen Nationallitteratur, 4/451 f. Litt.gesch., S. 433 Zit. nach: V. Hehn, Gedanken über Goethe, S. 109 nach H. Widhammer, Real. u. klassiz. Trad., S. 69 R. Koenig, Dt. Lit.gesch., 2/89; A. F. C. Vilmar, Litt.gesch., S. 413; H. Kurz, Gesch. d. dt. Lit. ..., 3/535; vgl. V.Hehn, Gedanken über Goethe, S. 109, 112, und den bereits 1797 veröffentlichten „ästhetisch moralischen Versuch" von D. Jenisch „Ueber die hervorstechendsten Eigenthümlichkeiten von Meisters Lehrjahren [...]" Gesch. d. dt. Lit., 1/265 Dt. Lit.gesch., 2/120; vgl. H. Kurz, Gesch. d. dt. Lit. ..., 3/535, A. F. C. Vilmar, Litt.gesch., S. 413
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auch direkt gegen deren Verfasser; und während R. Koenig hier wie dort ohne Fingerspitzengefühl zupackt 92 , beweisen andere Kritiker eine weitaus wirkungsvollere „Delikatesse": F. Th. Vischers Faust-Parodie läßt Goethe als „Amors älteren Novizen" besingen 93 , R. Gottschalls Literarhistorie belächelt ihn als „einen tapferen Veteranen der Liebe", der selbst noch zu Zeiten des „West-Östlichen Divans" darstellen habe wollen, wie er „seinen grauen Scheitel mit ihren Kränzen schmückte." 94 Der hier aufgezeigte Querschnitt durch die Goethe-Kritik des 19. Jahrhunderts ist zwangsläufig unvollständig, indes durchaus repräsentativ; in seiner Tendenz ist er Nietzsche des übrigen wohlbekannt (6/18 f.). Allerdings wäre er, wie gesagt, zu ergänzen durch eine zwar geringere, dafür erlesenere Zahl von Philologen, die gegen den öffentlichen Meinungsdruck gerade die Goethesche „Sinnlichkeit" verteidigen, zumeist anhand einer Würdigung der „Römischen Elegien." 95 Und Nietzsche selbst? Seine dialektische Auffassung der Sinnlichkeit wurde oben bereits geschildert; daß sein Verhältnis zu Goethe infolgedessen von völlig anderen Voraussetzungen ausgeht, liegt auf der Hand: Der theoretische Gegensatz von „gesunder" Sinnlichkeit der Stärke zu einer solchen der Schwäche wird von ihm geradezu durch die Person Goethes auf der einen und die Wagners auf der anderen Seite verdeutlicht; stets spielt er die „freudigere wohlwollendere Goethesche Stellung zur Sinnlichkeit" (12/285) aus gegen die „hyper-erotische Ankränkelung" des Romantikers 96 . — Insbesondere die Versinnlichung des Geistes bei gleichzeitiger Vergeistigung, ja Vervielfältigung der Sinne (11/587), wie sie Goethe gelungen sei (11/680),
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Er meint, bereits Goethes Verhältnis zu Charlotte von Stein habe „immer etwas Verletzendes", (a. a. O., 2/37). Vgl. auch W. Scherer, Gesch. d. Dt. Litt., S. 658: „Mehr als Liebe, ziemt Betrachtung dem Alter." Faust. Der Tragödie dritter Teil, S. 139 D. dt. Nat.litt. ..., 1/177 Während J. Schmidt dem „freien Genuß des Lebens", wie er darin geschildert sei, „eine innere Berechtigung gegen das einseitige Moralprinzip, in welchem unsere älteren Schriftsteller befangen waren", zugesteht (Gesch. d.dt. Lit. ..., 1/63), greift er zumindest die „verwilderte" Sinnlichkeit der „Venetianischen Epigramme" an (ebd., S. 64). „Es ist historisch", wußte Nietzsche aus seiner Lektüre V. Hehns, „daß sie den größten Anstoß gaben" (18. 8. 1888 an H. Köselitz, K G B 8/393) und besteht gerade deshalb auf einer GoetheVerteidigung im Zusammenhang derselben (6/18). Auch R. Gottschalls Literaturgeschichte würdigt den „Kultus der schönen Sinnlichkeit", der in den „Römischen Elegien" gestaltet sei (1/175), und rechtfertigt ihn mit demselben Schlagwort wie Nietzsche: als „heidnisch" (ebd.). — W. Scherer weist moralischen Tadel an Goethe einfach pauschal zurück (Gesch. d. dt. Lit., S. 491), V. Hehn stellt ihn gegenüber seinen Kritikern schlichtweg „auf eine höhere Stufe" (Gedanken über Goethe, S. 154; vgl. S. 124). 11/428: Die Passage bezieht sich zwar ausschließlich auf Baudelaire, ist aber aufgrund seiner direkten Beziehung zu Wagner auf diesen selbst zu übertragen, (s. Kap. III.3.)
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wird als synthetisches Gesamtkonzept des Menschen jeder „priesterlichen und metaphysischen Verketzerung" der Sexualität entgegengehalten (11/588). Stets eindeutig Partei ergreifend, propagiert Nietzsche damit eine gleichermaßen vergöttlichende (11/680) wie vernatürlichende Erklärung des Menschen, die nicht zufallig bei der Schilderung Goethes regelmäßig in eine alle scheinbare Gegensätzlichkeit aufhebende Verklärung des gesamten Daseins mündet (11/ 588). Hier, in Goethes „Vergeistigung der Begehrlichkeit jeder Art" 97 , liegt der entscheidende Berührungspunkt mit dem Dionysischen (11/681), der bei der ansonsten durchgängig apollinischen Deutung seiner Persönlichkeit zunächst befremden mag. — Goethe sei nun einmal „kein asketischer Priester"98, im Gegenteil, er gehöre zu den „Feinsten und Hellsten", die den Gegensatz zwischen „Thier und Engel" im Menschen nicht als tragisch ansähen, sondern als zusätzlichen Lebensreiz (5/343). Die Spitze einer derartigen Argumentation ist direkt auf Wagners „Alterskeuschheit" gerichtet (5/ 340), und entsprechend beginnt die Verteidigung Goethes gegen „moralinsaure" (6/18) Angriffe erst mit „Menschliches, Allzumenschliches" (2/512). Wirkt sie dort noch recht dezent, so verliert sie in den Spätwerken jede Zurückhaltung 99 . In einer Notiz des Frühjahrs 1884 sympathisiert Nietzsche sogar mit der „Komödie" von Goethes Ehe (11/142), die von den Zeitgenossen alles andere als erheiternd empfunden wird; für ihn selbst — so will er seiner Schwester eröffnen — wäre keine andere Form derselben vorstellbar100. Ja, in der Privatsphäre seiner späten Quarthefte wird er noch eine Spur deutlicher: Dort gesteht er Goethes Immoralität offen zu (12/560 f.), sie sei ihm freilich gar nicht vorzuwerfen, vielmehr Bedingung aller Kultur, insbesondere einer solchen des großen einzelnen (12/428). Indem Nietzsche die (herrschende) Moral dagegen als plebejisch darstellt101 und die provokante Frage aufwirft, „ob große moralische Höhe nicht vielleicht an sich ein Widerspruch gegen das Classische ist" (12/434), erweist er sich als der extremste Verteidiger von Goethes „Immoralismus"102 —, nämlich als der konsequenteste: Wirkt er dabei doch stets als Propagator seiner eigenen Philosophie,
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Das Zitat ist einer Passage über Petronius entnommen (13/467), dessen Hochschätzung freilich auf genau denselben Überlegungen beruht wie diejenige Goethes. Des letzteren „Dankbarkeit [...] [für] die erotischen Empfindungen aller Art" wird andernorts ausdrücklich als Altersweisheit gerühmt. (9/631, 603) 5/390, vgl. 11/680 Die mehrfach zitierte Passage des „Falls Wagner" (6/18) steht in direktem Zusammenhang mit Ausführungen V. Hehns (s. dazu 14/403 f.), ebenso das Fragment 13/495 f. März 1885, Entwurf, KGB 7/25; kurz vor seiner Bekanntschaft mit L. v. Salomé erwog Nietzsche eine „zweijährige Ehe". (17. 3. 1882 an F. Overbeck, KGB 6/180; 21. 3. 1882 an P. Rèe, ebd., S. 186) s. Kap. III., Anm. 380; Goethe sei „der letzte Deutsche vornehmen Geschmacks". (6/52) das Wort im Sinne Nietzsches genommen, d. h. als höhere Form der Moralität
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wie er sie unter der Formel des Dionysischen103 und der Metapher des Mediterranen, Südländischen104 gegen die „bürgerlichen" Vorstellungen seiner Zeit entwirft: Die Umwertung literarischer Werte spielt in der umfassenden Umwertung aller Werte eine beispiel-hafte Rolle.
Heidentum In engem, ja „unlösbarem" Zusammenhang mit dem Problem von Sittlichkeit und Sinnlichkeit steht dasjenige von Christlichkeit bzw. Heidentum; diesbezügliche Angriffs- resp. Verteidigungslogoi fließen bei den meisten Philologen ineinander über und sollen hier allein aus Gründen der Übersichtlichkeit getrennt behandelt werden. Eine genauere Darstellung der bürgerlichen Entrüstungsmoral hinsichtlich des letztgenannten Punktes, wie sie sich schon zu Goethes Lebzeiten formuliert, erübrigt sich demnach; es muß jedoch betont werden, daß sich das Ideal der Sittlichkeit im Verlauf des 19. Jahrhunderts säkularisiert, d. h. nicht mehr unbedingt an christliche Religiosität gekoppelt ist. So können entsprechende Vorhaltungen gegenüber den „Lehrjahren" und den „Wahlverwandtschaften" sogar von einem Theologen wie A. E C. Vilmar referiert werden, ohne daß er sich ihnen anschließt.105 Schon G. G. Gervinus zeigt Verständnis für das „heidnische Element", wie es Goethe nicht ganz zufallig in seiner Winckelmann-Schrift hervorgehoben habe106; im Rückgriff sicherlich auf Schiller107 rechtfertigt er es mit Vokabeln wie „Diesseitigkeit" und „Naivität" —, Vokabeln, die Nietzsche bei diesem Thema ebenfalls zu Gebote stehen. Bereits die „Geburt der Tragödie" würdigt Goethes Gedicht „Prometheus" als „eigentlichen Hymnus der Unfrömmigkeit" (1/68), das Spätwerk bevorzugt die Wendung „heidnische Frömmigkeit", trennt eine grundsätzliche (im Falle Goethes z. B. pantheistische) Frömmigkeit von deren christlicher Variante ausdrücklich ab (11/605). Was nichts anderes heißen soll als: von deren deutscher Variante108. 103 104
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die ja auch auf Goethe ihre Anwendung findet: 6/151 f., 11/680 f. (s. o.) s. dazu die kurze, aber aufschlußreiche Charakteristik seiner „ganzen Philosophie" gegenüber F. Overbeck (14. 9. 1884, K G B 6/532); vgl. Benns frühe Hymne auf das „Südwort" als Ausgangspunkt aller lyrischen Produktion (Epilog und lyrisches Ich, Gesammelte Werke, 4/ 13) Litt.gesch., S. 436 f. Gesch. d. Dt. Dtg., 4/394 Er beruft sich an anderer Stelle ausdrücklich auf Schillers ästhetische Grundsätze (a. a. O., 5/396), zollt seinen philosophischen Schriften grundsätzlich große Hochachtung (a. a. O., 5/ 384 u. a.). 3/597, vgl. 11/605; damit hängen alle drei Rechtfertigungsversuche (zu demjenigen gegenüber der seinerzeit herrschenden Vorstellung von Goethes mangelndem Nationalgefühl siehe den folgenden Abschnitt) zusammen.
