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German Pages 599 Year 2010
I De Gruyter Lexikon Ulrich von Liechtenstein
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Ulrich von Liechtenstein Leben – Zeit – Werk – Forschung
Herausgegeben von
Sandra Linden und Christopher Young
De Gruyter
ISBN 978-3-11-018485-3 e-ISBN 978-3-11-024109-9 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar © Copyright 2010 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin / New York Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Printed in Germany
L. Peter Johnson zum 80. Geburtstag
Vorwort
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Vorwort Der steiermärkische Ministeriale Ulrich von Liechtenstein zeigt im Frauendienst seinen Protagonisten in höchst varianten Rollen: Mal agiert das Ich als kindlicher Minnenarr, mal als versierter Lieddichter, Ulrich begegnet im Kostüm der Venus oder als König Artus, schließlich im Frauenbuch als richtende Autorität in Fragen des höfischen Verhaltens. Und so lädt der Autor dazu ein, sich auf diese Vielschichtigkeit einzulassen und sein Werk in einem literaturwissenschaftlichen Handbuch aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten, verschiedene Stimmen zu Wort kommen zu lassen und ein Panorama aktueller Forschungsfelder zusammenzustellen. Ein Handbuch erfüllt seine Funktion stets in der Vermittlung von Grundlagenwissen. Entsprechend hat sich dieser Band zum Ziel gesetzt, die Fäden der Ulrich-Forschung aufzunehmen und strukturiert zu bündeln. Darüber hinaus soll das Handbuch jedoch, ausgehend von einem systematischen Zugriff nach Forschungsfeldern, zur weiterführenden Beschäftigung mit Frauendienst und Frauenbuch anregen, nicht nur Antworten auf zentrale Forschungsfragen bieten, sondern ebenso neue Erkenntnisinteressen und Diskussionsfelder generieren. Dem Gedanken einer thematischen Differenzierung folgt auch die Dokumentation der bisherigen Forschung, statt eines allgemeinen Forschungsüberblicks zu Beginn des Handbuchs bietet jedes Kapitel einen Bericht der für das jeweilige Thema relevanten Forschungspositionen. Wir danken den Beiträgern für ihre Bereitschaft, sich auf dieses Projekt einzulassen, mit uns zu diskutieren und auf eine stets konstruktive und angenehme Weise zusammenzuarbeiten. Patricia Dufke und Simon Pender waren uns bei der Einrichtung des Bandes und der Zusammenstellung der Bibliographie eine große Hilfe, auch ihnen gilt unser Dank. Ein sehr herzliches Dankeschön sagen wir schließlich dem de GruyterVerlag, insbesondere Heiko Hartmann, für die Anregung zu dieser Unternehmung, die geduldige Begleitung über mehrere Jahre und die großartige verlegerische Betreuung bei der Fertigstellung des Bandes. In Ulrichs Perspektive kommt der Frauendienst niemals an ein Ende. Ganz konsequent gibt er in den letzten Strophen den Ball an sein Publi-
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Vorwort
kum ab, fordert die Rezipienten zur aktiven Teilnahme und zum Weiterschreiben auf: Wem ein neues Lied zu Ohren komme, der schribe ez dran. Diesem Wunsch schließen wir uns an. Cambridge / Tübingen im Herbst 2009 Die Herausgeber
Vorwort
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Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII I.
Ulrich von Liechtenstein in German Literary History The Don Quixote of the Steiermark von C HRISTOPHER Y OUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Biographisches und Historisches Eine Spurensuche zu Ulrich von Liechtenstein von S ANDRA L INDEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Österreichische Literatur um 1250 und Ulrichs Rezeption der Blütezeit von F RITZ P ETER K NAPP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Systematische Forschungsaspekte 1. Minne Ambivalenzen, Intertextualität, Satire von U RSULA L IEBERTZ -G RÜN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 2. Emotionalität Varianten und Valenzen des Fühlens zwischen Ich, Gesellschaft und Text von J UTTA E MING . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 3. Kommunikation und Medialität Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst als mediales Labor von K ARINA K ELLERMANN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 4. Gender Paradoxe Geschlechterkonstruktionen bei Ulrich von Liechtenstein von A NDREA S IEBER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
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Inhaltsverzeichnis
5. Fiktionalität Der Frauendienst zwischen Fiktivität und Fiktionalität: Probleme und Perspektiven der Forschung von M ARK C HINCA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 6. Autorschaft Die Kunst der Entschleierung: Autorinszenierungen im Frauendienst von C HRISTIANE A CKERMANN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 7. Narrativik Der Frauendienst als narrative Form von H ARTMUT B LEUMER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 8. Lyrik Typus und Variation im Minnesang des 13. Jahrhunderts von M ANUEL B RAUN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 9. Frauenbuch Erzähler und Erzählform in Ulrichs von Liechtenstein Frauenbuch oder: Ist das Frauenbuch eine Minnerede? von K ATHARINA P HILIPOWSKI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442 10. Überlieferung, Handschriften Ulrich von Liechtenstein im Buch von J ÜRGEN W OLF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 11. Neuzeitliche Rezeption Ulrich von Liechtenstein vom 17. bis zum 20. Jahrhundert von V OLKER M ERTENS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 V. Kommentierte Bibliographie zu Ulrich von Liechtenstein von S ANDRA L INDEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587
Ulrich von Liechtenstein in German Literary History
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I. Ulrich von Liechtenstein in German Literary History: The Don Quixote of the Steiermark by C HRISTOPHER Y OUNG
1. Ulrich and Germanistik in the nineteenth century In medieval German scholarship, Ulrich von Liechtenstein has been highly valued but hardly loved.1 Author of some 58 poems that live in the stylistic and thematic afterglow of the classical Minnesang period, he is most widely read for the first-person narrative in which these, uniquely for the German Middle Ages, are embedded. The Frauendienst, which weaves a story of Ulrich’s knightly adventures around the lyric has attracted sustained attention.2 Like, most recently, the Frauenbuch (the much shorter disputation on mores and love which completes Ulrich’s work), it has been mined for its relevance to wider disciplinary debates about truth and fiction, gender-relations, subjectivity, the body, and the social matrix of literature in the thirteenth century, monographs and articles by some of the subject’s leading practitioners over the last three decades attesting to its obvious importance.3 But this very obviousness undermines Ulrich’s literary standing. No-one would rank him with Hartmann, Wolfram, Gottfried, and the Nibelungen poet, or Walther, Morungen, and Neidhart – writers whose subtlety, craft and genius have survived over two hundred years of scholarship and continue to draw us back afresh. 1
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My sincere thanks to Lukas Werner whose preparatory work on identifying and locating literary histories proved invaluable; the archivists at the Deutsches Literatur Archiv Marbach for their excellent service; Mark Chinca for keeping me sane there when the library was closed; and Susanne Scharnowski and Ingrid Kasten for arranging an early outing for this article by way of a lecture at the FU Berlin. See complete bibliography at the end of this volume. For example: Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein; Müller, “Lachen – Spiel – Fiktion”; Kiening, “Der Autor als ‘Leibeigener’”.
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Yet it was not always thus. For if Ulrich von Liechtenstein is a B-list author today, he figured centrally in the foundation of German literary studies in the first half of the nineteenth century. Like the other contributions to this volume, which point the way to new perspectives in and for research, this essay does not seek to regain lost capital or inflate Ulrich’s currency beyond credibility. Ulrich is no Gottfried or Walther, but my point of departure is that he once was. Tracing Ulrich von Liechtenstein’s trajectory through two centuries of literary history will not catapult him back into the medieval A-list but, as well as establishing him as an historically significant subject, it will contribute to an understanding of the discipline and its genesis. Much of that story is known in general terms4 – but an archaeological approach to a single author tells us a great deal about the specific forces that operated within the discipline as it took shape. It will also enrich our knowledge of Ulrich particularly, uncovering the processes that placed him in a certain reputational orbit, and give some sense of the disciplinary hinterland that, in part at least, informs our judgement of his achievement. Ulrich’s story in the modern era has been sketchily told. There are good accounts of his treatment by lesser-known poets such as Johann Wilhelm Ludwig Gleim and Friedrich David Gräter,5 who were inspired to translate medieval lyrics into the language and discourse of the late 4
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For instance: Josef Dünninger. “Geschichte der deutschen Philologie.” In: Deutsche Philologie im Aufriß. Ed. Wolfgang Stammler. Vol. 1. Berlin 1952, pp. 79–214; Sigmund von Lempicki. Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. 2nd edn. Göttingen 1968; Eine Wissenschaft etabliert sich 1810–1870. Ed. Johannes Janota. Tübingen 1980; Uwe Meves. “Zur Einrichtung der ersten Professur fuer deutsche Sprache an der Berliner Universitaet (1810).” ZfdPh 104, 1985, pp. 161–184; Bernd Neumann. “Die verhinderte Wissenschaft. Zur Erforschung altdeutscher Sprache und Literatur in der ‘vorwissenschaftlichen’ Phase.” In: Mittelalter-Rezeption. Ein Symposion. Ed. Peter Wapnewski. Stuttgart 1986 (Germanistische-Symposien, Berichtsbände 6), pp. 105–118; Ulrich Wyss. “Mediävistik als Krisenerfahrung. Zur Literaturwissenschaft um 1930.” In: Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter. Ed. Gerd Althoff. Darmstadt 1992, pp. 127–146. Volker Mertens. “Bodmer und die Folgen.” In: Die Deutschen und ihr Mittelalter (n. 4), pp. 55–80; V. M. “ … zum Besten zweyer armen Mägdchen. Johann Wilhelm Ludwig Gleims Gedichte nach den Minnesängern und Walther von der Vogelweide.” In: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Produktion, Edition und Rezeption. Ed. Thomas Bein. Frankfurt a. M. 2002 (Walther-Studien 1), pp. 225–248; V. M. “Minnesangs zweiter Frühling. Von Bodmer zu Tieck.” In: wort und wîse, singen unde sagen. Festschrift für Ulrich Müller zum 65. Geburtstag. Ed. Ingrid Bennewitz. Göppingen 2007 (GAG 741), pp. 159–180. See also Mertens in this volume, pp. 517–519.
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eighteenth century after Bodmer’s literary revival of the Middle Ages earlier in the century.6 And the modernizing and abridged edition of the Frauendienst in 1812 by leading German Romantic, Ludwig Tieck, has kept him on the map for modernists.7 Yet with a rich and diverse life to recount, Tieck’s biographers pay (understandably) scant attention to Ulrich’s role in their subject’s development8 and he has fared little better with medievalists.9 The opening pages of the admirable Forschungsbericht that introduces Sandra Linden’s recent monograph briefly map Ulrich’s early fate: his prominent role in the Romantics’ reception of the Middle Ages, early lionization as an equal to Gottfried von Straßburg in Friedrich Bouterwek’s Geschichte der schoenen Wissenschaften, extensive treatment in Friedrich Heinrich von der Hagen’s Minnesinger: Geschichte der Dichter und ihrer Werke, and eventual fall from grace after Karl Lachmann’s Frauendienst edition witheringly cast him as an epigone.10 These are certainly important milestones in Ulrich’s journey through the nineteenth century, and they stand metonymically for some of the major vectors in medieval studies in the period: its popularization by a vibrant contemporary literary movement, its emergence as a university subject, its dialogue with national politics, the professionalization of its philological 6
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Christoph Schmid. Die Mittelalterrezeption des 18. Jahrhunderts zwischen Aufklärung und Romantik. Frankfurt a. M. et al. 1979 (Europäische Hochschulschriften I.278); Wolfgang Harms. “Das Interesse an mittelalterlicher deutscher Literatur zwischen der Reformationszeit und der Frühromantik.” In: Akten des VI. Internationalen Germanisten-Kongresses, vol. 1. Ed. Heinz Rupp and Hans-Gert Roloff. Bern 1981 (JIG Reihe A. Kongreßberichte 8.1), pp. 60–84; Johannes Janota. “Zur Rezeption mittelalterlicher Literatur zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert.” In: Das Weiterleben des Mittelalters in der deutschen Literatur. Ed. James F. Poag and Gerhild ScholzWilliams. Königstein/Ts. 1983, pp. 37–46; Felix Leibrock. Aufklärung und Mittelalter. Bodmer, Gottsched und die mittelalterliche deutsche Literatur. Frankfurt a. M. et al. 1988 (Mikrokosmos 23); Albert M. Debrunner. Das güldene schwäbische Alter. Johann Jakob Bodmer und das Mittelalter als Vorbildzeit im 18. Jahrhundert. Würzburg 1996. See also Mertens in this volume, p. 516 f. Uwe Meves. “Zu Ludwig Tiecks poetologischem Konzept bei der Erneuerung mittelhochdeutscher Dichtungen. In: Mittelalter-Rezeption I. Gesammelte Vorträge des Salzburger Symposions “Die Rezeption mittelalterlicher Dichter und ihrer Werke in Literatur, Bildender Kunst und Musik des 19. und 20. Jahrhunderts.” Ed. Jürgen Kühnel et al. Göppingen 1979 (GAG 286), pp. 107–126. Roger Paulin. Ludwig Tieck. A Literary Biography. Oxford 1985; Achim Hölter. Ludwig Tieck. Literaturgeschichte als Poesie. Heidelberg 1989. The exception is the dedicated study by Brinker-Gabler, Poetisch-wissenschaftliche Mittelalter-Rezeption. Linden, Kundschafter der Kommunikation, p. 13.
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base, and its central importance to the most innovative and productive genre of academic writing, literary history. A deeper understanding of the image of Ulrich von Liechtenstein that developed at this time, however, requires both a more exhaustive trawl for evidence and an appreciation of the forces producing it. Around 1800, as Ulrich Hunger observed, medieval German literature was subject to four complementary, overlapping and rival strands of study (of which three have already been mentioned): the literary-romantic, the public-orientated national-political, the cultural-historical, and the philological.11 Romantics such as Wackenroder, Brentano, Arnim, Tieck, A. W. Schlegel, Görres, and Uhland harmonized the political, artistic and architectural blossoming of the twelfth and thirteenth centuries into a vision that served “eine Gegenposition zur Aufklärung wie zu den politischen Verhältnissen der Gegenwart zu formulieren und ein nicht nur poetisches Ideal für die Zukunft aufzurichten”.12 Most closely related, but not identical to this, political activists, crystallized most notably around the figure of Friedrich Heinrich von der Hagen,13 called for a national education on the basis of medieval literature and gained rapid ground after the German defeats at Jena and Auerstedt of 1806 and the campaign against Napoleonic occupation 1813–1815. Aspiring to the status, and borrowing the techniques of the established discipline of Classics, Jacob Grimm’s Altertumswissenschaft placed the study of lan-
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Ulrich Hunger. “Romantische Germanistik und Textphilologie: Konzepte zur Erforschung mittelalterlicher Literatur zu Beginn des 19. Jahrhunderts.” Sonderheft zur DVjs 61, 1987, pp. 42–68. Ibid., p. 47. On the romantics and medieval literature see: Mittelalterrezeption: Texte zur Aufnahme altdeutscher Literatur in der Romantik. Ed. Gerard Kozielek. Tübingen 1977; Rüdiger Krohn. “Die Wirklichkeit der Legende: Widersprüchliches zur sogenannten Mittelalter-‘Begeisterung’ in der Romantik.” In: Mittelalter-Rezeption II. Gesammelte Vorträge des 2. Salzburger Symposions “Die Rezeption mittelalterlicher Dichter und ihrer Werke in Literatur, Bildender Kunst und Musik des 19. und 20. Jahrhunderts.” Ed. Jürgen Kühnel et al. Göppingen 1982 (GAG 358), pp. 1–29; Gisela BrinkerGabler. “Wissenschaftlich-poetische Mittelalterrezeption in der Romantik.” In: Romantik: Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch. Ed. Ernst Ribbat. Königstein/ Ts. 1979 (Athenäum Taschenbücher 2149), pp. 80–97; Edith Höltenschmidt. Die Mittelalter-Rezeption der Brüder Schlegel. Paderborn et al. 2000; Günter Niggl. “Die Anfänge der romantischen Literaturgeschichtsschreibung. Friedrich und August Wilhelm Schlegel.” In: G. N. Studien zur Literatur der Goethezeit. Berlin 2001 (Schriften zur Literaturwissenschaft 17), pp. 247–263. Eckhard Grunewald. Friedrich Heinrich von der Hagen 1780–1856. Berlin, New York 1988 (Studia Linguistica Germanica 23).
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guage within myriad codes and behaviours to produce a ‘Kulturgeschichte des Deutschen Volkes’. And equally parasitical on the classical model, Karl Lachmann privileged the linguistic study of texts, reconstructing their ‘original’ form with forensic precision and ‘objectifying’ the subject of philological endeavour. These four, of course, were ideal types in the Weberian sense: they drew more on each other than their clear distinction at first suggests, and their proponents could take up several positions at once: Tieck was meticulous in his consultation of variant manuscripts, and was close friends with the more gung-ho Hagen with whom he exchanged vital information;14 the Grimms were inspired by the Romantics; and Jacob Grimm’s Deutsche Grammatik, in turn, became a cornerstone of the philological method. Yet in the course of the century, the first three approaches dissipated into other spheres (literary criticism and history) and disciplines (from philosophy and music to anthropology and law), leaving philology as the core of Germanistik: Die deutsche Philologie ließ die nationale Emphase der Befreiungskriege hinter sich und legitimierte sich statt dessen durch eine Arbeitsweise nach quasi-naturwissenschaftlichen Gesetzen. Der Popularisierung ihres Gegenstandes setzte sie Spezialisierung und Professionalität entgegen und bereitete damit auch den Boden für das positivistische Wissenschaftsideal vor, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkam.15
If the nineteenth century is marked by the gradual conquest of philology, then it is equally characterized by the dominance of literary history.16 14 15 16
Brinker-Gabler, Poetisch-wissenschaftliche Mittelalter-Rezeption, pp. 91–93. Hunger (n. 11), p. 67. Michael S. Batts. A History of Histories of German Literature. Prolegomena. New York et al. 1987 (Canadian Studies in German Language and Literature 37); Michael S. Batts. A History of Histories of German Literature 1835–1914. Montreal et al. 1993; Klaus Weimar. Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Munich 1989; Jürgen Fohrmann. Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1989; J. F. “Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung zwischen Aufklärung und Kaiserreich.” In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Ed. Jürgen Fohrmann and Wilhelm Voßkamp. Stuttgart 1991, pp. 576–604; Anton Schwob. “Zur Rolle der älteren Literatur in Vor- und Frühformen der deutschen Literaturgeschichtsschreibung.” In: Mediävistische Literaturgeschichtsschreibung. Gustav Ehrismann zum Gedächtnis (Symposion Greifswald, 18. 9. bis 23. 9. 1991). Ed. Rolf Bäuer and Otfrid Ehrismann. Göppingen 1992 (GAG 572); Andreas Schumann. Bibliographie zur deutschen Literaturgeschichtsschreibung 1827–1945. Munich et al. 1994 (from which bibliographical and biographical details in this essay are drawn); Waltraud Fritsch-Rössler. Bibliographie
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Based on scarce knowledge of earlier texts and often sceptical of developments since the Middle Ages, literary history as we recognise it today hardly existed before the nineteenth century. In the seventeenth century, literature was included within general encyclopaedic works that sought to collate a comprehensive knowledge of the world; and whilst the eighteenth century witnessed scattered attempts, mainly in scholarly journals, to bring order to chaos, these were not generally esteemed by the educated classes17 and “erwecken heute fast den Eindruck, als seien sie das Gemeinschaftswerk einer schlechten Feuilletonredaktion und eines guten Einwohnermeldeamts”.18 However, the emergence of the four strands that signalled a sustained and serious study of German literature around 1800 combined with a change in recipient to put literary history on a different footing. Public lectures were held on the subject in cities large enough to gather a suitable audience, and volumes produced especially for schools with an intended market, vitally, beyond the classroom.19 The statistics tell their own story. Whilst the period between 1750–1830 produced 16 complete literary histories, some 300 found their way to print between 1835 and 1899; over 100 of these were intended for schools; and some, such as A. F. C. Vilmar’s Geschichte der deutschen National-Literatur (which appeared 30 times between 1845–1936) had print-runs that, as Götze observed, few text-types could rival bar the bible.20 With their fundamentally different concepts of history, the relationship between the professionalizing elites of philology (and ‘Altertumswissenschaft’) and the protheletisers of literary history was not always
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der deutschen Literaturgeschichte, vol. 1: 1835–1899. Mit Kommentar, Rezensionsangaben und Standortnachweisen. Frankfurt a. M. et al. 1994; Karl-Heinz Götze. “Die Entstehung der deutschen Literaturwissenschaft als Literaturgeschichte. Vorgeschichte, Ziel, Methode und soziale Funktion der Literaturgeschichtsschreibung im deutschen Vormärz.” In: Germanistik und deutsche Nation 1806–1848. Ed. Jörg Jochen Müller. Stuttgart 2000, pp. 167–226; Cornelia Blasberg. “Der literarische Eigensinn narrativer Geschichtskonstruktionen. Das Beispiel der Literaturgeschichtsschreibung.” In: Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Ed. Daniel Fulda and Silvia Serena Tschopp. Berlin, New York 2002, pp. 103–121; Claude D. Conter. “Weltliteratur und Litterärgeschichte. Über die Verdrängung europäischer Literaturgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert der nationalen Identitätsbildung.” Euphorion 101, 2007, pp. 87–102. Schwob (n. 16), p. 108. Götze (n. 16), p. 199. Batts, 1835–1914 (n. 16), pp. 176–178. Götze (n. 16), pp. 183 f.; Blasberg (n. 16), p. 107; Conter (n. 16), p. 88; Fohrmann, “Geschichte” (n. 16), p. 602.
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easy. The former, as Jürgen Fohrmann deduced, operated on a notion of ‘Geschichtsforschung’, that valued precision, caution and comprehensiveness, the latter on ‘Geschichtsdarstellung’ that functioned via selection and synthesis.21 Reviewing arguably the first literary history of the modern type – G. G. Gervinus’s Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen of 1835 – Jacob Grimm observed how the author had “[sich] wie ein weitgereister Herr […] den Gegenständen genähert” and “verabsäumt, sich auch ‘aufs Kleinste’ einzulassen.” Gervinus remained unmoved, viewing his rivals, in Karl Gutzkow’s terms, as “jene alten Notizenjäger”.22 But at least until the middle of the nineteenth century, literary history could draw upon support from across the arts, German professors – such as Ludwig Wachler (like Gervinus an historian), Vilmar (theologian) and Karl Rosenkranz (philosopher) – indulging the tradition of polymathia and lecturing and publishing on their literary passions.23 And throughout the century it had a lively (if changing) presence in the three key areas of knowledge dissemination: the general cultural system, schools, and scholarship. Even if each of these domains failed to formulate a generally accepted conceptual frame that would keep the genre at the forefront of academic discourse,24 by century’s end their readership had democratized, improved standards of education leading to dissemination beyond the middle classes.25 Philology might have been the future of German literary studies, and literary history might have been running out of steam as a front-line intellectual form, but its influence and presence continued unabated throughout the century. As one might expect from the disciplinary melee of the period, the gradual separating-out of scholarship did not stop it producing key examples of the genre. And – as this essay will show with particular reference to Ulrich – cross-fertilization of types certainly occurred. Literary history was a mixed bag. On the one hand, as Michael Batts noted in one of his two chronological surveys of the subject: “there is no steady progression in the form and content of [the] works”;26 and “it is very evident that the vast majority […] are derivative, if not directly plagiaristic, that their authors commit or perpetuate errors and cling to con21 22 23 24 25 26
Fohrmann, “Geschichte” (n. 16). Ibid., p. 583. Batts, 1835–1914 (n. 16), p. 179. Thus the general argument put forward by Fohrmann, Das Projekt (n. 16). Batts, 1835–1914 (n. 16), p. 180. Ibid., p. 176.
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cepts and interpretations long since outmoded”.27 On the other, there is great variation, so much so that “aside from the adherence to the genre per se” there is “no common denominator by which to measure them all”.28 However, despite the plethora of forms, scholarship has recognised one sustaining idea that underlines the majority. If literary history in the late eighteenth century had begun to “promote the claim of German literature to an equal place in the context of European literature”, then for many in the next, it gained imminent national-political significance.29 Every ideological hue in Vormärz Germany seeped through the palette of literary history, but as one observer of the time remarked, there were only two main shades: the (majority) upcoming bourgeois republican which, like Gervinus, read literature for its import to a nation that could be founded if political action followed aesthetic practice;30 and a (vocal minority) Christian conservative model, such as Vilmar’s, that served the needs of the feudal reaction.31
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Michael S. Batts. “Review of Waltraud Fritsch-Roeßler, Der Tristan Gottfrieds von Straßburg in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung (1768–1985).” Seminar 27, 1991, pp. 57–59, here p. 57. Batts, 1835–1914 (n. 16), p. 82. Ibid., p. 186. A caveat to this view is presented by Conter (n. 16), pp. 62–64. On Gervinus see: Gangolf Hübinger. Georg Gottfried Gervinus. Historisches Urteil und politische Kritik. Göttingen 1984; G. H. “Geschichtsdenken zwischen Wissenschaft, Publizistik und Politik im 19. Jahrhundert.” Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde 45, 1987, pp. 271–292; G. H. “Georg Gottfried Gervinus. Aussichten auf Reformen und Revolutionen in Europa.” In: Die Achtundvierziger. Lebensbilder aus der deutschen Revolution 1848/49. Ed. Sabine Freitag. Munich 1998. pp. 249–262, 334–337; Michael Ansel. Georg Gottfried Gervinus’ Geschichte der poetischen NationalLiteratur der Deutschen. Nationalbildung auf literarischer Grundlage. New York et al. 1990; Achim Barsch. “Biologie, Literatur und Literaturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Wilhelm Scherer als Beispiel für eine Orientierung an den Naturwissenschaften.” In: A. B. Menschenbilder. Zur Pluralisierung der Vorstellung von der menschlichen Natur. Frankfurt a. M. 2000, pp. 237–259; Wan-Kyun Kim. “G. G. Gervinus’ Konzept der deutschen Nationalliteratur. Kanonisierung durch Periodisierung.” Togil-munhak 42, 2001, pp. 322–34; Stefanie Stockhorst. “Engagierte Literaturgeschichtsschreibung im Vormärz: G. G. Gervinus’ ‘Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen’.” Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 53, 2006, pp. 86–99. On Vilmar see: Sibylle Ohly. Literaturgeschichte und politische Reaktion im neunzehnten Jahrhundert. A. F. C. Vilmars Geschichte der deutschen National-Literatur. Göppingen 1982; Reinhard Behm. “Aspekte reaktionärer Literaturgeschichtsschreibung des Vormärz. Dargestellt am Beispiel Vilmars und Gelzers.” In: Germanistik und deutsche Nation 1806–1848. Ed. Jörg Jochen Müller. Stuttgart 2000, pp. 227–271.
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Karl-Heinz Götze has argued that the significance (though not necessarily the production) of literary history peaked in this period between 1830 and 1850, the majority of progressive voices losing their stridency after the failed revolution in 1848 which brought a compromise between the nobility and the bourgeoisie that shut out the working classes and hollowed out belief in grand social change.32 At the same time – mentioned but not emphasised enough by Götze – internal developments occurred to the dynamic of literary history. New more scientific methodologies were establishing themselves in the maturing discipline of literary studies, and aligned with this came a sense that the achievements of Gervinus, Vilmar (and others such as Koberstein and Wackernagel) could only be surpassed on the basis of small-scale, focussed studies.33 If the course of the 300 odd literary histories written between 1835 and the end of the century was both stodgily derivative and randomly individualistic, then the reasons for change are equally complicated and fuzzy. In this genre that was so vital to the culture and education systems of the nineteenth century, change was not mono-directional: politics, scholarship and the demand for innovation within the text-type all played their role and need to be born in mind when explaining patterns and pivotal moments.
2. Ulrich and early literary history Before tracing Ulrich through literary history, it is vital to note the essential role of literary history in his discovery in the modern era. This manifested itself in two senses. First, without literary history Tieck would probably not have found his way to Ulrich’s Frauendienst.34 Drawing on Goldast’s work from the seventeenth century and the lively tradition of Meistergesang that transported knowledge of its predecessors, early accounts of medieval literature were dominated by the lyric poets.35 With the rapid growth in editions of narrative texts from the mid 1700s onwards, the material base on which literary history could be written had changed dramatically by the end of the century. Bodmer’s pioneering work on Minnesang and the Nibelungenlied led the way, and whilst he 32 33 34 35
Götze (n. 16), p. 187. Ibid., p. 185. On Tieck, see also Mertens, pp. 519 f., 522 f., in this volume. On Goldast, see ibid., pp. 515.
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translated Wolfram’s Parzival and Willehalm into Homeric hexameters (1753, 1774) and Hartmann’s Iwein into ballade form (Fabel von Laudine, 1780), he had access to many manuscripts (including the Gothaer Codex’s Eneit, sent to him by Goethe), which he entrusted to his pupil Christoph Heinrich Myller. Although Myller’s three-volume Sammlung deutscher Gedichte aus dem XII., XIII. und XIV. Jahrhundert (Berlin 1784–1787) reproduced the texts without commentary or philological intervention, it gave access to a series of works for the first time and, in some instances, served as their only edition well into the nineteenth century.36 The third volume, which covered some 25,000 lines of Konrad von Würzburg’s Trojanerkrieg, remained incomplete when Myller’s own pupil, Erduin Koch failed to finish the task.37 Koch, the son of a protestant pastor, later went on to drink-fuelled scandal and ruin, but in the last decade of the century, he was inspiring young minds in Berlin. One such was the twenty-year-old, ongoing Romantic Wilhelm Heinrich Wackenroder, who had been to school with Tieck and tried to persuade his friend to join him in the exploration of medieval literature. Initially reluctant, and coming to the Middle Ages only after a detour via sixteenth-century Volksbücher and seventeenth-century poetry, Tieck fell under the spell in Jena, where he came into close contact with Novalis, the Schlegels, Steffans, Brentano, and Fichte, and was particularly enthralled in 1801 by A. W. Schlegel’s fragmentary and ultimately unpublished Tristan, which gave him “die göttlichsten Stunden”.38 When Tieck published his own Minnelieder aus dem Schwäbischen Zeitalter in 1803, Ulrich was obviously a favourite: at the beginning of 1802 Brentano had included one of his poems amongst the translations he sent to his sister Bettina,39 and in 36
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Vol. 1: Nibelungenlied, Eneit, Johannes von Konstanz’s Minnelehre (Got Amur), Wolfram’s Parzival, Hartmann’s Armer Heinrich, Konrad von Würzburg’s Herzmaere, two further Mären from the Straßburger Märenhandschrift; vol. 2: Gottfried’s Tristan, with the continuation of Heinrich von Freiberg, Konrad Fleck’s Flore und Blancheflur, Hartmann’s Iwein, Freidank and poems from the Jenaer und Weingartner Liederhandschrift; vol. 3: contained up to l. 25 245 of the Trojanerkrieg. This remained the only place to read some of these texts until: Tristan (1821), Parzival (1820), Iwein (1827), Armer Heinrich (1815), Konrad Fleck (1846), Eneit (Ettmüller, 1852), Trojanerkrieg (1858). See Mertens, “Bodmer” (n. 5), p. 65. Cf. Thomas Bein. “Mittelalterliche Literatur in den ersten Literaturgeschichten (E. J. Koch, 1790, K. Rosenkranz, 1830). Betrachtungen zur Ordnung von Kultur in Vergangenheit und Gegenwart.” In: Zur Geschichte und Problematik der Nationalphilologien in Europa. Ed. Frank Fürbeth. Tübingen 1999, pp. 51–66. Brinker-Gabler, Poetisch-wissenschaftliche Mittelalter-Rezeption, p. 76. Debrunner (n. 6), p. 78.
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Tieck’s edition, 12 of the 220 songs belong to the poet he describes as “am jugendlichsten und muthigsten” of the period.40 Moreover, Tieck’s later work on the Frauendienst did not come about, as one biographer claims,41 by a chance discovery in the Royal Library in Munich. Koch, for whom Tieck undertook several trips from Berlin in the company of Wackenroder in the mid 1790s,42 provides the first mention of the text in his Grundriß der deutschen Literaturgeschichte von den älteren Zeiten bis auf Lessings Tod in 1795, with the simple note: “Ein Heldengedicht auf den Ritter Ulrich von Liechtenstein, handschriftlich in München”.43 Thus when von der Hagen pipped the notoriously painstaking Tieck to the post of publishing a new Nibelungen edition in 1807,44 the collecting spirit of old-style literary history, perfectly exemplified by Koch’s compendium but about to go out of fashion, provided the basis for Tieck to follow up one of his many other medieval interests and put Ulrich, for a time at least, centre-stage. Literary history was an important factor for Ulrich’s burgeoning career in a second, broader sense. For although the major liberal-democratic literary histories from Gervinus onwards rejected romanticism for its anti-Enlightenment sentiments, the movement’s self-understanding was formed in significant part by an explicit critique of the way literary history had been written before 1800. In A. W. Schlegel’s Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (held in Berlin 1801–1804), the lecturer railed against the sort of book that would later lead Tieck to the Frauendienst: Nach der toten Art, wie sie meist von geistlosen Buchstabengelehrten behandelt wird, besteht sie in einem Titelverzeichnis einer Ursumme von Büchern, höchstens mit einer materiellen Beschreibung ihres Inhalts. […] Es fehlen ihnen ganz an den prophetischen Blicken, welche Zukunft und Vergangenheit verknüpfen, an echtem historischen Geist.45
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Brinker-Gabler, Poetisch-wissenschaftliche Mittelalter-Rezeption, p. 120. Paulin (n. 8), p. 204. Brinker-Gabler (n. 14), p. 71. Erduin Julius Koch. Grundriß der deutschen Literaturgeschichte von den älteren Zeiten bis auf Lessings Tod, vol. 1. Berlin 1795 (first published and consulted under the title Compendium der Deutschen Literatur-Geschichte von den ältesten Zeiten bis auf das Jahr 1781, von Erduin Julius Koch, Lehrer der Griechischen und Lateinischen Sprache am Pädagogium der Königlichen Realschule. Berlin 1790), p. 71. Hölter (n. 8), p. 246; Blasberg (n. 16), p. 106. Götze (n. 16), p. 202.
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In this series and others by his brother Friedrich,46 the Schlegels articulated a vision of literary history that stressed the integration of careful and comprehensive textual interpretation into a coherent and telling whole.47 The Middle Ages played its customary vital role, with particular emphasis placed on the naissance of true romantic poetry that could rival the ancients and stand for a European cultural space beyond the crude nationalisms into which it later fell. The Schlegels, along with Herder, have been identified as prototypes of modern literary history, but both, and particularly the former, lacked resonance.48 Histories of the nineteenth century make no reference to them, and, after his conversion to Catholicism, Friedrich Schlegel’s turn towards nationalism in Vienna in 1812 (the series was dedicated to his political paymaster Metternich) drew stinging criticism from Gervinus and W. von Humboldt.49 Yet for Tieck, the Schlegels’ influence was seminal, and – one of many unrealised projects – he planned himself to write a literary history. At any rate, an interest in the historical underpinnings of medieval literature and the contexts in which it evolved were decisive in his turn to the Frauendienst, which he proposed to Cotta in December 1809 and delivered in February 1811. At first blush, the Frauendienst was the perfect medieval text for an early nineteenth-century romantic. Quite apart from its evident fantasy and imagination, the work had structural affinities with the novels in which Brentano, Tieck and Eichendorff published many of their poems. From the preface to his Minnelieder edition, it is evident Tieck saw in medieval lyric, the “eigentliche Blütezeit der Romantischen Poesie” and all the ingredients of Romanticism – “Wunderbare[s], Fragmentarische[s], Sehnsucht, Schönheit, Glaube, Fröhlichkeit, Einfalt, Naivität, Ungebundenheit”,50 a combination which, in his own words, produced a “Rausch von Freude und Lust”,51 and prompted the production of his own lyric 46
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Über das Studium der Griechischen Poesie 1795; Geschichte der Poesie der Griechen und Römer 1798, Epochen der Dichtkunst 1799; series in Paris, Cologne and finally Vienna in 1812, published as Geschichte der alten und neuen Literatur in 1815. Götze (n. 16), p. 205. Ibid., pp. 192–207. Ibid., p. 205. Friedrich von Schlegel. Geschichte der alten und neuen Literatur. Vorlesungen gehalten zu Wien im Jahre 1812. 2nd edn. 3rd reprint. Ed. Marie Speyer, concluding chapter Wilhelm Kosch, part 1. Regensburg 1911. Ludwig Tieck. Minnelieder aus dem schwäbischen Zeitalter. Reprint of the 1803 edition. Hildesheim 1966, pp. VIII, Xff. Brinker-Gabler, Poetisch-wissenschaftliche Mittelalter-Rezeption, p. 118.
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efforts. But Tieck’s attraction to the Frauendienst came more from the pull of history, a characteristic that equally marked the intellectual foundations of the romantic movement. A. W. Schlegel, who had proofed the Minnelieder, seemed to reply to it with a wealth of political and historical information in his essay “Gedichte auf Rudolf von Habsburg von Zeitgenossen”, and Tieck himself had planned an historical essay on the Nibelungenlied in 1803.52 By 1813, he seems to have turned against the notion that an engagement with medieval literature could spark the contemporary muse, lamenting la Motte-Fouqué to Friedrich Schlegel, with the remark “Ich habe überhaupt keine Freude an allen den Sachen, die wir veranlaßt haben”.53 Neither the first edition of the Frauendienst in 1812 nor its reprint of 1818 contained the foreword that Tieck had promised the publishers. But letters from the time clearly suggest he viewed the text as an historically accurate autobiography: Ich verspreche mir für dieses Buch viele teilnehmende Leser, da unter allen vorhandenen Gedichten und Schriften des Mittelalters nichts Aehnliches sich findet, das Ganze auch für sich selbst durch seine Naivität, durch die Schilderung seltsamer Sitten und Verhältnisse anziehend und reizend ist, und uns vielleicht kein anderes Buch solchen unmittelbaren Blick in das Leben des reicheren Ritterstandes vergönnt.54
The unwritten introduction, moreover, promised “dem Leser teils auf die Merkwürdigkeit des Buchs aufmerksam [zu] machen, teils ihn über die damalige Zeit und einige der auftretenden historischen Figuren näher [zu] belehren.”55 Reviewers took the translator’s silent cue. Tieck’s admirer Joseph Görres might have praised his colleague’s “Wiederbelebung” of the medieval text and admired it as a “historisch-psychologisches Dokument” in which Ulrich had “treulich aufgeschrieben, wie ihm zu Muth gewesen, und wie ihm seine Zeiten erschienen”.56 But the majority emphasized its historical import. Rückert would recommend it as an “Einführung in die altdeutsche Zeit”;57 Büsching placed it alongside Goethe’s Dichtung und Wahrheit as autobiography;58 and the reviewer for Die Göttingischen gelehrten Anzeigen noted the time was now ripe for a 52 53 54 55 56 57 58
Ibid., pp. 121 f. Ibid., p. 124. Ibid., pp. 119 f. Ibid., p. 120. Hölter (n. 8), p. 301. Brinker-Gabler, Poetisch-wissenschaftliche Mittelalter-Rezeption, p. 198. Hölter (n. 8), p. 301.
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Walther biography.59 In keeping with Tieck’s distaste of the nationalist tendencies that had begun to set in around the propagation of medieval works – he valued the texts of the European Middle Ages and the power of the Catholic church to unite Christendom – the Modenjournal took issue at some length with Cotta’s advertisement which had puffed the text from a patriotic angle.60 In the same year as A. W. Schlegel’s famous Nibelungenlied essays,61 it was not necessarily given that the romantics’ engagement with the Middle Ages would produce an unambiguously nationalist response. 1812 proved a watershed year for Ulrich. Not mentioned, surprisingly, in Friedrich Schlegel’s lectures in Vienna, he received star billing alongside Gottfried (for Schlegel the doyen of medieval German literature)62 in the Geschichte der Poesie und Beredsamkeit seit dem Ende des 13. Jahrhunderts by poet turned philosopher Friedrich Bouterwek as part of Eichhorn’s ambitious and foreward-looking Geschichte der Künste und Wissenschaften seit der Wiederherstellung derselben bis an das Ende des achtzehnten Jahrhunderts.63 Cotta had been so taken with the latter’s appreciation that it cited it in its publicity for Tieck’s edition.64 There was a world of difference, however, between Schlegel and Bouterwek. Schlegel, true to the romantic concept of literary history, set Gottfried within the wider development of medieval literature (delivering, amongst other things, provoking insights into the relationship between writing and emotion), whilst the Göttingen academic collated discrete shreds of information, making value judgements with little evidence or cohesion. Bouterwek’s contribution might have deserved Schlegel’s biting criticism as “deklamierter Enthusiasmus” that went “gleichsam botanisieren” for “schöne Stellen”.65 Yet Ulrich’s pre-eminence in his account was not entirely 59 60 61
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Brinker-Gabler, Poetisch-wissenschaftliche Mittelalter-Rezeption, p. 191. Ibid., p. 186. August Wilhelm Schlegel. “Aus einer noch ungedruckten historischen Untersuchung über das Lied der Nibelungen.” In: Deutsches Museum. Ed. Friedrich Schlegel. Vol. 1. 1812, pp. 9–36. A. W. S. “Ueber das Nibelungen-Lied.” Ibid., vol. 1, pp. 505–536, vol. 2, pp. 1–23. Friedrich von Schlegel (n. 49), pp. 243 f. Friedrich Bouterwek. Geschichte der Poesie und Beredsamkeit seit dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts. Vol. 1. Göttingen 1812 (Geschichte der Künste und Wissenschaften seit der Wiederherstellung derselben bis an das Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Von einer Gesellschaft gelehrter Männer ausgearbeitet. Dritte Abtheilung. Geschichte der schönen Wissenschaften. Vol. 9), pp. 116–120. Hölter (n. 8), p. 157. Götze (n. 16), p. 204.
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motivated by “ignoranter Witz”: warning his readers not to be “blinded” by “romantische[m] Vorurtheil” and encouraging them to see in Minnesang “das classische Gepräge im eigenthlichen Sinne” (p. 94), Bouterwek praised and excerpted him for his particular “classische[ ] Vortrefflichkeit” (p. 120). That said, the grounds for comparison are slight and distinctly uneven: Hartmann receives just over three lines, Reinmar seven and Neidhart five; Wolfram, with little justification, is pushed primarily as a lyricist; and Walther (“ein wahrhaft lyrisches Genie”, p. 108) is inexplicably deprived of the full analysis the author deemed would be necessary to do him justice. As the Frauendienst found the light of day again, therefore, Ulrich’s standing was open to various interpretations: his lyrics could be the epitome of the romantic ideal or a throw-back to eighteenth-century poetic taste (Bouterwek was close friends with Gleim); his narrative could be read in romantic, patriotic or (most often) historical mode. For the moment, his reputation and value remained intact. As literary history began to take shape, however, over the subsequent decades, it was the “Merkwürdigkeit des Buchs”, in Tieck’s original words, that began to dominate. Perhaps looking beyond the ‘historical’ import of the work, as many would later do, Tieck sensed this himself. In his 1835 novella Das alte Buch und die Reise in’s Blaue hinein, a story of love between the noble Athelstan and the fairy Gloriana, who rules an underworld poetic kingdom and presents her lover with the gift of eternal youth and the ability to inspire poets to true art, a striking difference opens up between Gottfried and Ulrich. Whereas Gottfried is chosen to receive special blessing as part of an illustrious list of Romantic favourites (including Dante, Petrarch, Ariost, Shakespeare, Cervantes, Goethe and Klopstock), Ulrich comes in for criticism: Und Ulrich, der Liechtensteiner, warf Friedrich ein, der dort im Lande Oestreich [sic] als Frau Venus herum zieht, eine Fürstin liebt und ihr zu Ehren ein unermeßliches Gold verschwendet, nur dichtet und liebt und prachtirt … – Der Ulrich ist ein Phantast! rief Athelstan aus. – Und du tadelst ihn darüber? warf jener ein. – Weil seine Lieder mir zu trocken, seine Lebensart noch viel zu prosaisch ist, fuhr Athelstan … fort. Er ist mehr eitel als verliebt, er kann sich keines ächten Glücks erfreuen, weil er es nicht sucht. Ich glaube nicht, daß ihm ein Sinn für das Wahre und Hohe aufgegangen ist. Prunk, Seltsamkeit und Aufsehn begeisterten ihn.66
In the course of the century, Tieck’s translation of the Frauendienst would expose his first-person hero to much more of the same. 66
Cited in Hölter (n. 8), pp. 179 f.
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3. The foundation of modern literary history In the 1820s and 1830s, as literary history moved into the modern era, Ulrich attracted major attention from three of its major proponents: Ludwig Uhland, Karl Rosenkranz and Gervinus. Their opinion of him merits close analysis. Uhland enjoyed the highest academic and political reputation of all the romantics. Aside from a renowned literary career, he was außerordentlicher Professor für deutsche Sprache und Literatur at Tübingen from 1829–1833 and served twice in the Württemberg Landtag and, after 1848, in the Deutsche Nationalversammlung. In 1822, he delivered not only the ‘biography’ of Walther von der Vogelweide67 so eagerly requested by the Göttinger reviewer of Tieck’s Frauendienst – in his own words, a “Zeitgemälde” which focussed on people and events and treated the love lyric in a single short chapter – but also an experimental form of writing in German literary (as opposed to historical linguistic) studies: the scholarly monograph. “Aus einer Mischung von Biographie, Werkausgabe, Interpretation, Gattungsanalyse, Historiengemälde, Kulturgeschichte und gelehrtem Sachkommentar” he produced “eine Synthese der Gesamtpersönlichkeit Walthers”.68 During this period, he decided to write a history of medieval German literature in its European context, on which he set to work in 1823. By 1824, he had completed the first draft of his Minnsang section, and continued onto the epic and romance, hoping to finish in 1826. A victim of his own thoroughness, however, the appearance of Grimm’s rigorous Die deutsche Heldensage in 1829 slowed his publication plans, and he first shared his work with the public audience of the lecture hall (1830–1832) on taking up his professorship the same year, delivering his Minnesang lectures in 1830.69 These devoted substantial attention to Ulrich as the only German poet to provide biographical information similar to that of the Provencal collections (p. 210). Unlike anyone else writing at the time – Bouterwek had called for the French to provide a service to the international com-
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Adalbert von Keller. Uhlands Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage. Vol. 5: Walther von der Vogelweide, ein altdeutscher Dichter geschildert von Ludwig Uhland. Stuttgart 1870 (original Stuttgart, Tübingen 1822). Hunger (n. 11), p. 49. Ludwig Uhland. Werke. Vol. III: Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter. Ed. Helmut Fröschle and Walter Scheffler. Munich 1981.
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munity by working up their national literature70 – Uhland was particularly suited to this task, having shown his comparative philological pedigree. In 1810, he had read MHG and Old French manuscripts in the Paris library, and soon after, before his own literary career took off, published his Über das altfranzösische Epos in the third quartal of Fouqué’s journal Die Musen, followed in the fourth by Proben aus altfranzösischen Gedichten, Aus dem Heldengedicht von Viane.71 At first glance, Uhland’s interpretation of Ulrich is indebted to Tieck: he echoes his appreciation of the lyric (“unstreitig einer der anmuthigsten Sänger der Minne. Seine kindische Heiterkeit sein fröhlicher Rittermuth sind überaus ansprechend. Keiner vielleicht weiß die Sprache mit solcher Leichtigkeit zu handhaben. […] Niemals ist er gezwungen oder geschmacklos”, p. 236); comments forensically on the historical accuracy of the work (the exactitude with which the smallest details are recorded, “die ungezwungene Verbindung, worin das Abenteuerliche mit dem geschichtlich Bewährten steht” etc., p. 235); and notes the “befremdliche Erscheinungen” (p. 211) that demand further explanation. For Uhland, this comes from a mix of close reading, genre history, historical extrapolation and comparative analysis, which begins by addressing the relationship between literature and society head-on. If the Frauendienst has “den Schein der Erdichtung”, the reason for this lies in “de[m] Einfluß, welchen damals die Poesie auf das Leben selbst übte” (p. 235). Such a relation, as the case of Ulrich demonstrated, can quickly become “herkömmlich”: Die Welt wird sich niemals gänzlich von Poesie durchdringen lassen; will diese zu weit in die Wirklichkeit eindringen, so wird sie bald sich in irdische Formen eingefangen finden, darin sie mit der Freiheit ihre ursprüngliche Kraft und Lauterkeit verliert. Und so ist uns nicht Ulrichs Erzählung unwahr, aber das Leben selbst, das er getreulich schildert, war nicht mehr völlige Wahrheit.
Doubling back on his opening praise of Ulrich’s lyric, Uhland posits that Minnesang thins out as a genre and weakens the longer it is practiced, with Ulrich composing at a time when “die frischeste Zeit des Minnesangs schon vorüber war”, a period when “schon an den Meistern gemeistert [wird]” (p. 237). Yet the conventionality of Ulrich’s literary endeavour is to be witnessed not so much in the lyric but in the narrative that contextualizes it: a “künstliche Spannung”, exemplified most
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Bouterwek (n. 63), p. 91 f. Fröschle and Scheffler (n. 69), p. 773 f.
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prominently by the manner in which the protagonist slips back into domestic bliss with his wife after the apparent heartache caused by his first beloved, “[lässt] nicht zu rechter Theilnahme gelangen”. As the early lyric, heroic epic and didactic texts indicate, Uhland observes, praise and desire of married women, although not unknown in medieval Germany, were not the German way. But if Ulrich – to borrow a phrase from Reinmar von Zweter – comported himself like a “leibhafte[r] Thor der Minne”, his behaviour was to be viewed less as a moral weakness than a literary-misreading determined by cultural geography. In the lively Minnehöfe of France, which were unknown in Germany, the singers’ wooing of married ladies was a common form of social play: “eine Frau die durch Geburt und Eigenschaften in der Gesellschaft hochgestellt war, durfte des begeisterten Sängers nicht ermangeln: besingen und besungen zu werden, gehörte überall zum guten Tone.” Ulrich, thus Uhland, will have encountered such codes during stays in Lombardy, via songs sent to him from the South West (such as the one received during his sojourn in Bolzen) or through the French knights recorded as forming part of his retinue. What Ulrich lacked, however, was a sense that such interactions had boundaries: French and Provencal examples attested to a sliding scale of sincerity and naivety, expectation and disappointment on the part of singers and beloved alike, and Ulrich’s rejection by his first vrouwe is but an extreme example of what can happen to the inexperienced or inappropriately enthusiastic: In jener nächtlichen Zusammenkunft, wobei die Herrin im kerzenhellen Prunkgemach, in fürstlicher Kleidung und in der Umgebung ihrer Frauen, so feierlich den Ritter empfängt, sehen wir nicht eine wahre Liebesgeschichte, sondern nur das durchgespielte Schauspiel einer solchen […]. Das große Leid, das ihm die erstere gethan, bestand vermuthlich darin, daß sie des weit getriebenen Spieles satt war. Ziemlich leicht geht auch Ulrich von der einen Liebe zur andern über, und bei aller Klage ist er doch immer frohgemuth.
Uhland’s conclusion might not stand up to the rigours of modern scholarship, but its attempt to interpret the lyric and narrative together, ponder the relationship between literature and reality, and draw upon comparative analyses was ahead of its time. Not until 1971 would Ursula Peters’ groundbreaking dissertation return to the Frauendienst with the requisite linguistic knowledge and ambition to treat the work as a sophisticated symbiosis of literature and life with cross-cultural reference.72 Uhland’s lectures were ahead of their time in a more direct sense too: 72
Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein.
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a perfectionist to the end and occupied by a return to parliament in 1833, he declined to publish his literary history, leaving it to his wife to prompt three pupils to bring it out after his death from 1865 to 1873. Günther Schweikle has commented on the opportunity that Uhland’s public service denied German philology in the nineteenth century: had he accepted Lachmann’s offer to withdraw from his Walther project and pass on his apparatus, the editorial history of medieval German might have been very different (Uhland had championed the cause of the oldest historical manuscript).73 In terms of Ulrich scholarship too, it is possible that some of the crude reductionism that soon emerged might also have been avoided. As his most recent editors put it: Für viele Jahre blieb Uhlands Vorlesung die bedeutendste, ansprechendste Darstellung der altdeutschen Literatur [… e]in Dokument gelungener Synthese zwischen romantischer Mittelalterbegeisterung, wissenschaftlichem Sammeleifer und einfühlsamer Deutung, besticht die Vorlesung von 1830 […] durch das frische, farbige kulturhistorische Gemälde des deutschen Minnesangs.”74
But all this was lost for over three decades, the lecture hall containing no more than 53 listeners, of whom only Adalbert Keller (one of his literary executors) pursued a career in the field. Around the time that Uhland was reading to a select audience, however, Ulrich figured prominently in general discussions of the lyric contained in the first two major modern histories of German literature. For Karl Rosenkranz,75 Ulrich featured not only as a reliable historical compass (the wealth of his castles and splendour of his Venus tour contrasting with the poverty of Walther von der Vogelweide who had to sing for a living, p. 461), but as an important lynchpin in his overall interpretation of Minnesang.76 This genre, according to Rosenkranz, wußte noch nichts von der moralischen Sophistik, welche sich in der Geschlechtsliebe die Sinnlichkeit ableugnen und eine überschwängliche Leidenschaft vorheucheln will, die von der sinnlichen Gegenwart abstrahirt. Denn so wenig das Sinnliche für sich die Wahrheit der Liebe ausmacht, so wenig ist diejenige Geschlechtsliebe wahr, welche gerade durch angequälte Abstraktion von Geschlecht die ächte zu sein vermeint (p. 438).
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Günther Schweikle. “Ludwig Uhland als Germanist.” In: Ludwig Uhland: Dichter, Politiker, Gelehrter. Ed. Hermann Bausinger. Tübingen 1988, pp. 149–181, here pp. 174–176. Fröschle and Scheffler (n. 69), p. 778, 777. Karl Rosenkranz. Geschichte der Deutschen Poesie im Mittelalter. Halle 1830. On Rosenkranz see Bein (n. 37).
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When it did contain such abstraction, this was only because the lady had to be seen to defend herself before giving way to her passion, and against this there were many poems which “die flüchtige Glückseligkeit des sinnlichen Genusses in der Liebe theils mit süßer Schwärmerei, theils mit scherzender Laune behandeln” (p. 439). Here “[d]er heitere und bequeme Ulrich von Liechtenstein” (p. 439) appears as a key example of the second category, Reinmar der Alte as witness of the first. Without Uhland’s input to the debate, Gervinus countered Rosenkranz’s understanding of lyric sensuality, comparing the Germans with the Greeks:77 [d]ie glückliche Mischung von Allgemeingefühl und individueller Selbstständigkeit gab den Werken ihrer Kunst und Literatur [d. h. der Griechen] jene Grazie und Freiheit, jene Ruhe und Bewegung zugleich, nach denen wir Späteren nur ringen und streben können, ohne je auf den ähnlichen Erfolg hoffen zu dürfen. Gegen diese ihre feine Sinnlichkeit haben die Deutschen ihre Gemüthlichkeit zu setzen, und wenn wir streng scheiden wollen, so können wir sagen, jene fehlt den Germanen und diese den Hellenen (pp. 313 f.).
It is the Greeks, not Rosenkranz (whom he never mentions by name) that primarily interest Gervinus, since they give him a foil against which to develop a sprawling, negative reading of the German lyric, which eventually requires some slight of foot to swing it back on course for nationalistic purposes. Ulrich, tellingly, is the one author to surface in both parts of Gervinus’s contradiction. At first, the historian appears to value Minnesang as an expression of youthful passions with which any modern can wholeheartedly identify: Wer nicht aus seiner Jugend und aus der Zeit, in welcher die ersten Regungen der Liebe aufkeimen, Erinnerungen übrig hat, wer in sich kein Mitgefühl mehr spürt mit seinen eigenen Zuständen in jenen Jahren, wer nicht den ganzen Jammer der ersten unbestimmten Sehnsucht noch nachempfindet und die Süßigkeit und Bitterkeit der mit ihr verknüpften Empfindungen, und die Qualen und Freuden, mit welchen die feurigste Phantasie uns dann abwechselnd martert und beseeligt, wer nicht im Gedächtnis hat, zu welchen unsäglichen Naivetäten und Thorheiten, zu welchen Selbsttäuschungen und Selbstbetrügen diese glühende Einbildungskraft den aufrichtigsten, gesündesten, natürlichsten Jüngling verblendend verleitet, oder Dantes vita nuova gelesen hat, ohne sich bei diesem treuen Abbilde dieser Zustände eines ungefähren Analogons aus seinem eignen Leben zu erinnern, oder wer Ulrich von Liechtensteins Frauendienst kennt, ohne sich erklären zu können, wie ein solches Liebes- und Sängerleben zu verstehen sei, wer durch altkluge Erziehung 77
Georg Gottfried Gervinus. Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. Vol. 1: Von den ersten Spuren der deutschen Dichtung bis gegen das Ende des 13ten Jahrhunderts. Leipzig 1835.
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oder durch Schullast oder durch eingeborne Verständigkeit und Prosa vor diesen Zeiten der Jugendliebe ungeprüft vorüberging, dem werden wir vergeblich einen Begriff von dieser Periode des Mittelalters, schwerlich eine Vorstellung von den Quellen dieser Poesie, gewiß keinen Geschmack an dieser Lyrik beibringen (p. 293).
But immediately this introduction is turned on its axis. Medieval lyric appeals more to women than men (p. 295) and can be understood in fact as a feminine art form. The bourgeois, protestant Gervinus shows little patience with the devouring obsession of the inner poetic life, digging deeper instead into the spirit of the age: “Den allgemeinen Charakter des Weiblichen trägt aber die Cultur der Zeit […], die ja selbst einen weiblichen Gott anbetete, im Gegensatz zu der männlichen griechischen, ganz entschieden in allen ihren Theilen” (p. 312). A string of uncomplimentary comparisons with classical literature follow, in particular highlighting the Germans’ inability to turn their stultifying and limited feelings into supple and exciting literary form. Eventually, even the French are attributed a better sense of art through their openness to competition and lively critique (p. 348). Gervinus expresses his arguments with such unwavering intent that it requires an act of escapology to salvage the German lyric from total ignominy. This is when Ulrich, one of the few poets mentioned more than once, comes to the rescue. For although Gervinus set out his stall as an historian who valued objective over aesthetic judgements, his work is famously riddled with the latter. Via a tendentious link to the Germans’ emphasis on their feelings (“Theilnahme”) – a fact he previously claimed hindered rather than fostered good poetry – he proceeds to compare early lyric favourably with its later variant, underlining, surprisingly, the positive link between participation and style: Bei den deutschen Minnesingern sind aber nun sehr leicht die früheren, die in eine bessere erregtere Zeit trafen, sehr leicht von den späteren zu unterscheiden, bei denen man das Herz allerdings meist theilnahmlos findet und deren Kunst oft bloße Nachahmerei ohne Seele ist. Es ist ganz etwas anders schon bei Ulrich von Liechtenstein, dies ewige Annähern und Abstoßen, diese Freuden und Leiden, diese Klagen und Hoffen zu hören, was quälend und peinigend für ein freies Gemüth ist, als nur bei Reinmar dem Alten schon, oder bei Heinrich von Morungen, bei dem alles den feurigsten Schwung noch hat. Alles reicher an Gedanken und neuen Bildern, Alles überzeugender, wahrer, eindringlicher, durch eine seltenere Kühnheit anziehender ist, wie ich denn diesen Dichter überhaupt als denjenigen bezeichnen würde, der im Allgemeinen diese Sänger am würdigsten und wahrsten verträte (pp. 319 f.).
The insertion of this brief chronology, at Ulrich’s expense, enables Gervinus to re-evaluate German Minnesang in preparation for his exposi-
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tion of its moral meaning to the German people. After rehearsing his opening lines about the “Jugendempfindungen” of “damals” (p. 320), this time affirmatively, he lists the genre’s central attributes: “Verehrung des weiblichen Geschlechts”, “Reinigung der Seele”, the immunization of German singing against foreign influence down through the centuries, and clear demarcation from the French (p. 321). In contradiction to his major argument Gervinus concluded: Das Rückziehen aufs Innere, die ausschließende Beschäftigung mit dem Innern, die sanfte und gleichmäßige Ruhe die dies mit sich führt, steht der Aeußerlichkeit, der Zertheiltheit, der leidenschaftlichen Unruhe der Franzosen aufs entschiedenste hier gegenüber (p. 322).
Ulrich certainly takes a knock in Gervinus’s account, but common to all three histories is a primary focus on the literary. Gervinus might draw moral conclusions from his material, but like Rosenkranz and Uhland he works, in his own way, with the grain of the texts, attempting to explain their artistic essence. In all three treatments, Ulrich is exempt from ethical castigation. Uhland touches on his folly, but the literary explanation lifts it away from direct moral blame. Tellingly, aside from Rosenkranz’s straightforward comparison, Ulrich emerges as a complicated poet: in Gervinus he is good for either side of an argument, and in Uhland he requires extensive knowledge and subtle handling to explain. Over the next few decades, literary history would flatten this undulating terrain.
4. Excursus: the shape of literary history It is important to pause here, lest the impression be given that the bulldozing of Ulrich’s reputation was achieved by a single leaver. Certainly, the national project of nineteenth-century literary history outlined at the beginning of this essay played a major part, but before turning to it in detail, we should note two important factors that affected it, and these take us back to the archaeology of German literary history in general: the change in weighting given to narrative over lyric poetry; and the master narrative of decline. 1. The relative emphasis given to lyric or romance is uniquely important to Ulrich’s evaluation. As often acknowledged in literary histories, other authors had composed poetry as well as narrative, but no narrative poet had written such a large and initially well regarded corpus of poems,
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never mind integrated them into a continuous story. For a long period, literary history privileged lyric over narrative. In the early stages, this was obviously dependent on what was known in manuscript or (later) edited form. In the seventeenth century, Opitz cited poets in his short discourse on the medieval vernacular in Von der Deutschen Poeterey;78 as did Hofmannswaldau at slightly more length (alongside the Ludwigslied, Konrad von Würzburg, and Wolfram’s Marg-Grafen Wilhelm / Rennewart).79 Even in the last quarter of the eighteenth century, Küttner (1781) praised Bodmer and Breitlinger’s efforts and named only a small number of narrative works in manuscript form,80 with Koch following suit,81 despite the advances brought by Myller’s Sammlung. The contingencies of this material knowledge dictated the shape the MHG period was given. Riedel (1768) was not untypical in leading his account with poetry as a knightly exercise, “eine Art von poetischen Turnieren […], in welchem die Sieger ihre Belohnung aus den Händen der vornehmsten Damen empfiengen”.82 And aesthetic judgements were made accordingly. Wachler (1793), for instance, observed: In den längeren epischen Gedichten herrscht unnatürlicher und überspannter Ton, ein Kind des Rittergeists gepaart mit Geschmacklosigkeit. […] Gefälliger und interessanter sind die kleineren lyrischen elegischen und historischen Gedichte: sie athmen heiße, innige und reine Liebe, seufzen über Sprödigkeit, mahlen Scenen der Natur, schildern oft sehr glücklich und naiv die Empfindungen des Sängers. Und sind reich an edlen Gedanken und treffenden Vergleichungen83
– a view that was echoed as late as Pölitz in 1825 (perhaps the last of its kind), after Friedrich Schlegel and Bouterwek had sung the praises of the poets.84 78
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Martin Opitz. Buch von der deutschen Poeterey. Breslau 1624 (ed. Herbert Jaumann. Stuttgart 2002 [RUB 18214]), p. 281. Christian Hofmann von Hofmannswaldau. Deutsche Übersetzungen und Getichte. Breslau 1679–82, pp. )( )(– )( )(4. Karl August Ferdinand Küttner. Charaktere teutscher Dichter und Prosaisten. Vol. 1. Berlin 1781, pp. 25–36. Koch (n. 43), p. 71. Friedrich Just Riedel. Über das Publikum. Briefe an einige Glieder desselben. Jena 1768, p. 145. Johann Friedrich Ludwig Wachler. Versuch einer allgemeinen Geschichte der Litteratur. Für studierende Jünglinge und Freunde der Gelehrsamkeit. Lemgo 1793, p. 432. Karl Heinrich Ludwig Pölitz. Das Gesammtgebiet der teutschen Sprache, nach Prosa, Dichtkunst und Beredsamkeit theoretisch und practisch dargestellt. Vol. 1: Philosophie der Sprache. Leipzig 1825, p. 58, is the last remnant of a history that put poetry first: “Hält man übrigens die lyrischen und epischen Erzeugnisse dieser Zeit gegen
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No such claims are ever made about the primacy or equality of narrative, but the unbalance rights itself naturally in the early part of the nineteenth century. As the century progresses, it is hardly surprising to see Ulrich fall into the gradually changing pattern. August Wilhelm Schlegel, in his Bonn lectures of 1818, still views Ulrich squarely as a poet,85 but by 1830, Friedrich August Pischon’s influential history for schools gives him only brief mention in the lyric section and places the Frauendienst as a whole, oddly, in a miscellany of “Poetische Erzählungen” which included Der Arme Heinrich, Herrant von Wildaim, Helmbrecht, Salman und Morolf, and Pfaffe Amis.86 Koberstein mentions both poetry and narrative briefly, whilst Rosenkranz, Gervinus (as we’ve seen) and Schäfer (1836) place him in narrative.87 From the point of Lachmann’s Frauendienst edition in 1841 and Vilmar’s history of 1845, the narrative aspect of Ulrich’s work clearly dominates.88 Wackernagel comments fully upon it, with a brief aside about the beauty of the poetry,89 whilst Scherr locates Ulrich in the lyric section but describes him almost entirely in terms of narrative.90 This becomes the familiar pattern. With the exception of Goedeke
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einander; so stehen unverkennbar, nach ihrem ästhetischen Gehalte, die kleineren lyrischen Ergüsse höher, als die größern epischen Gedichte. Den letztern fehlt durchgehends die Anlegung eines tiefen, die mannigfaltigen Einzelnheiten gleichmäßig umschließenden Planes; dafür sind sie reich an Episoden, die nicht immer glücklich gewählt, und in ihrer Ausführung oft ermüdend sind; so wie auch ihre Sprache, bei den größern Gedichten, nicht selten den dichterischen Anstrich, und die Gleichmäßigkeit und Haltung des Tones verlor”. August Wilhelm Schlegel. Geschichte der Deutschen Sprache und Poesie. Vorlesungen, gehalten an der Universität Bonn seit dem Wintersemester 1818/19. Ed. Josef Körner. Berlin 1913 (reprint Nendeln / Liechtenstein 1968), p. 139. Friedrich August Pischon. Leitfaden zur Geschichte der deutschen Literatur. Berlin 1830 (consulted in 7th edn., Berlin 1843), p. 35. August Koberstein. Grundriß zur Geschichte der deutschen National-Litteratur. Zum Gebrauch auf gelehrten Schulen entworfen. Leipzig 1827, pp. 53 f.; Rosenkranz (n. 75), pp. 439 f.; Johann Wilhelm Schäfer. Grundriß der Geschichte der deutschen Literatur. Bremen 1836 (consulted in 12th edn., Berlin 1879), pp. 38 f. August Friedrich Christian Vilmar. Geschichte der deutschen National-Literatur. Marburg, Leipzig 1845, pp. 282–286. Wilhelm Wackernagel. Geschichte der deutschen Litteratur. Ein Handbuch. Basel 1851–1855 (vol. 1 consulted in 2nd edn. Ed. Ernst Martin. Basel 1879), p. 285. Johannes Scherr. Geschichte der deutschen Literatur. Zweite, durchgesehene und verbesserte Auflage. Mit fünfzig Portraits der ausgezeichneten Dichter und Gelehrten deutscher Nation. Leipzig 1854 (first edition, under the title Die deutsche Literatur in ihrer nationalliterarischen und wissenschaftlichen Entwicklung und in ihrer Einwirkung auf das geistige Leben der Völker, 1853), pp. 22 f.
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(1854), a remnant of the old miscellany style who brackets Ulrich with the Merigarto and Winsbecke,91 Eichendorff (1857),92 Ettmüller (1866/1867),93 Menzel (1858),94 Freytag (1859),95 Roquette (1862),96 Hahn (1860),97 Kluge (1869),98 Koenig,99 and Scherer (1883)100 privilege the life-story, making little reference to the lyric or letting the former stand for the latter. Clearly, the appearance of the Frauendienst in Tieck’s and Lachmann’s editions made Ulrich’s story available – but it is evident that the narrative elements were buoyed by the general surge in interest in romance in the nineteenth century that overturned the pattern of history from the previous two. With the exception of von der Hagen (below), no-one attempted an integrated reading of poetry and narrative like Uhland. 2. Whilst this shift in genre perspective was geared by general changes in literary history, it was equally motored by another of its basic assumptions: the notion of decline. At least as early as the 1680s, Hofmannswaldau and Morhof attested the view that German poetry rose in the Middle High German period and fell away again due to social phenomena (both refer to the “Hände des gemeinen Pöbels”).101 Hofmannswaldau dates 91
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Karl Goedeke. Deutsche Dichtung im Mittelalter. Hannover 1854 (consulted in 2nd edn. Ed. Hermann Oesterley. Dresden 1871), p. 896 f. Joseph von Eichendorff. Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands. Paderborn 1857 (consulted in 2nd edn., 1861), p. 113 f. Ludwig Ettmüller. Herbstabende und Winternächte. Gespräche über deutsche Dichtungen und Dichter. Stuttgart 1865–1867. Vol. 2: Erzählende Dichtungen des dreizehnten bis sechzehnten Jahrhunderts (1866), pp. 577–580. Vol. 3: Die höfischen Minnesinger und Meister des 13. Jahrhunderts, das Volkslied und das Schauspiel des 14.–16. Jahrhunderts (1867), p. 5. Wolfgang Menzel. Deutsche Dichtung von der ältesten bis auf die neuste Zeit. Vol. 1. Stuttgart 1858, p. 340. Gustav Freytag. Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Leipzig 1859–1867 (vol. 1 consulted in 5th edn., 1867), pp. 541–552. Otto Roquette. Geschichte der deutschen Literatur von den ältesten Denkmälern bis auf unsere Zeit. Stuttgart 1862–1863 (vol. 1 consulted in 2nd edn. under the title Geschichte der deutsche Dichtung von den ältesten Denkmälern bis auf die Neuzeit, 1872), pp. 150 f. Werner Hahn. Geschichte der poetischen Literatur der Deutschen. Ein Buch für Schule und Haus. Berlin 1860 (consulted in 5th edn., 1870), p. 67. Hermann Kluge. Geschichte der deutschen National-Litteratur. Zum Gebrauche an höheren Unterrichtsanstalten und zum Selbststudium bearbeitet. Altenburg 1869, p. 43. Robert Koenig. Deutsche Literaturgeschichte. Bielefeld, Leipzig 1879 (consulted in 15th edn., 1883), p. 166–168. Wilhelm Scherer. Geschichte der deutschen Literatur. Berlin 1883, p. 211 f. Hofmannswaldau (n. 79), p. )()(4. Daniel Georg Morhof. Unterricht von der teutschen Sprache und Poesie. Kiel 1682, cited in Batts, Prolegomena (n. 16), pp. 37–40.
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the demise around the death of Frauenlob, but Bodmer, just over fifty years later, is more characteristic when using the Hohenstaufen rule to mark off the period. Riedel agrees, citing, typically, the “schnödes Handwerk” of the Meistersänger who come in the wake of political and social unrest and the passing of Friedrich II,102 and is not contradicted by Küttner (1781), Plant (1782), Meister (1785), and Wachler (1793).103 If the glorious period of the Minnesänger (as it was often described) unanimously began as a by-product of the crusades and the reign of Frederick Barbarossa, then it ended equally unambiguously amidst social and political unrest in the mid-thirteenth century. Given the hard-wired status of this decline in the literary historical imagination, it is surprising to see Ulrich hold his own at first against it. The evidence suggests that when authors were in a position to add a greater range of examples to the traditional schema, they were reluctant to confine them to its strictures. The general pattern could be cited at the beginning of a work or section but then left floating as poets were described semi-independently of it. A. W. Schlegel dispensed with the framework altogether, setting up four classes of lyricists, the first of which (“Eigentliche Minnesinger” such as Kaiser Heinrich) had Ulrich as its last (but not least) major example.104 Pischon, perhaps with the clarity required by his school audience and restrictions of space in mind, is peculiar for this early phase in naming Ulrich clearly as a representative of the “Zeit des Sinkens und Verfalles”.105 Yet more typically, Koberstein cited the death of Frederick II as an endpoint, but talked of Ulrich as one of the “vorzüglichst” of mid-thirteenth-century poets, unhinging the individual writer from the time he inhabited.106 Rosenkranz’s lyric runs from the late twelfth to the early fourteenth century,107 and Gervinus has no rise and fall at all. For Schäfer, Ulrich is a witness to the usual tale of “Zerrüttung” after the first half of the century, which is evidenced in the Frauenbuch (a role this short work takes on whenever it is mentioned in 102 103
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Riedel (n. 82), p. 145. Küttner (n. 80), pp. 25–29. Johan Traugott Plant. Chronologischer, biographischer und kritischer Entwurf einer Geschichte der deutschen Dichtkunst […] auf das Jahr 1782. Stettin 1782, p. 155; Leonhard Meister. Charakteristik deutscher Dichter, Nach der Zeitordnung gereyhet, mit Bildnissen von Heinrich Pfenniger. Vol. 1. Zurich 1785, p. 58; Wachler (n. 83), pp. 430 f. A. W. Schlegel (n. 85), pp. 139 f. Pischon (n. 86), p. 14. Koberstein (n. 87), p. 64. Rosenkranz (n. 75), p. 473.
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the nineteenth century), but the poems are praised for their “zierliche Sprache” and “Gewandheit” and the Frauendienst seems unaffected.108 Von der Hagen recognises decline, but Ulrich is somehow immune from it, preserving for posterity the “Herrlichkeit und den Schwung des ritterlichen Lebens jener durch die größten Dichter, Ritter und Fürsten zum höchsten Glanz erhobenen Zeit Deutschlands”.109 By the time Gustav Freytag came to write his history staple of the Bildungsbürgertum in 1859, Bilder aus der deutschen Vergangenheit, however, a very different picture had emerged: Aus der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts hat uns der steierische Ritter Ulrich von Lichtenstein geschwätzig in langgesponnenen Strophen die ergötzlichen Schicksale seiner höfischen Neigung überliefert. Er hat allerdings eine Aehnlichkeit mit Don Quixote; ehrbar und ernsthaft mit größter Selbstentäußerung gibt sich sein pedantischer und ziemlich hausgebackener Geist dem phantastischen Spiele hin, seine Enttäuschung macht ihn wankend, seine Verhöhnung irre, jahrelang bringt er vergebens seine Huldigungen dar und seine letzte Freude ist, die Niederlagen zu erzählen. Nur darf man nicht meinen, daß die Weise seines ritterlichen Dienstes und das Vertrödeln seines Vermögens und seines Lebens in gefahrvollen Tändeleien eine Ausnahme gewesen sei, welche seinen Zeitgenossen auffiel. Er that nur, was damals höfischer Brauch des Ritterthums war. Wenn er im Frauenkleide als Venus von Venedig bis über Wien hinaus gezogen kam und unterwegs bei jedem Nachquartiere in seiner Verkleidung Speere brach und zum Ritterspiel aufforderte, oder wenn er später ebenso als König Artus die östereichischen Ritter herausforderte und mit den Namen der Tafelrunde schmückte, so entsprachen diese poetischen Fahrten genau der Mode, und Männer und Frauen spielten bei der Maskerade lustig mit, zuweilen in ähnlicher Verkleidung.110
Significantly, Freytag ends his chapter with one of the most precise and earliest datings of MHG decline: “Der höfische Frauendienst verlor seine Bedeutung in der eisernen Zeit, welche etwa seit 1220 über Deuthschland kam” (p. 552). From the 1840s to the 1860s, therefore, Ulrich had become increasingly associated with the incipient slide which had been so definitely yet vaguely asserted for two centuries of literary history. The reasons for this are far from straightforward.
108 109 110
Schäfer (n. 87), pp. 38 f. Von der Hagen. Minnesinger 4, p. 322. Freytag (n. 95), pp. 541 f.
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5. Significant loss of reputation As literary history developed in the nineteenth century, these two changes – the rise of narrative over lyric and the gradual precision of decline – were on the move like tectonic plates. Of themselves, they might eventually have sealed Ulrich’s fate, but they interacted with further significant tremors that accelerated the direction in which they were heading. The appearance of Lachmann’s edition of the Frauendienst and the Frauenbuch in 1841 should have ennobled Ulrich in the paean of medieval poets but dealt the first unambiguous blow to his reputation instead.111 Originally Docen had intended to produce a scholarly edition in the first decade of the century, but postponed his plan in deference to Tieck. When Docen died, professional commitments prevented Lachmann’s friend Schmeller from taking on the task, leaving the leading proponent of the discipline that would dominate the study of German literature to assume the reins. Lachmann was reluctant from the beginning, and in an irascible afterword expressed his irritations with the project he had just completed. For one, with the appearance of Bodmer’s edition of the Paris lyric manuscript (1759), Docen’s additions (1806), and Tieck’s “nicht ohne vortheil prosaische und abkürzende bearbeitung” of 1812, “[war] die blüte des anmutigsten und wichtigsten in diesem bande schon lange vor seinem erscheinen gebrochen” (p. 680). And for another, unlike Tieck who had been allowed to keep the manuscript in his Munich room for some 12 weeks,112 Lachmann had found the Bavarian authorities downright obstructive. Yet despite having his pupil Wilhelm Wackernagel’s publishable version (via Emil Braun’s transcription) in 1834, a further seven years would elapse before the edition went into print with Theodor von Karajan’s notes (delivered in 1839) and the Frauenbuch (which Wackernagel had transcribed as early as 1828). Perhaps the delays lay in the fact the texts themselves brought little cheer: the Frauenbuch – although being made accessible for the first time – was “an sich von keiner grossen erheblichkeit” (p. 680), whilst the Frauendienst seemed only to baffle the austere philologist. Having hoped “die näheren landsleute Ulrichs würden sich der dankenswerthen mühe bald und gern unterziehen” because “die eröterung des historischen wäre ihnen wichtiger und leichter gewesen”, Lachmann famously noted:
111 112
Ulrich von Liechtenstein. Ed. Lachmann, pp. 680–682. Hölter (n. 8), p. 47.
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ja uns Norddeutschen ist selbst des erzählers character wenig verständlich, der mit einer uns unbegreiflichen zähigkeit und geduld bis zum äussersten punkte die ärgsten verhöhnungen erträgt, ob er gleich über ihre meinung sich nicht im geringsten teuscht. Aber vermutlich theilten sie mit uns den widerwillen gegen die fast durchaus läppischen gedanken, in denen man auch einem begabten dichter in ernster und bewegter zeit sein ganzes leben umher zu treiben nicht gern gestattet (p. 680).
So convinced was he that others would share his opinion, Lachmann was prepared to risk his reputation with inaccurate philology (“vielleicht ist auch hie und da ein fehler stehn geblieben, oder ein mahl verändert was ein anderes mahl geduldet ist; wie man denn bei einem werke des zweiten oder dritten ranges leicht versucht wird seine kraft zu sparen”, p. 681) and inattentive scholarship (“die anmerkungen [sind] ohne besondere vorbereitung hingeworfen”, p. 682). Whilst Lachmann’s disapproval will have altered perceptions of Ulrich, it was not, however, the major turning point. Ulrich’s fortune changed, rather, via a series of more indepth treatments in which Lachmann played little or no role. These began with the longest published account of Ulrich’s work of the time, which appeared in Friedrich von der Hagen’s Minnesinger and ran to 84 pages. Lachmann might have gone out of his way to denigrate von der Hagen in the afterword to his Ulrich edition (disputing the latter’s claim to have influenced his Walther edition and petulantly pronouncing his Ulrich chapter useless, pp. 681 f.); and von der Hagen’s work on the lyric might have been slated by prominent representatives of rival factions within the profession, but it became extremely influential throughout the nineteenth century in general113 and – as we shall see – played a significant part in the Ulrich debate in particular. Whilst the epic, and the Nibelungenlied specifically, had drawn von der Hagen’s attention as representatives of pure Germanic literature, he had catholic tastes in his desire to promote medieval literature in the public and university spheres. He wrote literary histories himself (Literarische Übersicht, 1808, Literarischer Grundriß zur Geschichte der Deutschen Poesie, 1812) and took an early shine to Minnesang (despite its obvious foreign influences) having attended Schlegel’s Berlin lectures and been recommended Tieck’s lyric edition (in 1803), to which he published addenda and extensive bio-bibliographical notes in 1805. Given the much-delayed appearance of Uhland’s literary history, von der Hagen is the first to grapple fully with the status of Ulrich’s text in its mediation between literature and reality. From the publication of Tieck’s 113
Grunewald (n. 13), pp. 204–208.
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edition, the historical veracity of the Frauendienst had been in little doubt, but there had been some awareness of the work’s artistic nature too. Pischon (1830) saw it as “sein eigenes Leben poetisch dargestellt”,114 Schäfer (1836) as “in dichterischem Gewande geschidert”.115 Koberstein (1827) found it an “auf geschichtlichem Grunde ruhende und vielleicht nur poetisch ausgeschmückte Selbstbiographie”,116 a phrase picked up by Laube (1839) who read it as “ein zusammenhängendes Bild des damaligen, erkünstelten Lebens”.117 Von der Hagen falls squarely within this pattern, hailing the work both as a unique example of a text “[dessen] unmittelbare dichterische, nicht erdichtete Schilderung eines edlen, treuherzigen, phantastischen und wunderlichen Lebens uns ein Bild des damaligen Rittergeistes und damit innig gepaarten Minnesanges vorhält” (pp. 321 f.) and a “von Dichtung durchdrungenen und durchwebten, und durch sie ausgesprochenen Buches” (p. 395). Given the luxury of space, it is the relation between these two that von der Hagen treats at length but fails ultimately to resolve. Von der Hagen sees the period both as rooted in the church but dominated by “eine[r] wunderliche[n] Art neuer Mythologie, in welcher, nach einem eigenthümlich Germanischen geheimnisvollen Grundzuge, eben der Frauendienst, die Erwählung einer Herrin und Königin der Gedanken und deren unbedingte Verehrung durch ritterliche Thaten und Lieder, der erste Glaubensartikel war” (p. 395). This service was far from uncomplicated, however. In a refinement of the Rosenkranz-Gervinus discussion, it “erhub sich zwar im Gedanken über die Sinnlichkeit zur rein geistigen Verehrung […] aber eben dies Leibesleben der auserwählten Schönen rief den unvertilgbaren Widerstreit der Sinnlichkeit gegenseitig immer von neuem hervor, und der Frauendienst trachtete zugleich, sein selbstgeschaffenes Heiligenbild zu entgöttern” (p. 395). For von der Hagen, this is a dynamic which Ulrich seems perfectly to exemplify: Ulrich hat es, bei aller anfänglichen Blödigkeit und zarten Scheu, – den Kennzeichen echter Minne, – doch in seiner derben Sinnlichkeit bald auf völlige Gewährung aller Wünsche angelegt; […] [es] ist durch den Wankelmuth der Geliebten die ewige hohe Minne dahin, und endet mit Zorn, Schelt- und Schmähliedern. Eben sobald ist Ulrich der Freiheit überdrüßig, und erwählt sich eine andere edle Frau […]. So betrachtet, ist diese ganze Erscheinung noch ziemlich harmonisch, und der schmerzliche Verlust der ersten Geliebten löset sich gefällig durch die zweite (pp. 395f.). 114 115 116 117
Pischon (n. 86), p. 35. Schäfer (n. 87), p. 39. Koberstein (n. 87), p. 53. Heinrich Laube. Geschichte der deutschen Literatur. Vol. 1. Stuttgart 1839, p. 56.
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In this sense, therefore, knighthood and the related ideology of love seem to function when belief and experience shape the telling of it. They are a process, “das unerschöpfliche, bis auf die neuste Zeit so manigfaltig durchgespielte Grundthema aller eigentlichen Romane” (p. 395). At the same time, the Frauendienst was not devoid of “starke Uebelstände”, most notably the fact that Ulrich was both a husband and father representing “ein[en] doppelte[n] Anstoß gegen göttiche und menschliche Gebote” (p. 396) and bringing the relation between literature and life crashing down: Die uralte, tief ins Morgenland zurückgehende dichterische Gestaltung solcher Verhältnisse ist Tristan und Isolde, diese, mit ihrem Nachbilde Lanzelot und Ginerva in der Ritterwelt vor allen und überall verbreitete und manigfaltig, damals auch schon Deutsch, von Hobergen und Gottfried, dargestellte Dichtung, welche Ulrich auch in einem seiner schönen Lieder auf sich anwendet, und deren Abenteuer er selbst (als Aussäßiger u. s. w.) wiederholt. […] Die echte Dichtung aber löst solche Lebensfragen wunderbar dadurch, daß sie dieselben ganz in ihr Reich hinüberspielt, sich aufrichtig nur für wahre Dichtung gibt, und so mit sich versöhnt: das geschieht im Tristan durch den Zaubertrank voll ewiger Liebe und Leide, dessen Stelle neuerdings die Wahlverwandschaften vertreten, und dessen reineres Germanisches Gegenbild der Trank der Vergessenheit ist, wodurch Siegfried der Mann zweier Frauen wird. Die Lebensgeschichte, zumal die eigene, wenn auch im dichterischen Kleide, kann sich freilich nicht so entschuldigen: hier kann eben nur die Wahrheit und Aufrichtigkeit retten, die Darstellungsweise manches thun (pp. 396 f.).
Von der Hagen then cites extenuating circumstances – the fact that Ulrich lived in the “Grenzländern” (S. 397) where foreign sexual customs hold some sway; or, to his credit, the pilgrimage to Rome and the intention to participate in a crusade. In sum, however, when considering the figure, there is “noch immer ein bedeutender Bruch übrig” (p. 397). Nonetheless – like Uhland, Rosenkranz and Gervinus before him – von der Hagen lets the literary win out. Even if his own analysis is marked by an inability to pin down the exact relationship between literature and reality, it is primarily for the former, von der Hagen concludes, that Ulrich should be valued: so gewinnt […] der Dichter, was dem Menschen an Folgerichtigkeit abgeht, und wir erfreuen uns in allewege des herrlichen Mannes, der die Dichtkunst ebenso Ernst und gründlich anfaßte und betrieb, wie seine Ritterschaft, deren nothwendiger Theil sie war und welche er allein zugleich zu ihrem Gegenstande machte (p. 397).
Only seven years later, in one of the most popular, influential and longrunning of all German literary histories, Vilmar presented a distinctly
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less nuanced picture.118 Shoring up the conservative reaction of Vormärz, Vilmar was prone to sweeping generalizations and apodictic statements, examined works primarily for their moral content, sought to inculcate ethical principles, and inveighed heavily against all forms of foreign influence.119 Given his interpretation of the Arthurian romance as “französische Leichtfertigkeit, Frivolität und Lüsternheit”,120 it is hardly surprising that Ulrich was subjected to excoriation. If for von der Hagen the protagonist’s “Blödigkeit” had formed part of a positive process, for Vilmar it epitomized a story which began with a figure who “nichts Eiligeres zu thun hat, als sich in die Gebieterin zu verlieben” (p. 283) and ended, after “all diese[m] Spuk”, with the author doubting whether “Ulrich klug geworden ist” (pp. 285 f.). If von der Hagen credits Ulrich with the desire to join a crusade, then Vilmar writes off his unfulfilled intentions with a devastating “zu solchen Thaten ist Ulrichs überschwenglicher Minne erlahmter Geist zu schwach” (p. 285). And – most importantly – if von der Hagen excuses moral infelicities by privileging the Dichter over the historical personage, by separating, albeit clumsily, literature from life, Vilmar castigates the corrosive effects of extrapolating literature unreflectedly into life. The Frauendienst marked den Uebergang der Poesie in die Wirklichkeit, die Vermischung reiner, idealer Zustände mit dem gemeinen Leben, die Verwirklichung der Poesien eines Gottfrieds von Straßburg – eine Art genialer Lüderlichkeit – und somit den drohenden Untergang der Minnepoesie (p. 282).
Ulrich’s “Blödigkeit” – with a lover who was “keine Isolde” (p. 284) – ultimately demonstrated “welchen zerstörenden Einfluß die britischen Phantasieen, insbesondere Gottfrieds Tristan auf die Wirklichkeit zu äußeren vermochten” (p. 286). Vilmar’s history, not least due to its own longevity, had a massive influence on the popular accounts that followed in particular. But its view of Ulrich was soon supported in the realm of scholarship by Wilhelm Wackernagel, who had not only transcribed the texts for Lachmann but went on to become Professor in Basel and write his own literary history in the early 1850s.121 Wackernagel had studied in Berlin under both Lachmann and von der Hagen (1824–1828), and his attention to scholarly detail is evident. Like Lachmann, he did not care much for Ulrich, nor 118 119 120 121
Vilmar (n. 88). Batts, 1835–1914 (n. 16), p. 33. Ibid. Wackernagel (n. 89).
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any literature for that matter which fell outside a thirty-year period either side of 1200. Nonetheless, he operated with a sophisticated notion of the “Blütezeit” that recognised the faultlines that would eventually lead to its dissolution. Ulrich features prominently: as an example (alongside Wolfram von Eschenbach) of the low standards of education in the age (p. 136); as the primary case of a poet who had taken the precepts of Minnesang and Frauendienst “bis zur Schwärmerei, bis zur Thorheit, bis zur Verirrung” (p. 133); as evidence for the lack of real commitment to crusading that marked the political and social decline at the end of the Hohenstaufen reign (p. 126); and as a turn towards the aridness of factual account that had taken root early with the Kaiserchronik but only later sprung to life with new chronicles and continuations (p. 285). Despite Wackernagel’s learned stance – his history is the first to be heavily and ostentatiously footnoted – his tone with Ulrich is Vilmaresque: Ulrich typifies the “Einwirkung der brittischen (sic) Romane” (p. 133), exudes “Liebesthorheiten” (p. 285), and epitomizes the nobility’s desire, in decline, to ape the Arthurian romance (pp. 243 f.). Once again, Ulrich is castigated for importing literature into reality. Taken together, von der Hagen’s well-meaning vacillation, Vilmar’s disambiguation of it, Lachmann’s prosaic unwillingness to engage with ‘Southern German’ peculiarities and Wackernagel’s blanket negativity combined irrevocably to change Ulrich’s image by the early 1850s. Different strands of the emerging discipline might have been involved, but certain constants remained central. The influence of literature on reality and the moral defect of marital infidelity loomed large. Ulrich was not the only author to attract such negative attention. Gottfried, with whom he was so glowingly compared in the early part of the century and whose work he is – correctly – portrayed as having drawn upon, comes in for similar criticism. As Waltraud Fritsch-Rößler notes in her monograph on Gottfried through literary history, “die Namen derer […], die – und ganz besonders im Tristan-Kapitel – literarische Fiktion und mittelalterliche Realität, oder was sie dafür halten, vermischen, sind im 19. Jahrhundert Legion”.122 Moral condemnation also abounded: Vilmar, of course, railed against the “Verhöhnung der Gattentreue”, his “Neigung zu feuer-, wasser- und also sexualmetaphorischen Ausdrücken” proving “stilbildend”, but cooler heads, such as Gervinus before and Scherer afterwards, maintained a moral tone too until Ehrismann’s landmark at122
Waltraud Fritsch-Rößler. Der “Tristan” Gottfrieds von Straßburg in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung (1768–1985). Frankfurt a. M. 1989, p. 480.
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tempt to distinguish between different levels of morality and effect in the 1920s.123 Yet, Gottfried’s Tristan had two advantages that Ulrich did not: first, for all his perceived faults, the hero did not make a fool of himself (“edle Heldenkraft, durch Leidenschaft verwüstet”, Scherer); and second, the work was of distinct stylistic quality (“man muß verdammen, aber bewundern und bedauern”, Gervinus).124 “Bei allen methodisch aggressiven Vorreden, Einleitungen, ‘Programmen’, waren es immer Gottfrieds Sprache und formale Darstellungskunst, die den Tristan für die Literaturgeschichte und also die Nachwelt ‘gerettet’ haben.”125 Whilst appreciative comments continued to be made about Ulrich’s lyric, these would never compensate for the apparent paucity of his narrative. The 1850s cemented Ulrich’s now dubious reputation. Regardless of ideological or aesthetic prism, the same image re-emerged. Distancing himself in general from Gervinus126 and taking a distinctly negative stance on the lyric in general, Johannes Scherr (cultural historian and later professor at the Polytechnicum in Zurich) hailed Ulrich as the Don Quixote of medieval German literature.127 Like Cervantes’s later hero, “muß[te Ulrich] sein romantisches Streben, die Poesie zu verwirklichen, mit allerlei offenhaften Mißgeschick büssen, ohne jedoch von seinen Tollheiten abzulassen” (pp. 22 f.). A clear record of “deutsches Leben und deutsche Dichtung, wie sie beim Erbleichen der hohenstaufischen Glanzperiode waren”, Ulrich was the very opposite of “den trefflichen Walther” of whom Germany had every right to be proud (p. 22). Scherr’s emphasis on the “gedankenarm und monoton” (p. 21) nature of the later lyric set him at odds with the romantics’ earlier appreciation of Minnesang’s “Klang und Form”, but romantic pedigree per se would do little for Ulrich in this decade. In his final work, a two-volume history of German literature, Joseph von Eichendorff took Ulrich severely to task.128 Educated by Görres, Fichte, and Friedrich Schlegel (he attended the 1812 lectures in Vienna), influenced by Arnim, Novalis and Tieck, and a writer whose work brimmed with praise of feminine beauty, Eichendorff held strict Catholic beliefs and shared Vilmar’s love of bravery, loyalty, honour and respect for the sanctity of marriage:129 “Der Minnesang der 123 124 125 126 127 128 129
Ibid., p. 479. Cited in ibid., p. 476. Ibid., pp. 479 f. Batts, 1835–1914 (n. 16), pp. 35 f. Scherr (n. 90), p. 22. Eichendorff (n. 92). Batts, 1835–1914 (n. 16), p. 191.
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Troubadours mag […] reicher, künstlischer, beweglicher und manigfacher sein; der deutsche dagegen ist bei weitem intensiver, keuscher, inniger, natürlicher und gedankenvoller” (p. 83). For Eichendorff, literature stood for the nation, with lyric the essential barometer of its wellbeing (pp. 112 f.), and given the inevitable narrative of thirteenth-century decline, he sought supporting evidence and found his star witness in Ulrich. Not only did the poetry exemplify a turn towards the conventional in literary production (“Alles wird gemacht und affectiert, und das ist überall der Tod der Lyrik”, p. 114), but the Frauendienst mixed “Lyrisches und Episches confus” (p. 113), blemishing – an argument scarcely ever repeated – the purity of the genre. For sinologist, Germanist and librarian Heinrich Kurz, Ulrich’s life was devoted to “keinen anderen Zweck, als die gemeinste Befriedigung der sinnlichen Lust” and proved beyond doubt “daß die ritterliche Dichtkunst auf durchaus unwahrer Sentimentalität beruhte, daß die ritterlichen Sänger nur gemachte und gesuchte Empfindungen darstellten, daß insbesondere der so hoch gepriesene Frauendienst derselben eine Lüge war, die sie sich selbst vorspiegelten”.130 Ulrich fared little better in Deutsche Dichtung von der ältesten bis auf die neuste Zeit by Wolfgang Menzel, editor of the Literaturblatt des Cotta’schen Morgenblatts and the Deutsche Vierteljahrschrift. Menzel’s work, one of the largest histories produced in the third quarter of the nineteenth century,131 was characterized by idiosyncratic judgements based on personal ethics and innate antipathy towards canonical authors,132 and his position on Ulrich was a familiar one, albeit with an interesting twist: Er dehnt, was sonst von der Huld, Güte, Herrlichkeit der Gottesmutter allein gesungen zu werden pflegt, auf alle Frauen, auf das Geschlecht selber aus. Ja er macht die Männer so ganz abhängig von den Frauen, daß er einmal (in Tiecks Ausgabe, S. 55) sogar der Männer Muth nur von den Frauen borgt. Daher auch die kindische, ja verrückte Idee, gleichsam selber eine Frau werden zu wollen in der tollen Verkleidung als Frau Venus. Weiter konnte die minnigliche Schwärmerei nicht gehen (p. 340).
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Heinrich Kurz. Geschichte der deutschen Literatur mit Proben aus den Werken der vorzüglichsten Schriftsteller. Mit vielen Illustrationen in Holzschnitten. Von den vorzüglichsten Künstlern Deutschlands. Leipzig 1851–1859 (vol. 1 consulted in 4th edn., under the title Geschichte der deutschen Literatur mit ausgewählten Stücken aus den Werken der vorzüglichen Schriftsteller, 1864), p. 96. Menzel (n. 94). Batts, 1835–1914 (n. 16), pp. 39 f.
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In the nineteenth (and indeed twentieth) century, literary history treated Ulrich’s ‘cross-dressing’ without a hint of sexual connotation. Even Ludwig Ettmüller’s popular Herbstabende und Winternächte of the 1860s was no exception.133 His straight academic history of 1847 had only briefly touched upon the Frauendienst, as a “großes aber etwas langweiliges Gedicht”,134 but it emerged twice in the later work, told by different characters exchanging information about the nation’s cultural history. In volume three, the familiar pattern is followed, Ulrich proving the moral rule in medieval Germany ex negativo: In Deutschland konnte das Unwesen nie so weit um sich greifen, als dieß in Frankreich geschah; dazu war der Sinn des Volkes zu gesund. Kommen in den deutschen Rittergedichten dergleichen Dinge vor, so dürfen wir nie vergessen, daß ihnen allen französische Gedichte zu Grunde liegen. Auch dient dafür wieder Uolrichs Frauendienst zum Zeugen, denn Uolrich wird stets höhnisch abgewiesen (p. 5).
But in the second volume, a more playful tone is introduced when a character takes the floor, mocking Lachmann and literary history as something coming “aus bürgerlichem Munde”, and noting “Bürger haben über adelig Sentimens kein Urtheil” (pp. 576f.). When the story is finished, the narrator is thanked profusely by a nun, Küngold-Veronika, who gushes “Wie schön, daß Uolrich die gemeinen Fesseln der Ehe verschmähte und sein Leben einzig der hohen Minne weihete, wie schön, wie herlich! Eine keusche Braut Christi dürfte solche Huldigung annehmen” (p. 579), before being interrupted by another character who informs her of the Liechtensteiner’s marital and parental status and questions the supposed innocence of ‘hohe Minne’. The interjection causes comic shock (“Die Nonne hüllte sich in ihren Schleier, schwieg und ließ die Kugeln ihres Rosenkranzes durch ihre Hände gleiten; sie fürchtete den alten Herzog und wollte nicht abermals von ihm zurechte gewiesen werden”, p. 579), and displeasure is voiced on her behalf by yet another figure: Uolrich gefällt mir gar nicht, nahm jetzt Irmgard das Wort. Nennen wir Don Quixoten einen Narren, wie sollen wir dann den steierischen Ritter nennen? Der Manchaner hat unleugbar viel höhere Gesinnung; er begeht Tollheiten, aber er begeht sie immer, um dem gekränkten Rechte Genugthuung zu verschaffen, denn das, glaubt er fest, sei seine Bestimmung. Uolrich aber vollbringt Alles nur aus närrischer Eitelkeit. Daß es aber unter den Rittern damals viele Narren gab, wie er einer war, das ergiebt sich daraus, daß ihm so viele zum Kampfe um nichts entgegentra133 134
Ettmüller (n. 93). Ludwig Ettmüller. Handbuch der deutschen Literaturgeschichte von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten, mit Einschluß der angelsächsischen, altscandinavischen und mittelniederländischen Schriftwerke. Leipzig 1847, p. 261.
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ten. Hätte er nur seine zahlreichen Lieder und seine Büchlein gedichtet, seinen Frauendienst aber nicht geschrieben, ich wenigstens würde ihn höher stellen, als ich es so vermag (pp. 579 f.).
It is impossible to pin Ettmüller down. The dialogic nature of the passage is reminiscent of Tieck’s Reise in’s Blaue hinein, and whilst one of the volumes stereotypically cites Ulrich as a moral litmus test, the other generates humour from a collage of Ulrich stereotypes. Such treatment is entirely in keeping with Ettmüller’s intellectual soul mates (who included Richard Wagner),135 but it remains exceptional in its light-touch and ambiguity and – from our perspective – underscores the consolidation of a standard view in the 1850s and 1860s.
6. Consolidation This became entwined with new developments that appear to have emerged in some literary histories of the 1860s. Further work would be required to trace the phenomenon in all its ramifications, but it is clear that the decade witnessed greater focus on genres such as Minnesang as a l i t e r a r y s y s t e m . Whilst the ideal stage outlined recently by RussianFormalist-inspired David Perkins – “[t]he proper subject of literary history is not the succession of works but the succession of systems, for to describe the work without describing the system in which it functions is meaningless”136 – had not remotely been reached, Ulrich was increasingly considered with Neidhart, often with Tannhäuser, and sometimes with Frauenlob.137 Whilst this change might suggest his lyric had come to attention again, it is evident that the trend to privilege narrative continues: in the case of Ulrich that narrative merely stands for the lyric output. There is no detailed account of Neidhart’s fate in literary history but, with the key exception of Eichendorff (who stressed “das Materielle, Grobsinnliche und Obscöne”),138 he clearly enjoyed good press in the nineteenth century. Vilmar produced a surprisingly balanced treatment,139 Wackernagel mentioned him in the same breath as Walther,140 and 135 136 137
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My thanks to Volker Mertens for this insight. David Perkins. Is Literary History Possible? Baltimore, London 1992, p. 170. On Neidhart and Tannhäuser in relation to Ulrich, see Knapp in this volume, pp. 110–113. Eichendorff (n. 92), p. 114. Vilmar (n. 88), p. 286–288. Wackernagel (n. 89), p. 124.
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Scherr, for whom the lyric held little allure, welcomed his innovative style.141 In his Geschichte der poetischen Literatur der Deutschen, author and private scholar Werner Hahn, however, pulled Neidhart, Ulrich and Tannhäuser together as examples of the “Entartung des Minnesangs” which “trat seit 1220 ein: einerseits durch Nithart und Tanhäuser, welche den ritterlichen Gesang zur roheren Art der sogenannten Höfischen Dorfpoesie erniedrigten; ferner durch Ulrich von Lichtenstein, der im Frauendienst die Minne als Karikatur zeigte”.142 This grouping ran through various permutations over the subsequent decades, but the low esteem in which Ulrich was held formed its common denominator. For author and academic Otto Roquette, Neidhart came out positively, Tannhäuser and Ulrich negatively.143 Whilst the former was denigrated for “das Prunken mit schlecht verdauter Gelehrsamkeit, so wie die Verderbniß der Sprache durch Einmischen französischer Worte” (p. 150), the latter was portrayed as an author reacting to the decline around him but only making it worse in the process: [D]a […] an den Höfen der Geschmack für Poesie abzunehmen begann, so suchte er sich das Leben aus eigner Hand nach einem abenteuerlichen Plan zurecht zu machen. Darin zeigt er, zu welchem Grade der Thorheit, des Unsinns und des Verfalls das Minnesängerthum bereits gelangt war. […] Jene reine, zarte Frauenverehrung der besseren Zeit ist bei ihm nur noch ein überkommenes Gewand, unter dem die Genußsucht des Wüstlings sich nicht so wohl verbirgt, sondern daß mehr als ein Modekleid getragen wird.
Wilhelm Lindemann praised Neidhart and Tannhäuser, but criticized Ulrich (for his ridiculous narrative that spoilt the poems) along with Hadlaub.144 Hermann Kluge cared neither for Neidhart (who introduced “Plumpheit”, “Putzsucht”, “Raufereien” and “Liebeshändel”) nor for Ulrich (“die Verirrungen des ritterlichen Minnedienstes, der seine sittliche Reinheit ganz verloren hatte”), coupling them for good measure with Heinrich von Meissen, who marked the transition to Meistergesang.145 And even within a structure that dated the ‘Blütezeit’ from 1190 to 1300 and its ‘Verfall’ from 1300 to 1500, Robert Koenig dragged Ulrich into the mire, citing him as the prime culprit of the “Entartung 141 142 143 144
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Scherr (n. 90), pp. 21 f. Hahn (n. 97), p. 66. Roquette (n. 96), pp. 150 f. Wilhelm Lindemann. Geschichte der deutschen Literatur. Freiburg 1866 (consulted in 4th edn. under the title Geschichte der deutschen Literatur von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, 1876), pp. 206–209. Kluge (n. 98), p. 42 f.
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des Minnesangs” that provoked the “Spott” of Steinmar’s drinking songs and, somewhat anachronistically, Neidhart’s ‘Dorfpoesie’ (which in turn caused the genre to sink “immer tiefer ins Gemeine”).146 The origin of these pairings is not entirely clear, but the rise of more focused scholarship in the subject at university will have played a role. Kluge, for instance, noted Walther’s complaint about other poets’ unfuoge at court (a line understood to relate to Neidhart) and in the course of the 1860s,147 Uhland’s (albeit nuanced) description of Neidhart’s poetry as ‘Gegensang’ finally found its public.148 With Ulrich’s negative image already well established in the previous decade, it is hardly surprising that it began to cling, magnet-like, to other suitable objects in its proximity. This was a particularly critical juncture too: three of the histories mentioned – Hahn, Kluge, and Koenig, all written for ‘Haus und Schule’ – went on to have prolific print-runs (16 from 1860 to 1910, 44 from 1869 to 1937, and 37 from 1879 to 1930 respectively) and disseminated an aesthetically and morally second-rate Ulrich to a broad public. Even Wilhelm Scherer, when he came to write his Geschichte der deutschen Sprache, a work commonly held as a milestone in scientific method (and which appeared in the UK and US, and ran to 20 German editions until 1949), simply rehearsed familiar configurations.149 Not only were Neidhart, Tannhäuser and Ulrich placed in the scales, with the latter found wanting, but there were unmistakable echoes of Vilmar (Tristan and marital status): [Ulrich] war ein oberflächlicher Weltmensch, der schöne Frauen, gutes Essen, schöne Rosse, gutes Gewand und schöne Helmzierde als die fünf höchsten Freudenquellen des Mannes aufzählt. Zweien Damen hat er gedient, und es gab keine Thorheit, deren er für sie nicht fähig war (p. 211).
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Koenig (n. 99), p. 168 f. Kluge (n. 98), p. 42. See Ludwig Uhland. Werke. Vol. III (n. 69), pp. 723–740. Scherer (n. 100). English version: A History of German Literature. Oxford 1886. US version: A History of German Literature. New York 1886. A translation by F. C. Conybeare served both volumes. On Scherer see: Wolfgang Pfaffenberger. Blütezeiten und nationale Literaturgeschichtsschreibung. Eine wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung. New York 1980; Wolfgang Höppner. Das “Ererbte, Erlebte und Erlernte” im Werk Wilhelm Scherers. Cologne 1993; W. H. “Literaturgeschichte erzählen. Zur Methodologie der Literaturwissenschaft bei Wilhelm Scherer.” In: Geschichte der österreichischen Literatur. Vol. 1. Ed. Donald G. Daviau and Herbert Arlt. St. Ingbert 1996, pp. 24–39; Martus Steffan. “‘jeder Philolog ist eine Sekte für sich.’ Wilhelm Scherer als ein Klassiker des Umgangs mit Klassikern.” Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 53, 2006, pp. 8–27.
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Strangely, however, the three-way comparison compromised Scherer’s overall schema. Based on a positivistic model, which understood the history of German literature as peaking and troughing in three waves around 600, 1200, and 1800, and operating with distinct notions of classical, epigonal and innovative writing, Scherer both praised Neidhart and Tannhäuser as renewers, but lumped them ultimately with Ulrich as markers of literary decline: Ulrich von Lichtenstein führte den Minnedienst practisch ad absurdum; Neidhart leitete ihn auf die Bauern ab; Tannhäuser verspottete ihn. Jeder für sein Theil trug dazu bei, den edlen Minnesang zu untergraben. Und in der That hat er sich in Oesterreich und Baiern kaum bis ans Ende des dreizehnten Jahrhunderts gehalten (p. 215).
If Neidhart and Tannhäuser at least enjoyed some light and shade, then, there was little hope for Ulrich.
7. The twentieth century and beyond The remainder of this survey need only be brief. For one, as noted above, literary history had run its course as a mainstay of academic discourse by the end of the nineteenth century. There would continue to be landmark histories of great significance, but the production of dissertations, monographs and articles dominated the field.150 The results of those particular endeavours form the basis of the theme-related essays in this volume. For another, only minor modifications would occur in Ulrich’s literary historical image and the assumptions that lay behind it. Vogt and Koch,151 Biese,152 Nadler,153 Schneider,154 and Wiegler,155 for 150
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There were some 25 such German-language studies on Ulrich between 1871 and the outbreak of the First World War. Friedrich Vogt and Max Koch. Geschichte der deutschen Litteratur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Leipzig, Vienna 1897, pp. 135–137. Alfred Biese. Deutsche Literaturgeschichte. Vol. 1: Von den Anfängen bis Herder. Munich 1907–1911 (consulted in 7th edn., 1914), pp. 140–143. Josef Nadler. Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. Vol. 1: Die Altstämme (800–1600). Regensburg 1912, p. 149. Hermann Schneider. Heldendichtung, Geistlichendichtung, Ritterdichtung. Heidelberg 1925 (consulted in the 2nd edn. Ed. Julius Petersen und Hermann Schneider. Heidelberg 1943), pp. 493–496, 536. Paul Wiegler. Geschichte der deutschen Literatur. Vol. 1: Von der Gotik bis zu Goethes Tod. Berlin 1930, pp. 70–72.
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instance, give him little credit; and Rackl / Ebner,156 Engel,157 and Francke158 continue the comparisons with Neidhart and Tannhäuser, with only Salzer thinking inventively about the relation.159 ‘Entartung’ and Don Quixote reappear frequently, and it is left to Ehrismann – as in his re-analysis of Gottfried’s Tristan – to step back from immediate moral judgement and separate out the different levels of literature and reality in the text.160 With equal clarity, however, Ehrismann’s succinct analysis of Ulrich’s ‘poor’ narrative and lyrical quality, leave little room for argument and the other rare cases of sophisticated analyses in the period (e.g. Schwietering161) hardly alter the picture. The National Socialist period changed little, although – it is worth noting – it added no new tropes,162 and if anything erased rather than castigated the author as the establishment pushed literary heroes (such as Wolfram, Walther and Gottfried) fit for the German people.163 Post-1945 literary history was chiefly characterized by a move away from aesthetic or moral judgement. The occasional exception still occurred, and – as in the previous century – could even enjoy a long and
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Joseph Rackl and Eduard Ebner. Deutsche Literatur-Geschichte für höhere Schulen und zum Selbstunterricht. Nuremberg 1907 (consulted in 5th edn., 1914), p. 60. Eduard Engel. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis in die Gegenwart. Vol. 1: Von den Anfängen bis Goethe. Leipzig 1906 (vol. 1 consulted in 27th–29th ed. under the title Von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert, 1919), pp. 114, 117 f.; E. E. Kurzgefaßte deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis in die Gegenwart. Ein Volksbuch. Vienna 1909 (consulted in 37th edn., Leipzig 1929), p. 46. Kuno Francke. Die Kulturwerte der deutschen Literatur in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Vol. 1: Die Kulturwerte der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin 1923 (consulted in 2nd edn., Berlin 1925), pp. 106 f. Anselm Salzer. Illustrierte Geschichte der deutschen Literatur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Munich 1912 (consulted in 2nd edn., Regensburg 1926), p. 300–304. Gustav Ehrismann. Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgange des Mittelalters. Vol. 2.2: Die mittelhochdeutsche Literatur. Schlußband. Munich 1918–1934 (Handbuch des deutschen Unterrichts an höheren Schulen 6), p. 262–265. Julius Schwietering. Die deutsche Dichtung des Mittelalters. Potsdam 1932 (reprint Darmstadt 1957) (Handbuch der Literaturwissenschaft 25), p. 266 f. Walther Linden. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Leipzig 1937, pp. 112 f.; Hans Naumann. Deutsches Dichten und Denken von der germanischen bis zur staufischen Zeit. Berlin 1938, p. 105; Franz Koch. Geschichte deutscher Dichtung. Hamburg 1937 (consulted in 2nd edn., 1938), pp. 61 f. Von Deutscher Art in Sprache und Dichtung. Ed. Gerhard Fricke, Franz Koch, and Klemens Lugowski, 5 vols. Stuttgart u. a. 1941. See in particular pp. V. and VIII of Koch’s introduction.
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prominent life,164 but on the whole, accounts became objective, and concentrated almost exclusively on the relationship between literary models and reality in the text. Whilst this aspect, of course, had played a major role throughout the nineteenth century, the removal of the moral imperative and the desire to break with worn-out judgements brought a clearer focus on the literary concerns of the text. Contrasts and disjunctures – as the most recent complete history of German literature notes – “may be the key to understanding the entire text as a complex of literary construction and historical reality”,165 and this statement could stand pars pro toto for the post-war phase. There is much quality in the discussion, and many short accounts repay revisiting.166 Any such gains, however, come at the cost of breadth. Except for Heinzle, virtually no-one refers to French or Occitan sources or the obvious comparison with Dante’s Vita Nuova; except for Bumke, there is little appreciation for Ulrich’s unique way of recording his own poems; there is no reflection on the orality, literacy or production of poetry (as there had been as early as von der Hagen).167 It is striking how little Ulrich’s lyric is taken 164
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For example, Wilhelm Bortenschlager. Deutsche Literaturgeschichte 1. Von den Anfängen bis zum Jahr 1945. 21st edn. of Brenner’s Geschichte der deutschsprachigen Literatur von den Anfängen bis 1945. Vienna 1986, p. 52. Thomas Bein. “1275, January 16. The Styrian Politician and Poet Ulrich von Liechtenstein Dies.” In: A New History of German Literature. Ed. David E. Wellbery. Cambridge/MA, London 2004, pp. 131–135, here p. 133. Deutsche Literaturgeschichte in Grundzügen. Ed. Bruno Boesch. Bern, Munich 1946, pp. 84 (Friedrich Ranke), 100 f. (Boesch); Helmut de Boor. Die Höfische Literatur. Verbreitung, Blüte, Ausklang. 1170–1250. Munich 1960 (Geschichte der deutschen Literatur 2), pp. 337–345; Deutsche Literaturgeschichte in einem Band. Ed. Hans Jürgen Geerdts. Berlin (East) 1965, pp. 71 f.; Max Wehrli. Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Stuttgart 1980 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 1), pp. 431–433; Joachim Heinzle. Vom hohen zum späten Mittelalter: Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert (1220/30–1280/90). Königstein/Ts. 1984 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit 2.2), pp. 30–32; Vom Mittelalter bis zum Barock. Ed. Ehrhard Bahr with the assistance of Franz H. Bäuml, Friedrich Gaede, Gerd Hillen (medieval section by Bäuml). Tübingen, Basel 1987 (Geschichte der deutschen Literatur. Kontinuität und Veränderung. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart 1), pp. 178–182; Ingrid Kasten. “Minnesang.” In: Aus der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit. Ed. Ursula Liebertz-Grün. Reinbek bei Hamburg 1988 (Deutsche Literatur: Eine Sozialgeschichte 1), pp. 164–184, here p. 182; Joachim Bumke. Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter. Munich 1990, pp. 113, 273–276, 310; Knapp, Geschichte der Literatur in Österreich 1, S. 482–492. Von der Hagen (n. 109), pp. 398 f.
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seriously, or even properly noticed in post-war accounts, lamentable how infrequently the Frauenbuch is adequately treated. The narrative has been everything, even if it is now portrayed as conspicuously resistant to interpretation. As Ulrich Müller and Franz Viktor Spechtler observed in the most recent account of German literature of the high Middle Ages: Is the intention serious or comical? Should the audience be astonished, impressed, or amused? Different interpretations of the songs, and the romance of which they form an integral part, are possible: is this work a courtly romance, a lascivious novel, an erotic folly, a critique of courtly love, a political parable, a courtly clown’s take to make the audience laugh, a fictitious autobiography, or an autobiographical romance?168
For anyone attempting to understand the Frauendienst, these are familiar and undisputable questions. But they also take us to the limits of literary history. As this essay has shown, Ulrich’s position within that history was determined in the nineteenth century, the dating of the Frauendienst in the 1250s placing him on the cusp of decline – a lyric poet initially of some standing but a narrative author of puzzling if not questionable quality. Ulrich’s timing and artistic quirkiness make him a particularly interesting case study: unlike, say, Gottfried or Walther whose place (though not necessarily meaning) in the literary canon lay secure from an early stage,169 his status was fragile. His work was subject to strong, systematizing opinions that shaped perceptions deep into the twentieth century. The judgements of literary history, from the time when that genre was at the height of its powers, put Ulrich in his place, where he has largely remained ever since. Aware of its own limitations as a synthesis and shorthand for complex research agendas and debates, literary history as it is conceived and executed today can do little more than suspend a question mark over one of the most peculiar authors in medieval German literature. It is to those agendas and debates, the stimulation and exploration of new questions, that the rest of this volume is dedicated.
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Müller/Spechtler, “Ulrich von Liechtenstein (2006)”, here p. 238. Fritsch-Rößler (n. 122). Günther Gerstmeyer. Walther von der Vogelweide im Wandel der Jahrhunderte. Breslau 1934.
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II. Biographisches und Historisches: Eine Spurensuche zu Ulrich von Liechtenstein von S ANDRA L INDEN
1. Quellenlage Für kaum einen volkssprachigen Dichter des Hochmittelalters sind so viele historische Informationen überliefert wie für Ulrich von Liechtenstein: Es gibt 94 Urkunden, in denen Ulrich entweder als Zeuge aufgeführt wird oder sogar Aussteller ist, man begegnet ihm in der Österreichischen Reimchronik des Ottokar von der Geul,1 er ist im Totenbuch des Klosters Seckau2 verzeichnet und lässt sich in eine lückenlose Genealogie einordnen. Doch damit nicht genug der historischen Bezüge: Als Autor3 erstellt Ulrich im Frauendienst ein differenziertes Netzwerk historisch 1
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Vgl. Ottokars Österreichische Reimchronik. Nach den Abschriften Franz Lichtensteins hrsg. von Joseph Seemüller. Hannover 1890 (MGH Deutsche Chroniken 5). Die Reimchronik stammt aus den ersten beiden Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts und behandelt die Zeit von 1250 bis 1309. Ulrich findet auch noch in zwei weiteren Chroniken Erwähnung, nämlich in der Chronik von den 95 Herrschaften (1387–1398) des Leopold von Wien (Hrsg. von Joseph Seemüller. Hannover, Leipzig 1909 [MGH Deutsche Chroniken 6]), die in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstanden ist, sowie in Thomas Ebendorfers Chronica Austriae aus der Mitte des 15. Jahrhunderts (Hrsg. von Alphons Lhotsky. Berlin, Zürich 1967 [MGH Scriptores rerum Germanicarum nova series 13]), aber diese beiden Quellen wiederholen nur noch einmal die bereits in der Österreichischen Reimchronik berichteten Ereignisse. Vgl. das „Necrologium Seccoviense.“ In: Necrologia Germaniae. Bd. 2. Dioecesis Salzbvrgensis. Hrsg. von Sigismund Herzberg-Fränkel. Berlin 1904 (MGH Nec. II), S. 403–433, hier S. 405, wo Ulrich für den 26. Januar als D. Vlricus sen. de Liechtenstaine verzeichnet ist. Der vorliegende Beitrag geht davon aus, dass der historische Ulrich von Liechtenstein die unter seinem Namen überlieferten Minnelieder, den Frauendienst und das Frauenbuch tatsächlich verfasst hat. Alternative Überlegungen zur Autorschaftsfrage finden sich im vorliegenden Band in den Beiträgen von Liebertz-Grün, S. 158–61, und – deutlich vorsichtiger – Ackermann, S. 356 f.
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nachweisbarer Personen und bevölkert seine fiktive Welt mit einem höchst realen Personal, stellt zeitgenössische Ritter, Ministeriale, Grafen, Bischöfe und sogar Herzöge in sein literarisches Arrangement hinein. Beim Turnier von Friesach und vor allem auf den Kostümfahrten, die Ulrich in der Verkleidung von Venus und Artus unternimmt, hat er mit jedem neuen Ort, den er besucht und in dem er von den ansässigen und angereisten Rittern begrüßt wird, neue Gelegenheit zur namentlichen Nennung seiner Tjostpartner, und tatsächlich macht er davon reichlich Gebrauch: Insgesamt werden im Frauendienst 172 historische Personen genannt.4 86 von ihnen haben nachweisbar eine Rolle im politischen Leben des realen Ulrich von Liechtenstein gespielt, da er zusammen mit ihnen oder zumindest mit einem ihrer direkten Verwandten geurkundet hat,5 und auch die übrigen Erwähnten wird er, wenn nicht persönlich, so doch vom Hörensagen, gekannt haben. So lässt sich die Hochschätzung von der Hagens, der 1838 Ulrichs Minneliedern mit einem fast 100-seitigen Kommentar mehr Raum als der Dichtung Walthers von der Vogelweide oder Heinrichs von Morungen zugesteht, wohl auch damit erklären, dass man glaubte, mit dem Frauendienst eine unverstellte Wiedergabe realen höfisch-ritterlichen Lebens vor sich zu haben, und den Text als wichtiges Sachdokument für einen gelebten Minnedienst verbuchte.6 Die schiere Menge der genannten Personen hat schon früh Spekulationen über die praktische Handhabung in der literarischen Produktion hervorgerufen, wenn etwa Schönbach vermutet, Ulrich habe sich beim Verfassen des Frauendienst Namenslisten aus Urkunden vorlesen lassen, da er sich eine solche Fülle von Namen 4
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Krenn, „Historische Figuren“, S. 106, S. 125 ff., geht von 176 Personen bzw. 178 Einträgen in der Namensliste aus, da er Ulrich selbst, Schreiber Heinrich, drei Welsche und das Volk der Reussen mitzählt, die hier und in der Liste im Anhang ausgeklammert bleiben. Vgl. die Personenliste im Anhang, die auch die jeweiligen Urkunden nach der Nummerierung durch Bechstein sowie die Strophen, in denen die betreffende Person im Frauendienst erwähnt wird, angibt. Vgl. von der Hagen, Minnesinger 4, S. 321. Für von der Hagen ist Ulrichs Frauendienst ein Zeugnis gelebter Hofkultur, „was alles erfreulich bewaehrt, daß man die Herrlichkeit und den Schwung des ritterlichen Lebens jener durch die größten Dichter, Ritter und Fuersten zum hoechsten Glanz erhobenen Zeit Deutschlands bis zu dem Untergange der Babenberger und Hohenstaufen hin, sich nicht würdig genug vorstellen kann“ (S. 322). Auch Gustav Freytag sieht den Frauendienst als Zeugnis mittelalterlicher Sachkultur, vgl. Gustav Freytag. Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Bd. 1. Aus dem Mittelalter. 33. Auflage. Leipzig 1911, S. 539. Zu von der Hagen und Freytag siehe den Beitrag von Young in diesem Band, S. 27, 29 ff.
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unmöglich habe merken können.7 Was Schönbach als pergamentene Schreibtischarbeit ausmalt, scheinen aber vielmehr eine Versiertheit auf dem Feld politischer Diplomatie und eine genaue, auf erlebter Praxis beruhende Kunde der Herrschafts- und Besitzverhältnisse des geographischen Raums zwischen Adria und Donau zu sein, die der Autor Ulrich in seinem Werk kompetent ausspielt. Für den gesamten Frauendienst kann man nur in drei Fällen die Verwendung eines falschen Vornamens nachweisen8 – angesichts von 172 namentlich erwähnten Personen ein recht guter Schnitt. Basis der historisch orientierten Beschäftigung mit dem Frauendienst war in der frühen Zeit Falkes Geschichte des fürstlichen Hauses Liechtenstein (1868),9 die jedoch den Frauendienst über weite Strecken nacherzählt und als historisches Faktum präsentiert. Damit ergibt sich ein circulus vitiosus, der mit dafür verantwortlich ist, dass sich die Ulrich-Forschung erst relativ spät von einer autobiographischen Deutung des Frauendienst gelöst hat: Den historischen Quellen zu Ulrich von Liechtenstein wurden Informationen aus dem Frauendienst gleichgeordnet und in Regestenbücher aufgenommen,10 die dann wiederum von Literaturwissenschaftlern kon7 8
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Vgl. Schönbach, „Zum Frauendienst“, S. 202. Vgl. Reichert, „Vorbilder“, S. 193, doch ergeben sich die Fehler auch daraus, dass Ulrich beispielsweise für das Bischofsamt in Brixen einen Amtsinhaber nennt, der zur Zeit der Abfassung des Frauendienst aktuell war, nicht aber für das in der Fiktion als zeitlich früher gesetzte Friesacher Turnier, bei dem der Bischof erwähnt ist. Vgl. Jacob Falke. Geschichte des fürstlichen Hauses Liechtenstein. Bd. 1. Wien 1868, S. 57 ff. Dass die Ereignisse des Frauendienst als historisches Faktum präsentiert werden, hält sich vor allem in historischen Arbeiten noch länger, als beliebige Beispiele seien genannt: Hans Pirchegger. Landesfürst und Adel in Steiermark während des Mittelalters. 2 Bde. Graz 1955 (Forschungen zur Verfügungs- und Verwaltungsgeschichte der Steiermark 12/13), etwa S. 53: „Wenn Ulrich von Liechtenstein bei seiner Venusfahrt 1227 so viele Ringlein verschenkte, so hatte er das Metall wohl aus dem Bergzehent [gemeint ist das Bergregal von Murau – S. L.] genommen […]“, oder auch Claudia Fräss-Ehrfeld. Geschichte Kärntens. Bd. 1. Das Mittelalter. Klagenfurt 1984, S. 296 ff., die zwar mit einem Satz den Wert des Frauendienst als historische Quelle problematisiert, das Kapitel S. 296–305 aber dennoch mit der Überschrift „Das Friesacher Turnier 1224“ versieht. So präsentiert beispielsweise das Kärntner Urkundenbuch die FrauendienstBeschreibung des Friesacher Turniers und der zugehörigen politischen Schlichtungsverhandlungen als zuverlässigen Bericht über historische Realität, obwohl es außer Ulrichs Zeugnis keine einzige Quelle gibt, die auf derartige Ereignisse in Friesach schließen lässt, vgl. Die Kärntner Geschichtsquellen 1209–1269. Hrsg. von August von Jaksch. Klagenfurt 1906 (Monumenta Historica Ducatus Carinthiae 4), Nr. 1871.
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sultiert wurden, um die Historizität bestimmter Ereignisse im Frauendienst zu belegen. Die literaturwissenschaftliche Forschung reagierte auf die reiche Bezeugung Ulrichs, indem sie die Darstellung des Frauendienst vor allem mittels der zahlreichen Angaben zum Jahres(zeiten)wechsel in das Feld der historischen Daten einordnete,11 so dass etwa Karl Lachmann Ulrichs Minneliedern konkrete Entstehungsjahre zuwies.12 Anton E. Schönbach hat 1882 als erster die Urkunden, die Ulrich bezeugt oder ausstellt, gesichtet und zusammengestellt,13 wobei er 1904 die Liste von zunächst 84 Urkunden durch Korrekturen und weitere Urkunden auf 88 Einträge erweitert.14 Schönbach selbst und nach ihm Reinhold Becker, Martha Schlereth und Otto Höfler nutzen diese Urkundenliste fortan als Materialbasis, um im Frauendienst, dem sie durchaus schon fiktionale Passagen zugestehen, das Reale vom Erdichteten zu trennen,15 bis Schneider 1963 zum ersten Mal die Historizität des im Frauendienst Erzählten ablehnt und den Text als primär fiktionales Werk ansieht. Ursula Aarburg geht 1966 mit der Annahme, dass es sich beim Frauendienst um eine autobiographische Schrift handelt, somit noch einmal hinter den bereits erreichten Stand der Forschung zurück. Sie hat in ihrer biographisch ausgerichteten Studie Ulrichs Lebensstationen auf der Basis der Urkunden detailliert nachgerechnet, dabei aber die im Frauendienst geschilderten Ereignisse als vermeintlich reale Fakten behandelt.16 So vermischt Aarburg die im Frauendienst angelegte Chronologie unterschiedslos mit den urkundlichen Quellen, indem sie ein aus den Urkunden erschlossenes Zeitraster über die Ereignisse im Frauendienst legt und
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Kritisch zu dieser Datierungsmethode äußert sich Krenn, „Historische Figuren“, S. 113. Auf Lachmanns Datierung verweist zustimmend Hugo Kuhn in seinem Kommentar Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Carl von Kraus. Bd. 2. Kommentar. Besorgt von Hugo Kuhn. Tübingen 1958, S. 521. In Lachmanns Edition Ulrich von Lichtenstein von 1841 ist die Datierung nicht aufgenommen. Vgl. Schönbach, „Zu Ulrich von Liechtenstein“, die Auflistung der Urkunden findet sich S. 320 ff. Zur Kritik an Schönbachs Urkundenliste vgl. Grimme, „Geschichte der Minnesänger“, sowie ders., „Zum Leben Ulrichs von Lichtenstein“. Vgl. Schönbach, „Zu Ulrich von Liechtenstein (Nachtrag)“. Vgl. Becker, Wahrheit und Dichtung; Schlereth, Studien zu Ulrich von Lichtentein, und Höfler, „Venusfahrt und Artusfahrt“. Vgl. Aarburg, Autobiographie und Persönlichkeit, vor allem die Liste S. 49 ff. Ähnliche Versuche, ein genaues Zeitgerüst für den Frauendienst mit Anspruch auf historische Realität zu erstellen, finden sich bereits bei Knorr, „Historische und literarische Untersuchung“; Becker, „Der Weg der Venusfahrt“.
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mit dieser Methode etwa Ulrichs Stelldichein mit der Dame exakt auf den 20.–22. Juni 1227 terminiert.17 1974 erweitert Franz Viktor Spechtler in seiner unveröffentlichten Habilitationsschrift Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein18 die Urkundenliste Schönbachs auf 94 Einträge und korrigiert verschiedene Irrtümer,19 so dass man heute von diesem – zuletzt 1999 von Spechtler kontrollierten – Urkundenbestand ausgehen kann.20 Eine detaillierte Aufarbeitung der Urkunden und eine genaue historische Auseinandersetzung mit Ulrich von Liechtenstein ist mit den Beiträgen von Günther Hödl, Heinz Dopsch, Gerald Krenn und Wilhelm Deuer in dem 1999 von Franz Viktor Spechtler und Barbara Maier herausgegebenen Sammelband Ich – Ulrich von Liechtenstein gelungen, deren Erkenntnisse die historische Beschäftigung mit den Liechtensteinern im 13. Jahrhundert auf eine feste und zuverlässige Grundlage gestellt haben.21
2. Biographisches Ulrich von Liechtenstein ist in den Jahren zwischen 1227 und 1274 urkundlich bezeugt, lediglich für die Zeit zwischen 1232 bis 1237 weist die Urkundenreihe eine größere Lücke auf. Sein Geburtsjahr lässt sich vage auf die Zeit zwischen 1200 und 1210 datieren, die erste urkundliche Erwähnung am 17. November 1227, eine Schlichtung zwischen Bischof Ekbert von Bamberg und Herzog Bernhard von Kärnten,22 bei der die 17 18 19
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Vgl. Aarburg, Autobiographie und Persönlichkeit, S. 52. Spechtler, Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein. Ebd., S. 28–123 die Urkundenregesten sowie S. 127 ff. ein Kommentar zu Schönbachs Urkundenliste. Vgl. Spechtler, „Die Urkunden-Regesten“, der S. 441 ff. eine überarbeitete Liste der Regesten vorlegt. Vgl. auch die Kurzliste der Urkunden in ihrer Zuordnung zur Zählung nach Schönbach, S. 484 ff. Da Spechtler keine eigene Urkundenzählung eingeführt hat, werden einzelne Urkunden im Folgenden mit der SchönbachNummer belegt. Vgl. Hödl, „Der Donau-Alpen-Adria-Raum“; Dopsch, „Zwischen Dichtung und Politik“; Krenn, „Historische Figuren“; Deuer, „Auftraggeber und Bauherr“. Vgl. die Urkunde Schönbach Nr. 1, Ulrich tritt hier zusammen mit seinem Bruder Dietmar auf. Herzog Bernhard von Kärnten lag mit Bischof Ekbert von Bamberg in ständigen Gebietsstreitigkeiten, und da Markgraf Heinrich von Istrien Ekberts Bruder war, gibt es auch eine Verbindung zu dem Konflikt, den Ulrich für das Friesacher Turnier beschreibt. Doch fehlen für eine solche Zusammenkunft in Friesach historische Belege, vgl. dazu Reichert, „Vorbilder“.
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Brüder Dietmar und Ulrich von Liechtenstein als Zeugen auftreten, hat durchaus genügend politische Relevanz, um auf ein nicht mehr ganz junges Alter Ulrichs zu schließen. Ab 1244 ist er im Truchsessenamt in der Steiermark bezeugt,23 das er wohl bis zum Tod Herzog Friedrichs II. im Jahr 1246 behielt. Den Höhepunkt seiner politischen Laufbahn erreichte Ulrich in den späten 60er Jahren, als der Frauendienst schon lange fertiggestellt war: 1267 wurde er unter der Herrschaft Ottokars II. von Böhmen zum Marschall der Steiermark ernannt,24 1272 kam das Amt des steirischen Landrichters hinzu, womit er zum direkten Vertreter des Landesherrn in Gericht und Taiding wurde: Item Vlreich von Liechtenstain die czeit lantrichter vnd marschalch in Steyr vnd Chunrat lantschreiber veriehent, das si ze Chnutelueld ze gericht sind gesessen vnd das von allen edlen lauten, die pei den rechten gewesen sind, geurtail ist warden, das […].25
Doch diese Jahre verliefen nicht ohne Zwischenfälle, zumindest wenn man der Österreichischen Reimchronik Ottokars von der Geul Glauben schenkt, die jedoch aufgrund der Parteilichkeit des im Dienst der Liechtensteiner stehenden Autors und der Tendenz zu narrativer Ausschmückung nur bedingt als historische Quelle taugt.26 Die in der Reimchronik 23
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Vgl. die Urkunde aus dem Jahr 1244 (Schönbach Nr. 17) und zwei Urkunden vom Juni 1245 (Schönbach Nr. 11, 18), die Ulrich als dapifer der Steiermark ausweisen. Vgl. die Urkunde vom 14. Januar 1267 (Schönbach Nr. 62a), in der König Ottokar Ulrich die mit dem Marschallamt verbundenen Güter zuweist, die zuvor Hertnid von Ort innegehabt hatte. Eine Urkunde vom 30. Januar 1270 (Schönbach Nr. 72) trägt Ulrichs Marschallsiegel mit der Aufschrift S ULRICI D’LIEHTENST. STYR. MARSCHA. Das Siegel zeigt einen Panther, der in der linken Hinterpranke Ulrichs Wappen mit den beiden Schrägbalken hält. Urkunde aus dem Jahr 1272 (Schönbach Nr. 82a). Vgl. die ebenfalls auf 1272 zu datierende Urkunde Schönbach Nr. 82, wo Ulrich als iudex Styrie genannt wird. Vgl. Ottokars Österreichische Reimchronik (Anm. 1). Der Autor Ottokar stammte aus der Familie Stretwich, vgl. Spechtler, Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein, S. 194 ff. Zur kritischen Einschätzung des historischen Quellenwerts der Österreichischen Reimchronik bereits früh Alfons Huber. „Die steirische Reimchronik und das österreichische Interregnum.“ Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 4, 1883, S. 41–74, besonders S. 41 ff.; vgl. auch Gerhard Pferschy. „Ottokar II. Premysl, Ungarn und die Steiermark.“ Jahrbuch für geschichtliche Landeskunde in Niederösterreich 44/45, 1978/79, S. 73–91, vor allem S. 73 f., sowie Ursula LiebertzGrün. Das andere Mittelalter. Erzählte Geschichte und Geschichtserkenntnis um 1300. Studien zu Ottokar von Steiermark, Jans Enikel, Seifrid Helbling. München 1984 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 5), S. 102 f., S. 115, die betont, dass Ottokar seine Chronik aus der Perspektive der steirischen Landherren schreibt.
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berichtete Verwicklung, bei der Friedrich von Pettau Ulrich zusammen mit Herrand von Wildon, Bernhard von Pfannberg und Wulfing von Stubenberg des Hochverrats gegen Ottokar II. von Böhmen anklagt und die steirischen Ministerialen in der Burg Klingenberg in Böhmen gefangen gesetzt werden, ist urkundlich nicht bezeugt.27 Diese Festnahme ist außerdem nicht identisch mit der historisch ebenfalls nicht belegten Gefangenschaft Ulrichs durch seine treulosen Vasallen, von der der Frauendienst erzählt (1696 ff.), sondern fällt in das Jahr 1268, als das Werk bereits abgeschlossen war. Nach dem Zeugnis der Reimchronik lässt sich Ulrich bei der Freilassung anders als seine Mitgefangenen gegenüber König Ottokar nichts von den Strapazen der 26-wöchigen Gefangenschaft anmerken. Die Beschreibung verdeutlicht augenfällig, wie sehr der Chronist bemüht ist, Ulrich als höfische Persönlichkeit auszuzeichnen und zu stilisieren, wenn es über die Freigelassenen heißt: daz si des lebens wârn in sorgen, daz het sich an in niht verborgen, mit ir gestalt si daz bewærten: mit spannelangen berten für den kunic kômens al gemeine ân her Uolrich von Liehtensteine; der gebârte in den siten, als er nie pîn hiet geliten und allen schaden het verkorn. sînen bart het er geschorn und niwe kleider an gestrichen; er gebârte sô frôlichen, daz in der kunic darumbe prîste.28
Das Einvernehmen mit Ottokar war wieder hergestellt, doch musste Ulrich als Strafmaßnahme akzeptieren, dass die Burgen Murau und Liechtenstein geschleift wurden – auch dies eine Angabe aus der Reimchronik, für die es keine stützenden Belegquellen gibt.
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Nachdem König Ottokar von Böhmen die steirischen Landherren zu sich bestellt und sie freundlich bewirtet hat, werden sie, nichts ahnend, in eine Falle gelockt, vgl. Ottokars Österreichische Reimchronik (Anm. 1), V. 9835 ff.: ir deheiner niht enwesse, / swes er mit in wolt beginnen; / niht wan friuntschaft unde minnen / mit gebærd er gegen in phlac, / unz daz im kom der funfte tac. / dô wurden si ze hof geladen; / dannoch enwesten si niht des schaden, / daz si wæren verrâten. Ottokars Österreichische Reimchronik (Anm. 1), V. 10046 ff.
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Ulrichs Todesdatum lässt sich relativ genau ermitteln:29 Am 6. Januar 1277 hat Ulrichs Sohn Otto dem Kloster Seckau für seine verstorbenen Eltern, die dort begraben sind,30 eine Stiftungsurkunde ausgestellt,31 d. h., es ergibt sich ein Terminus ante quem für Ulrichs Tod. Der Terminus post quem resultiert aus Ulrichs letzter Erwähnung in einer Urkunde am 27. 7. 1274.32 Im Seckauer Totenbuch ist Ulrich für den 26. Januar verzeichnet, d. h., als mögliche Sterbedaten kommen der 26. Januar des Jahres 1275 und 1276 in Frage. Am 17. Mai 1275 wird Ulrichs Sohn Otto als dominus Otto de Vroenburch33 ohne den Vater in einer Urkunde genannt, während er zuvor ausschließlich mit ihm zusammen erwähnt wurde, was vermuten lässt, dass Ulrich zu diesem Zeitpunkt bereits tot war. Es ergibt sich also der 26. Januar 1275 als recht wahrscheinliches Sterbedatum. Eine ausführlichere genealogische Perspektivierung, wie sie etwa Heinz Dopsch vorgenommen hat,34 würde die Abstammung des Ministerialengeschlechts Liechtenstein von der edelfreien Familie der Traisen29
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Vgl. zum Folgenden Spechtler, Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein, S. 136 ff. Vgl. auch den Eintrag im Totenbuch des Klosters Seckau, „Necrologium Seccoviense“ (Anm. 2), S. 405. Auf der Frauenburg hat man zwar 1871 eine Grabplatte eines Ulrichs von Liechtenstein entdeckt, es handelt sich dabei aber, wie Maja Loehr, „Die Grabplatte“, gezeigt hat, nicht um den Dichter Ulrich. Die Grabplatte trägt die Inschrift Hie. leit. Uolrich. dises. houses. rehtter. erbe, die man auf das letzte Viertel des 13. Jahrhunderts oder das erste Viertel des 14. Jahrhunderts datieren kann. Der Autor Ulrich ist allerdings nicht der Erbe der Frauenburg, sondern hat sie selbst erbaut. Ulrichs gleichnamiger Sohn kommt ebenfalls nicht in Frage, da er nicht die Frauenburg, sondern die Burg Murau geerbt hat, während die Frauenburg an Ulrichs Sohn Otto ging. Ein wichtiges Indiz ist, dass es sich um einen typischen Kindergrabstein handelt. Bei dem gesuchten Ulrich muss es sich also um einen Nachkommen Ottos II. handeln, der relativ früh verstorben ist. Ulrich III. starb zwar schon 1309, er war allerdings für die Klerikerlaufbahn vorgesehen und daher nicht erbberechtigt. Loehr vermutet, dass Otto noch einen anderen Sohn namens Ulrich hatte, der früh gestorben ist und eigentlich das Erbe übernehmen sollte, da Ottos Erstgeborener Otto III. bereits für die Erbfolge in Murau vorgesehen war. Der Grabstein gehört also einem gleichnamigen Enkel des Dichters Ulrich. Vgl. Spechtler, Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein, S. 136 f. Schönbach Nr. 83. Vgl. das Urkundenbuch des Herzogtums Steiermark. Bd. 4. 1260–1276. Hrsg. von der Historischen Landeskommission für Steiermark. Unter Leitung von Heinrich Appelt hrsg. von Gerhard Pferschy. Wien 1975, Nr. 555. Vgl. Dopsch, „Der Dichter Ulrich von Liechtenstein“. Vgl. den detaillierten Stammbaum bei Dopsch, „Zwischen Dichtung und Politik“, S. 100 f., der vom späten 11. Jahrhundert bis zur Generation von Ulrichs Enkeln reicht.
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Feistritzer zeigen.35 An dieser Stelle soll jedoch nur ein kurzer Blick auf die Generationen unmittelbar vor und nach Ulrich geworfen werden. Der Dichter Ulrich ist der Sohn von Dietmar III. von Liechtenstein (1164–1218) und seiner Frau Gertrud. Er hatte vier Geschwister: Sein Bruder Dietmar IV. von Offenburg, der mehrfach im Frauendienst begeg-
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Für die Herkunft der Liechtensteiner hat Fritz Posch die These einer Verwandtschaft mit den Traisen-Feistritzern aufgestellt, vgl. Siedlungsgeschichte der Oststeiermark. Innsbruck 1941 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband 13, Heft 4). Verbindungsglied zwischen den beiden Familien ist Dietmar von Reidling (ca. 1126/40), Ulrichs Urgroßvater, der ein Sohn des Traiseners Hartwig von Reidling war. Dietmar von Reidling urkundet 1140 bis 1145 unter dem Namen Dietmar von Liechtenstein, wahrscheinlich weil der Besitz Liechtenstein-Murau durch eine Ehe Dietmars I. mit einer Tochter Dietmars von Ranten (von Dornberg und Lungau) an die Traisener gekommen war. Er verlagerte nach dem Bau der Burg Liechtenstein 1140 die Herrschaftsgebiete vom Traisental nach Kärnten und in die Obersteiermark, doch haben sich die Liechtensteiner erst 1353 vollständig aus dem Traisental zurückgezogen. Zur Kritik an Posch vgl. Dopsch, „Zwischen Dichtung und Politik“, S. 65, der Poschs Rückführung der Traisener und Feistritzer auf die Aribonen, die Pfalzgrafen in Bayern waren, als falsch erweist.
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net,36 heiratete Gertrud von Wildon – eine Verbindung zur Familie der Wildonier, die in der kommenden Generation noch einmal durch Eheverbindungen von Ulrichs Kindern bekräftigt wurde. Der Bruder Otto wählte die klerikale Laufbahn und wurde Pfarrer von Graz. Ulrichs Schwester Hedwig heiratete Dietmar von Steyr, und eine namentlich nicht bekannte Schwester war die Gattin des Niederösterreichers Heinrich von Wasserberg, der den Minnediener Ulrich im Frauendienst zur Fassung ermahnt, als dieser nach einem Untreuevorwurf der Dame in Tränen ausbricht.37 Ulrich selbst war mit der Tochter Perchta des Alram von Weitzenstein aus Kärnten vermählt, mit der er vier Kinder hatte: Der Sohn Ulrich II. heiratete ebenso wie die Tochter Diemut in ein Salzburger Ministerialengeschlecht ein, und so weist die Familie Verbindungen zu den Goldeggern und Trennsteinern auf. Otto II. nahm Agnes von Wildon zur Frau und stellte in seiner zweiten Ehe mit Diemut von Liechtenstein zum ersten Mal eine verwandtschaftliche Verbindung zwischen den steirischen und den österreichischen Liechtensteinern der Nikolsburger Linie her, zu denen der im Frauendienst erwähnte Heinrich von Liechtenstein zählt.38 Auch Ulrichs Tochter Perchta wurde mit einem Wildonier vermählt, nämlich mit dem Dichter Herrand, dessen Verserzählungen im Ambraser Heldenbuch zusammen mit Ulrichs Frauenbuch überliefert sind.39 Nachdem die Familie der Liechtensteiner zur 36 37
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Vgl. Str. 181 ff., 912 ff., 1524 ff. und öfter. Vgl. Str. 1033 ff. Anders als die Kostümfahrten, an denen ein weites Personenspektrum teilnimmt, beschränkt Ulrich den engeren Minnedienst für die Dame auf die Teilhabe von Verwandten, zu denen neben Heinrich von Wasserberg über einige Umwege auch der Domvogt von Regensburg Otto von Lengbach zu zählen ist, dem sich der Minnediener Ulrich in dieser Episode ebenfalls anvertraut. Zur Verwandtschaft zwischen Lengbachern und Liechtensteinern vgl. Dopsch, „Der Dichter Ulrich von Liechtenstein“, S. 114. Vgl. Str. 1474 ff., 1582, 1589. Zur Verwechslung zwischen den steirischen Liechtensteinern und den österreichischen, die ihren Namen von der Burg Liechtenstein bei Mödling ableiten, vgl. Dopsch, „Zwischen Dichtung und Politik“, S. 55 ff. Die Heiratsverbindung mag nahe liegend gewesen sein, da der Österreicher Heinrich von Liechtenstein ab 1260 als Landeshauptmann in der Steiermark eingesetzt war. Vgl. Hofmeister, „Ansätze und Forschungsperspektiven“, S. 209 f., der diesen Zusammenhang als eine Art Familienüberlieferung versteht. In dem Maere Der betrogene Gatte führt Herrand seinen Schwiegervater Ulrich als Gewährsmann für den Stoff der Erzählung an, vgl. Herrand von Wildonie. Vier Erzählungen. Hrsg. von Hanns Fischer. 2., revidierte Auflage besorgt von Paul Sappler. Tübingen 1969 (ATB 51), S. 10–21, hier S. 10, V. 17 ff.: Hêr Uolrîch von Liehtenstein, / der ie in ritters êre schein, / sagte mir ditz mære […]. Vgl. auch Schröder, „Herrand von Wildonie und Ulrich von Liechtenstein“.
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Zeit Ottos II., der das Amt des Landeshauptmanns bekleidete, den Höhepunkt ihrer Machtentfaltung erreicht hatte,40 kam es unter Ottos Söhnen zu einer Aufspaltung des Geschlechts in die Judenburger und die Murauer Linie. Dass die Liechtensteiner der Gruppe der Ministerialen und somit formal der unfreien Dienstmannschaft des Landesherrn angehörten,41 brachte ihnen zumindest in der Steiermark kaum Nachteile gegenüber den edelfreien Herren ein: Die Ministerialen der Steiermark besaßen zahlreiche Privilegien gegenüber dem Landesherren, die ihnen in der Georgenberger Handfeste aus dem Jahre 1186 zugesichert waren.42 Otakar IV. von Steier, der letzte steirische Traungauer, wählte, da er keinen Erben hatte, den Babenberger Herzog Leopold V. als Nachfolger in der Steiermark. Nur durch erhebliche Zugeständnisse, die ihren Niederschlag dann in der Handfeste fanden, waren die steirischen Ministerialen bereit gewesen, diesen Herzogswechsel zu akzeptieren. Nach Otakars Tod 1192 konnte Leopold V. die Herrschaft aber nur zwei Jahre lang bis zu seinem Tod 1194 übernehmen, worauf ihm sein Sohn Leopold VI. in
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Vgl. Norbert Weiss. Die älteste weltliche Urbarhandschrift der Steiermark. Der Besitz der steirischen Liechtensteiner im 14. Jahrhundert. Graz 2005. Als Beispiel für Ulrichs Zugehörigkeit zum Ministerialenstand sei eine Urkunde vom 4. September 1232 (Schönbach Nr. 4) genannt, in der Ulrich und sein Bruder Dietmar als honestos ministeriales Styrie Ulricum et Ditimarum fratrem eius de Lihtenstain unter den Zeugen genannt werden. Dass ein solcher freiwilliger Übergang hochfreier Familien in die Ministerialität keineswegs außergewöhnlich war, zeigt Josef Fleckenstein. „Die Entstehung des niederen Adels und das Rittertum.“ In: Herrschaft und Stand. Untersuchungen zur Sozialgeschichte im 13. Jahrhundert. Hrsg. von Josef Fleckenstein. 2., durchgesehene Auflage. Göttingen 1979 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 51), S. 17–39, hier S. 26. Vgl. dort auch den Beitrag von Heinz Dopsch: „Probleme ständischer Wandlung beim Adel Österreichs, der Steiermark und Salzburgs vornehmlich im 13. Jahrhundert“, S. 207–253, vor allem S. 220. Vgl. das Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger in Österreich. Vorbereitet von Oskar von Mitis, bearbeitet von Heinrich Fichtenau und Erich Zöllner. Bd. 1. Die Siegelurkunden der Babenberger bis 1215. Wien 1950 (Publikationen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung), Nr. 65. Zur Georgenberger Handfeste vgl. Karl Spreitzhofer. „Die Union von 1192 und die ‚Mitgift‘ der Steiermark.“ In: 800 Jahre Steiermark und Österreich 1192–1992. Der Beitrag der Steiermark zu Österreichs Größe. Hrsg. von Othmar Pickl. Redaktion Robert F. Hausmann. Graz 1992 (Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 35), S. 43–60, sowie Werner Maleczek. „Die Steiermark. Phasen der Landeswerdung im Hochmittelalter.“ Österreich in Geschichte und Literatur 41, 1997, S. 81–103, der die Handfeste im Anhang abdruckt.
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der Steiermark und 1198, nach dem Tod seines Bruders Friedrich I., auch in Österreich nachfolgte. Nach einer gut 30-jährigen ruhigen und stabilen Herrschaft in beiden Ländern starb Leopold VI. 1230, und sein damals noch nicht 20-jähriger Sohn Friedrich II. trat das babenbergische Erbe an. Unter Friedrich mit dem wohl passenden Beinamen ‚der Streitbare‘ gestaltete sich die babenbergische Regierung vor allem in der Steiermark wenig harmonisch: Teile des Landes wurden durch Friedrichs wiederholte Kriege mit Ungarn verwüstet, zudem wurde das Verhältnis zu den steirischen Ministerialen durch zusätzliche Steuern getrübt, die Herzog Friedrich für seine Eroberungszüge erhob,43 so dass sich die Ministerialen schließlich bei Kaiser Friedrich II. unter Berufung auf ihre Sonderrechte der Georgenberger Handfeste beschwerten.44 Als der junge Herzog Friedrich der Aufforderung des Kaisers, zum Hoftag in Aquileja zu erscheinen, nicht nachkam, folgte ein langjähriger Konflikt zwischen Herzog und Kaiser,45 der schließlich dazu führte, dass der Herzog 1236 mit der Reichsacht belegte wurde.46 Ende des Jahres zog Kaiser Friedrich selbst zur Ordnung der Verhältnisse in die babenbergischen Länder ein, machte Wien zur Reichsstadt und blieb dort bis April 1237. Die Herzogtümer Österreich und Steiermark wurden fürs Erste zu Reichsland erklärt, doch wurden die Bestimmungen der Georgenberger Handfeste beibehalten und den steirischen Ministerialen im Ennser Freiheitsbrief – zusammen mit anderen Vergünstigungen wie der Senkung der Steuerabgaben auf das Niveau zur Zeit Herzog Leopolds – explizit
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Vgl. Spechtler, Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein, S. 158, und Maleczek (Anm. 42), S. 92. Vgl. auch die Vorsichtsmaßnahmen, die der Ennser Freiheitsbrief im Blick auf eine Ausbeutung der Ministerialen durch den Landesherrn trifft, siehe Anm. 47. Ein Reflex dieser Unruhen ist ein Schreiben Kaiser Friedrichs II. vom Mai 1236 an den König von Böhmen, in dem der Kaiser die Beschwerden der Landherren erwähnt und berichtet, dass der Herzog seine Aufforderung zu einem Treffen pueriliter recusavit. Es wird ein strengeres Durchgreifen gegenüber dem Babenberger angekündigt, vgl. Urkundenbuch des Herzogthums Steiermark. Bd. 2. 1192–1246. Bearbeitet von Joseph von Zahn. Hrsg. vom Historischen Vereine für Steiermark. Graz 1879, Nr. 339. Vgl. die detaillierte Darstellung von Karl Lechner. Die Babenberger. Markgrafen und Herzöge von Österreich 976–1246. Wien u. a. 1976 (Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 23), S. 279 ff. Vgl. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum inde ab anno MCXCVIII usque ad annum MCCLXXII (1198–1272). Hrsg. von Ludwig Weiland. Hannover 1863 (MGH Const. 2), Nr. 201 und 202.
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als Sonderrecht vom Kaiser garantiert.47 Doch sobald Kaiser Friedrich II. das Land wieder verlassen hatte und, 1239 vom Papst exkommuniziert, zunehmend in seiner Stellung im Reich gefährdet war, konnte Herzog Friedrich seine Landesherrschaft wieder in altem Umfang einnehmen. Dass in den 40er Jahren das Einvernehmen zwischen Herzog und Kaiser wieder hergestellt war,48 ergibt sich nicht zuletzt aus den Plänen des Kaisers, Österreich und Steiermark vom Herzogtum zum Königtum zu erheben und den Babenberger in den Königsstand zu versetzen, doch sind die im Juni 1245 bezeugten Pläne wohl an Herzog Friedrichs vorzeitigem Tod 1246 gescheitert.49 Im Laufe der Zeit bildeten die hohen Ministerialen und die Edelfreien in der Steiermark den gemeinsamen neuen Stand der Landherren, was den Unterschied zwischen
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Zur Garantie Kaiser Friedrichs vgl. das Urkundenbuch des Herzogthums Steiermark. Bd. 2 (Anm. 44), Nr. 354, zur Bestätigung der Rechte der Georgenberger Handfeste vgl. § 3, zur Reduktion der Abgaben § 15, wo auch zukünftige Steuererhöhungen durch den Landesherrn untersagt werden. Grundsätzlich sieht der Ennser Freiheitsbrief die Einsetzung eines neuen Landesherrschers vor, es wird in § 2 jedoch ausdrücklich festgelegt, dass dies nicht der österreichische Herzog sein darf. Vgl. auch die Darstellung bei Spechtler, Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein, S. 158, sowie bei Maleczek (Anm. 42), der im Anhang eine Übersetzung des Ennser Freiheitsbriefs abdruckt. Vgl. das Versöhnungsschreiben Kaiser Friedrichs, das auf die Jahresmitte 1240 datiert wird: Die Regesten des Kaiserreichs unter Philipp, Otto IV, Friedrich II, Heinrich (VII), Conrad IV, Heinrich Raspe, Wilhelm und Richard. 1198–1272. Nach der Neubearbeitung und dem Nachlasse Johann Friedrich Böhmers neu hrsg. und ergänzt von Julius Ficker. Bd. 1. Kaiser und Könige. Innsbruck 1881 f. (Regesta Imperii 5), Nr. 3126 (S. 550). Zwar brachte dem Babenberger diese Aussöhnung mit dem Kaiser den Zorn des Papstes ein, der das Interdikt über das Land verhängte, doch erschien das dem Herzog beim Paktieren im Kaiser-Papst-Konfikt das kleinere Übel zu sein. Im Mai 1240 ergeht der päpstliche Befehl an die zuständige Geistlichkeit, gegen Herzog Friedrich mit dem Interdikt vorzugehen, im Juni 1240 wird der Herzog mit einigen anderen Kaisertreuen und Kaiser Friedrich II. exkommuniziert, vgl. Die Regesten des Kaiserreichs unter Philipp, Otto IV, Friedrich II, Heinrich (VII), Conrad IV, Heinrich Raspe, Wilhelm und Richard. 1198–1272. Nach der Neubearbeitung und dem Nachlasse Johann Friedrich Böhmers neu hrsg. und ergänzt von Julius Ficker. Bd. 2. Päpste und Reichssachen. Innsbruck 1892–94 (Regesta Imperii 5), Nr. 11269 (S. 1668) und Nr. 11273 (S. 1668). Vgl. das Urkundenbuch des Herzogthums Steiermark. Bearbeitet von Joseph von Zahn. Hrsg. vom Historischen Vereine für Steiermark. Bd. 3. 1246–1260. Graz 1903, Nr. 457: Der Kaiser plant, ducatus Austrie et Stirie cum pertinentiis suis et terminis quos hactenus habuerunt, ad nomen et omen regium transferentes, te hactenus predictorum ducem [sc. Herzog Friedrich], de potestatis nostre plenitudine et magnificentia promovemus in regem.
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Adel und Dienstleuten zum Verschwimmen brachte.50 Dies lässt plausibel erscheinen, dass Ulrich auch als Ministerialer in der politischen Hierarchie des Landes einen vorderen Platz belegen konnte. Die bedeutende Stellung der Liechtensteiner spiegelt sich zudem im materiellen Bereich, nämlich in ihren Besitzungen: Ein Herrschaftskern der Familie lag in der Gegend um Judenburg, wo auch die um 1130 errichtete namengebende Burg Liechtenstein stand.51 Ulrich selbst hat die 15 Kilometer von Judenburg entfernte, ob Unzmarkt gelegene Frauenburg erbaut.52 Die Stadt Judenburg, die verkehrstechnisch günstig an der Straße von Venedig über den Semmering liegt, erhielt nach Ulrichs Tod 1276 das Stapelrecht für venezianische Waren und konnte so einen erheblichen Reichtum aufbauen, von dem die Liechtensteiner durch Mautund Zollrechte profitierten.53 Aus der Erbschaft der Traisener hatten die Liechtensteiner Gebiete im Traisental, die sich um Inzersdorf ob der Traisen konzentrierten.54 Ein weiteres Machtzentrum lag im Raum des kärntnerischen Murau, wo die Liechtensteiner das Bergregal vom Kärntner Herzog als Lehen hielten und zwischen 1232 und 1250 die Burg Murau als dritten Sitz erbauten.55 Das Geschlecht hatte nicht nur Beziehungen innerhalb der Steiermark, sondern unterhielt durch Ehebündnisse und den Murauer Besitz auch Verbindungen nach Kärnten, Salzburg und Österreich. Zusammen mit den Pettauern, den Stubenbergern und den Wildoniern, die allesamt zumindest mit einem Vertreter im Frauendienst Erwähnung finden, gehörten die Liechtensteiner zu den bedeutendsten Familien der Steiermark.56
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Zum steirischen Landherrenstand vgl. Dopsch (Anm. 41), vor allem S. 219 ff., sowie die Liste der steirischen Landherren, S. 231, in der auch die Liechtensteiner aufgeführt sind. Zur Burg Liechtenstein vgl. Deuer, Burg und Schloß Liechtenstein, vor allem S. 9–12. Vgl. Robert Baravalle. Burgen und Schlösser der Steiermark. 2., neubearbeitete Auflage. Graz 1961, S. 262 ff., sowie Deuer, „Auftraggeber und Bauherr“, S. 137 f. Vgl. Friederike Goldmann und Robert F. Hausmann. Die Städte der Steiermark. Teil 3. J–L. Wien 1990 (Österreichisches Städtebuch 6,3), S. 12 ff. Die wirtschaftliche Bedeutung der Stadt Judenburg betont auch Deuer, „Auftraggeber und Bauherr“, S. 145 f. Vgl. die detaillierte Karte zu den Besitzverhältnissen im unteren Traisental bei Dopsch, „Zwischen Dichtung und Politik“, S. 104. Vgl. Weiss (Anm. 40), S. 26. Zu dieser Einschätzung vgl. Spechtler, Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein, S. 192.
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3. Die politische Situation zur Entstehungszeit des Frauendienst In das mit den Urkunden entworfene historische Gerüst von Ulrichs politischer Aktivität lässt sich sein literarisches Schaffen nur schwierig einordnen. Die Urkunden lassen keinerlei Rückschlüsse auf Ulrichs literarische Tätigkeit zu, und umgekehrt äußert sich der Frauendienst nicht konkret über politische Tätigkeiten und Ämter seines Protagonisten,57 zumal lediglich zwei der im Frauendienst erwähnten Ereignisse historisch nachweisbar sind: die Hochzeit von Herzog Leopolds VI. Tochter Agnes mit Herzog Albrecht I. von Sachsen im Jahr 1222 und Herzog Friedrichs II. Tod in der Schlacht an der Leitha am 15. Juni 1246. Als Entstehungszeit für den Frauendienst hat die Forschung auf etwas wackeliger Basis die Zeit um 1255 genannt, das Frauenbuch denkt man sich etwas später, nämlich um 1257, entstanden.58 Die Figur Ulrich gibt am Ende des Frauendienst an, sie habe bislang 33 Jahre Ritterschaft betrieben: Ir sült gelouben mir für wâr: ich was driu unde drîzic jâr ritter ritterlîch gewesen, dô man ditz buoch hôrt niwez lesen, alsô daz ichz voltihtet gar. (1845,1–5)
Da im Frauendienst geschildert wird, dass Ulrichs Schwertleite bei den Wiener Feierlichkeiten zur Hochzeit der Tochter Leopolds VI. mit dem Sachsenherzog, also 1222, stattgefunden habe, hat man zu diesem Datum 33 Jahre addiert und 1255 als Entstehungsdatum des Frauendienst ausgerechnet.59 Die aus einer Aussage des Frauendienst abgeleitete Datierung ist problematisch, die Zahl 33 scheint auf den ersten Blick ein symbolisches Potential zu haben, doch spricht für eine konkrete Zeitangabe immerhin, dass Ulrich im Frauenbuch eine 35 Jahre währende Ritterschaft erwähnt,60 so dass man allgemein von einem zweijährigen Abstand der
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Dass Ulrich die Stationen seiner eigenen politischen Laufbahn in seiner Dichtung völlig ausblendet, ist in der Forschung oft auf Verwunderung gestoßen, vgl. dazu Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 43 f. Zur Datierung vgl. Müller, „VL: Ulrich von Liechtenstein“, Sp. 1277, 1280. Vgl. z. B. das Vorwort der Frauendienst-Edition von Bechstein, S. XII. Eine kritische Einschätzung der Datierung bietet Spechtler, Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein, S. 231 ff. Vgl. Frauenbuch, V. 2127 ff.: dô ich daz buoch voltihtet gar, / dô waz ich vünf und drîzec jâr / ritter ritterlîch gewesen.
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beiden Werke zueinander ausgeht. Dennoch gilt es, nach weiteren Anhaltspunkten für die Datierung zu suchen: Man kann als einen Terminus ante quem für die Entstehung des Frauendienst 1257 ansetzen, denn in diesem Jahr starb der österreichische Schenke Heinrich von Haßbach, der in der Fiktion des Frauendienst noch lebt und in dessen Beschreibung sich keinerlei Trauersignale finden (1467 ff.). Ein Terminus post quem ist das Jahr 1248, als Meinhard III. von Görz von Kaiser Friedrich II. zum Statthalter in der Steiermark ernannt wurde,61 da Meinhard dieses Amt auch im Frauendienst zugesprochen wird, als er den gefangenen Ulrich befreit.62 Somit ergibt sich für den Frauendienst eine wahrscheinliche Entstehungszeit in den frühen 1250er Jahren. Muss man nicht, so wird man leicht fragen, einen längeren Entstehungszeitraum für den Frauendienst ansetzen und davon ausgehen, dass Ulrich bereits in den 30er oder 40er Jahren des 13. Jahrhunderts mit diesem literarischen Großprojekt begonnen hat? Dass die erzählte Zeit dieser fiktiven Minnedienerautobiographie einen kompletten Lebenszeitraum abdeckt und die Darstellung sich mitunter wie eine Art Tagebuchaufzeichnung gibt, heißt keineswegs, dass auch das Schreiben kontinuierlich über diesen Zeitraum erfolgt sein muss. Vielmehr ist zu vermuten, dass Ulrich seinen Ich-Roman als Möglichkeit sieht, sein Minnesangœuvre zusammenzustellen und geschlossen zu überliefern – zumindest ist das ein Aspekt, den er im Epilog selbst hervorhebt.63 Eine derart konservierende und auf die Bewahrung des Geleisteten zielende Intention fügt sich besser zu einer bereits vorhandenen Liedsammlung und zu einem späten Zeitpunkt der Abfassung der narrativen Passagen als zu einer kontinuierlichen Aufzeichnung. Und was die Arbeitszeit angeht, so kann man wohl davon ausgehen, dass ein versierter Minnesänger wie Ulrich an den erzählenden Partien des Frauendienst nicht sonderlich lange zu feilen braucht. Da gibt es Partien, die zügig und mit wenig Sinn für rhetorischen Ornatus durcherzählt sind, recht schnell aufs Pergament geworfen scheinen. Geht man also davon aus, dass die Minnelieder, die den Erzähltext an Elaboriertheit deutlich übertreffen, bei der 61
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Vgl. Maleczek (Anm. 42), S. 94. In der Urkunde Schönbach 22a, die auf den 2. Mai 1249 datiert wird, ist Meinhard als haubtman der Steiermark tätig. Vgl. 1729: ez wart von Görtze grâve Meinhart / von dem keiser uns gesant / ze herren in daz Stîrelant. Vgl. 1846 f.: Zweier minner sehtzic dœne ich hân / gesungen: die stânt gar hier an. / […] / Swaz ich in niuwen dœnen ie / dar von gesanc, daz vindet man hie / allez an dem buoche stân. Vgl. zum Gedanken einer geschlossenen Liedüberlieferung auch den Beitrag von Wolf im vorliegenden Band.
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Abfassung des Frauendienst zum großen Teil vorliegen, kann man sich für dieses Werk gut einen recht kurzen Entstehungszeitraum vorstellen. Die Datierung des Frauendienst ist relevant, um die politische Situation zur Abfassungszeit des Frauendienstes nachzuvollziehen und Ulrichs Urkundenbezeugung im entsprechenden Zeitraum zu sichten. Ich gehe somit davon aus, dass Ulrich einen Großteil der narrativen Passagen des Frauendienst aus dem Bewusstsein der politischen Situation um 1250 und danach geschrieben hat. Es soll dabei in der folgenden, auf den historischen Hintergrund blickenden Analyse nicht darum gehen, die im Frauendienst dargestellte Zeit zu rekonstruieren, sondern der Beitrag beschäftigt sich vor allem damit, welchen politischen Einflüssen und Positionen der Autor zu der Zeit folgt, als er den Frauendienst verfasst bzw. der Öffentlichkeit präsentiert. Wie stellt sich also Ulrichs politisches Wirken zu dieser Zeit dar? Da der Frauendienst Herzog Friedrich II. von Österreich, der von 1230 bis 1246 in Österreich und der Steiermark herrschte, ausführlich beschreibt, liegt die Vermutung nahe, dass diese politische Orientierungsfigur auch im Leben des realen Ulrich eine wichtige Rolle spielte, zumal er zumindest in der Klage über Friedrichs Tod (1659 ff.) ein positives Bild des im Allgemeinen nicht sonderlich beliebten64 Babenbergerherzogs zeichnet. Doch liefern die Urkunden bis in die späten 50er Jahre für die Frage, mit welchen Mächtigen der Region Ulrich am meisten zu tun hatte, einen erstaunlichen Befund: Von 44 Urkunden, in denen Ulrichs Name bis zum Jahr 1259 verzeichnet ist, stehen über die Hälfte, nämlich 25,65 in einem Zusammenhang mit dem Erzbistum Salzburg – sei es, dass der Erzbischof Aussteller oder Zeuge war oder dass die Urkunde sich in ihrem Inhalt namentlich auf ihn bezieht. Prüft man im Gegenzug, wie viele Urkunden Ulrichs in einer Verbindung zu Herzog Friedrich II. stehen, kommt man lediglich auf vier,66 eine Beziehung zu König 64
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Vgl. zu dieser Einschätzung Lechner (Anm. 45), S. 275. Lediglich die volkssprachigen Dichter sehen sich zu ausführlichen Totenklagen veranlasst, da sie mit Herzog Friedrich einen wichtigen Gönner verloren haben, vgl. Tannhäusers Klage auf Herzog Friedrich in Ton XIV, Str. 4 und 5 (Edition: Johannes Siebert. Der Dichter Tannhäuser. Leben – Gedichte – Sage. Halle 1934). Vgl. die Urkunden Schönbach Nr. 1, 2, 3, 5, 6, 9, 12a, 16, 15, 17, 20, 21, 22, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 34, 34a, 34b, 34c, 36a, 39. Vgl. die Urkunden Schönbach Nr. 9, 10, 15, 17, und man könnte, wenn man auf die Beziehungen zum österreichischen Herzogtum schauen möchte, noch die Urkunde Nr. 1 hinzunehmen, die noch in die Regierungszeit Herzog Leopolds VI. fällt. Nicht einbezogen sind die beiden Urkunden 11 und 18, die Ulrich als steirischer Truchsess und somit formal im Auftrag Herzog Friedrichs ausstellt.