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Es muß freilich erwähnt werden, daß sich die Stilisierung Goethes zum „Modell des Heidentums" (W. Kaufmann 109 ), obwohl sie sich auf ihn selbst berufen kann — „Wir wollen Heiden bleiben! es lebe das Heidentum", rief Goethe zeitgenössischen Berichten zufolge aus 110 —, in der zu erwartenden Manier vollzieht, nämlich an gewissen historischen Gegebenheiten glatt vorbei: „Goethe war [...] ein homo religiosus", stellt W. Flitner lapidar fest 111 ; wenn Nietzsche also — unter Anspielung auf die „Venetianischen Epigramme" — betont, man müsse „das ,Kreuz' empfinden wie Goethe", um wahrhaft „klassischen Geschmack" zu beweisen 112 , dann geschieht das „unter geflissentlichem Übersehenwollen aller Ehrenbezeugungen, die Goethe dem Christentum tatsächlich gebracht hat" (H. E. Gerber 113 ). An der nach wie vor unzeitgemäßen Zurückweisung des Vorwurfs mangelnder Christlichkeit ändert eine derart typologische Verkürzung und Verfremdung des Goethebildes allerdings nichts.
Kosmopolitismus Nicht nur die Philologie W. Scherers oder anderer einzelner Wissenschaftler, die des gesamten Jahrhunderts ist an der „nationalen sittlich-literarischen Bildung" des Volkes interessiert 114 : Das durch die Freiheitskriege erstarkte Selbstwertgefühl bedingt eine tendenziell patriotische Kulturgeschichtsschreibung. Und nicht erst W. Scherer „ist [es] schmerzlich zu sagen", daß Goethe sogar zur Zeit der Erhebung gegen Napoleon „einer von den Kleingläubigen [gewesen], welche das Genie des Eroberers für unüberwindlich hielten" 115 ; die Beanstandung seiner nationalpolitischen Abseitsstellung ist so alt wie diese selbst, wird namentlich von den programmatischen Realisten 116 , desgleichen aber von undogmatischen Literarhistorikern wie A. F. C. Vilmar erho-
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ja zum „ .neuen Barbaren'", zum „Übermenschen mit dem .dionysischen Glauben'", wie W. Kaufmann glauben machen will (Nietzsche, S. 441): Die beiden letzterwähnten Wendungen dürfen immerhin bezweifelt werden. Zit. nach W. Kaufmann, a. a. O., S. 393 und zwar v o r allem im Alter (Goethe im Spätwerk, S. 27 f.), das Nietzsche ja besonders schätzte! 12/565; die ansonsten gleichlautende Passage 6/52 setzt bezeichnenderweise anstelle des Wortes „klassisch" ein „vornehm" (s. Kap. III.3.); s. auch 6/153 Nietzsche und Goethe, S. 99; auf ähnliche Weise vereinnahmt Nietzsche ja auch den zum Katholizismus konvertierten Winckelmann f ü r seine Idee des „Heidenthums" (7/75, s. auch S. 53). W. Scherer, Gesch. d. Dt. Litt., S. 657 a. a. O., S. 649 s. H. Widhammer, Real. u. klassiz. Trad., S. 95
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ben 117 . Selbstverständlich weitet sich der Vorwurf dabei ins Generelle, schon A. Koberstein moniert Goethes „ungerechte Herabsetzung deutschen Lebens, deutscher Kunst und deutscher Sprache", „seine Verkennung deutscher Art" vor allem im zweiten Teil des „Faust" 118 . Bezeichnenderweise richten auch H. Kurz und R. Gottschall die entsprechende Kritik vornehmlich gegen Goethes Spätwerk, „in seinem höheren Alter [habe er] den hohen Werth der alten vaterländischen Kunst arg verkannt" 119 . Noch der Gedanke einer Weltliteratur kommt unter einer derart nationalen Perspektive schlecht weg 120 , z. T. versucht man etwas krampfhaft, eine dahinterstehende „vaterländische Gesinnung" zu rekonstruieren. 121 Zwar ist Nietzsche ursprünglich ebenfalls ein glühender Patriot — obwohl als Schweizer Professor nicht wehrpflichtig, drängt es ihn, am deutschfranzösischen Krieg teilzunehmen 122 —, die jugendliche Begeisterung verkehrt sich jedoch nach dem Bruch mit (dem nationalistischen) Wagner 123 in ihr Gegenteil 124 : Bezeichnenderweise taucht die Idee eines „Kosmopolitismus des Geistes" zuerst in „Menschliches, Allzumenschliches" auf (2/466), und bis zur Niederschrift des „Ecce homo" wird Nietzsche nicht müde, den „Nationalitäten-Wahnsinn"125 als „culturwidrigste Krankheit und Unvernunft, die es giebt", zu geißeln 126 . Wenn freilich H. E. Gerber behauptet, für 1,7 118 1,9
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Litt.gesch., S. 420, 437 Grundriss d. Gesch. d. dt. Nationallitt., 4/287, 535 H. Kurz, Gesch. d. dt. Lit. ..., 3/97; Gottschall empfindet ausgerechnet den Formenreichtum des Spätwerks als undeutsch, die formale Zersplitterung entspräche derjenigen der Nation (H. Widhammer, Real. u. klassiz. Trad., S. 54). — Zur allgemeinen (Fehl-)Einschätzung von Goethes nachklassischen Schriften und Nietzsches diesbezüglicher Umwertung s. „Der frühe Nietzsche...", Kap. III.4. z. B. in F. Th. Vischers „Aesthetik", 2/520 H. Kurz, Gesch. d. dt. Lit. ..., 3/96 Der junge Nietzsche bewundert ganz offen die Machtpolitik Bismarcks (16. 2. 1868 an C. v. Gersdorff, KGB 2/258), zeitlebens findet er „nur" ein ambivalentes (!) Verhältnis zu demselben. Auch beim Ausbruch des Krieges mit Frankreich jubelt er auf — „Unsere deutsche Mission ist noch nicht vorbei! [...] noch nicht alles ist unter französisch-jüdischer Verflachung [...] zugrunde gegangen" (21. 6. 1871 an C. v. Gersdorff, KGB 3/203)! —, und gerade die späten „antideutschen" Haßtiraden (16. 12. 1888 an H. Köselitz, KGB 8/527) zeigen, daß er im Problem des Nationalismus stecken bleibt: in dessen bloß oberflächlicher Negation. Ursprünglich bewunderte Nietzsche an ihm „die deutsche Vertiefung in der Welt- und Kunstanschauung", die ihn als verwandt mit Schiller zeige. (11. 3. 1870 an C. v. Gersdorff, KGB 3/105) C. P. Janz nennt zwei zusätzliche Motivationen der Kehrtwendung: die „Staatenlosigkeit" Nietzsches (im bürgerrechtlichen Sinne) seit Antritt der Basler Professur und die Hoffnung, sein Werk würde dereinst als „europäisches Ereignis" gewertet werden. (Fr. Nietzsche, 1 / 279, 263 f., 2/397) 22. 3. 1884 an H. Köselitz, KGB 6/486; vgl. 5/201 6/360: Schließlich sei er verantwortlich für die „kleine Politik", die Nietzsches Vorstellungen zuwider ist. (s. Kap. II.3.) - Weitere Belege s. 2/309, 3/214; 5. 2. 1882 an H. Köselitz, KGB 6/167; 11. 11. 1887 an E.Förster, KGB 8/194. - Selbstverständlich kennt Nietzsche auch ein Kosmopolitentum der Schwäche! (6/183 f.)
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seinen Antinationalismus rufe er Goethe als „Kronzeugen" auf 127 , so ist das zumindest mißverständlich: Wohl verweist Nietzsche mit Vorliebe auf dessen (alles andere als patriotisches) Verhältnis zu Napoleon — und zwar bereits in der „Geburt der Tragödie" 128 —, wohl löst er seine Person als „Zwischenfall [in der Geschichte der Deutschen] ohne Folgen" aus dem Kontext einer „National-Litteratur" provokativ heraus 129 , eine Reklamation Goethes als Mitstreiter für die eigene Position findet jedoch niemals explizit statt: Von einem Kronzeugen kann demnach allenfalls mit Einschränkungen gesprochen werden; die Umwertung der Person Goethes in jenem Punkt scheint für Nietzsches Denken so naheliegend und gewissermaßen selbstverständlich zu sein, daß sie lediglich indirekt vollzogen wird. Seine kosmopolitische Tendenz erstreckt sich damit ausdrücklich bis in den Bereich der Kultur, favorisiert er doch ganz generell bloß „Bücher, aus denen eine europäische Luft weht, und nicht der liebe nationale Stickstoff' 130 ; bisweilen zielt sein Kosmopolitismus sogar ins Über-Europäische 131 .