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Ottokar II. von Böhmen ist durch eine Urkunde belegt,67 ebenfalls einen Kontakt gab es zum König von Ungarn.68 Lediglich der Herzog von Kärnten und Bischof Ulrich von Seckau bringen es noch zu einer signifikanten Urkundenhäufigkeit, doch steht dies in einem harmonischen Verhältnis zu der Erwähnung des Salzburger Erzbischofs, da der 1247 gewählte Elekt Philipp von Salzburg ein Sohn des kärntnerischen Herzogs Bernhard II. war und das steirische Eigenbistum Seckau zu Salzburg gehörte, bzw. Ulrich von Seckau ab 1256 den Elekten Philipp auf dem Salzburger Bischofsstuhl ablöste. Die Forschungsbeiträge, die sich mit der politischen Dimension des Frauendienst beschäftigen, haben sich, der Schwerpunktsetzung des Textes folgend, vor allem auf Ulrichs Beziehung zu Herzog Friedrich konzentriert.69 So sieht etwa Thum in einer sozialgeschichtlichen Perspektive, die den ökonomischen Aufstieg der Steiermark im 13. Jahrhundert einkalkuliert, den Frauendienst als „aristokratischen ‚Ideologie‘Entwurf“70, in dem Ulrich die Gruppe der Adligen und Ministerialen als neue Einheit und mächtiges Gegengewicht zum Landesherrscher Friedrich positioniert. Doch berechtigt der Urkundenbefund, neben der Konstellation in Steiermark und Österreich auch einmal eine andere Herrschaftssphäre ins Gespräch zu bringen, nämlich Salzburg und insbesondere den Elekten Philipp von Spanheim, mit dem Ulrich während der Entstehungszeit des Frauendienst mehrfach zu tun hatte.
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Vgl. die Urkunde vom 17. Mai 1253 (Schönbach Nr. 35). Vgl. die Urkunde vom 26. Mai 1259 (Schönbach Nr. 39). Vgl. beispielsweise Thum, Höfische Ethik und soziale Wirklichkeit, vor allem S. 108 ff.; Reichert, „Exzentrizität als Zentralgedanke“, S. 38 ff.; Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, passim; Rischer, „Zum Realitätsstatus literarischer Fiktion“, S. 143 ff. Vgl. Thum, Höfische Ethik und soziale Wirklichkeit, S. 37. Während Thum davon ausgeht, dass Ulrich den Frauendienst als Instrument nutzt, um reale politische Veränderungen herbeizuführen, und das spielerische Potential des Entwurfs eher gering ansetzt, wird Letzteres von Rischer gerade als politische Strategie betont, vgl. Rischer, „Zum Realitätsstatus literarischer Fiktion“, S. 156: „Es geht im ‚Frauendienst‘ gerade nicht um die Darstellung eines Kontrastes zwischen Literatur als Fiktion […] und Geschichte als politischem Konkretum […]. Vielmehr werden Versatzstücke historischer Realität […] als l i t e r a r i s ch e s Mittel eingesetzt, um den historisch-politischen Anspruch der Literatur innerhalb der höfischen Gesellschaft noch zu verstärken.“
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3.1. Elekt Philipp von Salzburg – ein mächtiger, aber ungeliebter Lehnsherr? Das Erzbistum Salzburg kann man in seiner Bedeutung im 13. Jahrhundert kaum überschätzen. Es war zuständig für die Eigenbistümer Regensburg, Passau, Freising, Brixen, Gurk, Chiemsee, Seckau und Lavant und hatte, abgesehen vom ausgedehnten Kernland,71 weiten auswärtigen Streubesitz in Kärnten und der Steiermark.72 Wenn Ulrich im Frauendienst auf der Venusfahrt in Friesach Station macht, befindet er sich, obwohl er gerade Kärnten durchzieht, im Herrschaftsbereich des Erzbistums Salzburg. Weitere wichtige Außenbesitzungen sind die Gegenden um Pettau in der Süd- und um Leibnitz in der Mittelsteiermark. Im Jahr 1246 starb nicht nur Herzog Friedrich II., sondern nach einer 46-jährigen Amtszeit auch Erzbischof Eberhard II. von Salzburg. Doch während sich in Österreich und der Steiermark die Wirren des Interregnums breit machten, wurde in Salzburg bereits 1247 Philipp von Spanheim, Sohn des Herzogs Bernhard II. von Kärnten und Neffe des böhmischen Königs Wenzel I.,73 gewählt. Philipp konnte, anfangs unterstützt von seinem mächtigen Cousin Ottokar II. von Böhmen, die unsi71
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Vgl. zur Territorienbildung des Erzstifts die Karte von Heinz Dopsch. „VII. Salzburg im Hochmittelalter. 2. Die Entstehung des Territoriums.“ In: Geschichte Salzburgs. Stadt und Land. Gesamtherausgeber Heinz Dopsch und Hans Spatzenegger. Bd. 1. Vorgeschichte – Altertum – Mittelalter. 1. Teil. Hrsg. von Heinz Dopsch. Salzburg 1981, S. 337–346, hier S. 344. Zum Erzbistum Salzburg im 13. Jahrhundert vgl. Heinz Dopsch. „Premysl Ottokar II. und das Erzstift Salzburg.“ Jahrbuch für geschichtliche Landeskunde in Niederösterreich 44/45, 1978/79, S. 470–508, sowie Heinz Dopsch. „VII. Salzburg im Hochmittelalter. 1. Die äußere Entwicklung.“ In: Geschichte Salzburgs. Stadt und Land. Gesamtherausgeber Heinz Dopsch und Hans Spatzenegger. Bd. 1. Vorgeschichte – Altertum – Mittelalter. 1. Teil. Hrsg. von Heinz Dopsch. Salzburg 1981, S. 229–336, hier S. 308 ff. Zum Salzburger Außenbesitz vor allem in Kärnten vgl. Heinz Dopsch. „XI. Der auswärtige Besitz.“ In: Geschichte Salzburgs. Stadt und Land. Gesamtherausgeber Heinz Dopsch und Hans Spatzenegger. Bd. 1. Vorgeschichte – Altertum – Mittelalter. 2. Teil. Hrsg. von Heinz Dopsch. Salzburg 1983, S. 951–981, der gesonderte Unterkapitel zu Friesach und Leibnitz bietet, sowie Alois Lang und Gustav Adolf von Metnitz. Die Salzburger Lehen in Kärnten bis 1520. Hrsg. von Gotbert Moro. Graz u. a. 1971 (Fontes Rerum Austriacarum II,79), S. 200 ff. Dass selbst Herzog Friedrich II. einige Gebiete als Lehen des Erzstifts innehatte, zeigt eine Urkunde vom 6./7. April 1242, vgl. das Urkundenbuch des Herzogthums Steiermark. Bd. 3 (Anm. 49), Nr. 402. Herzog Bernhard II. von Kärnten heiratete 1213 Jutta, die Tochter König Ottokars I. von Böhmen und Schwester von Wenzel I.
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chere Situation der Nachbarländer für sich nutzen und setzte mit einer etwa 10-jährigen Amtszeit als Elekt die von Eberhard II. grundgelegte kontinuierliche Machtausdehnung des Erzstifts fort.74 Er war ein sehr aktiver geistlicher Fürst, der im Machtstreben und dem Wunsch nach Gebietserweiterung seinen weltlichen Kollegen in nichts nachstand. Die geistlichen Weihen lehnte Philipp ab, um sich eine mögliche Erbfolge im Herzogtum Kärnten offen zu halten, d. h., er wurde nie zum Erzbischof von Salzburg, was neben anderen Kritikpunkten schließlich zu seiner Absetzung durch den Papst im Jahr 1256 führte.75 Philipp verfügte über hohes militärisches Geschick und rekrutierte seine Streitkräfte nicht allein aus Lehnsgefolge, sondern wusste sein Heer durch Geldzahlungen beträchtlich zu erweitern. 1250 besetzte er das obersteirische Ennstal, um von dort ins Murtal auszugreifen, kaufte einen Teil von Wolkenstein bei Stainach, zudem die Burg Strechau und Lehen der steirischen Ministerialenfamilie der Trennsteiner, besiegte zusammen mit seinem Vater 1252 bei Greifenburg in Oberkärnten die Grafen Meinhard III. von Görz und Albert III. von Tirol.76 Zugleich wollte er den salzburgischen Streubesitz dagegen verteidigen, dass der kaiserliche Statthalter Mein74
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Vgl. zur Herrschaft des Elekten Philipp Dopsch (Anm. 72) sowie Fräss-Ehrfeld (Anm. 9), S. 316 ff., die für eine positive Bewertung des „von der älteren Geschichtsschreibung als charakterlich minderwertig geschmähten Philipp“ (S. 316) eintritt. Zu einer Nachfolge in Kärnten kam es nicht, denn nach Bernhard II. wurde Philipps Bruder Ulrich III. Herzog. Formal wurde Philipps Amtszeit in Salzburg bereits 1256 durch Papst Alexander IV. beendet, der ihn suspendierte und Ulrich von Seckau vom Salzburger Domkapitel zum Erzbischof wählen ließ, doch begegnete Philipp dieser Entmachtung mit massiver Gegenwehr. Auch 1261 scheint er seine Ansprüche noch nicht aufgegeben zu haben, wie ein Dokument vom 25. Mai bis 29. August 1261 bezeugt, in dem die umliegenden Bischöfe das Kardinalkollegium um Unterstützung bitten, weil Elekt Philipp Erzbischof Ulrich von Salzburg immer noch durch Fehden in der Ausübung seiner Herrschaft behinderte, vgl. das Urkundenbuch des Herzogtums Steiermark, Bd. 4 (Anm. 33), Nr. 49. Meinhart III. von Görz, der das Gebiet zwischen Lienz und Spittal zu weiten Teilen kontrollierte, verbündete sich mit seinem Schwiegervater, um den Besitz Greifenburg des Herzogs von Kärnten und das salzburgische Sachsenburg in seine Gewalt zu bringen und so freien Zugang zum Zentrum Kärntens zu bekommen, vgl. die zusammenfassende Darstellung dieses Konflikts bei Peter Stih. Studien zur Geschichte der Grafen von Görz. Die Ministerialen und Milites der Grafen von Görz in Istrien und Krain, München 1996 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 32). Einen guten Überblick über die geographische Lage bietet die Karte von Fräss-Ehrfeld (Anm. 9), Anhang („Zur Burgenlandschaft Kärntens“).
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hard von Görz ihn im Auftrag von Friedrich II. einzog77 – doch gehört dies zu dem übergeordneten Konflikt zwischen Kaiser- und Papstpartei in den späten 40er Jahren. Der Elekt paktierte auch mit den Liechtensteinern: In einer Urkunde vom 12. Mai 125078 verpflichtete sich Ulrich, Philipp von Salzburg bei dessen Eroberungszügen in Kärnten und der Steiermark mit 100 Bewaffneten militärisch zu unterstützen. Zugleich gelobte er, zwei seiner Kinder durch Eheschließung an die Salzburger Ministerialität zu binden, und verpfändete als Hochzeitsgabe für seinen Sohn dem Salzburger für 1000 Mark Silber die Burg Murau, die dieser als Stützpunkt für militärische Ausgriffe in die Steiermark nutzen wollte. Und was vereinbart war, wurde auch durchgeführt,79 denn Ulrichs Sohn Ulrich II. heiratete Kunigunde aus der Salzburger Ministerialenfamilie der Goldegger, und Tochter Diemut, die mit dem Steiermärker Wulfing von Trennstein verheiratet war, gehörte plötzlich auch zu einem Salzburger Dienstmannengeschlecht, weil die Trennsteiner am selben Tag wie die Liechtensteiner einen ganz ähnlichen Vertrag mit Philipp abschlossen.80 Schließlich heiratete noch Ulrichs Neffe Gundaker, der Sohn seines Bruders Dietmar, in die Salzburger Ministerialität ein,81 und so waren die Liechtensteiner auf Dauer an das Erzbistum Salzburg gebunden.82 Wie die bereits erwähnten Trennsteiner offenbaren, war Ulrich keineswegs der einzige Steiermärker, mit dem der reiche Elekt Philipp Unterstützungsverträge schloss: Ähnliche Bündnisse, mit denen Philipp seine militärische Schlagkraft in der Steiermark verstärken wollte, gibt es auch noch mit den Grafen Bernhard und Heinrich von Pfannberg, wobei die Urkunde die Pfannberger Ministerialen auf wichtigen Burgen wie Kaisersberg, Leoben, Ramenstein usw. explizit einschließt, so dass
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Vgl. die Urkunde vom Oktober 1249, Urkundenbuch des Herzogthums Steiermark. Bd. 3 (Anm. 49), Nr. 57, die die Gebietsstreitigkeiten zwischen Meinhart von Görz und seinem Schwiegervater Albert von Tirol auf der einen Seite und dem Elekten von Salzburg und seinem Bruder Herzog Ulrich von Kärnten auf der anderen Seite noch forcierte. Vgl. die Urkunde Schönbach Nr. 28. Vgl. die Urkunde vom 16. Mai 1250 (Schönbach Nr. 29). Vgl. das Urkundenbuch des Herzogthums Steiermark. Bd. 3 (Anm. 49), Nr. 71. Auch diese Verbindung wird bereits in der Urkunde vom 12. Mai 1250 (Schönbach Nr. 28) verfügt. Eine weitere Verbindung ergab sich 1283, als Dietmars IV. Sohn Hartnid Bischof im Salzburger Eigenbistum Gurk wurde.
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sich Elekt Philipp mit dieser Abmachung die Unterstützung eines ganzen Personenverbands sicherte.83 Warum Ulrich so bereitwillig mit dem aggressiv ausgreifenden Elekten paktierte, hat der Forschung Rätsel aufgegeben: Dopsch vermutet, dass Ulrich durch Philipps militärische Stärke zu diesem Schritt gezwungen wurde,84 doch weisen Ulrichs Urkunden auch für die Zeit vor dem Bündnis ja auf eine durchaus gewachsene und enge Beziehung zu Salzburg und Kärnten hin. Doch berichtet die Österreichische Reimchronik für die späten 50er Jahre durchaus auch von einer Eintrübung des Verhältnisses zum Elekten, wenn Ulrich zusammen mit anderen Steiermärkern den neuen Erzbischof Ulrich von Seckau gegen den mittlerweile abgesetzten Philipp unterstützt.85 Ulrichs Verhältnis zum Elekten von Salzburg entzieht sich also einer eindeutigen Bewertung. 3.2. Interregnumswirren in Österreich und der Steiermark Als Herzog Friedrich II. von Österreich und Steiermark in der Schlacht an der Leitha im Juni 1246 ohne Erben starb, zeigten gleich mehrere Parteien Interesse für die herrenlosen Gebiete, allen voran der König von Böhmen und Mähren, der König von Ungarn und der Herzog von Bayern.86 Um die eigenen Gebietsziele zu erreichen, bildete man Koalitio83
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Vgl. die Urkunde vom 1. Juni 1250 im Urkundenbuch des Herzogthums Steiermark. Bd. 3 (Anm. 49), Nr. 84, sowie die 1252 vereinbarten Zahlungen des Elekten an Albert von Wilthausen und Ulrich von Marchpurg, ebd., Nr. 114. Zu Philipps Unterstützungsverträgen vgl. Dopsch (Anm. 72), S. 479. Das Werben um neue Ministeriale durch den Elekten Philipp von Salzburg ist auch damit zu erklären, dass bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts rund zwei Drittel der alten Salzburger Ministerialenfamilien ausgestorben waren und das Erzstift auf auswärtige Familien zur Bewirtschaftung der Lehnsgüter zurückgreifen musste, vgl. Heinz Dopsch. „VII. Salzburg im Hochmittelalter. 3. Die innere Entwicklung. b) Die soziale Entwicklung.“ In: Geschichte Salzburgs. Stadt und Land. Gesamtherausgeber Heinz Dopsch und Hans Spatzenegger. Bd. 1. Vorgeschichte – Altertum – Mittelalter. 1. Teil. Hrsg. von Heinz Dopsch. Salzburg 1981, S. 361–418, hier S. 399. Vgl. Dopsch, „Zwischen Dichtung und Politik“, S. 81 f. Eine positivere Einschätzung des Verhältnisses zum Elekten Philipp bietet Krenn, „Historische Figuren“, S. 113 f. Vgl. Ottokars Österreichische Reimchronik (Anm. 1), V. 5932 ff. Zu den Interregnumswirren vgl. Lechner (Anm. 45), S. 299 ff., und Max Weltin. „Landesherr und Landherren. Zur Herrschaft Ottokars II. Premysl in Österreich.“ Jahrbuch für geschichtliche Landeskunde von Niederösterreich 44/45, 1978/79, S. 159–225, hier S. 161 ff.
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nen: Auf der einen Seite buhlte Ottokar II. von Böhmen, unterstützt durch den Kärntner Herzog und den Elekten Philipp von Salzburg, um Steiermark und Österreich, auf der anderen Seite wollte der Herzog von Bayern im Verbund mit König Bela IV. von Ungarn das Machtvakuum für sich nutzen. Ein weiterer Faktor im Kalkül waren die beiden letzten Babenbergerinnen Margarethe, die Schwester von Friedrich dem Streitbaren, und Gertrud, die Nichte des verstorbenen Herzogs. Margarethe versuchte ihre Ansprüche über eine Heirat mit Ottokar zu realisieren, und Gertrud setzte – nach dem frühen Tod ihres ersten Ehemanns Wladislaus von Ungarn 1247 und unter Vermittlung des Papstes – auf den Markgrafen Hermann VI. von Baden als Ehemann. Auf höchster Ebene stand Kaiser Friedrich II., der die heimgefallenen Reichslehen 1246 nicht sofort neu vergab, sondern sie der staufischen Hausmacht hinzufügen wollte und zu diesem Zweck Statthalter wie beispielsweise Meinhard III. von Görz aussandte.87 Die andauernde Zeit ohne klare Festlegung der Herrschaft und ohne eine geordnete landesherrschaftliche Verwaltung, während der auch viele kleinere Herren die Gelegenheit zur geschickten Arrondierung ihres Herrschaftsraums witterten, schlug sich für die Einwohner vor allem in einer zunehmenden Rechtsunsicherheit nieder, wie sie Ottokar in der Österreichischen Reimchronik hervorhebt: dô wart aber in dem lande von roube und von brande michel angest unde nôt.88
Auch der Frauendienst beklagt nach Friedrichs Tod eine Zeit, dô maneger wart von roube unvrô / ze Stîre und ouch in Œsterrîch (1738,2 f.), und adressiert dabei Österreich und die Steiermark wohl bewusst als einheitliches Territorium.89 Die österreichischen und steirischen Landherren verhielten sich in dieser Situation abwartend, die Steiermärker schienen sich auf die ihnen 87
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Vgl. die Urkunde vom Juni 1248 im Urkundenbuch des Herzogthums Steiermark. Bd. 3 (Anm. 49), Nr. 30, mit der Meinhard zum Reichsverweser in der Steiermark bestellt wurde. Er war der Nachfolger des 1247 eingesetzten Grafen Otto von Eberstein. Vgl. Ottokars Österreichische Reimchronik (Anm. 1), V. 1297 ff. Vgl. ganz ähnlich 1750 f.: Disiu liet ich niuwe sanc, / dô rehtiu freude was gar kranc / in Stîr und ouch in Œsterrîch. / si lebten alle trûriclîch. / […] / Man sach si niht wan roubes pflegen: / der vrowen dienest was gelegen. Ulrich immerhin kann durch den Minnedienst und -sang auch in den politisch-gesellschaftlich schweren Zeiten seine Hochstimmung bewahren, so dass es in Strophe 1738 heißt: swie ez doch in den landen gie / ich kom von mînen vreuden nie.
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1237 vom Kaiser verliehenen Rechte zu berufen, die sie gewissermaßen zu Reichsministerialen erklärten. Doch als Kaiser Friedrich II. 1250 starb, mussten sich die Ministerialen auf eine andere Strategie verlegen und boten 1251 Ottokar, der bereits nach Österreich eingezogen war und sich Ende des Jahres zum ersten Mal auch als dux Austrie bezeichnete, die österreichische Landesherrschaft an,90 so dass man zumindest für Österreich ab 1251 nicht mehr von einem Interregnum, sondern besser von der Herrschaft Ottokars sprechen sollte. 1252 festigte der junge Ottokar seinen Herrschaftsanspruch zusätzlich durch die Eheschließung mit der knapp fünfzigjährigen Babenbergerin Margarethe, der Witwe des 1242 gestorbenen Königs Heinrichs (VII.), was Ottokar das herzogliche Kammergut, vor allem die babenbergischen Kirchenlehen einbrachte. In den nördlichen Teilen der Steiermark wurde Ottokar 1252 ebenfalls anerkannt,91 doch lässt sich hier keine landeseinheitliche Parteinahme ausmachen, zumal in diesem Jahr bereits der ungarische König Bela IV. in das ehemalige babenbergische Gebiet einfiel und Teile der Steiermark annektierte.92 Unterstützt wurde Bela in diesen Herrschaftsplänen durch den Wittelsbacher Bayernherzog Heinrich, und die Österreichische Reimchronik notiert, dass Bela sich mit Geldzahlungen um die Zustimmung der steiermärkischen Ministerialen bemüht habe.93 Doch konnte er die steirischen Landherren nicht geschlossen auf seine Seite ziehen, zumal der Ungarnkönig im Gegensatz zu Ottokar die Bedingungen der Georgenberger Handfeste nicht anerkennen wollte.94 Dass Ottokar sich unterdessen in Österreich als neuer Landesfürst um ein einvernehmliches Verhältnis zu den Landherren bemühte, zeigt sich etwa in 90
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Hierzu und zum Folgenden vgl. die Darstellung bei Weltin (Anm. 86), S. 168 f., sowie Dopsch (Anm. 41), S. 220. Vgl. Pferschy (Anm. 26), S. 74, der die genauen Schritte der Anerkennung nachvollzieht. Zum Konflikt zwischen Ottokar und Bela vgl. Pferschy (Anm. 26), passim, und Maleczek (Anm. 42), S. 94 ff. Vgl. Ottokars Österreichische Reimchronik (Anm. 1), V. 2079 ff. Während die Pettauer, Stubenberger, Pfannberger und Wildonier dem Bericht der Reimchronik zufolge auf die ungarische Seite wechselten, hat sich Ulrich von den Gaben König Belas nicht beeindrucken lassen, sondern blieb der Partei Ottokars treu, vgl. V. 2294 ff.: nû wâren dâ der alten / Stîrærherren etelich, / von Liehtenstein her Uolrich / und von Offenberge her Dietmâr, / die des kleine nâmen war, / swaz der kunic Wêlân / grôzer gâbe het getân / datze Stîr den herren. / daran si sich niht kêren / wolden mit deheiner gunst. Vgl. Thum, Höfische Ethik und soziale Wirklichkeit, S. 96 f., dessen Annahme einer geordneten und festen „Ungarnherrschaft“ (S. 96) in der Steiermark ab 1254 jedoch relativiert werden muss.
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der Pax Austriaca von 1256, die das Konzept einer selbstverwalteten herrenständische Regierung vorsieht. Weltin sieht dieses Dokument, das lediglich im Notizbuch Hermanns von Altaich überliefert ist,95 als Reaktion Ottokars auf den starken Landherrenstand in Österreich, auf dessen Zustimmung er angewiesen war, wenn er sich in der Region dauerhaft als Landesherrscher behaupten wollte.96 Die Übereinkunft sah eine Art Selbstverwaltung mit einem zwölfköpfigen Beratungskollegium vor, zu dem unter anderen auch Otto von Maissau, Otto von Haslau, Heinrich von Liechtenstein, Albero und Heinrich von Kuenring, Heinrich von Haßbach und Albero von Feldsberg gehörten, die allesamt im Frauendienst auftreten.97 Der Konflikt zwischen Ottokar und Bela um die Steiermark dauerte an, und schließlich wurde die Steiermark 1254 im Frieden von Ofen zwischen Böhmen und Ungarn aufgeteilt:98 Ottokar erhielt den Traungau und das Pittner Gebiet mit Wiener-Neustadt, die restliche Steiermark ging an Ungarn und wurde fortan von Stephan von Slawonien als ungarischem Statthalter verwaltet. Doch dieser konnte sich in seinem Amt nur schwer durchsetzen: Das Urkundenbuch der Steiermark verzeichnet ab September 1254 lediglich sechs Urkunden, in denen Stephan als Landeshauptmann agiert.99 Die schwache ungarische Verwaltung rief die übrigen Interessenten auf den Plan, so urkundet beispielsweise am 19. April 1259 ein Fridericus dei gracia dux Austrie et Stirie,100 der wohl als der noch 95 96
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Vgl. Constitutiones et acta publica (Anm. 46), Nr. 439, 440. Vgl. Weltin (Anm. 86), S. 177 ff., der auch verwaltungsrechtliche Bestimmungen wie die Einsetzung von Landrichtern bespricht. In Artikel 7 sichern die österreichischen Landherren ab, dass sie nicht wie unter dem Babenberger Friedrich durch zusätzliche Steuern und Zölle des Landesherrschers belastet werden, vgl. Constitutiones et acta publica (Anm. 46), Nr. 440, S. 606: Wir setzen auch und gebiten: swelch herre sin stat od sin burch bauwen welle od dehæin ander bowe tuen wil, der sol daz tuen mit sinem gute od mit siner leute gute, niht von der lantleute gute. Swer dar uber dehæin zol od dehein ungelt nimpt in dehæiner stat od auf dehæiner strazze, uber den sol man rihten sam uber æinen strazzrauber. Vgl. die Auflistung bei Weltin (Anm. 86), S. 178 f. Codex diplomaticus et epistolaris regni Bohemiae. Hrsg. von Gustav Friedrich. Bd. V,1. Hrsg. von Jindˇrich Sebánek u. Sáˇsa Duˇsková. Prag 1974, Nr. 21, S. 59 f. Zum Frieden von Ofen vgl. Maleczek (Anm. 42), S. 95, sowie Pferschy (Anm. 26), S. 77 f. Zur Teilung der Steiermark vgl. Justus Lunzer. Steiermark in der deutschen Heldensage. Wien, Leipzig 1927 (Akademie der Wissenschaften in Wien. Phil.-hist. Klasse. Sbb. 204, 1), S. 102 ff., der S. 102 eine Karte der geteilten Steiermark bietet. Vgl. das Urkundenbuch des Herzogthums Steiermark. Bd. 3 (Anm. 49), Nr. 150, 151, 188, 190, 219, 233. Ebd., Nr. 263.
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junge Sohn Friedrich aus der Ehe zwischen Hermann von Baden und der Babenbergerin Gertrud zu identifizieren ist.101 Wie diffizil gerade die Teilung der Steiermark die Herrschaftsfrage machte, zeigt sich in der Kommunikation zwischen Ottokar und Bela: Während Ottokar in einem Schreiben an Bela vom 16. Oktober 1259 sich selbst als dux Austrie und Bela als dux Styrie bezeichnet,102 nennt er sich etwa in einer Urkunde vom 24. Mai 1260 ganz selbstverständlich dux Austrie et Stirie103 – er wählt damit eine Amtsbezeichnung, die ihm rein formal aufgrund der Teilungsbestimmungen des Friedens von Ofen zusteht, die aber zugleich seinen Anspruch auf die gesamte Steiermark unmissverständlich formuliert. Auch die steirischen Landherren stellten sich zunehmend auf Ottokars Seite und initiieren 1260 einen Aufstand gegen die ungarische Herrschaft, der zur Vertreibung der Ungarn aus steirischem Gebiet führte.104 Die Entscheidung des Konflikts wurde schließlich im Juli 1260 mit der Schlacht zwischen Bela und Ottokar bei Groissenbrunn herbeigeführt: Dem Sieger Ottokar wurde im Frieden von Wien 1261105 die gesamte Steiermark zugeschrieben, die er durch Wok von Rosenberg und danach durch Bruno von Olmütz als Hauptmann verwalten ließ106 – und mit diesem kurzen Abriss sind lediglich die Hauptschauplätze des steirischen Interregnums geschildert und die vielen kleinen Gebietsstreitigkeiten nicht berücksichtigt.
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Zu den Ansprüchen der badischen Markgrafen vgl. Hermann Meier. „Gertrud, Herzogin von Österreich und Steiermark.“ Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark 23, 1927, S. 5–38, hier S. 7 f. Vgl. das Urkundenbuch des Herzogthums Steiermark. Bd. 3 (Anm. 49), Nr. 278. Ebd., Nr. 290. Vom Aufstand gegen die Ungarn berichtet Ottokars Österreichische Reimchronik (Anm. 1), V. 2396 ff. Codex diplomaticus et epistolaris regni Bohemiae (Anm. 98), Nr. 277, S. 413 f. In diesem Amt begegnet Wok von Rosenberg in den folgenden Urkunden: Urkundenbuch des Herzogtums Steiermark. Bd. 4 (Anm. 33), Nr. 41, 42, 43, 67. Wok starb bereits 1262, zum neuen capitaneus Styrie Bruno von Olmütz vgl. die Urkunde Nr. 76.
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4. Der Frauendienst als prosopographische Quelle. Die Personennennungen der Kostümfahrten Wie fügt sich nun der Frauendienst in dieses politische Feld ein? Der Text fordert diese Frage durch die massive Verwendung historischer Personennamen geradezu heraus. Tatsächlich ist das Aufrufen von 172 realen Personen ein ungewöhnliches und in der deutschen Literatur des Mittelalters einzigartiges Verfahren, das Verwunderung hervorgerufen und dessen Durchdringung die Forschung intensiv beschäftigt hat.107 Wie eine derart massive Montage realer Personnamen in der literarischen Praxis aussieht, lässt sich am Beispiel der Beschreibung des Friesacher Turniers zeigen: Der turnay wart vil lobelîch getaylet. d e r vo n Œ s t e r r î ch het dâ zwir fünfzic ritter guot: die wâren ritterlîch gemuot. zuo dem geviel der êre holt: daz was der m a r g r â ve D i e p o l t . der het dar wan zwelf ritter brâht: die heten ûf gewin gedâht. In dem tayl was g r â ve A l b r e h t vo n Ty r o l , des lop ie was sleht. ez het der edel grâve hêr dâ vierzic ritter und niht mêr. vo n T û f e r s H û c der schanden frî het zweinzic ritter unde drî, die wol nâch êren wurben dâ: daz tâten si ofte ouch anderswâ. Ich sag iu reht, als ich ez sach: ez het der vo g t vo n L e n g e n b a ch dâ zwên und zweinzic ritter guot: die wâren ritterlîch gemuot, der tuomvogt was guotes rîch: des zimirt er vil köstelîch sich unde sîn gesellen gar. die wâren alle lieht gevar.
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Vgl. die verdienstvollen Recherchen von Spechtler, Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein, und Dopsch, „Zwischen Dichtung und Politik“, die die Fülle von Einzelinformationen mit Exaktheit und hohem historischen Sachverstand eruiert haben.
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Sandra Linden Vo n M u o r e ck den rîchen man sach man dâ vierzic ritter hân. von K ü e n r i n g e h e r H a d m â r het einen und drîzic an der schar. von C r a n ch s p e r c d e n h e r r e n H e r m a n sach man dâ zweinzic ritter hân. von G o r s e d e r m i l t e Wo l f g ê r het dâ zwelf ritter und niht mêr. (246 ff., Hervorhebungen von S. L.)
In einer relativ dichten Namensliste nennt Ulrich die Turnierteilnehmer und die jeweilige Anzahl ritterlicher Gefolgschaft. Er erwähnt in hierarchischer Gliederung Herzog Leopold VI. von Österreich, den bayerischen Markgrafen Diebold, Graf Albert I. von Tirol, Hugo Taufers, der ein Lehnsmann des Bischofs von Brixen war, dann Otto von Lengbach als Domvogt von Regensburg, danach ein Mitglied der steirischen Ministerialenfamilie Mureck, es folgt der Österreicher Hadmar von Kuenringen, schließlich mit Hermann von Kranichberg und Wolfger von Gars zwei Teilnehmer aus Niederösterreich. Die klare Herrschaftshierarchie in der Reihenfolge der Nennungen wird mit der akribischen Notiz der jeweiligen Gefolgschaftsgröße zum Teil wieder unterlaufen, wenn etwa der Markgraf lediglich zwölf Ritter mit sich führt, während die Ministerialen 20, 30 und sogar 40 Gefolgsleute aufweisen können. Die Nennung der Namen verdichtet sich im Frauendienst stellenweise zu einer bloß listenartigen Aufzählung, doch bemüht sich der Autor meist wie im obigen Beispiel, die Reihe mit kurzen deskriptiven Bemerkungen zu den einzelnen Turnier- oder Fahrtteilnehmern zu entzerren, so dass der zitierte Ausschnitt als typisches Beispiel für Ulrichs Technik der Realitätsmontage gelten kann. Sowohl aus dem Verlauf der großen Kostümfahrten als auch mittels der im Frauendienst erwähnten Personen ergibt sich ein geographisches Feld, in das der Roman eingelassen ist: Die große Mehrheit der Ritter stammt aus Österreich und aus Ulrichs Heimat, der Steiermark. Eine ganze Reihe der erwähnten Personen kommt aus Kärnten, wenige aus Tirol, einige aus Krain und dem Einzugsgebiet des Patriarchen von Aquileia. Es ist hier nicht der Ort, für jede der 172 Personen die historischen Hintergründe der Erwähnung im Frauendienst darzulegen.108 Man108
Einen Überblick über die erwähnten Personen bietet die Liste im Anhang, die vor allem dazu dient, die urkundliche Verbindung der einzelnen Personen zu Ulrich zu belegen. Eine detaillierte historische Aufbereitung findet sich bei Spechtler, Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein, S. 338 ff.; Dopsch, „Zwischen Dichtung und Politik“, und Krenn, „Historische Figuren“, der die bei Spechtler aufgeführte Per-
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che Namen scheinen mit größerem Kalkül, andere eher zufällig gesetzt, doch lassen sich gewisse größere Gruppierungen, die für den historischen Ulrich eine Rolle spielen, feststellen. Besonders interessant sind in dieser prosopographischen Perspektive die beiden großen Kostüminszenierungen, Venus- und Artusfahrt. 4.1. Venusfahrt Obwohl Ulrich in der Venusverkleidung mit einer einzigen Fahrt von Oberitalien bis an Österreichs Grenze zu Böhmen einen weiten Raum durchreist und ihn als eine Wahrnehmungseinheit markiert, hält er in der Reisedarstellung durchaus die Landesgrenzen präsent. So erwähnt er auf seiner Route explizit den Übergang von Kärnten in die Steiermark: dar nâch sach man danne rîten mich gegen Scheuflich sâ zehant in daz werde Stîrelant. (650,4–6)
Ebenso wird der Grenzübertritt von der Steiermark nach Österreich bewusst gehalten: Mîn gezoc was ritterlîch. / sus fuor ich gegen Œsterrîch (749,1 f.). Auch in der Anzahl seiner Mitspieler zeigen sich signifikante Unterschiede der Herrschaftszugehörigkeit, denn die Ritter aus Kärnten und Österreich sind auf der Venusfahrt im Verhältnis stärker vertreten als die aus Ulrichs Heimatland Steiermark, wie die folgende Karte verdeutlicht. Die Karte markiert zum einen auf der gestrichelten Linie die Orte, die Ulrich-Venus durchreist, und zum anderen die namengebenden Stammsitze der Personen, die Ulrich auf der Fahrt begegnen und mit ihm in den Spielentwurf eintreten.109 Auf beiden Kostümfahrten ordnet Ulrich jedem Ort die passenden Personenamen zu, d.h., meist treffen an einer Sta-
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sonenliste erweitert. Für die steiermärkischen Personenbelege sind auch die Ausführungen von Pirchegger (Anm. 9), die über ein Register erschlossen werden, sehr hilfreich. Grundlage der vorliegenden Karte ist die Darstellung bei Dopsch, „Zwischen Dichtung und Politik“, S. 102 f., in der sämtliche im Frauendienst erwähnte Personen verzeichnet sind. Vgl. für das steiermärkische Gebiet auch die Karte bei Pirchegger (Anm. 8), Bd. 2, Anhang 1. Man mag einwenden, dass der namengebende Ort nicht notwendig der Stammsitz der betreffenden Familie sein muss, doch wird dies vernachlässigt, da die Karte lediglich eine grobe Orientierung über die Personenbeteiligung auf der Fahrt liefern soll.
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Abb. 1: Route der Venusfahrt und Stammsitze der erwähnten Personen
tion diejenigen Ritter ein, die ihren Sitz in der Umgebung haben, wie man es beispielsweise für die Station St. Veit in Kärnten beobachten kann.110 Ab Str. 625 beschreibt der Frauendienst, wie Ulrich-Venus auf eine Reihe von Dienstleuten des Kärntner Herzogs trifft, nämlich Reinher von Eichelberg, Konrad von Lebmach, Kuno von Freiberg, Jakob von Berg, Konrad von Tainach, Rüdelin von Nußberg, Gundacker von Frauenstein, Heinrich von Greifenfels, Wülfing von Gurnitz, Heinrich von Grafenstein, Ortolf von Osterwitz, Weichart von Karlsberg sowie die Brüder
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Vgl. Dopsch, „Zwischen Dichtung und Politik“, S. 92.
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Engelram und Engelbrecht von Straßburg, die allesamt ihren Sitz in unmittelbarer Umgebung von St. Veit haben. Lediglich Siegfried von Saxen, der als letzter Ritter genannt wird, fällt mit seiner Herkunft aus dem österreichischen Saxen geographisch aus dem Rahmen, doch für den erklärt der Erzähler: der Sahse sô was er genant / und ze Kernden wol bekant (635,5f.). Vergleicht man für die Venusfahrt die Dichte der Personennennungen in den drei durchreisten Ländern Kärnten, Steiermark und Österreich, so dominieren Kärnten und Österreich. Es scheint so, als wolle Ulrich vor allem die Ritter der beiden Nachbarländer ansprechen und als habe er auf die Personengestaltung in der Steiermark vergleichsweise weniger Wert gelegt. So fügt es sich nicht zu den umfangreichen, für einige Orte fast auf Vollständigkeit zielenden Namenslisten der österreichischen und kärntnerischen Ritter, dass für die Steiermark führende Familien wie die Sannegger, Stadecker, Mahrenberger, Pettauer, Trennsteiner oder Neuberger gar nicht erwähnt werden,111 und auch die steirischen Grafen Heunburg und Peggau-Pfannberg sind zwar beim Friesacher Turnier (189, 190, 251, 274), nicht jedoch auf den Kostümfahrten berücksichtigt. Während sich der Autor für Österreich und Kärnten bemüht, niemanden zu vergessen, und vor allem einigen Österreichern wie Wolfger von Gars, dem Domvogt Otto von Lengbach oder Kadolt von Feldsberg ausführliche Handlungsrollen zuteilt, scheint er eine solche differenzierte Berücksichtigung der eigenen steirischen Landsleute nicht für nötig zu halten. Die Steiermärker, die zur Darstellung kommen, bringen Ulrich-Venus auf seinem Weg durch das Land ein geradezu selbstverständliches Wohlwollen entgegen, doch fühlt er sich anscheinend nicht verpflichtet, ausnahmslos alle wichtigen Familien abzubilden. Vielleicht ist die Venusfahrt – so könnte ein Fazit lauten – stärker mit Blick auf ein kärntnerisches und österreichisches Publikum entworfen als auf ein steiermärkisches. Das würde dann auch erklären, warum Ulrich die Topographie des steirischen Ortes Kapfenberg, die der steiermärkische Rezipient freilich kennt, so detailliert ausmalt:
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Die Liste ließe sich noch um die Familien Ort, Saldenhofen, Gonobitz, Rohitsch, Montpreis-Hörberg, Neuberg, Königsberg, Wildon, Steyr-Pernegg, Ehrenfels, Marburg, Wildhaus, Kranichberg, Leibnitz, Leoben, Walsee, Rabenstein, Teufenbach, Treun usw. ergänzen, von denen einige für das Friesacher Turnier erwähnt werden, vgl. Dopsch (Anm. 41), der S. 231 eine Tabelle der steirischen Landherren zusammengestellt hat. Aus der über 30 Namen umfassenden Liste finden sich nur sechs als Mitspieler auf den Kostümfahrten im Frauendienst wieder (Mureck, Stubenberg, Landsee, Steyr, Graz, Emmerberg).
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Sandra Linden Von Liuben zogt ich dô zetal hin, dâ diu Murtz hât ir val in di Muore krefticlîch. daz ist ein wazzer vische rîch: bî dem reit ich ze berge dô under eine burc, diu lît vil hô. diu ist Capfenperc genant, in Stîrelande wol bekant. (669)
4.2. Artusfahrt Ein ganz anderes Bild der Personenverteilung ergibt sich für Ulrichs zweiteKostüminszenierung, die Artusfahrt,112 bei der aufgrund der kürzeren Route Kärnten ganz ausgeblendet wird und der Schwerpunkt eindeutig auf Österreich liegt.
Abb. 2: Route der Artusfahrt und Stammsitze der erwähnten Personen 112
Zur geographischen Darstellung vgl. die Erläuterungen in Anm. 109.
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Auf dieser Fahrt kommt es in den Reihen der Mitspieler zu einer signifikanten Binnendifferenzierung: Während Ulrich die regulären Tjostpartner vor allem aus den Reihen der österreichischen Ritter rekrutiert, werden die Artusritter, die sich durch drei Tjosten mit Ulrich-Artus für den Dienst qualifiziert haben, in der Mehrheit von Steiermärkern gespielt,113 d. h., für diese Elite innerhalb des Spiels hat Ulrich auf seine Landsleute zurückgegriffen. Das hat zur Folge, dass er bereits mit einem fast vollständigen Herrschaftsgefüge nach Österreich einzieht. Unter den österreichischen Mitspielern finden sich – ein politisch relevantes Detail, das Heinz Dopsch herausgestellt hat114 – überproportional viele soziale Aufsteiger, d. h. Mitglieder einer neuen österreichischen Amtselite, die Herzog Friedrich II. nach seiner Reichsacht neu gefördert hatte, weil er von der mangelnden Unterstützung der alten Führungsschicht enttäuscht war. Ministeriale aus der alten Elite wie Otto von Maissau und Kadolt Weise werden zwar ebenfalls erwähnt, sind aber nicht so zahlreich, d. h., der Frauendienst gibt hier ein deutliches Signal für die Akzeptanz der neuen österreichischen Führungsschicht. Für das geplante große Tafelrundenturnier in Katzelsdorf, bei dem auch Herzog Friedrich II. seine Teilnahme zugesagt hat (1567 f.), werden die Turnierteilnehmer im Vorfeld in zwei Gruppen aufgeteilt, von denen Ulrich-Artus die eine anführt, während für die andere Gruppe die Breuzel-Brüder als Leitung bestimmt werden. Die Aufteilung der Gruppen wird im Frauendienst genau namentlich festgehalten (1580 ff.), oftmals unter Erwähnung der Gefolgschaftszahl, die die einzelnen Teilnehmer in die Turniergruppe einbringen, und kann als durchaus bewusste und genau kalkulierte Zusammenstellung eines politisch relevanten Personenverbandes verstanden werden. Das folgende Schaubild zeigt, wie sich die Turnierparteien zusammensetzen, und markiert mit Verbindungslinien, für welche Personen auf der Basis historischer Quellen eine reale Verbindung belegt ist.
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Die Artusritter sind Alber von Arnstein als Segramors, ‚Erec‘ von Tulbingen, ‚Ither‘ von Lindeniz, Leutfried von Eppenstein als Kalogreant, Heinrich von Spiegelberg als Lanzelet, Erchenger von Landsee als Iwein, Nikola von Lebenberg als Tristan, Heinrich von Lienz als Parzival und Ulrichs Bruder Dietmar als Gawan. Vgl. Dopsch, „Zwischen Dichtung und Politik“, S. 94 f.
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Abb. 3: Das Schaubild stellt die beiden gegnerischen Turnierparteien gegenüber, wobei in der Partei Friedrichs nicht die Breuzel-Brüder als Leiter der Gruppe an erster Stelle dargestellt sind, sondern der Herzog selbst, da er zusammen mit Ulrich über die meisten Beziehungen zu den übrigen Beteiligten verfügt. Den neun Tafelrundenrittern – der Text spricht in Str. 1580 von 13 Artusrittern, doch werden hier nur die neun namentlich Genannten berücksichtigt – stehen Friedrichs Dienstmannen gegenüber, wobei allerdings anzunehmen ist, dass lediglich eine Auswahl der Lehnsmänner, die am Willkommenszug für Ulrich-Artus (1470 ff.) teilgenommen haben, nun auch beim Turnier antritt, da Friedrichs Gruppe sonst eindeutig in der Überzahl gewesen wäre. Das Beziehungsnetz ist nicht erschöpfend dargestellt, d. h., es ist anzunehmen, dass zwischen den genannten Personen noch mehr Verbindungslinien bestanden. Die Zahlen verweisen auf den entsprechenden Quellenbeleg. 1) Vgl. die Urkunden vom 25. August 1240 (Schönbach Nr. 9) und vom 2. März 1241 (Schönbach Nr. 10). 2) Vgl. die Urkunden vom 21. Dezember 1260 (Schönbach Nr. 45) und vom 25. Dezember 1260 (Schönbach Nr. 47). 3) Vgl. die Urkunde vom 25. August 1240 (Schönbach Nr. 9) und eine nicht genau datierbare Urkunde aus dem Jahr 1244 (Schönbach Nr. 17). 4) Vgl. eine Urkunde aus dem Jahr 1236 im Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger in Österreich (Anm. 42), Bd. 2, Nr. 533. 5) Vgl. die Urkunde vom 21. Dezember 1260 (Schönbach Nr. 45). 6) Vgl. die Urkunden vom 25. August 1240 (Schönbach Nr. 9) und vom 12. Juni 1269 (Schönbach Nr. 66). 7) Bernhard von Breuzel ist der Hauptmann von Herzog Friedrich, vgl. die Chronik von den 95 Herrschaften (Anm. 1), Buch III,242. 8) Vgl. die Urkunden vom 25. August 1240 (Schönbach Nr. 9), vom Juni 1243 (Schönbach Nr. 16) und vom 17. Mai 1253 (Schönbach Nr. 35). 9) Vgl. beispielsweise die Urkunde vom 30. August 1249, Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger in Österreich (Anm. 42), Bd. 2, Nr. 449. Heinrich von Haßbach nahm zusammen mit den Breuzel-Brüdern, Otto von Haslau, Kadolt Weise, Heinrich von Liechtenstein und den Maissauern an der Versammlung bei Triebensee teil, vgl. Ottokars Österreichische Reimchronik (Anm. 1), V. 1304 ff. 10) Kadolt Weise kämpft in der Schlacht Herzog Friedrichs gegen den König von Böhmen auf der Seite Böhmens und wird von Heinrich von Breuzel überwunden und gefangen genommen, vgl. die Chronik von den 95 Herrschaften (Anm. 1), Buch III,243. Kadolt Weise nahm an der Versammlung bei Triebensee teil, vgl. oben Beleg 9. 11) Kadolt nahm an der Versammlung bei Triebensee teil, vgl. oben Beleg 9. 12) Vgl. oben Beleg 9 zur Versammlung bei Triebensee. 13) Vgl. die Urkunde vom 21. Dezember 1260 (Schönbach Nr. 45), die Breuzel-Brüder nahmen an der Versammlung bei Triebensee teil, vgl. oben Beleg 9. 14) Vgl. die Urkunde vom 6. Februar 1251, Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger in Österreich (Anm. 42), Bd. 2, Nr. 453, sowie oben Beleg 9 zur Versammlung bei Triebensee. 15) Vgl. die Urkunde vom 21. Dezember 1260 (Schönbach Nr. 45) sowie oben Beleg 9 zur Versammlung bei Triebensee. 16) Vgl. oben Beleg 9 zur Versammlung bei Triebensee.
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17) Vgl. oben Beleg 9 zur Versammlung bei Triebensee. 18) Vgl. die Urkunde vom 25. August 1240 (Schönbach Nr. 9), die Urkunde vom 6. Februar 1251, Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger in Österreich (Anm. 42), Bd. 2, Nr. 453, sowie die Tatsache, dass Heinrich von Liechtenstein zusammen mit Heinrich von Haßbach um einen Herzog nach Meißen gesandt wurde, Chronik von den 95 Herrschaften (Anm. 1), Buch III,250, zur Teilnahme an der Versammlung bei Triebensee vgl. oben Beleg 9. 19) Vgl. die Urkunde vom 25. August 1240 (Schönbach Nr. 9) sowie oben Beleg 9 zur Versammlung bei Triebensee. 20) Vgl. die Urkunden vom 21. Dezember 1260 (Schönbach Nr. 45) und vom 25. Dezember 1260 (Schönbach Nr. 47) sowie oben Beleg 9 zur Versammlung bei Triebensee. 21) Vgl. die Urkunde vom 25. August 1240 (Schönbach Nr. 9), vom 21. Dezember 1260 (Schönbach Nr. 45) und vom 21. April 1265 (Schönbach Nr. 59) sowie oben Beleg 9 zur Versammlung bei Triebensee. 22) Vgl. die Urkunde vom 25. August 1240 (Schönbach Nr. 9). 23) Vgl. die Urkunden vom 25. August 1240 (Schönbach Nr. 9), vom 21. Dezember 1260 (Schönbach Nr. 45) und vom 25. Dezember 1260 (Schönbach Nr. 48). 24) Vgl. die Urkunde vom 21. Dezember 1260 (Schönbach Nr. 45) sowie oben Beleg 9 zur Versammlung bei Triebensee. 25) Vgl. zwei Urkunden vom 2. Februar 1270 (Schönbach Nr. 75 und 76) und eine Urkunde vom 7. September 1272 (Schönbach Nr. 81). 26) Vgl. die Urkunde vom 11. November 1236, Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger in Österreich (Anm. 42), Bd. 2, Nr. 330. 27) Vgl. die Urkunde vom 21. Dezember 1260 (Schönbach Nr. 45) sowie oben Beleg 9 zur Versammlung bei Triebensee. 28) Vgl. die Urkunde vom 21. September 1249, Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger in Österreich (Anm. 42), Bd. 2, Nr. 452. 29) Vgl. die Urkunden vom 2. und 3. Februar 1270 (Schönbach Nr. 75, 76a). 30) Vgl. beispielsweise eine Urkunde Friedrichs vom 8. Dezember 1243, Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger in Österreich (Anm. 42), Bd. 2, Nr. 421. 31) Vgl. die Urkunde vom 21. April 1265 (Schönbach Nr. 59). 32) Vgl. die nach dem 24. April 1244 zu datierende Urkunde (Schönbach Nr. 15). 33) Vgl. die Urkunden vom 25. August 1240 (Schönbach Nr. 9) und vom 25. April 1260 (Schönbach Nr. 42a). 34) Vgl. die Urkunde vom 21. September 1249, Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger in Österreich (Anm. 42), Bd. 2, Nr. 452. 35) Vgl. die Urkunden vom 25. Dezember 1260 (Schönbach Nr. 48) und vom 21. April 1265 (Schönbach Nr. 60). 36) Vgl. die Urkunde vom 25. August 1240 (Schönbach Nr. 9) und vom 2. März 1241 (Schönbach Nr. 10). 37) Vgl. die Urkunde vom 25. August 1240 (Schönbach Nr. 9). 38) Vgl. eine Urkunde aus dem Jahr 1233, Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger in Österreich (Anm. 42), Bd. 2, Nr. 312. 39) Vgl. beispielsweise die Urkunde vom 16. März 1240, Urkundenbuch zur Geschichte der Babenberger in Österreich (Anm. 42), Bd. 2, Nr. 354. 40) Vgl. die Urkunde vom Februar 1237 (Schönbach Nr. 5). 41) Vgl. die Urkunde vom 9. Juni 1232 (Schönbach Nr. 3).
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42) Vgl. die in etwa auf den 18. Juli 1261 zu datierende Urkunde Schönbach Nr. 50 sowie die Urkunde vom 5. August 1263 (Schönbach Nr. 55a.) 43) Die enge Verwandtschaftsbindung zwischen den Brüdern Ulrich und Dietmar macht einen Nachweis durch Urkundenbelege überflüssig. 44) Vgl. die Urkunde vom 5. August 1263 (Schönbach 55a).
Das Schaubild verdeutlicht, dass das in der Realität bestehende Beziehungsgeflecht zwischen den Turnierteilnehmern extrem dicht ist. Die Verbindungslinien verdichten sich keineswegs nur innerhalb der eigenen Turniergruppe, sondern gehen auch zwischen beiden Parteien hin und her, so dass der Eindruck entsteht, dass beinahe jeder jeden kennt. Dass sich hinter der Einteilung bestimmte politische Parteiungen verbergen,115 lässt sich aus der Quellenlage nicht eindeutig ablesen. Zwar kann man formal feststellen, dass Ulrich in seiner Gruppe mehr steirische Ritter und Friedrich mehr österreichische hat, doch lässt sich dieses Ergebnis leicht damit erklären, dass Ulrich die in seiner Gruppe teilnehmenden Tafelrundenritter vornehmlich in der Steiermark rekrutiert hat, während in Friedrichs Gruppe seine eigenen Dienstleute dominieren. Auffällig ist immerhin, dass in Ulrichs Partei mit Heinrich von Haßbach, Kadolt Weise, Heinrich von Liechtenstein und Otto von Haslau ausnahmslos österreichische Ministeriale hervorgehoben werden und die steirische Beteiligung sich allein über die Tafelrundenritter ergibt. Mitglieder der älteren österreichischen Führungsschicht wie Otto von Maissau, Kadolt Weise, Heinrich von Liechtenstein und Rapot von Falkenberg treten in der Turniervorbereitung gemeinschaftlich mit der neu hervorgetretenen Herrschaftselite unter Herzog Friedrich auf, zu denen die Breuzel-Brüder, Kol von Frohnhofen, Otto von Haslau und Heinrich von Haßbach zu zählen sind.116 Zumindest für die Breuzel-Brüder lässt sich nachvollziehen, dass Ulrich durchaus zwischen alter und neuer Dienstmannschaft des Herzogs unterscheidet, wenn er über Wernhart und Heinrich sagt: durch ir vil hôhe manheit het sî gemachet guotes rîch der werde fürste Friderîch von Œsterrîche, der herre mîn.
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Vgl. Thum, Höfische Ethik und soziale Wirklichkeit, S. 114 ff.; Thum, „Literatur als politisches Handeln“, S. 269; Höfler, „Venusfahrt und Artusfahrt“, S. 145 f., und sehr vorsichtig auch Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein, S. 203. Zu dieser Unterscheidung von ‚alten‘ und ‚neuen‘ Ministerialen vgl. Lechner (Anm. 45), S. 290, sowie Dopsch, „Zwischen Dichtung und Politik“, S. 95.
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Sandra Linden des müez sîn sêle sælic sîn, daz er die biderben wol beriet und sî gar von ir kumber schiet! (1471,2–8)
Ganz ähnlich stellt der Erzähler auch in der Beschreibung Kols von Frohnhofen einen sozialen Aufstieg heraus, der direkt auf seinen vorbildlichen Dienst für den Herzog zurückgeführt wird: sînem herren het er verdienet an, dem werden fürsten Friderîch, daz er in het gemachet rîch. (1495,4–6)
Alte und neue Dienstleute stehen einander keineswegs als geschlossene Gruppen gegenüber, sondern sind gleichmäßig auf beide Turnierparteien verteilt und demonstrieren so eine neue Einheit der österreichischen Landherren. Dass Ulrich hier tatsächlich die wichtigsten Herren Österreichs versammelt, lässt sich schon allein daran ablesen, dass mit Heinrich von Haßbach, Heinrich von Liechtenstein, Otto von Haslau und Otto von Maissau vier Teilnehmer in den 50er Jahren als österreichische Landrichter bezeugt sind.117 Die dem Schaubild beigegebenen Quellenbelege verweisen auffällig häufig auf eine Versammlung bei Triebensee,118 an der mit Heinrich von Haßbach, Kadolt Weise, Heinrich von Liechtenstein, Otto von Haslau, Otto von Maissau und den Breuzel-Brüdern die meisten der ausführlich erwähnten Artusturnierteilnehmer beteiligt sind. Die Österreichische Reimchronik berichtet für die unruhige Interregnumszeit das Bemühen dieser besorgten österreichischen Landherren, die unsicheren Zustände im Land dadurch zu beenden, dass sie sich möglichst schnell um einen geeigneten Landesherren bemühen, worüber sie bei Triebensee beraten: dô wurden si ze râte die waegist und die besten, wand si fürwâr wol westen, die wîl daz lant waere rehter herren laere, sô liez sich niemen lenken. 117 118
Vgl. Weltin (Anm. 86), S. 159–225, hier S. 179 f. Vgl. Ottokars Österreichische Reimchronik (Anm. 1), V. 1304 ff. Vgl. zu dieser Versammlung Ottokar Lorenz. Die Erwerbung Oesterreichs durch Ottokar von Böhmen. Ein Beitrag zur österreichischen Geschichte. 2., umgearbeitete Auflage. Wien 1857, S. 14 ff., der den historischen Quellenwert des „sonderbaren Vorfall[s]“ (S. 14 f.) kritisch bespricht und S. 16 die Vermutung äußert, dass der Reimchronist die Versammlung bei Triebensee mit einer späteren Ständeversammlung im nahe Triebensee gelegenen Tulln verwechselt habe.
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darumb solt man gedenken, wie man gewunne die hêrschaft, diu mit gefuoge und mit kraft, mit liebe und mit slihte daz lant wol verrihte.119
Zwar hatten die Herren sich zunächst dafür entschieden, den Sohn des Markgrafen Heinrich von Meißen um die Übernahme der Landesherrschaft zu bitten,120 doch kann König Wenzel von Böhmen durch geschicktes Taktieren seinen Sohn Ottokar als Kandidaten ins Gespräch bringen,121 so dass die Landherren der Triebensee-Versammlung letztlich für den Böhmen als neuen Landesherrn eintreten.122 Auch wenn dieses Ereignis lediglich in der historisch nicht zuverlässigen Österreichischen Reimchronik überliefert ist, so wird der Autor der Chronik die Personen, die sich hier um die Sicherheit des Landes und die schnelle Einsetzung des neuen Landesherren Ottokar bemühen, plausibel kombiniert haben. Der Frauendienst-Autor hat also in seinem Artusturnier eine Gruppe von österreichischen Ministerialen abgebildet, die ein tiefes Interesse am Wohlergehen des Landes zeigen und für Ottokar als Herrscher eintreten – zumindest in der Zeit einer zwischen Böhmen und Ungarn geteilten Steiermark, als der Frauendienst entsteht, ist das ein klares politisches Votum. Auch wenn man mit der Mehrheit der Forschung davon ausgehen kann, dass Venus- und Artusfahrt fiktive literarische Entwürfe sind und die Darstellung somit nicht historisch wahr ist, so ist sie doch historisch richtig. Sie ist insofern richtig, als der Autor souverän jedem Ort der Kostümfahrten die passenden Personen zuordnet. Sie ist richtig, weil er nicht willkürlich Namenslisten abschreibt, sondern die Region mit Bedacht und ausgezeichnetem Wissen über die Macht- und Besitzverhältnisse politisch kartographiert. Ulrich oder wenn man vorsichtiger formulieren will: der Autor des Frauendienst weiß genau, wen er wo antreffen 119 120
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Ottokars Österreichische Reimchronik (Anm. 1), V. 1382 ff. Ebd., V. 1396 ff., V. 1571 ff. Markgraf Heinrich war der Witwer der bereits 1243 verstorbenen Konstanze, der Schwester Herzog Friedrichs II. Für die Darstellung der Reimchronik gilt in diesem Punkt zu beachten, dass die Chronik eine eher kritische Position gegenüber Ottokar II. einnimmt und im Wissen um die weitere Entwicklung König Rudolf favorisiert, vgl. Liebertz-Grün (Anm. 26), S. 115 ff. Vgl. Ottokars Österreichische Reimchronik (Anm. 1), V. 1591 ff. (Wenzel empfiehlt seinen Sohn Ottokar als Landesfürsten), und V. 1686 ff. (die nach Österreich zurückgekehrten Landherren verkünden, dass Ottokar neuer Landesherrscher sei).
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kann, und bietet eine Art Ministerialen-Almanach für den Raum von Oberitalien bis nach Böhmen. Darin liegt der Wert des Frauendienst als historische Quelle: Es geht nicht darum, ob der historische Ulrich von Liechtenstein die geschilderten Kostümzüge tatsächlich unternommen hat, sondern dass der Frauendienst in prosopographischer Hinsicht Auskunft über die Beziehung der Ministerialen und Landherren gibt, dass er mit einer für eine literarische Quelle ungewöhnlichen Exaktheit und Genauigkeit festhält, wer in wessen Gefolge auftritt und wer welchem Wirkungsbereich zugeordnet wird. In den unsicheren Zeiten des Interregnums scheint der Frauendienst noch einmal einen Ordnungsentwurf zu bieten, in dem der Autor alle Personen, denen aus seiner Perspektive politische Macht zukommen sollte oder früher zukam, namentlich aufzählt und dabei zwar das Bewusstsein unterschiedlicher Länder aufrecht erhält, aber trotzdem einen geschlossenen Herrschaftsraum anvisiert, der sich aus Kärnten, Steiermark und Österreich zusammensetzt. Dieser Raum kommt in der Fiktion des Frauendienst in seiner höfischen Vorbildlichkeit und Ritterschaft übrigens ohne Herzog Friedrich besser aus als mit ihm, denn trotz der ausführlichen Klage über Friedrichs Tod (1659 ff.) darf man nicht vergessen, dass der Herzog für die Venusfahrt gar keine Rolle spielt und auf der Artusfahrt die höfische Freude eher zerstört als fördert.123 Er wird als strenger Herrscher gezeigt, dem sich seine Gefolgsleute zwar fügen, dies aber höchst widerwillig tun – ein Herrscherbild, das sich durchaus zu den Quellen über die historischen Beziehungen Friedrichs zu den steirischen Ministerialen fügt.124 Die Steiermark wird im Frauendienst als einheitliches Territorium adressiert, was in Zeiten der geteilten Steiermark nach 1254 durchaus nicht selbstverständlich ist. Sie wird als ein Gebiet definiert, das eine ganze Reihe qualifizierter Ministerialer und Herren mit beachtlichen Gefolgschaftsgrößen besitzt, die keineswegs den Eindruck machen, als könnten sie sich nicht auch selbst regieren – Überlegungen, die auf eine selbstverantwortliche herrenständische Regierung zielen, wie sie in der Pax Austriaca von 1254 für Österreich durchaus auch historischen Niederschlag erfuhr.
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Zu Herzog Friedrichs wankelmütigem Kurs zwischen der anfänglichen Akzeptanz des Spielangebots und der darauf folgenden harschen Ablehnung und der Zerstörung des Turniers vgl. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 244 ff. Vgl. die Darstellung in Unterkapitel 3.2.
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Wer im prosopographischen Bereich des Frauendienst ausgespart bleibt, ist angesichts der realpolitischen Beziehungen Ulrichs von Liechtenstein erstaunlich, nämlich das Erzbistum Salzburg. Abgesehen vom Friesacher Turnier, bei dem der Salzburger Erzbischof eine eher negative Rolle spielt und sich über die hohen Kosten für den durch das Turnier verzögerten Aufenthalt beschwert (239), treten weder der Bischof selbst noch wichtige Salzburger Ministerialen wie die Eichhamer, Surberger, Kalhamer, Kröpfel-Traunsdorfer, die Herren von Wald oder die mit den Liechtensteinern durch Heirat verbundenen Goldegger in Ulrichs Inszenierung auf.125 Auch die kärntnerischen Grafenfamilien der Ortenburger und Heunburger, die salzburgische Lehen innehatten und enge Beziehungen zum Erzstift unterhielten,126 nehmen lediglich am Friesacher Turnier, nicht aber an den Kostümfahrten teil. Zwar mag man angesichts des geographischen Verlaufs der Kostümfahrten einsehen, dass die Ritter der Salzburger Kernlande unerwähnt bleiben, doch wäre ein Auftreten der Salzburger Ministerialen aus den erzbischöflichen Außenbesitzungen in Kärnten und Steiermark nahe liegend gewesen. Besonders deutlich wird das Fehlen der Salzburger Ministerialität, als Ulrich-Venus durch Friesach und somit durch das Gebiet des Salzburgers reitet. Weder die mächtigen Burggrafen von Friesach noch die umliegenden Familien Forchtenstein, Deinsberg, Voitsch und Wieting, die allesamt im Dienst der Salzburger standen, treten an dieser Station zu einer Tjost mit Ulrich-Venus an.127 Von den 10–15 bedeutenden Salzburger Ministerialenfamilien, die in Kärnten und der Steiermark ansässig waren, nennt Ulrich auf den Kostümfahrten niemanden. Lediglich die Edelfreien von Pux, die an der Venusfahrt teilnehmen, mag man aufgrund ihrer Besitzungen noch mit Salzburg in Verbindung bringen.128 Die steirischen Stubenbergern und Pfannbergern, die Philipp ebenso wie Ulrich neu verpflichtet hat, nehmen im Frauendienst zwar Handlungsrollen ein, doch wird Ulrich sie ebenso wie sich selbst primär als steiermärkische Herren und nicht als Salzburger Dienstleute wahrgenommen haben. Vielleicht spricht dieser Befund für die These von Dopsch, Ulrich habe die Verbindung, die er 1250 mit dem Elekten Philipp von Salzburg ein125 126 127
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Zur Salzburger Ministerialität vgl. Dopsch (Anm. 83), S. 370 ff. Vgl. Dopsch (Anm. 83), S. 365 f. Die Salzburger Ministerialen in den auswärtigen Besitzungen beschreibt Dopsch (Anm. 83), S. 398 f. Die Ministerialenfamilien Trixen und Königsberg, die zu Salzburg gehörten, werden lediglich für das Friesacher Turnier erwähnt, vgl. Str. 194 f.
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geht, nicht als ganz glücklich empfunden,129 denn sonst hätte er den neuen Lehnsherrn und sein Gefolge wohl wesentlich stärker in seiner Inszenierung berücksichtigt. Ein eindeutiges Votum, was Ulrich mit der Gruppierung im Frauendienst zeigen will, ist schwierig, denn der literarische Entwurf bleibt vielleicht bewusst uneindeutig und im Modus des Spiels. Der von Reichert formulierte Vorschlag, Ulrich wolle sich auf der Artusfahrt gegenüber Herzog Friedrich und den Einflussreichen des Landes als geeigneter dapifer der Steiermark präsentieren,130 spiegelt nicht den politischen Stand zur Entstehungszeit des Werks und kann die durchaus widersprüchliche Darstellung Friedrichs im Frauendienst nicht integrieren. Der Uneindeutigkeit der politischen Aussage trägt Jan-Dirk Müller Rechnung, indem er die Fahrten ganz allgemein als Herrschaftsentwürfe deutet und den fiktiven Text nur locker mit der Zeitpolitik verknüpft.131 Der Entwurf legt sich nicht fest und ist mehrsinnig politisch ausdeutbar: Zielt Ulrichs Darstellung darauf, dass Österreich und Steiermark zusammengehören und somit in den Interregnumswirren dem Böhmen Ottokar, der beide Länder unter einer Hand vereinen würde, der Vorzug gehört? Oder will er sentimentalisch nur noch einmal daran erinnern, wie schön die Zeit vor dem Interregnum war? Geht man von der wahrscheinlichen Konstruktion aus, dass die im Frauendienst genannten Personen zugleich auch Ulrichs Publikum bilden, will er vielleicht auch verdeutlichen, dass sich trotz aller Interregnums-Wirren auf der Ebene der österreichischen und steirischen Landherren in den Jahren seit dem Tod des babenbergischen Herzogs nicht so viel verändert hat, dass auf dieser mittleren Machtebene vielmehr eine Kontinuität herrscht, die im harmonischen Verbund das Aufgebot eines manchen selbsternannten Landesherrn leicht in den Schatten stellen kann.
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Vgl. Dopsch, „Zwischen Dichtung und Politik“, S. 81 f. Vgl. Reichert, „Exzentrizität als Zentralgedanke“, S. 38 ff. Ulrich ist ab 1244 im Truchsessenamt bezeugt, die Artusfahrt wird von Reichert – wohl als reales Ereignis – auf 1241 datiert. Vgl. Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 61 ff., 72 f.
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5. Name und Evidenz. Zur literarischen Funktion des historischen Settings Trotz all der historischen Bezüge bleibt der Frauendienst in erster Linie ein literarisches Werk, und so gilt es, die Nennung der Personen nicht nur als politisches Konstrukt, sondern auch als ein poetologisches Verfahren, als ein Darstellungsmittel mit einer spezifisch literarischen Funktion zu untersuchen.132 Ein Effekt, den die zahlreichen Personennamen auf das Publikum haben, ist nahe liegend und von der Forschung als ein tua res agitur beschrieben worden:133 Der Rezipient fühlt sich persönlich angesprochen, wenn in der Fiktion von ihm selbst oder seinen Freunden und Bekannten die Rede ist, die Namenslisten werden als direkte Publikumsansprache zum effektiven Mittel der Aufmerksamkeitssteigerung. Doch was sich zunächst wie eine simple Marketingstrategie für ein stellenweise nicht sonderlich gut erzähltes Stück steiermärkische Literatur gibt, bekommt noch eine andere Funktion, wenn man sich der Frage einmal aus einer eher produktions- als rezeptionsästhetischen Perspektive nähert:134 Bei der Lektüre der narrativen Passagen ist schwerlich zu übersehen, dass der Autor nicht gerade ein Meister der descriptio ist. Mögen die Beschreibungen von bewegter Handlung wie Tjost und Turnier oder das Entwerfen von Dialogpartien wie etwa beim Stelldichein mit der Dame135 noch recht gut gelingen, so wirken vor allem die Perso132
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Zur Übernahme von Elementen aus der Realität in den fiktiven Text vgl. den Beitrag von Mark Chinca in diesem Band. Vgl. Glier, „Diener zweier Herrinnen“, S. 300f., sowie Thomas in der Einleitung zu seiner Frauendienst-Edition, der S. 23 vom „intimate charm of a home-movie“ spricht. Zur rezeptionsästhetischen Perspektive vgl. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 371 ff. Die Stelldichein-Szenerie wäre gut geeignet, um ein gesteigertes Wahrnehmen des erzählenden Ich zu evozieren. Doch anstatt eine ausführliche Schönheitsbeschreibung der Dame zu liefern, konzentriert sich der Erzähler auf den Dialog zwischen Ulrich, Dame und Niftel. Jeder Argumentationsschritt wird akribisch und mit genauem Blick für Gesprächsverläufe festgehalten: 60 Strophen Dialog stehen knapp sieben deskriptive Strophen gegenüber, in denen allerdings nicht allein die Dame, sondern auch das gesamte räumliche Arrangement ihrer Kemenate beschrieben wird. Der Dialog liest sich wie das Protokoll eines lebhaften Gesprächs, verzichtet aber gänzlich auf kommentierende Einschübe, die etwa Gestik oder Mimik der Gesprächspartner erfassen würden. Ob die Dame bei Ulrichs Forderungen rot wird, ob sie verschämt zur Seite blickt, die Hände windet, Hilfe suchend zur Niftel blickt oder nur mit Mühe einen Wutausbruch unterdrücken kann, bleibt unerwähnt, stattdessen dominieren farblose inquit-Formeln wie si sprach.
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nenbeschreibungen im Frauendienst reichlich blass. Eine literarische Beschreibung entfaltet ihre Qualität, wenn sie nicht das Naheliegende, das ohnehin alle erwarten, wählt, sondern etwas besonders Eindrückliches, das sich beim Rezipienten als lebhafte und nachhaltige Vorstellung entfaltet. Im Idealfall erzielt die Beschreibung dabei Evidenz und schafft den Übergang vom Wort zum Bild. Anschaulichkeit, evidentia, erreicht man laut Quintilian, wenn man eine Sache sprachlich so gestaltet, dass man eher glaubt, sie direkt und leibhaftig zu sehen als ihre Beschreibung zu hören.136 Ausgehend von einer sprachlichen Nullstufe,137 die die einzelnen Fakten nennt, ist der Beschreibung in einer amplificatio rhetorischer Schmuck beizufügen, man denke an rhetorische Figuren wie den Vergleich, das schmückende Beiwort, die Emphase, die Hyperbel, die Metapher, die Metonymie usw.138 Doch der Autor Ulrich zeigt sich beim rhetorischen ornatus nicht besonders phantasievoll: So werden in der Beschreibung des Venuszugs die Teilnehmer nacheinander abgearbeitet, ganz am Ende reitet schließlich Ulrich-Venus: Sein Kampfhelm, der ihm vorangetragen wird, ist lieht [ ] (484,6), seine Krone kosterîch (484,8), die Knappen zühte vol (485,8), die jungen Zofen wolgetan (486,1). Sämtliche Adjektive in dieser Beschreibung folgen einer konventionellen Assoziation. Besonders deutlich wird die mangelnde Phantasie bei der Adjektivverwendung in der Schilderung des Grafen Meinhart von Görz, der einer der wenigen Fahrtteilnehmern ist, die überhaupt eine ausführlichere Beschreibung erhalten: Meinharts Bewaffnung ist kosterîch (504,6), auch sein Helm ist wie der von Ulrich-Venus lieht (505,1). Nach der Beschreibung des Löwenwappens (507) geht der Blick des Erzählers auf Meinharts grünen Waffenrock: Er ist grüen alsam ein gras (508,2), fünf Verse später wird der Vergleich für die ebenfalls grünen Lanzen recht bemüht zu grüen alsam ein cle (508,7) variiert. Die übrigen Teile seiner Rüstung sind glänzend (lieht [ ], 509,2) oder guot (509,3), 136
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Quintilian. [Institutio oratoria]. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hrsg. und übers. von Helmut Rahn. 2 Bde. 3., gegenüber der 2. unveränderte Auflage. Darmstadt 1999, IX,2,40 ff. Zur Theorie des degré zéro vgl. Jacques Dubois. Allgemeine Rhetorik. Übers. und hrsg. von Armin Schütz. München 1974 (UTB 128. Pragmatische Texttheorie 2), S. 111, sowie Heinrich F. Plett. Einführung in die rhetorische Textanalyse. 8. Auflage. Hamburg 1991, S. V. Die Liste der rhetorischen Figuren, die man zwecks größerer Evidenz des Dargestellten bemühen kann, ließe sich noch erweitern, vgl. Gert Ueding und Bernd Steinbrink. Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. 4., aktualisierte Auflage. Stuttgart, Weimar 2005, S. 284 ff.
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Meinhart selbst ist nicht nur der milte (510), sondern in Reimzwang auf guot auch in dreifacher Wiederholung der hôchgemuot (506,2; 509,6; 510,1). Man mag sich an dieser Stelle ernüchtert an andere Waffenbeschreibungen wie den Schild des Achill oder Tristans Bekleidung bei der Schwertleite erinnern. Fest steht, dass der Erzähler in der Beschreibung Meinharts zwar sorgfältig alle zur Bewaffnung gehörigen Elemente abarbeitet, sich dabei aber mit seinen Beschreibungsroutinen auf eingefahrenen Wegen hält und nur das schildert, was man ohnehin erwartet. Die Beschreibung erreicht keine deskriptive Virtuosität, die den kampfbereiten Ritter eindrücklich vor Augen stellt, und so bleibt trotz der vergleichsweise langen Sequenz kaum etwas Spezifisches der Person im Gedächtnis. Meist sind die Beschreibungen der Tjostpartner sogar noch wesentlich knapper gehalten: Von Spengenberc her Otte er hiez. der h ô ch g e mu o t daz niht enliez, er zoget nâch mir gezimirt wol, reht als ein vrowenritter sol. sîn zimir gap vil l i e h t e n schîn: ein rîsen umbe den helm sîn er dâ fuorte, diu was g u o t . sus zoget nâch mir der h ô ch g e mu o t . (559, Hervorhebungen von S.L.)
Auch hier konzentriert sich die Beschreibung auf die ritterliche Ausstattung, wieder begegnet das Adjektiv lieht in Bezug auf die Rüstung, und selbst die Tatsache, dass Otto einen Schleier um seinen Helm gebunden hat, fügt sich laut Erzähler in den Rahmen dessen, was man als Minneritter gewöhnlich tut, reht als ein vrowenritter sol. Da Otto sich ganz der Norm des Frauendieners fügt, gibt es dieser Charakterisierung aus Sicht des Erzählers nichts hinzuzufügen – er eröffnet keine Spekulation, ob der Schleier am Helm ein Minnekleinod ist, ob Ottos Dame bei der Tjost zuschaut, ob sie ihn für seinen Dienst belohnen wird usw. Die Vorliebe für das blasse Adjektiv guot, das so treffend auf hochgemuot reimt, ist im Frauendienst allenthalben zu beobachten, sie kulminiert ausgerechnet in der Beschreibung der eigentlich so spektakulären Venusverkleidung: Der Schleier der Venus ist guot (530,1), der Hut aus Pfauenfedern ist guot (530,8), und für die Handschuhe heißt es wiederum: die muosten ouch guot sîn (531,2). Jeder nach einer konventionellen Ästhetik verfahrende literarische Text ist darauf angewiesen, in seinem Erzählen eine gewisse Fülle, eine Lebhaftigkeit des Vorstellungseindrucks zu bewirken, und dies erreicht man üblicherweise mit rhetorischen Mitteln, durch den Einsatz von ausschmückenden Tropen und Figuren. Im Frauendienst ergibt sich diese Fülle des
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Vorstellungsbildes auf andere Weise, denn der Autor nutzt nicht die elaborierte descriptio, sondern schafft Anschaulichkeit über die Masse der Personennamen. Die Anschaulichkeit wird nicht mittels einer Beschreibung sprachlich realisiert, sondern über die Referenzfunktion des Namens als bestehendes Vorstellungsbild im Gedächtnis des Rezipienten aufgerufen. So produziert die Nennung von Personen, die dem Publikum in der Realität bekannt sind, automatisch ein vollständiges Vorstellungsbild, das sich durch seine Konkretheit und Einzigartigkeit auszeichnet. Während das Wort ‚Baum‘ ganz unterschiedliche Vorstellungsbilder erzeugen kann, ist die Imagination, die beim zeitgenössischen Publikum etwa durch den Namen ‚Wülfing von Stubenberg‘ evoziert wird, wesentlich stärker festgelegt und mit vielen Einzelinformationen angefüllt. Zugleich ist das mit dem Namen aufgerufene Vorstellungsbild vollständiger als die literarische Beschreibung: Die Latenz, die einer sprachlichen Beschreibung notwendig innewohnt, indem sie immer nur eine Auswahl möglicher Wahrnehmungselemente benennen kann, wird mit dem Abrufen bestehender Vorstellungsbilder aus der realen Lebenswelt umgangen. Mehr als den Namen braucht Ulrich nicht zu nennen, damit dem Rezipienten die betreffende Person leibhaftig vor Augen steht – ein Verfahren, das Anschaulichkeit herstellt, ohne auf die üblichen Mittel der descriptio zurückgreifen zu müssen. Dass der moderne Leser über so manche Namensliste gelangweilt hinwegliest, verdeckt den literarischen Effekt, den das Verfahren im Blick auf die Zeitgenossen verfolgt. Für Ulrich und seine Rezipienten ist jeder Name eine Referenz auf eine bekannte Person, die ein Bild aufruft, das sich entweder stimmig zu dem fügt, was erzählt wird, oder auch nicht. Auf diese Weise kann der Autor seine Figuren bewusst unanschaulich beschreiben und trotzdem das evidentia-Gebot der Rhetorik erfüllen, indem er die historischen Personennamen für eine Poetik der Evidenz in Dienst nimmt. Die Fülle der Namen im Frauendienst lässt sich somit in historischer Perspektive als gelungene Momentaufnahme österreichisch-steirischer Politik, in narratologischer Perspektive als alternative Technik zur Herstellung von literarischer Evidenz auffassen. Die historischen Personennamen rufen automatisch die Frage nach Wahrheit oder Lüge, nach bewusster und kenntlich gemachter Fiktion oder ernst gemeintem historischen Wahrheits- und Verbindlichkeitsanspruch auf den Plan.139 Wie sich die exzessive Nennung der Personenna139
Klaus Grubmüller, „Minne und Geschichtserfahrung“, S. 46, hat Ulrichs Verfahren, mit den Personen Faktenwahrheit in den Roman zu montieren, als eine Art Wahrheitsanspruch verstanden.
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men auf die Fiktionalitätskonstruktion des Werkes auswirkt, zeigt Mark Chinca in diesem Band. In Auseinandersetzung mit der Frage, welchen Status man den in einem fiktionalen Entwurf vorkommenden Fakten zusprechen soll, hat sich die literaturwissenschaftliche Forschung mittlerweile darauf verständigt, Fiktion und Realität als ineinander verschränkte Größen zu sehen.140 Während das Vorkommen der in der Fiktionalitätsdiskussion vielzitierten Stadt London141 in einem fiktiven Roman schlicht dazu führt, dass das Faktum fiktionalisiert wird,142 hängt dies bei der Erwähnung real existierender Personen zentral davon ab, wie sehr die betreffende Person mit der alltäglichen Lebenswelt des Rezipienten verknüpft ist. Im Frauendienst scheint das Besondere weniger in der grundsätzlichen Tatsache der Realitätseinsprengsel zu liegen, sondern vielmehr in ihrer Nähe zum Publikum und in der schieren Menge der realen Bezugspunkte. Doch auch wenn der Frauendienst von realhistorischen Bezügen sowohl auf Orte als auch auf Personen nur so wimmelt, ist die Minnesängerautobiographie als Ganzes dennoch ein fiktives Konstrukt, denn die so realitätsnah im steiermärkischen Raum positionierte Minnedienergeschichte ist ja letztlich ein Ausagieren von Minnesangtopoi.143 Für den Minnedienst, der auffälligerweise ohne die Strategie der Personennamenevidenz auskommt und mit Dame und Niftel ganz unspezifische Benennungen verwendet, scheint es fast so, als solle er durch die 140
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Die ältere literaturwissenschaftliche Forschung ging noch von einem starken Gegensatz zwischen Fiktion und Realität aus, vgl. etwa Hans Vaihinger. Die Philosophie des Als ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche. Neudruck der 9./10. Auflage. Leipzig 1927. Aalen 1968, passim und S. 154. Eine kritische Einschätzung von Vaihingers Position bietet Wolfgang Iser. „Die Doppelungsstruktur des literarisch Fiktiven.“ In: Funktionen des Fiktiven. Hrsg. von Dieter Henrich und Wolfgang Iser. München 1983 (Poetik und Hermeneutik 10), S. 497–510. Die Forschungsdiskussion zur Fiktionalität wird dargestellt bei Andreas Kablitz. „Kunst des Möglichen. Prolegomena zu einer Theorie der Fiktion.“ Poetica 35, 2003, S. 251–273, vor allem S. 257 ff. Vgl. Gregory Currie. The Nature of Fiction. Cambridge 1990, S. 5 f., und den Beitrag von Mark Chinca in diesem Band, S. 319 f. Walter Haug. „Geschichte, Fiktion und Wahrheit. Zu den literarischen Spielformen zwischen Faktizität und Phantasie.“ In: Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter. Hrsg. von Fritz Peter Knapp und Manuela Niesner. Berlin 2002 (Schriften zur Literaturwissenschaft), S. 115–131, hier S. 121, vertritt für die Montage der Fakten in die Fiktion die These, dass sich die fiktive Ebene gegenüber den Fakten immer durchsetzt. Vgl. Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein, S. 165.
92
Sandra Linden
Kombination mit den zahlreichen Zeitzeugen von einem fiktiven Status in einen historischen überführt werden, als wolle das als Autobiograph auftretende Ich diejenigen, die es zu Mitspielern auf seinen Fahrten erklärt, zugleich als Zeugenliste für die Wahrhaftigkeit seines Minnedienstes präsentieren. Der Autor Ulrich bevölkert seine fiktive Bühne mit einer ganzen Masse von historischem Personal aus dem Donauraum des 13. Jahrhunderts, die Fiktion wird direkt an die Wirklichkeit herangebaut und schließt nahtlos an die Erfahrungswelt des Rezipienten an. Dies funktioniert, indem die Erzählung über die Personennamen ständig Vorstellungsbilder aus der Realität abruft, immer wieder Verbindungslinien zwischen Realem und Fiktivem zieht. Der Rezipient muss sich beim Lesen oder Hören des Frauendienst trotz der fiktionalen Struktur nicht in eine ganz andere Welt begeben, die eigenen Regeln folgt, sondern die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit geraten im Frauendienst auf radikale Weise ins Schwimmen. Die Fiktion positioniert sich nicht als eine alternative Wirklichkeit, als eine exklusiv in der Literatur zugängliche Zweitwelt, sondern integriert sich in die vorhandene Lebenswelt und besitzt trotzdem – das ist der eigentliche Clou – die für die Fiktion typischen Regelfreiheiten. Nur so kann etwa Herzog Friedrich sich als Dienstmann von Ulrich-Artus bewerben, nur so kann die Figur Ulrich mit einem riesigen Gefolge von Venusrittern ganz unbekümmert durch ein politisch höchst brisantes Terrain ziehen. Die realitätsnahe Fiktion des Frauendienst verlangt von ihrem Rezipienten nicht, dass er sich gedanklich in eine ferne Phantasiewelt versetzt, sie kommt, bildlich gesprochen, zu ihm nach Hause, dringt in seine vertraute Lebenswelt ein und kann nun auch dort die Freiräume erschaffen, die fiktive Literatur so reizvoll machen.
93
Biographisches und Historisches
Tabelle der historischen Personennamen und der Urkundenbelege Die Tabelle listet die 172 im Frauendienst erwähnten historischen Personen auf und ordnet ihnen Urkunden, in denen sie gemeinsam mit Ulrich belegt sind, sowie die Frauendienst-Strophen ihrer Erwähnung zu. Urkundennummern in Klammern verweisen darauf, dass zwar nicht die Person selbst, aber ein Verwandter mit Ulrich geurkundet hat. Kursive Zahlen markieren die Urkunden, die nach 1255 ausgestellt worden sind. Name
Urkundennr. (Schönbach)
Anschau, Rüdiger von Aquileia, Patriarch von Arnstein, Alber von Auersberg, der von Bamberg, Bischof von Berg, Jakob von Bisamberg, Boppo von Böhmen, König von Bozen, Udalschalk von Breuzel, Bernhard / Wernhart von Breuzel, Heinrich von Brixen, Bischof Heinrich von Buchau, Otto von Buchbach, der von Busek, Heinrich von Dobra, Dietrich von (Ebersdorf), Ebrân von Eichelberg, Reinher von Emmerberg, Berthold von Eppenstein, Leutfried von Falkenberg, Rapot von Falkenstein, Zawisch von Feldsberg, Kadolt von Finkenstein, Kol von Frauenstein, Gundacker von Frauenstein, Swiker von Freiberg, Kuno von Freising, der von
Ekbert: 1, 5; Heinrich: 34a, 34b; Berthold: 62 Ottokar: 35, 41, 46, 47, 48, 62a, 66, 70, 71, 76 45, 59 (45), (59) (76a)
66 63 19a 3 (5), (46), 75, 76, 76a, 81 (1) (55), (62), (66), (71) 19a, (36a), (52b), (63)
Bischof Konrad: 5, 10, 75; B. Praepositus: 16; Ulrich: 41
Frauendienst-Strophe 197, 900 f. 238 1439 f., 1442 ff., 1546 f., 1549 191 238 627 899 1606 342 f. 1470 ff., 1577, 1587, 1592, 1594 1470 ff., 1577, 1587, 1592, 1594 239 685 ff., 691, 693 ff. 701 1446 1483 1481 301, 625 f. 721 ff. 503, 520 f., 1416 ff. 1491 ff., 1584, 1587 1484 906 ff., 929 ff., 976 f. 596 628 607 627 239
94 Name Freistadt, der Pfaffe von Friedberg, Kuno von Frohnhofen, Kol von Gars, Wolfger von
Sandra Linden Urkundennr. (Schönbach) (67)
Görz, Meinhard von
(15) 22a, 23, 24, 34b, 62, 76, 76a
Grafenstein, Heinrich von Graz, Ortolf von
2 (7), (17), (34), (40), (54), (77), (83) 7, (17), 34, (40), (54), (77), (83)
Graz, Otto von Greifenfels, Heinrich von Gurnitz, Wülfing von Hackenberg, Heinrich von Hafnerburg, Arnold von Hafnerburg, Gottfried von Hainburg, Druslieb von Hainburg, Leopold von Hasendorf, Ulrich von Haslau, Otto von Haßbach, Heinrich von Haßbach, Ulrich von Heunburg, Graf von
Himmelberg, Zachäus von Hosendorf, Wülfing von Hüttendorf, Ulrich von Istrien, Markgraf Heinrich von Kaja, Heinrich von Kapfenberg, Ortolf von Kappling, Pilgrim von Karlsberg, Weichart von Kärnten, Herzog Bernhard von
9 (2), (34c) (2), (34c)
9, 45, 48, 59, 60, 66, 71, 72, 73, 74a, 75, 76, 76a, 78, 81 9, 16, 17, 35, (60) (9), (16), (17), (35), 60 Eckfried: 10a; Wilhelm: 1, 9, 12, 12a; Ulrich: 55a, 65a, 68, 73, 74, 75, 76a, 78, 81, 189, 251, 274
1 20 (66) 20 1, 5, 15, 34b, (36a), (38), (47), (48), (52b), (55a), (63), (63a), (64), (65), (65a)
Frauendienst-Strophe 1484 302, 627 968, 1495, 1584, 1587 197, 227, 249, 292, 751 f., 758, 764 ff. 797, 848, 856 f., 913 f., 1067, 1071 188, 251, 278, 280, 283 ff., 337, 492 ff., 497 f., 503 ff., 517 ff., 532, 552 f., 555, 1729 f. 629 195, 293, 712 f. 195 628 629 198, 888 616 615 f. 1484 1484 437 1489 f., 1582, 1589 1467 ff., 1511, 1572, 1581, 1589 1467
616 ff., 630, 636 ff. 725, 795 f. 1481 177, 179, 187, 229 f., 250, 278, 280, 312 198, 298, 887, 1072 1434 f. 1590 f. 634 177, 179, 188, 237, 242 f., 275 f., 312, 589
95
Biographisches und Historisches Name
Urkundennr. (Schönbach)
Katsch, Pilgrim von Katsch, Weinolt von Königsberg, der von Königsbrunn, Engelschalk von Kranichberg, Hermann von Krottendorf, Hermann von Kuenring, Hadmar von
Otto: 1, 2, 3, 9, 16 21, 31, 35, 37, 42, (72) (4), 57, (77), (83) (66)
Kuenring, Heinrich von
66
Landsee, Erchenger von
5, 15, 24, 48, 59, 60
Lachsendorf, Stier von Lebenau, Graf von Lebenberg, Nicola von Lebmach, Konrad von Lengbach, Otto von
Bernhard: 1 50, 55a (45), (76)
Lengenburg, Leopold von Liechtenstein, Dietmar von
(83) 1, 3, 4, 5, 6, 9, 10, 15, 18, 23, 49, 52b, 53, 57, 60, 61
Liechtenstein, Heinrich von
9, 41, 42, 42a, 45, 47, 48, 49, 59 (55a)
Lienz, Heinrich von Lindeniz, Ither von Maissau, Otto von Mathie (von Glemona?) Metters, Reimbot von Mödling, Leopold von Mödling, Siegfried von Murberg, Ulrich von Mur(dorf), Dietmar von Mureck, Reinbrecht von Neideck, Konrad von Newalin, Reimbot von Nußberg, Albrecht von
45, 47
4, 5 (2), (4) 1, 2 (2), (65)
Frauendienst-Strophe 1696, 1699, 1701, 1703, 1706, 1708, 1710 f., 1714, 1718, 1724 1698 f., 1703, 1710 194, 217, 291 880 f., 883, 893, 1073 194, 249, 270 1427 197, 223 ff., 249, 260 ff., 268, 822, 874 ff., 881, 892 f., 896, 1007 f., 1056 ff., 1064 ff. 1007 f., 1056, 1060 f., 1066 1436 ff., 1520 f., 1529, 1543 ff., 1558 f. 1482 189, 252, 271 1454, 1543 ff., 1551, 1603 626 191, 248, 271, 273, 753 ff., 800, 808 ff., 869, 959 ff., 974, 978, 982, 987 ff., 1028 ff., 1071, 1095 227 f. 181 ff., 221, 289 f., 912 ff., 1071, 1520 f., 1524 ff., 1543 ff., 1558 f. 1474 ff., 1582, 1589 286, 586 f. 1546 f., 1552 299, 1478 f., 1521 ff., 1527, 1584, 1586 563 ff., 568 ff. 1552 1483 1483 294 1427 193, 249, 268, 545 ff., 647 f. 1591 196
96 Name Nußberg, Rüdelin von Ort, Hartnid von Ortenburg, Hermann von
Österreich, Herzog Leopold VI. von Österreich, Herzog Friedrich II. von Österreich / Mödling, Markgraf Heinrich von Osterwitz, Hermann von Osterwitz, Ortolf von Ottenstein, Otto von Passau, Bischof Rüdiger von Peggau, Leuthold von Pfannberg, Ulrich von
Pitten, Heinrich von Pitten, Offo von Plintenbach, Hermann von Posche, Eckehart Potschach, Potschmann von Pottenstein, Dietmar von Priks, Cristân von Pürstendorf, Ruprecht von Pux, Dietrich von Pux, Otto von Ras, Rudolf von Rebstock, Berthold Rebstock, Siegfried Reichenfels, Sibot von Ringenberg, der von Sachsendorf, Ulrich von Salzburg, Bischof Eberhard II. von Sanegg, Konrad von Saurau, Konrad von
Sandra Linden Urkundennr. (Schönbach) 7, 8, 22a, 41, 45, 47, 62a 1, 4, (9), 10a, 12, 12a, 23, (34a), 36a, (52b), (63), (65a), (75), (76), (76a), (78), (81) 1 9, 10, 11, 15, 17, 18
(20), (34c) 20, 34c 5, 9, 10, 12, 12a, 17 (10a) 9, (23), (30), (36a), (45), (51), (53), (56), (57), (58), (60), (66), (68), (75), (76), (76a), (77), (78), (79), (81), (83) 10, 35 (40) (31)
3, 7, 23, 40, 44 3, 10a, 83? 1, 34c, 52b
1, 2, 3, 5, 6, 9, 12a, 15, 16, 17 1 40, 46, 49, 55a, 57, 70, 72, 74a, 82
Frauendienst-Strophe 628 192, 253, 269, 189, 253, 274
40 ff., 178 f., 187, 237, 240 f., 246, 278 f., 283 f., 312 1456 ff., 1480, 1484, 1488, 1495, 1567 f., 1570 f., 1573 ff., 1592 f., 1595, 1601 ff., 1659 ff. 29 300, 594 f. 633 198, 887, 1072 239 191, 217 190
194, 714 194, 714 549 f. 1483 1485 191 1414 f. 927 ff. 649 303, 649 301, 625 f. 924 f., 1073 1485 700 f. 704 1482 239 191, 217 1410 ff.
97
Biographisches und Historisches Name Sachsen, Markgraf Albrecht von Saxen, Leidegast von Saxen, Siegfried von Schaumberg, (2?) Brüder von Scheifling, Ilsung von Schlüsselberg, der von Schmida, Dietrich von Schönberg, Hadmar von Schönkirchen, Dietmar von Schönkirchen, Otto von Schwarzensee, der von Span, der Spengenberg, Otto von Spiegelberg, Heinrich von Spitz, Weichart von Stainz, Ulrich von Starkenberg, Gundacker von Steyr, Dietmar von Steyr, Gundacker von Straßburg, Engelbrecht von Straßburg, Engelram von Streitwiesen, Konrad von Strettweg, Konrad von
Stubenberg, Wülfing von
Tainach, Konrad von Tann, Eckehart von Taufers, Hugo von Tirol, Graf Albert von Tobel, Leuthold von Toblich, Prunrich von Torseul, Siegfried von Torseul, Ulrich von Totzenbach, Gottfried von
Urkundennr. (Schönbach)
Frauendienst-Strophe 40 1486 635 190
(44)
2? (Heinrich von Spiegel)
(36), (72) 36, (72) 2 4, (14), 18, (19a), (23), (25), (26), (28), (29), (35), 44, 46, 49, 53, (57), 61, (67), (70), (72), (74a), (77), (83) 12, 12a, 15, 20, 21, 24, 35, 36, 39, 41, 42, 45, 46, 47, 48, 49, 53, 54, 55, 57, 59, 60, 61, 62, 64, 65, 65a, 66, 68, 70, 72, 74a, 75, 77, 81, 82, 83 2, 12, 12a, 36a 34b
653 ff. 190, 288 1554 198 1485 197, 954 f. 1481 1484 558 ff. 1430 ff., 1446, 1520 f., 1528 ff., 1543 ff., 1550 1482 198, 217, 887, 1072 196 196, 666 196, 857 f., 860, 634 f. 634 864 ff. 1408 f.
193, 253, 260, 264, 268, 671 ff., 680 ff.
627 196 190, 222 f., 247, 270 188, 247, 275 f., 298 1485 1482 667 705 272, 753 ff., 761, 763, 886
98 Name Totzenbach, Siegfried von Träge, Ottacker von Treffen, Bernhard von Treffen, Kol von Treffen, Ulrich von Treviso, Potestat von Tribuswinkel, Heinrich von Trixen, Heinrich von Trixen, Kol von Tröstel, Meinhard Tulbing, Erec von Vigaun, Heinrich von Vohburg, Diepold von Wasen, Otto von Wasserburg, Heinrich von
Sandra Linden Urkundennr. (Schönbach) (3) (34c) (34c) 34c 2, 3, 5, 19a (2), (3), (5), (19a)
5 (27), (28), (29)
Weise, Kadolt Weise, Siegfried Wildon, Hertnid von
Witeginsdorf, Friedrich von Wolkenstein, Ottacker von
(2), (3), (4), (5), (9), (14), (15), (19a), (20), (21), (22a), (24), (36), (41), (42a), (44), (45), (47), (50), (52a), (52b), (54), (57), (58), (59), (60), (61), (63), (68), (72), (74a), (81), (82), (83) 5
Frauendienst-Strophe 272, 867 f. 698 f., 702 616 616 616 490 ff., 501 ff., 514, 543 287 195 195 1481 1546 ff. 273 188, 246, 278, 288 297 1033 ff., 1040 ff., 1054 f., 1072 1502, 1504, 1508 f., 1531 ff., 1496 ff. 919 ff. 192
1483 195, 295 f.
Österreichische Literatur um 1250
99
III. Österreichische Literatur um 1250 und Ulrichs Rezeption der Blütezeit von F RITZ P ETER K NAPP
1. Der Literaturraum Wenn irgendein mittelalterliches literarisches Werk ein legitimes Anrecht hat, nicht nur in einer deutschen Literaturgeschichte, sondern auch in einer räumlich begrenzteren, also regionalen Literaturgeschichte geradezu als Beweis von deren Existenzberechtigung zu figurieren, so das Œuvre Ulrichs von Liechtenstein.1 Dieser herausragende Vertreter der steiermärkischen Landherren, unmittelbarer Lehnsträger des Landesherrn von Österreich und Steier, steckt nämlich selbst seinen engeren und weiteren sozialen Identifikationsraum literarisch durch die Zeichnung des Itinerars seiner Turnierfahrten ab. Für das (errechenbare) Jahr 1225 gibt Ulrich an, er sei gein Kernden unde gên Kreinlant / und danne gegen Ysterrîch gezogen (337,4 f.), um an einer ritterschaft in Tryest teilzunehmen, die Graf Meinhard von Görz dort veranstaltet habe (337,6–8). Unmittelbar darauf habe er an einem turnei ze Brihsen (339,4) teilgenommen, sei in einer anschließenden Tjoste von Ulschalch von Bozen an der Hand verletzt, von einem Arzt in Bozen aber geheilt worden. Zwei Jahre später unternimmt Ulrich dann, wie er sagt, seine berühmte Venusfahrt. Sein Weg führt von Mestre bei Venedig durch Friaul, das Kanaltal, über Villach, St. Veit und Friesach ins Mur- und Mürztal, dann über den Semmering nach Wiener Neustadt, Wien, Klosterneuburg, Mistelbach, Feldsberg (d. i. Valtice) bis ans jenseitige Ufer der Thaya, die damals dort die Grenze zu Mähren bildete (Prosabrief B, S. 181 f.). Die im (errechenbaren) Jahr 1240 unternommene Fahrt als König Artus verläuft dann nur durch die Steiermark und Österreich. Damit ist gewiss der Kernbereich 1
Es kann schwerlich als Gegenbeweis gelten, dass die jüngste große Ulrich-Monographie (Linden, Kundschafter der Kommunikation) darauf verzichtet, auch nur einen Blick in die zehnseitige Darstellung von Ulrichs Werk in meiner Literaturgeschichte (Knapp, Geschichte der Literatur in Österreich 1, S. 482–492) zu riskieren.
100
Fritz Peter Knapp
bezeichnet, worin Ulrich und sein primäres adeliges Publikum beheimatet waren. Im Weiteren zielt Ulrich aber auch auf die engen Verbindungen des steirischen und österreichischen Adels mit dem von Tirol, Görz, Krain, Kärnten und dem Patriarchat Aquileja. Noch aussagekräftiger ist der negative Befund. Das sprachlich so nahe stehende Gebiet von Salzburg und Altbayern wird gänzlich ausgeschlossen. Während Geschichts- und Literaturwissenschaft immer wieder vergeblich um den Realitätsgehalt dieser Turnierfahrten ringen, ist der durch die Itinerare gezeichnete soziopolitische Sonderweg des deutschsprachigen Südostens im 13. Jahrhundert, soweit ich sehe, noch gar nicht wirklich ernst genommen worden. Tut man es jedoch, so wird die in diesem Kapitel gestellte Aufgabe, die ö s t e r r e i ch i s ch e Literatur um 1250 zu skizzieren, auch auf einmal viel leichter lösbar. Während Helmut Birkhan, als ihm dieselbe Aufgabe für den letzten Tagungsband über Ulrich von Liechtenstein von 1999 gestellt war, sich zum Bekenntnis genötigt sah, Österreich sei zu Ulrichs Zeit natürlich nur das Herzogtum Österreich, also das heutige Nieder- und Oberösterreich, gewesen, er müsse aber „doch, quasi wider besseres Wissen, den Raum des heutigen Österreich ohne Vorarlberg und Burgenland zugrundelegen“,2 können wir auf einen von Ulrich selbst imaginierten, also zumindest literarisch realen Raum verweisen, den wir bloß mit einem damals noch irrealen, erst etwa hundert Jahre später halbwegs gerechtfertigten Namen Ö s t e r r e i ch belegen. Wir beschränken uns auch nicht wie Birkhan auf die sogenannte höfische Literatur, da Ulrich selbst sich im Frauenbuch ausdrücklich und kritisch auf die von klerikalen Kreisen ausgehende innere Mission des Laienadels bezieht. Es gilt also, eine beträchtliche Menge von Texten, die Ulrichs literarisches Umfeld bestimmen, durchzumustern, lateinische und deutsche, geistliche und weltliche Texte, Lehrdichtung, Satire und Kleinepik, Sangspruchlyrik und Minnesang, Höfische Epik und Heldenepik. Diese Textmenge verbietet selbstverständlich ihre genauere Analyse3 und auch eine großzügige Auslegung des Rahmens der Literatur u m 1 2 5 0 . Insbesondere muss die frühe Wirkungsgeschichte von Ulrichs Werk völlig ausgeblendet werden.4 2 3
4
Birkhan, „Die literarische Situation in Österreich um 1250“, S. 160. Ich stütze mich in der Regel auf Knapp, Geschichte der Literatur in Österreich 1, und arbeite nur gelegentlich neuere Forschung ein. Am Ende meines Buches wird die wichtigste Sekundärliteratur bis 1991 registriert. Vgl. den Beitrag von Wolf im vorliegenden Band, S. 503–506.
Österreichische Literatur um 1250
101
2. Lateinische Literatur Ganz dem Blick des Germanisten entrückt pflegen lateinische Texte zu sein, auch wenn diese die räumliche und zeitliche Zuordnung mit bekannten deutschen Texten teilen. Dabei hat Ulrichs Totenklage um Herzog Friedrich II. (1667–1677) Parallelen nicht nur in der deutschen Spruchdichtung, sondern auch im Lateinischen.5 Ein aus Niedersachsen stammender Zisterzienser verfasste vielleicht für Heiligenkreuz ein Epitaphium ducis Friderici Austrie et Stirie in dreizehn kompliziert gereimten Hexametern, die mit ihren Anfangsbuchstaben den Namen des 1246 gefallenen Fürsten bilden und diesen mit den größten Helden der Antike und des Alten Testaments vergleichen. Ein weiteres vermutlich aus dem Herzogtum Österreich stammendes Klagegedicht auf den Tod Friedrichs reiht 23 durchgereimte lateinische Hexameter nach dem ABC aneinander und klagt darin die wankelmütige Fortuna an, die den übergroßen Einsatz des Herzogs für Vaterland und Frieden jäh beendet habe. Zu lateinischen Rhythmen greifen dagegen zwei vermutlich steirische Trauergedichte auf Friedrich II., das erste zu Vagantenstrophen, das zweite zu Hymnenstrophen aus vier Zehnsilbern. Die Exempelfiguren sind teilweise dieselben wie im genannten Epitaph. Die Art, wie Friedrich zu Fall gebracht wurde, wird, wie damals im Lande üblich, als unehrenhaft getadelt. Die Schilderung der schrecklichen Zustände in den beiden nun ihres Landesherrn beraubten Ländern Österreich und Steier im ersten Trauergedicht erinnert unmittelbar an Ulrich. Von Friedrichs – in Wahrheit wohl wenig spektakulären – Kämpfen mit den Mongolen ist in keiner der Totenklagen die Rede. Stattdessen besitzen wir die angsterfüllte Schilderung der Eroberung Ungarns und Polens durch die Mongolen im Jahre 1241 von einem Melker Benediktiner in 18 gereimten Hexametern. Die oben erwähnte Hymnenstrophe begegnet auch im berühmten lateinischen Klosterneuburger Osterspiel von etwa 1200. Eine Neufassung dieses Spiels dürfte im zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts am ehesten im tirolischen Augustiner-Chorherrenstift Neustift bei Brixen erfolgt sein.6 Sie ist als Nachtrag CB 15* der Carmina-Burana-Handschrift (unvollständig) aufgenommen worden und heißt daher Benediktbeurer Osterspiel. Es steht dort nicht allein. Die Kleine Benediktbeuer Passion, die Große Benediktbeurer Passion und das Benediktbeurer Emmausspiel wurden dort ebenfalls in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts als CB 13*, CB 16* 5 6
Zum Folgenden vgl. Knapp, Geschichte der Literatur in Österreich 1, S. 204 f. Zu den Benediktbeurer Spielen vgl. ebd., S. 425–442.
102
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und CB 26* eingetragen, während das Benediktbeurer Weihnachtsspiel schon dem Redaktor der Hauptsammlung der Carmina Burana von ca. 1230 zur Verfügung stand. Wenn diese Dramen auch nur teilweise aus Tirol stammen sollten, hätten wir hier, wenn nicht die wichtigste, so doch eine der wichtigsten Spiellandschaften der Zeit vor uns, die Ulrich, wenn er Tirol auch nur flüchtig kannte, nicht verborgen geblieben sein kann. Es wäre dann zu erwägen, ob sich der Angriff gegen das fromme, büßerische, geradezu nonnenhafte Gehabe vieler höfischer Damen in Ulrichs Frauenbuch auch gegen die Wirkung solcher Spiele wie der Großen Benediktbeurer Passion richten könnte, wo das ganze Minnewesen satirisch als Hurerei gebrandmarkt und die fromme Umkehr verherrlicht werden.
3. Deutsche geistliche und satirische Dichtung Als Werk eines adeligen Ritters, der im fortgeschrittenen Alter die Verfänglichkeit und Vergänglichkeit des Irdischen erkannt und sich daher zu einem Leben gemäß den Geboten des Evangeliums und der Kirche bekehrt hat, gibt sich das im Codex Vindobonensis 2696 überlieferte, vermutlich nach 1244 entstandene geistliche Gedicht Die Warnung.7 Es erklärt die Verherrlichung der Frauen und der blühenden Natur rundweg zum Götzendienst. Der Anblick der schönen und guten Welt sollte nur Anlass zum Lobe des Schöpfers, nicht zur Anbetung der Geschöpfe sein. Wer nicht Gott, sondern der Welt dient, verliert sein Heil. Ulrichs freizügige höfisch-ritterliche Sexualmoral wirkt da wie eine Gegenpropaganda. Bis zum Aufruf zur Weltflucht geht freilich auch der ritterliche Verfasser der Warnung nicht, sondern er propagiert die innerweltliche Askese. In der Ehe ist auch die Sexualität in Grenzen erlaubt. Aber dem Mann fällt hier zugleich die wichtige Aufgabe der Erziehung zu. Wenn diese jedoch bei einem gar zu bösen Weib fehlschlägt, so soll der Mann die Widerspenstigkeit des Weibes als Märtyrer ertragen und so das Heil der Seele erwerben. Was die fromme Lehrdichtung hier predigt, führt eine halb epische, halb klagende Reimpaarsatire etwa derselben Zeit aus Tirol szenisch vor.8 Die böse Frau (Von dem übelen wîbe) behauptet, die großen Märtyrer hätten weniger gelitten als ein Ehemann, der ein böses Weib hat, und exemplifiziert dies durch blutige Ehezweikämpfe eines 7 8
Dazu vgl. ebd., S. 239–241. Dazu vgl. ebd., S. 533–535.
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Bauern mit seiner überlegenen Ehefrau. Der namenlose Dichter plädiert heftig für die kirchlich verbotene Scheidung einer solchen qualvollen Ehe, fordert Mitleid für die Prügelknaben, provoziert aber letztlich durch die köstliche dörfliche Travestie heldenepischer Waffengänge nur Gelächter. Diese primär komische Absicht teilt das Gedicht mit der Rede vom Weinschwelg, die aus derselben Zeit, demselben Raum, vielleicht sogar vom selben Autor stammen dürfte.9 Auch hier wird, und zwar noch kunstreicher und witziger, eine ‚Verkehrte Welt‘ aufgebaut. Wie dort das angeblich natürliche Verhältnis der Geschlechter pervertiert erscheint, so hier die Rangordnung höfischer Werte: An die Stelle von Ehre und Minne tritt der Wein, dessen ununterbrochener und maßloser Genuss zur größten möglichen Heldentat hochstilisiert wird. Damit liegt nur eine satirisch travestierende Überhöhung eines damals gängigen Vorwurfs gegen den Verfall des höfischen Minnedienstes, insbesondere gegen die dafür als Ersatz gewählte Zecherei, vor, welche auch Ulrich von Liechtenstein im Frauenbuch, V. 491–513, beklagt.
4. Der Stricker und seine Schule Obwohl diese kleinen Meisterwerke burlesker Sprachkunst aus dem Tirolischen stammen dürften, sind sie thematisch gewiss von der lehrhaften Dichtung abhängig, welche in Niederösterreich in den Jahrzehnten davor der Stricker und seine ‚Schule‘ schufen.10 Der Stricker, der 9 10
Dazu vgl. ebd., S. 535–538. Zum Folgenden vgl. ebd., S. 327–347. Von den einschlägigen Arbeiten, die ich in meiner Literaturgeschichte nicht berücksichtigen konnte, nenne ich nur: Sabine Böhm. Der Stricker – ein Dichterprofil anhand seines Gesamtwerks. Frankfurt a. M. u. a. 1995; Regina Pingel. Ritterliche Werte zwischen Tradition und Transformation. Zur veränderten Konzeption von Artusheld und Artushof in Strickers ‚Daniel von dem blühenden Tal‘. Frankfurt a. M. u. a. 1994; Michael Egerding. „Probleme mit dem Normativen in Texten des Strickers.“ Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 50, 1988, S. 131–147; Franz-Josef Holznagel. „Autorschaft und Überlieferung am Beispiel der kleineren Reimpaartexte des Strickers.“ In: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Hrsg. von Elizabeth Andersen u. a. Tübingen 1998, S. 163–184; Dorothea Klein. „Strickers ‚Karl der Große‘ und die Rückkehr zur geistlichen Verbindlichkeit.“ Wolfram-Studien 15, 1998, S. 299–323; Daniel Rocher. „Der Stricker, ein QuasiHäretiker oder ein Verteidiger der Kirche.“ In: Ze hove und an der strâzen. Festschrift Volker Schupp zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Anna Keck u. a. Stuttgart, Leipzig 1999, S. 233–236; Daniel Rocher. „Hof und christliche Moral. Inhaltliche Konstanten im Œuvre des Strickers.“ In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof
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erste nachweisbare Berufsdichter außerhalb der Gilde der Sangspruchdichter, sich selbst vermutlich metaphorisch als Text-Erzeuger (textor, strickaere) bezeichnend, vielleicht ein Rheinfranke, halbwegs sicher nachweisbar aber nur in Niederösterreich, schuf etwa zwischen 1220 und 1250 einen höfischen-arthurischen und einen historisch-legendarischen Roman und kleinere Reimpaardichtungen. Der Artusroman Daniel von dem Blühenden Tal wirkt auf uns teilweise komisch, trägt aber deutliche lehrhafte Züge, was durchaus an Ulrich denken lässt. In der dem modernen Betrachter eher lachhaft erscheinenden Reihe von Befreiungs- und Rettungsabenteuern des jungen Helden Daniel verbirgt sich eine veritable politische Moral. Daniel als Musterbild des guten Lehnsträgers beseitigt für seinen Lehnsherrn Artus Gefahren und Hindernisse, erwirbt ihm Bundesgenossen und Hilfsmittel und stellt ihm beide wie seine eigene Kampfeskraft und Klugheit für Krieg und Frieden zur Verfügung. Der Lehnsherr ist auf diese Unterstützung dringend angewiesen, verdient sie aber auch in höchstem Maße, kämpft er selbst doch mit ganzem persönlichem Einsatz, heldenhaftem Kampfesmut und im Vertrauen auf die Treue seiner Vasallen für die gerechte Sache. Artus erweist sich als idealer, weil zugleich unbeugsamer wie friedenssichernder und integrierender Herrscher. Hier wird also die harmonische Gemeinschaft der Herrschaftsträger zum Wohle und Frieden aller genauso propagiert wie im gesamten Œuvre des Strickers. Zielt nicht der Liechtensteiner mit seinen ständigen kampfspielerischen Interaktionen auf dasselbe? Aber das Turnier fehlt dem Daniel gleichermaßen wie der positiv bewertete Minnedienst. Damit entfernt der Stricker sich auch vom klassischen Artusroman, den er ja auch sonst kräftig umgestaltet. Gerade dessen symbolhafte Doppelwegstruktur, welche im Frauendienst nach manchen Forschern nachgeahmt sein soll11 (s. u.), findet sich im Daniel nicht mehr.12 Durch die Massenschlachten erscheint dieser auch ein wenig der historischen Epik angenähert, die der Stricker auch selbst mit seiner Neubearbeitung des deutschen Rolandsliedes vom Pfaffen Konrad aufgreift. Karl der Große heißt das
11 12
und Kloster. Hrsg. von Nigel F. Palmer u. a. Tübingen 1999, S. 99–112; Guido Schneider. er nam den spiegel in die hant, als in sîn wîsheit lêrte. Zum Einfluß klerikaler Hofkritiken und Herrschaftslehren auf den Wandel höfischer Epik in groß- und kleinepischen Dichtungen des Stricker. Essen 1994; Stephen L. Wailes. „The Ambivalence of Der Stricker’s ‚Der Pfaffe Amis‘.“ Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 90, 1998, Nr. 2, S. 148–160. Siehe v. a. Hausner, „Überlegungen zur Struktur“. Zur Doppelwegstruktur vgl. den Beitrag von Bleumer im vorliegenden Band, S. 384.
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Werk nun, da die Perspektive teilweise vom Vasallen, der im Sarazenenkampf sein Leben verliert, zum letztlich siegreichen Kaiser verschoben wird. Erscheint der Stricker hier nur als Erneuerer traditionellen literarischen Gutes, so wirkt seine Kleindichtung nahezu revolutionär, lebte diese doch bisher fast nur im mündlichen Bereich. Wenn wir die von der älteren Forschung vorgenommenen – keineswegs unproblematischen – Zuschreibungen auch vieler anonym überlieferter Stücke an den Stricker akzeptieren, hat uns dieser ca. hundertfünfzig solche kleinere Reimpaardichtungen hinterlassen, die Mehrzahl davon zweiteilige Gebilde, aus einem Erzähl- oder Berichtsteil und einem erörternden Auslegungsteil zusammengesetzt, sogenannte bîspel, die es zwar früher auch schon gab, aber nur vereinzelt und meist rein geistlicher Art. Der Stricker bevorzugt weltliche bîspel oder geistlich-weltliche ‚Mischformen‘. Der Bildteil kann ‚Tatsachen‘ der Natur oder Geschichte, aber auch erfundene Geschichten (z. B. eine Tierfabel) enthalten; der die tiefere Wahrheit entschlüsselnde Auslegungsteil kann sentenzartig-resümierend oder allegoretisch sein. Wenn nur ein besonderer Fall zur Exemplifizierung für einen allgemeinen moralischen Satz steht, liegt eine Parabel vor, die erst dort überschritten wird, wo der besondere Fall wirklich einmalig und individuell anmutet. Ob und wo diese Grenze vom Stricker überschritten wird, ist umstritten. Man hat daher selbst für seine relativ eigenständig wirkenden weltlichen Erzählungen gezögert, sie als ‚Versnovellen‘ zu bezeichnen, sondern die Bezeichnung ‚Mären‘ vorgezogen, was allerdings nichts anderes als ‚Geschichten‘ bedeutet.13 An ihrem prononciert lehrhaften Charakter besteht beim Stricker jedenfalls nirgends ein Zweifel. Vollends dominiert er dann in den nicht erzählenden, rein appellativen Reimpaargedichten, den reden. Sie bieten direkte Lebens- und Glaubenslehre oder sind Versgebete. Der Stricker vertritt ein kirchenfrommes, wenngleich auf die Adelsgesellschaft geöffnetes, insgesamt konservatives Weltbild. Für ihn wird die von Gott als vollkommene Ordnung geschaffene Welt von Gott auch gerecht gelenkt. Dabei ist nicht nur der Mensch als Naturwesen verkleinertes Abbild des Kosmos, sondern auch sein sozialer Ort naturgegeben. Der Verrat am angeborenen Stand, sei es als Parvenü, sei es durch Ungehorsam nach oben, sei es umgekehrt durch Bedrückung der Ab13
Den Diskussionsstand zur Gattungsfrage fasst knapp zusammen: Hans-Joachim Ziegeler. „Maere.“ In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Georg Braungart u. a. Bd. 2, Berlin, New York 2000, S. 517–520.
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hängigen oder andere Verletzungen der Standesehre, ist Folge und Zeichen der Ursünde der Menschheit, der Auflehnung gegen Gottes Weltordnung, wodurch allein das Böse existiert. Der Klerus vernachlässigt seine Pflichten als Seelsorger, Lehrer und Vorbild der Laien, ergibt sich der Unzucht und Simonie. Die Fürsten schwächen das Königtum, um ungestraft in ihren Territorien Unrecht und Ausbeutung üben zu können. Sie verweigern ihren treuen Gefolgsleuten ihren gerechten Lohn und versäumen es, ihre Höfe zu Zentren der Festesfreude, der Geselligkeit und Kultur zu machen. Der gesamte Adel tut es ihnen gleich an Geiz und Profitgier, sucht nur das bequeme, genussreiche Leben und dafür sogar den Erwerb als Bauer oder Kaufmann. Der Stricker verurteilt dies genauso wie die Untreue gegen einen guten, wenn auch armen Herrn, ruft aber zugleich zum solidarischen Widerstand gegen Übergriffe ungerechter Lehnsherren auf. Zum Ideal des adeligen Hoflebens gehört auch der rechte Minnedienst. Dem Lob der innerlich und äußerlich vollkommenen Damen, der Krone der Schöpfung, widmet der Stricker ein ganzes, ebenso überschwängliches wie eintöniges Gedicht (Die Frauenehre, 1902 Verse), das den Rittern die redliche Bemühung um Minnegunst als Quelle der zuht, êre, mâze, staete usw. wärmstens ans Herz legt. Höfische Minne gilt als unerlässlicher Bestandteil der hövescheit, standesgemäßen höfischen Verhaltens, als deren Propagandist sich der nichtadelige Dichter allerdings erst qualifizieren muss. Inhaltlich sind ihm dabei auch enge Grenzen gesetzt. Der Minnedidaktiker sieht sich im Gegensatz zum Minnesänger genötigt, das Minneideal mit der kirchlichen Ehelehre zu harmonisieren. Schon Thomasin von Zerklaere mahnt ausdrücklich zur ehelichen Treue (Welscher Gast, V. 1354ff.), umso mehr der Stricker, der nicht mehr ausschließlich mit Blick auf den Adel dichtet. In den Minnesängern unterzieht er diejenigen, die mit rede und mit gesange (V. 16) den Ehebruch preisen und den vorsichtigen Ehegatten als merkaere verunglimpfen (V. 13), einer sarkastischen Kritik. Minnedienst und Minnesang haben somit – sofern sie nicht ohnehin in die Ehe münden – nur als enterotisierte Verehrung der (adeligen) Frau schlechthin ihre moralische Berechtigung. Dementsprechend steht der Minnelehre eine ebenso ausführliche Ehelehre zur Seite, die sich nun vollends an der kirchlichen, von Paulus begründeten Ehemoral orientiert: Der Mann soll seine Frau lieben, jedoch niemals so sehr, dass sie ihn zum Narren und sich zum Herren über ihn machen kann. Notfalls muss er sie hart züchtigen, um die angeblich typischen weiblichen Verfehlungen wie Herrschsucht, Putzsucht, und Unkeuschheit zu bestrafen bzw. zu verhindern. Tut er es nicht, so ist er für die Sünden der Frau vor Gott
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mitverantwortlich, während diese mit dem eigenen gehorsamen Wohlverhalten ihre Pflicht völlig erfüllt. Im Gegensatz zur Minnelehre ist die Ehelehre ständisch durchaus neutral gehalten. Sie gehört zu den grundlegenden, für alle Menschen gleichermaßen geltenden Verhaltensregeln wie die Mahnung zu Wahrhaftigkeit, Beständigkeit, Zuverlässigkeit, Mildtätigkeit, Gastfreundschaft und insbesondere Mäßigung in allen Bereichen des Lebens wie Trinken, Essen, Schlafen, Sexualität. Besonderen Greuel erweckt die Homosexualität. Die wiederum auf Thomasin rückverweisende, vom Stricker allerdings theoretisch kaum begründete Maxime der mâze hält weltverneinende Tendenzen hintan. Der Stricker fordert keinen Laien auf, ins Kloster oder in die Einsiedelei zu gehen, obwohl er die echte vita religiosa selbstverständlich hoch achtet. Jeder kann mit Gottes und der Kirche Hilfe in seinem Stand verbleiben und durch ein rechtes, auch rechtgläubiges Leben, v.a. durch ständige echte Reue, Beichte und Buße, sich die Anwartschaft auf das Himmelreich erwerben. Die ganz oder teilweise narrativ gestalteten Gedichte des Strickers führen überwiegend Verletzungen dieser christlichen Lebensmaximen vor, am vergnüglichsten, aber auch irritierendsten der Schwankroman vom Pfaffen Amis. Er zeichnet die erfolgreiche Karriere eines englischen Klerikers als Lügner und Betrüger. Amis haut Angehörige aller Stände kräftig übers Ohr, indem er ihre eigenen Fehler und Laster, Eitelkeit, Selbstsucht, Aberglauben usw., ausnutzt. Nach dreißig Jahren schwört er der Lüge ab, wird frommer, ordenstreuer Zisterziensermönch, mehrt das Klostervermögen, wird Abt des Klosters und erwirbt das ewige Leben. Eine überzeugende Deutung dieses Schlusses will der Forschung nicht gelingen. Ist er ironisch gemeint, so können umgekehrt Zweifel an der moralischen Bedenklichkeit der vorherigen Betrügereien aufkommen, die im übrigen Werk des Strickers natürlich verurteilt werden. Doch sei dem, wie ihm wolle – die Ausfahrt des Pfaffen Amis mit sechs Knappen, jedoch ohne Waffen, vielmehr in der Ausrüstung eines Predigers, Malers oder Arztes wirkt fast wie eine ‚gelehrte‘ Variante der Venusfahrt und Artusfahrt des Turnierritters Ulrich. Auf der inhaltlichen Seite bietet die Hofkritik zu Anfang des Pfaffen Amis etliche Gemeinsamkeiten mit Ulrichs Klage über den Verlust der höfischen Festesfreude. Selbst den Wert des Frauendienstes schätzt der Sticker in der Frauenehre offiziell kaum niedriger ein als der Liechtensteiner. Selbst in der strikten Abweisung gleichgeschlechtlicher Beziehungen treffen sich die beiden. Doch in der Ehemoral gehen sie diametral auseinander. Während Ulrichs erotische Libertinage Privileg des Adels und auch in diesem Stand meist schriftlich-literarisch unausgesprochen bleibt, ma-
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chen des Strickers Lehren Schule. Ungefähr hundert Reimpaargedichte in der Manier des Strickers zusätzlich zu dessen (vermutlich) echten Stücken überliefert allein der Codex Vindobonensis 2705 von ca. 1260/70. Anderswo finden sich weitere. Daneben gibt es aber noch die Tradition der (ursprünglich mündlich tradierten) zwei- oder vierzeiligen Sprechsprüche. Für ihre breite Übernahme in das schriftliche Medium hat vor allem der alemannische Meister Freidank (gestorben 1233) gesorgt. Doch es gibt sie auch in Österreich. Genannt sei der Magezoge (Erzieher) aus der Jahrhundertmitte.14 Hier finden sich eine Menge Sprüche, die die didaktischen Tendenzen des Strickers fortsetzen, etwa Mahnungen zur Nachsicht gegen Hintersassen, zum Schutz von Armen und Waisen, zur Treue gegen den Herrn und Belohnung von Dienst, zur höfischen Freude, rechten Minne und mâze. Der zu Anfang beschworenen Erwartung, dass jeder, der die folgenden Lehren beherzigt, sowohl der werlt lop als auch der sele heil (V. 7) erlangen könne, und den dieser Erwartung entsprechenden harmonisierenden Maximen stehen jedoch mitten drunter eindeutig welt- und leibfeindliche entgegen. So wird auch zu echter freiwilliger Armut aufgerufen, die man schon an der minderwertigen Kleidung erkennen solle. Dergleichen fordert der Stricker vom Adeligen nicht, und Ulrich wäre es vollends ein Greuel gewesen. Hier atmen wir die Luft von geistlichen Gedichten wie der Warnung (s. o.).
5. Sangspruchdichtung Wie sich weltliche Sangspruchdichtung in der Nachfolge Walthers von der Vogelweide im Laufe des 13. Jahrhunderts stärker kirchlicher Frömmigkeit zuneigt, führt uns das Werk Bruder Wernhers vor Augen.15 Ob damit auch sein Beiname ‚Bruder‘ etwas zu tun haben könnte, ist unklar. Er war schwerlich ein Klosterbruder, auch nicht ein spätberufener am Lebensende, vielmehr als Wanderdichter vielleicht Mitglied einer Gebets- oder Pilgerbruderschaft. Er fand im ganzen mittel- und süddeutschen Raum seine Gönner, nicht zuletzt aber insbesondere im Ostalpenraum. Die von ihm gepriesenen einflussreichen Machthaber Kärntens, Krains und der Steiermark lässt auch Ulrich in seinem Friesacher Turnier auftreten. Im Streit der steirischen und österreichischen Ministerialen 14 15
Dazu vgl. Knapp, Geschichte der Literatur in Österreich 1, S. 348–350. Dazu vgl. ebd., S. 465–470. Neuere Arbeiten, welche unsere Problematik unmittelbar berühren, scheint es nicht zu geben.
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mit Herzog Friedrich II. von Babenberg nimmt Wernher Stellung für die edelen dienestman (Spruch 37). In der Totenklage um den 1246 gefallenen Herzog (Spruch 48) beschwört er dann allerdings ein angeblich harmonisches Verhältnis zwischen Landherren und Landesherrn, offenbar zur Propaganda für ein entsprechendes Abkommen mit dem präsumptiven neuen Landesfürsten, dem Böhmenkönig. Wernhers politische Ideale sind insgesamt vom Ausgleichsgedanken beherrscht. Papst und Kaiser sollen ebenso im Rahmen ihrer begrenzten Kompetenzen segensreich zusammenwirken wie Kaiser und Reichsfürsten, Reichsfürsten und Landesadel. Für die Adeligen jeden Ranges gelten die gleichen ethischen Maßstäbe, deren Erfüllung auch allein Stand und Herrschaft rechtfertigt. Gerade die armen hôchgemuoten sollen den rîchen als Muster der hövescheit gelten (Spruch 22). Die wichtigsten adeligen Tugenden sind milte (Freigebigkeit) und triuwe (Einhaltung der gegenseitigen Verpflichtung von Lehnsherrn und Lehnsträgern). Gewandtes Benehmen und kämpferische Bewährung treten dagegen völlig in den Hintergrund, insbesondere aber der Minnedienst. Selbst dort, wo Wernher den Verlust der höfischen Freude beklagt, macht er nicht wie Ulrich und andere den Verfall des Minnedienstes dafür verantwortlich. Stattdessen breiten sich Sündenbewusstsein, Angst vor Tod und Gericht in vielen Sprüchen Wernhers aus. Zur Rettung des Seelenheils sind die Menschen auch auf die Gnadenmittel der Kirche angewiesen. Zu radikaler Pfaffenschelte lässt sich Wernher bei aller Kritik am Klerus, anders als sein Vorbild Walther, nicht hinreißen. Er selbst aber bezeichnet sich ausdrücklich als Laien, dem es auch bei aller Lohnabhängigkeit nicht an künstlerischem Selbstbewusstsein mangelt. Noch stärker ausgebildet erscheint dieses bei Wernhers jüngerem Zeit- und Berufsgenossen, dem Marner.16 Während aber Wernher nirgends Buchgelehrsamkeit hervorkehrt, dichtet der Marner auch in der Gelehrtensprache. Sein sprechender Name, der Marner, „Seefahrer“, weist zugleich auf eine antike Metapher für die Dichtung wie auf die vagante Berufsausübung. Eine geistliche Pfründe hat der klerikal gebildete Marner entweder nicht angestrebt oder nicht erhalten, sondern den geistlichen und weltlichen Herren in diversen Ländern des Reichs seine 16
Dazu vgl. ebd., S. 470–477. 1995 erschien die Monographie von Jens Haustein. Marner-Studien. Tübingen 1995 (MTU 109). Haustein stellt die Beweisbarkeit von des Marners Verfasserschaft vieler Lieder, insbesondere der lateinischen, in Frage. Gegen einen solchen hyperkritischen Standpunkt lässt sich prinzipiell schwer argumentieren, was hier schon aus Raummangel gar nicht geschehen kann.
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Kunst feilgeboten. Sein ältestes datierbares Lied wirbt auf Latein für die Ernennung des Propstes von Maria Saal zum Bischof von Seckau. Vielleicht fand er nach dieser Ernennung 1231 Unterkunft im Chorherrenstift Seckau, wurde aber von dort zusammen mit den anderen fahrenden Scholaren 1242 wieder vertrieben. Danach könnte er bei dem 1245 ernannten Bischof Bruno von Olmütz, der für König Otakar in den ehemals babenbergischen Ländern wichtige Regierungsaufgaben, darunter die steirische Landeshauptmannschaft 1262–1270 wahrnahm, zeitweise Zuflucht gefunden haben. Denn er hat auch auf ihn ein lateinisches Preislied verfasst. Da dies alles doch Vermutung bleiben muss, da wir zudem keine Anhaltspunkte für den Vortrag seiner ganz überwiegend deutschen Minnelieder und Sangsprüche im Ostenalpenraum haben, da sie um einiges später entstanden sein könnten und da sie schließlich kaum Berührungspunkte mit Ulrichs Werk aufweisen, belassen wir es hier bei der bloßen Nennung dieses überaus formgewandten und vielseitigen Berufssängers, der nach eigener Aussage auch heldenepische Texte in seinem Repertoire hatte. Beiseite lassen können wir wohl auch den Sangspruchdichter Friedrich von Sonnenburg,17 da er zwar aus Tirol stammen, aber überwiegend in Bayern und erst ab den fünfziger Jahren tätig gewesen sein dürfte. Er schreitet auf dem von Bruder Wernher begangenen Weg weiter fort und schränkt seinen Themenkreis fast völlig auf den religiösen Bereich ein, entfaltet dabei allerdings eine auffällige Weltfrömmigkeit, wenn er Gottes Schöpfung bis an die Grenze des theologisch Vertretbaren preist.
6. Minnesang Wir wenden uns wieder der ersten Jahrhunderthälfte zu. Wenn Ulrich alle oder die allermeisten seiner Lieder vor, mitunter beträchtlich vor ihrer Einfügung in den Frauendienst gedichtet und komponiert hat, so sind diese teilweise zeitgleich mit den späteren, österreichischen Liedern Neidharts entstanden.18 Neidhart dürfte nach 1230 von Altbayern ins Herzogtum Österreich gekommen sein und zumindest teilweise in Wien bzw. Wiener Neustadt bei Friedrich II. die Position eines Hofdichters besetzt haben. Da er den Tod des Herzogs nirgends erwähnt, wird sein Schaffen wohl vor 1246 sein Ende gefunden haben. Neidharts Lyrik ist 17 18
Dazu vgl. Knapp, Geschichte der Literatur in Österreich 1, S. 477–482. Dazu vgl. ebd., S. 281–292.
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d a s literarische Ereignis dieser Zeit in Österreich, wurde allerdings in ihren Grundlinien schon zuvor für den bayerischen Herzogshof konzipiert und entwickelt. Obwohl Neidhart, vermutlich selbst ein kleiner, armer Ritter, die sozialkonservative Haltung des reichen Landherrn Ulrich teilt, setzt er zur ideologischen Stabilisierung der Vorherrschaft des Adels ganz andere, nämlich ausgesprochen innovative, von der Romania unbeeinflusste poetische Mittel ein. Er schafft zwei kontrastierende Liedtypen, die Sommerlieder und Winterlieder, von der Forschung so genannt nach den obligatorischen Natureingängen. Die Sommerlieder bevorzugen freieren, unstolligen Periodenbau, die Winterlieder die alte Kanzonenform. Hier erfährt das Sänger-Ich regelmäßig eine Abweisung von der Minnedame, wie im Hohen Minnesang, während er in den Sommerliedern laufend Erfolge bei Mädchen (und Frauen) feiert, die sich ihm geradezu in die Arme werfen. Das Ich wird als ritterlich definiert, die weiblichen Partner bleiben entweder sozial unbestimmt oder erhalten bäuerliche Kennzeichen, und zwar in den Winterliedern sogar deutlichere, obwohl sie vom vergeblich Werbenden als Herrinnen angesprochen und hoch gepriesen werden. Den Hauptgrund für die Erfolglosigkeit stellen die männlichen Rivalen dar, die dörper, Bauernlümmel, wilde, ungehobelte, sich kriegerisch gebärdende, bewaffnete Burschen niederen Standes, die gerade mit ihrer unverfroren zudringlichen Art bei den Mädchen reüssieren und den ritterlichen Sänger buchstäblich verdrängen. Sind diese dörper tatsächliche bäuerliche Aufsteiger in den Ritterstand oder Kleinadelige, die sich in die Reihen der Landherren drängen, oder gar Angehörige des gesamten Adels, die sich durch Mangel an Sitte und Anstand ihres angestammten Adels unwürdig erweisen? Die Forschung hat diesbezüglich keine Einigung erzielen können. Von der Frauenverehrung der klassischen Dichtung bleibt jedenfalls in dem Bild dieser Mädchen nicht viel übrig, gleichgültig ob sie sich trotz Warnung ihrer Mütter von den bäuerlichen Freiern abwenden und zu dem Ritter aus dem Riuwental (Schmerzenstal) drängen, wie in den Sommerliedern, oder sich, wie in den Winterliedern, bei den geckenhaften, aber derben dörpern wohl fühlen. Minne als ebenso beglückende wie schmerzreiche Erfahrung, als höfisches Lebensideal, als Quelle sittlicher Vervollkommnung ist einer im Wesentlichen sexuell definierten Liebe gewichen, welche entweder im fröhlichen Tanzlied gefeiert oder als wollüstiges Geschenk an Unwürdige geschmäht wird. Adelskritik, Hofkritik, Verfallsklage finden sich bei Ulrich wie bei Neidhart. Dieser stellt jedoch die abgelehnte Gegenwelt der dörper selbst, zwar satirisch übertrieben, aber voll prallen, lustvollen, unanständigen Lebens auf die
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Bühne. Das Publikum konnte sich insgeheim damit identifizieren und es doch laut verachten. Das faszinierte, zusammen mit den mitreißenden Melodien, weit mehr als Ulrichs Œuvre die mittelalterliche Gegenwart und Zukunft. Unmittelbare Nachfolge in Österreich findet Neidhart bei den Sängern Kol von Nüssen, Geltar, Friedrich dem Knecht und dem von Scharfenberg.19 Hervorzuheben sind hier davon nur zwei Strophen Geltars, welche die ehebrecherischen Absichten mancher Minnesänger anprangern, wie es auch der Stricker tut (s. o.). Es scheint sich aber um keine Herren von Stand zu handeln, so dass auch Ulrich darüber nicht böse hätte sein müssen. Welcher Art die Lyrik der im Frauendienst als Sänger ausgewiesenen Ritter Gottfried von Totzenbach (886) und Zacheus von Himelberg (616) gewesen sein könnte, wissen wir nicht, da von ihr nichts erhalten ist. Der Niederösterreicher Ulrich von Sachsendorf, der Steirer Heinrich von der Mur oder der Tiroler Walther von Metz orientieren sich jedenfalls vor allem an Reinmar und Walther von der Vogelweide. Die meisten sogenannten kleinen steirischen Minnesänger wie die von Saneck, Stadeck, Obernburg, Wildon20 lassen bereits Einflüsse Ulrichs erkennen und fallen daher aus unserem Darstellungsrahmen. Auf 1244/45 können wir dagegen den Ton I des Tannhäusers datieren,21 ein Preislied auf Herzog Friedrich II. Nach dem Tode seines Gönners 1246 hat der Dichter allerdings seinen vom Herzog erhaltenen Besitz durch ein lustiges Leben rasch verschleudert, wie er in Ton XIV berichtet. Er dürfte bald darauf seine Wanderung als Fahrender (wieder) aufgenommen, aber in seiner kurzen glücklichen österreichischen Zeit gewiss mehr als Ton I geschaffen haben. Woher der Tannhäuser stammte, wissen wir nicht, da er als lohnabhängiger Sänger wohl kaum einer der nachweisbaren Adelsfamilien von Tannhausen angehörte, sondern eher einen sprechenden Namen trug, der so viel wie Waldbewohner, Hinterwäldler bedeutete. Seine lyrische Kunst konnte sich aber sehen lassen und brauchte den Vergleich mit Neidhart nicht zu scheuen, auch wenn sich von diesem viel mehr erhalten hat. Wie Neidhart kom-
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Zu diesen vgl. ebd., S. 292–294. Herrand von Wildon, Ulrichs Schwiegersohn, hat neben Lyrik auch Kleinepik verfasst und erwähnt seinen Schwiegervater als Gewährsmann für seine Versnovelle Der betrogene Gatte. Vgl. Knapp, Geschichte der Literatur in Österreich 1, S. 539. Zum Tannhäuser vgl. ebd., S. 295–300. An neueren Monographien vermerke ich: Heinz Kischkel. Tannhäusers heimliche Trauer. Über die Bedingungen von Rationalität und Subjektivität im Mittelalter. Tübingen 1998.
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ponierte er gerne Tanzlieder, trat dabei als Vorsänger auf und verwendete mehrfach Sommer- und Wintereingänge mit wörtlichen Anklängen an den älteren Rivalen. Insbesondere verbindet die Neigung zu hypertrophen Minneklagen und zur Erotik die beiden Sänger. Aber der Tannhäuser kehrt die literarische Bildung, den feinen Geschmack und die manieristische Formkunst viel mehr hervor als Neidhart. In Ton IX und X zählt er eine Reihe unerfüllbarer Forderungen seiner Minnedame auf: Er solle ein Haus aus Elfenbein auf einem Meer erbauen, den Gral, den Paradiesapfel, die Arche Noe herbeischaffen etc. Ton III schildert eine Liebesbegegnung an einem typischen locus amoenus, einer von einem Bach durchflossenen planiure neben einem fores, wo die Nachtigallen tschantieren und toubieren. Dort trifft der dulz amis seine Geliebte, die schoenen creatiure, / bi dem fontane saz diu klare, süeze von faitiure (III, 6–7).22 Der ebenfalls mit der französischen Modesprache durchsetzte Dialog von amure mündet in die körperliche Vereinigung. Von Gewalt oder Verführung hören wir, anders als oft bei Neidhart, nichts. Die Situation wird sprachlich ebenso eindeutig wie dezent geschildert. Dasselbe gilt für die einlässliche Beschreibung der Geliebten. Noch sinnlicher fällt sie in Ton XI aus, ohne auch hier in die grobe Direktheit der Neidhartschen Bauernlümmel zu verfallen. Anspielungen auf zahllose Gestalten der Höfischen Romane mit antiken Sujets, aus den Sagenkreisen von Tristan, Artus und dem Gral prägen Ton IV. Der Länderkatalog in Ton V ist vor allem aus dem Willehalm Wolframs von Eschenbach gespeist. Am deutlichsten entfaltet der Tannhäuser seine Kunst aber im formalen Bereich. Seine ersten sechs Töne bestehen nicht wie die folgenden zehn aus gleichförmigen (stolligen) Strophen, sondern aus ungleichförmigen Versikeln mit komplizierten Responsionen, gehören also der Gattung des (weltlichen) Leichs, vergleichbar der lateinischen Sequenz und dem französischen Lai, an. In deutscher Sprache haben schon Heinrich von Rugge und Walther von der Vogelweide Leiche geschaffen, jedoch religiöse, so dass möglicherweise der Tannhäuser die Tradition des deutschen weltlichen Leichs begründet haben und der Liechtensteiner ihm darin nachgefolgt sein könnte. Doch Ulrichs lyrische Einlage Nr. XXV23 greift weder das beim Tannhäuser in jedem Leich wiederkehrende Tanzmotiv noch die freiere 22
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Text zitiert nach: Der Dichter Tannhäuser. Leben – Gedichte – Sage. Hrsg. von Johannes Siebert. Halle 1934, S. 90. Zum Leich vgl. im vorliegenden Band die Beiträge von Bleumer, S. 369 f., und Braun, S. 424 f., 436, zur Form S. 410.
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Form der Responsionen auf, sondern formt einen reinen Minneleich nach der Sequenzstruktur mit doppeltem Kursus. An originaler Formkunst stehen Neidhart und der Tannhäuser Ulrich also ungefähr gleich fern, obwohl alle drei eine große Vorliebe für das Tanzlied zeigen. Für höfische Unterhaltung wollen sie alle drei sorgen, benötigen also auch alle die Institution des Hofes. Eine weitere sozialpolitische Intention außer seiner ständigen Gönnersuche lässt der Tannhäuser aber kaum erkennen. An der schweigenden Übertünchung der Standesgrenzen, wie der Tannhäuser sie übt, konnte Ulrich auch kein Interesse haben. Hier stand er auch nicht in vollem Einklang mit seinem Hauptvorbild Walther von der Vogelweide. Die sozialhistorische Interpretation der Lyrik Walthers ist allerdings nach wie vor kontrovers, so dass bei Ulrichs Haltung zu Walther in diesem Punkt auch keine Einhelligkeit bestehen kann.24 Da Walther jedoch in seiner realen Existenzform dem Tannhäuser weit näher gestanden haben dürfte als dem Liechtensteiner, darf man eine gleiche Einschätzung von Tugend- und Geburtsadel bei Walther und Ulrich von vornherein kaum erwarten. Nichtsdestoweniger steht Ulrich seinem klassischen Vorbild nicht nur in seiner Kunstform, sondern auch in seinem Minnekonzept weit näher, als man aufgrund der äußeren Lebensumstände vermuten möchte. Es ist keine bloß äußerliche Reverenz, die er jenem mit dem wörtlichen Zitat des Preislieds Ir sult sprechen willekomen (L. 56,14 ff. – Frauendienst, S. 262) erweist. Beide werten die äußere weibliche Schönheit gegenüber der inneren ab, beide scheiden gute von schlechten Frauen und Männern und fordern beide Geschlechter auf, bei der Partnerwahl ebenfalls so zu unterscheiden, beide gerieren sich als moralische Ratgeber, beide konstatieren einen sittlichen Verfall, weil die jungen Adeligen sich nicht mehr freudig dem rechten Minnedienst hingeben. Aber der Unterschied beschränkt sich nicht auf Ulrichs sichere Zuversicht in die Erreichbarkeit des Ideals. Nicht nur „ersetzt Ulrich damit Walthers dynamisches Modell durch ein statisches, geschlossenes“,25 indem er ein Scheitern des Minneprogramms gar nicht mehr einkalkuliert, sondern schließt es auch ständisch wiederum hermetisch ab. Walther war kein Sozialrevolutionär gewesen, aber er hatte sein Minneideal potentiell für alle ‚Guten‘ geöffnet. Ulrich räumt zwar ein, Armut könne durch güete ersetzt werden, güete nicht durch Reichtum. Doch stets muss 24
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Ich beziehe mich hier hauptsächlich auf den Dissens von Ranawake, „Zur Minnedidaxe“, mit Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, Dittrich, „Die Ideologie des guoten wîbes“, und Thum, Höfische Epik und soziale Wirklichkeit. Ranawake, „Zur Minnedidaxe“, S. 195.
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für die Minnedame gelten: Siest ein frowe von geburt (Lied XXXIV, 23; vgl. 1777). Tugendadel muss bei ihm zum Geburtsadel dazukommen, um eine vrouwe zu einem wîplichen wîbe zu machen. Walther spricht den vrouwen diese Möglichkeit nicht ab, lässt aber auch die andere offen, dass der Tugendadel den Geburtsadel schlicht ersetzen könne. Er selbst ringt sein ganzes Leben vergeblich darum, ein anerkanntes Mitglied der Hofgesellschaft zu sein. Ulrich bewegt sich selbstverständlich nur in ihr und hält die Exklusivität des Zirkels stets bewusst. Daher muss nach seiner Ansicht sogar der unstandesgemäße Wächter im Tagelied durch eine adelige Zofe ersetzt werden (1621 ff.).26 Reinmars Lyrik zeigt noch keine Spur einer sozialen Identitätskrise des (dem Hofe selbstverständlich angehörigen) Sängers. Wenn sie die Erfüllung der Liebessehnsucht kaum je als erreichbar andeutet, so nicht wegen des sozialen, sondern des ethischen Ranges der Dame, mag diese innerhalb des Hofkreises auch noch höheren Standes sein. Da jene Sehnsucht aber ohne irgendeine noch so vage Möglichkeit der Erfüllung weder entstehen noch bestehen bleiben kann, präsentiert diese Lyrik das völlige Paradoxon der irrealen Potentialität, die in den permanenten Trauergestus des Sängers mündet. Ulrich kennt und anerkennt zwar im Schlepptau Walthers die kummervolle Sorge des (noch) unerhörten Werbenden (z. B. Lied III, 40; XI, 33–35), kritisiert aber nicht nur die traurige, missmutige Ablehnung des grundsätzlich Freude schenkenden Minnedienstes (z. B. 1686),27 sondern auch die Larmoyanz des hoffnungslosen Minnedieners (XXVII, 12–18): Wie sol ein ungemuoter man erwerben hôchgemuotes wîbes habedanc? Wil er daz ertrûren an, dazs in minne, sô ist ein tumber wân vil kranc. Ir hôchgemuotes herzen rât sîn trûren hât für missetât.
So gibt es zwar auch bei Ulrich die elegische Minneklage, meist tritt aber an ihre Stelle – außer der waltherschen Schelte (z. B. Lied XXII) – das freie, nicht an eine bestimmte Dame gerichtete freud- und hoffnungsvolle Minnelied. Hier trifft sich Ulrich mit Gottfried von Neifen und der ‚schwäbischen Schule‘. Frühlingseingang, Beschwörung der höfischen Lebens- und Sinnenlust zeugen davon. Nicht übersehen sollte man aber auch die zahlreichen Verse, die so oder so ähnlich sowohl bei Ulrich und 26 27
Zur Tageliedkritik vgl. den Beitrag von Braun im vorliegenden Band, S. 439 f. So Ranawake, „Zur Minnedidaxe“, S. 195.
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Gottfried als auch bei Reinmar und Walther und anderen Vertretern des klassischen Minnesangs stehen könnten. Gert Hübner hat in seiner großen Studie über den Frauenpreis im Minnesang eher die Differenzen zwischen Ulrich und der ‚schwäbischen Schule‘ herausgestellt. Zwar dominiert der Frauenpreis in den Minnekanzonen Ulrichs, anders als bei Reinmar und Walther und davor, jedoch ähnlich wie schon bei Heinrich von Morungen und erst recht bei Gottfried von Neifen und Ulrich von Winterstetten. Doch „während Neifen und Winterstetten dazu tendieren, jede einzelne Kanzone mit demselben Repertoire von Gattungselementen zu bestreiten, setzt Lichtenstein [sic] von Lied zu Lied unterschiedliche thematische Schwerpunkte und differenziert die Gattung damit, je nach dominantem Liedmotiv, in verschieden Untertypen.“28 Im Minnesang nach Walther machen sich unabhängig voneinander die gleichen, an die vorwalthersche Tradition anknüpfenden Tendenzen geltend. So wird der Frauenpreis „jetzt praktiziert, nicht mehr diskutiert“. Modellbildend wirkten jedoch aus der Klassik nach Hübner „Morungens Etablierung des Frauenpreises in der Klagekanzone“, Reinmars „Einführung des allgemeinen Frauenpreises“ und anderes.29
7. Rezeption auswärtiger Literatur in ‚Österreich‘ Die Namen Reinmar und Walther können bis zu einem gewissen Grade für eine speziell österreichische Tradition stehen, auch wenn eine enge Verbindung Reinmars mit Wien nicht wirklich bewiesen werden kann und Walther nachweislich im ganzen deutschen Sprachraum und noch darüber hinaus gesungen hat. Gottfried von Neifen gehört jedoch einem ganz anderen Literaturraum an, desgleichen Klassiker wie Heinrich von Morungen, die auch ihre Spuren in Ulrichs Liedschaffen hinterlassen haben dürften. Das erinnert uns an die selbstverständliche Tatsache, dass literarische Einflüsse durchaus auch weite Strecken zurücklegen und alle Landesgrenzen überwinden können. Selbst wer deshalb das Denken in begrenzten Literaturräumen nicht grundsätzlich aufgeben will, wird ohne Zögern zugeben, dass auch die in diesen Räumen rezipierten auswärtigen literarischen Importe berücksichtigt werden müssen. Allerdings haben wir nur zwei Möglichkeiten, solche Importe defi28 29
Hübner, Frauenpreis, S. 337. Ebd., S. 338.
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nitiv nachzuweisen: Entweder wir kennen einen schriftlichen Überlieferungsträger eines auswärtigen Werkes, der in diesem Raum zur jeweils in Frage kommenden Zeit aufgezeichnet oder aufbewahrt wurde, oder ein anderes Zeugnis für die Bekanntheit des Werkes in diesem Raum. Ein direktes Zitat gibt hier die größte Sicherheit. Die nachgewiesene Übernahme eines markanten Motivs oder Gedankens mag als Hinweis auch reichen. Mehr als eine Hypothese entsteht so aber in der Regel nicht, weshalb die äußere Wahrscheinlichkeit hinzutreten sollte, also entweder räumliche Nähe oder bekannte Verbindungswege über weitere Distanzen. Verwandte, verschwägerte und befreundete Adelige tauschten Kulturgüter und selbst mäzenabhängige Literaten aus. Im Repertoire wandernder Sänger und Sprecher, welche höchstwahrscheinlich auf den Vortrag aus dem Gedächtnis spezialisiert waren, reisten insbesondere Minnelieder, Sangsprüche und Sprechsprüche, aber auch kürzere Heldenepen von Burg zu Burg. Die weltliche Lyrik wurde bis weit ins 13. Jahrhundert hinein, wenn überhaupt, nur ganz vereinzelt in klerikalen Handschriften aufgezeichnet.30 Sie richtete sich aber ursprünglich kaum an Klöster und Stifte, sondern wie die übrige höfische Literatur natürlich an die weltliche höfische Gesellschaft. Weltliche Adelige konnten aber klerikale Schreiber des Hofes, der Kanzlei oder des Hausklosters mit der Niederschrift dieser Literatur beauftragen. Besonders rasch wanderten Bücher zwischen den Niederlassungen desselben geistlichen Ordens hin und her. Auch im Gepäck von Fernkaufleuten mochten auf den gängigen Handelsrouten Bücher reisen. Doch wissen wir darüber kaum etwas. Rätsel geben uns aber auch die meisten Handschriften auf. Selbst die – nur wenigen Fachleuten nach jahrzehntelanger Übung vorbehaltene – verfeinerte Technik der Datierung und Lokalisierung liefert nicht immer sichere Ergebnisse; sie muss v. a. den festgestellten Schreibdialekt für den Ort der Entstehung geltend machen, obwohl er, streng genommen, nur der Idiolekt des Schreibers ist, der sich dem Auftraggeber nicht unbedingt angepasst haben muss, der übrigens seinerseits den Codex an jemand in einer ganz anderen Gegend verschenkt haben kann. Aber selbst wenn man sich von einem solchen hyperkritischen Standpunkt fern hält, sollte man verlangen dürfen, dass der Schreibdialekt exakt bestimmt wird. Gerade dies gelingt aber oft nur recht allgemein. So kann man in der Regel zwar eine Handschrift des 30
Vgl. Thordis Hennings. „Mündlich tradierte volkssprachliche Lyrik und klerikale Aufzeichnung.“ In: Vom vielfachen Schriftsinn im Mittelalter. Festschrift für Dietrich Schmidtke. Hrsg. von Freimut Löser und Ralf G. Päsler. Hamburg 2005, S. 127–162.
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13. Jahrhunderts als bairisch-österreichisch, d. h. ostoberdeutsch, bestimmen, viel schwerer aber als österreichisch, steirisch usw. Für sehr viele Handschriften ist diese Arbeit, falls sie zu leisten sein sollte, jedenfalls noch nicht geleistet.
8. Höfische Epik Dies haben wir zu berücksichtigen, wenn wir die von Martina Backes31 festgestellte Verbreitung der höfischen Epik in Österreich für unsere Zwecke nutzbar machen wollen. Sie meint Österreich in den heutigen Grenzen, das damals weder als politische noch als sprachliche Einheit existiert hat,32 um gegen die alte These Wilhelm Scherers von der österreichischen Antipathie gegen die westliche höfische Epik zu polemisieren.33 Nun muss Backes zwar zugeben, dass die Übersicht über die vollständig erhaltenen Handschriften bei Peter Jörg Becker34 „das alte Diktum Scherers zunächst eigentümlich zu bestätigen“ scheint und nur die Fragmente „ein anderes, differenzierteres Bild“ vermitteln.35 Doch mag man das unter den Zufällen der Überlieferung verbuchen. Schwerer wiegt die Gleichstellung von Fragmenten aus dem ganzen 13. und 14. Jahrhundert. Als eindeutige Zeugnisse für eine rasche überregionale Beliebtheit höfischer Epik fallen Handschriften, die mehr als ein halbes Jahrhundert von der Entstehung des jeweils überlieferten Werkes getrennt sind, doch wohl aus. Wir brauchen auch für unseren speziellen Zweck keine Überlieferungsträger zu berücksichtigen, die nach der Mitte des 13. Jahrhunderts geschrieben wurden. 31
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Martina Backes. „Höfische Epik in Österreich im Spiegel der handschriftlichen Überlieferung.“ Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft N. F. 36, 1995, S. 11–26. Mundartlich zerfällt das Gebiet grob in das Ostmittelbairische und das alpenländische Südbairische, wovon wiederum v. a. das Tirolische durch gewisse Alemannismen eine Sonderrolle einnimmt. Diese Polemik übernimmt Backes von ihrem Lehrer Alois Wolf, dem der Aufsatz auch gewidmet ist. Sie wird hier aber auch auf meine Literaturgeschichte ausgedehnt, wo ich geschrieben habe: „Importierte Neuerungen werden naturgemäß hierzulande in der Regel später und mitunter reservierter aufgenommen, bodenständige Gewächse dagegen liebevoller gepflegt als anderswo“ (S. 579). Meine Einschränkungen „in der Regel“ und „mitunter“ werden übergangen. Peter Jörg Becker. Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen. Wiesbaden 1977. Backes (Anm. 31), S. 13.
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Für ‚Österreich‘ nimmt Backes (vor ca. 1250 entstandene) Fragmente in Anspruch, welche hier im Spätmittelalter für Einbände Verwendung fanden: die Meraner36 und die sog. Pfeifferschen37 Bruchstücke vom Eneasroman Heinrichs von Veldeke, die Kremsmünsterer38 und Spitaler39 Fragmente von Hartmanns Iwein, die Gaminger40 und die Vorauer41 Bruchstücke des Wigalois Wirnts von Grafenberg. Für eine Entstehung in ‚Österreich‘ dürften allerdings bei den Veldeke-Fragmenten die sprachgeographischen Argumente kaum ausreichen. Der Iwein fand dagegen zweifelsfrei bald nach seiner Entstehung im alemannischen Raum in Tirol, Steiermark und Österreich Leser und Hörer, wurde in Tirol schon am Anfang des 13. Jahrhunderts bildlich verewigt und dann – allerdings erst am Ende des 13. und am Anfang des 14. Jahrhunderts – auch in österreichische Sammelhandschriften aufgenommen.42 Am leichtesten würde dies verständlich, wenn Hartmann seinen späteren Roman nicht für den Hof der Zähringer im äußersten Südwesten, sondern für Oberschwaben geschaffen hätte, wo die Herrschaft im späten 12. Jahrhundert von den Welfen an die Staufer übergeht. Teile des welfischen Erbes in Ostschwaben und Oberbayern fallen auch an die An36
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München, cgm 5199, gefunden in Meran, nach Karin Schneider. Gotische Schriften in deutscher Sprache I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300. Textband. Wiesbaden 1987, S. 99; Anfang 13. Jahrhundert, aber sprachlich „kaum eindeutig [zu] lokalisieren“ (keine Diphthongierung, kein ai für ei!). Ehem. Berlin, Mgq 1303,3, jetzt Krakau, gefunden in Admont, nach Thomas Klein. „Ermittlung, Darstellung und Deutung von Verbreitungstypen in der Handschriftenüberlieferung mittehochdeutscher Epik.“ In: Deutsche Handschriften 1100–1400. Hrsg. von Volker Honemann u. a. Tübingen 1988, S. 143, nach 1250, ostoberdeutsch, nicht als südbairisch festzulegen. Kremsmünster, Fragm. VI/175 (V), nach Klein (Anm. 37), S. 154 (nach Peter Wiesinger), um 1210/20, ostoberdeutsch. Aus Spital am Pyrhn, jetzt St. Paul, Stiftsbibliothek, nach Klein (Anm. 37), S. 153, kurz vor 1250, ostoberdeutsch; nach Christa Bertelsmeier-Kierst. „Zur ältesten Überlieferung des ‚Wigalois‘.“ ZfdA 121, 1992, S. 275–290, hier S. 286, (süd)ostbairisch (steirisch?). Wien, Cod. Vind. 14612 (weitere Teile anderswo), nach Bertelsmeier-Kierst (Anm. 39), S. 286, ca. 1220/30, (süd)ostbairisch (steirisch?). Vorau, Cod. 118A (F), nach Kapteyn (Wigalois, der Ritter mit dem Rade. Hrsg. von Johannes Marie Neele Kapteyn. Bonn 1926 [Rheinische Beiträge und Hülfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde 9]), S. 47*, sprachlich im Wesentlichen identisch mit der Kölner Handschrift A, die er ins Südbairische (Tirolische) versetzt. Nach Schneider (Anm. 36), S. 85, ist bei A aber eher an den bairischschwäbischen Grenzraum zu denken. Vgl. Knapp, Geschichte der Literatur in Österreich 1, S. 221, 544, 575 u. ö.
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dechs-Meranier, die vermutlichen Mäzene Wirnts von Grafenberg. Die Titularherzöge von Meranien (um Fiume) hatten aber auch reiche Besitzungen in der Oberpfalz, in Niederbayern, in Tirol, Krain, Friaul und Istrien, so dass wir für den möglichen Bestimmungsort des Wigalois eine reiche Auswahl haben. Das Herzogtum Österreich und die Ostalpenländer waren in jedem Falle aber nicht weit, wo der Wigalois denn auch rezipiert wurde.43 Iwein und Wigalois haben im Daniel von dem Stricker und in der Krone von Heinrich von dem Türlin ihre deutlichen Spuren hinterlassen. Dieses Quartett muss dann auch die ganze Beweislast für Backes Behauptung tragen, dass (vor ca. 1250) „man sich entgegen Scherers Behauptung in Österreich sehr wohl für die moderne Romanliteratur der Zeit interessierte“ und „sich der Literaturaustausch zwischen dem Südwesten und dem Südosten außerordentlich rasch vollzog“.44 Das Argument scheint schwach, wenn man bedenkt, dass wir aus dem deutschen Sprachraum bis ca. 1250 mindestens zwanzig längere Texte erhalten haben, die man der Höfischen Epik zurechnen kann. Vor allem bleibt als Tatsache bestehen, dass in der klassischen Zeit in ‚Österreich‘ nichts dergleichen entstanden ist. Ob der Stricker den Daniel hierzulande produziert hat, kann auch nicht gesichert werden. Bleibt die Krone, die schon von der Verwertung reichsten französischen Vorlagenmaterials her eine totale Sonderstellung einnimmt. Allerdings hat Backes doch noch einen Trumpf im Ärmel: den Codex 857 der Stiftsbibliothek von St. Gallen. Er ist paläographisch auf das zweite Viertel des 13. Jahrhunderts, kunsthistorisch auf ca. 1260 festzulegen. Die Schreibsprache weist am ehesten auf Südtirol. Der Codex vereinigte im ursprünglichen Zustand Parzival, Nibelungenlied, Nibelungenklage, Karl den Großen, Willehalm, 5 Strophen Friedrichs von Sonnenburg, Kindheit Jesu, Himmelfahrt Mariä.45 Wenn wir von der lyrischen Ein43 44
45
Vgl. ebd., S. 329, 511, 544–548, 554–558. Backes (Anm. 31), S. 26. Wenn Backes, S. 19, auch noch ein Tristan-Fragment erwähnt, welches im 15. Jh. im Vinschgau als Vorsatzblatt verwendet wurde, muss sie selbst zugeben, dass es sich um eine alemannische Hs. handelte. Die S. 25 erwähnte Prager Hs. von Konrad Flecks Flore und Blanschflur aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts wird zwar einfach als „österreichisch“ eingestuft. Dabei beruft sich Backes aber nur auf Peter Ganz in 2VL, Sp. 744, wo es nur heißt: „bair.-österr.“! Vgl. Michael Stolz. „Der Codex Sangallensis – Konturen einer bedeutenden mittelhochdeutschen Epenhandschrift.“ In: Sankt Galler Nibelungenhandschrift (Cod. Sang. 857). Hrsg. von der Stiftsbibliothek St. Gallen und dem Basler Parzival-Projekt. Digitalfaksimile (Codices Electronici Sangallenses 1).
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lage absehen, haben wir nur größere epische Stücke vor uns, die sich im Übrigen aber gattungsmäßig nicht auf einer Ebene befinden, wenn wir die üblichen Maßstäbe anlegen. Doch die ersten fünf Texte lassen sich in eine Sukzession historischer Chronologie bringen, wenn man nach damaligen Vorstellungen König Artus und den Nibelungenuntergang ins 5. Jahrhundert, Kaiser Karl und Ludwig ins 8./9. Jahrhundert setzt. Die neutestamentlichen Ereignisse sollten allerdings zu Anfang stehen. Für historische Epen müssen freilich alle Stücke gegolten haben. Gleichgültig ob Ulrich von dieser Textsammlung irgendwie Wind bekommen haben könnte oder nicht, kann an seiner Kenntnis des Parzival und des Willehalm kein Zweifel bestehen, denn er nennt aus diesem Arofel von Persia, aus jenem Parzival, Gawan und Ither. Die Person Parzivals für sich allein war natürlich damals zu prominent, als dass man daraus auf Kenntnis des Romans schließen könnte. Doch die Form der beiden zuletzt genannten Namen, insbesondere das durch den Reim gesicherte an in Gawan deutet auf Wolfram, da Hartmann, Heinrich von dem Türlin und andere Gawein haben. Im Übrigen hat sich inzwischen offenbar so etwas wie eine ritterlich-höfische Heldengalerie herausgebildet. In der Krone (V. 25861 ff.), im Welschen Gast Thomasins von Zerkläre und im Frauendienst gehören Parzival, Gawein, Lanzelet, Erec, Iwein, Kalocreant, Segremors und Artus gleicherweise dazu. Tristan zählt für Heinrich offenbar nicht zum Artuskreis, wohl aber für Eilhart von Oberge, den Verfasser des ältesten erhaltenen Tristanromans, dessen Beliebtheit auch von Gottfried nicht ernstlich in Frage gestellt werden konnte. Hier haben Ulrich und Thomasin wohl angeschlossen. Eilhart verwendet die Namensform Tristrant, Ulrich Tristram oder Tristran, Thomasin je nach Lesart der Handschriften V. 1051 (im Dativ) Tristande, Tristrande, Tristiande.46 Das weist nicht auf Gottfried. Wie eng vertraut die beiden Autoren aber mit Eilharts Werk gewesen sind, geht daraus auch nicht hervor. Dasselbe gilt für Ulrich von Zatzikhofen und Hartmann von Aue, obwohl bei diesem wenig Zweifel an seiner Prominenz angebracht erscheint. Wer aber überall fehlt, ist Wigalois. Das könnte aber damit zu tun haben, dass Wigalois nicht mehr der ersten Generation der Tafelritter und des Königs Artus, sondern schon der folgenden angehört. Bei Heinrich, der Wirnts Roman kennt und sogar nennt, ist dies aus dem Zusammenhang der Stelle ohnehin klar. Aber auch für Thomasin
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Thomasin von Zerclaere. Der welsche Gast. Hrsg. von F. W. von Kries, 4 Bde. Göppingen 1984/85 (GAG 425), V. 1663 (= 1051 der alten Ausgabe).
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und Ulrich könnte ein ähnliches Kriterium gegolten haben. Wäre Wigalois allerdings unter Ulrichs Publikum als Held in aller Munde gewesen, hätte man trotz allem erwarten dürfen, dass Ulrich-Artus ihn doch als Übernamen für einen seiner Turnierpartner aus dem zeitgenössischen Landadel ausgewählt hätte. Ob Parzival, Gawan, Lanzelet, Erec, Iwein, Kalocreant, Segremors und Artus im Frauendienst mehr bedeuten als Chiffren für bedeutende ritterliche Kämpfer und beim Publikum weitere Assoziationen mit ihrem romanhaften Schicksal wecken sollen, scheint fraglich. Anders der auch in dieser Reihe stehende Tristram. Aus dem Tristanroman wird immerhin die Verkleidung als Aussätziger in einer Partie des Frauendienstes als Motiv des autobiographisch erzählten Lebens verwendet.47 Aber Tristan glänzt da gerade nicht als Ritter. Noch weniger überzeugt die These, dass die beiden Minnedienste Ulrichs für die beiden aufeinander folgenden Minnedamen die Zweiteiligkeit des Artusromans nachahmen.48 Man braucht nicht gleich wie Helmut Birkhan die Gültigkeit des Doppelwegmodells für den Artusroman überhaupt in Frage zu stellen,49 um zu sehen, dass es im Frauendienst keine korrespondierenden, aber gesteigerten Bewährungsaventüren des Helden in den beiden Minnediensten, keine Insuffizienz des Helden im Ergebnis der ersten Aventürenreihe, keine irgendwie schuldhafte Krise des Helden, sondern nur die ‚Untat‘ der ersten Minnedame gibt. In des Strickers Daniel und in Heinrichs Krone kommen jene Strukturmerkmale des Erec und des Iwein Hartmanns von Aue zwar auch nicht mehr vor, doch auch die Minne bildet keineswegs die Klammer zwischen den beiden Handlungsteilen, die man noch als Rest des alten arthurischen Doppelwegs verbuchen könnte. Im Daniel spielt die Minne überhaupt keine tragende Rolle, und in der Krone wird sie seltsam gezähmt. Wenn Artus im Daniel im Gegensatz zu Hartmanns Romanen eine aktive kriegerische Rolle spielt, so hat dies gewiss mit der Turnierfahrt des Britenkönigs im Frauendienst auch nichts zu tun. Ulrich nennt wohl nicht zufällig keinen Romanhelden namens Daniel. Er kennt den ebenso tapferen wie gewitzten, ingeniösen ‚redresseur des torts‘ gar nicht oder will ihn nicht kennen.
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Vgl. zu dieser Parallele den Beitrag von Liebertz-Grün im vorliegenden Band, S. 150 f. So Hausner, „Überlegungen zur Struktur“. Vgl. auch den Beitrag von Bleumer im vorliegenden Band, S. 383–387. Birkhan, „Die literarische Situation in Österreich um 1250“, S. 172.
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Die Gemeinsamkeiten mit der Krone reichen auch nicht weit. Das große Interesse der neueren Forschung50 an diesem riesigen Versroman von ca. 30 000 Reimpaarversen steht überhaupt im auffallenden Gegensatz zur geringen Sensation, welche er offenbar bei der Mit- und Nachwelt gemacht hat. Heinrich von dem Türlin, ein klerikal gebildeter Berufsdichter aus dem Ostalpenraum, eher aus Tirol als aus Kärnten, versucht hier im dritten oder vierten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts aus unzähligen Motiven der vorangehenden deutschen und französischen Artusromane mit eigenen Zutaten eine edelsteinbesetzte ‚Krone‘ aller Abenteuer, eine geradezu enzyklopädische summa adventurarum, zu schmieden. Erec, Iwein, Parzival, Tristan kennt und benützt er, aber auch schon Daniel, Lanzelet und Wigalois, wobei er den Rückgriff auf den Roman vom Stricker wohl nur mit dem Pleier teilt, einem vermutlich steirischen Romancier aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts.51 Wirklich stupend, ja geradezu sensationell ist die Zahl der französischen Texte, die in der Krone ihre Spuren hinterlassen haben, etwa ein Dutzend Romane von den Werken Chrétiens von Troyes bis zum großen LancelotGraal-Prosazyklus. Das hätte einen Schub westlichen Einflusses bedeuten können, ist aber durch die geringe Wirkung der Krone weitgehend verpufft. Die vom Leser kaum überschaubare, aber doch einigermaßen kunstvoll geordnete Masse der Aventüren schwankt zwischen frei schwebender Fiktionalität, rationalisiertem Zauberwesen, spöttischer Hofsatire und säkularem Heilsoptimismus. Die zentrale Botschaft, wenn es denn eine gibt, scheint die Propaganda für die ewige Gültigkeit einer 50
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Bibliographie in der zweibändigen Ausgabe von Fritz Peter Knapp und Manuela Niesner [1], Tübingen 2000 (ATB 112) und Alfred Ebenbauer und Florian Kragl [2], Tübingen 2005 (ATB 118). An neueren größeren Arbeiten seien hier nur erwähnt: Hartmut Bleumer. Die ‚Crône‘ Heinrichs von dem Türlin. Form-Erfahrung und Konzeption eines späten Artusromans. Tübingen 1997 (MTU 112); Thomas Gutwald. Schwank und Artushof. Komik unter der Bedingung höfischer Interaktion in der ‚Crône‘, des Heinrich von dem Türlin. Frankfurt a. M. u. a. 2000 (Mikrokosmos 55); Johannes Keller. Diu Crône Heinrichs von dem Türlin: Wunderketten, Gral und Tod. Bern u. a. 1997; Matthias Meyer. Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts. Heidelberg 1994 (GRM Beihefte 12); Annegret Wagner-Harken. Märchenelemente und ihre Funktion in der Crône Heinrichs von dem Türlin. Bern u. a. 1995; Peter Stein. Integration – Variation – Destruktion. Die ‚Crône‘ Heinrichs von dem Türlin innerhalb der Gattungsgeschichte des deutschen Artusromans. Bern u. a. 2000; Nicola Kaminski. „Wâ ez sich êrste an vienc, Daz ist ein teil unkunt.“ Abgründiges Erzählen in der Krone Heinrichs von dem Türlin. Heidelberg 2005. Dazu vgl. Knapp, Geschichte der Literatur in Österreich 1, S. 558–567.
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ritterlichen, höfischen Adelsgesellschaft mit ihren weltlichen moralischen Werten unter Ausschluss besonderer religiöser Ansprüche zu sein. Deshalb wird auch der Gral auf die Ebene aller übrigen Artusaventüren herabgestuft und radikal entzaubert. Den Anspruch der Laienemanzipation angesichts der wieder erstarkenden kirchlichen inneren Mission teilt offenkundig der Liechtensteiner mit dem Türliner, der auch häufig zu Turnieren blasen lässt. Doch die Minnewerbungen des kühnen Betrügers und Verführers Gasoein wie des nahezu untadeligen Superhelden Gawein münden jeweils in eine nicht ganz freiwillige Ehe. Gawein als Gatte müsste als gattungsstörendes Malheur gelten, wenn er nicht auch damit zur gesellschaftlichen Stabilität des Artushofes beitrüge. Irgendwie scheinen die beiden Autoren Ulrich und Heinrich doch an einem Strang zu ziehen. Aber das mag ein gemeinsamer Zug der Zeit sein und sagt nichts über eine direkte literarische Beziehung aus.
9. Heldenepik Bleibt als ganz wesentliches Merkmal der literarischen Landschaft rund um Ulrich von Liechtenstein die Heldenepik. Entgegen der Behauptung von Martina Backes sind nämlich der mittlere Donauraum zwischen Passau und Wien sowie der Ostalpenraum auf dem Felde der Epik doch namentlich von dieser Gattung geprägt. Mit der Überlieferung kann man hier allerdings schwer argumentieren, da die Gattung vor allem von der mündlichen Vermittlung lebt und recht spät in die Schriftlichkeit eintritt – mit Ausnahme des exzeptionellen Falles des Nibelungenliedes. Handschrift B, den Sangallensis 857, haben wir schon erwähnt. Hs. C in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe, Codex Donaueschingen 63, dürfte in etwa dieselbe räumliche und zeitliche Herkunft haben.52 Mit diesen frühen Aufzeichnungen kann von den anderen Epen nur die einsame Strophe aus dem Eckenlied in der lateinischen Carmina-BuranaHandschrift von ca. 1230 konkurrieren.53 Die übrigen vollständigen Nibelungenhandschriften sind bekanntlich auch beträchtlich jünger. Schon A stammt erst aus dem späten 13. Jahrhundert, vielleicht aus dem Tirolischen. Etwas westlicher und etwas später dürfte Hs. J (Berlin, Mgf 474) anzusetzen sein. Damit sind wir in der Zeit der Riedegger Handschrift R vom Ende des 13. Jahrhunderts (Berlin, Mgf 1062) und 52 53
Dazu vgl. ebd., S. 305 f. Dazu vgl. ebd., S. 410 f.
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der Windhagenschen Handschrift W vom Anfang des 14. Jahrhunderts (Cod. Vind. 2779), beide aus Niederösterreich, der ältesten Handschriften des Doppelepos Dietrichs Flucht und Rabenschlacht, angelangt.54 Dann finden wir diese Texte erst wieder im Heidelberger Codex (Cpg 314) von 1447 und im Ambraser Heldenbuch von 1504/15. Dieser ganz späte, im Auftrag Kaiser Maximilians in Tirol geschriebene Codex enthält die reichste Sammlung alter Heldenepik, eine Sammlung, die vermutlich direkt auf ein verlorenes Heldenbuch an der Etsch aus dem 13. Jahrhundert zurückgeht. Sie umfasst Dietrichs Flucht und Rabenschlacht, Nibelungenlied und Klage, die Kudrun, Biterolf und Dietleib, Ortnit (Hs. A), Wolfdietrich (Fassung A). Davon sind Kudrun, Biterolf und Dietleib, Wolfdietrich (Fassung A) überhaupt nur hier überliefert.55 Wolfdietrich A sollte wohl zusammen mit dem Ortnit auch in Hs. W eingetragen werden, doch zeugt hier davon nur ein frei gelassener Raum im Codex. Nicht ins Ambraser Heldenbuch Eingang gefunden haben die vermutlich ältesten Fassungen der Heldenepen Ecke, Laurin und Rosengarten von Worms, obwohl sie am ehesten auch aus dem Ostalpenraum stammen. Die relativ reiche schriftliche Überlieferung weist hier größtenteils in andere Regionen, reicht aber auch – abgesehen von der einen bereits genannten Strophe aus dem Ecke – nicht ins 13. Jahrhundert zurück.56 Diese verwirrende Situation ist (für die sogenannte Dietrichepik im engeren Sinne) von Joachim Heinzle am besten dokumentiert worden, hat ihn aber zu fast totaler Skepsis veranlasst, was Alter, Entstehungsort und ‚Urfassung‘ betrifft.57 Wenn man stärker mit oraler Transmission rechnet, öffnet sich zwar der Raum zu Spekulationen noch weiter, jene Situation wird jedoch zumindest theoretisch mit einem Schlage begreiflich. Es dürfte sich auch empfehlen, die strikte Trennung von ‚historischer Dietrichepik‘ und ‚aventiurehafter Dietrichepik‘58 aufzugeben. Jede Heldenepik galt im Mittelalter als Vorzeitkunde, also Geschichtsüberlieferung des illiteraten Kriegeradels. Dass wir den offenbar stark verdunkelten und verwirrten historischen Hintergrund bei der ‚aventiurehaften Dietrichepik‘ kaum noch aufzuhellen vermögen, sagt für die zeitgenös-
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58
Dazu vgl. ebd., S. 221, 322 f. Dazu vgl. ebd., S. 501 f. Dazu vgl. ebd., S. 502. Zuletzt zusammenfassend Joachim Heinzle. Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik. Berlin 1999. Zu dieser einige wichtige Beiträge in: Fünftes Pöchlarner Heldenliedgespräch. Aventiuremärchenhafte Dietrichepik. Hrsg. von Klaus Zatloukal. Wien 2000.
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sische Sicht wenig.59 Freilich geht es auch aus dieser Sicht im Ecke, Laurin und im Rosengarten nur um die Konfrontation von Einzelkämpfern, um persönliche Aventüren eben, dagegen in Dietrichs Flucht, der Rabenschlacht sowie in Ortnit und Wolfdietrich, die man ruhig zur Welt der Dietrichepik rechnen darf, obwohl sie frühere Ereignisse schildern, vorwiegend oder zumindest auch um das Schicksal von Ländern, um außen- und innenpolitische Konflikte. Im Blick auf die lehnsrechtliche Problematik, die im Frauendienst im Hintergrund steht, könnte der Exkurs des Erzählers V. 7949–8018 in Dietrichs Flucht von besonderem Interesse sein.60 Dieser spricht direkt zu den grâven, vrîen, dienestman („Grafen, Edelfreien, Ministerialen“) und klagt in ihrem Namen die hôhen vürsten an, die den Gefolgschaftsdienst ihrer Lehnsleute nicht entsprechend belohnen, sondern ihn erzwingen. Dieser unbedankte betwungen dienst besteht in Hoffahrt und in Heerfahrt, die beide mit beträchtlichem materiellem Aufwand verbunden sind und in Armut führen können. Aber auch direkte Übergriffe leisten sich die Fürsten. Sie übergeben die Erbburgen ihrer Vasallen an Fremde. Wer sich wehrt, wird erschlagen. Diese Fürsten verflucht der Erzähler, den grâven, vrîen, dienstman wünscht er dagegen Gottes Segen zur Linderung ihres Leides. Die Vorwürfe treffen aus der Sicht der österreichischen und steirischen Landherren auf Albrecht I. (1282–1308) zu, weshalb man den Exkurs auf das ausgehende 13. Jahrhundert datiert hat. Dann wäre dieser für die Zeit Ulrichs nicht von Belang. Aber dieselben Vorwürfe konnten durchaus auch gegen Otakar von Böhmen oder schon gegen Friedrich den Streitbaren zu bestimmten Zeiten ihrer Regierung erhoben werden. Den betwungen dienst beklagt auf ganz ähnliche Weise, wie erwähnt, bereits Bruder Wernher zur Zeit des letzten Babenbergers (Spruch 5), um dann hingegen nach dessen Tod zu behaupten, grâven, vrîen, dienestman, ritter und knehte seien für ihre Hilfe stets entsprechend belohnt worden, was nun der König von Böhmen ebenso halten solle (Spruch 48). Selbst die Übergabe von Erbfesten an Fremde hat es schon vor 1246, ja wohl schon immer gegeben, wenn man unter den genannten gesten nicht nur Landfremde verstehen will, wie es 59
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Vgl. Fritz Peter Knapp. Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik (II). Zehn neue Studien und ein Vorwort. Heidelberg 2005 (Schriften der philosophischhistorischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 35), S. 39–59. Zum Folgenden vgl. Knapp, Geschichte der Literatur in Österreich 1, S. 322. Es gibt inzwischen eine neue Ausgabe: Dietrichs Flucht. Textkritische Ausgabe. Hrsg. von Elisabeth Lienert. Tübingen 2003. Zur Überlieferung vgl. auch Renate Achenbach. Handschriften und ihre Texte. Dietrichs Flucht und Rabenschlacht im Spannungsfeld von Überlieferung und Textkritik. Frankfurt a. M. u. a. 2004.
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die alemannischen Gefolgsleute der Habsburger, aber auch bereits die böhmischen Vasallen Otakars waren. Nicht zur Zeit Albrechts passt übrigens der Vorwurf der erzwungenen Hoffahrt, da die Landherren im ausgehenden 13. Jahrhundert freiwillig und im eigenen Interesse eine Art Hofadel gebildet haben. Die viel zitierte Stelle zielt also kaum auf einmalige politische Ereignisse. Dietrichs Flucht kann also durchaus vor der Regierungszeit Albrechts I. entstanden sein; die Rabenschlacht ohnehin, da sie vom Verfasser von Dietrichs Flucht bereits als Quelle benutzt wurde. Trotz dieser Abhängigkeit sind die Unterschiede zwischen den beiden Bestandteilen des Doppelepos groß. Das beginnt damit, dass nur der ältere Teil einige Helden ausdrücklich in Österreich lokalisiert: Astolt von Mautern, Rudwin von Traismauer, Dietmar von Wien. Sogar der berühmte Markgraf Rüdiger hat in Dietrichs Flucht seinen Beinamen von Bechelâren eingebüßt. Die Rabenschlacht, ein strophisches Heldenepos,61 erzählt von Dietrichs (vorläufiger) Wiedereroberung seines Reiches in Italien. Er ist von seinem Onkel Ermrich vertrieben worden – davon erzählt Dietrichs Flucht – und kehrt mit Hilfe von Truppen siegreich zurück, die ihm der Hunnenkönig Etzel zur Verfügung gestellt hat. Er nimmt auch Etzels junge Söhne auf deren Bitten hin mit und verspricht sie zu behüten. Sie kämpfen jedoch auf eigene Faust und kommen dabei um. Dietrich von Bern übt dafür zwar Rache, liefert sich aber dann der Strafe des trauernden Vaters aus. Dieser verfährt milde mit ihm. Doch gibt Dietrich sein Reich wieder auf und bleibt bei Etzel. Dietrichs Flucht62 bietet eine doppelte Variation des Schemas von Dietrichs Exil und Rückkehrversuch, wobei wiederum die gegenseitige unverbrüchliche Lehnstreue von Fürst und hohen Vasallen im Mittelpunkt steht. Diese wollen mit eigenem Vermögen dem insolventen Herrscher beispringen, was aber indirekt dessen Herrschaftsverzicht zur Folge hat, da Dietrich gegen den Rat seiner übrigen Mannen für die Freilassung der sieben Gefolgsleute sein Land und seine Bewohner dem Feind preisgibt, d. h. seine Verpflichtung zum Schutz der Schwachen gegen innere und äußere Feinde gröblich verletzt. Das wird nicht etwa getadelt, sondern als notwendige Konsequenz echter Fürstentreue hingestellt. Dietrich habe diese alte Tugend in neuen üblen Zeiten bewahrt, in denen die bösen Gegenspieler, die genau diese Tugend nicht kennen, den Sieg davontragen. Die Sicht der Dinge allein aus dem Blickwinkel der Landherren steht im Gegensatz zum kirchlich 61 62
Vgl. Knapp, Geschichte der Literatur in Österreich 1, S. 323 f. Dazu vgl. ebd., S. 325 f.
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geprägten Herrschaftsideal der lateinischen Historiographie und des Strickers (s. o.), stimmt aber wohl weitgehend mit der Meinung des Liechtensteiners überein. Wahre Gefolgschaftstreue demonstriert auch Berchtung von Meran in Wolfdietrich A,63 der in mündlichem Vortrag auch Ulrich zu Ohren gekommen sein könnte. Der Beiname des Vasallen weist auf Meranien, das istrisch-dalmatinische Gebiet um Fiume. Bis Istrien erstreckt sich im Süden auch das Itinerar der Turnierfahrten Ulrichs, wie wir oben gesehen haben. Bis dorthin reichten die umfangreicheren Besitzungen deutschsprachiger Adeliger wie der Andechser, Görzer etc. Im Kampf um sein usurpiertes Erbe findet Wolfdietrich Zuflucht bei seinem Lehnsmann auf Burg Lilienporte. In einer großen Schlacht fallen alle seine Mannen bis auf Berchtung und zehn von dessen 16 Söhnen. Später geraten die zehn überlebenden zusammen mit ihrem Vater in die Gefangenschaft der Feinde. Wolfdietrich leidet schwer unter seiner Verantwortung für die Vasallen. Er bietet Berchtung sogar sein Leben für das seiner Söhne an. Davon will dieser natürlich nichts wissen. Ihn und seine Söhne zu befreien ist jedoch fortan für den Helden heilige Pflicht. Für den Alten kommt freilich jede Hilfe zu spät. Er stirbt in der Gefangenschaft. Seine Söhne aber werden mit reicher Herrschaft belohnt. Ein Berührungspunkt zwischen diesen Heldenepen und dem Frauendienst könnte auch in der literarisch dargestellten Gefühlskultur liegen.64 Als Ulrich sich von seiner Minneherrin übertölpelt und ausgestoßen fühlt, wird er schier verrückt, bricht in lautes Geschrei aus und will sich – erfolglos – ertränken (1269–1276). Der Autor der Rabenschlacht gestaltet Dietrichs Klage um die drei Königssöhne zum wahren Exzess, so als wollte er die Nibelungenklage noch überbieten. Dietrich küsst unzählige Male ihre Wunden, schlägt sich auf Augen, Mund und Herz, verflucht seine Geburt, beißt sich in Arme und Hände, reißt sich das Haar aus, bittet Gott um Unheil und Tod, da der Teufel mit ihm seinen Spott getrieben habe (Str. 882–900). Nicht viel nach steht ihm Wolfdietrich in seiner
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Dazu vgl. ebd., S. 507–512. Diese Fassung fehlt in der inzwischen erschienenen Neuausgabe: Ortnit und Wolfdietrich D. Kritischer Text nach Ms. Carm. der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main. Hrsg. von Walter Kofler. Stuttgart 2001. Einige wichtige Beiträge zu den beiden Epen finden sich in: Siebentes Pöchlarner Heldenliedgespräch: Mittelhochdeutsche Heldendichtung außerhalb des Nibelungen- und Dietrichkreises (Kudrun, Ortnit, Waltharius, Wolfdietriche). Hrsg. von Klaus Zatloukal. Wien 2003. Ausführlicher zur Emotionalität Jutta Eming im vorliegenden Band.
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Klage an den Leichen der Söhne Berchtungs (Str. 360–366). Aber über verlorene Liebe zu weinen wäre allen diesen Helden absurd erschienen. Zudem geht es in diesen Heldenepen nur um Kämpfe auf Leben und Tod vornehmlich im Rahmen von Massenschlachten. Doch das Gattungsgesetz wird, wie wir gesehen haben, auch durchbrochen. Ecke und Laurin bieten Aventüren einzelner Helden, und der Rosengarten zu Worms stellt die Helden des südöstlichen Dietrichkreises den Helden des rheinischen Nibelungenkreises in Reihenkämpfen gegenüber, die den Charakter eines Turniers tragen, auch wenn sie gelegentlich tödlich enden können.65 Damit kämen wir in die Nähe des Frauendienstes, wo die zeitgenössischen Kämpfer allerdings nur Übernamen aus dem Artuskreis tragen. Vor allem aber stellt der Rosengarten den Sinn dieses Turniers durchaus in Frage. Die – im Nibelungenlied positiver dargestellte – Königin Kriemhild, hier im Sinne der mündlichen Tradition ziemlich eingeschwärzt, veranstaltet das Turnier aus bloßer Freude am Blutvergießen und erntet eine gehörige Blamage. Wiederum ist die Wendung gegen Frau und Minne evident. Wenn die Fassung A des Rosengartens, wie sich zumindest vermuten lässt, in der Mitte des 13. Jahrhunderts im Ostenalpenraum (Steiermark?) entstanden sein sollte, so stünde er dem Frauendienst eher antithetisch gegenüber.66 Mit anderer, nicht mehr bedenklicher, sondern rein heldischer Motivation wird der Reihenkampf mit den Wormsern im zweiten Teil des seltsamen, zwischen den Gattungen changierenden Epos von Biterolf und Dietleib variiert dargestellt. Franz Viktor Spechtler will diese intertextuelle Spielerei mit Heldensagenmotiven, romanhafter Erzählweise und zeitgeschichtlichen Anspielungen dem Frauendienst unmittelbar an die Seite stellen und mit einem identischen steirischen Publikum rechnen, welches solche literarische Experimente zu schätzen wusste.67 Der Be-
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Dazu vgl. Knapp, Geschichte der Literatur in Österreich 1, S. 520–524. – Eine neuere Arbeit zum Rosengarten von Worms (Max Siller. „Wo lag Worms im ‚Rosengarten zu Worms‘? Zu den sagengeschichtlichen Grundlagen eines ‚aventiurehaften‘ Dietrichepos.“ PBB 125, 2003, S. 36–56) versucht zu erweisen, dass mit Worms sagengeschichtlich das italienische Bormio an der Grenze zu Südtirol gemeint sei, das deutsch Wurmez, Wormez hieß. Ob sich diese überaus kühne These durchsetzen wird, scheint fraglich. Die Herausgeber des vorliegenden Bandes weisen mich darauf hin, dass der zum Krieger zurück mutierende Mönch Ilsan im Rosengarten zu Worms eine Parallele in dem als Mönch verkleideten Turniergegner auf Ulrichs Venusfahrt (nämlich Zacheus von Himelberg, 616–619, 636–641) haben könnte. Der Gedanke ist reizvoll, aber sehr spekulativ. Spechtler, „Literarische Themen und Formen“.
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zug auf die Steiermark liegt tatsächlich offen zutage. Am Ende des Werks werden Biterolf und sein Sohn Dietleib gemeinsam von Etzel mit dem Lande Steiermark beschenkt. Sie werden damit Fürsten von königlicher Stellung. Das Land wird als besonders ertragreich und als Sitz so vieler edler Ritter und Ministerialen gepriesen (V. 13308–31). Man hat in der älteren Forschung versucht, diese Partie genau auf die Jahre 1257–1259 zu datieren. Beweisen lässt sich das nicht, und Spechtler beharrt auch nicht darauf. Aber ungefähr um diese Zeit muss der Text, in dem sich das steirische Landesbewusstsein so stark wie kaum anderswo artikuliert,68 wohl entstanden sein, gewiss nach dem ältesten Rosengarten, der damals schwerlich schon verschriftlicht war. Spechtler weist auch darauf hin, dass der Biterolf wie der Frauendienst gattungsuntypisch in Reimpaarversen abgefasst, andererseits aber in Aventüren eingeteilt ist.69 Aber keiner der beiden Texte muss das vom anderen übernommen haben. Reimpaarverse gibt es in der Heldenepik seit der Nibelungenklage und dann auch in Dietrichs Flucht. Die Einteilung in Aventüren geht schon vom Nibelungenlied aus. Zudem sind die Reimpaarverse des Frauendienstes zu achtversigen Strophen gebündelt, und die Aventürengliederung wird nicht ganz durchgezogen. Und inhaltlich bleibt das zentrale Thema des Frauendienstes dem Biterolf ebenso fern wie den anderen Heldenepen. Kaum Berührungspunkte weist er mit den Heldenepen Kudrun (Donauraum? Mitte des 13. Jahrhunderts?) und Walther und Hildegund (Steiermark? 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts?) auf. So bleibt die Vergleichsbilanz im thematischen Bereich mit dieser Gattung insgesamt ziemlich negativ. Poetologisch scheint dagegen eine gewisse Nähe spürbar, wie auch Helmut Birkhan vermerkt: Heldenepik war heroisierte, sagenmäßig interpretierte Geschichtserinnerung. „Geschichte“ sollte auch der „Frauendienst“ sein. Die Namen der Turnierteilnehmer, die Zahl der verstochenen Lanzen, der „originale“ Prosawortlaut des Einladungsschreibens zur Venusfahrt […], all das sollte authentisch und keineswegs „fiktional“ wirken. Es ist also falsch, den „Frauendienst“ einen „Minneroman“ zu
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Zu diesem Landesbewusstsein und seiner literarischen Artikulation zusammenfassend Fritz Peter Knapp. „Literarische Interessenbildung im Kreise österreichischer und steirischer Landherren zur Zeit des Interregnums.“ In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. Hrsg. von Joachim Heinzle. Stuttgart, Weimar 1993, S. 106–119. Auf weitere Hinweise auf diese Arbeit habe ich verzichtet, da das meiste davon auch in meiner Literaturgeschichte zu finden ist. Spechtler, „Literarische Themen und Formen“, S. 221.
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nennen: das bis auf die paarweise gereimten Büchlein und Briefe durchwegs strophisch-sangbare Werk war offensichtlich ein „Liebeshelden-Epos“, das wahrscheinlich auch entsprechend vorgetragen wurde […].70
Das trifft mit meinen eigenen Überlegungen zusammen. Obwohl die ganze Autobiographie mit den grotesken Szenen des Küchen-, Apotheken- und Medizinalhumors, mit ihrer Transvestitenkomik, dem Leben unter den Aussätzigen, der Tageliedparodie der Kemenatenszene, dem pervertierten Reliquienkult etc. frei erfunden sein dürfte, angefertigt nach literarischen Mustern, soll dennoch alles real vorstellbar sein: Das Wunderbare des Höfischen Romans bleibt ausgeschlossen. Der Frauendienst soll historia im mittelalterlichen Sinne sein, also historisches und historisch mögliches Geschehen abbilden, bei dem eben auch reale Personen „mitspielen“ können.71
10. Fazit Das von vielen Forschern gesuchte und dementsprechend auch gefundene raffinierte Spiel der Fiktionalität mit dem zeitgenössischen Publikum, welches angeblich dieses Spiel unmittelbar durchschauen sollte, findet hier in Wahrheit nicht statt, sondern vielmehr ein Spiel zur Vertuschung der Fiktion. Gerade der Anschluss an die okzitanisch-oberitalienischen Vidas und Razos72 – vielleicht die wichtigste gattungsmäßige Anregung, die allerdings aus unserem hier gesteckten Rahmen herausfällt – spricht nicht dagegen, da diese in gleicher Weise aus den lyrischen Texten Pseudohistorie herausziehen und mit wirklich Geschehenem mischen. Das literarische Experiment des Frauendienstes ist ohne Zweifel in seiner Zeit einmalig, nichtsdestoweniger ohne die damalige umgebende literarische Landschaft gar nicht denkbar. Aus deren Anschauung und Kenntnis ist es erwachsen. Es schließt an die Dichtung der klassischen und nachklassischen Zeit an, und zwar an nahezu alle literarischen Gattungen. Dabei greift es vornehmlich zu heimischen Produkten, aber durchaus auch zu auswärtigen, doch hier vor allem zu solchen, die nachweislich im Lebensraum des Autors von Oberitalien bis Niederösterreich, von Tirol bis Steier, greifbar waren. 70 71
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Birkhan, „Die literarische Situation in Österreich um 1250“, S. 170 f. Knapp, Geschichte der Literatur in Österreich 1, S. 490. Siehe aber die Überlegungen von Chinca und Bleumer im vorliegenden Band. Zum Einfluss der Vidas und Razos auf den Frauendienst vgl. im vorliegenden Band die Beiträge von Ackermann, S. 334 f., Chinca, S. 311–13, Bleumer, S. 387 f.
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IV. Systematische Forschungsaspekte
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1. Minne* Ambivalenzen, Intertextualität, Satire von U RSULA L IEBERTZ -G RÜN
1. Lektüremodell Über die Minnekonzeption Ulrichs von Liechtenstein ist schon sehr viel geschrieben worden. Seit Peters hat sich die These durchgesetzt, dass der Frauendienst Topoi des Minnesangs auserzählt.1 Dieser Konsens berechtigt, einmal stärker intertextuell anzusetzen und als Problemhorizont das minnethematische Umfeld zu skizzieren, um dann in einer konzentriert intertextuellen Lektüre die Minnediskurse des Frauendienstes zu beleuchten, die schwer zu entziffern sind.2 Keine paratextuellen Rahmungen, keine peritextuellen Elemente erleichtern den Zugang. Es spricht eine Ich-Grimasse, die im Sprechen sich selbst, alle anderen Figurenattrappen und Ich-Masken, Ort, Zeit, Namen, 57 Minnelieder, einen Leich, drei Büchlein, sieben Briefe und das alles umschließende maere erzeugt. Störstellen, rätselhafte Spuren und Indizien machen misstrauisch. Sich überlagernde Sprachschichten unterschiedlicher Diskurse sind mit zahlreichen intertextuellen Anspielungen, interrealen historischen Details vernetzt. Minne erscheint als Gerede, das durch variante Minnekonzeptionen endlos zerredet und zur Satire werden kann. Das Ich des Frauendienstes erfindet sich, seine Geschichte, die Textsorte der imaginären Autobiographie eines Minnesängers und zersetzt das Sprachmaterial der höfischen Literatur. Das in der Fiktion evozierte Geschichtsbild wird beglaubigt durch historisch bezeugte Namen. Die Historisierung wird andererseits selbst reflexiv als Projektionsfläche und zeitlich geschichteter Assoziationsraum in die Fiktion eingearbeitet.
*1 Zum Andenken an Ludwig Grün (10.1.1905 –11.7.1985) und Maria Grün, geb. Weis (27.1.1910–18.12.1997). 1 Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein. 2 Thomas Klinkert. „Zum Status von Intertextualität im Mittelalter: Tristan, Lancelot, Francesca da Rimini.“ Deutsches Dante-Jahrbuch 81, 2006, S. 27–69.
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In diesem Kapitel bietet nach einer Einführung in den Problemhorizont eine kulturgeschichtliche Lektüre einen Set komplementärer Analysen des satirischen Zerschreibens der Minnethematik. Abschließend wird in einem Gedankenspiel die Frage zur Diskussion gestellt: Ist der historisch bezeugte Politiker Ulrich von Liechtenstein der Autor dieses ersten deutschsprachigen Künstler-Ich-Romans?3
2. Problemhorizont Im magisch-mythischen Weltverständnis oraler Kulturen hat der Mensch keine je eigene Sexualität. Das Sprechen über libidinöse Energien entwickelt sich erst, wenn im Literalisierungsprozess die psychische und kognitive Verfasstheit des Menschen primär oraler Kulturen tiefgreifend verändert wird.4 Die westeuropäisch-nördlichen oralen Kulturen wurden jahrhundertelang von der lateinischen Literalität beeinflusst, bevor sie im Zuge der Christianisierung in die Dynamik ihres spezifischen Literalisierungsprozesses hineingerieten, der durch die Gegensätzlichkeit der in sie eindringenden griechisch-römischen paganen und jüdisch-christlichen Literalitäten und ihrer Diskurse über Sexualität geprägt wurde. Die Homöostase der Oralität dürfte einen allzu heftigen Kulturschock verhindert haben. Frühe Schriftzeugnisse geben darüber zwar keine Auskunft, aber sie bezeugen, dass das Deutungsschema, das spätantike und mittelalterliche Theologen auf die biblische Erzählung vom Sündenfall projiziert haben,5 durch Abwehrstrategien zunächst unschädlich gemacht wurde. 3
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Vgl. auch die Überlegungen zur Autorschaft von Ackermann im vorliegenden Band. Michel Foucault. Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen. Der Gebrauch der Lüste. Die Sorge um sich. Frankfurt a. M. 1977–1986; Jürgen Habermas. Theorie des kommunikativen Handelns I. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt a. M. 1985, S. 72–113; Walter J. Ong. Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987; Jan Assmann. Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992; Karen Gloy. Das Verständnis der Natur. Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens. München 1995, S. 31–72. Religion and Sexism. Images of Woman in the Jewish and Christian Traditions. Hrsg. von Rosemary Radford Ruether. New York 1974; Helen Schüngel-Straumann. „Von einer Frau nahm die Sünde ihren Anfang? Die alttestamentlichen Erzählungen von Paradies und Sündenfall und ihre Wirkungsgeschichte.“ In: Weiblichkeit in der Theologie. Verdrängung und Wiederkehr. Hrsg. von Elisabeth Moltmann-Wendel. Gütersloh 1988, S. 31–55.
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Dhuoda, die Schwiegertochter Wilhelms von Aquitanien, der im Willehalm-Roman Wolframs von Eschenbach fortlebt, begann am 30. November 841 mit der Niederschrift eines lateinischen Fürstenspiegels für ihren am 29. November 826 Erstgeborenen, nachdem sein Vater den Sohn als Geisel an seinen Gegner Karl den Kahlen geschickt hatte. Sie beantwortet ihre Leitfrage, wie es möglich sei, Gott und der Welt zu gefallen, indem sie die Lebensbedingungen ihres Sohnes und ihre eigene Situation stets mitbedenkt. Ihr Spiegel der Moralität spiegelt immer auch ihre eigene Persönlichkeit:6 Was soll ich mehr sagen? Deine Dhuoda ist immer da, um dich zu ermutigen, mein Sohn, und wenn ich einmal nicht mehr bin, das wird in der Zukunft der Fall sein, dann wirst du das kleine Buch der Moralität hier als ein Angedenken haben. Du wirst mich immer noch sehen können wie in einem Spiegel, indem du mich mit den Augen des Körpers und des Geistes liest. (S. 114–116)
Der vornehm Geborene soll sich diensteifrig um die Gunst der Höherstehenden, der Gleichrangigen, der weniger Vornehmen und Geringsten bemühen, so wird er von allen geliebt werden. Die Ehebeziehung wird als Vasallitätsverhältnis dargestellt. Der Ehegatte gewährt militärischen Schutz, sie bindet ihn durch Dienstleistungen an sich. Sie macht bei Juden und Christen Schulden, um ihn mit den Geldmitteln versorgen zu können, die seine militärischen Aktionen ermöglichen. Dhuoda besteht auf ihrem eigenen Kopf. Sie kritisiert die christliche Aufspaltung des Menschen in Körper und Geist und die Überordnung der Vernunft über die Sinnlichkeit mit Hilfe eines literarisch verfremdeten Ovidzitats. Sie plädiert für ein harmonisches Zusammenspiel, nicht für eine Über- und Unterordnung der beiden Naturen. Nach Auskunft der Gelehrten wird der Mensch zweimal geboren, einmal physisch, einmal geistig, aber die geistige Natur sei edler als die körperliche. Im Menschen kann keine der beiden Naturen ohne die andere bestehen. Und damit Körper und Geist harmonischer zusammenwirken, sagt jemand: ‚Mit ihnen und ohne sie können wir nicht leben.‘ Und obgleich dieses Zitat in seinem Kontext eine andere Bedeutung hat und obgleich es gewisse Gründe für diesen Bedeutungsunterschied gibt, wünsche ich, dass du dieses Zitat so verstehst, wie ich es benutzt habe. (S. 298)
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Ursula Liebertz-Grün. „Höfische Autorinnen“. In: Deutsche Literatur von Frauen. Bd. 1. Hrsg. von Gisela Brinker-Gabler. München 1988, S. 39–64. Dhuoda. Manuel pour mon fils. Introduction, texte critique, notes par Pierre Riché. Traduction par Bernard de Vregille et Claude Mondésert. Paris 1975. Deutsche Übersetzung von U. L.-G.
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Otfrid von Weißenburg erzählte in seinem Evangelienbuch, das er um 870 König Ludwig dem Deutschen, dem Mainzer Erzbischof Liutbert, dem Konstanzer Bischof Salomon und den St. Galler Mönchen Hartmut und Werinbert widmete, seine Version der Geschichte vom Sündenfall, die ihm, hätte er sie einige Jahrhunderte später niedergeschrieben, den Titel eines radikalen Feministen eingebracht hätte: Den Ungehorsam, den Apfeldiebstahl hätte Gott verziehen. Aber Adams Unaufrichtigkeit, sein Leugnen, sein Lügen, sein Versuch, die Schuld von sich abzuwälzen und der Frau in die Schuhe zu schieben, das war unverzeihlich!7 Der partielle Erfolg des Deutungsschemas lässt sich daran ablesen, dass die feudale Ehe- und Sexualpraxis im zwölften Jahrhundert nicht mehr als vorbildlich angesehen wurde.8 Zwar deutet nichts darauf hin, dass der südfranzösische Adel seine außerehelichen Sexualpraktiken Ende des elften, Anfang des zwölften Jahrhunderts verändert hätte, aber damals wurde in der südfranzösischen Adelskultur ein neuartiges Modell für die repräsentative Darstellung illegitimer Liebe entwickelt, die Minnekanzone. Einflussreiche Theologen lehrten, die Frau sei das Tor zur Hölle, die Verführerin und Verderberin des Mannes, geistig, physisch und moralisch minderwertig und zur Strafe der Herrschaft des Mannes unterworfen; caritas, die Liebe zu Gott, sei gut; amor, erotische Lust und Leidenschaft, die Liebe zum Weltlichen, sei eine unheilvolle Folge des Sündenfalls, durch die der Mensch sein Seelenheil verwirke. Im Schema der Minnekanzone dagegen erscheint die Frau als vollkommene Führerin des Mannes zur Tugend, als Herrin, welcher der Mann dient.9 Die Animalität der Unhöfischen fernab der Höfe gilt als verächtlich, die erotische Leidenschaft der Höfischen an den Höfen dagegen wird, wie es bereits Wilhelm IX. ausführt,10 als Ursache aller individuellen und gesellschaftlichen Tugenden gesehen; Lust wird erstrebt, aber meistens nicht erreicht. Der Mann sublimiert sein Leid zur Freude der 7
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Otfrid von Weißenburg. Evangelienbuch. Hrsg. von Ludwig Wolff. Tübingen 1962, II, 6, 1–46. Joachim Bumke. Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München 1986, S. 503–582. Wer vom Schema einer literarischen Gattung spricht, arbeitet mit einer idealtypischen Konstruktion, die der Individualität der Texte nicht adäquat sein kann und die sich heuristisch nur durch den Erkenntnisgewinn rechtfertigen lässt, den sie ermöglicht. Vgl. Alfred Pillet und Henry Carstens. Bibliographie der Troubadours. Halle a. d. Saale 1933. Nachdruck New York 1968 (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. Sonderreihe 3), 183,11. Im Folgenden abgekürzt zitiert als PC.
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Gesellschaft durch künstlerische Kreativität als Liedersänger und Dichterkomponist.11 Das Schema der Minnekanzone wurde an deutschsprachigen Höfen adaptiert, nicht dagegen das Gesellschaftsspiel mit der höfischen Liebe und die Fragespiele, in denen Männer und Frauen mit Scharfsinn und Witz Probleme der fingierten Liebe erörtern konnten.12 Herrscherinnen wie Ermengarde von Narbonne, Eleonore von Poitou, Marie de Champagne, Dichterkomponistinnen wie die Comtessa de Dia, die Epikerin Marie de France und die anonymen Sprecherinnen in den minnekasuistischen Publikumsdiskussionen haben den Diskurs im französischsprachigen Raum mitbestimmt.13 Im deutschsprachigen Raum sind sprachlich genial begabte Frauen wie Hadewjich und Mechthild von Magdeburg nicht als Minnesängerinnen, sondern als Mystikerinnen hervorgetreten. Sexualität erscheint in diesem Kulturkreis deshalb als monologischer Sprechakt des männlichen Geschlechts, was aber auch immer wieder bereits von den Zeitgenossen gebrochen wird. Gottfried von Straßburg, der in seinem Tristan14 das frauenfeindliche Deutungsschema der Sündenfallerzählung postpatriarchal dekonstruiert und Isolde als gleichrangige Geliebte Tristans und als berühmte Komponistin, Dichterin, Musikerin und Sängerin auftreten lässt, bezeichnet im Literaturexkurs die Minnesänger als Nachtigallen (V. 4749–4818). Indem er das grammatisch weibliche Geschlecht der nahtegalen markiert, diu von Hagenouwe, also wohl Reinmar den Alten, als ir aller leitefrouwe, diu von der Vogelweide, also Walther von der Vogelweide, als die neue meisterinne nach Reinmars Tod bezeichnet, macht er die Minnesänger zu potentiell sexuell ambivalenten Männern, die andere frouwen, adelige Frauen oder 11
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Eine Spätfolge dieses Modells ist Freuds Theorie der Sublimierung, dazu die maliziöse Bemerkung von Theodor W. Adorno. Minima moralia. Frankfurt a. M. 1984, S. 284–286. Sebastian Neumeister. Das Spiel mit der höfischen Liebe. Das altprovenzalische Partimen. München 1969; Rüdiger Schnell. Causa Amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur. Bern, München 1985; Ursula Liebertz-Grün. Zur Soziologie des amour courtois. Heidelberg 1977; Aus der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit. Höfische und andere Literatur 750–1320. Hrsg. von Ursula Liebertz-Grün. Reinbek 1988 (Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte 1); Ursula Liebertz-Grün. „Satire und Utopie in Andreas Capellanus Traktat De Amore.“ PBB 111, Tübingen 1989, S. 210–225. Ursula Liebertz-Grün. „Frauen im Umkreis der Höfe.“ In: Frauen Literatur Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Hiltrud Gnüg, Renate Möhrmann. Stuttgart, Weimar 1999, S. 12–28. Gottfried von Straßburg. Tristan. Hrsg. von Karl Marold. Berlin 1969.
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andere sexuell ambivalente Männer, besingen. Gottfried hat zudem im Prolog die Sprache der Erotik durch Ambiguität und Ambivalenz der Eucharistie bereichert.15 In der katholischen Messe werden Brot und Wein in den auferstandenen Gottmenschen Christus verwandelt und jeder gläubige Mann, jede gläubige Frau in der Kommunion mit Christus in Liebe vereint. Wie der verwandelte Wein der Eucharistie hat auch der verwandelte Wein des Minnetranks eine ambivalente Wirkung. Dem Liebestrank wird eine zwanghafte Wirkung zugeschrieben, gleichgültig ob zufällig zwei Männer, zwei Frauen oder ein Mann und eine Frau trinken, denn die grammatisch männlichen Formen lassen das biologische Geschlecht der Trinkenden offen: mit sweme sîn ieman getranc, den muose er âne sînen danc vor allen dingen meinen, und er dâ wider in einen (V. 11443–11446).
Ein paradiesisches ‚Ganz bei sich‘, da ‚Außer sich sein‘ jenseits sozialer Rollen wird in Walthers von der Vogelweide Under der linden (L. 39,11) evoziert, ohne zu verraten, ob sich eine Geliebte oder ein Geliebter an den Geliebten erinnert. In Walthers Preislied Ir sult sprechen willekomen (L. 56,14) verliert die adelige Minnedame, die den höfischen Mann durch Askese zur Tugend veredelt, ihre Funktion, da im deutschsprachigen Raum alle Männer wol gezogen und alle Frauen engel sind. Bernart von Ventadorn, in dessen Can vei la lauzeta mover (PC 70,43) die Lerche ebenso phallisch wie poetisch in den Himmel steigt, hat sich wie andere Minnesänger auf der Metaebene seiner poetologischen Selbstreflexion in Auseinandersetzung mit Ovids Metamorphosen als Narziss dargestellt, als Dichterkomponist, der sich als Künstler profiliert, indem er seine Liebe zu einer imaginären Spiegelprojektion seiner selbst zur Sprache und in Töne bringt. Um jede Eindeutigkeit zu vermeiden, hat er die Geliebte als Herrin und als Herrn und bevorzugt mit männlichen Verstecknamen angesprochen (PC 70,31).16 Ambiguität und Ambivalenz prägen auch Reinmars berühmtestes Lied, das Walther (L. 82,24) in seiner Totenklage für Reinmar zitiert. Swaz ich nu niuwer maere sage (MF 165,10) ist eine Metaminnekanzone, eine 15
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Christopher Young. „Literaturtheorie bei Gottfried von Straßburg: Fiktion, Religion und Rhetorik.“ Wolfram-Studien 15, 1998, S. 195–210. Mittelalterliche Lyrik Frankreichs I. Lieder der Trobadors. Provenzalisch/Deutsch. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Dietmar Rieger. Stuttgart 1980, S. 108–119.
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Reflexion über das für die Minnekanzone typische Gemisch aus objektsprachlicher und metasprachlicher Rede. Neues sagt die Ich-Grimasse in der dritten (in A zweiten) und vierten Strophe der Fassungen der Handschriften B, C, E und A. Sô wol dir, wîp, das ist eine der üblichen Floskeln des Frauenlobs, aber die Apposition, wie rein ein nam, macht klar, dass hier ein Begriff gepriesen und in seine Bestandteile Bedeutung – Signifikat und Klang – Signifikant zerlegt wird: wie sanfte er doch z’erkennen und ze nennen ist. Der durch das Duzen personifizierte Begriff wird hyperbolisch mit dem Unsagbarkeitstopos erhöht, der allein Gott angemessen ist: Dîn lop mit rede nieman volenden kan. Dass der Begriff wîp die ganze Welt in Hochstimmung versetzt (dû gîst al der welte hôhen muot) und dass auch das Ich an dieser Freude teilhaben möchte, verwundert nur den Nominalisten, dem das konkrete Einzelne als real gilt, nicht den Ultrarealisten, dessen Realität aus Begriffen besteht.17 Swes dû mit triuwen pfligest wol, der ist ein saelic man, heißt es in der dritten Strophe, wobei offenbleibt, ob wîp hier zum Einzelwesen konkretisiert ist oder ob von einer ultrarealistischen Beziehung zwischen Begriff und konkretem Mann die Rede ist. In der vierten Strophe dagegen wird die Ich-Grimasse von einem bellum intestinum, einem Gedankenkampf in seinem herzen, zerrissen. Will er die Erniedrigung oder die Erhöhung der Frau? Bleibt sie unerreichbar, leidet er Sehnsuchtsqualen. Erhört sie ihn, leidet er unter ihrem Ehrverlust. Makellos ist sie nur, wenn si vil saelic wîp bestê mîn und aller manne vrî. Beschädigt sind also, mit Ausnahme der Gottesmutter Jungfrau Maria, seit ihrer Zeugung alle, nicht nur die heterosexuell aktiven Frauen. Fast alle Frauen standen zudem unter männlicher Vormundschaft, selbst eine Äbtissin oder allein regierende Herrscherin war auf männliche, geistliche Führung angewiesen. Auch das Wort wîp ist als Bezeichnung für die verheiratete Frau und als Oberbegriff für alle Frauen, also als Gegenbegriff zu Mann, keineswegs von allen Männern frei. Die nur in E überlieferte fünfte Strophe zeigt, dass die Spitzfindigkeiten noch weiter getrieben werden können. Der mögliche Metadiskurs über das Lied wird im Lied vorweggenommen. Wer immer behauptet, die Klage des Ichs sei ein spöttisches Spiel, wird aufgefordert, sich erst noch ein- oder zweimal die rede vorsingen und vorsagen zu lassen und genau darauf zu achten: wâ ich ie spreche ein wort, / ezn lige, ê i’z gespreche, herzen bî. Das ist kein Hinweis auf emotionale Betroffenheit, sondern auf 17
Jan P. Beckmann. „Nominalismus.“ In: Lexikon des Mittelalters. München, Zürich 1993. Bd. VI, Sp. 1222–1227.
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intellektuelle Genauigkeit. In dieser Rede sitzt jedes Wort perfekt, weil es im herzen, dem Sitz der Gedanken, streng abgewogen wurde. Vor allem aber ist es ein ebenso subtiler wie raffinierter Witz. Jedes Wort dieses Liedes hatte intimen Kontakt mit dem herzen, auch die Worte herzeliebe und wîp. Da Herz als pars pro toto Umschreibung des Ichs ist, wird nun deutlich, dass der Sexualakt mit einem Begriff vollzogen wird als Gedankenakt, dem ein Sprechakt folgt. Die Intimität mit herzeliebe hat das Ich beglückt, jetzt könnte die Gesellschaft an seiner Freude teilhaben, gemäß dem Konditionalgefüge der letzten beiden Zeilen der ersten Strophe: ich engelige herzeliebe bî, / sône hât an mîner vröude nieman niht. Aber leider wird das Glück durch die in der vierten Strophe formulierte Antinomie gestört. Alles Weibliche, das mit Männlichem – und sei es mit dem Philologen, dem Liebhaber des Wortes – intim wird, ist befleckt. Das Ich hat wieder das Leid der ersten Strophe erreicht. Es ist nicht froh, die Freunde sind verärgert über seine Klage, zusätzlich zu seinem Leid über das befleckte Weibliche muss es ihren Spott ertragen. Und das alles geschieht ihm unverdienet, daz bedenke got, / und âne schult, meint das Ich, ganz Adam, der nur bei Eva, allenfalls bei Gott, dem Schöpfer des Weiblichen, eine Schuld entdecken kann. Es ist schon faszinierend, mit welcher Konzentration der Autor in fünf neunzeiligen Strophen das Psychogramm des unglücklichen Ichs seziert, das seinen Angstgegnern Frau und Sexualität nicht entfliehen kann, weil es zwangsneurotisch versucht, sie sich vom Leibe zu halten. In der in B, C, E zweiten, in A dritten Strophe werfen ihm die von Liebe beglückten Hochgestimmten vor, er liebe diese Frau nicht so sehr, wie er vortäusche. Das Ich wehrt sich: si was mir ie gelîcher mâze sô der lîp. Das ist präzise formuliert: lîp bedeutet ganzheitlich gedacht Leib, Person, Leben; die Frau ist ihm so fremd wie der eigene Leib, denn die Angst vor dem anderen Geschlecht ist die Angst vor der eigenen Leiblichkeit18 – oder das Entsetzen des Ambivalenten, sich den Zwang zu heterosexuellen Aktivitäten in den Leib einschreiben lassen zu müssen. Langsamer als in Frankreich gewann die Schrift als Medium der Selbstdeutung und Selbstdarstellung des deutschsprachigen Adels im zwölften und dreizehnten Jahrhundert in der primär körperorientierten, auf die Kommunikation im Raum der wechselseitigen Wahrnehmung ausgerichteten, oralen Kultur an Bedeutung, wie Horst Wenzel in seiner
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Thomas Laqueur. Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt a. M. 1992.
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grundlegenden Studie gezeigt hat.19 Adeliger Status und feudale Herrschaft erforderten die sinnfällige, öffentliche Demonstration in Repräsentation und Zeremoniell. Die Minnekanzone war öffentliches Reden über Liebe in gattungsgemäß festgelegter Form. Was den öffentlichen Standards nicht entsprach, wurde verdrängt. Der Adelige, der nicht hövisch reden und gebaren konnte, wurde als vilain oder dörper verachtet.20 Das ist eine wichtige, aber einseitige Lesart des Minnesangs, die außer Acht lässt, dass die Sprache und andere Symbolsysteme immer auch Medien der Wahrheitssuche sind, obgleich sie aufgrund ihrer aporetischen Struktur niemals gegen ideologische Erstarrung gefeit sind.21 Zeremonialhandeln und festliche Aufführung, mit diesen Ausdrücken lassen sich die Vorstellungen umschreiben, die den Zugang zum genuin ästhetischen Potential des Minnesangs versperren. Aber die Lieder wurden nicht nur in festlichem Rahmen vorgesungen, sondern auch gelesen und in kleinerem Kreis vorgetragen und diskutiert. Das gab Gelegenheit, spielend zu lernen. Das Sprachspiel Minnesang, welches der Struktur des theologischen Deutungsschemas mit anderen Worten eine andere Bedeutung gab, aktivierte nicht nur die vertrauten Medien mündliche Sprache, Gesang, Instrumentalmusik, sondern auch das neue, noch sehr fremde Medium Schrift. Durch diese Interaktion war es möglich, Argumentationsstrategien, Denkmuster und selbstreflexive Techniken der Distanzierung, die nur in der Schriftsprache erarbeitet werden können, in die Oralität zu vermitteln. Dem Mythisierungseffekt der Texte können Techniken entgegenwirken, die verdeutlichen, dass die unterschiedlichen Inszenierungen von Minne und Sexualität medial vermittelt sind: Dazu gehören die Differenziertheit der Rollenspiele,22 poetologische Reflexionen,23 die strukturelle Offenheit der Überlieferung, inter-
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Horst Wenzel. Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995. Horst Wenzel. „Zur Deutung des höfischen Minnesangs. Anregungen und Grenzen der Zivilisationstheorie von Norbert Elias.“ In: Norbert Elias und die Menschenwissenschaften. Studien zur Entstehung und Wirkungsgeschichte seines Werkes. Hrsg. von Karl-Siegbert Rehberg. Frankfurt a. M. 1996, S. 213–239. Pierre Bourdieu. Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M. 1982; ders. Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M. 1987; Joseph Jurt. Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt 1995. Händl, Rollen und pragmatische Einbindung. Sabine Obermaier. Von Nachtigallen und Handwerkern. Dichtung über Dichtung in Minnesang und Sangspruchdichtung. Tübingen 1995.
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textuelle Verknüpfungen durch Anspielungen im Text oder durch die Arbeit des Publikums und der Leserin, Gattungsmischungen,24 ferner Verfremdungseffekte im Rahmen des Vortrags.25 Auch in der Schriftkultur hüllen sich die Menschen in Metaphern ein, aber sie destillieren einige ihrer Metaphern zu Begriffen, um ihren fluktuierenden Vorstellungen größere Beständigkeit zu verleihen. Der Leib denkt mit,26 aber er bleibt so unerkannt wie das Individuum, das nicht spricht, und die Wirklichkeit, die nicht zu treffen ist.27
3. Literarische Ambiguität und sexuelle Ambivalenz Nachdem sich in der Forschung die These durchgesetzt hat, dass Ulrich von Liechtenstein Topoi höfischer Minnedichtungen auserzählt, scheint es sinnvoll, die Minneinszenierungen durch intertextuelle Lektüren genauer zu beleuchten, um die literarische Ambiguität des Frauendienstes und die sexuelle Ambivalenz des Ausgesagten zu erschließen. Die wichtigsten vor 1250 entstandenen Prätexte sind Wolframs von Eschenbach Parzival, Titurel, Willehalm, Gottfrieds von Straßburg Tristan, der Eneas Heinrichs von Veldeke, die Lieder Wilhelms IX., Bernarts von Ventadorn, Reinmars, Walthers von der Vogelweide, Heinrichs von Morungen, die Neidhart-Lieder, die Lais der Marie de France, Andreas Capellanus’ Traktat De Amore, die Bibel, Chrétiens de Troyes Lancelot, Hartmanns von Aue Erec und Iwein.28 24
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Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik. Hrsg. von Michael Schilling, Peter Strohschneider. Heidelberg 1996. ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘ in Mittelalter und früher Neuzeit. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. Stuttgart 1996, und Thomas Cramer. Waz hilfet ane sinne kunst? Lyrik im 13. Jahrhundert. Studien zu ihrer Ästhetik. Berlin 1998. Antonio Damasio. Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München 1995. Manfred Frank. Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur neuesten französischen Hermeneutik und Texttheorie. Frankfurt a. M. 1980; Manfred Frank. Was ist Neostrukturalismus. Frankfurt a. M. 1983. Hausner, „Überlegungen zur Struktur“; Birkhan, „Die literarische Situation in Österreich um 1250“; Kartschoke, „Ulrich von Liechtenstein und die Laienkultur“; Knapp, Chevalier errant und fin’amor; Reichert, „Vorbilder“; Thomas, „‚Parzival‘ as a Source for ‚Frauendienst‘“; Thomas, „The Minnesong Structure of Ulrich von Liechtenstein’s ‚Frauendienst‘; Touber, „Der literarische Charakter“; Touber, „‚Frauendienst‘ und die Vidas und Razos der Troubadours“; Eduard Wechssler. „Frauendienst und Vassallität.“ Zeitschrift für französische Sprache und Litteratur 24,
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Keine sexuellen Impulse, sondern die mündliche und schriftliche Sprache der anderen motivieren den aus Ehrgeiz zur Anpassung bereiten jungen Ulrich zum Frauendienst, der angeblich Ehre bringt. Das autoerotische auf dem Stecken Reiten wird durch das männliche Deflorieren – Blumen pflücken – und das weibliche Einverleiben von Flüssigkeiten des Liebesobjekts (hier das Waschwasser der Hofherrin) ergänzt (Frauendienst, 8–25). Am zweiten Hof lernt Ulrich verführerisch dichten, mit Frauen reden und Pferde reiten (33), eine wie in Wilhelms IX. Lied über seine beiden Pferde vieldeutige Anspielung (PC 183,3). Eine abfällige Bemerkung der Dame über seine Hasenscharte, veranlasst den um Anpassung Bemühten zur damals sehr gefährlichen und schmerzhaften Mundoperation (80–104).29 Minnesänger und Mund werden zum Typischen zurechtgeschnitten. In Gegenwart der Dame ist die Ich-Grimasse dem Schema gemäß eine Zeit lang sprachlos.30 Nicht jede Abweichung lässt sich wegschneiden. Der operierte Mund erscheint in zweifacher Weise genital, er schwillt an wie eine Keule und wird gefüllt mit grüner Salbe, die nach verwesendem toten Hund stinkt. So wird der Atem erzeugt, den Walther (L. 28,31) sich zuschreibt, wenn er Scheltlieder singt. Anpassung an vorgegebene Muster und die Technik des Palimpsests, das Überschreiben mehrerer Texte in einem Text, lässt Nichtidentisches mit satirischer Schärfe zur Sprache kommen. Die Aussage des Ich, es habe im Turnier einen Finger verloren, kritisiert die Dame als Lüge, da der Finger nur verkrümmt sei. Darauf erzählt das Ich, wie es sich den Finger abschlagen lässt, den ganzen Vorgang in einem grün eingebundenen Buch festhält, das als Buch im Buch wörtlich zitiert wird und dessen Schließe zwei kleine Goldhände sind, die den Finger halten.31 Die symbolische Kastration führt durch einen Mittler zum symbolischen Sexualakt. Die Dame liest das Büchlein, legt den Finger anzüglich in ihre Kiste und verspricht, ihn jeden Tag anzusehen (342–455). Die extern Lesenden dürfen selbst entscheiden, ob das Abhacken Fiktion in der Fiktion und der Finger in der fingierten Schließe aus Gold ist. Da das Verstümmeln im narrativen Diskurs als real vorgestellt wird, erscheint das Ich als
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1902, S. 159–190. Zur literarischen Situation in Österreich um 1250 vgl. den Beitrag von Knapp im vorliegenden Band. Zur Mundoperation vgl. auch den Beitrag von Kellermann im vorliegenden Band, S. 214–216. Ackermann, „Ich ≠ Subjekt ≠ Körper“; Hübner, „Leibhaftiges in den Liedern Ulrichs“; Schmid, „Verstellung und Entstellung“. Ausführlicher dazu der Beitrag von Kellermann im vorliegenden Band, S. 228–230, und der Beitrag von Wolf, S. 513.
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Esel wie Atze, dem ein Pferd in Walthers Spruch (L. 104,7) den Schwurfinger abbeißt. Der überschriebene Prätext ist der Nachtigall-Lai von Marie de France (Lais, S. 304–315). Hier beendet ein Mann den Flirt seiner Frau mit dem Nachbarn, indem er Ovid zitierend die Nachtigall tötet. Die Frau stickt die Geschichte mit Goldfäden in den Stoff, in welchen sie den toten Vogel einhüllt, und informiert den Boten, der dem Nachbarn das Geschehene erzählt und den Vogel zuträgt. Der Nachbar versteht die Kastrationsdrohung und verschließt den vom Textgewebe umhüllten phallischen Vogel in einem mit Edelsteinen geschmückten, genital anzüglichen Kästchen. Die Geschichte wird lange Zeit mündlich tradiert, bis die Erzählerin Marie den Lai ein zweites Mal schriftlich fixiert. Auch Maries Chaitivel (Lais, S. 350–365) passt in den Kontext. An einem Tag werden im Turnier drei Minneritter einer Dame getötet, der vierte überlebt schwer verletzt. Als die Dame das Geschehen in einem Lied über ihre vierfache Trauer für die Nachwelt dichterisch gestaltet, bittet der Verkrüppelte den Lai nach ihm Der kleine Unglückliche zu nennen. Auf die Lais als Prätexte spielt eine Leerstelle an. Eine Unbekannte schenkt vier kleine Bücher mit höfischen Liebeserzählungen. Offen bleibt, welche es sind und ob der Protagonist sie sich vorlesen lässt. Auf Bitte der Unbekannten dichtet er einen deutschen Text zu der Melodie eines fremdsprachigen Liedes. Als Dank erhält er von ihr einen Hund, den er als Turnierpreis einsetzt. Das sind Anspielungen auf Gottfrieds vielfarbigen Petitcreiu und auf den in Wolframs Titurel mit wohlklingendem Bellen dahineilenden Gardeviaz, beides poetologisch selbstreflexive Sinnbilder literarischer Ambiguität.32 Der Künstler Tristan erkämpft für Isolde ein Kunstwerk, das eine Göttin geschaffen hat. Schionatulander kommt zu Tode, weil er eine von einer Frau geschriebene autobiographische Erzählung, die auf Gardeviaz’ Leine steht, verschenken will. Das Ich dagegen dichtet das Buch für die Dame selbst, es ersetzt die vier (von einer Autorin und zwei Autoren) erfundenen Künstlerinnen durch seine männliche Stimme. Und wo bleibt das Hündische (lat. cynicus) als Sinnbild der zynischen Satire? Es ist die grüne, nach Hundekadaver stinkende Salbe im operierten Mund, ein Bildkomplex, welcher die Vorbilder des Vogelleichnams und des toten Fingers im Kästchen oral variiert. Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Bildsprache 32
Ursula Liebertz-Grün. „Selbstreflexivität und Mythologie. Gottfrieds Tristan als Metaroman.“ Germanisch-Romanische Monatsschrift NF 51, 2001, S. 1–20; dies. „Erkenntnistheorie im Literalisierungsprozeß. Allegorien des lesens in Wolframs Metaerzählung Gardeviaz.“ Germanisch-Romanische Monatsschrift NF 51, 2001, S. 385–395.
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der höfischen Epik hier durch die Technik der Umkehrung und Perversion bearbeitet wird. Das Ich im Frauendienst will etwas ganz Neues machen, indem es beim Friesacher Turnier grün gekleidet mit grünen Wimpeln auftritt und so Gahmuret imitiert, der mit grünem Umhang in Kanvoleis (Parzival, 63,23) einzieht. Grüne Salbe, grünes Buch, grüner Ritter, die Farbhäufung legt nahe, für diese Textpassage (213–455) Wolframs Gahmuret-Erzählung als Prätext zu erläutern. Auf der Ebene des Erzählerdiskurses erfindet die Erzählerfigur Wolfram ohne Vorlage die Gahmuretfigur und die Geschichte der Ritter etwa fünfzehn Jahre vor der Einrichtung der Tafelrunde. Das Autor-Ich erfindet sich, seine Geschichte, die Textsorte der imaginären Autobiographie eines Minnesängers und zersetzt das Sprachmaterial der höfischen Literatur. Auf der Ebene des narrativen Diskurses werden beide Protagonisten von einer Minnedame erzogen, wollen nur dem oder der Höchsten dienen, nennen ihre liebste Beschäftigung Frauendienst, obwohl sie der Begegnung mit Frauen nur einen winzigen Bruchteil ihrer Zeit opfern. Gahmuret ist schöner, erfolgreicher als Kämpfer und bei den Frauen, reist bis in den Orient, erobert vier Königreiche, erbt ein fünftes. Aber ein Speer durchbohrt seinen Kopf, er wird in der Vorgeschichte beerdigt, während das Ich des Frauendienstes nur seinen Finger begraben lässt und sich und die Geschichte weiter zur Sprache bringt. Wolframs Figur trägt die Hemden seiner Ehefrau über der Rüstung, Ulrichs Ich zieht in weiblicher Kleidung als Venus durch die Lande. Gahmuret wird von drei Frauen umworben, das Ich von einer Unbekannten beschenkt, von der Minnedame jedoch ungnädig behandelt. Aber als Überrest ihres Mannes sieht Herzeloyde nur ihr blutiges Hemd, während das Ich seine Ehefrau leibhaftig als Venus besuchen kann (707–709). Symbolisch genital verstümmelt kann das Ich mit den Kleidern und den Trippelschritten einer wohlerzogenen höfischen Dame Ambiguität und Ambivalenz der höfischen Venus und des höfischen Sprachmaterials kongenial zur Erscheinung bringen.33 Wenn die Ich-Grimasse dem Boten eines als Frau verkleideten Ritters ausrichten lässt, mit Frauen
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Vgl. Moshövel, „Ulrich von Liechtenstein – Ein Transvestit?“; Ursula Peters. „Gender Trouble in der mittelalterlichen Literatur? Mediävistische Genderforschung und Crossdressing-Geschichten.“ In: Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ‚Körper‘ und ‚Geschlecht‘ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Ingrid Bennewitz und Helmut Tervooren. Berlin 1999 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 9), S. 284–304; Bennewitz, „Eine Dame namens Ulrich“; Bullough, „On Being a Male“; Weichselbaumer, „Männliches Cross-Dressing“.
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habe er stets nur unbekleidet gekämpft (688), so aktiviert er den Metaphernkomplex Krieg, Turnier, Tjoste, dem Herzogin Orgeluse die Ausdrücke verdankt, mit denen sie König Artus die Nacht mit seinem Neffen andeutet (Parzival, 674,3–8). Diese in höfischer Epik und Lyrik keineswegs unübliche Terminologie legt nahe, sexuelle Aktivitäten als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln zu verstehen. Gahmuret trägt Hemden seiner Frau über der Rüstung, weil es die Dame ist, die um 1200 in der höfischen Epik den Ritter für den Kampf stark macht. Das Kind Obilot plappert der Lehrerin die systemisch geforderte Grenzüberschreitung der Genderrollen nach, der Ritter wird durch den Frauendienst maget unde man (Parzival, 369,20). Gawan bestätigt, ihn werde man im Kampf sehen, aber Obilot werde für ihn kämpfen: in iwerre hende sî mîn swert, ob iemen tjoste gein mir gert, den poynder müezt ir rîten, ir sult dâ für mich strîten (Parzival, 370,25–28).
Indem die Verkleidung als Venus solche Sprachspiele inszeniert, wird auffällig, dass die Grenzen der Grenzüberschreitung bereits in den Prätexten nicht fest sind. Der Satz, Gahmuret leistet Minnedienst, indem er im Hemd seiner Frau für den Herrscher von Bagdad kämpft, ist mehrdeutig. Im Frauendienst lassen sich Blickkontakte und andere Interaktionen der gespielten Venus mit Männern und Frauen (Briefe, Kleidergeschenke, Besuch im Bad) als Vervielfältigung der Ungewissheit beschreiben. Ausführlich wird die Auseinandersetzung mit einem Standesgenossen geschildert, der mit Hass und Feindseligkeit reagiert, als er irrtümlich glaubt, er werde als angeblich Männer liebender Mann von der gespielten Venus diskriminiert (874–899). Besuche bei der Ehefrau (707–710; 1088–1089) sind erfreulich und dauern nur drei oder zehn Tage. Das Lob des bequemen Lebens mit der Ehefrau wird auch durch die Bemerkung abgewertet, wie ein Schwein bequem zu leben sei Zeitverschwendung (1834). Diese Formulierung variiert Gaweins Warnrede vor ehelicher Bequemlichkeit in Hartmanns von Aue Iwein (2767–2912), durch welche Erec sein Ansehen verloren habe. In Hartmanns Erec (2924–2998) zerstört der Titelheld die ‚Freude des Hofes‘, weil er sich auf die eheliche Liebe konzentriert, statt in Turnieren um Anerkennung zu kämpfen.34 34
Ursula Liebertz-Grün. „Kampf, Herrschaft, Liebe. Chrétiens und Hartmanns Erec- und Iweinromane als Modelle gelungener Sozialisation im 12. Jahrhundert.“ In: The Graph of Sex and the German Text. Hrsg. von Lynne Tatlock. Amsterdam 1994, S. 297–328.
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Am Ende der Venusfahrt berechnet der Kämmerer die Bilanz, 271 Speere haben Venus getroffen, 307 Speere hat Venus auf ihre Kampfpartner gestochen. Das kann als militärisch codierte ambivalente Sexprotzerei verstanden werden, durch die sich die Sprachmaske als Collage aus unwiderstehlicher Venus und siegreichem Eneas zu erkennen gibt.35 Im Eneasroman Heinrichs von Veldeke treten die tapferen Krieger Eurialus und Nisus wie David und Jonatan im Alten Testament (1 Samuel 20, 17; 2 Samuel 1, 26) als Liebespaar auf (4906–5272). Die angedeutete homoerotische Neigung des Eneas (7599–7606), die seine soziale Funktionstüchtigkeit als Ehemann nicht beeinträchtigt, wird vom Erzähler nicht kritisiert, während Lavinia und ihre Mutter Homosexualität (in Übereinstimmung mit der herrschenden kirchlichen Lehre im 12. und den folgenden Jahrhunderten) aufs schärfste verurteilen (8565–8612; 9130–9170). Der Venusspieler wird aus der Autorenrolle des im Bad sitzenden Erzählers Wolfram (Parzival, 116,1–4) in die Figurenrolle Parzivals gedrängt (Parzival, 166,21–167,30), als er von einem Knecht im Auftrag einer unbekannten Herrin mit Rosen überschüttet und mit Kleidern, einem Brief und einem Rubinring beschenkt wird (727–748).36 Der Rubin bestätigt seine Weiblichkeit gemäß Wolframs ambivalenter Definition, das Herz, der Rubin, sei der Sitz der Weiblichkeit, nicht die Brust, die das Herz bedeckt (Parzival, 3,15–24). Da der Rubin rot und ebenso doppeldeutig wie ein Frauenmund ist, wird zugleich zwischen der Weiblichkeit einer Frau und der eines ambivalenten Mannes unterschieden. In ihrem Brief stellt die Unbekannte die Venus unter Gottes Schutz. In der poetologischen Selbstreflexion, die der Erzähler Wolfram mit seiner Reflexion über Weiblichkeit verknüpft, bedeutet der Rubin die âventiure (Parzival 3,15–4,8). Die sich selbst und den ganzen Text sprechend erschaffende Ich-Figur ist – wie die intertextuelle Verknüpfung mit der poetologischen Selbstreflexion des Erzählers Wolfram vermuten lässt – die Kunstfigur einer höheren Erzählinstanz, die ihr die Geschichte des Romans schenkt.37 Vor diesem Hintergrund erhält der Wunsch des Ichs,
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Ursula Liebertz-Grün. „Geschlecht und Herrschaft. Multiperspektivität im Roman d’Eneas und in Veldekes Eneasroman.“ In: Variationen der Liebe. Historische Psychologie der Geschlechterbeziehung. Hrsg. von Thomas Kornbichler und Wolfgang Maaz. Tübingen 1995, S. 51–93. Annette Volfing. „Sodomy and rehtiu minne in Heinrich von Veldeke’s Eneit.“ Oxford German Studies 30, 2001, S. 1–25. Zur Episode im Bad vgl. im vorliegenden Band die Beiträge von Sieber, S. 302–304, und Kellermann, S. 221 f. Dagegen Kiening, „Der Autor als ‚Leibeigener‘“.
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ein Buch zu sein, einen zusätzlichen Sinn, denn ein Buch ist handgreiflicher als die Schallwellen in der Luft und die auf Pergament gemalten Buchstaben einer mündlichen oder schriftlichen Kunstfigur. Die zahlreichen Knechte, Verwandten, Spione, Boten, welche die Kommunikationsnetze vervielfältigen und die Kunstfigur steuern,38 sind vielleicht auch ein Hinweis auf die höhere Erzählebene, die das Ich nicht erreichen kann, auch wenn es die Lesenden am Ende des Romans um Hilfe bittet, seine späteren Lieder zu finden und aufzuschreiben.39 Die gespielte Venus ist eine eifrige Kirchgängerin, zweimal wird ihr Besuch der Messe ausführlich dargestellt, viele wünschen ihr Gottes Heil, sie findet große Akzeptanz und wird überall freundlich aufgenommen (534–541; 935–948).40 In der Kirche lächelt ihn die herzeliebe an (L. 46,32), über die Walther sagt, er werde durch sie und seine Augen immer verführt, auch wenn die mâze stets rate, alle Extreme zu vermeiden. Der Protagonist dagegen lässt sich von seinen Augen und Impulsen nicht verführen, er hält an der Dame fest, die er in der Hoffnung auf sozialen Aufstieg nach dem Urteil der anderen gewählt hat. Dafür wird er vor Wien mit Walthers Preislied (L. 56,14) begrüßt und so dem Rang nach dem Herzog gleich gestellt.41 Ekel und Abscheu des unglücklichen Bewusstseins Reinmarscher Prägung werden in einer Collage als sadomasochistischer Horror inszeniert.42 Der Metaphernkomplex Liebe als Selbstzerstörung, Krankheit, Wahnsinn, Selbstmord wird in zugleich wörtlicher und übertragener Bedeutung inszeniert und durch intertextuelle Anspielungen verdichtet. Die Burg der Minneherrin ist von Leprakranken umlagert, die mit Nahrung versorgt werden, während die Herrin selbst siech ist (1127–1131).43 In Variation des von Schlangen zerfressenen Rückens des Herrn Mundus oder der Frau Welt, den Walther eindringlich evoziert hat (L. 100,24), vor dem Wirnt von Grafenberg in Konrads von Würzburg Der Welt Lohn 38
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Zur Botenkommunikation im Frauendienst vgl. den Beitrag von Kellermann im vorliegenden Band, S. 247–259. Kellermann/Young, „Briefe, Büchlein, Boten“; Spechtler, „Die Stilisierung der Distanz“; Klinger, „Ich: Körper: Schrift“; Linden, Kundschafter der Kommunikation. Kretzenbacher, „Maskenlust und Kirchenkuß“. Spechtler, „Zur Rezeption Walthers bei Ulrich von Liechtenstein“. Vgl. Müller, „Männerphantasien eines mittelalterlichen Herren“; Müller, „Ulrich von Liechtenstein und seine Männerphantasien“; Hempen, „Die Aussätzigen“; Zimmermann, „Ulrich von Lichtenstein und der Sex“. Vgl. zum Stelldichein die Beiträge von Sieber, S. 271 f., 287–289, und Eming, S. 197 f., im vorliegenden Band.
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sich entsetzt,44 lagern die sichtbar an Lepra, die damals als Lustseuche galt, Erkrankten vor der Burg, während die Dame im Inneren zwar bereits krank, aber noch immer verlockend ist. Der Protagonist verkleidet sich und entstellt sich (nicht ohne phallischen Witz, 1155) durch Pflanzengifte wie der Titelheld der Tristan-Fortsetzungen als Aussätziger und muss wie Berols Isolde im Gestank der Kranken leben, aus einer Schüssel mit ihnen essen, um Almosen betteln. Die Nacht verbringt er mit einem Gefährten im Kornfeld, dem Tatort einer Pastourelle, der sexuelle Exzess wird angedeutet durch Sturm und Regen, die durchnässen, und Schlangen, die zerbeißen (1166–1169). Nach langem Warten verstecken sie sich auf Befehl der Dienerin im Burggraben, den ein Burginsasse über ihm als Kloake benutzt. Entstellt, zerbissen, zweifach durchnässt wird er nach seinem Begleiter zum Stelldichein in die Burg hochgezogen, verlangt so hartnäckig den Minnelohn, dass er schließlich wieder im Burggraben landet, unsinnig schreit, sich ertränken will, aber doch an seiner Minne festhält. Hat der Text neben der wörtlichen eine übertragene Bedeutung? Die Allegorese entziffert die Dame als Personifikation von Welt und Minne und die Burg als Perversion der allegorischen Minnegrotte. Die pornographischen Topoi (Burggraben, Zimmer, in das er durchs Fenster hochgezogen wird, Privatgemach), die promiskuitiv auch von anderen beansprucht werden, erreicht der Protagonist mehrfach. Ein inhaltlich nicht präzisiertes Vergehen der Dame (will sie etwa nicht mehr Nein sagen?) bringt das Ich schließlich dazu, ihren Dienst für immer zu verlassen und später einer anderen Herrin zu dienen (1361–1365). Auch in Wolframs Parzival verlässt der Erzähler voll Zorn und Hass den Dienst einer Dame, der Muse und Herrin der Minnekanzone (Parzival, 114,5–115,20). Er dichtet im Dienst einer anderen Dame, der Muse und Herrin des Romans, der Personifikation der Aventiure, die in sein Herz kommt (Parzival, 433,1–7). Das Ich dichtet den ganzen Text – so können die Lesenden erraten – im Dienst der zweiten Dame, der Muse und Herrin der Satire. Im Dienst der Satire erzählt er von seinem ersten Dienst und seinen poetischen Dienstleistungen für die Dame der Minnekanzone. Auch im zweiten Dienst dichtet die Ichgrimasse Minnelieder, schließlich ist auch die Satire als Herrin personifiziert, aber im zweiten Teil wird noch deutlicher, dass höfisches Zeremonialhandeln
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Konrad von Würzburg. Heinrich von Kempten. Der Welt Lohn. Das Herzmaere. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Edward Schröder. Übersetzt von Heinz Rölleke. Stuttgart 1968.
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nicht die Ursache individueller und sozialer Tugenden ist, sondern soziale Interessengegensätze und Konflikte nur verschleiert. Wenn der Spieler der Venus in der zweiten Turnierfahrt in der roten Rüstung Parzivals (1400) als Artus auftritt, übernimmt er auch dessen Rolle des betrogenen Ehemanns in Chrêtiens Lancelot, andererseits überträgt er die Ambivalenz der Venusrolle auf Artus und die Tafelrunde. Deren Ambivalenz hatte mit der ihrer Schreibweise eigenen Ambiguität bereits Marie de France im Lanval (Lais, S. 208–249) evoziert. Konflikte mit dem Herzog deuten sich an, erstens wenn der Dienstmann als König Artus den Herzog in der spielerisch formulierten Absicht bestärkt, in seine Dienste zu treten, statt dessen Angebot zurück zu weisen und die eigene Unterordnung zu betonen (1456–1464), zweitens wenn der Herzog seinen Dienstmann auffordert, die Einzelkämpfe durch ein Turnier zu beenden, und dann das Turnier verbietet (1566–1609).45 Die Spannungen eskalieren im Tod des Herzogs auf dem Schlachtfeld (1659–1676).46 Alles Wehklagen kann nicht darüber hinwegtäuschen, wie gehässig der Tod des Herzogs in zwei Sequenzen dargestellt wird. Er will den Befehl zum Angriff geben und die Seinen anfeuern, während die Reiterheere längst aufeinander los und von beiden Seiten über ihn hinweg stürmen. Er fällt und wird im hin und her Preschen der Reiter zertrampelt. Diese erste Sequenz teilt mit: Er hat die Situation nicht durchschaut, keiner hat ihn gewarnt, er ist entmachtet, andere befehlen. Die zweite Sequenz widerspricht der ersten. Während der Schlacht findet der Schreiber47 den Toten nur mit einem Hemd bekleidet, das Bein von einem Tritt schwarz, eine Verletzung in der Wange. Er legt den Toten wie einen Sack auf sein Pferd, bringt ihn in die Stadt in das Haus eines Bürgers. Als die Nachricht von seinem Tod das siegreiche Heer erreicht, werden die fliehenden Feinde nicht weiter verfolgt, die Sieger beklagen 45
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Vgl. Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“; Rischer, „Zum Realitätsstatus literarischer Fiktion“; Tomasek, „Zur Rezeption arthurischer Strukturen“; Höfler, „Venusfahrt und Artusfahrt“. Die Handschriftenlücke vor der Artusfahrt gibt Rätsel auf. Dazu Linden, „Die Liedüberschriften im Frauendienst“; Reichert, „Exzentrizität als Zentralgedanke“; Burkhardt Krause. „Zur Problematik sprachlichen Handelns: Der gruoz als Handlungselement.“ In: Stauferzeit: Geschichte, Literatur, Kunst. Hrsg. von Rüdiger Krohn, Bernd Thum und Peter Wapnewski. Stuttgart 1979 (Karlsruher kulturwissenschaftliche Arbeiten 1), S. 394–406. Vgl. Schmidt, „Späthöfische Gesellschaftsstruktur“; ders., „Die Gefahr des großen Friedens“; Kellermann, „Formen der Kommunikation“. Zur Rolle des Schreibers vgl. den Beitrag von Kellermann im vorliegenden Band, S. 237 f., 243–247.
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den Tod ihres Herzogs. Die Lesenden können fragen: Deuten die Verletzungen auf einen politisch und sexuell motivierten Ritualmord während der Schlacht hinter der Schlachtlinie?48 Wurde der Herzog von Gefolgsleuten entkleidet, seine Wange, die der Friedenskuss oder der Mund des Verräters berührt, durchbohrt, der Oberschenkel und Genitalbereich schwarz getreten? In Wolframs Parzival (145–160) wird Ither von Parzival getötet, der dem Toten seine rote Rüstung raubt und so selbst zum roten Ritter wird. Indem er ihn tötet, sichert er Artus’ Herrschaft, die durch die Erbansprüche seines Verwandten bedroht war. Hat der Artusspieler in der roten Rüstung Parzivals (1400), der in der Schlachtbeschreibung nicht genannt wird, Anteil am Tod des Herzogs, der wie Ither durch einen Rechtsverstoß seiner Freunde ums Leben kommt und tot und seiner Rüstung beraubt draußen vor der Stadt liegt? Dem Mord folgt der Rufmord durch makabere Wortspiele. Achtzehn Adnominationen mit lac, ligende deuten an, der Herzog habe seine sozialen Pflichten als Herrscher durch sexuelle Exzesse vernachlässigt. Er hat die ‚Freude des Hofes‘ aber wohl kaum wie Erec durch ein Übermaß an ehelicher Liebe zerstört. Die feudalrechtliche Aussage des Protagonisten, er was der rehte herre mîn, / und ich sîn rehter dienestman (1660,2–3), könnte auch als Dienstterminologie des Minnesängers verstanden werden. Das Liegen des toten Herzogs ermöglicht vielen Feinden die Flucht, sie müssen nicht tot auf dem Schlachtfeld liegen. Die Formulierung, der König von Ungarn kam zu uns, bezieht sich auf die Schlacht und auf die Herrschaft der Ungarn in der Steiermark nach dem Tod des Herzogs.49 Als Oberbefehlshaber und Sieger wird Heinrich von Liechtenstein genannt. Die Tochter eines Heinrich von Liechtenstein heiratete um 1260 Otto II., den Sohn des Politikers Ulrich von Liechtenstein. Die sadomasochistische Gefangenschaft des Ich ist als Collage gestaltet (1696–1731).50 Heimtückischer Überfall, Gefangennahme, Raub, Jagd, Misshandlung, Mord werden als Metaphern für sexuelle Interaktionen und gleichzeitig in wörtlicher Bedeutung inszeniert, zusätzlich werden die beiden sich überlagernden Bedeutungsebenen mit vielfältigen intertextuellen Anspielungen vernetzt. Nicht die Dame überfällt und nimmt gefangen wie in den Liedern XVI und XX, die Morungens Sin 48 49
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Dopsch, „Zwischen Dichtung und Politik“. Zur historischen Situation in der Steiermark nach dem Tod Herzog Friedrichs vgl. auch den Beitrag von Linden im vorliegenden Band, S. 66–70. Vgl. Schmidt, „Der Kampf im Schlafzimmer“; ders., „Späthöfische Gesellschaftsstruktur“.
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hiez mir nie widersagen (MF 130,9) variieren. Es sind auch nicht wie im Lied Wilhelms IX. zwei Nymphomaninnen, die sich mit dem als stummer Pilger verkleideten Minnesänger vergnügen, nachdem sie sich mit Hilfe einer kratzenden Katze von seiner Stummheit überzeugt haben (PC 183,12). Das Ich wird überfallen von einem Gefolgsmann und einem an Neidharts Grobiane erinnernden grobschlächtigen Knecht, die je einen Sperber tragen, im Erec (183–217) und im Traktat De Amore (2. Buch, 8. Kapitel) Phallussymbol und Schönheitspreis für die Dame. Wie Gramoflanz im Parzival (604 f.), der nur gegen zwei Männer gleichzeitig kämpfen will, von denen er sich anzüglich Kränze rauben lässt, während ihm die Freundin einen Sperber schenkt, hält der Protagonist sich für den Jäger, der zwei auf einmal zur Beute macht, aber er wird wie die Jägerin Dido im Eneas (1864–1867) zur Beute. In seiner Frauenburg wird er in Eisen gelegt und eingeschlossen wie der Finger in der Schließe und im Kästchen. Gefolgsmann und Knecht richten ihre Aggressionen gegen den Herrn, der schon oft seine Lust mit ihnen hatte. In der Tortur erlebt er nicht wie Tristan und Isolde das Speisewunder der Minnegrotte (16815–16835), er leidet Hunger, ihm fehlt das Brot des Lebens (233–240) in dreifacher Bedeutung, so dass er eine Brotkrume als Eucharistie anbetet. Tristan besingt die eine Isolde, während er mit der anderen flirtet, die der Hof für die Besungene hält (19205–19221). Der Herr wird wie die Neithart-Figur, die vieldeutige Raufhändel mit den Bauern sucht, von Männern traktiert, während er in konventionellem Stil die Liebe zu seiner Dame besingt. Wie der Protagonist in der Burg, ist das Lied in die Collage eingeschlossen. Die beiden Minneburgen, die Burg der Minneherrin und die Frauenburg, sind intratextuell durch Parallelen und Kontraste miteinander vernetzt. Beide Collagen evozieren Sexualität als destruktive Energie, indem sie die traditionellen Bildbereiche Liebe als Krankheit, Wahnsinn, Selbstmord, Überfall, Gefangennahme, Raub, Jagd, Mißhandlung, Mord, die Marie de France auf die ehebrecherische höfische Liebe im Equitan (Lais, S. 130–151) projiziert hatte, neu in Szene setzen. Das Ich in Begleitung seines Knechts scheitert bei dem Versuch, die Minnedame zu dominieren, er wird schnell zum Weggang gezwungen. Dagegen gerät er über ein Jahr in die Gewalt eines anderen Herrn mit Knecht, die seine Dienstleute sind und durch die Gewalttat mächtiger und reicher werden. Seine Standesgenossen können seine Gefangenschaft nicht durch kluge Verhandlungen beenden. Befreit wird er durch das Verhandlungsgeschick eines Grafen Meinhart von Görz (1729), eines Vorfahren der Herzogin Elisabeth, der Ehefrau des habsburgischen Herzogs und späteren
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Königs Albrecht. Als Erec Mabonagrin besiegt und befreit, ist des hoves vreude wieder hergestellt (9744–9765). Als der Protagonist nach mehr als einem Jahr gegen hohes Lösegeld freikommt, bleibt das Chaos im Land unverändert, es herrschen Unrecht und Unfrieden, die Mächtigeren plündern und quälen die Schwächeren. Sein Wunsch, in einem bequemen Leben allen göttlichen und gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden, bleibt unerfüllt.51 Die affirmative Oberflächenstruktur der Lieder und der Schilderung ritterlicher Kampfspiele bestätigt die Glorifizierung der babenbergischen Fürsten und Dienstherren in der guten alten Zeit und ihrer vorbildlichen höfischen Kultur.52 Die subversive Tiefenstruktur legt die Sentimentalisierung in das Säurebad der Satire.53 Die Ich-Grimasse in der Rolle Ulrichs von Liechtenstein, des vornehmsten Repräsentanten der steirischen Dienstherren, informiert über Konflikte zwischen Herzog und Dienstherren, Herren und Gefolgsleuten, Unfrieden und Unrecht, die Leiden der Bevölkerung und gibt Einblick in sexuelle Ambivalenzen, die es nach den starren Wertvorstellungen der Helbling-Satiren nicht geben dürfte, die aber insbesondere Hadmar III. von Kuenring, einem Vorfahren ihrer Auftraggeber, nachgesagt werden (874–899).54 Das in der Fiktion evozierte Geschichtsbild wird beglaubigt durch historisch bezeugte Namen, die dem Ich, seinem Bruder, seinen Zeitgenossen (darunter in Niederösterreich viele soziale Aufsteiger, die es nach den Helbling-Satiren erst unter den Habsburgern gegeben habe), seinen Burgen, von ihm besuchten Orten zugesprochen werden, und durch historische Ereignisse, den Tod Herzog Friedrichs II. in der Schlacht an der Leitha 1246, die Hochzeit der Tochter Herzog Leopolds in Wien.55 51
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Dagegen Dittrich, „Die Ideologie des guoten wîbes“. Die positive Gestaltung des zweiten Dienstes betont auch Reiffenstein, „Rollenspiel und Rollenentlarvung“. Ähnlich Grubmüller, „Minne und Geschichtserfahrung“; Behr, „Frauendienst als Ordnungsprinzip“. Vgl. Frey, „Zum Funktionswandel der Minnelyrik“; Goheen, „Maere und liet“; Herzog, „Minneideal und Wirklichkeit“; Grubmüller, „Minne und Geschichtserfahrung“; Heinen, „Sense of Genre“; Ruben, Zur ‚gemischten Form‘ im ‚Frauendienst‘; Ruh, „Dichterliebe“; Schilling, „Gesellschaftskunst und Privatvergnügen“. Spechtler, „Ein ,lächerlicher Minneritter‘“; ders., „Literarische Themen und Formen“; Heinen, „Gibt’s da nichts zu lachen?“; Brody, „The Comic Rejection of Courtly Love“; Milnes, „Ulrich von Lichtenstein and the Minnesang“; Ortner, „Ulrich von Liechtenstein und Steinmar“; Wolf, „Komik und Parodie“. Ursula Liebertz-Grün. Seifried Helbling. Satiren kontra Habsburg. München 1981. Dopsch, „Der Dichter Ulrich von Liechtenstein“; ders., „Zwischen Dichtung und Politik“; Spechtler, Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein; ders., „Probleme um
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Die Historisierung wird andererseits selbst reflexiv als Projektionsfläche und zeitlich geschichteter Assoziationsraum in die Fiktion eingearbeitet.56 Im Tristan beklagt der Erzähler in der rede von guoten minnen, in seiner Zeit sei von der Liebe nur noch der Name übrig und auch der sei heillos zerredet: ‚Minne ist getriben unde gejaget in den endelesten ort.‘ wir haben an ir niwan daz wort: uns ist niwan der name beliben und haben ouch den alsô zetriben alsô verwortet unde vernamet, daz sich diu müede ir namen schamet und ir daz wort unmaeret. (12284–12291) Minne aller herzen künigîn, diu frîe, diu eine, diu ist umbe kouf gemeine. (12304–12306)
Der Frauendienst wagt sich an die Herkulesarbeit, selbst erfundene Augiasställe der deutschen Sprache mit schwarzem Humor von höfischem Sprachmüll zu reinigen. Satirische Sprachkritik schult die Urteilskraft der Unterscheidung zwischen sprachlichem Kunstwerk, rhetorischer Übung und Sprachmüll, der sozial schädliche Ideologien transportiert.57 Als um 1100 die Kreuzzugsideologie das Gebot, Gott zu lieben und den Nächsten wie sich selbst, pervertierte und die Männer aufforderte, ihre Gottesliebe sadomasochistisch durch die Tötung heidnischer Männer unter Beweis zu stellen, pervertierten südfranzösische Dichterkomponisten die Perversion, indem sie die Liebe zu ihren Nächsten (Frauen
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Ulrich von Liechtenstein“; ders., „Urkunden und Zeugnisse“; ders., „Die Urkunden–Regesten“; ders., „Literatur und Politik“; Spechtler/Maier, Ich – Ulrich von Liechtenstein; Krenn, „Historische Figuren“. Eva Tarkusch. Zur Problematik des Verhältnisses von Wirklichkeit und Dichtung im Mittelalter. Am Beispiel des ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach und des ‚Frauendienst‘ Ulrichs von Liechtenstein. Klagenfurt 1984; Thum, Höfische Ethik und soziale Wirklichkeit; Thum, „Literatur als politisches Handeln“. Nach dem Ende der Postmoderne wächst die Einsicht, dass Aufklärung, die im sogenannten Mittelalter stets im Gange war, das einzige Projekt ist, das nicht widerlegt werden kann, da jede Widerlegung der Aufklärung neue Horizonte eröffnet. Vgl. Harald Fricke. „Postmoderne: Ein poststrukturalistisches oder ein historischphilologisches Konzept?“ Compass. Mainzer Hefte für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 1, 1996, S. 3–23.
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und Männern) und die schöne Harmonie der Nächsten- mit der Gottesliebe an den Höfen besangen und betonten, wer das nicht verstehe sei heidnisch, bäurisch, ungebildet (lat. paganus – prov. vilan). Vor allem in den Werken Walthers von der Vogelweide und Wolframs von Eschenbach ist der primäre Sinn präsent. Wolfram hat die Kreuzzugsideologie, die er auf der Textoberfläche des Willehalm evoziert, in der Tiefenstruktur zerschrieben.58 Walther hat eine Ethik der Verwandten- und Nächstenliebe zwischen Christen, Juden und Andersgläubigen als rehtiu minne definiert, da dem im pater noster angesprochenen Vater kristen, juden unde heiden dienen (L. 22,3). Die Neidhart-Lieder markieren die Perversion einer unvoreingenommenen Bauerndarstellung, wie sie im anonymen lateinischen Ruodlieb (11. Jahrhundert) überliefert ist. Die Kunstfigur des niederen Ritters mit dem negativ konnotierten Namen Neidhart von Reuental hat einen Widergänger in der Kunstfigur des reichen Dienstmannes mit dem positiv konnotierten Namen Ulrich von Liechtenstein. Während die Helbling-Satiren die höfische Literatur, vor allem die Neidhart-Lieder, als Waffenlager für Ressentiments gegen Bauern, Juden und soziale Aufsteiger benutzen, erzählt das Ich im Frauendienst, wie er und seine Standesgenossen in ihrem eingebildeten Dünkel die vermeintliche Narrheit der Bauern weit übertreffen. Das Verfahren, die gute alte Zeit der Babenberger auf der Oberfläche zu verherrlichen und in der Tiefenstruktur makaber und zynisch zu zerlachen, erinnert – vor allem seit der Artusfahrt – an Weltchronik und Fürstenbuch, die Jans Enikel in den letzten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts für die Wiener Oberschicht geschrieben hat, der er selbst angehörte. Vielleicht gibt es da eine noch zu entdeckende Vernetzung.59 Im Frauenbuch, das wenige Jahre nach dem Frauendienst entstanden sein könnte, streiten ein Mann und eine Frau nach dem Modell der Dialoge in De Amore, aber mit umgekehrten Rollen (hier will die Frau verführen, während der Mann der abweisende ist) über die dilemmatische Frage, ob die vielen Beziehungskonflikte zwischen Männern und Frauen eher von den zahlreichen Homosexuellen oder von den ebenso
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Ursula Liebertz-Grün. „Das trauernde Geschlecht. Kriegerische Männlichkeit und Weiblichkeit im Willehalm Wolframs von Eschenbach.“ Germanisch-Romanische Monatsschrift NF 46, 1996, S. 383–405. Christopher Young, Narrativische Perspektiven in Wolframs Willehalm. Figuren, Erzähler, Sinngebungsprozeß. Tübingen 2000. Ursula Liebertz-Grün. Das andere Mittelalter. Erzählte Geschichte und Geschichtserkenntnis um 1300. Studien zu Ottokar von Steiermark, Jans Enikel, Seifried Helbling. München 1984.
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zahlreichen Nymphomaninnen und Huren verursacht würden, die alle den Tod verdient hätten, während die Ehefrau eines Homosexuellen zum Ehebruch berechtigt sei. Das Ich schlichtet den Streit durch die dilemmatische, neuen Streit provozierende Antwort, den Frauen sei stets zu dienen, sie seien unschuldig, da sie den Männern immer gehorchen müssten.60
4. Joc partit – ‚Geteiltes Spiel‘ Der Autor des ersten deutschsprachigen (möglicherweise autoaggressiv ambivalenten) Künstler-Ich-Romans61 hat darauf verzichtet, durch paratextuelle Rahmungen seine Identität jenseits der Autor-Rolle offenzulegen. Diese Dunkelheit ist kein Zufall, sondern satirisches Kalkül. Das Spiel mit der Metafiktion erzeugt – solange die Satire nicht entziffert ist – ein unheimliches Rauschen der Vernunft: Ist dies der Sprachdurchfall eines Literaturwahnsinnigen, der drei Jahrhunderte vor Don Quichotte von Trugbildern gepeinigt wird, weil sein Bewusstsein gehörte und gelesene Sprache nicht selbst reflexiv verarbeiten kann?62 Spricht eine Kunstfigur, die einen Menschen darstellt, der – frei nach Mead – als Original geboren, zur Kopie wurde, weil er als fremd bestimmtes Ich (‚Me‘) ohne eigenes Ich (‚I‘) nur die Sprache der anderen spricht?63 60
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Brüggen, „Minnelehre und Gesellschaftskritik“; Grabmayer, „Eheleben und Sexualität“; Glier, Artes amandi, Hofmeister, „Minne und Ehe“; McCann, „Wertsystem und Weltbild“; Ranawake, „Zur Minnedidaxe“; Zips, „Frauendienst als ritterliche Weltbewältigung“. Glier, „Diener zweier Herrinnen“, nimmt an, der Autor Ulrich von Liechtenstein habe seine vielen Texte nachträglich durch das maere verbunden. Vgl. auch Aarburg, Autobiographie und Persönlichkeit; McFarland, „The Autobiographical Narrative Form“; Schneider, „Die Selbstdarstellung des Dichters“; Tinsley, When the Hero Tells the Tale; ders., „Die Kunst der Selbstdarstellung“. Vgl. Manfred Schneider. „Das Grauen der Beobachter: Schriften und Bilder des Wahnsinns.“ In: Die Modernität der Romantik. Zur Wiederkehr des Ungleichen. Hrsg. von Urte Helduser und Johannes Weiß. Kassel 1999, S. 175–197; Michel Foucault. Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt a. M. 1969; Brinker-von der Heyde, „Biographisches Spiel und gespielte Biographie“; Classen, „Autobiographische Diskurse“, dagegen konstruiert ein autobiographisches Identitätsexperiment. Jürgen Habermas. Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M. 1988, S. 187–241.
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Nachdem der Stricker im Pfaffen Amîs die Kraft der Worte, Bilder zu erzeugen, wo in Wahrheit keine sind, anschaulich demonstriert hat,64 eröffnet eine derartige Dunkelheit den Raum für Gedankenspiele. Haben Unbekannte in Zusammenarbeit mit einer Schreib- und Lachgemeinschaft einen Minnesänger erfunden, der durch fast hundert Urkunden bezeugt ist, indem sie einer Kunstfigur den Namen des in den Urkunden Bezeugten gaben, einen Künstler-Ich-Roman mit eingelegten Liedern verfassten, die Historizität des Minnesängers zusätzlich durch Eintrag des Namens und der Lieder in eine Liedersammlung absicherten? Wie kann der fiktive von dem realen Minnesänger unterschieden werden, wenn beide in ihren Liedern Werte als Folge von Gefühlen formulieren, die es wie die Minnedame nur in der Formelsprache des Minnesangs gibt? Wie kann der fiktive von dem realen Satiriker unterschieden werden, wenn beide das gleiche Sprachmaterial durch die Technik der Umkehrung und Perversion bearbeiten? Lässt sich diese produktive Spekulation widerlegen und lässt sich die Annahme, der Autor der Kunstfigur Ulrich von Liechtenstein sei der gleichnamige Politiker (gest. 1275), durch eine Indizienkette beweisen? Im Anschluss an Jürgen Wolfs Beitrag über Handschriften und Überlieferung verteidige ich in diesem ‚Geteilten Spiel‘ nur die These, die produktive Spekulation lässt sich nicht widerlegen. Die Fragmente L und A (1260/70) mit kurzen Ausschnitten aus der Venusfahrt weisen Merkmale bairischer Herzogskanzleien auf. Nach dem Tod Herzog Friedrichs II. haben die Wittelsbacher vergeblich versucht, die steirischen Dienstherren für sich zu gewinnen und sich als Herrscher in der Steiermark zu etablieren. Herzog Ludwig II. (1253–1294), der 1256 seine Ehefrau Maria von Brabant hinrichten ließ, weil er sie der Untreue verdächtigte, ist als Mäzen bekannt.65 Die Minnesänger-Satire könnte an seinem Hof entstanden sein. Ottokar, der Autor der Steirischen Reimchronik, erzählt viel Rühmenswertes über Ulrich von Liechtenstein, den Vater seines Mäzens, aber dass er Dichter sei, erwähnt er nicht. Der Märendichter Herrand von Wildonie (Herrand II., 1248–1278, oder Herrand III., 1281–1291)66
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Mario Klarer. „Spiegelbilder und Ekphrasen. Spekulative Fiktionspoetik im ‚Pfaffen Amis‘ des Strickers.“ Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 13, 2008, S. 80–106. Joachim Bumke. Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150–1300. München 1979, S. 194–198. Joachim Bumke. Ministerialität und Ritterdichtung. Umrisse der Forschung. München 1976, S. 63.
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nennt Ulrich von Liechtenstein als Gewährsmann für einen Schwank. Das könnte ein Hinweis auf die Kunstfigur sein, die sich wie ‚der betrogene Gatte‘ zum Esel machen lässt.67 Auch das Frauenbuch bestätigt die ‚Lebendigkeit‘ der Kunstfigur. Cgm 44, der einzige fast vollständige Überlieferungsträger des Frauendienstes, wird einer niederösterreichischen, also habsburgischen Fürstenkanzlei um 1300 zugeordnet. Es ist eine ansprechende Vermutung, dass der Roman ab der Artusfahrt erst in habsburgerfreundlichen Kanzleien fertig geschrieben wurde. Jedenfalls kann der Text gelesen werden, als sei er eine subtile Antwort auf die Helbling-Satiren, die zwischen 1283 und 1296 (und darüber hinaus) aus dem Blickwinkel einiger österreichischer Dienstherren, vor allem der Kuenringer, die Habsburger und ihre Parteigänger kritisieren. In der Klage des Landes Österreich (1285) wird die politische Gruppe verflucht (sô sie ertrinken in dem kôt, / daz sie iht unreinen / daz lûter wazzer).68 Die habsburgischen Herrscher und ihre Helfershelfer beuteten das Land aus, verderbliche fremde Einflüsse verdrängten die vorbildliche alte Landesitte. Die Rechtsprechung sei korrupt, der Landfriede eine Fiktion, die ständische Ordnung zerfalle. In der guten alten Zeit unter den Babenbergern habe im Land Friede und Freude geherrscht, die Herren seien freigebig gewesen, man habe vor schönen Damen Ritterspiele veranstaltet. Der den Habsburgern politisch nahestehende Literaturkreis um Rüdiger II. Manesse in Zürich (die Reichsfürstin und Äbtissin des Fraumünsters, der Abt von Einsiedeln, der Bischof von Konstanz, Friedrich von Toggenburg, Leutolt VII. von Regensberg, Rudolf von Landenberg, Albrecht von Klingenberg, Rudolf von Trostberg, Liutolt von Tellikon und andere), der die Lieder der Minnesänger sammeln und in die Große Heidelberger Liederhandschrift C eintragen ließ,69 hatte einen ausgeprägten Sinn für Minnediskurssatiren. Das bezeugt Hadloub, der in Lied Nr. 2 erzählt, wie ihm die Minnedame im Kreis der oben genannten Damen und Herren eine genital anzügliche Nadelbüchse zuwirft und seine
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Herrand von Wildonie. Vier Erzählungen. Hrsg. von Hanns Fischer. Tübingen 1969, II, V. 17–19. Ursula Liebertz-Grün. „Anonym: Klage des Landes Österreich.“ In: Geschichte im Gedicht. Texte und Interpretationen. Hrsg. von Walter Hinck. Frankfurt a. M. 1979, S. 30–41, S. 35, Zeile 95–97. Franz Josef Holznagel. Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik. Tübingen, Basel 1995, S. 140–207.
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Schreibhand satirisch zurecht beißt.70 Warum hätte der Kreis Bedenken haben sollen, die Lieder der Metasatire in die Liederhandschrift eintragen zu lassen? Das Autorenbildnis zu Ulrich von Liechtenstein in C zeigt schließlich nicht den Politiker, sondern die Kunstfigur, den aus dem Meer aufsteigenden Venusritter.
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Mertens, „Liebesdichtung und Dichterliebe“.
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2. Emotionalität Varianten und Valenzen des Fühlens zwischen Ich, Gesellschaft und Text von J UTTA E MING „U[lrich] kennt in seiner erzählung nur stark betonte affekte.“1 Zu diesem Ergebnis kommt der Verfasser der ersten und bis heute einzigen Monographie, die ausschließlich der Darstellung von Emotionen im Frauendienst gewidmet ist, im Jahre 1918 ( ! ). Werner Rust meint diese These jedoch nicht positiv. Denn er vermisst im Frauendienst ‚Zwischentöne‘ bei der Darstellung von Gefühlslagen, „die kraft, in fließender darstellung wichtiges und unwichtiges fühlen zu lassen“. Dies hätte in seiner Sicht mehr ‚Lebensnähe‘, also eine größere Authentizität von Emotionen, erzeugt.2 Rusts Befund beruht auf einer weitgehend ahistorischen Lesart des Frauendienst, in der die Frage ausgeklammert bleibt, worin sich mittelalterliche und moderne Konventionen von Authentizität überhaupt unterscheiden – und warum. Inzwischen hat die literaturwissenschaftliche Mediävistik diesen Punkt längst erreicht. Sie versteht historische Darstellungsmodi von Emotionalität als Indikator anderer Konventionen des Schreibens über Gefühle. Nach einem ersten Blick in den Text ist man allerdings versucht, Rust zumindest in dem Punkt zuzustimmen, der die Varianz und Ausdrucksintensität von Emotionen betrifft. Im Frauendienst begegnen aus einer überschaubaren Zahl von Anlässen wenige distinkte Emotionen. Für die positiv besetzte vreude gibt es zwei wesentliche Gründe: die Nähe zur Dame oder die Hoffnung, dass sie sich dem Ritter gewogen zeigt einerseits, das Turnieren andererseits. Wenn es weder eine Gelegenheit gibt, die Dame zu sehen, noch an einem Turnier teilzunehmen, tritt trûren an die Stelle von vreude:
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Rust, Freud und Leid, S. 34. Vgl. ebd., S. 80.
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Der sumer mit freuden ende nam: sâ der kalte winder quam. dô muost ich minnesiecher man durch nôt daz turniren lân: wan ich vant sîn leider niht. des het mit mir vil trûrens pfliht. senlîch trûren was mir bî: des wart mîn herze selten vrî. (48)
Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, was an diesem ersten Eindruck relevant ist im Horizont einer Literaturgeschichte der Emotionen, die gegenwärtig an verschiedenen Stellen in der Mediävistik geschrieben wird, und inwiefern dieser erste Eindruck bestätigt, relativiert oder ergänzt werden muss.
1. Emotionalität in der literaturwissenschaftlichen Mediävistik. Forschungsgeschichte und Forschungsstand Emotionen sind zur Zeit transdisziplinär ein ‚heißes‘ wissenschaftliches Thema. Dies gilt auch für die Mediävistik, in der emotionstheoretische Ansätze intensiv und kontrovers diskutiert werden. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig. Zweifellos sind Emotionen jedoch geeignet, an das spezifische Spannungsverhältnis von historischer Alterität und Modernität heranzuführen, das mediävistische Gegenstände für ein modernes Erkenntnisinteresse attraktiv macht. Emotionen in literarischen Texten des Mittelalters: Liebe, Trauer, Zorn, Eifersucht, Hass, tragen die gleichen Namen und folgen auf den ersten Blick ähnlichen Logiken wie in denen der Moderne, doch genauer besehen weichen sie in Bezug auf Anlässe und Verlaufsformen von modernen Darstellungskonventionen von Emotionalität in auffälliger Weise ab.3 Gerade die
3
Für die Unterscheidung zwischen Emotionen und Emotionalität hat sich in der Forschung die Emotionalitäts-Definition von Stearns und Stearns aus einem grundlegenden Aufsatz von 1985 eingebürgert: „The authors of this essay propose ‚emotionology‘ as a useful term with which to distinguish the collective emotional standards of a society from the emotional experiences of individuals and groups. Use of the term as defined above will focus our attention on the social factors that determine and delimit, either implicitly or explicitly, the manner in which emotions are expressed.“ Peter N. Stearns und Carol Z. Stearns. „Emotionology: Clarifying the History of Emotions and Emotional Standards.“ The American Historical Review 90, 1985, S. 813–836, hier S. 813.
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Ausdrucksmuster von Emotionen nehmen in vielen anderen Texten der mittelalterlichen Literatur nicht selten jene Intensität an, die Rust am Frauendienst auffiel.4 Vor allem in narrativen Texten scheinen die Figuren exzessiver zu trauern, derber zu lachen und heftiger zu zürnen als die Helden neuzeitlicher Romane. Sind die beschriebenen Darstellungskonventionen das ganz Andere, sind sie archaisch, oder geben sie Keimformen des Neuen zu erkennen? In welchem Sinne ist in diesen Texten eine Vorgeschichte moderner Emotionalität abgebildet? Um solchen Fragen nachzugehen, sind Emotionen seit der interdisziplinären Öffnung der Mediävistik in den siebziger Jahren zunächst vornehmlich im Rekurs auf Ansätze der Historischen Anthropologie, der Mentalitätengeschichte und der Historischen Psychologie erforscht worden. Die Modelle mittelalterlichen Affekthandelns und mittelalterlicher Affektkontrolle, die mit den Schriften Johan Huizingas und Norbert Elias’ verbunden und von der Historischen Psychologie übernommen worden sind, waren von spezieller Anziehungskraft.5 Elias’ Vorstellung von einem starken, eruptiven ‚Affekt‘, den die männlichen Angehörigen der mittelalterlichen Eliten nur mühsam zu ‚bändigen‘ und zu ‚zivilisieren‘ lernen – ein Prozess, den Elias maßgeblich an die Institution des Minnesang gebunden sah –, erschien als sinnvoller Ansatz, um die skizzierte Intensität des Ausdrucks in mittelalterlichen Texten konzeptualisieren zu können. Affekte galten als ‚roher‘, triebhafter und unkontrollierter als das, was moderne Menschen meinen, wenn sie von Gefühlen sprechen. Elias’ Modell der Triebe und Affekte war der Psychoanalyse entlehnt, doch anders als diese von der Vorstellung einer Modellierung auch der Instanz des ‚Es‘ durch gesellschaftlichen Fortschritt bestimmt.6 Elias zufolge führte die Entwicklung der höfischen
4 5
6
Vgl. Rust, Freud und Leid, S. 80. Vgl. Norbert Elias. Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. 8. Auflage. Frankfurt a. M. 1981; Johan Huizinga. Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden. Hrsg. von Kurt Köster. 11. Auflage. Stuttgart 1975. Vgl. Reinhard Blomert. Psyche und Zivilisation. Zur theoretischen Konstruktion bei Norbert Elias. 2. Auflage. Münster und Hamburg 1991 (Zivilisationstheorie 3), außerdem Norbert Rath. „Innere Natur als sedimentierte Geschichte? Freuds Stellung zum Gedanken einer Historizität des Psychischen.“ In: Wegbereiter der Psychologie. Der geisteswissenschaftliche Zugang. Von Leibniz bis Foucault. Hrsg. von Gerd Jüttemann. 2. Auflage. Weinheim 1995, S. 224–229; Die Geschichtlichkeit des Seelischen. Der historische Zugang zum Gegenstand der Psychologie. Hrsg. von Gerd Jüttemann. Weinheim 1986.
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Kultur im 11. und 12. Jahrhundert zu einer Heraufsetzung der Schwellen, an denen Menschen Scham und Peinlichkeit empfinden.7 So eindrucksvoll dieser Erklärungsansatz zunächst wirkte, so wenig waren auf längere Sicht seine Defizite zu übersehen. Weder die differenzierten emotionalen Welten, die zum Beispiel im Minnesang und im höfischen Roman entfaltet werden, waren mit diesem Ansatz zu korrelieren, noch der Grad an Komplexität, mit dem Aspekte von Identität oder Individualität in diesen Texten verhandelt sind.8 Fragestellungen der Historischen Psychologie oder der Mentalitätengeschichte, deren Erkenntnisinteresse sich auf kollektive psychische Strukturen oder Emotionen und emotionale Dispositionen wie Angst oder Mutterliebe richten, können ebenso wenig einfach von der mediävistischen Literaturwissenschaft übernommen werden wie Fragestellungen der Historischen Anthropologie.9 Diskurs- und systemtheoretische Ansätze lenkten den Blick auf historische Konzepte und ‚Stile‘ des Fühlens (Melancholie, amour passion).10 Dies wurde zunächst zwar ebenfalls noch als Element 7
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Hans Peter Duerr unternahm dem gegenüber schon vor längerem den Versuch, in umfangreichen ethnologischen Studien den Nachweis zu führen, dass Scham angesichts der eigenen Nacktheit zu den universalen menschlichen Emotionen gehört, vgl. Hans Peter Duerr. Nacktheit und Scham. 4. Auflage. Frankfurt a. M. 1992 (Der Mythos vom Zivilisationsprozeß 1). Der Stand dieser inzwischen als „DuerrElias-Kontroverse“ bekannten Forschungsdebatte muss hier nicht vertieft werden. Verwiesen sei auf die Darstellungen bei Rüdiger Brandt. Enklaven – Exklaven. Zur literarischen Darstellung von Öffentlichkeit und Nichtöffentlichkeit im Mittelalter. Interpretationen, Motiv- und Terminologiestudien. München 1993 (Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur 15); Hilge Landweer. Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls. Tübingen 1999 (Philosophische Untersuchungen 7); Zivilisationsprozesse. Zu Erziehungsschriften in der Vormoderne. Hrsg. von Rüdiger Schnell. Köln u. a. 2004. Zur Kritik an Elias mit Bezug auf die Erziehungsschriften des Mittelalters, die eine seiner Hauptquellen bilden, vgl. Schnell (Anm. 7). Zur Historischen Anthropologie speziell vgl. Christian Kiening. „Anthropologische Zugänge zur mittelalterlichen Literatur. Konzepte, Ansätze, Perspektiven.“ Forschungsberichte zur Germanistischen Mediävistik 5, 1996, Nr. 1 (Jahrbuch für Internationale Germanistik C / 5), S. 11–129; Ursula Peters. „Historische Anthropologie und mittelalterliche Literatur. Schwerpunkte einer interdisziplinären Forschungsdiskussion.“ In: Festschrift für Walter Haug und Burghart Wachinger. Hrsg. von Johannes Janota u. a. Bd. 1. Tübingen 1992, S. 63–86; zu diesem Komplex ansonsten Jutta Eming. „Emotionen als Gegenstand mediävistischer Literaturwissenschaft.“ Journal of Literary Theory 1, 2007, S. 251–273. So etwa Werner Röcke. Liebe und Melancholie. Formen sozialer Kommunikation in der ‚Historie von Flore und Blanscheflur‘. Berlin 1995 (Öffentliche Antrittsvorlesungen Humboldt Universität zu Berlin 40); Ingrid Bennewitz. „Du bist mir Apollo / Du bist
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eines umfassenden Zivilisierungsprogramms zur ‚Dämpfung‘ der Affekte begriffen, doch der Umstand, dass die literarischen Texte offensichtlich bestimmten Modellen für Emotion und Emotionsausdruck folgten, schärfte den Blick für den Konstruktionscharakter literarischer Emotionalität. Die kalkulierten und sorgfältig vorbereiteten ‚Inszenierungen‘ von Emotionen, die der Historiker Gerd Althoff an seinen Quellen ermittelte, waren mit dem Konzept eines seine Emotionen erst mühsam bändigenden (männlichen) Individuums kaum mehr zu vermitteln.11 Auf der anderen Seite bedeutet der Umstand, dass ein Emotionsausdruck ‚auf Verabredung‘, in Althoffs Sicht: ‚zweckrational‘ erfolgte, noch nicht, dass ‚hinter‘ dem Ausdruck kein ‚echtes‘ Gefühl gestanden hätte.12 Dieser Zusammenhang konnte mit dem performative turn in den Geisteswissenschaften und der Reflexion von Begriffen wie ‚Performativität‘, ‚Aufführung‘ und ‚Inszenierung‘ erhellt werden, die performanzund theaterwissenschaftlichen Ansätzen entlehnt sind und symbolische und handlungsrelevante Aspekte des Emotionsausdrucks konzeptualisieren.13 Damit wurde es auch möglich, Fragen nach der Konstitution und Produktion von Emotionen zu erheben.
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mir Helena. ‚Figuren‘ der Liebe im frühneuhochdeutschen Prosaroman.“ In: Ordnung und Lust. Bilder von Liebe, Ehe und Sexualität in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Hans-Jürgen Bachorski. Trier 1991 (LIR 1), S. 185–210; Jan-Dirk Müller. „Jörg Wickram zu Liebe und Ehe.“ In: Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit. Hrsg. von Heide Wunder und Christina Vanja. Frankfurt a. M. 1991, S. 27–42. Vgl. exemplarisch Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Darmstadt 1997 Ebd., S. 258–281, passim. Vgl. zum Beispiel Gerd Althoff. „Inszenierung verpflichtet. Welche Erinnerungen fixieren politische Rituale des Mittelalters?“ In: Inszenierungen des Erinnerns. Hrsg. von Erika Fischer-Lichte und Gertrud Lehnert. Berlin 2000 (Paragrana 2/9), S. 45–60; Gerd Althoff. „Demonstration und Inszenierung. Spielregeln der Kommunikation in mittelalterlicher Öffentlichkeit.“ In: ders.: Spielregeln der Politik im Mittelalter, S. 229–257; systematisch ferner Jutta Eming, Ingrid Kasten, Elke Koch und Andrea Sieber. „Emotionalität und Performativität in erzählenden Texten des Mittelalters.“ In: Encomia-deutsch. Sonderheft der Deutschen Sektion der International Courtly Literature Society. Tübingen 2000, S. 42–60; Jutta Eming. Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12. bis 16. Jahrhunderts. Berlin, New York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 39); Elke Koch. Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin, New York 2006 (Trends in Medieval Philology 8).
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Der wichtigste Unterschied zwischen den Ansätzen der literaturwissenschaftlichen Mediävistik und den genannten angrenzenden Disziplinen – einschließlich der Geschichtswissenschaft – liegt also darin, dass sie in der Textanalyse nicht ein methodisches Instrumentarium sieht, um übergreifende Ergebnisse über psychische Dispositionen historischer Individuen zu erzielen.14 In der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung wird deshalb auch vom Zeichencharakter von Emotionen gesprochen. Damit sind Signifikanten für Emotionen und ihre Funktionen in literarischen Texten gemeint. Mit Blick auf die Handlungsebene literarischer Texte können keine Emotionen, sondern nur sprachliche und schriftliche Zeichen für Emotionen analysiert werden.15 Das bedeutet nicht, dass diese Zeichen als Repräsentanzen außer ihnen liegender Emotionen zu verstehen sind. Auf Grundlage einer Analyse von Zeichen sind zunächst nur Aussagen über Zeichen zu treffen. Allerdings lässt sich davon ausgehend eine rezeptionsbezogene Perspektive entwickeln, in der nach der emotionalen Reaktion auf Texte, Aufführungen, Filme usw. gefragt werden kann.16 Diese Perspektive kann als eine Ebene der Performativität von Emotionalität begriffen werden (s. u.). Dies bedeutet ferner nicht, dass Forschungsansätze anderer Disziplinen, die sich auf Emotionen realer Menschen richten – wie die Emotionalitätsforschung generell oder die Psychoanalyse – grundsätzlich nicht für literarische Texte relevant wären, weil diese einen davon unabhängigen ontologischen Status innehätten.17 Bis zu einem gewissen Grad lässt sich sagen, dass die mediävistische Emotionsforschung auf die Defizite der früheren Ansätze reagiert. Sie reflektiert in höherem Maße die Konstitutionsbedingungen ihres Gegenstands – Emotionen in literarischen Texten des Mittelalters – und
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Vgl. dazu ausführlicher Eming (Anm. 9). Ausführlicher zu diesem Aspekt Norbert Fries. „Die Kodierung von Emotionen in Texten. Teil 1: Grundlagen.“ Journal of Literary Theory 1, 2007, S. 293–337, S. 297. Ausführlicher zu diesen Aspekten Katja Mellmann. „Biologische Ansätze zum Verhältnis von Literatur und Emotionen.“ Journal of Literary Theory 1, 2007, S. 357–375; Jens Eder. „Casablanca and the Richness of Emotion.“ Journal of Literary Theory 1, 2007, S. 231–250; David S. Miall. „Feeling from the Perspective of the Empirical Study of Literature.“ Journal of Literary Theory 1, 2007, S. 377–393. So Katharina Philipowski. „Wer hat Herzeloydes Drachentraum geträumt? Trûren, zorn, haz, scham und nît zwischen Emotionspsychologie und Narratologie.“ PBB 128, 2006, S. 251–274. Zur Kritik an dieser Position vgl. Eming (Anm. 9); Elke Koch. „Bewegte Gemüter. Zur Erforschung von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters.“ In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 49 (2008), S. 33–54.
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fragt nach den Möglichkeiten und Voraussetzungen seiner Erforschung. Das Erkenntnisinteresse der mediävistischen Emotionsforschung in literaturwissenschaftlicher Perspektive richtet sich davon ausgehend auf die kulturelle Semantik und Logik von Emotionen in mittelalterlichen Texten. Dies umgreift Fragen nach der Relationierung von Emotion und Körper, Emotion und Sprache und nach der sozialen Dynamik, die Emotionen zugeschrieben wird. In Bezug auf letzteren Aspekt kann ein literarischer Emotionsausdruck in pragmatischer und funktionaler Hinsicht als zeichenhaft aufgefasst werden. Eine pragmatisch-funktionale Emotionsanalyse kann zum Beispiel einsichtig machen, dass ein Gefühlsausdruck sich nicht darin erschöpft, den ‚inneren‘ Zustand einer literarischen Figur nach ‚außen‘ treten zu lassen. Ein Gefühlsausdruck übernimmt soziale Funktionen und wirkt in Zeit und Raum. Der Zorn des Königs zum Beispiel kann die Funktion haben, eine politische Krise anzuzeigen. Emotionen werden also in einem nicht geringen Maße als Handlungen realisiert. In mittelalterlichen Texten bezeichnen sie unter anderem eine konventionalisierte Praxis der höfischen Interaktion, wie am Beispiel der Texte Ulrichs von Liechtenstein noch gezeigt werden soll, exemplarisch an Anlässen von vreude. Zusammengefasst lässt sich dies als Handlungscharakter und performative Dimension eines Gefühlsausdrucks verstehen. Der Begriff der Performativität kann die pragmatischen Funktionen von Emotionen und soziale Dynamiken auf unterschiedlichen Ebenen konzeptualisieren.18 Zu diesen Dynamiken gehören neben Sprache und ihren handlungsrelevanten Potentialen auch Formen und Traditionen der Inszenierung und Aufführung des Körpers, die Ritualisierung und Theatralisierung sozialer Vollzüge oder die Instituierung, Stabilisierung und Transformation von Diskursen.19 In poetologischer Sicht lässt sich untersuchen, ob Zeichenhaftigkeit dafür funktionalisiert wird, Emotionen zu zeigen, zu naturalisieren oder zu authentisieren. Mit Blick auf die Semantik einzelner Emotionen sowie auf Muster des Emotionsausdrucks und der emotionalen Interaktion in historischen
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Vgl. Hans Rudolf Velten. „Performativität.“ In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hrsg. von Claudia Benthien und Hans Rudolf Velten. Reinbek 2002, S. 217–242. Die Begriffstradition wird fundiert diskutiert von Uwe Wirth. „Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität.“ In: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Hrsg. von Uwe Wirth. Frankfurt a. M. 2002, S. 9–60.
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Texten oder Textkorpora wird vielfach der Code-Begriff verwendet.20 Er trägt dem Umstand Rechnung, dass die Verwendung bestimmter Emotionswörter in literarischen Texten und die Formen ihrer Einbettung in pragmatische Bezüge Traditionen und Regeln unterliegen, die nicht auf Anhieb einsichtig, aber durch Analyse und Interpretation rekonstruierbar und beschreibbar sind. Mittelalterliche Texte akzentuieren in besonderem Maße symbolische und nonverbale Kommunikationsmuster, zu denen Emotionen gehören. Unter dieser Voraussetzung kann auch nach Codes gefragt werden, die über den Einzeltext hinausgehen und Diskurse und Gattungsregeln konstituieren. Literaturwissenschaftlich lässt sich eine kulturelle Codierung von Emotionen zum Beispiel in epochenund gattungsspezifischen Längsschnitten ermitteln.21 Obwohl fiktionale Texte, und hier vor allem die narrativen Genres, bislang im Vordergrund des Forschungsinteresses stehen, sind grundsätzlich alle Gattungen und Texttypen der mittelalterlichen Literatur relevant, auch theologische Abhandlungen, pragmatische Texte und solche, die in Aufführungszusammenhänge eingebunden sind. Aufschlussreich dürften Untersuchungen über den Einfluss sein, den Formen der Strukturierung des Inneren aus der religiösen Literatur auf Darstellungsformen von Emotionen in der weltlichen Literatur nehmen.22 Während die Kritik an Elias’ Affektbegriff vor allem in den Arbeiten Althoffs eher beiläufig zu einem Wechsel zur neutraleren Kategorie ‚Emotion‘ führte, den Althoff nicht weiter problematisierte, wird die Begrifflichkeit in emotionstheoretisch angelegten mediävistischen Untersuchungen inzwischen dezidiert mit reflektiert.23 Dies brachte mit gewisser Notwendigkeit die Auseinandersetzung mit Ansätzen der 20
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Vgl. dazu exemplarisch den von C. Stephen Jaeger und Ingrid Kasten herausgegebenen Sammelband Codierungen von Emotionen in der Kultur und Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Paradigmen und Perspektiven – Emotions and Sensibilities in the Culture and Literature of the Middle Ages and the Early modern Period. Paradigms and Perspectives. Berlin, New York 2003 (Trends in Medieval Philology 1). Wie Simone Winko dies für poetologische und lyrische Texte um 1900 getan hat, vgl. Simone Winko. Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900. Berlin 2003 (Allgemeine Literaturwissenschaft 7), außerdem Eming (Anm 13). Vgl. dazu die Ansätze bei Katharina Philipowski und Anne Prior: anima und sêle. Darstellungen und Systematisierungen von Seele im Mittelalter. Hrsg. von dens. Berlin 2006. In diesem Beitrag wird allgemein von Emotionen gesprochen. Nur gelegentlich wird der Begriff des Gefühls verwendet, der sich auf die subjektive Seite von Emotionen bezieht; der Begriff des Affekts wird aus Gründen, die noch zu erörtern sind, kritisch gebraucht.
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Emotionsforschung psychologischer, neurobiologischer, philosophischer und soziologischer Provenienz sowie die Frage mit sich, was in ihnen unter Emotionen verstanden wird und wie literaturwissenschaftliche Fragestellungen sich zu ihren Methoden verhalten. Anschlussfähig für historische Gegenstände scheinen auf Anhieb Ansätze zu sein, die von einer Variabilität kulturgeschichtlicher Formen des Fühlens ausgehen und dafür weit reichende Interdependenzen zwischen gesellschaftlicher Norm und individuellem Gefühlshaushalt ansetzen. Auch die Annahme kultureller und historischer Konventionen und Stile des Emotionsausdrucks ist für die mediävistische Emotionsforschung in den Geschichts- und Literaturwissenschaften von großem Interesse.24 Wenn die Mediävistik mit der vielfach erhobenen Forderung nach Interdisziplinarität allerdings ernst machen will, kann sie neurophysiologische, evolutionsbiologische und emotionspsychologische Ansätze nicht unberücksichtigt lassen. Diese stellen das bei weitem umfangreichste Gebiet der internationalen Emotionsforschung dar, in ihnen werden die konstanten Anteile menschlicher Emotionen jedoch relativ hoch veranschlagt. Trotzdem sind kulturwissenschaftliche und emotionspsychologische Methoden und Ergebnisse nicht als Gegensätze zu sehen.25 In summa ist zwar festzuhalten, dass alle diese Ansätze kein theoretisches Fundament bereitstellen, das ohne Weiteres für die Literaturanalyse operationalisierbar wäre. Es sind ihnen allerdings eine Vielzahl von Anregungen vor allem für die Reflexion, Differenzierung, Hierarchisierung und diachrone Situierung von Begriffen wie Affekt, Emotion, Gefühl oder Stimmung zu entnehmen.
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Tatsächlich zeichnet sich zur Zeit der Trend ab, die literaturwissenschaftlichen Fragestellungen mit naturwissenschaftlichen Forschungen zu vermitteln. Dies hat als eine der ersten die amerikanische Historikerin Barbara Rosenwein in einem programmatischen, wissenschaftsgeschichtlich instruktiven Aufsatz elaboriert, vgl. Barbara H. Rosenwein. „Worrying about Emotions in History.“ The American Historical Review 107, 2002, S. 821–845. Die Prämisse liegt auch ihrem neuen Buch Emotional Communities zugrunde, sie wird dort jedoch nicht immer überzeugend umgesetzt. Vgl. Barbara H. Rosenwein. Emotional Communities in the Early Middle Ages. Ithaca, London 2006, dazu außerdem Eming (Anm. 9). So fällt auf, dass die meisten Aufsätze der Ausgabe des Journal of Literary Theory, das Emotionen gewidmet ist, einen solchen Ansatz verfolgen. Verwiesen sei außerdem auf das Exzellenz-Cluster Languages of Emotion an der Freien Universität Berlin, das ebenfalls eine solche Verknüpfung anstrebt. Vgl. ferner Michael Mecklenburg. Evolution – Emotion – Fiktion. Studien zur Scham in mittelhochdeutschen Erzähldichtungen. Unveröffentlichte Habilitationsschrift Berlin 2007.
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Ein Konsens darüber, welche Emotionskategorien für literarische Texte des Mittelalters verwendet werden sollten, wurde bislang nicht erzielt und wird vermutlich nicht zu erzielen sein. Strittig ist interessanterweise – mit Blick auf die oben skizzierte Tradition – der Affekt-Begriff, dessen Verwendung recht schillernd ist. In der Nachfolge von Elias wurde ‚Affekt‘ in der Mediävistik zumeist metaphorisch für eine scheinbar nicht beherrschbare Emotion verwendet, zum Beispiel für Zorn. Freude, Angst, Zorn oder auch Interesse werden in der Emotionsforschung heute jedoch als ‚Basisemotionen‘ bezeichnet. Sie gelten als universale, am Ausdrucksspektrum zu identifizierende und für das Subjekt wahrnehmbare Emotionen mit einem neurophysiologischen Substrat. Sie korrelieren zwar ungefähr dem, was in mittelalterlichen Affektenlehren ‚Affekt‘ genannt wird.26 Doch die heutigen Vorstellungsinhalte dieser Emotionswörter sind denen der historischen Texte nicht einfach kongruent. Insbesondere aus literarischen Texten geht hervor, dass das mittelalterliche Bedeutungsspektrum einzelner Emotionswörter vielfach breiter gefasst ist.27 Eine Verknüpfung von Historischer Semantik und mediävistischer Emotionalitätsforschung ist deshalb unerlässlich, was allerdings über eine reine ‚Verschlagwortung‘ und Zusammenstellung von Textstellen zu Gunsten einer umfassenden Kontext- und Funktionsanalyse hinausgehen sollte.28 Ein zentraler Punkt betrifft die Nuancen der dargestellten Emotionen selbst. Finden sich in mittelalterlichen Texten tatsächlich nur Emotionen dargestellt, die dem Affektbegriff entsprechen? Wie steht es um mehrschichtige, ambivalente, nicht unmittelbar zu identifizierende Spielarten des Fühlens, wie um die ephemeren Phänomene der ‚Stimmungen‘ und ‚Atmosphären‘? In einigen mediävistischen Untersuchungen wird die These vertreten, dass die ‚basalen‘ Formen von Emotionen historisch zumindest in der Literatur durch komplexere Formen abgelöst bzw. ergänzt wurden.29 Wie beinahe alles in der Emotionsforschung wird
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Carroll E. Izard. The Psychology of Emotions. New York 1991 (Emotions, Personality, and Psychotherapy), S. 49. Vgl. dazu auch die Studie von Koch (Anm. 13). Vgl. zur Historischen Semantik als einer Ebene ‚mittlerer Allgemeinheit‘ zwischen Sprach- und Diskursanalyse Christian Kiening. „Gegenwärtigkeit. Historische Semantik und mittelalterliche Literatur.“ Scientia Poetica 10, 2006, S. 19–46. So etwa Anja Kühne. Vom Affekt zum Gefühl. Konvergenzen von Theorie und Literatur im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg „Partonopier und Meliur“. Göppingen 2004 (GAG 713).
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dies an anderer Stelle ebenso wieder bestritten.30 Entgegen einer häufiger vertretenen These, dass mittelalterliche Texte nur ‚einfache‘ oder ‚zweiteilige‘ Emotionen kennen,31 findet sich in der mittelalterlichen Dichtung – zum Beispiel in Gottfrieds von Straßburg Tristan – durchaus bereits eine Qualität emotionalen Erlebens gestaltet, die verschwommener, weniger eindeutig und für das empfindende Subjekt nicht leicht zu identifizieren ist.32 Das Interesse der Literaturanalyse kann der Frage gelten, ob und wie diese Qualität literarisch ergiebig wird – zum Beispiel indem sie Reflexionsprozesse über den eigenen Zustand in Gang setzt und zum Element von Identitätsentwürfen oder Subjektkonstitutionen wird – und in ästhetische Strategien umgesetzt wird. Insgesamt ergeben sich damit eine Reihe weit reichender Fragen nach der Möglichkeit einer synchronen und diachronen Situierung von Emotionsdarstellungen, die einer eingehenden Erforschung bislang noch harren. Wird in literarischen Texten ab einem bestimmten Zeitpunkt, etwa der höfischen oder späthöfischen Zeit, das emotionale Erleben im skizzierten Sinne ausdifferenziert? Oder führt eine solche Hypothese in die Irre – ist es auf synchroner Ebene abhängig von Autoren oder Gattungen, wie Emotionen gestaltet werden? Lässt sich zeigen, dass herausragende Dichtungen, wie Gottfrieds Tristan, eigene Schulen der Emotionsdarstellung begründet haben? Inzwischen liegen in der mediävistischen Emotionsforschung bereits eine Reihe theoretisch und methodisch angelegter Aufsätze mit exemplarischen Textanalysen vor, Untersuchungen zu einzelnen Texten und Gattungen und Studien zu einzelnen Emotionen und Emotionskomplexen. Zu nennen sind hier vor allem Trauer, Zorn und Scham.33 Während 30
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Vgl. die Untersuchung von Thomas Dixon. From Passions to Emotions. The Creation of a Secular Psychologica Category. Cambridge 2003, der die Auffassung vertritt, dass Theoretiker des modernen Emotionsbegriffs einen reduktionistischen AffektBegriff verwenden; zum strittigen Punkt, ob moderne Emotionstheorie überhaupt zur Analyse mittelalterlicher Texte herangezogen werden sollte, Eming (Anm. 9). So Rüdiger Schnell. „Historische Emotionsforschung. Eine mediävistische Standortbestimmung.“ Frühmittelalterliche Studien 38, 2004, S. 173–276, hier S. 237. Vgl. auch Eming (Anm. 9). Vgl. Koch (Anm. 13); Jutta Eming. „‚Trauern Helfen.‘ Subjektivität und historische Emotionalität in der Episode um Gahmurets Zelt.“ In: Inszenierungen von Subjektivität. Hrsg. von Martin Baisch, Jutta Eming, Hendrikje Haufe und Andrea Sieber. Königstein 2005, S. 107–121; Mecklenburg (Anm. 25); Anger’s Past. The Social Uses of an Emotion in the Middle Ages. Hrsg. von Barbara H. Rosenwein. Ithaca u. a. 1998; Hildegard Elisabeth Keller. „Zorn gegen Gorio. Zeichenfunktion von zorn im althochdeutschen Georgslied.“ In: Jaeger und Kasten (Anm. 20),
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frühere Forschungen zu Emotionen sich auf Liebeskonzepte konzentrierten, vor allem auf amour courtois und amour passion, ist in dieser Öffnung der Perspektive auf andere Emotionen ein besonderer Gewinn zu sehen. In diesem Zusammenhang hat sich nicht zuletzt gezeigt, wie tragfähig der Ansatz beim Handlungscharakter von Emotionen ist. ‚Trauern‘ zum Beispiel ist in der Literatur um 1200 nicht einfach ein Affekt, sondern ein umfassendes Handlungsmuster mit einem hohen kommunikativem Potential.34 Wie viele andere Emotionen in mittelalterlichen Texten ist es in großem Masse intersubjektiv vermittelbar und generiert auf diese Weise eigene Formen sozialer Interaktion.35 Eine ganze Reihe von Textpassagen des Frauendienst stehen im Zeichen dieser Tradition. Trûren ist in ihnen ebenfalls nicht nur als Affektausdruck zu begreifen, sondern als Teil einer historischen Kultur geteilter Trauer. Als letztes wichtiges Feld der Emotionalitätsforschung ist der Bereich von Emotionalität und Gender zu nennen. Seit der pauschalen Zuschreibung eines kontrollierenden und pazifierenden Einflusses der höfischen Dame auf den Prozess der zivilisierenden Affektkontrolle durch Elias ist die genderorientierte Emotionalitätsforschung weit vorangeschritten. Die Frage nach geschlechtsspezifischen Zuschreibungen von Emotionen, ihres Ausdrucks und ihrer Regulierung gehört zu emotionstheoretischen Untersuchungen inzwischen selbstverständlich hinzu oder bildet einen eigenen Schwerpunkt.36 Ein großer Teil der erläuterten Fragestellungen zu Emotionalität ist für die Schriften Ulrichs von Liechtenstein sinnvoll und relevant. Die Textanalysen dieses Beitrags können darin nur einen ersten Einblick vermitteln.
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S. 115–142; Hildegard Elisabeth Keller. „Zorn – Prüfstein der Exemplarität? Eine Fallstudie zum Exemplar und seinen Paratexten.“ In: Philipowski und Prior (Anm. 22), S. 221–247. In Berlin bereitet Eva Heisler eine Dissertation vor zum Thema „Emotion und Macht. Herrscherzorn in mittelalterlichen Konstruktionen von Geschichte“. Dies zeigt eingehend Koch (Anm. 13). Vgl. Eming (Anm. 33). Vgl. auch die Beiträge von Ingrid Kasten, Gesa Stedmann und Margarete Zimmermann in dem Sammelband Kulturen der Gefühle in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von dens. Stuttgart, Weimar 2002 (Querelles Jahrbuch für Frauenforschung).
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2. Emotionalitätsbezogene Forschungen zu Ulrich von Liechtenstein Mit Blick auf eine emotionalitätsbezogene Analyse der Werke Ulrichs von Liechtenstein und der Darstellung der bisherigen Forschung besteht eine wichtige Vorentscheidung aus der Frage, ob Untersuchungen zum Komplex Minne und Liebe in sie einbezogen werden sollten oder nicht. Verbindungen zwischen emotionstheoretischen Fragestellungen und dem umfangreichen Komplex ‚Liebe‘ sind natürlich nicht zu bestreiten. Gert Hübner hat angesichts der Minnelieder im Frauendienst daran erinnert: „Der Minnesang thematisiert die Liebe als emotionales Phänomen“.37 Hübner hat darüber hinaus auf eine Besonderheit des Liedcorpus aufmerksam gemacht, das im Frauendienst überliefert ist. Es enthält, im Rahmen des zweiten Dienstes, eine ganze Reihe von Minnekanzonen, die dem Zustand der Freude – anstatt, wie sonst vorherrschend – des Leides Ausdruck geben. Dies zeichnet Ulrichs Liedkunst mit Blick auf die gesamte Gattung aus.38 Das Gebiet der Minnekonzeption ist jedoch so zentral für Ulrichs Texte, insbesondere für den Frauendienst, dass es intensiv erforscht wurde und einer umfangreichen eigenen Darstellung bedarf.39 Darüber hinaus bedeutet es einen wichtigen Unterschied, nach dem Konzept ‚Liebe‘ zu fragen oder nach kommunikativen, pragmatischen oder körpersprachlichen Aspekten von verschiedenen Emotionen. Gerade letztere Perspektive bildet das Desiderat, dem die mediävistische Emotionalitätsforschung begegnen wollte. Aus diesen Gründen bleibt der Komplex Minne und Liebe bei Ulrich im Folgenden weitgehend ausgeklammert. Der Ansatz der frühen, bereits genannten Arbeit von Rust ist anachronistisch und nach heutigen Auffassungen kaum haltbar. Er lautet: Welche Rückschlüsse sind von der Emotionsdarstellung im Text auf das emotionale Empfinden des Autors zu ziehen? Es geht Rust darum, eine Art ‚Psychogramm‘ Ulrichs von Liechtenstein zu erstellen.40 Doch weist die Arbeit insofern in eine Richtung, in die eine emotionsanalytische Untersuchung sinnvoll gehen kann, als Rust ein Spektrum unterschiedlicher Emotionen ins Visier nimmt, zwischen Emotion und Emotionsausdruck unterscheidet und unterschiedliche Formen des Emotionsausdrucks dif37 38 39 40
Hübner, „Leibhaftiges in den Liedern Ulrichs“, S. 323. Vgl. Hübner, „Leibhaftiges in den Liedern Ulrichs“, S. 334. Siehe den Beitrag von Liebertz-Grün im vorliegenden Band. So Rust, Freud und Leid, S. 14.
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ferenziert. Seine Hauptunterscheidung betrifft Affekte – als identifizierbare Lust- oder Unlust-Gefühle, in der Untersuchung vornehmlich als ‚Freude‘ oder ‚Leid‘ bezeichnet – und Stimmungen als „vom subjekt nicht dem inhalte nach empfundener gegenstandsloser lust- oder unlustzustand“.41 Rust untersucht die Frequenz von ‚Freud und Leid‘ nach Anlässen (ritterliche Aktivität, künstlerische Betätigung, Minnedienst, Begegnung mit der frouwe), sowie nach Schattierungen und Ausdrucksqualitäten. So differenziert er zwischen ‚froh sein über etwas‘: der was der botschaft vil gemeit, einem ‚kräftigeren affekt der freude‘: des was ich vrô und vil gemeit, und einem ‚schwachen affektzustand‘: daz kunde mir lieber niht gesîn.42 Er stellt eine verbreitete „Selbstzufriedenheit“ des Erzähler-Ichs fest.43 Gefühle der Freude und des Glücks können sich bis zur Ekstase steigern.44 ‚Sinnlichkeit‘ hat die größte Ausdrucksintensität, doch eine geringere als „Ärger und Verdruss“, die Rust der ‚Affektstimmung des Leides‘ zuschlägt.45 Der stärkere Akzent auf Unlustaffekten führt auch zu einer (noch) größeren Vielfalt des sprachlichen Ausdrucks.46 Ein systematischer Zugriff auf Emotionsdarstellungen, wie Rust ihn unternimmt, ist in Arbeiten üblich, die sich mit der Semantik der Emotionswörter auseinandersetzen. Sie bringen den Nachteil mit sich, dass der umfassende narrative Kontext weitgehend unberücksichtigt bleibt, was für den Frauendienst nicht unproblematisch ist. Aufschlussreich sind die von Rust ermittelten ‚Stimmungen‘, d. h. weniger leicht einzugrenzende und sprachlich entsprechend weniger eindeutig benannte emotionale Zustände: Unlustige stimmung des mannes, der über sich selbst nicht im klaren ist, wird sehr gut als „gedanken nôt“ […] bezeichnet. Es ist die seelische qual des sichzergrübelns. Die aussätzigen fragen U[lrich] nach dem woher. Diese frage ist ihm lästig […] „diu vrâge mir leide was vernomen“.47
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Ebd., S. 3–4. Seine Systematisierung folgt der 2. Auflage des Lehrbuchs der allgemeinen Psychologie von J. Rehmke, Leipzig 1905. Sie findet sich in später erschienenen grundlegenden emotionstheoretischen Studien durchaus wieder, vgl. (mit einigen Modifizierungen, wie die Differenzierung in Drive-Gefühle und Affekte) insbesondere Agnes Heller. Theorie der Gefühle. Hamburg 1981. Rust, Freud und Leid, S. 6. Ebd., S. 9, 14. Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 16 f., 31, 40. Vgl. ebd., S. 51. Ebd., S. 30.
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Es wäre im Einzelfalle zu fragen, ob Rusts moderne Übersetzung, wie im gerade zitierten Beispiel, das Mittelhochdeutsche erfasst. Wichtiger ist jedoch der Ansatz, diese uneindeutigere Qualität des Fühlens als solche herausgearbeitet zu haben. Mangelnde Eindeutigkeit heißt in diesem Falle allerdings kein Changieren zwischen intensiveren und schwächeren Ausdrucksintensitäten. Obwohl Rust ‚schwache‘ Ausdrucksgrade ermittelt hat, weist er immer wieder und mit Nachdruck darauf hin, dass das Erzähler-Ich des Frauendienstes emotional gleichsam stets auf höchster Flamme brennt: Auch in der darstellung der affekte und stimmungen des leides kennt U[lrich] keine zwischenstufe zwischen ruhiger und aufs stärkste bewegter erzählung. Im F[rauendienst] gibt es nur freudiges hoffen auf das minneziel oder verzweifeltes trauern, wenn der minnelohn durch neue seelische und körperliche Kämpfe nochmals errungen werden soll.48
Die Frage, die hier gestellt wird – also die Frage nach der Darstellung eines ausdifferenzierten Fühlens –, ist wichtiger als die Antwort, die der Autor auf sie gibt. Rusts Ergebnis fällt, wie bereits erwähnt, sehr zwiespältig aus. Rust macht in diesem Zusammenhang geltend, dass Ulrich von Liechtenstein in dieser Hinsicht nicht nur gegenüber Gottfried von Straßburg zurückfalle, sondern auch gegenüber Eilhart, dessen Tristrant offensichtlich ein Vorbild für den Frauendienst bildete.49 Auf der anderen Seite attestiert er dem Dichter – aber auch das ist nicht positiv gemeint – eine solche Varianz des Ausdrucks, dass es „unmöglich“ sei, „ein schema der affekts- und affektsäußerungswiedergabe nach sprachlichem gesichtspunkt aufzubauen. U[lrich] variiert seine ausdrucksweise fast exzentrisch.“50 Einer Emotion lässt sich also kein begrenztes Spektrum von sprachlichen und gestischen Ausdrucksmustern zuordnen. Wie viele Interpreten nach ihm setzt sich auch Rust mit Ulrichs Adaption der Minnesang-Tradition auseinander und stellt in diesem Zusammenhang eine Konventionalität des Gefühlsausdrucks fest, die er allerdings als nicht weiter problematisch erachtet: Oftmals ist das empfinden der freude und ihr äußern nicht ein für Lichtenstein bezeichnender wesenszug, sondern er stellt gedanken und gefühle dar, die dem ganzen M[innesang] eigentümlich sind. Der wahre dichter teilt seine innerlichen echten affektsstimmungen in poetischen worten mit.51 48 49 50 51
Ebd., S. 33. Vgl. ebd., S. 33 f., 83. Ebd., S. 80. Ebd., S. 41, 46.
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Genau die Kongruenz, die Rust zwischen einem konventionalisierten Emotionsausdruck und einem authentischem Empfinden selbstverständlich annimmt, ist jedoch in einem späteren Stadium der mediävistischen Forschung – aus Gründen, die hier nicht nachgezeichnet werden müssen – problematisiert worden. Harald Haferlands Monographie Hohe Minne nimmt diese Problematik, die in der Minnesang-Forschung als Gegensatz von Erlebnis- und Rollenlyrik bezeichnet wird, auf, um sie unter emotionstheoretischen Vorzeichen neu zu reflektieren. In einem eigenen Kapitel setzt er sich dabei mit dem Frauendienst auseinander. Haferlands Überlegungen berühren den Problemkomplex um den (vermeintlichen) Gegensatz zwischen authentischen und inszenierten Gefühlen, der in der jüngeren Mediävistik durch die Arbeiten des Historikers Althoff virulent geworden ist. Dieser Gegensatz ist nicht zuletzt mit Blick auf die Ausdrucksintensitäten von Emotionen relevant. Nicht selten wird ein Emotionsausdruck in mittelalterlichen Texten als theatralisch, übertrieben oder künstlich beschrieben.52 Eine wichtige Voraussetzung, um hier Position beziehen zu können, betrifft das Verständnis von Inszenierung selbst.53 Inszenierte Gefühle können simulierte Gefühle sein, müssen es aber nicht. Das gleiche gilt für ritualisierte Gefühle. Haferland weist in wünschenswerter Klarheit auf diesen zentralen Umstand hin: „Trauerzeremonien geben der Trauer eine rituelle Form, aber sie schließen die Trauer nicht aus“.54 Dass beide Möglichkeiten prinzipiell in Frage kommen – also Simulation und Authentizität – liegt darin begründet, dass der Emotionsausdruck in einem Maße konventionalisiert ist, dass er sich von der Emotion verselbstständigen kann. Er kann, mit anderen Worten, gespielt sein. Haferland erinnert in seinen Ausführungen an die grundsätzliche Konventionalität des Gefühlsausdrucks, performativitätstheoretisch gesprochen: an seine 52 53
54
Vgl. auch ausführlich Eming (Anm. 13). Der Inszenierungsbegriff ist schillernd, es hat jedoch Versuche der Klärung gegeben, vgl. etwa Jutta Eming. „Inszenierung.“ In: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Hrsg. von Nicolas Pethes und Jens Ruchatz. Reinbek 2001, S. 278f; Jutta Eming. „Affektüberwältigung als Körperstil im höfischen Roman.“ In: Philipowski und Prior (Anm. 22), S. 249–262; Eming (Anm. 13); Martin Seel. „Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs.“ In: Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens. Hrsg. von Josef Früchtl und Jörg Zimmermann. Frankfurt a. M. 2001, S. 48–62. Haferland, Hohe Minne, S. 195.
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‚Zitathaftigkeit‘ (Butler).55 Die Tatsache allein, dass im Minnesang fremder Wortlaut adaptiert ist, schließt nicht aus, dass über den eigenen Zustand gesprochen wird.56 Die Frage, ob zum Beispiel Ulrichs trûren als echt oder als künstlich aufzufassen sei, ist nicht grundsätzlich zu entscheiden; im Textzusammenhang wird es unzweifelhaft als aufrichtig dargestellt, mit anderen Worten, es wird authentisiert.57 Haferland vertritt die These, dass der Minnesang der institutionellen Konvention nach aus der Zurschaustellung von Gefühlen, nicht von künstlerischen Fertigkeiten besteht.58 Im Kapitel zu Liechtenstein geht es um den Nachweis, dass der Frauendienst als eine Biographie betrachtet werden kann. Um Funktion oder Ausdrucksmodi von Emotionen im Frauendienst geht es hingegen nicht. Haferlands Ausführungen stützen die hier zugrunde gelegte These, dass die Konventionalität von Emotionen kein Argument gegen ihre Authentizität sein kann. Dies gilt auch unter der Voraussetzung, dass man der Auffassung Haferlands nicht folgen möchte, dass der Frauendienst als autobiographischer Text gelesen werden kann. Ein Kapitel aus Michael Mecklenburgs noch unveröffentlichter Habilitationsschrift zur Scham stellt die einzige neuere emotionstheoretisch angelegte Studie zum Frauendienst dar. Sie verfolgt einen in der mediävistischen Emotionalitätsforschung bislang wenig praktizierten Ansatz. Im Anschluss an emotionspsychologische und neurophysiologische Forschungen sind Emotionen Mecklenburg zufolge, wie Literatur und Kultur überhaupt, in biologischen Anpassungs- und Selektionsprozessen verankert, die das Überleben des menschlichen Organismus sichern. Die Scham-Emotion ist damit nicht mehr, wie noch bei Elias, als Produkt der Kultivierung des Naturwesens Mensch zu begreifen, sondern als zentrales Element von jeher, das den Ausgleich zwischen Individuum und Gruppe im Sinne eines Gesamtüberlebens der Spezies sichert. Mecklenburg avisiert also eine sehr grundsätzliche Ebene der Literaturproduktion und -rezeption. Für Emotionen, genauer Basisemotionen, 55
56 57 58
Zur Zitathaftigkeit und Ritualität von Sprache vgl. Judith Butler. Excitable Speech. A Politics of the Performative. New York, London 1997. Dt.: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Mit einem Nachwort zur Taschenbuchausgabe. Frankfurt a. M. 2006. Vgl. Haferland, Hohe Minne, S. 205. Vgl. ebd., S. 214. Vgl. ebd., S. 196. Vgl. zu diesem Punkt auch die Definition S. 202: „Tendenziell persönliche Bekanntschaft mit den Zuhörern und Selbstdarstellung unter Zurschaustellung der eigenen – gegebenenfalls vorgeblichen – Gefühle zur Bezeugung durch die Zuhörer charakterisieren die Vortragssituation des Minnesangs“.
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wird eine genetisch identische Basis angenommen, die nur geringfügigen Mechanismen historischer Modellierung unterliegt. Nützlich ist in diesem Zusammenhang eine Differenzierung von Scham-Disposition und Scham-Affekt, die sich auf den besonderen Charakter der Scham als einer sozialen Emotion bzw. ‚sozial vermittelten angeborenen Emotion‘ bezieht. Katja Mellmann hat dies in vereinfachter Form skizziert wie folgt: Wovor wir uns ekeln oder wofür wir uns schämen, sagt man z. B. häufig, sei anerzogen. Die Emotionen Ekel und Scham selbst aber sind angeborene psychische Programme. Dass wir über diese natürlichen Dispositionen verfügen, ermöglicht überhaupt erst, dass wir im Laufe der Ontogenese auf weitere Auslösereize konditioniert werden können. Gerade Kunst wirkt an solchen ontogenetischen Prägungen ganz erheblich mit.59
Modelle ritterlicher Scham und weiblicher Scham, die Mecklenburg an älteren Texten – dem Erec und dem Tristan – entwickelt hat, sind seiner Auffassung nach im Frauendienst ‚verfestigt‘.60 Im Unterschied zum Artusroman könne die Scham-Disposition sich ferner nicht mehr in ‚echten‘ Kämpfen, sondern nur mehr in Turnieren bewähren. Scham spielt Mecklenburg zufolge jedoch eine zentrale Rolle für den Minnedienst, und sie ist nach wie vor ein Testfall für höfische Idealität.61 Grundsätzlich hat Scham im Frauendienst die (positive) Funktion, normbrechendes Verhalten anzuzeigen.62 Mecklenburg untersucht dabei sowohl Situationen, in denen Scham auftritt, als auch solche, in denen sie eigentlich zu erwarten wäre, aber ausbleibt. Wichtig sind in diesem Kontext Überlegungen zu Scham-Substitutionen, also zu Scham, die an anderen Emotionen manifest wird, wie Zorn oder trûren, und zum Ersatz von Scham durch Ekel. Allerdings zeigt sich an diesem Punkt der Interpretation – an dem konstatiert wird, dass eine Emotion sich hätte einstellen müssen, aber ausbleibt, z. B. Ekel – auch eine Problematik des Ansatzes. Grundlage einer solchen Argumentation sind als universal angenommene, lebensweltliche Konventionen. Die literarischen Figuren werden mit einer psychologischen Logik ausgestattet, die gleichsam ‚hinter‘ dem liegt, was im Text manifest wird. Ähnlich wie Rust verzeichnet Mecklenburg in einigen Szenen einen übersteigerten Emotionsausdruck. Gradmesser dieser ‚Steigerung‘ ist 59 60 61 62
Mellmann (Anm. 16), S. 364. Vgl. Mecklenburg (Anm. 25), S. 345. Vgl. ebd., S. 367. Vgl. ebd., S. 358.
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die höfische Verhaltensnorm, die im Text selbst manifest werde.63 Die Funktion dieser Ausdruckssteigerung sieht Mecklenburg in einer Authentisierung der Emotionen. Mecklenburg vertritt die These, dass der Minnedienst selbst in hohem Maße durch Scham motiviert ist, im Kern durch die Scham über das eigene Begehren. Die Forderung nach weiblicher Scham verbinde sich mit der Forderung nach Verlässlichkeit, was dann – so das überraschende Ergebnis – bis zur Forderung nach Einlösung des (sexuellen) Lohns ausgedehnt werden kann, wodurch die Basis des Schamempfindens selbst aber ausgehebelt wird.64 Mit dieser aporetischen Konstellation wird ein Erklärungsansatz für das Problem geboten, worin die untât der Dame bestand, die Ulrich den Dienst schließlich aufkündigen lässt.65 In eine ähnliche Richtung argumentiert schon Haferland. Zwar gelte grundsätzlich, dass „Literatur in Leben […] umgesetzt werden [kann]“.66 Bei Minnesang als ‚sozialer Praxis‘ handelt es sich nach Auffassung von Haferland jedoch um eine „Fehlkonstruktion“, zu der es dadurch kommt, dass ihr Funktionieren auf einer übereinstimmenden Interpretation der Partner beruhen müsse, die zumeist ausbleibt.67 Auch von Sandra Linden wird auf die Forderung nach Reziprozität hingewiesen, die Ulrich an die erste Dame richte.68 Mecklenburg schließt an diese früheren Thesen auf dezidiert emotionstheoretischer Basis an. Damit zeichnet sich ein gewisser Forschungskonsens über die im Frauendienst avisierte Beziehungskonzeption ab. In den Grenzbereich von Emotionalitätsforschung und Psychoanalyse führen die Arbeiten zum Frauendienst von Ulrich Müller.69 Im Frauendienst artikuliert sich nach Auffassung von Müller „ein adliger Ritter, der hinsichtlich seiner Rolle tief verunsichert ist, der lange Zeit zwischen extremen, geradezu rituellen Unterwerfungshandlungen und ebenso extremen Allmachtsphantasien hin- und herschwankt“.70 Diese These wird mit den Episoden um das Trinken des Handwaschwassers, das Abschlagen des Fingers, das Ausharren im Burggraben einerseits, der Selbstinszenierung 63 64 65
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Vgl. ebd., S. 363 f. Vgl. ebd., S. 380 f. Zur untât der Dame vgl. auch den Beitrag von Kellermann im vorliegenden Band, S. 233 f. Haferland, Hohe Minne, S. 361. Ebd., S. 275. Vgl. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 120–150. Müller, „Ulrich von Liechtenstein und seine Männerphantasien“. Dort auch weitere Literaturangaben. Ebd., S. 310 f.
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in der Venusfahrt andererseits unterstützt. Die Schwierigkeit einer solchen Deutung liegt darin, dass sie – was Müller selbst konzediert – ebenfalls mit Universalien argumentieren muss.71 Auch mit Blick auf die Körpersemantik ist dies nicht unproblematisch. Die Wortwahl für den kranken und unbeweglichen Finger Ulrichs scheint aus moderner Perspektive auf den ersten Blick zwar offensichtlich phallisch konnotiert (erkrumbet, harte cleine, lutzel, er mac gerecken in niht vil, 431).72 Der verstümmelte Finger wäre also Statthalter einer Depotenzierungsphantasie. Daneben kommen in diesen Episoden jedoch historische Körperkonzepte zum Tragen. Der abgeschlagene und der Dame als Geschenk überreichte Finger etwa wird behandelt wie eine Reliquie, wenn auch eine ‚invertierte‘.73 Müller interpretiert vornehmlich Handlungen, nicht jedoch die Emotionen, die diesen Handlungen attribuiert werden. Diese wären jedoch ein wichtiger Anhaltspunkt für eine psychoanalytische Deutung. Psychoanalyse ist – als Praxis – in Emotionen verankert. Systematische Untersuchungen, die auf einer methodischen Verbindung von Psychoanalyse, Emotionsforschung und Literaturwissenschaft aufbauen, stehen bislang noch weitgehend aus.74 Diese hätten sich wohl auf die Ausdrucksrelation zu konzentrieren, auf das Verhältnis von einer manifesten zu einer latenten oder unterdrückten Emotion. Die Psychoanalyse geht zum Beispiel davon aus, dass Zorn an die Stelle von Scham treten kann, weil letztere eine ‚schwer erträgliche‘ Emotion darstellt, die bekämpft 71 72
73 74
Ebd., S. 310. Zum Fingerverlust vgl. im vorliegenden Band die Beiträge von Kellermann, S. 252–255, und Liebertz-Grün, S. 145 f. Vgl. Kiening, „Der Autor als ‚Leibeigener‘“, S. 226. Als Versuch eines Vorstoßes sei erwähnt: Jutta Eming. „Mediävistik und Psychoanalyse“. In: Jaeger und Kasten (Anm. 20), S. 31–44. In Reaktion auf diesen Aufsatz wurde in nachfolgenden Veröffentlichungen etwas gebetsmühlenhaft der alte Vorwurf wiederholt, dass literarische Figuren nicht wie reale Menschen zu behandeln seien, zum Beispiel durch eine Analyse literarischer Träume, vgl. Philipowski (Anm. 17); Christiane Ackermann. „Mediävistik und psychoanalytische Literaturtheorie (mit einer Annäherung an den Armen Heinrich Hartmanns von Aue).“ Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 48, 2007, S. 9–44. Diese Kritik beruht auf einem fundamentalen Missverständnis über die psychoanalytische Konzeptualisierung von unbewussten psychischen Dynamiken und sekundären Bearbeitungen, und sie ignoriert die Tatsache, dass psychoanalytisch inspirierte Literaturinterpreten seit Freud (und inklusive Freud) diesen Aspekt kontinuierlich expliziert haben. Vgl. etwa Walter Schönau. Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft. Stuttgart 1991, S. 102–105; Terry Eagleton. Einführung in die Literaturtheorie. 3. Auflage. Stuttgart, Weimar 1994, S. 138–213, und generell Peter von Matt. Literaturwissenschaft und Psychoanalyse. Stuttgart 2001.
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werden muss.75 Es wären also Substitutionslogiken anzunehmen und eventuell eine Spaltung zwischen manifesten Emotionen an der Textoberfläche und psychischen Dynamiken auf der Ebene eines Subtextes (Eagleton),76 und Formen der Symbolisierung psychischer Inhalte. In Ulrichs Fall betrifft die Frage der psychoanalytischen Interpretation auch den Aspekt des ‚Textbegehrens‘, die Frage also, ob sich ein Begehren, das sich in der Dichtung artikuliert, tatsächlich auf eine Dame richtet, wie im Text behauptet, oder nicht vielmehr auf das Dichten selbst.77 Weil Ulrich fortgesetzt von seiner Dame zurückgewiesen wird und dies mitunter traurig und verunsichert, mitunter jedoch auch regelrecht beglückt entgegennimmt, wäre zu reflektieren, ob dies nur ein unbedingtes Festhalten an der Tugend der staete bedeutet oder ob hier eine Störung dargestellt wird, eine Unfähigkeit, Zurückweisungen als solche zu akzeptieren. Dies könnten im Einzelfall komplementäre Perspektiven sein. Eine Tendenz, am Protagonisten des Frauendienst Störungen des emotionalen Ausdrucks oder Fehlleistungen darzustellen, ist grundsätzlich jedenfalls kaum zu übersehen. Ein Beispiel dafür ist die erste Begegnung mit der Dame:78 Sâ rait ich paltlîch zuo ir dar. dô sî mîn bî ir wart gewar, si kêrt sich von mir umbe hin; dâ von sô zaghaft wart mîn sin, daz mir erstumbet an der stunt diu zunge mîn und ouch der munt, und mir daz houbet nider seic: mîn lîp reht als ein stumbe sweic. (122)79 75
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Vgl. Léon Wurmser. Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. 3., erweiterte Auflage. Berlin u. a. 1998. Zum Subtext als einer Kategorie der psychoanalytischen Literaturtheorie vgl. Eagleton (Anm. 74), S. 169–173. Vgl. Jutta Eming. „Weiterlieben, weitererzählen. Der Abschiedsmonolog Isoldes und die Verwerfung der poetologischen Alternative.“ In: Der Tod der Nachtigall. Liebe als Reflexion von Kunst. Hrsg. von Martin Baisch und Beatrice Trînca, Göttingen 2008 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 6), S. 189–211. Zur kommunikativen Struktur dieser Episode vgl. auch den Beitrag von Kellermann im vorliegenden Band, S. 212–215. Vgl. außerdem 380, wo Ulrich – was er selbst als minnewunder bezeichnet – eine ähnliche körperliche Reaktion überkommt, nachdem ein Bekannter ihm auf den Kopf zusagt, dass seine Dame ihm gewogen sei, und dabei ihren Namen nennt. Eine schlaffe Körperhaltung ist bei Ulrich von Liechtenstein grundsätzlich negativ konnotiert, changiert jedoch im Bedeutungsspektrum, so ist sie im Frauenbuch kennzeichnend für Schmeichler und Spötter, vgl. V. 1655 f.