b) Neues Heinebild: Ausdruck fester oder fließender Wertungen? Die Befreiung Goethes von moralischen, religiösen und nationalen Vorurteilen erfolgt im Rahmen von Nietzsches Kampf gegen die Romantik 132 , deren Postulate sich, wie man sieht, im 19. Jahrhundert unabhängig von ihrer lange Zeit verkannten und verschmähten Literatur durchsetzen: Die Umwertung Goethes ist in allen drei Punkten wohlverankert in einer antithetisch strukturierten Kulturphilosophie. — Entsprechendes gilt für die Neubeurteilung Heines, obwohl sie in vielen Passagen zunächst den Eindruck des Gewollten, ja des Uneigentlichen erweckt. Den Eindruck einmal im wahrsten Sinne des Wortes hintangestellt, erkennt man an ihr die soeben 127 128
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Nietzsche und Goethe, S. 136 1/116 f.; noch in den späten Werken (5/185, 6/106) und Notizen nennt er beide im selben Atemzug, faßt sie unter einem gemeinsamen Bestreben („Kampf gegen das 18. Jahrhundert") zusammen (12/456, vgl. S. 443 f.). 2/607, s. auch 2/448 f., 483, 6/151; zu Nietzsches Stellungnahmen gegen den nationalistischen Goethekult s. „Der frühe Nietzsche ...", Kap. III.l. April 1878 an K. Hillebrand, KGB 5/318; die Forderung ist nicht etwa nur auf deren Ideengut, sondern auch ganz konkret auf ihren Stil zu beziehen (2/592, 610). 24. 11. 1885 an H. Köselitz, KGB 7/114; 3. 1. 1888 an P. Deussen, KGB 8/222; daß sich Nietzsche gegen Arabien und Amerika deutlich abgrenze, wie C. P. Janz behauptet (Fr. Nietzsche, 2/416), scheint mir nicht belegbar, im Gegenteil: „Namentlich gehört Amerika hinzu [nämlich zu Europa], soweit es eben das Tochterland unserer Cultur ist." (2/650) Am Ende gehört selbst die Hochschätzung der „afrikanischen" Heiterkeit von Bizets „Carmen" in diesen Zusammenhang (6/15)... „Christlichkeit", „Romantik und Vaterländerei" werden sogar von ihm selbst zusammengefaßt als dasjenige, dem er „feind" sei. (3/16)
Sittlichkeit, christliche und nationale Gesinnung
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referierten drei Schritte wieder, deren erstem — insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, daß er ja mit dem zweiten eine zusammengehörige Schrittabfolge bildet — das größte Gewicht zukommt: Als „ganz frivole und obscöne Ergüsse", als Zeugnisse „sittlicher Rohheit und sinnlicher Lüsternheit" 133 erregen Gedichte wie Reisebilder Heines von A. Koberstein bis W. Scherer allgemeinen „Ekel" 134 ; zwar konzedieren vor allem die beiden genannten sein „sehr bedeutendes" „Talent für die Lyrik" 135 wie für die Handhabung der Sprache im allgemeinen, derartige „Zugeständnisse" verstehen sich jedoch als relativ: „Diese Blumen duften uns nicht mehr [...] Nur der Schmutz, der [z. B.] in den ,Reisebildern' nicht fehlt, ist noch so schmutzig wie am ersten Tag." 136 Das moralische Verdikt überlagert nicht bloß, wie im Falle der Goethe-Wertung, das ästhetische, es ersetzt letzteres geradezu; und ebenso unverhohlen, wie man Heines „Schundware — sittlich wie ästhetisch" (Sandvoß 137 ) verdammt, so auch — nach bekannter biographistischer Manier — die Person des Verfassers: dessen „Frivolität" und „haltlose Natur" ja direkt aus seinen Werken herausgelesen werden könnten 138 ... Selbst den vielfach geschmähten Goethe führt man — ein Beispiel dafür, daß nicht nur Nietzsche des öfteren zu „fließenden" Wertungen greift — gegen den „Verbreiter jeglicher Scham- und Zügellosigkeit" ins Feld 139 , personifiziert in den zwei Dichtergestalten den Gegensatz „höhere Menschlichkeit" vs. „Frivolität" 140 . Bereits auf dieser Ebene widerspricht Nietzsche indirekt der zeitgenössischen Philologie, indem er beide Schriftsteller provokativ des öfteren im selben Atemzug nennt 141 , in einer späteren Nachlaßnotiz sogar behauptet, „ein Element Goethe" sei in Heine erst „zur Vollendung" gekommen (12/90)! Stellt er den Jungdeutschen also zumindest aus polemischen („fließenden") Gründen vorübergehend mit dem Klassiker auf eine Stufe — seine Einschätzung Heines als des „höchsten Begriffs vom Lyriker" (6/286) geht ja geradezu auf Kosten Goethes, „in welchem die Deutschen
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R. Koenig, Dt. Lit.gesch., 2/299, 301 A. Koberstein, Grundriss d. Gesch. d. dt. Nat.litt., 5/234; W. Scherer, Gesch. d. Dt. Litt., S. 664; H. Kurz, Gesch. d. dt. Lit. ..., 3/244; A. F. C. Vilrnar, Litt.gesch., S. 481; V. Hehn, Gedanken über Goethe, S. 177 A. Koberstein, Grundriss d. Gesch. d. dt. Nat.litt., 5/234; W. Scherer, Gesch. d. dt. Litt., S. 664 W. Scherer, a.a.O., S. 664 zit. nach: R. Müller-Buck, Heine oder Goethe? S. 272 H. Kurz, Gesch. d. dt. Lit. ..., 3/243 f., 700 so Sandvoß (zit. nach R. Müller-Buck, Heine oder Goethe? S. 271) oder V. Hehn (Gedanken über Goethe) H. Pfotenhauer, Real. u. klassiz. Trad., S. 126 z. B. 6/107, 125, 11/472
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Trennung von Person und Werk
sehr mit Unrecht vornehmlich den Lyriker zu sehen gewöhnt sind" 142 —, so ist seine Aufwertung desselben unter dem Aspekt von Sittlichkeit/Sinnlichkeit durchaus substantieller („fester") Natur: Insofern Nietzsche prinzipiell „den Gott [im Menschen] nicht abgetrennt vom Satyr" verstanden wissen will (6/ 286) und insofern er sich das (stilistisch) Vollkommene lediglich aus „göttlich" boshaften Wurzeln gespeist vorstellen kann (ebd.), entspricht die Einschätzung Heines ganz seinen sonstigen kulturphilosophischen Überlegungen 143 . Der enge Zusammenhang mit „jenem anmuthigsten, übermüthigsten Spötter Petronius" läßt Heine gleichfalls als „unsterblich gesund [...] und wohlgerathen" erscheinen 144 , als Mitkämpfer für die „Rehabilitation des Fleisches". Hätte Nietzsche die moralische Selbstgesetzgebung des Jungdeutschen gekannt — „ich [...] selbst [war] [...] das lebende Gesetz der Moral [...] Ich war die Ursittlichkeit, ich war unsündbar" 145 —, einen selbstauferlegten kategorischen Imperativ, der seinem eigenen sehr nahe kommt, die Vereinnahmung wäre sicher noch weitergegangen. Und vielleicht zu recht, der Affinitäten zwischen beiden Autoren, wie sie H. Spencer aufzeigt, sind in der Tat nicht wenige 146 . Insonderheit hinsichtlich verschiedener religionsphilosophischer Überlegungen kommen sie sich sehr nahe, aber auch im dialektischen Denken insgesamt, in der Handhabung der Sprache bis in manche Formulierungen hinein — H. J. Pott spricht hier ganz offen von einem „Plagiat" Nietzsches 147 —, so daß H. Spencers Folgerung recht nahe liegt: „The ressemblances between his and Heine's basic ideas surely are too numerous and too close, the parallel themes too important, the literal echoes too persistent to be coincidental." 148 Ihr Rückschluß freilich auf „intimate knowledge of Heine's prose-wotk" (ebd.) seitens Nietzsches ist nicht belegbar; dieser besaß und las (mit Interesse 149 ), abgesehen von einer nicht näher präzisierbaren jugendlichen
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1/435; auch Nietzsche empfindet Goethe ursprünglich als „grössten Lyriker" (8/128), wenngleich er ihn als Epiker noch höher bewertet (s. dazu „Der frühe Nietzsche...", Kap. III.4.). Im Zuge der radikalisierenden Vereinseitigung, wie sie ganz allgemein in Nietzsches Spätwerk zu konstatieren ist, fallt jene „Nebenbedeutung" Goethes weg; als alleiniger „Repräsentant" des Lyrischen wird nunmehr — etwas gewaltsam (s. u.) — Heine inthronisiert: als „höchster B e g r i f f des Lyrikers, wie gesagt. zum Verhältnis von Bosheit und Vollendung s. insbesondere Zarathustras Rede „Vom Baum am Berge" (4/51 ff.) Die wiedergegebenen Zitate sind auf Petronius gemünzt (6/224); eine Verwandtschaft Heines mit demselben sieht ausdrücklich 13/532. Die Gesundheit Heines spricht auch 13/457 an. zit. nach H. Spencer, Heine and Nietzsche, S. 149 Sie nennt und belegt mehr als ein Dutzend! (a. a. O., S. 131 —155 f.) zit. nach H. Spencer, a. a. O., S. 159 a. a. O., S. 157 M. Oehler, Nietzsches Bibliothek, S. 36
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Sittlichkeit, christliche und nationale Gesinnung K e n n t n i s n a h m e d e r „ R e i s e b i l d e r " 1 5 0 , a u s g e r e c h n e t n u r dessen „ N e u e
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dichte". U m sich d e r a r t i n t e n s i v in das W e r k Heines einzuarbeiten, w i e es H. S p e n c e r sicherlich t u n m u ß t e , u m all die B e r ü h r u n g s p u n k t e
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z i e h e n 1 5 2 ... D i e j e n i g e z u r „ S i n n l i c h k e i t " w i r d indessen v o n N i e t z s c h e selbst h e r a u s g e strichen u n d ist deshalb g e w i c h t i g e r zu b e w e r t e n als m a n c h andere; die daran g e k n ü p f t e B e w e r t u n g Heines bleibt s o g a r d a n n n o c h u n z e i t g e m ä ß , w e n n m a n die ( w e n i g e n ) P h i l o l o g e n in R e c h n u n g stellt, die den g e s c h m ä h t e n L y r i k e r u n d Essayisten bereits v o r o d e r gleichzeitig m i t Nietzsche in S c h u t z zu n e h m e n suchen: allen v o r a n R. G o t t s c h a l l , d e r H e i n e aus p e r s ö n l i c h e r Bek a n n t s c h f t s c h ä t z t 1 5 3 , mit A b s t r i c h e n J . S c h m i d t in e i n e m
„Grenzboten"-
A r t i k e l v o n 1 8 5 1 1 5 4 , a b e r a u c h der p o p u l ä r w i s s e n s c h a f t l i c h e L i t e r a t W . B ö l sche m i t seinem 1 8 8 8 p u b l i z i e r t e n „Versuch einer ästhetisch kritischen A n a lyse" v o n W e r k e n u n d W e l t a n s c h a u u n g Heines, in d e m er i h n g l e i c h r a n g i g n e b e n G o e t h e stellt 1 5 5 . F ü r den G r o ß t e i l d e r P h i l o l o g e n a l l e r d i n g s ist die v i e l b e r u f e n e bis v e r s c h r i e n e „ S i n n l i c h k e i t " u n v e r z e i h b a r , d e r e n „ C u l t u s " i m W e r k Heines sei es letztlich, d e r eine u n g e b ü h r l i c h e Tendenz g e g e n
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das
Ein einziges Mal erwähnt er sie brieflich — allein das schon Anlaß zu Mißtrauen: Hätte Nietzsche tatsächlich „Neigung" für sie empfunden, wie er es beteuert, dann hätte er sie auch öfter — vor allem gegenüber den Freunden — bekundet. Die fragliche Stelle (2. 7. 1868 an S. Ritsehl, KGB 2/299) ist darüber hinaus in einer Weise abgefaßt, die keinerlei Textkenntnis verrät, während literarische Urteile auch des frühen Nietzsche ansonsten sehr pointiert ausfallen: Alles in allem sollte man sich hüten, die bloße Erwähnung von Heines Reisebildem bereits als Indiz für genaue Kenntnis derselben zu nehmen! Man bedenke „die Herren Augen" (25. 12. 1880 an F. u. E. Nietzsche, KGB 6/54), die ihm phasenweise nur zwei Stunden Lesezeit pro Tag gestatteten, die ihn die Abende in Sils-Maria „still im Dunklen" sitzend zubringen ließen! (24. 8. 1881 an F. Nietzsche, KGB 6/121) Noch nicht einmal G. Kellers „Grünen Heinrich" konnte er vollständig lesen, ein Werk, das ihm zweifelsohne näher gelegen wäre: „Meine Augen erlauben mir solche .Luxusausgaben der Sehkraft' nicht mehr." (20./21. 8. 1881 an F. Overbeck, KGB 6/117) ...selbst zu Kungfutse, dem großen Erzieher, oder — warum nicht — zu einem solch „antipodischen" Geist wie demjenigen Laotses: Bereits der Chinese löst traditionelle Gegensätze auf, insbesondere „Gut" und „Böse" (Tao te king, S. 60), stellt sich außerhalb der „Sittlichkeit" (a. a. O., S. 45, 81 und 204) und lehrt die Selbstliebe (a. a. O., S. 53). D. dt. Nat.litt. ..., 2/99 Die dortige Aufwertung Heines ist allerdings zweckgebunden, dient dem Kampf gegen die Romantik (H. Widhammer, Real. u. klassiz. Trad., S. 77); J. Schmidts „Gesch. d. Dt. Literatur..." empfindet die „Frivolität" Heines nach wie vor als „bedenklich". (3/11, 23) Heinrich Heine. Versuch einer ästhetischen kritischen Analyse seiner Werke und seiner Weltanschauung; nach: R. Müller-Buck, Heine oder Goethe? S. 272. — Auch F. Avenarius' „Kunstwart"-Artikel vom 3. 6. 1888 verteidigt zumindest die Person Heines gegen den biographistischen Zugriff —, um das Werk dann als „lyrische Fabrikware" desto effektvoller preiszugeben (R. Müller-Buck, a. a. O., S. 274): was ihm Nietzsche mit der Kündigung seines Abonnements quittierte! (20. 7. 1888 an F. Overbeck, KGB 8/362)
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Trennung von Person und Werk
Christentum bewirke. 156 Ob man nun so weit geht, wie R. Koenig, dessen „Deutsche Literaturgeschichte" die „Reisebilder" geradeheraus als „cynische" „Gotteslästerung" anprangert (2/300) oder nicht —, stets werden beide Aspekte im selben Atemzug genannt, genauer: wird der zweite aus dem ersten direkt gefolgert. So auch, unter entgegengesetztem Vorzeichen, bei Nietzsche, wie seine fragmentarischen Andeutungen über das „Lied der Loreley" nahelegen 157 ; die bekannte Lobeshymne des Lebensrückblicks rühmt nicht allein Heines Stil, sondern ebensosehr seine „göttliche Bosheit" (6/286): Zu diesem Zeitpunkt ist Heine zum Typus freier Geist der Lyrik avanciert —, als derjenige der Prosa fungiert seit „Menschliches, Allzumenschliches" (2/ 424 ff.) übrigens L. Sterne. Gehören Sittlichkeit und Christentum im philologischen Denken des 19. Jahrhunderts eng zusammen, so ist ein dritter „ästhetischer" Wert, das Volkstümliche bzw. Nationale nur mittelbar damit verbunden. Der Vorwurf des Unpatriotischen, ja der „Verhöhnung unseres Volkes" (R. Koenig 158 ) ist noch die passive Art, ihn gegenüber Heine zur Geltung zu bringen: „Wir Deutschen sollten gegen solche Naturen sehr auf der Hut sein." (J. Schmidt 159 ). Vormärzautoren wie Th. Mündt oder H. Marggraf spielen eine „solche Natur" gar zum „Unruhestifter in der Ruhmeshalle deutscher Dichter" herab. 160 — Die aktive dagegen läuft auf Antisemitismus hinaus, wie er sich gegen Ende des Jahrhunderts zunehmend Gehör verschafft, paradigmatisch vorgetragen in V. Hehns „Gedanken über Goethe", desgleichen in verschiedenen Artikeln des „Kunstwarts", den Nietzsche schließlich unter Protest abbestellt 161 . Der „verfluchte Wind von Deutschthümelei" 162 , der Heine verurteile und Goethe in Anspruch nehme als — wie R. Müller-Buck es darstellt 163 — „Emanation des deutschen Geistes schlechthin", wird in jenem Abbestellungsbrief dezidiert angeprangert. Die „Undankbarkeit, die jetzt gegen [...] Heine eifert", sei insofern doppelt zu ächten, als die Deutschen „Heine mehr verdanken dürfen, als sie z. B. Goethe verdanken" 164 —, Nietz156 157
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J. Schmidt, Gesch. d. Dt. Lit. ..., 3/19 Sie lesen eine mehr oder weniger explizit areligiöse, rein diesseitig-liebessehnsüchtige Motivation der Trauer in das Gedicht hinein. (13/457) Dt. Lit.gesch., 2/300, vgl. S. 302 Gesch. d. Dt. Lit. ..., 3/25 nach H. Pfotenhauer, Die Kunst als Physiologie, S. 126 s. Anm. 155 20. 7. 1888 an F. Avenarius (Entwurf), K G B 8/359 Heine oder Goethe? S. 265 20. 7. 1 8 8 8 an F. Avenarius, Entwurf, K G B 8/360; allerdings: „Das sagt nichts gegen Goethe (im Gegenteil)", da die Deutschen eine derartige Ausnahmeerscheinung eben gar nicht angemessen aufzunehmen wüßten: Diese(r) bleibe „in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen" (12/607) —, übrigens auch hinsichtlich der Entwicklung der deutschen Musik (13/133).