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Ulrich blockiert sich ausgerechnet in dem Moment selbst, den er intensiv herbeigesehnt hatte. Linden zufolge […] nutzt der Autor Ulrich hier das Motiv der Minnestummheit aus, um mittels Übertreibung Komik zu erzeugen, denn anstatt nach einmaligem Versagen den Rückzug anzutreten, wird Ulrich nicht müde, fünfmal hintereinander zur Dame zu reiten. Jedesmal öffnet er den Mund, jedesmal bringt er nur Gestammel hervor.80
Aber es ist keineswegs ausgemacht, dass hier Komik erzeugt wird, zumindest wäre zu differenzieren, auf welcher Ebene und in wessen Perspektive. Im Text wird wenig später zwar gelacht, aber die Situation selbst ist kaum als komisch zu bezeichnen: Des schimpfes wart gelachet dâ. dô trat si ûf daz hebîsen sâ. dô sî her von dem satel sleif, bî mînem hâr si mich begreif, verholne, daz ez niemen sach. diu guot mir einen loc ûz prach. „daz habet iu, des ir sît verzagt! mir ist niht wâr von iu gesagt.“ (134)
Nachdem die Dame sich also zunächst öffentlich über Ulrich lustig gemacht hat, was mit allgemeinem Lachen quittiert wird, tritt sie in einem Akt nicht unbeträchtlicher Gewalt an ihn heran und reißt ihm ein Büschel Haare aus. Es lindert die Erniedrigung um ein Weniges, dass sie diesen Teil der Beschämung nicht-öffentlich vollzieht. Das Erzähler-Ich kritisiert ihr Verhalten in keiner Weise, sondern richtet alle Aggression in der Form von schweren Selbstbezichtigungen und Schuldzuweisungen gegen sich selbst. Angesichts solcher autodestruktiver Maßnahmen scheint die Annahme, dass sich im Frauendienst masochistische Unterwerfungsphantasien artikulieren, nicht ganz abwegig.81 Lachen ist ein Testfall für Annahmen über emotionale Dynamiken an der Textoberfläche oder auf der Ebene eines Subtextes. Das Verhältnis von Emotionen und Lachen oder Komik ist seinerseits bislang noch nicht systematisch entfaltet worden. Einzelstudien liegen jedoch vor.82 80 81 82
Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 70. Vgl. Müller, „Ulrich von Liechtenstein und seine Männerphantasien“. An Untersuchungen zur intradiegetischen Rolle des Lachens sind zum Beispiel zu nennen Christoph Huber. „Lachen im höfischen Roman. Zu einigen komplexen Episoden im literarischen Transfer.“ In: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Hrsg. von Ingrid Kasten, Werner Paravicini und René Pérennec. Sigmaringen 1998 (Beihefte der Francia 43), S. 23–33; und Kathryn Starkey. „Brunhild’s Smile. Emotion and the Politics of Gender in the Nibelungenlied.“ In: Jaeger
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Lächeln und Lachen gelten in der Emotionspsychologie als Ausdruck von Freude (joy).83 Lächeln gilt auch als Indikator von Heiterkeit (exhilaration).84 Doch wäre es selbstverständlich abwegig, jeden Beleg über Lachen als Freude zu interpretieren. Seit Freuds Studie über den Witz und seine Beziehung zum Unbewussten ist über den psychischen Mechanismus, der Komik an Aggression bindet und im Lachen entlädt, viel bekannt.85 Die mediävistische Literaturwissenschaft hat die Notwendigkeit, verschiedene Formen der Produktion von Komik in literarischen Texten zu differenzieren, früh gesehen und bearbeitet.86 Aus dem Kontext der zuletzt zitierten Passage geht eindeutig hervor, dass auf der intradiegetischen Ebene nicht Freude, sondern bestenfalls Schadenfreude das Lachen auslöst, das demnach mit einer gehörigen Portion Aggression gewürzt ist. Der moderne Rezipient mag die gesamte Situation als komisch empfinden, ob das für den historischen Rezipienten aber auch gilt, muss offen bleiben. Eine solche Eindeutigkeit der Zielrichtung eines Lachens auf der intradiegetischen Ebene lässt sich im übrigen keineswegs für alle Stellen des Frauendienst ermitteln, in denen von Lachen erzählt wird.87 Warum oder worüber zum Beispiel lacht die Frau, die Ulrichs Venus-Verkleidung durchschaut hat, bevor sie ihm einen Kuss gibt (538)?88 Lisa Perfetti hat jüngst eine genderorientierte Untersuchung zu Women and Laughter in Medieval Comic Literature vorgelegt, die ein Kapitel zum Frauendienst enthält. Perfetti zufolge ist das Lachen der Dame im ersten Dienst Ausdruck ihrer faktischen Handlungsohnmacht: Was im-
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und Kasten (Anm. 20), S. 159–173; zur Rolle des aggressiven Witzes in einer auch rezeptionsästhetischen Perspektive Werner Röcke. Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Spätmittelalter. München 1987 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 6). Vgl. zum Lachen im Frauendienst außerdem Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“. Vgl. Izard (Anm. 26), S. 131 ff. Genau auf dieser Linie argumentiert Rust, Freud und Leid, S. 67. Vgl. Willibald Ruch. „Exhilaration and Humor.“ In: Handbook of Emotions. Hrsg. von Michael Lewis und Jeanette M. Haviland. New York 1993, S. 605–616. Vgl. dazu Thomas Anz. Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München 1998, S. 172–204; Schönau (Anm. 74), S. 49–52. Grundlegend Hans Robert Jauß. „Über den Grund des Vergnügens am komischen Helden.“ In: Das Komische. Hrsg. von Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning. München 1976 (Poetik und Hermeneutik VII), S. 103–132. Anders Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 104–112. Vgl. allerdings die Differenzierung der Lachanlässe ebd., S. 239–241. Vgl. im vorliegenden Band die Beiträge von Bleumer, S. 380, und Ackermann, S. 353–355.
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mer sie auch sagt, ob sie sich gegenüber dem Ritter freundlich oder abweisend zeigt, von seinem Dienst lässt er nicht ab. Dabei stellt die Dame mehrfach klar – besonders anlässlich der Einladung in ihre Kemenate – was er von ihr zu erwarten hat und was nicht.89 Ihn zu verlachen sei die einzig ihr verbleibende Handlungsalternative. Ähnlich wie Müller sieht Perfetti einen pathologischen Zug in Ulrichs staete. Sein Unvermögen, selbst eindeutige Zurückweisungen von ihrer Seite anders denn als Ermunterung zu lesen, indiziere eine selektive Wahrnehmung, vielleicht einen masochistischen Zug, vielleicht eine Sublimierung, auf jeden Fall jedoch eine gestörte emotionale Reaktionsweise.90 Dies bedeutet nicht, dass Perfetti auf ein gestörtes Autor-Subjekt zurückschließt. In ihrer Sicht sind diese Ausfälle Teil einer bewussten literarischen Inszenierung. Der Dichter, so Perfetti, macht sich damit letztlich über die Institution des Frauendienstes selbst lustig.91 Es hat sich abgezeichnet, dass emotionstheoretische Fragestellungen von einer großen Vielfalt sind. Welche verfolgt werden, hängt vom Erkenntnisinteresse und von den Problemen ab, die der Text aufwirft.92 Die folgenden Ausführungen zu den Werken Ulrichs von Liechtenstein können in das Feld möglicher Forschungen nur einen Einblick geben. Sie knüpfen an die bisherigen Fragen zum Verhältnis von ‚einfachen‘ und unbestimmteren Emotionen, Emotion und Emotionsausdruck, Textoberfläche und Subtext an und versuchen davon ausgehend, emotionstheoretische Perspektiven zu entwickeln. Es wird insbesondere danach gefragt, wie Emotion und Emotionsausdruck in den Texten Ulrichs von Liechtenstein codiert und bewertet werden und ob der ‚grelle‘ Emotionsausdruck als Charakteristikum des Textes zu sehen ist. Es bietet sich an, dafür mit dem Frauenbuch einzusetzen und von dort zum Frauendienst überzugehen. Das Frauenbuch diskutiert Emotionen analytisch. Das erweitert die Perspektive in einer auch für den Frauendienst fruchtbaren Form.
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Vgl. zum Beispiel 1207–1211, 1236–1238. Vgl. Perfetti. Women & Laughter, S. 148. Vgl. ebd., S. 166. Die gerade von Schnell mit autoritativer Geste vorgestellten sieben Bereiche der Emotionsforschung erschöpfen diese Fragestellungen nicht. Sie sind ferner nicht immer nachvollziehbar voneinander abgegrenzt. Vgl. Rüdiger Schnell. „Emotionsdarstellungen im Mittelalter. Aspekte und Probleme der Referentialität.“ ZfdPh 127, 2008, S. 79–102.
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3. Emotionen im Frauenbuch 93 Das Frauenbuch ist entlang weniger und leicht zu identifizierender Emotionen organisiert. Am prominentesten vertreten ist vreude.94 Mit der vreude, die der Ich-Erzähler von seiner Dame bezieht, setzt der Text ein, und mit der Frage, warum die Männer so unfrô seien, beginnt die Dame das Gespräch (V. 19–23, 45–60). Komplementäre Emotionen, die dann auftreten, wenn die vreude fehlt und dieser Mangel empfunden wird, sind vor allem trûren und jâmer. Der gesamte Dialog zwischen dem Ritter und der Dame, der dem Frauenbuch seine Form gibt, entwickelt sich entlang der Frage, warum die vreude vergangen ist, welche Schuld die Geschlechter daran tragen und unter welchen Bedingungen sie wiederherzustellen wäre. Vreude ist ein Zustand, der immer anzustreben und möglichst auf Dauer zu stellen ist. Dafür bedarf es, wie im Laufe des Dialogs deutlich wird, jedoch eines komplizierten Bedingungsgefüges aus Handlungen, Einstellungen und einer Reziprozität von Emotion, Emotionsausdruck und seiner Wahrnehmung. Der Dialog wird von der Dame durch das scheinbar großherzige Angebot begonnen, dass der Ritter sich ihr gegenüber öffnen und Kritik an Frauen äußern solle (V. 83–97). Weil sie es mit der Ankündigung verknüpft, ihm dafür im Gegenzug die Kritik der Frauen an Männern preisgeben zu wollen, werden die Rahmenbedingungen des Gesprächs jedoch sofort offenbar. Es handelt sich um einen Geschlechterkampf mit wechselseitigen Schuldzuweisungen. Im Zuge des Streitgesprächs wird deutlich, dass jede Seite Erwartungen gegenüber der anderen hegt, die sie nicht erfüllt sieht, dass zwischen Männern und Frauen die Gefahr von Missverständnissen herrscht und dass über die adäquaten Formen höfischer Kommunikation Unsicherheit besteht. Im Kontext des höfischen Rahmens, der im Frauenbuch gegeben ist, überrascht es nicht, dass ein ausgebliebener Gruß der Damen, im Weiteren das Desinteresse der Frauen generell, die ersten Gründe sind, die der Ritter für den Verlust von vreude nennt. Grüßen, so entgegnet daraufhin die Dame, können die Frauen nur im Austausch mit Dienst, sonst würden sie für leichtfertig gehalten. Dieser Vorwurf kehrt in leicht veränder93
94
Vgl. neben dem von Philipowski verfassten Kapitel zum Frauenbuch im vorliegenden Band auch den Beitrag von Sieber, S. 272 f., 277–280, 292–299. Zum Konzept der vreude in Ulrichs Minneliedern vgl. den Beitrag von Braun im vorliegenden Band, S. 418–422.
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ter Form im Folgenden immer wieder: freundliches Verhalten der Damen wird falsch verstanden. Die Retourkutsche des Mannes lässt angesichts einer solchen Kritik nicht auf sich warten. Er behauptet, das Aussehen der Frauen sei nicht dazu angetan, in Hochstimmung zu geraten. Sie neigten dazu, sich wie Nonnen zu verhüllen und sich ostentativ ganz der geistlichen Beschäftigung hinzugeben. Gerade letzteres stellt ein besonderes Problem dar: wær ir daz herze geistlîch gemuot, daz solt ir munt noch nieman sagen, ir pâter noster tougen tragen. swan ir mit uns tanzen soltet gân, sô siht man iuch ze kirchen stân beidiu die naht und ouch der tac. mit iu nieman vreude haben mac, ez sîn geste, vriunde oder man, die müezen iuch dâ venjen lân. (V. 250–258)
Vreude, das zeigt sich hier wie an anderen Stellen, ist dezidiert eine Zentralkategorie der höfischen Kultur. Sie bezeichnet eine Praxis der kultivierten öffentlichen Geselligkeit, Gastfreundlichkeit und Zerstreuung: Freude ist zugleich Bedingung und Ergebnis sozialer Anerkennung, setzt insofern Gelingen höfischer Gemeinschaft voraus. Dies meint eine Form des Umgangs miteinander, vor allem zwischen Mann und Frau, die subjektive Stimmungen zurückstellt, sich an den Erwartungen des anderen orientiert (Reflexivität), in Gruß und Gespräch dem anderen sein Selbstgefühl bestätigt und es ihm durch die höfische Selbstdarstellung der eigenen Person – in kostbaren Kleidern, edlen Gebärden, Schmuck – zurückspiegelt.95
Wenn die Frauen sich dieser Kultur entziehen, indem sie sich dem Gebet widmen, sind davon nicht nur die Männer betroffen. Letztlich wird der ganze Hof in Mitleidenschaft gezogen. Fehlende vreude, trûren und jâmer enthüllen deshalb die Verletzlichkeit und Krisenanfälligkeit des Hofes. Dies gilt nicht nur für das Frauenbuch. An verschiedenen Beispielen aus der höfischen Literatur lässt sich zeigen, wie prekär es ist, wenn Einzelne sich dem höfischen Beisammensein zu entziehen versuchen. Ein Bedürfnis nach Rückzug ist nie selbstverständlich und nie nur persönliche Angelegenheit; räumliche oder auch nur emotionale Isolierung können als schlechtes Benehmen und Angriff auf die höfische Geselligkeit, eben die vreude, verstanden werden. Aus diesem Grund zieht Gahmuret zunächst kein Mitleid, sondern Unmut auf sich, als ihn in einer wohl ge95
Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 48 f.
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stimmten Runde von mehreren Rittern Trauer überkommt;96 deshalb bringt Partonopiers Rückzug in eine Klause am Hof seiner Mutter letztlich das ganze höfische Fest zum Scheitern;97 deshalb versucht Artus, den sich selbst problematisch gewordenen Iwein, der sich vom Hof entfernt, zurückzuholen. Im Frauenbuch versteht die Dame diese Stoßrichtung des Vorwurfs nur zu gut, das zeigt sich darin, wie sie ihn pariert. Sie verteidigt nicht die geistliche Beschäftigung per se, sondern sie wirft dem Mann vor, dass er und seine Geschlechtsgenossen ihrerseits keine vreude zu bieten hätten, für die das Beten aufzugeben sich lohnte. An dem Punkt, dass die Männer außerdem den Ausdruck der vreude bei Frauen missverstehen und als sexuelle Bereitwilligkeit deuten, steckt der Dialog im Nu erneut fest. Als der Ritter daraufhin noch einmal das – offensichtlich keineswegs nebensächliche – Thema der angemessenen Kleidung der Dame aufnimmt, kommt es zu einer bemerkenswerten Geschlechterrollenzuschreibung: Der Mann hat Anspruch darauf – besonders dann, wenn er ihr schöne Kleidung zur Verfügung stellt –, dass seine (Ehe-) Frau sich auf repräsentative Weise in der höfischen Gesellschaft zeigt und sich gemeinsam mit ihm um den Zustand des hohen muotes bemüht (V. 341–370). Der hohe muot ist ähnlich konnotiert wie vreude, als aktiv gesuchte, in der Zugehörigkeit zur Elite wurzelnde und diese Zugehörigkeit performativ zur Schau stellende (Hoch-) Gestimmtheit. Vreude ist zugleich Verhaltensnorm und Zustand, sie umgreift eindeutige, positive und als solche zur Schau gestellte Emotionen.98 In einer Studie zum Self-Fashioning der adligen Eliten Englands und Frankreichs zur Zeit des Hundertjährigen Kriegs durch Kleidung, Heraldik, Feste und Turniere kommt Susan Crane auf diese typische, nach Außen gewendete Seite der höfischen Gesellschaft zu sprechen, „the rich elaboration of personal significance around physical signs that is only possible when appearance, not hidden interiority, is taken to be meaningful“.99 Dies bedeutet gerade nicht, dass die Frage nach dem Inneren sich nicht stellt. Im Frauenbuch wird dies zum Beispiel daran deutlich, dass der hohe muot bei den Evokationen von Auftritten am Hofe 96 97 98
99
Vgl. Eming (Anm. 33). Vgl. Eming (Anm. 13). In Abwandlung der Formulierung bei Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 49: „Freude ist nicht Zustand, sondern Verhaltensnorm.“ Susan Crane. The Performance of Self. Ritual, Clothing, and Identity During the Hundred Years War. Philadelphia 2002, S. 176.
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ausdrücklich genannt wird. Crane erinnert daran, warum gerade der Performanz-Begriff diese doppelte Passung nach Außen und Innen erfasst: Several currents in performance studies have resisted the dichotomy between inner genuineness and outer falseness, by historicizing the dichotomy itself, by analyzing situations in which behavior constitutes as well as expresses identity, and by suggesting that interiority is an effect generated within performance itself.100
Bei aller Ironie, die dem Frauenbuch zweifellos eignet, wird das Ideal höfischer Sozialität, dessen Konturen sich im Dialog abzeichnen, ebenso ernsthaft vertreten wie – zumindest teilweise – die Bedingungen, die zur Möglichkeit seiner Verwirklichung genannt werden. Dies gilt auch für eine Reihe von Vorwürfen seitens der Frau, die auf Grund ihres überzeichneten Stils zu den bekanntesten des Frauenbuchs gehören: Der Mann habe an den Zärtlichkeiten seiner Frau kein Interesse, sondern suche lieber Zerstreuung in der Jagd (V. 395–436). Nach der Heimkehr kümmere er sich ebenfalls nicht um seine Frau, sondern sei nur an Spiel und Trunk interessiert und verziehe sich früh ins Bett (V. 437–453). Ähnlich wie Gaweins Beschreibung eines verbauerten und verdörperten Hausherren gegenüber Iwein durchaus witzige Züge trägt, obwohl sie eine ernst gemeinte Warnung vor dem Verlust seiner Standespflichten transportiert, sollte die Ironie dieser Beschreibungen eines lieblosen Ehelebens nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier das Problem verhandelt wird, wie im Ehealltag Raum für höfische Repräsentation zu schaffen ist: warumb solt si dan vreude pflegen und iht guotes an sich legen, sît ir man hât mit ir vreude niht und daz si nieman vremden siht? sô ist ir niht dinges alsô guot, sô daz si herze und muot wende an gotes dienest gar: damit verswende hin diu jâr, ob ir lîp hie ân vreude sî, daz ir dort sî vreude bî. (V. 479–488)
Ein etwas später folgender Beschwichtigungsversuch des Mannes mündet in einer erneuten Aufforderung zur vreude unter den schon früher genannten Bedingungen:
100
Crane (Anm. 99), S. 177.
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wolt ir noch hôhes muotes sîn und woltet swachez trûren lân und iuren lîp vrœlîchen hân und daz ir wæret muotes rîch, man diente iu noch als ritterlîch, als man ê diente vrouwen. und liezet ir iuch schouwen wol gemuot und wol gekleit, sô wær man dienstes iu bereit. (V. 740–748)101
Die Dame leitet dann zu einem anderen Aspekt über. Sie erklärt, dass für Frauen Unklarheit und Unsicherheit darüber herrschen, wie eine Performanz von vreude aussehen könne, die sich nicht dem ‚Spott‘, genauer: der üblen Nachrede der anderen aussetzte. Gerade exponierte vreude wird zum Beispiel für die junge, unverheiratete Frau zu einem Problem: ist aber ein schöniu maget, der lîp von rehte wol behaget, tanzet unde lachet und sich iht schône an machet, sô giht man des, si sî ze balt, si werde in êren nimmer alt. wie sol diu maget danne leben? (V. 821–827)
Eine junge Frau, die sich in der höfischen Öffentlichkeit von ihrer besten Seite zeigt, setzt sich dem Vorwurf der Promiskuität aus. Tatsächlich zeichnet sich hier und an anderen Stellen eine Problematik widersprüchlicher Verhaltensanforderungen an die Frau ab, z. B. einerseits zurückhaltend zu sein und andererseits angenehm aufzufallen. Darauf geht der Gesprächspartner jedoch in keiner Weise ein. Das Rezept, das er zu geben hat, ist denkbar einfach. Wenn eine Frau sich einem anständigen Mann unterordnet (wie sie sich vorher ihren Eltern untergeordnet hat) (vgl. V. 1019 f.), dann wird er seinerseits alles tun, was sie möchte. Sie werden ein vreuden rîche süezez leben führen (V. 868) und mit vreuden alten (V. 869).102 Vreude bezieht sich hier also auf den wünschenswerten Zustand ehelicher Harmonie. Unter diesen Voraussetzungen können der haz (V. 891) und der nît (V. 893) der anderen ihr nichts anhaben. Die 101
102
Im Kontrast dazu stehen die Verse 818–820 im Frauendienst, die Klischees über die Putzsucht der Frauen repetieren. Vgl. auch den Kommentar von Young zu V. 1931–38, dem Fazit des Erzählers im Frauenbuch, das dessen „Gerissenheit“ offenbare: „Die Dame gewinnt zwar den Disput, aber nur, weil Frauen den Männern undertân sein müssen, und daher auf sie angewiesen sind, um hôhen muot zu erlangen. […] Er spielt mit der faktischen Rechtlosigkeit der Frau“ (Frauenbuch, Ed. Young, S. 220).
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Dame spricht daraufhin die Schwierigkeit an, einen potentiellen Ehemann überhaupt zu erkennen. Männer seien undurchschaubar, sie lügen sogar (V. 1207–1224). Der Ritter warnt entsprechend vor Männern, die sich schon einmal als untreu erwiesen haben, und er warnt vor Schmeichlern (V. 1265–1296). Er behauptet jedoch, dass es Männer, die gegenüber Frauen vorbildlich eingestellt sind, noch gibt: der selben manne reinen weiz ich mêr dan einen, der sô manlîch ist ein man, daz er diu wîp bedenken kan und in ouch dienet alle zît, und daz al sîn vreude lît an wîben und an nieman mê. (V. 1443–1449)
Er nennt hier und an anderen Stellen allerdings keine konkreten Namen, obwohl ihn die Dame darum bittet, sondern verbleibt auf der Ebene einer allgemeinen Beschreibung. Die Argumentation bekommt dadurch einen tautologischen Zug. Allgemeine Merkmale werden genannt. Bei der Frage, auf wen sie zutreffen, lautet die Antwort: auf die, die diese allgemeinen Merkmale zu erkennen geben.103 Einzig Ritterschaft im Dienst einer Frau wird als relativ eindeutiges Erkennungsmerkmal genannt (z. B. V. 1732–1737), was für einen Text, der vom gleichen Verfasser wie der des Frauendienst stammt, wohl kein Zufall ist. Das Fazit der Analyse, das die Dame gegenüber der schließlich erscheinenden Erzählerfigur Ulrich von Liechtenstein zieht, fällt angesichts von so viel Unverbindlichkeit entsprechend indifferent aus: Beide Geschlechter tragen Schuld am Zustand der fehlenden vreude. wir wîp des manege schulde hân daz hôchgemuot niht sint die man. ouch habent des schult der manne lîp daz vreuden rîch sint niht diu wîp. die man sint schuldec und ouch wir. (V. 1857–1861)
Trotz der streitsüchtigen Grundhaltung der beiden Dialogpartner sind sie sich darin einig, dass vreude der erstrebenswerte Zustand ist. Vreude jedoch beruht auf Reziprozität; sie stellt sich schon deshalb nicht ein, weil beide Seiten sich nicht darüber einig sind, welche Zuständigkeiten den Geschlechtern jeweils zukommen. Insgesamt zeigt sich der Dialog des Frauenbuch in diesem Punkt jedoch ausgewogener, als ihm vielfach attes103
Ähnlich Young, der diese Antworten als ‚Ausweichmanöver‘ beschreibt (Frauenbuch, Ed. Young, Kommentar zu V. 1257 f.).
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tiert wurde.104 Auch wenn die Redeanteile der Dame im zweiten Teil des Texts zurückgehen, lässt sie in ihren insistierenden Fragen nicht nach. Unklarheit herrscht darüber, wie vreude angemessen ausgedrückt werden kann, so, dass man sich vor Missverständnissen schützt. Über den Code, insofern er sich nicht nur auf Handlungen und Anlässe für vreude bezieht, sondern auf Ausdruckskonventionen, herrscht zwischen den Geschlechtern keine Klarheit. Wie ist die Freude-Emotion codiert? Vreude bezeichnet offensichtlich den idealen Zustand am Hof. Aber vreude hat eine Vielzahl weiterer Schattierungen, die das individuelle Fühlen einbeziehen. Vreude ist keine reine Repräsentation oder Praxis, sie bedarf einer Emotion als Komplement. Sie ist darüber hinaus nicht nur eine Kategorie des Verhaltens am Hof, sondern auch der Beziehung zwischen Eheleuten oder zwischen Liebenden. Sie bezieht sich zum Beispiel auf das Glück, das eine Frau schenkt, der man dient: ich hân ir nû wol zehen jâr / gedienet ritterlîche / sie tuot mich vreuden rîche (V. 520–522), oder: […] den von vrouwen munde / tuot ein grüezen alsô wol, / daz si dâ von sint vreuden vol (V. 1380–1382). Vreude hat daneben negative Komponenten, sie ist ein Begriff für nicht statthaftes Handeln und sexuelle Übergriffe, vielleicht ließe sich sagen: für ein einseitig gesuchtes Vergnügen, das die andere Seite nicht respektiert: swer ir lîp wil ze vreude hân / daz ist iedoch vaste missetân (V. 585 f.). Vreude ist aber auch Vergnügen, gesellige Unterhaltung und gute Stimmung, auf die eine verheiratete Frau Anspruch hat. An mehreren Stellen ist im Frauenbuch zum Beispiel die Rede von einem bœsen man, / der ir deheiner vreuden gan (V. 1185–1186). Vreude ist also weder eine ‚einfache‘ Emotion noch ein Affekt. Im Frauenbuch ist vreude ein komplexer Begriff für verschiedene – meist, aber nicht ausschließlich positiv besetzte – Formen höfischer Interaktion sowie zwischen Individuen, die sich der höfischen Gesellschaft zurechnen. Die Bedeutungsdimensionen umfassen eine glückliche Beziehung, vorbildliches Verhalten ebenso wie Emotionen und emotionale Ausdrucksmuster, die je nach Kontext aktualisiert werden. Vreude umgreift Elemente des Handelns und Fühlens sowohl in individueller als auch in sozialer Hinsicht.
104
Vgl. dazu im vorliegenden Band die Ausführungen zum Frauenbuch von Philipowski.
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4. Emotionen im Frauendienst Dem Konzept der vreude kommt im Frauendienst eine ähnlich zentrale Rolle zu wie im Frauenbuch: „Die höfische vreude als Glücksgefühl und zugleich ethisch vorbildliches Lebensideal […] ist der Wert, auf den der gesamte ‚Frauendienst‘ ausgerichtet ist […]“, so lautet das Fazit von Lindens Untersuchung des Frauendienst.105 Unzweifelhaft gibt es im Frauendienst viele Beispiele für vreude in einem Grad von hoher Intensität. Eingangs wurde bereits darauf hingewiesen. In der Nähe der Dame oder aus Anlass der Gelegenheit, an einem Turnier teilnehmen zu können, erhält vreude diese Bedeutung besonderer Hochgestimmtheit. Wenn der glückliche Umstand eintritt, dass es eine Gelegenheit zu Turnieren gibt, welche die Dame außerdem ausdrücklich als Dienstleistung anerkennt, wird der Ausdruck von vreude überschwänglich. Als Ulrich zum Beispiel erfährt, dass die Venusfahrt von seiner Dame gutgeheißen wird, reagiert er enthusiastisch: Dô ich die botschaft vernam, mîn lîp was frô, daz herze sam, daz ir mîn vart geviele wol: des wart ich aller vreuden vol. alzehant bereit ich dô mich unde was von herzen vrô, daz mîn geverte si dûhte guot: dâ von was ich vil hôchgemuot. (470)
Komplementär zum Hochgefühl, das sich einstellt, wenn die Dame mit dem Dienst zufrieden ist, kommt es zu einem Zustand tiefer Verzweiflung, wenn sie diesen Dienst in Frage stellt. Vreude und ihr negatives Pendant trûren scheinen demnach in einem einfachen Substitutionsverhältnis zueinander zu stehen. Wenn die Frau Anlass zu Hoffnung gibt, herrscht Freude vor, ansonsten stellt sich trûren ein. Entsprechend wird an einer Stelle des Frauendienst gesagt, dass trûren eigentlich nur dann sinnvoll sei, wenn es um der Sünde willen geschehe (1689 f.). Ansonsten sei trûren nämlich der Zustand, der eintritt, wenn es keine Liebe gibt, und vor dem die Frau bewahren kann (1688). Emotionen, die auf ritterliche Aktivitäten gerichtet sind, folgen einem ähnlich eindeutigen Muster:
105
Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 392.
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[…] swâ der man umbe werdicheit wirbet und im missegât, des hôchgemüet ein ende hât: swem wol gelinget, der ist vrô. umb ritterschaft stât ez alsô: hiute liep, morgen leit; diu beidiu diu sint in bereit. (965,2–8)
Die Gelegenheit zu Ritterschaft schätzt Ulrich aber nicht nur als Mittel, um der Dame zu dienen,106 sondern durchaus um ihrer selbst willen (vgl. auch 244, 614). Der gesamte agonale Bereich des Turniers und der Interaktion zwischen Männern in diesem Bereich sowie der Anerkennung seiner Leistungen durch eine höfische Öffentlichkeit ist Ulrich wichtig und entsprechend emotional besetzt. Dazu gehören ein durchaus positiv verstandenes Konkurrenzdenken und Sorge, wenn die Möglichkeit zu solcher Konkurrenz verwehrt bleibt (364–366, 369). Weitere wichtige und relativ eindeutig zu identifizierende Emotionen sind Scham und Zorn. Viel beschrieben und interpretiert ist Ulrichs zornige Reaktion auf die Annäherung eines Mannes während der Venusfahrt (733–745).107 Ulrich selbst bezeichnet sich in diesem Zusammenhang als trûric.108 Im Rahmen der Episode um die Aussätzigen zeigen sich unmissverständliche (Körper-) Zeichen von Ekel (1151, 1164).109 Vreude weist auch im Frauendienst die vielen verschiedenen Schattierungen auf, die am Frauenbuch diskutiert worden sind. Vreude wird – zum Beispiel – durch den Umstand ausgelöst, dass Ulrich eine Einladung annimmt: des wart der bote von herzen vrô: alzehant er sagte dô dem wirte, daz ich wolde dar. des freuten sich die vrowen gar. (930,5–8)
Vreude, so lässt sich aus dieser Textstelle ableiten, der viele weitere hinzugefügt werden könnten, ist eine Emotion, die sich einstellt, wenn ein angemessenes höfisches Verhalten gezeigt wird. 106 107
108
109
So Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 70. Vgl. im vorliegenden Band die Beiträge von Sieber, S. 302–304, und Kellermann, S. 221 f. 745,4. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 145–150, führt diese Reaktion darauf zurück, dass Ulrich hier anders als sonst während der Venusfahrt nicht Herr der Inszenierung ist, sondern sich – besonders durch seinen Aufenthalt im Bad – in die Position einer gewissen Passivität gedrängt findet. Vgl. auch Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 183.
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Doch abhängig davon, worauf sie sich richtet, wird vreude in verschiedenen Intensitäten empfunden. Dies ist angesichts des verbreiteten Eindrucks, dass Ulrich beständig zu einem übersteigerten Gefühlsausdruck neige, ausdrücklich festzuhalten. Moderatere Gefühlslagen werden etwa während des Aufenthaltes von Ulrich und seiner Gesellschaft in Wien beschrieben: Ze Wienen wir vier tage beliben. die zît mit vreuden wir vertriben. wir sâhen dâ manic schœne wîp, der amblic junget ritters lîp. swelch man ist ritterlîch gemuot, ich weiz wol, daz im sanfte tuot, swâ er ein schœne wîp ersiht, der man bî schœne güete giht. (994)
Eine wichtige Rolle, um die hier virulente Spielart von vreude zu erfassen, spielt das Adjektiv sanfte. Es handelt sich offensichtlich um eine gemäßigte Variante des Empfindens – keine Leidenschaft, keine aufkeimende Verliebtheit, sondern ein belebendes (junget), aber auch beruhigendes, angenehmes Gefühl, das die Gesellschaft junger Frauen auslöst, die ebenso schön wie tugendhaft sind. Vreude kann durch Worte vermittelt werden: ir kleinvelsüeze redenter munt / tuot mir vil hôhe freude kunt (1806,3–4). Ulrich empfindet Freude, als er mit seiner Ehefrau zusammenkommt, aber nicht in der leidenschaftlichen Form, die seine Beziehung zur Dame prägt (707). Neben den offensichtlichen, ausdrucksstarken Reaktionen der Verzweiflung und des tiefen Kummers gibt es auch im Bereich des Leids eine Vielzahl anderer, emotional abgeschwächter Reaktionen, wie Unmut oder Depression. Wenn die Dame ihn zum Beispiel verspottet, neigt Ulrich dazu, sich zusätzlich ‚kleinzumachen‘ und selbst zu bezichtigen, eine Reaktion, die in der psychoanalytischen Melancholie-Konzeption beschrieben ist (139).110 Daneben ist Ulrich aber auch in der Lage, sich so zu manipulieren, dass er eine traurige Stimmung durch eine Hochstimmung ersetzen kann (351). Er ist, mit anderen Worten, kein Opfer seiner Affekte. Angesichts der vielen Missverständnisse, zu denen es zwischen ihm und der Dame kommt, wäre zwar zu überlegen, ob solche Selbstmanipulationen nicht einen gewissen Realitätsverlust bedeuten. Ihnen stehen allerdings wiederum Momente von einiger Klarsicht ge110
Vgl. dazu ferner Sigmund Freud. „Trauer und Melancholie“. In: Gesammelte Werke X. 6. Auflage. Frankfurt a. M. 1981, S. 427–446.
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genüber. Ulrich erklärt z. B. ausdrücklich, dass er der Dame immer weiter dienen werde, egal, ob sie ihn gut oder schlecht behandle (411–413). Ulrichs Dienst läuft auf ein Ziel hinaus. Dies ist zwar bekannt, in den emotionstheoretischen Konsequenzen, insbesondere mit Blick auf die Varianz und Steigerung seiner Emotionen, aber bislang noch nicht thematisiert. Zumeist wird die These vertreten, es verlaufe nicht nur „Ulrichs Minnedienst für die erste Dame in einem ständigen Wechselbad der Gefühle“,111 sondern als bewegten sich diese Gefühle auch nur in den höchsten Ausdrucksintensitäten. Ulrichs wechselnde Gefühle entsprechen jedoch nicht einfach dem Schema ‚himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt‘. Vor allem Rust hatte diese These vertreten – im Widerspruch zu seinen eigenen Analysen gradueller Emotionsdarstellungen –, doch dieser Eindruck kann nur entstehen, wenn die reine Frequenz verschiedener Formen des Emotionsausdrucks ermittelt und entsprechende Belegstellen in Absehung von der Entwicklung der Narration systematisiert werden. Ulrich zeigt zu Beginn seines Dienstes zwar erhebliche Unsicherheit – besonders in den ersten Begegnungen mit der Dame –, um im Zuge der Erfolge im Turnier, des Aufsehens, das er während der Venusfahrt erregt und der körperlichen ‚Opferhandlungen‘ jedoch an Sicherheit zu gewinnen. In modernen Begriffen lässt sich hinzufügen, dass er ferner ein hohes Maß an Frustrationstoleranz dazu gewinnt, das sich dann bewährt, als er wiederholt zurückgewiesen wird. Dieses Maß ist dann, als die Ereignisse um die Forderung des Lohns und den Besuch der Dame in ihrer Burg sich zuspitzen, allerdings allmählich erschöpft. Anlässlich der besonders schmachvollen Zurückweisung durch die Dame im Rahmen des verhinderten ‚Stelldicheins‘ auf der Burg erreichen Ulrichs Emotionen dramatische Ausmaße, die am ehesten seiner überschwänglichen Reaktion auf das Ring-Geschenk seiner Dame vergleichbar sind. Sind Ulrichs Reaktionen überhaupt noch als Ausdruck von Freude oder Kummer zu werten? Sind sie nicht vielmehr hyperbolisch, theatralisch, pathologisch? Anlässlich solcher Fälle von ‚Ausdruckssteigerung‘ im Frauendienst zeigen sich exemplarisch die Schwierigkeiten der Einschätzung einer fremden Gefühlskultur. Sie werden im Folgenden deshalb ausführlicher besprochen.
111
Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 179.
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4.1. Minne-Martyrium und Trauerkultur Die Darstellung der Unbill, die Ulrich beim Aufenthalt auf der Burg seiner Dame auszuhalten hat, während er darauf wartet, zu ihr vorgelassen zu werden und, wie er glaubt, endlich den ersehnten Lohn zu erhalten, ist mit religiösen Ausdrucksmustern durchwirkt und erhält dadurch Züge eines Minnemartyriums. Aber unübersehbar sind auch drastischkomische Züge, die auf den Bereich der Schwankdichtung verweisen. Nicht nur der Emotionsausdruck, sondern das gesamte setting der Episode und die einzelnen Stufen bis zur Konfrontation mit der Dame und der Artikulation der gegenseitigen Erwartungen wirken überzeichnet und geben für gebildete Rezipienten zugleich Anleihen bei literarischen Traditionen zu erkennen. So ist die Szene, in der Ulrich im Burggraben hockt und es aushalten muss, dass aus der Burg auf ihn uriniert wird, offensichtlich an den Tristrant angelehnt (1189 f.).112 In der Szene wird ferner mit der literarischen Tradition der „Aussätzigenverkleidung […] als Symbol für eine negative sexuelle Begehrlichkeit“ gespielt.113 Eine solche Symbolik ist zum Beispiel aus dem schwankhaften Märe von der Halben Birne bekannt. Ulrichs Unglück steigert sich zu regelrechter Besinnungslosigkeit und zu Selbstmordabsichten, als die Dame ihn, um ihn loszuwerden, unsanft aus ihrem Fenster herablässt. Sein Knappe eilt jedoch hinzu und versucht, Ulrich zu beruhigen:114 Er sprach: „owê, waz sol ditze sîn, lieber friunt und herre mîn? ditz ist ein jæmerlîchiu nôt: welt ir iu selbe tuon den tôt? sô het ir lîp und sêle verlorn, sô wært ir bezzer ungeborn. nu sît ir doch ein manlîch man, und wolt ir solhe untât begân!“ (1273)
Der Knappe warnt in seinem Appell einerseits vor den Konsequenzen, die ein Selbstmord in religiöser Hinsicht haben würde. Andererseits wird der Selbstmord unter dem Aspekt der Gender-Identität problematisiert: Ein manlîch man nimmt sich nicht das Leben. Heißt das, dass ein Akt der 112 113 114
Vgl. auch Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 182. Ebd., S. 182. Zur Rolle des Knappen/Boten in dieser Episode vgl. den Beitrag von Kellermann im vorliegenden Band, S. 257.
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Verzweiflung mit heftigen Gefühlsausbrüchen einem Mann generell nicht ansteht? Mit Blick auf andere Traditionen der Darstellung von Emotionen in der mittelalterlichen Literatur ist diese Frage weder eindeutig zu bejahen noch zu verneinen. Heftige Ausdrucksmodi wie Weinen, Händeringen, lautes Klagen usw. sind in vielen Kontexten – dies gilt insbesondere für die Gattung des Liebes- und Abenteuerromans – beiden Geschlechtern angemessen.115 In anderen Kontexten werden sie problematisiert. Es ist deshalb im Einzelfall genau zu analysieren, wie der heftige Gefühlsausbruch in einer Erzählung bewertet wird, und von wem. Die Relationierung des Trauernden mit anderen Figuren spielt dafür eine wichtige Rolle. Stimmen sie in die Trauer ein, zeigen sie sich von ihr abgestoßen, formulieren sie Kritik? Es bietet sich an, in dieser Frage eine etwas frühere Episode vergleichend heranzuziehen, die Episode um den Blutsturz Ulrichs.116 Es handelt sich um eine, was die Regulierung von Emotion und Emotionsausdruck und die Konstituierung von Trauerkulturen betrifft, komplexe und aufschlussreiche Stelle. Sie setzt ein, als Ulrich eine scharfe Zurückweisung der Dame erfahren hat und darüber in eine heftige Klage ausbricht. Diesmal ist es der Domvogt, der hinzueilt, und Ulrich weinend vorfindet. Er erhebt nicht den Vorwurf unmännlichen Verhaltens, sondern bittet Ulrich darum, ihm seinen Kummer mitzuteilen, was bei Ulrich augenblicklich erneut die Tränen fließen lässt: Dô er mir zuo sô güetlîch sprach, der jâmer mich zehant dô brach, daz ich sâ weinde reht als ê. ich sprach: „owê mir immer mê. ich muoz von herzen immer klagen, daz ich mîn leit sol niemen sagen. mîn leit ist alsô getân, daz ichz geklage nimmer man.“ (1030)
Ulrich ist offensichtlich gerührt von der Tatsache, dass der andere sich für sein Leid interessiert und Trost spenden möchte. Den Grund seines Kummers nennt er trotzdem nicht, was aber auch gar nicht nötig ist:
115
116
Dies gilt insbesondere für die Gattung des Liebes- und Abenteuerromans, vgl. dazu Eming (Anm. 13). Vgl. auch den Beitrag von Sieber im vorliegenden Band, S. 276.
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Dô der getriwe man gesach und ouch gehôrt mîn ungemach, dô was er sâ mit mir in klage. bî mînen triwen ichz iu sage: er weint mit mir mîn klagende nôt reht als im wære sîn vater tôt. war umbe er weinte, des west er niht: daz was ein wunderlîch geschiht. (1031)
Der Domvogt bricht seinerseits in heftige Klagen aus, ohne auch nur den Grund für Ulrichs Kummer erfahren zu haben. Dies wirkt auf den ersten Blick paradox. Auf viele moderne Leser wirkt es vermutlich außerdem unfreiwillig komisch, wenn nicht lächerlich, und unglaubwürdig. Dem dürfte die Vorstellung zugrunde liegen, dass eine Emotion dem Emotionsausdruck vorausgeht, und dass ein Emotionsausdruck auch nur unter dieser Voraussetzung authentisch sein kann. Der umgekehrte Fall, dass ein Emotionsausdruck die Emotion generiert, ist jedoch bereits in der mittelalterlichen Literatur bekannt.117 Er ist tatsächlich eine der wesentlichen Bedingungen für emotionale Affizierung. Empathie oder die Solidarität mit dem Leid eines anderen ist in der mittelalterlichen Literatur ein hoher Wert. Diese Solidarität wirkt hier gerade dadurch überzeugend, dass der Grund der Klage nicht bekannt ist. Umgekehrt beglaubigt dieses ‚Blanko‘-Mitgefühl des Domvogts das Leid, das Ulrich empfindet. In dem Umstand, dass schon der Emotionsausdruck als solcher ausreicht, um den anderen zu affizieren, ist deshalb eine Form der Authentisierung der Emotionen zu sehen. Auf der intradiegetischen Ebene wird dieser Vorgang indessen weiter problematisiert. Eine dritte Figur, Heinrich von Wasserberg, tritt hinzu und tadelt das ‚unmännliche‘ Verhalten der beiden anderen: ir weinet reht alsam diu kint, die dürftigen unde weisen sint, und als diu kranken, blœden wîp. sol alsus weinen ritters lîp? (1034,3–6)
Mecklenburg hat auf die Rekurrenz der Aufforderung, dass Ritter nicht wie Frauen oder Kinder weinen sollten, in der späten Heldenepik hingewiesen. Seiner Auffassung nach ist diese Aufforderung nicht wörtlich zu nehmen:
117
Vgl. Eming (Anm. 53).
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Sie dient nicht der Abwertung der trauernden Helden oder der Ablehnung exzessiver Trauer per se, sondern lediglich als Argument, mit dem die Trauer beendet und in Zorn überführt wird, aus dem dann in aller Regel ein neuer Handlungsimpuls entspringt. Vor allem aber ist der Vorwurf übermäßigen Klagens und Trauerns eine Möglichkeit, die Authentizität der Emotion zu verbürgen: Wer die Emotion nicht aus eigener Kraft bearbeiten kann, der ist unbezweifelbar von ihr ergriffen.118
Wenn sich diese Einschätzung auch auf den Vorwurf Heinrichs von Wasserberg gegen Ulrich beziehen ließe, würde dies bedeuten, dass Heinrich eigentlich eine andere Emotion von Ulrich erwartet als Trauer. Dieses Argument kann mit einer etwas späteren Stelle gestützt werden: er sprach: „wie nû, ir bœser man? pfæch, herre, pfæch, wie tuot ir sô? nu solt wir alle wesen vrô von reht der hôhen werdicheit, der iwer lîp hât vil bejeit.“ (1037,4–8)
Vreude wäre der adäquate Zustand in der gegebenen Situation eines Turniers, in dem Ulrich sich besonders hervorgetan hat. Heinrich macht Ulrich also den Vorwurf, sich nicht situationsangemessen zu verhalten, und dies ist identisch mit dem Vorwurf, nicht situationsangemessen zu empfinden. Individuelle Trauer isoliert, und dies provoziert den Vorwurf schlechten Benehmens. Aus einem ähnlichen Grund wird Gahmuret von Kaylet getadelt, als er inmitten einer gut gestimmten Gesellschaft von Trauer um die verlorene Beziehung zu Belakane und um den Tod seines Bruders überwältigt wird.119 Die Berechtigung der Trauer steht grundsätzlich außer Zweifel. Heinrich von Wasserberg weiß, obwohl er beständig in Ulrich dringt, dass dieser ihm den Grund seines Kummers offenbare, sehr gut, worum es geht. Er hat außerdem eine gute Nachricht zu überbringen, die Ulrichs Trauer augenblicklich beenden wird. Aber es geht in dieser Passage eben nicht nur um Trost, sondern auch um Fragen des normgerechten Emotionsausdrucks. Deshalb insistiert Heinrich zunächst auf seinem Tadel, um Ulrich dann die erlösende Neuigkeit mitzuteilen, dass die Dame ihm längst wieder gewogen ist. Bei Ulrich kommt es daraufhin zu einer heftigen körperlichen Reaktion – und sie zieht eine vergleichbar heftige Reaktion von Heinrich nach sich. zehant, als er die rede gesprach, daz bluot mir ûz dem munde brach für wâr und ûz der nasen mîn, daz man mich vaste sach bluotic sîn. (1042,5–8) 118 119
Mecklenburg (Anm. 25), S. 371. Vgl. Eming (Anm. 33), S. 114.
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Ulrichs Reaktion besteht aus einem Blutsturz, einem der ungewöhnlichsten in diesem an ungewöhnlichen Körperbildern nicht armen Roman, dessen ‚Drastik‘ wiederholt hervorgehoben worden ist.120 Linden hat von der ‚religiösen Aura‘ der Körperzeichen in dieser Episode gesprochen.121 Diese Aura wird indessen erst durch die Reaktion Heinrichs ganz ersichtlich: Dô er mich alsus bluoten sach, der höfsche man höfschlîchen sprach: „vil süezer got, des lob ich dich, daz dû vor mînem tôde mich hâst lâzen noch den man gesehen, dem ich von wârheit mac gejehen, daz er ein wîp minne âne kranc und gar âne aller slahte wanc.“ Ûf sîniu knie er kniete dô, sîn hende beide ract er hô; daz wort er gar von hertzen sprach: „wol mich, daz ich ez ie gesach! wol mich, daz ich ez wizzen sol!“ (1043–1044,5)
Warum lässt sich der gleiche Mann, der Ulrich gerade wegen seiner Gefühle für eine Frau getadelt hatte, nun auf Grund dieser Gefühle selbst zu einer so heftigen Reaktion hinreißen? Das ‚Übertriebene‘, das viele hier notiert haben, resultiert nicht zuletzt daraus, dass religiöser und Liebes-Diskurs überblendet werden. Aus der Minnelyrik ist eine solche Überblendung bekannt. Ungewöhnlich ist jedoch die gestische Umsetzung in einem narrativen Text. Manifest ist im Text, dass es wieder um die Authentisierung von Emotionen geht, und dass körperliche Ausdrucksmuster dafür eine ausschlaggebende Rolle spielen. Ein Blutsturz als Zeichen von Liebe hat zwar auf den ersten Blick, wie schon andere körperliche Ausdrucksmuster Ulrichs, eine pathologische und nicht zuletzt kindliche Note. Da Blut im christlichen Kontext als Ausweis von Wahrheit gilt, werden hier jedoch auch erneut Formen religiöser Sinnstiftung entlehnt und für den Minnediskurs funktionalisiert. Schließlich ist ein Körperzeichen hier wie in anderen Texten insbesondere der spätmittelalterlichen Romanliteratur ein unzweifelhafter, nicht mehr hintergehbarer Signifikant für Authenti-
120 121
So von Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 64. Vgl. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 173–177.
202
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zität.122 In Bezug auf den Frauendienst sind für diese Exponierung des Körpers im Dienste einer Authentisierung schon verschiedene Gründe diskutiert worden, wie das allgemeine Zurücktreten des Körpers hinter die Schrift und der Rückgang höfischer face-to-face-Kommunikation,123 oder das ‚Ausdrucksdilemma‘ der höfischen Kultur, die auf Grund immer feinerer Kontrolle von Sprache und Gestik immer weniger Raum für authentischen Ausdruck biete.124 Im Rahmen der Episode um den Hinauswurf aus der Burg, mit dem dieser Abschnitt begonnen wurde, wird ebenfalls der Vorwurf der Unangemessenheit der Klage formuliert. Die Position der Figur, die das Klagen tadelt, wird diesmal jedoch von der Dame besetzt (1311). Im Frauendienst wird wie in einer Reihe anderer mittelalterlicher Texte also eine differenzierte Klage- und Trostkultur entfaltet. Ihre Dynamik ist nicht leicht zu erfassen, weil die Ausdruckmodi modernen Vorstellungen eines angemessenen Emotionsausdrucks nicht kongruent sind und deshalb mit gewisser Zwangsläufigkeit den Eindruck des Theatralischen und Übertriebenen hervorrufen. Der Umstand, dass auf der intradiegetischen Ebene teils ähnlich lautende Vorwürfe formuliert werden, macht eine Interpretation um so schwerer. Es lässt sich jedoch nur bedingt sagen, dass der Ausdrucksmodus als solcher – lautes Weinen, Klagen, bis zu schweren körperlichen Symptomen wie dem Blutsturz – ein Problem darstellt. Es geht um die Angemessenheit der Reaktion in einer gegebenen Situation. Obwohl die Episoden sich gerade dadurch auszeichnen, dass in ihnen unterschiedliche Wertungen miteinander konfrontiert werden, zeichnete sich ab, dass individuelle, separierende Trauer insbesondere dann, wenn eine allgemeine Stimmung der vreude erwartet wird, ein soziales Problem darstellt. Ferner scheinen Trauer und Separierung – im Frauendienst wie im Parzival, in Partonopier und Meliur oder im Iwein – gerade dann einer besonderen Legitimierung zu bedürfen, wenn die Liebe zu einer Frau ihren Anlass bildet. In diesem Punkt liegen Emotion und Expression im Frauendienst auf der Linie anderer mittelalterlichen Texte der höfischen Zeit, auch der sogenannten ‚klassischen‘, und erscheinen diesen gegenüber gerade nicht als übertrieben oder degeneriert. 122
123 124
Vgl. zu diesem Aspekt auch Jutta Eming und Elke Koch. „Geschlechterkommunikation und Gefühlsausdruck in Romanen Jörg Wickrams (16. Jahrhundert).“ In: Kasten, Stedmann und Zimmermann (Anm. 36), S. 203–221; Eming (Anm. 13). Vgl. Kiening, „Der Autor als Leibeigener“, S. 237. Vgl. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 56–61.
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Übermäßiges Klagen ist jedenfalls nicht Zeichen mangelnder Affektkontrolle. Den Figuren wird vielmehr unterstellt, dass sie ihren Emotionsausdruck grundsätzlich manipulieren, also ändern, umlenken oder den sozialen Erwartungen anpassen, kurz, ihn normieren könnten. Wenn diese prinzipiell denkbare Umlenkung nicht gelingt, wenn eine Emotion sich wirklich nicht ‚abstellen‘ lässt und auch noch von körpersprachlichen Symptomen begleitet wird, ist sie allerdings in besonderer Weise als authentisch beglaubigt. Die Fixpunkte, auf die Ulrichs von Liechtenstein affektive Energien während des ersten Dienstes gerichtet sind, bestehen aus der Dame, Turnieren, aus dem Dichten und, wie sich im Zuge der Entwicklung der Handlung zunehmend abzeichnet, aus der Interaktion mit anderen Rittern. Dies wird im Text unzweifelhaft manifest. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass die Liebe zur ersten Dame Teil eines höfischen Rollenspiels und dem zufolge vordergründig und vom „Ausdruck einer ‚privaten‘, tief empfundenen Liebe zur Dame“ grundsätzlich unterschieden sei. Eine solche Dichotomie zwischen konventionellem Emotionsausdruck und Emotion kann nicht für den Frauendienst unterstellt werden.125 Es gibt keinen Grund, den ritualisierten Gefühlsausdruck als einen simulierten aufzufassen, und es gibt keine Anhaltspunkte, dass Emotionen regelmäßig verschoben oder substituiert werden, mit anderen Worten nicht als das genommen werden sollten, als was sie an der Textoberfläche erscheinen. 4.2. Minne und Textbegehren Als Ulrich sich von der ersten Frau ab- und einer zweiten zuwendet, ändert sich das Szenario allerdings genau in diesem Punkt grundlegend. Um die emotionale Dynamik des zweiten Dienstes zu erfassen, muss zum gewissen Grade davon abgesehen werden, was der Text auf der wörtlichen Ebene behauptet. Das Ende des ersten Dienstes fällt mit einer explosionsartigen Liedproduktion zusammen. Alle Lieder thematisieren den Zorn über die Dame und ihre untât. Ulrich lässt von dieser Form der öffentliche Anklage erst ab, als eine andere Frau ihn bittet, den Ruf der Dame zu schonen. Er entscheidet sich jedoch nicht dafür, den Dienst an der Dame wieder aufzunehmen, sondern beschließt stattdessen, eine neue Dame zu suchen, der zu dienen sich wirklich lohne.
125
Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 75.
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Dies ist eines von mehreren Argumenten, mit denen Linden ihre These stützt, dass der zweite Dienst als „poetologischer Kunstgriff“ zu verstehen sei.126 Damit ist gemeint, dass es Ulrich jetzt weniger darum geht, die Liebe zu leben, als über die Liebe zu dichten. Die im Minnesang immer wieder thematisierte Erkenntnis, dass die Dame als Antrieb für die künstlerische Produktion unverzichtbar ist, wird damit für den narrativen Text adaptiert – Weiterlieben eröffnet die Möglichkeit des Weitererzählens.127 Der zweite Dienst ist dabei kaum handlungsärmer als der erste.128 Neben einer langen Turnierfahrt kommt es diesmal sogar zu handfesten Konflikten, wie dem Streit mit dem König von Böhmen. Als beklagenswertes Ereignis fällt der Tod des Fürsten Friedrich von Österreich in diese Periode, dann kommt es zu den dramatischen Vorfällen um die Entführung und Gefangensetzung Ulrichs (1719 ff.). Die Turnierteilnahme im Dienst der Dame steht jetzt zwar unter anderen Vorzeichen, ruft jedoch ganz ähnliche Hoch-Gefühle hervor wie im ersten Dienst (etwa 1421, 1487). Liebe und Turnieren stehen wie im ersten Dienst in einem komplementären Verhältnis zueinander. Nach wie vor gilt das Ideal der Reziprozität.129 Dennoch tritt im Vergleich zum ersten Dienst das Dichten als Element des Frauendienstes eindeutig in den Vordergrund.130 Die Dame bleibt dem gegenüber merkwürdig schemenhaft (etwa 1635–1637, 1691–1694, 1733, 1739–1741, 1769, 1806, Lied LVIII). Sie erhält kaum konkrete Züge, sie bekommt keine Stimme, sie tritt nicht als Handelnde innerhalb des Textes in Erscheinung. Schon Rust äußerte deshalb die Vermutung, dass die Dame eine ‚Phantasiegestalt‘ sein müsse.131 Auffällig häufig entsteht der Eindruck, dass Liedkunst und Liebe sich wechselseitig stimulieren. Aus den früher genannten Gründen ist hier nicht der Ort, um die Lieder einer ausführlichen Analyse zu unterziehen.132 Es ist jedoch zu fragen, ob die Dame letztlich nur als Anstoß dient, den Wunsch nach künstlerischer Produktion verwirklichen zu 126 127 128
129 130 131 132
Ebd., S. 205. Ausführlicher Eming (Anm. 77). Dies versteht Kiening als gewisse Kompensationsbewegung und Re-Konkretisierung, vgl. Kiening, „Der Autor als ‚Leibeigener‘“, S. 230–235. Vgl. etwa 1744–1746 sowie Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 209. Vgl. dazu grundsätzlich auch Linden, ebd. Vgl. auch Kiening, „Der Autor als ‚Leibeigener‘“, S. 230. Verwiesen sei vor allem auf Linden, Kundschafter der Kommunikation. Vgl. außerdem im vorliegenden Band das Kapitel zur Lyrik von Manuel Braun.
Emotionalität
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können, und ob diese Ent-Äußerung in der Schrift nicht das eigentliche Ziel ist, auf das sich die affektive Energie des Erzählers richtet? Damit sind Aspekte des Verhältnisses von Emotionalität und Textualität angeschnitten, die in der neueren Literaturwissenschaft unter anderem mit dem Begriff des Textbegehrens bezeichnet werden. Für die Mediävistik ist dieser Ansatz bereits an unterschiedlichen Gattungen erprobt worden, nicht jedoch am Frauendienst.133 Christian Kiening hat jedoch einige Beobachtungen getroffen, die sich für eine entsprechende Deutung auswerten lassen. Kiening zufolge werden im zweiten Dienst „Liederdiskurs und Erzähldiskurs füreinander durchlässig, um schließlich in einer Engführung von erfüllter Minne und liebesmächtigem Wort fast zusammenzufallen“.134 Die im Adverb ‚fast‘ transportierte Einschränkung ist mit Blick auf den Aspekt des Textbegehrens entscheidend. Denn dieses Textbegehren – in seiner durch den Poststrukturalismus eingeführten Definition – kann kein erfülltes Begehren sein.135 Begehren ist immer unerfülltes Begehren, weil es sich auf ein unwiederbringlich verloren gegangenes Objekt richtet und deshalb nur Substitute findet, mit anderen Worten: Signifikanten. Kienings Lektüreeindruck zufolge verhält es sich im zweiten Dienst so, dass „das libidinöse Verlangen des Ich, um das es im ‚Frauendienst‘ immer wieder ging, nicht einfach erfüllt ist, sondern fortbesteht“.136 Libidinöses Verlangen und Begehren sind zwar nicht dasselbe. Wenn das Verlangen jedoch unerfüllt bleibt, und dies in der Form, dass es einen Signifikanten nach dem anderen besetzt und sich demzufolge verschiebt,137 kommt es zu der indirekten Artikulation von Emotionen in Schrift, den der Begriff des Textbegehrens umschreibt. Wenn Freuds These zutrifft, dass nur derjenige phantasiert – oder dichterisch tätig wird –, der nicht glücklich ist, erzählt auch Ulrichs von Liechtenstein zweiter Dienst nicht vom Glück einer er-
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136 137
Vor allem von romanistischer Seite, vgl. Sarah Kay. Courtly Contradictions. The Emergence of the Literary Object in the Twelfth Century. Stanford 2001; für die Lyrik Walburga Hülk. Schrift-Spuren von Subjektivität. Lektüren literarischer Texte des französischen Mittelalters. Tübingen 1999 (Beihefte zur ZfrPh 297). Kiening, „Der Autor als ‚Leibeigener‘“, S. 232. Vgl. Schönau (Anm. 74), S. 154–164; Helga Gallas. Das Textbegehren des ‚Michael Kohlhaas‘. Die Sprache des Unbewussten und der Sinn der Literatur. Reinbek bei Hamburg 1981. Für mediävistische Fragestellungen wurde der Ansatz gerade neu aufgearbeitet von Ackermann (Anm. 74). Kiening, „Der Autor als ‚Leibeigener‘“, S. 232. Vgl. Kiening, „Der Autor als ‚Leibeigener‘“, S. 232.
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füllten und befriedigenden Liebe, sondern von der Notwendigkeit der Dichtens.138 Emotionen im Frauendienst, die auf den ersten Blick ‚grell‘ übersichtlich wirken, enthüllen also Dimensionen, die nur mittels einer avancierten (post-) modernen Diskurs-Theorie zu erfassen sind. Die Analyse der Dichtungen Ulrich von Liechtenstein bestätigt damit, dass es mit Blick auf Darstellungsmuster von Emotionalität in mittelalterlichen Dichtungen eines differenzierten Begriffs von Emotionen bedarf, der diese in verschiedenen Valenzen, Graden an Bewusstheit und Einsichtsmöglichkeit für das Subjekt einbegreift und sowohl den Umstand berücksichtigt, dass Emotionen den Text auf der intradiegetischen Ebene oder ‚Oberfläche‘ determinieren als auch mit der Möglichkeit rechnet, dass sie eine Tiefen-Logik strukturieren. In jedem Fall greift es zu kurz, die Emotionsdarstellung im Frauendienst unter dem Wechsel von Freude und Leid zu subsumieren. Vreude hat, wie im Frauenbuch, verschiedene Nuancen der Intensität und des Ausdrucks, zu denen auch Handlungen zählen. Die starken Ausdrucksintensitäten von Emotionen sind nicht ‚gesteigert‘, sondern in vielem vergleichbar mit klassischen Texten der mittelalterlichen Literatur. Markantes Merkmal des emotionalen Diskurses im Frauendienst sind die körpersprachlichen Symptome der Authentisierung. Das Problem des Emotionsausdrucks stellt sich hier jedoch anders als im Frauenbuch. Während dort gefragt wurde, wie ein Emotionsausdruck so zu lesen ist, dass die Intentionen nicht falsch gedeutet werden, stellt sich hier das Problem, wie die Aufrichtigkeit des Dienstes zum Ausdruck kommt.
138
Zu Phantasien vgl. auch Schönau (Anm. 74), S. 20–23.
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3. Kommunikation und Medialität Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst als mediales Labor von K ARINA K ELLERMANN Der Frauendienst ist erstens ein hybrider Text, eine Montage aus literarischen Topoi, Motiven, Formen und Gattungen. Er ist zweitens die als wahr suggerierte, im Verlauf des ersten Dienstes oft komisch gestaltete Autobiographie des Ritters und Minnedieners Ulrich.1 Drittens versammelt der Dichter Ulrich von Lichtenstein im Frauendienst seine Minnesangproduktion vollständig und konstruiert für sie einen epischen Rahmen. Am ehesten erinnert diese Machart an altprovenzalische vidas (fiktive Lebensbeschreibungen) und razos (Liedkommentare), die von den Trobadors als Vorspiel zu ihren Liedern entworfen wurden und in denen sie lyrische Motive als wahre Erlebnisse ausgaben. Viertens wählt der Dichter für seine Erzählung die Ich-Perspektive. Und fünftens kongruiert die beschriebene Welt des Spiels nicht mit der historisch-politischen Realität, setzt sich aber in Beziehung zu ihr.2 Die historischen Zeugnisse berichten nichts von seiner Sänger- und Dichtertätigkeit, und auch die im Frauendienst vorgeführten Minnedienstaktionen und Turnierfahrten sind anderweitig nicht belegt. Die Addition dieser Merkmale macht den Frauendienst zu einem singulären Phänomen der europäischen Literaturgeschichte des 13. Jahrhunderts. Während man früher versuchte, den Frauendienst als Minnesänger1
2
Wenn ich im Folgenden allein den Vornamen Ulrich einsetze, meine ich immer den Protagonisten, den Autor nenne ich Ulrich von Liechtenstein. Als literarischen Entwurf einer höfischen Welt, die sich auf oftmals komische Weise von den gesellschaftlichen Normen der Zeit gerade distanziert, liest JanDirk Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 73, den Frauendienst: „Ulrich spielt eine fiktive Versuchsanordnung durch, die ihre Distanz zu dem, was ist oder normalerweise gilt, immer wieder thematisiert“. – Den Inszenierungscharakter des Frauendienst und das subversive Potential im Dienste einer Kritik am höfischen Literaturideal habe ich im Aufsatz „Verweigerte und gestaltete Autorität: Subversionsstrategien im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein“ herausgestellt.
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biographie zu lesen, später dann Dichtung und Wahrheit des Textes auseinander zu dividieren und ihn als Dokument der Sozialgeschichte auszuwerten oder auch seine didaktische Funktion einer Minnelehre zu betonen, liegt das Interesse der Forschung heute sowohl auf dem exponierten Fiktionalitätscharakter als auch auf der Vielfalt der Kommunikationsmodelle, die der Text im Spannungsfeld von Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Körperlichkeit durchspielt.3
1. Medien und Kommunikation im Frauendienst Wenn im Folgenden von Medialität die Rede ist,4 dann wird nicht ein starker Medienbegriff gebraucht, sondern ein schwacher. D. h. ich folge nicht McLuhans Auffassung, wonach das Medium wichtiger ist als die im Medium übermittelten Inhalte. Stattdessen gehe ich vom instrumentalen Charakter des Mediums aus. Die elektronischen Medien, aber auch das Buch, die Handschrift und der Körper des Kommunikationsträgers sind
3
4
Zuerst hat Judith Klinger, „Ich: Körper: Schrift“, S. 107, die „Potentiale und Grenzen der Kommunikation im Frauendienst“ – so der Untertitel ihres Aufsatzes – in Hinblick auf den Minnesang und die „spezifische Ich-Konstitution“ analysiert. Wenig später ist der Aufsatz von Christian Kiening entstanden, der im Frauendienst einen Text sieht, „der das Spannungsfeld von Autorschaft und Körperlichkeit in singulärer Weise auslotet.“ Ich zitiere Kienings Aufsatz „Der Autor als ‚Leibeigener‘“ von 1998 hier durchgängig in der überarbeiteten Fassung von 2003: C. K.: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur. Frankfurt a. M. 2003, Kap. 8: Körperteile und Autorinszenierungen; dort das Zitat auf S. 201. Praktisch gleichzeitig habe ich in Konzentration auf die epischen Passagen des Frauendienst aufgezeigt, wie körperliche Kommunikation als Wahrheitszeugnis die verbale übertrifft und damit der höfische Code infrage gestellt wird (Kellermann, „Formen der Kommunikation“). Alle drei Aufsätze entstanden unabhängig voneinander. – Einen weiteren Versuch, den Frauendienst als Kommunikationsroman zu lesen, haben Christopher Young und ich mit dem Aufsatz „You’ve Got Mail!“ 2003 gemacht, in dem wir exemplarisch pragmatische und symbolische Modi der Kommunikation über Briefe, Büchlein und Boten aufzuweisen und zu interpretieren suchten; Sandra Linden hat 2004 mit ihrer Dissertation Kundschafter der Kommunikation die erste Monographie zum Frauendienst als Kommunikationsroman vorgelegt und die „Heterogenität des Textes“ als poetologisches Konzept des Autors Ulrich von Liechtenstein erkannt, „gleichsam enzyklopädisch das gesamte Panorama höfischer Kommunikationsformen in den Blick zu nehmen“ (S. 391). Vgl. Jochen Schulte-Sasse. „Medien/medial.“ In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 4: Medien – Populär (2002), S. 1–38.
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in diesem Sinne Medien oder auch Kommunikationsmittel.5 Unter mediengeschichtlichem Aspekt folgt der Mündlichkeit die Schriftlichkeit, zunächst im Manuskript, später im Druck, und schließlich das elektronische Zeitalter. Diese Reihung ist ebenso konsensuell wie die Auffassung, dass die Erfindung des Buchdrucks und die weltweite Verbreitung der elektronischen Digitalmedien besonders tiefe Zäsuren bilden. Demgegenüber ist der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit eher als Medienwandel denn als Medienwechsel anzusehen, wie der 1255 fertiggestellte Frauendienst bezeugt. Er entsteht nicht zufällig in der Mitte des Jahrhunderts, in welchem sich ein durchgreifender Wandel der Kommunikationsverhältnisse vollzieht, weil sich die mediale Infrastruktur entscheidend verändert: die schriftliche Mitteilung nimmt in einem erheblichen Ausmaß zu. Dass dennoch kein schroffer Medienwechsel stattfindet, erklärt sich daraus, dass die symbolischen Formen der Kommunikation und die rituelle Herstellung von Mitteilungen und memorialen Gehalten bestehen bleiben, sich sogar noch weiter ausgestalten, je komplexer das soziale Gefüge wird. Memorialkultur und Schriftkultur treten in ein komplementäres Verhältnis ein. Es ist in der zeitgenössischen Diskussion noch keineswegs entschieden, ob der geschriebene Text (Petrus Venerabilis, gest. 1156) oder der menschliche Zeuge (Bernhard von Clairvaux, gest. 1153) zuverlässiger sei.6 Denn die präsente Person sichert die Autorität des Gesagten, des Wortes; diese Präsenz des Körpers gibt der Mündlichkeit einen Vorsprung. Folglich benötigt die Schrift noch lange Zeit einen persönlichen Vermittler. Dazu taugt am besten der Bote, der die Stimme und den Status seines Herrn darstellt. Deshalb sind Boten häufig Mitglieder der familia. „Die Überblendung des Gesprächsmodells auf die schriftliche Kommunikation macht einsichtig, wie sehr das neue Medium sich in den Kategorien des alten Mediums definiert.“7 Der Bote ist alternierend und konsekutiv Empfänger und Sender, Hörer und Sprecher. Als Sprecher repräsentiert er den abwesenden Sender. Da er aber zugleich für sich selbst steht, verlangt diese Art der Kommunikation schon das Bewusstsein einer Transformation 5
6
7
„Medien bezeichnen die Gesamtheit der Kommunikationsmittel“ beginnt der Artikel „Medien“ in: Metzler-Lexikon Medientheorie – Medienwissenschaft. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hrsg. von Helmut Schanze. Stuttgart 2002, S. 199. Vgl. zum Folgenden: Horst Wenzel. „Medien- und Kommunikationstheorie. a) Ältere deutsche Literatur“. In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hrsg. von Claudia Benthien und Hans Rudolf Velten. Reinbek b. Hamburg 2002, S. 125–151; hier: S. 136–142. Ebd., S. 142.
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einer Sprechsituation in eine andere. Der Bote ist immer mehr als das Medium eines über die Ferne hinweg geführten Dialoges. Die Ausdifferenzierung der medialen Infrastruktur, die wegen des Hinzutretens der schriftlichen Mitteilung notwendig wird, macht die medialen Möglichkeiten komplexer, die Kommunikation komplizierter. Genau in dieser kommunikationsgeschichtlichen Situation verfasst Ulrich von Liechtenstein seinen hybriden Text. Grund und Anlass für eine explizite, geradezu extrovertierte, Kommunikationspraxis im Frauendienst ist die soziale Konstellation, dass die körperlichen Leistungen, die der Ritter Ulrich im Minnedienst vollbringt, seiner abwesenden Dame sprachlich vermittelt werden müssen und dass der Dichter/Sänger Ulrich für die sprachlich geformte Werbung ebenfalls Kommunikationskanäle benötigt, über die der Dame die süezen wort zugetragen werden. Experimenthaft erprobt der Dichter folgende Formen der Nachrichtenübermittlung: die vis-à-vis-Kommunikation ohne ein zwischengeschaltetes Medium oder die Kommunikation, die über eine Instanz vermittelt wird. Dabei fungieren als Kommunikationsträger u. a.: die persona Ulrich8 mit ihren vielen Rollen als Frau Venus, als König Artus etc.,9 die namenlose Minnedame, eine weibliche Verwandte (= niftel), ein Schreiber, verschiedene fremde Damen und eine Vielzahl von Boten sowie weitere personae der Handlung, die z. T. historisch nachweisbar sind. Medien der Kommunikation sind 57 Lieder, ein Leich, Briefe und Büchlein, monologische sowie dialogische Reden und öffentliche Aufrufe.10 Viele dieser Kommunikationsprozesse werden äußerst komplex inszeniert, 8
9
10
Hierbei sind die körperlichen Inszenierungen von herausragender Bedeutung. Vgl. Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper, S. 320: „Immer wieder betont das Ich der Narration im Frauendienst seine Verläßlichkeit und Wahrhaftigkeit. Im ersten Teil geschieht dies vor allem über die Inszenierungen des Körpers als ‚Schnittstelle‘ zwischen unmittelbarer und mittelbarer Präsenz oder zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation. Im zweiten Teil dient die zugespitzte Zusammenschau und vermeintliche Ausdifferenzierung von Realität und Fiktion dem Entwurf einer glaubhaften außertextuellen Ebene“. Vgl. die Übersicht über die textinternen und textexternen Ich-Rollen bei Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 364. Witthöft, Ritual und Text, S. 211 f., macht auf den Zusammenhang von gesellschaftlicher und räumlicher Distanz aufmerksam und resümiert: „Der erste Minnedienst im Frauendienst ist gänzlich auf die Überwindung der Distanz zwischen dem Knappen bzw. Ritter Ulrich und der Minnedame ausgerichtet. Es gibt ein großes Aufgebot an Mittlerfiguren und an Medien der Kommunikation. […] Die gesellschaftliche Distanz wird in der räumlichen Distanz symbolisiert. Im zweiten Minnedienst verkehrt sich das Nähe-Distanz-Verhältnis“.
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greifen ineinander, überlappen sich. Dennoch werde ich im Folgenden den Versuch machen, die Typen der Kommunikation analytisch zu isolieren.
2. Verbale und nonverbale Kommunikation Die vis-à-vis-Kommunikation als unmittelbarste Form der sprachlichen Vermittlung wird im Frauendienst mannigfach gebrochen, oft hochkomplex inszeniert. Die Anbahnung der ersten Begegnung Ulrichs mit seiner Dame bietet ein Lehrstück in Sachen Kommunikation. Den jungen Minnediener Ulrich drückt die Sorge nieder, dass er seiner Dame zwar unentwegt dient, sie aber davon nicht umb ein hâr (51,3) weiß. Er sieht sie immer wieder, und auch die Dame registriert wohlwollend die Schwertleite ihres ehemaligen Knappen Ulrich (44), aber die merker (43) und die huote (49) verhindern eine vis-à-vis-Kommunikation. Da trifft es sich gut, dass eine weibliche Verwandte Ulrichs, die niftel, Dienerin und Vertraute der Dame ist (52 ff.); sie wird im Verlauf der nächsten Strophen (52–333) eine wichtige Rolle als Mediatorin zwischen Ritter Ulrich und seiner Minnedame spielen. Die niftel freut sich, Ulrich zu sehen, und berichtet unter dem Siegel der Verschwiegenheit, sie habe ihre vrowe besucht, von der sie gehört habe, dass diese gehört hätte, er wäre ein guter Ritter. Die vrowe habe außerdem gehört, er hätte eine vrowe, und sie habe die niftel gebeten, ihn nach dem Namen von Ulrichs Minnedame zu fragen. Das liest sich so: Si smielte und sprach: „ich lache dîn. ez sol von dir verswigen sîn: ich wil dir vrowen rede sagen. ich was bî vil kürzlîchen tagen gevaren zuo der vrowen mîn. sî und ich gedâhten dîn. sî vrâgte, waz du wærest mir: daz dû mir pist, daz sagt ich ir.“ Si sprach: „mir ist von im gesaget […] er spreche von uns vrowen wol, alsô von rehte ein ritter sol. von im ist mir noch mêr geseit, daz er ze dienste sî bereit einer vrowen sunderlîch. ob er daz tuot, dêst ritterlîch.“
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Ich sprach: „ich hân ez ouch vernomen, er hab ein vrowen im genomen: […].“ Alzehant dô pat si mich vil vlîziclîchen, daz ich dich bæte, daz du nantest mir die vrowen dîn. daz lobt ich ir; und daz ich ir denne saget, wer sie wære, und niht verdaget. (54,1–57,6)
Zunächst scheint die Verschachtelung von Schichten der Kommunikation dazu zu dienen, die einfachste Vermittlungsebene zu verkomplizieren, wie die sprachliche Ausfaltung in direkte und indirekte Reden verschiedener Ebenen und der entsprechende Gebrauch von Indikativ und Konjunktiv anzeigen. Darüber hinaus kreist die Szene auch inhaltlich um nichts Anderes als die Kommunikation, deren Termini sind: smielen, lachen, denken, vrâgen, sagen, sprechen, vernemen, biten, nennen, (ge)loben, niht verdagen, viele davon mehrfach gebraucht in dieser kurzen Passage, die eingeleitet wird mit der Aufforderung, das Mitgeteilte zu verschweigen (54,2). Die Adhortation der niftel an Ulrich, ihr den Namen seiner Dame zu nennen (sag mir ir namen 57,8), beantwortet dieser nach Formeln des Verschweigens, die wiederum beredt entfaltet werden (ungenant, unbekant, ungeseit, verswigen, 58). Dabei nimmt Ulrich Bezug auf die zuvor von der niftel berichtete Kommunikationssituation, antwortet ihr also indirekt: „Nu nenne ich dir die vrowen mîn vil verre ûf die genade dîn. du bist bî ir niulîch gewesen, mit der mîn freude muoz genesen und diu für wâr mîn herze hât. diu dich mich des vrâgen bat, wer mîn liebiu vrowe sî, si ist ez selbe, diu falsches vrî.“ (60)
Als es wenig später tatsächlich zur ersten Begegnung Ulrichs mit der vrowe kommt, rückt wieder das Thema Kommunikation ins Zentrum, indem es ganz klassisch mit dem Minnethema verbunden wird. Vis-à-vis verkündet die niftel Ulrich, dass er mit seiner Dame von Angesicht zu Angesicht sprechen darf, mahnt ihn aber im selben Atemzug, nicht zu viel (oder zu lange?) zu sprechen: „und rede mit ir, swaz du wil, / und mach ez iedoch niht ze vil“ (120,7 f.). Daraufhin reitet er nach der Messe zu ihr, sieht sie voller Freude ohne Aufsicht vor sich, sein Herz ermuntert ihn: „nu dar! nu soltu reden mit ir / allez, daz gevalle dir“ (121,5 f.), und er reitet mutig
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auf sie zu. Da wendet die Dame sich von Ulrich ab, er verliert augenblicklich den Mut: dâ von sô zaghaft wart mîn sin, daz mir erstumbet an der stunt diu zunge mîn und ouch der munt, und mir daz houbet nider seic: mîn lîp reht als ein stumbe sweic. (122,4–8)
Ein anderer Ritter reitet dazwischen und zerstört so die Möglichkeit einer unmittelbaren, heimlichen Sprechsituation wie auch einer körperlichen Nähe (123). Die Kommunikation gelingt allein als ein in Anlehnung an die Minnerede stilisierter Dialog zwischen herze und lîp im Inneren des Protagonisten selbst: „Sich, herze mîn, got weiz ez wol, swenne ich gein ir iht sprechen sol, ich weiz niht, wâ von ez geschiht, daz ich ein wort mac sprechen niht. mir wirt versperret sô der munt, daz ich zewâre sâ an der stunt ein wort her für niht pringen kan. des pin ich ein unsælic man.“ „Lîp, du solt gelouben mir.“ (127–128,1)
Das bellum intestinum zwischen herze und lîp reicht von Strophe 123 bis 130 und hat allein das Kommunikationsproblem zum Thema: „Am Punkt der Aufhebung aller Distanz vollzieht sich mithin ein Rücksprung in die Selbstreflexion, der die informelle Situation einer Möglichkeit freien Sprechens in formalisierte höfische Rede zurückwendet, obschon diese Rede kein Gegenüber mehr erreicht.“11 Etwa zehnmal verspielt Ulrich die Möglichkeiten der verbalen Kommunikation, weil die Zunge ihren Dienst versagt.12 Die topische Minnestummheit der Minnediener, die in der Mitte des 13. Jahrhunderts besonders aus dem Minnesang gut bekannt ist, wird hier durch die schiere Anzahl misslungener Versuche auf die Spitze getrieben und obendrein als körperliche Behinderung des Protagonisten ausagiert:
11 12
Klinger, „Ich: Körper: Schrift“, S. 117. Ackermann, „Ich ≠ Subjekt ≠ Körper“, S. 150: „Die Stummheit markiert deshalb die Anwesenheit des Körpers, weil die reine Materialität des Körpers immer außerhalb von Sprache ist“.
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Ich tet für wâr wol zehenstunt gein ir ze sprechen ûf den munt: dô was diu zunge mir gelegen, si wolde deheines wortes pflegen. (131,1–4)
Ohne den ersehnten Dialog mit der Dame, ja sogar ohne eine einseitig an diese adressierte Rede endet die erste Begegnung des Frauendieners Ulrich mit seiner Minnedame. Die größte Nähe zwischen ihnen stellt sich ein, als er der Dame aus dem Sattel helfen darf. In dieser öffentlichen Szene – sie sind umringt von vielen Rittern und Knappen – tut die Dame einen heimlichen Griff: bî mînem hâr si mich begreif, verholne, daz ez niemen sach. diu guot mir einen loc ûz prach. (134,4–6)
Nur auf der unmittelbar körperlichen, sprachlosen Ebene kann Ulrich die in dieser Episode angebotene, aber gescheiterte Kommunikation erleben. Das Ausbrechen oder Abschneiden einer Locke des Haupthaares ist eine mittelalterliche Rechtshandlung, die im Text eigenwillig als privates Signal uminterpretiert wird. Der Griff als Übergriff ? Will die Dame Ulrich beleidigen oder bestrafen? Warum aber heimlich? Die begleitende Rede lässt den Griff als Bestrafung erscheinen: „daz habet iu, des ir sît verzagt! mir ist niht wâr von iu gesagt.“ (134,7 f.)
Die Dame interpretiert die Minnestummheit Ulrichs als Feigheit und die Kommunikation über ihn als Lüge.13 Zugleich erfährt Ulrich im Ausreißen der Haarlocke eine Fragmentierung des Körpers. Szenen wie diese formieren sich im Frauendienst zu einer signifikanten Serie: Wenn verbale Kommunikation nicht möglich oder nicht zielführend ist, setzt entweder körperliche Kommunikation ein oder – noch weitgehender – werden dem Körper Ulrichs Botschaften eingeschrieben, fungiert sein Körper selbst als Text.14 Der gerade geschilderten Situation bereits vorausgegangen ist Ulrichs Mundoperation, die Zurichtung seines Sprech- und – wenn man an den Lieddichter denkt – Gesangsorgans, eine körperliche Maßnahme, die 13
14
Vgl. zu dieser Szene Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 59 f., mit Informationen zur Rechtsbedeutung in Anm. 194. Vgl. Kiening (Anm. 3), S. 208: „Ulrichs Körper fungiert als Text: Zeichen eines unbedingten Minnedienstes, übermittelt er Botschaften und Treuebeweise und steht damit auf einer Ebene mit anderen Texten“.
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von hohem Symbolwert ist.15 Die Ulrich über Mittlerinstanzen kolportierte mündliche Äußerung der Dame, sein Mund sei hässlich und unpassend (sîn ungefüege stênter munt 80,6; der stât im übel 80,8), veranlasst diesen, einen chirurgischen Eingriff vorzunehmen. Die Schmerzen während der anästhesielosen Operation wie auch die postoperativen Schmerzen möchte Ulrich als Leiden im Minnedienst gewertet wissen. Es ist nicht ohne Bedeutung, dass das gerade interpretierte erste Treffen der Dame mit ihrem Minnediener aufgrund dieser Operation zustandekommt, denn allein um den Erfolg der Maßnahme zu kontrollieren, will die Dame Ulrich sehen, wie sie die niftel brieflich wissen lässt: wil ouch dîn neve dar komen, den sihe ich gern: durch sînen munt, wie im der stê, und durch anders niht (Prosabrief A). Die briefliche oder mündliche über Boten vermittelte Kommunikation kann die Autopsie des Mundes nicht ersetzen. Deswegen mahnt die Dame die Präsenz von Ulrichs Körper an, dessen korrigierter Mund zu höfischer Rede disponiert sein sollte.16 Wenn die dann folgende Begegnung als Aventiur wie der herre Uolrîch mit sîner vrowen wart êrst redehaft überschrieben ist, wird die im Titel aufgebaute Erwartung, wie wir gesehen haben, zunächst enttäuscht. Ulrich kommt nicht zu Stimme, Rede oder gar Dialog mit seiner Dame und wird darüber minnekrank (137–143). Dann aber rafft er sich unvermittelt vom Krankenlager auf und reitet alsam ein tobender man (144,7) zur Minnedame, die er ohne huote antrifft und der er in einer fünfstrophigen elaborierten Rede ohne jedes Stocken und ebenso ungehindert wie unbehindert seinen Minnedienst anträgt. Bis auf die Initiation der Rede: von mir wart ouch niht mêr geswigen (145,8) deutet nichts mehr auf Ulrichs früheres Versagen, sein Kommunikationsdefizit aufgrund von Minnestummheit, hin. Die Reaktion auf Ulrichs flüssige Rede ist vernichtend:
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Vgl. Schmid, „Verstellung und Entstellung“, S. 192 f.; Klinger, „Ich: Körper: Schrift“, S. 115–118; Kiening (Anm. 3), S. 207 f.; Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 68–70, und besonders Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper, S. 229–241, die an der Mundoperation darlegt, wie das aneinander Vorbeireden von Ulrich und Dame funktioniert: Die Kritik der Dame bezieht sich auf das „ungefüege Sprechorgan als Metapher der unangemessenen Artikulation“, die Körperkorrektur Ulrichs entspricht seinem „unmittelbar wörtliche[n] Verständnis“ (S. 232). Damit nimmt die Szene eine Schlüsselstellung ein für Ackermanns Interpretation des ersten Dienstes: Während Ulrich unablässig nach der Vereinigung seines Körpers mit dem seiner Dame strebt, steht die Dame fest auf dem Boden der symbolischen Ordnung des Minnesangs, die gerade deren Distanz verlangt. Vgl. Klinger, „Ich: Körper: Schrift“, S. 116: „Für höfisches Sprechen steht nunmehr der Mund des Sängers, den die Dame konkret zu besichtigen wünscht.“
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„Swîget! ir sît gar ze kint“(151,1) beginnt die Dame ihre Abfuhr, die Ulrich mit der Konzession pariert, seine Worte entsprächen wahrlich noch nicht seinem Willen, aber zum ritterlichen Frauendienst sei er auch heute schon stark genug. Die Dame bleibt bei ihrer kompromisslosen Ablehnung seines Dienstes, und nun geschieht das Erstaunliche: Ulrich ist gänzlich beglückt, denn er hat der Dame seinen Willen bekundet und reitet hôch gemuot auf Ritterschaft: Mîn rede muost mit ir eine ende hân: ich nam urloup und reit von dan. ich was von herzen hôch gemuot: mich dûht mîn gelinge wære guot, daz ich het mîner vreuden schîn geseit ein teil den willen mîn. des was ich inneclîche vrô: mîn muot gestuont ê nie sô hô. (156)
Wie lässt sich Ulrichs Freude angesichts des negativen Bescheids erklären? Nur über die Trennung von Medium und Inhalt. Der von Ulrich mehrfach unternommene Kommunikationsversuch mit der Dame ist endlich von Erfolg gekrönt. Er hat seine Rede von Liebe und Dienst halten können, die Sprechorgane haben nicht versagt, er konnte sich akustisch verständlich machen. Die Dame hat ihn auditiv wahrgenommen und hat geantwortet. Insofern ist die Kommunikation geglückt. Auf der inhaltlichen Ebene ist er gescheitert, die Dame lehnt seinen Dienst ab, kritisiert seine Rede und sein geistiges Vermögen. Es wird überdeutlich: Ulrichs Glück speist sich allein aus dem erfolgreichen Gebrauch des Mediums Sprache, das kommunikative Medium ist zum Selbstzweck geworden.
3. Schriftmediale Kommunikation Die vermittelte Kommunikation ist Kennzeichen des ersten Dienstes. „Alle Handlungen Ulrichs zu Ehren der Minneherrin ermöglichen nicht mehr als einen indirekten Zugang zu ihr und lassen ihn dabei zwischen Nähe und Distanz pendeln.“17 Letztendlich steht hinter allen Aktionen Ulrichs die Sehnsucht, „sich mit dem begehrten anderen Körper zu ver17
Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper, S. 223; Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 208, macht die Unterschiede der beiden Dienste anhand zweier differenter Kommunikationsmodelle sprechend.
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einen“, ein Versuch, der wiederholt und bedeutsam scheitert, insofern als der Körper „zum Instrument der Beglaubigung, zum Medium der Preisgabe, zum Zeichen und Einsatz“ im einseitigen Minnedienst wird.18 3.1. Briefe In den deutschsprachigen höfischen Roman eingelegte Briefe finden sich seit dem 12. Jahrhundert.19 Der Briefwechsel ist eine Form der medialen Vermittlung von Botschaften, die verschiedene Handlungsstränge und Schauplätze miteinander verbindet und zusätzlich die Romanfiguren charakterisiert, Handlungen auslöst, die Erzählwelt komplexer macht. Im Unterschied zum Bericht eines Boten fingiert der Brief eine unmittelbare vis-à-vis-Kommunikation, acsi ore ad os, wie es in den Praecepta dictaminum (um 1111/15) des Adalbertus Samaritanus heißt, was sich sprachlich in der Regel im Sprechen in der ersten Person Singular ausdrückt.20 Im Frauendienst liegt der Brief als Kommunikationsform in den Händen der adligen Damen und stellt diese in ihrer Kompetenz als Briefschreiberinnen über die adligen Herren mit ihrem dünkelhaft gepflegten Analphabetismus. Von sieben Briefen wird im Frauendienst berichtet,21 die – bis auf einen – alle von Damen geschrieben sind. Dieser
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Kiening (Anm. 3), S. 207. Die historische Forschung hilft hier nur eingeschränkt weiter, „weil vor dem 13. Jahrhundert im christlichen Mittel- und Westeuropa keine volkssprachliche Korrespondenz überliefert oder bezeugt ist“. Rolf Köhn. „Latein und Volkssprache, Schriftlichkeit und Mündlichkeit in der Korrespondenz des lateinischen Mittelalters.“ In: Zusammenhänge, Einflüsse, Wirkungen. Kongressakten zum ersten Symposium des Mediävistenverbandes in Tübingen. Hrsg. von Jörg O. Fichte, Karl Heinz Göller und Bernhard Schimmelpfennig. Berlin und New York 1986, S. 340–56; hier: S. 342. Vgl. Christine Wand-Wittkowski. Briefe im Mittelalter. Der deutschsprachige Brief als weltliche und religiöse Literatur. Herne 2000 (Mikrokosmos 57), S. 42 f. – An neueren mediävistischen Forschungen zum deutschsprachigen Brief in der Literatur sind zu nennen: Ulrich Ernst. „Formen der Schriftlichkeit im höfischen Roman des hohen und späten Mittelalters.“ FMSt 31, 1997, S. 252–369; Horst Wenzel und Peter Göhler (Hg.). Gespräche, Boten, Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Berlin 1997 (Philologische Studien und Quellen 143); Wand-Wittkowski (Anm. 20). Speziell zu den Briefen im Frauendienst haben sich aus medienhistorischer Perspektive geäußert: Martin J. Schubert. „Ich bin ein brief unde ein bode. The Relation of Written and Oral Love-Messages in Medieval German Literature.“ Jahrbuch der Oswald
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eine stammt von Ulrich und er stammt doch nicht von ihm, denn es handelt sich hier um Ulrich in der Rolle der Frau Venus. Dieser zweite Prosabrief (Brief B), der fünfte Brief insgesamt, steht am Beginn der Venusfahrt und wird von Frau Venus als öffentlicher Aufruf zur Turnierfahrt formuliert. D. h., es handelt sich innerhalb der inneren Logik des Frauendienst ebenfalls um den Brief einer weiblichen Person. Den Brief lässt Ulrich in Vorbereitung der Venusfahrt abfassen (479); er ist in der 3. Person formuliert (si gebiutet, si enbiutet, si tuot in kunt, si vert etc.), wählt mit der Prosa die usuelle Form von Urkunden und Rechtstexten, verortet die Reise in einem exakten Orts- und Zeitraster, stellt Regeln auf und hat als Einladungsbrief an die gesamte Ritterschaft eine öffentliche Funktion, er ist eine Proklamation.22 Die Verteilung der zwei Prosa- und fünf Versbriefe ist auffällig konzentriert auf die erste Hälfte des Romans, nach der Venusfahrt gibt es keine Briefe mehr. Mustert man die sieben Briefe in ihrem Kontext, ergibt sich ein erstaunlich variantenreiches Bild.23 Der erste – oben bereits erwähnte – Brief ist in Prosa abgefasst und von der Dame an die niftel gerichtet. Sie tut kund, wohin und wann sie reisen wird, und bittet ihre Vertraute, sie dort zu treffen, und wenn er wolle, könne dann auch ihr Neffe (d. i. Ulrich) dort zu ihnen stoßen, dessen Mund sie begutachten wolle. Der Briefverkehr findet also zwischen zwei adligen Damen statt, Ulrich aber partizipiert vermittelt an dieser Korrespondenz. Er bekommt allein aufgrund der Großzügigkeit seiner Verwandten den Brief seiner Minnedame übermittelt und lässt ihn sich vorlesen (115,1). Der zweite in den Frauendienst inserierte Brief wird ebenfalls von der Dame an die niftel gesandt, kommt aber ganz ohne persönliche Anrede aus und ist in Versform abgefasst. Dieser Brief formuliert in generalisierenden und perpetuierenden Wendungen eine Absage an Ulrich, die Kernformel lautet: swer muotet, des er niht ensol, / der hât im selb versaget wol (Brief a). Hier wird trotz fehlender expliziter Adressierung deutlich, dass die Dame ihre Botschaft für Ulrich bestimmt hat, die niftel nur Mittlerin ist. Schauen wir genauer: Neben der sentenzhaften und kunstlosen Dik-
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von Wolkenstein Gesellschaft 11, 1999, S. 35–47; Kellermann und Young, „Briefe, Büchlein, Boten“; Linden, Kundschafter der Kommunikation, s. Register. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 112–114, pointiert den Herrschaftsgestus dieses „offiziellen Einladungsschreiben(s)“ und weist Stil- und Strukturelemente der mittelalterlichen Urkunde nach. Zum Einladungsbrief der Venus vgl. auch den Beitrag von Bleumer im vorliegenden Band, S. 378 f. Vgl. Wand-Wittkowski (Anm. 20), S. 51, Anm. 107.
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tion des Briefes sind die Umstände seiner Übermittlung von Interesse. Über die Mittlerin hatte Ulrich sein erstes Büchlein an die Dame gesandt, der Bote übergab es mit dem Hinweis, darin befinde sich ein Gebet. Die Dame nahm es für zwei Tage mit in ihre Privaträume, las es dort mehrmals, um es danach dem Boten zurückzugeben mit dem Auftrag, es seiner Herrin, der niftel, wieder zuzustellen. Ihren Brieftext hat sie in das Büchlein geschrieben, das nun also Ulrichs Text und die briefliche Antwort der Dame enthält.24 Als Ulrich das erste Büchlein von seiner Dame, vermittelt über die niftel, zurückerhält, öffnet er es und entdeckt beglückt, dass es ein Mehr an Text enthält, also eine schriftliche Botschaft seiner Dame. Nun aber muss er, des Lesens nicht kundig, ganze zehn Tage auf seinen Schreiber warten. Während dieser Zeit trägt er das Büchlein permanent an seinem Busen, er liebkost es und legt es sich zum Schlafen bei: Swann ich des nahtes slâffens pflac, / daz büechlîn nâhen bî mir lac (170,1 f.). Der Brief der Dame hat das Büchlein in einen Fetisch verwandelt, ein Liebesobjekt in Stellvertretung der Dame. Der dritte, 24-versige, Brief (Brief b) ist erstmals einer der niftel an die Dame. Die niftel verfasst ihn nach dem für Ulrich ruhmreichen Ende des Friesacher Turniers, in dem sie ihn als den besten Kämpfer herausstellt, seine Taten im Minnedienst für die Dame lobt und seine große Liebe zu ihr bekräftigt. Ulrich nimmt Gelegenheit, ein in Friesach gedichtetes und dort bereits unter Beifall vorgetragenes Lied beizulegen. Im vierten Brief, wiederum in Versen (Brief c) antwortet die Dame direkt auf den vorangegangenen Brief der niftel. Auch diesen Brief leitet die Verwandte sogleich an Ulrich weiter, der in seiner Erwartung einer frohen Botschaft bitter enttäuscht wird. Die Dame ist nicht etwa entzückt und ihm zugewandt ob seiner ritterlichen Erfolge, die er doch in ihrem Dienst leistete, sie zeiht die niftel vielmehr der Lüge; allein die verwandtschaftliche Beziehung habe sie zum Lob ihres Neffen bewogen, von dessen Ruhm aus anderen Mündern aber nichts zu hören sei, folglich habe ihre Aussage kein Gewicht. In der Folge untersagt die Dame die Mittlerdienste der niftel. Daraus folgt für Ulrich ein massives Kommunikationshindernis:
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Ulrich sieht in dem Textzusatz des Büchleins einen Brief der Dame, und er nimmt somit im kommunikativen System zwischen Ulrich und der Dame die Position eines Briefes ein. Deshalb handle ich diesen zehnversigen Text hier unter den Briefen ab, obwohl Wand-Wittkowski (Anm. 20), S. 324, Anm. 785, unter formalen Gesichtspunkten Recht hat, wenn sie konstatiert: „er weist keine spezifischen Briefmerkmale auf.“ Vgl. auch Gutwald, „Der Minnediener als Souverän“, S. 160.
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Hatte er zuvor schon zum Lesen und Schreiben einen Schreiber benötigt, ist ihm nun sogar die potentielle mündliche Kommunikation über Boten verwehrt. Nur wenig später reitet Ulrich in das Land der Dame und beginnt voller Trauer über die fehlende Kommunikationsmöglichkeit seine Suche nach einem neuen Boten (334 f.). Zudem setzt er auf die Zeichen, die sich auch ohne die Medien Brief oder Bote mitteilen: Turniererfolge, die seinen der Dame nicht genügenden Ruhm des Friesacher Turniers erhöhen und ihr zu Ohren kommen. Im Verlauf der Venusfahrt erhält Venus/Ulrich den gereimten Brief (Brief d) einer unbekannten Verehrerin, die unerkannt bleiben will. Die Dame wendet sich an Königin Venus und dankt der Königin, dass sie in Frauenkleidern turniere, denn das ehre alle Frauen. Sie achtet also die Rolle der Königin, markiert aber zugleich den Inszenierungscharakter, hinter dem ein Mann steht. Bemerkenswert ist die heimliche Zustellung des Briefes, die Venus/Ulrich aufs Äußerste beunruhigt. Nur der Rezipient des Frauendienst weiß, dass ein edeliu vrowe (577,3) diesen Brief unter die Wäsche der Königin Venus geschmuggelt hat, als diese vom Kämmerer in die Obhut einer Wäscherin gegeben war. Erst Tage später stößt Venus/Ulrich bei der Musterung ihrer/seiner Garderobe auf ein unbekanntes vremdez röckel (601,8), aus dem weitere weibliche Kleidungsstücke und Accessoires sowie ein Brief fallen: Daz röckel ich zehant ûf bant; dar inne ich einen gürtel vant, ein tschapel und ein heftelîn: diu driu niht bezzer kunden sîn. ein tiütscher brief ouch dâ bî lac: dar umbe ich grôzes zornes pflac. (603,1–6)
Die Verärgerung Ulrichs über diesen Vorgang, die zunächst befremden mag, weil die unbekannte Dame sich mit Briefstil und Geschenken durchaus innerhalb des höfischen Komments bewegt und auch die Venus-Rolle Ulrichs akzeptiert, hat ihre Ursache in einer dreifachen Transgression der Dame: Zum einen durchbricht die Dame die „Asymmetrie des Schenkens“,25 die Frau Venus in ihrem herrschaftlichen Aufruf zur Venusfahrt regelhaft festgeschrieben hat, zum anderen ist sie in eine besonders prekäre Intimsphäre eingedrungen, als sie sich unbemerkt 25
Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 62. Nach Müller haben Kiening (Anm. 3), S. 212, und Witthöft, Ritual und Text, S. 156–162, diese und die Parallelszene des siebten Briefs unter dem Blickwinkel des Gabentauschs und seiner symbolischen Bedeutung analysiert; anders Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 139–150.
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an den Kleidern der Frau Venus, signa translata von Ulrichs Venusidentität, zu schaffen machte. Sie nutzt die weibliche Kleidung über ihre semiotische Funktion der signa translata hinaus als Briefkuvert. Damit gelingt ihr ein doppeltes Verbergen: Das geschenkte röckel ist unter den Venuskleidern versteckt, und der Brief versteckt sich im röckel. Drittens kann der Adressierte sich nicht kommunikativ wehren: Anonymität und Botenlosigkeit der Sendung verbieten jede Interaktion mit der Absenderin.26 Ähnliche Umstände begleiten den siebten Brief (Brief e), der Venus/ Ulrich ebenfalls von einer Unbekannten geschrieben und gleichfalls unter Missachtung der Privatsphäre zugestellt wird.27 Hier ist es in gesteigerter Intimität das Bad der Venus in der freien Natur, ein Akt der ungeschützten männlichen Nacktheit Ulrichs.28 Diese Szenerie wie auch die Übermittlung des Briefes durch einen Boten (s. u.), der auch auf drängendste Nachfragen Ulrichs stumm bleibt, verschärfen das Transgressive der vorherigen Situation noch. Weibliche Accessoires, vom Boten auf einem eigens ausgerollten Teppich präsentiert und von einem Rubinring gekrönt, begleiten den Brief. Doch damit nicht genug bestreuen Bote und zwei Helfershelfer Venus/Ulrichs Badewanne und deren Umgebung mit frischen Rosenblättern. Außer der Anonymität der Spenderin beunruhigt Venus/Ulrich, wie der Dialog mit seinem später hinzutretenden Kämmerer zeigt, der Gedanke, er könne in den Verdacht geraten, von einer anderen Frau als seiner Minnedame Geschenke und Briefe anzunehmen (743). Ausschließlich um den Namen der Unbekannten zu erfahren und ihr die unerwünschten Gaben zu remittieren, lässt er sich nach langem Zögern den Brief vorlesen und wird enttäuscht. Auch die Schrift liefert keine Aufklärung über die Identität der Absenderin. Die Schreiberin des Briefes, der was geschriben meisterlîch (746,5), begrüßt Frau Venus, bittet um Annahme der Geschenke und wirbt um Verständnis für das Inkognito, das sie zu lüften verspricht,
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Vgl. ebd., S. 147 f. Tomasek, „Zur Rezeption arthurischer Strukturen“, S. 356 f., der die Venusfahrt in ihrer strukturellen Nähe zum doppelten Kursus des Artusromans untersucht, weist auf die auffällige Szenendoppelung hin. Ernst (Anm. 20), S. 339, geht von einer Identität der Schreiberinnen von Brief sechs und sieben aus; Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 147, erwägt sie. Dies ist aber im Lichte der von Tomasek aufgezeigten Doppelungen ganz unnötig und durch den Text nicht zu sichern. Vgl. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 148 f. Eine genderspezifische Sicht auf diese Episode bietet der Beitrag von Sieber im vorliegenden Band, S. 302–304.
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wenn sie ihr/ihm vis-à-vis gegenübertritt.29 All das wie auch der Schluss des Briefes, der in eine Segensformel mündet, erscheint in konventionellen höfischen Formulierungen. Beide Briefe haben die Funktion, in „Distanz und Anonymität dennoch das Gespräch ‚acsi ore ad os‘“ zu ermöglichen.30 Der Ausschluss des Ritters Ulrich aus dem Medium der Schrift wird im Kontext der Briefe deutlich und mehrfach markiert: Dô mir der brief gelesen wart (115,1); den brief ich mir an der stat / vil snellîchen lesen bat. / den brief ich hôrt (604,5–7); ich sol den brief wol mir / hie heizzen lesen (746,1 f.). Der einzige von Ulrich in der Rolle der Königin Venus verfasste Brief – der Turnieraufruf zur Venusfahrt – stellt ebenfalls dieses Defizit aus: Sâ an den brief geschriben wart vil meisterlîch gar al mîn vart, al die herberge mîn, swâ ich des nahtes wolde sîn. an den brief manz allez schreip. (479,1–5)
Ulrich schreibt ihn nicht eigenhändig. Wie die Interaktion zwischen Venus/Ulrich als Urheber(in) des Briefes und dem Schreiber genau vonstatten geht, erfährt man nicht. Brieflektüre und Privatheit gehen eine feste Verbindung ein. Alle Briefe bis auf die Ankündigung der Venusfahrt, die als Proklamation mit öffentlichem Charakter zu verstehen ist, werden in einem privaten Raum rezipiert. Dies gilt sogar für den Rezipienten Ulrich, der sich den Brief von einem Vertrauten vorlesen lassen muss. Die situative Einbettung dieser sechs Briefe gibt Auskunft darüber, dass diese entweder von lesekundigen Damen in der Privatsphäre (in ir heimlîch 165,5) gelesen oder 29
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Vgl. Moshövel, „Ulrich von Liechtenstein – Ein Transvestit?“, S. 363 f. Sie interpretiert diese Textstelle als „eine Art Schlüsselszene“ dafür, dass „Ulrich die Kontrolle seines Spiels völlig entglitten ist“. Denn – so Moshövel – Ulrichs Wut resultiert daraus, dass gegen seinen Willen ein „Rollentausch“ stattfindet, „bei dem eine Frau als Werbende auftritt und Ulrich zum umworbenen Mann macht, indem sie ihm ihren ‚Dienst‘ anbietet.“ Dies ist eine Fehleinschätzung; die gesamte Szene mit den Frauenkleidern als Gaben, ihrer Parallele zum sechsten Brief und dessen Kontext lassen nur den Schluss zu, dass Königin Venus beschenkt und geehrt werden soll. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 149, betont demgegenüber zu Recht: „Ulrich beklagt hier weniger die erzwungene Frauenrolle als den Verlust seiner Inszenierungsmacht.“ Wand-Wittkowski (Anm. 20), S. 47; vgl. auch Köhn (Anm. 19), S. 351. D. h., der Brief möchte das dialogische Gespräch ersetzen.
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einem adligen Herren, hier verkörpert durch den Minneritter und Minnesänger Ulrich, unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorgelesen werden. Folglich sind Briefe nicht nur geschriben, sondern sie sprechen oder sagen auch, und man kann sie sowohl lesen als auch hœren oder vernemen. In der Person Ulrich stellt der Dichter Ulrich von Liechtenstein sowohl die Mängel als auch die Qualitäten des Illiteraten aus: er braucht über die Mittlerschaft des Boten hinaus ein Instrument, einen Schreiber oder Vorleser, und ist in dieser Hinsicht seiner Dame unterlegen, kann mit ihr medial nicht auf Augenhöhe kommunizieren. Zugleich aber bleibt ihm das Akustische, Auditive und zuweilen gar Auratische, so beim Brief im ersten Büchlein, erhalten, das bei fortschreitender Literarisierung und der stillen Lektüre31 verloren geht. Aber die Stimme des Vorlesers birgt wie der Dienst des Boten auch wieder eine Gefahr, nämlich die der partiellen oder sogar völligen Machtübernahme. Das menschliche Medium kann den Inhalt verschweigen, verfälschen, reduzieren oder auf erpresserische Art an seine Dienste Bedingungen knüpfen. Anders als in anderen höfischen Epen wie Gottfrieds Tristan oder dem Willehalm von Orlens des Rudolf von Ems konstruiert Ulrich von Liechtenstein einen gender-Kontrast, der die Dame in ihrer Souveränität über ihren Diener erhöht. Damit aber kippt der Mangel auch im System der hohen Minne in eine Qualität; denn der Minnediener will die Erhöhung der Dame, die der Frauendienst auch auf der Ebene der Literalität betreibt. Das Briefaufkommen im Frauendienst ist bedeutend größer, als es nach der Vorstellung der sieben in den Text eingefügten Brieftexte erscheinen mag. Sehr häufig wird über das Versenden von Briefen berichtet, ohne dass dieser Brief textlich im Roman fassbar würde (z. B. der Brief der niftel, 111–113.). Hinzu kommt die unscharfe Terminologie:32 Lieder und 31
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Stille Lektüre ist in der Mitte des 13. Jahrhunderts nicht üblich. Vgl. Köhn (Anm. 19), S. 351. Mir scheint Strophe 320 explizit auf lautes Lesen hinzudeuten: Die Dame gie […] in ir heinlîch, dâ si las, / swaz an dem brief geschriben was. / swaz ir des brieves schrift dâ saget, / daz wart von ir vil wol verdaget (320,2–6). Eventuell sind die im Zusammenhang mit Brief- oder Büchleinlesen im Frauendienst so häufig berichteten Rückzüge in ir heinlîch sogar sämtlich als Hinweise auf lautes Lesen zu werten, kann doch eine stille Lektüre Privatheit auch in der Menge gewährleisten. Die herrscht nicht nur im Frauendienst. Das mhd. Lehnwort ‚brief‘ bezeichnet ‚Urkunde‘ und überhaupt ‚Geschriebenes‘. Auch die Dichtung kennt keine einheitliche Bedeutungsverengung auf eine schriftliche Botschaft von Absender an Empfänger. Vgl. Wand-Wittkowski (Anm. 20), S. 34–38.
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Büchlein werden im Frauendienst als briefe bezeichnet33 oder mit Briefen zusammen übersandt, so dass der Eindruck entsteht, alles Geschriebene, sofern es versendet wird, ist ein brief. Ein Beispiel aus dem Kontext der Übersendung des dritten Büchleins mag hier genügen: Dô diu vil reine, guote gelas, swaz an das kleine büechel was geschriben, daz geviel ir wol. dâ von ich iu nu sagen sol, daz diu vil werde vrowe mîn las mit ir liehten ougen schîn in hôhem muote sâzehant den brief, dâ sî diu liet an vant. (1337)
Es folgt Lied XII und kein weiteres schriftliches Korrespondenzzeugnis. Büechel und brief, die gemeinsam von einem Boten der Dame überstellt werden, erweisen sich als Büchlein plus Lied.34 3.2. Büchlein Während für die Lieddichtung die Schrift ein allenfalls sekundäres Medium darstellt, kommen längere Vers- und schon gar Prosatexte nicht ohne Verschriftung aus. Dass der Dichter Ulrich von Liechtenstein seinen schreib- und leseunkundigen Minneritter und Frauendiener Ulrich neben Liedern und Botschaften auch drei Büchlein – „verschriftete Minnebotschaften von einigen hundert Reimpaarversen Länge“35 – dichten lässt, ist m. E. ein weiterer Fingerzeig auf das Thema der medialen Vermittlung. Bereits im Prozess der Büchlein-Produktion sind Mündlichkeit und Schriftlichkeit eng miteinander verzahnt: Ulrich ist der mündlich 33
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Auf diese terminologische Unschärfe ist die Frauendienst-Forschung schon früh aufmerksam geworden und hat sie aufzulösen versucht. Vgl. in diesem Zusammenhang die Erläuterung in der Frauendienst-Edition von Bechstein (Bd. 1, S. 13, Anm. zu Strophe 33) zu Ulrichs Ausbildung, über die es 33,3–5 heißt: er lêrt mich […] an prieven tihten süeziu wort. Bechstein meint, dass brief hier synonym für büechel stehe. Zur Kommunikationsfunktion der Lieder vgl. im vorliegenden Band die Beiträge von Braun, passim, und Bleumer, S. 366 f., 369, 371 f. Wand-Wittkowski (Anm. 20), S. 134, nimmt auch zu dieser semantischen Variante des Begriffs brief Stellung und resümiert aus ihrem Belegmaterial überzeugend: „Daß Lieder auch Botschaften sein können, macht sie aber noch nicht zu Briefen“, und: „Der mhd. Gebrauch des Wortes ‚brief‘ läßt die Gleichung ‚Lied=Brief‘ nicht erkennen“. Gutwald, „Der Minnediener als Souverän“, S. 145. Zur medialen Form der Büchlein vgl. auch den Beitrag von Wolf im vorliegenden Band, S. 512–514.
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Dichtende, ein Schreiber zeichnet die Dichterworte auf. Die persona Ulrich als Autor der drei Büchlein nutzt diese als schriftliche Botschaften des Minneritters an seine Dame, d. h., er setzt, obwohl Analphabet, auf das Medium Buch zur Überbrückung von räumlicher Distanz.36 Zudem aber lädt er kraft seiner auktorialen Kompetenz als Dichter das abstrakte Medium Büchlein mit körperlicher Präsenz auf.37 Das erste Büchlein Ulrichs habe ich schon als Nachrichtenträger des abweisenden Antwortbriefes seiner Dame (Brief a) erwähnt.38 In Erwartung seines Schreibers und Vorlesers nutzt er das Büchlein in der Zwischenzeit als Liebessurrogat. Vor dem Hintergrund der mangelnden Schreib- und Lesefähigkeit Ulrichs könnte man versucht sein, das Büchlein auf der Skala der Kommunikationsmedien zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit dem gänzlich Vor-Schriftlichen und Illiteraten zuzuordnen, ihm den Status eines beliebigen Liebesobjektes zuzuweisen, vergleichbar hemede, ermel oder rîse der höfischen Damen, die ihre Ritter im Kampf mit sich führen. Die Tradition des Liebespfands hat der Dichter zweifellos anzitiert, aber das Büchlein geht in dieser Funktion nicht umstandslos auf. Denn trotz oder gerade wegen Ulrichs Analphabetentum ist die Schrift von herausragender Bedeutung bei diesem Fetisch. Ulrichs Liebesglück resultiert nämlich aus einem Mehr an Text, den das Büchlein aufweist; er hatte es verfasst und seiner Dame als Gebetbuch, als Stundenbuch für die Nacht geschickt, und es wurde von ihr nach der Lektüre retourniert mit einer inskribierten Antwort.39 Ulrichs Glückseligkeit speist sich nun aus der (falschen) Vorstellung, dass der Zusatztext friundes 36
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In dieser Funktion ist es dem Brief verwandt; aber das Büchlein enthält lange Monologe und Dialoge ohne Anrede, wie überhaupt die Anrede an die Dame im ersten Büchlein des Frauendienst erst in Vers 234 erfolgt. Vgl. Wand-Wittkowski (Anm. 20), S. 132 f. Vgl. Gutwald, „Der Minnediener als Souverän“, S. 145. Gutwalds Überlegungen nehmen ihren Ausgang von der These, dass die drei büechelin des Frauendienst „als Reflexionmedium der Ordnungsstiftung in einem Kommunikationssystem, das nach den Normen der Hohen Minne organisiert ist“, fungierten, während der Protagonist in der narrativ hergestellten Unordung von „(erstrebter) Präsenz und (erlebter) Distanz der vrowe“ unterzugehen drohe (S. 145 f.). Zum ersten Büchlein vgl. auch den Beitrag von Ackermann im vorliegenden Band, S. 343–349. Vgl. Gutwald, „Der Minnediener als Souverän“, S. 159 f., der die Implikationen der sakralen Textsorte Gebet mit ihren Konsequenzen für die Minnekommunikation ausführt und das Büchlein durch die von der Dame inskribierte Botschaft als Medium eines Kommunikationsvorganges definiert, „dessen Produkt ein offener und idealiter niemals abgeschlossener Text ist“.
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gruoz (168,5) oder gar die Erfüllung seines Liebeswerbens beinhalte. Der erotische Mehrwert des Büchleins besteht also in einem Textzuwachs, der allerdings nur in seiner Quantität zur Vorfreude auf künftiges Liebesglück verhilft. Die semantische Qualität der Worte – wenn der Schreiber sie Ulrich später vorliest – vernichtet diese Hoffnung, sie erweist sich als bloßer Wahn. Die Körperlichkeit des Buchs ist nicht nur eine auf der Rezeptionsebene, sie wird ihm auch im Produktionsprozess poetisch eingeschrieben. Der Dichter entwirft einen Text, den er in das Büchlein schreibt. In diesem Text stilisiert er das Büchlein mit poetischen Mitteln als Boten – Dîns gelükes walde got, / vil kleinez puoch, getreuwer bot (1. Büchlein, V. 1f.) – und setzt es dialogisch in Beziehung zum werbenden Ulrich (1. Büchlein, V. 1–233).40 Anschließend ergreifen Bote und werbendes Ich das Wort und wenden sich jeweils monologisch an die Dame. Als Liebesbote wird das Büchlein auf die Reise geschickt. Es wird erwartet, dass es sein Liebeswerben bei Hofe mit rede, gepâren, sehen und spehen (1. Büchlein, V. 5–14) erfolgreich ausführt. Nicht nur das materielle Büchlein mutiert zum Boten, auch der Text changiert zwischen Schrift und personalem Botschafter; schriftlich wird festgelegt, was Ulrich durch den Mund des Boten sagen will – lieber bot, nu wirbe alsô (1. Büchlein, V. 93) –, und auch die Rückmeldung des intratextuellen Boten mit guten Nachrichten von der Dame antizipiert: und pringestu liebiu mære mir (1. Büchlein, V. 90). Die Verantwortung des liebenden und schreibenden Ulrich für seinen textuellen Minneboten wird als persönliches Verhältnis beschrieben. Der Bote fungiert nicht nur als Nachrichtenüberbringer, sondern ergreift nun seinerseits das Wort, um seine Rolle als Schriftstück zu problematisieren.41 Er gibt zu bedenken, dass ihm ja gerade menschliche Qualitäten 40
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Vgl. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 70 f.: „Ulrich kann zwar nicht selbst zum Gespräch mit der Dame erscheinen, aber er sendet ein literarisches Abbild seiner selbst. Indem Ulrich das mündliche Botengespräch in die Schrift überführt, bleibt die ursprüngliche Nachricht an die Dame konstant bewahrt, egal durch wie viele Hände das Büchlein geht, bevor es zu ihr gelangt“. Diese Trennung von liebendem Ich und Buchbote, der als Leib imaginiert wird, ist entscheidend, denn das sind die Dialogpartner des Büchleintextes. Dies verkennt Schmid, „Verstellung und Entstellung“, S. 190, wenn sie konstatiert: „Im ersten Liebesbrief verwandelt sich das Büchlein unter den Händen der Dame in den Leib des Liebenden. Doch der als Gegenstand zärtlicher Berührungen phantasierte Leib empfindet auch Angst, die jedoch auf den Buchleib übertragen wird.“ Treffend dagegen Gutwald, „Der Minnediener als Souverän“, S. 153: „Vorerst noch markiert das Personalpronomen der zweiten Person eine strikte Unterscheidung zwischen dem Minnenden und seinem Boten, gewährleistet also immer noch eine
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fehlten, er sich nicht wehren könne und auf seiner gefährlichen Reise zur Dame keine Schar von 1000 Mann zu seiner Verteidigung mit sich führe. Die Dame als Schriftkundige hat folglich die Macht: sie kann das Buch verbrennen oder in vier Teile schneiden. Und selbst wenn er unbehelligt seine Botschaft überbringen könne, drohe ihm eine Kerkerhaft in lade oder schrîn (1. Büchlein, V. 140). An dieser Stelle fließen Buch und Menschenkörper auf der metaphorischen Ebene untrennbar ineinander;42 die usuelle Aufbewahrung des Büchleins in einem Kasten oder die materiellen Zerstörungen des Büchleins sind ebenso als physische Leiden von Menschen zu lesen, wie wir sie aus dem Rechtswesen kennen: Kerkerhaft, Verbrennen oder Vierteilen. Der Dialog zwischen Ich und Büchlein nähert sich seinem Höhepunkt, der auch strukturell markiert ist. Genau in der Mitte des Büchleins formuliert das Ich einen Wunsch, der der besonderen Diskretion des intratextuellen Boten bedarf: Das werbende Ich ersehnt einen Identitätswechsel mit dem Büchlein-Boten genau in dem Moment, da die Dame das Büchlein anschaut und in den Händen hält; dann würde er in Gestalt des Boten einen Kuss vom Munde der Dame stehlen (1. Büchlein, V. 193). Da dieses Begehren nach Nähe aber eine „Anmaßung ungeheuren Ausmaßes“43 ist, muss der intratextuelle Bote darüber schweigen. Hier wird eine vis-à-vis-Situation simuliert, und zwar auf zwei Ebenen: ein Dialog zwischen Ich und Boten als Intratext und ein verbaler und körperlicher Dialog zwischen dem Buch und der Dame. In der Kussphantasie wird kurzzeitig noch eine dritte Ebene eröffnet, nämlich die körperliche Begegnung zwischen Ich und Dame.44
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offenbar erforderliche Distanz.“ Vgl. auch Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper, S. 243: „Das sprechende Büchlein stellt in neuer Form die Trennung von Subjekt der Äußerung und Subjekt des Geäußerten (im Rahmen des Textes im Text) dar“. Vgl. Christian Kiening (Anm. 3), S. 208 f.; Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper, S. 243; Schmid, „Verstellung und Entstellung“, S. 189–191, subsumiert die Personifikation des Büchleins mit dem Boten unter das Motiv der Tarnung. Gutwald, „Der Minnediener als Souverän“, S. 151. Vgl. Kiening (Anm. 3), S. 209: Das Büchlein „wird aufgeladen mit körperlicher Präsenz und zugleich mit einem auf den Körper, den anderen Körper, gerichteten Verlangen. Da dieses Verlangen aber nicht unmittelbar zu befriedigen ist, geht auch das Büchlein nicht in der medialen Funktion auf.“ Vgl. auch Gutwald, „Der Minnediener als Souverän“, S. 153; Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 72: „Während die Figur Ulrich zunächst an die Körperlichkeit gebunden ist, wird sie durch ihr Dichten im Dienst der Dame zum Autor, der durch seine Präsenz im Text einen Status innehat, der zwischen Körperlichkeit und Nichtkörperlichkeit changiert“.
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Das erste Büchlein war mittelbar durch eine körperliche Zurichtung, die Mundoperation, veranlasst worden. Da die Evidenz dieser Operation, die Ulrich bei seinem ersten Treffen mit der Dame erbringt, für ihn nicht zu dem gewünschten Erfolg führt – Annahme seines Minnedienstes –, sieht er sich veranlasst, den neuen Mund nicht visuell, sondern in seiner Funktion als dichtenden (und in der Folge metaphorisch küssenden) ins Spiel zu bringen. Dies gelingt mit der Produktion des Büchleins, das die aus dem höfisch gerichteten Mund gesprochenen Worte in schriftlicher Form enthält. Dabei ist die poetische Ausgestaltung eines Schrifttextes zur situativen Begegnung von zwei Personen in einem imaginierten Raum nur zum Teil ein Anknüpfen an die traditionelle Mündlichkeitssituation, darüber hinaus wird vorgeführt, wie Liebesbriefe und Büchlein tabuisierte Räume erobern können. Nur die Schrift kann in die Kemenate eindringen und unter die Augen sowie in die Hände der Dame gelangen. Die Schriftlichkeit öffnet dem Minnediener Kommunikationsräume, die der Mündlichkeit verwehrt sind. Auch das zweite Büchlein nimmt poetisch und materiell seinen Ausgang von einem chirurgischen Eingriff, einem amputierten Finger. Ulrich, der über seinen Boten der Dame hat kolportieren lassen: „ich habe bî vil kurzen tagen durch sî gar einen vinger vlorn. der was ze dienste ir geborn“ (389,2–4),
sieht sich durch die Unterstellung der Dame, er habe gelogen, zur Tötung des Fingers veranlasst.45 Er kombiniert nun Augenscheinbeweis mit Schriftlichkeit,46 wenn er den Finger in die Schließe des Büchleins kunstvoll als Finger einer goldenen Hand einarbeiten lässt:
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Antizipiert wurde der Verlust der ganzen Hand bereits im Kontext der Mundoperation: geviel ir niht mîn zeswiu hant, / ich slüeg si ab bî got zehant (101,5 f.). Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 65 f., macht auf den Zusammenhang von Lügenvorwurf der Dame, Aufrichtigkeitsbeteuerungen Ulrichs und finalen körperlichen Beweisen als Leitmotiv des Romans aufmerksam. Vgl. Ackermann, „Ich – Subjekt – Körper“, S. 152: „Sprache allein reicht also nicht aus, um Gegebenheiten glaubhaft zu machen. Der Finger muß für die Wahrhaftigkeit des geschriebenen Textes einstehen.“ Vgl. Kiening (Anm. 3), S. 211. Gutwald, „Der Minnediener als Souverän“, S. 154, warnt vor der Einordnung „in ein duales Modell“; „vielmehr scheinen Sprache und Körperlichkeit eine komplexe Verbindung einzugehen“.
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daz diu sperre solde sîn, daz was alsô zwei hendelîn gemachet harte lobelîch: den vinger dar in meisterlîch machte wir. (445,3–7)
und den Text des Minnewerbens mit dem körperlichen Beweis des Minnedienstes an die Dame sendet. Der Finger selbst hat eine dreifache Funktion: Er ist Bote,47 er ist Reliquie des Minnemärtyrers und er ist Synekdoche des Minneritters, d. h., er ist selbst ein kleiner Minneritter, der – zum Frauendienst geboren – nun im Frauendienst gestorben ist.48 Im Tode erreicht er das, was dem lebenden Frauenritter Ulrich verwehrt bleibt: die permanente Nähe der Dame.49 Diese weist den Boten an, Ulrich zu bestellen, „daz ich in [den Finger] welle hie behaben, in mîner lade alsô begraben, daz ich in sehe wol alle tage.“ (453,5–7)
Dem toten Körper wird ein Begräbnis und ein ehrendes Gedenken zuteil, genau das, was der implizite Bote des ersten Büchleins gefürchtet hat: in der lade der Dame lebendig begraben zu werden. Befürchtung aus dem ersten Büchlein und Erfüllung im Umgang mit dem zweiten Büchlein markieren die Verbindung von Schrift und Tod: Tote und Bücher werden begraben, aber sie sind damit nicht notwendig tot im Sinne von wirkungslos. Auf einer höheren Ebene erhalten sie ein neues Leben in der Memoria. Sie können im Gedächtnis bleiben bzw. immer wieder neu ins Gedächtnis gerufen werden. Dies geschieht körperlich durch das Anschauen eines Teiles, im besten Falle einer Reliquie, literal durch Lektüre.
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Vgl. Schmid, „Verstellung und Entstellung“, S. 192, die den Fingerboten als den potentiell lügenden Worten überlegen ansieht, an dessen Wahrheit auch die Dame nicht vorbeikommt. Auf die sexuellen Konnotationen des Fingers und seiner Vereinzelung will ich nur en passant verweisen: Der Finger als Phallus, das liebende Eindringen in die Dame mit Hilfe des Fingers, der Stylus als Phallus, der in das Wachs oder den Körper seine Furchen zieht – das alles spielt mit hinein, aber auch ohne psychologische Deutung lässt sich festhalten: Im Finger der rechten Hand, die den Minnedienst auf zwei Schlachtfeldern leistet, kulminieren Kampf, Schrift, Liebe und Tod. Vgl. Klinger, „Ich: Körper: Schrift“, S. 124: „Da Ulrich erfährt, daß die Dame seinen Finger in einer Lade aufbewahrt, sieht er dadurch seine ständige Präsenz in ihren Gedanken gesichert (455 f.), während von den überstellten Texten eine solche Wirkung offenbar nicht anzunehmen ist.“ Ähnlich Gutwald, „Der Minnediener als Souverän“, S. 160.
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In der täglichen Andacht werden Buchobjekt und Schrift in die Präsenz gehoben, verlebendigt. Der Autor Ulrich von Liechtenstein hebt diese Brücke zwischen alten körperlichen Formen der Memoria und der Memorialfunktion der Schrift durch seine Konzeption eines Buchschließenfingers ins Bewusstsein. Der Finger wird nicht als Reliquie in einem beliebigen Kästchen zusammen mit dem Buch versandt, sondern das Buch ist der Reliquienbehälter, und der Zugang zum Geschriebenen erfolgt über das vis-à-vis mit dem metonymischen Minnediener. Der Minnemärtyrer Ulrich ist sich dieser Funktion der Liebesmemoria ganz sicher: „Ich weiz wol, swenne sî in [den Finger] siht, so erlæt si des ir güete niht, si müeze an mich gedenken sâ. (456,1–3)
Was den Texten nicht gelang – das Herz der Dame aufzuschließen –, das soll jetzt der Finger übernehmen, der leibhaftiger Fingerzeig ins Büchlein ist; denn er ist körperlich anwesend in einer goldgefassten Hand als Buchschließe.50 Näher können körperliche und schriftliche Zeichen sich kaum kommen als hier im zweiten Büchlein, das durch den leibhaftigen Minnedienerfinger geöffnet und geschlossen wird. Schauen wir nun, wie der Text des zweiten Büchleins sich zu seinem Zeichencharakter als Reliquiar verhält. Wie das erste enthält auch das zweite Büchlein einen Dialog, diesmal zwischen Minnediener und Frau Minne.51 In diesem Dialog wird der Finger verschriftlicht; Ulrich reklamiert ihn als stætez pfant (2. Büchlein, V. 267), das er seiner Dame gesandt habe als Unterpfand seiner Beständigkeit, Treue und Wahrhaftigkeit. Und wieder – zum dritten Mal – wird die Bestimmung des Fingers zum Minnediener exponiert (2. Büchlein, V. 283). Ulrich bittet Frau Minne um Beistand beim Erwerb der hulde der Dame. Sie möge das Herz der Dame, das für ihn zugesperrt sei, öffnen, damit er gemeinsam mit Frau Minne dort eintreten könne. Frau Minne verspricht: 50
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Nur Gutwald, „Der Minnediener als Souverän“, S. 154 u. 159, erkennt den Finger als Körperteil, der der Buchschließe einverleibt wird. Kiening (Anm. 3), S. 210, Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 73, Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper, S. 248, u. a. sehen Büchlein und Reliquie als etwas Getrenntes an, wenn sie betonen, dass Finger und Büchlein gemeinsam an die Dame gesandt werden. Streitgespräche zwischen minnendem Ich und Frau Minne sind konventionelle Kennzeichen der Minnereden und Büchlein. Vgl. Gutwald, „Der Minnediener als Souverän“, S. 155. Zur Minnerede allgemein vgl. Glier, Artes amandi.
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„dar inne sul wir gesinde sîn, ich unde dû, geselle mîn. des kan si niht geweigern mir: ich helf uns drin, dir unde mir.“ (2. Büchlein, V. 373–376)
In Hinblick auf die mediale Versuchsanordnung, die der Dichter Ulrich von Liechtenstein gerade hier im zweiten Büchlein darbietet, ist festzuhalten: Der Finger ist als Minneritter im Gefecht ehrenvoll gefallen, er ist der Finger der Schwert- und damit zugleich der Schwurhand.52 Der Verlust des Fingers aber scheint seinem Träger eher Vor- als Nachteile zu bringen: Ulrich ist kein schlechterer Kämpfer als zuvor – von dem neunfingrigen Ulrich werden dieselben Kampferfolge berichtet –, und aus dem Zwischenstadium mit dem verletzten und krumm verheilten Finger hören wir den Boten berichten: „ez habet dâ mit vil wol noch er / in iwerm dienest grôziu sper“ (431,7f.). Betrachtet man eine weitere Funktion der rechten Hand neben Schwur- und Schwerthand, ist an die Schreibhand zu denken. Der Verlust des Fingers führt jedoch bei Ulrich zu keinem Defizit der Schreibhand, weil er seine Texte nicht selbst schreibt, sondern diktiert. Seine Position als dichtender Illiterat erhebt ihn über die Niederungen der Schreibertätigkeit. Seine Literaturproduktion ist durch den Fingerverlust in keiner Weise gestört, im Gegenteil, sie profitiert von dem Finger als Synekdoche seiner selbst, als Schmuckstück des materiellen Buchs und als Gegenstand der Dichtung. Zugespitzt könnte man sagen: Erst die artifizielle Kombination von literarisiertem und körperlichem Finger53 öffnet dem Minnediener das Herz der Dame. Durch die Augen finden Finger und Büchlein den Weg ins Herz der Dame zur täglichen Memoria. Dies Betrachten des Fingers ist kein Lesen, sondern ein Meditieren vor der Reliquie.54 52
53
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Kiening (Anm. 3), S. 210 sowie Anm. 46, S. 377 f., pointiert den Charakter der „Wiedergutmachung“ und des „Opfer[s]“: „Das Abhacken eines Fingers der Schwurhand galt als Strafe für Meineid; Ulrichs Amputation (als Folge der Lüge gegenüber der Dame) hat also rechtssymbolische Züge.“ Zur Rechtslage vgl. Hausner, „Überlegungen zur Struktur“, S. 161 f. Klinger, „Ich: Körper: Schrift“, S. 124 f., betont das Gewaltsame und Künstliche der Fingeramputation, so dass „beiden Elementen dieser hybriden Botschaft (d. i. Sprache und Körper, K. K.) ein artifizieller Vorgang zugrunde“ liegt. Ähnlich Kiening (Anm. 3), S. 210 f., der das Spiel mit dem Sakralen treffend ausführt; anders Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper, S. 248 f., die in ihrer lacanianisch inspirierten psychoanalytischen Interpretation den abgeschnittenen Finger als Zeichen einer Subjektspaltung wertet. Ich vermag dieser Ansicht nicht zu folgen, denn dass dem Finger als Repräsentanten metaphorisch eine Ich-Identität zugesprochen wird, ist eine poetische Beteuerung, die mit der Subjektkonstitution nichts zu tun hat.
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Das dritte Büchlein scheint, was die Erzählhandlung des ersten Dienstes betrifft, an einer entscheidenden Wende zu stehen: Die Dame will nun endlich den Minnedienst Ulrichs annehmen und verspricht ihm sogar Minnelohn unter einer Bedingung: „Bote, nu sage dem herren dîn: wil er verdienen die minne mîn, sô muoz er varn durch mich ein vart über mer. ob in bewart got, daz er kumpt wider her, bî mînen triwen ich dich wer: ich lône im alsô minneclîch, daz er ist immer freuden rîch. (1314) […] Ich gibe ze lône im mînen lîp: ich lône im sô, daz nie dehein wîp gelônet für wâr nie ritter baz.“ (1316,1–3)
Bei diesen konkreten Aussichten verwundert es nicht, dass Ulrich sich von den vernünftigen Warnungen des Boten vor der großen Gefahr einer solchen Reise nicht abhalten lässt und seinen Entschluss, diesen großen Minnedienst freudig auf sich zu nehmen, nun auch in ein 379 Verse umfassendes büechel einschreibt. Auch in diesem Büchlein spricht ein Ich wie ein leibhaftiger Kommunikationspartner und tritt zunächst in den Dialog mit Herz und Verstand (3. Büchlein, V. 1–213), um schließlich als Ich-Redner die Dame direkt zu adressieren und von ihr die Übergabe von Kreuz, Stab und Pilgertasche zu erbitten (3. Büchlein, V. 300–326). Das Büchlein mündet ein in die Bitte um einen Abschiedssegen, der entsprechend den vorab erbetenen Pilgerzeichen ebenfalls nicht durch einen Vertreter der Kirche, sondern die Dame gespendet werden soll. Mit Worten, die an die Kussphantasie des ersten Büchleins (1. Büchlein, V. 190–193) erinnern, wünscht der prospektive Pilger gruoz und küssen von der Dame, die sie ihm in der Intimität einer unbelauschten Privatheit – daz dâ niemen bî / durch spehen noch durch melden sî / wan aleine wir beide (3. Büchlein, V. 350–352) – gewähren möge; denn mit dieser Ausstattung traue er sich zu, Unwetter, Wind und Wellen und schließlich gar den Heiden zu trotzen. Mit gruoz und küssen (3. Büchlein, V. 359) der Dame als apotropäischen Zeichen will das BüchleinIch dann furchtlos die vart über mer antreten. Medientechnisch ist dieses Büchlein in seiner konventionellen Apostrophe an hertze unde sin (3. Büchlein, V. 11) und ab V. 214 in der Ich-Rede des Minnedieners an die Dame unspektakulär, inhaltlich vermittelt es Entgegenkommen, sogar baldigen Minnelohn von Seiten der Dame, Freude und Glück-
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seligkeit auf Seiten Ulrichs. Diese Kongruenz von ausbleibenden Kommunikationshindernissen bei unproblematischer Minnerelation gilt es festzuhalten.55 Alle drei Büchlein hat Ulrich im Dienst der ersten Dame verfasst, ein weiteres Indiz für die Kumulation medialer Versuche in dieser Textpartie des Frauendienst. Alle drei entstehen in einer Situation gescheiterter Kommunikation zwischen Ulrich als Minnediener und seiner Dame. Alle drei nehmen auch inhaltlich Bezug auf das zuvor narrativ vermittelte Geschehen: das erste auf die Mundoperation und das Scheitern der vis-à-visKommunikation, das zweite auf die Fingerlüge und den Fingerverlust, das dritte auf die Lohnverweigerung beim Stelldichein und die Lohnverheißung im Zusammenhang mit dem Postulat der Pilgerfahrt. Alle drei Büchlein werden von Boten übermittelt, die nicht als reine Briefträger fungieren, sondern mündliche Botschaften überbringen, die sich grundsätzlich auf die Büchleintexte beziehen. D.h., der Bote hat Wissen über die Inhalte der Büchlein, das er im ersten Fall nicht zugibt, aber verklausuliert offenbart, im zweiten Fall zur Vorbereitung der Dame auf den besonderen Modus des Buches als Fingerreliquiar einsetzt und im dritten Fall sachlich knapp kundtut, wenn er die im Büchlein elaboriert entfaltete Zusage Ulrichs zur Pilgerfahrt schon mündlich vorwegnimmt. Die ersten beiden Büchlein reichern außerdem das Tableau der Kommunikationsmodi an, indem sie in ihrer dialogischen und körperbetonten Ausgestaltung die mündliche Sprechsituation sowie die Nähe der Körper im Raum in den Text des Büchleins einzuschreiben suchen. Im Kontext des dritten Büchleins scheinen demgegenüber „Redundanzen im medialen Verbund“ aufzutreten: Bote, Büchlein und Lied XII sind weder funktional noch inhaltlich scharf gegeneinander ausdifferenziert.56 In diese kommunikative Redundanz hinein trifft nun die ominöse untât der Dame (1364f.), über die es nichts zu sagen gibt, die aber mit Ulrichs Dienstaufsage geahndet wird.57 Dass die untât oder missetât in ein Meer des Schweigens versenkt wird, kann im Rahmen einer Dichtung, die Kommunikationstechniken und -modi ausstellt, kein Zufall sein, verlangt nach einer Erklärung. Hier bieten sich zwei Hypothesen an. Zum einen: 55 56
57
Vgl. Gutwald, „Der Minnediener als Souverän“, S. 161. Gutwald, „Der Minnediener als Souverän“, S. 162; vgl. auch Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 388. Zur untât der Dame vgl. auch den Beitrag von Eming im vorliegenden Band, S. 203 f.
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Wenn das Experimentieren mit kommunikativen Möglichkeiten und Grenzen auf dem Modell der hohen Minne basiert, scheitert es dann nicht systemisch, falls die Dame ihre Lohnverweigerungshaltung aufgibt?58 Zum anderen: Einerseits ist die missetât auf der narrativen Ebene äußerst schwach motiviert. Andererseits setzt nach der Aufkündigung des ersten Dienstes die Produktion neuer Typen der Minnelyrik ein, so etwa Scheltlieder, wânwîsen und dann – ab Strophe 1384 – Freudenlieder im Dienst der zweiten Dame. Ist also die untât, deren handlungslogische Motivierung so dürftig ist, ein „poetologischer Kunstgriff“, der dem Dichter Ulrich von Liechtenstein gestattet, als Meister der höfischen Kommunikation die Präsentation seines umfassenden lyrischen Könnens auszubreiten?59 3.3. Lieder – eine Sonderform von Transmedialität Das narrative Gefüge des Frauendienst stellt den Rahmen für eine komplexe Reihung von Situationen, welche die Lieder so in Kontexte setzen, wie es im deutschen Minnesang des Hochmittelalters einmalig ist. Das hat die Forschung bewogen, den Text als kulturgeschichtliche Quelle für Entstehung, Aufführung, Verbreitung und Rezeption von Minnelyrik zu lesen.60 Durch die potenzierten Funktionen des Ich in den Liedern 58 59
60
So die These von Gutwald, „Der Minnediener als Souverän“, S. 161 f. So die These von Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 199–207. Vgl. auch den Beitrag von Bleumer im vorliegenden Band. Zuerst 1981 und bis heute grundlegend Dieter Kartschoke, „Ulrich von Liechtenstein und die Laienkultur“, der von der Prämisse ausgeht: „Der Frauendienst ist eine unschätzbare kulturhistorische Quelle gerade auch hinsichtlich der zeitgenössischen Produktion und Rezeption des Minnesangs“, S. 105. Dabei ist vorausgesetzt, dass „Ulrichs Angaben im typischen Sinn historisch treu sind“ (ebd., S. 106.), also ein denkbares Szenario von Kommunikationssituationen rund um den Minnesang entwerfen. So verfährt auch Joachim Bumke. Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München 1986, Bd. 2, S. 755, der die im Frauendienst berichtete singende, tanzende und lesende Rezeption von Minneliedern als „reale[ ] Faktoren der höfischen Literaturpraxis“ versteht. Schilling, „Gesellschaftskunst und Privatvergnügen“, S. 110, leitet aus der vom Erzähler beanspruchten Wahrscheinlichkeit seiner Geschichte ab, dass damit „auch methodisch den Textaussagen zu Verwendungsformen und Funktionen von Minnesang historische[r] Quellenwert“ zukomme. Richtet man das Augenmerk gezielt auf die Relation von Liedproduktion des Lyrikers Ulrich von Liechtenstein und deren epische Einbindung, ist zu konstatieren: „Das Autorenkorpus entfaltet sich im Roman als Verzeitlichung der Lieder“ (Bulang, „Exponierung von Imagination“, S. 67).
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einerseits und in der epischen Situierung andererseits sind die Ich-Rollen noch vielfältiger als im Minnesang per se.61 Da sind zum einen die Lieder des ersten Dienstes zu nennen, die in eine Kommunikationssituation gebettet werden, die von Distanz und Differenz geprägt ist. Davon zu unterscheiden ist der zweite Dienst, der den Prozess der medialen Vermittlung komplett ausspart, hier tritt der „Botschaftscharakter der Lieder sehr zurück“.62 Im Laufe des Romans lassen sich sukzessive „drei Modi der Funktionalisierung von Minnesang“ differenzieren: 1. Lieder aus Ulrichs Werbungsphase für die erste Dame, 2. Lieder ohne konkrete Werbung, d. h. nach der Dienstaufkündigung und im Dienst der zweiten Dame, 3. Lieder des exilierten hôhen muotes nach dem Tod Herzog Friedrichs.63 In allen drei Phasen, kumuliert im ersten Dienst, erfahren wir mediengeschichtliche Details über das mittelalterliche Lied, seine Produktion und Rezeption, die Performanzsituation, das Dichten einer Kontrafaktur und die vielfältigen Arten der Vermittlung. Um diese mediale Dimension der Lyrik Ulrichs von Liechtenstein soll es im Folgenden gehen.64 Die wichtigsten mittelhochdeutschen Verben, die im Kontext der Liedproduktion und -rezeption fallen, sind singen, tihten, schrîben, lesen, vernemen oder hœren, senden (auch: hin füeren / bringen).65 Singen kann den Akt der Produktion wie der Rezeption bezeichnen und umfasst generell Text und Melodie.66 Eine scharfe Trennung von Textdichtung und Melodiekomposition ist selten auszumachen, wohl aber an der Stelle, an der Ulrich von Liechtenstein seinen Protagonisten kontrafazieren lässt. Ein Bote bringt Ulrich die Melodie eines fremdsprachigen Liedes und bittet ihn, einen deutschen Text darauf zu dichten: „dâ sult ir teutsch singen in“ (358,7), was Ulrich umgehend tut (Lied VII). Die Übermittlung der Me-
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Vgl. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 264: „Die Vielzahl heterogener IchRollen, die in den Liedern begegnen, werden somit in einem konstanten, stets im Hintergrund präsenten Oeuvre-Ich gebündelt, nämlich in der ausführlich beschriebenen Person des Minnedieners Ulrich.“ Ebd., S. 265; vgl. Klinger, „Ich: Körper: Schrift“, S. 121 f. So Bulang, „Exponierung von Imagination“, S. 70–72, Zitat S. 70. Klinger, „Ich: Körper: Schrift“, S. 106 f., sieht gerade „das Kommunikationssystem Minnesang“ im Frauendienst als „Anschlußstelle“ für das „Problem eines Medienwechsels, des Übergangs von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit“. Ich biete im Folgenden nur einige Beispiele und verweise auf die Belegsammlung bei Kartschoke, „Ulrich von Liechtenstein und die Laienkultur“, S. 106–116. Vgl. Gegen dem winder ich dô sanc / ein tanzwîse ze mâzen lanc / und kurz ze rehter mâze gar. / diu wort dar inne wâren wâr (1371,1–4).
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lodie an den leseunkundigen Dichter erfolgt oral und zwar sowohl auf Seiten des Boten, der dem illiteraten Dichter die Melodie vorsingt, wie auch auf Seiten Ulrichs, der sagt: Die wîse ich lernte an der stat / und sanc drin reht, als sî mich bat (359,1 f.). Der neue deutsche Text wird auf die erhaltene Melodie gedichtet, und das Resultat kann sich hören lassen: nu hœret: diu liet sprechent sô (359,8). Nach gelungener Produktion wird das Lied aufgeschrieben – zehant dô man diu liet geschreip (360,2) – und von demselben Boten der auftraggebenden Dame überbracht, die das deutsche Lied, vermutlich eine Kontrafaktur aus dem Französischen, liest – dô sîs gelas (360, 5) – und lobt. Ob sie das Lied leise oder laut liest oder als Einheit von wort unde wîse gar singt, bleibt im Ungewissen. Singen als Terminus des Dichtens ist mannigfach belegt, aber auch singen als Akt der Rezeption ist an mehreren Stellen zu finden, z. B. singt der Bote Ulrichs Lieder der Dame vor. Im Kontext von Lied VIII erfährt man von der Liedübermittlung durch den Boten: „Er hât iu, vrowe, liet bî mir / ouch her gesant“ (403,1 f.), und dem Auftrag des Vorsingens: „er bat si, vrowe, mich singen iu“ (403,6), den der Bote als Sänger ausführt: „nu hœret mich! ich kan diu liet“ (403,8). In diesem Fall haben wir es mit einem rein mündlichenVermittlungsvorgang zu tun. Über die Komposition und Dichtung des Leichs (Lied XXV) heißt es: Nâch disen lieden sang ich dô einen leich mit noten hô und ouch mit snellen noten gar. (1373,1–3)
Die Rezeption des Leichs wird ebenfalls als singen bezeichnet: Der leich vil guot ze singen was: / manic schœniu vrouwe in gern las (1374,1 f.). Die orale Performanz bleibt erhalten, wird aber ergänzt durch die skripturale Rezeption, die den lesekundigen Damen vorbehalten ist. Es ist kein Zufall, dass der Leich als künstlerisch anspruchsvollste Form der Lyrik hier nach dem Ende des ersten Dienstes seinen Platz findet. Denn nach der Dienstaufkündigung an seine erste Dame sind Ulrichs Lieder von ihrer Werbungsfunktion entbunden und frei für eine neue „außertextuelle kommunikative Zweckbindung“. Dies erweist sich bereits vor Beginn wie auch im Verlauf des zweiten Minnedienstes in den Liedkommentaren, die stärker auf den Artefaktcharakter der poetischen Kunststücke als auf deren Vermittlungswege abheben.67 67
Ich orientiere mich hier an der Interpretation von Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 265 f., Zitat, S. 266, setze aber die Zäsur bereits am Ende des ersten Dienstes, nicht erst mit Beginn des zweiten Dienstes.
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Ein anderes Lied (Lied XXXVIII) rezipieren die Ritter singend beim ritterlichen Zweikampf: Diu liet gesungen wurden vil. für wâr ich iu daz sagen wil: bî den lieden wart geriten manic tyost nâch ritters siten. (1425,1–4)
Die Semantik von tihten umfasst unspezifisch das Erschaffen von poetischen Texten aller Art. Auf der Kommentarebene des Epilogs spricht der Dichter Ulrich von Liechtenstein über die Produktion seines Werks Frauendienst (daz ich ditz buoch getihtet hân, 1848,3) und nimmt mit den Vokabeln singen und sagen eine Binnendifferenzierung zwischen Dichten von Epik (= sagen) und Lyrik (= singen) vor: ob ich gesungen und geseit / dar inne iht habe (1845,7f.). Innerhalb der Narration wird der Terminus ebenfalls für das Dichten von Lyrik und Epik eingesetzt. Der Protagonist Ulrich tihtet Lied und Büchlein für die Dame: dô tiht ich liet und ein botschaft / und sant ez sâ der nifteln mîn (159,4f.). Aber auch die spezifisch lyrische Produktionsform kann mit der Vokabel tihten bezeichnet werden. Dies erhellt der Kontext von Lied XXXIII, der auf die hohe poetische Kunstfertigkeit des Lieddichters und ein elitäres, als kundig adressiertes Publikum abhebt, das die artifizielle Vers- und Reimtechnik dieses Wechsels ebenso zu goutieren weiß wie seine musikalische Komposition: Diu liet vil maniger niht verstuont, als noch die tumben ofte tuont; swer aber was sô rehte wîs, der sî verstuont, der gabe in prîs. si wâren getihtet wunderlîch, die rîme gesetzet meisterlîch: diu wîse kunde bezzer niht gesîn (1398,1–7).
Niemals aber erstreckt sich tihten im Kontext des Frauendienst auf die Niederschrift, die Figur des illiteraten Dichters Ulrich schließt das aus. Schrîben bezieht sich im Frauendienst auf Briefe (320,4; 478,1 f.), Büchlein (449,2; 1336,6; 1337,2 f.) und Lieder (165,6–8). Da Ulrich selbst nicht schreiben kann, wird der Prozess der Verschriftung von Liedern in der Erzählung zumeist ausgelassen oder aber deutlich markiert wie im Falle der oben erwähnten zweifachen Rezeption der Kontrafaktur (359; 360). Dementsprechend sind die Belege von schrîben im Kontext der Liedübermittlung rar, aber immer sprechend. Auch in diesem Fall ist ein Blick auf den Epilog ratsam, in dem der Dichter Ulrich von Liechtenstein erstens ein poetisch-konservatorisches Interesse an einer vollständigen Liedersammlung seines bisherigen lyrischen Schaffens zu erken-
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nen gibt (1846,1–1847,3) und zweitens das Sammeln und Aufschreiben künftiger Lieder, die er noch zu dichten gedenkt, dem interessierten Publikum ans Herz legt: noch wil ich vrowen lop niht lân: ich wil si gern loben mê. swer welle, daz ez hier an stê, swenne ichz gesinge, der schrîbe ez dran: der hât sîn zuht dar an getân. (1847,4–8)
Dass eine solche Aussage nicht nur ein Beleg für schriftliche Verbreitung von Minnesang ist, sondern „auch ein vorhandenes ‚literarisches‘ Interesse an den Liedern“ dokumentiert, ist kulturgeschichtlich von Bedeutung.68 Denn hier ist die Wichtigkeit der memorialen Speicher angesprochen: die gespeicherten Lieder, insofern sie zirkulieren, fungieren als kulturelles und aktualisierbares Wissen, welches die Wahrnehmungsschemata der Hörer prägt, deren rezeptive Fertigkeiten und Ansprüche formt, und zwar sowohl auf der normativen wie auf der formalen Ebene. Der Dichter ist auf diesen Speicher angewiesen als Quelle der Inspiration, als Reservoir, um mit anderen Dichtern zu konkurrieren, als Stimulus für Innovationen. Und es macht einen erheblichen Unterschied, ob dieser Speicher im Medium der Schrift eine beträchtliche Bandbreite an Vorbildern vorrätig hält, oder ob er in unschriftlicher Form im individuellen Gedächtnis jedes Dichters mühsam angelegt werden muss.69 Für die Fragestellung nach den medialen Perspektiven ist zudem von Belang, an wen der Ministeriale Ulrich von Liechtenstein sich eigentlich richtet, wenn er ankündigt, auch in Zukunft mündlich Lieder zu produzieren, dabei aber schreibkundige Leser unter seinem laienadligen Publikum anspricht, ohne sie an dieser Stelle geschlechtsspezifisch zu adressieren. Will er sich als Repräsentanten einer untergehenden „primär aufführungsbezogenen Existenzform der Lyrik“ stilisieren, der mit dem „schriftkonservierten Lied“ eine neue Ära anbrechen sieht?70 Oder
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Kartschoke, „Ulrich von Liechtenstein und die Laienkultur“, S. 111. Vgl. Aleida Assmann. Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 137, die diesen subjektgebundenen und sinnkonstituierenden Speicher „das kulturelle Funktionsgedächtnis“ nennt. Mertens, „Liebesdichtung und Dichterliebe“, S. 202, sieht den Frauendienst als Dokument des Übergangs. Die Lyrik verlagere sich ab der Mitte des 13. Jahrhunderts von der Performanzsituation des öffentlichen Vortrags in die Schriftlichkeit. Die „Biographisierung“ seiner Lieder, die Ulrich von Liechtenstein mit seiner PseudoVita vornimmt, habe als Ziel die Memoria des Dichters und Politikers (S. 202 f.).
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unterscheidet der Dichter hier explizit zwischen einem primären hörenden und einem sekundären lesenden Publikum?71 Lesen steht für das Vorlesen, auf das Ulrich als Analphabet immer dann angewiesen ist, wenn es um verschriftete Lieder geht. Aber auch der Dame werden, wenn auch selten, Lieder gelesen im Sinne von „vorgelesen“ (74,2), oft aber liest die Dame für sich (165,5–8; 1338,1).72 Wie tihten und schrîben hat auch die Vokabel lesen kein Alleinstellungsmerkmal für die Lyrik. Briefe (746,1–4) und Büchlein (162,1; 1337,1) werden ebenfalls gelesen bzw. Ulrich vorgelesen: Dô mir gelesen wart hier an (172,1). Dass lesen in Opposition zu singen stehen kann, haben wir bereits bei Ulrichs Leich gesehen, dessen Rezeption ausdrücklich als doppelte markiert wird (1374,1 f.). Beim lesen von Liedern ist grundsätzlich mit der Kenntnisnahme von Text und Melodie zu rechnen; dies wird manchmal expliziert, so für Lied XI: Si nam den brief sâ in die hant, dar an si wol geschriben vant (si las in hie, si las in dort) mit guoter schrift wîse unde wort. (1100,1–4)
Im Kontext der Lieder beweist sich wie schon zuvor im Umgang mit Briefen und Büchlein (s. o.) die Überlegenheit der lesekundigen adligen Damen über die analphabetischen Ritter. Diesen Kontrast von Literalität und Illiteralität stellt Ulrich von Liechtenstein auf der narrativen Ebene seines Frauendienst immer wieder als geschlechtsspezifischen aus, ohne jedoch eine eindeutige Bewertung mitzuliefern. Ist die doppelte Rezeptionsmöglichkeit der alphabetischen Damen ein Gewinn, insofern das Lesen Unabhängigkeit und beliebige Wiederholung garantiert, erwächst dem dichtenden Ulrich bei der Liedproduktion an keiner Stelle ein Nachteil aus seinem Analphabetismus. Da er auf der Erzählebene der einzige Dichter ist, die Damen zwar schriftlich kommunizieren, aber nie dichten, kann man geradezu von einer Hochschätzung der an Oralität gekoppelten Poiesis sprechen.
71
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Auf die doppelte Funktion des Frauendienst als Repräsentations- und Memorialleistung weist bereits Schilling, „Gesellschaftskunst und Privatvergnügen“, S. 118, hin. Diese Reihenfolge behauptet Heinen, „Homo (il)litteratus or Poet/Performer?“, S. 162: „The primary audience intended, however, was in my opinion a listening one.“ Ob dies als lautes oder leises Lesen konzipiert ist, kann nicht zweifelsfrei ermittelt werden. Ich vermute, dass es sich um das laute Lesen handelt, das Ulrichs vrowe mehrfach praktiziert (vgl. Anm. 31).
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Hœren oder vernemen bezeichnet das auditive Agieren des Rezipienten bei der mündlichen Vermittlung durch den Sprech- oder GesangsVortrag; als solches steht es zumeist in Korrespondenz mit singen, sagen, sprechen oder „vorlesen“ als der akustischen Verlautbarung. Am häufigsten setzt Ulrich das Verb hœren in adhortativen Wendungen ans Publikum ein als epische Überleitung zu einem Lied, das er gedichtet hat: nu hœret: diu liet sprechent sô (359,8); nu sült ir hœren, wie daz sprach (1374,8). Ansonsten sind verschiedene Vorgänge des Hörens zu unterscheiden; zunächst das Hören von Liedern ohne spezifizierten Liedsänger. Über Lied IV heißt es: Diu liet ze Frisach sint für komen: si hât manic ritter dâ vernomen, der in des jach, sî wærn guot. (316,1–3)
Dieses Lied nimmt die niftel später an sich und sendet es zusammen mit einem Brief (Brief b) der Dame. Folglich muss es schriftlich vorliegen, ohne dass wir erfahren, wer es wann ins Medium der Schrift transponiert hat. Außer dem transmedialen Vorgang lässt sich eine doppelte Funktion des Liedes erkennen, das zuerst der breiten Öffentlichkeit der Turnierritter zu Gehör gebracht und dann als private Botschaft an die Dame übersandt wird.73 Ein anderes Beispiel ist Lied XIII, das Ulrich gedichtet hat: dô sange ich disiu niwe liet (1343,8). Seine Dame hört dieses Lied: Diu liet vernam mîn vrowe wol (1344,1), doch wie es ihr zu Ohren kommt, erfahren wir nicht, Ulrich jedenfalls trägt weder hier noch irgendwann sonst im Frauendienst selbst seiner Dame ein Lied vor. Dieser Befund passt zu der glücklosen vis-à-vis-Kommunikation des Minnedieners für seine erste Dame wie überhaupt zur These vom Frauendienst als Kommunikationsroman. Das aus der Oralität geborene Lied, das unter günstigen Umständen so leicht ohne jede personale oder schriftmediale Vermittlung das Ohr der Adressatin erreichen könnte, wird von Ulrich von Liechtenstein zum Spielball gemacht auf dem variantenreichen Feld aller nur denkbaren Kommunikationsprozesse. Besonders brisant ist das Unkontrollierbare des akustischen wie auch des auditiven Vorgangs im Kontext der Scheltlieder, die Ulrich gegen seine erste Dame dichtet, z. B. für Lied XXII:
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Zu diesen und anderen Stellen der öffentlichen und privaten Verwendung von Liedern im Frauendienst vgl. Schilling, „Gesellschaftskunst und Privatvergnügen“, S. 110–113.
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Diu liet gesungen wurden vil. für wâr ich iu daz sagen wil: dô sî diu wandelbære vernam, ir hôchgemüete daz wart lam: si zurnt und wart vil gar unfrô; daz ich von ir gesungen sô het, daz was ir ungemach. (1370,1–7)
Die Dame, die es gewohnt war, in Frauenpreis- und Werbeliedern besungen zu werden, die ihr mehrfach über Boten persönlich zugestellt wurden, sieht sich nun als Objekt von Scheltliedern, die vil gesungen werden, ohne dass sie diesen öffentlichen Verlautbarungen Einhalt gebieten könnte. Ein anderer Modus ist das Hören eines Liedes aus dem Mund einer spezifischen Person. Eine solche Person, die Lieder mündlich übermittelt, ist der Bote Ulrichs, der Lied VIII der Dame vorsingt (s. o.), so dass es über den auditiven Vorgang heißt: Dô sî diu liet gehôrt aldâ (404,1). Auf ebendiese Weise rezipiert Venus/Ulrich auch die Walther-Strophe Ir sult sprechen willekomen, die sein Bote (s. u.) ihm als akustisches Signal einer folgenden beglückenden Botschaft vorsingt (775,5–8). Nur Ulrich hört in dem öffentlich vorgetragenen Walther-Zitat den Subtext einer spezifischen Freudenbotschaft, das umstehende gesinde goutiert bloß Liedvortrag und Intertextualität. Ulrich aber versteht den doppelten Sinn des Liedes und schafft nach dem öffentlichen Auftritt des Boten umgehend eine private Kommunikationssituation, die es diesem erlaubt, unkaschiert über den Hulderweis der Dame zu berichten. Ähnlich sublim wie in dieser Szene ist auch die Distinktion von Privatheit und Öffentlichkeit in den Liedern XXI und XXII, die Ulrich nach der Dienstaufkündigung dichtet: Mit disen lieden tet ich kunt, daz ich für die selben stunt ir wolde gedienen nimmer mê. (1366,1–3)
Das hier angesprochene Lied XXI selbst, eine Minneklage des zornigen Minnedieners, thematisiert kein Ende des Dienstes und ist zudem ebenso wie Lied XXII und viele andere als tanzwîse tituliert.74 Mit dem Verb senden ist im Frauendienst schriftliche wie mündliche Übermittlung durch einen Boten belegt. Dieser personale Mediator ist 74
Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 294, spricht in diesem Zusammenhang von einem „direkten Anwendungseffekt“ der Lieder im öffentlichen Vortrag, „der sich aber nicht unbedingt als strenge Folge aus dem Liedinhalt ergibt“.
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von höchster Wichtigkeit im Frauendienst; fehlt er, verfehlt das Lied seine Funktion als Minnedienstleistung, nimmt aber dafür andere mediale Modi an wie Lied IX: Diu liet ich ûf dem wege sanc von mîner vrowen âne danc. daz kom dâ von: der bote mîn was ze verte; des moht niht sîn, daz ichs iht sande ir bî im. (418,1–5)
Anders Lied I des Frauendienst, das in der niftel eine geeignete Überbringerin hat; denn durch diese Mittlerin wird Ulrichs Dame endlich erfahren, dass sie die besungene, erwählte Minnedame ist: sus ich von mîner niftel schiet / und sande hin bî ir diu liet (67,7 f.). Wenn bereits hier, anlässlich der ersten Sendung eines Liedes, die Dame Ulrichs Liedkunst lobt, die Werbung aber ablehnt, ist ein Leitmotiv der scheiternden Kommunikation des ersten Dienstes angestimmt: „Liet und dienst sind damit als gegeneinander differenzierte Bereiche kommunikativen Handelns kategorisiert.“75 Und in dieser Spur geht es variantenreich weiter, indem die konkrete Werbebotschaft der Lieder ihr Ziel – den Lohn der Dame – konsequent verfehlt. Demgegenüber ist die öffentliche Reaktion auf Ulrichs Minnesang immer eine positive, und die Öffentlichkeit hört die Lieder ohne Zutun eines personalen Vermittlers. Nur gelten Zustimmung und Lob des höfischen Publikums, unter dem prinzipiell auch die Dame sein kann, dem Minnesang in seinem artifiziellen und generellen Modus, Ulrichs Liebeswerben befördert dieser künstlerische Erfolg nicht. Die 58 Lieder, von denen der Dichter am Ende seines hybriden Werkes spricht (1846,1 f.) und die bis auf den Leich auch in der Großen Heidelberger Liederhandschrift in exakt derselben Reihenfolge überliefert sind, stehen im Frauendienst im Spannungsfeld der Aktionsformen singen und hören, schreiben und lesen, dichten und versenden. Angesichts dieses bunten Straußes medialer Vermittlungsmodi darf zweierlei nicht vergessen werden: 1. Auf der narrativen Ebene bleibt die primäre Produktions- wie Rezeptionsform der Lieder die orale, von der jedes einzelne Lied seinen Ausgang nimmt, gesichert durch seinen analphabetischen Urheber Ulrich, dessen Schöpfer, der dichtende Ministeriale Ulrich von 75
Klinger, „Ich: Körper: Schrift“, S. 111, die fortfährt: „Diese schlichte Antwort hebt das im Minnesang entworfene Kommunikationsmodell, dessen Verbindlichkeit auf der Option beruht, ‚Singen‘ und ‚Dienen‘ miteinander zu identifizieren, aus den Angeln“.
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Liechtenstein, vermutlich ebenfalls ohne Lese- und Schreibkompetenz und gerade deshalb der geeignete männliche Repräsentant der laikalen Hofkultur war. 2. Da die Lieder planvoll und in einer sinnvollen Reihenfolge in die Pseudo-Vita des Minneritters Ulrich inseriert werden, sind sie Zeugnisse schriftmedialer Kommunikation, sogar die ersten zusammenhängenden Belege für Minnesang als Leseliteratur.76 In ihrer Transmedialität partizipieren die Lieder mit ihren beiden Komponenten, Text und Melodie, sowohl an personalen wie auch an schriftlichen Übermittlungsprozessen.
4. Kommunikation über personale Mediatoren 4.1. Schreiber Aufgrund von Ulrichs Unfähigkeit zu lesen und zu schreiben wird eine weitere mediale Vermittlungsinstanz aufgerufen: die des Schreibers, dessen Ulrich für die Produktion und Rezeption von Schriftstücken bedarf.77 Dies hat Folgen für die Komplexität der Kommunikation: Die Figur des illiteraten Dichters78 schafft Raum für eine zusätzliche mediale Situation, nämlich eine weitere vis-à-vis-Kommunikation. In dieser Situation ist das Diktat einer Botschaft an einen Schreiber vorstellbar,79 der dem Sender ein unverstelltes Sprechen zur abwesenden Adressatin ermöglicht; er muss seine Gefühle nicht kontrollieren, kann Formulie76 77
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Vgl. Kartschoke, „Ulrich von Liechtenstein und die Laienkultur“, S. 115. Im Lichte der historischen Briefforschung bedeutet dies keine Herabsetzung der Figur Ulrich. Vgl. Köhn (Anm. 19), S. 343 f.: „Bezeichnend für die Eigenart mittelalterlicher Korrespondenz ist zunächst die Tatsache, daß der Brief in der Regel nicht vom Absender selbst geschrieben wurde, sondern von einem eigens dazu bestellten Schreiber“. Die Lieddichtung, der Produktionsvorgang, ist zweifellos schriftlos gedacht. Es wird auf die Gedächtnisleistung des Dichters gerechnet, wie viele Einleitungsformeln zu den Liedern belegen, z. B.: zehant ich tihten dô began, / als mir mîn senedes herze riet, / von mîner vrowen niuwe liet (333,6–8); mîn herze singen mir dô riet / von mîner vrowen disiu liet (351,7 f.); besonders natürlich die Umstände bei der Kontrafaktur eines romanischen Liedes (358 ff.) (s. o.). Zur medienhistorischen Perspektive auf die Lieder im Frauendienst vgl. den immer noch wichtigen Aufsatz von Kartschoke, „Ulrich von Liechtenstein und die Laienkultur“. Zur Illiterarizitätsthematik vgl. im vorliegenden Band auch die Beiträge von Bleumer, S. 393 f., Braun S. 437, und Wolf, S. 506–510. Zum Schreiberdiktat aus historischer Pespektive vgl. Köhn (Anm. 19), S. 344–346.
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rungen in der Mündlichkeit zunächst ausprobieren, wird möglicherweise sogar in den Dialog mit den Schreiber eintreten und bestimmte Inhalte oder Formen diskutieren. Als Vers- oder Prosanachricht, als Brief, Lied oder Büchlein erhält die Adressatin dann das zuvor mündlich Formulierte im Medium der Schrift. Umgekehrt erhält der analphabetische Schrift-Empfänger die schriftliche Antwort vermittelt durch den Schreiber, der in diesem Fall als Leser fungiert und der Schrift seine Stimme leiht. Beide Vermittlungsakte geschehen im privaten Raum abseits der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und Kontrolle. Dies habe ich im Zusammenhang mit der brieflichen Korrespondenz (s. o.) bereits ausgeführt. Von den gerade genannten denkbaren Funktionen des Schreibers hat nur eine einzige größere Bedeutung für den Erzählverlauf des Frauendienst.80 Im Zusammenhang mit dem ersten Büchlein taucht Ulrichs Schreiber als Vorleser auf. Die zuvor und später mehrmals notwendigen Schreibdienste, z. B. beim Verschriften von Liedern, die an die Minnedame und andere Adressatinnen gesandt werden, sind im Text gar nicht erwähnt oder zumindest nicht ausformuliert.81 Hier nun, nach der Rücksendung des ersten Büchleins, von dem wir nicht erfahren, wer es verschriftet hat, wartet Ulrich ungeduldig zehn Tage auf seinen Schreiber, der ihm dann vil verholne (171,3) das Brieflein vorliest. Über diesen Schreiber sagt Ulrich: Mîn schrîber bî mir niht enwas, der mir mîn heinlîch brieve las und ouch mîn heimlîch ofte schreip. (169,1–3)
Offenbar ist der Schreiber eine Vertrauensperson, die nicht so leicht ausgetauscht werden kann durch einen beliebigen Lesekundigen in Ulrichs Umgebung. Als Instrument der Schriftlichkeit weiß er um jede schriftliche Nachricht, als Mitwisser der Gedanken und Pläne Ulrichs hat er eine Machtstellung, die er loyal einsetzen oder illoyal missbrauchen kann. An strukturell signifikanter Stelle taucht im zweiten Dienst, der sonst mit Informationen über Kommunikationswege und -mittel eher geizt, ein weiteres Mal ein Schreiber auf, der Schreiber des Herzogs von Öster80
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Zur Figur des Schreibers im Frauendienst vgl. auch den Beitrag von Wolf im vorliegenden Band, S. 507 f. Wenn überhaupt bleibt es bei generellen Formulierungen wie: Der bot niht langer dâ beleip. / zehant dô man diu liet geschreip, / dô beleip er niht langer dâ: / er fuort si sîner vrowen sâ (360,1–4).
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reich. Es handelt sich in den Strophen1650–1688 um eine Passage, deren Bedeutung sich auf der Handlungsebene nicht vollständig erschließt, erst die Metaebene der Kommunikation erlaubt eine befriedigende Deutung; denn hier verbinden sich auf eindringliche Weise Mündlichkeit mit Freude einerseits und Schreiben mit Tod andererseits. Die größte Freude seines Minnedienerlebens erlebt Ulrich – man nimmt meist an, dass es sich um das Versprechen der Liebeserfüllung handelt – direkt vor dem einschneidenden historischen Ereignis, als Herzog Friedrich in der Schlacht an der Leitha fällt und Österreich in politische Wirren gestürzt wird. In einer vis-à-vis-Begegnung mit seiner zweiten Dame erfährt Ulrich ein süezes wort, das ihn in dem hertzen hôch gemuot (1654,3) macht: dô sprach ir rôsenvarber munt wider mich ein süezez wort: (1653,4 f.) Dô si daz wort von munde lie, zehant ez süezlichen gie zetal in mînes hertzen grunt. (1655,3–5)
Dieses Wort beginnt nun einen Dialog mit dem Ulrich-Ich, der mit einem Lob auf das süeze wort endet und den Minnesänger zu einem Lied des hôhen muotes inspiriert. Blickkontakt, der große Nähe signalisiert, Intimität und Mündlichkeit der Mitteilung sind die Inhalte des Liedes XLIV. Direkt im Anschluss an dieses Freudenlied, vom Gang der Handlung her völlig unvermittelt, wird des Herzogs Tod in der Schlacht berichtet: Nâch disen lieden kom ein tac, den ich wol immer hazzen mac und der mir ofte noch trûren gît. uns kom ein swindiu sumerzît, dar inne der fürste Friderîch, der hôch geborn von Œsterrîch, vil jæmerlîchen wart erslagen. (1659,1–7)
Ulrich von Liechtenstein gibt vor, auf den historiographischen Bericht, den es bereits gebe, zu verzichten. Er lässt sich aber das Szenario des toten Herzogs, der unerkannt auf dem Schlachtfeld liegt, nicht entgehen. Die Schilderung des gefallenen Herzogs ist von einer Drastik, die den höfischen Kontext völlig vermissen lässt.82 Während im Verlauf der 82
Zum Einbruch der Körperlichkeit in die höfische Sphäre bei der Gestaltung des Fürstentodes vgl. Kellermann, „Formen der Kommunikation“, S. 340 f.
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Aventiurefahrten und Turniere die Macht des Fürsten und deren Außenwirkung mittels repräsentativer Zeichen durchaus in Szene gesetzt wird, legt Ulrich von Liechtenstein hier gerade den toten Körper in seiner Nacktheit ohne jede herrscherliche Aura bloß. Unerkannt, missachtet und gefleddert liegt der Leichnam Friedrichs auf dem Schlachtfeld: Daz man in alsô ligent vant, /der herre was über manic lant! (1670,1 f.). Sein Schreiber findet ihn: der legt in ûf ein pfert zehant, dar ûffe er jæmerlîchen lac, twerhes drüber als ein sac. (1671,2–4)
Als Sack transportiert der Schreiber den Fürsten inkognito in die Stadt, wo er aufgebahrt wird, die leblose Hülle des einstigen Herrn, der nun vom politischen Körper reduziert ist auf den physischen, anonymen Körper. Ohne Pomp, in armseliger Kleidung, jedes repräsentativen Zeichens verlustig, schrumpft der Territorialfürst zur armen Kreatur Mensch. Der erwartete Akt öffentlicher Kommunikation, das Ritual einer feierlichen Aufbahrung und eines Fürstenbegräbnisses, findet nicht statt. In diesem Zusammenhang tritt ein Schreiber auf, der sogar einen Namen hat, Heinrich (1667,8), und doch im weiteren epischen Geschehen nie wieder auftaucht. Dreimal fällt die Berufsbezeichnung schrîber (1667,8; 1669,1; 1671,1). Der Dichter Ulrich von Liechtenstein versieht den Höhepunkt des Minnedienstes seines Protagonisten Ulrich brüsk mit einem historischen Datum; denn jäh wie ein erratischer Block bricht das politische Geschehen in die Narration ein: der Tod des Landesherren, dessen rehter dienestman (1660,3) der Ministeriale Ulrich von Liechtenstein war. Damit erreicht der Dichter zweierlei: Erstens fixiert er das poesieimmanente Ereignis der Minne-Erfüllung chronologisch. Dieses Datum verschafft dem Minneglück den Anschein eines realen, also autobiographischen Geschehnisses; es bewahrheitet also scheinbar das fiktive Geschehen. Deswegen muss Ulrich von Liechtenstein an dieser Stelle das traurige Ende des gefallenen Herzogs näher schildern. Zweitens gestattet ihm dieser schroffe Einbruch der res factae in die poetische Immanenz, sich entschieden abzugrenzen von der Aufgabe des Chronisten. Das dürfte der Grund sein, weshalb Ulrich dem Schreiber des Herzogs einen Namen – fiktiv oder nicht – gibt. Der Chronist ist Zeuge eines historischen Vorgangs, den er im Modus der Chronik erzählt, weshalb der Dichter sich verabschieden darf von der Historie, um sich wieder seinem Stoff, der poetischen Fiktion, zuzuwenden. Der Schreiber Heinrich wird zum
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Antipoden des Dichters Ulrich, beide koexistieren, weil ein jeder seinem eigenen Modus des Erzählens gehorcht. So werden Schreiben, Schriftlichkeit und Tod zusammengebunden und schroff abgesetzt von Minnedienst, Mündlichkeit und Lieddichtung. 4.2. Boten Mediale Vermittlung über räumliche Distanzein erfolgt durch Boten, die wie der oben erwähnte Schreiber Ulrichs immer eine Vertrauensposition bekleiden, ansonsten aber recht unterschiedliche Anforderungsprofile aufweisen.83 Boten und ihre nicht selten prekäre Rolle, ihre Funktion für die höfische Kommunikation, ihre Loyalität, ihre Kompetenz, ihre Vertrautheit mit dem Herrn oder der Dame, all dies findet sich in vielen literarischen und pragmatischen Texten des 13. Jahrhunderts, denn dieses Jahrhundert war zweifellos das Jahrhundert des Boten.84 Das hat auch im Frauendienst seine tiefen Spuren hinterlassen. In diesem Text gibt es ausnehmend viele Botenauftritte,85 und gerade Ulrich bedient sich sukzessive einer ganzen Reihe von Boten, die wiederum, wie auch die schon besprochenen Kommunikationsmedien und -kanäle, im Dienst an der ersten Dame kulminieren.86 Anders im zweiten, unproblematischen, weil 83
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Zur Funktion des Boten aus historischer Perspektive vgl. Köhn (Anm. 19), S. 347–349. Zur Veränderung der Botenfunktionen im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit und ihrer mediengeschichtlichen Bedeutung vgl. Horst Wenzel. „Boten und Briefe. Zum Verhältnis körperlicher und nichtkörperlicher Nachrichtenträger.“ In: Gespräche, Boten, Briefe: Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hrsg. von Horst Wenzel und Peter Göhler. Berlin 1997 (Philologische Studien und Quellen 143), S. 86–105. Vgl. Kellermann und Young, „Briefe, Büchlein, Boten“, S. 328. Grundlegend: Thomas Szabó. „Botenwesen I.“ In: LexMa 2 (1983), Sp. 484–487, und Köhn (Anm. 19); Ders. „Dimensionen und Funktionen des Öffentlichen und Privaten in der ma. Korrespondenz.“ In: Das Öffentliche und Private in der Vormoderne. Hrsg. von Gert Melville und Peter von Moos. Köln u. a. 1998, S. 309–357. Vgl. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 46–56, die in einem Kapitel ihrer Monographie über „Distanzkommunikation über Boten“ handelt; dort auch ein Schema der Botenkommunikation im Frauendienst (S. 55). Auf S. 50 finden sich die Angaben: 160-mal fällt der Begriff bote; hinzu zu zählen sind die Textstellen, in denen der Begriff substituiert wird durch geselle, niftel oder vriunt. Spechtler, „Die Stilisierung der Distanz“, S. 303: „Der dienst ist somit durch die Vermittlung des Boten in sein erstes entscheidendes Stadium getreten, der mittelbare Kontakt zur Frouwe ist durch den Boten […] hergestellt.“ Spechtler nutzt diese Beobachtung zu einer These, die die narrative Struktur des Frauendienst be-
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souveränen Dienst für eine Dame,87 die Ulrichs Werben mit Gegenliebe beantwortet. Der Bote als Nachrichtenübermittler kommt hier so gut wie gar nicht vor, mit einer bemerkenswerten Ausnahme: Während der Artusfahrt lädt eine Botin von Frau Ehre die Artusritter zum Turnier nach Böhmen, bei dem Frau Ehre sich selbst als Preis ausgesetzt hat (1500,6). Außer diesem symbolisch überformten Botengang finden sich keine episch auserzählten Botendienste ab der Âventiure, wie der herre Uolrîch im ein ander vrowen nam (1390), ein Befund, der zweifellos auf die Reziprozität von Minnedienst und Kommunikationsaufkommen zu deuten ist: Je einvernehmlicher und akzeptierter der Minnedienst Ulrichs verläuft, desto geringer ist der Kommunikationsaufwand, je widerständiger und ablehnender die Dame, desto massiver die kommunikativen Aktivitäten Ulrichs, der gleichsam auf allen Kommunikationskanälen gleichzeitig zu ihr zu schwimmen versucht. Da ich nicht alle Botenszenen des Frauendienst besprechen kann, will ich mich auf einige extraordinäre konzentrieren. Mustert man die Reihe der Boten entlang ihrer Funktionen, reicht sie von dem reinen Briefträger, dessen Funktion das stumme Überbringen von schriftlichen Nachrichten ist, über denjenigen, der die schriftliche Botschaft in mündlicher Rede vorträgt und somit „reproduziert“,88 bis zu dem Boten, der als verlängerter Arm seines Herrn oder seiner Dame dessen/deren Wünsche vollständig internalisiert hat und die Textnachricht mündlich bekräftigt oder sogar durch Eigeninitiative befördert. Da der Sender der Botschaft meist weit entfernt weilt, ist ein selbständiges Entscheiden und Handeln des Boten nicht selten erforderlich. Im Frauendienst begegnen wir Repräsentanten aller drei Gruppen und sehen, wie groß die Varianz noch innerhalb dieser idealtypischen Auflistung ist.
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trifft; die „‚Episierung des Dienstes‘“ geschieht durch den Boten, dessen Funktion in der „Stilisierung der Distanz“ zwischen Minneritter und Dame besteht. – Ähnlich Klinger, „Ich: Körper: Schrift“, S. 114: „Der Bote sucht zwischen Ritter und Dame zu vermitteln, überwindet die räumliche Entfernung, steht zugleich aber für Distanz als konstantes Merkmal der Beziehung ein.“ Vgl. Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper, S. 329: „Im Rahmen des zweiten Dienstes stellt Ulrich die Regeln selbst auf. Die neue Souveränität markiert schon die autonome Wahl der neuen Herrin“. Der Begriff ‚Reproduktion‘ von Volker Scior. „Stimme, Schrift und Performanz. ‚Übertragungen‘ und ‚Reproduktionen‘ durch frühmittelalterliche Boten.“ In: Übertragungen. Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Britta Bußmann u. a. Berlin, New York 2005 (Trends in Medieval Philology 5), S. 77–99, bes. S. 79–82, fasst die ganze Bandbreite des performativen Aktes bei der mündlichen Übermittlung eines Briefes.
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Die modernste und zugleich wenig komplexe Funktion des Boten, die des Briefträgers, taucht im Frauendienst durchaus auf, aber der Dichter Ulrich von Liechtenstein schlägt auch aus dieser Funktion variantenbildendes Kapital. Zweimal dringen fremde Boten bzw. eine unbekannte Dame als ihr eigener Bote in die besonders empfindliche Intimsphäre Ulrichs als Venus ein und stellen unaufgefordert den sechsten und den siebten Brief zu (s. o.). Die Zustellerin bleibt für Venus/Ulrich unsichtbar, und auch die Schrift, die die mitgesandten Geschenke als Ehrengaben an Frau Venus deklariert, wahrt die Anonymität der Senderin (ich wil iu wesen unbekant, Brief d). Der Bote des siebten Briefes tritt zwar auf, verharrt aber in hartnäckigem Schweigen. D. h., beide Male ist den schriftlichen Botschaften keine mündliche Erklärung hinzugefügt, wird die kommunikative Leerstelle zwischen Absender und Empfänger nicht ausgefüllt, weder verbal noch akustisch; der Bote des siebten Briefs allerdings gibt nonverbale Zeichen, die auf den Brief weisen: der brief mit süezen worten seit, wer mir diu kleinôt het gesant: daz tet er teuticlîch bekant. (732,6–8)
Das aber ist eine Täuschung, denn der Brief lüftet nicht wie erhofft das Geheimnis der Senderin. Dass genau diese nicht gefüllte Leerstelle in Kombination mit der Anonymität der Briefe und dem Eindringen der Boten in den Taburaum den Empfänger Venus/Ulrich ratlos und wütend und schließlich traurig macht, erweist m. E. das Extraordinäre der Briefträgerfunktion des Boten in der Mitte des 13. Jahrhunderts. Der Normalfall, auf den der Empfänger Ulrich wie seine Zeitgenossen gefasst sind, ist gerade das Ineinanderwirken von Schriftlichkeit und Mündlichkeit in der Figur des Boten, nicht seine völlige sprachliche Zurückhaltung. Auch der umgekehrte Fall, ein Bote, der die Nachricht seiner Herrin allein mündlich überbringt, begegnet im Frauendienst. Als Ulrich auf dem Krankenlager in Bozen nach der Fingerblessur vier büechlin (355,2) übersandt werden, zitiert der Bote seine Dame, die die Büchlein als Zeitvertreib und Memorialleistung definiert.89 Eine schriftliche Nachricht 89
Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 149 f., pointiert die Gabe als „Literatur“ und arbeitet überzeugend die Differenz zwischen dieser Schenkungsszene und den beiden Schenkungen der Venusfahrt heraus: hier Geschenke, die den Dichter betreffen überreicht von einem Boten, der Auskunft über seine Dame gibt, dort die Zerstörung der Venus-Inszenierung im heikelsten Moment der männlichen Nacktheit oder zumindest Privatheit und ohne die Möglichkeit zu kommunizieren.
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übergibt er nicht. Am nächsten Tag kommt der Bote noch einmal, diesmal mit der Melodie eines ausländischen Liedes, das er Ulrich auf Deutsch zu vertexten bittet: „eu hât mîn vrowe her gesant bî mir ein wîse, diu unbekant ist in teutschen landen gar (daz sült gelouben ir für wâr): dâ sult ir teutsch singen in: des bitet sî, der bot ich bin.“ Die wîse ich lernte an der stat und sanc drin reht, als sî mich bat […] nu hœret: diu liet sprechent sô (358,3–359,8).
Es folgt Lied VII. Da jeder Hinweis auf Schriftlichkeit fehlt und eine Vermittlungsinstanz, die der leseunkundige Ulrich benötigte, ebenfalls nicht erwähnt wird, sollte man an dieser Stelle von einer rein mündlichen Liedübermittlung durch einen Boten ausgehen, zumal der Vorgang der Mündlichkeit durch Ulrichs Memorieren der Melodie markiert wird. Das vom Minnelieddichter Ulrich verfasste Lied wird verschriftet und vom Boten seiner Herrin überbracht, die es liest und für gut befindet (360). Ulrichs erstes – in der verbalen Kommunikation erfolgloses – Zusammentreffen mit seiner Dame (s. o.) wurde von seiner Verwandten, der niftel, angebahnt bzw. über deren Boten vermittelt. Die Position dieses Boten lässt sich beschreiben als die eines Vertrauten der niftel, der Ulrich gegenüber loyal ist, aber keine Empathie für ihn aufbringt. Er ist auch der Überbringer des ersten Büchleins und erhält in dieser Szene ein Profil. Er kommentiert die Übergabe mit den Worten: „gnâde,“ sprach er, „vrowe mîn! ich hân ein büechelîn iu brâht: daz sült ir lesen gegen der naht: dâ stêt an ein vil guot gepet.“ (160,4–7)
Mit diesen Worten täuscht er die Dame sehr geschickt, denn das Minnebüchlein ist natürlich kein Psalter, aber es ist insofern ein Gebetbuch, als es Ulrichs flehentliches Bitten um Minne enthält. Entscheidend für die Bewertung der Botenfunktion ist aber, dass dieses semantisch geschickte Täuschungsmanöver nicht der Initiative und Intelligenz des Boten entsprungen ist, sondern er von seiner Herrin, der niftel, instruiert wurde, wie er auf Befragen der Dame bekundet:
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„Sît dich dîn frowe zuo mir hât gesant, weistu, waz hie an stât? daz sag mir ûf die triwe dîn!“ „vil hôchgelobtiu frowe mîn, ez ist mir weizgot unbekant: des sî vor got mîn sælde pfant! mîn frowe mir anders niht kunt tet, si jach, dâ stüend an ein gepet.“ (163)
Er übergibt nun zusätzlich einen Brief, von dessen Inhalt er keinerlei Kenntnis habe, allein beauftragt sei, ihn ebenfalls der Dame zu überreichen. Der Bote schließt mit einer Selbstcharakteristik: „nu nemt in, vrowe, von mir hin und wizet daz, swie junc ich bin, ich kan ein botschaft werben wol und ouch verswîgen, swaz ich sol.“ (164,5–8)
Im Folgenden wartet der Bote auf Geheiß der Dame zwei Tage, bis die Dame ihm das Büchlein – mit dem inskribierten Zusatztext (s. o.) – aushändigt und ihn anweist: „nim hin daz püechelîn und füer ez dîner frowen wider. ich hân ez gelesen ofte sider. ein guot gepete zwâr dran stât: was dann? ich wils doch haben rât.“ (166,4–8)
Diese Botenszene demonstriert die enge Bindung des Boten an seine Herrin, die niftel. Ulrichs Belange befördert er nicht, kann er auch gar nicht befördern, weil er ihm nicht nah genug ist und von ihm nicht instruiert wurde. Er wirbt aber um das Vertrauen der Dame, wenn er seine Diskretion, oberste Pflicht eines jeden Boten, herausstreicht. Sollte das in diesem Kontext – er überreicht den Brief, der Ulrichs Minnelied mit intensiver Dienstversicherung (Lied III) enthält – nicht zugleich als Aufforderung an die Dame gelesen werden, sie könne sich auf seine Verschwiegenheit verlassen und ihm heimliche Botschaften anvertrauen? Die Dame jedenfalls bleibt auf Distanz: Sie lüftet gegenüber dem Boten weder das Geheimnis des Gebetbuchs, noch trägt sie ihm eine mündliche Nachricht für die niftel, geschweige denn für Ulrich, auf. Eine weitere Möglichkeit der Dame, selbst auf Distanz zu bleiben, aber dennoch Ulrichs Behauptungen über seine Leistungen im Minnedienst zu kontrollieren, kann die Dame über ihre Boten, die sie als Späher einsetzt, realisieren. Auf diese Weise erfährt sie von Ulrichs Blutsturz, dem Minnewunder, das ihm nach ihrem Gunst- und Ringentzug wider-
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fährt (1019–1044). Während Ulrichs Bote ihr den Vorfall detailreich berichtet, schneidet die Dame ihm das Wort ab und sagt: „ez hât mîn bote gar an gesehen. swaz er dâ tet und swaz er sprach, mîn bote ez hôrte unde sach. Den het verholn ich dar gesant: der stuont allez ûzen bî der want, durch eine luken er ez sach, swaz man dâ redet unde sprach. des tuomvogtes weinen und sîn klagen kan ich dir allez wol gesagen, und swaz dâ tet der höfsche Heinrîch, daz weiz ich allez bescheidenlîch.“ (1094,6–1095,8)
Diese Späherfunktion nutzt die Dame noch an weiteren Stellen der Handlung, an anderen weiß sie über Ulrichs keineswegs überragende Turnierleistungen – mir lobent sîn aber die vremden niht (Brief c) – oder auch seine konstante Zehnfingrigkeit – er hât in noch, ist mir geseit (430,7) – Bescheid. Dies Wissen beruht auf mündlichen Nachrichten, ohne dass man erfährt, ob es sich um ‚rumor‘, also Hörensagen, handelt oder sie auch bei diesen Gelegenheiten einen eigenen Boten ausgesandt hat. In allen Fällen ist die Information einseitig, eine Rückkopplung von Seiten Ulrichs ist nicht möglich und auch nicht erwünscht.90 Ungewöhnliche und ungewöhnlich viele Eigenschaften vereint Ulrichs zweiter Bote in sich, der sich vorzüglich einführt als Freund Ulrichs (375), als Mitleidender an Ulrichs Fingerwunde (376) und vor allem als ein Mann der höchsten Diskretion; weiß er doch schon seit anderthalb Jahren, wer Ulrichs Minnedame ist, und hat dieses Geheimnis gehütet (378–383). Später erweist er sich als einfühlsamer Ratgeber und Reisebegleiter (414–416). Diese Eigenschaften und Fähigkeiten disponieren ihn zum idealen Boten, denn gerade als diskreter Mitwisser ist er als Minnebote geeignet.91 Der Bote errettet Ulrich aus höchster Not, in die ihn der Botenmangel gestürzt hat, denn die Fingerwunde, die er sich im Dienst 90
91
Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 50, Anm. 172: „Sie kann sich mit Hilfe der Späher über Ulrichs Schritte informieren, ohne daß dieser eine Verringerung der Distanz zwischen sich und seiner Minnedame wahrnehmen könnte“. Spezifische Qualität des Boten ist, das zu bestellen, was ihm aufgetragen wird und das zu verschweigen, was er zwar bemerkt hat, aber nicht kundtun soll. So muss z. B. der Bote, der die Venusfahrt ankündigt, Ulrichs Identität verschweigen: ich bat den boten daz bewarn, / daz er dâ iemen nande mich. / er sprach: „zewâre, daz tuon ich“ (478,6–8).
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der Dame zugezogen hat, taugt so lange nicht, bis sie der Dame nachrichtlich übermittelt wird. Zunächst ist sie bloße physische Verletzung, erst durch den kommunikativen Prozess wird sie zum Minnedienst.92 Dementsprechend empfindet Ulrich das Leiden an der Botenlosigkeit93 schmerzlicher als seinen Wundschmerz: doch tet mir wirs diu senede clage, / daz ich niht boten mohte hân (374,6 f.). Dass der zweite Bote das alter ego Ulrichs ist, wird verschiedentlich deutlich. In der Klage um den verletzten Finger deutet er einen Identitätswechsel mit dem Leidenden an: „mir ist umb iwern smerzen leit. des sî pfant al mîn sælicheit. sold ez an mînem willen sîn, ich het ez an dem lîbe mîn für iuch.“ (376,3–7)
Auch seine Kenntnis von Ulrichs Minnedame, ein Wissen, das eigentlich nur Ulrich allein gebührt, qualifiziert ihn zum alter ego des Helden. Als Bote einer nicht näher benannten Dame hat er aber darüber hinaus ein Privileg, das Ulrich fehlt: „man gan ze reden mir mit ir verholn reht allez, daz ich wil, es sî lützel oder vil. daz hœret sî mir zühteclîch, diu reine, süeze, tugentrîch. ich pin ir willekomen gar, als mich mîn vrowe sendet dar.“ (385,2–8)
Ohne gesellschaftliche Sanktionen dürfte der Minneritter nicht verholn eine Dame treffen, der Bote aber bekleidet eine Vertrauensstellung, die diese Nähe zulässt. Und er nutzt sie bei seinem ersten Botendienst für Ulrich über die Maßen aus bis hin zur Distanzlosigkeit. Er exponiert zunächst das Fingeropfer seines Herrn im Minnedienst (394), adressiert anschließend weit elaborierter als von Ulrich instruiert dessen Werbung an die Dame (395; 398) und repliziert ihre zornige Ablehnung unbeeindruckt mit einem: „Nein, vrowe mîn“ (401,1). Zuletzt bringt er das Lied, 92
93
Sechsmal wird die zur symbolträchtigen Großtat des Minnemärtyrers Ulrich aufgebaute Fingerverletzung verbalisiert: 389, 394, 430–432, 434 f., 442, 450–454. Zeiten der Botenlosigkeit sind Grund zur Klage für Ulrich, wie wir bereits vor dem ersten Botengang der niftel zur Dame (50,6–8) erfahren. In diesem Punkt zeigt sich Ulrich als würdiger Nachfolger des lyrischen Ich der Männer- und Frauenstrophen, denen Minnesänger wie Hausen und Reinmar bereits die Klage und das Warten auf einen Boten in den Mund gelegt haben. Vgl. Spechtler, „Die Stilisierung der Distanz“, S. 301.
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das Ulrich ihn zu überreichen bat, akustisch zu Gehör (403). An die Stelle der Übergabe von Schrift tritt die Aufführung. Im Zuge dieser Begegnung nennt der Bote seinen Auftraggeber beim vollen Namen, eine der wenigen vollständigen Namensnennungen des Romans im Kontext der markierten Mündlichkeit: „Vrowe, ich nenne iu sînen namen, des er sich nimmer darf geschamen. er ist genant von Liehtenstein her Uolrîch.“ (397,1–4).94
Die Empathie des Boten für seinen Herrn und dessen Wohl und Wehe generiert Dialoge mit Ulrichs Dame, die als Stellvertreterkämpfe ausgefochten werden, insistent wenn nicht gar aggressiv von beiden Seiten. Dies zeigte sich schon in der oben zitierten Widerrede des Boten, die bereits recht frech anmutet, und erweist sich am Ende dieser Szene in der nachhaltigen Ermahnung der Dame: „Du solt in von mir biten des (nu merke ez rehte: ich sag dir wes,) daz er mich lâze gewerbes vrî.“ (405,1–3)
Die Antwort des Boten ist nur formal ein Einlenken, nicht inhaltlich: „Ich sage im daz, vrowe guot. doch weiz ich wol, er ist sô gemuot, daz er, vil liebiu vrowe mîn, gein iu niht lât den dienest sîn.“ (407,1–4)
Beim erneuten Werbungsversuch Ulrichs – er hatte, wie vom Boten antizipiert, die Bitte der Dame ignoriert – schreitet die Grenzverwischung zwischen den Personen Ulrich und Bote weiter fort. Der Bote beginnt seine Botschaft an die Dame, die ihn höfisch begrüßt hat: „gnâde“, sprach er, „vrowe guot. wold got, wært ir iht baz gemuot, Danne dô ich iuch næhste sach!“ (421,7–422,1),
worauf die Dame erstaunt erwidert: „sag an, waz tet ich leides dir?“(422,3). Bereits hier, zu Beginn der zweiten Dame-Boten-Unterredung, bezieht der Bote die ablehnende Haltung der Dame auch auf sich, während 94
Classen, „Self-Enactment of Late Medieval Chivalry“, S. 100, weist auf die zweite Dimension hin, die der Autor dadurch einführt, dass Bote und Dame sich über den Protagonisten unterhalten und der Rezipient auf diese Weise eine neue Perspektive auf den Minnediener Ulrich erfährt, die über die reine Selbstreflexion hinausgeht.
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sie, selbst dann, wenn sie ihn tadelt, allein seine Funktion als Nachrichtenüberbringer kritisiert und eine Pflichtverletzung vermutet: Nu enbôt ich im [d. i. Ulrich] bî dir doch daz, daz ich im immer wære gehaz, kœme er der rede niht gegen mir abe: und hâstû im, höfscher knabe, des niht geseit, dêst missetân. (428,1–5)
Am Ende der Unterredung aber sieht die Dame auch den Boten als persona non grata, bezichtigt ihn der Lüge in Bezug auf Ulrichs angeblichen Fingerverlust und verbietet ihm sowohl jede weitere Rede als auch künftige Botschaften. Sie bleibt jedoch trotz der Schärfe der Abmahnung im Rahmen der höflichen Rede, wenn sie ihn weiterhin als höfscher knabe tituliert: „er hât in [den Finger] noch: des hâstu mir ein teil gelogen. daz wîze ich dir: des wil ich reden mit dir niht mêr. nu var hin reht, als dû füere her, und tuo dich gegen mir botschaft abe durch mînen willen, höfscher knabe.“ (432,3–8)
Hier scheint eine Brisanz des Botendienstes auf, die, wenn die Situation eskaliert, zu einer ernsthaften Gefährdung seiner Person führen kann.95 Diese Gefahr resultiert ausschließlich aus der Vorstellung, dass der Bote keine eigenständige Individualität habe, sondern der verlängerte Arm seines Herrn sei. Ulrichs empathischer Bote geriert sich nicht nur als Ulrichs Sprachrohr, sondern als sein verlängerter Dichtermund, wenn er wiederholt die Lieder seines Herren nicht materiell überbringt, sondern vorsingt.96 Der Variantenreichtum des im Frauendienst inszenierten Sender-BoteEmpfängerin-Verhältnisses geht über das in zeitgenössischer Literatur Geschilderte hinaus. Während die Repräsentanz des Herrn durch seinen Boten in der Epik gern durch kostbare Kleidung visualisiert wird,97 versucht der empathische Bote Ulrichs die Identifikation mit seinem Herrn sogar bis in die körperliche Repräsentation zu treiben. Diese extreme Nähe wird befördert durch die intime Kenntnis der psychischen Verfas95
96 97
Welche Gefahren den Botendienst begleiten und welche Ängste im Boten aufsteigen können, wird im ersten Büchlein erzählt (1. Büchlein, V. 118–146). Wie Lied VIII so auch hier Lied X. Vgl. Wenzel, (Anm. 83), S. 96, Anm. 27.
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sung seines Herrn und konkret der Nachrichteninhalte, die es zu übermitteln gilt. Aber auch die Seite der Empfängerin ist dem Boten so gut vertraut, dass er seinen Spielraum optimal zu nutzen weiß. Die Relation zwischen Ulrich und seinem zweiten Boten basiert nicht auf einem statischen Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnis, sondern wird immer wieder neu ausgehandelt.98 Die Stellvertreterschaft des Boten kann sehr weit gehen: Als die Dame an Ulrich die Minnedienst-Forderung einer vart über mer stellt, gibt der Bote sofort eine zustimmende Antwort, ohne seinen Herrn zuvor zu konsultieren: „Ich sage im, vrowe, gar iwern muot:/ ich weiz ouch wol, daz er ez tuot“ (1317,1 f.). Hier kehrt sich das Herr-Bote-Verhältnis um: Aus dem Medium wird kurzfristig der Akteur, langfristig diktiert er auf diese Weise seinem Herrn das Handeln.99 Die von Bote wie Ulrich gleichermaßen forcierte Verschmelzung zu einer Person generiert neue Handlungen Ulrichs wie z. B. das Fingeropfer. Da der Bote, von Ulrich so instruiert, vor der Dame mit Ulrichs Fingerverlust als Minnediensthandlung geprahlt hat, steht er jetzt als Lügner da. „und ich hab ir von iu gelogen, mit lôsen worten gar betrogen. dar umbe sô ist si mir gehaz und giht doch, sî günne iu des baz, daz ir in habt, danne ob er verlorn wære: ir ist diu lüge zorn.“ (435,3–8)
Statt sich vom Boten zu distanzieren, ihn der eigenmächtigen Lüge zu zeihen und eventuell als Nachrichtenträger demonstrativ zu desavouieren, um durch dieses Bauernopfer den Vorwurf der Dame von sich abzulenken, will Ulrich lieber die Unio mit dem Boten aufrechterhalten und auf die Schelte seiner Dame durch eine Veränderung der Tatsachen reagieren. Er schlägt den Finger ab, passt damit den Körper der Botschaft an, die damit zur wahren Botschaft wird, und integriert schließlich den Körperteil in die Buchschließe (s. o.). Der Finger, selbst wieder ein kleiner Minnediener, wird zum Kustoden der Schrift. Aber auch umgekehrt verbindet der Bote sich auf Wohl und Wehe mit dem Herrn und scheut selbst vor Lügen nicht zurück, wenn sie der Rettung seines Herrn dienen. Dies wird notwendig angesichts der Selbst98
99
Hier geht der Frauendienst viel weiter als andere Werke des deutschen Mittelalters, die die Aufnahme der schriftlichen Botschaft von der oralen Performanz des Boten abhängig machen. Vgl. Schubert (Anm. 21), S. 38–40. Vgl. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 51.
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tötungsabsicht Ulrichs nach dem missglückten Stelldichein mit der Dame auf ihrer Burg.100 Ulrich will sich ertränken und wird von seinem Boten durch die doppelten Zeichen eines dinghaften101 und eines verbalen Gunsterweises seiner Dame errettet: „mich hât mîn vrowe iu heizen geben ir wangeküsse, dâ si manige naht ist ûffe gelegen. si hât gedâht, daz ir hinz naht ir bî geliget und ir mit trûten an gesiget: si wil iwer hertze machen vrô.“ (1275,2–7)
Er spinnt die Lügengeschichte noch weiter aus und korrigiert gleichzeitig den zuerst genannten Termin hinz naht, wenn er Ulrich ein Treffen mit der Dame, das zum ersehnten Minnelohn führen soll, in zwanzig Tagen verspricht, und dies als Botschaft der Dame an ihn ausgibt: „Si hât enboten iu bî mir“ (1288,1). Diese Lüge muss er wenig später der Dame mitteilen und rechtfertigt sein Handeln mit Todesgefahr im Verzuge: „Sus hân ich im von iu gelogen und doch umb anders niht betrogen, wan daz ich vorhte, der biderbe man het an im selben daz getân, dâ von er immer wær enwiht.“ (1304,1–5)
Sieht man diese Leistung des Boten mit dem Beginn seiner Botenfunktion zusammen, scheint der Bote in seiner Machtfülle über Leben und Tod gebieten zu können: Hatte er Ulrich mit seinem Wissen um die Identität von Ulrichs Minnedame nahezu getötet – „euch hât ir nam gemachet tôt“ (381,3) –, rettet er ihn hier vor dem Tod. Schon früher hat sich der Bote in seiner Macht als einziger Kommunikationsmittler zwischen Dame und Ulrich gesonnt. Auf der Venusfahrt reitet er seinem Herrn entgegen und singt die erste Strophe eines offensichtlich schon damals berühmten Liedes Walthers von der Vogelweide (nach Str. 776): Ir sult sprechen willekomen: / der iu mære bringet, daz bin ich.102 Der Bote borgt die Verse des illustren Minnesängers Walthers aus,
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Vgl. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 51 f. Vgl. auch den Beitrag von Eming im vorliegenden Band, S. 197 f. Zum Verlauf des Stelldicheins vgl. den Beitrag von Sieber im vorliegenden Band, S. 287–289. Noch einmal wird der Körper der Dame substituiert wie zuvor, als Ulrich das zurückgesandte erste Büchlein als Fetisch einsetzt. Vgl. Kiening (Anm. 3), S. 214. Vgl. Ranawake, „Zur Minnedidaxe“, S. 177; Spechtler, „Zur Rezeption Walters bei Ulrich von Liechtenstein“, S. 586–90.
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um in frecher Hybris seinen Herrn, den Minnediener und Lieddichter Ulrich, in die Knie zu zwingen. Das gelingt ihm, weil er mittels der Zitation gerade dieser Strophe des berühmten Preislieds Walthers, das Panegyrikos und Frauenpreis verbindet, Ulrich bereits in gespannte Erwartung auf eine freudige Botschaft versetzt hat. Herr und Bote reiten dann auf ein schœniu owe (778,3), wo der Bote seinem Herrn einen Kniefall abverlangt, bevor er die Nachricht der Dame erfährt:103 zehant als er die rede gesprach, vor sînen fuozen er mich sach knien, als ich spræche mîn gebet: mîn lîp daz willeclîchen tet. (780,5–8)
Nach diesem Kniefall übermittelt der Bote eine Ulrich derart beseligende Botschaft, nämlich Gruß und Ring der Dame, die ihm ob der Venusfahrt nun endlich gewogen ist, dass Ulrich im Freudentaumel abermals auf die Knie sinkt: Dô ich daz vingerlîn enpfie, ich kniet nider an diu knie. ich kust ez sâ wol hundertstunt: dâ mit tet ich im liebe kunt. (785,1–4)
Zu einem dritten Kniefall kommt es nach Abschluss der Venusfahrt, als Ulrichs Bote die Einladung der Dame zu einem heimlichen Treffen überbringt und ihm damit das größte vorstellbare Glück verheißt: Der bote mich smielende sâ an sach; der höfsche, kluoge höfschlîchen sprach: „ich nim hie iweres gruozes niht, biz man iuch ûf der erde siht für mich knien ûf diu knie. ich hân die botschaft bî mir hie, diu iwerm herzen sanfte tuot, und der ir wert vil hôchgemuot.“ (1111)
Augenblicklich leistet Ulrich das Verlangte, denn das Ziel seines gesamten ersten Dienstes, die körperliche Vereinigung mit der Dame, scheint nun in greifbare Nähe gerückt. Eine solche Botschaft rechtfertigt aus der Sicht Ulrichs die Inversion der Herr-Knecht-Dialektik. Herr über Leben
103
Zum zweimaligen Kniefall Ulrichs vor seinem Boten als ritueller Geste vgl. Witthöft, Ritual und Text, S. 183–187, die aber die Brisanz dieser Szene nicht ausreichend würdigt, wenn sie den Boten allein als „personellen Stellvertreter“ der Dame definiert und damit die Herr-Knecht-Dimension ignoriert.
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und Tod, literarisch gebildet, Sänger von Minneliedern, Künder froher Botschaft in der Spur Walthers – der Bote erhält im Frauendienst eine weitreichende Macht. Der Rundgang durch das mediale Labor Frauendienst offenbart einen Dichter, der die am Ende des Hochmittelalters denkbaren Kommunikationsprozesse entwirft und narrativ veranschaulicht. Dabei kontrastiert er die sprachlich vermittelte vis-à-vis-Begegnung von Ritter und Dame mit den vielfältigen Prozessen einer begegnungslosen Fernkommunikation. Während in der vis-à-vis-Situation die ganze Palette der sprachlichen und nichtsprachlichen Kommunikation eingesetzt werden kann, die vom gesprochenen Wort bis zum Schreien oder Verstummen und der rein körperlichen Mitteilung reicht, bleibt die Distanzkommunikation auf Vermittlung angewiesen. Zugleich verschafft die räumliche Distanz zwischen dem Protagonisten und seiner ersten Dame dem Dichter Ulrich von Liechtenstein die Spielräume, virtuos kommunikative Kanäle zu (er)finden, zu kombinieren und ihre Eigenschaften und Risiken zu erkunden. Denn die Distanz nötigt dazu, die Medien zu potenzieren, indem die sprachliche Mitteilung zusätzlich verschriftet und personal vermittelt wird. Die schriftlich fixierte Mitteilung schafft eine höhere Komplexität: Sie erfordert nicht bloß einen anderen Modus der Rezeption (lesen statt hören), sondern auch einen anderen Modus der Produktion (schreiben statt sprechen) und stellt den Sender damit vor neue soziale Situationen: Während Räume durchmessen werden, dehnt sich die Zeit. Die Kommunikation verläuft nunmehr in Intervallen, verlangt von Sender und Empfänger ein Warten auf den Boten, auf den Schreiber. Das flüchtige Wort hat sich in der Schrift materialisiert, aber diese überbrückt die räumliche Distanz zwischen Ritter und Dame nicht selbsttätig, sie bedarf eines Vermittlers. Das Transponieren in die Schrift zieht das Transportieren des Verschrifteten nach sich. Eine intermediäre Instanz ist vonnöten. Vor Brieftaube und Morsegerät, vor institutionalisierter Post und elektronischen Medien wird diese Instanz von Menschen besetzt. Damit entstehen im Extremfall, nämlich für den Analphabeten, zwei Schaltstellen, eine beim Senden, eine beim Empfangen von schriftlichen Nachrichten. An beiden Schaltstellen geschieht allerdings mehr als die bloße Verschriftung einer Botschaft und deren pure Rücktransponierung aus der Schrift in die Mündlichkeit. Über dieses ‚Mehr‘ haben weder der Sender noch der Empfänger die Kontrolle. Darüber waltet der personale Mediator; er kann nämlich in unterschiedliche Beziehungen treten zum Sender, zum Adressaten und sogar zur
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Botschaft selbst: von der stummen Neutralität eines Briefträgers bis zur empathischen Identifizierung reicht die Skala der Relationen. Somit verkompliziert die bloße Funktion des personalen Vermittlers die Kommunikation. Das Überbringen einer Nachricht wird zum prekären Vorgang. Der Dichter Ulrich von Liechtenstein illustriert, wie hilflos das Gedichtete, das poetische Produkt, dem sozialen Gebrauch ausgeliefert ist. Die menschlichen Mediatoren schaffen im Vorgang des Übermittelns soziale Situationen, in denen gelingende oder misslingende Kommunikation in hohem Maße von ihrer Geschicklichkeit und Gutwilligkeit abhängt. Dabei gerät der Sender in eine Abhängigkeit vom Übermittler, die der Dichter bis zur grotesken Inversion der sozialen Verhältnisse steigert. Und selbst die Unmittelbarkeit der mündlichen Verlautbarung wie auch der körperlichen Zeichen schleust der Dichter in die Distanzkommunikation ein, wenn der Bote der Adressatin die Lieder nicht zur Lektüre übergibt, sondern vorsingt und eine Dichtung sich nicht nur als Schrift im Samteinband materialisiert, sondern durch den Finger des Senders geöffnet wird.
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4. Gender Paradoxe Geschlechterkonstruktionen bei Ulrich von Liechtenstein von A NDREA S IEBER
1. Gender-orientierte Ergebnisse der Ulrich-Forschung Ulrichs Frauendienst stellt nicht erst seit den Anfängen der mediävistischen Rezeption gender-theoretischer Ansätze ein Faszinosum dar. Dieser Status basiert maßgeblich auf der Fokussierung von Ulrichs crossdressing als Königin Venus und Göttin der Liebe. Aus der Ich-Perspektive berichtet der Autor darüber, dass er sich zum Ende des Jahres 1226 in Venedig eine Kleiderkollektion anfertigen und mit kostbaren Accessoires ausstaffieren ließ, um am 24. April 1227 bei Mestre als Königin Venus aus dem Meer aufzutauchen und von dort aus in vrowen kleit nâch riters siten (514,2) eine Turnierfahrt durch Oberitalien, Kärnten, die Steiermark und Österreich bis nach Böhmen zu unternehmen. Die Wahrscheinlichkeit, der steirische Ministeriale, angesehene Landespolitiker und Autor des ersten deutschsprachigen Ich-Romans Ulrich von Liechtenstein habe sich ‚wirklich‘ als Königin Venus verkleidet und diese Turnierfahrt ‚tatsächlich‘ unternommen, wurde in der Forschung kontrovers diskutiert. Seit Jan-Dirk Müllers wegweisender Studie zu „Lachen – Spiel – Fiktion“ wird jedoch akzeptiert, dass die in der Venusfahrt verwendeten 51 historischen Personennamen und das detaillierte Itinerar, das für 26 Stationen der Fahrt den genauen Ankunftstag angibt, lediglich historische Faktizität simulieren. Statt Realitäten in der autobiographischen Erinnerung aufzurufen, entwirft Ulrich eine „utopische Kunstwelt“,1 die ein Experimentierfeld für höfische Interaktionsformen darstellt. Unbestritten nimmt die Venusfahrt in der Forschung eine Vorrangstellung ein. Aber auch anderen spektakulären Ereignissen aus Ulrichs unerfülltem ersten Minnedienst wie seinen jugendlichen Sublimations1
Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 73.
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handlungen und masochistischen Selbstverstümmelungen oder dem Selbstmordversuch nach missglückter Überwältigung seiner Minnedame hat sich die Forschung wiederholt und mitunter psychologisierend angenähert. Trotz der eklatanten Überschreitungen zahlreicher Normenhorizonte, die sinnvoll mit Problemstellungen der gender studies zu verknüpfen wären, hält sich die Ulrich-Forschung bis auf einzelne Studien im Bereich des crossdressing zu grundlegenden Fragen der Geschlechterkonstruktion weitgehend bedeckt.2 Deshalb werden im Folgenden Impulse aus der gender-Forschung aufgegriffen und für die Analyse von Geschlechterkonstruktionen bei Ulrich von Liechtenstein produktiv gemacht. Vorab sollen die Ergebnisse der gender-orientierten Ulrich-Forschung zusammengefasst bzw. auch jene Studien gewürdigt werden, die methodische oder inhaltliche Affinitäten zu den Zielsetzungen der gender studies aufweisen. Abschließend werden mögliche dekonstruktivistische Perspektiven der Ulrich-Forschung im Zuge eines queer reading skizziert. 1.1. Inszenierung Mit Fragen der Inszenierung und Theatralisierung sah sich die UlrichForschung schon immer konfrontiert. Fokussiert wurden die unterschiedlichen Rollen, die das Erzähler-Ich annimmt, und der Spiel- und Aufführungscharakter des Romans.3 Verkleidung, Rollenspiel und Rollenentlarvung implizieren insbesondere während Ulrichs Turnierfahrten eine bewusste Distanzierung von Alltagsrealitäten bei gleichzeitiger Konstitution alternativer, ästhetischer Realitäten. Konsens herrscht darüber, dass die stratifizierende Logik mittelalterlicher Vergesellschaftung bezüglich Stand, Verwandtschaft, Besitz und Herkunft spielerisch außer Kraft gesetzt wird. Nivelliert und durchkreuzt werden soziale, mora2
3
Relevante Basisinformationen bietet Judith Klinger. „Gender-Theorien. a) Ältere deutsche Literatur.“ In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hrsg. von Claudia Benthien und Hans Rudolf Velten. Reinbek bei Hamburg 2002 (rowohlts enzyklopädie 55643), S. 267–297. In forschungsgeschichtlicher Abfolge vgl. Reiffenstein, „Rollenspiel und Rollenentlarvung“; Schmid, „Verstellung und Entstellung“; Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“; Brinker-von der Heyde, „Biographisches Spiel und gespielte Biographie“; Plaumann, „Ritualität und Grenze“; Classen, „Ulrich as Master Disguise“; Linden, Kundschafter der Kommunikation, hier besonders S. 74–78, 100–112, 363–392; Velten, „Der Text als Spiel-Raum“.
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lische und ethische Differenzen zwischen dem Erzähler-Ich und gesellschaftlichen Normierungen, die aufgrund des Spielcharakters ohne Konsequenzen bleiben und dabei die Normen gerade nicht in Frage stellen, sondern affirmativ bestätigen. Die vielfach als dominant angesehene Standestransgression Ulrichs ist jedoch paradigmatisch mit Geschlechterkonzeptionen verschränkt. In der crossdressing-Episode wird dies als Spiel mit gender-Distinktionen wie Kleidersemantik, kulturellen Attributen, Bewegungs- und Wahrnehmungsroutinen oder Interaktionsmustern besonders evident. Weiterführend stellt sich die Frage, welche Inszenierungselemente von Ulrichs gender-Parodie sich auf eine etwaige Gesamtkonzeption von geschlechtlicher Identität im Frauendienst auswirken. 1.2. Körperdiskurse Aufgrund der spektakulären Körpermanipulationen, die das ErzählerIch an sich vornehmen lässt, wurde der Körper des Protagonisten schon bald als Fluchtpunkt spezifischer Diskursivierungen wahrgenommen.4 Destruktionen und Fragmentierungen im Bereich der Somatik bringen ex negativo Kommunikations- und Repräsentationsstrategien auf der Handlungsebene genau in den Momenten zum Ausdruck, wo sie an ihre Grenzen stoßen und in ihrer Funktionalisierung gestört erscheinen. Gleichzeitig werden diese Strategien hinsichtlich ihrer produktions- und rezeptionsästhetischen Dimensionen metareflexiv. Körperlichkeit bleibt im Medium des Textes ein sprachlich-imaginäres Konstrukt und verweist im Fall der gewaltsamen Zurichtung einerseits grundsätzlich auf die Artifizialität literarischer Körperbilder und eröffnet aufgrund der dominant zerstörerischen Komponente andererseits auch Spielräume für dekonstruktivistische Rezeptionsweisen des Frauendienstes. Der dekonstruktivistische Denkansatz erweist sich in diesem Zusammenhang als besonders geeignet, Brüche in der Körperdarstellung Ulrichs als Störanfälligkeit geschlechtlicher Identität zu deuten, die zur Destabilisierung einer funktionierenden Geschlechterordnung beiträgt. 4
In forschungsgeschichtlicher Abfolge vgl. Schmid, „Verstellung und Entstellung“; Hempen, „Die Aussätzigen“; Klinger, „Ich: Körper: Schrift“; Kellermann, „Formen der Kommunikation“; Kiening, „Der Autor als ‚Leibeigener‘“; Ackermann, „Ich ≠ Subjekt ≠ Körper“; Linden, Kundschafter der Kommunikation, hier besonders S. 65–74; Moshövel, „wîplîch man“, S. 457–476; Velten, „Sakralisierung und Komisierung“.
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1.3. Sexualität und Begehren Ulrichs Ich-Roman spielt die Grundidee des Minnedienstes in narrativer, lyrischer und poetologischer Entfaltung konsequent durch. Dabei werden nicht nur literarische Muster wörtlich genommen und hybridisiert, sondern gleichzeitig die qua Gattung limitierten Artikulationsmöglichkeiten für Begehren und Sexualität eklatant durchbrochen. Metaphorische Übercodierungen im Bereich des Liedkorpus, aber auch der Turnierdarstellung, ritualisierte Keuschheit auf der Ebene der Narration und die beinahe unverhüllte Schilderung sexueller Phantasien in einigen Liedern markieren diesbezüglich ein Spannungsverhältnis zwischen Begehrensstrukturen und Triebsublimation. Signifikanter Weise hat dies forschungsgeschichtlich zu einer Psychologisierung aus dezidiert männlicher Perspektive geführt.5 Die Behauptungen, Ulrich resp. das ErzählerIch leide unter eindeutigen Kastrationsängsten und lebe masochistische oder gar lesbische Phantasien aus, stellen sich aus gender-theoretischer Perspektive differenzierter dar. Um zu verifizieren, ob und wie sich der Ich-Erzähler „unwillentlich als ein in seiner gender-Rolle irritierter Mann zeigt“,6 bietet es sich an, durch queer reading den etwaigen erotischen Subtext des Frauendienstes genauer zu konturieren. 1.4. Crossdressing und Venusfahrt im Frauendienst Trotz der Verschiedenheit der Forschungsansätze zeigt sich ein theoretischer Konvergenzpunkt im Bereich der Geschlechterkonstruktionen. Die hier skizzierten Dimensionen von Inszenierung, Körperdiskurs und Begehrensstruktur implizieren eine analytische Trennung unterschiedlicher Ebenen der Kodifizierung von Geschlechtsidentität und der Modellierung von Geschlechternormen, die bei literarischen Geschlechter5
6
In forschungsgeschichtlicher Abfolge vgl. Zimmermann, „Ulrich von Lichtenstein und der Sex“; Schmidt, „Der Kampf im Schlafzimmer“; Müller, „Männerphantasien eines mittelalterlichen Herren“; Peschel-Rentsch, „Das arme Ich des Ulrich von Liechtenstein“; Müller, „Ulrich von Liechtenstein und seine Männerphantasien“. Eine Ausnahme stellt Gert Hübners Studie zu den Liedern dar, in der das Spannungsverhältnis von Begehrensstrukturen und Triebsublimation gattungsästhetisch als ein abstraktes, metaphorisches, metonymisches und mit Leerstellen behaftetes Sprechen an den Grenzen zwischen Handlungs- und Körperteilterminologie beschrieben wird. Vgl. Hübner, „Leibhaftiges in den Liedern Ulrichs“. Müller, „Ein deutschsprachiger Autor“, S. 26.
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konstruktionen meist miteinander verschränkt oder auf vielfältige Weise überblendet sind. Explizit gender-theoretisch argumentierende Einzelstudien zum crossdressing im Allgemeinen und zum konkreten Beispiel der Venusfahrt in Ulrichs Frauendienst setzen an diesem neuralgischen Punkt an. Während sich synoptische crossdressing-Analysen auf die Differenzierung zwischen weiblichen und männlichen Kleidertauschszenarien, das Herausarbeiten von gattungsaffinen Strukturmerkmalen und die Beschreibung handlungslogischer Konstituenten wie Motivation, Inszenierung, Rollenverhalten und gesellschaftliche Sanktionierung des Kleidertauschs konzentrieren,7 ist es der Studie von Andrea Moshövel zu verdanken, dass Ulrichs Venusfahrt nicht mehr nur als singuläre Variante des männlich-grotesk strukturierten crossdressing-Motivs fungiert, sondern im Anschluss an die Theorien Judith Butlers als komplexe Geschlechter-Parodie (gender parody) ernst und wahrgenommen wird.8 Neben Butler fundiert Moshövel ihre Argumentation mit Thomas Laqueurs Ein-Geschlecht-Modell und Statuskonzeptionen aus Vern L. und Bonnie Bulloughs Studie Cross Dressing, Sex, and Gender.9 Den maßgeblichen Effekt von Ulrichs crossdressing sieht Moshövel in der Destabilisierung männlicher Körperlichkeit und Begehrensstrukturen, die sie mit der Kategorie der ‚Effemination‘ erfasst.10 Auffällig quer zu diesem Ergebnis stehen die ungebrochene Transparenz von Ulrichs Identität, das homophobe und misogyne Sprechen – Aspekte, die Moshövel als affir-
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In forschungsgeschichtlicher Abfolge vgl. Bullough, „On Being a Male“; Edith Feistner. „Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zum Kleidertausch in der Literatur des Mittelalters.“ PBB 119, 1997, S. 235–260; Bennewitz, „Eine Dame namens Ulrich“; Ursula Peters. „Gender Trouble in der mittelalterlichen Literatur? Mediävistische Genderforschung und Crossdressing-Geschichten.“ In: Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ‚Körper‘ und ‚Geschlecht‘ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Ingrid Bennewitz und Helmut Tervooren. Berlin 1999 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 9), S. 284–304; Weichselbaumer, „Männliches Cross-Dressing“. Moshövel, „Ulrich von Liechtenstein – Ein Transvestit?“; vgl. dazu auch Judith Butler. Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M. 1991 (edition suhrkamp 1722, NF 722), S. 203; sowie zuletzt Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper, S. 249–265. Thomas Laqueur. Auf den Leib geschrieben: Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt a. M. u. a. 1992; Vern L. Bullough und Bonnie Bullough. Cross Dressing, Sex, and Gender. Philadelphia 1993. Ausführlich und im Vergleich mit anderen Gattungen und Diskursformationen wird dieser Aspekt untersucht von Moshövel, „wîplîch man“. Zu Ulrich von Liechtenstein vgl. besonders S. 437–496.
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mative Strategien zur Bestätigung der Geschlechterhierarchie identifiziert. Auf Basis dieser Erkenntnis argumentiert auch Michael Mecklenburg in seinem Aufsatz zur Venusfahrt, der er sich aus der Perspektive der men studies annähert.11 Seine mitunter forcierte Lesart des Frauendienstes rekurriert auf die Thesen Simon Gaunts und kommt zu dem Schluss, dass in der Venusfahrt weder Weiblichkeitskonstruktionen noch Machtverhältnisse im Rahmen des Minnedienstes verhandelt werden, sondern es ausschließlich um die Restitution von monologischer Männlichkeit (monologic masculinity) gehe.12 Um die diametral entgegen gesetzten Positionen von Moshövel und Mecklenburg miteinander zu vermitteln und in einen neuen Bedeutungszusammenhang zu stellen, werden in der nachfolgenden Analyse systematische Dimensionen der Geschlechterkonstruktion und das Gesamtoeuvre Ulrichs in den Blick genommen. 1.5. Gender-Diskurse im Frauenbuch Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang intertextuelle Bezüge zum Frauenbuch, das als Paratext den Frauendienst kommentiert. Der später entstandene dialogische Traktat über das gestörte Verhältnis zwischen Frauen und Männern versieht dabei nachträglich die impliziten didaktischen Intentionen des Ich-Romans mit einem generalisierenden Ausrufezeichen der gender-Relevanz. In der Forschung wird die Dialogizität beider Texte hinsichtlich ihrer Gattungshybridisierung und Diskursmontage gesehen. Die literarhistorischen Bezüge zur französischokzitanischen und deutschen Tradition, die punktuelle Verarbeitung klerikaler Hofkritik oder der Zeitklagen Walthers und des Strickers beanspruchen dabei besondere Signifikanz.13 Anknüpfungspunkte für gendertheoretische Überlegungen bieten die parodistische Anlage des Streitgesprächs, in dem Geschlechternormen und Interaktionsmuster in einer 11 12
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Mecklenburg, „Ritter Venus“. Vgl. Simon Gaunt. Gender and Genre in Medieval French Literature. Cambridge 1995 (Cambridge Studies in French 53). In forschungsgeschichtlicher Abfolge vgl. Glier, Artes amandi; McCann, „Wertsystem und Weltbild“; Behr, „Frauendienst als Ordnungsprinzip“; Hofmeister, „Minne und Ehe“; Brüggen, „Minnelehre und Gesellschaftskritik“; Ranawake, „Zur Minnedidaxe“ (nur punktuell zum Frauenbuch, S. 191, 194); Grabmayer, „Eheleben und Sexualität“; Hofmeister, „Ansätze und Forschungsperspektiven“; Frauenbuch, Ed. Young, „Einleitung“.
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Art Gegendidaxe ad absurdum geführt werden, und die Kombination mit einer weitgehend topischen Minne- und Ehelehre. Während die aporetische Kommunikationsstruktur im ersten Teil zunächst die Aufmerksamkeit auf Tabuisierungen in den Bereichen Ehebruch, Prostitution und Sodomie lenkt, verweist die konventionell-restriktive Didaxe im zweiten Teil auf verdeckte misogyne Diskursformationen. Exemplarische Vergleiche mit den szenischen Arrangements dieser Tabuisierungen und Diskursformationen im Frauendienst werden die Gesamtanalyse zu Geschlechterkonstruktionen bei Ulrich von Liechtenstein abrunden.
2. Dimensionen der Geschlechterkonstruktion bei Ulrich von Liechtenstein 2.1. Die sex-gender-desire-Trias nach Butler Nach wie vor erweisen sich die Theorien Judith Butlers für mediävistische Fragestellungen als anschlussfähig.14 Butler charakterisiert die psychisch erlebte Geschlechtsidentität (gender identity) als eine konstruierte Erfahrung innerer Kohärenz zwischen drei Komponenten: dem anatomischen Geschlecht (sex), dem sozialen Geschlecht (gender) und dem Begehren (desire).15 Ihre Einsicht, dass historisch jeweils privilegierte wie limitierte Möglichkeiten der Geschlechterkonstruktion zur Verfügung stehen, damit sich die sex-gender-desire-Trias konstituiert und materialisiert, ist auf mittelalterliche Diskurse partiell übertragbar.16 Wendet man ihre Kategorien als Analyseinstrumentarium an, so ergeben sich für die Bereiche der Theologie und Wissensliteratur andere Konstellationen als für literarische Texte.17 In der Literatur im engeren 14
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Ausführlicher dargelegt in Andrea Sieber. Medeas Rache. Liebesverrat und Geschlechterkonflikte in Romanen des Mittelalters. Köln u. a. 2008 (Literatur – Kultur – Geschlecht, Große Reihe 46), S. 78–149. Vgl. Butler (Anm. 8), S. 45 f. Zuletzt hinterfragt bei James A. Schultz. „Heterosexuality as a Threat to Medieval Studies.“ Journal of the History of Sexuality 15, 2006, S. 14–29. Zahlreiche plausible Anwendungsvorschläge finden sich in den Bänden: Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ‚Körper‘ und ‚Geschlecht‘ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Ingrid Bennewitz und Helmut Tervooren. Berlin 1999 (Beihefte zur ZfdPh 9); Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. Hrsg. von Ingrid Bennewitz und Ingrid Kasten. Münster 2002 (Bamberger Studien zum Mittelalter 1); Gender in Debate from the Early Middle
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Sinne zeigen sich wiederum signifikante Unterschiede, die nach Gattungen spezifiziert werden können.18 Während Vorstellungen über das anatomische Geschlecht (sex) vorwiegend in philosophischen, klerikalen und medizinischen Diskurszusammenhängen tradiert und institutionalisiert werden,19 erscheinen in Erzähltexten selten biologische Details, stattdessen aber Entwürfe von Weiblichkeit und Männlichkeit, deren Geschlechtlichkeit durch die Konstruktion elitärer Körper und eine extravagante Einkleidung ‚denaturalisiert‘ wird.20 Die Beobachtung, dass literarische Thematisierungen des anatomischen Geschlechts über stereotype körperliche Merkmale und Blickkonstruktionen bereits dem sozial determinierten Geschlecht (gender) entsprechen, kann für Ulrichs Werk weiter spezifiziert werden. Die Vielschichtigkeit von Geschlechterkonstruktionen und Begehrensstrukturen erfordert eine analytische Differenzierung verschiedener Dimensionen. Zunächst sollen Entwürfe von Körperlichkeit als ‚Ausgangsmaterial‘ für geschlechtsspezifische Zuschreibungen thematisiert werden. Da die Physis literarischer Figuren maßgeblich durch rhetorische Praktiken entworfen wird, ist die Erzeugung eines geschlechtsspezifischen Habitus vor allem auch als inszenatorischer Effekt von Einkleidung oder kultureller Attribuierung zu untersuchen. Neben Körper- und Kleidersemantik kommt dem Aspekt der sozialen Konditionierung eine zentrale Bedeutung zu. Geschlechtsidentität kann außerdem als ein ‚Produkt‘ beschrieben werden, das im Rahmen von Beziehungsmodellen und Interaktionsmustern verhandelbar ist. Zu ergänzen sind diese Aspekte um weitere Koordinaten der stratifizierenden Logik mittelalterlicher Vergesellschaftung, die geschlechtsspezifische Differenzierungen hinsichtlich der Räumlichkeit und Mobilität erzwingen, dabei aber auch unterschiedliche Aktionspotenziale ermöglichen können. Ein Blick auf die aporetische Diskursivierung von Geschlechternormen soll die Analyse komplettieren.
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Ages to the Renaissance. Hrsg. von Thelma S. Fenster and Clare A. Lees. New York 2002 (The New Middle Ages Series); Gender and Difference in the Middle Ages. Hrsg. von Sharon Farmer. Minneapolis u.a. 2003 (Medieval Cultures 32); Medieval Constructions in Gender and Identity. Essays in Honor of Joan M. Ferrante. Hrsg. von Teodolinda Barolini. Tempe, AZ 2005 (Medieval and Renaissance Texts and Studies 293). Dazu Gaunt (Anm. 12). Dazu Joan Cadden. Meaning of Sex Difference in the Middle Ages. Medicine, Science, and Culture. Cambridge 1993 (Cambridge History of Medicine). Vgl. E. Jane Burns. Courtly Love Undressed. Reading through Clothes in Medieval French Culture. Philadelphia 2002 (The Middle Ages Series).
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2.2. Körper- und Kleidersemantik Die Körper mittelalterlicher Figuren entstehen als Effekte aufwendiger descriptiones und Metaphorisierungen. Die Beschreibungen folgen rhetorischen Regeln, die für Frauen und Männer identisch sind. Sie gehören zum Grundrepertoire der mittelalterlichen Poetik, die zum Beispiel in der Ars versificatoria des Matthäus von Vendôme (vor 1175) überliefert sind.21 Die Beschreibungsmuster simulieren meist eine Blickbewegung vom Kopf zu den Füßen (de capite ad calcem) auf körperliche Details des Kopfes (Haare, Stirn, Augenbrauen, Nase, Augen, Gesicht, Mund, Lippen, Zähne, Kinn, Nacken, Hals und Kehle), der oberen und unteren Extremitäten (Schultern, Oberarme, Unterarme, Hände und Finger sowie Beine und Füße) und des Rumpfes (Brust, Taille, Hüften, Bauch), wobei sich die Schilderung überwiegend auf die Verhüllung des Körpers durch Kleidung konzentriert. Da Ulrichs Frauendienst von aufwendigen Verkleidungsinszenierungen dominiert wird, scheint das Augenmerk der Figuren-descriptiones22 über ein geläufiges topisches Repertoire der Einkleidung hinaus auf ein Maskerade-Konzept zu verweisen, das gender-Distinktionen in paradoxer Weise sowohl nivelliert als auch verstärkt.23 Die extravagante Kleiderkollektion und die außerordentliche Pracht und Detailliertheit der Accessoires, mit denen sich Ulrich als Königin Venus ausstaffiert, überbieten jede andere weibliche Figur an Exklusivität.24 Stereotype Attribute wie Frisur, Kopfbedeckung, Schleier, Gürtel, heftelin und Handschuhe werden dabei hyperbolisch betont und in ihrer Funktion, Weiblichkeit indexikalisch zu signifizieren, bestätigt. Gleichzeitig stört das crossdressing die vermeintliche Kohärenz von Körper (Signifikat) und Kleid (Signifikant). Obwohl sich Ulrich bei seiner Verkleidung bemüht, den Körper beinahe 21
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Matthäus von Vendôme (Matthaeus Vindocinensis). Ars versificatoria. In: Les arts poétiques du XIIe et du XIIIe siècle. Recherches et documents sur la technique littéraire du moyen âge (1924). Hrsg. von Edmond Faral. Paris 1924 (Bibliothèque de l’Ecole des Hautes Etudes 238), S. 106–193. Zur descriptio vgl. den Beitrag von Linden im vorliegenden Band, S. 87–90. Zum Maskerade-Konzept vgl. Marjorie Garber. Verhüllte Interessen. Transvestismus und kulturelle Angst. Frankfurt a. M. 1993; sowie Moshövel, „Ulrich von Liechtenstein – Ein Transvestit?“, S. 346 f. Vgl. 473–474,2; 487–489,6; 511,2–8; 512; 528–531,2; sowie die Beschreibung von Blaschitz, „Kleidung und Rüstung“, S. 389 f., und die Dokumentation der kostümkundlichen Rekonstruktion von Bönsch, „Das Venus-Gewand Ulrichs von Liechtenstein“.
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vollständig zu verhüllen (vgl. 463,5–464,7), bleibt seine männliche Geschlechtsidentität transparent. Während des Kirchgangs in Treviso provoziert der Ich-Erzähler zum Beispiel beim ritualisierten Friedenskuss ganz bewusst durch Lüften des Schleiers seine Enttarnung (vgl. 537 f.).25 In solchen Enthüllungsszenen wird die Divergenz zwischen weiblicher Kleidung und männlichem Habitus als unproblematische Geschlechterkombinatorik akzeptiert.26 Programmatisch schlägt sich dies in chiastischen Formeln wie in vrowen kleit nâch riters siten (514,2) nieder.27 Statt die binäre Geschlechterordnung zu unterlaufen, werden der Konstruktionscharakter von Identität und der soziale Zwang zur Geschlechterperformanz nachdrücklich vorgeführt. In der Imagination der Rezipienten ermöglicht der eindeutige Bruch zwischen dem anatomischen Geschlecht und der gespielten weiblichen Rolle aber einen Spielraum, welche Identitätszuschreibung je Handlungssituation für Ulrich zu veranschlagen ist. Ein solches oszillierendes Wahrnehmungsdispositiv wird signifikanter Weise nach Beendigung der Venusfahrt einer Stellvertreterfigur auf der Handlungsebene zugeschrieben.28 Der Domvogt von Wien begrüßt den nunmehr wieder ‚authentischen‘ Ulrich immer noch als Königin Venus und wundert sich über ‚ihre‘ männliche Transformation. er sprach: „got grüeze iuch, künegîn!“ Er sprach: „got wunder hât getân an iu, daz ir nu sît ein man und wârt vor vier tagen ein wîp. daz ir sus wandelt iwern lîp, daz ist ein wunder endelîch. ir wârt ein küneginne rîch: nu sît ir als ein ander man.“ (987,8–988,7)
Die textinterne Pointe zeigt, dass der Ich-Erzähler mit seiner Rückverwandlung in Ulrich von Liechtenstein nicht seine vermeintlich weibliche Geschlechtsidentität dekonstruiert, sondern seinen spielerisch eingenommenen Status als Königin. Er wird wieder als Gleicher unter Glei25
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Vgl. zu dieser Episode auch die Beiträge von Ackermann, S. 352–354, und Bleumer, S. 380 f., im vorliegenden Band. Vgl. Classen, „Ulrich as Master Disguise“, S. 482–490; Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 110 ff.; Mecklenburg, „Ritter Venus“, S. 197 f.; Moshövel, „Ulrich von Liechtenstein – Ein Transvestit?“, S. 351 f. Vgl. auch 492,2: in vrowen wîs und was ein man. Dazu Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 164; Mecklenburg, „Ritter Venus“, S. 205 ff.
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chen im Rahmen einer homosozialen Gemeinschaft erkannt, die sich elaborierten Herrscherfiguren wie Venus oder später Artus supponiert.29 Nachträglich wird klar, dass die Kleider-descriptiones im Rahmen der Venusfahrt der Statusrepräsentation dienen und eine Subversion der binären Geschlechterordnung auf dieser Ebene eindeutig vermieden wird.30 Die Limitierung eines kleidersemantischen Spiels mit gender-Distinktionen lässt sich anhand von Ulrichs Gebrauch ‚vestimentärer Codes‘31 in anderen Handlungskonstellationen und im Vergleich zum Frauenbuch verifizieren. Innerhalb der zahlreichen Gewand- und Rüstungsbeschreibungen findet sich lediglich eine singuläre descriptio weiblicher Kleidung, die in Ansätzen mit der Venusausstattung verglichen werden kann. Ulrich schildert das Aussehen seiner ersten Minnedame anlässlich seines Stelldicheins in ihrer Kemenate (vgl. 1199,2–1200,6):32 Sie trägt ein weißes, seidenes Unterhemd, eine Hermelin gefütterte Suckenie aus feinem Wollstoff und darüber einen grasgrünen, ebenfalls mit Pelz gefütterten Mantel, dessen Kragen scheinbar in die Kopfbedeckung, die rîse (1200,6), übergeht und wohl ihren Status als Ehefrau markiert. Im Vergleich zum Venusgewand erfolgt die Beschreibung topisch und wenig detailreich. Diskrepanzen zwischen der räumlichen Situation in der Kemenate und der Kleiderauswahl – getragen wird ein Mantel, aber kein Rock –, hat Gertrud Blaschitz als Anspielung auf die von Ulrich erwartete Liebesvereinigung gedeutet.33 Die latente Begehrensstruktur wird aber gerade nicht durch Kleidung evoziert, sondern auf die Schilderung des Bettes verschoben (1201,2–1202,4): Die Dame sitzt auf einer Samtmatratze und einem seidenen Laken und wird flankiert von einem Polster und zwei herrlichen Kissen. Teppich und Kerzenschein komplettieren das erotische Setting. Es wäre durchaus möglich gewesen, über
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Zum fiktiven Herrschaftsentwurf der Venusfahrt vgl. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 112–159. Diese Beobachtung zu Ulrichs Venusfahrt ist nicht generalisierbar. CrossdressingInszenierungen in anderen Gattungs- und Funktionszusammenhängen insbesondere der Legendentradition indizieren, dass wesentlich größere Spielräume für gender-Transgressionen eröffnet werden. Vgl. Brigitte Spreitzer. „Störfälle. Zur Konstruktion, Destruktion und Rekonstruktion von Geschlechterdifferenz(en) im Mittelalter.“ In: Manlîchiu wîp, wîplîch man (Anm. 17), S. 249–263. ‚Vestimentär‘ wird wie bei Barthes im Sinne von ‚kleidungsspezifisch‘ gebraucht. Roland Barthes. Die Sprache der Mode. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. 2. Auflage. Frankfurt a. M. 1987 (Edition Suhrkamp 1318, N.F. 318). Dazu Blaschitz, „Kleidung und Rüstung“, S. 378–381. Ebd., S. 379.
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differenzierte Visualisierungsstrategien eines enthüllenden Verhüllens den Körper der Dame anders zu gestalten. Doch Ulrich kommt es nur bei sich selbst in erheblichem Maße auf das W i e des Verhüllens und die Markierung dessen an, wa s verhüllt wird. Bei allen anderen Figuren entwirft Ulrich mit der Einkleidung gleichsam entsexualisierte Körpersilhouetten, deren geschlechtliche Distinktion ausschließlich durch kulturelle, nicht aber körperliche Attribute erfolgt. Der höfische Kleidercode erweist sich dabei für beide Geschlechter als weitgehend uniform.34 So trägt auch Ulrich eine Suckenie (vgl. 1197,6) zum Treffen mit der Dame und in einer anderen höfischen Empfangssituation auf seiner Burg ein Leinenkleid, Pelz und Mantel (vgl. 1704,1–3). Als Indiz für seine Männlichkeit fungieren zwei Beinlinge (vgl. 1704,2). Auch bei anderen männlichen Figuren, zum Beispiel Otto von Lengenbach, bleibt die Kleidersemantik bis auf die schwarzen Beinlinge universell (vgl. 808,3–809,7).35 Ähnlich wie bei der Venusausstattung dominiert die Status differenzierende Funktion der kostbaren Materialen – Scharlach, Seide, Pfauenfedern, Perlen und Goldstickerei – gegenüber einer potenziell geschlechtlichen Distinktion. Zusätzlich zu den erörterten Markierungen von Status hat Kleidung auch eine spezielle symbolische Funktion bei der Auslösung und Reglementierung von Begehren. Entsprechende Effekte werden im Frauenbuch von einer Dame und einem Ritter als prototypische Vertreter beider Geschlechter kontrovers diskutiert. Der männliche Vorwurf richtet sich gegen eine geläufig gewordene unattraktive Kleiderwahl, übertriebene Verschleierung und die Stilisierung zu Betschwestern, etwa mittels Ersetzung modischer Accessoires durch Rosenkränze (vgl. V. 223–243).36 Die Kritik insistiert dabei nicht nur auf standesgemäße Selbstdarstellung oder polemisiert gegen übertriebene Laienfrömmigkeit der Frauen, sondern macht darüber hinaus den Symbolwert von Kleidung transparent, männliche Begehrensstrukturen zu limitieren oder zu forcieren. ez waz noch nie so schœnez wîp, und wil si übel hân ir lîp, ez verswinde ir schœne gar. daz weiz ich endelîch vür wâr.
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Zum unisex-Kleidercode und zur Nivellierung von gender-Distinktionen vgl. ausführlicher Burns (Anm. 20), S. 119–178. Vgl. Blaschitz, „Kleidung und Rüstung“, S. 382 f. Zur Kleiderkritik vgl. Brüggen, „Minnelehre und Gesellschaftskritik“, S. 77 ff., sowie den Beitrag von Eming im vorliegenden Band, S. 188 f.
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swelch wîbes lîp ist ungetân, diu wirt nimmer liep ir man, ob si daz selbe gemachet hât, daz diu schœne an ir zergât. wirt ir gehaz darumb ir man dâ ist si selbe schuldec an. ich sihe, daz ein unvlætec wîp mit kleiden schône hât ir lîp, daz si ist deste baz getân und dâ von lieben muoz ir man. (V. 349–362)
Auffällig ist die wirklichkeitsverändernde Energie, die Kleidung hier zugeschrieben wird. Während in Ein- und Verkleidungssituationen des Frauendienstes die Körper der Protagonisten programmatisch unsichtbar und somit Signifikat und Signifikant dissoziiert blieben, zeichnet sich in der intertextuell-theoretischen Reflexion ganz im Butler’schen Sinne die Idee ab, dass Körperlichkeit keine ‚natürliche‘, vorgängig gegebene Größe sei, sondern durch diskursive und kulturelle Praktiken allererst hervorgebracht und sukzessive modelliert werden kann.37 Betrachtet man die Kritik an den weiblichen Kleiderpraktiken außerdem auf der intertextuellen Ebene, potenziert sich der Vorwurf zu einer double-bindStruktur: Was im Frauenbuch als Manko angeprangert wird, evoziert kontrafaktisch ein Frauenideal, das im Frauendienst am Beispiel der Wiener Damen als übertriebene Putzsucht gescholten (vgl. 818 f.) und in der Geschlechterparodie der Venus ausgerechnet von einem Mann elitär überboten wird. Konsequent zielen die Gegenargumente der Dame auf neuralgische Punkte männlicher Triebsublimation. Durch Frömmigkeit und unerotische Kleidung entziehen sich die Damen ihrer Sündenverfallenheit, der sie nicht nur qua ‚Natur‘ ausgesetzt sind, sondern in die Frauen durch patriarchale Gewalt und Verdächtigung geradezu hineingedrängt werden (vgl. V. 259–322). Mit ihrer Feststellung, dass an Kleidung sowieso immer nur das getragen werden kann und in selbstverständlicher weiblicher Unterordnung getragen wird, was Vater, Bruder oder Ehemann zur Verfügung stellen, spitzt die Dame das Problem gender-distinkter Kleiderkonventionen auf die Frage zu, inwiefern weibliche Kleidung ausschließlich männliche Potenz repräsentiert.
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Vgl. dagegen Mecklenburgs Deutung der Venusfahrt, die das Geschlecht als fixe biologische Größe voraussetzt. Mecklenburg, „Ritter Venus“, S. 206.
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2.3. Kulturelle Attribute Wenn Körper oder Kleidung uniform dargestellt sind und keine eindeutigen Zuschreibungen über die Geschlechtsidentität einer literarischen Figur ermöglichen, dies aber dennoch erreicht werden soll, stehen mittelalterlichen Autoren distinkte, für Frauen und Männer unterschiedene Attribute zur Verfügung. Dafür sind Sexuierungsmerkmale wie Gegenstände, Gesten, Tätigkeiten, aber auch Örtlichkeiten, Namen, Pronomina und das grammatische Genus vorgegeben. Auch die Uniformität mittelalterlicher Körper- und Kleider-descriptiones wird mit einem System weiblich und männlich codierter Attribute angereichert, welche die Wahrnehmung des sozialen Geschlechts steuern. Die gender-Distinktionen werden dabei vor allem durch Männlichkeitsattribute wie Rüstungen, Waffen und Pferde, aber auch andere überwiegend männlich codierte Insignien der Macht und des Status wie Bart, Zepter oder Zeremonienstab erzeugt. Die dominante Turnierästhetik in Ulrichs Frauendienst bedingt, abgesehen von der Venus-descriptio, eine Überbetonung männlicher Ausstattungselemente. Rüstungsbeschreibungen, die zum Beispiel bei Meinhard von Götz von einem heraldischen Detail der Helmziminier ausgehend, über das Blasonieren des Wappens, weiter über die Beschreibung von Waffenrock, Pferdedecke und Speerkollektion führen und nach der Erwähnung von Kettenhemd und eisernen Beinlingen bis ins kleinste Accessoire einer Agraffe oder der goldenen Sporen ausgemalt werden (vgl. 505,1–509,7), muten aus moderner Perspektive langweilig an, sind aber in Ulrichs Text wegen ihrer Funktion, zur Selbstvergewisserung des steirischen Adels beizutragen, äußerst brisant.38 Daneben zeigt die beinahe manische ‚Zählwut‘, mit der Ulrich pro Teilnehmer und Turniertag auflistet, wie viele Pferde erkämpft oder Lanzen zersplittert wurden, mit der er außerdem addiert, wer vom Pferd gestoßen und wem ein Ring als Symbol der Egalität beim Tjostieren verliehen werden konnte, jene Modi auf, wie männliche Identität zu erwerben ist: durch körperliche Fitness und die Beherrschung von Kampftechniken. Qualitäten, die im Kontext des anvisierten Minnedienstes außerdem als erotische Attraktivität übercodiert erscheinen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht jedoch immer die Bilanz von Ulrich selbst. Am Ende der Venusfahrt hat er 307 Lanzen verstochen, 38
Zu heraldischen Details inkl. zeitgenössischer Bezüge vgl. Blaschitz, „Kleidung und Rüstung“, S. 383–388, 391 f., 394–398.
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271 Ringe verschenkt, vier Ritter vom Pferd gestochen und wurde selbst zwar verletzt, aber nie im Tjostieren bezwungen (vgl. 979–981), was mit Andrea Moshövel als Signum eines männlichen, wenn auch parodistisch gebrochenen Omnipotenzdrangs gedeutet werden kann.39 Eklatanter Weise korrespondiert Ulrichs Turnierruhm nicht mit einer fraglosen Anerkennung durch seine erste Minnedame. Ulrich hatte ihr mit der Verschwendungsökonomie von Ringgaben während der Venusfahrt indirekt signalisiert, welches Minneattribut er sich selbst von ihr wünscht: ihren Ring als Anerkennung seines Dienstes.40 Dass dieser Wunsch ausschließlich an die Gunst der Dame geknüpft ist, belegt nicht zuletzt seine heftige Abwehr anonymer Geschenke anderer Damen (vgl. 601,8–603,6; 730,5–743,8).41 Die Ringgabe erfolgt tatsächlich kurz vor dem Zenit der Venusfahrt auf dem Weg zum Abschlussturnier in Wien (vgl. 784). Die Dame hat den Ring zehn Jahre getragen, und Ulrich ist von der Aura des Geschenks überwältigt. Dô ich daz vingerlîn enpfie, ich kniet nider an diu knie. ich kust ez sâ wol hundertstunt: dâ mit tet ich im liebe kunt. (785,1–4)
Der Ring hat Fetischcharakter42 und signifiziert einen Sprung in Ulrichs Identität. Er ist vom armseligen, nach Anerkennung heischenden Knappen zum ‚echten‘ Minneritter avanciert und in ein Dienst-Lohn-Verhältnis integriert worden, in dem die Asymmetrien zwischen ihm und der Dame laut Botenbericht weitgehend nivelliert erscheinen (vgl. 831). Angesichts dieser beglückenden Konvergenzerfahrung von Ritterschaft und Minne bekräftigt Ulrich seine lebenslängliche Dienstwilligkeit, worin sich nicht zuletzt auch ein neues männliches Selbstverständnis artikuliert (vgl. 785,5–788,8; 832–835), das aber gleichzeitig in Hybris um39 40
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Moshövel, „Ulrich von Liechtenstein – Ein Transvestit?“, S. 365 f. Die genitale Bedeutung des Rings als Antwort auf Ulrichs abgehackten Finger, der eine symbolische Kastration indiziere, betont Peschel-Rentsch, „Das arme Ich des Ulrich von Liechtenstein“, S. 165 ff. Vgl. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 145–150; Kellermann und Young, „Briefe, Büchlein, Boten“, S. 332 f. Als ‚Fetisch‘ bezeichne ich in Abgrenzung von der auf Pathologie und Anormalität ausgerichteten psychoanalytischen Terminologie Gegenstände der auratischen Verehrung, die ein positives Potenzial der Identitätsstiftung in sich tragen. Vgl. zur historischen Genese des Fetischbegriffs Hartmut Böhme. Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek bei Hamburg 2006 (rowohlts enzyklopädie 55677).
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zukippen droht. Sofort schmiedet Ulrich Pläne für eine neue Turnierfahrt und fordert zur Realisierung und als Bestätigung seines neu etablierten Status ein weiteres Minnepfand (vgl. 838–841). Ein über das erreichte Ziel offensichtlich hinaus schießender Wunsch, der ihm nicht gewährt wird. Im Gegenteil: Die Dame bezichtigt Ulrich kurz darauf der Untreue und fordert den Ring zurück (vgl. 1019–1022). Der Verlust des Minnedienstattributes stürzt Ulrich in eine extreme Erfahrung des Selbstverlustes. In exzessiver Trauer, die als infantile Regression und nicht öffentlichkeitsfähiger sowie unmännlicher Gefühlausbruch disqualifiziert wird („wie nû, ir bœser man? / pfæch, herre, pfæch, wie tuot ir sô? “, 1037,4 f.), beweint er den Verlust des Rings. Außerdem wünscht er sich den Tod und bekräftigt das Ausmaß seiner Identitätskrise durch die unwillkürliche somatische Reaktion eines Blutsturzes (vgl. 1023–1042).43 Selbstverlust und die drohende soziale Desintegration stellen im weiteren Handlungsverlauf den maßgeblichen Anlass dafür dar, seine dissoziierte männliche Identität neu und möglichst auf höherem Niveau zu konstituieren. Nicht durchgehend erzeugt Ulrich in seinen Texten solch komplexe Allusionen auf ein einziges kulturelles Objekt, um gender-distinkte Identitätsdimensionen zu markieren. Vielfach und insbesondere bei der Darstellung weiblicher Figuren verwendet er geläufige Stereotype. So entsprechen Frauen während der Turnierfahrten im Frauendienst selbst Prestigeobjekten. Sie erfüllen als Zuschauerinnen am Rande des männlichen Aktionsraumes ornamentale Repräsentationsfunktionen und fungieren neben Pferden, Rüstungen und Waffen als essentielle Statusattribute von Männlichkeit.44 Das Ausmaß ihrer Instrumentalisierung zeigt sich zum Beispiel darin, wie sie als Objekte männlichen Begehrens zum Gesprächsstoff der Botenkommunikation bzw. der minnesängerischen Performances gemacht werden. Darin spiegelt sich nach Simon Gaunt wider, dass „woman characters are all too often part of a masculine symbolic which privileges man as subjects and denigrates women. Women are ‚tools of think with‘, scape43
44
Peschel-Rentsch deutet die kindlich-regressive Trauer als eine Re-Traumatisierung, die Ulrichs Vaterverlust aktualisiere. Vgl. Peschel-Rentsch, „Das arme Ich des Ulrich von Liechtenstein“, S. 168 ff., sowie den Beitrag von Eming im vorliegenden Band, S. 198–202. Vgl. Ingrid Bennewitz. „Der Körper der Dame. Zur Konstruktion von ‚Weiblichkeit‘ in der deutschen Literatur des Mittelalters.“ In: ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘ in Mittelalter und in Früher Neuzeit. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. Stuttgart, Weimar 1996 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 17), S. 222–238, hier S. 228 f.
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goats or impossible fantasies.“45 Auch die Darstellung der ersten Minnedame im Frauendienst fügt sich in letzter Konsequenz dieser androzentrischen Perspektive. Indem sie Ulrich durch eine ominöse untât (1365,1; 1366,5; 1368,8; 1369,1) unendliches Leid zufügt und ihn auf diese Weise zur Aufkündigung seines Dienstes zwingt, entzieht sie sich selbst ihre eigene kulturelle Referenz. Ihre symbolische Funktion, Ulrichs Status als Minneritter zu signifizieren, erlischt, sie verliert ihre Existenzberechtigung in der Narration, wird in Scheltliedern diffamiert und problemlos durch die zweite Minnedame ersetzt.46 Bestätigt wird die Marginalisierung von weiblichen Figuren auch dadurch, dass im Kontrast zu der Vielzahl überwiegend männlich codierter Attribute nur wenige ausschließlich weiblich konnotierte Objekte wie das Handwerkszeug zum Nähen, Spinnen, Sticken und Weben benennbar wären, im Frauendienst aber de facto keine Rolle spielen. Anderen Gegenständen wie Schmuckstücken, Musikinstrumenten und Spielgeräten oder tierischen Statussymbolen wie Beizvögeln oder Jagdhunden fehlt diese eindeutige gender-Distinktion. Lediglich in speziellen Situationen des Normenbruchs, wie sie etwa im Frauenbuch diskutiert werden, wirkt ihre eigentliche gender-Neutralität negativ transformiert. So stellt sich aus der Perspektive der Dame der männliche Alltag als egozentrisches Verhalten dar, bei dem Formen höfischer Interaktion, insbesondere das Jagen, pervertiert erscheinen.47 Sobald die Sonne aufgeht, flüchtet der Mann aus dem Ehebett: „und rennet in den walt von ir: ze den hunden ist sîn gir. dâ rennet durch den tac sîn lîp und lât hie sîn vil reine wîp ân aller slahte vreude leben. dem wîbe ist mit im wol vergeben, wan er dort triut den sînen hunt und ein horn an sînen munt nun durch blâsen setzet. sô ist er niht ergetzet des, daz im ir rôter munt mit küssen solte machen kunt, 45 46 47
Gaunt (Anm. 12), S. 288. Vgl. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 199–207. Hofmeisters Beobachtung, dass dem Jagdthema im Illustrationsprogramm des Ambraser Heldenbuchs eventuell eine besondere Signifikanz für die Interpretation des Frauenbuchs zukommt, müsste an anderer Stelle systematisch verifiziert werden. Vgl. Hofmeister, „Ansätze und Forschungsperspektiven“, S. 219.
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wie wîplîch wîp gemachen kann mit herzen vrô ir lieben man. und würde im daz ze rehte kunt, er enpfülhe dem teufel sînen hunt, dem er nâch rennet durch den tac, unz er vor naht niht lenger mac.“ (V. 419–436)
In Ulrichs parodistischer Manier tritt der Jagdhund als Objekt eines überzogenen männlichen Begehrens in direkte Konkurrenz zum Begehrensobjekt Dame und substituiert sie partiell sogar. Wie der Minnering im Frauendienst avanciert der Hund zum liebkosten Fetisch, was die Dame als Störung ihrer eigenen Bedürfnisse nach Zärtlichkeiten und sexueller Befriedigung anspricht. Die topische Engführung von Jagdkunst (ars venandi) und Liebeskunst (ars amandi) ist bis in sprachliche Details evident, wird aber logisch gebrochen: Das triuten (V. 425) des Hundes blockiert das triuten (V. 413) der Dame und das blâsen (V. 427) des Jagdhorns vereitelt das küssen (V. 430) ihres roten Mundes. Dass die unterbundenen Wonnen und Freuden der Liebe außerdem mit subtilen Allusionen auf Rechtsansprüche verknüpft werden (vgl. V. 433) oder der Hund am Ende beim teufel (V. 434) landen soll, könnte bereits an dieser Stelle auf die später diskutierte Vernachlässigung der Frau durch sodomitische Praktiken des Mannes vorausdeuten. Evident wird zumindest punktuell, dass kulturelle Attribute häufig so stark mit Begehrensstrukturen besetzt sind, dass ihr transgressiver Gebrauch auch unabhängig von ihrem topischen Charakter und einer scheinbar geschlechtsneutralen Semantik in der Kontradiktion die soziale Strukturierung von Geschlechternormen und -grenzen markiert. 2.4. Soziale Konditionierung Mittelalterlichen Texten ist ein Bewusstsein eingeschrieben, dass und wie das angeborene Geschlecht im Prozess der Sozialisation mit Weiblichkeits- und Männlichkeitsstereotypen überformt wird. Dies erfolgt in der höfischen Interaktion durch Teilhabe und Nachahmung48 oder durch Erfahrungskanalisierung in Konstellationen des Lehrens und Ler48
Diese Relation hat Horst Wenzel in seinen Arbeiten vielfach erläutert. Vgl. exemplarisch Horst Wenzel. „Partizipation und Mimesis. Die Lesbarkeit der Körper am Hof und in der höfischen Literatur.“ In: Materialität der Kommunikation. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht und Karl Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1988 (stw 750), S. 178–202.
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nens. In der moraldidaktischen Literatur wurden meist für beide Geschlechter getrennt Vorstellungen über die Erzeugung weiblicher und männlicher Idealtypen entwickelt und entsprechende Erziehungsmuster entworfen.49 Formuliert werden die Sozialisationsziele als Verhaltensvorschriften, die auf zwei Aspekte gerichtet sind: die Reglementierung des Körpers und die ‚Verinnerlichung‘ von sozialen Normen. Formen der sensuellen Restriktion bilden offensichtlich in der ersten männlichen Redesequenz des Frauenbuchs die topische Grundlage für eine parodistische Kritik an ‚überkorrektem‘ weiblichem Verhalten: „swelch unser kumt dâ er vrouwen siht, daz houbt in nider sîget, vil kûme ir eine nîget einem ritter, daz ist alsô. wie möhten wir dabî wesen vrô? iur deheiniu uns güetlîch an siht. iur ougen uns ouch grüezent niht, ouch erstummet iu zestunt beidiu zunge und ouch der munt. redt unser einer mit iu dâ, ir sprechet weder nein noch jâ.“ (V. 118–128)
Grußverweigerung, gesenkter Blick und Schweigen der Frauen widerspricht hier den männlichen Kommunikationsvorstellungen, die als „Zuwendungsgesten“50 einen unverstellten Blick, strahlende Augen und lachende Münder erwarten. Bereits Elke Brüggen hat angedeutet, dass die Frauenschelte grundsätzlich „vor der Folie höfischer Stilisierung zu sehen“51 ist und mit der Kritik gerade kein Fehlverhalten, sondern ein Ideal konterkariert wird. Dieses rekurriert auf das Dienst-Lohn-Modell und kollidiert mit ästhetischen Strategien insbesondere des Minnesangs. So scheint es nicht verwunderlich, dass im Frauenbuch in einer Art Negativdidaxe das problematisiert wird, was im Frauendienst ganz selbstverständlich als wesentlicher Bestandteil der höfischen Umgangsformen praktiziert und in den Lie-
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Vgl. Ingrid Bennewitz und Ruth Weichselbaumer. „Erziehung zur Differenz. Entwürfe idealer Weiblichkeit und Männlichkeit in der didaktischen Literatur des Mittelalters.“ Der Deutschunterricht 55, 2003, S. 43–50. Ursula Schulze. „Didaktische Aspekte in der deutschen Literatur des Mittelalters. Vanitas- und Minnelehre.“ In: Propyläen Geschichte der Literatur. Bd. 2. Berlin 1982, S. 461–482, hier S. 478. Brüggen, „Minnelehre und Gesellschaftskritik“, S. 80; vgl. auch Bennewitz, „Eine Dame namens Ulrich“, S. 354 f.
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dern als „beseligende und zugleich existenziell notwendige Erfahrung“52 der Lohngewährung vom Sänger umkreist wird. Eine parodistische Steigerung ergibt sich daraus, wie die wechselseitigen Scheltreden im minnedidaktischen zweiten Teil des Frauenbuchs in paradoxer Wendung gegengeschlechtlich verzerrt werden. Was eingangs den Frauen als Fehlverhalten der Grußverweigerung vorgeworfen wurde, stellt sich sukzessive als ein negativ-männliches Kommunikationsstereotyp heraus. Sobald es um Frauenlob geht, bekommen die spottære (V. 1609) den Mund nicht auf. Sie verstummen, senken den Kopf, als würden sie schlafen, erleiden Schweißausbrüche und suchen bestenfalls Zuflucht in Verleumdungsgeschichten (vgl. V. 1653–1666). Nicht im Modus eines Vorwurfs, aber als gender-Parodie werden weibliche Verhaltensideale im Rahmen der Venusfahrt durch Ulrich zur Schau gestellt und überzeichnet. Als öffentlicher Raum für die Geschlechterperformance wird mehrfach der Kirchgang gewählt und, wie bereits dargestellt, für bewusste Rollenbrüche während des Friedenskuss-Rituals ausgenutzt.53 daz ich den ganc sô blîde an vie, des wart gelachet dort unde hie. mîn nîgen und mîn umbeswanc diu wurden dâ envollen lanc. ich gie nâch blîder vrowen sit: kûm hende breit was dâ mîn trit. (945,3–8)
Ulrichs Darstellung zitiert das topische Repertoire, das ihm wahrscheinlich aus zeitgenössischen didaktischen Schriften, etwa den Winsbeckischen Gedichten, oder aus dem Welschen Gast Thomasins von Zerclaere vertraut war.54 Dabei führt er wesentliche Momente der Reglementierung von
52 53
54
Brüggen, „Minnelehre und Gesellschaftskritik“, S. 80; inkl. Textbelege in Anm. 33. Zu den Kirchgangszenen vgl. Bennewitz, „Eine Dame namens Ulrich“, S. 352 f.; Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 109 ff.; Mecklenburg, „Ritter Venus“, S. 196 ff.; Moshövel, „Ulrich von Liechtenstein – ein Transvestit?“, S. 351 f.; Moshövel, „wîplîch man“, S. 443 f. Dazu Trude Ehlert. „Ein vrouwe sol niht sprechen vil: Körpersprache und Geschlecht in der deutschen Literatur des Hochmittelalters.“ In: Chevaliers errants, demoiselles et l’Autre: höfische und nachhöfische Literatur im europäischen Mittelalter. Festschrift für Xenja von Ertzdorff. Hrsg. von Trude Ehlert. Göppingen 1998 (GAG 644), S. 145–171, sowie Kathryn Starkey. „Das unfeste Geschlecht. Überlegungen zur Entwicklung einer volkssprachlichen Ikonographie am Beispiel des Welschen Gasts.“ In: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten. Hrsg. von Horst Wenzel und C. Stephen Jaeger. Berlin 2006 (PhStQu 195), S. 99–138.
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weiblicher Körpersprache wie den Gang, die Kopfhaltung und die Blickbegrenzung, aber auch Aspekte des Kommunikationsverhaltens vor. Die imitierten sensuellen Einschränkungen und weiblichen Bewegungsroutinen bleiben jedoch durch Hyperbolisierung auf den Spielcharakter der Venusfahrt bezogen und werden im kollektiven Lachen als gelungene Performance bestätigt. Ungeachtet der parodistischen Überzeichnung artikuliert sich in Ulrichs Venusdarstellung ein enormes Bewusstsein für die sozialen Konstitutionsbedingungen weiblicher Identität. Lehrwerke, die sich auf die Sozialisation von Männern spezialisiert haben, akzentuieren demgegenüber wesentlich umfangreichere Erziehungsziele, die mit einem gesellschaftlichen Ehrencodex verknüpft und auf das Absolvieren einer Karriere ausgerichtet sind. Nach einem bis heute geläufigen Mentorenmodell werden jungen Männern als Methoden der Identitätsbildung Beobachtung und Nachahmung von Verhalten in der Öffentlichkeit sowie Selbst- und Fremdkontrolle unter Anleitung eines erfahrenen Vorbilds empfohlen.55 Eingeübt werden sollen die Prinzipien der angemessenen Selbstdarstellung, die Beherrschung des höfischen Symbolsystems und die Repräsentation von homosozialen Hierarchien, wobei Körper- und Affektkontrolle einen zentralen Stellenwert einnehmen. Neben der Körperreglementierung und Vermittlung ethischer Normen legt auch Männerdidaxe großen Wert auf die Regulierung zwischengeschlechtlicher Beziehungen.56 Dabei geht es nicht wie bei der Unterweisung von Frauen um die Konstituierung eines passiven Erlebensmodells, sondern um die aktive Ausgestaltung des öffentlichen Umgangs mit Frauen, deren Umwerbung und Möglichkeiten der Eheanbahnung. Ulrichs Jugendgeschichte im Frauendienst weist einige Bezüge zu geläufigen Darstellungen von Erziehungs- und Belehrungsvorgängen auf (vgl. 8–35).57 Beginnend in frühester Kindheit lernt Ulrich zunächst durch Beobachtung und Zuhören die höfischen Verhaltensroutinen und das Wertesystem des Minnedienstes kennen. Seine extreme Wissbegier formt dabei so klare Vorstellungen eines ‚Was-Wissens‘ aus den abstrakt und überwiegend sprachlich vermittelten Informationen, dass er sich, 55
56 57
Vgl. Bennewitz und Weichselbaumer (Anm. 49), S. 47; und ausführlicher Ruth Weichselbaumer. Der konstruierte Mann. Repräsentation, Aktion und Disziplinierung in der didaktischen Literatur des Mittelalters. Münster u. a. 2003 (Bamberger Studien zum Mittelalter 2). Vgl. Starkey (Anm. 54), S. 110. Vgl. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 39–42.
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ohne über ein entsprechendes ‚Wie-Wissen‘ zu verfügen, im Alter von zwölf Jahren zum Dienst an einer konkreten Dame entscheidet.58 Ab diesem Zeitpunkt wird sein insgesamt fünfjähriger Pagendienst als Minnedienst übercodiert. Gezielt überlegt sich Ulrich einerseits, wie er sich durch subjektive Akzente seines Dienstes in der Konkurrenz mit anderen Pagen die Aufmerksamkeit der Dame sichern kann (vgl. 22); andererseits zielen die Praktiken eher auf naive Berührungssublimationen als auf ein strategisches Verhalten (vgl. 24 f.). Unabhängig davon, wie die Relation zwischen bewusstem Erleben und eher unwillkürlichen Praktiken zu bewerten ist, erfolgt in der höfischen Interaktion mit der Dame Schritt für Schritt Ulrichs Einübung in die männliche Rolle des Minnedieners. Mit dem Ende der Adoleszenz wird Ulrich vom Vater zum Knappendienst in die Obhut des Markgrafen Heinrich von Österreich überantwortet. Im Augenblick der Trennung verliebt sich Ulrich in die Dame: dâ wart mir senlîch trûren zam: mir wart der minne kraft bekant in mînem herzen sâ zehant. (26,6–8)
Sein anfangs ‚diffuses‘ Wissen über Minne transformiert sich im Augenblick des Sichverliebens in ein episodisches Wissen, das an das konkrete Ereignis und die schmerzliche Trennungserfahrung gebunden ist. Während des Knappendienstes am Hof Heinrichs, der ein ausgewiesener Frauendienstexperte ist (vgl. 30 f.), wird schließlich das passende ‚WieWissen‘ zum Minnedienst akkumuliert. Durch Erfahrungskanalisierung in spezifischen Konstellationen des Lehrens und Lernens (Dialog, Mentorenmodell) erweitern sich sowohl Ulrichs Wissensspektrum über allgemeine höfische Konventionen als auch sein Kenntnisstand über den Sachverhalt Minnedienst. Beides wird ergänzt durch ritterliche Körperertüchtigung, die Ulrich bisher als spezifisch männliche Form der Ausbildung noch fehlte, und bemerkenswerter Weise durch rhetorisch-poetische Instruktionen komplettiert. Der Grundstein für eine Turnier- und Dichterkarriere ist gelegt. Nach vier Jahren sorgt der Tod des Vaters für einen erneuten Einschnitt in Ulrichs Werdegang, er tritt das väterliche Erbe in der Steiermark an. Damit sind seine männlichen Identitätsdi58
Die Unterscheidung von Sachwissen (knowing that) und Handlungswissen (knowing how) geht auf Gilbert Ryle zurück und gehört zu den grundlegenden terminologischen Differenzierungen in der Wissenspsychologie. Vgl. Klaus Oberauer. „Prozedurales und deklaratives Wissen und das Paradigma der Informationsverarbeitung.“ Sprache und Kognition 12, 1993, S. 30–43.
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mensionen restlos ausgeprägt. Indirekt befindet sich Ulrich aber weiterhin in einem beinahe lebenslänglichen Lern- und Vervollkommnungsprozess, denn der permanent vom Scheitern bedrohte Minnedienst zur ersten Dame ist offensichtlich nur durch die kontinuierliche Begleitung eines mentoring-Programms realisierbar. Männliche Boten, die zugleich Ratgeber und Mediatoren in Bezug auf die Dame sind, die Unterstützung der Verwandten, die allgemeinen Empathien des homosozialen Kampfverbandes und die gezielten Ermahnungen und Verhaltensreglementierungen durch Autoritäten bewirken in ihrem Zusammenspiel, dass Ulrich auch in schlimmsten Momenten der Verzweiflung nie vollkommen aus seiner männlichen Rolle fällt und sich letztlich mit seinem Wechsel von der ersten zur zweiten Dame endgültig zu dem Minnedienstexperten qualifiziert, als der er intertextuell im Frauenbuch in der Position des Schiedsrichters erscheint. 2.5. Räumlichkeit, Mobilität und Aktionspotenziale Die dargelegten Modi der sozialen Konditionierung von Geschlechtsidentität sind auf vielfältige Weise mit Aspekten der räumlichen Inszenierung, der Mobilität von Figuren und deren Aktionspotenzialen verschränkt. Entwürfe von Weiblichkeit und Männlichkeit werden nach Alexandra Sterling-Hellenbrand im Koordinatensystem mittelalterlicher Texte als eine Relation von Makroraum und Mikroraum verortet, wobei die Figuren in überwiegend strikt nach Geschlechtern getrennten Handlungssphären agieren.59 Während männliche Protagonisten den architektonisch und geographisch organisierten Raum unbegrenzt erfahren können, bleibt der Aktionsradius weiblicher Figuren meist auf die Kemenate als „Rückzugs-, Schutz- und Absenzraum“60 beschränkt, wodurch ihre Kommunikationsfreiheiten räumlich limitiert werden. Auch die erste Minnedame im Frauendienst ist paradigmatisch an den weiblich codierten Raum der Kemenate fixiert. Um mit Ulrich in Kon-
59
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Vgl. Alexandra Sterling-Hellenbrand. Topographies of Gender in Middle High German Arthurian Romance. New York, London 2001 (Medieval History and Culture). Peter Strohschneider. „Kemenate. Geheimnisse höfischer Frauenräume bei Ulrich von dem Türlin und Konrad von Würzburg.“ In: Das Frauenzimmer. Die Frau bei Hofe in Spätmittelalter und früher Neuzeit. 6. Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Hrsg. von Jan Hirschbiegel und Werner Paravicini. Stuttgart 2000 (Residenzforschung 11), S. 29–45, hier S. 33.
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takt zu treten und ihn zum finalen Stelldichein in ihr Schlafgemach zu bringen, muss sie sich einer Vertrauten als Geheimnisträgerin und Botin bedienen.61 Die öffentlich akzeptierte Präsenz und uneingeschränkte Mobilität ermöglichen es dieser Nebenfigur, Aufgaben der Nachrichtenübertragung und Einschleusung des Mannes in die Frauenräume zu übernehmen. Umgekehrt muss sich Ulrich gleichermaßen permanent eines Boten bedienen, um mit der Dame kommunizieren zu können und die Heimlichkeitsstruktur des Minnedienstes zu wahren. In beiden Fällen fungieren Botin und Bote als Medium, zur Distribution von Nachrichten und Geschenken, zur Überbrückung von Distanzen zwischen Innen- und Außenräumen sowie zur Verknüpfung der weiblichen und männlichen Handlungssphäre.62 Die einzige gender-distinkte Konfliktstruktur, die sich in den Botenhandlungen abzeichnet, wird dadurch angedeutet, dass Ulrich seine Nichte als unzuverlässige Botin gegen einen ihm nahe stehenden Freund austauscht, der aufgrund seiner homosozialen Empathie offensichtlich geeigneter erscheint, Ulrichs Interessen gegenüber der Dame zu vertreten (vgl. 327,4–333,4; 375,5–388,2). Neben der Markierung kommunikativer Grenzen sind mit Raumvorstellungen weitere geschlechtsspezifische Handlungsstereotype assoziiert, die auf geopolitische Praktiken der Machtausübung sowie den Omnipotenzdrang des männlichen Adels ausgerichtet sind. Männliche Mobilität, wie sie in Ulrichs Turnierfahrten durch weite Teile Europas realisiert wird, basiert dabei auf dem Zwang, sich ritterlich zu bewähren, Ehre zu akkumulieren und homosoziale Netzwerke zu festigen oder neu zu knüpfen. Die Passivität von weiblichen Figuren zeigt sich im Kontrast dazu in deren Funktionalisierung als Objekte männlicher Repräsentations- und Machtbedürfnisse, wenn sie als Zuschauerinnen am Rande der männlichen Aktionsräume Platz nehmen dürfen. Das gender-distinkte Spannungsverhältnis zwischen erzwungener Passivität oder Mobilität wird während der Venusfahrt als Konfliktstruktur punktuell evident. Trotz der akzeptierten Geschlechterkombinatorik im Rollenverhalten der Königin Venus kommt es beinahe zwangsläufig im
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Zur Botenkommunikation vgl. den Beitrag von Kellermann im vorliegenden Band, S. 247–59. Inwiefern narrative Funktionsträger wie Botinnen und Boten grundsätzlich quer zu etablierten Raumordnungen agieren oder gender-Distinktionen systematisch außer Kraft setzen, wäre systematisch zu untersuchen. Ansätze finden sich bei Kellermann und Young, „Briefe, Büchlein, Boten“; Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 46–56, passim.
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subjektiven Erleben Ulrichs zur Kollision von männlichen Aktionsvorstellungen und der räumlichen Restriktion als Frau. Die ritterlich-männliche Identitätsfacette und ihr Status als Königin erlauben es der Venus, einerseits die gesamte Turnierfahrt von Mestre bis nach Böhmen zu initiieren und sich auch aktiv an allen Turnieren zu beteiligen, andererseits entsteht an jedem neuen Turnierort der Zwang, sich sowohl der weiblichen Rollenrestriktion als auch dem eigenen Inszenierungsmuster zu unterwerfen. Wie andere Damen kann sich Venus gemäß ihrer weiblichen Identitätsfacette häufig nur am Rande des Geschehens aufhalten und vom Fenster aus die Position einer wohlwollenden Beobachterin einnehmen (vgl. 574,8–575,5; 611,4–8; 824,1 ff.). Der weibliche Blick aus dem Fenster, von der Zinne oder dem Balkon, der sich auf männliche Aktivitäten vor der Burg richtet, gehört zum Standardrepertoire gender-distinkter Rauminszenierungen.63 Im weiteren Handlungsverlauf und gemäß einer fortschreitenden Steigerungsdynamik, die der Venusfahrt unterlegt ist, meistert Venus solche Phasen der Passivität zunehmend weniger souverän. dô ich ir tyost dâ vil gesach, mîn munt ûz hôhem muote sprach: „hie mac niht mêr gemaches sîn: nu bringe mir her daz harnasch mîn! ich mac ditz niht mêr an gesehen: hie muoz ouch tyost von mir geschehen.“ (916,3–8)
Als Venus vor ihrer Unterkunft in Feldsberg aus beobachtet, wie ihr Bruder, Dietmar von Liechtenstein, und ihr Kämmerer, Wolfger von Gors, spontan tjostieren, schlägt Ulrichs ritterlich-männliche Ungeduld in ‚ihr‘ durch. Deutlich wird markiert, dass Venus trotz ihres Status als Turnierorganisatorin nicht wie die anderen Ritter einfach drauflos kämpfen kann. Zuvor müssen ihr jedes Mal in einer quasi ritualisierten Übergangsphase Waffenrock und Rüstung angelegt sowie Pferd und Waffen zur Verfügung gestellt werden. Erst durch die sichtbar männliche Attribuierung erhält Venus die Lizenz zur ritterlichen Tat. 63
„The woman most often is viewing a man or men outside, most often in combat, so that the typical situation is a queen/princess viewing her husband/lover/favorite/ enemy through an upper castele window as he engages in a tournament or duel outside the castle.“ Jerold C. Frakes. „The Female Gaze and the Liminal Window in Medieval Epic.“ In: De consolatione philologiae. Festschrift für Evelyn S. Firchow. Hrsg. von Anna Grotans u. a. Göppingen 2000 (GAG 682/I), S. 85–100, hier S. 91.
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Ulrichs Kampflust kollidiert aber nicht nur mit weiblicher Rollenrestriktion, sondern stößt am Ende der Venusfahrt auch grundsätzlich an die Grenzen der Inszenierung. Bereits in Wien auf dem Zenit der Fahrt geraten die Turnierkämpfe partiell außer Kontrolle. Das Begehren nach einer Tjost gegen Frau Venus entartet zum Gedränge. Statt in geregelte Zweikämpfe wird Venus plötzlich in ein Gerangel mit drei Gegnern verwickelt (vgl. 861 f.). Die Situation löst sich glimpflich auf, aber der Domvogt sieht sich dennoch genötigt, Venus den Schild wegzunehmen, den Helm abzubinden, sie am Zaum ihres Pferds vom Turnierfeld zu führen, vollständig zu entwaffnen und als Frau umzukleiden (vgl. 869,7–871,8). Erst nachdem sie auf diese Weise in ihrer Rolle zurechtgerückt wurde, ist sie in der Lage, das überschießende Tjostieren den Regeln konform zu beenden. Diese Eskalationsdynamik wiederholt sich am geplanten Zielpunkt der Venusfahrt auf böhmischem Gebiet unter gesteigertem Vorzeichen. Diesmal selbst von tyoste gir (957,3) ergriffen, stürzt sich Venus wie ein Raubvogel auf eine Menge von Rittern, die sich jeweils in Dreierformation gegen sie zu Wehr setzen (vgl. 957,5–958,5). Durch einen Kurzkommentar des Erzählers wird der Regelbruch markiert: daz wær durch zuht baz vermiten (957,8). Erneut sieht sich der Domvogt zum Eingreifen genötigt. Er zeumt mich bî dem zoume dan: den bat ich mir vil ofte lân. „ich enlâzzes iu niht“, sô sprach er: er brach mir ûz der hant daz sper. (961,1–4)
Nur mit Gewalt kann Venus aus ihrem Turnierrausch in die binnenfiktionale Realität zurückgeholt werden. Der übermäßige Erfolg ihrer Inszenierung hat Ulrichs männlichen Omnipotenzdrang derart forciert, dass er die Grenzen seines Spiels vergessen hat.64 In einem radikalen Akt der Entmächtigung muss er sich seine Männlichkeitsattribute abnehmen lassen, und der Domvogt ermahnt ihn außerdem, das Ende der Venusfahrt wie geplant auszuführen. Letztmalig vollzieht Ulrich als Venus das Ritual der Ringvergabe, um sich dann heimlich nach Wien davonzustehlen. Sein Gefolge bleibt zurück. Die Venusausstattung wird an fahrendes Volk verteilt. Am nächsten Tag verkörpert Ulrich wie jeder andere Mann weder eine Herrscherin noch eine Frau (vgl. nochmals 988,7). Die kol64
Linden geht von einer bewussten Zurücknahme des fiktiven Herrschaftskonzeptes aus. Vgl. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 162 ff.
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lidierenden Identitätsfacetten von Geschlecht, Macht und Status wurden in der Norm beruhigt. Zum großen Erfolg der Venusfahrt gehört, dass Ulrich über die Kostümfahrt hinaus ein homosoziales Netzwerk aufbauen konnte und sich nahezu bruchlos in der männlichen Aktionssphäre des Turniers bewähren kann.65 Umso brisanter erscheint nun die Art und Weise, wie seine ritterliche Identität auf einer anderen Ebene dissoziiert wird. Dass sein Minnedienst durch die Ringrückforderung der Dame einseitig außer Kraft gesetzt ist, wurde bereits angedeutet. Systematisch reizt die Dame diese asymmetrische Konstellation aus, um Ulrichs Selbstverständnis als ihr Minneritter vollständig zu destruieren. Dabei bedient sie sich des einzig möglichen Aktionspotenzials, das ihr aufgrund ihrer räumlichen Restriktion und Immobilität zur Verfügung steht: Sie übt durch Kommunikation Gewalt an Ulrich aus. Sein unbeirrter Minnedienst räumt ihr dafür eine Machtposition ein, von der aus sie eine Art ‚Fernsteuerung‘ Ulrichs übernimmt. Sie stellt ihm ein Treffen in ihrer Kemenate in Aussicht, sofern er getarnt als Aussätziger vor der Burg erscheint. Die Begegnung soll statt Liebeserfüllung den endgültigen Bruch in der Minnedienstbindung herbeiführen. Die Tragweite ihrer Absichten bleibt Ulrich unklar, weil sein Bote ihre Nachricht verfälscht, so dass er sich weitgehend am Ziel seiner Wünsche wähnt. Die finale Ausrichtung auf den potenziellen Minnelohn macht ihn zum beinahe willenlosen Manipulationsobjekt der Dame. Die Wartephase unter den Aussätzigen impliziert nicht nur eine für männliche Figuren ungewöhnliche Beschränkung der Raumordnung und des Aktionspotenzials, sondern bedeutet außerdem eine extreme soziale Erniedrigung (vgl. 1124–1190):66 Ulrich muss sich körperlich entstellt unter Ausgestoßenen bewegen, betteln und wird verschiedenen Ekelszenarios ausgesetzt. Darüber hinaus wird er zusätzlich durch die unnötige Zerdehnung der Wartezeit empfindlich beleidigt und sein Begehren aggressiv zugespitzt. Dermaßen negativ auf die Begegnung mit der Dame eingestimmt, trifft er schließlich auch auf ein ambivalentes räumliches und kommunikatives Setting (vgl. 1198,1–1204,3).67 Während das Bett ausdrücklich für zwei hergerichtet ist, wird die Situation durch das edle, aber unerotische Outfit der Dame und die Anwesenheit von acht weiteren Damen in provokanter Weise gebrochen. Durch diesen Anblick steigert sich Ulrichs Begehren nach der greifbar 65 66 67
Vgl. Ebd., S. 166 ff. Vgl. Hempen, „Die Aussätzigen“. Dazu Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 186–189.
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nahen und doch aufgrund des semi-öffentlichen Arrangements unerreichbaren Dame. Er kniet vor ihr nieder und verlangt den Beischlaf als Lohn für seinen unermüdlichen Dienst (vgl. 1204,5–1206,8). Auf die unerhörte Bitte reagiert die Dame mit höfischer Konversation, die paradox strukturiert ist und die widersprüchliche Situation auf die Ebene der Sprache verschiebt.68 Ihre Augen sind erfreut, Ulrich heimlich zu sehen. Seine êre wirkt so unermesslich, dass jede Frau ihn von Rechts wegen verehren muss, und nie zuvor durfte ein anderer Ritter wie Ulrich ihre Privatsphäre betreten (vgl. 1208,6–1209,8). Unverkennbar bestätigt die Dame Ulrichs ritterliche Exklusivität. Doch in der Eloge lauert der Konjunktiv weiblicher Restriktion. Ihre Aussage wird sofort in den nächsten Sätzen radikal durchgestrichen (vgl. 1210–1211). Die Institution Ehe, die kirchliche Moral und der huote-Zwang, die gesellschaftlichen Anerkennungsmechanismen der êre und die Selbstrestriktion durch die Gesinnung der Dame treten in ein eklatantes Spannungsverhältnis zu Ulrichs Beischlafwünschen, auf denen er weiter insistiert. Der Dialog eskaliert in wechselseitigen Drohungen. Erzeugt wird eine libidinöse Dynamik, die Ulrichs Verhalten an den Rand der höfischen Konventionen treibt und sich als Vergewaltigungsphantasie im Mediationsgespräch mit der Nichte entlädt. „ich engrîffe sî niht an wider ir willen. daz wirt verlân dar umbe: ich weiz vil wol, daz ir [die Nichte. – A.S.] sîn leider niht gestatet mir. und wær iwer hinne niht sô vil, ich rünge hie mit ir an daz zil, daz sî mir siges müeste jehen: daz müest für wâr alsô geschehen.“ (1218)
Anders als in stereotypen Situationen, in denen der Mann in Ovid’scher Manier Gewalt zur Überwindung des weiblichen Widerstands anwenden muss, verbleibt Ulrichs Aggression auf der sprachlichen Ebene in Latenz und wird gerade nicht in die Tat umgesetzt. Dennoch reflektiert die misogyne Replik die geläufige männliche Wunschprojektion, dass sich Frauen sexuell dem Mann zu unterwerfen haben.69 Um die virulente Gefahr abzuwenden, rät die Nichte zu zielorientierter Unterwerfung unter den Willen der Dame, dann werde er schon bald 68 69
Vgl. ebd., S. 189 ff. Dazu Rüdiger Schnell. Sexualität und Emotionalität in der vormodernen Ehe. Köln u. a. 2002, S. 288 ff.
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in ihr Bett gelangen (vgl. 1219,3 ff.). Diese unverhoffte Aussicht inspiriert Ulrich zu einer Lobeshymne auf die Dame, die er mit anaphorischem Nachdruck strukturiert und seiner hartnäckigen Forderung nach Liebesvollzug und der Drohung verschränkt, dass ihre Identität im Falle der Verweigerung einen irreparablen Schaden nehmen würde (vgl. 1221,2–1227,8). Souverän umgeht die Dame alle Erpressungsversuche Ulrichs. Selbst sein angekündigter Tod, der ihre Überschreitung der huote-Grenzen offen legen und ihre Ehre endgültig destruieren würde, irritiert sie nicht (vgl. 1228–1244). In einer letzten raffinierten Wendung, bei der sie sich erneut der Nichte als Mediatorin bedient, wird schließlich die double-bind-Struktur ihrer Kommunikation klar. Nu sage im ûf die triwe dîn: het er hîntstunt den willen mîn mit guotem muote gar getân, ich enhet für wâr des ouch niht lân, ich het getân den willen sîn. (1248,1–5)
Ulrich hat permanent ihrem Willen entsprochen, ohne jedoch von seinem eigenen Wünschen abzurücken. Egal wie er sich verhält, seine festgefahrene Begehrensstruktur verhindert eine positive Auflösung der Situation. Weder eine Klärung der Sach- noch der Beziehungsebene scheint möglich. Seine wiederholte Anpassung an das Hinhalteszenario der Dame wird mit einem Abschiedskuss und einem ausdrücklichen Beischlafversprechen belohnt, wobei Ulrichs situative und von der Dame wohl kalkulierte Erregung den Kuss verhindert und ihn buchstäblich abstürzen lässt (vgl. 1254,2–1268,8). In paradoxer Wendung der vermeintlichen Minnegewährung perhorresziert die Dame die männliche Begehrensstruktur. In logischer Konsequenz kulminiert die Situation im Todestrieb, da sich Ulrich endgültig seiner Identitätsgrundlage beraubt fühlt. Unstrittig übt die Protagonistin hier eine außergewöhnliche Macht über Ulrich aus. Dieses Machtpotenzial ist grundsätzlich der Idee des Minnedienstes inhärent. Dennoch liegt hier ein eklatanter Sonderfall einer Selbstermächtigung der Dame vor, die aus eigener Kraft ihre Funktionalisierung als Objekt männlichen Begehrens unterbindet. Dass sie damit ihre eigene Existenz in die Aporie führt, wird sukzessive mit der Substitution durch die zweite, extrem passive Minnedame evident.70 70
Die groteske Überzeichnung der Situation rückt ihr Handeln außerdem in die Nähe des übel-wîp-Stereotyps der Schwankliteratur, in der die Fragwürdigkeit männlicher Vorherrschaft noch konsequenter als im Frauendienst zum Gegenstand der Darstellung gemacht wird. Vgl. dazu Böse Frauen – Gute Frauen. Darstellungskon-
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2.6. Beziehungsmodelle und Interaktionsmuster Geschlechtsidentität wird nicht nur gemäß gesellschaftlich vorgegebener Normen im Sozialisationsprozess erworben, sondern vor allem auch in der Interaktion immer wieder neu aufgeführt, hergestellt und bearbeitet. Wie dabei annähernd homogene Handlungssphären in Ulrichs Frauendienst erzeugt und institutionalisiert, aber auch durchkreuzt werden können, wurde bereits herausgearbeitet. Die Dichotomisierung von weiblich-männlich, aktiv-passiv oder innen-außen erweist sich dabei nicht als starres Gefüge, vielmehr liegen dynamische Beziehungs- und Interaktionskonstellationen vor. Prozesse homosozialer Solidarisierung etwa der Damen in Treviso oder der Übergang von der Einzel- zur Gruppeninteraktion nach der Venusfahrt signalisieren, dass Ulrichs Hauptproblem in einer konfligierenden Sozialdimension zu sehen ist. Mit seinem jugendlichen Entschluss zum Minnedienst hat er sich von Anfang an in ein spezifisches Spannungsverhältnis zwischen kollektiver Identität (Inklusion) und vereinzelter Identität (Exklusion) hineinmanövriert.71 Konstanten seiner vorgängigen kollektiven Identität, die auf einer gesicherten Position im Familienverband oder später in der Turniergemeinschaft basieren, werden partiell aufgegeben und durch das ausschließliche Streben nach der Dame ersetzt. Die soziale Entfremdung steigert sich immer dann zur Selbstentfremdung, wenn die Dame ihre Gunst entzieht. Daraus resultierende Selbstverstümmlungen, Trauerexzesse und Selbstmordversuche Ulrichs werden jeweils von Stellvertreterfiguren moniert, die seine „Karriere der Abweichungen“72 in normierte Bahnen zurücklenken wollen. Aber genau jenes kritisierte Handeln, seien es Sünde, Unmännlichkeit oder Ich-Regression, macht Ulrichs Schicksal überhaupt erzählenswert. Während die Disharmonien von kollektiver Erwartung und individueller Verkörperung im Minnedienst vor allem auf die Labilität genderdistinkter Normen verweisen, scheint das konkurrierende Ehemodell im Frauendienst bruchlos zu funktionieren. So stützt sich die Souveränität der ersten Minnedame auf eine intakte eheliche Gemeinschaft, in der sie
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ventionen in Texten und Bildern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Ulrike Gaebel und Erika Kartschoke. Trier 2001 (Literatur, Imagination, Realität 28). Dazu vgl. Alois Hahn. „‚Partizipative‘ Identitäten.“ In: Alois Hahn. Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie. Frankfurt a. M. 2000 (stw 1505), S. 13–79. Vgl. Hahn (Anm. 71), S. 28.
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sehr genau ihre Spielräume ausloten kann, obwohl oder gerade weil sich in ihrer Ehe die hierarchisch organisierte Geschlechterdichotomie zwischen Mann und Frau verfestigt hat. Auch Ulrich ist trotz seines permanenten von Turnier zu Turnier Unterwegsseins und seines hartnäckigen Strebens nach Liebeserfüllung bei seiner Dame offenbar glücklich verheiratet. Die Relevanz des Ehemodells offenbart sich ad interim. von danne stal ich mich zehant und reit mit freuden, dâ ich vant die herzenlieben konen mîn: diu kunde mir lieber niht gesîn. Diu guot enpfie mich alsô wol, alsô von reht ein vrowe sol enphâhen ir vil lieben man. ich het ir liebe dran getân, daz ich zuo ir was dar bekomen: mîn kunft ir trûren het benomen. si sach mich gern: als tet ich sie. mit küssen mich diu guot enpfie. Diu reine mich vil gerne sach. mit freuden het ich dâ gemach und wunne unz an den dritten tac. diu guote mîn güetlîchen pflac. (707,5–709,4)
Ulrichs dreitägiger Aufenthalt bei der Ehefrau erweckt den Eindruck, als habe er während der Venusfahrt eine matrimoniale Erholungspause gesucht. Statt permanenter gender- und Identitätswechsel und statt des Erfolgsdrucks gegenüber der Minnedame findet er bei seiner Frau Liebe, Zärtlichkeit und sexuellen Genuss. Obwohl Aspekte rechtlicher Inferiorität (708,2) und emotionaler Asymmetrie (708,6) anklingen, wird die Ehe als harmonische Gemeinschaft geschildert. Dennoch bekommt die Frau keine Stimme, keine Kontur, sie funktioniert wie eine ‚Dienstleistungsinstanz‘ genau dann, wenn Ulrich sie benötigt, und zwar in selbstloser Weise. Handelt es sich dabei um einen „ausschließlich für die ‚Frauendienst‘-Rezipienten konzipierten Bruch“?73 Das anzitierte Ehekonzept beansprucht intra- wie intertextuell eine erweiterte Relevanz. Textintern dient es der expliziten Bekräftigung der heterosexuellen Norm und endgültigen Klarstellung, dass die Venusfahrt nicht auf die Subversion der geschlechtlichen Ordnung zielt.
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Intertextuell werden der funktionierenden Ehe Ulrichs die Kontrafakturen des Ehemodells im Frauenbuch entgegengehalten.74 Im Dialog zwischen Dame und Ritter wird als Abschreckungsszenario entworfen, dass Männer aufgrund ihrer Jagd-, Spiel- und Trinksucht oder Homosexualität Frauen zu Ehebruch und Prostitution provozieren (vgl. insbesondere V. 411–453; 555–586; 591–622; 650–670).75 Männliche Vorherrschaft erscheint fragwürdig, wenn der Mann an der Reglementierung der Frau scheitert, ihre Bedürfnisse nicht befriedigen kann und sich selbst nicht zu beherrschen vermag. Indem die Frauen aber nur die Folgen männlichen Versagens perhorreszieren, wird ex negativo markiert, welche Verhaltensnormen für eine intakte Ehe durchzusetzen wären. Dem widmet sich die Minne- und Ehedidaxe im zweiten Teil des Traktats. Gemäß einer nach Alter und Status differenzierten Frauentypologie ergeben sich für Ehefrauen, Jungfrauen, junge unverheiratete Frauen, Witwen und Geliebte unterschiedliche Akzente bzw. auch dilemmatische Strukturen, wie sie sich jeweils in das Ehemodell fügen sollen.76 Bei der Ehefrau reicht das Verhaltenspektrum brisanter Weise von der radikalen Unterwerfung unter den Willen des Mannes (vgl. V. 859 ff.; 875) bis hin zum Ehebruch bei häuslicher Vernachlässigung oder Homosexualität des Mannes (vgl. V. 909–994). Die Empfehlung steht auffällig quer zum harmonischen Eheglück bis ins hohe Alter (vgl. V. 863–869), das von der Frau durch Anpassung, Gehorsam und Liebe beim Mann erwirkt werden kann. Im Gegenzug wird die sexuelle Freizügigkeit der Männer als Judas-Handeln stigmatisiert (vgl. V. 1226–1234). Grundsätzlich ist der Ehebruch mit einem Normenbruch assoziiert, weil er die institutionalisierten Machtstrukturen der sozialen Vergemeinschaftung durchkreuzt.77 Begreift man die Ehebruchsempfehlung als Struktur der Transformation, als Veränderung von gender-Hierarchien und als Aufbrechen einer erstarrten gesellschaftlichen Ordnung, ergibt sich in Ergänzung zur eindeutigen Gegendidaxe im ersten Teil auch im Bereich der Minne- und Ehelehre des zweiten Teils eine „kunstvoll subversive Ironie“,78 mit der Ulrich die etablierten Normen konterkariert. 74
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Neben den Allusionen auf Strickers Frauenehre wäre es lohnenswert, die Elemente der Gegendidaxe mit Stereotypen der Schwankliteratur zu vergleichen. Auch Ulrichs Turniersucht im Frauendienst würde in diese Liste passen. Vgl. V. 757–850 (= weiblicher Redepart), V. 851–1176 (= männlicher Redepart); für Details vgl. Brüggen, „Minnelehre und Gesellschaftskritik“, S. 90 ff. Auf Divergenzen zu realhistorischen Praktiken verweist Brüggen, „Minnelehre und Gesellschaftskritik“, S. 92. Brüggen, „Minnelehre und Gesellschaftskritik“, S. 97.
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Dies bestätigt sich punktuell auch im Hinblick auf die anderen Frauentypen. Bei den Jungfrauen dominiert zwar die Anpassung an gesellschaftliche Normvorstellungen, gefordert wird vor allem emotionale Mäßigung und die Unterordnung unter die familiäre Muntgewalt (vgl. V. 995–1040), aber Witwen und ledigen Frauen wird das erstaunliche Privileg freier Partnerwahl eingeräumt (vgl. V. 1041–1093). Die Realitätsferne dieser Aussagen ist eklatant,79 kann aber erneut als parodistische Störung etablierter Normen verstanden werden. Auffällig ist darüber hinaus, dass die Umkehrung von Machtverhältnissen wie hier bei der Partnerwahl in der Regel trotzdem der Zielvorstellung einer stabilen Geschlechterhierarchie folgt, denn die Darstellung weiblicher Selbstbestimmung wird diskursiv gebrochen. âwê der nôt, âwê, âwê, dem si sich selbe hât gegeben, daz si mit dem muoz übel leben; den si ze vreuden hât erkorn, daz mit dem ist ir vreude verlorn; und mit im swenden muoz ir tage, daz ist ein jâmerlîchiu klage! ir vrouwen, daz bedenket ê, ê daz diu afterriuw ergê! (V. 1098–1106)
Die Empathie des Ritters gilt nur scheinbar jenen Frauen, die später mit ihrer Partnerwahl und der damit verknüpften Lebensqualität unzufrieden sind. Der didaktische Imperativ signalisiert auf subtile Weise, dass die Eigenverantwortung aus der patriarchalen Perspektive als Anmaßung von Macht verstanden wird, die sich durch die potenzielle weibliche Inkompetenz selbst ad absurdum führt. Dass keine Freiräume für weibliches Begehren existieren, zeigen schließlich die Empfehlungen an die Geliebte (vgl. V. 1109–1122). Oberstes Verhaltensziel einer unverheirateten Frau sollte die Eheschließung sein. Der Ratschlag reflektiert die Notwendigkeit sozialer Reglementierung und das materielle Risiko, das die Existenz ungebundener Frauen impliziert. In gewohnt kontradiktorischer Manier wird zur Absicherung die ökonomische Potenz der Männer anvisiert, was angesichts des bereits eingangs gefallenen Prostitutionsvorwurfes lediglich als dilemmatische Verhaltensanweisung zu encodieren ist. Zu Ulrichs parodistischen Kunstgriffen gehört außer79
Johannes Grabmayer sieht darin erste Reflexe auf soziale Neuordnungen im Bereich der Partnerwahl. Vgl. Grabmayer, „Eheleben und Sexualität“, S. 248 f.; eine andere Position vertritt Brüggen, „Minnelehre und Gesellschaftskritik“, S. 92 f.
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dem die jeweils nachträgliche Relativierung der getroffenen Aussagen. Falls die strategisch geschlossene Ehe scheitert, hat sich trotzdem die Attraktivität der freigewordenen Geliebten so gesteigert, dass die vorherige Beziehung auch dem nächsten Mann Genuss verspricht (vgl. V. 1129–1158). Die Geliebte, die scheinbar am freiesten ihr Begehren ausagiert, wird doch nur zum Zirkulationsobjekt männlicher erotischer Phantasien degradiert. Die Geschlechterkommunikation erweist sich somit immer dann als besonders vertrackt, wenn oberflächlich ein emanzipatorisches Potenzial für Frauen behauptet wird. Die Labilität der Geschlechterordnung wird dabei zwar angedeutet, aber der Schlussakzent liegt jedes Mal auf der affirmierten Norm hierarchischer Unterordnung der Frau unter das männliche Gebot. Dies gilt auch für die ostentativ behauptete Egalität von Männern und Frauen hinsichtlich ihrer Schuld am gender-Status quo (vgl. V. 1857–1861; 1889–1892). Ulrichs Schiedsspruch macht dies in seinem androzentrischen Expertenurteil transparent:80 […] „vrou, ich muoz des jehen, waz ich ie vrouwen hân gesehen, dar zuo aller hande wîp, der guot, der leben und ouch ir lîp muoz sîn den mannen undertân. dâ von muoz ich iu zuo gestân. diu wîp müezen beide tuon und lân an allen dingen swaz wir man wellen und uns dunket guot. swelch wîp des niht güetlîchen tuot, diu muoz ez tuon, daz ist alsô.“ (V. 1931–1941)
2.7. Aporetische Diskursivierung von Geschlechternormen Trotz der affirmativen Gesamtaussage zum heterosexuellen Lebensmodell der Ehe weist das Frauenbuch in bemerkenswerter Weise über sich hinaus. Die konfliktgeladene Kommunikationsstruktur zwischen Dame und Ritter eröffnet diskursive Freiräume,81 in denen die enge Strukturie-
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Dazu vgl. Brüggen, „Minnelehre und Gesellschaftskritik“, S. 94 f.; Grabmayer, „Eheleben und Sexualität“, S. 257 und passim; Hofmeister, „Minne und Ehe“, S. 138 f.; sowie bezogen auf den Frauendienst Moshövel, wîplîch man, S. 490–496. Auf das diskursanalytische Desiderat zum Frauenbuch verweist Hofmeister, „Ansätze und Forschungsperspektiven“, S. 214 f.
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rung des Geschlechterdiskurses durchkreuzt werden kann, ohne dass die normative Geschlechterordnung dadurch beeinträchtigt würde. Dies zeigt sich sowohl auf der Sachebene als auch auf Beziehungsebene der Geschlechterkommunikation. Auf der Beziehungsebene stechen die gender-distinkten Redewechsel ins Auge. Der außerordentlich forcierte Redeeinsatz der Dame (vgl. V. 45 f.; 83 ff.; 98 ff.) und das Geschick, mit dem sie thematische Fokussierungen leistet, stehen im Kontrast zur grundsätzlichen Anerkennung der männlichen Position als Belehrungsinstanz (vgl. besonders V. 455 f.; 752 ff.; 849 f.; 1177–1182; 1241 ff.; 1862 ff.).82 Die rhetorische Eigenständigkeit der Dame zeigt sich in dem Maße, wie sie den Ritter zum Einlenken zwingt, persönliche Reaktionen provoziert und das Gespräch schließlich auf das heikle Themenfeld der Sodomie zuspitzt (vgl. V. 323; 551 f.; 637–643). Dass diese Redemacht ein Problem darstellt, verdeutlicht das punktuell selbstrestriktive Sprechen der Dame, wenn sie sich als nicht urteilsmächtig einschätzt (vgl. V. 766 f.) oder vor Ulrich ihr gesamtes Gesprächsverhalten rechtfertigt. „got weiz wol, daz mîn lîp noch nie geredt sô vil nie wider man als ich wider disen ritter hân getân. wir haben geredt hie harte vil. ez ist mîn wille wol, ob er wil, daz er iu unser rede gar sage und iu sîn munt ir niht verdage.“ (V. 1832–1838)
Das bewusste Zurücktreten der Dame hinter den männlichen Redepart erscheint hier doppelt parodistisch gebrochen. Zum einen hat sich im ehe- und minnedidaktischen Teil des Frauenbuchs der Disput längst in einen dialogisch kaschierten männlichen Monolog gewandelt, d. h., die Dame war bereits weitgehend verstummt.83 Zum anderen ergreift sie mit dem unverhofften Auftauchen Ulrichs doch wieder ganz selbstbewusst die Redeinitiative und verlangt von ihm die Schlichtung des Disputs. Dass sie die Rede dabei an den Ritter abgeben will, bleibt ohne Folgen. De facto ist sie es, die Ulrich eine lapidare Zusammenfassung des Dialogs inklusive einer eigenständigen Beurteilung der Schuldfrage bietet: die man sint schuldec und ouch wir (V. 1861). Ulrich braucht sich dieser Selbsterkenntnis nur anzuschließen und seine Pointe zur weiblichen Inferiorität hinzuzufügen, wodurch die männliche Position ins Zwielicht gerät. Der Ritter wehrt sich gegen die Solidarisierung Ulrichs mit 82 83
Dazu vgl. auch Brüggen, „Minnelehre und Gesellschaftskritik“, S. 84. Vgl. ebd., S. 89.
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den Frauen (vgl. V. 1950–1974). Das abschließende Frauenlob bestätigt er nur aus homosozialer Empathie und höfischem Selbstverständnis heraus, nicht in Anerkennung des Sachverhaltes.84 Ähnlich wie bei der Dame zeichnet sich das Sprechen des Ritters durch Strategien der argumentativen Verstärkung oder Zurücknahme aus. Auffällig ist, dass sämtliche im minne- und ehedidaktischen Teil getroffenen Aussagen von ihm vorab mit einer „Einschränkungsfloskel“85 versehen werden (vgl. auch V. 1245–1251): „Vrouwe, sô wîse ich niht enbin, daz ich iu alsô starken sin müge zerlœsen, als ir mir habt vür geleit.“ (V. 851–854)
Trotz des topischen Charakters transformiert dieses Bekenntnis alle nachfolgenden Aussagen, die eigentlich grundsätzliche Statements zur Anthropologie der Geschlechtsscharaktere enthalten, in ein ungesichertes Wissen, bei dem letztlich die Rezipienten entscheiden müssen, welche Relevanz dem Gesagten überhaupt zuschreiben ist.86 Eine vergleichbare Verunsicherung der Referenzen ist brisanter Weise männlicher Kommunikation inhärent. Aus weiblicher Perspektive haben Männer die Tendenz zu lügen und zu betrügen. Ein Makel, der einzig durch einen Blick ins Innere und ins Gemüt durchschaut werden könnte: des mac leider niht geschehen, / man mac iu niht in diu herzen sehen (V. 1215 f.). Mit diesem Zweifel wird nicht nur ex negativo die persuasive Kompetenz von Männern bekräftigt, sondern auch das grundlegende Problem angesprochen, welche Möglichkeiten es in der höfischen Interaktion gibt, sich entgegen der konstitutiven Ambivalenz von Kommunikation überhaupt noch authentisch zu verhalten. Eine partielle Entkräftung dieses Zweifels findet wesentlich später und lediglich beiläufig statt: sît ofte spricht des mannes munt / als im daz herze ist gemuot (V. 1686 f.). Da die Aussage vom Ritter mit der Diffamierung der Spötter verknüpft wird, bleibt diese Selbstauthentifizierung männlichen Sprechens höchst suspekt. Ulrich arbeitet offenbar systematisch mit einer gender-distinkten Disproportionalität der Sprechakte, die besonders im ersten Teil auf die Sachebene durchschlägt. Sprechakttheoretisch fungieren die Wechselre84 85 86
Vgl. Hofmeister, „Minne und Ehe“, S. 139. Behr, „Frauendienst als Ordnungsprinzip“, S. 10. Behr, ebd., S. 10 f., sieht darin keine Gültigkeitseinschränkung und betont den Charakter der Meinungsäußerung.
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den im Butler’schen Sinne als hate speech.87 Da es sich bei den Dialogpartnern jedoch um exemplarisch besetzte Sprecherpositionen und nicht um Figuren mit einer eigenständigen Identität handelt, wirken die Sprechakte nicht als konkrete Beleidigungen oder Verletzungen der Kommunikationspartner, sondern entfalten eine generalisierende Diskriminierungsfunktion. Signifikant hierfür ist die Einbettung der Sprechakte in spezifische Diskursformationen und Machtverhältnisse, die auf die institutionelle Durchsetzung der heteronormativen Matrix ausgerichtet sind. Im Frauenbuch werden geschlechtsspezifisch getrennt Prostitution und Homosexualität als tabuisierte Verhaltensweisen diffamiert. Der Prostitutionsvorwurf richtet sich nicht ausschließlich gegen Frauen, sondern ist nur im Zusammenspiel mit sexueller Freizügigkeit des Mannes zu sehen (vgl. V. 559–586).88 Der konstatierte Sachverhalt zielt somit auf Brüche in der christlichen Sexualmoral, die von beiden Geschlechtern gleichermaßen zu verantworten sind. Demzufolge trägt Prostitution ex negativo zur Stabilisierung einer sexuell reglementierten Gesellschaft bei. Wenn aber die Norm heterosexuellen Begehrens nicht in Frage gestellt wird, ist der Effekt des diffamierenden Sprechens auf einer anderen Ebene, der Erzeugung von Differenz, zu verorten. „sol vrouwen minne veile sîn, wie stât daz einer künigîn, ob si veile hât ir lîp? si ist niht vrou, si ist niht wîp, diu daz beste, daz si hât ieman mit guote gelten lât.“ (V. 575–580)
Prostitution unterminiert die Anerkennung sozialer und geschlechtlicher Identität, was in Verachtung und Stigmatisierung der Subjekte mündet. In ihrer Reaktion auf den Vorwurf geht die Dame nicht soweit, dass solche Frauen gar keine Identität hätten. Betroffen sind swache wîp (V. 674), eine spezifische Randgruppe, welche die sexuellen Restriktio-
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Vgl. Judith Butler. Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Aus dem Englischen von Katharina Menke und Markus Krist. Frankfurt a. M. 2006 (edition suhrkamp 2414). Zur real-historischen Kontextualisierung vgl. Ruth Mazo Karras. „Prostitution in Medieval Europe.“ In: Handbook of Medieval Sexuality. Hrsg. von Vern L. Bullough und James A. Brundage. New York, London 1996 (Garland Reference Library of the Humanities 1696), S. 243–260. Die topische Ausgestaltung der Redesituation würde eine eigene Untersuchung etwa im Vergleich zu Gottfrieds Minnebußpredigt verdienen.
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nen und Monotonien des kirchlichen Ehemodells wohl entsprechend männlicher Sexualphantasien durchkreuzt.89 Wesentlich brisantere Modi der Ausgrenzung werden mit dem Problemfeld der Sodomie, die prononciert als männliche Homosexualität konkretisiert wird, angesprochen.90 Bereits die Versprachlichung des Sachverhaltes bereitet der Dame Schwierigkeiten. Die Worte gehören nicht zum weiblichen Vokabular und beeinträchtigen auf diffizile Weise die mentale und moralische Integrität der Sprecherin (vgl. V. 637–646; 665–670). Dessen ungeachtet äußert sie sich über das Unaussprechliche, um die Aufmerksamkeit möglichst effektvoll vom Prostitutionsvorwurf auf das neue Thema umzulenken (vgl. die Überleitung V. 647 ff.). „stât daz wol, daz nû die man mit ein ander daz begânt, des vogel noch tier niht willen hânt und alle crêatiure dunket ungehiure? ir wizzent wol, waz ich meine. ez ist sô gar unreine, daz ich sîn niht genennen getar. ir leben ist vervluochet gar. sprechet, ob daz sî missetât, daz man mit manne daz begât, dâ got iu zuo geschuof diu wîp?“ (V. 650–661)
Zur Umschreibung des heiklen Phänomens bedient sich die Dame topischer Versatzstücke, die einerseits die Artikulationsgrenzen markieren, andererseits die Devianz des Sexualverhaltens vom göttlichen Schöpfungsplan metaphorisch jenseits des Tierreichs verorten.91 Das provokante Statement der Dame führt zur beinahe uneingeschränkten Solidarisierung des Ritters mit ihrer Aussage (vgl. V. 701–737).92 Er verbittet 89
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Grabmayer verweist außerdem auf die Stigmatisierung abweichender Sexualitätspraktiken im Kontext der spätmittelalterlichen Hexenverfolgung. Grabmayer, „Eheleben und Sexualität“, S. 250. Zur Historisierung der Kategorie ‚Homosexualität‘ vgl. Warren Johansson and William A. Percy. „Homosexuality.“ In: Handbook of Medieval Sexuality (Anm. 88), S. 155–189, hier S. 156 ff. Zur sprachlichen Tabuisierung vgl. Brigitte Spreitzer. Die stumme Sünde. Homosexualität im Mittelalter. Mit einem Textanhang. Göppingen 1988 (GAG 498), S. 83–87. Brüggen, „Minnelehre und Gesellschaftskritik“, S. 88, sieht in der Markierung der weiblichen Redeschwellen eine Abschwächung des Tabus. Dazu Helmut Brall. „Homosexuality in Medieval Poetry and Chronicles.“ In: Queering the Canon. Defying Sights in German Literature and Culture. Hrsg. von Chris-
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sich zwar die gender-distinkte Generalisierung des Tatbestandes, trägt aber seinerseits wesentlich zur Akzentuierung der Problematik bei: Sodomiter gehören gesteinigt und verbrannt.93 Sogar diejenigen, die sich um die Prävention bemühen sollten, sind so tief in die Sünde verstrickt, dass sie für immer verflucht sein müssen.94 Jegliches Reden darüber ist obsolet. Offenbar ist der Disput zwischen Dame und Ritter mit der Sodomieproblematik an die Grenzen des diffamierenden Sprechens gelangt. Die Brisanz des Themas erzwingt einen Geschlechter übergreifenden Konsens und ermöglicht den Wechsel vom aporetischen Schlagabtausch zur restriktiven Didaxe, bei der der Tatbestand der Sodomie zur Rechtfertigung des Ehebruchs wieder aufgegriffen wird (vgl. nochmals V. 939–969). Während im Frauenbuch das diffamierende Sprechen lediglich konstativ die Störanfälligkeit der Geschlechterordnung markiert, liegt der Fokus im Frauendienst auf der Einbettung von Tabu-Diskursen in konkrete szenische Arrangements. Im performativen Vollzug werden Sprechakte dabei in konkrete Techniken der Verletzung Figuren bezogener Identität umgesetzt. Davon betroffen sind Hadmar III. von Kuenring und Otto von Buchau.95 Die rhetorische Verletzung Hadmars erfolgt nicht durch die Königin Venus selbst. Nachdem sie sich der Tjost mit dem Kuenringer verweigert hat, entsteht aus ihrem Verhalten ein Gerücht: man sprach: „diu küneginne hât verseit hern Hademâr ir tyoste hie. daz tet si für wâr ritter nie. ich wæn, siz dar umbe hât getân, daz man des giht, er minne die man.“ (878,4–8)
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toph Lorey und John L. Plews. Columbia 1998, S. 89–105 [dt. „Homosexualität als Thema mittelalterlicher Dichtung und Chronistik.“ ZfdPh 118, 1999, S. 354–371], hier S. 96; und insgesamt Moshövel, wîplîch man, S. 454–456. Zu geläufigen Formen der Bestrafung und Verfolgung von Sodomitern vgl. Grabmayer, „Eheleben und Sexualität“, S. 260–264. Brüggen, „Minnelehre und Gesellschaftskritik“, S. 88, vermutet dahinter eine Kritik an der Geistlichkeit. Vergleichbar ist außerdem die Episode um den Minnesänger Zacheus von Himmelsberg, der verkleidet als Mönch zum Tjostieren gegen die Venus antritt, mehrfach abgewiesen und dann von der Venus äußerst brutal niedergestochen wird. Der Fokus liegt hier jedoch nicht auf einer sprachlichen Diffamierung, sondern auf Überwindung des Norm abweichenden Verhaltens durch körperliche Gewalt. Vgl. 616,6–619,8; 630; 636,1–641,2; sowie Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 151 f.; Mecklenburg, „Ritter Venus“, S. 204 f.; Peschel-Rentsch, „Das arme Ich des Ulrich von Liechtenstein“, S. 161.
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Der von einem namenlosen Ich artikulierte Sodomievorwurf evoziert über die rhetorische Technik des gemischt konditionalen Syllogismus Hadmars defizitäre Identität und seine Ausgrenzung aus der ritterlichen Gemeinschaft.96 Auffällig sind die vage Distinktion in der Behauptung und die klare Distanzierung vom adressierten Subjekt. Sowohl die Venus als auch Hadmar selbst reagieren empfindlich auf die Denunziation (vgl. 878,2 f.; 879; 882; 892).97 Zwischen beiden entfaltet sich eine Hassdynamik, die jedoch nicht in eine direkte Konfrontation mündet, sondern als Aggression auf Stellvertreterfiguren abgelenkt wird (vgl. 893–898).98 Das diskriminierende Sprachstereotyp homophober Anrufung wird demnach nicht ausagiert, sondern verbleibt als subtiles Diskurszitat in Latenz. Im Gegensatz zu Hadmar, der von der Venus ungewollt der Sodomie bezichtigt wird, entzünden sich an Otto von Buchau etwas direkter ihre Aversionen. Verkleidet als windisch wîp (686,5) provoziert auch er eine Kampfverweigerung der Venus.99 Gerahmt wird die Situation durch einen Dialog mit Ottos Boten. In seiner Proklamation behauptet dieser zunächst, dass sich seine Herrin aufgrund der Absenz ritterlicher Gegner im Tal bei Kindberg bereit erklärt habe, gegen die Venus zu tjostieren. Als hätte Venus die binnenfiktionale Behauptung und die Verkleidungsinszenierung Ottos bereits zu diesem Zeitpunkt durchschaut, reagiert sie mit kreativer Ironie: Ich smielt und hiez dem boten sagen, swâ ich noch ie bî mînen tagen getyostirt hete wider diu wîp, dâ wær gar harnaschblôz mîn lîp gegen ir aller tyost gewesen. (688,1–5) 96
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Zum homophoben Diskurs in der Hadmar-Episode vgl. Brall (Anm. 92), S. 94–99; außerdem Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 156–159; Moshövel, wîplîch man, S. 451–453. Sodomiebezichtigungen gehören nach Grabmayer zum geläufigen Denunziationsrepertoire in politischen Konflikten. So könnte das Gerücht im Frauendienst auf die reale Verfeindung zwischen den Kuenringern und den Liechtensteinern im Umfeld des Ministerialenaufstandes gegen Friedrich II. von Babenberg Anfang der 30er Jahre des 13. Jahrhunderts rekurrieren. Grabmayer, „Eheleben und Sexualität“, S. 263f. Nach der Venusfahrt hat das Gerücht offenbar vollkommen seine Relevanz eingebüßt, denn Hadmar solidarisiert sich sogar gegen sein eigenes Gefolge mit Ulrich. Vgl. 1057 ff. Vgl. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 152 ff.; Mecklenburg, „Ritter Venus“, S. 202 ff.; Moshövel, „Ulrich von Liechtenstein – Ein Transvestit?“, S. 355 f.; Moshövel, wîplîch man, S. 447 f.
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Die Situation ist vertrackt übercodiert: Ulrich weiß trotz der Venus-Maskerade um seine männliche Identität und kommentiert aus dieser Position die vermeintlich weibliche Anmaßung, in den ritterlichen Kampf einzutreten. Er entwickelt die provokante Idee, sich auf dem Turnierfeld zu entblößen und den Geschlechterkampf in gewohnt männlicher Manier auf der Ebene der Sexualität auszutragen.100 Ulrichs verletzendes Sprechen adressiert nicht direkt Otto. Vielmehr impliziert es allgemeine symbolische Praktiken der Missachtung gegenüber dem weiblichen Geschlecht. Seine misogyne Replik spitzt er weiter zu, als der Bote darauf insistiert, dass seine Herrin die Venus nicht nackt, sondern gerüstet, vil ritterlîch als einen man (689,8) bezwingen will: Ich sprach: „her bote, iu sî gesaget, ich bin vor allen mannen maget und bin den wîben bî gelegen: mit den kan ich wol freuden pflegen. ist iwer vrowe für wâr ein wîp, di sol gar harnschblôz mîn lîp vil wünneclîche alhie bestân.“ (690,1–7)
Die Venus bleibt in ihrer Antwort konsequent bei einer sexualmetaphorischen Codierung der Situation. Indem sie das Ansinnen des windisch wîp als männliches Agieren wörtlich nimmt, gleichzeitig aber aus einer authentisch-männlichen Perspektive spricht, potenzieren sich sowohl die Ambivalenz der Sprachakte als auch die der wahrnehmbaren Referenzen: Aus der Sicht des Boten bedingt die behauptete Keuschheit der Venus gegenüber Männern gleichzeitig ihre erotische Freizügigkeit gegenüber Frauen. Lediglich im Wahrnehmungshorizont der Rezipienten dienen die vermeintlich lesbischen Neigungen tatsächlich der Bekräftigung von Ulrichs Heterosexualität. Lustvoll bringt Ulrich gender-Distinktionen und Begehrensstrukturen somit beinahe zum Kollabieren. Die paradoxe Situation muss meta-kommunikativ aufgelöst werden. Das windisch wîp ist wie die Venus ein Mann und die Egalität ihrer Verkleidungsinszenierung kann mit einer Tjost besiegelt werden.101 Gleichzeitig wird 100
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Nebeneffekt ist die grundsätzliche Assoziation der Turnierpraktiken mit Sexualmetaphern. Vgl. Moshövel, „Ulrich von Liechtenstein – Ein Transvestit?“, S. 365 f. Peschel-Rentsch, „Das arme Ich des Ulrich von Liechtenstein“, S. 165 ff. Nach Ad Putter. „Transvestite Knights in Medieval Life and Literature.“ In: Becoming Male in the Middle Ages. Ed. Jeffrey Jerome Cohen and Bonnie Wheeler. New York, London 1997 (The New Middle Ages 4), S. 279–302, hier S. 288, wird gerade in der weiblichen Maskerade auf paradoxe Weise männliche Authentizität verkörpert.
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transparent, wie homosoziale Konkurrenzen die heteronormative Matrix strukturieren und welche sprachlichen Mittel der homophoben und misogynen Pointierung Ulrich zur Sanktionierung dieser Geschlechternorm zur Verfügung stehen.102
3. Gender-dekonstruktivistische Perspektiven Die polysemantische und paradoxe Codierung von Geschlecht führt die Frage nach einer etwaigen Gesamtkonzeption von geschlechtlicher Identität im Frauendienst bzw. auch im Gesamtwerk Ulrichs ad absurdum. Ein dekonstruktivistischer Denkansatz erscheint in diesem Zusammenhang besonders geeignet, Brüche in der Darstellung als Störanfälligkeit geschlechtlicher Identität zu deuten, die zur Destabilisierung einer funktionierenden Geschlechterordnung beiträgt. Abschließend bietet es sich daher an, durch queer reading den etwaigen erotischen Subtext des Frauendienstes anhand einer Szene genauer zu konturieren. Nachdem die Königin Venus beim Tjostieren in Neunkirchen an der Brust verwundet wurde, diese Verletzung aber verheimlichen konnte, zieht sie sich am darauf folgenden Tag vor den Toren der Wiener Neustadt eine Kopfverletzung zu. Um sich zu regenerieren, nimmt Ulrich unerkannt ein Bad. Dort widerfährt ihm eine merkwürdige Geschichte, durch die sein Herz verwundet wird (vgl. 728). Als sich Ulrichs kamerære (729,2) entfernt, um neue Kleider herbeizuholen und sich auch sonst niemand aus Ulrichs Gefolge in der Nähe befindet, betritt ein fremder kneht (730,6) den Raum. Auf einem kostbaren Teppich breitet er typische Minnegeschenke aus. Sie umfassen verschiedene Kleidungsstücke und Accessoires, aber auch einen Rubinring rôt als ein vrowen süezer munt, / der manlîch hertze machet wunt (732,3 f.). Dazu legt der Knappe einen Brief und signalisiert mit Gesten, dass darin Auskünfte über die Schenkung enthalten sind. Zornig stellt Ulrich den Knappen zur Rede, verlangt die Entfernung der Gaben und bedroht ihn verbal. Doch auf diesen Wutausbruch reagiert der Knappe nicht:
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Die über inszenatorische und rhetorische Details erzeugte gender-distinkte Übercodierung setzt jedoch einen Ort voraus, der dieses Sprechen autorisiert. Einerseits sind dies die Diskursformationen, an denen Ulrich durch Gattungshybridisierung und Montagetechnik partizipiert, anderseits impliziert Ulrichs Werk eine erstaunliche Selbstautorisierung.
Gender
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Der knape sweic und gie zehant, dâ er zwên ander knehte vant: die truogen nâch im rôsen dar, gepletert vrisch und wol gevar. der streut er dar ûf mich sô vil, für wâr ich iu daz sagen wil, daz mich noch daz bat niemen sach; dar zuo der knappe nie wort gesprach. Swaz ich gezurnt, swaz ich gebat, er streut die rôsen umb daz bat sô vil, daz al diu dille gar wart wünneclîch nâch rôsen var. dar nâch er mir mit zühten neic: swaz ich gesprach, vil stille er sweic. er was für wâr mir unbekant: von mir sô gienc er alzehant. In grôzem zorne er mich lie. (734,1–736,1)
Warum echauffiert sich Ulrich gegenüber dem fremden Knappen so?103 Anhand dieser Frage, sollen Möglichkeiten eines queer reading skizziert werden, um neue Perspektiven für eine gender-dekonstruktivistische Interpretation der Venusfahrt auszuloten.104 Der Fokus der queer studies liegt auf der Auseinandersetzung mit der heteronormativen Zeichenökonomie.105 Das Potenzial eines queer reading liegt darin, durch subversive Resignifizierung narrative Brüche als Artikulationsformen eines Begehrens zu beschreiben, das jenseits der binären Geschlechterordnung zu verorten ist.106 Für die Badeszene in Ulrichs Frauendienst heißt dies, aufgrund der Irritationen an der Textoberfläche nach einem erotischen Subtext zu fragen und „mit der Möglichkeit eines Textbegehrens [zu 103
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Deutungsansätze finden sich bei Kellermann und Young, „Briefe, Büchlein, Boten“, S. 332 f.; Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 148 f.; Peschel-Rentsch, „Das arme Ich des Ulrich von Liechtenstein“, S. 162; Moshövel, „Ulrich von Liechtenstein – Ein Transvestit?“, S. 363 f.; Moshövel, wîplîch man, S. 477–483. Eine eher mediengeschichtliche Erklärung für Ulrichs Verärgerung über den fremden Boten bietet der Beitrag von Kellermann im vorliegenden Band, S. 249. Vgl. Andreas Kraß. „Queer Studies – eine Einführung.“ In: Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies). Hrsg. von Andreas Kraß. Frankfurt a. M. 2003 (edition suhrkamp 2248), S. 7–28; sowie Franziska Rauchut. Wie queer ist Queer? Sprachphilosophische Reflexionen zur deutschsprachigen akademischen „Queer“-Debatte. Königstein/Taunus 2008. Vgl. verschiedene Beiträge in dem Band Queer Reading in den Philologien. Modelle und Anwendungen. Hrsg. von Anna Babka und Susanne Hochreiter. Göttingen 2008.
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rechnen], das in einer unterschwelligen symbolischen Ordnung kodiert und nicht mit jenem Begehren deckungsgleich ist, das sich in den Stimmen des Autors, des Erzählers und der Figuren artikuliert“.107 Ulrichs außerordentliche Wut im Bade markiert eine solche Störung von Begehrensstrukturen, denn die immer wieder betonte Geschlechterkombinatorik in seinem Habitus und Verhalten wird durch die Überfülle der Rosenblätter so verunklart,108 dass weder sein Körper wahrgenommen werden kann, noch eine Identifikation als Königin Venus oder Ulrich von Liechtenstein durch den Bademeister möglich ist (vgl. 728,3). Identität und Geschlecht werden radikal ambiguisiert und verschwinden ‚in‘ einer Leerstelle oder Bruchstelle des Textes. Wenn sich aber der Körper einer gender-distinkten Zuordnung entzieht, wird die grundsätzliche Arbitrarität der sex-gender-desire-Trias evident. Nicht nur Ulrichs Geschlechtsidentität erweist sich dabei als provisorisches Konstrukt, sondern auch seine Integration in die heteronormative Matrix, wie sie Mecklenburg und Moshövel nachgewiesen haben, wird polyvalent aufgebrochen.109 Die bedeutungsoffene Performanz der ‚Badeszene‘ ermöglicht dabei in letzter Konsequenz sämtliche nur denkbaren Begehrenskonstellationen von heterosexuell affirmativ bis lesbisch subversiv, die gerade nicht auf einen eindeutig sexualisierten Körper rekurrieren. Von diesem queeren Kulminationspunkt aus wären in weiterführenden Studien die Geschlechterkonstruktionen in Ulrichs Werk neu zu überdenken.
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Kraß (Anm. 105), S. 22. Zur Strategie der ‚VerUneindeutigung‘ vgl. Antike Engel. Wider die Eindeutigkeit. Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation. Frankfurt a. M. u. a. 2002. (Reihe Politik der Geschlechterverhältnisse 20). Vgl. Abschnitt 1.4.
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5. Fiktionalität Der Frauendienst zwischen Fiktivität und Fiktionalität: Probleme und Perspektiven der Forschung von M ARK C HINCA In der neueren wissenschaftlichen Literatur zu Ulrich von Liechtenstein stößt man gelegentlich auf die Bezeichnung ‚fiktive Autobiographie‘ zur allgemeinen Charakterisierung des Frauendienstes.1 Dabei soll das Prädikat ‚fiktiv‘ vor allem dazu dienen, auf prägnante Weise die heute fast einmütige Meinung der Forschung zum Ausdruck zu bringen, dass Ulrichs Lebensbeschreibung nicht vorbehaltlos für autobiographisch wahr zu halten sei und die Auffassungen einer früheren Forschergeneration, die von der Faktizität des vom Autor Berichteten überzeugt war, als naiv und überwunden zu gelten hätten.2 Über diese allgemeine Signalfunktion hinaus kann das Wort ‚fiktiv‘ aber auch Verschiedenes zum Wahrheitsgehalt und Kunstcharakter der Dichtung andeuten: Auf die Welt innerhalb der Dichtung bezogen bedeutet es, dass Personen, Orte, Dinge und Ereignisse der Erzählung erfunden sind. Im Folgenden wird das Wort ‚fiktiv‘ ausschließlich in diesem Sinne verwendet. Auf die Dichtung als Artefakt bezogen deutet es eher an, dass diese nach literarischen Mustern gestaltet ist. In diesem Zusammenhang empfiehlt es sich, vom literarischen Charakter oder von der ‚Literaturhaftigkeit‘ des Kunstwerks zu sprechen.3 Hat man aber die kommunikative Praxis im Blick, deren Konventionen die sprachliche Erzeugung der fiktiven Welt zusammen mit 1
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Vgl. etwa Joachim Bumke. Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter. München 1990, S. 274; Müller, „VL: Ulrich von Liechtenstein“, Sp. 1275; Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 1, 368. Eine auffällige Ausnahme zum gegenwärtigen Konsens bildet Haferland, Hohe Minne, S. 245–280, bes. S. 246: „Ulrichs von Liechtenstein ‚Frauendienst‘ ist eine Autobiographie.“ Der Begriff von ‚Literaturhaftigkeit‘ entspricht der literaturnost' des russischen Formalismus; vgl. dazu Jurij Striedter. Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 1971, S. XIXf., LXXII.
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einer bestimmten, durch Wahrheitsindifferenz gekennzeichneten Auffassung dieser Welt überhaupt erst ermöglichen, so geht es um das, was die neuere Literaturwissenschaft ‚Fiktionalität‘ nennt.4 Zwischen den verschiedenen Verwendungsbereichen des Wortes ‚fiktiv‘ gibt es freilich Übergänge und Überschneidungen; dennoch sollten sie zur genaueren Fassung des Problems der Fiktionalität im Hinblick auf Ulrichs Frauendienst analytisch auseinander gehalten werden.
1. Fiktives im Frauendienst Die Frage nach dem Stellenwert des Fiktiven im Frauendienst ist kaum je für sich, sondern fast durchweg im Kontext der übergeordneten Frage nach dem Wahrheitsgehalt des Werks gestellt und behandelt worden. Vom späten 19. Jahrhundert bis in die 1960er Jahre hinein war es ein Hauptanliegen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Frauendienst, den kulturgeschichtlichen und autobiographischen Quellenwert des literarischen Werks zu sichern, aus dem man historisch zuverlässige Informationen über den allgemeinen kulturellen Habitus des Adels und insbesondere über die Realität des höfischen Minnedienstes im Hochmittelalter zu beziehen hoffte.5 Diesem Erkenntnisinteresse entsprechend wurde Fiktives überwiegend negativ als dasjenige aufgefasst, das den historischen Zeugniswert des Werks zu beeinträchtigen drohte und daher möglichst genau identifiziert und vom autobiographisch wahren Inhalt der Dichtung abgesondert werden sollte. Mit der Überprüfung der Angaben im literarischen Werk am historischen Urkundenmaterial nahm die Forschung ein discrimen veri ac falsi in zwei Bereichen vor. Einerseits unterschied man zwischen fiktiven Minnegeschichten und Rahmenelementen der Erzählung, die der historischen oder geographischen Wirklichkeit angehören, etwa Anspielungen auf das Zeitgeschehen und 4
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Vgl. Frank Zipfel. Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin 2001 (Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften 2), S. 68–228, der zwischen Fiktivität als Eigenschaft der Erzählwelt und Fiktionalität als Modus des Erzählens unterscheidet. Zu diesem Kapitel der Forschungsgeschichte liegen bereits mehrere, z. T. sehr detailreiche Bestandsaufnahmen und Berichte vor: Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein, S. 74–89; Glier, „Diener zweier Herrinnen“, S. 297–300; Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 13–21. Daher beschränken sich die folgenden Bemerkungen auf einen knappen Umriss der Positionen, wobei vor allem die methodologischen Prinzipien und deren Probleme betont werden sollten.
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sonstige Zeitangaben, Orts- und Personennamen, Informationen zum Turnierwesen u. Ä.6 Andererseits war man bemüht, innerhalb der Erzählwelt des Frauendienstes eine Trennung zwischen erdichteten und biographisch wahren Begebenheiten durchzuführen.7 Das Problematische an diesem Filtrationsverfahren liegt zunächst darin, dass der so gewonnene Ertrag an Fakten hauptsächlich aus Daten und Namen besteht, die das im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehende Thema des höfischen Minnedienstes kaum berühren und folglich den erwünschten Aufschluss über dessen historische Wirklichkeit nicht zu geben vermögen.8 Deshalb versuchte man Argumente zu finden, die es erlaubten, den einmal sicher ermittelten Bestand an historischen Daten auf andere, sonst nicht belegte Ereignisse der Erzählung auszuweiten. Bei Entscheidungen, ob eine bestimmte Angabe des Autors der historischen Wirklichkeit entspricht oder nicht, spielte manchmal das Kriterium der Glaubwürdigkeit die ausschlaggebende Rolle, manchmal war es der Grad der Annäherung an literarische Muster und Traditionen, manchmal wiederum die Annahme, der Autor dürfe in Verbindung mit wirklichen Zeitgenossen, die als handelnde Personen in seiner Erzählung auftreten, nur Wahres berichten.9 Solche Argumente können aber bestenfalls einen gewissen Grad an Plausibilität für sich beanspruchen, zwingend sind sie sicherlich nicht. Eine wichtige Neuorientierung in der Frage nach ‚Dichtung und Wahrheit‘ im Frauendienst brachte erst die 1971 gedruckte Dissertation von Ursula Peters. Peters verweist auf eine seit dem frühen 13. Jahrhundert immer stärker werdende ‚Literarisierung‘ der adeligen Lebensformen, die zunehmend nach Vorbildern und Mustern der höfischen Dichtung stilisiert würden; diese überall in Westeuropa zu beobachtende kulturhistorische Entwicklung bilde den relevanten Wirklichkeitshintergrund zu Ulrichs Dichtung. Der Literarisierungsprozess habe seinen 6
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Vgl. Schönbach, „Zu Ulrich von Liechtenstein“; Schönbach „Über den steirischen Minnesänger“; Schönbach, „Zu Ulrich von Liechtenstein (Nachtrag)“; Bruder, Das Friesacher Turnier 1224; Becker, „Der Weg der Venusfahrt“; Aarburg, Autobiographie und Persönlichkeit. Becker, Wahrheit und Dichtung; Aarburg, Autobiographie und Persönlichkeit. Zu den im Frauendienst erwähnten historischen Ereignissen und Persönlichkeiten, sowie zu den geographischen Angaben vgl. zuletzt Dopsch, „Zwischen Dichtung und Politik“, bes. S. 88–95, 102–104 (Karten); Krenn, „Historische Figuren“; Spechtler, „Urkunden und Zeugnisse“, bes. S. 4 f., sowie den Beitrag von Linden im vorliegenden Band. Vgl. hierzu Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein, S. 78–82 (mit Literaturangaben).