Sittlichkeit, christliche und nationale Gesinnung
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sehe dreht das zeitgemäße Urteil damit um 180 Grad herum! In anderem Zusammenhang stellt er Heine, wie gesagt, zumindest neben Goethe, als den einzigen „Dichter" Deutschlands außer letzterem (11/472), würdigt ihn als einen der ganz wenigen „für Europa mitzählenden" Geister (6/106 f.). Indem er ihn in privaten Aufzeichnungen nicht nur zum „europäischen Ereignis" einer deutschen Kulturentwicklung deklariert (6/125), sondern geradewegs zum „,Europäer' der Zukunft" 165 , fließt die Verteidigung gegenüber einem patriotischen Literaturideal über in den bekannten Angriff auf dasselbe unter kosmopolitischem Banner. D. h. freilich auch: in einen Angriff gegen früher vertretene Werte; im Umkreis von „Bayreuther Horizont-Betrachtungen" (7/505) der Jahre 1872/ 73 gilt Heine nämlich noch als „Unglücksfall deutschwerdender Kultur" (7/ 504). Im übrigen wird er im Frühwerk — d. h. in den publizierten Schriften — verschwiegen, d. h. er paßt als in sich „schillernde" Figur weder auf die eine, noch auf die andere Seite in Nietzsches streng antithetisch strukturierter Kulturphilosophie. Ist die Heine-Aufwertung des Spätwerks also bloß eine Folge des oft bereits bemühten Perspektivenwechsels, eng gekoppelt an eine sich steigernde Abwertung alles Deutschen (bzw. Bewunderung alles Französischen 166 ), wie R. Müller-Buck nahelegt? Nietzsches vehementes Eintreten für Heine [...] ist [...] von seiner schonungslosen Kritik an der deutschen Kultur der Gründerzeit nicht zu trennen. Die kunstwartlichen Heine-Beschimpfungen sowie die antisemitischen Invektiven Viktor Hehns stellen die aktuelle Herausforderung dar, vor deren Hintergrund man Nietzsches leidenschaftliche Stellungnahme für Heine [...] lesen muß. 1 6 7
So weit, so richtig, einen nicht ablösbaren Hintergrund seiner Aufwertung bildet die umfassendere Deutschlandkritik sicherlich; durch weiterreichende Behauptungen wie: „Jede Aussage für Heine ist zugleich immer eine Aussage gegen das Reich" 168 verlöre jene Neueinschätzung jedoch jeden Eigenwert, würde relativiert zur „fließenden" Wertung. Sicherlich, die Auffassung seiner Person bzw. seines Werks wechselt nach 1876 das Vorzeichen, ich meine allerdings, die eigentliche Analyse bleibt dabei trotzdem dieselbe, nämlich
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5/202, 11/583: Auch die synthetische Tendenz ist ihm hier zuerkannt —, also die Vorbedingung jeglicher Klassizität, wie sie andernorts sogar Goethe bestritten wird (s. die Ausführungen auf S. 229 f. und S. 2 9 9 f f . ) . Heine wird im Spätwerk gern als „Franzose", seine Kunst als „französisch" dargestellt: 11/ 472, 13/123, 533 Heine oder Goethe? S. 280, 278 ebd., S. 280
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von Anfang an in sich gespalten. Nicht: in sich widersprüchlich, die beiden „Seiten" Heines lassen sich sehr wohl und sehr exakt benennen und bilden in ihrer internen Dialektik eine von Anfang an „feste" Wertung:
Dauer im Wechsel: Die perspektivische Dialektik der Beurteilung Heines Eine in sich ambivalente Bewertung des umstrittenen Autors wäre allerdings noch nicht unzeitgemäß, im Gegenteil: Gleichmäßig verurteilen alle älteren deutschen Literarhistoriker und Aesthetiker Heine wegen des frivolen [...] Inhalts seiner Werke, und gleichmäßig 2ollen sie Heines Formgewandtheit das höchste Lob. (I. Beithan)169 Eine derartige Trennung zwischen Inhalt und Form 170 kommt allerdings für den „Künstler" Nietzsche nicht in Betracht 171 , seine Technik der Hinterfragung unterscheidet zwischen Person und Sache, d. h. der Sache als ganzer, und seine Dialektik des Urteils entfaltet sich nicht etwa nur %wischen diesen beiden Polen, sondern schon innerhalb derselben: Dabei klingt das Lob von Heines Stil zunächst eindeutig, dessen Sprachartistik (6/286) wird zum „Gipfel der modernen Lyrik" (12/475) erklärt bzw. auf das Niveau der eigenen Prosa gestellt: „Ich suche umsonst in allen Reichen der Jahrtausende nach einer gleich süssen und leidenschaftlichen Musik." (6/ 286) Mit ähnlichen Worten lobt bereits der Schüler Nietzsche den „Hyperion" Hölderlins — „Diese Prosa ist Musik" 172 —, trotz aller Selbst-Bekämpfung scheint ihm noch im Spätwerk das Musikalische der höchste Wert zu sein. Stellt man seine gewollte Selbst-Erziehung zur epischen Kunst ab „Menschliches, Allzumenschliches" in Rechnung, so wird ein derartiges Lob indes höchst problematisch; sogar das Adjektiv „leidenschaftlich" kann nach dem bislang Gesagten 173 nicht eigentlich bzw. ungeteilt positiv verstanden werden. Im übrigen sucht Nietzsche im Rahmen seiner Privatnotizen nicht umsonst nach einer der Heineschen Lyrik vergleichbaren Musik, ein Nachlaßfragment der Jahre 1887/88 stellt einen direkten Bezug zu Schumann her (13/133) —, demselben Schumann, den er in „Ecce homo" wenige Zeilen nach dem enthusiastischen Lob Heines als „süsslichen Sachsen" verdammt (6/286)! — 169 170
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Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 189 Auch F. Avenarius' Heine-Artikel „spielt die Form gegen den Inhalt aus" (R. Müller-Buck, Heine oder Goethe? S. 275) —, freilich dreht er die Perspektive dabei herum (s. Anm. 155). 13/9; s. Kap. IV.5. 111/96; über den Zusammenhang von Literatur und Musik s. „Der frühe Nietzsche...", S. 177 ff. s. Kap. II.2.
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Spürt man einmal die Ambivalenz, die in der stilistischen Hochschätzung Heines immer mitschwingt, heraus — sie ist in den Bemerkungen von 1868 ebenso enthalten wie in denjenigen von 1888 174 —, so stehen selbst die frühen, abfalligen Äußerungen über die „Virtuosität" seines Stils nicht abgesondert da: Allein schon die Tatsache, daß Heine dort als „Virtuose" bezeichnet wird 175 , in „Ecce homo" dagegen als „Artist" (6/286), weist auf einen bloßen Vorzeichenwechsel bei gleichbleibender Analyse des Sachverhaltes hin: Wie bereits ausgeführt, bezeichnet der letztgenannte Terminus in Nietzsches Vokabular eine Sprachgewandtheit der Stärke — vor allem die eigene —, ersterer eine solche der Schwäche, meist unter direktem Bezug auf Wagner. Es ändert sich nicht mehr als das Vorzeichen, der „absolute Betrag" der Heine-Bewertung — seine Sprachgewandtheit — bleibt stets derselbe. Sogar die bereits erwähnte „Hans Wurst Jacke", also die mangelnde Stileinheit, die dem „farceur" Heine vorgeworfen wird 176 — die Argumentation weist auf F. Th. Vischer, R. Gottschall und J. Schmidt ebenso zurück wie auf K. Kraus voraus 177 —, sogar vorübergehende („fließende") Vereinseitigungen des Urteils ändern daran nichts. Und auch der „farceur" selbst taucht im Spätwerk wieder auf, als „Schauspieler" (11/84) und „größter Betrüger" (13/500): In diesem Punkt wendet sich die Interpretation Heines vom Werk zur Person, „das Schimmern der elektrischen Farbenspiele", das dessen durcheinandergeworfene „Stilarten" charakterisiere (7/595), setze sich auf rein menschlicher Ebene fort — als Unglaubwürdigkeit: „Wer wird an die Wahrheit der Empfindung eines Heine glauben!" 178 Entsprechend seiner vielschichtigen Beurteilung der Maske 179
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„Ich habe leider Neigung für das pariser Feuilleton, für Heines Reisebilder usw." (2. 7. 1868 an S. Ritsehl, K G B 2/299) Eine Notiz des Herbstes 1888 betont, das Gefallen an Heine bedürfe „einer großen Liberalität in der Güte" (13/596), also einer heimlichen Selbstüberwindung des „Dogmatikers" Nietzsche — „wir sind durchaus nicht .liberal'" (3/629) — zum künstlich evozierten Wohlwollen!