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Antrieb im kollektiven „Willen zum Nachleben und Nachspielen dichterischer Vorbilder“.10 Konkreter Ausdruck dieses Willens seien einerseits literarisch beeinflusste Formen adeliger Unterhaltung und Geselligkeit, wie etwa Artusfeste und sogenannte Tafelrundenturniere,11 andererseits literarische Darstellungen und Inszenierungen von Minne, die es dem höfischen Publikum ermöglichten, Minnedienst virtuell zu erleben und die damit verknüpften dilemmatischen Situationen auf unterhaltsame Weise durchzuspielen.12 Auch die durch das literarische Spiel aufgerufenen Vorstellungen und Erlebnisinhalte gehörten mit zur historischen Wirklichkeit – freilich nicht zur positivistisch aufgefassten Wirklichkeit der Fakten, sondern zur Wirklichkeit der kollektiven mentalen Repräsentationen. Vor diesem Hintergrund besäßen auch diejenigen Elemente im Frauendienst, die außerliterarisch nicht belegt sind, trotz ihrer empirischen Irrealität durchaus historischen Zeugniswert, da sie einen wesentlichen Aspekt der Literarisierung des höfischen Lebens, nämlich den Willen, „in der dichterischen Darstellung das eigene Leben nach dichterischen Vorbildern stilisiert [zu] haben“, dokumentierten.13 Insofern Peters das Fiktive im Frauendienst positiv als Reflex der Vorstellungen, Anschauungen und Wünsche einer bestimmten sozialen Gruppe auffasst, hat sie das Interesse der heutigen mediävistischen Literaturwissenschaft für das Imaginäre, jenes Gesamt von ‚gedachten Ordnungen‘, die jedwede Konstituierung – auch die literarische – von Welt und Gesellschaft bedingen, um einige Jahrzehnte vorweggenommen.14 Die unmittelbare Wirkung ihrer Untersuchungen war jedoch, das fast hundertjährige Bemühen der Forschung um eine saubere Unterscheidung des Wahren vom Erdichteten im Frauendienst als nicht mehr angemessen erscheinen zu lassen und stattdessen den literarischen Charakter des Werks ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. 10 11 12
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Ebd., S. 89. Ebd., S. 173–205. Ebd., S. 206–225. Vgl. ferner zur Kultur der ‚Minnegeselligkeit‘ an adeligen Höfen Joachim Bumke. Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 1986, S. 569–582. Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein, S. 89; vgl. ferner S. 170–172, 204 f. Vgl. Jan-Dirk Müller. „Literarische und andere Spiele. Zum Fiktionalitätsproblem in vormoderner Literatur.“ Poetica 36, 2004, S. 281–311 (S. 306–309 zum Frauendienst); ders., Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, bes. S. 9–17. Theoretischer Bezugspunkt für den von Müller zugrunde gelegten Begriff des Imaginären ist Cornelius Castoriadis. L’institution imaginaire de la société. Paris 1975 (dt. Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt a. M. 1990 [stw 867]).
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2. Der Frauendienst als literarisches Werk Im autobiographischen Bericht des Erzählers Ulrich über seine Jugendzeit und seinen ersten ritterlichen Minnedienst kommen mehrmals Erlebnisse, Situationen und Handlungen vor, die auch gängige Motive der epischen und lyrischen Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts sind, z. B. Kinderminne, Knappenerziehung an fremden Höfen, heimliche Kommunikation mit der Geliebten über einen Boten, Stummheit des Minnedieners, Dienstaufsage an die Dame.15 Anhand des tragenden Konzepts eines ‚Minnedienstlebens‘ wurden diese inhaltlichen Motive zu Stationen in der Lebensgeschichte des höfischen Ritters und Minnesängers Ulrich von Liechtenstein verarbeitet.16 Sowohl die gemischte episch-lyrische Form der daraus hervorgegangenen autobiographischen Dichtung als auch die narrative Integration der verschiedenen Formelemente unter dem besonderen Aspekt einer ‚Minnesängerbiographie‘ lassen sich ihrerseits mit literarischen Vorbildern in Verbindung bringen, auf deren Bedeutung für die literaturgeschichtliche Stellung des Frauendienstes bereits Dieter Kartschoke und Joachim Heinzle hingewiesen haben: mit dem altfranzösischen roman à chansons und altprovenzalischen Trobadorbiographien.17 Gesetzt, der Autor Ulrich hat diese romanischen Genres tatsächlich gekannt, dann hat er sie nicht nur übernommen, sondern auch eigenständig weiterentwickelt. Darüber hinaus lässt sich an der Art, wie Ulrich sich seine Vorbilder anverwandelt, die ‚Literaturhaftigkeit‘ des Frauendienstes besonders deutlich erkennen, da die Modelle nicht etwa Teilbereiche, sondern die Gesamtstruktur und tragende Intention der Dichtung bestimmen.18
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Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein, S. 129–161. Die Bezeichnung ‚Minnedienstleben‘ verwendet gern Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein, S. 57 f., 74–76, 85, 120 f., 122–125, 144, 161, 165 f. Vgl. zu dieser terminologischen Diskussion auch den Beitrag von Bleumer im vorliegenden Band, S. 358–363. Kartschoke, „Ulrich von Liechtenstein und die Laienkultur“, S. 116–126; Joachim Heinzle. Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert. Königstein 1984 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit 2,2), S. 31. Über den Einfluss des Minnesangs und der höfischen Epik auf einzelne Aspekte und Motive des Frauendienstes sowie über die Stellung Ulrichs in der Minnesangtradition liegen zahlreiche Studien vor, u. a.: Milnes, „Ulrich von Lichtenstein and the Minnesang“; Touber, „Der literarische Charakter“; Spechtler, „Die Stilisierung der Distanz“; Thomas, „‚Parzival‘ as a Source for ‚Frauendienst‘“; Hausner, „Überlegungen zur Struktur“; Heinen, „Poetic Truth and the Appearance of
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Die von Ulrich gewählte Mischform von Erzählung in Reimpaaren mit lyrischen Einlagen liegt auch dem roman à chansons zugrunde, der bereits vor der Mitte des 13. Jahrhunderts in Frankreich als literarisches Genre etabliert war und somit als formales Vorbild wenigstens theoretisch zur Verfügung stand.19 Wenn diese Zuordnung richtig ist, so stellt der Frauendienst zugleich eine bedeutsame Erweiterung der genrebestimmenden Form dar, da Ulrich in die erzählenden Partien nicht nur Minnelieder, sondern auch Briefe in Vers und Prosa sowie minnedidaktische Büchlein eingefügt hat.20 Es ist dennoch unwahrscheinlich, dass der roman à chansons über die Formanleihen hinaus auch die literarische Technik und den Inhalt des Frauendienstes beeinflusst hat. Zwar kennen sowohl Jean Renart in seinem Roman de la Rose (1. Drittel 13. Jahrhundert)21 als auch Gerbert de Montreuil in dem stofflich eng damit verwandten Roman de la Violette (zwischen 1227 und 1229)22 die Technik, fiktive Ereignisse in der angeblich historischen Wirklichkeit anzusiedeln, allerdings sind die historischen Referenzen meist globaler Art und sehr viel ungenauer als bei Ulrich, so dass hier nicht von Einfluss, sondern allenfalls von einer sehr allgemeinen Parallele der jeweils angewendeten Dar-
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Reality“; Händl, Rollen und pragmatische Einbindung. Vgl. ferner die Beiträge von Braun und Bleumer im vorliegenden Band. Zum französischen Genre vgl. Sylvia Huot. From Song to Book. The Poetics of Writing in Old French Lyric and Lyrical Narrative Poetry. Ithaca 1987, bes. S. 106–134; Maureen Barry McCann Boulton. The Song in the Story. Lyric Insertions in French Narrative Fiction, 1200–1400. Philadelphia 1993; Ardis Butterfield. Poetry and Music in Medieval France from Jean Renart to Guillaume de Machaut. Cambridge 2002 (Cambridge Studies in Medieval Literature 49). Zur Form- und Gattungsmischung im Frauendienst vgl. Ruben, Zur ‚gemischten Form‘ im Frauendienst; Heinen, „Sense of Genre“. Mit vergleichbaren Erweiterungen kann der frz. roman à chansons erst ab Ende des 13. Jhs. aufwarten, z. B. Jakemes. Roman du Castelain de Coucy (nach 1285; Reimbrief); Chaillou de Pestain. Roman de Fauvel (1316; dit in Versen); der Roman de la Dame a la Lycorne et du Biau Chevalier (Mitte 14. Jh.; Brief in Prosa und dit in Versen); Oton de Grandson. Livre Messire Ode (zwischen 1370 und 1390; Briefe in Prosa und Vers); Jean Froissart. Roman de Meliador (zweite Fassung um 1380; Reimbrief). Vgl. zu diesen Romanen Boulton (Anm. 19), S. 61–72, 147–152, 158–161, 223–228. Allgemeiner Überblick in: Dictionnaire des Lettres Françaises: Le Moyen Age. Hrsg. von Robert Bossuat, Louis Pichard und Guy Raynaud de Lage. Durchgesehene Ausgabe von Geneviève Hasenohr und Michel Zink. Paris 1994, S. 838–840. Für den Roman liegen mehrere Datierungsvorschläge vor: vor 1200–1211, zwischen 1212 / 13, um 1228. Vgl. Dictionnaire des Lettres Françaises (Anm. 21), S. 515 f.
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stellungsverfahren die Rede sein kann.23 Ulrichs Entscheidung, seine Erzählung als Lebensbeschreibung, genauer als Minnesängerbiographie, zu gestalten, kann schon deswegen nicht vom roman à chansons angeregt worden sein, da der Gedanke, die eingeschobenen Lieder mit der Geschichte vom ‚Minnedienstleben‘ ihres Dichters zu verweben, erst einige Jahrzehnte später im französischen Genre zum Tragen kommt, und zwar in dem nach 1285 entstandenen und Jakemes Sakeskep zugeschriebenen Roman du Castelain de Coucy.24 Ein literarisches Vorbild für die Verbindung von Lyrik und Erzählung unter dem Aspekt der Minnesängerbiographie bieten jedoch die altprovenzalischen Vidas und Razos, kurze Dichterbiographien bzw. biographisch kontextualisierende Liedkommentare in Prosa, mit denen die Lieder der Trobadors zunächst beim gesungenen Vortrag, später dann in der handschriftlichen Überlieferung eingeleitet und erläuternd begleitet wurden.25 Weil die Vidas und Razos in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts gerade in Oberitalien, also in einem direkt an die Steiermark angrenzenden Kulturraum, zu schriftliterarischen Genres geworden sind, haben mehrere Stimmen der Forschung gerade in diesen Texttypen den entscheidenden Einfluss auf Inhalt und formale Gestal23
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Schauplatz der Handlung ist bei Jean Renart das deutsche Reich zur Herrschaftszeit Kaiser Konrads, bei Gerbert Frankreich unter König Louis. Eine Identifizierung der Figuren mit einem besonderen historischen Kaiser bzw. König desselben Namens ist nicht möglich und von den Autoren wohl nicht intendiert, zumal sich die Ereignisse in beiden Romanen in einem zeitlich nicht näher bestimmten jadis abspielen: Jean Renart. Le roman de la rose, ou de Guillaume de Dole. Hrsg. von Félix Lecoy. Paris 1962 (Classiques Français du Moyen Age 91), V. 34; Gerbert de Montreuil. Le roman de la violette ou de Gerart de Nevers. Hrsg. von Douglas Labaree Buffum. Paris 1928 (Société des Anciens Textes Français), V. 65. Allerdings gewinnt der zeitliche Rahmen bei Jean Renart in der zentralen Episode des Turniers zu St.-Trond an Spezifizität, wo in der Aufspaltung der deutschen und französischen Teilnehmer in zwei Lager die wirklichen politischen Bündnisse der Zeit unmittelbar vor der Schlacht bei Bouvines (1214) sowie die besondere Lage Ottos IV. widergespiegelt sind; vgl. Rita Lejeune. „Jean Renart et le roman réaliste au XIIIe siècle.“ In: Le roman jusqu’à la fin du XIIIe siècle. Bd. 1: Partie historique. Hrsg. von Jean Frappier und Reinhold R. Grimm. Heidelberg 1978 (GRLMA IV,1), S. 400–453, hier S. 411. Vgl. dazu Boulton (Anm. 19), S. 61–66, sowie den Eintrag in: Dictionnaire des Lettres Françaises (Anm. 21), S. 259 f. Überblick von Elizabeth Poe. „The Vidas and Razos.“ In: A Handbook of the Troubadours. Hrsg. von Frank Ronald Powell Akehurst und Judith M. Davis. Berkeley, London 1995 (Publications of the UCLA Center for Medieval and Renaissance Studies 26), S. 185–197.
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tung des Frauendienstes sehen wollen.26 Jedoch kann diese Ansicht nicht uneingeschränkt gelten.27 Der spielerische Umgang mit lyrischen Motiven, der bis zur skurrilen, drastisch übersteigernden narrativen Umsetzung in realistisch wirkendem Milieu reichen kann, ist ein Zug, den der Frauendienst zwar mit den Vidas und Razos teilt – aber eben auch mit der Lyrik Neidharts, die den literarischen Geschmack im deutschen Südosten im 13. Jahrhundert maßgeblich beeinflusst hat.28 Außerdem sind die von der Forschung herangezogenen Motivparallelen viel zu ungenau, als dass sie eine direkte inhaltliche Abhängigkeit des Frauendienstes von den Vidas und Razos wahrscheinlich machen könnten; vielmehr sind die Ähnlichkeiten als Indiz dafür zu bewerten, dass sowohl Ulrich als auch die Verfasser der altprovenzalischen Prosatexte aus dem gleichen Repertoire konventioneller lyrischer Motive, Situationen und Szenentypen geschöpft haben.29 Angesichts der geographischen Lage ist es immerhin wahrscheinlich, dass Ulrich mit den Vidas und Razos direkt vertraut war.30 Damit jedoch ein Werk mit der besonderen Prägung des Frauendienstes aus diesen Vorbildern entstehen könnte, müssten drei Transformationen vollzogen 26
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Schlereth, Studien zu Ulrich von Lichtenstein, S. 137–179; Ruben, Zur ‚gemischten Form‘ im Frauendienst, S. 148–153; Kartschoke, „Ulrich von Liechtenstein und die Laienkultur“, S. 117–126; Touber, „‚Frauendienst‘ und die Vidas und Razos der Troubadours“. Vgl. Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein, S. 161–172. Ebd., S. 170. Vgl außerdem: Ingrid Bennewitz-Behr. „‚Marke dv versink!‘ Neidharts ‚Winterlied 37‘ und die Rezeption seines Werkes in der Steiermark.“ In: Ebenbauer, Knapp und Schwob, Die mittelalterliche Literatur in der Steiermark, S. 15–30; Knapp, Geschichte der Literatur in Österreich 1, S. 292–302. Obwohl Ulrichs Reaktion auf die untât seiner Dame – er singt Scheltlieder auf sie (1364–1375, mit den Liedern XXI–XXVI) – eine Parallele in einigen Vidas und Razos findet (Touber, „‚Frauendienst‘ und die Vidas und Razos der Troubadours“, S. 437–440), lässt sich sein Benehmen gleichermaßen mit der Reaktion des unbelohnten Liebenden im Minnesang vergleichen, der die ungnädige Dame mit der Einstellung bzw. Umkehrung seines lobpreisenden Singens bedroht; vgl. Heinrich von Morungen, MF 133,36; Walther von der Vogelweide, L 69,24 f. Ebenso ist die Episode von Ulrichs Fingeramputation wohl nicht direkt von der Razo inspiriert, derzufolge der Trobador Guillem de Balaum sich als Versöhnungsgeste an die Minneherrin einen Fingernagel ausziehen lässt; vielmehr sind beide Vorfälle als Beispiele für die extreme Leidensbereitschaft des Minnedieners aufzufassen. Vgl. hierzu Touber, „‚Frauendienst‘ und die Vidas und Razos der Troubadours“, S. 440–442; Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein, S. 166 f. Zu der Bedeutung der Vidas und Razos für den Frauendienst vgl. im vorliegenden Band auch die Beiträge von Ackermann, S. 334 f., und Bleumer, S. 387.
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werden.31 Erstens: die Expansion der Razoform, so dass diese nicht mehr nur ein einzelnes Lied oder eine kleinere Liederfolge kommentiert, sondern ein umfangreiches Minnesänger-Korpus biographisch umrahmt.32 Zweitens: der Übergang von der Prosa zur Versform. Drittens: der Wechsel der narrativen Perspektive vom objektiven biographischen Bericht in der dritten Person zur Autobiographie in Ich-Form. Zwei literarische Werke des späteren 13. Jahrhunderts, bei denen der Einfluss der Trobadorbiographien gemeinhin angenommen wird, haben zwar die erste Transformation durchgemacht, aber je nur eine der zwei anderen. Der bereits erwähnte Roman du Castelain de Coucy des Jakemes erzählt – entsprechend den Konventionen des roman à chansons – in paargereimten Achtsilbern; in der Vita nuova (um 1293) begleitet und erläutert Dante seine eigenen Gedichte mit autobiographischer Prosa.33 Vor diesem Hintergrund nimmt der Frauendienst die literaturgeschichtlich signifikante Stellung ein, alle drei Veränderungen vollzogen zu haben, und zwar drei bzw. vier Jahrzehnte früher als Jakemes und Dante.34 Konstitutive Merkmale des Frauendienstes – inhaltliche Motive, die Mischung von Gattungsformen und der diese Formen integrierende Aspekt der Minnesängerbiographie – erweisen sich somit als ‚literarische Fakten‘, d. h., ihnen kann eine Beschaffenheit und eine Evolution zugeschrieben werden, die sich rein innerliterarisch fassen und beschreiben lassen.35 Gleichwohl ist der unbestreitbar literarische Charakter des Werks weder mit der Fiktivität noch mit der Fiktionalität desselben identisch. Das Literarische und das Fiktive scheint Anthonius H. Touber in eins zu setzen, indem er z. B. pauschal von „fiktiv-literarische[n] Model-
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Vgl. Glier, „Diener zweier Herrinnen“, S. 303. Eine vergleichbare Expansion haben bereits diejenigen Trobadorhandschriften vorgenommen, in denen ein Autorliedkorpus fortlaufend von Razos in chronologischer Reihenfolge kommentiert wird, z. B. in den Hss. A, B, H, I, K, die alle noch aus dem 13. Jahrhundert stammen. Vgl. hierzu Poe (Anm. 25), S. 187 f. Zum Einfluss der Trobadorbiographien auf Jakemes und Dante vgl. Dictionnaire des Lettres Françaises (Anm. 21), S. 259, sowie Sylvia Huot. „Troubadour Lyric and Old French Narrative.“ In: The Troubadours. An Introduction. Hrsg. von Simon Gaunt und Sarah Kay. Cambridge 1999, S. 263–278, hier S. 274; Michelangelo Picone. ‚Vita Nuova‘ e tradizione romanza. Padua 1979 (Ydioma Tripharium 5), S. 35–38, 164–168, 178; Winfried Wehle. Dichtung über Dichtung. Dantes ‚Vita Nuova‘: die Aufhebung des Minnesangs im Epos. München 1986, S. 22–27. Vgl. Heinzle (Anm. 17), S. 31. Vgl. Jurij Tynjanov. „Das literarische Faktum“, „Über die literarische Evolution“, in: Striedter (Anm. 3), S. 394–431, 433–461.
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le[n] des ‚Frauendienst‘“ spricht36 oder die Fiktivität eines Erzählinhalts mit dem Hinweis auf die dahinter stehende literarische Tradition begründet.37 Dass die zwei Kategorien jedoch nicht immer deckungsgleich sind, zeigt sich beispielsweise an der Episode von Ulrichs Gefangenschaft (1696–1731). Diese von keiner literarischen Tradition gedeckte Begebenheit ist höchstwahrscheinlich eine reine Erfindung, da der historische Ulrich zur betreffenden Zeit (etwa 1247 / 49) „in sechs Urkunden einwandfrei bezeugt“ ist.38 Umgekehrt lässt sich aus der Tatsache, dass die Kinderminne ein bekanntes Motiv sowohl der lyrischen als auch der epischen Dichtung ist, nicht ohne weiteres auf die Fiktivität von Ulrichs erster Liebesbegegnung als Knappe am fremden Hof schließen (14–28). Allerdings führt der Umstand, dass der Autor zur weiteren narrativen Ausgestaltung der Liebesgeschichte unterschiedliche, nicht völlig miteinander in Einklang zu bringende literarische Muster verwendet, zu auffallenden Ungereimtheiten auf der Beschreibungsebene, wie Ursula Peters sehr ausführlich gezeigt hat.39 Dafür muss jedoch nicht unbedingt die Grundbegebenheit der jugendlichen Liebesbegegnung erdichtet sein. Was die Gleichsetzung des Literarischen mit dem Fiktionalen betrifft, geht nach Ansicht Christelrose Rischers die Fiktionalität des Frauendienstes in der Durchführung eines „literarische[n] Programm[s]“ auf, das in der „Frage nach der Geltung von Minnesang“ besteht.40 Gegen diese Auffassung lässt sich einwenden, dass fiktionales Sprechen und das Sprechen über literarische Fiktion zweierlei sind. Ersteres ist kein Diskurs über ein bestimmtes Thema, sondern eine Beschreibungskategorie für einen Kommunikationsmodus, in dem der Sprecher eine bestimmte Reaktion beim Hörer zu erzielen beabsichtigt: Dieser soll nämlich die In-
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Touber, „‚Frauendienst‘ und die Vidas und Razos der Troubadours“, S. 442. Touber, „Der literarische Charakter“, S. 257 (die Gestalt des Boten sei eine „aus dem Minnesang stammende literarische Funktion“), S. 260 („methodisch prinzipiell scheint mir zu sein, dass dasjenige im maere, was als praktizierter Minnesang oder sonst als literarisches Element aufgefasst werden kann, sicher in seinem Wirklichkeitsgehalt verdächtigt ist“). Auf die Fragwürdigkeit dieser Argumente zielt die Kritik von Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein, S. 84. Dopsch, „Zwischen Dichtung und Politik“, S. 89, Anm. 193. Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein, S. 129–144: Einerseits werde die Geliebte gemäß den Konventionen der Lyrik als vrouwe stilisiert, andererseits impliziere das epische Erzählmuster des kintlîchen Dienstes ein gleichaltriges Mädchen, mit dem der Held aufgezogen werde. Rischer, „Zum Realitätsstatus literarischer Fiktion“, S. 134 f.
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tention des Sprechers, fiktional zu reden, erkennen und die Äußerungen so auffassen, als ob die gewöhnlichen Normen sprachlicher Kommunikation in Kraft wären (z. B. dass ein Satz etwas Wahres oder Relevantes über die Realität aussagen muss), wobei er doch gleichzeitig weiß, dass dies nicht der Fall ist.41 Eine Folge der fiktionalen Rezeptionseinstellung ist es, dass die in der alltäglichen Kommunikation üblichen Rückschlüsse auf den Sprecher und seine Anschauungen (z. B. dass er das, was er sagt, auch meint oder für wahr hält) nicht möglich sind.42
3. Die Fiktionalität des Frauendienstes Wenn man Fiktionalität als Zusammenspiel von Sprecherintention und Hörerreaktion, also pragmatisch, definieren will, so ist man gezwungen, über diese einzelmenschlichen Einstellungen hinaus auch eine gesellschaftliche Kommunikationspraxis vorauszusetzen, deren Konventionen sowohl die Intention, fiktional zu sprechen, als auch die diese Absicht berücksichtigende Rezeptionshaltung überhaupt erst ermöglichen und sinnvoll machen.43 Ob diese Praxis und die daraus entstehende „soziokulturelle[ ] Situation, für die und innerhalb derer Fiktion Fiktion ist“,44 um die Mitte des 13. Jahrhunderts für Ulrich von Liechtenstein und sein steirisch-österreichisches Literaturpublikum selbstverständlich waren, kann man heute nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. Allenfalls indirekt lässt sich aus der Existenz literarischer Werke, für die eine solche 41
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Peter Lamarque und Stein Haugom Olsen. Truth, Fiction, and Literature. A Philosophical Perspective. Oxford 1994, S. 43: „The aim [of the fictive story-teller] is […] for the audience to make-believe (imagine or pretend) that the standard speech act commitments associated with sentences are operative even while knowing that they are not.“ Hier sei nebenbei angemerkt, dass das englische Wort ‚fictive‘ häufig die Bedeutung von dt. ‚fiktional‘ haben kann; die englische Entsprechung zu dt. ‚fiktiv‘ (im Sinne von ‚erdichtet, erfunden‘) wäre ‚fictitious‘. Lamarque und Olsen (Anm. 41), S. 43 f. Vgl. Lamarque und Olsen (Anm. 41), S. 35–40; im Kontext der mittelalterlichen Fiktionalität außerdem: Dennis H. Green. The Beginnings of Medieval Romance. Fact and Fiction, 1150–1220. Cambridge 2002 (Cambridge Studies in Medieval Literature 47), S. 1–17; Mark Chinca. „Mögliche Welten. Alternatives Erzählen und Fiktionalität im Tristanroman Gottfrieds von Straßburg.“ Poetica 35, 2003, S. 307–333, hier S. 309–313. Rainer Warning. „Der inszenierte Diskurs. Bemerkungen zur pragmatischen Relation der Fiktion.“ In: Funktionen des Fiktiven. Hrsg. von Dieter Henrich und Wolfgang Iser. München 1983 (Poetik und Hermeneutik X), S. 183–206, hier S. 197.
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Rezeption wenigstens vorstellbar ist, auf das mögliche oder gar wahrscheinliche Bestehen der für die Fiktionalität konstitutiven Kommunikationsregeln zurückschließen.45 Somit kann es im Folgenden nicht um eine kategorische und positive Demonstration der Fiktionalität des Frauendienstes gehen. Das Problem soll vielmehr auf hypothetische und negative Weise aufgerollt werden, indem eine Reihe von Aspekten besprochen wird, die den fiktionalen Status des Frauendienstes zwar fragwürdig oder gar unmöglich erscheinen lassen könnten, bei näherem Hinsehen jedoch kein prinzipielles Hindernis für eine fiktionale Auffassung des Werks darstellen, immer vorausgesetzt, dass die Grundbedingung der entsprechenden kommunikativen Praxis gegeben war. Bevor aber mit diesem Ausschlussverfahren begonnen wird, soll zunächst auf eine in der neueren Forschung geäußerte These eingegangen werden, derzufolge die fiktionale Poetik des Frauendienstes werkimmanent, in den Maskenspielen und Kostüminszenierungen des Protagonisten Ulrich, durchgespielt werde. Es soll gezeigt werden, dass diese Auffassung auf einem zu weit gefassten Fiktionsbegriff beruht. Jan-Dirk Müllers einflussreicher Aufsatz von 1984 hat sich nachhaltig auf die Debatten um das Fiktionalitätskonzept Ulrichs ausgewirkt, obwohl es darin eigentlich gar nicht um eine poetologische Bestimmung des Frauendienstes geht.46 Vielmehr kommt es Müller auf die verschiedenen Realitätsebenen innerhalb der Dichtung und ihre Beziehung zueinander an. Einerseits stelle Ulrich die bestehende soziopolitische Wirklichkeit des Feudalismus dar, andererseits bildeten innerhalb dieser Welt die nach literarischen Mustern stilisierten Formen höfischer Repräsentation – Fest, Turnier, Minnedienst – abgeschlossene Enklaven fiktiver Wirklichkeit, deren Reiz darin bestehe, dass sie dem Autor und seinem Publikum Zugang zu einer utopischen „Spielrealität“ verschafften, in der die geltenden Normen, Verhaltensregeln und Hierarchien der herrschenden Gesellschaftsordnung suspendiert, verkehrt oder sogar negiert würden.47 Müllers Vorstellung von Fiktions-Enklaven innerhalb der er45
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Zur Rezeption des mittlerweile von der Mediävistik zum Paradigma der Fiktionalität kanonisierten Artusromans in Österreich vgl. Knapp, Geschichte der Literatur in Österreich 1, S. 543–567. Das literarische Umfeld des Frauendienstes skizzieren Spechtler, „Literarische Themen und Formen“, und Dopsch, „Zwischen Dichtung und Politik“, S. 49–55. Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“. Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 46–66. In seiner Replik auf die Kritik Rischers („Zum Realitätsstatus literarischer Fiktion“, S. 134, 147, 150 f.) betont Müller, dass die ernste Welt der feudalen Politik im Frauendienst selbstverständlich
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zählten Welt des Frauendienstes hat Sandra Linden im Kontext ihrer Untersuchung von Ulrichs Fiktionalitätskonzept aufgegriffen.48 Sie argumentiert, dass die im Lauf der Erzählung inszenierten Rollenspiele sowie Ulrichs eigene literarische Inszenierung vor dem empirischen Publikum gleichermaßen von einem Fiktionalitätsvertrag bestimmt seien: „Ebenso wie die [werkimmanente] Fiktion nicht ohne Fiktionalitätsvertrag und die Zustimmung des Publikums funktionieren kann, ist auch Ulrichs Inszenierung von einem Spielvertrag mit dem Publikum abhängig, in dem man sich auf eine Nichtreferenzialität von Äußerungen und Handlungen verständigt“; aufgrund der analogen kontraktuellen Basis könnten die innertextlichen Fiktions-Enklaven als Rezeptionsanleitung für das empirische Publikum funktionieren: „Das Spiel ermöglicht dem Autor Ulrich, innerhalb der Fiktion des ‚Frauendiensts‘ zu demonstrieren, was Fiktionalität ist und wie sie funktioniert.“49 Als Gegenargument lässt sich anführen, dass die Unterschiede zwischen den Fiktions-Enklaven im Text und fiktionalem Sprechen als literarischem Kommunikationsmodus gewichtiger sind als die Ähnlichkeiten. Zum einen lässt sich zweifeln, ob die in modernen Fiktionalitätstheorien sehr geläufige Metapher des Vertrags überhaupt passend oder aufschlussreich ist. Die Parteien eines Vertrags gehen verbindliche Verpflichtungen ein; sich der fiktionalen Äußerungsweise zu bedienen bzw. Äußerungen fiktional aufzufassen heißt dagegen, in ein Make-BelieveSpiel einzutreten, in dem man von allerlei normalen kommunikativen Verpflichtungen entbunden ist. Zum anderen versuchen Linden und vor ihr auch Müller, verschiedene Erscheinungsformen von Fiktion – narrative Fiktionalität, Verkleidung und Maskenspiel, Denkkonstruktionen und andere künstliche Axiome, wie sie in sonst nicht-fiktionalen Diskursen allerorts anzutreffen sind – unter einen Begriff zu bringen, indem sie ihnen den gleichen Status der Als-ob-Wahrheit zuschreiben.50 Es ist jedoch fragwürdig, ob es ein einheitliches Fiktionskonzept gibt, das all diese vielfältigen Phänomene der Unwahrheit und Kontrafaktizität
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auch Bestandteil der literarischen Fiktion sei: Müller, „Jahreszeitenrhythmus als Kunstprinzip“, S. 42 f., Anm. 30. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 376–385. Ebd., S. 380. Vgl. Müller, „Spiele“ (Anm. 14), S. 283 f., 288, 290, 297 f.; Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 381 f., mit ausdrücklichem Hinweis auf den philosophischen Urheber dieser Betrachtungsweise, Hans Vaihinger. Die Philosophie des als ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche. Berlin 1911.
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zusammenfassen könnte.51 Was den Frauendienst betrifft, so k a n n man zwar die Auffassung vertreten, dass die narrativ inszenierten FiktionsEnklaven im Werk und die Fiktionalität des Werks jeweils die Geltung einer Als-ob-Wahrheit besitzen. Jedoch würde man damit eine wesentliche Differenz verschleiern, die deutlich zutage tritt, sobald man zwischen Innen- und Außenperspektive unterscheidet.52 Für alle, die an Ulrichs Maskenspielen beteiligt sind, ist er innerhalb der Spielwelt tatsächlich Frau Venus oder König Artus. Sobald man aber die Perspektive wechselt und das Spiel von außen beobachtet, ist dies kategorisch unwahr, denn in Wirklichkeit ist Ulrich von Liechtenstein ein Mann, bzw. der Vasall von Herzog Friedrich. Immer dann in der Erzählung, wenn die Differenz der Perspektiven bewusst wird, löst dies beim Konstatierenden Lachen aus, das Müller zufolge die zeitweilige Aufhebung alltäglich gültiger Determinationen signalisiert.53 Auch der Rezipient einer fiktionalen Erzählung fasst die Äußerungen, solange er sich dem erzählten Inhalt ganz hingibt, gemäß den Normen der fiktionalen Kommunikationspraxis so auf, als ob sie wahr wären. Sobald er aber die Außenperspektive einnimmt, muss er einräumen, dass die Erzählung wohl doch nicht wahr sein müsse. Im Unterschied zum Beobachter des Maskenspiels ist er jedoch nicht in der Lage, den wirklichen Sachverhalt, in Verhältnis zu dem die Fiktion sich kategorisch als Unwahrheit zu erkennen geben würde, genau anzugeben. Daher weiß der Rezipient, dass es grundsätzlich nicht angemessen ist, der fiktionalen Erzählung einen Wahrheitswert zuschreiben zu wollen (obwohl es selbstverständlich möglich ist, wahre oder falsche Angaben über eine fiktionale Erzählung zu machen, z. B. beim Referieren des Inhalts).54 Aus diesem Vergleich geht hervor, dass die im Frauendienst inszenierten Spielwelten vielleicht doch weniger mit Fiktionalität gemeinsam haben als etwa mit der frommen Lüge über die guten Absichten der sich ungnädig zeigenden Dame, die der geselle dem verzweifelten, sich mit Selbstmordgedanken tragenden Ulrich erzählt, um diesen zu trösten 51 52 53
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Lamarque und Olsen (Anm. 41), S. 175–191. Zu dieser Unterscheidung vgl. ebd., S. 143–148. Z. B. als ‚Frau Venus‘ nach begangener Messe einer Gräfin den Friedenskuss geben will, erklärt diese lachend: wie nû? ir sît ein man (538,2); die Zuschauer lachen, als ‚König Artus‘ das Dienstangebot des Landesfürsten Friedrich des Streitbaren annimmt (1461,1). Vgl. Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 38 f., 46–57. Zum Lachen im Frauendienst vgl. auch den Beitrag von Eming im vorliegenden Band, S. 183–185. Vgl. Lamarque und Olsen (Anm. 41), S. 84–89.
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(1275–1304): In jedem Fall haben wir es mit einer U n wa h r h e i t zu tun, die unter gewissen Bedingungen (des Make-Believe-Spiels, der gut gemeinten Täuschung) für wahr gehalten wird. Im Falle der Fiktionalität haben wir es dagegen mit einem wa h r h e i t s i n d i f f e r e n t e n Diskurs zu tun, der unter den besonderen Bedingungen der fiktionalen Kommunikationspraxis so aufgefasst wird, als ob er wahr wäre.55 An diesem Unterschied soll festgehalten werden. E r z ä h l e l e m e n t e a u s d e r Re a l i t ä t . In der Erzählung des Frauendienstes kommen die Namen von über hundert urkundlich bezeugten Persönlichkeiten und zahlreichen realen Orten vor, die gelegentlich im Zusammenhang mit historischen Ereignissen stehen, z. B. dem Tod Herzog Friedrichs des Streitbaren in der Schlacht an der Leitha (1246).56 Dem Prinzip nach tut das Einführen solcher Realitätselemente in eine sonst fiktive Geschichte dem fiktionalen Charakter der Erzählung keinen Abbruch – tatsächlich sind im neuzeitlichen Roman Wirklichkeitsreferenzen wie etwa das Tegeler Gefängnis in Döblins Berlin Alexanderplatz ein regelmäßiges Vorkommnis, das der geübte Leser nicht im Geringsten als störend empfindet. Anders jedoch als in der Alltagssprache besitzen die in fiktionalen Erzählungen vorkommenden Namen realer Personen und Orte keine völlig durchsichtige Referenz. Der Grund dafür ist, dass die Elemente ‚aspektivisch‘, oder philosophisch gesprochen ‚unter einer Beschreibung‘, dargestellt werden. Das bedeutet, dass der epistemologische Zugang des Lesers zu den mit realen Namen bezeichneten Personen, Orten, Gegenständen usw. durch die vom Autor zu ihrer Beschreibung ausgewählten Aspekte bedingt und beschränkt ist, was seinerseits zur Folge hat, dass die Namen keine volle Extensionalität haben.57 Wenn z. B. der Ortsname London in einer fiktionalen Äußerung erscheint, wird zwar genauso wie in einer alltäglichen informationsvermittelnden Äußerung eine der Bedingungen der Extensionalität erfüllt, nämlich dass etwas existiert (die Stadt London), was der sprachlichen Bezeichnung entspricht. Die Äußerungen unterscheiden sich jedoch bezüglich einer zweiten, gleichfalls notwendigen Bedingung: die prinzipielle Ersetzbarkeit des referenziellen Ausdrucks durch jede andere gleichwertige Bezeichnung bei Bewahrung des Wahrheitsgehalts der Aussage. In der 55 56
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Lamarque und Olsen (Anm. 41), S. 57–60. Vgl. hierzu die in Anm. 8 oben angegebene Literatur und den Beitrag von Linden im vorliegenden Band. Das Folgende nach Lamarque und Olsen (Anm. 41), S. 80 f., 124–129.
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alltäglichen Äußerung sind die Sätze „London ist die Hauptstadt Großbritanniens“ und „Die Stadt, in der 2012 die Olympischen Spiele ausgerichtet werden, ist die Hauptstadt Großbritanniens“ zwar dem Sinn nach verschieden, die Referenz und auch der Wahrheitsgehalt bleiben unter Substitution der umschreibenden Bezeichnung trotzdem identisch. Dieselbe Substitution wäre dagegen in den ersten Sätzen des Romans Bleak House von Charles Dickens (1852 / 53) völlig unmöglich: „London. Michaelmas Term lately over, and the Lord Chancellor sitting in Lincoln’s Inn Hall. Implacable November weather.“ Die Erklärung dafür ist, dass es hier nicht um London schlechthin geht, sondern um eine Vergegenwärtigung der Stadt unter bestimmten Aspekten, die bereits in diesen eröffnenden Sätzen eines der Hauptthemen des Romans anklingen lassen: London als Hauptsitz des englischen Gerichtswesens, für dessen Undurchschaubarkeit und zermürbende Wirkung auf die menschliche Seele der November mit seinem Nebelwetter metaphorisch steht.58 Der für die thematischen Dimensionen des Romans empfängliche Leser ist sich dessen bewusst, dass es auf den intensionalen Sinn der London-Beschreibung ankommt, dass er folglich diese Sätze nicht als zu verifizierende bzw. falsifizierende Aussagen über das wirkliche London auffassen darf. Dies bedeutet freilich nicht, dass er sein reales Wissen über London bei der Lektüre des Romans überhaupt nicht einbeziehen darf – vielmehr muss er gerade das tun, um Leerstellen der Beschreibung imaginativ auszufüllen. Dabei darf er jedoch nur r e l e va n t e s, d. h. zur Ergänzung der Textvorgaben erforderliches Wissen anwenden.59 D a s S u b j e k t d e r Au t o b i o g r a p h i e u n d s e i n e Wa h r h e i t s b e t e u e r u n g e n . Konkret auf den Fall des Frauendienstes bezogen, haben sowohl die aspektivische Darstellung realer Elemente in fiktionalen Texten als auch die ‚gekappte‘ oder beschränkte Referenz ihrer Namen
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Dickens fährt in den unmittelbar folgenden Absätzen fort: „Fog everywhere. Fog up the river, where it flows among green aits and meadows; fog down the river, where it rolls defiled among tiers of shipping, and the waterside pollutions of a great (and dirty) city. Fog on the Essex marshes, fog on the Kentish heights. […] And hard by the Temple Bar, in Lincoln’s Inn Hall, at the very heart of the fog, sits the Lord High Chancellor in his High Court of Chancery“. Bei Entscheidungen, ob eine gewisse Applikation des ‚Weltwissens‘ angebracht ist, spielt eine Vielfalt von Faktoren eine Rolle: Gattungskonventionen, historische Kenntnisse, logische Wahrscheinlichkeit usw. Vgl. hierzu Lamarque und Olsen (Anm. 41), S. 89–95, 124–126.
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Folgen für die Auffassung des autobiographisch erzählenden Subjekts durch das Publikum. Das Ich, das im Frauendienst über sich selbst und seine Lebensereignisse berichtet und das sich erst stufenweise als Ulrich von Liechtenstein zu erkennen gibt,60 wird unter Auslassung zahlreicher Aspekte, die für die historische Person Ulrich wesentlich sind, fast ausschließlich in der Rolle des höfischen Minneritters und -sängers dargestellt.61 Aufgrund dieser betont aspektivischen Präsentation besitzt der Name Ulrich im Frauendienst keine vollständige Extensionalität, so dass es nicht selbstverständlich ist, dass die Äußerungen und Eigenschaften der Ulrich-Figur etwa auch den steirischen Politiker, Marschall und Landrichter Ulrich von Liechtenstein betreffen.62 Das bleibt seinerseits nicht ohne Folgen für die Bewertung der Wahrheitsbeteuerungen im Frauendienst. In der neueren Forschung sind die wiederholten Erklärungen des Erzählers, er berichte nur die Wahrheit, sehr unterschiedlich beurteilt worden. Harald Haferland will zumindest die Möglichkeit offen lassen, Ulrichs Wahrheitsbeteuerungen beim Wort zu nehmen.63 Sandra Linden fasst sie dagegen entweder als überflüssig oder als ironisch gemeint auf: Die Zeitgenossen und Bekannten des Autors könnten die Wahrheit des Berichteten ohnehin aus eigener Erfahrung bestätigen bzw. würden beim Ausbleiben einer solchen Bestätigung (z. B. bei der erdichteten Geschichte der Gefangenschaft) die Wahrheitsbeteuerungen als augenzwinkerndes Fiktionalitätssignal interpretieren.64 Linden geht von der Situation und dem Vorwissen eines ursprünglichen, sehr autornahen Publikums aus. Aber selbst Rezipienten, die diesem Kreis nicht angehören, müssen die Wahrheitsbeteuerungen nicht unbedingt beim Wort nehmen, denn es darf nicht vergessen werden, dass es sich dabei
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Der immer noch namenlose Erzähler weist auf seine Herkunft in Str. 36,4 f. hin: dô reit ich gegen Liehtenstein / hin heim sâ in das Stîrelant. Der Eigenname Ulrich (in Verbindung mit dem Namen des Geschlechts) fällt erst in Str. 44,5/8, als die Minnedame den soeben zum Ritter geschlagenen Protagonisten anerkennend erwähnt: her Uolrîch […] ich meine den von Liehtenstein. Vgl. zur Problematik des Autornamens in Bezug auf den Frauendienst auch den Beitrag von Ackermann im vorliegenden Band, S. 328–333. Vgl. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 364–370. Vgl. Knapp, Geschichte der Literatur in Österreich 1, S. 487, der anmerkt, dass bei der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Frauendienst der Name Ulrich von Liechtenstein „von rechts wegen zur Bezeichnung der Fiktionalität dieser Person stets in Anführungszeichen stehen sollte“. Haferland, Hohe Minne, S. 248 f. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 374 f.
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um Äußerungen des E r z ä h l e r s, also der aspektivischen Ulrich-Figur handelt, die dadurch als besonders wahrheitsliebend charakterisiert werden soll. D a s P r o b l e m d e r l e b e n s we l t l i ch e n A p p l i k a t i o n d e r D i ch t u n g. Ulrich und seiner Lebensbeschreibung ist oft ein moralisches, didaktisches oder politisches Programm unterstellt worden, das je nach Interpretation in der Wiederherstellung höfischer Idealität zu einer Zeit des Verfalls65 oder noch konkreter in der Erneuerung adeligen Standesgefühls und Führungsanspruchs bestehen soll.66 Hier interessiert nicht die Frage nach der Plausibilität dieser und ähnlicher Interpretationen des Frauendienstes;67 vielmehr kommt es auf die Demonstration der prinzipiellen Vereinbarkeit von lebensweltlicher Relevanz und fiktionalem Sprechen an. Denn eine Äußerung wird nicht in dem Maße weniger fiktional, in dem sie sich lebenspraktisch auslegen und anwenden lässt. Hier sei angemerkt, dass die lebensweltliche Relevanz von Dichtung weniger mit Referenz zu tun hat als mit der Wahrnehmung von Ähnlichkeiten und Analogien zwischen der dargestellten Welt einerseits und der Wirklichkeit andererseits. Die von der Ulrich-Figur beklagten Zustände in Österreich und der Steiermark in den Jahren nach dem Tod Friedrichs des Streitbaren sind durch eine Reihe von deskriptiven Merkmalen gekennzeichnet, die der Rezipient vielleicht auch in der von ihm erlebten Wirklichkeit zu entdecken meint: Verlust von kollektiver vreude und werdecheit, Vernachlässigung von vrowen dienest, Vermehrung von trûren, laster, roup (1738–1753). Die Wahrnehmung der Gemeinsamkeiten zwischen Sprecher- und Rezipientensituation sichert die Relevanz der in der Dichtung vorgetragenen moralischen Betrachtungen für das Publikum und legitimiert somit die didaktische Lesart, die vom Autor wohl auch intendiert sein kann. Jedoch ist diese Lesart niemals zwingend, denn es bleibt dem Rezipienten jederzeit möglich, die didaktische Einstellung als Pose der aspektivisch präsentierten Ulrich-Figur aufzufassen, die sich vor der
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Vgl. z. B. Utz, Das Moralsystem bei Ulrich von Lichtenstein; Neumann, „Dichtung und Leben“; Dittrich, „Die Ideologie des guoten wîbes“; Goheen, „Maere und liet “; McFarland, „The Autobiographical Narrative Form“; Ranawake, „Zur Minnedidaxe“. Vgl. z. B. Thum, Höfische Ethik und soziale Wirklichkeit; Schmidt, „Späthöfische Gesellschaftsstruktur“. Zu den Thesen Thums vgl. die kritischen Bemerkungen von Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein, S. 87–89.
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Kulisse des Zeitgeschehens etwa als Minneexperte und Gesellschaftskritiker in der Nachfolge Walthers von der Vogelweide profilieren will.68 Die didaktische Lesart des Frauendienstes bleibt ein – allerdings sehr ernst zu nehmendes – Re l e va n z a n g e b o t , das sich neben anderen, gleich kohärenten Interpretationsmöglichkeiten behaupten muss.69 Diese Modalisierung von Geltungsansprüchen ist entscheidend:70 Fiktionale Werke können zwar viele wirklichkeitsrelevante Botschaften und Applikationen enthalten, von denen aber keine für den Rezipienten zwingend oder notwendig ist.71
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Zum Verhältnis Ulrichs zu Walther von der Vogelweide vgl. besonders Ranawake, „Zur Minnedidaxe“. Vgl. etwa Frey, „Zum Funktionswandel der Minnelyrik“, dem zufolge das Singen der Ulrich-Figur vor allem Trostfunktion hat, sowie die Behauptung Müllers, die Darstellung der gesellschaftlichen Missstände sei „nurmehr Folie für die selbstgenügsame freude des Minnesangs“, dessen Charakter als „utopische Kunstwelt“ im zweiten Teil des Frauendiensts immer stärker herausgestellt werde: Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 68, 73. Zur prinzipiellen Kontingenz von Lesarten vgl. außerdem (am neuzeitlichen Beispiel von Gullivers Reisen) Lamarque und Olsen (Anm. 41), S. 128 f. Vgl. zu dieser Modalisierung Chinca (Anm. 43); zuletzt auch Hans Ulrich Gumbrecht. „Silly Suspension of what? ‚Medieval Fiction‘ and the Catalogue of Arthurian Knights in Chrétien’s Erec et Enide.“ In: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Hrsg. von Ursula Peters und Rainer Warning. München 2009, S. 235–242. Zum Thema Fiktionalität vgl. im vorliegenden Band auch die Beiträge von Linden, S. 90–92, und Bleumer, passim.
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6. Autorschaft Die Kunst der Entschleierung: Autorinszenierungen im Frauendienst von C HRISTIANE A CKERMANN Der vorliegende Beitrag stellt zunächst einleitend (1.) die literaturwissenschaftliche Autorschaftsdebatte in ihrer Relevanz für die Mediävistik und deren Sensibilisierung für die besondere Problematik mittelalterlicher Autorschaft vor, von deren Komplexität der Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein und seine Einschätzung in der Literaturgeschichte und Forschung exemplarisch zeugt. Diese haben Facetten eines Autorbildes geprägt, das nicht zuletzt gewissen Strukturen des Frauendienstes geschuldet ist, die unter 2. genauer untersucht werden. Die Analyse geht aus von der Stilisierung des Ich im Epilog (2.1), da hier ein für das Werk spezifisches Verfahren zur Vergegenwärtigung des Ich als Dichters und Autors paradigmatisch zur Anschauung kommt. Dies ist im Zusammenhang mit dem im Prolog formulierten dichterischen Anspruch zu sehen (2.2). Charakteristisch für den Frauendienst ist eine spezifische Technik der ‚Entschleierung‘, welche Realitäten zu offenbaren scheint und dabei das Bild des Autors heraufbeschwört. Gerade die eingelagerten Botschaften wie das erste Büchlein (2.3) lassen diese Technik erkennen, die ihren anschaulichsten Ausdruck in der Venusfahrt findet (2.4).
1. Die Lust am Autor Die Frage ist klar: Brauchen wir die Biographie des Autors zum Verständnis seines Werkes oder nicht? Boris Tomaˇsevskij1
Die langjährige Debatte um den Autor und seine Relevanz für die Interpretation literarischer Texte ist bekannt. Sie entflammte zu einer breiten 1
Boris Tomaˇsevskij. „Literatur und Biographie.“ In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hrsg. und kommentiert von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko. Stuttgart 2000 (RUB 18058), S. 49–61, hier S. 50.
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Diskussion im 20. Jahrhundert, wesentlich angestoßen durch Roland Barthes’ kritischen Essay La mort de l’auteur (1968) und Michel Foucaults Qu’est-ce qu’un auteur? (1969) sowie nicht zuletzt auch im Rekurs auf weitere einschlägige Texte wie Wolfgang Kaysers Wer erzählt den Roman? (1957), Wayne C. Booths The Rhetoric of Fiction (1961) und erweitert um die Debatte zur Intertextualität, zuvorderst Julia Kristevas Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman (1967) und Gérard Genettes Palimpsestes (1982) und Seuils (1987).2 Im Zuge der fächerübergreifenden Auseinandersetzung stellte sich auch die Frage, wie es um Autorschaft und das Autorbewusstsein im Mittelalter bestellt sei.3 Bernard Cerquiglini formulierte die These, der Autor sei keine idée médiévale,4 und beschreibt die potentielle 2
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Roland Barthes. „La mort de l’auteur.“ In: ders., Œuvres complètes. Hrsg. von Éric Marty. Paris 1994, Bd. 2.: 1966–1973, S. 491–495; Michel Foucault. „Qu’est-ce qu’un auteur?“ In: ders., Dits et écrits 1954–1988. Hrsg. von Daniel Defert und François Ewald. Paris 1994, Bd. 1: 1954–1969, S. 789–821; Wolfgang Kayser. „Wer erzählt den Roman?“ In: ders., Die Vortragsreise. Studien zur Literatur. Bern 1958, S. 82–101; Wayne C. Booth. The Rhetoric of Fiction. Chicago 1961; Julia Kristeva. „Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman.“ Critique 23, 1967, S. 438–465; Gérard Genette. Palimpsestes. La littérature au second degré. Paris 1982; ders., Seuils. Paris 1987. – Grundlegend für die Literaturwissenschaft in Deutschland sind in dieser Hinsicht Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko (Hrsg.). Die Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 71) sowie dies., Texte zur Theorie der Autorschaft (Anm. 1). Zur mediävistischen Diskussion vgl. exemplarisch (mit jeweils weiteren Literaturhinweisen): Alastair J. Minnis. Medieval Theory of Authorship. Scholastic Literary Attitudes in the Later Middle Ages. London 1984; Autorentypen. Hrsg. von Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 6); Jan-Dirk Müller. „Auctor – Actor – Author. Einige Anmerkungen zum Verständnis vom Autor in lateinischen Schriften des frühen und hohen Mittelalters.“ In: Der Autor im Dialog. Beiträge zu Autorität und Autorschaft. Hrsg. von Felix Philipp Ingold und Werner Wunderlich. St. Gallen 1995, S. 17–31; Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995. Hrsg. von Elizabeth Andersen, Jens Haustein, Anne Simon und Peter Strohschneider. Tübingen 1998; Albrecht Hausmann. Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität. Tübingen, Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 40); Sebastian Coxon. The Presentation of Authorship in Medieval German Narrative Literature 1220–1290. Oxford 2001; Christel Meier. „Autorschaft im 12. Jahrhundert. Persönliche Identität und Rollenkonstrukt.“ In: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft. Hrsg. von Peter von Moos. Köln 2004 (Norm und Struktur 23), S. 207–266; Ursula Peters. Das Ich im Bild. Die Figur des Autors in volkssprachigen Bilderhandschriften des 13. bis 16. Jahrhunderts. Köln 2008; Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper, S. 94–98. Vgl. Bernard Cerquiglini. Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie. Paris 1989, S. 25: „L’auteur n’est pas une idée médiévale. Nous y reviendrons, et, même
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Variabilität mittelalterlicher Literatur als ihr Charakteristikum. Abweichungen zwischen verschiedenen Handschriften, beruhend auf Schreibfehlern, Auslassungen, dialektalen Eigenheiten oder auch Neukonzeptionen, führten zu z. T. großen Variationsbreiten einzelner Texte. Dies sei Teil der spezifischen Materialität mittelalterlicher Literatur, was in den berühmten Worten „l’écriture médiévale ne produit pas des variantes, elle est variance“5 zum Begriff wurde. Die Thesen Cerquiglinis haben ebenso begeisterte Verfechter wie auch vehemente Kritiker gefunden und eine differenzierte Diskussion über mittelalterliche Textualität angeregt. Klaus Grubmüller etwa zweifelt an der Diagnose von variance als Zeitgeist. Angesichts der Tatsache, dass mittelalterliche Autoren die Autorschaft an ihrer Dichtung beanspruchten und sich gegen deren Veränderung durch Dritte sperrten, müsse „z. B. danach gefragt werden, wie sich variance als Kategorie der Textverbreitung zu variance als Kategorie der Textproduktion und damit auch des Autorbewusstseins“6 verhalte. Für die deutschsprachige Literatur resümiert Grubmüller: Es gibt eine nicht geringe Zahl von Autoren, denen die Behandlung ihrer Werke im Zuge von deren Weitergabe und Verbreitung nicht gleichgültig ist. Sie widmen ihr ihre Aufmerksamkeit, geben Anweisungen zum richtigen Überliefern und warnen vor dem falschen. Das bestätigt zunächst – selbstverständlich – die grundsätzliche Verfügbarkeit von Texten in einer Manuskriptkultur und ihre Ablösung vom Autor. Aber: Veränderung und Veränderlichkeit werden – unter jeweils zu beschreibenden Bedingungen – nicht als selbstverständlich hingenommen.7
Mittelalterliche Autoren übernähmen Verantwortung für ihre Texte und forderten deren Bewahrung: „In diesem (nicht in einem genieästhetischen Sinne) gibt es auch im Mittelalter ‚emphatische Autorschaft‘“.8
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si l’on peut faire apparaître, dès le XIVe siècle, la figure et la pratique d’un écrivain, un anachronisme que l’on dirait fonctionnel s’attache à l’expression ‚auteur médiéval‘.“ Vgl. zum Folgenden auch ebd., S. 111 f. Ebd., S. 111. Klaus Grubmüller. „Verändern und Bewahren. Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter.“ In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450. Hrsg. von Ursula Peters. Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische-Symposien-Berichtsbände 23), S. 8–33, hier S. 9. Ebd., S. 31. Ebd., S. 32. Vgl. auch die kritische Bewertung Coxons (Anm. 3), S. 4, zu Cerquiglini, für den der Begriff des Autors vollkommen von technologischen und juristischen Entwicklungen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert abhänge und der im Rekurs auf Foucault dessen implizite Akzeptanz früherer Konzeptionen von Au-
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Joachim Bumke bewertet Äußerungen deutscher Autoren des 13. Jahrhunderts, die sich gegen Veränderungen ihrer Texte wehrten, als Ausnahme.9 Aber gerade der Blick auf solche sei lohnend, erklärt demgegenüber Bruno Quast, denn diese Fälle verschafften Klarheit über den Regelfall und seien letztlich so selten nicht. Es zeige sich, „dass Textproduzenten angesichts situationeller Varianz, die sowohl die primäre Materialisierung des Textes durch den Schreiber als auch Formen körperund schriftgebundener Vermittlung umfasst, die Integrität ihres Textes bis auf den Buchstaben gewahrt wissen wollen“. Allerdings schlössen „mittelalterliche Vorstellungen von Buchstäblichkeit zumindest in bestimmten Gattungen gewisse Lizenzen nicht aus[ ]. In solchen Fällen kann immer nur von einer relativen Textfestigkeit die Rede sein“.10 Quast diskutiert die Bemühungen der Forschung um eine „historisch angemessene[ ] Differenzierung mittelalterlicher Textualität“11 und stellt fest, dass sie unter einer Dichotomisierung leide, die dem festen den offenen Text gegenüberstelle. Eine solche Abgrenzung greife zu kurz; zu bedenken sei, „dass Textmouvance als Funktion einer textlichen Idealgestalt auftreten kann. In solchen Fällen müssen Textdynamik und Textstatik, écriture und écrit, dialektisch vermittelt gedacht werden“.12 – Eine derartige Verzahnung greift im Frauendienst durchaus, gleichwohl in einer für den Text eigenen Weise, als Teil der Autorinszenierung im Epilog, wie noch zu zeigen sein wird. Die Forschungsdebatte macht deutlich, dass ein differenziertes Verständnis von Autorschaft notwendig ist. Dazu gehört, dass ein AutorBewusstsein oder die Autorintention nur ein, ggf. auch ein zu vernachlässigendes, Kriterium darstellt und dass nach Autorrollen, -konzepten
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torschaft übersehe. Coxon selbst untersucht das Bewusstsein von Autorschaft in Texten des 13. Jahrhunderts (1220–1290) und beschreibt verschiedene Formen, in denen volkssprachige Dichter ihre Autorschaft im literarischen Werk thematisieren. Sie bezeugten nicht nur ein Verständnis für die literarische Tradition, sondern für ihre eigene Position darin (S. 33). Vgl. Joachim Bumke. Die vier Fassungen der ‚Nibelungenklage‘. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Berlin, New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 8), S. 19. Bruno Quast. „Der feste Text. Beobachtungen zur Beweglichkeit des Textes aus Sicht der Produzenten.“ In: Peters (Anm. 6), S. 34–46, hier S. 36 f. Zur Diskussion des ‚unfesten Textes‘ vgl. auch Der unfeste Text. Perspektiven auf einen literatur- und kulturwissenschaftlichen Leitbegriff. Hrsg. von Barbara Sabel und André Bucher. Würzburg 2001, und die im Band enthaltenen mediävistischen Beiträge. Quast (Anm. 10), S. 42. Ebd., S. 45.
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und -funktionen in einem Werk sowie in den mit ihm verbundenen Diskurstypen gefragt werden muss. Autor und Autorschaft entstehen mit und in einem Werk, aber auch mit seinen Paratexten. So ist für den Autor der sich mit ihm verbindende Name konstitutiv, der als Signifikant Vorstellungen vom Autor (seinem Leben, das auf das Werk zurückwirkt) generiert und modelliert.13 Die Bedeutung des Autors ist historisch höchst unterschiedlich, wie schon Boris Tomaˇsevskij (1923) und später Michel Foucault (1969) deutlich machten.14 Tomaˇsevskij erklärt, dass die Person des Autors erst ab dem 18. Jahrhundert von zentralem Interesse werde. Mit der Selbstinszenierung von Schriftstellern wie Voltaire und JeanJacques Rousseau, die auch Figuren des öffentlichen Lebens waren, werde das Leben des Künstlers zur Folie, vor der die Werke begriffen werden sollten. Tomaˇsevskij nimmt damit zugleich eine Historisierung der Literaturgeschichte und ihres Interesses am Autor vor: Diese Notwendigkeit realer Kommentare wurde vom Stil der Epoche diktiert. Der Leser brauchte eine vollkommene Illusion, eine Lebensillusion. […] Der Leser verlangt, dass man ihm einen lebendigen Helden zeigt. […] Der Autor wird zum Zeugen und lebendigen Teilnehmer seiner Romane, zum lebendigen Helden. Es vollzieht sich eine doppelte Umwandlung: Die Helden werden für lebendige Per-
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Genette beschreibt den Autornamen als Peritext. In Paratexte zeigt er ein grobes Spektrum der Erscheinungsweisen des Autornamens auf: „Der Autorenname kann später, ja sogar niemals aufscheinen, und diese Varianten hängen natürlich mit der Vielfalt der auktorialen Benennungen zusammen. Der Autorenname kann nämlich drei Grundvoraussetzungen erfüllen, einige gemischte oder Zwischenstufen nicht mitgerechnet. Entweder ‚signiert‘ […] der Autor mit seinem amtlich verbürgten Namen […]; oder er signiert mit einem falschen, entlehnten oder erfundenen Namen: das ist Pseudonymität; oder er signiert nicht: Anonymität. Es ist recht verlockend, für die erste Situation nach dem Modell der zwei anderen den Begriff Onymität zu bilden: Wie immer bleibt gerade der banalste Zustand unbenannt, und das Bedürfnis nach Benennung entspricht dem Wunsch, ihn aus dieser trügerischen Banalität herauszuführen.“ Gérard Genette. Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buchs. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich, aus dem Franz. von Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 2001 (stw 1510), S. 43. Der Frauendienst, seine Inszenierungen des Autornamens und dessen Relation zum Ich im Text sowie die Forschungsgeschichte verdeutlichen, dass Onymität im Falle dieses Werks alles andere als banal ist. Foucaults Ausführungen zum Thema dürfen als bekannt vorausgesetzt werden, vgl. ders. (Anm. 2), dt.: „Was ist ein Autor?“ In: Schriften zur Literatur. Hrsg. von Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a. M. 2003 [stw 1675], S. 234–270, hier bes. S. 250. Sie wurden inzwischen vielfach für das Verständnis mittelalterlicher Autorschaft fruchtbar gemacht, vgl. exemplarisch die Untersuchung von Coxon (Anm. 3).
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sonen gehalten, und die Dichter werden zu lebendigen Helden, ihre Biographien verwandeln sich in Gedichte. […] So entstanden die Legenden über die Dichter. Für den Literaturhistoriker ist es überaus wichtig, sich mit der Restaurierung dieser Legenden zu beschäftigen, sie von späteren Überlagerungen zu befreien und sie in einen sauberen ‚kanonischen‘ Zustand zu bringen. Denn diese biographischen Legenden stellten die literarische Konzeption des Lebens des Dichters dar, eine Konzeption, die notwendig ist als wahrnehmbarer Hintergrund des literarischen Werks, als die Voraussetzung, die der Autor selbst einkalkulierte, als er seine Werke schuf. […] Am Ende des [19.] Jahrhunderts kam das Interesse am Autor wieder auf, und dieses Interesse wächst bis in unsere Tage.15
Die seit dem 18. Jahrhundert veränderte Relevanz des Autors und Autornamens lässt sich an der Einschätzung des Frauendienstes in der Literaturgeschichtsschreibung und Frauendienst-Forschung16 ablesen. Nachfolgend seien daher einige zentrale, aber auch weniger bekannte literaturgeschichtliche Einschätzungen sowie Stationen der Forschung genannt, um die sinnstiftende Dimension von Autor und Autornamen vor Augen zu führen: Vermutete die Literaturgeschichte zunächst nur vorsichtig, dass der Frauendienst von Ulrich von Liechtenstein selbst stammen könnte,17 wird dies spätestens mit Ludwig Tiecks Ausgabe des von ihm in neuhochdeutsche Prosa übertragenen Textes (1812) zum Faktum. Der Titel Frauendienst, oder: Geschichte und Liebe des Ritters und Sängers Ulrich von Lichtenstein, von ihm selbst geschrieben ‚notiert‘ Ulrich von Liechtenstein 15 16
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Tomaˇsevskij (Anm. 1), S. 53–58. Die Forschung ist gut aufgearbeitet: vgl. Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein, S. 74–89; Glier, „Diener zweier Herrinnen“, S. 297–300; Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 13–21; Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper, S. 207–216, sowie vor allem den Beitrag von Young im vorliegenden Band. So findet sich bei Erduin Julius Koch lediglich der vorsichtige Hinweis, dass der Frauendienst biographische (nicht autobiographische) Informationen enthalten könnte. Koch verzeichnet das Werk im ersten Band seiner deutschen Literaturgeschichte (1795) unter insgesamt zwölf „anonymischen Epopöen“ (Nummer 33e) und beschreibt es knapp als ein „Heldengedicht auf den Ritter Ulrich von Lichtenstein, handschriftlich in München auf der Churfürstlichen Bibliothek“. Erduin Julius Koch. Grundriss einer Geschichte der Sprache und Literatur der Deutschen von den ältesten Zeiten bis auf Lessings Tod. Bd. 1. 2., umgearbeitete und sehr vermehrte Ausgabe. Berlin 1795, S. 104 f. Als Autor nennt Koch Ulrich von Liechtenstein dann in seinem zweiten Band (1798) in Verbindung mit den Minneliedern. Koch erklärt Ulrichs Herkunft „von der Steyermärkischen freyherrlichen Familie dieses Namens“ und räumt ein: „Wenn unser Dichter der Held des Bd. I, S. 105. e, erwähnten Heldengedichts ist; so kann man in diesem mehr Auskunft über seine näheren Lebensumstände finden“ (S. 58). Koch deutet an, dass der Frauendienst möglicherweise biographisches Material liefert, lässt letztlich jedoch die Autorschaft des Werkes offen.
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als Autor der eigenen Lebensgeschichte. Tieck, dessen Ausgabe den Frauendienst vielen in seiner Zeit erst bekannt machte und wesentlich die Rezeption des Werks durch die Romantiker beeinflusste,18 holt mit seiner Titelgebung den Frauendienst aus der Anonymität heraus und sichert dem Onym19 ‚Ulrich von Liechtenstein‘ einen festen Platz in den Literaturgeschichten. Die Formulierung „von ihm selbst geschrieben“ hat sinnstiftende Dimension, und der angeführte Name wird zum Signifikanten für ‚den Autor des ersten Ich-Romans in deutscher Sprache‘.20 Die gestiftete Korrelation von Name und Text wirkt wie ein Motor der Signifikanz. Dies betrifft nicht nur Autor und Werk, sondern auch die Wahrnehmung von Geschichte, wenn der Inhalt des Frauendienstes auf die historische Wirklichkeit zurückgelesen wird. Dämpfte auch Karl Lachmanns (1841) Einschätzung des Frauendienstes als eines „werke[s] des zweiten oder dritten ranges“21 das germanistische Interesse an dem Roman frühzeitig wieder, erfahren doch die Relation von historischer Person und dem Autor des Frauendienstes und die daraus erwachsenden Bedeutungszusammenhänge nichtsdestoweniger eine Fortschreibung. Besonders deutlich wird dies im Blick auf Falkes einflussreiche Geschichte des fürstlichen Hauses Liechtenstein (1868). Die historisch angelegte Studie stützt ihre Angaben in weiten Teilen auf den Frauendienst – ein durchaus übliches Verfahren der frühen Ulrich-Forschung, wobei die Fiktion zur Rekonstruktion geschichtlicher Ereignisse konsultiert wird. Das so Festgehaltene dient dann wieder zur Erläuterung der Fiktion, so dass sich sukzessive ein Geschichtsbild ergibt, das, im wahrsten Sinne des Wortes, auf der ‚Wahrheit der Fiktion‘ aufgebaut ist.22 Lange Zeit las die Frauendienst-Forschung bekanntermaßen das Werk als unmittelbares Lebens-
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Zur Frauendienst-Rezeption der Romantiker vgl. den Beitrag von Young im vorliegenden Band, S. 10–15. Vgl. Anm. 13. Vgl. Spechtler, zuletzt in Ich – Ulrich von Liechtenstein, S. 15. Kiening, „Der Autor als ‚Leibeigener‘“, S. 215, setzt sich kritisch mit der Bezeichnung der ‚ersten Ich-Erzählung in deutscher Sprache‘ auseinander. Vgl. zur Problematik der Bezeichnung auch den Beitrag von Bleumer im vorliegenden Band, S. 359–361. Ulrich von Lichtenstein, Ed. Lachmann, S. 681. Lachmann erklärt den Widerwillen zu einer Frauendienst-Edition auf Seiten der „näheren landsleute Ulrichs“ aus einer Ablehnung des Erzählten, der „durchaus läppischen gedanken“ (ebd., S. 680); vgl. zu Lachmanns Ausführungen Young im vorliegenden Band, S. 28 f. Vgl. zu Falke und dem dargelegten Phänomen den Beitrag von Linden im vorliegenden Band, S. 47 f., sowie Anm. 9, wo als Beispiel eines Zirkelschlusses das Kärntner Urkundenbuch genannt wird.
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zeugnis.23 Gleiches gilt für die Literaturgeschichten, etwa jener August Vilmars, der noch in der 15. Auflage seiner Deutschen National-Literatur aus dem Jahr 1873 (erste Auflage 1845) den Frauendienst im Kontext der Entwicklung der Minneauffassung charakterisiert24 und Ulrich als Dich23
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Die Lesart liegt im autobiographischen Gestus des Textes und seinen historischen Referenzen begründet, vgl. dazu den Beitrag von Linden im vorliegenden Band, S. 45–49. Nach Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 7, lässt sich „ein detailliertes Raum-Zeit-Gerüst für die Jahre 1227 bis 1274“ ableiten, „das automatisch dazu verführt, die Angaben des ‚Frauendienst‘ mit diesem Gerüst zu vergleichen und, falls sich keine Widersprüche ergeben, als historische Wahrheit anzunehmen“. Es sind jedoch nur zwei Ereignisse, von denen der Frauendienst berichtet, urkundlich nachzuweisen: die Hochzeit der Tochter Herzog Leopolds VI. und der Tod Herzog Friedrichs II. Über Ulrichs dichterische Tätigkeit schweigen die historischen Quellen, umgekehrt fließt im Frauendienst das politische Leben der historischen Person nur andeutungsweise ein. Das erzählende Ich wird Ulrich genannt, der Bericht seines Lebens enthält Verweise auf die familiären Verbindungen der Liechtensteiner (Dietmar IV. von Offenburg, Dietmar von Steyr, vgl. Str. 196). Derlei Referenzen machten der Forschung die Identität von Protagonisten, IchErzähler und empirischem Autor wahrscheinlich. Man spricht heute jedoch vorsichtiger von einer losen Referenz zwischen den Ich-Figurationen im Text und dem historischen Ulrich: „Der Autor Ulrich verfasst die Autobiographie eines vorbildlichen Minnedieners, der er möglicherweise in einer Phase seines Lebens, aber auf jeden Fall nicht vorwiegend war. Zwischen dem Ich des Textes und dem realen Ich Ulrichs von Lichtenstein ist eine Verweisbeziehung, aber keine Kongruenz beabsichtigt“ (ebd., S. 12). Frühere Literaturgeschichten würdigen den Frauendienst als Zeugnis mittelalterlicher Lebenswelt. So versteht ihn Johann Gustav Gottlieb Büsching (1823) als wertvolle Informationsquelle für das ‚Ritterleben‘, vgl.: ders., Ritterzeit und Ritterwesen. Vorlesungen, gehalten und herausgegeben von Büsching. 2. Bde. Leipzig 1823, Bd. 2, S. 88). Johannes Scherr (1854) erklärt in seiner Geschichte der deutschen Literatur die Bedeutung des Frauendienstes aus dem Kenntnisgewinn über die „Sittengeschichte des 13. Jahrhunderts“. Das Werk zeige „deutsches Leben und deutsche Dichtung, wie sie beim Erbleichen der hohenstaufischen Glanzperiode waren“ (ders., Geschichte der deutschen Literatur. Mit 50 Portraits der ausgezeichnetsten Dichter und Gelehrten deutscher Nation. 2., durchges. u. verb. Ausg. Leipzig 1854, S. 22). Auch Friedrich Heinrich von der Hagen (1838) hebt im Kommentar seiner MinnesangAusgabe, welche die Lieder des Frauendienstes versammelt, diesen als Informationsquelle hervor. Er sieht die reiche urkundliche Bezeugung Ulrichs als Beleg für den Rang des Dichters. Wilhelm Wackernagel gilt der Frauendienst als Ulrichs „Erzæhlung seines eigenen Lebens“: „bei der aufrichtigen Ausführlichkeit, womit er all seine Liebesthorheiten und die Abenteuer seines den Tafelrundern nachstrebenden Ritterthums […] berichtet, eine der ergiebigsten Quellen für die innere Geschichte jener Zeit“ (ders., Geschichte der deutschen Litteratur bis zum dreissigjæhrigen Kriege. Ein Handbuch. Basel 1872, S. 15). Weitere und ausführlichere Beispiele versammelt Young in seinem Beitrag.
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ter, aber auch als Person abwertet, dessen „Leben und Dichtung“ er als „eine Kehrseite des Minnegesanges“25 betrachtet. Nach einer Inhaltswiedergabe des Frauendienstes resümiert er: Und all diesen Spuk erzählt uns ein Mann von sechs und funfzig Jahren, mit all der naiven Freude und dem naiven Leid das vor funfzehn, zwanzig, dreißig Jahren Erlebte schildernd, als hätte er es e b e n erst erlebt. Ob Ulrich klug geworden ist, steht darum sehr zu bezweifeln; Zeit genug hatte er dazu; denn er erreichte ein Alter von 75 oder 76 Jahren. Jedenfalls sehen wir aus diesen Ereignissen, die allerdings in solcher Extravaganz nur für vereinzelte gelten müßen, doch g a n z allein gewis nicht gestanden haben, welchen zerstörenden Einfluß die britischen Phantasieen, insbesondere G o t t f r i e d s Tr i s t a n auf die Wirklichkeit zu äußern vermochten; wir begreifen, wie es möglich wurde, daß das Wort M i n n e schon im 14. Jahrhundert vorzugsweise ein u n s i t t l i ch e s Verhältnis bezeichnete, und daß es im 15. Jahrhundert nur in der allerübelsten Bedeutung gebraucht wurde, so daß man es zuletzt gar nicht mehr über die Lippen bringen durfte, und der Gebrauch desselben völlig erlosch. Drei Jahrhunderte, die inzwischen verfloßen sind, haben die unverdiente Schmach, die welscher Unrat ihm aufgeladen, von ihm abgewaschen, und es erstand wieder in der ursprünglichen Reinheit seines Sinnes, in der alten Würde, das innerste und wahrste Leben des d e u t s ch e n liebenden Gemütes auszusprechen.26
Dient der Autorname Ulrich von Liechtenstein hier als extravagantes Beispiel für den Verfall des Minne-Begriffs, erfährt er eine neue Aufwertung in Folge der Urkundenerschließung Schönbachs („Zu Ulrich von Liechtenstein“, 1882) sowie der Neuedition des Frauendienstes durch Bechstein (1888).27 Man wendet sich Ulrich, als Autor, aber auch als Politiker, verstärkt zu. Zunächst hielten die Frauendienst-Forscher an der Autobiographiethese fest, wobei man nun eine Verschränkung von Realität und Fiktion annahm.28 Noch das 20. Jahrhundert ist von der biographischen Lesart des 19. beeinflusst, und es begreift den Frauendienst als 25
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August Friedrich Christian Vilmar. Geschichte der deutschen National-Literatur. 15., vermehrte Auflage. Marburg, Leipzig 1873, S. 229. Zu Vilmars Sicht auf den Frauendienst vgl. auch den Beitrag von Young im vorliegenden Band, S. 31–34. Ebd., S. 232. Zur historischen Erschließung Ulrichs vgl. den Beitrag von Linden im vorliegenden Band, S. 47–49. Schönbach verglich Aussagen über historische Persönlichkeiten im Frauendienst mit jenen der Urkunden und konstatierte zwei zu unterscheidende Ebenen, nämlich die Angaben über (bezeugbare) Orte, Personen, Ereignisse (Turniere) zum einen sowie die teils erfundene Minnegeschichte zum anderen. Noch Reinhold Becker (Wahrheit und Dichtung, 1888) nahm an, dass das mære im Frauendienst den Lebensbericht Ulrichs von Liechtenstein darstellt, und versuchte seinerseits, ‚Wahrheit und Dichtung‘ im Werk zu unterscheiden.
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Dokument eines Minnesängerlebens. Die Faszination, die von dem ungewöhnlichen Werk ausgeht, bringt eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Frauendienst sowie eine neue Aufwertung und Einschätzung von Werk und Autor mit sich. Die Qualität sah und sieht man insbesondere in den literarischen Innovationen, die der Roman bietet. Dabei hat die (auto-)biographische Lesart zunehmend nur noch bedingt Bestand.29 Dessen ungeachtet trugen die zahlreichen Untersuchungen seit dem 19. Jahrhundert zum Verhältnis von Realität und Fiktion im Frauendienst zur Konstruktion des Autorbildes bei, das man in Relation zum Werk setzte und setzt.
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So widerspricht 1949 Martha Schlereth (Studien zu Ulrich von Lichtenstein) der Annahme, anhand der Lieder im Frauendienst Ulrichs Angaben über sein Leben bewerten zu können. Sie hält jedoch zugleich fest, dass das mære biographische Aussagen treffe, wobei sich in diese Fiktion und literarische Motive mischten. Helmut de Boor, Die höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang. 1170–1250. 11. Auflage bearb. von Ursula Hennig. München 1991 (ders. / Richard Newald, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 2), S. 319 f., gibt den Charakter der Selbststilisierung zu bedenken und erklärt, dass der Frauendienst „nur in dem beschränkten Sinne Selbstbiographie [ist], wie die Heiligenvita Biographie […]. Der Darstellende aber ist zugleich der Erlebende und also der exemplarisch Lebende; das Ich hat solche Bedeutung gewonnen, daß es sich selbst als darstellenswert und in einer oft ganz naiven Unmittelbarkeit als vorbildhaft auffaßt und hinstellt. Ulrichs Frauendienst ist die Selbstdarstellung einer vorbildlichen Selbststilisierung als Frauendiener und Minnesänger.“ In vergleichbarer Weise argumentiert später Harald Haferland, Hohe Minne, S. 246 f., der den Frauendienst als Autobiographie verstanden wissen will, wobei seinen Überlegungen ein Verständnis von Autobiographie zugrunde liegt, die deren fiktives Potential berücksichtigt: „Unüberlegt wäre es, ihm eine Autobiographie streitig zu machen, weil er von seinem Leben im Dienst der österreichischen Landespolitik, das doch historisch bezeugt ist, nichts verlauten läßt. […] Unüberlegt wäre es auch, den autobiographischen Charakter von Ulrichs Text zu bestreiten, weil einem vieles von dem, was er erzählt, unwahrscheinlich erscheint. Nicht einmal, wenn man Erzähltes als unwahr erweisen und gegenteilige Fakten nachweisen könnte, taugte dies als Argument, da Autobiographen lügen dürfen.“ De Boor und Haferland werfen zurecht ein kritisches Licht auf die Gegenüberstellung und Abgrenzungen von Fiktion und Realität, wie sie in der Forschung des 20. Jahrhunderts anzutreffen ist. Sie sucht die realen und fiktiven Komponenten im Frauendienst weiterhin zu unterscheiden, rechnet aber dabei mit einer Durchdringung der Ebenen. Dies tun etwa Karl Ludwig Schneider („Die Selbstdarstellung des Dichters“, 1963) und Humphrey Milnes („Ulrich von Lichtenstein and the Minnesang“, 1963/64). Sie heben die Bedeutung der literarischen Tradition für den Frauendienst hervor. Einen Analyseansatz jenseits der Dichotomie von Fiktion und Wahrheit bietet der Beitrag von Bleumer im vorliegenden Band, S. 358–363.
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Besonders seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert mahnt die Forschung zur Vorsicht und betont vehement den literarischen Charakter des Frauendienstes. Methodisch unzulässig sei es etwa, wie Ursula Peters (1971) einflussreich postulierte, „von Ulrichs Darstellung aus auf den Wirklichkeitshintergrund auch der vorangegangenen Minnedichtung zu schließen“.30 Spechtler (1971, passim), der sich in verschiedenen Arbeiten immer wieder mit den historischen Hintergründen des Frauendienstes, den urkundlichen Erwähnungen Ulrichs, dem Kontext seines politischen Wirkens befasst hat, lehnt auf der Basis archivalischer Studien eine biographische Lektüre des Frauendienstes ab. Er arbeitet seinerseits literarische Traditionen heraus,31 versucht jedoch auch, Fiktives von einem möglichen Realitätsgehalt zu trennen.32 Man hat diverse Einflüsse aus der deutschsprachigen aber auch okzitanischen Literatur ausgemacht. So stellt J. W. Thomas (1972) fest, dass Ulrich den Parzival gut gekannt haben müsse und daraus sein ‚Material‘ bezogen habe. Quelle seien ihm insbesondere die autobiographischen Angaben Wolframs: „It appears that Ulrich found here not only the framework of his tale, but also the idea for a new genre.“33 A. H. Touber (1988) geht dem Einfluss der Vidas und Razos auf den Frauendienst nach, jenen fiktiven Lebensbeschreibungen und Berichten über die biographischen Motivationen der Lieder der Trobadors.34 Diese Texte wurden i. d. R. n i ch t von den Trobadors selbst, sondern meist anonym verfasst.35 Für sie verantwortlich zeichnen Spielleute, joglars, professionelle Musiker und Sänger also, wel30
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Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein, S. 84. Vgl. grundlegend dazu den Beitrag von Chinca im vorliegenden Band. Vgl. beispielsweise Spechtlers Untersuchung zum Botenmotiv in „Die Stilisierung der Distanz“. Vgl. Spechtlers (unveröffentlichte) Habilitationsschrift Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein. Thomas, „‚Parzival‘ as a Source for ‚Frauendienst‘“, S. 424. Touber, „Ulrichs von Lichtenstein ‚Frauendienst‘“, S. 431–444. Unter den Autoren der Vidas und Razos des 13. und 14. Jahrhunderts sind nur drei namentlich bekannt: „der Trobador Uc de Saint Circ als Verfasser der Vida Bernarts de Ventadorn und der razos zu zwei Gedichten Savarics de Mauleon, Miquel de la Tor als Biograph Peire Cardenals sowie der Trobador Uc de Pena“ (Kurt Ringger. „Die Trobadorlyrik im Spiegel der poetischen Gattungen“ [1987]. In: Vom Mittelalter zur Moderne. Beiträge zur französischen und italienischen Literatur. Gedenkband. Hrsg. im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz von Erich Loos unter Mitarbeit von Hans-Werner Eirich, Wilhelm Theodor Elwert, Wido Hempel, Max Pfister, Angelica Rieger und Christof Weigand. Tübingen 1991, S. 73–119, hier S. 75).
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che die Trobador-Lieder interpretierten. Die Beschreibungen waren den Liedern beigefügt und wussten z. T. Abenteuerliches aus den Sängerleben zu berichten. Dabei ist vieles als fiktiv anzusehen, jedoch basieren die geographischen Angaben, Informationen über den Herkunftsort und gesellschaftlichen Rang des Dichters auf nachprüfbaren Fakten.36 In vergleichbarer Weise stellt sich das Verhältnis von Realität und Fiktion im Frauendienst dar, und diese Nähe des Werks zu den Vidas und Razos wirft einmal mehr die Frage nach dem Autor des Frauendienstes auf. Der Forschung aber bleibt der historische Ulrich (in unterschiedlichen Graden der Differenzierung) als Autor für das Verständnis des Werks relevant, dessen Haltung zum eigenen Werk Rückschlüsse auf die literarischen Möglichkeiten und Orientierungen zeitgenössischer Dichter erlaube: So erscheint Ulrichs Frauendienst als ein ‚Roman zum eigenen Werk‘, […] der Frauendienst [verrät] eine ebenso spielerische wie bewusste Beziehung eines Dichters zum eigenen Werk und zu den literarischen Möglichkeiten der Zeit. Und damit demonstriert er eine Art von Autor- und Literaturbewußtsein, das einerseits sehr typisch für Ulrich von Lichtenstein ist, zum anderen aber auch für eine Zeit, die literarisch neue Wege sucht.37
Neue Akzente setzen Untersuchungen, welche den Spielcharakter und jene, welche die Körperinszenierungen im Frauendienst in den Blick nehmen. So erklärt Müller, Ulrich spiele eine „fiktive Versuchsanordnung durch“38 und markiere so die Grenze zu einer normalerweise geltenden Welt. Den Minnesang gestalte er als eine andere, eine „utopische Kunstwelt“39, die sich den Regeln der Realität entzöge.40 Im Hintergrund der 36
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Dennoch ist der fiktive Charakter der Vidas und Razos nicht zu unterschätzen, vgl. Ringger (Anm. 35), S. 75: „An Romaneskem fehlt es in diesen fast ausschließlich anonymen Texten […] keineswegs. Sie gehören zu den frühen Zeugnissen europäischer Novellenkunst, deren Ausstrahlung als biographies romancées von Boccaccio und Petrarca bis Stendhal, Uhland, Heine, Browning, Swinburne, Carducci, Edmond Rostand, Pirandello und Alfred Döblin anregend wirkte: man denke dabei nur an Guilhelms de Cabestanh Vida, die erzählt, wie Guilhelms domna von ihrem eifersüchtigen Gatten gezwungen wurde, das Herz ihres meuchlings ermordeten Trobadors zu verspeisen, oder an Jaufre Rudels Vida, deren Verfasser […] die geheimnisvolle Liebesgeschichte zwischen dem Dichter-Fürsten von Blaye und der fernen Gräfin von Tripoli gestaltete“. Glier, „Diener zweier Herrinnen“, S. 306. Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 73. Ebd. Die Relevanz des Spiels betonen bereits frühere Beiträge, etwa Neumann („Dichtung und Leben“, 1926) und Reiffenstein („Rollenspiel und Rollenentlarvung“, 1976); vgl. dazu Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 19.
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Spielentwürfe aber stehe immer noch die reale Gesellschaftsordnung. Demgegenüber suchen Studien zur Körperlichkeit noch stärker die ‚Verstrickungen‘ des Ich in den Text herauszuarbeiten und bewerten im Zuge dessen auch die Relation von Ich und Autor neu.41 Die Beispiele aus Literaturhistoriographie und Frauendienst-Forschung machen deutlich, welche Bedeutung Autor und Autorname für das Verständnis eines literarischen Werks und seines Kontextes haben;42 der Name ‚Ulrich von Liechtenstein‘ ist, so lässt sich mit Genette feststellen, als „Element eines Vertrags […] in ein komplexes Ganzes eingebunden, dessen Grenzen sich schwer festlegen und dessen Komponenten sich noch schwerer auflisten lassen“.43 Dabei ist er „nicht eine äußerliche […] Gegebenheit“, vielmehr ein für das Werk „konstitutives Element, das gemeinsam mit anderen Elementen wirkt“.44 Dieses Zusammenwirken ist im Falle des Frauendienstes aber auch Teil einer bestimmten narrativen Struktur. Die Verbindung zwischen Ich und Autornamen erscheint als selbstverständlich und zugleich brüchig aufgrund der Vielgestaltigkeit und Heterogenität des Ich. Gerade diese Brüchigkeit regt zu gewissen Sinn- und Identitätszuschreibungen an. Unterdessen verbindet sich der Autorname mit weiteren Paratexten, die unterschiedliche Artikulationsformen des Ich erlauben. So zeichnet Ulrich nicht nur für verschiedene Peritexte (Titel, Widmung, Zwischentitel, Prolog und Epilog45), sondern 41
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Zur Thematik der Körperlichkeit vgl. im vorliegenden Band in gendertheoretischer Perspektive den Beitrag von Sieber, S. 269–273, und unter medialen Gesichtspunkten den Beitrag von Kellermann. Vgl. auch Schmid, „Verstellung und Entstellung im ‚Frauendienst‘“, bes. S. 187, 195 f.; Klinger, „Ich: Körper: Schrift“, bes. S. 126; Kiening, „Der Autor als ‚Leibeigener‘“, bes. S. 213 f., 236; Kellermann, „Formen der Kommunikation“, S. 342 f.; dies. „Verweigerte und gestaltete Autorität“, bes. S. 592; Linden, Kundschafter der Kommunikation, bes. S. 65–74; in Auseinandersetzung mit der Forschung Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper, S. 207–322. Diesbezüglich illustrativ sind im Übrigen auch Beispiele außerhalb der Forschung wie die offizielle Website der Steiermark. Die Seite will über ihr berühmtes Landeskind informieren und führt zu diesem Zweck eine Ulrich-Biographie auf, die sich mitunter aus dem Frauendienst speist. Das Werk sei „zum Teil autobiographisch“ (http://www.steiermark.at/cms/beitrag/10000812/2010 [letzter Zugriff: 10. März 2010]). Eine Fotografie der Ulrich-Büste Alfred Schlossers soll den „Mann der schönen Worte“ dem Besucher der Website vergegenwärtigen. Genette (Anm. 13), S. 45. Ebd. Prolog und Epilog entsprechen nach Genette (Anm. 13), S. 157, dem paratextuellen Typ des Vor- oder Nachworts: „Ich verallgemeinere den gängigen Begriff Vorwort und bezeichne damit alle Arten von auktorialen oder allographen Texten
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auch für ‚öffentliche‘ und ‚private‘ Epitexte (Briefwechsel, mündliche Mitteilungen über das eigenen Werk etc.) verantwortlich, die das Werk gleich mitliefert.46 Die Integration solcher Elemente ist Charakteristikum des Frauendienstes; sie demonstrieren nicht nur die Komplexität der Relation von Ich und Autor, sondern binden sie auch nachhaltig aneinander. Mit dem Autornamen entfaltet sich im Frauendienst eine spannungsreiche Autorfunktion, deren Facetten von der Behauptung unmittelbarer Autorschaft bis zur Verweigerung des Autors und Öffnung des Textes mit je unterschiedlichen Abstufungen reichen.
2. Die Kunst der Entschleierung als Erzähltechnik des Frauendienstes und Generator der Autor-Imago 2.1. Ausgangspunkt: Der Autor des Frauendienstes – Eine Provokation Im Frauendienst begegnet das Ich in der Autorrolle, als Erzähler, Protagonist des mære; auch die Lieder, Büchlein und Briefe sind in der ersten Person Singular formuliert. Dieser ‚Ich-Aufspaltung‘ stehen Romanbeginn und -schluss gegenüber, die einen Rahmen setzen und die verschiedenen Ich-Figurationen zusammenbinden. Das Ich des mære stilisiert sich als Autor vorzüglicher Minnedichtung und ‚seines‘ buochs, in dem sie sich
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(seien sie einleitend oder ausleitend), die aus einem Diskurs bestehen, der anlässlich des nachgestellten oder vorangestellten Textes produziert wurde. Das ‚Nachwort‘ wird also als Variante des Vorworts angesehen, deren unleugbare Besonderheiten mir weniger wichtig erscheinen als jene Züge, die sie mit dem allgemeinen Typus teilt.“ Die Bedeutung von Epitexten für ein Werk scheint im Frauendienst reflektiert, insbesondere etwa dort, wo sie die Performance der Lieder maßgeblich unterstützen. Wiederholt kommentiert das Autor-Ich diese in begleitenden Mitteilungen durch Boten und Briefe, die so zu privaten Epitexten stilisiert werden. Als solche beschreibt Genette u. a. Tagebücher und Briefwechsel von Schriftstellern, wobei diese „im klaren Bewusstsein ihrer späteren Veröffentlichung geschrieben“ sein können. Dabei bleibt der private oder intime Charakter erhalten. Er zeichnet sich dadurch aus, „dass zwischen dem Autor und dem eventuellen Publikum ein primärer Adressat eingeschoben ist (ein Briefpartner, ein Vertrauter, der Autor selbst), […] an den sich der Autor um seiner selbst willen wendet, und sei es auch mit dem Hintergedanken, das Publikum nachträglich zum Zeugen dieser Aussprache zu machen“ (Genette [Anm. 13], S. 354). Im Falle Ulrichs ist der private Charakter Teil der Narration und in diesem Rahmen konstitutiv für die Stilisierung des Autor-Dichters.
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eingebettet findet. Der Epilog formuliert resümierend diesen Anspruch und dient daher hier als Ausgangspunkt der Analyse. Die letzten Strophen des Frauendienstes präsentieren charakteristische Aspekte der Autorinszenierung in nuce:47 Swaz ich in niuwen dœnen ie dar von gesanc, daz vindet man hie allez an dem buoche stân. […] Ditz buoch sol guoter wîbe sîn: in hât dar an die zunge mîn gesprochen vil manic süezez wort. ez sol reht sîn ir lobes hort: ir lop kan dran wol stîgen hô, ez sol si vil oft machen vrô. VROWEN DIENST ist ez genant: dâ bî sô sol ez sîn bekant. (1847,1–3; 1850)
Die Verse deuten darauf hin, dass hier ein Selbstverständnis des Autors vorliegt, wie es die Forschung in jüngerer Zeit, wie oben dargelegt (S. 326 f.), für die volkssprachige Literatur festgestellt hat: Der Dichter übernimmt Verantwortung für seinen Text und artikuliert ein Bewusstsein für die Gestalt seines Werks. Doch er erklärt auch: noch wil ich vrowen lop niht lân: ich wil si gerne loben mê. swer welle, daz ez hier an stê, swenne ichz gesinge, der schrîbe ez dran: der hât sîn zuht dar an getân. (1847, 4–8)
Der (inszenierte) Dichter schlägt vor, man möge sein Werk fortschreiben, und es entsteht der Eindruck, dass er eine Art Co-Autorschaft offeriert. Er scheint hier zum Prinzip zu erheben, was Cerquiglini und Bumke als Merkmal mittelalterlicher Literatur beschreiben, d. i. die Beweglichkeit und Offenheit des Textes. Oder, so ließe sich mit Quast formulieren: Das Ich reflektiert eine „relative Textfestigkeit“, projiziert eine „Textdynamik“.48 Sie steht in Spannung zur Selbstbehauptung des 47
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Eine Interpretation des Epilogs mit Blick auf das Verhältnis von Narration und Lyrik bietet der Beitrag von Bleumer im vorliegenden Band, S. 393 f. Dies scheint Grubmüllers (Teil-)Resümee zum „Bewusstsein vom Text“ zu widersprechen, (Anm. 6), S. 32: „Nirgendwo wird im Zusammenhang mit der Veränderung von Texten Bezug genommen auf Vortrags- oder Aufführungssituationen. Wo immer von Veränderung die Rede ist, handelt es sich um Veränderung beim Abschreiben.“ Das (inszenierte) Dichter-Ich des Frauendienstes aber fordert ausdrücklich zum Weiterschreiben auf, wiewohl basierend auf seinem vorausgehen-
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Dichters als Autors, dient aber dennoch auch seiner Vergegenwärtigung: Das Ich empfiehlt sich als Sänger, dessen Medium in erster Linie seine Stimme ist; evoziert wird die Imagination von Wörtern, die dem Dichter unmittelbar als Gesang entsteigen. Doch noch die Schrift (obschon potentiell von Dritten verfasst) trägt – so impliziert der Epilog – diese Unmittelbarkeit in sich, denn die Worte würden geradezu zeitgleich zu ihrer Artikulation – swenne ichz gesinge – niedergelegt. Die angedeutete Preisgabe der Autorschaft und Öffnung des Textes konturiert einmal mehr das Ich als Dichter und Autor des Frauendienstes; die Betonung der Mündlichkeit zielt auf die Imagination des gegenwärtigen Dichters, der mit seinem munt von sich und seinen ritterlichen Taten ‚reden macht‘ (1849,2 f.). Dass die Kommentierung des eigenen Schaffens auf paratextueller Ebene unter Bezugnahme auf die ‚eigenen‘ Epitexte (Titel, Widmung) erfolgt, befestigt das Ich als ‚Autor-ität‘ des Textes. Schon zuvor, im Verlauf des Romans, inszeniert sich das Ich immer wieder im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit und ‚provoziert‘ so die Vorstellung von einer spezifischen Autor-Situation. Die Provokation des Autors ist überdies auf einer weiteren Ebene zu verstehen: Der Text reizt insofern seine Rezipienten, da sich der vorgestellte Autor als konkrete Figur immer wieder entzieht; er lässt sich nicht ohne weiteres mit dem Ich identifizieren, das eine Mehrstimmigkeit aufweist. So wie das Ich des mære, das Ich der Lieder, Büchlein, Briefe nicht gleichgesetzt werden können, gibt die Relation zwischen diesen und Ulrich von Liechtenstein als Autor Rätsel auf (diesbezüglich zu bedenken ist, dass der Text zwar das mære-Ich als Ulrich von Liechtenstein identifiziert, doch das Ich nennt sich nie selbst so. Allein andere Figuren des Werkes sprechen den Protagonisten mit Ulrich an oder stellen ihn als Ulrich von Liechtenstein vor49); offenkundig – das macht die Forschungs-
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den mündlichen Vortrag. Dies widerlegt nicht Grubmüllers Befund; er wäre aber um das Beispiel Frauendienst zu ergänzen: Hier geht der Aufruf zur ‚Fortschreibung‘ über eine Korrektur hinaus, ist dabei Teil des narrativen Verfahrens und der Autorinszenierung. Vgl. beispielsweise den Botenbericht über Ulrichs versehrte Hand (397,3f.). Die fehlende Selbstnennung liest Kiening, „Der Autor als ‚Leibeigener‘“, S. 236, als Hinweis, dass Identität fremdbestimmt ist und als Verweigerung einer Identifizierung von Protagonisten- und Erzähler-Ich: „[Das Autor-Ich] nennt sich als Protagonist nicht selbst beim Namen, damit darauf hindeutend, daß diese Identität primär durch andere konstituiert wird, und nennt sich als Erzähler überhaupt nicht, damit
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geschichte deutlich – fordern die ‚Probebohrungen‘ des Textes in die Realität, die doch letztlich Teil der literarischen Darstellung bleiben, dazu heraus, ein konkretes ‚Hinter dem Text‘ zu erblicken. Schließlich verführt die Öffnung eines Spalts (aus dem hier das Raunen der historischen Wahrheit zu erklingen scheint und der einen Blick auf diese verheißt) dazu, die Tür ganz aufzustoßen. Diese angedeutete Öffnung aber ist ein Strukturprinzip des Textes und Teil der literarischen Autor-Inszenierung. 2.2. Literatur als Vita – Vita als Literatur Im Prolog preist das erzählende Ich die wîp, deren güete niemen gar / volloben an ein ende mac (2,2 f.), und eröffnet so den Frauendienst mit einem in der höfischen Literatur verbindlichen Wert. Das Ich erklärt sich selbst als ze kranc, den Frauen lop ze sprechen (4,8), und so fragt sich, wie ein Erzähler dieser Idealität überhaupt gerecht zu werden vermag. Hiervon macht das Ich im Prolog kein großes Aufheben, sondern schließt dem literarischen Ideal sogleich das Ideal seines wahrheitsgemäßen biographischen Berichts an und fängt die implizierte Unmöglichkeit in dieser Weise auf: Nâch disem lob sô heb ich an ein mære, als ich beste kan. in gotes namen ich ez hebe und wünsche des, daz er iu gebe gein mir sô zühterîchen muot, daz ez iuch alle dunke guot. sô wirt mîn arbeit niht verlorn. ich hab daz liegen dran versworn. (7)
Das vorausgegangene Frauenlob erscheint nunmehr als Eröffnung der Biographie, der es einen würdigen Rahmen verleiht. Doch mit dem Lebensbericht schreibt sich das Ich gleich ein weiteres Mal in die literarische Tradition ein; das Versprechen von Authentizität mündet ins Literarische:
wiederum die sichere Identifizierung mit dem Protagonisten-Ich verweigernd. Auch dort, wo die Identifizierung am greifbarsten scheint, bleibt sie ambivalent“.
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Dô ich ein cleinez kindel was, dô hôrt ich ofte, daz man las, und hôrt ouch die wîsen sagen, daz niemen wol bî sînen tagen erwerben möhte werdecheit, wan der ze dienest wær bereit guoten wîben sunder wanc. (8,1–7)
Diese ersten Verse der Biographie knüpfen unmittelbar an den Prolog an und überführen den Frauenpreis in die Vita. Sie hauchen dem literarischen Topos so (im wahrsten Sinne des Wortes) neues Leben ein. Die Vita selbst wiederum hat ihren Ursprung in der Literatur: Ausgangspunkt des Lebensweges ist das Lesen, die literarische Unterhaltung. Der zunächst in der Lektüre und sodann auch von den wîsen gepriesene Frauendienst wird zum existentiellen Ideal, dem der Protagonist schon in Kindertagen nacheifert: Sît daz diu reinen süezen wîp sô hôhe tiurent mannes lîp, sô wil ich dienen immer mê den vrowen, swie so ez mir ergê. Lîp, guot, muot und dar zuo daz leben wil ich den vrowen allez geben und dienen, als ich beste kan. und wird ich immer ze einem man, mîn dienst muoz an in geligen, dâ mit verderben oder gesigen: ich wil in immer dienend sîn. (10,5–11,7)
Durch die unmittelbare Überführung der Lebensgeschichte in eine literarische Welt bricht das Ich nicht mit der Wahrheitsbeteuerung des Prologs. Denn das mære, der vrowen dienst, soll Ehrerbietung sein, die zur d i ch t e r i s ch e n Lebensaufgabe wird. Und nichts anderes beinhaltet das Werk als die immer wieder neuen Versuche, sich vor der Dame (wenn auch – im ersten Dienst – wiederholt komisch gebrochen)50 in und mit der Literatur zu verneigen bzw. der Dame als stilisiertem Werte50
Zur Komik im Frauendienst vgl. zuletzt Velten, „Sakralisierung und Komisierung“. Er kommt zu dem Ergebnis, dass in Ulrichs Werk die sakrale Dimension des Minnesangs erst durch die schwankhafte Komik erfahrbar werde. Ulrich stelle „den Minnesang im Rahmen des Minnedienstes auf eine neue Stufe. Er versucht, ihn literarisch und erzählend neu zu begründen, indem er eine Dichotomie von Sakralisierung und freiwilliger Erniedrigung inszeniert, die mit Hilfe grotesk-komischer Kontrapunkte überwunden werden kann“ (S. 145).
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kanon seine Aufwartung zu machen und so dem Publikum die poetische Kunst der eigenen zunge, welche in dem buoch über die guoten wîp zahlreich süezez wort spreche (1850,1–3), zu empfehlen. Dieser Kunst gelingt schließlich, wie der Epilog postuliert, der in Verbindung mit dem im Prolog formulierten Anspruch verstanden werden muss, das voltihten (1845,5) als einer Realisierung des vollobens, das der Prolog als Unmöglichkeit präsentierte. So offenbart sich mit dem Epilog der Demutsgestus des Prologs als strategischer Ausgangspunkt, von dem aus der Dichter seine Kompetenz unter Beweis stellen kann; er präsentiert sich als Autor, der seine Dichtkunst, seinen VROWEN DIENST, bekannt machen will. Die literarische Vita dient dabei als Gerüst der Präsentation der poetischen Kompetenz. Dazu gehört, dass der Dichter die Klaviatur verschiedener Textsorten und Gattungen beherrscht.51 Dabei ist das Gleiten vom Literarischen ins (inszenierte) Reale Teil seiner Konturierung als Autor, der die Lebendigkeit des Vortrags seines über die Schrift zugänglichen Werks seinem Publikum52 zu vergegenwärtigen sucht: dô man ditz buoch hôrt niwez lesen, alsô daz ichz voltihtet gar. nu nemen die vrowen drinne war, ob ich gesungen und geseit dar inne iht habe ir werdecheit. Zweier minner sehtzic dœne ich hân gesungen: die stânt gar hier an. dar inne sô hât sich mîn lîp geflizen vil, daz ich guotiu wîp hân gelobt reht als ein man, der in wol aller êren gan und der ir hôhe werdecheit mit triwen gerne machet breit. (1845,4–1846,8)
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Die biographische Erzählung ist nicht Mittel zum Zweck, um die Minnelieder zu präsentieren; schließlich ist gerade die Verknüpfung der verschiedenen Textelemente die Form, durch die der Text den Autor präsentiert und gestaltet. Zur Überlegung, dass der Roman dem Autor Ulrich von Liechtenstein die Möglichkeit zur geschlossenen Korpusüberlieferung bot, vgl. Glier, „Diener zweier Herrinnen“, S. 303, und Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 10. Vgl. dazu Kartschoke, „Ulrich von Liechtenstein und die Laienkultur“, S. 129: „Im ‚Frauendienst‘ ist das mittelalterliche deutsche Lied zum ersten Mal eindeutig als potentieller Lesestoff deklariert worden“.
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Die im Werk eindringlich beschriebenen Aventiuren, in deren Zuge das Ich Lieder (wie andere Textsorten) präsentiert, verschickt, singen oder vorlesen lässt, sind im Rahmen der spezifischen Dichter-/Autor-Inszenierung zu sehen. Gleiches gilt für die Realitätseinsprengsel wie die Verweigerung von Realität innerhalb der literarischen Biographie, welche das Bild Ulrichs von Liechtenstein als Autors heraufbeschwören; die Verwandlungen, ‚textuellen Einkleidungen‘ und (vermeintlichen) Entschleierungen seiner Identität kreieren eine Autor-Imago. 2.3. Einheit und Differenz von Dichter und Text: Das erste Büchlein als Paradigma der Autor-Inszenierung Das Ich ist durch verschiedene schriftliche Medien vermittelt, in und mit denen zum einen der Autor als Minnediener plausibel gemacht wird und zum anderen die Dichter-Situation performativ vor Augen geführt scheint;53 das Werk lässt die (Figur des) Autors mit der Erzählung verschmelzen und verankert so diese wiederum in der historischen Wirklichkeit, auf welche der Text einen Ausblick zu geben verspricht (die aber in ihrer Präsentation stets der literarischen Wirklichkeit angehört). Teil dieser Struktur ist, dass die ausgesandten Botschaften des inszenierten Dichters immer wieder Einheit und Differenz von Adressant und Nachricht demonstrieren. Sie gestalten so eine bestimmte Relation von Schrift und Autor, welche wiederum beide aneinander bindet. Paradigmatisch für eine solche Verschränkung ist die Inszenierung der Sprecherinstanzen von mære und erstem Büchlein: Das im mære entworfene Dichter-Ich wünscht sich eine Präsenz als Text, der jedoch ein anderer ist, wie die Dialogsituation innerhalb der Botschaft demonstriert.54 Zugleich spiegelt sich das Dichter-Ich (zweifach) im Büchlein; der Text im Text blendet die Sprecherinstanzen ineinander. 53
54
Vgl. in diesem Zusammenhang etwa Kiening, „Der Autor als ‚Leibeigener‘“, S. 236: „Das Autor-Ich inszeniert Momente einer Biographie als Autor […], in denen es selbst präsent, aber nur im Modus des ‚Als-ob‘ präsent ist“; Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 367: „Im ‚Frauendienst‘ wird die dichterische Produktion, die über 60 Texte hervorbringt, zu einem Ritual, das eine Wahrheit in der Fiktion eröffnet, denn die Texte sind zwar zunächst fingierter künstlerischer Ausdruck der fiktiven Figur Ulrich, doch ragt hier auch die literarische Produktion des realen Autors Ulrich von Lichtenstein in die Autobiographiefiktion hinein“. Zum ersten Büchlein vgl. jüngst Schmid, „Mund und Schrift“, S. 120, die ihrerseits „ein Spiel schillernder Doppeldeutigkeiten“ beobachtet, sowie den Beitrag von Kellermann im vorliegenden Band, S. 224–228.
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In der Hinleitung ergeht die Aufforderung nu hœret, wie daz püchel sprach! (161,8), doch in den ersten Versen des Büchleins ist dann noch nicht die Stimme der personifizierten Schrift vernehmbar, sondern die des nun verdoppelten Dichter-Ich, das sich der spehenden ougen seines schriftlichen Boten bedienen will: Dîns gelükes walde got, vil kleinez puoch, getreuwer bot, […] und kanstu dâ gepâren wol, des hân ich frum, du êre âne zwîfel immer mêre. […] wol dînen spehenden ougen, der heimlîch und der tougen, die man dich lât ze hove sehen! und kanstu vrowen rehte spehen, so ist sî, der ich dich hân gesant, der immer dienen muoz mîn hant. (1. Büchlein, V. 1–16)
Das im Büchlein stilisierte Dichter-Ich verdoppelt die Stilisierung des Ich im mære und fordert zu einer Identifikation beider Ebenen heraus, wie auch das Ich des mære darauf angelegt ist, es mit einem ‚Textaußerhalb‘ in eins zu setzen. Korrespondierend mit der Erzählung formuliert das Ich des ersten Büchleins seine gedanke der minne sowie sêre senede sinne (1. Büchlein, V. 41f.) und hofft auf die positive Energie der Schrift (vgl. 1. Büchlein, V. 184–190). Das mære-Ich ist aber auch im Büchlein-Ich präsent, denn dessen vergangene Erfahrungen werden vom/im Büchlein aufgegriffen und erweitert: Das (innerhalb des Büchleins verdoppelte) Dichter-Ich ersehnt sich eine Nähe zur Dame durch das Büchlein, doch dieses sieht seinerseits ängstlich einer Zurückweisung, ja schlimmsten Sanktionen, entgegen. Die Angst vor der Aggression der Dame kommt nicht von ungefähr; hat doch schon der Protagonist der Erzählung einschlägige Erfahrungen mit seiner Herrin, die sein Lied zurückwies und seinen Körper kritisierte. Die Qualen, die Ulrich für sie in Kauf nahm, als er sich seinen Mund operieren ließ (94–104), konnten sie wenig beeindrucken; vielmehr züchtigte sie ihn in der Folge körperlich. Nachdem seine Worte versagten (131), wies sie ihn schroff zurück, demütigte ihn und riss ihm auch noch einen loc (134,6) aus. Das Gebaren der Frau machte den Protagonisten zum Gespött der Anwesenden: Des schimpfes wart gelachet dâ (134,1). Im Büchlein scheint die Erfahrung des Minnedieners gesteigert: Das Büchlein-Ich erklärt zunächst, die botschaft seines Auftraggebers volenden (1. Büchlein, V. 98) zu wollen (– im Übrigen eine Parallele zu dem
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voltihten-Anspruch des Dichters wie ihn der Epilog formuliert). Es fürchtet jedoch ze spote zu werden, da es unhovebære sei. Zürnet die vrowe der boteschaft, könnte es daz leben hân verlorn (1. Büchlein, V. 107–121). Die Strafphantasien reichen vom Verbrennen auf einem rôste, dem Erleiden eines solhen snîdens, daz nimmer gheilet,55 bis hin zum Vierteilen und zur Einkerkerung (1. Büchlein, V. 124–142). Das Büchlein rekapituliert also die Erfahrung des mære-Ich, welche so – gegenüber der Büchlein-Metaphorik – als real erscheint. Unterdessen bindet die dem mære-Ich korrespondierende erste Stimme im Büchlein wiederum die Textebenen (Büchlein und mære) aneinander, wenn sie beruhigt, niemand, d.h. auch das Ich als Auftraggeber nicht, würde seinen Boten der Todesgefahr aussetzen: dîn angest ist gar âne alle nôt. wer solde ouch gern in den tôt sînen lieben boten senden? mîn houbt wold ich verpfenden, het ich wider si missetân (des ich willen nie gewan), daz sî ir zuht iht bræche, daz si dir iht arges spræche. dû solt mir gelouben daz: ez wirt dir erboten baz, danne ob du wærst des keisers kint: sô rehte grôz ir tugent sint. (1. Büchlein, V. 148–159)
Projiziert wird die Ehrerbietung gegenüber der Schrift durch die Dame, resultierend aus der tugent der Herrin, die als Instanz so ihrerseits (als den Dienst anerkennende Minnedame) ‚rehabilitiert‘ wird. Anhand des Büchleins wird somit eine Idealsituation vorgeführt – der Respekt vor dem geschaffenen Werk durch den Rezipienten (dieser erscheint hier vertreten durch die Minnedame zu einem Ideal erhöht). Die Anerkennung des Textes verdankt sich seinem Urheber, dem Autor, der somit in die höchste ‚Regierungsposition‘ erhoben wird: Der Text ist kint des keisers – des Autors als ‚Text-Regenten‘. Die Verlebendigung der Schrift, wie sie im ersten Büchlein begegnet, zielt in der beschriebenen Weise auf das Evozieren der Präsenz des Autors und schließlich auf seine Idealisierung. Sie reflektiert zugleich seine Abwesenheit im Moment der Rezeption: Er spricht nur vermittelt durch das Büchlein zur Dame, gleichzeitig imaginiert er seine Verborgenheit 55
Vgl. die Begrifflichkeit der Mundoperation: Ulrich will einen lefs snîden dan (91,7 f.); am Tag der Operation greift der Arzt mit sînem snîden zuo (94,6); der Patient leidet danach unter den andauernden Schmerzen (102–104).
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darin, die ihm die Möglichkeit gibt, im richtigen Moment hervorzuschnellen – der Autor gewinnt augenblickshafte Präsenz. Die ‚Einkleidung‘ im Text lässt auf eine Annäherung an die Adressatin hoffen und stellt ein ‚Textbegehren‘ auf beiden Seiten vor: ich wunschet, daz ichz du solde sîn. zehant als du kumst aldar, und dich ir wîze hande clâr beginnent ze wenden vor güete in mangen enden, und an dich kêrt dicke ir tougen spilnde plicke und an dich gewendet ir rôten munt, sâ an der selben stunt wolt ich dar ab ein küssen steln. (1. Büchlein, V. 184–190)
Der Akt der Rezeption wird als sinnliche Liebkosung vorgestellt und als Chance punktueller Berührung. Die Erfüllung der Begierde ist in der Imagination, realisiert in der Schrift, möglich. In sie kann sich der Autor hinein wünschen. Die Verlebendigung der Lettern innerhalb des Textes im Text stellt performativ eine Gegenwärtigkeit des Autors im Text (hier veranschaulicht durch das Büchlein) her und integriert simultan die Differenz von Autor und Text. Derart kreiert das Büchlein eine bestimmte Relation zwischen Text und Autor, dem d e r Te x t so Gestalt verleiht. Im Büchlein als ‚Text-Echo‘ hallen Handlung und Konstruktion des Frauendienstes wider. Es erscheint regelrecht als Miniatur des Romans, dies gerade auch insofern als das Büchlein die Beziehung zwischen Minnediener und -herrin idealisiert und die Hoffnung auf eine positive Rezeption formuliert – eine Parallele zur Anlage des Werks. Dessen (inszenierter) Autor erhebt den Anspruch, sich mit seiner Kunst einer größtmöglichen Idealität anzunähern, und verfolgt damit die Akzeptanz seines Publikums (7). Dies tut er, indem er die Logik des Minnedienstes zum Gegenstand seiner Erzählung macht, die auf dem Wechselspiel von Dienstangebot und -ablehnung als Artikulation höchster dichterischer Kunst basiert und überdies dieses Spiel in ein ‚postalisches‘ System einbindet (die verschiedenen Botschaften an die Dame ‚zelebrieren‘ das genannte Wechselspiel); die inhaltliche Struktur (wie sie insbesondere der erste Dienst zeigt) wird im fundamentalen medialen System von Adressanten – Nachricht – Adressaten rekapituliert.56 56
Zur Relevanz der verschiedenen Medien der Kommunikation im Frauendienst vgl. Kellermann und Young, „Briefe, Büchlein, Boten“, die ihn als „Kommunikationsroman“ (S. 342) bezeichnen.
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Auch das kann das erste Büchlein exemplarisch verdeutlichen: So wie das Dienstangebot des Ich im mære das Ziel verfehlt, stößt das Büchlein, das der Dame mit einem Brief durch einen Boten der niftel Ulrichs überbracht wird, auf Ablehnung, und es geht gewissermaßen an der Sache vorbei: Die Dame meint, gemäß der Mitteilung des Boten, das püechel beinhalte ein gepet (160,7; 161,3), wird dann aber mit einem ganz anderen Inhalt konfrontiert. Gegenüber dem Boten erklärt sie nach der Lektüre, sie habe den Text oft gelesen, er solle ihn seiner Herrin zurückbringen. Es stehe zwar ein guot gepete darin, mit diesem wolle sie aber nichts zu tun haben (166,7 f.) – die (Bedeutung der) Nachricht kommt somit nicht im gewünschten Sinne beim Adressaten an. Die Dame reagiert dann mit einer Botschaft, die nun ihrerseits nicht den (von Ulrich) erwarteten Inhalt aufweist.57 Das ‚Fehlgehen‘ der Nachricht kündigt sich schon in ihrem Übermittlungsweg an, denn sie erreicht den Adressaten nur auf Umwegen: Die Botschaft geht zunächst an Ulrichs niftel, die sie an ihn weiterleitet; er kann sie nicht sofort lesen, muss erst auf seinen schrîber warten, der ihm das büechelîn vorlesen soll.58 Zehn Tage bleibt der Brief ungelesen, während er dem Protagonisten nie kom ûz dem buosem (169). Selbst wenn er sich schlafen legt, trägt er daz büechlîn bei sich (169,7 f.; 170,1 f.) – eine trügerische Nähe, wie das Verlesen der Worte offenbart: Ez sprichet manic man, des in sîn herze niht gelêren kan, wan als er von fremdem dinge gert ze gewinne sinne. swer muotet, des er niht ensol, der hât im selb versaget wol. swer muotet, des er niht ensol, der hât im selb versaget wol. swer muotet, des er niht ensol, der hât im selb versaget wol (Brief [a], S. 68 f.).
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dô ich dar an geschriben vant / mêr, des wart mîn herze vrô, / und gedâhte wider mich alsô: / „Waz ob si lîhte hât hie an / mir enboten, dâ von ich hân / immer mêre hôhen muot? / ich weiz vil wol, daz sî ist guot. / ob sî mir hât ir friundes gruoz / her enboten, dâ von ich muoz / immer mêre mit freuden leben / und al mîn trûren gar ûf geben (167,6–168,8). Die Darstellung des Autors als nicht lese- und schreibkundig ist im Kontext seiner Stilisierung, der besonderen Nähe zwischen Dichter und Dichtung, zu sehen. Vgl. zur Inszenierung von Lesen und Schreiben auch den Beitrag von Wolf im vorliegenden Band, S. 507–510, sowie zu dieser Episode den Beitrag von Kellermann, S. 218 f., 224.
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Im von der Dame formulierten spöttischen Echo hallt die basale Struktur des Frauendienstes (wie sie am offenkundigsten der erste Dienst präsentiert) wider: Das Ich verlangt etwas, das ihm eigentlich nicht gewährt werden kann und was es sich selb versaget. Dies hat auf zwei Ebenen Relevanz: So wie für den Minnediener die Dame unerreichbar ist, vermag auch der Autor keine unmittelbare Gegenwärtigkeit im Text zu gewinnen, bleibt eine nicht fassbare Größe. Das ‚ver-sagen‘59 aber resultiert gerade aus dem Sprechen (das auf das ‚Einholen‘ der Dame wie der Präsenz des Autors zielt), das ein ‚ver-sagen‘ immer wieder in Gang setzt (und vice versa) – Minnediener und Minnedichter sind ein sprachliches Perpetuum Mobile, das die Identität des Autors durch bestimmte strukturelle Wiederholungen (verbal) hervor treibt. Der Minnedienst muss scheitern, so dass der Ritter beständig neue Anläufe unternehmen und sich beweisen kann. Das gibt dem Dichter Raum, seine Kunst zu demonstrieren und sein Publikum von ihr wie von seiner Autortätigkeit zu unterrichten. Im Kreislauf der ‚Briefzustellung‘ gehen die Nachrichten damit in gewisser Weise nicht nur auf, sondern auch an den Autor zurück; sie ‚adressieren‘ letztlich eben diesen, der in der Korrespondenz für das Publikum entworfen wird. Die vom und im Text ‚ausgesendeten‘ Signifikanten verweisen auf einen Textproduzenten, der mit dem Ich des mære, eingebunden in ‚heterographische‘ Szenen, identifiziert werden soll. Sie ermöglichen die Inszenierung des Autors: zum einen als Minnedieners, der sich als Text ‚maskiert‘ der Dame nähert, zum anderen als realen Dichters, der hinter dieser Maskerade hervorzulugen scheint.60 Tatsächlich ist der „Auftritt des Ichs in einer geliehenen Identität das bevorzugte Mittel der Selbstinszenierung“, wobei „Maskerade wie Selbst59
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Hier wortspielerisch verwendet mit Blick auf das enthaltene ‚sagen‘. Das Verb konnte auch ‚zu Ende sagen‘ meinen „mit ver- in der bedeutung bis zu ende, vollkommen, vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 33 Bde. München 1991. Nachdr. der Erstausg. Leipzig 1854–1971 (dtv 5945), Bd. 25, Sp. 1034. In diesem Sinne ist versagen hier zwar nicht zu verstehen, dennoch kann anhand der Überlagerung der semantischen Dimensionen deutlich werden, was für die Artikulation des Dichter-Ich im Frauendienst typisch ist: Der Anspruch des voltihtens kollidiert mit den sprachlichen Möglichkeiten; gerade aber daraus speist sich die Signifikanz des inszenierten Autors. Davon geht etwa Schmid, „Verstellung und Entstellung“, S. 187, aus, wenn sie erklärt: „selbst wenn sich jede einzelne der auf Ich-Inszenierung abzielende Passagen als literarische Anleihe ausweisen ließe, änderte das nichts daran, daß die Montage von Motiven ihre Einheit aus der Vorstellungswelt des Autors empfängt. Es scheint mir nun, daß die einzelnen Züge von Ulrichs Porträt sich durchaus zu einem bestimmten Gesicht zusammenfügen“.
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entblößung auf eine Zurschaustellung des Ichs zielen“,61 das als Autor verstanden werden will. Die ‚Selbst-Bestimmungen‘ des Ich setzen Sinn und gehen zugleich mit einem Ausschluss einher (dessen, was nicht zur Identität gehört), der aber seinerseits für das Ich konstitutiv ist.62 Insofern produziert die Ich-Setzung einen Überschuss; sie produziert immer auch das, was nicht Teil der Identität ist, und das, was ggf. doch dazu gehören könnte. So bringt sie auch eine Verhüllung mit sich, da das Ausgeschlossene als Identitäts-Konstituens intransparent bleibt und weil die Pluralität des Ich zu einer Erschließung von Identität und Realität anregt, als gäbe es ein ‚Dahinter‘. Dieses entsteht jedoch in erster Linie mit dem Werk, durch eine spezifische Struktur der Inszenierung des Dichters und Autors, die ihn als Größe hinter dem Text gewissermaßen ‚naturalisiert‘. So wie hinter dem ersten Büchlein als Maske sich eine Autor-Identität anzudeuten scheint, verweisen auch die Verkleidungen des Protagonisten im mære auf den Autor u n d gehen doch zugleich an ihm vorbei. Die Episode der Venusfahrt verfolgt dieses Prinzip äußerst konsequent. Das Ver- und Entschleierungsprinzip der Episode perfektioniert die Suggestion eigentlicher Wahrheiten, Realitäten und letztlich jener des Autors. 2.4. Transparenz der Verkleidung als Konstruktionsprinzip von Wahrheit und Identität: Die Venusfahrt In keiner anderen Episode kommt das Prinzip der Entschleierung vermeintlicher Wahrheiten als eine grundlegende Funktionsweise des Erzählens so deutlich zum Tragen wie in der Episode der Venusfahrt. Hier will der Protagonist in der Verkleidung der Frau Venus tjostierend seiner Dame dienen. Schon die Vorbereitung der Fahrt ist geprägt von einer Vortäuschung falscher Tatsachen, denn Ulrich gibt vor, nach Rom zu pilgern, macht sich jedoch auf den Weg nach Venedig: 61 62
Ebd. Dies ist ein Merkmal der Identitätskonstitution, auf das auch Judith Butler in ihrer Diskussion von Geschlechtsidentität hinweist: „Die Behauptung, ich sei etwas, impliziert eine vorläufige Totalisierung meines ‚Ich‘. Aber wenn sich das Ich auf diese Weise selbst bestimmen kann, dann bleibt das, was ausgeschlossen wird, um diese Bestimmung vorzunehmen, für die Bestimmung selbst konstitutiv.“ Judith Butler. „Imitation und die Aufsässigkeit der Geschlechtsidentität.“ In: Queer Denken. Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies). Hrsg. von Andreas Kraß. Frankfurt a. M. 2003 (edition suhrkamp 2248), S. 144–168, hier S. 147.
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Ich wil mich von dem lande steln, mîn vart vor allen liuten heln (daz sol bi disem winder sîn), und varn als ein bilgerîn, der durch got hin ze Rôme vert (den willen nieman mir erwert), ze Venedige wil ich verholne sîn reht unz an des meien schîn. Und wil mich dâ bereiten wol, reht als ein küneginne sol. vil wünneclîchiu vrowencleit die werdent dâ an mich geleit. (459,1–460,4)
Nach dem Sankt-Georgs-Tag möchte Ulrich als kuneginne Venus dem Meer bei Mestre entsteigen und hernach unerkannt zum Turnieren aufbrechen.63 Seine wahre Identität stilisiert er zum Geheimnis:64 Bot, ich wil die vart sô varn, daz ich daz trûwe wol bewarn, daz iemen wizze, wer ich bin. dar an kêre ich gar mînen sin. ez sol mîn hoch gemuoter lîp gekleidet sîn reht als ein wîp. mîn vart diu muoz alsô geschehen, daz mich sol nimmer man gesehen. Ich wil verbinden mich sô gar, daz ich die vart alsô bewar, daz nimmer mînen blôzen lîp beschowet weder man noch wîp. (463,1–464,4)
Niemand soll Ulrich erkennen, niemand seinen bloßen Körper erblicken können, sein Name soll verswigen (477,7) bleiben. Seine Dame aber lässt er von der vart unterrichten, die sie gutheißt und versichert, dass so Ulrich wirt dar umbe ein sölher solt, / daz im di biderben werdent holt und an lobe ez 63
64
Die Route der Venusfahrt verläuft von Venedig nach Oberitalien, Kärnten, durch die Steiermark, Österreich und Böhmen, vgl. dazu die Darstellung bei Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 435, sowie den Beitrag von Linden im vorliegenden Band, S. 73–75. Die geographischen Verweise und die Personennamen haben die (ältere) Forschung veranlasst, nach dem Realitätsstatus der Fahrt zu fragen: vgl. z. B. Höfler, „Venusfahrt und Artusfahrt“; Aarburg, Autobiographie und Persönlichkeit. Kritisch zum Realitätsstatus der Venusfahrt äußert sich Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 89. Zur Venusverkleidung vgl. auch den Beitrag von Sieber im vorliegenden Band, S. 269–271.
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im ze staten kumt (467,5 f.; 8). Auch die Präsentation des Ich im Kontext der Venusfahrt ist in ein Nachrichtenübermittlungssystem eingebunden; ein Bote gibt der Dame Kunde vom ritterlîchen dienst, die ‚postwendend‘ an Ulrich zurückgeht: Sî sprach: „bote, du solt im sagen, von mir die botschaft niht verdagen. und ist, daz er die vart getuot, als dû mir sagest, si ist im guot.“ (467,1–4)
Ulrich sieht sich durch die Mitteilung bestätigt, trotz der Einschränkung, welche die Dame ausrichten lässt: Ulrich komme die Fahrt niht ze staten […] gein ir (469,5 f.). Diesen Teil der Botschaft überhört er geflissentlich: Dô ich die botschaft vernam, mîn lîp was frô, daz herze sam, daz ir mîn vart geviele wol: des wart ich aller freuden vol. (470,1–4)
Entscheidend ist allein die vart, die Ulrichs Ritterlichkeit unter Beweis stellen wird und letztlich den Blick auf die Person hinter der Kostümierung freigibt. Zeugen davon werden die Herrin wie die Rezipienten, die von der wahren Identität der Venus Kenntnis haben. Die Offenlegung des Geheimnisses macht aus diesem eine Wahrheit, die solchermaßen performativ erzeugt wird: Mit dem (offenkundigen) Verschweigen geht eine Behauptung einher, die Setzung eines Ich und seiner Identität. Die Verkleidung als Frau Venus wird zur Kontrastfolie, die auf das verweist, was der Ritter nicht ist – eine Frau (mit all den dazugehörigen – als solche vorgeführten – Attributen65). Eben dieses inszenierte Ausgeschlossene ist selbst für die Konturierung der Identität konstitutiv. Mit der Rolle der Venus versetzt sich Ulrich in eine Position, die Frauendienst möglich macht.66 Lesbar ist das als eine neuerliche Spiegelung 65
66
Von Bedeutung ist neben der Kleidung besonders auch, dass Ulrich „das Wesen der Frauen nach[ahmt]“ (Bechstein im Kommentar seiner Ausgabe S. 199 [Bd. 1] zu V. 536,5; vgl. ferner S. 304 [Bd. 1] zu V. 945,3), begleitet vom Lachen anderer, welches den Rollenbruch markiert und den Mann als solchen identifiziert. Vgl. dazu Reiffenstein, „Rollenspiel und Rollenentlarvung“, S. 108f.; Bennewitz „Eine Dame namens Ulrich“, S. 368; Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 106; Mecklenburg, „Ritter Venus“, S. 196f.; Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper, S. 259f. Zu bedenken ist darüber hinaus die allegorische Dimension der Venus; vgl. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 92 f., und Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper, S. 251 f. Ausführlichere Diskussionen der Venusfahrt finden sich ebd.: zur Fahrt als fiktivem Herrschaftsentwurf: Linden, S. 89–177, und zu ihrer identitätsstiftenden Funktion Ackermann, S. 249–265.
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der Anlage des Romans und der Installierung des Ich als Autor. Beides wird zusätzlich untermauert durch die Inszenierung der Schrift: Ein brief ausgesandt in diu lant, durch welche Venus-Ulrich ziehen will, soll kampffertige Ritter von der Fahrt unterrichten und zugleich darüber informieren, dass sie das wahre Antlitz der Venus nicht zu Gesicht bekommen:67 Diu werde küneginne Venus, gottinne über die minne, Enbiutet al den rittern […] ir hulde und ir gruoz und tuot in kunt, daz si durch ir liebe zuo in varn wil, und wil si lêren mit wiegetânen dingen si werder vrowen minne verdienen oder erwerben suln. […] Si wil ûf der vart ir antlütze noch ir hende niemen lâzen sehen, si wil ouch wider niemen ein wort sprechen. ([B] Einladungsbrief, S. 181, Z. 1–9, S. 182, Z. 32–35)
Weibliche Kleidung wie ‚Stummheit‘ dienen als Maskerade. Sie stehen im Kontrast zur eigentlichen Identität des Ritters Ulrich, der selbst alles andere als schweigsam ist. Damit er sich überhaupt in eine Frau verwandeln kann, ist ein großer Aufwand erforderlich und eine vollkommene Verhüllung seines Körpers. Die Kostümierung ist anspruchsvoll, und Ulrich kleidet sich zu verschiedenen Anlässen jeweils neu ein. Der Schleier der Venus steht geradezu symbolisch für die Verhüllung: Mit einer rîsen (diu was guot) verbant ich mich: ez was mîn muot daz an mir iemen solde sehen iht anders wan der ougen brehen. (530,1–4)
Hinter der Venus-Maskerade tritt immer wieder der Ritter Ulrich zu Tage: Mehrfach lüftet Ulrich im Zuge der Fahrt den Schleier. Schon am zweiten Tag zeigt sich die Durchschaubarkeit der Kostümierung: Die Besucher einer Messe, der Ulrich beiwohnt, sind äußert amüsiert als es daran geht, den Friedenskuss zu tauschen. Das Amüsement speist sich aus dem transparenten Maskenspiel und der so erkennbaren Pikanterie des Kusses. Mit der Situation geht eine sexuelle Spannung einher, die sich im Lachen entlädt (vgl. 536). Sie findet ihren Höhepunkt sowie ihre Auflösung, als Venus-Ulrich den Friedenskuss mit einer Gräfin wechseln will und zu diesem Zweck den Schleier hebt: Diu schoene lachen des began, / si sprach: „wie nu, ir sit ein man?“ (538,1 f.). Ulrich ist enttarnt, zugleich seine ‚wahre‘ Identität hervorgehoben. Sie teilt sich augenblickshaft, damit aber umso eindringlicher mit. Es erfolgt dann die unverzügliche Anbin-
67
Zum Einladungsbrief und dem Reglement der Venusfahrt vgl. auch den Beitrag von Bleumer im vorliegenden Band, S. 378 f.
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dung der offenbarten männlichen Identität an das höfische Wertesystem, welches Ulrichs Handeln gesellschaftlich sanktioniert: Der Kuss ist legitim, weil er dem Mann hohen muot verleiht (vgl. 539,3–540,5). Darin zeigt sich ferner, dass Ulrichs Maskenspiel als solches gesellschaftlich akzeptiert ist. Es kann daher problemlos fortgesetzt werden: Nu was diu messe gesungen gar. ich und manic vrowe wol gevar giengen von der kirchen sâ. vil grôz gedranc hie unde dâ was in den gazzen über al. von busûnen grôzen schal hôrt man vor uns vrowen dô, man was uns an ze sehen vrô. (541)
Das neugierige Gedränge um Frau Venus nach der Messe könnte auf die Kuriosität des verkleideten Mannes hindeuten. Wenn es auch laut Ich-Erzähler aus der Freude am Aufzug und Anblick der Damen resultiert, zu deren Gemeinschaft er sich als Frau Venus zählt, so deuten die Verse diese Möglichkeit mindestens an. Sie setzen dieser Art den Verweis auf das ‚Außerhalb‘ des Verkleidungsspiels fort. Dass die hinter dem Schleier liegende Wahrheit nur schlaglichtartig beleuchtet wird, macht sie besonders glaubhaft. Denn die Rückkehr zum Spiel markiert dieses als ein solches und erklärt jenen Bereich, der in der Logik der Inszenierung außerhalb des Spiels liegt, als der Realitätsebene angehörig. Das Oszillieren zwischen Maskerade und Realität ist selbst als Spiel zu begreifen, das im Hin und Her zwischen Wahrheit und Fiktion beide Sphären erstellt. Im Zuge der Fahrt wird Ulrichs Identität immer wieder aufgedeckt, sein Körper wiederholt ent- und verkleidet; so beispielsweise auch, analog zur beschriebenen Szenerie, im Rahmen von Ulrichs Besuch bei Kadolt von Velsperc. Ulrichs Aufzug erheitert die anwesenden Frauen (vgl. 933,4;8). Beim späteren Messebesuch lachen sie, wenn er trippelnd zum Opfer geht, und erröten durch seinen Kuss.68 Diesen verweigert ihm eine Dame, denn sie weiß, diese Venus ist in Wahrheit ein Mann: „ir sült des paeces mich erlân, / sît man iuch hât für einen man“ (947,7 f.). Letztlich geht die offenkundige Verschleierung mit einer Inszenierung von Authentizität einher. Der Erzähler weiht zuforderst die Rezipienten explizit in die Vorgänge der Venusfahrt ein, während er den Interaktionspartnern scheinbar nur punktuell eröffnet, wen sie vor sich haben. Das Dichter68
Zu dieser Episode vgl. auch den Beitrag von Bleumer im vorliegenden Band, S. 380 f.
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Ich macht sich mit dem Publikum gemein und suggeriert ihm den freien Blick auf die Wirklichkeit hinter der ‚Kostümierung‘, über die es als Regisseur verfügen kann.69 Dieses Evozieren eines ‚Außerhalb‘ anhand von Rollenbrüchen begegnet im Übrigen auch in der Artusfahrt,70 auf die hier ein kleiner Ausblick genügen muss: Im Rahmen der Fahrt grüßt Schenk Heinrich von Habechspach Ulrich in seiner Rolle als König Artus mit einem Zitat aus Lied XXXII, das der Angesprochene bei der letzten Begegnung gesungen haben soll: Dô mich der schenk alrêrst ersach, ûz hôhem muote der biderbe sprach: „got willekomen, künec Artûs! ich sihe wol, daz diu minne hûs für wâr in iwerm herzen hât, wan sî iuch selten ruowen lât. si rætet iu unmuoze vil: des müezt ir sîn tyoste zil. Dô ich nu jungest von iu schiet, dô sunget ir guot niuwiu liet. der selben liet sprach einez sô, daz iwer herze sprünge hô und wie ez stiez an iwer prust: daz was der ritterschaft gelust; daz ich nu wol verstanden hân.“ der rede man lachen dô began. (1468,1–1469,8)
Die Verse überblenden die verschiedenen Rollen Ulrichs. Dazu bemerkt Jan-Dirk Müller: Biographisches Ich, Maske in der Turnierwelt und literarisches Rollen-Ich im Lied werden aufeinander projiziert […]. Heinrich identifiziert also im Turnierkönig den Minnesänger (damals noch ‚Ulrich‘) und das Subjekt des Liedes XXXII. Die Zuhörer erkennen diese Vermischung der Realitätsebenen und lösen sie lachend (1469,8) auf.71 69
70
71
Kennzeichnend dafür ist auch die Unterbrechung der Venusfahrt: Ulrich lässt seine Garderobe und Ausrüstung hinter sich, um heimlich seine Ehefrau zu besuchen (707–709). Die Venusfahrt weist allerdings mehr Rollenbrüche auf, was Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 240, darauf zurückführt, dass „das publikumswirksame Changieren zwischen männlicher und weiblicher Rolle wegfällt“. Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 47. Vgl. auch Dittrich, „Die Ideologie des guoten wîbes“, S. 517; Reiffenstein, „Rollenspiel und Rollenentlarvung“, S. 112 f.; Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 241.
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Das Lachen zeigt die Übereinkunft der Spielteilnehmer an, die wissen, dass sich hinter Artus ein anderer verbirgt. Das Spiel wird nicht aufgelöst, gleichwohl durchbrochen unter Verweis auf Ulrich als Sänger. Durch das Übereinanderblenden der Rollen aber erfolgt ihre Differenzierung, die auf ein ‚Freilegen‘ des Spiel-Protagonisten Ulrich als Dichter zielt. Es wird eine Diskrepanz zwischen Spielwelt und (mære-)Wirklichkeit vorgeführt, damit wiederum die Vorstellung von einer zugrunde liegenden Wahrheit generiert.72 Die Verkleidungsepisoden73 fordern gerade durch Rollenbrüche zu einer Identifizierung von Identitäten heraus. Ihr spezifisches Verfahren, hinter der Maskerade Wahrheiten zu erkennen zu geben, dient deren Konstruktion: Die Kontur eines Ich zeichnet sich durch das Zusammenspiel der Rollen, den darin gewobenen Schleier ab, der auf den Autor verweist. Insofern ist die Durchbrechung der Verkleidungsspiele ihr elementarster Bestandteil, sie dient der Verständigung über das in Wahrheit Geltende. Wenn das Lüften der Maske zum „Angelpunkt des lachenden Einverständnisses mit dem Spiel“74 wird, ist Vorsicht geboten, denn es zeigt nicht nur einen eigentlichen Gültigkeitsbereich auf, sondern ist selbst Teil des Spiels mit der Wirklichkeit, die das Werk solchermaßen zum Leben erweckt, d. h. konstituiert. Diese Verlebendigung des Erzählten in der Entschleierung, eingebunden in ein komplexes Kommunikations- oder Nachrichtensystem, ist die wahre Kunst des Frauendienstes – seines Autors, wer immer er e i g e n t l i ch gewesen sein mag.
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In dieser Weise versteht Reiffenstein, „Rollenspiel und Rollenentlarvung“, S. 113, die Verse, wenn er erläutert, dass sie die wahre Motivation von Ulrichs Handeln offenbaren. Das Lachen der Figuren gelte der „durchschaute[n] Diskrepanz zwischen der vorgegebenen und der wirklichen Motivation für gesellschaftliches Handeln“ und damit dem „Auseinanderfallen von gespielter Rolle und der Wirklichkeit“. Zum Lachen vgl. auch den Beitrag von Eming im vorliegenden Band, S. 183–185. Hierzu zählen in erster Linie die Venus- und Artus-Fahrt, aber auch das Friesacher Turnier, auf dem Ulrich als grüner Ritter erscheint. Reiffenstein, „Rollenspiel und Rollenentlarvung“, S. 108.
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3. Post-Skriptum. Der Frauendienst – eine Erzeugungsmatrix des Autors Was ist eine Signatur in Anführungszeichen? Zudem, im Inneren dieser Anführungszeichen, ist das Signum selbst ein Zitat in Anführungszeichen. Dieser Rest ist überdies Literatur. Jacques Derrida75
Der Frauendienst hat aufgrund seiner komplexen Ich-Gestaltung die Forschung immer wieder zu einem Überdenken der Autor-Frage angeregt.76 Sie neigt z. T. dazu, bei gleichzeitiger Differenzierung von textexternem Autor und textinternen Ich-Stimmen eine (relative) Identität zwischen ihnen zu konstatieren. Dabei fokussiert die neuere Forschung besonders die Irritation dieser Verbindung im Werk.77 Man kann diese Brüche als Ausdruck gewisser Spezifika mittelalterlicher Autorschaft deuten, welche die Situation des Autors und den Dichter ‚hinter dem Text‘ zu erkennen geben. Zu bedenken aber bleibt, dass das Zusammenwirken von Ver- und Entschleierung ein Imaginäres entstehen lässt, das augenblickshafte Enthüllen es als das eigentlich Geltende entwirft. Aus der Spurensuche nach diesem folgt unweigerlich eine neue Mobilisierung und Anreicherung des Imaginären. So wird, wie dargelegt, in der literaturhistorischen Fokussierung des Namens Uolrîch bzw. der von Liehtenstein dieser zum spezifischen imaginären Korrelat des Frauendienst-Autors; er verleiht diesem Signifikanz und macht ihn, sei es auch ex negativo, semantisch erkennbar. Ein literarisch kreiertes ‚Kippen‘ vom Realen ins Fiktive durchzieht das Werk auf mehreren Ebenen. Die „Spielbewegung des Hin und Her“78 treibt die ‚Real-isierung‘ des Autors voran. Dabei kann die Spielbewegung mehr oder weniger offensichtlich, auf verschiedenen Textebenen nur latent vorhanden oder bemerkbar sein. Entscheidend ist, dass die ausdifferenzierten Spielbewegungen, mit denen sich „die Mobilisierung des Imaginären durch je unterschiedliche Instanzen ent-
75
76 77 78
Jacques Derrida. Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits. 2. Lieferung. Berlin 1987, S. 82. Vgl. auch den Beitrag von Liebertz-Grün im vorliegenden Band, S. 158–161. Vgl. diesbezüglich Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 364 f. Wolfgang Iser. Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a. M. 1991 (stw 1101), S. 379.
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faltet“ das Spiel zu einer „Erzeugungsmatrix“79 des Autors werden lässt, der auch der vorliegende Beitrag nicht entkommt.
79
Ebd. Iser diskutiert in der Passage, aus der hier zitiert wird, die Gemeinsamkeiten verschiedener Konzeptualisierungen des Imaginären. Er erklärt im Blick darauf die Funktionsweise des Fiktiven. Die spezifische Relation zwischen Imaginärem und Fiktivem, wie Iser sie erläutert, und die „Doppelungsstruktur“ (S. 381), die er dem Fiktiven zuweist, wären für den Frauendienst einmal genauer in den Blick zu nehmen.
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7. Narrativik Der Frauendienst als narrative Form von H ARTMUT B LEUMER
1. Begriffliche Annäherungen Versucht man, den Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein als narrative Form zu betrachten, so liegt es nahe, dies mit Hilfe des Stichworts der Autobiographie zu tun. Zwar führt schon der Begriff eigene theoretische Schwierigkeiten mit sich. Weil diese aber bei seiner Applikation auf den Frauendienst auf signifikante Weise praktisch wirksam werden, lässt sich die narrative Sonderform des Frauendienstes ausgehend vom Autobiographiebegriff charakterisieren. In der Forschung ist dieses Verfahren angelegt: Man hat sich zwar auffällig schwer damit getan, Ulrichs Text als Autobiographie zu bezeichnen, gleichwohl wurde der Begriff aber immer wieder als Ausgangspunkt genutzt, um den Frauendienst zu taxieren.1 In dieser distanzierenden Affinität deutet sich ein Dilemma an. Oberflächlich betrachtet scheint es im Spannungsverhältnis von historischen Fakten und literarischen Fiktionen begründet zu sein. Was diesem Oberflächeneffekt jedoch vorausliegt, ist ein spezifisches Problem der narrativen Struktur des Frauendienstes. Die wiederholten Forschungsresümees zur Erzählform des Frauendienstes arbeiten in der Regel mit einem forschungsgeschichtlichen Klischee. Es lautet: Die frühen Interpreten haben Ulrichs Text aufgrund der massierten Verwendung historischer Orts- und Personennamen als faktuale Erzählung von historisch-autobiographischer Authentizität ge-
1
Zu den verschiedenen Aspekten der Begriffsgeschichte der Autobiographie vgl. den Überblick von Martina Wagner-Egelhaaf. Autobiographie. Stuttgart, Weimar 2000 (SM 323), S. 18–90. Zur Forschungsgeschichte des Frauendienstes die konzise Darstellung von Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 13–21, und zuletzt Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper, S. 207–216. Im Rahmen der älteren Referate ist besonders Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein, S. 74–89, zu nennen.
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lesen.2 Einer solchen faktualen Lektüre lassen sich gewiss die zahlreichen literarischen Motive und Genres entgegenhalten, die in die IchErzählung inseriert und durch sie medialisiert werden. Als Folge dieses Einwandes ist der Frauendienst dann nicht mehr als faktuale, sondern als fiktionale Ich-Erzählung zu lesen. Nur ist mit einer solchen Argumentationsfigur ein Gegensatz konstruiert, den der Text zwar offensichtlich aufbaut, aber ebenso offensichtlich auch unterläuft. Diese Auflösung des Gegensatzes von Fakten und Fiktionen hat weniger damit zu tun, dass die Fiktionalität einer Erzählung den Bezug zu Versatzstücken der historischen Realität ohnehin nicht ausschließt, dass sich also etwa über die Aufnahme von historisch nachweisbaren Namen in den Kontext des Frauendienstes prinzipiell kein Argument gegen den fiktionalen Status der Erzählung ergibt, sobald dieser Status im Text einmal markiert worden ist.3 Vielmehr beginnt der fiktionale Status des Erzählens dort zu changieren, wo das Authentizitätspostulat der Autobiographie ins Spiel kommt. In diesem Moment geht es nämlich nicht mehr einfach darum, ob der fiktionale Status des Textes durch eine faktuale Rückbindung des Erzählens an die historische Realität in Frage steht; das Authentizitätspostulat des autobiographischen Erzählens unterläuft zuvor bereits die dichotomische Unterscheidung in Fakten und Fiktionen. Darum ist die Etikettierung des Frauendienstes als ‚fiktive Autobiographie‘ irritierend, weil sie auf die Vorstellung einer Fiktion des Nicht-Fiktionalen hinausläuft.4 Und dennoch scheint diese selbstwidersprüch2
3 4
Vgl. dazu in der jüngeren Forschung die Übersicht zu den historischen Personennamen von Krenn, „Historische Figuren“, sowie zur historischen Verifizierbarkeit Ulrichs die korrigierten Urkunden-Regesten von Spechtler, „Die Urkunden-Regesten“. Vgl. dazu den Beitrag von Mark Chinca im vorliegenden Band. Vgl. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 1, 35, 367, 375 f. in Anlehnung an Müller, „VL: Ulrich von Liechtenstein“, Sp. 1275, vgl. zuvor ders., „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 57, 73. Zur frühen Auffassung des Frauendienstes als Text mit faktual begründetem autobiographischem Anspruch z.B. Knorr, Historische und litterarische Untersuchungen, mit dem Stichwort „Memoiren“ S. 3; der erste Scheidungsversuch von Fakten und Fiktionen ist Becker, Wahrheit und Dichtung. Zur literarischen Form der Autobiographie Neumann, „Dichtung und Leben“, bes. S. 383 f. Dass die Frage von Dichtung und Wahrheit im Frauendienst durch die Stilisierung der Ich-Instanz unentscheidbar wird, hat Misch, Geschichte der Autobiographie, dargelegt und Ulrichs Ich-Erzählung im Spannungsfeld des narrativen lyrischen Genres des Tageliedes einerseits und den Möglichkeiten der Ich-Aussage der Mystik andererseits verortet (S. 431–437, bes. 434); McFarland, „The Autobiographical Narrative Form“, S. 192 f., 195, verweist zusätzlich auf den Ich-Erzähler im Parzival. Vgl.
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lich anmutende Klassifikation für den Text aufschlussreich zu sein. Sie macht deutlich, dass die Frage, ob und inwiefern die erzählte Geschichte Ulrichs einen referentiellen Bezug zur historischen Lebenswirklichkeit ihres Verfassers aufweist, das eigentliche Erzählproblem zwar berühren, nicht aber aufklären kann. Die gesuchte Grundschwierigkeit des Erzählens kommt denn auch deutlicher in den Blick, wenn man den Begriff der Autobiographie durch den Terminus der Autonarration ersetzt.5 Weil die Autonarration ein erzählpragmatischer Begriff ist, kann mit seiner Hilfe nämlich die Fiktionalitätsfrage außen vor bleiben. Deshalb ist er aber auch geeignet, den Blick für jenen narrativen Selbstwiderspruch der Autobiographie zu schärfen, der im Etikettierungsproblem des Frauen-
5
ergänzend zu dessen fragmentarischer Minnesängerbiographie auch den Hinweis auf die lyrische Qualität von dessen Sprache durch Thomas, „‚Parzival‘ as a Source for ‚Frauendienst‘“, S. 431. Auf das biographische Muster der Heiligenvita hat Ruh, „Dichterliebe“, S. 164, aufmerksam gemacht. Eine Wiedereinführung des faktual begründeten Autobiographiebegriffs versuchte Aarburg, Autobiographie und Persönlichkeit. Vollends anachronistisch wirkt das hartnäckige Festhalten am historisch-autobiographischen Status bei Reichert, „Vorbilder“, S. 195, das sogar die Triftigkeit geschichtswissenschaftlicher Argumentationen in Abrede stellt, bzw. die freizügige Rede von „Autobiographie“ durch Classen, „Autobiographische Diskurse“, die einen sinnvollen Begriffsgebrauch unmöglich macht. Vgl. auch ders., „Self-enactment of late medieval chivalry“, S. 95 f., 104 f. Ausgehend von seiner Betonung der Authentizität des Minnesangs hat sich dagegen Haferland, Hohe Minne, S. 246–258, für die Autobiographiethese eingesetzt und sich damit gegen den traditionellen Fiktionalitätseinwand gestellt. Haferland ist schließlich aber wieder – gegen den eigenen Ansatz – in das Faktizitätsargument zurückgefallen („Ulrich will Fakten aus seinem Leben erzählen“, S. 248) und hat einer Analyse der Erzählinstanzen ihr Recht bestritten (S. 261). Die gegenteilige Schlussfolgerung aus den Anleihen beim Minnesang finden sich bei Brinker-von der Heyde, „Biographisches Spiel und gespielte Biographie“, S. 31 u. 37. In diese Richtung weist das Etikett des „erste[n] Ich-Roman[s] in deutscher Sprache“, wie es vor allem von Spechtler immer wieder verwendet worden ist (zuletzt Ich – Ulrich von Liechtenstein, S. 15), bzw. das der ersten Ich-Erzählung in deutscher Sprache, z. B. bei Christian Kiening. Zwischen Körper und Schrift: Texte vor dem Zeitalter der Literatur. Frankfurt a. M. 2003, S. 204, vgl. aber zu dieser Bezeichnung die Einschränkung unten, S. 383. Gegen den Autobiographiebegriff und unter Akzentuierung der Literarizität hat Glier, „Diener zweier Herrinnen“, S. 303, vom „Roman zum eigenen literarischen Werk“ gesprochen. Daneben sei nur noch auf die Klassifizierungen von Zips, „Frauendienst als ritterliche Weltbewältigung“, S. 783, als „Besserungsroman“, und von Birkhan, „Die literarische Situation um 1250 in Österreich“, S. 171, als „Liebeshelden-Epos“ verwiesen, wobei der terminologische Widersinn, auf den die letzte Formulierung hinausläuft, zuvor schon von PeschelRentsch, „Das arme Ich des Ulrich von Liechtenstein“, S. 157, an der Begriffshybride des „Ich-Epos“ betont worden ist.
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dienstes wiederkehrt: Autobiographisches Erzählen ist paradoxerweise zugleich das Erzählen einer autobiographischen Unverfügbarkeit. Diese Unverfügbarkeit der eigenen Geschichte ist für den Frauendienst aufschlussreich, da sie sich unabhängig von den Kategorien von Fiktion und Fiktionalität als reiner Zeiteffekt des Erzählens beschreiben lässt. Erzähllogisch muss eine Geschichte als abgeschlossen gelten, nur unter dieser Bedingung kann sie erzählt werden. Folglich kann der Protagonist einer Biographie seine Lebensgeschichte nur um den Preis der künstlichen Setzung ihres narrativen Endes erzählen. Diese strukturelle Vorbedingung manövriert jede Autobiographie in ein Dilemma hinein: Ihre notwendige narrative Vorläufigkeit konkurriert mit dem Anspruch des biographischen Musters auf Vollständigkeit.6 Der autobiographische Erzähler vermag immer noch zu sprechen, obwohl seine Lebensgeschichte genau genommen bereits zu Ende sein müsste, und je länger erzählt wird, desto stärker wird der Widerspruch der Zeit des Erzählens zur Zeit der Geschichte. Die Zeit der Narration müsste damit fortwährend den autobiographischen Anspruch der erzählten Geschichte dementieren. Dieser Selbstwiderspruch bleibt jedoch im Erzählen verdeckt, weil er letztlich nicht strukturell, sondern referentiell begründet ist. Darum kommt er nicht vor, wenn man den Begriff der Autonarration verwendet. Was als Geschichte erfasst wird, muss dann nicht die gesamte Lebenspanne des Erzählers umfassen. Das narrative Ende macht entsprechend keine Schwierigkeiten. Es kann gesetzt werden, ohne dass die Ebenen von Geschichte und Narration in Widerspruch geraten. Und spätestens an dieser Stelle entpuppt sich die Setzung des Endes als Bedingung der Möglichkeit der autobiographischen Selbstinterpretation: Das Ende der narrativen Struktur dementiert nicht die Referenz auf die Realität, es hebt sie vielmehr dialektisch auf und überführt sie in jenen Sinnbildungsprozess, durch den auch die Realität erst gegeben ist. Die narrative Sonderform der Autobiographie hat genau diese strukturelle Pointe. Sie lässt das Referenzproblem verschwinden und doch im ambivalenten Umgang mit dem narrativen Ende deutlich werden.7 6
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Als positive Möglichkeit hat Gérard Genette. Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Nachwort von Jochen Vogt. 2. Auflage. München 1998, S. 161, diesen Zusammenhang von Geschichte und Narration so formuliert, dass in der autobiographischen Narration das Ende der Geschichte zugleich ihre Quelle sei. „Autobiographie ist damit keine Gattung oder Textsorte, sondern eine Lese- oder Verstehensfigur“, die „auf schlagende Weise die Unmöglichkeit der Abgeschlossenheit und der Totalisierung aller aus tropologischen Substitutionen bestehenden
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An diesem Punkt sind nun die narrativen Schwierigkeiten des Frauendienstes besonders deutlich. Betrachtet man Ulrichs Text als eine Autonarration, so verschwindet auch hier das referentielle Dilemma des biographischen Endes. Dafür taucht es aber im Text ganz praktisch als narratives Dilemma auf: Wenn Autonarrationen theoretisch dadurch unproblematisch werden, dass sie das Ende ihrer Geschichte setzen können, dann verweigert sich der Frauendienst dieser Lösung in seiner Diegese. Es zeigt sich nämlich, dass der Text keine syntagmatisch wirksame Basisstruktur besitzt, die sich am Ende erfolgreich auszurunden vermag. Je näher die Geschichte des Ritters und Minnesängers Ulrich von Liechtenstein der Gegenwart des Erzählers kommt, desto weniger kann sie erzählt werden, – und das Ende dieser Geschichte bleibt letztlich aus.8
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textuellen Systeme demonstriert“ (Paul de Man. „Autobiographie als Maskenspiel.“ In: Ders. Die Ideologie des Ästhetischen. Hrsg. von Christoph Menke. Frankfurt a. M. 1993 [Aesthetica. es 1682. NF 862], S. 131–146, hier S. 134, 135). De Mans strukturelle Argumentation liefert das Gegenargument gegen die referentielle Vorstellung des ‚Autobiographischen Paktes‘ von Philippe Lejeune. „Der autobiographische Pakt.“ In: Die Autobiographie: Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hrsg. von Günther Niggl. 2., um ein Nachwort zur Neuausgabe und einen bibliographischen Nachtrag erg. Auflage. Darmstadt 1998 (WdF 565), S. 214–257, hier S. 217, 230. Vgl. darüber hinaus zum Referenzproblem im Forschungsüberblick von Wagner-Egelhaaf (Anm. 1), S. 40–42, 69 f., 80 f. Zur paradoxen Zeitlichkeit der autobiographischen Verstehensfigur die hermeneutische Grundlegung von Wilhelm Dilthey. „Das Erleben und die Selbstbiographie.“ In: Ebd., S. 21–32. Die von Dilthey herausgestellte hermeneutische Grundfigur lässt sich als ein basales Modell von Narrativität reformulieren, das in der Autobiographie von einer Tiefenstruktur auf die Diskursebene wechselt und damit die Möglichkeiten der Selbstreflexion mit Hilfe spezifischer narrativer Muster ebenso schafft wie unterläuft, womit die Frage nach der historischen Referenz nicht mehr gestellt werden kann: „Die Poetik der autobiographischen Rede macht die Frage nach Wahrheit oder Fiktion unentscheidbar und versetzt sie deshalb in Permanenz“, so in der fulminanten Skizze von Ralf Simon. „Zwei Studien über Autobiographik.“ Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 29, 1994, S. 111–129, hier S. 115. Vgl. dazu die frühe Kritik von Knorr, Historische und litterarische Untersuchungen, S. 15, und Becker, Wahrheit und Dichtung, S. 113. Eine erste Auseinandersetzung mit dem Erzählphänomen beginnt mit Xenja von Ertzdorff. „Typen des Romans im 13. Jahrhundert“, S. 89; Ruben, Zur ‚gemischten Form‘ im Frauendienst, S. 92 f. Vgl. ferner die sensiblen, wenn auch vom Bekenntnischarakter des Textes ausgehenden Beobachtungen bei Dittrich, „Die Ideologie des guoten wîbes“, S. 512 f., und die Hinweise bei Reiffenstein, „Rollenspiel und Rollenentlarvung“, S. 114; eine chronikalische Vereinfachung konstatiert Herzog, „Minneideal und Wirklichkeit“, S. 511; von „der Negierung […] des Epischen schlechthin“ hat Hausner, „Überlegungen zur Struktur“, S. 145, gesprochen. Auf der epischen Qualität beharrt hingegen, im Widerspruch zur eigenen, triftigen Argumentation, Müller, „Lachen –
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Vielleicht möchte man dies wiederum als ein Indiz für die höhere Angemessenheit eines referentiell begründeten Autobiographiebegriffs werten, etwa in dem Sinne: Weil Ulrich tatsächlich von sich selbst erzählt, kann seine Geschichte im Text noch nicht zu Ende sein. Einen starken Anreiz für eine solche Rückkehr zu einer referentiellen Argumentation mögen die besagten Reihen von historischen Orts- und Personennennungen bieten, die den Text durchziehen: Sie fungieren dann ähnlich wie Zeugenlisten in mittelalterlichen Urkunden und bestätigen die faktische Wahrheit der Textaussagen.9 Aber für das Erzählproblem ist diese Sichtweise wenigstens vorerst auszuscheiden, weil sie wiederum ein strukturelles Dilemma erzeugt: Wo nämlich das Sprechen über sich selbst im Namen eines Wirklichkeitsbezugs auf die Struktur der Geschichte verzichten muss, ist es kein Erzählen mehr, da der Begriff des Erzählens prinzipiell auf dem der Geschichte beruht.10 Damit lässt sich die eigentliche Crux der narrativen Form im Frauendienst sehr pointiert formulieren. Sie hat mit der angeblichen Opposition von Realität und Fiktion zunächst nichts zu tun und wäre als Frage so auszudrücken: Ist der Frauendienst überhaupt ein Erzähltext, wenn sich das, was man anfangs für seine Geschichtsebene halten möchte, am Ende auflöst?
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Spiel – Fiktion“, S. 68 f., so dass man durchaus von einem „erzählerischen Leerlauf“ (Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 204 [zit.], 209) mit einer Auflösung des narrativen Endes (S. 360 f.) sprechen darf. Deshalb hat Schönbach, „Zum Frauendienst“, S. 202, vermutet, die Namenfolgen seien den Zeugenlisten historischer Urkunden entnommen. Für Interpreten, die ihren Lyrikbegriff implizit an die Kategorie des Erlebnisses koppeln, gewinnen auch die Lieder einen „dokumentarischen Charakter“, Becker, Wahrheit und Dichtung, S. 95, oder gelten als „Lebenszeugnis“, Ruben, Zur ‚gemischten Form‘ im Frauendienst, S. 50, tendenziell noch Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 8, 264, im Widerspruch zur eigenen These von der Fiktionalität und dem Ausdrucksdilemma des Minnesangs (S. 57–61, 305, 312). Wo im Begriff des Minnesangs das Authentizitätspostulat mitschwingt, werden die Lieder dagegen eher zum Authentizitätsbeweis der Erzählung. In diesem Sinne z. B. zuletzt Volfing, „Die Burgen Ulrichs von Liechtenstein“, S. 63. Vgl. Genette (Anm. 6), S. 17. Das Modell der Erzählebenen nach Wolf Schmid. „Die narrativen Ebenen ‚Geschehen‘, ‚Geschichte‘, ‚Erzählung‘ und ‚Präsentation der Erzählung‘.“ Wiener slawistischer Almanach 9, 1982, S. 83–110; erweitert ders.: „Der semiotische Status der narrativen Ebenen „Geschehen“, „Geschichte“, „Erzählung“ und „Präsentation der Erzählung“.“ In: Zeichen und Realität. Akten des 3. Semiotischen Kolloquiums der Deutschen Gesellschaft für Semiotik e. V. Hamburg 1981. Bd. 2. Hrsg. von Klaus Oehler, Tübingen 1984 (Probleme der Semiotik 1/II), S. 477–486; zusammenfassend ders.: Elemente der Narratologie. Berlin, New York 2005 (Narratologia 8), bes. S. 241–272.
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2. Narrative Offenheit Ein sicheres Indiz für das Problem der narrativen Unabgeschlossenheit des Frauendienstes liefert bereits die normative Wirkung, die sich frühzeitig ergibt, sobald man den Text über die Begriffe von Autobiographie und Autonarration zu erfassen versucht: Weil der narrative Handlungsentwurf nicht nur keinen rechten Abschluss findet, sondern bereits von Anfang an immer wieder aufgeschoben wird, erscheint Ulrich fast den ganzen Textverlauf hindurch als ein recht mäßiger Erzähler seiner eigenen Geschichte. Diese narrativen Aufschubeffekte haben augenscheinlich etwas mit der Form des Minnedienstes zu tun, der die sozialen Rollen im Handlungsverlauf bestimmt. Fasst man den Text als Autonarration auf, dann kann man vorläufig sagen: Der Ich-Erzähler Ulrich erzählt seine Lebensgeschichte als einen Frauendienst, der in Kindheit und Jugend grundgelegt, vom jungen Ritter begonnen und vom gereiften Ritter fortgeführt wird, bis dieser schließlich, nach insgesamt 33 Jahren ritterlichen Dienstes (1845,1–5), mit seiner Geschichte in der Erzählgegenwart ankommt. Damit beginnt dann der Frauendienst durch den Erzähler auch auf der Ebene der Narration: Nicht nur der Ulrich in der Diegese ist demnach ein Frauendiener, auch der Erzähler sieht sich durch sein Erzählen in einer solchen Rolle. Der Titel des Buches, Ditz buoch sol guoter wîbe sîn / […] VROWEN DIENST ist ez genant (1850,1–7), qualifiziert so nicht zuletzt den Erzählakt.11 Von der Ebene der Geschichte her betrachtet, ist Ulrichs Projekt jedoch gleich auf doppelte Weise schwierig. Seine Geschichte ist nämlich nicht einfach unabgeschlossen, sie ist, als Vorbedingung dieser Unabgeschossenheit, auf eine spezifische Weise gespalten. Die Handlung des Frauendienstes besitzt dazu, um einen strukturalistischen Terminus aufzugreifen, zwei Intrigen, d. h. zwei eigenständig lesbare Handlungsstrategien mit jeweils eigenen axiologischen Besetzungen, die zueinander in einem asymmetrischen Verhältnis stehen:12 Es handelt sich beim Dienst 11 12
Siehe unten, S. 388–395. Zur Begriffsbildung Boris Tomaˇsevskij. Theorie der Literatur: Poetik. Nach dem Text der 6. Auflage (Moskau-Leningrad 1931) hrsg. und eingeleitet von Klaus-Dieter Seemann. Aus dem Russischen übersetzt von Ulrich Werner. Wiesbaden 1985 (Slavistische Studienbücher. NF 1), S. 216, und unter den späteren strukturalistischen Reduktionen des Begriffs besonders Claude Bremond. „La logique des possible narratifs.“ Communications 8, 1966, S. 60–76, hier S. 64; ders. „Die Erzählnachricht.“ In: Literaturwissenschaft und Linguistik: Ergebnisse und Perspektiven 3. Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, II. Übersetzt von Erika Höhnisch, hrsg. von
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des Protagonisten zwar um eine soziale Karriere, doch ebenso handelt es sich um die Geschichte eines wiederholten Misserfolges in einer Minnehandlung. Soziale Intrige und Minneintrige sind damit unterschiedlich strukturiert. Ulrichs soziale Intrige lässt sich bis weit in die zweite Texthälfte hinein als ein durchgängiger Aufstiegsweg verfolgen. Sie wäre vereinfacht so zu erzählen: Schon als Kind ist Ulrich von der Idee des Frauendienstes fasziniert (10,4–8). In seiner Jugend, von seinem zwölften (12,2) bis zu seinem 17. Lebensjahr, dient er darum einer von ihm verehrten Dame als Page (16,2 f.), anschließend wird er vier Jahre in die Obhut des Markgrafen Heinrich von Meißen gegeben, eines erfahrenen Frauendieners, der nun wiederum Ulrich über den Frauendienst belehrt (29–34). Nach dem Tod von Ulrichs Vater, der sich im 21. Lebensjahr des Protagonisten und damit pünktlich zum Zeitpunkt seiner Rechtsmündigkeit ereignet, tritt der erwachsen gewordene Ulrich nicht nur sein Erbe an (35,7 f.), er besucht zunächst auch drei Jahre lang als Knappe Turniere, bis er auf der Hochzeit der Tochter des Fürsten Leopold von Österreich das Schwert nimmt (40 f.). Damit ist die entscheidende soziale Rolle im Text konstituiert. Darum fällt jetzt erstmalig der Name Uolrîch […] von Liehtenstein, und bezeichnenderweise wird dieser Name von Ulrichs Minneherrin ausgesprochen (44,5–8). Kompositorisch bedeutsam ist diese Art der Namensnennung auch deshalb, weil die vrouwe selbst keinen Namen haben darf: Solche Namenlosigkeit der Minnedame ist eine minnesängerische Konvention,13 die sich hier mit der Romankonvention trifft, den Namen des Protagonisten erst im entscheidenden Moment der narrativen Konstituierung seiner sozialen Rolle im Text zu nennen.14 Das bedeutet eine nachdrückliche Markierung: Die Vorgeschichte des Protagonisten ist mit der Namensnennung erkennbar abgeschlossen, Ulrich kann sich nun als Ritter auszeichnen, da sich seine ritterlichen Taten seinem Namen zuschreiben
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Jens Ihwe. Frankfurt a. M. 1972 (Ars Poetica. Texte 8. Literaturwissenschaft und Linguistik II), S. 177–217, hier S. 197 f. Diese Konvention wird im Frauendienst nicht nur für die Herrin Ulrichs verwendet, sie wird generalisiert, denn den Namenlisten der Frauendiener steht kein einziger Frauenname gegenüber – mit einer Ausnahme, und die ist literarisch bezeichnend: Isolde (Lied XII). So im Lanzelet Ulrichs von Zatzikhoven, V. 4706, und im Parzival Wolframs von Eschenbach, 140, 16. Vgl. zu diesem Prinzip der Namensnennung grundsätzlich Dennis Howard Green. The Art of Recognition in Wolframs „Parzival“. Cambridge 1982, S. 15.