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7/595, 8/281 s. Anm. 175 Sämtliche genannten Philologen werfen Heine „Zerrissenheit" v o r (I. Beithan, Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 1 8 8 f.). — Den „Feuilletonismus" seiner „schillernden Seifenblasenschriftstellerei", der die deutsche Sprache verdorben habe, beklagt nicht erst K . Kraus (Heine und die Folgen), sondern schon F. Avenarius in seinem „Kunstwart"-Artikel (daraus die soeben wiedergegebene Wendung; zit. nach: R. Müller-Buck, Heine oder Goethe? S. 276). Übrigens bespricht Avenarius auch den „Fall Wagner" als das Buch „eines überaus espritreichen Feuilletonisten." (Zit. nach: ebd., S. 285)
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7/657; der V o r w u r f ist ganz zeitgemäß: H. K u r z steht durchaus repräsentativ f ü r die gesamte „gelehrte Welt", wenn er am „Ernst seiner [Heines] Gesinnungen" zweifelt (Gesch. d. dt. Lit. ..., 3/700). Die zeitgenössische Literaturwissenschaft hat eben noch kein Gespür für das (moderne) indirekte Sprechen, geht aus von der Gleichung Ernster Inhalt = Ernste Form, (s. u.) s. Kap. II.6.
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schätzt Nietzsche andrerseits gerade einen derart spielerischen Umgang mit Kommunikationsinhalten als einzig „redliche" Form der Mitteilung — „Heine hat etwas Reines" (9/326) —, der gegenüber die direkte, ernste Wahrhaftigkeit stark abgewertet wird: „Heute macht man Heine in Deutschland ein Verbrechen daraus, Geschmack gehabt zu haben — gelacht zu haben: die Deutschen selbst nämlich nehmen sich heute verzweifelt ernst." (13/533) Natürlich überlagern hier die eigenen Konzepte von „fröhlicher Wissenschaft" und maskenhaftem Rollenspiel das Bild Heines, jedoch nicht — wie in so vielen anderen Fällen — bis zur Unkenntlichmachung durch Typisierung. D. h., einen Typ repräsentiert selbstverständlich auch Heine — den, wie gesagt, des „freien Geistes" (13/532) —, die Auseinandersetzung mit ihm, als Typ wie als Individuum, ist dennoch stets differenziert und zeugt von persönlichem Engagement. Teilidentifikation wechselt mit (Selbst-)Bekämpfung, Hochschätzung mit Verachtung —, der Typus Heine wird nicht, wie etwa Goethe, als unerreichbares Ideal abgeschoben, vom eigenen Engagement abgerückt in den Bereich distanzierter ( = liebloser 180 ) Betrachtung. Kaum zustimmen somit wird man I. Beithan, die aus den Äußerungen über Heine ein „völlig uneingeschränktes" Lob herauslesen will 181 , genausowenig wie R. Müller-Buck, wenn sie vorträgt, Nietzsche komme erst nach dem Bruch mit Wagner zu einer Neubewertung des verkannten Autors, indem er die Voreingenommenheit der Zeitgenossen — wie sie phasenweise in gleichem Maße die seine gewesen — mehr oder weniger ruckartig überwände 182 . Die negative Heine-Beurteilung vor 1876 vielmehr ist von präsentischen Argumentationsmotiven — der Bewunderung Wagners — ebenso überlagert wie die späte, sich vereinseitigende Hochschätzung von einem Kampf gegen seinen „Antipoden" (6/415). Beide Phasen zusammen ergeben erst das vollständige Bild Heines als „feste" Umwertung, die ihn als ambivalent zu begreifenden Menschen wie Künstler 183 gegen ein zeitgenössisch stark reduziertes Verständnis neu konturiert. Zu beachten bleibt allerdings stets, 180 2/370: „So lange man noch liebt [...], ,betrachtet' [man] noch nicht"; vgl. L. Sterne, Tristram Shandy, S. 267: „Wer deutet, ist schon mißtrauisch." 181 Fr. Nietzsche als Umwerter d. dt. Lit., S. 189 182 Heine oder Goethe? S. 279 183 hierin Wagner verwandt: Dessen einseitige Hochschätzung (bis 1876) ist ja z. T. „hausgemacht", der erste Eindruck, den Nietzsche von ihm anläßlich eines Klavierauszugs der „Walküre" empfindet, ist sehr gemischt [...], so daß ich kein Urtheil auszusprechen wage. Die großen Schönheiten und virtutes werden durch eben so große Häßlichkeiten und Mängel aufgewogen. +a + (—a) giebt aber nach Riese und Buchbinder 0. (11. 10. 1866 an C. v. Gersdorff, KGB 2/174) Daß Nietzsches Wagnerbild von Anfang an aus + a und — a zusammengesetzt ist, läßt den späteren Perspektivenwechsel als geradezu „notwendig" erscheinen, erklärt ihn zumindest als einen innerlich vorgebildeten ...
Goethe als Mensch, Goethe als Künstler
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daß das Endergebnis einer derart verquickten Auf- und Abwertung kein neuer „Klassiker" sein kann: Heine habe das Genie lediglich „gestreift" 184 , wird als Künstler zwar bisweilen mit Goethe im selben Atemzug genannt, niemals jedoch als („großer") Mensch. Letzteres aber wäre es gerade, was den Ausnahme-Künstler kennzeichnet, den Klassiker, an den Heine nur „grenze" (13/532). Dessen Neueinschätzung darf somit als eine ausschließlich auf sein Werk beschränkte verstanden werden.
3. Goethe als Mensch, Goethe als Künstler Die drei außerästhetischen Bewertungsmaßstäbe zeitgenössischer Literaturwissenschaft werden von Nietzsche sowohl anläßlich seiner Betrachtungen über Heine wie derjenigen über Goethe zurückgewiesen, eine Trennung von Autor und Werk wird dezidiert vorgenommen. Vollzieht sie sich allerdings im Falle des Jungdeutschen tendenziell auf Kosten der Person, so in dem des „Klassikers" zugunsten derselben. Zwar spiegele sich auch in Goethes Schriften die „unwillkürliche Biographie einer Seele" (3/285 f.), sein „originelles" Genie stehe indes weit über seinem vielfach als leer und schal zu empfindenden Werk 185 . Schließlich sei „der grösste Theil der Kunst in sein Wesen übergegangen" (8/555), der Künstler Goethe somit nicht mehr als „ein Theil des Menschen" (11/159): In ihm glaubt Nietzsche „einen Autor gefunden zu haben, der exemplarisch alle Momente seiner Existenz zum Kunstwerk zu machen verstehe." (H. Pfotenhauer 186 ) Ausnahmsweise (11/159), denn der „umgekehrte Biographismus" begreift gerade die großen Künstler nur in den seltensten Fällen als gleichermaßen große Menschen; bloß bei jenen Ausnahmen eben — den Klassikern — gelte als Hauptwerk die eigene Persönlichkeit, die insofern jeder tatsächlichen Veröffentlichung weit überlegen sei. Der Gedanke an sich ist unzeitgemäß genug, er führt jedoch auch im weiteren zu einer Reihe philologischer Umwertungen. a) Vereinzelung Goethes zur „grossen Ausnahme" „Es ist kein Wunder", stimmt bereits G. G. Gervinus in die biographistisch bedingte Verehrung Goethes ein, „daß man bei uns seine Persönlichkeit 184
185
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12/301; genauso wie die „supremste Form der Geistigkeit" (13/532): Tatsächliche Vollendung wird ihm in beiden Punkten indirekt aberkannt. Die v o n Nietzsche gestrichene Schlußbemerkung zu einer allgemein gehaltenen Reflexion über „das Genie und das Nichtige" (2/156) führt Goethe ausdrücklich als Beispiel an (14/ 135). D. Kunst als Physiol., S. 125 f.
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Trennung von Person und Werk
bald höher hielt als seine Werke, und diese blos als einen Kommentar zu jener las"187. Eine derart allgemeine Hochschätzung der Person Goethes auf Kosten des Künstlers, wie sie folglich schon gegen dessen Lebensende einsetzt, scheint Nietzsches „Methode" jeder Originalität zu berauben. Allein diese sitzt nicht erst im End-, sondern bereits in jedem Zwischenergebnis, sie erweist sich darüber hinaus in einer umfassenden Selbstreflexion des Verfahrens, die zu einer geradezu systematisch anmutenden Handhabung desselben führt. Im übrigen läßt sich der umwertende Charakter seiner philologischen Sehweise recht gut mit Nietzsche selbst verteidigen: Nicht dass man etwas Neues zuerst sieht, sondern dass man das alte, Altbekannte, v o n J e d e r m a n n Gesehene und Uebersehene w i e neu sieht, zeichnet die eigentlich originalen K ö p f e aus. (2/465)
Ein solcher Begriff von Umwertung ist zumindest für den Philologen Nietzsche zentral; seine Auseinandersetzung mit Goethe scheint ihn nachgerade exemplarisch belegen zu wollen, erinnert sie doch bisweilen sehr stark an diejenige klassizistischer bzw. realistischer Rezipienten — allerdings nur an ihrer Oberfläche. Sogar die Idealisierung der Person Goethes, wie sie weiter unten zu behandeln sein wird, ruht auf anderen Voraussetzungen als die zumindest ab Mitte des Jahrhunderts zu konstatierende allgemeine Verehrung derselben188. Genau gegen jene richtet sich ja zunächst Nietzsches eigene Goetheliebe, d. h. vor allem gegen zwei Aspekte: gegen die Verschmelzung mit der entsprechenden Schiller-Verehrung zum einen, gegen die Vereinnahmung von Goethes Person als Repräsentanten deutscher Kultur zum anderen. Schiller sei „nicht allein neben Goethe, sondern vor ihm der Lieblingsdichter der Nation", resümiert A. F. C. Vilmar das zeitgenössische Urteil189; als „der eigentliche moderne Dichter" (G. G. Gervinus190) wird er dabei vor allem als Person vorgezogen 191 , z. T. wird sogar seine „Poesie" derjenigen Goethes vorangestellt192. Trotzdem übernehmen fast alle Literaturgeschichten mehr oder weniger deutlich das Urteil des Gervinus, daß beide „Dioskuren" unlösbar zusammengehörten, „daß sie uns gleichsam erst in dieser verschlungenen Gestalt ein gemeinsames Ganzes darstellen"193. — Gegen eine derartige „Schiller-Goethe"-Kultur wendet sich der frühe194 ebenso wie der späte Nietzsche: Was ihn am „psychologischen Takt der Deutschen" zweifeln ließe, 187 188 189 190 191 192 193 194
Gesch. d. Dt. Dichtg., 4/460 s. H. Widhammer, Real. u. klassiz. Trad., S. 97 (Litt.gesch., S. 421) ohne sich ihm anzuschließen (ebd., S. 432ff.)! Gesch. d. Dt. Dtg., 5/449 da er der „Höherstrebende" sei (H. Widhammer, Real. u. klassiz. Trad., S. 97) so bei Gervinus, Gesch. d. Dt. Dtg., 5/407 ebd., 5/475 7/510, 774, vgl. 8/19
Goethe als Mensch, Goethe als Künstler
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sei „ein berüchtigtes ,und': sie sagen ,Goethe und Schiller', — ich fürchte sie sagen ,Schiller und Goethe' " 195 . Nicht nur, daß er Goethe damit abrückt von Schillers „gläsernem und glitzerndem Idealismus edler allgemeiner Worte" (9/410 f.), er dreht die zeitgenössische Wertung in ihr Gegenteil um: Goethe stehe im Gegensatz zu Schiller über den Deutschen, sein Genie sei mit dessen bloßem Talent gar nicht zu vergleichen — was sich interessanterweise daran zeige, daß Schiller gar „nicht im Stande gewesen [wäre], so etwas Schlechtes wie die ,Aufgeregten' zu machen" 196 ! Und während er somit Goethes Person auf Kosten seines Werkes lobt, grenzt Nietzsche ihn gleichermaßen gegen Schiller wie gegen eine prinzipiellere Vereinnahmung als „typischen" Deutschen ab: In seinem Band zur „Geschichtlichkeit der deutschen Klassik" führt W. Müller-Seidel aus, der Kult, den das 19. Jahrhundert jener Epoche angedeihen läßt, mündet ab 1870 in eine regelrechte — nationalkonservativ ausgerichtete — Ideologisierung (S. 6 ff.); die verdünnende Vereinnahmung der Person Goethes im speziellen führt dazu, in ihm nicht allein den Kulminationspunkt, sondern ein „getreues Abbild im Kleinen von dem [gesamten!] Entwicklungsgange unserer vaterländischen Dichtung" sehen zu wollen (A. Koberstein 197 ). Sein Werk wird damit zur normativen Instanz — besonders augenfällig im Bereich der Lyrik, deren Beurteilung sich jahrzehntelang nicht vom Kriterium des „Erlebnisgehalts" zu lösen weiß; sein Bild betrachtet man nicht nur als dasjenige des größten deutschen Dichters, sondern bald als dasjenige des deutschen Dichters, im Fortlauf der Entstellung schließlich als das des Deutschen schlechthin: als „eine unmittelbare Stimme der Volksseele" (V. Hehn 198 ). Insbesondere die Faust-Legende, also die Ideologisierung einer literarischen Figur, wirkt dabei auf ihren (so ganz anders gearteten) Urheber zurück. Während Nietzsches äußerst kritische und ambivalente Interpretation jener Tragödie der Legende vom „Faustischen" differenziert entgegenarbeitet — s. u. —, hebt er die Vereinnahmung der Person Goethes durch zwei einfache Umkehrungen der herrschenden Meinung auf: Erstens sei dessen 195
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6/121 f.: Zu diesen Deutschen gehört nicht bloß ein R. Gottschall, dessen Literaturgeschichte fast ausschließlich die letztgenannte Wendung benutzt — im Gegensatz zu J. Schmidts „Gesch. d. dt. Lit. ...", die Goethe immer vor Schiller stellt —, sondern sogar Nietzsche selbst: S. dessen Formulierungen in 1/131, 730, 7/510, 8/297, aber auch den Brief vom 10. 4. 1888 an G. Brandes, K G B 8/288. — Nietzsches ursprüngliche Präferenz, sein „Instinkt", scheint sich auf solche kaum merkliche Weise gegen sein bewußtes Wollen zu empören bzw. ... s. „Der frühe Nietzsche ...", S. 67. 2/156 in Verbindung mit dessen Vorstufe 14/135; vgl. 9/607 Grundriss d. Gesch. d. dt. Nat.litt., 4/98; vgl. J. Schmidt, der in Goethe den „Zauberspiegel [...] der ganzen Zeit" sieht (Gesch. d. Dt. Lit. ..., 1/33 f., 88); ähnlich E. Hoefer, Deutsche Literaturgeschichte für Frauen und Jungfrauen, S. 114 Ged. über Goethe, S. 1; inkonsequenterweise wird Goethe im weiteren Verlauf des Buches (S. 193 f.) ähnlich radikal von der (deutschen) Masse isoliert wie in Nietzsches Interpretation.