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lassen. Und was nun einsetzt, ist ein ritterlicher Frauendienst, der Ulrich nicht nur in Turnieren u. a. in Friesach und Klosterneuburg zu einem vielbeachteten Turnierritter werden lässt, sondern in dessen Verlauf sich Ulrich auch noch unter größtmöglichem öffentlichen Inszenierungsaufwand als ritterliche Minne-Allegorie verkleidet: In der sogenannten Venusfahrt, die das narrative Kernstück der ersten Texthälfte ausmacht, zieht Ulrich quer durch Österreich und verzeichnet einen immensen Zulauf an ritterlichen Gegnern, die er sämtlich im Kampf besteht (470–986). Doch wie im Gegensatz zu Ulrichs außergewöhnlichem Erfolg in dieser sozialen Intrige als Ritter kann der Held die Huld seiner Minneherrin nicht dauerhaft erreichen. Dem ritterlichen Erfolg steht eine Serie von Misserfolgen in einer Minneintrige gegenüber, die eine iterierende Struktur aufweist und dabei immer wieder darauf zielt, eine konkrete Dienstbeziehung zwischen Ulrich und seiner Dame anzuknüpfen. Die Verkopplung von ritterlicher Aufstiegs- und iterierender Minnehandlung ist dabei sehr direkt, was Ulrichs Verwandlung in die Allegorie des Venusritters buchstäblich ins Bild bringt. Für die narrative Logik der Handlung heißt das: Die soziale Intrige bezieht aus der Minneintrige ihren kausalmotivierenden Antrieb. Jeder Rückschlag im Werben um die Huld der vrouwe erhöht die Anstrengungen Ulrichs als Ritter. Dabei spalten sich die Intrigen beständig, und der Protagonist versucht im Gegenzug immer wieder, diese Spaltungen zu überwinden. Diese Versuche realisieren sich jedoch nicht auf dem Wege einer direkten Werbungshandlung, sondern vermittelt über Ulrichs Minnelyrik: Mit Hilfe seiner Lieder stellt der liebende Ritter einen Kontakt zu seiner namenlosen Herrin her. In seiner Werbung bedient sich Ulrich dazu eines breiten medialen Registers, das von der narrativen Form auf die Lyrik zuläuft: Seine Lieder sendet er seiner vrouwe mit Hilfe von Boten, unterstützt von Briefen oder ergänzend kommentiert durch Minnereden in Form kleiner Bücher.15 Doch diese medialisierten Kontaktversuche tragen Ulrich zwar anfangs das Lob seiner Lieder (74,3 f.) und als vorläufigen Höhepunkt seiner Bemühungen sogar die Einladung zu einer Ke15
Vgl. dazu den Ansatz von Linden, Kundschafter der Kommunikation, bes. S. 46–56, 70–74. Deskriptiv zur Botenrolle und mit dem Material des Minnesangs Spechtler, „Die Stilisierung der Distanz“, S. 290–300; zuvor mit einer historisch-autobiograpischen Auffassung kursorisch Ruben, Zur ‚gemischten Form‘ im Frauendienst, dem die Briefe im Text als „echte Dokumente“ (S. 49) gelten. Vgl. auch den Beitrag von Jürgen Wolf im vorliegenden Band.
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menatenszene mit der Herrin ein;16 aber selbst in diesen scheinbaren Erfolgen hält sich die Serie von beständig wiederholten Zurückweisungen durch. Diese Zurückweisungen können den Frauendiener gleichwohl nicht von seinem Dienst abbringen, paradoxerweise führen sie vielmehr zur Verstärkung und Intensivierung des Dienstes (173,8–174,8). In dieser doppelten Handlungskonstruktion, in der sich Spaltung und Verbindung der Intrigen wechselseitig bedingen, ist unschwer das lyrische Minneparadox zu erkennen, das der Frauendienst narrativiert.17 Die Minnewerbung führt zu einer Intensivierung der sozialen Selbstauszeichnungspraktiken des Ritters: Je länger und deutlicher Ulrich als Minnender auf Abstand zu seiner Dame gehalten wird, desto stärker erhöht sich das Sozialprestige des Frauenritters. Der aktantielle Misserfolg in der Minneintrige wird in der sozialen Intrige in einen axiologischen Gewinn umgeschrieben. Damit ist das narrative Problem des Textes vorläufig so zu fassen: Das Minneparadox der Lyrik treibt im narrativen Kontext die Geschichte nicht nur voran, es macht ihr auch zunehmend deutliche Schwierigkeiten. Es löst nämlich die narrative Struktur sehr grundsätzlich auf: Die Spaltung der Intrigen wird unablässig wiederholt, das Ziel ihrer Verbindung nie erreicht. Und das hieße im Ergebnis für die Erzählung: Das narrative Projekt des Frauendienstes wird unabschließbar und sinkt schließlich auf das Niveau der Präsentation eines bloß seriellen Geschehens herab. 16
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Vgl. zu den episch merkwürdigen Handlungsbedingungen der viel diskutierten Szene, die als direkte Umsetzung lyrischer Metaphorik und Motivik in Züge der Diegese zu verstehen sind, bes. Volfing, „Die Burgen Ulrichs von Liechtenstein“, S. 67–69, und zur Burgmetapher auch McLelland, „Der unerreichbare Innenraum“, S. 93. Vgl. zum Einfluss der Lyrik auf die narrativen Bedingungen zuerst maßgeblich Schneider, „Die Selbstdarstellung des Dichters“, bes. S. 216 die These des problematischen Übergangs der Funktion des lyrischen Ichs auf den Ich-Erzähler; dazu auch Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein, S. 63. Zur lyrischen Motivverwendung im epischen Kontext Thomas, „The Minnesong Structure of Ulrich von Liechtenstein’s ‚Frauendienst‘“, bes. S. 196, 202, der den weiterführenden Hinweis gibt, dass die lyrischen Motive auf eine thematische Kohärenz zielen (S. 196), was erklärt, warum diese mit narrativen Kohärenzkriterien nicht zu fassen sind. Die These, die Handlung des Textes sei als „praktizierter Minnesang“ zu fassen, bei Touber, „Der literarische Charakter“, S. 260. Vgl. wieder ders., „‚Frauendienst‘ und die Vidas und Razos der Troubadours“. Komplementär zu dieser minnesängerischen Paradoxierung des Erzählten erscheint die These von der Entparadoxierung des Minnesangs bei Hübner, wenn dieser für die Lyrik formuliert: „Das Minneparadox evoziert […] Lichtenstein an keiner Stelle“, Frauenpreis, S. 299. Siehe auch unten, S. 375 f., Anm. 34.
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3. Zwischen Geschichte und Erzähler: narrative Transgressionen Sichtbar wird diese Auflösung der Geschichte durch das Minneparadox besonders an der Stelle, als das Verhältnis der Intrigen zugunsten der Minnehandlung aus dem Gleichgewicht gerät und die Geschichte förmlich ins Geschehen umkippt. Nachdem der Minnediener die praktische Vergeblichkeit seines Werbens um seine Minnedame eingesehen hat, wendet er sich einer anderen Herrin zu. Diese steht zu Ulrichs erster vrouwe insofern in einem asymmetrischen Verhältnis, als sie ebenfalls als Minneherrin fungiert, jetzt aber ein Gegenseitigkeitsprinzip vertritt: Im Unterschied zur ersten Herrin beantwortet die zweite vrouwe Ulrichs Minnedienst mit der Gewährung ihrer Huld (1393,7–1394,7). Dieser konzeptionellen Asymmetrie entspricht die prinzipiell veränderte Relation des Minnenden zur Herrin: Der Ulrich des ersten Textteils wird durch ein diffuses, vorreflexives Minnebegehren zu seiner vrouwe getrieben, an dessen nachträglicher Aufklärung der Protagonist etwa durch innere Monologe in Dialogen mit seinem Herzen arbeitet. Dagegen kommt es durch einen reflexiven, auffällig emotionslosen Abwägungsprozess zu einer Vorauswahl der zweiten Herrin, deren Richtigkeit sich dann nachträglich prompt bestätigt (1390,7–1392,5).18 Mit Ulrichs Vernunftentscheidung für eine neue vrouwe verschwindet zugleich das asymmetrische Verhältnis von sozialer Intrige und Minneintrige, das Dienstverhältnis tritt sofort in Kraft, es wirkt deutlich entspannter, was für die Erzählung eine erhebliche Funktionsveränderung bedeutet: Ohne das Begehren wird das Dienstverhältnis narrativ spannungslos. Auf das Ganze des Textes gesehen heißt das: Durch den Wechsel der Minneherrin gewinnt der Erzähltext einerseits eine deutlich zweiteilige Form, aber zugleich verliert er auch seine narrative Dynamik auf der Ebene der Geschichte. Den spannungsreich-ergebnislosen Bemühungen Ulrichs um seine erste vrouwe folgt ein zweiter Handlungsabschnitt, aber die Erzählung wird nun zum bloßen Bericht, die Geschichte gerät unter der Ägide der zweiten Minneherrin zum einfachen Geschehen. Diese Entwicklung der Geschichte muss spürbare Folgen für die Ebene der Narration haben. Sie kulminiert darin, dass die Rede des Erzählers zusehends von seiner Erzählgegenwart durchsetzt wird. Die 18
Vgl. zur Rationalität der Entscheidung Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 89.
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Narration verliert damit gerade jene für das Erzählen so typische Zeitform: Aus dem epischen Präteritum wird einfaches Präsens, weil der Text am Ende kaum mehr episch ist (1612–1620; 1637 f.; 1645–48; 1688; 1733–37; 1740–49; 1795–1800; 1808).19 Gerade dieses Tempusproblem zwischen Geschichte und Narration ist für das Problem des Erzählens im Frauendienst im höchsten Maße signifikant, aber es ist aus dem narrativen Kontext heraus nicht aufzulösen. Es ist nämlich der zunehmenden Dominanz der lyrischen Inserate geschuldet: Das Minnesang-Œuvre Ulrichs mit seinen 58 Liedern, das in den Erzähltext eingelassen ist, gibt der erzählten Handlung nicht nur über das Minneparadox seine paradoxe Grundstruktur vor, die Lieder selbst konstituieren sich zunehmend als Handlungen des Sängers in der Geschichte. Und so wie die Lyrik in der ersten Texthälfte die Inszenierung der Diegese und die Handlungslogik der Geschichte prägt,20 so beeinflusst sie in der zweiten Texthälfte zunehmend auch die Narration des Erzählers. Entsprechend erfährt man von dem konkreten Anlass, der dazu führt, dass Ulrich seiner ersten Dame absagt, durch den Erzähler gerade nichts mehr (1361,1–6 und 1364,7–1365,6). Dafür thematisieren aber die Lieder das unaussprechliche Vergehen der Herrin (Lied XXI, 14 f.), beklagen ihre permanente Lohnverweigerung (bes. Lied XXII, 26–28) und werden schließlich selbst zur Rügehandlung (Lied XXIII, Leich XXV, 42–56),21 deren Ende der Erzähler ausdrücklich vermerkt (1376,1 f.). Die erzählte Handlung verblasst, der lyrische Sprechakt wird dafür zur Geschichte. Die Lieder Ulrichs fungieren als symbolische Strafe der ersten Herrin, womit der Minnesang der Geschichte des ersten Dienstes ein Ende setzt.
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Vgl. auch den Effekt in Str. 1753–1766. Zum Präsens besonders Rischer, „Zum Realitätsstatus literarischer Fiktion“, S. 155. Zuvor Tinsley, „Die Kunst der Selbstdarstellung“, S. 135; Hausner, „Überlegungen zur Struktur“, S. 142; PeschelRentsch, „Das arme Ich des Ulrich von Liechtenstein“, S. 175. In der ausschnitthaften Darstellung zum Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit bei Ruben, Zur ‚gemischten Form‘ im Frauendienst, S. 97–100, bleibt der Befund unbeachtet. Siehe unten, S. 375–382. Vgl. zu dieser rügenden Funktion im Prinzip schon Brecht, „Ulrich von Lichtenstein als Lyriker“, S. 9. Vgl. zur Position der Scheltlieder die Phasengliederung zur Liedanordnung von Händl, Rollen und pragmatische Einbindung, S. 382. Allgemein zur Beschreibung des Typus Hinweise bei Horst Brunner. „Minnesangs Ende. Die Absage an die Geliebte im Minnesang.“ In: ‚Durch aubenteuer muess man wagen vil‘: Festschrift für Anton Schwob zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Wernfried Hofmeister und Bernd Steinbauer. Innsbruck 1997, S. 47–59, hier S. 56–58.
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Zugleich enthält die Lyrik auch punktuell Reflexionen über die Minneherrin, die im narrativen Kontext wie poetologische Kommentare zum Erzählproblem wirken. Das hat den Effekt einer metalyrischen Reflexion der narrativen Struktur.22 Gewiss nicht zufällig erfolgt diese Reflexion auf das Geschichtsproblem in Ulrichs Leich als der zentralen lyrischen Prunkform des Textes.23 Die besondere Musikalität des Leichs wird auch im Erzählkontext ausdrücklich hervorgehoben (1373,2–6), diese markierte Musikalität erscheint dabei jedoch vor allem als die Kehrseite einer besonderen Reflexivität, denn der Leich behandelt das bisherige Werbungshandeln Ulrichs als einen Minnekasus.24 Damit kann der lyrische Text als poetologischer Kommentar zum Erzählproblem seines narrativen Kontextes fungieren. Ulrichs lyrisches Ich beschreibt hier nämlich die Unbotmäßigkeit und Wankelmütigkeit seiner vrouwe mit den Worten: nu vert entwer ir habedanc reht als ein rat, daz umbe gât, und als ein marder, den man hât, in eine lin gebunden (Leich XXV, 60–63),
womit zugleich auch die iterierende Spannung der bisherigen Geschichte präzise ins Bild kommt. Im weiteren Textverlauf beziehen sich dann die verstärkt auftretenden Erzählerkommentare immer weniger auf das Geschehen in der erzählten Welt als vielmehr auf die Themen und Konstellationen der lyrischen Inserate.25 Der Erzähler kommentiert und reflek22
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Zum Begriff und Problem der Metalyrik allgemein Eva Müller-Zettelmann. Lyrik und Metalyrik. Theorie einer Gattung und ihrer Selbstbespiegelung anhand von Beispielen aus der englisch- und deutschsprachigen Dichtkunst. Heidelberg 2000 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 171), S. 160–180; aus mediävistischer Sicht Sabine Obermaier. Von Nachtigallen und Handwerkern: „Dichtung über Dichtung“ in Minnesang und Sangspruchdichtung. Tübingen 1997 (Hermaea, NF 75), S. 1–19. Zum Leich vgl. auch die Beiträge von Knapp (S. 113 f.) und Braun (S. 410, 424 f., 436) im vorliegenden Band. Vgl. Dittrich, „Die Ideologie des guoten wîbes“, S. 505, die für den Leich „unlyrische Reflexionen“ konstatiert hat. Vom „Kasus“ im Leich spricht ausdrücklich Christina Kreibich. Der mittelhochdeutsche Minneleich. Ein Beitrag zu seiner Inhaltsanalyse. Würzburg 2000 (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 21), S. 199; zur Sonderstellung des Leichs mit Blick auf das Minnekonzept Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper, S. 287. Vgl. von Ertzdorff, „Typen des Romans“, S. 89; Ruben, Zur ‚gemischten Form‘ im Frauendienst, S. 54. Die damit einhergehende Vereinfachung der erzählenden Narration zu nurmehr berichtenden Rede verzeichnet Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 68. Der Kommentarbegriff von Pieper, Die Funktionen der Kommentierung,
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tiert nun die Lyrik, die Lyrik kommentiert wiederum die dargestellte Handlung, aber das narrative Moment dieser Handlung löst sich zugleich auf und wandert in die Lyrik ein. Nimmt man die Befunde in dieser Weise zusammen, dann lässt sich das Verhältnis der narrativen Ebenen im Frauendienst insgesamt so formulieren: Die Geschichte des ersten Teils ist nicht einfach auf der Handlungsebene der Diegese angesiedelt, sie führt vielmehr zugleich zu einer narrativen Transgressionsfigur. Der Minnediener und Sänger beginnt einen Frauendienst und scheitert praktisch in der Diegese, und dazu scheint sich in der Reihe der lyrischen Texte eine Reflexionsbewegung zu vollziehen, an deren Ende der eigentliche semantische Ertrag der narrativen Handlung steht: Er besteht in der Einsicht in die konkrete Vergeblichkeit der Minnebemühungen angesichts der ersten Minneherrin. Ulrichs Geschichte wäre demnach bis hierher die eines von der epischen Welt in die Lyrik führenden Erkenntnisprozesses, der mit der Absage an die Minneherrin seinen narrativen Endpunkt findet. Die narrative Bewegung beginnt in der Geschichte und setzt sich in der Lyrik fort, die zwischen Geschichte des Helden und Narration des Erzählers vermittelt. In den Liedern, die das Ende des ersten Dienstes markieren, artikuliert sich als Konsequenz dieses Übergangsprozesses zugleich schon die Hoffnung auf eine neue vrouwe (Lied XXIII, 22–35 und Lied XXIV, 10 f. sowie 29–40), die dann auch prompt in der Erzählwelt erscheint. Damit verschiebt sich nicht nur das Verhältnis von Emotion und Reflexion, sondern auch das von Narration und Lyrik. Die Form des lyrischen Diskurses geht zum Teil in den narrativen Diskurs über und die im ersten Dienst in die Minnekommunikation eingeschalteten Medien von Bote, Brief und Buch verschwinden:26 Als Ulrich in der Diegese mit seiner neuen Herrin sofort in einen direkten Dialog treten kann, wechselt auch seine Lyrik zum Genre des Dialogliedes (vgl. Lied XXX und XXXIII), und ganz entsprechend bilden im weiteren Textverlauf die Reflexionen des Erzählers, die durch die Präsentation als direkte Gedankenrede zum Tempuswechsel ins Präsens führen, die Reflexionen des lyrischen Ichs der Lieder Ulrichs ziemlich genau ab. Nicht zuletzt aber verschieben die Lieder ihren Modus: Spiegelbildlich zum Wechsel von der diegetisch immer nur erfolglosen zur diegetisch immer schon erfolgreichen Handlung
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verschwimmt mit dem der Figurenrede, weshalb die dort getroffenen Aussagen unsicher sind. Vgl. Dittrich, „Die Ideologie des guoten wîbes“, S. 511; Goheen, „Maere und liet“, S. 151 f.
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dominiert in der ersten Geschichte die Klagekanzone, während der nun folgende zweite Teil des Frauendienstes durch die Verwendung der Freudenkanzone ausgezeichnet ist.27 Dies unterstreicht insgesamt, dass der zweite Teil des Frauendienstes die neue Geschichte gleich von jenem erfolgreichen Ende her zu erzählen versucht, das die Geschichte des ersten Teils nicht hat. So kommt in den narrativen Passagen der von vornherein erzähltheoretisch bekanntermaßen dilemmatische Effekt eines auf Dauer gestellten happy endings auf.28 Denn die Geschichte über ihr Ende hinaus in der immer gleichen, glücklichen Form fortzusetzen, heißt sie aufzuheben. Weil der Erzähltext in seinem zweiten Teil auf diese Weise einen antinarrativen Effekt der Lyrik übernimmt, verliert das Erzählen in sehr auffälliger Weise die Macht über die Diegese. Die Geschichte verblasst und ihre Struktur verliert ihre elementare hermeneutische Funktion, das Geschehen der Welt sinnstiftend zu organisieren. Darum werden die Handlungen in der Welt des Frauendienstes nicht nur zu bloßen Geschehensabläufen, in ihnen zeigen sich die narrativen Sinneinbußen sogar unmittelbar als Verfallsmechanismus. Die soziale Welt gerät nach dem Tod Friedrichs II. aus den Fugen (1675,2–6 und 1677,2–1678,2), Ulrich wird auf seiner eigenen Burg überfallen und gefangen gehalten (1696,3–1728), schließlich kommt er frei, aber er wechselt von seiner Position in der Diegese vollends in die distanzierte Position als Erzähler, der den Verfall der Welt beklagt (1831–1835). Profiliert wird dieser Verfall jedoch ausgerechnet vor dem Hintergrund eines neuen, nun erstmalig dezidiert epischen Ideals, das damit geradezu als Testfall für die These der narrativ-lyrischen Transgression gelten kann: Ulrich begibt sich auf die sogenannte Artusfahrt, die vom Figureninventar her den Artusroman konnotiert. Ohne deutlichen Bezug zur Lyrik Ulrichs verkleidet sich der Protagonist nun als König Artus und verzeichnet in der Gestalt des episch-paradoxen Ritterkönigs – ganz ähnlich wie in der Venusfahrt des ersten Textteils – einen regen Zulauf von Rittern. Diese stilisieren sich nun ihrerseits als Artusritter bzw. versuchen im Kampf gegen die so konstituierte Tafelrunde an der literarischen Idealisierung der realen Ritterwelt teilzuhaben. Doch was als Er27
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Vgl. Hübner, Frauenpreis, S. 258; ders., „Leibhaftiges in den Liedern Ulrichs“, S. 334, zu den narrativen Folgen des Konzeptwechsels ders., Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 84–98. Vgl. zum Problem des Endes: Jurij M. Lotman. Die Struktur literarischer Texte. 4. Auflage. München 1993 (UTB 103), bes. S. 310.
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folgsgeschichte im Namen des arthurischen Ideals zu beginnen scheint, hat ebenfalls kein rechtes narratives Ende und kippt statt dessen in eine entidealisierte Realitätsdarstellung um, weil mit dem Tod Friedrichs II. von Österreich eine Zeit des Sitten- und Rechtsverfalls anbricht.29 Und das hieße narratologisch gesehen wiederum: Als bloßem Verfallsprozess fehlt auch dieser Handlung ihr narratives Ende. Dazu passt es, dass die Position des Erzählers schließlich unbestimmbar wird, weil sich die narrativen Basiskategorien verlieren. Ohne Geschichte verflüchtigt sich der Begriff der Diegese. Darum ist es auch unklar, wo und wann der Erzähler eigentlich spricht. Oder von der Erzählung her formuliert: Wenn Ulrich sich als Protagonist aus der Erzählwelt zurückzieht und als Erzähler nur über den Verfall der Welt räsonierend Lebenslehren formuliert (1677–1687; 1739–46; 1754,3–1764,8; 1767,1–1768,7 u. ö.), verzichtet er auf den Entwurf jener Geschichte, die seine Welt überhaupt erst konstituiert. Die Inquit-Formeln (ich gedâht […] alsô, 1739,1; nach disen lieden gedâht ich dô, 1753,1 etc.), die Ulrichs Gedankenreden einleiten, knüpfen diese dann zwar in eine Vergangenheit ein. Doch diese Vergangenheit wird kaum mehr erzählt und die Gedanken Ulrichs formulieren dazu auch noch überzeitlich gültige Aussagen zum richtigen Verhalten in der Welt. In jeder Hinsicht löst sich so die zeitliche Fixierung des Erzählerstandpunktes auf. Dieser Befund lässt sich auch positiv formulieren, nur muss man dazu, genau wie der Erzähler, das narrative Genre verlassen. Den Ansatz dazu liefert die Lehrhaftigkeit der Aussagen. Der Erzähler nimmt offenbar eine thematisch und strukturell zum Verfall der Welt passende, überzeitlich gültige Rolle an, die aus der Sangspruchdichtung stammt:30 die ebenso weltenthobene wie weltweise Altersrolle, aus der heraus Aussagen ebenfalls überzeitlicher Lehrhaftigkeit formuliert werden können (1824–44). Eine solche überzeitliche Sprechinstanz kann jenseits aller narrativen Strukturen agieren und ist gerade deshalb kein Erzähler mehr.
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Zur Differenz von literarischer Idealität und Realismus Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 70. Das Insistieren auf dem „Anschein kürzlich vergangener Tatsächlichkeit“ bei Grubmüller, „Minne und Geschichtserfahrung“, S. 39, muss dagegen die überzogene Spannung zur literarischen Idealität vernachlässigen, die den Realitätsstatus überbetont und dadurch unterminiert, wie zuvor Wolf, „Komik und Parodie“, S. 77, an den komischen Überzeichnungen herausgestellt hat. In der Tendenz Grubmüllers auch Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 331–335. Die vorsichtigen Anregungen von Ranawake, „Zur Minnedidaxe“, wären hier weiter zu verfolgen.
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Das hieße insgesamt nichts weniger, als dass die Erzählung im Frauendienst schließlich um ihren eigenen Begriff kommt. Denn mit Genette gesprochen: „Geschichte und Narration existieren […] nur vermittelt durch die Erzählung. Umgekehrt aber ist der narrative Diskurs oder die Erzählung nur was sie ist, sofern sie eine Geschichte erzählt, da sie sonst nicht narrativ wäre.“31 Zu einer solchen vom Erzähler und der Erzählung ausgehenden, d. h. discours-narratologischen Sicht wäre eine histoirenarratologische Definition der Geschichte zu ergänzen. Fasst man dazu eine Geschichte als axiologisch besetzten Dreischritt aus Anfang, Mitte und Schluss auf, dessen Gewinn das Ende semantisch übersteigt,32 so ergibt sich der ebenso basale wie folgenreiche Befund, dass die bloße Geschehensfolge der berichteten Handlungen des Frauendienstes die Definitionsbedingungen einer Geschichte schließlich nicht mehr erfüllt. Da dies aber, wenn man weiterhin die These der narrativen Transgressionsfigur für die erste Texthälfte akzeptiert, nur für den zweiten Abschnitt des Frauendienstes zutrifft, führt die Eingangsfrage nach dem narrativen Status des Textes wiederum zu einer zwiespältigen Antwort. Der Dienst an der ersten vrouwe ist praktisch als vorgeführtes Geschehen erfolglos, wird aber mit Hilfe der lyrischen Reflexionen auf das Geschehen vom Erzähler narrativ erfolgreich abgeschlossen; der Dienst an der zweiten Herrin ist dagegen in der dargestellten Welt von vornherein erfolgreich, aber in narrativer Hinsicht ist von einem Erfolg offenbar nicht zu reden. Diese narrative Erfolglosigkeit gilt dabei nur so lange, wie man die narrative Struktur zum alleinigen Maßstab erhebt. Zur weiteren Interpretation dieses Befundes deuten sich zwei Wege in der Forschung an. Der erste geht vom Fiktionalitätsproblem des Textes aus, der zweite vom Gattungsproblem des Textes zwischen Epik und Lyrik.
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Vgl. Genette (Anm. 6), S. 17. Vgl. das Aktantenmodell von Algirdas Julien Greimas. „Actants, Actors, and Figures.“ In: Greimas, On Meaning. Selected Writings in Semiotic Theory. Translation by Paul J. Perron and Frank H. Collins. Foreword by Fredric Jameson. Introduction by Paul J. Perron. London 1987, S. 106–120; ders. „Elements of a Narrative Grammar“. In: Greimas, ebd., S. 63–83; ders. „A Problem of Narrative Semiotics: Objects of Value.“ In: Greimas, ebd., S. 84–105.
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4. Narrative Strukturen und lyrische Isotopien Die Diskussion um den Fiktionalitätsstatus des Frauendienstes reagiert auf einen eigentümlichen Realitätseffekt, der sich teilweise auf die Verbindung von sozialer Intrige und Minneintrige in der erzählten Welt zurückführen lässt: Ulrichs inszenatorische Erfolge bei seinen Auftritten beruhen auf allegorisierenden oder literarisierenden Verkleidungen, die im Kontext lyrischer Rede semantisch, im Kontext der erzählten Handlung aber unmittelbar praktisch wirksam werden. Dies betrifft schon die Zeit der Geschichte, die durch die Abfolge von Sommer und Winter nicht einfach rhythmisiert, sondern wie im Minnesang semantisiert wird. Die Zeit ist damit sowohl eine Kategorie der narrativ konstituierten Diegese als auch ein Bedeutungsträger, der die Stimmung des liebenden Ichs widerspiegelt oder konterkariert, sie ist eine Kategorie der narrativen Ordnung und zugleich ein praktisch gewordener Effekt lyrischer Sinnbildung.33 Genauso nimmt Ulrichs Protagonist metaphorische Äußerungen der Lyrik wörtlich und setzt sie auf naive Weise praktisch um. Nicht zuletzt diese direkten Umsetzungen lyrischer Minne-Isotopien in konkrete epische Handlung führen dann später zu Ulrichs komisch übersteigerten Misserfolgen,34 genau so wie sie schließlich am Eindruck des
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Darum der Hinweis darauf, dass bis weit in die zweite Texthälfte hinein „der Wechsel der jahreszeiten […] ein festes gerippe für der erzählung“ abgibt, zuerst in der lyrikzentrierten Untersuchung von Brecht, „Ulrich von Lichtenstein als Lyriker“, S. 25. Vgl. auch Touber, „Der literarische Charakter“, S. 256. Vgl. die Übersicht aller Jahreszeitenwechsel bei Spechtler, Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein, S. 284–289. Die Beschreibung der Jahreszeitentopik verbleibt in einer Schieflage, solange man sie nicht konsequent von den Regeln einer lyrischen Semantik her denkt, sondern immer noch vorrangig von der narrativen Fiktion her betrachtet, wie Müller, „Jahreszeitenrhythmus als Kunstprinzip“, S. 39–46, dies getan hat, denn es geht nicht einfach um die „Transformation eines alltagsweltlichen Rhythmus in ein Kunstprinzip“ (S. 39): Nicht die Jahreszeiten erhalten im Frauendienst eine Semantik, sondern die Semantik erhält ihre Jahreszeit. Die Episierung des lyrischen Jahreszeitentopos zeigt ausführlicher Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 267–273. Vgl. Milnes, „Ulrich von Lichtenstein and the Minnesang“, S. 30. Eine Weiterführung des Neidhart-Typus sieht Wolf, „Komik und Parodie“, S. 75 f. Allgemein beschreibend Dussère, „Humor and Chivalry“, S. 298, speziell auf das Minne-Paradox bezogen Brody, „The Comic Rejection of Courtly Love“, S. 257. Weiterführend ist die Anregung von Bulang, „Exponierung von Imagination“, S. 73 f., die forciert realistische Gefangenschaft im Kerker seiner eigenen Frauenburg als Projektion des lyrischen Gefangenschaftmotivs zu sehen, das eine Variante des Topos vom
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tragischen Weltverfalls beteiligt sind. Insgesamt kommt es dadurch zu einem charakteristischen Hyperrealismus, der die Erzählwelt als fiktional auszuweisen scheint. Drei Beispiele mit ansteigender Komplexität mögen diesen Realitätseffekt verdeutlichen. Das erste und kleinste stammt vom Anfang des Texts und fungiert wie ein Signal für die epische Obskurität eines lyrischen Ausdrucks: Der Erzähler schildert, dass ihn in seiner Zeit als Page bei seiner Herrin eine große Freude überkam, wenn er schoener pluomen brach (24,2) und mit diesen Blumen in Kontakt zu seiner Herrin zu treten meinte, sobald deren Hände die Blumen berührten. Die Konnotationen des Blumenbrechens, die sich im lyrischen Kontext deutlich einstellen müssten, bleiben der epischen Figur merkwürdig unverständlich und sind doch offensichtlich in seiner Freude semantisch wirksam.35 Deutlicher noch ist dies wenig später angesichts der Formel des ungefüegen mundes.36 Ulrichs Minneherrin wirft dem jungen Ritter nach seinem ersten Versuch, eine direkte Dienstbeziehung zu ihr anzuknüpfen, seinen ungefüegen munt vor (vgl. 80,6). Doch was im Anschluss an eine Wendung der Neidhartlyrik als lyrische Metapher für die ungezogene Rede des törichten Jünglings beginnt,37 kippt sofort in eine Realitätsaussage um: Unvermittelt taucht im Text eine Hasenscharte Ulrichs auf (91,7 ff.), und anstatt seinen Mangel an höfischer Redekunst zu beheben, wird der aus dem Wortspiel in der Diegese entstandene körperliche Mangel durch die meisterliche Operationskunst eines Arztes behoben (97,1), der dafür allerdings nur, der lyrischen Minnetopik folgend, im Mai operieren kann (88,2) und die Wunden des Patienten mit einer salbe noch grüener denn der klê (103,6) versorgt. Ob Ulrichs Lyrik dadurch besser wird, bleibt dunkel, jedenfalls wird der Held schöner, so dass seine vrouwe ihn, genauer:
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Wohnen im Herzen der Geliebten darstellt: Die epische Tragik wäre demnach das Gegenstück zur Betonung des lyrischen Glücks. Vgl. zum Minnesang-Motiv des Dienstes von Kindheit an Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein, S. 127, Anm. 17. Vgl. allgemein auch Hübner, Frauenpreis, S. 256 f., mit ausführlichen Forschungsreferenzen, Bd. 2, S. 492 f. Zur Mundoperation vgl. auch den Beitrag von Kellermann im vorliegenden Band, S. 214 f. Zur Entstehung des körperlichen Merkmals aus der Verletzung minnesängerischer Diskursregeln besonders Klinger, „Ich – Körper – Schrift“, S. 115–117. Ferner: Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 67; Brinker-von der Heyde, „Biographisches Spiel und gespielte Biographie“, S. 31; Ackermann, „Ich ≠ Subjekt ≠ Körper“, S. 149; Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 69; Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper, S. 232.
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das Ergebnis des ärztlichen Kunstgriffs, in Augenschein nehmen will (Brief A). Dass Ulrich beim Treffen mit der Dame den operierten Mund wiederum nicht aufbekommt, was dann auch noch in den Liedern als Motiv der Minnestummheit thematisiert wird, setzt die lyrische Isotopie episch fort (131,3 f.).38 In der sogenannten Venusfahrt greift dieses Verfahren auf die Diegese insgesamt über. Bei der Venusfahrt handelt es sich um die breite narrative Umsetzung der Aussage einer Minnerede, die das zweite Büchlein Ulrichs an seine Herrin präsentiert.39 Dabei reagiert die Minnerede ihrerseits auf ein Lied (Lied X), in dem das lyrische Ich mit der Minne in einen Dialog getreten war.40 Es zeichnet sich so eine thematisch-kompositorische Abfolge aus Lied, Büchlein mit Minnerede und epischer Venusfahrt ab. Inmitten dieser dreigliedrigen Komposition formuliert die Minnerede die im Dialoglied mit der Minneallegorie enthaltene Regel noch einmal nachdrücklich aus, dass ein beständiger, tadelloser Dienst zur Huld der vrouwe führe (Lied X, 61–66; Lied IV, 9–13), wobei aus dem Dienst an der vrouwe in Lied X bereits in der Minnerede ein abstrakter Dienst an der Minne wird: Das Ich erklärt hier, der Minne dienen zu wollen (II. Büchlein, 20–27), wofür diese ihm ihre Hilfe bei der Dame ver38
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Zur Minnestummheit im Minnesang Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein, S. 155 f., Anm. 65. Die mit der Mundoperation erstmalig auffällige Übersteigerung der Körperlichkeit des Protagonisten, die im weiteren Erzählverlauf immer stärker hervortritt, wird von der Forschung in der Regel jedoch nicht als Diskursprodukt gelesen, sondern dem Körper wird ein vorsprachlicher Wahrheitsgehalt zugebilligt. Vgl. andeutend Schmid „Verstellung und Entstellung“, S. 192, und forciert in der These von der „Überlegenheit des Körpers über das Wort“ Kellermann, „Formen der Kommunikation“, S. 341, durch die sich der Körper der zivilisatorischen Wirkung der höfischen Sprachkunst entziehe. Die Dominanz der Schrift betonen dagegen zu Recht Klinger, „Ich: Körper: Schrift“, S. 124 f., und abgeschwächter Kiening, (Anm. 5), S. 221, der den Frauendienst als „Dokument eines mit Körperlichkeit angereicherten Prozesses der Textproduktion“ bezeichnet. Vgl. in kritischer Auseinandersetzung mit Kiening Ackermann, „Ich ≠ Subjekt ≠ Körper“, S. 154 f., und die Unterstützung des Ansatzes von Klinger durch Kellermann und Young, „Briefe, Büchlein, Boten“, S. 344. Dass die Büchlein, wie Gutwald, „Der Minnediener als Souverän“, S. 162 f., gesehen hat, die nicht mehr erzählende Diskusform des Textendes vorwegnehmen, ist evident, weil die Minnerede kein genuin narratives Genre darstellt. Deshalb gerät Gutwald jedoch zu seiner eigenen Beobachtung in einen terminologischen Widerspruch, wenn er die These aufstellt, in den Büchlein entfalte das sprechende Ich seine volle Souveränität als Erzähler (S. 149). Vgl. zum zweiten Büchlein auch den Beitrag von Kellermann im vorliegenden Band, S. 230 f. Vgl. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 288.
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spricht. Allegorisch wird dabei das Herz der vrouwe als Hof angesprochen, in dem die Minne, das minnende Ich und die Tugenden der Frau das Gesinde bilden (II. Büchlein, 171–177; 341–376). Die anschließende Handlung demonstriert dann als Fallbeispiel, dass diese Regel zutrifft: Ulrich erlangt über seine permanent wiederholten Auszeichnungen auf der Venusfahrt die Huld der Herrin. Der im Lied und in der Minnerede angedeutete Mangelzustand wäre so schließlich erfolgreich beendet. Damit ergäbe sich ein narrativer Dreischritt, der durch die drei verschiedenen Textgattungen hindurchführt. Diese narrative Exemplifikation der Regel, nach der Dienst auch zum Lohn führen muss, verläuft in der Diegese allerdings äußerst zeichenhaft, weil sie die Allegorie der Minne und des Herzensgesindes förmlich in die Welt setzt, indem Venus in der Diegese ihre Hofämter verteilt.41 Auf seiner Venusfahrt (450–985) dient Ulrich ganz entsprechend nicht etwa seiner Dame, sondern der Minne selbst. Ulrich wird dazu zur bildlichen Inkarnation des Minnedienstes, indem er als Venus kostümiert in die Kämpfe eintritt. Der allegorische Charakter der Minnerede greift sogar auch auf Ulrichs Gegner über, denn diese werden ebenso inszenatorisch auf das Prinzip der Minne verpflichtet. Schon der Venus-Kampf bedeutet für die Ritter eine öffentlich sichtbare Auszeichnung als Minnediener, außerdem erhält jeder, der gegen Venus eine Lanze versticht, von Ulrich einen Ring, den er seiner Minnedame schicken soll. Und wer gegen Venus verliert, wird gerade durch seine Niederlage ebenfalls zum Minnediener, denn er muss sich zu Ehren seiner Dame öffentlich in alle vier Himmelsrichtungen verneigen (Brief B, Einladungsbrief, 21–23). Die Ritter der Venus unterwerfen sich also von vornherein ihrem Prinzip und machen sich in jedem Falle durch dieses Prinzip im Frauendienst verdient, gleichgültig, ob sie praktisch gewinnen oder verlieren. Der Kampf ist damit allegorisch als Bezeichnungs- und Auszeichnungsprozess zu lesen.42 41
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Vgl. zu den Hofämtern der Hinweis bei Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 63, genauer Witthöft, Ritual und Text, S. 167 f. Da das Venus-Kostüm im Kampf wie eine auf den Körper des Ritters übertragene Zimierde erscheint und damit im homosozialen Diskurs des ritterlichen Kampfes verbleibt, lässt sich die Venusfahrt im Rahmen gendertheoretisch angeregter Überlegungen zu cross-dressing-Phänomenen in mittelalterlicher Literatur nicht direkt verwerten, wie dies Moshövel, „Ulrich von Liechtenstein – Ein Transvestit?“, S. 354 f., und Weichselbaumer „Männliches Cross-Dressing“, versucht haben. Vgl. dagegen die Reserve in der weit vorsichtigeren Beschreibung von Bennewitz, „Eine Dame namens Ulrich“, S. 368, die darauf zurückzuführen ist, dass die Ge-
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Weil nicht der Ausgang der Venuskämpfe entscheidend ist, sondern ihre Zeichenfunktion, ergibt jedoch auch die Venusfahrt keine manifeste Geschichte. Vielmehr erscheint sie als ein serielles Geschehen, das Aspekte des Minnedienstes ins Bild bringt. Das Geschehen verläuft entlang der Reiseroute quer durch Österreich, die vorab in einem Brief der Venus öffentlich kartiert wird (Brief B, Einladungsbrief). Die Kämpfe spielen sich dann lediglich in variierenden Wiederholungen ab, bisweilen werden sie wegen der Ausstattung der Ritter ausführlicher beschrieben (504,5–509,8; 546 u. ö.). Dass die Allegorisierung durch die Interaktion mit der Allegorie auch auf die Gegner Ulrichs übergeht, ist dabei in der Figur eines als Mönch verkleideten Ritters mit dem Namen Zacheus von Himmelberg besonders deutlich, der als Gegeninszenierung zur Venus, ähnlich wie Ulrich, von sînem gesange wîte erkant (616,8) ist. Da sich ein religiös-mönchisches Sanges- und Ritterkonzept mit dem Minnedienst der Venus und seinen Spielregeln nicht vereinbaren lässt, weicht Ulrich dem Kampf mit diesem Ritter dreimal aus (619,3–7; 630,7 f., 636,4–7), bis er den Spielverderber schließlich doch, in einer Art abruptem Umschlag vom allegorisierten Spiel in die harte Realität, recht drastisch überwindet (639,3–640,7).43 Das Geschehen kann auch in anderen Begegnungen ähnlich sichtbar inszeniert werden, was aber umgekehrt heißt, dass sich in der Kampfreihung kein rechtes narratives Syntagma ergibt. Am Ende ist der Held darum nicht etwa durch einen narrativen Gewinn in der Geschichte qualifiziert, seine praktischen Handlungen lassen sich nur quantifizieren. Ulrich entschlüpft daher, ohne dass es zu einem narrativen Handlungsabschluss kommt, der Venushandlung, indem er einfach de-
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schlechtskodierungen Ulrichs aufgrund des Spielcharakters der Handlung stets eindeutig bleiben. So Helmut Brall. „Homosexualität als Thema mittelalterlicher Dichtung und Chronistik“. ZfdPh 118, 1999, S. 354–371, hier S. 365; Kiening, (Anm. 5), S. 211 f. Vgl. ferner die Kritik an sexualisierenden Lektüren durch Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 96–99, und die methodischen Bedenken von Peters, „Gender Trouble in der mittelalterlichen Literatur?“, S. 286 f. Dass das VenusKostüm, anstatt die Genderkategorie zu verwischen, in das turniertypische Spiel mit ritterlichen Identitäten gehört und zugleich über die Herrschaftsbeziehung der Minne homosoziale Hierarchien thematisiert, zeigt Mecklenburg, „Ritter Venus“, S. 184, 189, 202 f. Zu dieser Hierarchie, freilich unter Rückkehr zur sexualisierenden Lektüre als „phallische[ ] Erfolge[ ]“ McLelland, „Der unerreichbare Innenraum“, S. 97. Zur Kostümbeschreibung Blaschitz, „Kleidung und Rüstung“, S. 391. Die ältere These von Höfler, „Venusfahrt und Artusfahrt“, S. 135–144, zur kultischen Herkunft der Venusmaske verfehlt dagegen deren literarischen Charakter. Vgl. Mecklenburg, „Ritter Venus“, S. 204.
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ren Kleider ablegt, und der Erzähler lässt den Kämmerer abrechnen: Venus habe 307 Speere verstochen und 271 Ringe verschenkt (979,2– 980,4).44 Dies ist gerade keine einfache Erfolgsbilanz, sondern der Erzähler berechnet lediglich das von Ulrich akkumulierte symbolische Kapital. Denn nach der Logik der Gabe zeichnen Geschenke, indem sie den Beschenkten verpflichten, zuerst den Schenker aus.45 Die hohe Zahl der vergebenen Ringe quantifiziert so in erster Linie die Selbstauszeichnung des Ritters. Dies zeigt jedoch nur erneut, dass die Selbstauszeichnungspraxis der Venus, indem sie einfach eingestellt wird, in narratologischer Hinsicht nicht als Ende einer Geschichte angesprochen werden kann. Verglichen mit dem Ausgangspunkt der Venusfahrt liegt keine qualitative Zustandsveränderung vor. Darum hat das Ende der Venusfahrt keine rechte narrative Qualität.46 Als strukturelles Gegengewicht zu dieser syntagmatischen Auflösung müssen darum Anfang und Ende der Venushandlung zusätzlich paradigmatisch markiert werden. Am Beginn und am Schluss der Venusfahrt finden sich dazu zwei korrespondierende symbolische Handlungen. Jedes Mal kommt es während eines Gottesdienstes zum Friedenskuss, und der unterschiedlich akzentuierte Umgang mit der männlichen Frau Venus markiert den veränderten Status des Protagonisten. Anfangs spielen die Frauen, als sie mit Venus den Friedenskuss austauschen sollen, mit der Maskerade Ulrichs während der symbolischen Handlung. Der Spielcharakter wird dabei über eine unverbindliche Heiterkeit bezeichnet, die im öffentlichen Gelächter kulminiert,47 als Ulrich den Schleier vor seinem Gesicht lüftet, der seine männliche Identität verhüllt.48 Am Ende der Venusfahrt hat die Maskerade aber ihren Spielcharakter verloren, weil Ulrich durch sein Venusspiel berühmt geworden ist. Die Venusrolle
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Das Problem des Endes dokumentiert sich auch auf der Ebene der Figurenkommunikation. Vgl. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 162–165. Vgl. die Beschreibung der komplizierten Schenkungssituationen von Linden, ebd., S. 145–150, deren Logik Witthöft, Ritual und Text, S. 152 f., über die Regeln des Gabentausches grundsätzlich erschlossen hat. Wenn Zustandsveränderungen trivial und erwartbar sind, kann quantitativ viel geschehen, ohne dass dieses Geschehen im narratologischen Sinne eine nennenswerte Ereignishaftigkeit aufweist. Zum Verhältnis von Narrativität und Ereignishaftigkeit vgl. die Grundbegriffe bei Schmid, Elemente (Anm. 10), S. 13 f., 22–27. Vgl. Reiffenstein, „Rollenspiel und Rollenentlarvung“, S. 108; Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 53 f. Zum Verhüllungsspiel während der Venusfahrt vgl. auch den Beitrag von Ackermann im vorliegenden Band, S. 349–355.
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identifiziert nun den Ritter,49 darum lässt sich mit dem Friedenskuss nicht mehr unverbindlich scherzen, zumal Ulrich nun plötzlich auch noch ganz konkret jene Dame begehrt, der er den Friedenskuss geben soll. Durch das männliche Begehren gewinnt der Kuss etwas Anzügliches und wird darum von der betreffenden Dame zurückgewiesen (947,6–8). Mit anderen Worten: Das allegorische Spiel hat sich nun deutlich einer konkreten Minnehandlung angenähert, Venus ist bereits wieder zu Ulrich geworden, die Maskerade hat sich verbraucht und die allegorische Phase des Textes geht zu Ende. Man kann die Venusfahrt demnach vielleicht als kasuistische Explikation des Minne-Prinzips mit Hilfe allegorischer Verfahren auffassen, sie selbst besitzt aber gerade keine abgeschlossene narrative Struktur. Narrativ ist diese Explikation nämlich nur insofern, als sie die in Lied X und in der Minnerede des ersten Büchleins (u. a. 53–74) formulierte Regel sehr praktisch demonstriert: Beständiger Dienst mit Hilfe der Minne führt zur Huld der Dame.50 Genau dies widerfährt nun Ulrich, und zwar auch noch mit Hilfe derjenigen Inszenierungsform, die er in seiner Venus-Verkleidung selbst vorgezeichnet hat: So wie Venus all denen, die im Kampf für und gegen sie antraten, einen Ring schenkt, so bekommt auch Ulrich genau in der Mitte seiner Venusfahrt einen Ring von seiner Dame als Zeichen ihrer Huld geschickt. Aber die Venusfahrt selbst erscheint nicht als manifestes narratives Syntagma, zumal das, was der syntagmatisch abgeschwächten narrativen Ordnung einen neuen Sinn geben könnte, die Ausdrucksmöglichkeit der Allegorie nämlich, durch die geschilderte Handlung wiederum verbraucht wird: Der entallegorisierten Venus wird der Kuss der Dame verwehrt. Selbst noch gegen die narrative Funktionalisierung von Ulrichs erstem Diensterfolg bei seiner Minneherrin lässt sich argumentieren. Zwar ist das ersehnte Ziel, den Frauendienst mit einem Kontrakt abzusichern, für Ulrich nun vorübergehend erreicht. Aber es ist gerade nicht das Ergebnis einer syntagmatisch angelegten Werbungshandlung. Der Hulderweis ereignet sich vielmehr unvermittelt inmitten der Repräsentationshandlungen der Venusfahrt und ist wie diese auf einen besonderen Inszenierungseffekt hin berechnet. Dieser hat eine lyrische Note: 49
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Zur Identitätsstiftung in der Venusfahrt besonders Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper, S. 262 f. Vgl. ergänzend dazu die thematische Korrespondenz zwischen Lied X und der Lohnforderung des lyrischen Ichs an die Minne in Lied XI, auf die Brecht, „Ulrich von Lichtenstein als Lyriker“, S. 5, verwiesen hat.
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Ulrichs Bote bringt die Nachricht singend. Er stimmt dazu die einzige Liedstrophe an, die sich in der Venusfahrt überhaupt findet, und diese stammt gerade nicht von Ulrich von Liechtenstein: Mit Hilfe von Walthers Ir sult sprechen willekommen (L. 56,14) werden Ulrich die niuwen mære verkündet (775 f.).51 Gerade diese markierte Neuartigkeit führt zu einem weiteren paradoxen Effekt im Rahmen der narrativen Strukturen des Textes. Weil die Huld der Dame nicht im Rahmen einer nachvollziehbar motivierten Geschichte gewährt wird, ergibt sich eine neue Art eines narrativen Dreischritts, der freilich quer durch die verschiedenen Medien führt: In der Lyrik wird anfangs eine Regel angedeutet, in der Minnerede wird sie dann von der Minne selbst expliziert und im Gegenzug macht sich Ulrich auf den Weg zu seiner eigenen Venusfahrt, in der ihm die Huld der Dame tatsächlich zufällt. Der Text präsentiert so eine Art von Mediengeschichte. Gewiss unterminiert die abschließende Zufälligkeit dieses Dreischritts seinen narrativen Charakter. Aber diese Auflösung der narrativen Struktur ist gerade kein Argument gegen ihre Wirksamkeit. Vielmehr lässt sich positiv formulieren: Das diegetisch unvollkommene Narrativ der Venusfahrt ist eine Voraussetzung dafür, die narrative Transgression durch die verschiedenen Gattungen anzuregen.
5. Historische Narrative und narrative Lyrik Um die angedeutete These einer narrativ-lyrischen Transgression historisch erhärten zu können, ist eine Umschau im Bereich der historischen Vorformen des Frauendienstes unerlässlich. Die Gattungsfrage führt dabei einerseits in die Richtungen der Geschichte der Autonarration und allgemeiner in den Bereich der Ich-Aussagen des Romans, andererseits in die Geschichte der Lyrik mit den Möglichkeiten ihrer narrativen Kontextualisierung. Dabei ist gerade ausgehend vom Frauendienst zu erwägen, ob die narrativen und lyrischen Paradigmen nicht grundsätzlich stärker zusammenzusehen sind, da die Lyrik als ausgezeichnetes Experimentierfeld der Ich-Aussagen die Entwicklung der Ich-Erzählung schon vor Ulrichs Frauendienst ständig beeinflusst. Bei Ulrich würde dann eine Ausdrucksform emergieren, deren Teilaspekte im System der Gattungen
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Vgl. zur Inszenierung des Boten in dieser Episode den Beitrag von Kellermann im vorliegenden Band, S. 241, 257 f.
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bereits an verschiedenen Stellen angelegt sind, im Frauendienst aber in besonders prägnanter Weise zusammenkommen. Eine literarische Reihe autobiographischer Formen lässt sich vor dem Frauendienst nicht konstruieren. Auf der Suche nach einem traditionsstiftenden Muster der Autobiographie wäre zuerst an das lateinische Vorbild zu denken, dass Augustinus in seinen Confessiones gegeben hat. Der Vorschlag, den Erzählverlauf des Frauendienstes als einen confessio-Typus zu beschreiben, der durch das Strukturmoment einer Umkehrbewegung charakterisierbar wäre, ist bereits gemacht worden.52 Ergänzend wäre darauf hinzuweisen, dass auch Augustinus sein eigenes autonarratives Zeitproblem am Ende der Confessiones mit Hilfe der Lyrikwahrnehmung erörtert.53 Dies führt aber in eine rein strukturelle Argumentation, als historisch konkrete Anregung taugt das Beispiel eher nicht. Ähnliches gilt auch für die Lösung jenes Textes, der ebenfalls das Etikett der ersten Ich-Erzählung in der deutschen Literatur des Mittelalters trägt, gleichwohl in der Debatte um den Frauendienst überhaupt nicht vorkommt: Der gute Gerhart Rudolfs von Ems.54 Diese Erzählung versucht, wie ihrer wissenschaftlichen Etikettierung zum Trotz, die Übereinstimmung von Erzähler und Protagonist gerade zu unterlaufen, weil diese Koinzidenz in der Ich-Erzählung zu einem ungerechtfertigten Selbstlob des Erzählers führen würde, wenn dieser eine Erfolgsgeschichte aufweist. Dieses Problem scheint der vielfach unbescheidene Ich-Erzähler des Frauendienstes zwar hinlänglich zu demonstrieren, er weist sogar ausdrücklich darauf hin – ein Problem, das dann im Frauenbuch Ulrichs breiter erörtert wird.55 Aber gerade wegen der gegenläufigen Konsequenzen hat der 52
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Vgl. von Ertzdorff, „Typen des Romans“, S. 88; der Augustinusvergleich auch bei Peschel-Rentsch, „Das arme Ich des Ulrich von Liechtenstein“, S. 153 f., sowie zum Bekenntnischarakter Schmid, „Verstellung und Entstellung“, S. 192. Vgl. Confessiones, 11, XXVI, 33–XXXI, 41. Vgl. immer noch grundlegend Wolfgang Walliczek. Rudolf von Ems: ‚Der guote Gerhart‘. München 1973 (MTU 46); pointierend ders., „Der guote Gêrhart“. In: Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Hrsg. von Horst Brunner. Stuttgart 1993, S. 255–270; aus narratologischer Sicht Hartmut Bleumer. „Klassische Korrelation im ‚Guten Gerhart‘. Zur Dialektik von Geschichte und Narration im Frühwerk Rudolfs von Ems.“ In: Dialoge: Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999. Hrsg. von Nikolaus Henkel, Martin H. Jones und Nigel F. Palmer. Tübingen 2003, S. 95–112. Ich sagt iu mîner sælden mêr, / wan daz ich fürhte, der und der / sô spreche, ich rüeme mich ze vil; / dâ von ichs vil verswîgen wil (158,1–4; vgl. ähnlich 308 f. und die Fortsetzung des Problems am Beispiel der Rühmung durch Ulrichs niftel in Brief c). Vgl. zu diesem Aspekt im Frauenbuch Brüggen, „Minnelehre und Gesellschaftskritik“, S. 81–83, im
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Text mit dem Frauendienst wenig Konkretes gemein. Es gibt also vor Ulrich keine ausgebildete volkssprachig-narrative Formtradition, an der man sich positiv hätte orientieren können. Daher liegt es nahe, das Suchraster für die narrativen Texte in die Richtung des Romans zu erweitern und zugleich vom Modell der IchErzählung abzurücken. Ein gutes Beispiel für die dabei auftretenden Probleme liefert die sogenannte Artusfahrt im zweiten Teil des Textes. Diese Artusfahrt erscheint als eine Art serielles Tafelrundenturnier, in dem Ulrich als roter Ritter (1404,2 f.–1407,1–5) mit dem Namen Artus (1440,3) auftritt und die sich ihm anschließenden Ritter sukzessive in Mitglieder des Artushofes verwandeln (Feirefiz 1410,5, Kalogrenant 1416,5, Lanzelet 1430,4, Iwein 1436,8, Segemors 1439,2, Tristan 1454,8, Gawan 1520,1, Parzival 1543,7, Erec 1548,1, Ither 1552,7). Durch die Namengebung wirkt es zunächst plausibel, auch für das Erzählverfahren dieser Artushandlung eine Analogie zum Strukturmodell des arthurischen Romans zu vermuten. Das Ergebnis ist aber negativ: Weder eine einfache Doppelwegstruktur noch ein doppelter Kursus lassen sich plausibel machen, geschweige denn, dass sich die komplexe Struktur eines gestuften Doppelwegs nachweisen ließe. Das gilt für die Artusfahrt im Speziellen wie für den Text als Ganzes. Die Begriffe des Doppelweges und des doppelten Kursus lassen sich auf den Frauendienst nur um den Preis eines unzulässig verkürzten Begriffsgebrauch anwenden, in dem das entscheidende Strukturmoment – die sinnstiftende Funktion der im gestuften Doppelweg bzw. im doppelten Kursus wirksamen Äquivalenzbeziehungen – gerade abhanden kommt.56
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Frauendienst Hübner, Frauenpreis, S. 298 f., der aus dem daraus folgenden Diskretionsgebot das Erzählproblem des Frauendienstes insgesamt ableitet. Vgl. zur Gliederung der Artusfahrt Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein, S. 197; zu möglichen Vorbildern historischer Artusrunden bes. ebd. S. 200 und Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 214–217; kritisch gegen Peters indes Spechtler, Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein, S. 406, 428, 441. Zum arthurischen Doppelwegmodell auf den gesamten Text bezogen der engagierte Versuch von Hausner, „Überlegungen zur Struktur“, die jedoch ihre These von der Übernahme des Doppelwegschemas zweimal unterläuft, indem sie zunächst festhält, dass die sinnkonstituierende Krise des Schemas ausfällt (S. 137 f.), und dann zu dem Ergebnis kommt, dass das Schema selbst negiert werde. Zu diesem Befund passend erscheint der als Doppelwegschema bezeichnete Gliederungsversuch von Pieper, Die Funktionen der Kommentierung, S. 156, 181, 204–208, der für den zweiten Teil des Frauendienstes nicht plausibel am Text begründbar ist. Darum hat zuletzt Tomasek, „Zur Rezeption arthurischer Strukturen“, zu Recht für die Artusfahrt das arthurische Strukturmodell abgewiesen (S. 350), dann aber seinerseits
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Dafür zitiert der Frauendienst das Paradox des Artushofes, demzufolge Artus als repräsentativer Mittelpunkt seine ritterliche Idealität gerade dadurch vertritt, dass er sie praktisch nicht umsetzen kann. Denn ein ideal handelnder Artus müsste seine Ritter notwendig übertreffen und diese wären damit nicht mehr ideal. Umgekehrt gäbe ein nicht-ideal handelnder Artus seinen Artusrittern zwar die Möglichkeit zur Bewährung; weil Artus so aber selbst aus der Gemeinschaft der Besten herausfiele, wäre diese Ritterschaft dann nicht mehr arthurisch. Darum hält der Artusroman dieses Paradox in verschiedenen Varianten in der Schwebe und bildet es noch in seiner Figurenkonstellation auf der Ebene der Artusritter zwischen Keie und Gawein ab. Im Frauendienst wird es dagegen sofort in der für das Darstellungsverfahren des Texts typischen, praktischen Art umgesetzt, was erneut zu keiner narrativen Lösung führen kann, die nun dem Artusroman vergleichbar wäre. Ulrich ist nämlich nicht nur, wie der literarische Artus, seiner Repräsentationsfunktion nach der Beste unter Gleichen, er agiert auch tatsächlich als Bester. Dadurch wird der Gleichheitsgrundsatz des Artushofes zum Problem: Im Frauendienst stellt Artus seine repräsentative Idealität in derartig vielen Kämpfen unter Beweis, dass für seine Ritter keine Bewährungsmöglichkeiten mehr übrig bleiben und diese ihren König bremsen müssen, um sich selbst noch im Spiel zu halten (1544,1–1545,8). Dieses Spiel auf der Handlungsebene ist, ganz ähnlich wie in der Venusfahrt, für den Erzähler und seinen Erzählakt dann wiederum derart gleichförmig, dass er bei den Kampferwähnungen wiederholt Ellipsen verwenden kann (1423,2–6; 1447,1–4; 1542,3–1543,5; 1565,2 f.). Der Sinn des Spiels liegt erneut weniger im praktischen Ergebnis der Kampfhandlungen, als in dem durch sie dargestellten Gesellschafts-
eingestandenermaßen schon auf der Basis kleiner Details für die Venusfahrt einen doppelten Kursus angesetzt (S. 355). Die Geringfügigkeit dieser Detailentsprechungen dürfte zur Markierung der notwendigen Äquivalenzrelationen kaum ausreichen. Da außerdem die narrative Trägerstruktur, auf der der doppelte Kursus im Doppelweg aufruht, beiseite bleibt (sogar ausdrücklich S. 351, Anm. 12), muss bei Tomasek auch der Begriff der Symbolstruktur abgelehnt werden (S. 360). Nach diesen Einschränkungen wäre dann aber das Stichwort des doppelten Kursus ebenfalls zu streichen, vgl. zur Orientierung über die Begriffe Walter Haug. Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. 2. Auflage. Darmstadt 1992, S. 91–107; und als narratologisches Gegenstück Rainer Warning. „Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman.“ In: Identität. Hrsg. von Odo Marquardt und Karlheinz Stierle. München 1979 (Poetik und Hermeneutik 8), S. 553–589.
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modell, in dem das literarische Modell der Artusritterschaft mit dem historischen Modell der feudalen Realität konfrontiert wird. Auch der historische Friedrich von Österreich erklärt sich durch einen Boten zum Dienstmann von König Artus (1456,6–8). Der spielerische Charakter dieser Unterwerfung ist deutlich: Als Artus verspricht, Friedrich für seine Dienstbereitschaft großzügig zu belehnen, erzeugt dies allgemeines Gelächter (1461,1), was den Spielcharakter der Handlung hinlänglich indiziert. Dazu passt es auch, dass Friedrich zwar eine Tjost gegen Artus ankündigt, es aber bei dieser Sprachgeste bleibt, denn tatsächlich erfolgt dieser Kampf zwischen Artus und Friedrich nie. Stattdessen lädt Friedrich den Artusdarsteller Ulrich, der sich auf dem Weg zu einem großen Turnier in Böhmen befindet, nach Wien bzw. Himberg ein und stellt die realen Hierarchien wieder her, und zwar ebenfalls sprachlich. Friedrich empfängt Ulrich zwar unter dem Namen von König Artus, aber nur, um Artus Kraft seiner realen fürstlichen Autorität in einer Unterredung davon abzubringen, das Artusrittertum zu seinen Feinden nach Böhmen zu führen (1605,7–1606,8). Weil die literarische Artusrolle mit ihrer Idealität gegen die feudale Realität nicht aufkommen kann, unterwirft sich Ulrich sofort und ausdrücklich dem Willen seines Landesherrn (1603,1–4). Damit ergibt sich eine Art Responsionsfigur aus spielerischer Auszeichnung und sprachlicher Bezeichnung, aus Idealität und Realität, aber sie erzeugt wiederum keinen narrativen Abschluss: Die Artusfahrt verliert ihr Ziel und läuft mit dem Ende des Sommers (1611,1–8) einfach aus.57 Und Friedrich, der für sich beansprucht, dass die ritterlich-arthurische Idealität auf ihn übergeht, verliert diese Idealität wiederum auf bezeichnende Weise, ohne dass dies als Teil einer dezidiert narrativen Strategie erkennbar wäre: Friedrich findet im Kontrast zum arthurisch-idealen Spiel einen gänzlich entidealisierten Tod in der Schlacht, und von diesem Tod wird weniger erzählt, als dass er über den Fundbericht vom toten Körper Friedrichs dokumentiert wird (1667,7–1672,5; 1675,8–1676,2). In struktureller Hinsicht erfolgt die Einbettung der Artusfahrt denn auch nicht im Rahmen eines narrativen Syntagmas, sondern wiederum durch eine paradigmatische Relation: Die Artusfahrt bringt für Friedrich 57
Der gleiche Befund bei Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 254, die freilich den Abbruch der Artusfahrt, offenbar mit Blick auf die Großgliederung des Textes, wiederum als Teil einer narrativen Strategie sieht: „Wie die Venusfahrt scheint auch Ulrichs Artusspiel prinzipiell auf Unendlichkeit hin angelegt zu sein und muß schon aus Gründen der erzähltechnischen Logik einen Abbruch von Außen erfahren“.
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von Österreich das Anerkenntnis des ritterlichen Ideals ins Bild, was für seinen Gegner, den böhmischen König, gerade nicht gelten soll. Nachdem die Artusfahrt nicht nach Böhmen geführt hat, findet Friedrich in der Schlacht gegen die Ungarn an der Leitha den Tod, und mit diesem Tod hält der Verfall feudaler Werte in Österreich Einzug.58 Die literarisch geordnete Idealität des Artusrittertums wird so zunächst auf Friedrich appliziert, und der Text stellt dem dann eine aus den Fugen geratene, agonale Realität ritterlicher Gewalt gegenüber. Auch der damit angedeutete Verfallsprozess kennt wiederum gerade kein Ende, weshalb die paradigmatische Responsion der agonalen Unordnung auf die ideale Ordnung des Artushofes erneut zu keinem narrativen Syntagma führt. Da die Suche nach traditionsstiftenden Erzählmustern im Bereich des Romans so nicht weiterführt, bietet sich als Alternative zur Recherche in den narrativen Genres die auffällige Parallele der Textform zu den vidas und razos der Romania an.59 Das hieße: Die Erzählform des Frauendienstes wäre nicht maßgeblich den narrativen Möglichkeiten der Epik, sondern der Lyrik geschuldet. Mit den biographischen vidas, die einen narrativen Lebensentwurf verwenden, oder den anlassgebundenen razos, die isolierte Ereigniskontexte einzelner Lieder narrativieren, würde sich dann der Frauendienst einen logischen Zirkel teilen: Die Lyrik böte den Anlass zu einer Geschichte, die umgekehrt wieder zur Herleitung oder Plausibilisierung des Œuvres oder des einzelnen Liedes dienen soll. Die Lyrik erklärt die Herkunft der Geschichte, die Geschichte die Herkunft der Lyrik. 58 59
Zum Interregnum vgl. den Beitrag von Linden im vorliegenden Band, S. 66–70. Vgl. im vorliegenden Band auch die Beiträge von Ackermann, S. 334 f., und Chinca, S. 311–313. Der Hinweis auf die Ähnlichkeit zu den vidas und razos schon bei Ludwig Uhland. Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter. Nach der Erstausgabe der ‚Geschichte der altdeutschen Poesie‘ (1865/66, 1870) mit einer Einführung, Anmerkungen, Bibliographie, Personenregister und Namenindex der Sagengestalten hrsg. von Hartmut Fröschle. München 1981 (Ludwig Uhland. Werke, Bd. 3), S. 693 (vgl. den Beitrag von Christopher Young in diesem Band). Motivvergleiche bei Schlereth, Studien zu Ulrich von Lichtenstein, S. 117–136; ein allgemeiner Strukturvergleich bei Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein, S. 163–165. Zu interpretatorisch aussagekräftigen Einzelparallelen Touber, „Ulrichs von Lichtenstein unbekannte Melodie“. Ergänzend Kartschoke, „Ulrich von Liechtenstein und die Laienkultur“, S. 116 f., der auf die gemischten französischen Romanformen verwiesen hat. In der lateinischen Literatur ist die Gattungsmischung über den zentralen Bildungsgegenstand der Consolatio Philosophiae des Boethius eingespielt, vgl. Ertzdorff, „Typen des Romans“, S. 88; weitere Beispiele der lateinischen Literatur bei Schlereth, Studien zu Ulrich von Lichtenstein, S. 110–112, und Ruben, Zur ‚gemischten Form‘ im Frauendienst, S. 145–148.
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Historisch-biographisch hat man argumentiert, dass Ulrich als literarisch interessierter steirischer Adeliger mit nachweisbaren Kontakten in die Romania diese literarischen Formen vermutlich gekannt haben dürfte.60 Da in der deutschen Literatur vergleichbare Minnesängergeschichten aber fehlen, bahnt sich die Emergenz des Frauendienstes aus Sicht der mittelhochdeutschen Literatur anders an. Für Ulrichs Autonarration liefert die Entwicklung narrativer Strukturen in der Lyrik selbst eine entscheidende historische Vorbedingung. Gerade für die Lyrikgeschichte des 13. Jahrhunderts lässt sich die zunehmende Ausbildung narrativer Muster beobachten. Ulrichs Frauendienst entspräche demnach der Tendenz, die sich im narrativen Genre des Tagliedes, in den biographischen Fiktionen insbesondere Walthers von der Vogelweide ebenso wie in den fragmentarischen Narrativen Morungens, in der Erzählwelt Neidharts und in den Erzählliedern Hadlaubs realisiert, und die etwa in der Entwicklung der Ballade ihre Fortsetzung findet.61 Gleichwohl wäre der Frauendienst auch hier durch seine dezidiert narrativen Passagen ein Sonderfall. Deshalb sind parallel zu dieser Entwicklung die Möglichkeiten der erzählerischen Ich-Aussagen im Roman von Bedeutung, die ausdrücklich auf den Minnesang als ausgezeichnetem Experimentierfeld der Ich-Rede rekurrieren.62 Insbesondere der Erzähler Wolframs 60
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Vgl. die Vermutungen bei Ruben, Zur ‚gemischten Form‘ im Frauendienst, S. 148–151; Glier, „Diener zweier Herrinnen“, S. 302 f. Vgl. dazu die Ableitung dieser Narrativierung aus der medialen Verschiebung von der Aufführung zur Schrift bei Mertens, „Liebesdichtung und Dichterliebe“, S. 204. Allgemeiner zu solchen allgemeinen Narrativierungstendenzen der Lyrik bereits Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein, S. 206, im Kontext ihres Begriffsvorschlags zur „Konkretisierung“ des Minnesangs im 13. Jahrhundert Ingeborg Glier. „Konkretisierung im Minnesang des 13. Jahrhunderts.“ In: From Symbol to Mimesis: The Generation of Walther von der Vogelweide. Hrsg. von Franz H. Bäuml. Göppingen 1984 (GAG 368), S. 250–258. Weitere Literatur zur Narrativierungstendenz ist verzeichnet bei Hartmut Bleumer. „Gottfrieds ‚Tristan‘ und die generische Paradoxie.“ PBB 130, 2008, S. 22–61. Zum paradigmatischen Fall Walthers ders. „Walthers Geschichten? Überlegungen zu narrativen Projektionen zwischen Sangspruch und Minnesang.“ In: Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer. Vorträge gehalten am Walther-Symposion der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24. bis 27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich). Hrsg. von Helmut Birkhan. Wien 2005 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse. Sitzungsberichte 721), S. 83–102. Die Intensivierung der Ich-Instanz in der Mystik, die in der Frauenmystik wiederum auf die Möglichkeiten der Lyrik zurückgreift, verdient in diesem Zusammenhang größere Beachtung. Zu den in der Ulrich-Forschung bislang punktuell gegebenen Hinweisen vgl. oben in Anm. 4, sowie allgemein demnächst Sandra
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von Eschenbach ist hier interessant, da dieser nicht nur in der sogenannten Selbstverteidigung des Parzival sein biographisches Profil gerade dadurch schärft, dass er sich mit der berühmten Formel schildes ambet ist mir art / […] swelchiu mich minnet umbe sanc, / sô dunket mich ir witze kranc ironisch von seiner Minnesängerkompetenz distanziert (Parz. 114,5–116,4). Vielmehr ist Wolframs Erzähler von der Forschung sehr zu Recht als Erzähler im Frauendienst bezeichnet worden.63 Darauf reagiert der Frauendienst, indem er die zentrale Formel der narrativen Selbstverteidigung nicht nur in der Lyrik repliziert, besonders in der Wendung des schildes ampt git êre (Lied XXXVIII, 18; vgl. auch Lied XVI), sondern auch noch die Ritter selbst während ihrer Tjoste singen lässt (1425,3 f.).64 In historischer Hinsicht ist damit die Möglichkeit des Übergangs von der narrativen zur lyrischen Form in verschiedener Hinsicht bereits angebahnt: So wie der Minnesang im 13. Jahrhundert die Möglichkeit entwickelt, narrativ zu werden, so findet auch das Erzählen zu lyrischen Ausdrucksmöglichkeiten. Vor diesem Hintergrund ist es für das Erzählproblem interessant, dass der Erzähler schon im Prolog das Anliegen seines Textes in einer Weise thematisiert, die die Möglichkeiten der Narration übersteigt und einen Gattungswechsel von der Epik zur Lyrik nahelegt. Der Ankündigung, eine Geschichte so gut wie möglich, d. h. ein mære, als ich beste kan (7,2), zu erzählen, ist nämlich ein allgemeines Lob der Frauen vorangestellt, das die Grenzen des mære sprengt: Der Erzähler möchte die grenzenlose Güte der Frauen loben, was eben bedeutet, dass ein angemessenes Lob in den Grenzen einer narrativen Form nicht erreichbar ist.65
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Linden. „Der inwendig singende Geist auf dem Weg zu Gott. Lyrische Verdichtung im Fließenden Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg“. In: Lyrische Narrationen – narrative Lyrik: Beiträge zu Theorie und Geschichte von Gattungsinterferenzen in mittelalterlicher Lyrik, Epik und Mystik. Hrsg. von Hartmut Bleumer und Caroline Emmelius. Berlin, New York vorauss. 2010 (Trends in Medieval Philology). Vgl. Klaus Ridder. „Autorbilder und Werkbewußtsein im ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach.“ Wolfram-Studien 15, 1998, S. 168–194, hier S. 177 f. Vgl. Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper, S. 305. Zur Replikation von Wolframs Spiel mit dem Analphabetentum bei Ulrich die Assoziationen von Peschel-Rentsch, „Das arme Ich des Ulrich von Liechtenstein“, S. 152 f., 167. Vgl. zum Lob im Erzähleingang allgemein Dittrich, 1970, S. 502 f. Zum panegyrischen Romananliegen auch Hausner, „Überlegungen zur Struktur“, S. 129; pointiert zum daraus resultierenden problematischen Verhältnis von endlosem Frauenpreis und Frauendienst in der endlichen narrativen Form jedoch erst Rischer, „Zum Realitätsstatus literarischer Fiktion“, S. 139 f.
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Denn Wie sol man des vol ze ende komen, / des ende nimmer wirt vernomen / und daz für wâr niht endes hât? (4,1–3). Dabei ist der Unsagbarkeitstopos des Erzählers zugleich in die Lösung dieser Schwierigkeit integriert, weil er Teil eines nicht-narrativen, panegyrischen Passus ist, der dem Erzählvorgang vorangeht (5–6). Dass dieser Panegyrik eine lyrische Qualität zuwächst, liegt insbesondere an ihrer ambigen zeitlichen Position: Sie bestreitet nicht einfach das narrative Ende, sie entpuppt sich vielmehr selbst als ein solches, aber nur, um dieses Ende aufzuheben. Weil sich der Ort des Erzählers mit dem unmittelbar an den Lobpreis anschließenden Anfang der Geschichte bestimmen lässt – es handelt sich um einen autodiegetischen Erzähler mit einer extradiegetischen Sprechposition, also einen Erzähler, der seine Geschichte von der nächsthöheren, d. h. zeitlich nachgeordneten Ebene erzählt – präsentiert Ulrich den Anfang seiner Lebensgeschichte ganz konventionell von ihrem Ende her.66 Die Narration kann beginnen, weil die Geschichte zu Ende ist. Was dann dem jungen Helden in der Geschichte zum Problem wird, dass er nämlich seine Diensthandlungen niemals zu einem konkreten Ende bringen kann, da er auf einen direkten Lohn aus ist, erweist sich als eine Schwierigkeit, die der Erzähler bereits hinter sich gelassen hat: Er verneigt sich vor den guoten wîben […] swie sî mich doch verzigen / nâch dienest ofte ir lônes hânt (1,1–3). Die Panegyrik gerät so gerade durch ihre nachträgliche narrative Kontextualisierung in eine typisch lyrisch-zeitliche Schwebe. Im weiteren narrativen Kontext lässt sich diese lyrische Schwebesituation recht einfach daran demonstrieren, dass der Erzähler mit seiner Geschichte zwar erzählt, wie die Lieder ihren Anfang nehmen, diese selbst aber, wenn sie vorgetragen werden, zeitlich nicht mehr fixierbar sind: Die lyrischen Inserate werden aus Sicht des Erzählers in ihrer Entstehung und ihrer primären Performanz in der Vergangenheit der Diegese situiert, zugleich werden sie aber auch aktuell vom Erzähler in der 66
Ergänzend ist auf die Fokalisierung einzugehen: Der Fokalisierungstyp ist dominant, aber nicht durchgängig als eine interne Fokalisierung zu bezeichnen. Der Versuch von Pieper, Die Funktionen der Kommentierung, S. 33, Übergänge zu einer auktorialen Erzählhaltung nachzuweisen, darf wegen seiner Begriffsunschärfe und vor allem wegen der nicht erbrachten Belege als gescheitert gelten, reagiert aber auf einen zutreffenden Eindruck. Eine Überprüfung ergibt nämlich, dass Ulrichs Erzähler tatsächlich auch den auktorialen Typus der Nullfokalisierung verwendet, der nämlich auch noch weiß, was seine Figuren denken (51,3; 307,4 f.; 310,7 f.; 369,1), einmal sogar angeben kann, was seine Herrin denkt (1348,3–10). Dominanz erreicht dieser Fokalisierungstypus allerdings nicht.
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Narration präsentiert – und darüber hinaus sind sie immer wieder in der gleichen Weise aktualisierbar, während die Geschichte in der fiktiven Vergangenheit fixiert bleibt. Eine narratologische Analyse ist methodisch verpflichtet, die diegetischen Ebenen auseinanderzuhalten, auf der Figurenrede und Erzählerrede situiert sind. Fragt man nun, auf welcher Ebene die Lyrik anzusiedeln wäre, so führt dies zu einer aufschlussreichen Antwort: auf jeder. Das gleiche muss dann für den Erzähler gelten, wenn seine Narration abschließend dazu tendiert, mit der zunehmenden Auflösung der Geschichte eine lyrische Qualität anzunehmen.67 Noch das Medium der Handschrift zeigt Spuren dieser transgressiven Schwebe zwischen Epik und Lyrik. Dass die Rede des Erzählers in Strophen gebunden zu sein scheint, nähert sie zwar, verglichen mit den Reimpaar- und Prosaformen, in denen die Büchlein und Briefe abgefasst sind, schon von vornherein den lyrischen Inseraten an. Aber diese Strophenbindung ist ein Schrifteffekt, der durch die Lombardengliederung der Handschrift bzw. das Schriftbild der Ausgaben entsteht und im Vortrag verschwindet: Die narrativen Passagen sind eigentlich konventionelle Reimpaardichtung und damit hörbar von der Lyrik verschieden.68 Dieses grenzüberschreitende Spiel mit Form- und Mediendifferenzen arbeitet der Grenzüberschreitung zwischen Narration und Lyrik zu. Als ihr intradiegetischer Effekt wandern Sprachformeln und Sprechformen aus den lyrischen Inseraten in die Erzählwelt ein: So nehmen gleich zu Beginn die herze-lîp-Dialoge des jungen Ulrich (17,2–20,8; 123,5–130,8) eine konventionelle Dialogsituation des Minnesangs auf, die dann in Lied III thematisiert wird. Ganz Ähnliches gilt signalhaft auch für die Rede des Erzählers, der schon mit seiner Prologsentenz, daz wîbes güete niemen gar / volloben an ein ende mac (2,2 f.), die Eingangsverse des ersten Liedes des Frauendienstes zitiert (Lied I, 1 f.). Zur vollen Entfaltung kommt diese Figur der narrativen Grenzüberschreitung für die Narration aber erst im zweiten Teil des Frauendienstes, 67 68
Vgl. Schilling, „Gesellschaftskunst und Privatvergnügen“, S. 110. Vgl. Peschel-Rentsch, „Das arme Ich des Ulrich von Liechtenstein“, S. 154 f. Gegenüber Peschel-Rentsch wäre der Nachweis von Schlereth, Studien zu Ulrich von Lichtenstein, S. 109, zu ergänzen, die nicht nur ebenfalls von einem Reimpaartext ausgegangen ist, sondern auch noch zutreffend auf den ästhetischen Effekt hingewiesen hat, dass sich der Eindruck des Reimes in längeren epischen Texten verbraucht, d. h. dass der Text im Lektüreverlauf in die Nähe zur Prosa gerät. Eine diesem Effekt adäquate Editionsform des Frauendienstes erprobt Burghart Wachinger. Deutsche Lyrik des späten Mittelalters. Frankfurt a. M. 2006 (Bibliothek des Mittelalters 22), S. 132–159.
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wenn sich die wörtlichen Wiederaufnahmen aus den lyrischen Passagen in den Erzählerkommentaren derart verdichten, dass auch das Erzählen eine lyrische Qualität annimmt.69 Zugleich heißt dies, dass die Rede des Erzählers ihren narrativen Charakter verliert (1612 ff.). Dafür bedient der Text dann über die Lyrik punktuell narrative Bedürfnisse. Im zweiten Teil des Frauendienstes finden sich mit Ulrichs Tageliedern (Lied XXXVI; Lied XL) nicht nur Vertreter eines narrativen lyrischen Genres, sondern diese Lieder spielen auch noch mit genau jenem Realismuseffekt, den die Konzentration auf die Lyrik im narrativen Kontext auslöst.70 Das Subgenre des Wächtertageliedes wird nämlich vom Erzähler mit Hilfe eines ausgeprägten Realitätssinnes kritisiert. Der Erzähler bemängelt die Realitätsferne der Vorstellung, es könne so etwas wie einen verschwiegenen Wächter geben (1622,4), von dem die meister habent ê gesungen (1622,1 f.). Daraufhin wird die alte, idealisierte Rollenvorstellung beseitigt und im folgenden Tagelied die Wächterfigur durch die einer diskreten maget ersetzt. Vor allem aber imaginieren die Lieder des zweiten Teils mehrfach jene transzendente Form der Minnevereinigung, die der jugendliche Ulrich in seinem ersten Dienst konkret körperlich zu erreichen suchte, und zwar auch noch unter sehr ausgeprägter Verwendung körperlicher Vereinigungsmetaphorik und einer gegenüber den früheren Liedern intensivierten Bildlichkeit.71 Die Lyrik des zweiten Textteils stellt so immer wieder
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Vgl. die Materialsichtung bei Ruben, Zur ‚gemischten Form‘ im Frauendienst, S. 53–63; ausschnittartig auch McLelland, „Der unerreichbare Innenraum“, S. 90 f., sowie auch den Hinweis auf den rein poetologisch-reflexiven Kontext von Lied XL (503,6–13) bei Heinen, „Poetic Truth and the Appearance of Reality“, S. 171. Zum Tagelied vgl. den Beitrag von Braun im vorliegenden Band, S. 413 f. Vgl. auch Kühnel, „Zu den Tageliedern Ulrichs von Liechtenstein“, S. 123 f. Die Feststellung von Heinen, „Poetic Truth and the Appearance of Reality“, S. 162, die Taglieder seien „the most literary of Ulrich’s songs“, reagiert offenbar auf den Eindruck, dass sich die Erzählung erst im lyrischen Kontext entfaltet. Wie zur Bestätigung dieses Übergangseffekts von lyrischer Narration zu narrativer Lyrik hat z. B. Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper, S. 308–312, die Tagelieder wie selbstverständlich in ihre Interpretation der narrativen Handlung aufgenommen. Vgl. dazu Hübner, Frauenpreis, S. 292–296. Auf die Bildintensivierung verweist Heinen, „Gibt’s da nichts zu lachen?“, S. 202, der die Lyrik Ulrichs gleichwohl negativ beurteilt. Vgl. dagegen in der Rückspiegelung auf die Annäherung von Lyrik und Erzählen die Funktionsbestimmung von Kiening (Anm. 5), S. 215: „So wie sich die Körper in der Imagination verflechten, so werden Liederdiskurs und Erzählerdiskurs für einander durchlässig.“
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jenes glückliche Ende vor Augen, das in der ersten Geschichte ausblieb, um es zu transgredieren, transzendieren und auf Dauer zu stellen. Man hat die Lyrik daher als eine Art ideale „Ersatzrealität“ bezeichnet, d. h. die Lyrik Ulrichs gibt jenem utopischen Minneort einen Raum, der sich im Rahmen narrativer Verläufe prinzipiell nicht realisieren lässt.72 Ein letztes Schlaglicht auf dieses Verhältnis von Narration und Lyrik wirft der Epilog.73 Der Erzähler präsentiert hier abschließend seine Geschichte als einen offenen Prozess der mündlichen Minnesangproduktion, der durch die Schrift und das Buch nur zu einem vorläufigen Ende kommt: Swaz ich an niuwen dœnen ie dar von gesanc, daz vindet man hie allez an dem buoche stân. noch wil ich vrowen lop niht lân: ich wil sie gerne loben mê. swer welle, daz ez hier an stê, swenne ichz gesinge, der schrîbe ez dran: der hât sîn zuht dar an getân. (1847)
Man hat in dieser auch sonst spürbaren Konstruktion ein mediales Paradox vermutet: Der Erzähler Ulrich verfügt durch das Buch über die Schrift, obwohl der Lyriker Ulrich in der Diegese ein Analphabet ist, der sich Schrifttexte vorlesen lassen muss.74 Umgekehrt singt aber dieser 72
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Vgl. schon die These zur Möglichkeit der Lyrik von Joan M. Ferrante. „The Conflict of Lyric Conventions and Romance Form.“ In: In Pursuit of Perfection. Courtly Love in Medieval Literature: A Collaborative Study. Hrsg. von Georg D. Economou und Joan M. Ferrante. Port Washington, London 1975, S. 135–178, hier S. 136; Frey, „Zum Funktionswandel der Minnelyrik“, S. 69. Vgl. auch Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 276–278; nachdrücklich McLelland, „Der unerreichbare Innenraum“, S. 88, 98–100. Zuvor zur Verlegung der Minneerfüllung in die Transzendenz der Lyrik auch Herzog, „Minneideal und Wirklichkeit“, S. 514–516. Über den Gattungswechsel wäre demnach Müllers Diktum von der Erprobung der „utopischen Möglichkeiten ästhetischer Entwürfe“ zu präzisieren („Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 70). Vgl. zur Autorsignatur des Prologs auch den Beitrag von Ackermann im vorliegenden Band, S. 340–342. Zum Paradox Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper, S. 320; zuvor schon allgemeiner Manfred Günther Scholz, Hören und Lesen. Studien zur primären Rezeption der Literatur im 12. und 13. Jahrhundert, Wiesbaden 1980, S. 219–221, sowie zur Paradoxie, an einer anderen Textstelle, Heinen, „Homo (il)litteratus or Poet/ Performer?“, S. 161, wobei Heinens Beobachtung, dass der Text erst im letzten Drittel vom Erzähler als buoch bezeichnet wird, zum narrativen Problem des Endes passt. Zur Semantik des Wortes singen im Frauendienst Kartschoke, „Ulrich von
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Analphabet keines seiner Lieder in einer konkreten Aufführungssituation, die Untersuchung der Semantik des Wortes singen ergibt sogar, dass diese deutlich auf ein schriftliches Lyrikkonzept hindeutet. Die Lyrik des Analphabeten ist demnach auch, wenn nicht zuerst: Leselyrik.75 Auch hinter dieser medialen Paradoxie steht wiederum die generische. Die Lyrik des Minnesängers Ulrich setzt sich in der Schrift fort, nur kann der Erzähler Ulrich sie dem Buch nicht überantworten, weil dieses wie die Geschichte ein Ende haben muss. Vom Ende her lässt es sich mit einem Titel fixieren: Ditz buoch sol guoter wîbe sîn: in hât dar an die zunge mîn gesprochen vil manic süezez wort. […] VROWEN DIENST ist ez genant: dâ bî sô sol es sîn bekant. (1850,1–8)
Auch der Erzähler geht mit der Schrift einem Ende seiner Geschichte entgegen, denn er setzt sich selbst in die Vergangenheit: „Glaubt mir“, so spricht er sein Publikum an, „ich war dreiunddreißig Jahre Ritter, als man dieses Buch erstmalig vorgelesen hörte, so wie ich es vollendet hatte“ (vgl. 1845,2–5), so dass es nun von den Frauen vernommen werden kann: nu nemen die vrowen drinne war, / ob ich gesungen und geseit / dar inne iht habe ir werdecheit (1845,6–8). Dieses Jetzt der Rezeption verschafft der Lyrik Ulrichs aber einen beständigen zeitlichen Vorsprung vor der immer nur vergangenen Geschichte des Erzählers. Denn das Jetzt der Lektüre richtet sich auf die Lieder, nicht auf die Narration: Diese können immer wieder gelesen werden, nicht nur, weil das Medium dies ermöglicht, sondern auch, weil Lyrik im Unterschied zu Geschichte und Narration jederzeitlich ist. Das epische Präteritum wird durch das Verschwinden der Geschichte in der
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Liechtenstein und die Laienkultur“, S. 106 f., konvergierend dazu der mehrdeutige Gebrauch der mittelhochdeutschen Bezeichnungen für Liedtypen, den Heinen, „Sense of Genre“, verzeichnet hat. Vgl. zum Analphabetentum der Figur Ulrichs die Beiträge von Kellermann, S. 224 f. und öfter, Braun, S. 437, und Wolf, S. 506–510 Vgl. Kartschoke, „Ulrich von Liechtenstein und die Laienkultur“, S. 131 f.; Thomas Cramer. Waz hilfet âne sinne kunst? Lyrik im 13. Jahrhundert. Studien zu ihrer Ästhetik. Berlin 1998 (PhStQu 148), S. 25, 35; weniger entschieden, aber die Plausibilität der Leselyrikthese anerkennend Händl, Rollen und pragmatische Einbindung, S. 418, und Schilling, „Gesellschaftskunst und Privatvergnügen“, S. 110. Vgl. auch den Beitrag von Wolf im vorliegenden Band, S. 492 f.
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Narration zur vereinfachten Gegenwart, und eine solche einfache Gegenwart wird selbst zur Vergangenheit, sobald sie der Schrift überantwortet ist. Diese Vergänglichkeit der Rede kennt der Minnesang aber gerade nicht, denn im Verschwinden des epischen Präteritums behauptet sich nichts anderes als die Möglichkeit lyrischer Präsenz.
6. Ein Fazit zwischen historischer Narratologie und narrativer Lyriktheorie Betrachtet man Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst derart als eine literarhistorische Systemstelle, welche die Möglichkeiten von Epik und Lyrik zusammenführt und zugleich das narrative Problem der Zusammenführung offenbart, dann lässt sich einerseits ein Ausblick auf eine mögliche historisch-narratologische Klassifikation des Textes wagen, zugleich aber auch ein Theoriedefizit festhalten, das erklärt, warum der narrative Sonderstatus des Frauendienstes sich bislang einer befriedigenden Beschreibung immer wieder entzogen hat. Der Frauendienst wäre insgesamt als Ergebnis einer narrativen Transgression zu bezeichnen, die einerseits in die Lyrik führt und hier ihren vorläufig-jederzeitlichen Abschluss erhält, die aber andererseits den Erzähltext selbst auflöst. Dabei korrelieren Diegese und lyrische Imagination tiefgreifend miteinander, lyrische Isotopien werden zu narrativen Handlungen, was unter der Ägide der Minneherrin der Hohen Minne des ersten Teils zu einer narrativen Spaltung in eine soziale Intrige und eine Minneintrige, nach dem Konzeptwechsel hin zur Minne der Gegenseitigkeit im zweiten Teil zu einer zunehmenden Spaltung in eine narrativ ungeordnete Realität und eine narrativ geordnete Lyrik führt. Dem Scheitern des Rittertums in der österreichischen Realität steht nun jedenfalls der ungehemmte Erfolg von Ulrichs Lyrik gegenüber, der für den Erzähler immer wichtiger wird. Dass seine Lieder gefallen, als meisterlîch (1395,6) bezeichnet und bei verschiedenen Gelegenheiten gesungen werden, verzeichnet der Erzähler ohne jede Bescheidenheit zum wiederholten Mal (1425,1 u. 5 f.; 1633,1; 1644,1; 1738,1–3; 1772,1 f.; 1807,1).76 Wie in der ersten Texthälfte generiert der Erzähler seine Diegese auch hier offenbar aus lyrischen Isotopien: So ist es zwar für den 76
Vgl. ferner die Zusammenstellung solcher Erfolgsmeldungen vornehmlich für den Textteil bei Goheen, „Maere und liet“, S. 151 f., sowie den Hinweis bei Händl, Rollen und pragmatische Einbindung, S. 370.
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Sittenverfall der Erzählwelt bezeichnend, wenn Ulrich von treulosen Vasallen überfallen und eingekerkert wird. Aber man darf sich fragen, ob diese Episode nicht eigentlich dem Wunsch geschuldet ist, einen plausiblen Kontext für die Kerkerlieder zu fingieren, die in diesem Zusammenhang präsentiert werden. Nimmt man noch hinzu, dass die Reflexionen des Erzählers ganz zweifellos Übernahmen aus der Lyrik darstellen, wird man sagen können: In der Lyrik liegt der semantische Überschuss vor, auf den die Geschichte in der transgressiven Anlage des Frauendienstes zielt. Aktantenlogisch wäre demnach sogar zu formulieren: Nicht etwa Ulrich ist die Hauptfigur in der narrativen Sonderform des Frauendienstes, sondern seine Lieder bilden den Aktanten der Geschichte.77 Daneben bleibt Ulrich dann doch noch die Realisierung eines biographischen Musters, das freilich ebenfalls offen bleibt. Es beginnt in der Geschichte des Frauendienstes, gerät aber erst in der Narration des Erzählers in seine letzte Phase und dauert im Prozess der Narration an. Die sechs Lebensalter des Helden falten sich im zeitlichen Nacheinander von Geschichts- und Narrationsebene präzise auf. Fünf Abschnitte durchmisst die Geschichte in der Diegese: Die Kindheitsphasen (infantia, pueritia) und Jugend (adolescentia) werden in der Erzählung genau mit Jahresangaben beziffert, in der Lyrik heißt es dann, dass der junge Ulrich seiner ersten Dame 13 Jahre vergeblich gedient (iuventus), insgesamt aber, nach seinem zweiten, besonnenen Dienst (gravitas), 33 Jahre gesungen habe. Das Alter (senectus) ist dem aktuellen Erzählvorgang vorbehalten. Die Zahlen klingen zu topisch, als dass man sie für bare Münze nehmen möchte.78 Aber vielleicht werden sie durch die Lyrik zum Teil von authentischen Ich-Aussagen, die als lyrische zeitlos sind. Dann wären auch sie noch Elemente einer Transgressionsfigur. Das Beschreibungsproblem dieser Transgressionen besteht nicht zuletzt darin, dass die Forschung keine etablierte Theorie besitzt, mit der sich solche Übergangsphänomene schon sicher beschreiben lassen. Zwar hat die Narratologie ihr erzähltheoretisches Modell inzwischen in die Lyrikanalyse importiert.79 Aber trotz des nicht zu bezweifelnden Er77
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Vgl. in diesem Sinne schon in der älteren Forschung den Versuch von Brecht, „Ulrich von Lichtenstein als Lyriker“, S. 1–33, die Lieder über ein eigenes Entwicklungsnarrativ zu verbinden. Zu den 33 Jahren Spechtler, Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein, S. 233; vgl. auch die Erwägung bei Zips, „Frauendienst als ritterliche Weltbewältigung“, S. 743. Vgl. das Modell von Peter Hühn und Jörg Schönert. „Zur narratologischen Analyse von Lyrik.“ Poetica 34, 2002, S. 287–305; dies., „Einleitung: Theorie und Methodologie narratologischer Lyrik-Analyse.“ In: Lyrik und Narratologie. Text-Analy-
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kenntnisgewinns besteht für die Erzählmodelle angesichts der besonderen lyrischen Medialität noch ein weiterer Anpassungsbedarf, wie auch umgekehrt die Lyriktheorie neue Akzente für die Bewertung von IchAussagen und der Emergenz lyrischer Qualität in narrativen Texten bieten müsste.80 Erst auf der Basis einer derart hergestellten transgenerischen Erzähltheorie wäre eine umfassende Analyse eines Übergangstextes wie dem Frauendienst möglich. Diese hätte dann, neben den narrativen Passagen, auch die narrativen Strukturen der Lieder eingehend zu beschreiben. Was hier nur als These formuliert werden darf, ließe sich so vielleicht erhärten: Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst ist, gerade wenn man ihn als Erzähltext ernst nehmen will, die erste Lyrikgeschichte des Mittelalters.
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sen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Hrsg. von dens. und Malte Stein. Berlin, New York 2007 (Narratologia 11), S. 1–18. Ein solches Modell wäre zusammenzubringen mit dem bisher zum Frauendienst vorgeschlagenen allgemeinen Kommunikationsmodell von Händl, Rollen und pragmatische Einbindung, S. 386, bzw. den spezifizierenden Modellen zur Botenkommunikation und zu den verschiedenen Handlungsrollen bei Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 55, 368.
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8. Lyrik Typus und Variation im Minnesang des 13. Jahrhunderts von M ANUEL B RAUN Ulrich von Liechtenstein hat einen gewichtigen Beitrag zum Minnesang des 13. Jahrhunderts geleistet.1 Das zeigt allein der Umfang seines lyrischen Œuvres, wie es in der Frauendienst-Handschrift L (309 Liedstrophen und ein Leich) sowie in der Manessischen Liederhandschrift C (318 Liedstrophen) überliefert ist. Ausgehend von der Annahme, dass es sich beim Minnesang um eine Kunstform handelt, die in erster Linie durch den Mechanismus spielerischer Variation bestimmt wird, möchte ich Ulrichs lyrisches Werk in folgenden Dimensionen erschließen: dem Forminventar, dem von ihm abgedeckten Gattungsspektrum, der Semantik, der Sprechhaltung sowie der Rhetorizität. Wenn ich die Texte auf diese Aspekte hin durchsehe, betrachte ich sie unter drei Perspektiven: Erstens hebe ich auf das ab, was an Ulrichs Liedern als typisch für den Minnesang überhaupt gelten kann. Ich gehe also zum einen davon aus, dass der Minnesang ein literarisches System darstellt, dessen (Spiel-)Regeln sich rekonstruieren lassen, und nehme zum anderen auch an, dass Ulrichs Lieder sich in diesen Zusammenhang einschreiben. Zweitens frage ich danach, inwiefern Ulrichs Lieder an Tendenzen teilhaben, die man seit Hugo Kuhns Minnesangs Wende dem sogenannten nachklassischen Minnesang des 13. Jahrhunderts zuspricht.2 Drittens suche ich nach solchen Zügen, die Ulrichs Autorprofil ausmachen könnten. Ich rechne also damit, dass es trotz aller Uniformität im Minnesang so etwas wie Stilzüge gibt, durch welche sich die verschiedenen Autoren voneinander abheben. Vorausgeschickt sind dieser Darstellung Informationen zur Überlieferung sowie, sie weiterführend, Überlegungen zum Werkbegriff; beschlos1
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Zur Lyrik vgl. im vorliegenden Band auch die Beiträge von Knapp, S. 110–116, Bleumer, S. 369–372 und passim, sowie Kellermann, S. 234–243. Hugo Kuhn. Minnesangs Wende. 2., vermehrte Auflage. Tübingen 1967.
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sen wird sie durch die Frage nach der Pragmatik der Lieder, die die Minnesang-Forschung in den letzten Jahren und Jahrzehnten besonders beschäftigt hat und für die Ulrichs Frauendienst insofern von Interesse ist, als er die Lieder ja in einen narrativen Rahmen stellt und also Situationen ihrer Produktion und ihrer Rezeption entwirft. Diese weichen durchaus von den Vorstellungen ab, mit denen die Forschung mehrheitlich operiert.
1. Überlieferung und Œuvre Die Überlieferungsverhältnisse von Ulrichs Lyrik erscheinen auf den ersten Blick einfach.3 Denn die Texte finden sich zunächst in der einzigen Handschrift des Frauendienstes, dem cgm 44 (L), welche die Lieder durch die Einbettung in eine Ich-Erzählung gewissermaßen autorisiert,4 und dann ein weiteres Mal im Codex Manesse (C), der sich bei der Wiedergabe der Lieder an erstere vergleichsweise eng anschließt – im Bereich der Strophenfolge etwa gibt es kaum Varianz –, auch wenn der cgm 44 nicht seine unmittelbare oder einzige Vorlage gewesen sein kann.5 Dennoch ergeben sich bei näherem Hinsehen vier Schwierigkeiten, die es verbieten, die Frage nach Ulrichs lyrischem Werk mit einem einfachen Satz abzutun. Die erste liegt darin, dass die Frauendienst-Handschrift Fehler und Lücken aufweist. Ein offensichtlicher Fehler betrifft das Lied XXIII, das in L und in C als fünfstrophiger Text überliefert ist. Allerdings finden sich in L zwei weitere tongleiche Strophen inmitten des folgenden Liedes XXIV. Wenn man sie wie Carl von Kraus dem Lied XXIII zuschlägt, konstruiert man einen Text, der durch die Überlieferung nicht gesichert ist, und sieht sich außerdem vor die Entscheidung gestellt, wo im Liedverlauf die beiden fraglichen Strophen einzuordnen sind. Außerdem weist L Lücken auf, in denen Lieder ‚verschwunden‘ sind. Vergleichsweise unproblematisch erscheint die Lage beim Lied XXXVII, das in eine durch Blattverlust entstandene Lücke fällt.6 Da immerhin 3
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Zur Lyriküberlieferung vgl. auch den Beitrag von Wolf im vorliegenden Band, S. 492 f., 497–501. Linden, „Die Liedüberschriften im ‚Frauendienst‘“, S. 409, spricht von einer „vom Dichter selbst autorisierten Werkausgabe seines lyrischen Schaffens“. Dazu die Beobachtungen bei Linden, ebd., S. 414, Anm. 19. Linden, ebd., S. 414 f., erklärt diese Lücke damit, dass hier ein weiteres Mal die drei Lieder XII–XIV eingetragen waren, die in der Vorlage, einer reinen Liederhandschrift, an dieser Stelle gestanden hatten, im Frauendienst aber vorgezogen worden
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noch die Überschrift und die erste Zeile in L erhalten sind, wird man den Rest des Liedes nach C ergänzen dürfen. Größere Bedenken bestehen hingegen bei den Liedern LVII und LVIII, weil diese in L keine Spuren hinterlassen haben und sich nur in C finden. Zudem ist die Existenz einer Lücke hier weniger sicher, weil sie sich nicht einem Blattverlust, sondern einem Sprung des Schreibers verdankt. Die Entscheidung, die beiden Lieder nach der Manessischen Liederhandschrift zu ergänzen, erscheint – zweitens – auch deswegen problematisch, weil diese im Folgenden weitere Texte enthält, die über das in L Überlieferte hinausgehen, nämlich zwei Spruchstrophen sowie das Lied LIX. Die beiden Spruchstrophen werden Ulrich deswegen abgesprochen, weil er sich dieser Gattung sonst nicht bedient hat und weil sie nach dem Zeugnis von Rudolfs von Ems Alexander Gottfried von Straßburg gehören. Das Lied LIX weist eine stark spruchhafte Tendenz auf und formuliert einen Abgesang auf die höfische Freude. Es ist mit keineswegs zwingenden Argumenten, die etwa die Reimbehandlung oder den Wortschatz betreffen, Ulrich aberkannt worden. Drittens wird das Bild dadurch weiter verunklart, dass C gegenüber L nicht nur Plus-, sondern auch Minusstrophen aufweist. Das prominenteste Beispiel hierfür stellt der Leich dar, der in C ganz fehlt. Texte dieser Gattung stellt die Manessische Handschrift häufig an den Anfang einer Autorsammlung, was zu der Vermutung führt, dass auch Ulrichs Leich aus den Liedern hätte ausgesondert und an anderer Stelle platziert werden sollen und dass er dabei verloren gegangen ist. Was die Lieder anbelangt, fehlt bei Lied LI die erste Strophe, während die Lieder XXII, XXIII, XXXIX und LVI gegenüber dem L-Text jeweils die Strophen sechs und sieben vermissen lassen, womit C eine gewisse Bevorzugung des fünf- gegenüber dem siebenstrophigen Lied erkennen lässt. In Bezug auf die Konstitution des Korpus eher unproblematisch erscheinen – viertens – die mehrfach überlieferten Strophen und Lieder. So findet sich die erste Strophe des Liedes XL auch im Nachtrag a zur Kleinen Heidelberger Liederhandschrift (ohne Autorangabe). Und so ist das Lied XII in C auch unter Heinrich von Veldeke (vier Strophen) und in A unter Niune (alle fünf Strophen) überliefert. Man wird trotzdem nicht daran zweifeln, dass die fraglichen Texte Ulrich zugehören. Denn erstens wird seine Autorschaft durch die Frauendienst-Handschrift gewissermaßen verbürgt, und zweitens sind sowohl der A-Nachtrag als auch waren. Als man die Doppelung bemerkt habe, habe man das entsprechende Blatt einfach herausgerissen.
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die C-Korpora Veldekes und Niunes dafür bekannt, dass sie alles mögliche umlaufende Liedgut an sich gezogen haben. All das zusammengenommen, lässt sich die Frage nach Ulrichs von Liechtenstein lyrischem Werk nicht derart eindeutig beantworten, wie das angesichts des Umstandes zu vermuten wäre, dass es sich nur auf zwei einander nahestehende Überlieferungsträger verteilt. Bildet man das Korpus nur nach L, sieht man sich dem Problem der Lücken gegenüber, denen mehrere Lieder zum Opfer fallen würden, die mit Sicherheit (XXXVII) oder doch mindestens mit großer Wahrscheinlichkeit (LVII, LVIII) Ulrich zugehören. Genauso wenig kann man nur von C ausgehen, da dann der Leich und einige andere Strophen fehlen. Das Textmaterial beider Überlieferungsträger einfach zu addieren, stellt deswegen keine Lösung dar, weil dem Korpus dann auch diejenigen Strophen und Lieder aus C zugeschlagen werden müssten, bei denen es zumindest fraglich erscheint, ob sie von Ulrich stammen. Außerdem setzt ein solches Additionsverfahren die Klärung der Frage voraus, welchem der beiden Zeugen im Zweifelsfall (etwa dem der fünf- bzw. siebenstrophig überlieferten Lieder) der Vorzug zu geben wäre. Für die folgende Darstellung erscheint es mir am sinnvollsten, zunächst vom Textbestand von L auszugehen, weil die Frauendienst-Handschrift gegenüber dem Codex Manesse ein zusätzliches Moment der Autorisierung besitzt, und diesen dort, wo L Lücken aufweist, um das C-Material zu ergänzen. Demnach besteht das lyrische Œuvre Ulrichs von Liechtenstein aus 57 Liedern und einem Leich (das Lied LIX und die beiden Spruchstrophen bleiben also außen vor). Es handelt sich damit um eines der umfangreichsten lyrischen Korpora des 13. Jahrhunderts – vergleichbare Dimensionen weisen nur noch die Sammlungen Gottfrieds von Neifen und Ulrichs von Winterstetten auf –, und um das größte nicht-schwäbische Korpus. Zitiert werden die Lieder nach der Frauendienst-Ausgabe Reinhold Bechsteins, aus der folglich auch die Text-, Strophen- und Verszählung stammen, und alle allgemeinen Aussagen beziehen sich ebenfalls auf das in ihr enthaltene Korpus. Bechstein bietet auch den Vorzug, weniger stark in die überlieferten Texte einzugreifen, als das Carl von Kraus tut, obgleich auch ihn die Lieder ob ihrer metrischen Form häufiger zu Besserungen veranlassen als der restliche Text des Frauendienstes. Was die Gruppierung der Lieder angeht, empfiehlt es sich freilich nicht, sich allein dem epischen Rahmen des Frauendienstes anzuvertrauen. Zwar lassen sich von hier aus durchaus sinnvolle Einheiten bilden, etwa in Bezug auf die beiden Dienste: die Lieder des ersten Dienstes, die sich
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wiederum in Werbe-, Schimpf- und Aufsagelieder unterteilen lassen; die Lieder der Zwischenphase, die auf die Rollen des liebenden Ich und der geliebten Dame verzichten und also nach Art der ‚allgemeinen Minnelieder‘ gestaltet sind; schließlich die Lieder des zweiten Dienstes, die das Moment der Freude betonen.7 Des Weiteren lassen sich die Lieder, geht man vom epischen Rahmen aus, in der Art eines Chiasmus auch auf den Zustand der Gesellschaft beziehen: Wo diese intakt ist, können die Lieder von Trauer handeln, wo sie vom Zerfall bedroht erscheint, setzen sie ihr die reine Freude entgegen.8 Diese Möglichkeiten der Einteilung dürfen freilich nicht den Blick darauf verstellen, dass die Lieder auch durch solche Prinzipien verknüpft sind, wie man sie auch für andere Lyriksammlungen beschrieben hat: etwa das der Formverwandtschaft, das der Responsion oder das der Motivgleichheit.9
2. Forminventar Die Einschätzung, dass der Minnesang zuerst und vor allem als Formkunst zu beschreiben ist, wird auch durch die Lyrik Ulrichs bestätigt, der über das vorhandene Forminventar souverän verfügt, es aber auch seinen spezifischen Bedürfnissen anzupassen versteht. Ich möchte Ulrichs Umgang mit der metrisch-strophischen Form mit Hilfe der gut handhabbaren Notation Kuhns beschreiben, die auf Takte verzichtet und nur die realisierten Hebungen, die Kadenz und den Reim notiert.10 Wo es für meine Zwecke ausreicht, beschränke ich mich sogar darauf, das Reimschema anzugeben. Die folgende Darstellung schreitet von größeren zu kleineren Einheiten fort, sie setzt also bei der Komposition des Liedes an, geht dann zum Bau der Strophe über und endet mit der Behandlung des Verses. Abschließend werfe ich noch einen Blick auf die Sonderform des Leichs. Die Zahl der Strophen, die ein Lied ausmachen, variiert bei Ulrich zwischen drei und sieben. Sie tut das allerdings – und das ist ein Zug des 13. Jahrhunderts, der sich etwa auch bei Ulrich von Winterstetten 7
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Dittrich, „Die Ideologie des guten wîbes“; Händl, Rollen und pragmatische Einbindung, S. 382–384; Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 199–212, 264–267. Müller, Jan-Dirk, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 33 f. Ingrid Bennewitz-Behr. Original und Rezeption: Funktions- und überlieferungsgeschichtliche Studien zur Neidhart-Sammlung R. Göppingen 1987 (GAG 437), S. 162–165. Kuhn (Anm. 2), S. 45–47.
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ausprägt – nicht in willkürlicher Weise, sondern unter klarer Bevorzugung der ungeraden Strophenzahlen Fünf und Sieben. So haben 22 Lieder fünf Strophen und 23 sieben – sie machen zusammen knapp 80 Prozent aller Lieder aus11 –, während nur drei Lieder drei Strophen (Lieder VI, XV, XXXVII), weitere drei vier (Lieder I, VII, IX) und sieben sechs aufweisen (Lieder III, X, XIV, XIX, XXIV, XXVII, XXVIII). Man kann also fünf- und siebenstrophige Lieder als Grundtypen ansetzen und die Lieder mit den geraden Strophenzahlen als seltene Varianten auffassen. Eine weitere Besonderheit der Ulrich’schen Liedkomposition, die dem Gesetz der spielerischen Variation folgt, besteht in der Verletzung des Prinzips, wonach ein Lied aus lauter gleichen Strophen zu bestehen hat. Mehrere Lieder Ulrichs missachten es, indem sie die letzte Strophe um einen oder zwei Vers(e) verlängern. Beim Lied XXI bringt die Schlussstrophe noch die Plusverse: daz ist mîn klage / alle tage (XXI, 51 f.), beim Lied XXVII lauten sie: Mîn muot von wîben hôhe stât: / ir güet mich zürnen niht enlât (XXVI, 37 f.), beim Lied XXXVI: Got müeze dîner êren pflegen: / dîn wîplîch güete sî mîn segen (XXXVI, 57 f.) und beim Lied XLII: Dar wil ich und niender anders war. / kum ich dar, ez ist uns beiden frum (XLII, 36 f.). Diese Plusverse werden von Bechstein entweder in die Anmerkungen verbannt – die Ausnahme stellt das Lied XXIX dar, wo er den Zusatzvers der Schlussstrophe abdruckt: Dar nâch gesunt (XXIX, 66) –, oder, wie im Fall des Liedes XXXVIII, völlig übergangen.12 Damit verkennt er, dass es sich bei ihnen genauso gut um ein Kunstmittel wie um einen Überlieferungsdefekt handeln kann.13 Als solches verstanden, würden die Plusverse qua Übertretung auf die Regel aufmerksam machen, wonach Lieder aus gleich gebauten Strophen zu bestehen haben. Dieses Verfahren verwenden im Übrigen ja bereits ältere Autoren, etwa Walther von der Vogelweide in seinem HiltegundeLied (L. 73,23).
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Fünf Strophen zählen die Lieder II, IVf., XI–XIII, XVIIf., XIX, XXI, XXIX, XXXI, XXXIII–XXXV, XLII, XLVf., XLVIII–L, LII, sieben Strophen die Lieder VIII, XVI, XX, XXIIf., XXVI, XXX, XXXII, XXXVI, XXXVIII, XXXIX–XLI, XLIIIf., XLVII, LI, LIII–LVIII. Nach der Edition von Carl von Kraus lautet der Vers daz kan si süeze machen (KLD, XXXVIII,7,6). Carl von Kraus. Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Carl von Kraus, besorgt von Hugo Kuhn. 2. Auflage durchgesehen von Gisela Kornrumpf. Tübingen 1978. Bd. 2, S. 535.
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Das Dialoglied XXXIII schließlich entfaltet ein raffiniertes strophenübergreifendes Spiel mit dem Reim.14 Um es transparent zu machen, stellt das folgende Schema das Reimmaterial zusammen: I getân hân verlân wân getân gestân ergân
II bereit reht daz gestalt an sî geschehen
III tagen jagen behagen tragen verzagen sagen gedagen
IV gemeit jeht baz tûsentvalt dan bî sehen
V hât gât wât bestât man vrî gejehen
Während die erste und die dritte Strophe, die der Mann spricht, monorim sind und also das Prinzip des Endreims verabsolutieren, scheint dieser in den Frauenstrophen zwei und vier zunächst zu fehlen. Bei näherem Hinsehen bemerkt man jedoch, dass die Strophen untereinander reimen und also Körner verwenden. Die fünfte Strophe, in der zuerst der Mann und dann die Frau spricht, bringt nacheinander beide Arten von Reimen und verdeutlicht damit die Bauform des Liedes. Der Differenz der Reimbehandlung entspricht die Distanz der Gesprächspartner auf der Inhaltsebene, womit Form und Inhalt unmittelbar ineinander greifen. Der Kommentar im Frauendienst freilich weist das Lied als Reimkunststück aus, wenn er sagt, dessen rîme wären gesetzet meisterlîch (1398,6). Was den Strophenbau angeht, so dominiert die Kanzonenstrophe seit ihrer Übernahme aus der Romania das Forminventar des deutschen Minnesangs. Sie verbindet eine feste Bauform (Aufgesang aus zwei gleichen, mindestens zwei Verse umfassenden Stollen, ein anders gebauter Abgesang) mit der Aufforderung zur Variation, da das Schema durch die Anzahl der Verse, aber auch durch die Behandlung von Reim, Kadenz und Akzent ganz unterschiedlich gefüllt werden kann. Indem die Strophenform als solche sofort zu erkennen ist, verlagert sich die Aufmerksamkeit der Autoren und Rezipienten auf ihre jeweilige besondere Ausgestaltung. Im Minnesang des 13. Jahrhunderts wird dieser Mechanismus auf einer zweiten Ebene wiederholt und dadurch reflektiert: einerseits, indem bestimmte Typen von Kanzonenstrophen zum Ausgangspunkt des Variationsspiels gemacht werden, andererseits, indem die Form der Kanzonenstrophe selbst bis an ihre Grenzen (und gelegentlich auch darüber hinaus) getrieben wird. 14
Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 262.
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Ulrichs Lieddichtung arbeitet auch im Bereich der Strophik mit der Bildung von Typen und ihrer Abwandlung. Den Grundtypus stellt, orientiert man sich an der Abfolge der Lieder im Frauendienst, eine Strophe aus sieben Versen dar, in der vier kreuzgereimte Verse den Aufgesang und eine Triade den Abgesang ausmachen: ababccc.15 Ihm ordnen sich die Lieder I, II, VIII, XI, XVIII, XXII, XXX zu. Zu diesem Typus, der intern durch die unterschiedliche Länge der Verse variiert wird, finden sich nun verschiedene externe Varianten. So kann an die Stelle der Triade im Abgesang ein umarmender Reim treten, der eine Waise einschließt: ababcxc (Lieder V, LVII). Der eingeschlossene Vers kann aber auch an den Aufgesang anreimen, entweder an die Verse zwei und vier: ababcbc (Lied III) oder an die Verse eins und drei: ababcac (Lieder XIX, XXIII). So kann die Triade auch durch die Kombination Paarreim plus Waise ersetzt werden, wobei es sich freilich in der Mehrzahl der Fälle nicht um eine echte Waise handelt, da der jeweilige Vers im Inneren der Strophe reimt: ababccx (Lieder XXIV, XL, XLII, XLIX) oder umgekehrt: ababxcc (Lied LIV). Auch von diesem Bautypus gibt es wieder eine Variante, bei welcher der freie Vers des Abgesangs an den Aufgesang anreimt: ababacc (Lied XXXII). Weiter vom Grundtypus entfernen sich diejenigen Lieder, die auch die Zahl der Verse verändern. Dabei bleibt der kreuzgereimte Aufgesang aus vier Versen stabil und erhält so die Verbindung zum Typus aufrecht, während die Verszahl des Abgesangs entweder auf vier Verse erweitert oder auf zwei verkürzt wird. Für den vierversigen Abgesang gibt es wiederum verschiedene Möglichkeiten der Anordnung, mit umarmendem Reim: ababcddc (Lieder IV, XIV, XXXIX), mit Kreuzreim: ababcdcd (Lieder VII, XXXV) und mit Paarreim: ababccdd (Lied XXXVI). Die Lieder mit zweiversigem Abgesang – ein wichtiger Strophentypus bei Ulrich – bringen in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit im abschließenden Reimpaar einen neuen Reim: ababcc (Lieder XIII, XVII, XXVII, XXVIII, XXXIV, XLI, XLIII, XLIV, XLV, XLVI, XLVII, XLVIII, L, LI, LV, LVI, LVIII), lediglich eines greift den ersten Reim des Aufgesangs auf: ababaa (Lied XXXI).
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Diese und die folgenden Aussagen beziehen sich, das sei nochmals erinnert, auf die Textgestalt der Bechstein-Ausgabe. Gerade das Moment des Binnenreims ermöglicht an verschiedenen Stellen auch ganz andere Lösungen, wie sie etwa Carl von Kraus vorschlägt. Da ohne Melodie keine definitive Aussage darüber getroffen werden kann, welche Anordnung denn nun die richtige ist, und es bei solchen Entscheidungen also im Grunde nur um den Geschmack des Editors geht, verzichte ich auf eine Diskussion alternativer Strophenanordnungen.
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Schließlich enthält Ulrichs Korpus lediglich zwei Lieder, die sich nicht mehr sinnvoll als Varianten des Grundtypus beschreiben lassen, weil sie aus deutlich mehr als sieben Versen bestehen und weil sie nicht nur einen anderen Abgesang, sondern auch einen anderen Aufgesang besitzen. Es handelt sich bei ihnen um die Lieder XV (Strophenschema: abcabcde dede) und XXI (Strophenschema: aabccbddee). Dass lediglich zwei Lieder ausscheren und eine völlig andere Art der Kanzonenstrophe verwenden, bestätigt nochmals den Ansatz, bei der Beschreibung der Strophenform von einem Grundtypus auszugehen und dann dessen Variationen nachzuzeichnen. Dieser Schematismus im Bereich des Strophenbaus findet sich auch bei anderen Autoren des 13. Jahrhunderts, jedoch stellt die massive Bevorzugung des (auch sonst beliebten) vierversigen kreuzgereimten Aufgesangs eine Eigenheit Ulrichs dar. Diese Verengung im Bereich der Kanzonenstrophe, die die Variation auf einen bestimmten Typus der Kanzonenstrophe beschränkt, stellt freilich nur die eine Seite der Medaille dar. Die andere zeigt – und das ist ein Zug, den Ulrich mit anderen Autoren des 13. Jahrhunderts teilt – eine Kanzonenform, die an ihre Grenzen getrieben oder gar ganz aufgegeben wird. Grenzformen der Kanzonenstrophen entstehen dort, wo die sonst akzeptierten Spielregeln derart strapaziert werden, dass es eine Definitionssache darstellt, ob man die fragliche Strophe überhaupt noch als Kanzonenstrophe ansprechen will. Eine erste Regel, die durch das Lied LII verletzt wird, lautet, dass der Abgesang anders gebaut zu sein hat als die Stollen des Aufgesangs: 4-a 5b 4-a 5b 4-a 5b. Zudem arbeitet das Lied durchgehend mit grammatischen Reimen: I singen sanc gelingen gelanc twingen twanc
II gedenken gedanc wenken wanc krenken kranc
III muote hôchgemuot guote guot huote behuot
IV munde munt stunde stunt funde funt
V funden vant gebunden bant verswunden swant
Indem die grammatischen Reime eine zweite Struktur über die der Endreime legen, wird Aufmerksamkeit vom stolligen Bau der Strophe abgezogen, deren Wahrnehmbarkeit schon dadurch eingeschränkt ist, dass der Abgesang gleichsam aus einem dritten Stollen besteht. Eine zweite Regel besagt, dass die Stollen gleich gebaut sein müssen. Gegen sie verstößt das Lied X dadurch, dass der zweite Stollen teilweise andere Reime verwendet als der erste: 2-a 2-a 4b 2-c 2-c 4b 2d 2d 2-e 2f 2-e 2 f. Das-
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selbe passiert im Lied VI, wo die Struktur dadurch weiter verunklart wird, dass der Abgesang an den Aufgesang anreimt: 3-a 3-b 3-a 2c 3-d 3-b 3-d 2c 3-e 3-b 3-e 3c. Das Lied LIII hingegen verlängert den vierten Vers gegenüber dem korrespondierenden zweiten Vers um zwei Hebungen und implementiert ihm einen zusätzlichen Inreim: 4-a 3-b 4-a 3-b+2-b 4-c 3-c. Nach einer dritten Regel umfassen die Stollen mindestens zwei Verse; sie wird vom Lied XII herausgefordert: 2-a+3-b 2-a+3-b 2-b 2-c+1-c+1-b 2-d+1-d+2-b. Dass die beiden ersten Verse zweigeteilt und im Versinneren durch einen zusätzlichen Reim gebunden sind, erinnert immerhin noch an zweiversige Stollen, auch wenn die Durchführung des daktylischen Rhythmus gegen eine Aufteilung in zwei eigenständige Verse spricht. Gleich gegen mehrere der genannten Regeln stellt sich das Lied XXIX: 2a 2a 4b 2c 2c 4b 2d 2d 4e 2f 2f 4d 2d. Zunächst verwischt das Lied die Grenze zwischen Aufgesang und Abgesang, indem letzterer jenen wiederholt und ihn dabei nur leicht abwandelt: durch den angehängten zusätzlichen Vers und durch eine andere rhythmische Behandlung der vierhebigen Verse, die im Abgesang alternieren, während im Aufgesang in der Mitte des Verses zwei Hebungen aneinanderstoßen und so dessen Fluss stauen. Wenn man dennoch aus den ersten sechs Versen den Aufgesang und aus den folgenden sieben den Abgesang bildet, kommt es im Aufgesang zu einer weiteren Regelverletzung insofern, als das Reimmaterial der Stollen lediglich in den Schlussversen übereinstimmt. Handelt es sich hier um Grenzfälle, so ist bei anderen Strophenformen klar, dass sie keine Kanzone darstellen. Von dieser her mag das Lied IX immerhin noch zu begreifen sein, besteht es doch aus zwei gleichen, durch Reim verschränkten Teilen, die sich als Stollen auffassen ließen, fehlte es nicht an einem Abgesang: 4a 4b 4c 4d 4a 4b 4c 4d. Etliche weitere Strophen folgen hingegen der Bauform der Reienstrophe, die seit Neidharts Sommerliedern im Minnesang heimisch ist und bei der nur die Anfangsstellung eines Reimpaars festliegt. Hierher gehören die Lieder XVI (4-a 4-a 4-b 2-b+2-c 2-c+2-c) und XXXVIII (5-a 5-a 3-b 2c+2c 3-b) sowie die Lieder XX (7a 7a 7b 7b) und XXVI (6a 6a 4b 6b). Wenn, wie im Fall der beiden zuletzt angeführten Lieder, auf ein Reimpaar lediglich ein zweites folgt, handelt es sich um einen Grenzfall der Reienstrophe, die also ebenfalls der Variation unterliegt. Eine weitere Entwicklung auf dem Gebiet der Form, die im 13. Jahrhundert zu beobachten ist, besteht in der Verstärkung der Klangdimension. Ein Mittel hierzu stellt die Vermehrung der Reime dar, die entweder durch die Verkürzung der Verse oder die Einführung zusätzlicher
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Binnenreime erreicht werden kann. Vorwiegend aus kurzen Versen besteht das bereits metrisch beschriebene Lied XXIX: Sumervar ist nu gar heide, velt, anger walt, Hie und dâ, wîz, rôt, blâ, gel, brûn, grüen, wol gestalt. Wunneclîch, vreuden rîch ist gar, swaz diu erde treit. sælic man, swer sô kan dienen, daz sîn arebeit im liebe leit. (Lied XXIX, 1–13)
Neun von dreizehn Versen sind nur zweihebig, die übrigen vier sind vierhebig, wodurch die Reime dicht aufeinander folgen und den Text zum Klingen bringen. Hingegen passen in das metrische Gerüst dieser Strophe nur einfache Satzgefüge, bei denen der Akzent auf den Adjektiven liegt, die mitunter in regelrechten Reihen auftreten. Mit Binnenreimen arbeitet, soweit man das angesichts der Unsicherheiten bei der Verseinteilung sagen kann, das Lied XII: Wol mich der sinne, die mir ie gerieten die lêre, daz ich sie minne von herzen ie langer ie mêre, Daz ich ir êre, reht als ein wunder, sô sunder, sô sêre minn unde meine, sie reine, sie sælic, sie hêre! (Lied XII, 1–5)
Da das Lied in Daktylen gehalten ist, enthält nur die jeweils zweite Hälfte des ersten und zweiten Verses drei Hebungen, in allen anderen Einheiten sind es nur zwei bzw. eine. Entsprechend dicht folgen auch hier die Reime aufeinander, wobei neben die Ausgangsreime – schaut man nur auf diese, handelt es sich um eine monorime Strophe – zusätzliche Binnenreime in Gestalt des Mittelreims (sinne/minne, XII, 1 f.) und des Inreims (wunder/sunder, XII, 4; meine/reine, XII, 5) treten. Die rhetorische Faktur der Strophe unterstreicht die Bedeutung der Klangdimension, indem Anaphern und Alliterationen für weitere Gleichklänge sorgen. Im Vergleich mit einem Autor wie Konrad von Würzburg setzt Ulrich von Liechtenstein das Verfahren, über Reime und Figuren Klangkaskaden zu erzeugen, allerdings vergleichsweise sparsam ein. Das gilt auch für die Möglichkeit, qua Binnenreim Kunsteffekte zu erzeugen. So reimt im Lied XIV das erste mit dem letzten Wort des fünften
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Verses, so reimt im Lied XXII das erste Wort des sechsten mit dem Ende des siebten Verses, und so reimt schließlich im Lied XXXVII das erste mit dem letzten Wort der Strophe (da hier alle Strophen mit Wol anheben, sind deren Schlüsse ihrerseits durch Körner verbunden). Das ist es dann aber auch, es handelt sich beim Binnenreim um ein weiteres der Verfahren, über die Ulrich zwar verfügt, denen er aber keine besondere Bedeutung beilegt.16 Im Vortrag sind solche Reime nur zu erfassen, wenn sie musikalisch, etwa durch ein Melisma, markiert werden.17 Im Versbau wiederholt sich das Muster von Typus und Abwandlung ein weiteres Mal.18 Den Grundtypus bildet hier ein alternierender Vierheber. Variation ereignet sich in der Verslänge – so finden sich sowohl Strophen mit Kurzversen als auch solche mit deutlich mehr Hebungen – und im Versmaß. So sind die Lieder XII, XVI, XVIII in Daktylen gehalten, und die Lieder X und XI mischen alternierende und daktylische Verse: Víl sælic Mínne, hab ích nu getâ´n dén dienest, dén dîn gewált mir gebô´t, Des sol dîn hélfe geníezen mich lâ´n: hílf, ob du kü´nnest iht fü´r sende nô´t, Daz díu vil sü´eze nóch getrœ ´ ste mî´nen múot, díe mich trû´ren túot. nû fréut mich béid: ir sî´t doch béide gúot. (Lied XI, 1–7)
Während die vier Verse des Aufgesangs daktylisch sind, alternieren die drei des Abgesangs.19 Die Freiheiten, die notwendig sind, um diese Form durchzuführen, sind erheblich: Der zweite Vers muss gegen die natürlichen Betonungen gesprochen werden, und der fünfte Vers hebt mit Auftakt an, während alle übrigen gleich mit einer Hebung beginnen. Auch sonst ist der Regulierungsgrad bei Ulrich unterschiedlich, neben streng gebaute Verse/Strophen/Lieder treten solche, die, vor allem was die Betonung anbelangt, größere Freiheiten beanspruchen. Allerdings strebt er eine strenge Regelung des Auftakts an, was die Minnesänger des 12. Jahrhunderts so noch kaum tun. 16
17 18 19
Auch Müller, Günther, „Strophenbindung“, S. 48, hält fest, dass Ulrich in Sachen Reimkünste „weit hinter“ den Autoren der Schwäbischen Dichterschule zurückbleibt. Ähnlich Müller, ebd., S. 49 f. Kuhn (Anm. 2), S. 86. Bechstein will im Kommentar der Edition, Bd. 2, S. 33, nur den fünften Vers daktylisch lesen, muss dann aber die natürliche Betonung der Verse sechs und sieben unnötig beugen.
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Die Sonder- und Großform der mittelhochdeutschen Lyrik stellt der Leich dar. Auch Ulrich hat sich ihrer ein einziges Mal bedient. Der Form nach gemahnt sein Leich an einen stolligen Bau und damit an die Kanzonenform: A: 3-a 3-a 3-b 7-b 4c 7c B: 4d 4d 4d C: 4e 4e 4e 4f 4g 4g 4g 4f D: 2h 2h 4i 2j 2j 4i 4i E: 4k 4k 3-a 4l 4l 3-a F: 8-m 7-m 8-n 7-n E: 4e 4e 3-o 4h 4h 3-o B’: 4c 4c 4c 4c C’: 4d 4d 4d 4l 4p 4p 4p 4l D’: 2d 2d 4q 2r 2r 4q 4q E’: 4c 4c 3-s 4k 4k 3-s F’: 8-b 7-b 8-t 7-t E’: 4q 4q 3-u 4v 4v 3-u G: 4l 4l 4e 4e 4e 4h H: 2w 2w 4h 4h I: 4x 4x 3-u 8-u 7-u J: 4k 4k 3-u 3-u 12-u
Der Versikel A kann als Ouvertüre verstanden werden, da er Reimmaterial exponiert, das im Folgenden immer wieder genutzt wird. Es folgen die sechs Versikel B bis E, die gleich anschließend in derselben Reihenfolge wiederholt werden und deshalb als ein erster ‚Stollen‘ angesehen werden können. Allerdings muss man bei dieser Analogie zur Kanzonenform den Abstrich machen, dass der zweite ‚Stollen‘ entweder andere Reime verwendet oder Reime an den ‚falschen‘ Stellen wiederholt, wodurch sich ein Netz von Querverweisen über den Text legt, das quer zu der möglichen stolligen Struktur steht. Es folgt schließlich ein weiterer Teil mit den vier Versikeln G bis J, der neue Strophenformen enthält und also als ‚Abgesang‘ zu interpretieren wäre. Damit hat Ulrich die freie Form des Leichs systematisiert und sie so in die Nähe zur Kanzone gebracht; Kuhn spricht von einer „Sequenz mit doppeltem Kurs“.20 Dieses Strukturexperiment mag durch die Stellung des Leichs inmitten von Liedern (im Frauendienst trägt der Leich die Nummer XXV) und durch die semantische Nähe zu diesen angeregt worden sein.21
20 21
Kuhn (Anm. 2), S. 139. Zum Leich vgl. im vorliegenden Band auch die Beiträge von Bleumer, S. 370 f., und Knapp, S. 113 f.
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Ulrichs Minnesang hat also an Tendenzen teil, wie sie sich auch bei den anderen ‚Artisten‘ des 13. Jahrhunderts – beispielsweise bei Gottfried von Neifen, Ulrich von Winterstetten oder Konrad von Würzburg – beobachten lassen. In mancher Hinsicht wird der Bau der Lieder stärker normiert als im 12. Jahrhundert, in anderer steigen hingegen die Freiheitsgrade, da einst bindende Regeln nunmehr verletzt werden können. Damit wird die Form eines Liedes oder einer Strophe gleichzeitig erwartbarer und überraschender. Indem aus dem Spiel in den Regeln der Form auch ein Spiel mit den Regeln der Form wird und indem sich besondere Formkunststücke finden, zieht die Form erhöhte Aufmerksamkeit auf sich. Die Verkürzung der Verse und die Vermehrung der Binnenreime verstärken zudem die Dimension des Klangs.
3. Gattungsspektrum Die Frage nach dem Gattungsspektrum, das die Lieder Ulrichs von Liechtenstein abschreiten, lässt sich auf unterschiedliche Weise beantworten: erstens im Rückgriff auf die Terminologie, mit der die Forschung arbeitet, und zweitens – und das ist eine seltene Gelegenheit – im Rekurs auf jene Begrifflichkeit, die der Frauendienst selbst anbietet. Beschreibt man das Korpus mit den heute gängigen Gattungsbegriffen, gibt es, gemessen am klassischen Minnesang, keine großen Überraschungen. Im Zentrum steht das Werbelied bzw. das Lied der hohen Minne,22 in dem ein männliches Ich seine Werbung um eine frouwe vorträgt, die ihm als irdisches summum bonum gilt und die es entsprechend preist. Dass der Dienst vergeblich bleibt, fügt dem Ich ein Leid zu, das es aber durchaus bejaht. Obwohl das Werbelied also häufig Klage ist, hat in ihm auch die Freude ihren Platz – als das, was das Ich für seine Zukunft erstrebt, und als das, was die Gesellschaft in der Gegenwart des Liedvortrags erfährt. An diese Gattungstradition schließen Ulrichs Lieder vielfach an; sie lassen freilich auch die Tendenz erkennen, die Inhalte, die der Minnesang des 12. Jahrhunderts in paradoxer Weise verschränkt, voneinander zu isolieren und sie so zum Schwerpunkt einzelner Lieder zu machen.23 Das ist unten im Abschnitt zur Semantik genauer zu beschreiben (4). Auch was die Sprechhaltung angeht, um die es ebenfalls unten 22
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Lieder If., IV–IX, XI–XXIV, XXVI–XXIX, XXXIf., XXXIVf., XXXVII– XXXIX, XLI–LVIII. Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 85.
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gehen wird (5), unterscheiden sich die Lieder. Im Hinblick auf die Gattung des Werbeliedes führen diese Entwicklungen dazu, dass sich bei aller „Konstanz im Konzeptionellen“ doch „Untertypen“ wie das Klageund das Freudelied oder das allgemeine Minnelied ausdifferenzieren, die sich inhaltlich und formal voneinander absetzen.24 Wie im Minnesang des 12. Jahrhunderts wird das Werbelied auch bei Ulrich von anderen Gattungen flankiert, die es – hier kommt ein weiteres Mal der Mechanismus der Variation ins Spiel – in der einen oder anderen Weise abwandeln. So verleiht das Dialoglied der Dame eine eigene Stimme, während das Werbelied sie zwar ständig adressiert, sie aber nicht antworten lässt. Den Gegenstand des Gesprächs stellt im Lied XXX die Minne dar, über die der Mann die unwissende Frau unterrichtet. Während sich Männer- und Frauenstrophen im Verlauf des Liedes abwechseln, sprechen in der Schlussstrophe beide. Der Mann bezieht hier seine zuvor allgemein gehaltenen Aussagen auf seine Gesprächspartnerin und trägt also eine Werbung vor – wis du mîn, sô bin ich dîn! (XXX, 47) –, doch die Frau weist sie zurück: „herre, des mac niht gesîn. / sît ir iuwer, ich bin mîn.“ (XXX, 48 f.). Indem sie sich dem Mann verweigert, nimmt sie jene Rolle ein, die ihr die Werbelieder zuschreiben, und indem sie das letzte Wort hat, bestätigt das Dialoglied die dort aufgebaute Position.25 Das tut auch das Lied XXXIII, das ich oben bereits im Bezug auf seine Reimstruktur untersucht habe und in dem der Mann von Anfang an als Werbender und die Dame als Ablehnende agiert. Beim Lied X schließlich handelt es sich um eine Variante solcher Dialoglieder, indem dem Mann nicht die Geliebte, sondern Frau Minne antwortet.26 Den Klagen und Bitten des männlichen Ich tritt sie mit Hinweisen auf die Sinnhaftigkeit des Minnedienstes entgegen. Dass sich das Ich ihre Position zu eigen macht, zeigt sich in der sechsten und letzten Strophe, wo nach Frau Minne auch das Ich spricht und einen Preis auf seine Dame anstimmt. So bestätigen alle drei Dialoglieder das Konzept der hohen Minne. Stärker herausgefordert wird dieses im Kreuz- bzw. Pilgerlied, das ihm eine religiöse Semantik gegenüberstellt. Bei Ulrich wird die Gattung durch das Lied IX vertreten. Auf einen Natureingang und eine Minneklage folgt hier eine Strophe, die aus einem religiösen Gedanken heraus ein Problem entwickelt: 24 25 26
Hübner, Frauenpreis, S. 337. Grubmüller, „Minne und Geschichtserfahrung“, S. 48. Genauer Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 288–292.
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Sie jehent, ich solde ûf gotes wege dîn lop niht singen, vrouwe mîn. sît ez in an mir missehaget, sô wil ich sprechen mîn gebet. Dîn êre hab got in sîner pflege: sô müez dîn lîp enpfolhen sîn Marîen der vil hêren maget, diu nie an iemen missetet. (Lied IX, 25–32)
Die Fahrt für Gott – da sie nicht über sê führt, bleibt offen, ob es sich bei ihr um eine Pilger- oder um eine Kreuzfahrt handelt – hindert das Ich daran, weiterhin die Dame zu preisen. Allerdings erreicht das Ich diese Einsicht nicht selbst, sondern sie wird ihm von außen, von der Gesellschaft aufgezwungen. So erscheint auch die Lösung recht einfach: Das Ich empfiehlt die Geliebte Gott an. Ein Verzicht auf die Liebe ist damit offenbar nicht verbunden. Auch das Tagelied stellt sich gegen das Werbelied, und zwar nicht nur dadurch, dass es erzählende Passagen enthält, sondern vor allem auch durch den Entwurf einer (sexuellen) Einheit der Liebenden.27 Das Lied XXXVI beginnt als Dialoglied,28 indem in der ersten Strophe die Frau spricht und ihren Geliebten begrüßt, der ihr in der zweiten mit einem Lob der Liebesgemeinschaft antwortet. In der dritten Strophe wird das minnespil (XXXVI, 20) erzählt, in der vierten die friedlich-glückliche Situation post coitum. Die eigentliche Tagelied-Situation, die Trennung der Liebenden im Angesicht des anbrechenden Tages, entwerfen erst die letzten drei Strophen.29 Der Morgen vertreibt die Liebenden aus dem minnen paradîse (XXXVI, 33).30 Angekündigt wird er durch den Auftritt der Zofe, die bei Ulrich an die Stelle des Wolfram’schen Wächters tritt – der Frauendienst entwickelt eine regelrechte Theorie, die diese Umbesetzung vor allem ständisch begründet –,31 als Vertraute der Liebenden 27 28
29
30 31
Vgl. zum Tagelied auch den Beitrag von Bleumer im vorliegenden Band, S. 392. Kühnel, „Zu den Tageliedern Ulrichs von Liechtenstein“, S. 110, 116, stellt einen Bezug zur Serena – diese beschreibt das abendliche Rendezvous – und damit zu einer Gattung her, die es im deutschen Minnesang so nicht gibt. Eine genaue Analyse des Liedes folgt ebd., S. 110–119, eine weitere bietet Heinen, „Poetic Truth and the Appearance of Reality“, S. 179–182, einige knappe kommentierende Bemerkungen bringt Hübner, Frauenpreis, S. 301 f. Frey, „Zum Funktionswandel der Minnelyrik“, S. 68, spricht abwertend von einem „banalen Nachspiel“. Hierzu mit weiteren Belegen Dittrich, „Die Ideologie des guten wîbes“, S. 524 f. Genauer Heinen, „Poetic Truth and the Appearance of Reality“, S. 172 f.; Kühnel, „Zu den Tageliedern Ulrichs von Liechtenstein“, S. 125–132.
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agiert und diese warnt. Ansonsten hält sich dieser Teil des Liedes an die Genreregeln: Die Liebenden beklagen und beweinen die Notwendigkeit des Abschieds, doch bevor der Mann weggeht, schläft er noch einmal mit der Frau. Dagegen weicht das Lied XL insofern vom üblichen Verlaufsschema ab, als die Warnung der Zofe zu spät kommt – eine feine Ironie, wenn man bedenkt, dass sie der Theorie nach den Wächter aus Sicherheitsgründen ersetzen soll –, der Tag schon zu weit fortgeschritten ist und der Mann deshalb die Frau ersucht, ihn zu verstecken.32 Diese erfüllt ihrem Geliebten nicht nur diese Bitte, sondern verkürzt ihm den Tag auch durch ihre Nähe. Auf diese Weise wird aber die zentrale Prämisse des Tageliedes aufgehoben: die eherne Notwendigkeit des Abschieds im Angesicht einer unausweichlichen Gefahr. Damit erscheint das sich anschließende Tageliedgeschehen – eine Liebesnacht, gefolgt von einem bitter beklagten Abschied – im Grunde als unmotiviert. Es verdankt sich nur noch der Laune des Autors, der in diesem Lied demonstriert, dass er souverän und spielerisch über die Regeln der Gattung verfügt.33 Ähnliches ließe sich auch vom Lied II sagen, bei dem es sich freilich nicht um ein Tagelied, sondern allenfalls um ein Anti-Tagelied in der Nachfolge Reinmars handelt. Das Ich lobt den Tag auf Kosten der Nacht; nur ersterer schenkt ihm durch den Anblick der Dame Freude. Damit sind die Tageszeiten anders semantisiert als im Tagelied, doch deutet die Schlussstrophe die Möglichkeit an, in dessen Bahnen einzuschwenken: Das Ich würde die Nacht loben, dürfte es der Dame nâhen ligen (II, 32). Das Tagelied stellt bei Ulrich also nicht nur eine Variante zum Werbelied dar, sondern es unterliegt seinerseits dem Mechanismus der Variation.34 Einen solchen Gebrauch macht freilich bereits der ältere Minnesang von der Gattung, man denke nur an Reinmars Anti-Tagelied, Morungens Tageliedwechsel oder Wolframs Tagelieder, zu denen die Ulrichs intensive intertextuelle Beziehungen unterhalten. Überhaupt geht Ulrichs Liedkorpus über das Gattungsspektrum des ‚klassischen‘ Minnesangs nicht hinaus; es verschließt sich also auch den Genres, die mit
32
33 34
Zum Lied Heinen, „Poetic Truth and the Appearance of Reality“, S. 175–179; Kühnel, „Zu den Tageliedern Ulrichs von Liechtenstein“, S. 120–125; Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 301–303. Müller, Jan-Dirk, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 35. Mertens, „Liebesdichtung und Dichterliebe“, S. 207.
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Neidhart im 13. Jahrhundert neu auftreten.35 Wie die intertextuellen Verweise zeigen, orientiert es sich stärker an den ‚klassischen‘ Autoren des hohen Sangs, vor allem auch an Walther von der Vogelweide.36 Soweit die Übersicht aus dem Blickwinkel der Forschung, die sich freilich nicht mit dem Bild deckt, das sich aus dem Frauendienst selbst gewinnen lässt, der seinerseits eine ganze Reihe von Gattungsbezeichnungen enthält. Ob sie auf den Autor oder einen Schreiber zurückgehen, lässt sich nicht sicher sagen; immerhin deutet der Umstand, dass sie mitunter in den Texten selbst auftauchen – Disiu liet diu heizent vrouwentanz (Lied XLVI, 1) –, darauf hin, dass sie diesen nicht äußerlich sind. In jedem Fall aber vermitteln sie einen Eindruck von einer mittelalterlichen Gattungssystematik, die sich mit unserer wissenschaftlichen nur partiell berührt.37 Die fraglichen Gattungsbegriffe stehen in der FrauendienstHandschrift cgm 44 als Überschriften über den Liedern, die dort nummeriert und rot rubriziert sind, was es dem Benutzer bzw. der Benutzerin ermöglicht, die Lyrik auch unabhängig von der Erzählung zu rezipieren.38 Bei der Zählung der Lieder bestehen freilich einige Inkonsequenzen. So werden von ihr nur die wîsen erfasst, so endet sie beim Lied XXXVIII, so stehen die wîsen mit den Nummern siebenundzwanzig bis neunundzwanzig zu weit vorn im Manuskript, und so finden sich die Positionen zehn und elf mehrfach belegt, und so ändert sich nach Lied XI die Systematik, indem nun nicht mehr fortlaufend, sondern nach Gattungen geordnet gezählt wird. Diese ‚Fehler‘ gehen wohl darauf zurück, dass ein bereits vorliegendes Manuskript mit den Liedern, ein sogenanntes Liederbüchlein, verwendet und die dort vorfindliche Reihenfolge mit Absicht oder aus Versehen verändert worden ist.39 Auch könnte die in dieser Vorlage eventuell durchgeführte doppelte Zählung – fortlaufend und nach Gattung – im Frauendienst vermischt worden sein.40 35
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37 38 39
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Spechtler, „Zur Rezeption Walthers bei Ulrich von Liechtenstein“, S. 588. Dass Ulrich Neidharts Werke durchaus gekannt hat, zeigt der Reflex im Lied XXXV mit der Aufforderung, vor dem Winter in die Stube auszuweichen. Ranawake, „Zur Minnedidaxe“; Spechtler, „Zur Rezeption Walthers bei Ulrich von Liechtenstein“. Heinen, „Sense of Genre“, S. 20. Linden, „Die Liedüberschriften im ‚Frauendienst‘“, S. 410. Mit guten Gründen tritt Linden, „Die Liedüberschriften im ‚Frauendienst‘“, S. 410–414, für eine absichtliche Umstellung ein, während Kraus (Anm. 13), S. 529 f., eine Vertauschung durch ein lose eingelegtes Blatt annimmt. Heinen, „Sense of Genre“, S. 18.
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Was nun die verwendeten Gattungsbegriffe anbelangt, so kommt dem der tanzwîse die größte Bedeutung zu. Mit ihm werden die Lieder I, II, IV, V, VI, VIII, X, XII, XIII, XIV, XVII, XIX, XX, XXI, XXII, XXIII, XXIV, XXVI, XXVII, XXVIII, XXX, XXXI, XXXII, XXXIII, XXXIV, XXXV, XXXVII belegt. Es folgen – mit abnehmender Häufigkeit – die sincwîse/sancwîse (Lieder VII, IX, XI, XVIII), die langiu wîse (III, XV), die ûzreise (XVI, XXXVIII), der leich (XXV), der reye (XXIX) und die tagewîse (XXXVI). Von Ausnahmen wie dem leich, dem reyen und der tagewîse abgesehen,41 lassen sich diese Begriffe nicht in ein (für uns nachvollziehbares) poetologisches System übersetzen. Die zentrale Gattungsbezeichnung der tanzwîse könnte einerseits auf Eigenheiten der Melodie verweisen,42 andererseits auf den pragmatischen Gebrauch der Lieder, wofür auch Bemerkungen in der Erzählung sprechen.43 Diese Funktion können offenbar Lieder unterschiedlichen Inhalts wahrnehmen. Vage an die Pragmatik der Vortragssituation könnte sich auch die Bezeichnung sincwîse anlehnen, doch zum einen erscheint sie wenig trennscharf, da ja auch die übrigen Lieder gesungen werden, zum anderen ergibt sich ein gewisser Widerspruch zum narrativen Rahmen, wo es ausgerechnet vom Lied XI und damit von einer sincwîse heißt, sie sei der Dame als geschriebener Text überbracht worden.44 Möglicherweise handelt es sich auch um eine Lehnübersetzung von canso. Nur aus dem Kontext des Frauendienstes heraus lässt sich die Bezeichnung ûzreise verstehen, mit der Lieder versehen werden, die in Turnieren gesungen werden und dort einen Aufbruch markieren.45 Ebenso wenig klar ist der Gebrauch des Begriffs langiu wîse, denn während das Lied XV mit 12 Versen pro Strophe tatsächlich lang ist, lässt sich das vom Lied III nicht sagen – dass zwei der sieben Verse sechs Hebungen aufweisen, wird man kaum als Grund für die Gattungsbezeichnung gelten lassen können –,46 sodass hier allenfalls die Melodie gemeint sein könnte.47 Auf uns wirkt diese Begrifflichkeit befremdlich. Es kann sein, dass sie tatsächlich unsystematisch ist; sie wäre dann Ausdruck einer anderen Art der Gattungsklassifikation, die nicht auf Trennschärfe abstellt. Es kann aber auch sein, dass 41 42
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Ebd., S. 22 f., 27 f. Das deutet sich bei Kuhn (Anm. 2), S. 86 f., an, der zeigen kann, dass die Ulrich’schen Gattungen bestimmte Strophentypen zumindest bevorzugen. Hierzu und zum Folgenden Heinen, „Sense of Genre“, S. 19–22. Ebd., S. 24 f. Ebd., S. 25–27. Als Erklärung erwogen von Bechstein, „Kommentar“, S. 65. Heinen, „Sense of Genre“, S. 23 f.
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manche dieser Begriffe nur deshalb so unbestimmt wirken, weil uns Informationen über die Melodie und den Vortrag der Lieder fehlen, die mit ihnen bezeichnet werden.
4. Semantik Der Minnesang des 12. Jahrhunderts kommt mit einem begrenzten semantischen Inventar aus. Dazu trägt zunächst einmal der Umstand bei, dass er mit einem relativ kleinen Lexikon arbeitet und bestimmte sinntragende Wörter durch häufige Wiederholung in den Rang von Leitbegriffen erhebt. Die folgenden Beispiele für solche Leitbegriffe stammen alle aus Liedern Ulrichs, sie finden sich aber genauso in zahllosen anderen Liedern des Minnesangs: arbeit, dienst, êre, fröide, frouwe, genâde, güete, gruoz, haz, herze, hult, hôher muot, kumber, leit, liebe, lôn, nôt, sælde, sanc, schœne, sorge, stæte, süeze, swære, triuwe, trôst, trûren, tugent, wîp, wunne. Diese Liste ließe sich zwar verlängern, aber nicht beliebig. Andererseits wäre sie um stammverwandte und abgeleitete Adjektive und Verben zu ergänzen, und es wäre außerdem zu konstatieren, dass sich das Wortmaterial, das sie enthält, zu Wortfeldern zusammenschließt, die noch dazu vielfach über Oppositionen organisiert sind: Liebe/Hass, Freude/Leid, Erfüllung/Verweigerung. All das verstärkt den Eindruck semantischer Homogenität. Zu ihm trägt auch bei, dass der Minnesang bestimmte Regeln des Sprechens befolgt (Anonymität, Abstraktheit und Überlegenheit der Dame, Minneparadoxie), dass er bestimmte Typen von Aussagen ständig wiederholt (‚Ich diene‘, ‚Ich minne‘, ‚Ich singe‘) und dass er vielfach mit Topoi arbeitet (Liebe als Krankheit, als Gefangenschaft, als Todesursache; Natureingang). All das zusammengenommen, erscheint der Minnesang als ein geschlossenes semantisches Universum, dem sich auch Ulrichs Lieder einschreiben. Dennoch setzen sie eigene Akzente, die zum Teil typisch für den Minnesang des 13. Jahrhunderts, zum Teil aber auch spezifisch für Ulrich sind und also zur Ausbildung eines Autorprofils beitragen.48 Ein Beispiel, das beide Arten, mit der Tradition umzugehen, verschränkt, stellt der ‚rote Mund‘ dar. Einerseits handelt es sich bei ihm um ein Merkmal, das im 12. Jahrhundert nur sehr selten vorkommt, im 13. Jahrhundert aber nahezu allgegenwärtig wird. Es betont die erotische Attrak48
Weitere Leitmotive Ulrichs stellt Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 280–293, vor.
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tivität der Dame, so auch bei Ulrich, der mehrmals vom rôten munde (Lied XLVIII, 13; auch I, 11; LI, 14; LVI, 25) spricht. Anderseits kommt bei ihm ein Mechanismus der steigernden Variation in Gang, der dem Attribut des roten Mundes, das von der Abnutzung bedroht ist, neue Aufmerksamkeit zu verschaffen versucht: etwa süezer, rôter munt (Lied XL, 46) oder [m]it rôtsüezem munde (Lied XLIV, 13); erst kleinvelrôter munt (Lied XXX, 6; auch XLV, 17; XLVII, 38; LII, 19; LVIII, 25), dann gar kleinvelhitzerôter munt (Lied XXIX, 64; auch XXXII, 28; XLI, 30). Während es sich bei kleinvelrôt um ein sonst selten gebrauchtes, aber durchaus eingeführtes Wort mit der Bedeutung ‚zartrot‘ handelt,49 stellt kleinvelhitzerôt eine Neubildung Ulrichs dar, die in hypertropher Weise einen Farb- mit einem Temperaturwert verbindet, um so die erotische Konnotation zu verstärken. Wenn man wollte, könnte man hier von Manierismus reden. Das wäre freilich schon deswegen irreführend, weil es sich beim Spiel mit den Steigerungs- und Intensivierungsformen des roten Mundes um einen einzelnen Effekt handelt, nicht um einen Stilzug, der das lyrische Werk Ulrichs insgesamt kennzeichnet. Für dieses erscheint, blickt man auf die Semantik der Lieder, etwas anderes charakteristisch, nämlich eine Bewegung der Entparadoxierung und Entproblematisierung, die durch die Ausrichtung auf die Freude hervorgerufen wird. In ihrem Kern handelt es sich bei der hohen Minne um ein paradoxes Konstrukt: Der Mann liebt dort, wo er abgewiesen wird; er bejaht die Kränkungen, die ihm die Dame zufügt, als notwendig; im Gesang verwandelt er das eigene Leid in Freude für die Gesellschaft usw. Aussagen und Lieder dieses Typs enthält auch das Ulrich-Korpus, wo sich das Ich etwa fragt: Sol abr ich sie minnen, diu mich hazzet? sol mir lieben, diu mir alsô leide tuot?, um dann im nächsten Vers selbst die folgende Antwort zu geben: jâ, sô wil daz herze und aller mîn gedanc (Lied XIV, 3 f.). Allerdings kommen solche Paradoxien bei Ulrich vergleichsweise selten vor. Eine Möglichkeit, sie aufzulösen, bezieht Ulrich von Walther: die Idee der gegenseitigen Liebe.50 Mit ihr verbunden ist die Betonung der Freude, die in Ulrichs Liedern zum dominanten Stimmungswert wird.51
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Matthias Lexer, „s.v. ‚kleinvel‘.“ In: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Hrsg. v. dems. Bd. 1. Leipzig 1872, Sp. 1617. Frey, „Zum Funktionswandel der Minnelyrik“, S. 65, 68; Ranawake, „Zur Minnedidaxe“, S. 181–183. Hübner, Frauenpreis, S. 258, 296–318; Ranawake, „Zur Minnedidaxe“, S. 183 f. Vgl. zur emotionalen Dimension der vreude auch den Beitrag von Eming im vorliegenden Band, S. 186–195.
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Noch ganz in der Tradition der hohen Minne bewegen sich diejenigen Aussagen, die die Minne für den Verlust an Freude verantwortlich machen: Diu hât mich sô beroubet freuden her in mînen tagen (Lied XX, 3) oder: Freude und mîne besten tage, die sint hin mit senender klage. (Lied XXI, 4 f.) Umgekehrt wird die Dame aber auch als Quelle der Freudeapostrophiert: Ir wîplîch güete machet in gedanken mich vil frô. (Lied VIII, 43 f.) Sælic vrouwe, sælic wîp, freude und wunnen trôst und sælde mîner tage. (Lied XIII, 13 f.) Diust mîn wunne, diust mîn frouwe: al mîn freude ich an ir schouwe. (Lied XXXVII, 4 f.) nie man wart sô freuden rîch, Als ich bin von der vil süezen. (Lied XXXVII, 16 f.) Guot wîp, mîner freuden lêre. (Lied XLI, 1)
Außerdem wird die Freude als eigentliches Ziel des Minnedienstes genannt: mich sol ir lachen
vrô machen,
sie schœne, sie klâre. (Lied XII, 25)
frouwe, vreu mich vreudesiechen man! (Lied XIII, 10) abr einez kan sie niht erwern, mir ensî noch freuden hoffenunge bî. (Lied XIV, 7 f.) ich wurde ez lîhte der, der al der werlte diuhte sich vor freuden wert. (Lied XV, 35 f.) Hei waz im sîn dienest sælden bringet! wie frœlîchen endet sich sîn wân! (Lied XXII, 10 f.) Mînes herzen freuden lêre ist ein süezer wîbes lîp. (Lied XXXV, 33 f.) Diu mac mich vrô gemachen. (Lied XLIX, 22)
Auch der ältere Minnesang bekundet den Wert der Freude, doch könnte man sich fragen, ob Ulrichs Lieder das nicht so viel häufiger tun, dass hier Quantität in Qualität umschlägt. Weiter von der überkommenen Semantik der hohen Minne entfernt sich jedenfalls die Behauptung, ein Mann, der bei den Frauen Erfolg haben wolle, müsse sich durch Freude auszeichnen: Freut iuch, minne gernde man. (Lied XVII, 1) Nu freut iuch, minne gernde man: wizzet, daz iuch rehte freude machet wert. (Lied XXVII, 1 f.)
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Wâfen über die gar unguoten, die dâ selten werdent frô. (Lied XLV, 1 f.) Disiu liet diu heizent vrouwentanz: diu sol niemen singen, ern sî vrô. (Lied XLVI, 1 f.)
Die Aufforderung zur Freude bzw. der Tadel der Traurigen, die das jeweilige Lied eröffnen und es damit unter das Motto der Freude stellen, reichen über den Erfahrungskreis des Ich hinaus und richten sich an alle.52 So tritt die allgemeine Haltung der Freude an die Stelle exemplarischer Leidbewältigung, derer sich etwa Reinmar der Alte rühmt.53 Die folgende Strophe wendet sich ausdrücklich gegen das von ihm vertretene Minnekonzept: Wie sol ein ungemuoter man erwerben hôchgemuotes wîbes habedanc? Wil er ir das ertrûren an, dazs in minne, sô ist sîn tumber wân vil kranc. Ir hôchgemuotes herzen rât sîn trûren hât für missetât. (Lied XXVII, 13–18)
Der Mann kann die Frau nicht durch Trauer (man möchte mit Blick auf Reinmar ergänzen: auch nicht durch vorbildliche Trauer) dazu nötigen, ihn zu lieben. Die Trauer kann bei ihr auf kein Echo stoßen, da sie per se hochgestimmt ist. Entsprechend stellt das Ich des Liedes L die Trauer der anderen der Freude gegenüber, die es selbst durch die Dame gewinnt, und konstatiert dann: Ir ist liep, daz ich bin frô (L, 29). Dass die Frau die Freude des Mannes wünscht, ist ein weiterer origineller Gedanke zum Thema Freude. Auch der Natureingang kann eine neue Deutung erfahren, wenn ein Lied einseitig die Freude akzentuiert. So besteht nunmehr die Möglichkeit, dass sich das Ich von der Vorgabe der Jahreszeit abkoppelt: Swie ez witeret, vrô, vrô, vrô! (XXXIX, 13). An die Stelle des Entsprechungsverhältnisses zwischen winterlicher Natur und liebeskrankem Ich tritt die Autonomie der Freude.54 52 53 54
Hübner, Frauenpreis, S. 262. Milnes, „Ulrich von Lichtenstein and the Minnesang“, S. 35 f. Hübner, Frauenpreis, S. 308; ausführlich Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 267–273; zur üblichen Kongruenz von Jahreszeit und Liebesempfindung im Minnesang des 12. Jahrhunderts vgl. Ludger Lieb. „Die Eigenzeit der Minne. Zur Funktion des Jahreszeitentopos im Hohen Minnesang.“ In: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Hrsg. von Beate Kellner, Ludger Lieb und Peter Strohschneider. Frankfurt a. M. u. a. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 183–206, hier S. 186 f., zu frühen Formen der Entgegensetzungen ebd., S. 200–203.
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Schließlich wird Freude bei Ulrich nicht nur als erstrebter, sondern auch als bereits erreichter Zustand beschworen. Das Lied XXXII hebt etwa so an: Hôher muot, nu wis enpfangen in mîn herze tûsent stunt! Lâ dich bî mir niht belangen: dû bist mir ein hôher funt. Al mîn vreude was zergangen: die het trûren mir benomen: diust mir mit dir her wider komen. (Lied XXXII, 1–7)
Die folgenden Strophen führen aus, was dem Ich die Freude zurückgegeben hat: ein wîp, diu êre hât (V. 16). Auch andere Lieder führen eine unmittelbar erlebte Freude vor: ir güetlîchez lôsen / mir vil hôhe freude gît (XXXIX, 23 f.;55 vgl. auch die Lieder XLIII, XLV, XLVI, XLVIII). Das Lied XLIV handelt von dem Wort, das die Dame zur Freude des Ich ausspricht. Was solche Formulierung nur andeuten, benennen die letzten drei Strophen des Liedes XLI ganz direkt: die Freude des Ich erwächst auch aus der Sexualität:56 Hôher muot gewan mit wîbe nie sô manege freude grôz. Ich hân in bî dînem lîbe ofte funden decke blôz. Dâ kust er wol tûsent stunt dînen kleinvelhitzerôten, süezen munt. Güetlîch triuten, küssen suoze, drucken brust an brüstelîn, Dise liebe, süeze unmuoze trîbet in dem herzen mîn Mit dir, reiniu frouwe guot, dîn guot vriunt, mîn minnegernder hôher muot. Als er im ein freude tihtet in dem herzen mîn mit dir, Arme und bein er danne flihtet, im und dir, dir unde mir, Hin und her, sus unde sô: daz tuot herzenlîchen wol und machet vrô. (Lied XLI, 25–42)
55 56
Genauer zum Lied Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 91 f. Zum Lied knapp Hübner, Frauenpreis, S. 292, und ders., „Leibhaftiges in den Liedern Ulrichs“, S. 330 f.; andere Beispiele bei dems., Frauenpreis, S. 287–296, dems., „Leibhaftiges in den Liedern Ulrichs“, S. 325–335, und bei Frey, „Zum Funktionswandel der Minnelyrik“, S. 64–68.
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Die Ursache der Freude ist eindeutig, immer neue Wendungen beschreiben die Vereinigung der Liebenden. Allerdings handelt es sich bei ihr nicht um Realität, sondern um Phantasie, wird sie doch vom Hôhe[n] muot (XLI, 25) erdichtet – ein Zugeständnis an die Sprachregelung des hohen Sangs in Sachen Sexualität.57 Die ständige Beschwörung, ja Feier der Freude in Ulrichs Liedern weist freilich über diesen ein gutes Stück hinaus. Es handelt sich hierbei um die autorspezifische Antwort auf das im 13. Jahrhundert allgemein verbreitete Anliegen, die Minne zu entparadoxieren und zu entproblematisieren.58
5. Sprechhaltung Minnesang ist an erster Stelle Ich-Aussprache: Das Ich des Liebenden, das zugleich das Ich des Singenden ist, spricht über seine Gefühle für eine bestimmte Dame. Diese Dame wird mitunter direkt adressiert. Außerdem finden sich gelegentlich Publikumsapostrophen. Auch die Mehrzahl der Lieder Ulrichs bleibt dieser Sprechhaltung verhaftet: Vrouwe, liebiu vrouwe mîn, / an dînem dienst ich niht verzage (III, 1 f.).59 Eine nicht unerhebliche Zahl von ihnen gehört freilich einem Liedtypus an, der im 13. Jahrhundert, beispielsweise bei Konrad von Würzburg, an Bedeutung gewinnt: dem allgemeinen Minnelied.60 Hier treten an die Stelle einer Ich-Rede allgemein gehaltene Aussagen über die Männer, die Frauen oder die Minne. Die ersten Beispiele für die Verallgemeinerung betreffen die Instanz des Sängers. Im Lied XXIX folgt auf einen Natureingang die Seligpreisung: sælic man, swer sô kan dienen, daz sîn arebeit im liebe leit. (Lied XXIX, 10–13)
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Milnes, „Ulrich von Lichtenstein and the Minnesang“, S. 33; weitere Beispiele für Ulrichs kreativen Umgang mit dem Zensurmechanismus ebd., S. 30–34, bei Hübner, „Leibhaftiges in den Liedern Ulrichs“, und bei Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 273–280. Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 89. Genauer Händl, Rollen und pragmatische Einbindung, S. 368–391. Hübner, Frauenpreis, S. 258, 319–324; Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 317–322.
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Die Aussage über das Verhältnis von Dienst und Lohn betrifft nicht ein Ich, sondern jeden Mann, der bereit ist, sich in die entsprechende Rolle zu begeben. Folglich verwendet der Text nicht das Personalpronomen ich, sondern die verallgemeinernden Indefinitpronomen swer (XXIX, 11) und swem (XXIX, 14, 25, 27, 38). Derart konsequent wird die Position des Liebenden sonst nur noch in den Liedern XXVIII und XXXI kollektiviert. Diese allgemeinen Minnelieder stehen denn auch zwischen den beiden Diensten und sind also in eine Situation eingelassen, in der das Ich selbst nicht liebt. Andere Lieder verallgemeinern die Sprecherposition nur fallweise, beispielsweise das Lied LI, das mit einem Ich (LI, 1) anhebt und dann zu einem Swelch man (LI, 25, 35) bzw. einem Swer (LI, 33) wechselt, um wieder mit einem Ich (LI, 39) zu enden. Das Lied LIII beginnt hingegen mit einer allgemeinen Aussage, die sich grammatisch in der Verwendung der 1. Person Plural ausdrückt: Vliuch, vliuch, trûren von uns verre / ûz dem lande balde! (LIII, 1 f.), um dann in den Singular überzugehen: Guoten wîben wil ich immer / dienen sunder wenken (LIII, 25 f.). Dieses Zitat liefert auch ein Beispiel für die noch häufigere Verallgemeinerung der Instanz der Dame. Statt eine Frau anzureden, versichert der Sprecher allen Frauen, jedenfalls allen guten – eine Unterscheidung, mit der Ulrich wieder Walther folgt –61 seine Dienstbereitschaft. Das zitierte Lied geht freilich dann vom allgemeinen zum besonderen Fall über,62 und das Ich verspricht einer bestimmten Frau seinen Dienst: Mîn lîp muoz von einem wîbe / hôher freuden rîchen (LIII, 31 f.). Im Lied LIV wird der Übergang von der allgemeinen Aussage über alle Frauen zu einer besonderen über eine bestimmte Frau nicht nur durch einen Wechsel vom Plural in den Singular, sondern auch durch einen vom Präsens ins Perfekt markiert: Wizzet alle, daz ich kan / guoten wîben in diu herzen sehen (LIV, 1 f.) versus Ich hân mîner vrouwen lîp / unde ir herze vunden wandels vrî (LIV, 36 f.). Dieselbe Bewegung vollziehen etwa die Lieder XXII und XXVI, während das Lied LI ihre Richtung umkehrt: Ich wil durch diu vrouwen mîn guoten wîben râten einen rât, Daz sie vrô mit zühten sîn. (Lied LI, 1–3)
Die Erfahrungen, die das Ich mit seiner Dame gemacht hat, werden verallgemeinert. Auch in den Liedern XV und XVI adressiert das Ich nicht 61 62
Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 88 f. Hübner, Frauenpreis, S. 335. Zum Verhältnis von Allgemeinem zu Besonderem auch die Beispiele bei Brecht, „Ulrich von Lichtenstein als Lyriker“, S. 374–380.