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Trennung von Person und Werk
titanisches „Olympier-thum", wie es das 19. Jahrhundert in ihm bewundere, ein bloß „angebliches" 199 , d. h. ein in ihn hineininterpretiertes; nicht einmal Goethe sei ein „Findender", sondern ein „Suchender" gewesen wie Klassiker generell 200 . Den „Goethe-Cultus", Kernstück einer verlogenen und unechten Bildung (14/172), enttarnt er entsprechend als „zweckbewußt" (2/449), d. h. dem eigenen nationalen Selbstverständnis dienlich. Zweitens sei Goethe nicht Mittel- und Höhepunkt allen Deutschtums, sondern in deren Geschichte „ein Zwischenfall ohne Folgen" (2/607), ein großer „Einsiedler" mit „eigener Cultur" 201 , dessen „vornehme Isoliertheit" ihn fast als Franzosen erscheinen ließe 202 : Die zeitgenössische Stilisierung wird durch eine unzeitgemäße ersetzt; auch diejenige Nietzsches geht dabei (z. T. willentlich) an den faktischen Gegebenheiten vorbei. Indem er Goethe aus jeder historischen Bindung löst 203 , ja in Gegensatz stellt zu aller deutschen Kultur (11/688 f.), deklariert er ihn zum Sonderfall mit Sonderrechten 204 , zur „grossen Ausnahme" nicht nur unter den Deutschen 205 , nicht nur unter den Schriftstellern, sondern sogar „unter den grossen Künstlern" (2/482). Daß er ihn andererseits als „nichts Originelles" sehen will (12/340), steht dazu keinesfalls im Widerspruch: Die Ausnahme, die nichts Originelles darstellt, ist eben — ein empirisch sehr selten nachweisbarer Typus! Derjenige des Klassikers nämlich, an dessen Schwelle Goethe lokalisiert wird — bloß an dessen Schwelle, denn Goethe als Typus des „vielfachen Menschen" (12/404) ist ja noch nicht identisch mit demjenigen des „synthetischen Menschen" (ebd.), der „ganzesten Person" (12/427)! Und genau an jenem Punkt, an der (schwankend beantworteten) Frage, ob Goethe nun dieses sein (bzw. Nietzsches) Ideal bereits selbst eingelöst habe — die Selbstbändigung zum homo universalis — oder eben nicht, entzündet sich die Kritik: eine Kritik, die bereits im Ansatz den Rahmen zeitgenössischer Goethephilologie verläßt und die selbst als Kritik noch einer übergreifenden Idealisierungstendenz zugerechnet werden muß ...
m 200 201 202 203
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12/127, s. auch S. 404 1/167; s. dazu „Der frühe Nietzsche ...", Kap. III.l. 11/688, vgl. S. 548 11/60, 539; vgl. 2/184 3/163, 7/266: Goethe sei seinen Zeitgenossen um einige Generationen (2/224), ja um ganze Jahrhunderte (8/439) voraus gewesen, was Nietzsche z. T. — nämlich aus der Warte des großen einzelnen — als tragisch (2/147), z. T. — aus der Warte des Massenmenschen — als fast verantwortungslos (2/157) wertet. — Doch selbst zu späteren Zeiten sei Goethe niemals verstanden worden. (12/375) Was Goethe sagen „durfte", sei dem französischen Philosophen J. M. Guyau noch lange nicht erlaubt (11/525): Schichtspezifik auch innerhalb der „Schicht" der Gebildeten, der Denker und Künstler! 11/567, vgl. 3/460
Goethe als Mensch, Goethe als Künstler
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b) Idealisierung Goethes zum Typus ... und nicht etwa, wie es E. Heller tut, als „Strategie der Verzweiflung" 206 aufgefaßt werden sollte. Das gilt eher schon für diejenige in R. Koenigs Literaturgeschichte, die vor dem Hintergrund einer affirmativ-verehrenden Geisteswissenschaft merkwürdig absticht 207 . Während einige Vertreter derselben vor dem „größten Genius unserer Neuzeit" regelrecht in die Knie gehen 208 , prangern andere nämlich allenfalls dessen individualistischen Egoismus als „schönste Selbstbefriedigung" an 209 —, ein weiteres außerästhetisches Bewertungskriterium kündigt sich an: die demokratische Gesinnung, bis zur „sozialgeschichtlichen" Literarhistorie unseres Jahrhunderts an Gewicht gewinnend, zur Floskel („gesellschaftliche Relevanz" o. ä.) ebenso gerinnend wie einst „Humor", „Sittlichkeit" usw. Nietzsche greift den Vorwurf der tatenlosen Beschaulichkeit in seiner früheren Auseinandersetzung mit dem Goetheschen Menschenbild auf, um ihn noch zu radikalisieren 210 ; allerdings wäre ein Egoismus der Tat — sprich: der Stärke — für ihn natürlich alles andere als Anlaß zur Kritik. Im Falle Goethes ist es jedoch der Vorwurf der Schwäche, der sämtlichen (wenn auch auffallig dezent artikulierten) Vorhaltungen implizit zugrunde liegt. Seine Vorliebe fürs Heroische läßt ihn ja zunächst Autoren favorisieren, die zu Goethes Natur nahezu antipodisch empfunden werden müssen: Schopenhauer, Schiller, Byron ... Noch in späten Aufzählungen „geliebter" Schriftsteller (z. B. 6/286 f.) fehlt der Name Goethes; dessen Verehrung ist ein sekundäres Phänomen, gewollt inszeniert, und geht auf kein zentrales, rauschhaftes Leseerlebnis zurück (E. Bertram 211 ): „Goethe ist der letzte Deutsche, vor dem ich Ehrfurcht habe" (6/153) — nicht etwa: für den ich Liebe oder gar Leidenschaft empfinde. Nietzsche blickt hier stets zu einem Kulturideal auf und führt selbst seine punktuellen Angriffe auf dasselbe von unten 212 . 206 Nietzsche und Goethe, S. 64 durch ihre vielfältige Kritik, Dt. Lit.gesch., 2/12 ff. 208 A. F. C. Vilmar, Litt.gesch., S. 395; vgl. E. Hoefer, Dt. Lit.gesch. f. Frauen ..., S. 115; noch Hofmannsthals „Prolog zu einer nachträglichen Gedächtnisfeier für Goethe am Burgtheater zu Wien, den 8. Oktober 1899" liegt ganz auf der traditionellen Linie kritiklos-ungebrochener Verehrung (Gesammelte Werke, Bd. 2159, S. 76 ff.). 209 R. Gottschall, D. dt. Nat.litt. ..., 1/144; s. dazu H. Widhammer, Real. u. klassiz. Trad., S. 99 u. a. 210 1/369 ff.: Daß er dabei den „Faust" als direkte Verkörperung von Goethes Menschenbild liest (H. E. Gerber, Nietzsche und Goethe, S. 20), zeigt auch sein Verhaftetsein in biographistischen Interpretationsmustern — obwohl er diese ja theoretisch bereits durchschaut und bekämpft (s. Kap. IV.l.), in der „Genealogie der Moral" sogar explizit im Hinblick auf das Verhältnis Goethes zu Faust (6/341, 344). 211 Nietzsches Goethebild, S. 251 f. 212 s. dazu 2/465 und Hofmannsthals Bemerkung: „Gelten lassen ist schwerer, als sich begeistern." (Buch der Freunde; Gesammelte Werke, Bd. 2168, S. 237) 207
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Trennung von Person und Werk
So kommt es, daß sein Goethebild konstant erscheint, z. B. einem W. Kaufmann oder H. E. Gerber 2 1 3 , daß es zumindest bruchlos Jahr für Jahr ins Positivere, Mächtigere, Vorbildliche hinaufwächst, dessen verklärende Gesamtschau von vielfacher Einzelkritik kaum relativiert wird 2 1 4 . — Welche Punkte sind es nun eigentlich, die Nietzsche trotz allem an Goethe bemängelt? 215 Zu nennen wären zunächst einmal Neid 2 1 6 und Eitelkeit 217 , desgleichen seine „vorwissenschaftliche" Naturbetrachtung 218 . Allerdings lassen sich derartige Vorwürfe mit Nietzsche selbst entkräften: Die monierten Charaktereigenschaften sind ja lediglich auf den ersten Blick negativer Art, im Sinne eines permanenten Agons wirkt gerade der Neid als unabdingbares Movens der Höherentwicklung — und eine der „Vermischten Meinungen und Sprüche" thematisiert den Zusammenhang auch indirekt 219 . Die Kritik an Goethes pantheistischer Naturauffassung andererseits weist zwar als solche kein Doppelgesicht auf, eine derartige Denkweise aber — so gibt Nietzsche andernorts selber zu — führe zu einer „Vergöttlichung des Alls und des Lebens", zu einem „fast freudigen und vertrauenden Fatalismus" (12/443), der dem eigenen Ideal des A m o r fati recht nahe kommt. Und schließlich: „Ohne die Umschweife des Irrthums wäre er nicht Goethe geworden" (2/483) ... Es bleibt der zuvor genannte Vorwurf, der sich von den „Unzeitgemässen Betrachtungen" bis zu den Überlegungen der letzten Jahre hält: derjenige der Schwäche. Natürlich ist er relativ zu verstehen, verglichen mit allen anderen deutschen Autoren
2,3
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W. Kaufmann, Nietzsche, S. 181; H. E. Gerber, Nietzsche und Goethe, S. 111; Gerber meint sogar, im Gegensatz zu allen anderen Geistesgrößen stehe allein Goethe für Nietzsche „unantastbar" da (ebd.). E. Bertram, Nietzsches Goethebild, S. 280 und zwar nicht erst, wie F. Kraus glauben machen möchte, in seiner zweiten (und dritten) Schaffensphase (Auf dem Wege zum Übermenschen, S. 152); auch Nietzsches Goethebild zeigt von Anfang an Licht und Schatten — im Gegenteil: zeigt ursprünglich mehr Schatten als in späteren Jahren. 2/52; Nietzsche trägt seine Kritik bezeichnenderweise indirekt vor: Indem er Goethes Maxime Nr. 45 (Ged.ausg., 9/503) ohne Quellenangabe zitiert, erspart er sich den öffentlichen Angriff auf deren Verfasser. 2/151: Wenn Goethe hier als „der Neidlose" bezeichnet ist, so wird der soeben vorgetragene Angriff gebremst durch eine unauffällige Apposition. Allerdings ist dieser ein relativierendes „ansonsten" hinzu- und dazwischenzudenken. Vgl. 8/553, 569, 11/551. 3/171, vgl. 2/482: Nietzsche spielt auf Goethes „Farbenlehre" an, wie aus einer Vorstufe (14/ 177 f.) des betreffenden Aphorismus (2/482) hervorgeht. — Ähnlich 3/359 in Verbindung mit 14/154; vgl. auch 9/109. — Die polemische Frage „ .Gemäss der Natur' wollt ihr leben?", wie sie in „Jenseits von Gut und Böse" mit dem Vorwurf einer darin schon enthaltenen Selbstbetrügerei der Philosophen beantwortet wird (5/21 f.), richtet sich auch gegen Goethe (14/349)! In allen Fällen verzichtet Nietzsche charakteristischerweise in der endgültigen Fassung auf die entsprechende Namensnennung. 2/521; „lieber eitel als häßlich" (D. Brenig) — diese Maxime liegt nicht nur dem griechischen Denken zugrunde.
Goethe als Mensch, Goethe als Künstler
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empfindet Nietzsche Goethe als den größten und als (beinahe) klassisch — ein Attribut, das notwendigerweise immer Stärke beinhaltet. Jedoch gemessen an eigenen Idealvorstellungen erscheint er immer wieder als zu konziliant220, zu nachgiebig (gegen sich selbst) und „frauenhaft"221, um seine innere Widersprüchlichkeit222 — als Vielseitigkeit freilich unabdingbare Voraussetzung der Größe — (restlos) zu bändigen. Wie gesagt, die Person Goethes repräsentiere „nur" den Typus des „vielfachen Menschen", nicht bereits den des „synthetischen"223 —, um dorthin zu kommen, müsse ersterer noch verstärkt (!) werden (12/403). — Alle weiteren Vorwürfe sind mit diesem einen verwandt: Daß Goethe das Leben bloß anschauen wolle (anstatt es durch Taten zu verändern, 1/369 ff.), seine Feigheit (H. E. Gerber224), sprich: selbstgesetzte Distanz zu allem Tragischen/Dämonischen225 und zu jeder letzten Erkenntnis (E. Bertram226) — das empört Nietzsche stets aufs neue, in dessen „ungeheurer Leidenschaft und Höhe" ein Goethe nicht „zu athmen wissen würde" (6/ 343). Dabei ist letzterem hier etwas vorgeworfen, das andernorts als einer seiner größten Vorzüge begriffen wird: Selbstbändigung und -ruhigstellung („Entsagung"). — Allerdings liegt selbst jenem „Widerspruch" das wohlbekannte Denkmuster zugrunde: Das Prinzip sei das richtige, nur das Quantum Kraft, aus dem es sich nähre, sei eben zu gering. Unverkennbar will sich Nietzsche hier auf Kosten seines Ideals als der noch höhere Typus profilieren; sein Kampf gegen den „Freund" findet aus Gründen der (Über-) Steigerung desselben statt und geht an historischen Gegebenheiten, auch den eigenen, bewußt vorbei. Eine heimliche Leidenschaft durchzieht somit sogar sein Goethebild, denn gerade die dialektische Bewertung ein und desselben Sachverhaltes — hier: der menschlichen, bei Wagner und Heine: der künstlerischen Vollendung — deutet auf ein persönliches Engagement beim Hinterfragungsund Umwertungsgeschäft hin. Wie bereits angedeutet (S. 229 f.), beginnt die Idealisierung Goethes also genau im Punkte der tiefsten Ablehnung: hinsichtlich seiner synthetischen 220 221
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8/513, 5 1 5 7/607: Nietzsche ordnet Goethe also dem „Feminismus" indirekt zu (s. dazu Kap. III.2.) —, wie v o r ihm bereits Schiller (nach E. Staiger: Einführung. — In: Goethe, Ged.ausg., 1/729)! Diese erkennt bereits G. G. Gervinus (an): Gesch. d. Dt. Dtg., 4/459 12/404, vgl. S. 463, 520, 7/686: „Von da [Goethes Selbstvollendung] bis zur Einfachheit und Grösse ist freilich noch ein grosser Schritt"! Nietzsche und Goethe, S. 44 Vgl. Nietzsches Definition des Begriffs — „dämonisch heisst hier [!] zum Trotz gegen Vortheil und Leben, zu Gunsten eines Gedankens und Triebes" (3/201, s. auch S. 207, 209) — mit demjenigen Goethes in „Dichtung und Wahrheit" (Gedenkausgabe, 10/840 ff.) bzw. seinen „Gesprächen mit Eckermann" (a. a. O., 24/469, 472 u. a.), zwei Werken, die Nietzsche sehr gut kannte! Eventuell wurde in jenem Punkt auch ein Lektüreeindruck des „Egmont" verarbeitet? Nietzsches Goethebild, S. 277; vgl. ders., Nietzsche, S. 196; das Untragische an Goethe tadelt natürlich nur der junge Nietzsche. (8/513, 515)
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Trennung von Person und Werk
Tendenz. Wird der restlose Erfolg seines Bestrebens nach Totalität und Harmonie (12/444) — aus taktischen Gründen — auch geleugnet, das Bestreben an sich 227 hebe ihn jedoch schon von (fast) allen neuzeitlichen Menschen als die große, die gesunde 228 Ausnahme ab 229 . Im Verhältnis anderen gelte sein „Ideal der harmonischen All-Entwicklung" 230 als eingelöst — ebenso wie ihm eine verhältnismäßige Kraft zuzubilligen sei: Natürlichkeit und Toleranz seines Wesens seien immerhin solche der Stärke 231 ; das „Quantum Macht und Fülle" des Willens, nach dem Nietzsche alle Menschen abschätzt (12/524), veranschlagt er hier letztendlich doch so hoch, daß er Goethe bisweilen auf dem Wege zum Renaissance-Menschen 232 , bisweilen sogar als „moderne Verkörperung der griechischen ,Cultur'" (W. Kaufmann 233 ) empfindet. — An zwei seiner Ideale läßt sich jenes „erlösende und bindende Element Goethe" (13/451) bis ins Detail verfolgen: an dem mehrfach vorgetragenen der Freiheit als einer solchen „unter dem [selbstauferlegten] Gesetz" 234 , die von einer Sentenz Albas im „Egmont" angeregt zu sein scheint 235 , und an dem der Aneignung, in dem sich die „Härte des Schaffenden, der an sich selbst arbeitet" (W. Kaufmann 236 ), das Streben eines „grossen Lerners" 237 nach 227 228
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6/151, s. auch 14/255 f. Auch Benn sieht Goethe als große Ausnahme unter ansonsten kranken Künstlern. (Lebensweg eines Intellektualisten, in: Gesammelte Werke, 4/52) „fast": Denn auch nach der Entfremdung gilt ihm Wagner als „bei weitem der vollste Mensch, den ich kennen lernte" (22. 2. 1883 an F. Overbeck, K G B 6/337), Kleist als der „vollste Dramatiker" (7/211) ..., und stets ist es Napoleon, der das synthetische Menschenideal in Nietzsches Augen tatsächlich eingelöst hat (so auch in 12/444). 8./24. 8. 1882 an L. v. Salomé, K G B 6/243: Nietzsche stellt Goethe hier als Gegensatz des „heroischen Ideals" dar, dem er sich sehr wohl instinktiv verpflichtet weiß. Die gewollte Orientierung an Goethe, so läßt sich aus der Tautenburger Aphorismenkette herauslesen, dokumentiert somit nicht mehr als den „guten Willen zur Selbst-Erhaltung" (ebd.)! 6/151; vgl. 12/444, wo Goethe als „für die deutsche starke Art charakteristisch" eingeschätzt wird 6/151, 12/443 f.; wie bereits erwähnt, findet diese Deutung ihr Pendant in einer späteren literaturwissenschaftlichen Untersuchung: W. Flitner stellt Goethes Denkweise in direkte „Nachfolge der Renaissancephilosophie". (Goethe im Spätwerk, S. 415) Nietzsche, S. 181; eine Analogie sehen z. B. 6/483, 13/447 oder der Brief vom 7. 3. 1883 an H. Köselitz, K G B 6/341. H. Spencer betont, eine solche Sicht Goethes „as the prototype of the Hellene" sei Nietzsche mit Heine gemeinsam. (Heine und Nietzsche, S. 144) 13/497; eine derartige Freiheit wird andernorts direkt als Paraphrase des Apollinischen verwandt (13/224)! S. auch 3/521 und 6/140: „Den höchsten Typus freier Menschen hätte man dort zu suchen, wo beständig der höchste Widerstand [lies: eine auseinanderstrebende Vielheit] überwunden [lies: in eins gebunden] wird: fünf Schritt weit von der [Selbst-]Tyrannei." — Daß die an Goethe angelehnte Freiheitsdefinition auf die Deutung desselben zurückwirkt, legt K. Löwith nahe. (Von Hegel zu Nietzsche, S. 196) „Was ist des Freisten Freiheit? — Recht zu tun" (Ged.ausg., 6/74) Nietzsche, S. 181; Nietzsche selbst definiert einmal den Aneignungstrieb als Wohlwollen der Stärke (3/476). 3/309; bewußtes Aneignen wird von Nietzsche als „Grösse des Geistes" gesehen (2/324), unbewußtes Aneignen als Prinzip des Lebens generell (5/207).
Goethe als Mensch, Goethe als Künstler
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Weiterbildung und -entwicklung dokumentiere. Beide Logoi sind Teil einer Umwertung von Stärke, wie sie bereits Stifters Vorrede der „Bunten Steine" vorträgt; indessen wird das „sanfte Gesetz" der (Selbst-)Bändigung von Nietzsche bemerkenswerterweise niemals an Stifter selbst exemplifiziert ... ... Maß und Mitte sind ja als Schlüsselworte seines Goethebildes bereits „besetzt" — zu Leitbegriffen einer realistischen Lebensanschauung erkoren, tauchen sie übrigens in gleicher Weise bei den Zeitgenossen auf 238 : Als „Temperieren und Verklären des Einzelnen durch die zusammengefaßte Kraft eines harmonisch gebildeten Geistes", als „heitere Ruhe" und „klarer Frieden" — wie sie ein Artikel des „Grenzboten" umschreibt — geben sie sogar wesentliche ästhetische Kriterien des programmatischen Realismus ab239! Doch wie so oft, ist auch hier die Parallele rein oberflächlicher Natur — und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Wenn Nietzsche sich nach einem derartigen Menschen wie nach einer entsprechend „nachsommerlichen" Literatur sehnt, so doch nur als nach einer apollinischen Oberfläche dionysischer Abgründe! Wie bereits dargestellt240, ist die Kategorie des Apollinischen an Goethe zumindest angelehnt, wenn nicht wesentlich an ihm orientiert —, selbst das dionysische Element wird ja hineinprojiziert in seine Person (6/152)! So wird sie, sehr spät zwar erst, implizit zur Verkörperung des Tragischen erklärt241 — nämlich seiner %wei Seiten, die für Nietzsche unabdingbar miteinander verknüpft sein müssen. Vergleichbar dem „Begriffsdom" der Sprache auf den ewigen Fluß des Werdens (1/882) liegt ihm die scheinbar so friedlichfrohe Statik (2/353) und Stabilität Goethes als bloß dünne — aber eben unabdingbare! — Oberfläche einer „dionysischen" Bewegung der Tiefe auf; dessen „Kunststück" bestehe ja gerade darin, nicht ^u genau in jene Abgründe zu blicken, das Leben in seiner Oberflächenstruktur zu idealisieren (2/229). Auch mit einer solcherart erzwungenen Ruhe (12/443) wird dem Werden der Stempel des Seins aufgedrückt, offenbart sich also das scheinbar bloß kraftlose Beschauen der Welt242 als „höchster Wille zur Macht" (12/312): „Ein Goethischer Blick voll Liebe und gutem Willen" 243 — das ist Nietzsches Ideal
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H. Widhammer, Real. u. klassiz. Trad., S. 82; Benn glaubt seltsamerweise, Nietzsche habe „den Menschen mit dem .Verlust der Mitte'" „inauguriert". (Nietzsche — nach fünfzig Jahren, in: Gesammelte Werke, 1/492) H. Widhammer, a.a.O., S. 8 Der frühe Nietzsche ..., S. 106 W. Kaufmann will bereits in Nietzsches spätem Begriff des Dionysischen eine Vereinigung des in der „Geburt der Tragödie" entworfenen Apollinischen mit dem Dionysischen erkennen (Nietzsche, S. 329). Auch daß Nietzsche seinen ursprünglichen Begriff des Dionysischen nur aufgrund einer Äußerung Goethes umgedacht haben soll (ebd., S. 181), halte ich für fragwürdig. 1/370, 2/352 12/440, vgl. 2/449
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Trennung von Person und Werk
spätestens ab seinem Selbsterlösungserlebnis im „Sanctus Januarius" 244 , Goethes „wirkliche Überwindung des Pessimismus" (13/200) in einem freudigen und vertrauenden Fatalismus (12/443) wird für sein eignes Ja-Sagen- Wollen vorbildhaft ... Dagegen sind die anderen Aspekte der Stilisierung Goethes beinahe vernachlässigbar, sowohl Kosmopolitismus, Heidentum und Sinnlichkeit als auch seine Diesseitigkeit 245 , anti-romantischer Realismus und evolutionäres Denken 246 fließen in jenem Bild des synthetisierenden (nicht: synthetisierten) Menschen zusammen zu einem Ganzheitskonzept 247 , einem „Ideal, in dem alle menschlichen Tüchtigkeiten sich vereinen" (9/153). Daß die dialektische Deutung desselben eher die eine, die apollinische Seite betont, darf nicht über diesen Tatbestand hinwegtäuschen — einen Tatbestand, der angesichts des zeitgenössisch „naiven" bzw. rein-apollinischen Goethebildes eine eminente Umwertung birgt 248 . Wie E. Hellers Essay über „Nietzsche und Goethe" da zu dem Schluß kommen kann, die Würdigungen des letzteren durch ersteren hätten „den Beigeschmack des Gemeinplatzes" (S. 47), muß hier offen bleiben, d. h. ebenso fragwürdig wie H. Akiyamas simplifizierende Behauptung, Nietzsche sei eben „trotz seines revolutionären Charakters im Grunde doch ein Bewahrer der klassischen Tradition" 249 : Beide Interpreten reduzieren einen dialektischen Denker nach genau dem Muster, wie es die klassizistisch-oberflächliche Goethe-Deutung — die zu hinter-, eigentlich: unter-fragen akkurat Nietzsches Verdienst ist — vorexerziert hat. Allein an jenem Punkt kippt die Idealisierung Goethes in eine mehr oder weniger bewußte Verfälschung um. Zwar ist die dialektische Ergänzung der üblicherweise rein apollinischen Deutung aus Nietzsches Blickwinkel zwingend, aus demjenigen des wissenschaftlichen Interpreten ist sie zumindest problematisch. H. E. Gerber stellt sogar lapidar fest, eine derartige Verehrung 244 245 24296 f., 299, 301, 312, 318, 3 3 3 - 3 3 6 , 338, 341, 3 4 7 - 3 5 2 , 3 5 7 - 3 7 8 , 385, 389 f., 403 f., 406, 410, 421 f., (437), 438 Schirnding, Albert von 24, 33, 76, 111, 438 Schirnhofer, Resa von 136, 138, 226 Schlechta, Karl 1, 24, 40, 431 Schlegel, August Wilhelm von 5, 241, 331, 411 Schlegel, Caroline von 329 Schlegel, Friedrich von 159, 174, 233, 241, 277, 329, 331, 411 Schlemmer, Oskar 81, 433 Schlüpmann, Heide 438 Schmeitzner, Ernst 86, 107, 109, 138, 246, 272, 331, 394 Schmid, Wilhelm 71, 162, 438 Schmidt, Arno 56, 430, 438 Schmidt, Jochen 434 Schmidt, Julian 9 f., 193 f., 221, 227, 2 3 4 - 2 3 7 , 239, 245, 253, 259, 267 f., 277 f., 280 f., 289f., 293, 297, 312 f., 316 f., 321 f., 3 2 4 - 3 2 6 , 3 3 2 - 3 3 5 , 342, 366, 369, 384f., 3 8 8 - 3 9 0 , 392, 396, 402f., 4 1 2 - 4 1 5 , 438 Schmidt, Wilhelm 162, 438 Schnitzler, Arthur 62, 67, 166, 438 Schnitzler, Heinrich 438 Schoeller, Bernd 434 Schönert, Jörg 435 Schopenhauer, Arthur 15, 37, 39, 52f., 84, 99, 133, 140, 144 f., 152, 156, 163, 180f., 190, 204 f., 212, 219, 229, 234, (247), 249, 271, 274, 299, 309f., 323, 340, 374f., 405, 420 Schultz, Franz 233, 436 Schulz, Walter 342
Schumann, Robert 243, 276, 292 Schumann, Thomas B. 432 Schuré, Edouard 145 Schwerte, Hans 106, 123, 3 1 9 - 3 2 2 , 325, 327, 438 Schwinger, Reinhold 378, 382, 438 Seelig, Carl 104 Sembdner, Helmut 163, 435 Semper, Gottfried 200 Seneca, Lucias Annaeus 174, 344 Sengle, Friedrich 39, 331, 438 Serner, Walter 19, 61, 71, 106, 128 f., 178, 359, 383, 438 Seume, Johann Gottfried 5 Seydlitz, Irene von 18, 51, 217, 319, 397, 399 Seydlitz, Reinhard von 18, 51, 89, 197, 217, 397-399 Shakespeare, William 181, 204, 214, 260 Shelley, Percy Bysshe 438 Simon, Frl. 149 Sloterdijk, Peter 47, 70, 76, 101, 103 f., 123, 206, 341 f., 433, 438 Sokrates 35, 42, 148, 208, 367 Sommer, Cornelius 432 Sommer, Fred 432 Spaemann, Robert 20, 32, 42, 62, 132, 142f., 152, 438 Spencer, Hanna 223, 288 f., 302, 305, 438 Spengler, Oswald 106 Spinoza, Baruch de 46, 132, 175, 177, 219, 276 Spitteier, Carl 5, 87, 92 Staiger, Emil 301 Starkulla, Heinz 146 Stein, Charlotte von 281 Stein, Heinrich von 83, 88, 109, 183, 319 Steinmetz, Horst 210, 439 Stendhal 85, 156, 182, 345, 375, 381, 437, 439 Stephan, Alexander 439 Stern, Adolf 246 f., 267, 368, 385, 439 Stern, Guy 146, 158, 197 f., 439 Sterne, Laurence 18, 23, 59, 63, 70, 140, 155, 178, 274, 290, 294, 339, 381 f., 439 Stifter, Adalbert 7, 33, 40, 93, 95, 123, 127, 144, 157, 169, 1 7 9 - 1 8 1 , 186, 189, 192, 210, 277, 303, 309 f., 314, 341, 357, 365, 387, 397, 427, 432 Störing, Hans Joachim 36, 39, 439 Strauß, Botho 103, 439 Strauß, David Friedrich 44, 107, 214 Strich, Fritz 205 Strindberg, August 12, 226, 358 Swinburne, Algemon Charles 353 Taine, Hippolyte 155 f., 175, 260 Talleyrand, Charles Maurice de 126
MONOGRAPHIEN UND TEXTE ZUR NIETZSCHE-FORSCHUNG RICHARD FRANK KRÜMMEL
Nietzsche und der deutsche Geist I Ausbreitung und Wirkung des Nietzeschen Werkes im deutschen Sprachraum bis zum Todesjahr des Philosophen. Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1867 bis 1900 Groß-Oktav. XX, 290 Seiten. 1974. Ganzleinen DM 1 4 6 , - ISBN 3 11 004019 0 (Band 3)
Nietzsche und der deutsche Geist II Ausbreitung und Wirkung des Nietzeschen Werkes im deutschen Sprachraum vom Todesjahr bis zum Ende des Weltkrieges. Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1901 bis 1918 Groß-Oktav. XXX, 688 Seiten. 1983. Ganzleinen DM 2 6 4 , - ISBN 3 11 008867 3 (Band 9)
GEORGE J. STACK
Lange and Nietzsche Large-octavo. VIII, 341 pages. 1983. Cloth DM 1 3 2 , - ISBN 3 11 008866 5 (Volume 10)
URSULA SCHNEIDER
Grundzüge einer Philosophie des Glücks bei Nietzsche Groß-Oktav. XII, 180 Seiten. 1983. Ganzleinen DM 8 2 , - ISBN 3 11 008737 5 (Band 11)
HEINZ RASCHEL
Das Nietzsche-Bild im George-Kreis Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mythologeme Groß-Oktav. XII, 223 Seiten. 1983. Ganzleinen DM 9 8 , - ISBN 3 11 009702 8 (Band 12)
JÜRGEN KRAUSE
„Märtyrer" und „Prophet" Studien zum Nietzesche-Kult in der bildenden Kunst der Jahrhundertwende Groß-Oktav. XII, 291 Seiten und 24 Seiten Tafeln. 1984. Ganzleinen DM 1 3 8 , ISBN 3 11 009818 0 (Band 14) Preisänderungen vorbehalten
Walter de Gruyter
W G DE
Berlin • New York
MONOGRAPHIEN UND T E X T E ZUR NIETZSCHE-FORSCHUNG GÜNTER ABEL
Nietzsche Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr Groß-Oktav. XIV, 471 Seiten. 1984. Ganzleinen DM 1 2 4 , - ISBN 3 11 009727 3 (Band 15)
MIHAILO DJ URIC
Nietzsche und die Metaphysik Groß-Oktav. VIII, 326 Seiten. 1985. Ganzleinen DM 1 5 4 , - ISBN 3 11 010169 6 (Band 16)
HENNING OTTMANN
Philosophie und Politik bei Nietzsche Groß-Oktav. XII, 418 Seiten. 1987. Ganzleinen DM 1 5 0 , - ISBN 3 11 010061 4 (Band 17)
KURT BRAATZ
Friedrich Nietzsche Eine Studie zur Theorie der öffentlichen Meinung Groß-Oktav. X , 308 Seiten. 1988. Ganzleinen DM 1 2 4 , - ISBN 3 11 011337 6 (Band 18)
CLAUDIA CRAWFORD
The Beginnings of Nietzsche's Theory of Language Large-octavo. XXIV, 412 pages. 1988. Cloth DM 1 5 4 , - ISBN 3 11 011336 8 (Volume 19)
THOMAS BONING
Metaphysik, Kunst und Sprache beim frühen Nietzsche Groß-Oktav. XIV, 518 Seiten. 1988. Ganzleinen DM 2 3 8 , - ISBN 3 11 011463 1 (Band 20)
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Berlin • New York