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die Dame, sondern die Gesamtheit der Frauen, um ihnen das Leid zu klagen, das ihm die eine Dame zufügt. Wie ein Teil der Beispiele zeigt, kann die Verallgemeinerung der Adressateninstanz mit einer Tendenz zum (Minne-)Didaktischen einhergehen.63 In diesem Fall nähert sich die Sprechhaltung der des Sangspruchs – eine Möglichkeit, die aus dem Nebeneinander der lyrischen Gattungen resultiert und von der der Minnesang immer wieder Gebrauch macht.64 Bei Ulrich prägt sie sich nicht nur in einer Reihe von Liedern aus, sondern erstaunlicherweise auch im Leich, an dem ich sie vorstellen möchte.65 Dieser beginnt so: Got füege mirz ze guote: ich bin noch in dem muote, daz ich wil guoten wîben mit dienest âne valschen muot immer bî belîben. Dâ von rât ich einen rât, der allen wol gemuoten mannen tugentlîchen stât: Ich rât iu, êre gernde man, mit triuwen, als ich beste kan. Ob ir welt werende freude hân, sô sît den wîben undertân. Mit triuwen âne valschen muot. ir güete ist alsô rehte guot, swer in mit triuwen dienest tuot, den kunnen sie wol machen frô. Der werlde heil gar an in lît: ir güete ist freuden hôchgezît, ir schœne sô vil freuden gît, dâ von diu herze stîgent hô. (Lied XXV, 1–18)
Der Sprecher versichert sich einleitend des Beistands Gottes, um eine Autoritätsposition aufzubauen, von der aus er das Folgende äußern kann. Auch der anschließende Verweis auf die eigene Minnepraxis erhöht die Überzeugungskraft des Ratschlags. Mit dem Sprechakt Ich rât iu (XXV, 7) nimmt der Sprecher dann explizit die Position des Ratgebers 63
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Hübner, Frauenpreis, S. 258, 323–337; Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 322–330; Ranawake, „Zur Minnedidaxe“, S. 184–196. Karin Brem. Gattungsinterferenzen im Bereich von Minnesang und Sangspruchdichtung des 12. und beginnenden 13. Jahrhunderts. Berlin 2003 (Studium Litterarum 5); Margreth Egidi. Höfische Liebe. Entwürfe der Sangspruchdichtung. Literarische Verfahrensweisen von Reinmar von Zweter bis Frauenlob. Heidelberg 2002 (GRM-Beiheft 17). Auch Dittrich, „Die Ideologie des guten wîbes“, S. 504 f.
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und damit die des Spruchdichters ein. Der Rat selbst verbleibt allerdings im Rahmen des Minnesangs, enthält er doch die Aufforderung zum Frauendienst – eine Mischung, die für den Minnesang insgesamt nicht untypisch, für die Gattung des Leichs jedoch ungewöhnlich ist.
6. Rhetorizität Der gesamte Minnesang unterhält eine enge Beziehung zur Rhetorik. Im Blick auf die Lieder Ulrichs wäre jedoch zum einen festzuhalten, dass diese Beziehung im 13. Jahrhundert stärker hervortritt als im 12. Jahrhundert; zum anderen lässt sich beobachten, dass die verschiedenen Autoren verschiedene Stilmittel bevorzugen, womit sie ihren Texten ein je eigenes Gepräge geben. Bei Ulrich sind das eindeutig die Wiederholungs- und Stellungsfiguren. In Gestalt der Strophenanapher können sie das gesamte Lied prägen.66 Im Lied XXXII lautet diese in allen sieben Strophen Hôher muot, im Lied XXXVII Wol mich, wobei noch zusätzlich eine Steigerung eingebaut wird: Die erste Strophe beginnt mit Wol mich immer! (XXXVII, 1), die zweite mit Wol mich, wol mich iemer mêre (XXXVII, 11), die dritte dann mit Wol, wol, wol mich (XXXVII, 21). Indem die Zahl der Wiederholungen mit der Nummer der Strophen übereinstimmt, wird die Struktur des Liedes herausgearbeitet. Dass das Wol vom Strophenanfang mit dem Strophenende reimt, unterstreicht die Bedeutung der Anapher für die Komposition dieses Textes. Anders geht das Lied XXXI mit der Anapher um; hier taucht sie in der Mitte des Liedes auf und bleibt so ein gleichsam lokales Ereignis: W î b e s güete gibt mir freuden rîch gemüete. W î b e s schœne, w î b e s êre, w î b e s güete, w î b e s zuht Ist für wâr ein êren lêre, minne gerndes herzen suht. (Lied XXXI, 17–22)
In der dritten Strophe kommt die Fügung wîbes plus Substantiv bereits einmal vor, womit sie den massiven Einsatz am Beginn der vierten Strophe gleichsam präludiert, wo diese vier Mal hintereinander wiederholt wird und somit den gesamten ersten Stollen ausmacht. 66
Weitere Beispiele für Ulrichs Anapherngebrauch bei Brecht, „Ulrich von Lichtenstein als Lyriker“, S. 64 f.
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Nochmals anders gestaltet das Lied XVII das Spiel mit den Wiederholungsstrukturen, da hier mehrere Anaphern vorkommen und diese um andere Figuren ergänzt werden: Fr e u t i u ch , minne gernde man, der vil wunnebernden sumerzît! Fr e u t i u ch : daz ist wol getân. wizzet, daz iu freude wirde gît. Hôchgemuotes mannes jugent minnet werdes wîbes tugent. W î p s i n t reine, w î p s i n t guot, w î p s i n t lieber, danne iht dinges sî; W î p s i n t schœne und wol gemuot, w î p s i n t aller missewende vrî; W î p s i n t guot für senediu leit, w î p diu füegent werdikeit. Immer müeze sælic sîn ir vil êren rîcher, werder lîp: Jâ mein ich die frowen mîn, s i e vil reine, süeze, sælic wîp. S i e ist67 noch bezzer danne guot, schœne, dâ bî wol gemuot. Wo l m i ch , d a z ichs ie gesach! wo l m i ch des, d a z ich ir dienen sol! Wo l m i ch , d a z ich nie gebrach mîne stæte an ir! daz tuot mir wol. Mir tuot wol ir werdikeit, die man von ir güete seit. G o t sî mir, als ich ir sî! g o t d e r müez ir manege freude geben! G o t d e r tuo sie leides vrî! g o t d e r lâze mich die zît geleben, Daz mir alsô wol geschehe, daz sie mîn ze friunde jehe! (Lied XVII)
In der ersten Strophe werden die Eingangsverse beider Stollen durch die erweiterte Anapher Freut iuch (XVII, 1, 3) verbunden. Zu einem Ersetzungsverhältnis kommt es in den beiden letzten Versen derselben Strophe, wo in der Position vor dem Reimwort erst mannes (XVII, 5), dann 67
Ich setze hier die handschriftliche Fassung wieder ein, die Edition zieht aus metrischen Gründen zu Siest (V. 17) zusammen, womit sie die Anapher verdeckt.
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wîbes (XVII, 6) steht. Der Parallelismus, der dieses Gegensatzpaar aufnimmt, umfasst auch noch das Wort davor, bei dem es sich jeweils um ein lobendes Adjektiv handelt. Noch stärker bestimmt die Anapher die zweite Strophe, in der jeder Vers mit dem Wort wîp (XVII, 7–12) beginnt, die ersten fünf sogar mit der Wendung wîp sint (XVII, 7–11). Im ersten Vers der Strophe wird die Anapher außerdem noch wiederholt. Die dritte Strophe beschränkt sich hingegen auf die Wiederholung des Personalpronomens sie (XVII, 16 f.). In der vierten Strophe beginnen die ersten drei Verse mit der Anapher Wol mich (XVII, 19–21), auf die jeweils ein daz-ich-Gefüge folgt; im zweiten Vers tritt ein des (XVII, 20) variierend dazwischen: wol mich des, daz ich ir dienen sol! (XVII, 20) In der fünften Strophe schließlich werden gar alle vier Verse des Aufgesangs mit Got (XVII, 25–28) bzw. got der (XVII, 26–28) eingeleitet. Gleichsam verdichtet, und hiermit verlasse ich das Lied XVII, wird das Gestaltungsmittel der Anapher in der Geminatio: Wol mich, wol mich, wol mich (LV, 1); vrô, vrô, vrô! (XXIX, 13); sô ist mir in dem herzen wol, wol, wol! (XLIII, 12); süeze, süeze, süeze gât (LVIII, 26). Die Anapher stellt allerdings nur einen Sonderfall der Wortwiederholung dar, indem sie diese auf den Vers- oder Strophenbeginn festlegt. Ulrichs Lieder wiederholen Wörter aber auch an anderen Stellen im Vers – ein Verfahren, das man als Leitworttechnik bezeichnen könnte.68 Sie kann unterschiedlich ausgestaltet sein. Das Lied XXVIII etwa rückt eindeutig das Wort liep ins Zentrum, das es in 36 Versen 16 Mal aufgreift. Ähnliche Bedeutung besitzt tugent für das Lied LIV, wo es in den Strophen eins bis sechs je einmal vorkommt, während die siebte und letzte Strophe den allgemeinen Begriff der Tugend konkretisiert, indem sie der Dame zuht, wîplîch scham (LIV, 45) zuspricht und sie kiusche, stæte, guot, / schœne, hôch geborn, wîplîch gemuot (LIV, 48 f.) nennt. Das Lied XXIII wiederum verteilt die Leitfunktion von vornherein auf mehrere Wörter: Tr i u we ist al der werlt ein êre: wol im, der sie rehte treit! Siest ûf alle t u g e n d e ein lêre, slôz ob aller werdekeit. Swâ ir s t æ t e bî gestât, waz bedarf der t u g e n d e mêre, swer die t u g e n d e beide hât?
68
Weitere Beobachtungen hierzu bei Brecht, „Ulrich von Lichtenstein als Lyriker“, S. 65–71, der von ‚innerer Anapher‘ und ‚innerer Responsion‘ spricht.
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Daz ieman die t u g e n d e scheide, des wil rehtiu m i n n e niht. M i n n e wil sie halten beide, sie hât mit in s t æ t e pfliht: Ez sî frum odr ungewin, ez sî liep odr ez sî leide, des enkumt sie niht von in. M i n n e niender sich enthaldet âne t r i u we und s t æ t e n muot. Swer diu niht zesamen valdet, als ôt vil manc valscher tuot, Dân ist m i n n e niender bî. er unfuoget und gewaldet, swer giht, daz dâ m i n n e sî. Dâ bî kius ich, daz diu hêre, der ich her g e d i e n e t hân Und g e d i e n e abr nimmer mêre, t r i u we an mir niht kan begân. Hæt si t r i u we erzeiget mir, daz wær wunder immer mêre, sît niht t r i u we n lît an ir. M i n n e het mich ir g e b u n d e n unde lie sie b a n d e vrî. Des hân ich mit schaden enpfunden. swer als ich in b a n d e n sî, Der rîd ûz den b a n d e n sich. ich hân mich dem stricke entwunden al ze spâte: daz klag ich. (Lied XXIII)
Das Lied rekurriert immer wieder auf die minne sowie auf die tugenden der triuwe bzw. stæte, die sie näher bestimmen. Neben diesen Wörtern, die den gesamten Text über wiederaufgenommen werden, finden sich – gleichsam eine Ebene darunter – solche, die innerhalb einer Strophe wiederholt werden: Neben gedienet (XXIII, 23) und gediene (XXIII, 24) in der vierten Strophe sind das die Formen von bant/binden in der fünften. Indem derselbe Wortstamm sowohl als Verb (gebunden, XXIII, 29) als auch als Substantiv bande (XXIII, 30) bzw. banden (XXIII, 32f.) verwandt wird, liegen eine Figura etymologica und ein Polyptoton und damit Figuren vor, welche die Wortwiederholung mit einem (wort-)spielerischen Akzent versehen. Beide Figuren kommen auch in anderen Liedern vor.69 So arbeitet das Lied XIII mit freun, freude, freudelôs, vreudesiech und vreuderîch, mit trœsten 69
Weitere Beispiele bei Brecht, „Ulrich von Lichtenstein als Lyriker“, S. 66.
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und trôst, mit trûren und trûric sowie mit güete und guot; so gebraucht die erste Strophe des Liedes XXXI drei verschiedene Flexionsformen des Adjektivs süez; so setzt das Lied XXXIX die Adjektivreihe Prûn, rôt, wîz (XXXIX, 43) in die entsprechenden Substantive um: Lieplîch priune, rôte rôsen rœte, / snêwes wîze hât ir lîp (XXXIX, 49 f.); so spielt das Lied XLII mit den Worten liebe/liep und lîp; so verwendet das Lied XLIII das Wort lachen abwechselnd als Verb und als Substantiv; so bringt das Lied XLV das Verb freun und das Adjektiv vrô in einem Satz zusammen: Freut in niht ir süezez lôsen, / in gemachent nimmer vrô des meien rôsen (XLV, 11 f.) und in anderen sogar das Verb süezen mit dem Substantiv suoze und dem Adjektiv süez : kan sie mir mit süezen worten suoze süezen (XLV, 23); so finden sich im Lied LI neben güete auch guot und güetlîch; und so kombiniert das Lied LVI Formen des Verbs küssen mit solchen des Substantivs kuss, das Lied LVII wünschen mit wunsch und das Lied LVIII salben mit salbe. Die Anapher, die Geminatio, die Leitworttechnik, die Figura etymologica, das Polyptoton – sie alle erzeugen Effekte auf der Textoberfläche. Man kann sie zum einen als Antwort auf Abnutzungserscheinungen verstehen, die sich im Bereich der Lexik und der Semantik dadurch ergeben, dass der Minnesang seit geraumer Zeit mit denselben Worten dieselben Inhalte formuliert. In dieser Situation erzeugen die genannten rhetorischen Figuren immerhin neue Intensitäten des sprachlichen Ausdrucks. Dagegen spielen diejenigen Stellungsfiguren, die sich wie die Antithese, der Chiasmus oder die Klimax besonders dafür eignen, argumentative Tiefenstrukturen zu akzentuieren, bei Ulrich keine besondere Rolle.70 Auch fällt auf, dass ein Großteil der Beispiele für Figuren dem Frauenpreis entstammt, der angesichts seines Inhaltsdefizits in besonderer Weise zur Redundanz neigt und dem sich der Mechanismus der überbietenden Variation folglich geradezu aufdrängt.71 Zum anderen könnte man von solchen Kompensationsthesen, die Ulrichs Minnesang an dem des 12. Jahrhunderts messen, aber auch absehen und einfach festhalten, dass seine Lieder das sprachliche Material für andere Effekte nutzen: für ein Spiel mit Worten, das sich etwa in Neuschöpfungen wie dem kleinvelhitzerôten munt verwirklicht, und für die Verstärkung der Klangdimension, auf die ja auch die metrisch-strophische Gestaltung hinzielt.
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Für die Anapher konstatiert das auch Brecht, „Ulrich von Lichtenstein als Lyriker“, S. 71. Zum Zusammenhang von Frauenpreis und ornatus bei Ulrich vgl. Hübner, Frauenpreis, S. 310 f.
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Beim Einsatz von Tropen zeigen sich Ulrichs Lieder hingegen eher zurückhaltend,72 sie stehen näher bei der abstrakten Begriffssprache Reinmars als bei der bildgesättigten Sprache Morungens. Dass sie damit eine bewusste Wahl treffen, belegt das Lied XX, das die Dame eine rouberinne (XX, 13) nennt und sie beschuldigt, gegen das Ich eine unrechtmäßige Fehde (âne widersagen, XX, 11) zu führen. Diese Metaphorik stammt nämlich von Heinrich von Morungen (MF 130,9), Ulrich hat dessen Werk also gekannt, ist ihm aber, von dieser Ausnahme abgesehen, nicht gefolgt. So enthalten seine Lieder neben den konventionellen Bildern wie der Minnegefangenschaft oder der Minnekrankheit nur wenige ausgefallene, die einer besonderen Erwähnung verdienen wie das, das die Launenhaftigkeit der Dame [a]ls abrillen weter (XXII, 29) fasst, oder das, das die Dankbarkeit der Dame mit einem rât, das umbe gât und einem marder, den man hât / in eine lin gebunden (XXV, 61–63), gleichsetzt.
7. Pragmatik Die Quellen, die zum ‚Sitz im Leben‘ des Minnesangs Auskunft geben, sind so spärlich, dass es sinnvoll ist, auch einen Text auszuwerten, der wie Ulrichs Frauendienst in der Hauptsache aus literarischen Motiven herausgesponnen ist.73 Denn immerhin eröffnet er die Möglichkeit, einen Blick auf das Denk- und Sagbare zu werfen, da er in der Erzählung das ausformuliert, was die Minnelieder selbst nur präsupponieren.74 Mustert man die Gebrauchssituationen, wie sie der Frauendienst für die Lieder Ulrichs entwirft, so ist zunächst einmal eine Lücke zu konstatieren: Von einem Vortrag beim höfischen Fest, mit dem die Forschung lange Zeit fest gerechnet hat, weiß der Frauendienst nichts zu berichten.75 Dafür ent72
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Das zeigt auch die Zusammenstellung des Materials bei Brecht, „Ulrich von Lichtenstein als Lyriker“, S. 92–95. Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein; zustimmend Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 8–12. Händl, Rollen und pragmatische Einbindung, S. 416 f.; Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 293 f.; Schilling, „Gesellschaftskunst und Privatvergnügen“, S. 109 f. Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 94; Schilling, „Gesellschaftskunst und Privatvergnügen“, S. 110. Auch Mertens, „Liebesdichtung und Dichterliebe“, S. 202, sieht den Abstand des Ulrich’schen Pragmatik-Entwurfs „vom repräsentativen ‚höfischen Zeremonialhandeln‘“, erklärt ihn aber mit dessen Spätzeitlichkeit. Inzwischen ist die Festthese freilich auch für das 12. Jahrhundert einer massiven Kritik unterzogen worden, etwa durch Frank Willaert. „Minnesänger, Festgänger?“ ZfdPh 118, 1999, S. 321–335.
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wirft er eine Reihe anderer Rezeptionssituationen – freilich findet sich nicht für alle Lieder eine solche, einige scheint der Sänger auch nur für sich selbst zu singen –,76 und er erzählt auch von der Produktion der Lieder.77 Dabei sind jeweils eine mediale, eine emotionale und eine ästhetische Dimension zu unterscheiden. Was die mediale Seite der Rezeption angeht, so ist zunächst eine weitere Aussparung zu notieren: An keiner Stelle ist die Rede davon, dass Ulrich seine Lieder selbst der Dame vorträgt. Sie erreichen diese nur auf Umwegen. Am häufigsten erfolgt die Übermittlung durch Boten wie die niftel Ulrichs, deren Pagen sowie einen von Ulrich angeworbenen Diener.78 Das Lied, das die jeweiligen Boten der Dame überbringen, wird dann auch in unterschiedlicher Weise rezipiert. Eine erste Möglichkeit stellt der Gesangsvortrag dar, den der Diener wie folgt ankündigt: [„]Er hât iu, vrowe, liet bî mir ouch her gesant, diu gerne ir hœren sült: wan sî sint guot, si machent iuch vrœlîch gemuot. diu wort sint guot, diu wîse niu. er bat si, vrowe, mich singen iu, dô ich nu nâhest von im schiet. nu hœret mich! ich kan diu liet:“. (403,1–8)
Nach dieser Erklärung handelt der Bote stellvertretend für Ulrich, wenn er das Lied vorträgt. Dieses Repräsentationsverhältnis wird dadurch erleichtert, dass das Ich des Liedes ja ein abstrakt-allgemeines ist, sodass auch der Diener die Ich-Position einnehmen kann. Auch die niftel soll der Dame ein Lied ze ôren (66,3) bringen, doch tut sie das, indem sie es ihr vorliest. Das Zu-Gehör-Bringen der Lieder kann auch allgemein ausgedrückt werden: Diu liet vernam mîn vrowe wol (1344,1) – durch wen, wird nicht gesagt; offenbar läuft zumindest ein Teil der Lieder im Land um. Bestätigt werden die verschiedenen Vortragssituationen, wie sie das Maere entwirft, durch die Performanz-Sig76 77
78
Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 94. Das betont Kiening, „Der Autor als ‚Leibeigener‘“, S. 218. Einige der im Folgenden diskutierten Stellen untersucht auch Goheen, „Maere und liet“, S. 150–155, die allerdings kaum über Paraphrasen hinausgelangt und deren Kategorien nicht mehr anschlussfähig sind. Zum Boten im Frauendienst vgl. Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 46–56, und Spechtler, „Die Stilisierung der Distanz“, S. 300–304. Vgl. auch den Beitrag von Kellermann im vorliegenden Band, S. 247–259.
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nale in den Liedern selbst.79 Noch häufiger heißt es jedoch, dass die Dame ein Lied liest (113,6 f.), wozu sie sich in ir heimlîch (165,5) zurückzieht.80 Offenbar wird nicht nur der Text der Lieder aufgezeichnet, sondern auch ihre Melodie: Sie nam den brief sâ in die hant, dar an si wol geschriben vant (si las in hie, si las in dort) mit guoter schrift wîse unde wort. (1100,1–4)
Indem der Brief neben dem wort der Lieder auch ihre wîse enthält (1100,4), unterscheidet er sich von der Überlieferung, die nur die Texte Ulrichs bewahrt hat. Auch jene andere Dame, die von sich aus auf Ulrich zutritt, liest das Lied, das dieser auf ihre Bitte hin verfasst hat (360,5). Schließlich erreichen nicht alle Lieder ihre eigentliche Adressatin. Das kann den trivialen Grund haben, dass dem Sänger gerade kein Bote zur Verfügung steht: Diu liet ich ûf dem wege sanc von mîner vrowen âne danc. daz kom dâ von: der bote mîn was ze verte; des moht nicht sîn, daz ichs iht sande ir bî im. (418,1–5)
Obwohl die Dame das Lied also nicht kennenlernt, gilt es doch als Dienst an ihr. Zugleich aber übernimmt der Sang hier die Funktion, seinen Urheber auf der Reise zu unterhalten. Neben dieser medialen weist die Rezeption auch eine emotionale Dimension auf. Allerdings verändert sich die Wirkung, welche die Lieder auf ihre Adressatin, die Dame, ausüben, im Laufe der Werbung respektive der Erzählung. In ihrer Reaktion auf die ersten Lieder koppelt die Dame deren ästhetische Qualität – diu liet diu sint ze wâre guot (74,4) – von ihrem pragmatischen Gehalt ab: ich wil aber mich ir niht an nemen: / sîn dienst mac mir niht gezemen (74,5 f.).81 Später kommen beide doch noch zur Deckung, wenn sie auf dasselbe Geschmacksurteil: diu liet diu sint ze wâre guot (1101,7) die Einladung zu einem Stelldichein folgen lässt. Ihre wichtigste Rezipientin versteht die Minnelieder also als Werbungshandlung:
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Heinen, „Homo (il)litteratus or Poet/Perfomer“, S. 163. Mertens, „Liebesdichtung und Dichterliebe“, S. 202, situiert denn auch die Lieder Ulrichs auf der Schwelle vom Vortrags- zum Lesetext. Dazu Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 94, und Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 45.
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Dô diu vil reine diu liet vernam, ein güete sâ in ir hertze quam. si gedâht: „zewâr ich muoz in sehen, swanne ez mit fuoge mac geschehen. er sol alsô niht langer leben: ich wil im hôchgemüete geben. er hât gedienet mir sô vil, daz ich im gern lônen wil.“ (1348)
Das einzelne Lied verändert den Gefühlszustand der Dame, es bewegt sie zur güete (1348,2); die Gesamtheit der Lieder gilt als Dienst, der Lohn erfordert. Umgekehrt zerstört das Lied XXII, mit dem Ulrich seine Wut auf die Dame ausdrückt, ir hôchgemüete (1370,4) und erregt ihren Zorn. Die Dame ist zwar die bevorzugte, nicht aber die einzige Rezipientin. Es gibt auch Lieder, für die eine kollektive Rezeption behauptet wird, die in eine vielfache Reproduktion mündet.82 So heißt es vom Lied XVI: Mit der ûzreise hôchgemuot / fuor den sumer manic ritter guot (1352,1 f.; ähnlich 1425 zum Lied XXXVIII) und vom Lied XIX: Diu wîse wart getantzet vil (1359,1). Beide Lieder leben als ‚Schlager der Saison‘, und es dürfte kein Zufall sein, dass sie in Ulrichs Terminologie als ûzreise und als tanzwîse ausgewiesen sind und also Gattungen angehören, die auf Situationen bezogen sind, die wie das Turnier und der Tanz von vornherein kollektive sind. Allerdings kann für eine adäquate Rezeption ein bestimmter Stimmungswert, nämlich die Freude, gefordert sein:83 Diu liet diu muosten dunken guot alle, die vrœlîch gemuot wâren durch die vrowen dô. (1357,1–3)
Die Wertschätzung für das Lied hängt von der Disposition seines Publikums ab – ein Gedanke, der im Bereich der mittelalterlichen Literatur auch sonst verschiedentlich begegnet, etwa bei Gottfried von Straßburg, der die leidvolle Liebesgeschichte von Tristan und Isolde eben nicht an aller werlde adressiert, sondern nur an die edelen herzen.84 Der Frauendienst nimmt diese Ansicht auch in die Lieder selbst hinein:
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Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 94; Schilling, „Gesellschaftskunst und Privatvergnügen“, S. 110 f. Schilling, „Gesellschaftskunst und Privatvergnügen“, S. 114. Gottfried von Straßburg. Tristan. Bd. 1: Text. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. V. 1–9982. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hrsg., ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. 5. Auflage. Stuttgart 1990, V. 50, 47.
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Disiu liet diu heizent vrouwentanz: diu sol niemen singen, ern sî vrô. Swer mit zühten treit der freuden kranz, und dem sîn muot stât von wîben hô, Dem erloube ich sie ze singen wol: blîdeclîchen man si tanzen sol. (Lied XLVI,1–6)
Nur der Teil des Publikums, der selbst dank der Frauen in Freude lebt, darf den vrouwentanz (XLVI, 1), so sagt es dieser in einer rezeptionsästhetischen Erklärung, singen (XLVI, 2) und tanzen (XLVI, 6).85 Damit stellt der Freundengesang Distinktion her.86 Der Frauendienst enthält freilich auch Beispiele dafür, dass Ulrich sich gegen die allgemeine Stimmung stellt. So widersprechen seine Freudenlieder dem Zustand allgemeiner Niedergeschlagenheit, die nach dem Tod des Herzogs im Land herrscht: Disiu liet ich niuwe sanc, / dô rehtiu freude was gar kranc (1750,1 f.) oder: Diu liet gesungen wurden dô, / dô maneger wart von roube unvrô (1738,1 f.). Der allgemeinen Aneignung steht diese Subjektivität des Autors nicht unbedingt entgegen, wenn selbst das Lied XXII, mit dem Ulrich seinem Zorn über die Dame Luft macht, einem vielfachen Wiedergebrauch zugeführt wird: Diu liet gesungen wurden vil (1370,1). Schließlich verschafft sich bei der Rezeption der Lieder auch eine ästhetische Dimension Geltung. Immer wieder wird die Kennerschaft des Publikums (oder ihr Fehlen) vermerkt.87 Auch die Dame, die ja selbst Gegenstand der Werbung ist, kann das Lied als ästhetisches Objekt wahrnehmen, wie ihre Reaktion auf das Lied XXXII belegt: Diu liet von rehte si dûhten guot. daz ieslîch liet sprach Hôher muot, dâ ez sich huop: des smielte sie, wan sîz gehôrt het dâ vor nie. si sprach: „diu liet sint minneclîch, getihtet dêswâr meisterlîch: si sint für wâr ze tanzen guot, si gebent den hertzen hôhen muot.“ (1395)
Die Dame hält das Lied für guot (1395,1), sie freut sich (smielte, 1395,3) über die Strophenanapher Hôher muot (1395,2), die für sie eine neue Stilfigur darstellt. Ihre Äußerung zeigt, wie die ästhetische Qualität des Textes sich mit anderen Wirkweisen zu verbinden vermag: Das Lied ist schön (minneclîch, 1395,5) und erfüllt also die Ansprüche künstlerischer 85 86 87
Hübner, Frauenpreis, S. 315. Schilling, „Gesellschaftskunst und Privatvergnügen“, S. 114. Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 94.
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meisterschaft; zugleich taugt es aber auch zum Tanz und erhöht die Stimmung der Hörer. Ästhetik, soziale Praxis und Affekt sind hier unauflöslich ineinander verschränkt. Die wichtigste Urteilsinstanz stellt freilich das anonyme Publikum dar, besonders dessen qualifizierter Teil: Diu liet die wîsen dûhten guot (1644,1), heißt es summarisch vom Lied XLII.88 Dass nicht das gesamte Publikum aus wîsen besteht und dass sich also nicht allen Hörern die Form der Lieder erschließt, macht der folgende Kommentar deutlich: Diu liet vil maniger nicht verstuont, als noch die tumben ofte tuont; swer aber was sô rehte wîs, der sî verstuont, der gabe in prîs. si wâren getihtet wunderlîch, die rîme gesetzet meisterlîch: diu wîse kunde bezzer niht gesîn: ich redet drinne mit der vrowen mîn. (1398)
Ein Großteil des Publikums vermag das spezifische künstlerische Verfahren nicht zu erfassen. Diese Erfahrung macht der Sänger zunächst beim Vortrag eines bestimmten Liedes – konkret geht es um Lied XXXIII mit seinem strophenübergreifenden Reimschema –89 vor einem bestimmten Publikum, doch lässt sie sich offenbar verallgemeinern, wie der Übergang ins generalisierende Präsens anzeigt.90 Nur wer wîs (1398,3) ist – ich würde diesen Begriff auf Erfahrung im Umgang mit Kunst, mithin auf Kennerschaft beziehen –, versteht und lobt das Lied. Neben den Reimen, die ob ihrer komplizierten Anordnung zugleich wunderlîch (1398,5) und meisterlîch (1398,6) wirken, gilt die Äußerung auch der Melodie, die damit einen integralen Bestandteil der künstlerischen Eigenart des Liedes darstellt. Die nachdrückliche Betonung der Artistik des Liedes und der Kennerschaft, die für eine angemessene Rezeption erforderlich sind, hindert Ulrich nicht daran, die im Lied entworfenen Rollen unmittelbar zu referenzialisieren. Entsprechend erfährt das Lied IV die folgende allgemeine Anerkennung: „diu wîse ist niuwe und hôchgemuot, / diu wort sint süeze und dar zuo war“ (316,4 f.). Wieder liegt ein starker Akzent auf der Melodie, wobei dieses Mal ihre Neuigkeit91 und ihre Fä-
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Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 295 f. Vgl. oben S. 403–405. Schilling, „Gesellschaftskunst und Privatvergnügen“, S. 117. Das hebt auch der Bote hervor, wenn er der Dame das Lied VIII anpreist: diu wort sint guot, diu wîse niu (403,5).
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higkeit hervorgehoben werden, einen Stimmungswert auszudrücken; und dem Text wird neben seiner süeze – es handelt sich bei ihm um einen Leitbegriff des volkssprachlichen Kunstdenkens, der das ästhetische Erlebnis als ein sinnliches fasst und zugleich religiöse Bedeutungen aufruft – auch wiederum seine Wahrheit bescheinigt. Einen anderen Akzent setzt das allgemeine Urteil zum Lied XXX, von dem es heißt: Diu liet diu wâren sinne rîch: / si dûhten manigen gämellîch (1383,1 f.). Die Kunstfertigkeit des Liedes (sinne rîch) unterhält demnach die Hörer (gämellîch). Das ästhetische Vergnügen bleibt aber nicht in jedem Fall passiv, es kann auch zum Mitmachen drängen: Diu liet diu waren meisterlîch unde ir rîm gar sinnerîch; dâ von sî gern maniger sanc. diu wîs was für wâr niht lanc: ze tanzen wâren sî vil guot: der dôn diu leute tet hôchgemuot. für wâr ich iu daz sagen wil: si wurden oft getanzet vil. (1772)
Die künstlerische Faktur des Liedes LII, die erneut als meisterschaft erscheint und die vor allem in den (grammatischen) Reimen liegt, verleitet die Hörer dazu, das Lied nachzusingen. Und die pointierte Melodie, die ihrerseits einen wichtigen Bestandteil des Liedes und seiner Qualität ausmacht, reizt dazu, zu dem Lied zu tanzen. Besondere Bedeutung besitzt sie auch für die Spezialisten in Sachen Musikbegleitung: Nâch disen lieden sang ich dô einen leich mit noten hô und ouch mit snellen noten gar. ir sült gelauben mir für wâr, daz ich des leiches tœne sanc gar niu. manic fidelær mir danc sagt, daz ich die not sô hô machet. (1373)
An seinem Leich hebt Ulrich die Melodie hervor, die sich nicht nur durch ihre Neuigkeit, sondern auch dadurch auszeichnet, dass sie einen schnellen Rhythmus mit einer hohen Tonlage verbindet. Letzteres findet vor allem bei den Geigern Anklang – ein ästhetisches Urteil einer Personengruppe, die zwischen Rezipienten und Produzenten angesiedelt ist. Auch die Liedproduktion, wie sie der Frauendienst vorstellt, weist eine mediale Dimension auf. So wird das Verfertigen der Lieder durchgehend als Akt des Singens entworfen: ich hab êt aber niwiu liet / Gesungen
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(109,8–110,1). Die Komposition der Melodie und die Abfassung des Textes erfolgen offensichtlich im Kopf. Dazu passt es, dass sich Ulrich als Analphabet ausgibt, der sich Briefe von einem Schreiber vorlesen lässt.92 Von der Aufzeichnung der Lieder ist nirgendwo die Rede, aber man wird vermuten dürfen, dass sie ebenfalls durch den Schreiber erfolgt. Insofern besteht eine Kluft zwischen der Produktion, die durch einen männlichen Autor in der Mündlichkeit erfolgt, und der schriftlichen Rezeption durch eine weibliche Leserin.93 Was die emotionale Seite der Produktion angeht, so findet sich hier eine Entsprechung insofern, als sie durch die Liebe zur Dame inspiriert ist: zehant ich tihten dô began, als mir mîn senedez herze riet, von mîner vrowen niuwe liet. (333,6–8)
Das Lied, das von der Dame handelt, erscheint hier als unmittelbarer Gefühlsausdruck des dichtenden Ich. Das ist kein Einzelfall, auch an anderer Stelle heißt es: mîn herze singen mir dô riet / von mîner vrowen disiu liet (351,7 f.). Das Lied erscheint, und diese Relation findet sich im Frauendienst immer wieder, als Resultat liebenden Eingedenkens. Umgekehrt kann das Lied bei seinem Urheber das Bild der Dame hervorrufen: Nâch disen lieden gedâht mîn lîp / an daz vil reine, süeze wîp (1639,1 f.). Entsprechend fungiert es nicht als Liebeserklärung, sondern ruft seinerseits eine solche hervor: der ritter ich sol immer sîn (1639,6). Neben der Liebe werden auch diejenigen Affekte, die mit ihr einhergehen können, in die Liedproduktion umgesetzt. So reagiert Ulrich auf das Leid, das ihm die Dame zufügt und das mit dem Einbruch des Winters einhergeht, mit einem klageliet (1362,8). Auch die Aggressionen, die der wandel (1368,4) der Dame erzeugt, finden ihren Ausdruck im Sang: dô sang ich disiu liet vor zorn (1365,8; ähnlich 1369,7 f.). Das Lied XXI hat, darüber hinausgehend, einen klaren performativen Gehalt: Mit disen lieden tet ich kunt, daz ich für die selben stunt ir wolde gedienen nimmer mê. (1366,1–3)
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Dazu genauer Heinen, „Homo (il)litteratus or Poet/Perfomer“, sowie Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert,S. 95. Vgl. den Beitrag von Wolf im vorliegenden Band, S. 508–510, sowie zur Illiterarizitätsthematik Kellermann, S. 217, 224 f. und öfter, und Bleumer, S. 393 f.
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Durch das Lied wird der Dienst aufgekündigt, obwohl das im Lied selbst nicht explizit gesagt ist. Dem ersten, erfolglosen Minnedienst, dessen Dauer Ulrich mit 30 Jahren angibt (LIV, 3), wodurch er ihn zum biographischen Faktum erklärt, folgt bekanntlich ein zweiter, erfolgreicher, in dem entsprechend die Freude zum Anlass für das Singen werden kann: in freuden reit von ir mîn lîp; / in hôhem muot ich von ir schiet / und sanc ze dienst ir disiu liet (1394,6–8). Eine zentrale Motivation des Autors, Lieder zu verfassen, stellt demnach der Minnedienst dar.94 Die Lieder referieren also auf die Dame: Guot niuwe liet ich von ir hân / gesungen (66,1 f.) erklärt das Ich der Erzählung oder, noch direkter: diu liet sprechent von ir sô (315,8; ähnlich 426,8), worauf ein Lied folgt. Also bezieht sich auch der Frauenpreis, den die Lieder formulieren, auf die konkrete Dame: dar inne [in einer sincwîse] sprach ich ir werdecheit, / durch die mîn lîp was vil gemeit (1356,3 f.). Damit stimmt es überein, dass diu wort eines Liedes als wâr deklariert werden (1370,4). Allerdings folgt der narrative Rahmen dem Entwurf des Minnesangs im Allgemeinen und der Ulrich’schen Lieder im Besonderen darin, dass die jeweilige Dame anonym bleibt. Damit wird in einer paradoxen Bewegung zugleich ein Referenzverhältnis für die Dame der Lieder hergestellt und verweigert. Die Ausrichtung auf die Dame beim Abfassen der Lieder ist freilich keine absolute, da Ulrich seiner Dame auch solche Lieder schickt, die er schon anderswo zu Gehör gebracht hat. So heißt es im Anschluss an das Lied IV, das die niftel der Dame überbringen soll: Diu liet ze Frisach sint für komen: si hât manic ritter dâ vernomen, der in des jach, sî wærn guot. (316,1–3)
Demnach ist das Lied in Friesach vor ein größeres männlich-ritterliches Publikum getreten und hat dort dessen Beifall gefunden. Des Weiteren kann die Dame nicht nur als Muse, sondern auch als Auftraggeberin für die Entstehung eines Liedes verantwortlich zeichnen. Allerdings handelt es sich bei ihr nicht um eine der Damen, um die sich Ulrich selbst singend-werbend bemüht, sondern um diejenige, die ihrerseits auf ihn zutritt. Unter anderem schickt sie ihm eine in Deutschland unbekannte Melodie, auf die Ulrich einen Text verfassen soll. Er tut das, wobei er mit triuwen vrowen werdecheit (359,3) lobt, d. h., er spricht über die Frauen allgemein, nicht über die Auftraggeberin. Dennoch ist diese mit dem Ergebnis offenbar zufrieden, da sie es mit einem Hündchen be94
Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 94.
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lohnt. Da diesem Verhältnis die emotionale Seite fehlt, tritt die künstlerische umso reiner hervor.95 Schließlich besteht auch die Möglichkeit, die Liedproduktion vom Bezug auf eine bestimmte Frau abzukoppeln: Swie kleine mich diu minne twanc, ze dienest ich den frowen sanc einen reien minneclîch, mit süezen worten dœnerîch. (1380,1–4)
Es wird explizit verneint, dass das Lied die Liebe des Autors ausdrückt; stattdessen will es als Dienstversicherung an das Kollektiv der Frauen verstanden werden. Entsprechend besteht die Möglichkeit, dass der Autor über die Gesetze des Minnesangs nachdenkt – ich gedâhte her, ich gedâhte hin (1621,4) – und sich das Lied also der Reflexion, nicht dem Gefühl verdankt. In besonderer Weise gilt das für das Tagelied, bei dem Ulrich insofern an der Figurenkonstellation arbeitet, als er den Wächter, einen gebûren (1622,6), durch eine adelige Zofe ersetzt. Das Argument ist also ein soziales, und als solches zielt es auf die Wahrscheinlichkeit des Liedinhalts.96 Noch weiter entfernt sich die Produktion der Lieder von einem emotionalen Anlass, wenn sie nicht mehr durch eine Frau, sondern durch eine Jahreszeit wie den Sommer angeregt wird: der sumer kom ôt aber dô, der winder ûz den landen schiet; dô sange ich disiu niwe liet. (1343,6–8)
Dieser Ankündigung entsprechend, beginnt das Lied XIII mit einem Natureingang. Des Weiteren besteht die Möglichkeit, die Turniersituation unmittelbar in ein Lied umzusetzen: zehant ich tihten dô began, dô ich alsô von danne schiet, disiu ritterlîchen liet. (1424,6–8)
Produkt dieser Inspiration ist folglich eine ûzreise. Schließlich kann auch eine biographisch besondere Situation wie Ulrichs Gefangenschaft – dirre nôt (1726,7) – zur Produktion eines Liedes führen, das die Erfah-
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Schilling, „Gesellschaftskunst und Privatvergnügen“, S. 116. Kühnel, „Zu den Tageliedern Ulrichs von Liechtenstein“, S. 130 f.; Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 299–301; Mertens, „Liebesdichtung und Dichterliebe“, S. 207.
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rung des Autors auf die Frauen bezieht. Diese Koppelung erregt allerdings Aufsehen: Diu liet diu wâren minneclîch. ez dûhte vil manige wunderlîch, dô ich mit solhen nœten ranc, daz ich bî der zît niuwez sanc. (1727,1–4)
Wenn es die Leute befremdet, dass Ulrich trotz seiner persönlichen Not Minnelieder verfasst, dann bestätigt das indirekt nochmals die Vorstellung, dass Minnesang aus einer Minnesituation hervorgeht und diese abbildet. Schließlich lassen sich im Frauendienst auch Ansätze zu einer Produktionsästhetik auffinden, so in den bereits erwähnten einleitenden Überlegungen zum zweiten Tagelied: Gesungen wurden disiu liet vil. mîn hertze mir dô riet singen aber niuwen sin. ich gedâhte her, ich gedâhte hin: ich gedâht an der minnære klage, daz si klagent von dem tage, wie si der von hertzenliebe ie schiet. dâ von sang ich niuwiu liet. (1621)
Das Lied kommt aus dem hertze[n] (1621,2), also aus dem Zentrum der Gefühle, doch wird dieser Anstoß gleich in sin, also in Verstandestätigkeit, umgesetzt, und zwar in niuwen sin (1621,3). Damit ist aber nicht etwa Originalität gemeint, sondern das Interesse an einem anderen Genre, nachdem das vorausgegangene Preislied offenbar erfolgreich gewesen ist. Im Zuge seines Nachdenkens verfällt das Ich auf das Tagelied, also eine bereits bekannte Gattung. Zu fragen ist nun, wie das Ergebnis des Dichtens, die niuwiu liet (1621,8), zu deuten ist. Man könnte es einfach nur als ‚ein weiteres Tagelied‘ auffassen, es ließe sich aber auch im Sinne von ‚eine neue Art Tagelied‘ verstehen. Zu letzterer Lesart würde es passen, dass der Strophe die Überlegungen zur Ersetzung des Wächters durch die Zofe folgen. Wie immer man sich hier entscheidet, in jedem Fall ist klar, dass die Produktionsästhetik des Frauendienstes zwar von der Bindung an die Tradition ausgeht, in sie aber auch den Mechanismus der Variation einbringt.97
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Heinen, „Poetic Truth and the Appearance of Reality“, S. 171. Ganz auf Innovation hin liest Linden, Kundschafter der Kommunikation, S. 299, die Strophe.
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Auch wenn seine Fiktionalität es verbietet, den Frauendienst einfach als Quelle für die Pragmatik des Minnesangs heranzuziehen, so sind ihm doch einige Einsichten zu entnehmen, die für die gegenwärtige Forschungsdiskussion wichtig sind: Erstens spricht die Vielfalt der entworfenen Produktions- und Rezeptionssituationen gegen die einseitige Festlegung auf ein einziges Modell wie die Liebeswerbung oder das höfische Fest. Zweitens sollte es den Anhängern der Fest-Vorstellung zu denken geben, dass gerade das höfische Fest als Rahmen des Liedvortrags bei Ulrich überhaupt nicht vorkommt. Drittens ist festzuhalten, dass die ästhetische Dimension des Minnesangs immer wieder entschieden betont wird.
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9. Frauenbuch Erzähler und Erzählform in Ulrichs von Liechtenstein Frauenbuch oder: Ist das Frauenbuch eine Minnerede? von K ATHARINA P HILIPOWSKI Das Frauenbuch Ulrichs von Liechtenstein ist eine Minnerede.1 So steht es in Literaturgeschichten und Nachschlagewerken, zumindest in denen, die sich mit diesem wenig populären Text auseinandersetzen. Joachim Heinzle beispielsweise schreibt, dass eine „Tradition der s e l b s t ä n d i g e n Minnerede, die sich noch im 12. Jahrhundert mit dem Heimlichen Boten und mit Hartmanns Klage anbahnte, nun zunehmend Kontur gewinnt. Maßgeblich sind zwei Werke: die Frauenehre des Strickers und das Frauenbuch Ulrichs von Lichtenstein.“2 Die Klassifikation des Frauenbuchs als früher Vertreter der Gattung ‚Minnerede‘ geht auf die richtungweisende Studie von Ingeborg Glier zurück, in der sie eine Geschichte der Gattung skizziert und dem so genannten ‚Büchlein-Typus‘ die Rolle eines Vorläufers zuweist: Eine ihrer Vorformen im 12./13. Jahrhundert ist das Büchlein. Für diesen Gattungstyp läßt sich von Hartmann von Aue wahrscheinlich zum zweiten Ambraser ‚Büchlein‘, sicher aber zu Ulrich von Lichtenstein eine Traditionslinie im deutschen Bereich ziehen, die über Ulrichs ‚Frauenbuch‘ zu späteren Minnereden (belauschtes Streitgespräch) weitergeführt werden könnte.3
Tilo Brandis’ 1968 erschienenes Repertorium mittelhochdeutscher, mittelniederdeutscher und mittelniederländischer Minnereden nimmt in Übereinstimmung mit dieser Überlegung das Frauenbuch auf und fasst
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Zum Frauenbuch vgl. auch die Beiträge von Sieber, S. 272 f., 277–280, 292–299, und Eming, S. 186–192, im vorliegenden Band. Joachim Heinzle. Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert. Bd II/2 der Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Hrsg. von Joachim Heinzle. Tübingen 1994, S. 152, Sperrung im Original. Ingeborg Glier, Artes amandi, S. 51.
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den Inhalt zusammen als „Streitgespräch zwischen Ritter und Dame über höfische Zucht und Minne. Der Dichter schlichtet.“4 An dieser literarhistorischen Einschätzung des Frauenbuchs ist seither kaum mehr gerüttelt worden. Joachim Bumke führt das Frauenbuch unter den Vorläufern der Minnereden auf,5 Ludger Lieb bezeichnet es als eine „Proto-Minnerede“, weist allerdings darauf hin, dass sich „erst an der Wende zum 14. Jahrhundert […] – überwiegend in den klassischen Zentren mittelhochdeutscher Dichtung – die Minnereden als spezifische Form der didaktischen Minnedichtung [etablieren]“.6 Und auch die neueste Edition des Frauenbuchs von Christopher Young übernimmt Gliers Zuordnung:7 Andere, noch klarere Ansätze für die neue Gattung lassen zwei Werke erkennen, die der höfischen Didaktik im weiteren Sinne zuzurechnen sind, aber bisher in der Forschung eher als etwas unbequeme, schwer einzuordnende Randerscheinungen größerer Œuvres abgetan wurden: Strickers ‚Frauenehre‘ und Ulrichs von Lichtenstein ‚Frauenbuch‘. […] ‚Frauenehre‘ und ‚Frauenbuch‘ greifen unterschiedlich, doch gleichgerichtet auf klassische Tendenzen zurück […]. Gleichzeitig weisen sie aber – schon um die Mitte des 13. Jahrhunderts – unübersehbar auf die neue Gattung, d. h. auf zwei ihrer Haupttypen voraus.8
Dass Jan-Dirk Müller sich in seinem Artikel zu Ulrich von Liechtenstein im Verfasserlexikon demgegenüber in Fragen der Gattungszuordnung deutlich zurückhält (von einer ‚Minnerede‘ ist bei ihm nichts zu lesen), darf denn womöglich auch als Einladung zur Skepsis verstanden werden. Ihr schließt sich Wolfgang Achnitz an, der die ‚Vorläufer‘ in seinem Forschungsbericht deutlich von der Gattung selbst abhebt: 4
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Tilo Brandis. Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederländische Minnereden. Verzeichnis der Handschriften und Drucke. München 1968 (MTU 25), S. 154, Nr. 402a. Brandis hält offenbar die Minnethematik für dominant, denn in der Einleitung hatte er erläutert, dass er „die zahlreich überlieferten allegorisch-lehrhaften Reimpaargedichte über allgemeine menschliche Tugenden und Untugenden, die nach Aufbau und Form den Minnereden sehr ähnlich sind (Klage, Anklage, Predigt, Streitgespräch usw.), aber Minnetugenden entweder gar nicht oder nur am Rande behandeln“, ausschließe (S. 14). Joachim Bumke. Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter. 3. Auflage. München 1996, S. 399 f. Ludger Lieb. „Art. ‚Minnerede‘.“ In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2, S. 601–604, hier S. 602. Allerdings mit aller gebotenen Zurückhaltung: „Viele dieser Facetten [von Texten, die als ‚Vorläufer‘ der Gattung Minnerede bezeichnet werden] begegnen wieder – natürlich mit eigener, ja eigenartiger Nuance und Pointe – in Ulrichs Frauenbuch“ (Frauenbuch, Ed. Young, S. 20). Glier, Artes amandi, S. 35.
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Auch diejenigen Werke, die man im Anschluß an G LIER (1971, S. 16–53) als ‚Gattungsvorläufer‘ klassifiziert, gehören noch dem 12. und 13. Jahrhundert an; allerdings weist bereits diese Bezeichnung darauf hin, daß es sich bei ihnen nicht um ‚Minnereden‘ handelt, auch wenn sie von B RANDIS in das Repertorium aufgenommen wurden.9
Huschenbett hatte vorgeschlagen, die Vorläufer (die er mit Glier als „Büchleintyp“10 bezeichnet) als „wichtige Bindeglieder zwischen der Minnelehre am Beginn der mhd. Literatur und den späteren Formen der Minnereden“11 zu betrachten und als „einen – lockeren – literarischen Typus“12 aufzufassen, der sich durch verschiedene Merkmale konstituiere, nämlich das Thema ‚Minne als Lehrgegenstand‘, textimmanente ‚Privatheit‘ (Adressierung eines minne-Partners oder einer Dame) und vorwiegend unikale Überlieferung. Sein Vorschlag, die Vorläufer, und damit auch das Frauenbuch, aus einer zu engen Bindung an die Gattung ‚Minnerede‘ herauszulösen, ist jedoch nicht aufgegriffen worden. Demgegenüber wurde von Klaus Grubmüller der Vorschlag gemacht, es als ‚Einzelfall‘ und ‚Experiment‘ aufzufassen und es anzuschließen an Otfrid von Weißenburg, das ‚Annolied‘, Thomasin von Zirclaere […], den ‚Renner‘, Heinrich Wittenwilers ‚Ring‘, Oswald von Wolkenstein, den ‚Ackermann‘, auch Einzelstücke innerhalb größerer Werkkomplexe, z. B. Walthers von der Vogelweide ‚Elegie‘, und vieles mehr – allesamt selbstverständlich anzubinden an Bedingungen, aber nicht Glieder einer Kette.13
Damit ist die Aporie einer jeden Gattungsbeschreibung angesprochen, die darin besteht, dass die „Evidenzen sich auflösen, sobald man sie in eine Gattungssystematik zu fassen sucht oder Gattungsgrenzen bestimmen will“.14 Auf der anderen Seite aber erscheint „die mittelalterliche 9
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Wolfgang Achnitz. „Minnereden.“ In: Forschungsberichte zur Germanistischen Mediävistik. Jahrbuch für Internationale Germanistik Reihe C, Forschungsberichte Bd. 6. Hrsg. von Hans-Jochen Schiewer, Teil II. Bern 2003, S. 197–255, hier S. 215. Dietrich Huschenbett. „Minne als Lehre. Zur Bedeutung der ‚Vorläufer‘ der Minnereden für die Literaturgeschichte des 12. und 13. Jahrhunderts.“ In: Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. St.-Andrews-Colloquium 1985. Hrsg. von Jeffrey Ashcroft, Dietrich Huschenbett, William Henry Jackson. Tübingen 1987, S. 50–60, hier S. 51. Ebd., S. 60. Ebd., S. 51. Klaus Grubmüller. „Gattungskonstitution im Mittelalter.“ In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9. – 11. Oktober 1997. Hrsg. von Nigel F. Palmer und Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 1999, S. 193–210, hier S. 207. Ebd., S. 200.
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Literatur dem unbefangenen Blick durchaus gattungsmäßig organisiert“,15 außerdem dürfte weit gehender Konsens darüber herrschen, dass zumindest Gattungsgeschichte, wenn schon nicht Gattungspoetik, unerlässlich ist, „will man nicht auf die Ordnung historischer Zusammenhänge verzichten und einem positivistischen Pointilismus das Wort reden“.16 Es stellt sich damit die Frage, ob das Frauenbuch über sein Verhältnis zur Gattung ‚Minnerede‘ – als früher Vertreter, Vorläufer oder Sonderform – zu beschreiben ist oder eher als ‚Einzelfall und Experiment‘. Diese Frage zielt nicht auf den Nachweis ab, dass die Zuordnung zur ‚Minnerede‘ anfechtbar ist, denn die Infragestellung einer Gattungszuordnung ist nichtssagend, solange sie sich darin erschöpft, einen Forschungskonsens als Kompromiss zu entlarven. Sinnvoll ist sie hingegen, wenn sie dazu verhilft, einzelne Aspekte eines Textes neu zu würdigen und aus irreführenden Analogisierungen zu lösen. In einem ersten Schritt ist in groben Zügen das Profil der Gattung ‚Minnerede‘ zu skizzieren, damit in einem zweiten Schritt Übereinstimmungen und Diskrepanzen des Frauenbuchs dazu herausgearbeitet werden können. Es sei angemerkt, dass damit kein Beitrag zum kontroversen Forschungsgespräch zur Gattungstypologie der Minnerede intendiert ist. Die nachfolgenden Ausführungen zur Minnerede beschränken sich darauf, Definitionsversuche nachzuzeichnen, um so die Position des Frauenbuchs im Kontext der Minnerede deutlicher herauszustellen. Zunächst werden dabei die inhaltlichen und erzählstrukturellen Merkmale des Textes fokussiert und die dabei gesammelten Beobachtungen zu einer Interpretation verdichtet. Dabei wird sich das Ergebnis abzeichnen, dass die Definition als Vorläufer der Minnerede oder als Repräsentant des ‚Büchleintypus‘ bislang eine angemessene Beurteilung des Frauenbuchs (und insbesondere seines Verhältnisses zum Frauendienst) erschwert, wenn nicht verhindert hat. Denn die Poetik des Frauenbuchs erschließt sich nicht über die Zuordnung zur Gattung der Minnerede, sondern über sein Verhältnis zum Frauendienst.
15 16
Ebd., S. 200. Ebd., S. 210.
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1. Gattungstypologie der ‚Minnerede‘ Wolfgang Achnitz zufolge ist die Minnerede17 eine „durch die Minnethematik konstituierte Untergruppe lehrhafter Reden […], deren Anliegen es ist, theoretische Einsichten in das Wesen der Minne und praktische Regeln für das rechte Verhalten der Minnepartner zu vermitteln, was zumeist in der poetischen Form des vierhebigen Reimpaarverses, mitunter aber auch in Strophenform geschieht“.18 Demgegenüber hat Lieb sie jüngst definiert über die Merkmale Thema (Minne), Sprechhaltung (Dominanz der erörternden Rede, die die epischen Anteile überwiegt sowie Dominanz der Ich-Rolle, wobei das Ich in der Regel männlich und selbst Minnender ist), nicht-sangbare Form und Selbständigkeit des jeweiligen Textes.19 Über dieses Merkmalsbündel lässt sich die Minnerede von anderen Formen der Rede wie der Tugendlehre abgrenzen. Diese Definition ist nicht nur flexibel genug, Abweichungen einzelner Minnereden zuzulassen, sondern ermöglicht es auch, diese präzise zu beschreiben. Ein Sammelband zur Poetik der Minnerede versucht, die Merkmale der Gattung differenzierter zu fassen und mit folgenden Schlagworten zu umreißen: Weitgehende Anonymität der Verfasser und meist fehlendes Autorbewusstsein bei gleichzeitiger ostinater Ich-Rede, erhebliche Konventionalität auf allen Ebenen des Textes, sprachliche und inhaltliche Stereotypie wie Formeln, Schemata etc., vielfach Bestätigung des immer schon Gewussten und daraus resultierende Pointenlosigkeit. Dominanz von – oft didaktisch vermittelten und aufzählbaren – Minnetugenden und Minneregeln und weitgehende Ausblendung institutionali17
18 19
Zur Entwicklung des Begriffes vgl. Brandis (Anm. 4), S. 4: „1913 gab Kurt Matthaei im Auftrage der Deutschen Kommission der Berliner Akademie einen ersten Band (DTM 24) heraus, der die unbekannten Texte aus den Handschriften Cpg 344, 358, 376 und 393 und ausführliche Handschriftenbeschreibungen in der Einleitung brachte. Angesichts der in diesen Handschriften sowie in den für den zweiten Band vorgesehenen Handschriften Cpg 313, 355 und Berlin germ. 2° 922 gemeinsam überlieferten Minne- und Lehrdichtungen der verschiedensten Typen und Größen sah sich Matthaei gezwungen, eine allgemeinere und passendere Gattungsbezeichnung als Minneallegorie zu wählen; er betitelte die Reihe ‚Mittelhochdeutsche Minnereden‘ und fand damit einen Terminus, der treffend zwei wesentliche Erkennungsmerkmale der Gattung, nämlich ‚Minnethema‘ und ‚Form der didaktischen Rede‘ zu erkennen gibt und der sich für die weitere Diskussion als praktikabler Gattungsname erweisen sollte“. Achnitz (Anm. 9), S. 197. Lieb (Anm. 6), S. 601 f.
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sierter Geschlechterbeziehungen (Ehe, Familie, Genealogie, Kloster, Arbeitswelt etc.) wie auch von körperlichen und sexuellen Aspekten (Nacktheit, Berührung, Geschlechtsverkehr, Zeugung von Nachkommen etc.).20 Außerdem ist neuerdings die Tauglichkeit der Merkmale Trivialität und Serialität diskutiert worden.21 Die Frage, was Minnereden von anderen Formen kürzerer Reimpaardichtungen unterscheidet, ist in der Forschung nach wie vor umstritten. Brandis beschreibt die Gattung über inhaltliche und formale Merkmale wie ‚Rede- und Erzählformen‘, ‚Personen und ihre Rollen‘, ‚Ort der Handlung‘, ‚Reim- und Strophenformen‘ sowie ‚Umfang‘.22 Fischer versucht die Gattungen ‚Minnerede‘ und ‚Märe‘ aus Sprechhaltungen abzuleiten und so voneinander abzugrenzen. Dazu unterscheidet er ‚Reden‘ von ‚Erzählungen‘. Die erste Gruppe umfasst ‚reden‘hafte, d. h. im Kern nicht erzählende, sondern reflektierende, bekennende, panegyrische oder didaktische Kleindichtung mit Minnethematik. Thematisch steht eine älter bezeugte, objektiv-didaktische Gruppe mit Erörterungen von Fragen des Minnekomments oder Darlegungen der Minnedoktrin und ihrer Einordnung in eine allgemeine Wertwelt einer subjektiv bekenntnishaften gegenüber, in der die inhaltlichen Möglichkeiten des Minnesangs von Gruß und Brief, Bitte um Erhörung, Klage über Trennung, Beteuerung des Dienstes, Schilderung von Liebesglück und Sehnsuchtsqual, Schelte über Untreue bis Frauenpreis ausgeschöpft werden.23
Fischer betont durch diese Klassifikation also insbesondere die Diskursivität als Distinktionsmerkmal der Minnerede gegenüber der Narrativität etwa des Märe, der Verserzählung oder des höfischen Romans. Ingeborg Glier greift für ihren Entwurf einer Gattungsgeschichte zwar auf Fischer zurück, behält aber seine Differenzierung in Erzählung und Rede nicht bei, denn – wie Ziegeler betont, findet sie die drei ‚Typen der Inszenierung‘, nämlich ‚Monologe‘, ‚Gespräche‘ und ‚Vorgänge‘ „alle im Bereich der Minne-‚Reden‘ – [Glier] setzt die ‚Vorgänge‘ also
20
21
22 23
Selektive Paraphrase aus: Ludger Lieb. „Zur Poetik und Kultur der Minnereden. Eine Einleitung.“ In: Triviale Minne? Konventionalität und Trivialisierung in spätmittelalterlichen Minnereden. Hrsg. von Ludger Lieb und Otto Neudeck. Berlin, New York 2006, S. 1–17, hier S. 3. Ralf Schlechtweg-Jahn. „Hadamars von Laber ‚Jagd‘ als serielle Literatur.“ In: Lieb und Neudeck (Anm. 20), S. 241–258. Brandis (Anm. 4), S. 10–12. Hanns Fischer. Studien zur deutschen Märendichtung. Tübingen 1968. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage besorgt von Johannes Janota. Tübingen 1983, S. 40 f.
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nicht als eigenständige Gruppe ‚Erzählungen‘ ab“24. Sie veranschaulicht die Merkmale der Minnerede nicht über ihre Sprechhaltung, sondern über Unterschiede gegenüber Minnelied und Märe:25 „Vom Minnelied unterscheiden sich die Minnereden durch die metrische Form und infolgedessen auch die Vortragsweise. Minnereden werden in Reimpaaren oder Titurelstrophen, gelegentlich auch in Kreuzreimgruppen abgefasst, Minnelieder dagegen in Kanzonenform, durchgereimten Strophen oder anderen sangbaren Formen“,26 aber auch auf einer stilistisch-inhaltlichen Ebene: „Minnereden […] sind meist umfangreicher, komplizierter eingekleidet und in der Tendenz lehrhafter als Minnelieder, obwohl die Lehrsubstanz durchaus sehr ähnlich sein kann.“27 Der Versuch, Minnereden über Unterschiede zu und Gemeinsamkeiten mit Minneliedern und Mären zu definieren, gerät jedoch durch die zahlreichen Sonderund Zwischenformen schnell an seine Grenzen.28 Einen neuen Vorstoß zur Abgrenzung und Beschreibung von ‚Erzählung‘ und ‚Rede‘ innerhalb der Minnerede unternimmt Ziegeler, indem er „die Begriffe, mit denen Fischer und Glier arbeiten, nämlich Erzählung bzw. Epik, Rede und Vorgang über eine Analyse von Erzählzeit und erzählter Zeit präziser zu definieren“ versucht.29 Er geht von Fischers Begriffen ‚Vorgang‘ und ‚Rede‘ aus, bestimmt sie aber erstmals durch die grammatikalische Zeit, wobei er zwei Hauptgruppen unterscheidet. Die erste ist die Rede im Präsens („die Rede ereignet sich im Hier und Jetzt, ohne daß dies durch ausdrückliche zeitliche Fixierung gesagt wird“30), die zweite die Erzählung im Präteritum. Dazwischen gibt es weitere Dif24
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Hans-Joachim Ziegeler. Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen. München 1985 (MTU 87), S. 51. Achnitz spricht davon, dass sich bei ihr keine Definition fände, sondern „lediglich eine lockere Umschreibung dessen, was als ‚Minnerede‘ gilt.“ Wolfgang Achnitz. „Kurz rede von guoten minne / diu guotet guoten sinnen. Zur Binnendifferenzierung der sogenannten ‚Minnereden‘.“ Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 12, 2000, S. 137–149, hier S. 138. Glier, Artes amandi, S. 10 f. Ebd., S. 11. Ebd.: „Was Minnelied und Minnereden gemeinsam ist, nämlich dominierende IchRolle, Minnereflexion und das Fehlen erzählerischer Pointen (selbst wo Vorgänge oder Szenen geschildert werden), grenzt die Minnereden wiederum gegenüber den Mären ab. Aber auch hier sind die Übergänge zum Teil fließend; ebenso wie Minnereden stärker zum Erzählen tendieren können, so auch Mären zur Minnedidaktik“. Ziegeler (Anm. 24), S. 74. Ebd., S. 60.
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ferenzierungen, z. B. die problematische Überschneidung zwischen Rede und Erzählung, der Ziegelers eigentliches Interesse gilt. Ziegeler bezeichnet sie als „erzählende Minnerede“,31 die Elemente der Erzählung wie der Rede besitzt. Wird auch die ‚erzählende Rede‘ als ‚epische Form‘ gewertet, ändert sich das quantitative Verhältnis von Erzählung und Rede grundlegend: Es hat sich gezeigt, daß in den Minnereden (wie bekannt) beide literarischen Grundkategorien, Erzählung und Rede, zu finden sind, daß aber der Anteil ‚epischer Formen‘ wohl doch höher anzusetzen ist, als Ingeborg Glier meint, da zu den ‚epischen Formen‘ nicht nur die ‚geschilderten Vorgänge‘, sondern z. T. auch ‚Monologe‘, vor allem aber ‚Gespräche‘ zu zählen sind.32
Unklar ist allerdings, ob Ziegeler selbst die erzählenden Reden überhaupt als Minnereden auffasst. Einerseits ist „die Grenzlinie zwischen ‚Erzählung‘ und ‚Rede‘ […] nicht, wie Fischer versucht hat zu zeigen, identisch mit der Linie zwischen Märe und Minnerede, sie verläuft durch die Gattung Minnerede selbst“.33 Andererseits problematisiert die Narrativität der ‚erzählenden Reden‘ ihre Zuordnung zu den Minnereden, weil ihre imaginierten ‚Einzelgeschehnisse in zeitlicher Sukzession‘ ablaufen. Sie unterscheiden sich damit grundsätzlich auf der Ebene formaler Definitionen von den Redeformen der Gattung Minnerede, sie sind, von diesem formalen Standpunkt aus betrachtet, kategorial gleich mit den Texten, die nach Fischer als Mären bzw. als Texte des Grenzsaums zwischen Minnerede und Mären gelten.34 31
32 33 34
Ebd., S. 71. Ziegeler veranschaulicht das Gemeinte am Beispiel der Minnerede Die Nacht in der Feldscheune: „Der Autor hat diese Rede einem gesellen zugeschrieben, der von einem Ich beobachtet wird; diese Konstellation ist so nur in der Erzählung möglich. Die Rede ist damit integraler Bestandteil der Erzählung, wobei die Nahtstellen der Verbindung sichtbar bleiben. […] Die an der ‚Nacht in der Feldscheune‘ beschriebenen Konstituenten – ein Ich, hier in der Rolle des Beobachters, sowie eine weitere Person, hier der gesell, die eine (Ich-)Rede hält, bilden mehr oder weniger die tragenden Elemente einer Art Grundstruktur der ‚erzählenden Minnerede‘.“ Die ‚erzählende Minnerede‘ ist also eine Rede, die in einen narrativen Rahmen eingelassen ist. Der Begriff ist missverständlich, weil nicht klar ist, ob er gattungstypologisch oder narratologisch verwendet wird. Was Ziegeler meint, wäre mit dem Begriff der ‚erzählenden Rede‘ oder der ‚Rede in Erzählung‘ besser bezeichnet. Denn Ziegelers Beispiel der Nacht in der Feldscheune zeigt, dass es ihm nicht um eine Rede geht, die erzählt, sondern umgekehrt um eine Erzählung, die Redeanteile beinhaltet, so dass die diskursiven Anteile von der Narration überlagert werden. Ebd., S. 74. Ebd., S. 73 f. Ebd., S. 73.
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Achnitz resümiert in seinem Forschungsbericht: Ziegelers Vorschlag, ‚Minnereden im eigentliche Sinne‘ (das sind seine Minnereden-Typen […]) von ‚erzählenden Minnereden‘ […] zu unterscheiden, […] ist in der Minneredenforschung bisher ohne Resonanz geblieben: Eine Analyse des bei B RANDIS registrierten Textbestandes mit Hilfe dieser Dichotomie steht nach wie vor aus.35
Er selbst hat Ziegelers Anstöße zu einer ‚Binnendifferenzierung‘ der Minnereden umgesetzt und zu der Forderung zugespitzt: Als Minnereden sollten künftig […] nur die rein erörternden Texte […] bezeichnet werden, die als selbständige Gattung eine Besonderheit der mittelalterlichen Literatur darstellen. Für die nichterörternden Texte […] müßte ein neues Etikett gefunden werden, da sich Ziegelers Arbeitsbegriffe ‚erzählende Minnereden‘ bzw. ‚Minneredenerzählung‘ nicht durchsetzen konnten. Vielleicht nennt man sie in Analogie zu den eigentlichen Minnereden einfach ‚Minneerzählungen‘.36
Die komplizierte Frage nach dem Modus erzählender Reden,37 also dem Verhältnis von Figuren- oder Erzählerrede und Erzählung, wird in der neueren Minnereden-Forschung (soweit ich sehe) kaum diskutiert,38 sondern in den einschlägigen Definitionen nur angedeutet mit der Bestimmung, dass – dem Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft zufolge – epische Anteile der erörternden Rede untergeordnet seien und die Ich-Rolle dominiere. Für eine differenziertere Beschreibung des Frauenbuchs und eine Klärung seiner Zugehörigkeit zur Gattung ‚Minnerede‘ sind jedoch die Erzähler-Rolle und die Sprechhaltung entscheidend. Dass die Forschung zur Minnerede in der Frage, welchen narrativen Status ‚erzählende Reden‘ haben und wie ihr Verhältnis zu den Reden bestimmt werden könnte, bislang keinen Konsens erzielt hat, ist deshalb gerade für die Diskussion um die Gattungsfrage des Frauenbuchs beklagenswert, denn es stellt eine bemerkenswerte Abweichung zu den konventionellen Formen dar: Es repräsentiert weder eine Rede im Präsens, noch eine Erzählung im Präteritum, aber auch keine Rede mit epischen Anteilen, sondern eine Erzählung mit ausführlichen Redeanteilen. Es ist eine Rede, die als eine vergangene geschildert, von der also erzählt wird – 35 36 37 38
Achnitz (Anm. 9), S. 230. Achnitz (Anm. 25), S. 147. Hier verstanden als Minnereden, die narrativ verfahren. Aufgegriffen hat diese Anregung Susanne Brügel. „Minnereden als Reflexionsmedium. Zur narrativen Struktur der ‚Minnelehre‘ Johanns von Konstanz.“ In: Lieb und Neudeck (Anm. 20), S. 201–223.
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im Grunde eine ‚erzählte Rede‘ im Sinne Ziegelers. Das Außergewöhnliche an der Erzählhaltung des Frauenbuchs ist, dass sie diese konventionelle Sprechhaltung jedoch nicht als ‚Ich-Erzählung‘ präsentiert, sondern als auktoriale Erzählung (Ez saz ein schœniu vrouwe guot / bî einem ritter hôchgemuot, V. 39 f.). Auktorialität aber ist der Minnerede grundsätzlich fremd, sie ist als die Rede oder Erzählung eines Ich über seine Gefühle, Erlebnisse oder Erfahrungen konzipiert. Aus diesem Grund ist die Frage ihres fiktionalen Status so schwer zu beantworten. Denn „ob Minnereden ‚fiktionale‘ Texte sind, hängt vom Status ab, den man der Ich-Rede und ihrer Referentialität einräumt“,39 wobei auffallen muss, dass das Aussagesubjekt der Minnerede auf Inklusion und Partizipation ausgelegt ist, nicht auf jene Exklusion, die Effekt von Fiktionalisierung ist. Es muss als ‚Ich-Hohlform‘ jene Rolle bereit halten, die sich jeder schriftliche oder mündliche Gebrauch der Minnerede zu eigen machen kann40 und darf die Erzähler-Figur deshalb nicht fiktionalisieren. Das Frauenbuch, das über eine deutlich konturierte Erzähler-Figur verfügt, präsentiert sich insbesondere dadurch, dass der Erzähler auf der Figurenebene als ‚Ulrich von Liechtenstein‘ adressiert wird, als ein fiktionaler Text. ‚Ulrich‘ ist keine Hohlform, der Rezipient kann seine Position als Erzähler nicht einnehmen, weil die Erzählerfigur nicht konturlos bleibt, um zur Partizipation und Rollenübernahme einzuladen, sondern ein spezifisches Profil, das sich aus Anspielungen an den Frauendienst speist,
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Lieb (Anm. 20), S. 6. Auf diesen wichtigen Aspekt einer ‚Anschlusskommunikation‘ weisen Lieb und Strohschneider hin: „Textanalytisch zu greifen wären derartige Funktionalitäten zum Beispiel an den in gewisser Weise ‚offenen‘ Textenden nicht weniger Minnereden: Wenn etwa der Erzähler seine Minnerede mit der Bitte beendet, es möge nun ein anderer weiterreden, wenn Streitgespräche unentschieden bleiben oder wenn Urteilsfindungen in Minneprozessen einem Publikum übertragen werden. In solchen Fällen liegen Textgestalten vor, die die textinternen Minnediskurse gerade nicht abschließen, sondern an die textexterne Anschlußkommunikation der Hörer sozusagen weiterreichen, und augenscheinlich nur dann funktionieren können, wenn man für die Gemeinschaft derjenigen, die unter anderem auch im Medium einer (oder mehrerer) Minnerede(n) kommunizieren, voraussetzen kann, daß über die Inhalte und Formen der konversationellen Behandlung von Minnefragen wie über Minneformen im wesentlichen (gar selbstverständliches) Einvernehmen besteht.“ Ludger Lieb und Peter Strohschneider. „Zur Konventionalität der Minnerede. Eine Skizze am Beispiel von des Elenden Knaben ‚Minnegericht‘.“ In: Literatur und Wandmalerei II. Konventionalität und Konversation. Burgdorfer Kolloquium 2001. Hrsg. von Eckart Conrad Lutz, Johanna Thali und René Wetzel. Tübingen 2005, S. 109–138, hier S. 127 f.
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besitzt. Das Frauenbuch kann also schon deshalb keine „nichtfiktionale Sachliteratur“41 sein,42 weil der Erzähler einen Namen besitzt.
2. Das Frauenbuch als Minnerede? Insbesondere die letzte Merkmalsauflistung macht bereits deutlich, worin die Problematik einer Subsumierung des Frauenbuchs unter die Gattung Minnerede besteht. Ich beginne mit den unproblematischen Übereinstimmungen: Das Frauenbuch ist im Ambraser Heldenbuch als selbständiger Text überliefert, würde also die Bedingung der Selbständigkeit erfüllen.43 Es ist in Reimpaarversen, also einer einfachen und nicht sangbaren literarischen Form abgefasst. Problematisch ist jedoch bereits die Frage, ob die erörternde Rede im Falle des Frauenbuchs die epi41
42
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„Neben dem Minnesang und dem höfischen Roman […] existiert dabei von Anfang an auch eine praxisorientierte – man kann vielleicht sagen: nichtfiktionale Sachliteratur – zum Thema Minne. Frühe Beispiele sind ‚Der heimliche Bote‘ und Hartmanns ‚Klage‘ sowie insgesamt die von Ingeborg Glier als ‚Vorläufer‘ der Minnereden bezeichneten Werke: ‚Das (zweite) Büchlein‘, Strickers ‚Frauenehre‘ oder Ulrichs von Liechtenstein ‚Frauenbuch‘.“ Wolfgang Achnitz. „Heilige Minne. Trivialisierung und Sakralisierung höfischer Liebe im späten Mittelalter.“ In: Lieb und Neudeck (Anm. 20), S. 139–164, hier S. 141. Es sei hier nur daran erinnert, dass Haug die Fiktionalität zur Voraussetzung der Entstehung des literarischen minne-Diskurses gemacht hatte: „Es war nur dann möglich, das erotische Thema im Sinne einer personalen Du-Beziehung literarisch zu behandeln, wenn es nicht in Konflikt mit jenen Diskursen geriet, die die Problematik von Geschlechtlichkeit, Erotik und Ehe in dieser oder jener Form mehr oder weniger nachhaltig für sich gelöst hatten. Und die Bedingung dafür bestand eben darin, daß die literarische Darstellung nicht mit dem Anspruch auf Wahrheit im traditionellen Sinn auftrat, sondern sich bewußt als Fiktion gab.“ Walter Haug. Die höfische Liebe im Horizont der erotischen Diskurse des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Berlin, New York 2004 (Wolfgang Stammler Gastprofessur für Germanische Philologie 10), S. 45. Auch die Minnerede kann es nicht, doch ihre Sprechhaltung legt nahe, dass sie als solche gebraucht und angeeignet werden will. Doch mit seiner unikalen Überlieferung das Kriterium der weiten Verbreitung verfehlen: „Der Begriff des Trivialen impliziert dabei fehlende ästhetische Qualität, stereotype Formelhaftigkeit und weite Verbreitung.“ Achnitz (Anm. 41), S. 142. Bezeichnenderweise sind die meisten Werke, die als ‚Büchleintyp‘ klassifiziert werden, unikal, zumindest nicht ‚weit‘ oder gar ‚massenhaft‘ verbreitet, wie es die Definition des Trivialen, über das die Minnerede beschrieben werden soll, vorschreibt. Auch die Überlieferung wäre also ein wichtiges Argument für die Frage, ob der ‚Büchleintypus‘ aus der Tradition der Minnerede herausgehalten werden sollte oder nicht.
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schen Anteile überwiegt. Den Hauptteil des Frauenbuches bildet zwar der Dialog zwischen Ritter und Dame, doch dieser ist unzweifelhaft in die Vergangenheit versetzt, es ist ein erzählter Dialog, bzw. erzählte Rede. 2.1. Die literarische Form: Rede oder Erzählung? Das Frauenbuch beginnt mit einer Ich-Rede im Präsens: Got müeze wîbes êren pflegen, daz ist mîn stæter morgensegen. got müez ir sêl und lîp bewarn, got lâz si nimmer missevarn (V. 1–4),
die in V. 39 in eine Erzählung im Präteritum umschlägt: Ez saz ein schœniu vrouwe guot bî einem ritter hôchgemuot. (V. 39 f.)
In diese Erzählung ist die direkte Rede von Dame und Ritter eingelassen. Damit durchläuft das Frauenbuch bereits in den ersten 50 Versen drei verschiedene Erzählmodi: Ich-Rede eines Erzählers im Präsens (V. 1–38), Erzählung in der dritten Person im Präteritum (V. 39–44) und direkte Figurenrede im Präsens (V. 45–1820). Einerseits löst mit V. 45 die Rede die Erzählung ab, denn bis zu V. 1821 wird der Erzähler sich kein einziges Mal mehr zu Wort melden. Andererseits ist die Figurenrede, auch wenn sich die Erzählung gleichsam aus ihr zurückzieht, von der Narration überlagert, denn sie ist eindeutig als ‚erzählte Rede‘ markiert, d. h. nur der grammatischen Form nach unmittelbar und gegenwärtig, vom Erzählmodus her aber in der Wiedergabe durch den Erzähler bereits vergangen. Zwar sprechen Dame und Ritter im Präsens, und insofern ihr Dialog den größten Anteil des Frauenbuchs ausmacht, kann man sagen, dass „die epischen Elemente im Frauenbuch nur minimal ausgestaltet [sind]“.44 Andererseits ist der Dialog als ganzer Gegenstand der Erzählung im Präteritum. Schon Fischer hatte darauf hingewiesen, dass „auffällig viele Minnereden […] die Form einer Gesprächsszene haben, die häufig noch in eine kleine Rahmenhandlung […] gekleidet ist“.45 Dabei ist sie nicht nur typisch für Minnereden, sondern formal identisch mit der Figurenrede, die in jeder Gattung begegnet: Im höfischen Roman, im Heldenepos, sogar 44 45
Brüggen, „Minnelehre und Gesellschaftskritik“, S. 89. Fischer (Anm. 23), S. 41.
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im späten Minnesang.46 Doch „in diesen Szenen ist der Dichter fast immer unmittelbar beteiligt, sei es als Elocutor eigener Minneempfindungen, sei es als Mitunterredner, Schiedsrichter oder Belauscher einer wertenden Diskussion“.47 Brandis nennt als die beiden typischen Funktionen der erzählenden Sprechweise die Rahmenhandlung, in die entweder Gesprächsszenen eingebunden sind oder Reden und Gespräche. Aus seiner Beschreibung wird deutlich, dass sie jedoch stets als Homodiegese konzipiert ist. Die Erzählung im Präteritum wird also als Ich-Rede konzipiert: Der Aufbau dieser – häufig als Traum dargestellten – Rahmenerzählung ist stereotyp: Eingang […]: Schlaflosigkeit – Spaziergang – Verirrung – Entdecken eines wunderbaren Ortes, Hauptteil (die Erzählung beschränkt sich auf wenige überleitende Sätze): Belauschen einer Rede oder eines Gesprächs – Vortreten – Begrüßung – Vorstellung – Fragen und Antworten – Abschied – Heimkehr.48
Der Erzähler Ulrich ist demgegenüber zunächst und die meiste Zeit des Dialoges über nicht nur nicht unmittelbar an dem Dialog, den er schildert, beteiligt, sondern er ist nicht einmal als stiller Zuhörer in die Gesprächssituation einbezogen. Er erzählt vo m Gespräch zwischen Dame und Ritter, aber er nimmt anfangs nicht an ihm teil.49 Darüber hinaus ist 46
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Vgl. Jan-Dirk Müller. „Ritual, Sprecherfiktion und Erzählung. Literarisierungstendenzen im späteren Minnesang.“ In: Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik. Hrsg. von Michael Schilling und Peter Strohschneider. Heidelberg 1996, S. 43–76. Fischer (Anm. 23), S. 41. Brandis (Anm. 4), S. 10. Deshalb ist die Nähe des Frauenbuchs zur Minnerede vom Typ ‚belauschtes Streitgespräch‘ auch nicht so groß, wie Glier meint: „Ersetzt man im ‚Frauenbuch‘ etwa den Büchleinrahmen durch eine Spaziergangseinleitung, so wäre es ohne weiteres dem Minneredentyp ‚belauschtes Streitgespräch‘ zuzuordnen.“ Glier, Artes amandi, S. 44. Vgl. auch Youngs Stellenkommentar (Frauenbuch, Ed. Young, Komm. zu V. 39–44): „Das Frauenbuch hat zwar eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Minneredentypus des belauschten Gesprächs, ist aber mit diesen in seiner Gestaltung nicht identisch […].“ Young verweist auf Brüggen, die das Fehlen einer Situationsausgestaltung nicht nur benennt, sondern zu erklären versucht: „Es erscheint verlockend, die Aussparung dieser Elemente mit der Eigentümlichkeit der Liebesdiskussion in Liechtensteins Text in Verbindung zu bringen. Die Minnethematik wird ‚im Kontakt mit konkreten sozialen Gegebenheiten‘ besprochen, und die negative Gesellschaftsdarstellung, die dabei erfolgt, verhindert eine unproblematische Bestätigung des Minneideals.“ Brüggen, „Minnelehre und Gesellschaftskritik“, S. 89, mit Verweis auf: Ursula Schulze. „Didaktische Aspekte in der deutschen Literatur des Mittelalters. Vanitas- und Minnelehre.“ In: Propylän Geschichte der Literatur. Bd. 2. Berlin 1982, S. 461–482, hier S. 480.
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der Dialog aber auch keine Erörterung einer Ich-Rolle, sondern die von literarischen Figuren, die zunächst in keinem erkennbaren Zusammenhang mit dem Erzähler stehen und auf einer anderen narrativen Ebene angesiedelt sind als er – sie befinden sich in einer Metadiegese. Bis zu V. 1823 bleibt der Erzähler ein heterodiegetischer Erzähler.50 Der Unterschied erschließt sich über einen Vergleich mit konventionellen Formen der Rede-Eröffnung. Ulrich konnte die Eröffnung des Frauenbuchs durch Erzählerrede, die zur Erzählung wird, aus der Klage Hartmanns übernehmen, denn auch sie beginnt mit einer Ich-Rede im Präsens: Minne waltet grôzer kraft, wande sî wirt sigehaft an tumben unde an wîsen, an jungen unde an grîsen, an armen unde an rîchen (V. 1–5),51
um dann ins epische Präteritum zu fallen: gar gewalteclîchen / betwanc sî einen jungelinc (V. 6 f.) und schließlich direkte Rede anzuschließen: sîn lîp zuo sînem herzen sprach / Ouwê, herze unde sîn, / wærest dû iht anders danne ich bin (V. 32–34). Zahlreiche Minnereden beginnen auf diese Weise, so die Minnelehre des Johann von Konstanz, die mit einer prologartigen Publikumsanrede in Ich-Form eröffnet wird, die er mit folgenden Worten beschließt: ich wil nit mere biten, / ich welle iv vf gnade sagen / baidvi kvinden vnde clagen, / wie hie vor mir geschach (V. 42–45).52 Im nächsten Vers wird die Rede zur Erzählung, das Präsens zum Präteritum: Ich gedahte vnde sprach: „ich wolte von der Minne wenden mine sinne baidui genzclich vnde gar.“ do dez die Minne wart gewar […] (V. 46–50)
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Heterodiegetische Erzählungen sind „Erzählungen, in denen der Erzähler nicht zu den Figuren seiner Geschichte gehört und in denen dementsprechend die dritte Person dominiert (in diesem Fall gibt es kein erlebendes, sondern nur das erzählende, als leibliche Person womöglich gar nicht faßbare Ich des Sprechers der Erzählrede).“ Matias Martinez und Michael Scheffel. Einführung in die Erzähltheorie. 3. Auflage. München 2002, S. 81. Das Klagebüchlein Hartmanns von Aue und das Zweite Büchlein. Hrsg. von Ludwig Wolff. München 1972 (Altdeutsche Texte in Kritischen Ausgaben 4). Die Minnelehre des Johann von Konstanz. Hrsg. von Dietrich Huschenbett. Wiesbaden 2002.
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Doch die kurzen Auszüge aus der Minnelehre und der Klage machen bereits die Unterschiede zum Frauenbuch deutlich: Der Erzähler der Minnelehre ist kein heterodiegetischer, sondern ein homodiegetischer, er erzählt von einer Situation, in der er selbst spricht, er gibt also wieder, was er selbst gesagt hat. Und in Hartmanns Klage wird der Bezug nicht nur zwischen dem jungelinc und dem Autor Hartmann von Aue, sondern auch zwischen ihm und den Dialogpartnern herausgestellt, die herze und lîp des Erzählers sind, so dass das Gespräch als Selbstgespräch gedeutet werden kann.53 Demgegenüber ist es im Frauenbuch nicht der Erzähler Ulrich, der das Geschehen trägt, sondern eine Dame und ein Ritter. Erst nachträglich wird der Dialog, der den Hauptteil des Textes bildet, als eine Art Ich-Erzählung gedeutet,54 indem der Erzähler ‚Ulrich‘ in V. 1821 wieder im Text erscheint: Sô dô er [der Ritter] die rede gesprach / ein lützel er sô umbe sach. / dô sach er mich zuo im gân (V. 1821–1823). Damit weicht das Frauenbuch von der üblichen Sprechhaltung von Minnereden ab, denn unabhängig davon, ob diese erzählen, reden oder vom Reden erzählen, erzählt oder redet doch stets der Ich-Erzähler der Minnerede von sich und nicht von Dritten. Der Erzähler des Frauenbuchs führt jedoch die Figuren, die sich unterhalten, nicht als seine Interaktionsoder Gesprächspartner ein, er trifft nicht während eines Spaziergangs auf sie, er träumt nicht von ihnen, sondern er erzählt davon, dass in einer epischen Vergangenheit ein vrouwe und ein ritter guot beieinander saßen und miteinander sprachen. Diese Kluft, die zwischen der Erzählerrede im Präteritum und dem Figurendialog im Präsens liegt, wird noch dadurch unterstrichen, dass die Überwölbung der Rede durch die Erzählung bis zum Zeitpunkt des Eintritts des Erzählers in V. 1821 völlig in den Hintergrund tritt. Keine einzige inquit-Formel vermittelt zwischen Frage und Antwort, keine Unterbrechung der direkten Rede und kein Kommentar erinnern daran, dass Dame und Ritter nicht in der unmittelbaren Gegenwart der
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Vgl. hierzu: Susanne Köbele. „Der paradoxe Fall des Ich. Zur Klage Hartmanns von Aue.“ In: anima und sêle. Darstellungen und Systematisierungen von Seele im Mittelalter. Hrsg. von Katharina Philipowski und Anne Prior. Berlin 2006 (PhStQu 197), S. 265–283; und im selben Band Katharina Philipowski. „Bild und Begriff. sêle und herze in geistlichen und höfischen Dialoggedichten des Mittelalters“, S. 299–319. Vgl. hierzu Glier, Artes amandi, S. 405, die hinweist auf Minne und Gesellschaft, Brandis, Nr. 480, und Der Minne Freud und Leid des Elenden Knaben, Brandis, Nr. 402.
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Rede sprechen, sondern in der Vergangenheit der Erzählung.55 Insofern sind für die Bestimmung der Poetik dieses Textes weniger entscheidend „die Inszenierungs-Schemata, die Ulrich zusammenmontiert hat: den – vom ‚Heimlichen Boten‘ und von Hartmanns ‚Klage‘, aber auch von Ulrichs eigenem ‚Frauendienst‘ her bekannten – Typus des ‚Büchleins‘, der Liebesbrief und Minnelehre kombiniert; und die Situation des belauschten Streitgesprächs, das der Dichter schlichtet“,56 sondern vielmehr die Verknüpfung von Erzählerrede und Figurenrede und damit die von Präteritum und Präsens. Dem Wechsel vom epischen Präteritum der Erzählerrede zur Unmittelbarkeit der Figurenrede in V. 45 korrespondiert der Wechsel aus der Figurenrede zurück in die Einbindung durch die Erzählerrede, also der Einbruch des Epischen in die Illusion des Gegenwärtigen, die sich in V. 1821 vollzieht. Dieser Wechsel von der Heterodiegese zur Homodiegese stellt sich jedoch nur auf einen ersten Blick als unvermittelt und unvorbereitet dar. Denn der Erzähler Ulrich beherrscht die Szene schon eine Weile, bevor er auf der Textoberfläche in Erscheinung tritt, nämlich von jenem Punkt an, an dem die Dame den Ritter im Anschluss an seine Ausführungen dazu, wie vrouwe, maget und vriundîn leben sollten, bittet, ihr zu sagen, wo ein Mann zu finden sei, der si herwider alsô kan minnen unde meinen mit sinnen alsô reinen, daz er ir niht entwenke und daz an ir bedenke, daz si im hât durch liebe gegeben ir schœne, ir lîp und ouch ir leben. (V. 1198–1204)
Diese Frage gibt dem Ritter Gelegenheit zu einem Hymnus auf die tugendhaften Männer, die sich vollständig dem Frauendienst unterwerfen und ihr Leben den süezen vrouwen weihen, diejenigen also,
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Unterstrichen wird die Kluft zwischen Erzählung und Rede darüber hinaus dadurch, dass keine Situation die Rede kontextualisiert. Der Übergang von Erzählung zu Rede ist abrupt, die Ausgestaltung der Dialogsituation fällt überaus knapp aus. Bis auf die Tatsache, dass Dame und Ritter zusammensitzen, fehlt jede Ausschmückung durch Angaben zum Raum, zur Jahreszeit oder zu den Protagonisten. Heinzle (Anm. 2), S. 153. Glier, Artes amandi, S. 44, bezeichnet das Büchlein als „einen Mischtyp […], in dem Liebesbrief und Minnetraktat ganz verschieden verbunden werden können“.
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den ir gemüete von wîbes güete stîget hô und die iuch an ze sehen vrô sint im herzengrunde, und den von vrouwen munde tuot ein grüezen alsô wol, daz si dâ von sint vreuden vol. (V. 1376–1382)
Dem Prolog zufolge kann mit dieser Beschreibung nur Ulrich selbst gemeint sein.57 Er ist derjenige, der „zuo aller stunde / mit herzen und mit munde / vrouwen êre [machet] breit, / und vrô [ist] wîbes werdekeit / und wîbes lop ouch [mêret]“ (V. 1403–1407). Denn seine Dame macht ihn vrô im herzengrunt. mir waz nie niht sô guotes kunt als si vil guote: diu ist alsô, des stât mîn muot von schulden hô. […] daz tuot im herzengrunde mir sô sanft und alsô rehte wol, daz ich bin hôher vreuden vol. (V. 23–32)
Dadurch, dass sich Ulrich im Lobpreis des Ritters im Text ankündigt, wird auch die überschwängliche und überzeichnete Reaktion der Dame auf ihn bezogen, die einen solchen Ritter, gäbe es ihn denn, auf Händen tragen (V. 1484), sich ihm zu Füßen werfen (V. 1482), ihn als Engel betrachten (V. 1496) und sich vor ihm bis zum Boden verneigen würde (V. 1504 f.).58 Denn in Prolog und Epilog inszeniert sich Ulrich als eben der vollkommene Ritter, der hier im Gespräch von Dame und Ritter beschworen wird. In der Idealisierung durch den Ritter und der tiefen Verehrung eines solchen Mannes durch die Dame wird der Auftritt dessen, der durch seine Vorbildlichkeit Licht ins Dunkel des Geschlechterkampfes zu bringen vermag, angekündigt, bis schließlich mit einem Paukenschlag von Liechtenstein herr Ulrich (V. 1828) als deus ex machina im Text erscheint. Dass Ulrich seinen Figuren gegenüber nicht nur die Rolle des Schiedsrichters einnimmt, sondern auch die des unverbesserlichen Frauendieners, macht der Ritter mit einer Anspielung auf die Rolle Ulrichs im Frauendienst selbst deutlich: herre, mir was daz ê bekant, daz ir den vrouwen zuo gestât. jâ waz ez ie iuwer rât,
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Vgl. Hofmeister, „Minne und Ehe“, S. 133. Vgl. Brüggen, „Minnelehre und Gesellschaftskritik“, S. 96 f.
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daz den vrouwen alle man mit dienste wæren undertân und tuon reht swaz si wolten. (V. 1950–1955)
Es liegt auf der Hand, dass Ulrich aufgrund dieses Rufes von der Dame59 als Entscheidungsinstanz eingesetzt wird. Denn sie ist es und nicht der Ritter, die ihn mit folgenden Worten zum Richter bestellt: nû sult ir, herre, daz sagen mir, welhez doch der schult müge mêr hân an disen dingen, wîp oder man. ditz sult ir mir machen bekant, sît iuch got hât zuo uns gesant. (V. 1862–1866)
Doch von dem Moment an, als Ulrich, ohne dass sein Name schon fallen müsste, als Erlöser einer aus den Fugen geratenen Welt ins Gespräch zwischen Dame und Ritter als Vision einer rehabilitierten Ordnung einbezogen wird, entsteht eine eigentümliche Rollenverkehrung, die sich insbesondere am Verhalten des Ritters abzeichnet: Dessen Lobpreis auf die vorbildlichen Frauendiener setzt ihn selbst herab. Denn dem Ideal dessen, der durch den Frauenpreis selbst vröide und hohen muot zu erlangen und hervorzurufen vermag, stellt der Ritter den Verachtenswerten gegenüber, der sich durch Schmähsucht und Geringschätzung den Damen gegenüber auszeichnet: er hebt sâ ein ander mære, daz baz verswigen wære. hât indert ein wîp ie missetân, sîn munt daz wol gesagen kan. swâ ein wîp güetlîchen tuot des hât er niht ze sagen muot. mit worten er si unêret, ir leben er in verkêret. sîn lîp in êren niht engan. er giht: „diu hât daz und daz getân.“ er zîhet si jenes, er zîhet si des, er zîhet si er enweiz selber wes, wan daz sîn lîp dâ an der stunt den liuten allen machet kunt, daz er den vrouwen niht êren gan und liebe nie gên in gewan. (V. 1665–1680)
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Und nicht „von beiden Dialogpartnern“, wie Behr, „Frauendienst als Ordnungsprinzip“, S. 4, meint.
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Wenn man an dieser Stelle rekapituliert, was der Ritter im Laufe des Gespräches den Damen vorgeworfen hatte, nämlich, dass sie den Männern keinen hohen muot mehr bereiteten, sich reizlos kleideten, dass sie ihre Zeit mit bigotter Frömmelei vertäten, schließlich sogar käuflich seien, sich nur zahlungskräftigen Liebhabern zuwendeten und damit leichtfertig ihre Ehre aufs Spiel setzten, dann wird klar, auf wen die Worte des Ritters zu beziehen sind, nämlich auf ihn selbst, bzw. die Position, die er anfangs selbst vertreten hatte. Denn er selbst ist es gewesen, der Unvermögen, Lasterhaftigkeit und Schwächen der Damen unnachsichtig angeprangert hatte. Dass er nun diejenigen als vorbildlich bezeichnet, die das Lob der Damen zu verkünden wissen, zeigt, dass sich eine unterschwellige Veränderung im Text anbahnt, die ihn zum Verlierer in der Auseinandersetzung mit der Dame werden lässt: Die Idealisierung der Damen durch Ulrich, die bereits im Prolog angeklungen war und durch den Epilog den Text abschließen wird, beginnt nun auch das Gespräch zwischen Ritter und Dame zu dominieren. Dass der Ritter sich plötzlich selbst widerspricht, indem er verurteilt, was er zuvor selbst vertreten hatte (nämlich den Damen vorzuhalten, „diu hât daz und daz getân“), und jenes Verhalten preist, das der Prolog Ulrich zugesprochen hatte, nämlich beständigen Frauendienst, bezeugt eine merkliche Veränderung des Tones. Die Figur agiert hier nicht mehr als Rollenträger, vielmehr legt der Erzähler ihm Worte in den Mund, die sich als ein roter Teppich vor Ulrich ausrollen, den er in V. 1821 nur noch zu betreten braucht. Dass der Erzähler Ulrich sich solcherart seiner Figuren bemächtigt, kennen wir bereits aus dem Frauendienst. Dort haben zahlreiche Figuren ausschließlich die Funktion, die Heldenhaftigkeit, den Mut und den bedingungslosen Dienstwillen des Frauenritters Ulrich zu beobachten, zu bezeugen oder zu kommunizieren,60 also durch ihre Bewunderung und ihr Lob seine Außerordentlichkeit zu bestätigen wie Heinrich von Wasserburg. Er wird Zeuge eines minne-Wunders: Ulrich fließt vor Bestürzung über die unerwartete und unverdiente Zurückweisung durch seine Dame das Blut aus Mund und Nase.61 Während Ulrich damit erleidet, was in der Epik Beglaubigung höchster stæte und triuwe ist und oft den bevorstehenden Liebestod einleitet, lobt Heinrich Gott dafür, dass
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Wie der Bote der Dame, der heimlich Ulrichs Reaktion auf den Gunstentzug seiner Dame beobachtet. Vgl. zu dieser Episode den Beitrag von Eming im vorliegenden Band, S. 198–202.
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er vor seinem Tode noch den Mann sehen dürfe, der tadellos und makellos den Damen zu dienen versteht:62 Das parodierte Bibelzitat [Luc. II, 26] macht deutlich, daß die Frauentheologie Ulrichs ihn selbst als Minneheiligen oder besser: Minne-Heiland erscheinen läßt. Diese Sakralisierung des Diesseitigen profaniert das Jenseitige, die Ebenen des Weltverständnisses werden ebenso in das ‚raffinierte Spiel‘ einbezogen wie die literarischen Gattungen und Techniken, diesem Autor ist alles frei verfügbar geworden.63
Über Topoi, Erzählverfahren, Perspektivwechsel und die klassischen Motive der höfischen minne-Literatur verfügt Ulrich auch im Frauenbuch virtuos und er nutzt sie auch hier wieder dazu, die Figur des Frauendieners ‚Ulrich‘ auf so übertriebene Weise zu erhöhen, dass ein komischer Effekt entsteht. Anders als im Frauendienst wird Ulrich hier jedoch nicht mehr durch sein Handeln, also den Vollzug des Frauendienstes und die Bewertung dieses Handelns durch Andere als geradezu messianischer Frauendiener dargestellt, sondern bereits durch seinen Ruf („herre, mir was daz ê bekant, / daz ir den vrouwen zuo gestât“, V. 1950 f.) und durch das Reden über Damen. minne-Dienst ist hier zu einer abstrakten Leistung geworden, die sich in ihrem Vollzug selbst reflektiert und den Geltungsanspruch voraussetzt, der im Frauendienst begründet wird. Dient Ulrich im Frauendienst seiner Dame durch Turnier und Gesang, so besteht der dienst im Frauenbuch in diesem selbst: Ulrich dient durch den Vollzug von Rede und Erzählung, letztlich also durch Erzählung von Rede (im Bezug des Prologes auf den Erzählteil, Ez saz ein schœniu vrouwe guot / bî einem ritter hôchgemuot) und Rede über Erzählung (im Epilog). Frauendienst ist im Frauenbuch weniger Kommunikation als Meta-Kommunikation, es ist kein Sprechen über die Voraussetzungen erfolgreichen Frauendienstes, sondern ein Sprechen darüber, wie über Frauen und Frauendienst gesprochen wird und wie dieses Sprechen zu beurteilen ist.64 62
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‚vil süezer got, des lob ich dich, / daz du vor minem tode mich / hast lazen noch den man gesehen, / dem ich von warheit mac gejehen, / daz er ein wip minne ane chranc / und gar ane aller slahte wanc!‘, 1043,3–8. Frey, „Zum Funktionswandel der Minnelyrik“, S. 55. Mit dem ‚raffinierten Spiel‘ zitiert Frey Peters, Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein. Lieb und Strohschneider (Anm. 40), S. 130, Anm. 46, verwenden zur Adressierung dieses Sachverhaltes den Begriff der ‚Vorratsformulierungen‘. Sie sind „als ‚Einübungen‘ zu verstehen, als Formulierungsangebote, die innerhalb der Minnekommunikation verwendet werden können. Sie zielen also auf die Ermöglichung kommunikativer Handlungen. Es ist von daher auch plausibel, daß […] im Corpus der Minnereden gerade nur wenige Sentenzen nachweisbar sind“.
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Aus dieser Differenzierung erschließt sich der Aufbau des Frauenbuchs, also seine Untergliederung in einen Erzählrahmen aus Prolog und Epilog (die gemeinsam die Werbung um die Gunst von Ulrichs Dame vollziehen) und den Dialogteil, in dem die desolate Welt von Ritter und Dame beschrieben wird, an der Ulrich aber durch seine Außenposition keinen unmittelbaren Anteil hat. Deshalb kommt er, als er in das Gespräch eintritt, gleichsam von außen und nur dadurch wächst ihm auch die Autorität zu, mit der er das Urteil nicht nur fällt, sondern dem Ritter gegenüber durchsetzt. Denn die Werteordnung des Ich-Erzählers Ulrich, die sich in Prolog und Epilog ausspricht, ist von den Verwerfungen der Welt im Dialogteil unberührt, sie muss es sein, um sie durch die eigene Idealität korrigieren zu können. Doch die Räume makelloser Idealität und tief greifender Entfremdung nähern sich mit dem Eintritt Ulrichs in den Dialog immer weiter an. Ulrich gewinnt bereits vor seinem Erscheinen dort im Gespräch der beiden Kontur, und zwar durch die Beschreibung tugendhaften dienens, das er gleichsam personifiziert: dâ von ein wîp sol minnen den man, / der stæte gên ir wesen kan (V. 1819 f.). Das sind zwar die Worte des Ritters, doch sie klingen wie die des Erzählers, der im Prolog immer wieder seine eigene stæte beteuert: ich bin gên ir gar wankels frî, / ich bin ze dienst ir vil bereit / mit lûterlîcher stætekeit. / ich bin ir stæter dienestman / mit triuwen als ich beste kan (V. 12–16), und sie scheinen ihn auch zu meinen. Ulrich agiert vom Zeitpunkt seines Eintritts in das Gespräch an als Antagonist des Ritters, der durch ihn zur Negativfigur wird; Ulrich verteidigt ihm gegenüber die Damen und er drängt ihn dazu, seiner Gesprächspartnerin den Sieg zuzuerkennen.65 Erst aus der Perspektive des Epilogs wird plausibel, warum: Das ganze büchlein ist Werbung und hat die Funktion, der Umworbenen die lûter stætekeit (V. 2083) Ulrichs vor Augen zu stellen und die Vision einer Welt, die des Frauendienstes ermangelt. Wenn der Ritter „zum Abschluss seiner Minnelehren […] die vollkommene Minne schildert, fordert und preist er die stæte“,66 aber er schildert, fordert und preist sie nicht, weil sie eine Voraussetzung für das höfische Miteinander wäre – wenige Verse zuvor hatte er das genaue Gegenteil davon propagiert – sondern weil die stæte das Stichwort für Ulrichs Frauendienst-Ideologie nicht nur im Frauendienst, sondern auch im Frauenbuch ist. Frauendienst 65
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Obgleich sein Urteil keinen Sieger, sondern nur Verlierer schafft: Die Dame wird auf die Unterordnung unter den Willen des Mannes verpflichtet, diesem aber wird die Schuld für die Freudlosigkeit zugewiesen. Glier, Artes amandi, S. 43.
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aber kann nur dort stattfinden, wo dem Frauendiener von seiner Dame hoher muot verliehen wird. Versäumt sie das, so trägt sie eine Teilschuld daran, wenn die Welt degeneriert zu einer, diu […] niht vreuden hât / und alsô jâmerlîchen stât (V. 1897 f.). Ulrich beherrscht den Text jedoch nicht nur auf der Ebene der histoire, indem er das Gespräch zwischen Dame und Ritter maßgeblich lenkt, sondern auch auf der Ebene des discours. Denn mit seiner Ankunft ist der Text von der Rede im Präsens wieder zur Erzählung im Präteritum geworden. Die einzelnen Redebeiträge sind nun kürzer und anders als vor seiner Ankunft stets eingeleitet durch inquit-Formeln: Ich sprach: (V. 1931), Dô sprach der ritter al zehant: (V. 1949), „Nein zewâr“, sprach ich zehant (V. 1975) oder er sprach: (V. 2001). Der Text stellt sich damit als symmetrisch aufgebaut dar: Er beginnt mit dem Prolog als Ich-Rede im Präsens (V. 1–38), wird fortgesetzt als Erzählung im Präteritum (V. 39–44), um im Mittelstück zur Rede in Form eines Dialoges zu werden (V. 45–1820). Schließlich fällt der Text wieder in die Erzählung im Präteritum (V. 1821–2003) und im Epilog in die Ich-Rede im Präsens (V. 2004–2034). Es dürfte bereits deutlich geworden sein, dass der Wechsel von Erzählung und Rede, Rede und Erzählung im Frauenbuch nicht kontingent ist: Der Erzähler führt sich selbst im Prolog als vorbildlich Minnender ein und erzählt dann von der Auseinandersetzung zwischen einer Dame und einem Ritter, die eine freudlose Welt beklagen, ohne eine Lösung für ihre Probleme zu finden. Die Ausweglosigkeit, die sich in ihrem Gespräch immer deutlicher abzeichnet, bildet den Hintergrund von Ulrichs Auftritt in einer Welt, die jenes Zusammenhaltes entbehrt, den nur der Frauendienst hervorrufen kann. Ulrich ordnet das Verhältnis zwischen Dame und Ritter neu, und zwar nicht erst durch sein Urteil, sondern bereits dadurch, dass er als Bote und Repräsentant von Idealität und höfischer vreude aus dem Erzählrahmen der Diegese in die Metadiegese einbricht und so eine Hierophanie des Höfischen in einer radikal ungeordneten und freudlosen Welt vollzieht. Für diesen Aufbau ist es zwingend, dass nicht Erzähler-, sondern reine Figurenrede den Mittelteil dominiert. Die Rolle, die Ulrich spielt, wird maßgeblich durch den Erzählmodus inszeniert und in ihm gespiegelt.
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2.2. minne-Thematik Die Erzählhaltung ist also nicht allein relevant für die Beurteilung der Gattungszugehörigkeit des Frauenbuchs, sondern insbesondere auch für sein Verständnis, das sich maßgeblich im Aufbau von Erzähl- und Redeformen erschließt. Entscheidend für die Frage, ob das Frauenbuch in die Tradition der Gattung ‚Minnerede‘ eingeordnet werden kann oder nicht, ist jedoch vor allem die thematische Fokussierung auf das Thema minne. Um minne aber geht es im Frauenbuch im Grunde gar nicht. Sie dominiert zwar den Rahmen, also Prolog und Epilog, und insofern das Frauenbuch sich als dienst an der minne-Dame versteht, ist der gesamte Text von der minne-Thematik überwölbt. Doch auf einer inhaltlich-thematischen Ebene geht es um die Frage der Dame, wâ von sît ir man als unfrô? (V. 47), und damit um „eine in die Form des Streitgespräches gebrachte Klage über den Verfall ritterlich-höfischer Lebensweise in der Gegenwart“.67 Zwar „rückt in den deutschen Minnereden mehr und mehr in den Mittelpunkt, daß die fast noch größere Aufgabe darin besteht, miteinander in triuwe und stæte zu leben, und zwar meist ohne daß die rechtliche und kirchliche Sanktion der Ehe maßgebend einbezogen würde“,68 doch bildet diese Vision in der Regel nur den Anlass des Sprechens über Wesen, Äußerungsformen und Bedeutung der minne. Das Frauenbuch diskutiert demgegenüber Fragen der Lebensführung und den Umgang der Geschlechter im gesellschaftlichen Leben. Als Ulrich in das Gespräch eintritt, fasst die Dame es ihm gegenüber als eine Unterhaltung darüber zusammen, wâ von wir wîp nû sîn unvrô und uns der muot niht stîget hô, swaz dinges uns des irret und swaz uns wîben wirret, des hân ich im hie vil gesaget, im etslîchez doch verdaget. ouch hât er mich verswigen niht, swaz von uns wîben iu geschicht. swaz unser deheiniu des getuot, dâ von ir man werd ungemuot, des hât er mich berihtet gar, der leider maneges ist vil wâr. (V. 1845–1856)
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Behr, „Frauendienst als Ordnungsprinzip“, S. 7. Glier, Artes amandi, S. 13.
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Dass das Thema des Gespräches nicht in der minne besteht, wird auch dadurch bestätigt, dass weder die Dame noch der Ritter als Minnende oder an der minne Leidende eingeführt und auch im Verlaufe des Textes nie als solche dargestellt werden. Nie sprechen sie von sich selbst, sondern stets von anderen, von den biderben, von dem bœsen man, der maget oder der vriundinne, Ritter und Dame fungieren als deren Wortführer. Es gilt nicht wie für die Minnerede: „Minnende reden hier über die Minne.“69 Selbst Ulrich, der Einzige, von dem im Frauenbuch überhaupt gesagt wird, dass er minne, spricht, als er ins Gespräch eintritt, nicht von dieser, sondern von der Tugendhaftigkeit der Damen. Mit diesem Befund fällt auch ein weiteres konstitutives Merkmal der Gattung fort, nämlich die Konventionalität der Minnerede. 2.3. Konventionalität Konventionell ist der Frauenpreis, der den Dialog rahmt, doch die desolate Situation, die Gegenstand des Dialogs ist, und die Argumente, die beide Parteien anführen, um ihre Kritik am jeweils anderen Geschlecht zu untermauern, sind es nicht, denn es handelt sich bei ihm um einen Streit, der die Kontrahenten zu teils drastischen Vorwürfen ermuntert. Mögen die des Mannes an die Dame, ir grüezet uns nû niht als ê / die vrouwen gruozten werde man (V. 114 f.) oder dass iur deheiniu ist sô wol getân, / si leg an sich al solhiu kleit, / diu iu ze tragen solten leit / sîn und diu iu missestânt (V. 224–227), auch vertraut klingen, so gehören sie doch nicht zu einem sich aus stereotypen Wendungen konstituierenden Formel- oder Motivschatz wie beispielsweise das Frauenlob des Prologs und Epilogs. Die Unkonventionalität des Frauenbuchs hat vor allem zwei Gründe: Zum einen den, dass es „im Gegensatz zu allen anderen Beispielen der frühen deutschen Minnelehre […] eine neue Dimension enthält: den Humor“.70 Zweitens ist Ulrich zu diesem Zeitpunkt der einzige deutsche Autor der didaktischen Tradition, der die zwei Gegenstände Liebe und Ehe einander gegenüberstellt; außer in einigen kurzen Referenzen in den Winsbeckischen Gedichten und Die Maze […] erwähnen die bedeutenden Vertreter der Minnedidaxe (Hartmann, Stricker, das
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„Expose der Tagung ‚Triviale Minne? Konventionalität und Formen der Partizipation in spätmittelalterlicher Liebesdichtung‘“. In: Lieb und Neudeck (Anm. 20), S. 259–262, hier S. 259. Frauenbuch, Ed. Young, S. 20.
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Zweite Büchlein) die Ehe nicht […]. Wie in der Lyrik […] ist die Ehe fast nie als relevanter Faktor für die Minnebeziehung in den späteren deutschen Minnereden mitkonzipiert.71
Es liegt auf der Hand, dass beide Merkmale, also Komik und die Thematisierung von Ehe, zusammenhängen: Die Unkonventionalität des Frauenbuchs beruht darauf, dass es institutionalisierte Geschlechterbeziehungen nicht ausblendet, sondern gerade sie zu seinem Gegenstand macht. Dadurch wird eine Exklusion aufgehoben, die für die höfische Literatur bis Neidhart geradezu konstitutiv gewesen ist, weil gerade der Ausschluss des Gewöhnlichen und Niedrigen, die Ausblendung des Konkreten und Alltäglichen, jene Idealisierung und Abstraktion erzeugt, die konstitutiv ist für den literarischen Minnediskurs: Für die Liebeslyrik und speziell die höfische Liebe des Mittelalters scheint das Hauptanliegen gewesen zu sein, als nicht vulgär auftreten zu können. Deshalb die Marginalisierung des Bezugs auf Sinnlichkeit, deshalb Idealisierung, Sublimierung, gebundene Form und erst dagegen sich wieder profilierende Freizügigkeit. […] Die Hauptsache war: sich im Zuge der zunehmenden Aristokratisierung der Schichtungsstruktur des Mittelalters von der vulgären, gemeinen, direkten Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse distanzieren zu können.72
Die Thematisierung des Gewöhnlichen und Alltäglichen erzeugt einen parodistischen Effekt, der aus der Verknüpfung zweier Bereiche resultiert, die in der Literatur des Mittelalters bislang getrennt wurden, nämlich die Ideologie höfischer minne in Form von Werbung, dienst und lônBegehren und die literarische Konzeptualisierung gesellschaftlicher Ordnungen und Zwänge. Denn „der Wirklichkeitsbezug literarischen Frauendienstes ist die Negation politischer Realität“.73 Zwar kann die E h e frau begehrte und umworbene minne-Herrin sein, die H a u s frau 71 72
73
Frauenbuch, Ed. Young, Anmerkung V. 859–994. Niklas Luhmann. Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1996, S. 50 f. Einer ‚Realität‘ aber, die dort, wo sie im Text als Gegenentwurf fungiert, zur literarischen Fiktion wird. Vgl.: Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 68. Dass einzelne Texte wie der Tristan, Lancelot oder das Herzmäre die minne einer verheirateten Dame zum Gegenstand haben, ohne sie schwankhaft zu denunzieren, ist darauf zurückzuführen, dass die Dame im Fall dieser Ehebruchs-Epen weniger als Ehefrau denn als Königin und minne-Herrin konzipiert ist und das Herzmäre die Figur des Ehemannes der des Erzählers annähert, so dass die Diskrepanz zwischen den beiden Werteordnungen, in denen die Dame sich bewegt, minimiert wird. Die meisten Texte, die Ehe und minne als konkurrierende Ordnungen thematisieren, maximieren demgegenüber die Diskrepanz und erzeugen damit einen parodistischen Effekt.
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aber kann es niemals. Das thematisiert bereits der Frauendienst durch die unvermittelte Einführung der chonen (1088,5) des Protagonisten. Sie kann ihm lieber niht gesin (1088,6), doch das ändert nichts daran, dass er ze frowen do ein ander wip (1088,8) hat. Was im Frauendienst mit der Einführung der chonen angelegt worden ist, wird im Frauenbuch entfaltet: Hier sind Ritter und Dame nicht wie die Protagonisten im höfischen Roman oder Minnesang in literarische ‚settings‘ wie âventiure, Brautwerbung, lôn-Bitte etc. eingebunden, sie agieren nicht in als ‚höfisch‘ konnotierten Räumen, die die Deutung von Situation und Kommunikation festlegen oder unterstützen wie der boumegarten, der walt oder die kemenate, sondern sie argumentieren aus einer Welt heraus, die als von alltäglichen Zwängen und Nöten bestimmt stilisiert (und nicht ‚realistisch‘) und von patriarchalen Hierarchien gekennzeichnet ist. Die Frauen, von denen im Dialogteil des Frauenbuchs die Rede ist, sind keine ‚Herrinnen‘, sondern verheiratete vrouwen, megede, witwen, ledigiu wîp oder vriundinnen, sie werden nicht über ihre Schönheit und Tugend definiert, sondern über ihre sozialen Beziehungen, die sie zu Ehefrauen, Schwestern, Töchtern oder Witwen eines Mannes machen. 2.4. Institutionalisierte Geschlechterbeziehungen – Konkretisierung Das Frauenbuch thematisiert institutionalisierte Geschlechterbeziehungen, aber das macht die Darstellung nicht zu einer ‚realistischen‘ – das gilt bereits für den Frauendienst. Ulrich hatte dort Erzählgegenstände in die Darstellung einbezogen, die aus einer der Werteordnung des Höfischen fern stehenden Welt stammen: Ulrich erzählt von der medizinischen Versorgung seiner Wunden, von seinen Reisen durch einen Raum, der kein märchenhafter ist, sondern vorgibt, der außerliterarische zu sein, und er erzählt ausführlich von der Begegnung mit Personen des öffentlichen Lebens.74 Die Forschung hat dies als eine Kontrastierung
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Dieter Kartschoke nutzt diese Erzählgegenstände als „historisch treu[e]“ Angaben über mediale Bedingungen von Entstehung und Verbreitung des späten Minnesangs: „Es ist undenkbar, daß Angaben über die Möglichkeit schriftlicher Fixierung und Verbreitung von Minneliedern fingiert sein sollten, daß also beispielsweise Venusfahrt und Minnesangpraxis im Frauendienst der gleichen unsicheren Realitätsebene angehören sollten.“ Kartschoke, „Ulrich von Liechtenstein und die Laienkultur“, S. 106. Vgl. auch den Beitrag von Linden im vorliegenden Band, S. 71–73, 87–92.
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des „faszinierenden Gedanken[s] Hoher Minne“75 mit der „Wirklichkeit“,76 des „lebensweltlich-literarische[n] Spiel[s]“ mit dem „Realitätsaspekt“77 bewertet und sich dabei weitgehend darüber ausgeschwiegen, was die Kriterien sind, anhand derer bestimmt werden könnte, wo ‚Realität‘ in die literarische Fiktion hineinragt (und ob ‚Realität‘ in der Fiktion nicht zu ‚fingierter Realität‘ wird): We should hesitate to describe this awareness with the ambiguous term ‚realism‘; but it takes its place alongside the new awareness of individual social, legal and occupational realities in much thirteenth-century literature, demonstrating a new ‚external perspective‘ in the way in which the world is seen and presented.78
Auch im Frauenbuch wird mit der Thematisierung unglücklicher Ehen und scheinbar alltäglicher Tagesverläufe nicht Lebenswelt abgebildet, sondern eine als ‚Alltag‘ stilisierte Welt als Gegenmodell einer spezifisch höfischen Idealisierung des Geschlechterverhältnisses konzipiert. Der Ausschluss des Profanen aus dem höfischen Liebesdiskurs wird aufgehoben, die drastischen Übertreibungen des Frauenbuchs (Männer sind Gewohnheitstrinker und geben sich der Homosexualität hin, Frauen verkaufen sich) haben die Funktion, diese Aufhebung zu unterstreichen. Ulrich schiebt nicht „Realität und Fiktion ineinander“,79 sondern er entwirft literarische Welten, die er als Gegenmodelle konzipiert, indem sie aufeinander verweisen, weil beide durch den Ausschluss der jeweils anderen konstituiert sind. Doch während in Bezug auf Neidharts dörper längst anerkannt ist, dass Dreschflegel, Gemüsebeet und Scheune ein Minnelied nicht näher an die mittelalterliche bäuerliche Lebensrealität heranrücken, sondern mit ihnen nur eine a n d e r e Art von Stilisierung vorliegt, hebt die Forschung zum Frauenbuch immer noch den „erstaunlichen Realismus seiner Milieuschilderungen (vor allem V. 607,3 ff.: Tagesablauf des Mannes)“80 hervor, verpflichtet den Text auf eine getreuliche Darstellung spätmittel75 76 77
78 79 80
Herzog, „Minneideal und Wirklichkeit“, S. 517. Ebd. „Denn die Inszenierung des ‚Einbruchs‘ eines scheinbar das lebensweltlich-literarische Spiel in Frage stellenden Realitätsaspekts dient hier dem Autor-Ich dazu, die Überlegenheit der Literatur (Minnesang) über die Wirklichkeit nicht nur zu postulieren, sondern an ‚sich selbst‘ zu demonstrieren, damit seine ‚Macht‘ nicht nur über die Fiktion, sondern über die Lebenswelt herauszustellen.“ Kiening, „Der Autor als ‚Leibeigener‘“, S. 236. McFarland, „The Autobiographical Narrative Form“, S. 187. Wolf, „Komik und Parodie“, S. 89 (bezogen auf den Frauendienst). Heinzle (Anm. 2), S. 153.
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alterlicher adliger Lebenswirklichkeit oder geht davon aus, dass wir aus dem Dialog zwischen Ritter und Dame „einige, der Realität sicher nahe kommende Einzelheiten über den keineswegs ungetrübten Minnealltag“81 erfahren. Wo der Text diese Unterstellung brüskiert, werden „Unwahrscheinlichkeit“82 und „Prätention“ vermerkt: „Es wird eine in der gesellschaftlichen Realität nicht vorhandene und der rechtlichen Stellung kaum entsprechende Wahlmöglichkeit und Selbstbestimmung der Frau prätendiert.“83 Denn „wenn Liechtenstein von der Geliebten spricht, die sich mit ihren Liebesdiensten an einem Mann einen anderen gewogen macht, so glaubt man dem Wortlaut kaum“.84 Doch welcher mittelalterliche Text wird in der zeitgenössischen Forschung noch mit der Kategorie des ‚Möglichen‘ („An dieser Stelle bietet der Text also völlig unverhohlen unmögliche oder lächerliche Ratschläge“85) beschrieben? Die Schlüsse, die Brüggen aus dieser Beobachtung zieht, weisen in die richtige Richtung: „Einmal aufmerksam geworden, kann man in Liechtensteins Text eine Reihe von Zügen entdecken, die zumindest nicht frei von Komik oder Ironie sind.“86 Das Frauenbuch erzählt uns gerade nicht, „wie freudlos das Dasein der adligen Frau in Wahrheit aussieht“,87 sondern führt uns auch hier (und nicht nur im Frauendienst, auf den sich Heinzle im folgenden Zitat bezieht) als „gemeinsamen Zug der nachklassischen Literatur“88 die „freie Verfügbarkeit literarischer Traditionen [vor], die bei Neidhart und dem Tannhäuser zu beobachten war“.89 Denn der Ehemann, der seine Hunde mehr liebt als seine Frau, die Dame, die von früh bis spät in der Kirche betet, statt sich mit Männern beim Tanz zu vergnügen, und die Ritter, die „mit ein ander daz begânt, / des vogel noch tier niht willen hânt / und alle crêatiure / dunket ungehiure“ (V. 651–654) sind Teil einer literarischen Stilisierung. Dem Frauenbuch
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82
83 84 85 86 87 88 89
Hofmeister, „Minne und Ehe“, S. 135. So auch die Bemerkung von Hofmeister, S. 136, über die „wohl recht wirklichkeitsnahen Äußerungen der beiden Gesprächspartner“. „Auffallend realitätsfern ist auch das Bild, das Liechtenstein von der Lage der Witwen und unverheirateten Frauen oder der Situation der Geliebten entwirft.“ Brüggen, „Minnelehre und Gesellschaftskritik“, S. 92. Schulze (Anm. 49), S. 457. Brüggen, „Minnelehre und Gesellschaftskritik“, S. 96. Anmerkung zu V. 909–926. Brüggen, „Minnelehre und Gesellschaftskritik“, S. 96. Ebd., S. 85. Heinzle (Anm. 2), S. 17. Ebd.
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kann nicht wegen „seiner vordergründigen Didaxe“90 ein „weitaus höhere[r] Realitätsgehalt als z. B. dem Minnelied oder dem Ritterepos“91 attestiert werden. Deshalb ist es irreführend, die Nähe oder Distanz zur ‚Realität‘, bzw. die „glaubhafte Schilderung einiger Details aus der Zeit um 1250“92 zur Grundlage einer Differenzierung der Motive ‚Minne‘ und ‚Ehe‘ zu machen, wie Hofmeister es tut, wenn er davon ausgeht, „daß Eheprobleme überhaupt nur auf der realitätsbezogenen Ebene in den Binnendialogen faßbar werden und dies einzig über ihre Funktion als Kontrastfolie zur Minne“.93 Zwar kontrastiert das Frauenbuch höfische minne mit der Ehe, doch das macht die Darstellung nicht zu einer realistischen, sondern zu einer parodistischen. So erklärt sich, was die Forschung immer irritiert hat, dass nämlich kein durchgängiger Ton das Frauenbuch durchzieht, sondern dass es bei aller Komik und Übertreibung Anspruch auf Verbindlichkeit erhebt,94 dass „die verschiedenen Rollen des Minnedienstes ernst genommen [werden]“.95 Besonders bezeichnend ist in diesem Zusammenhang eine Anmerkung Müllers, die die Vermittelbarkeit von Ernst und Komik zum Gegenstand hat: In entgegengesetzte Richtung weisen Versuche, den ersten Minneroman als entlarvende Parodie zu deuten, was freilich wiederum mit dem didaktischen Programm unvereinbar ist […]. ‚Distanzierte Bewußtheit‘ beobachtet Wolf in der komischen Selbststilisierung, neigt dann aber doch dazu, Ulrichs komplexes Modell zur ‚literarisch-parodistischen Fiktion‘ zu vereindeutigen. Welche Bedeutung haben dann aber die nicht-komischen spielerischen Stilisierungen? Interpretationsbedürftig ist gerade die Vermittlung von Komik und Ernst.96
Die Erwartung, dass ein Text durchgängig komisch, parodistisch oder ‚ernsthaft‘ sein müsste, wird dort enttäuscht, wo die literarische Fiktion sich selbst zum Gegenstand wird und sie nicht mehr Inhalte, sondern Schreibweisen, Genre und Stilhöhen aneinander misst.
90 91 92 93 94 95
96
Hofmeister, „Minne und Ehe“, S. 135. Ebd. Ebd., S. 134. Ebd., S. 141. Grubmüller, „Minne und Geschichtserfahrung“, S. 51. Reiffenstein, „Rollenspiel und Rollenentlarvung“, S. 118, der anschließt: „genau das aber erzeugt Lächerlichkeit, und ich meine, es entspricht der Intention des Frauendienstes, daß dies so verstanden werde“. Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 55, Anm. 36.
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2.5. Narrative Konkretisierung – Fiktionalisierung Bereits im Frauendienst entwickelt Ulrich parodistische Verfahren. Hier führt er „Schwanksituationen“ herbei, indem er „die Dienstformel […] wörtlich nimmt und handgreiflich macht, und offenbar ist es ebenso unangemessen wie nutzlos, sie in dieser Weise in Handeln umzusetzen“.97 Indem er literarische Motive der minne-Klage wie dienst, leit und wân ‚in Handeln umsetzt‘, konkretisiert er sie zu einer Erzählung. Glier bezeichnet mit dem Begriff der ‚Konkretisierung‘ die Transformation des „Sänger-Ich des Liedes zum epischen Ich“98 im späten Minnesang.99 Das lyrische Ich des Liedes, das mit jedem Sänger ein neues Gesicht erhält, wird als literarische Figur festgeschrieben. Konkretisierung wird erzeugt
97
98
99
Grubmüller, „Minne und Geschichtserfahrung“, S. 41. Grubmüller will dem Text jene Verbindlichkeit zurückgeben, auf die er Anspruch erhebt (S. 51), und arbeitet dazu eine Entwicklung der Minnekonzeption vom ersten zum zweiten Dienst heraus: „Dort der Versuch einer gewalttätigen Überwältigung des Gegenübers durch Ansprüche, die aus Leistungen abgeleitet werden, hier die Hinnahme der Eigenständigkeit der Geliebten im akzeptierten Widerspruch; dort der Verlust der eigenen Persönlichkeit, der den Fordernden zum Narren, zum Illusionisten, zum Wahnsinnigen werden läßt; hier die Möglichkeit prüfenden, verantwortlichen Handelns, die den bewußten Verzicht auf Handeln einschließt“ (S. 48). Ingeborg Glier. „Konkretisierung im Minnesang des 13. Jahrhunderts.“ In: From Symbol to Mimesis. The Generation of Walther von der Vogelweide. Hrsg. von Franz H. Bäuml. Göppingen 1984 (GAG 368), S. 150–168, hier S. 156. Ebd., S. 154: „Der Sänger der Winterlieder aber sieht sich und seine Dame ständig von neureichen, angeberischen Bauern bedroht. Diese werden nicht nur häufig minutiös und gehässig beschrieben, sie haben vielfach auch Namen. Ein grösserer Kontrast zur bisher im Minnesang meist obwaltenden Namenlosigkeit und Abstraktheit der Rollen ist kaum denkbar.“ Cramer kommentiert ihre Funktion folgendermaßen: „Minnesang des 12. Jahrhunderts als Träger einer Adelsideologie war notwendigerweise auf literarisches Personal beschränkt, das eindeutig dem Hof zugehörte. Die Erweiterung des sozialen Horizonts in der Lieddichtung am Stauferhof ist, wie schon bei Neithart, keineswegs nur eine Folge der Entlassung aus diesem funktionalen Zusammenhang oder ein Zeichen von literarischem Überdruß. Sie koinzidiert zeitlich mit den tiefgreifenden sozialen Verschiebungen […]. Die Einbeziehung anderer sozialer Gruppen in die Literatur wird dadurch nicht nur möglich, sondern um so notwendiger, je mehr im Bewusstsein des Adels das Vorhandensein solcher Gruppen als Konflikt- und Machtpotential wahrgenommen wird.“ Thomas Cramer. „Sô sint doch gedanke frî. Zur Lieddichtung Burgharts von Hohenfels und Gottfrieds von Neifen.“ In: Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung in Deutschland. Hrsg. von Rüdiger Krohn. München 1983, S. 47–61, hier S. 49.
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über Eigennamen, Vergegenständlichung des Raumes zur Stube oder zum Tanzboden und über das Hervortreten des zentrale[n] Differenzierungsprinzip[s] archaischer Gesellschaften: Verwandtschaft. Neidhart spielt auf ein komplexes Geflecht familiärer Bindungen an, ohne es freilich als Ordnungsgefüge zu entfalten. […] Blickt man von Neidhart nun auf den höfischen Frauendienst im Minnesang, so fällt auf, daß entsprechende personale Beziehungen (der Familie, Sippe, des Hauses) dort durchweg fehlen. Der Minnesang spart zugunsten transpersonaler Instanzen die Rollen im dynastischen oder herrschaftlichen Verband aus.100
‚Konkretisierung‘ führt auch im Frauenbuch zur Distanzierung der Erzählhaltung und damit zur Markierung von Fiktionalität. Dabei bedient sich Ulrich einiger Verfahren, die er bereits im Frauendienst in der Auseinandersetzung mit der Minne-Kanzone entwickelt hatte. Hier erzeugt er den Effekt der Konkretisierung durch Narrativierung:101 „Was passiert, wenn einer (in dieser Hinsicht schon fast eulenspiegelhaft) wörtlich nimmt, was im Minnesang doppelsinnig angelegt, aber nie ausgesprochen oder doch in die Vieldeutigkeit der Metapher verwandelt worden war?“102 100
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102
Jan-Dirk Müller. „Strukturen gegenhöfischer Welt: Höfisches und nicht-höfisches Sprechen bei Neidhart.“ In: Minnesang und Literaturtheorie. Hrsg. von Ute von Bloh und Armin Schulz. Tübingen 2001, S. 39–79, hier S. 62 f. Kartschoke weist darauf hin, dass Ulrich im Frauendienst nicht nur Lyrik in Epik umsetze, sondern dass er auf der Ebene des Textes selbst die eine Form in die andere transponiert: „Für den ‚Frauendienst‘ hat die episch-lyrische Gattungsmischung zur Konsequenz, daß in der Annäherung der beiden literarischen Präsentationsformen der ‚epische‘ ‚Frauendienst‘ schließlich in inhaltlich lyrisch-liedhafte Strophen umschlägt und die ‚lyrischen‘ Lieder episch-didaktischen Charakter bekommen können.“ Kartschoke, „Ulrich von Liechtenstein und die Laienkultur“, S. 126. Er zeigt dies an drei ‚Erzählstrophen‘ (1747–1749), „denen nur bestimmte formale Kennzeichen fehlen, um sie als Minnelied zu qualifizieren. Der umgekehrte Vorgang einer Überführung des Liedes in episch-didaktische Funktion läßt sich an Lied LI ablesen“ (S. 127), welches nur noch „Vorwand für die (objektive) Minnedidaxe“ sei (S. 128). Frey, „Zum Funktionswandel der Minnelyrik“, S. 53. Er weist auf etwas hin, das Dorothea Klein in Bezug auf den Mauritius von Craûn als eine Narrativierung von Minnesang bezeichnet hat. Klein argumentiert, dass der Mauritius „das Thema von Frauendienst und hoher Minne in der erzählenden Gattung ausagiert“ und dass er „ein literarisches Spiel mit dem literarischen Denkmodell der hohen Minne“ sei. (Dorothea Klein. „Mauritius von Craûn oder die Destruktion der Hohen Minne.“ ZfdA 127, 1998, S. 271–294, hier S. 284, 293). Vgl. auch Gutwald, „Der Minnediener als Souverän“, S. 143: „Nur scheinbar freilich kann das darin [im Frauendienst] mitgeteilte Geschehen historische Faktizität beanspruchen, umfasst die vermeintliche ‚Biographie‘ doch eine Reihe mehr oder minder typischer Minnesangsituationen, die in die Narration transformiert respektive zur vita eines Minnedieners
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Reiffenstein beschreibt den Frauendienst als „ein Lehrstück dafür […], wie man Minnelyrik und den (nur) in ihr sich konstituierenden Minnedienst nicht verstehen dürfe: als Handlungsanweisung für erfolgreiches Minnewerben“.103 Für Herzog entspringt der Frauendienst dem „problematischen Versuch, Gedicht und maere zu verbinden, das heißt Minnesang und höfischen Roman miteinander übereinkommen zu lassen“.104 Wo aber kummer und leit nicht Zustand sind wie in der Minnekanzone, sondern zum Ereignis werden und als solches in einer zeitlichen Ordnung erscheinen, bedürfen sie eines biographischen Subjektes – bzw. sie erschaffen eines. Aus der minne-Klage, die gegenwärtiges Leid artikuliert, wird Geschichte, in der die einzelnen Stationen der minne-Werbung (wie Hoffnung auf lôn, Enttäuschung der Hoffnung, zwîfel, Bekräftigung des stæten und bedingungslosen dienstes, überschwängliche Freude über den gruoz der Dame), die die Kanzone als Zustand und damit im Präsens formuliert, sukzessiv angeordnet, kausal verknüpft und so zu Geschichte verdichtet sind. Dass Ulrich sie für die Umsetzung der Ideologie von hoher minne in Narration zu seiner eigenen macht und dadurch die „erste IchErzählung der mittelalterlichen Epik“105 schreibt, ist durch die Minnekanzone vorgegeben, die nicht irgendein leit beklagt, sondern das eigene. Die Ich-Rolle der Kanzone wird dadurch, dass sie narrativiert wird, jedoch nicht nur konkreter, sondern in der Narration auch erstmals als fiktive erfahrbar. Insbesondere dann, wenn von einer hauptsächlich mündlichen Rezeption des Minnesangs ausgegangen wird, besteht bei seinem Vortrag immer ein Referentialisierungsproblem, weil sich durch die ‚Situationsspaltung‘106 (die eigentlich eine ‚Situationsverdopplung‘
103 104 105 106
montiert worden sind.“ Zur Narrativierung im Frauendienst hat sich zuletzt geäußert Peter Kern. „Episierung lyrischer Konzepte.“ In: Estudios filologicos alemanos 7, 2005, S. 327–342. Sein Aufsatz besteht allerdings vor allem aus der Paraphrase zweier Episoden des Frauendienstes, nämlich dem Fingerverlust und dem Treffen zwischen Ulrich und der Dame in ihrer Kemenate. Kern beschreibt diese Begegnung als das „Scheitern von Ulrichs fixer Idee, Tagelied spielen zu wollen, an der widerborstigen Realität, kurz: die Episierung des lyrischen Subjekts“, S. 342. Unklar bleibt, wer diese ‚Episierung‘ vornimmt: Der Frauendiener Ulrich seiner Dame gegenüber oder der Erzähler seinem eigenen Protagonisten gegenüber? Argumentiert Kern also auf der Ebene des discours oder der histoire? Reiffenstein, „Rollenspiel und Rollenentlarvung“, S. 118. Herzog, „Minneideal und Wirklichkeit“, S. 508. Schmidt, „Späthöfische Gesellschaftsstruktur“, S. 37. Rainer Warning. „Der inszenierte Diskurs. Bemerkungen zur pragmatischen Relation der Fiktion.“ In: Funktionen des Fiktiven. Hrsg. von Dieter Henrich und Wolfgang Iser. München 1983 (Poetik und Hermeneutik X), S. 183–206, hier S. 193.
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ist) das textinterne und das textexterne Ich überlagern. Effekt der ‚Situationsverdopplung‘ ist eine De-Fiktionalisierung, denn sie lädt den Rezipienten – wie spielerisch oder ernsthaft auch immer – dazu ein, textinternes und textexternes Ich miteinander zu identifizieren: „Weil es um ein Allgemeines geht, ist die Sprechsituation in der Regel nur schwach determiniert, denn nur so wird sie von einem Anlaß auf den anderen übertragbar.“107 Dadurch wird „die Unterscheidung zwischen ‚externer Rezeptionsebene‘ und ‚interner Sprechsituation‘, zwischen ‚Sprecher (realer Sänger)‘ und ‚Sprecher (Rolle)‘ weniger scharf durchführbar, als es die Theorie will“.108 Die Minnerede nutzt das Spiel mit der Überlagerung von ‚textinternem Ich‘ und Sprecher (oder Leser), um als ‚Wiedergebrauchsrede‘ jeden Rezipienten zur Identifikation mit dem Aussagesubjekt einzuladen. Der Frauendienst verfährt genau umgekehrt, indem er die Ich-Rolle der Kanzone zwar übernimmt, sie aber des Präsens beraubt, die Erfahrung von vreude und leit damit zu einer vergangenen, abgeschlossenen und darüber hinaus zu einer individuellen macht. Die Frage ‚wer spricht?‘109 erübrigt sich in dem Maße, in dem das Aussagesubjekt im Text Kontur gewinnt. In der Minnerede bleibt es geradezu programmatisch vage, und auch in diesem Punkt markiert das Frauenbuch die Diskrepanz zu ihr, indem es ihm nicht nur durch die Figuren, die sich auf es beziehen, ein Profil verleiht, sondern ihm auch einen Namen gibt. Einen Namen hatte bereits das Aussagesubjekt des Frauendienstes. Hatte Ulrich dort aber immerhin die Ich-Rede der Kanzone beibehalten, um über vorgeblich eigene Werbungen zu berichten, so bildet das Ich des Ich-Erzählers im Frauenbuch nur noch den Rahmen einer Haupthandlung, die nicht ihn selbst, sondern eine Dame und einen Ritter zum Gegenstand hat. Das Frauenbuch ist – anders als die Minnerede und anders auch als der Frauendienst – keine Ich-Erzählung. Damit wird die Distanz zwischen Erzählhaltung und Erzählgegenstand deutlich markiert. So lässt sich zwar auch in Bezug auf das Frauenbuch von jener ‚Auslagerung‘ sprechen, die Susanne Brügel als ein Kennzeichen von ‚Minnereden‘ vorschlägt:
107 108 109
Müller (Anm. 46), S. 48. Ebd., S. 51. Albrecht Hausmann. „Wer spricht? Strategien der Sprecherkonstituierung im Spannungsfeld zwischen Sangspruchdichtung und Minnesang.“ In: Sangspruchtradition. Aufführung – Geltungsstrategien – Spannungsfelder. Hrsg. von Margreth Egidi, Volker Mertens und Nine Miedema. Frankfurt a. M. 2004 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 5), S. 25–43.
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Dieses Reden und Reflektieren wird durch das Ich begonnen und dann in einem zweifachen Transfer ausgelagert: in einen anderen Raum und – ganz oder teilweise – auf andere Figuren. Und vielleicht ist es gerade dieser Transfer, die Auslagerung der Reflexionsleistung, die eine Abgrenzung der Minnereden zu anderen Textsorten der Zeit ermöglichen könnte, wie es Wolfgang Achnitz forderte.110
Doch diese ‚Auslagerung‘ führt im Frauenbuch nicht die Reflexion des Ich fort,111 sondern bildet einen deutlichen Kontrast zu ihm: Die Welt, die im Laufe des Gesprächs zwischen Ritter und Dame Kontur gewinnt, bildet das genaue Gegenteil der Idealität von Ulrichs dienst. Der Identifikation, zu der Minnerede und Kanzone einladen, indem sie die Ich-Rolle als Hohlform konzipieren, die von jedem ‚Nutzer‘ ausgefüllt werden kann, stellen der Frauendienst und noch stärker das Frauenbuch eine Konkretisierung der Ich-Rolle gegenüber, die das Aussagesubjekt nicht nur den anderen Figuren, sondern auch dem Rezipienten gegenüber profiliert. Zwar wird im Frauenbuch der Versuch unternommen, die Diskrepanz, die sich damit auftut, am Ende zu überwinden und die Welt von Ritter und Dame an der Idealität, die Prolog und Epilog feiern, teilhaben zu lassen. Doch gerade diese Überwindung setzt die anfängliche Diskrepanz notwendig voraus.
3. Der Gegenstand des Streits Diese Diskrepanz wird markiert vom Verlust höfischer vreude.112 Vordergründig besteht die Begründung dafür in Missverständnissen zwischen Männern und Frauen, doch diese sind – das wird im Laufe des Gesprächs deutlich – nicht lösbar. Das Problem liegt tiefer, es ist nicht im Verhalten von Männern und Frauen begründet und deshalb von ihnen auch nicht zu lösen, sondern resultiert aus der Struktur der minne. In diesem Punkt berühren sich Frauendienst und Frauenbuch. Beide führen 110 111
112
Brügel (Anm. 38), S. 223. Ebd., S. 222: „Das Reden über das Ich wies in den bisher untersuchten Texten eine Besonderheit auf: Sie inszenieren zu Beginn ein Ich, welches mehr andeutend als informierend über sich und seinen Zustand räisoniert. Dieser Reflexionsprozeß wird dann aber unterbrochen und auf einen anderen Handlungsraum (hier: Traum und Garten) und andere Figuren ausgelagert. Sie führen anstelle des Ichs oder mit diesem die Überlegungen fort und bringen sie zu einem Abschluß, den der Schluß der Texte noch einmal aufgreifen kann“. Vgl. zum Konzept der vreude in Frauendienst und Frauenbuch auch den Beitrag von Eming im vorliegenden Band, S. 186–195.
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exemplarisch vor Augen, dass minne nicht im Alltag, nicht in den Niederungen irdischen Lebens realisiert werden kann: Ehefrau und minne-Herrin passen nicht in eine Werteordnung. Das Frauenbuch veranschaulicht diesen Sachverhalt in der Kontrastierung einer imaginären Ordnung, die als Erinnerung und Hoffnung beschworen wird, und einer Gegenwart, die den Frauendienst nur als ein Ideal der Vergangenheit kennt. Dass es sich nicht in eine gesellschaftliche Ordnung umsetzen lässt,113 wird am deutlichsten dort, wo der Ritter sich über die vriundinne, also die eigentliche Rolle der minne-Partnerin, äußert. Das tut er im Rahmen seiner Antwort auf die Frage, wie eine Frau sich vor dem allgegenwärtigen Spott bewahren und dennoch vrô sein könne. Es geht also auch hier wiederum nicht um minne, sondern um eine angemessene Reaktion auf den spot. Die Antwort auf diese Frage definiert das richtige Vorgehen für jeden gesellschaftlichen Stand: Die glücklich Verheiratete möge ihr Glück mit dem eigenen Ehemann genießen und auf außereheliche Freuden verzichten, die unglücklich Verheiratete ihrem Mann Hörner aufsetzen. Das Mädchen soll sich denen unterordnen, denen sie untersteht, die Witwen ihr Liebesglück selbst in die Hand nehmen. Die vriundinne aber soll versuchen, sich nach Kräften an ihrem Geliebten zu bereichern, solange sie ihn noch hat: Ich rât der vriundinne, daz si mit lôsem sinne und mit triuten gewinne an, swaz si immer müge ir man. sît si niht stæte an im enhât und daz er si wol varn lât und daz er sich ir wol abe tuot, sô sol si in triuten umb sîn guot, ob er ein ander kiese, daz si niht gar verliese. (V. 1109–1118)
Der Ritter empfiehlt der Geliebten jedoch nicht nur, sich an ihrem Freund schadlos zu halten, damit sie, wenn er sich eine neue Freundin sucht, nicht mit leeren Händen dasteht, sondern behauptet auch noch, dass sie durch die Liebschaft mit dem einen an Attraktivität für einen anderen gewinne:
113
Zu den Geschlechterrollen und zur Ehethematik im Frauenbuch vgl. auch den Beitrag von Sieber im vorliegenden Band, S. 292–299.
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ist, daz si daz verdienen kan, daz ir lîp wirt liep einem man, sô daz ers güetlîchen hât und si ungern von im lât, diu sol vür wâr gelouben daz, si gevellet manegem dester baz. ez ist vür wâr ir dar zuo guot, ob sich ir der man ab tuot, daz ers wil niht lenger hân, daz umb si wirbet maneger man. (V. 1129–1138)
Deutlicher lässt sich wohl nicht zeigen, dass es hier nicht um jene minne geht, durch die Mann und Frau einander zur Entfaltung ihrer Vollkommenheit verhelfen, sondern um pragmatische Triebbefriedigung und jenen Eigennutz, der unabdingbar ist, um in einer Welt zu überleben, die durch keine höfischen Ideale mehr geordnet ist. Im Laufe des Dialoges enthüllt sich die Fratze eines Alltags, der von gegenseitiger Geringschätzung, Misstrauen und Selbstsucht geprägt ist und an die Mären des Kaufringers erinnert. Wenn sich in der Minnerede „hinter dem Wunsch nach einer vollkommenen Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau […] letztlich die Sehnsucht nach dem friedvollen, harmonischen Miteinander aller Menschen“114 verbirgt, dann liegt hier eine Minnereden-Satire vor. Dass das Frauenbuch „durch die Höflichkeit der ‚guten Form‘ [beeindruckt], mit der die Streitenden einander begegnen (sie läßt etwas ahnen vom humanen Sinn jener ‚Verhaltensregulierung‘, von der wir sprachen),“115 ist deshalb zu bezweifeln. Die Gesellschaft, die hier beschworen wird, ist weder ‚höflich‘ noch ‚human‘, denn selbst die außereheliche Beziehung zwischen Freundin und Freund ist kein Refugium der Liebe, sondern von Misstrauen und Eigennutz überschattet. Die vriundinne muss stets damit rechnen, einer anderen wegen verstoßen, er hingegen damit, von ihr ausgenutzt zu werden. Eine Ehe entsteht unter solchen Voraussetzungen aus Berechnung: si sol gên im gar wesen guot, ob si in bringen müge an den muot, daz im ir minne sô süeze zeme, daz er si ze konen neme. (V. 1119–1122)
114 115
Achnitz (Anm. 9), S. 211, in Anlehnung an Glier. Heinzle (Anm. 2), S. 153.
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Dieses Szenario ist weder Ehe- noch Minnelehre, sondern eine satirische Anleitung zum Überleben in einer zutiefst orientierungslosen Welt. Für Ulrich wird der „Lebensbereich der Ehe […] integrierbar“116 nicht deshalb, weil er „die Konzeptionen von Liebe und Ehe so sehr einander angleicht, daß sie sich kaum mehr unterscheiden“,117 sondern weil es in der Welt des Frauenbuchs keine höfische minne, sondern nur Pragmatismus gibt. Ob eine Frau sich also an ihrem Geliebten bereichert, weil sie befürchten muss, bald verlassen zu werden, oder ob sie ihren Ehemann betrügt, macht ebenso wenig einen Unterschied wie ob der Mann seine Frau allein lässt, um sich mit seinen Gesellen zu betrinken, oder seine Geliebte durch eine andere ersetzt. Dass es glückliche Ehen gibt, kann die im Frauenbuch entworfene Welt nicht ‚heilen‘, denn sie sind Randerscheinungen, denen der Ritter keine Aufmerksamkeit widmet. Auch das Vergnügen, das die Ehefrau durch einen Geliebten empfängt, ist keine höfische vröide, denn es ist stets einer bösartigen und feindseligen Welt abgetrotzt und wird genossen als heimlicher Triumph über eine Gesellschaftsordnung, die es durch Waghalsigkeit und Skrupellosigkeit zu überlisten, niemals aber zu überwinden gilt. Hier wird der Abstand zur Tageliedminne deutlich, die zwar ebenfalls zwischen zweien stattfindet, die verbotenerweise zusammenkommen, aber die feindliche Umwelt auszublenden vermag. Das Tagelied erzählt zwar davon, dass diese dem Paar eine unausweichliche Trennung auferlegt, doch im Lied selbst erreicht sie keine Realität. Im Frauenbuch ist es genau umgekehrt: Real sind hier die Zwänge und Nöte, gestaltlos bleibt die minne selbst. Nirgends wird eine Nische erkennbar, in der sich die Intimität zweier Liebender einstellen könnte, denn im Frauenbuch ist nur von Funktionsträgern die Rede: Die verheiratete Dame würdigt durch ihre minne nicht den Ritter, der durch seine Verdienste ihre Hingabe erworben hat, sondern sie braucht jemanden, der sie für ihren lieb- und ehrlosen Mann entschädigt. Dass diese Welt Schlupflöcher für heimliche Lust gewährt, relativiert sie nicht, sondern bestätigt ihre umfassende Macht. Die Geschlechterbeziehungen innerhalb und außerhalb der Ehe gleichen sich hier einander an, weil die eine so wenig mit höfischer minne zu tun hat wie die andere. „Liechtenstein läßt […] Minnelehre und Ehelehre ineinander übergehen“,118 weil das Frauenbuch eine Gesellschaftssatire ist, die Ehe und minne gleichermaßen umfasst. Wenn Glier schreibt: 116 117 118
Brüggen, „Minnelehre und Gesellschaftskritik“, S. 91. Ebd., S. 91. Ebd., S. 91.
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Indem Ulrich von Lichtenstein diesen Fragenkomplex [die Voraussetzungen, unter denen eine verheiratete Frau die Ehe brechen kann und soll] in seine Minnelehre einbezieht, kompliziert und konkretisiert er sie zugleich. Die späteren Minnereden sparen ihn fast völlig aus, sie handeln von den Problemen der freien Bindung zwischen Mann und Frau, die neben der Liebe vor allem auf stæte […] beruht,119
so wird deutlich, welche Widersprüche eine Beurteilung des Frauenbuchs als frühe Minnerede aufwirft. Dass es Fragen der Eheführung zu seinem Gegenstand macht, unterstreicht nicht allein die Diskrepanz zwischen diesem Text und den ‚späteren Minnereden‘, sondern deutet darauf hin, dass die minne gar nicht sein vorrangiges Thema, es also keine ‚Minnelehre‘, aber ebenso wenig eine ‚Ehelehre‘ ist: Der Ritter beschreibt, wie man trotz der Ehe Freude haben kann, nicht durch sie. Auch für jene minne, wie sie Ulrich im Prolog geschildert hatte, ist in diesem ‚Gesellschaftsentwurf‘ kein Raum. Denn die glücklich Verheiratete bleibt ihrem Ehemann treu, Mädchen und Witwe suchen Ehepartner. Für die höfische Werbung bleibt nur die verheiratete Dame übrig, doch diese sucht keinen minne-Diener, sondern einen Liebhaber. Genau dadurch aber ist sie von der minne-Herrin wie derjenigen, der der Erzähler mit seinem büchlein dient, unterschieden, denn diese sucht gerade keinen Liebhaber, sondern akzeptiert die Werbung dessen, der ihr dient, um sich in ihrem dienst zu vervollkommnen, oder sie weist ihn ab. Höfische minne ist im Frauenbuch nicht „tief im Alltag eingebettet“,120 sondern kategorisch aus ihm ausgeschlossen – weil ‚in den Alltag eingebettete minne‘ ein Widerspruch in sich ist. Dieser ist in den Ratschlägen des Ritters mit Händen zu greifen. minne wird von der veredelnden und Adel voraussetzenden Passion zum frivolen Vergnügen. Das Frauenbuch ist insofern tatsächlich ‚Lehre‘, wie Huschenbett es vom ‚Büchlein-Typ‘ behauptet. Dieser Typus, der Glier und Huschenbett zufolge eine frühe Form der Minnerede darstellt, beschreibt minne als etwas, das „der Lehre bedarf und ohne Lehre nicht zur Wirkung und auch nicht zum Erfolg gelangen kann“.121 Doch sie besteht nicht in der diskursiven Darlegung eines Gegenstandes, sondern darin zu zeigen, wie die gesellschaftlichen Voraussetzungen für minne zerstört werden können, es ist allenfalls eine negative „Minne-Unterweisung“.122
119 120 121 122
Glier, Artes amandi, S. 43. Frauenbuch, Ed. Young, S. 15. Huschenbett (Anm. 10), S. 53. Behr, „Frauendienst als Ordnungsprinzip“, S. 4.
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4. Das Urteil Als eine solche stellt sich das Frauenbuch auch aufgrund des Urteils dar, durch das Ulrich die Frage der Dame beantwortet, wer die Hauptschuld für die desolaten Zustände trage, Männer oder Frauen. Ein erster Teil beantwortet die (implizite) Frage nach der gesellschaftlichen Rolle der Frau. Sie wird einschränkungslos der Verfügungsgewalt des Mannes unterstellt: diu wîp müezen beide tuon und lân an allen dingen swaz wir man wellen und uns dunket guot. swelch wîp des niht güetlîchen tuot, diu muoz ez tuon, daz ist alsô. (V. 1937–1941)
Diese Rollenzuweisung ist denkbar weit entfernt vom höfischen minneDiskurs, der gerade auf der Unterordnung des Mannes unter den Willen der Dame gründet.123 Von einer „beinahe klassischen Minnekonzeption“,124 die sich im Urteil ausspreche, kann also keine Rede sein. Die Werteordnung, die Ulrich mit der Forderung bedingungsloser Unterordnung der Frau unter den Willen des Mannes entwirft, ist eine, die wir aus dem Mauritius von Craûn kennen, der die Befehlsgewalt der minne-Herrin als ein unverbindliches Spiel entlarvt, das die gesellschaftlichen Machtverhältnisse nicht berührt. In der für die lôn-Gewährung prachtvoll ausstaffierten minne-Kemenate ist die Gräfin zwar noch Gebieterin, die lôn gewährt oder verweigert. In der Schlafkammer aber ist sie nur noch eine Frau und als solche Mauritius unterlegen: siu gedâhte „es ist kein rât sît ez sich gevüeget hât, ich muoz nu tuon und lân swaz er mit mir wil begân. nû lîde ichz guotlîche, daz im sîn zorn entwîche.“125
Diese Szene verhöhnt das Ideal höfischer minne ebenso wie das Urteil, das Ulrich scheinbar zugunsten der Damen spricht, indem er ihnen die 123
124 125
Vgl. Rüdiger Schnell. „Unterwerfung und Herrschaft. Zum Liebesdiskurs im Hochmittelalter.“ In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hrsg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a. M. 1994, S. 103–133, v. a. S. 110. Hofmeister, „Minne und Ehe“, S. 140. Mauritius von Craûn. Hrsg. von Heimo Reinitzer. Tübingen 2000 (ATB 113), V. 1603–1608.
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Verantwortung für den desolaten Zustand der Welt zwar abspricht, doch mit der Verantwortung auch jenen Handlungs- und Gestaltungsspielraum, der konstitutiv ist für die Rolle der minne-Dame: Der Mann hat […] seinem bedrängenden, fast zerstörerischen sexuellen Begehren standzuhalten, hat es zu disziplinieren und somit der Frau einen Freiraum für eigenes Agieren zuzugestehen. Sie soll nicht mehr bloßes Gewaltobjekt des Mannes sein, dies im Gegensatz zur mittelalterlichen Realität.126
Dieser Gegensatz zwischen der Rolle der Dame als minne-Herrin des Mannes und als Ehefrau wird bereits in der zeitgenössischen Literatur verarbeitet, z. B. im Rosenroman: Que qu’ele die, oïl, senz faille, Ja de sa fame n’iert amez Qui sires veaut estre clamez; Car il couvient amour mourir Quant amant veulent seignourir. Amour ne peut durer ne vivre S’el n’est en cueur franc e delivre. Pour ce reveit l’en ensement De touz ceus qui prumierement Par amour amer s’entreseulent, Quant puis espouser s’entreveulent, Enviz peut entr’aus avenir Que ja s’i puisse amours tenir, Car cil, quant par amour amait, Sergent a cele se clamait Qui sa maistresse soulait estre, Or se claime seigneur e maistre Seur li, que sa dame ot clamee Quant ele iert par amour amee. (V. 9436–9454)127
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Schnell (Anm. 123), S. 109 f. Guillaume de Lorris und Jean de Meun. Der Rosenroman. Übersetzt und hrsg. von Karl August Ott. Bd. II. München 1978 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters 15,II). „Was sie auch sage, ja, gewiß, / niemals wird er von seiner Frau geliebt werden, / der Herr genannt werden will; / denn die Liebe muß sterben, / wenn die Liebenden gebieten wollen. / Liebe kann nicht dauern und leben, / wenn sie nicht in einem freien und ungezwungenen Herzen weilt. / Deshalb sieht man wiederum auch / bei all denen, die sich am Anfang / nur aus Liebe zu lieben pflegen, / daß es dann, wenn sie sich später heiraten wollen, / nur mit Mühe geschehen kann, / daß die Liebe zwischen ihnen weiter bestehen könne, / denn als er noch aus Liebe liebte, / nannte der Mann sich der Diener derer, / die seine Herrin zu sein pflegte, / jetzt aber nennt er sich Herr und Gebieter / über die, welche er seine Herrin genannt hat, / als sie noch aus Liebe geliebt wurde“.
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Auch hier wird die Auffassung, dass Ehe und Liebe sich ausschließen, ebenso wie in De Amore damit begründet, dass die Ehe mit der Freiheit Grundlage und Sinn der Liebe (nämlich die Möglichkeit der Vervollkommnung durch dienst) zerstöre und profaniere. Denn die Hingabe der Dame ist in der Ehe nicht mehr erstrebter lôn, sondern Pflichterfüllung: Denn Liebende schenken einander wechselseitig alles umsonst ohne Zwang durch eine begründete Notwendigkeit. Eheleute aber sind schuldig und verpflichtet, den gegenseitigen Wünschen zu gehorchen und sich in nichts gegenseitig zu verweigern. Außerdem: Was für einen Zuwachs erhält die Ehre des Verheirateten, wenn er die Umarmung seines Ehepartners nach Art der Liebenden genießt, obwohl davon der innere Wert keines von beiden vermehrt werden kann […]?128
Die gesellschaftlichen Machtverhältnisse spielen bereits in die Frage der Dame, „wie ein vrou nû solte leben, / diu gern mit zühten wære vrô. / wie solte si geleben sô, / daz man ir darumb spottet niht“ (V. 760–763), deutlich hinein. Denn sie zielt nicht auf die richtige Ausübung von minne ab, sondern darauf, den Ansprüchen einer Gesellschaft gerecht zu werden, die durch Spott und Neid eindeutig als minne-Feind gekennzeichnet ist. Ulrich fällt ein Urteil, das in seiner Ambivalenz den Widerspruch zwischen gesellschaftlich-familiärer und ästhetisch-ideologischer Rolle der Frau spiegelt: Es betont nicht nur die Inferiorität der Frauen, sondern deutet auch ihre Rolle als Objekt literarischer Idealisierung an, indem es sie als vreude-Spenderinnen adressiert. In diesem Punkt werden sie von der Verantwortung für die Zerstörung der vreude freigesprochen, gerade we i l sie den Männern untergeordnet sind: „sît daz niht vrô ist manne lîp, / wâ von solten vrô sîn dan diu wîp?“ (V. 1947 f.). Doch damit ist eben keine Versöhnung zwischen Dame und Ritter erreicht, vielmehr die Unvereinbarkeit der beiden Rollen von Ehefrau und minne-Herrin unterstrichen: Ohne die Überordnung der Frau über den Mann, ohne seine Unterwerfung unter ihren Willen, kann sie keine vreude bereiten. Wenn Ulrich einige Verse später nochmals den Frauenpreis anstimmt, wird er beiläufig erwähnen, wie sie zustande kommt, nämlich durch die Unterordnung des Mannes unter die Frau: „man sol in [sc. den vrouwen] willevaren“ (V. 2007). Doch obwohl der Ritter zuvor die Damen auf ihre Rolle als minneHerrinnen verpflichtet, ihren gruoz und ihr süezez lachen vermisst hatte, besteht er nun auf ihrer vollständigen Unterordnung unter den Willen 128
Königlicher Hofkaplan Andreas. Von der Liebe. Drei Bücher. Übersetzt und mit Anmerkungen und einem Nachwort von Fritz Peter Knapp. Berlin, New York 2006, I, vi, 397 f.
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des Mannes. Im Widerspruch, der sich damit in seinem Verhalten zeigt, deutet sich eine Ursache der desolaten Verhältnisse an, die beklagt werden: Der Ritter vermag zwar von höfischeit zu sprechen und sich in galanter Konversation zu ergehen, nicht aber, die Damen in ihrer Rolle als minne-Herrinnen anzuerkennen. Er spricht ihnen jene Superiorität und einschränkungslose Idealität ab, die Bedingung dafür ist, dass der Mann sich seinerseits im dienst der Frau vervollkommnen kann: Ihnen [den Männern] wäre die Fähigkeit gegeben, den Sexualtrieb durch gewaltsames Vorgehen gegenüber dem schwächeren Geschlecht zu befriedigen; deshalb müssen gerade sie die Unterwerfung unter die Frau einüben, um sich selbst beherrschen zu lernen. Der Unterwerfungsgestus, so zahlreich zelebriert im Minnesang, zielt letztlich nicht auf die Unterwerfung unter die Frau, sondern auf die Unterwerfung der eigenen Triebe.129
Der Ritter lehnt demgegenüber nicht allein die Unterwerfung unter die Dame ab, er stellt nicht nur die dienst-Ideologie, die konstitutiv ist für das höfische Geschlechterverhältnis, in Frage („ob wir man alle solten / tuon daz vrouwen diuhte guot, / sô gewünnen si grôzen übermuot“, V. 1956–1958), sondern er kehrt sie sogar um. Seinen Worten nach sollten nicht die Damen die Männer im Rahmen eines dienst-Verhältnisses erziehen, sondern ihrerseits der Erziehung durch die Männer unterworfen werden: „ist daz man doch ein vrouwen siht / tuon iht anders danne wol, / von reht man irz verwîzen sol“ (V. 1960–1962), denn „ob man vür guot vervienge / ir muot, ir site und ouch ir leben, / daz man in lop wolte darumbe geben, / sô tæt ir deheiniu selten wol“ (V. 1970–1973). Es lässt sich also nicht behaupten, dass es am Ende gelingt, ein „alle Parteien zufrieden stellendes Urteil über ‚freude‘ und ‚hôchgemüete‘ zu fällen“,130 wie Behr meint. Vielmehr wird mit dem Urteil und der Reaktion des Ritters das Ideal höfischer dienstminne, die auf der Unterordnung des Mannes unter die Dame gründet, wenn nicht verabschiedet, so doch eingeschränkt. Im Frauenbuch ist Frauendienst nicht mehr Lebensprogramm wie im Frauendienst, sondern Galanterie, die gesellschaftliche Machtverhältnisse bestätigt, indem sie sie verklärt. Nicht die im Gespräch thematisierten ‚anderen‘ tragen damit die Verantwortung für die Zerstörung des Frauendienstes, sondern der Ritter selbst. Mit der Entwicklung des ritters guot zum Patriarchen und misogynen Hausvater korrespondiert eine verminderte Präsenz der Dame im Text, auf die u. a. Brüggen hingewiesen hat: 129 130
Schnell (Anm. 123), S. 113 f. Behr, „Frauendienst als Ordnungsprinzip“, S. 7.
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Zwar wird die Dialogform äußerlich aufrechterhalten, aber die Gesprächsbeiträge der Frau erscheinen quantitativ und qualitativ reduziert. Ihr Part beschränkt sich nun im wesentlichen darauf, um Belehrung zu bitten und Nachfragen zum besseren Verständnis zu stellen; auch wenn sie gelegentlich noch einmal Aussagen ihres Gegenübers in Zweifel zieht (z. B. 639,30 ff.): Der ‚Biß‘, der ihre Gesprächsführung vorher auszeichnete, ist verschwunden. So gerät das Frauenbuch im zweiten Teil im Grunde genommen zu einem schwach kaschierten Monolog des Ritters.131
Zwar verhilft die unhöfische Haltung, die der Ritter im Laufe der Handlung anzunehmen beginnt, Ulrich dazu, umso glanzvoller als Verteidiger der Damen aufzutreten – eine Rolle, die er auch im Frauendienst bereits stilisiert hatte.132 Doch im Frauenbuch ist diese Rolle merkwürdig gebrochen. Ulrich geriert sich einerseits als Frauendiener, doch mit seinem Urteil degradiert er die Dame und spricht ihr die Rolle der Herrin ab.133 Dieser scheinbare Widerspruch liegt jedoch bereits im Frauendienst vor, indem er Frauen in zwei verschiedenen Rollen der Frau vorführt, nämlich als Hausfrau und minne-Herrin. Es gibt nicht die Stellung der Frau, sondern nur verschiedene Rollen, mit denen Unter- oder Überordnung verknüpft ist: Das Urteil Ulrichs denunziert die Unterordnung des Mannes unter die Dame als Pose. Es stimmt also nur vordergründig, dass by depicting himself in the role of a courtly love-poet and knight who remains faithful to the courtly way of life […] Ulrich von Lichtenstein is attempting to show, both by precept in the ‚Frauenbuch‘, and by example in the ‚Frauendienst‘, how the way of life itself and its main goal, courtly vreude in society, could be recovered.134
Denn im Frauenbuch ist Frauendienst nicht mehr Lebensform, sondern literarisches Spiel und darüber hinaus auch nicht das einzige. Denn das 131 132
133
134
Brüggen, „Minnelehre und Gesellschaftskritik“, S. 89. McFarland, „The Autobiographical Narrative Form“, S. 185: „The rest of the work demonstrates Ulrich’s determinded loyalty to a code of conduct and manners which the world around him has abandoned. This is not merely a personal decision to retain an outmoded style of behaviour, but a conscious effort to show the dismal conditions of the political and social life of the time can be overcome with the help of the courtly way of life, as he presents it here and more systematically in the ‚Frauenbuch‘“. Insofern ist nicht nur der Frauendienst, sondern auch das Frauenbuch „ein überraschendes, in seiner Form völlig einzigartiges Zeugnis und zugleich zwiespältig und gezeichnet von jener Zweideutigkeit, die anders auch den zeitgenössischen nachklassischen Minnesang der Neidhart, Tannhäuser oder Gottfried von Neifen so rätselhaft macht.“ Herzog, „Minneideal und Wirklichkeit“, S. 502. Herzog bezieht sich mit dieser Bemerkung auf den Frauendienst. McFarland, „The Autobiographical Narrative Form“, S. 185 f.
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Frauenbuch beherrscht verschiedene literarische Register, das höfische ebenso wie das schwankhafte. Wenn Ulrich im Frauendienst, wie Müller meint, den literarischen Minnedienst als utopische Kunstwelt entdeckt,135 so fokussiert das Frauenbuch weniger die Rolle des Frauendienstes als die ambivalente, sogar widersprüchliche Rolle der Frau im Rahmen von „spielerisch entworfenen Ordnungen“.136 Auch für das Frauenbuch gilt, was McFarland über den Frauendienst schreibt: To an extent unapproached in German literature before him, his work contains a mixture of literary elements which had previously remained separate, bound each to specific thematic categories and performance situations in the literature in the classical period. These elements now appear to be free and available to be added together and juxtaposed by the poet in his search for a composite literary vehicle.137
Wenn man mit Müller den Frauendienst als „eine fiktive Versuchsanordnung“ auffassen möchte, die „ihre Distanz zu dem, was ist oder normalerweise gilt, immer wieder thematisiert: drastisch im Schwank, pathetisch im Minneleiden, desillusionierend im Verhältnis von Ritterordnung und Politik“138 und aus dieser Distanz heraus die „utopischen Möglichkeiten ästhetischer Entwürfe“139 entdeckt, die Ulrich einerseits banalisiert, „weil das literarische Modell ganz buchstäblich in die Realität verpflanzt wird“,140 andererseits aber auch radikalisiert, „weil er es aus der Distanz einer idealisierten Vergangenheit (Artus) oder der Beschränkung auf ein höfisches Ritual (Minnedienst) herausholt und – gegen den Druck der zeitgeschichtlichen Realität – zum tragenden Gerüst rechten Lebens proklamiert“,141 erweisen sich im Frauenbuch Radikalisierung ebenso wie Banalisierung als Effekt der utopischen Möglichkeit ästhetischer Entwürfe. Nicht, weil sie die Widersprüche zwischen literarischem Ideal und historischer Realität aufzulösen vermöchten, sondern weil sie sie in der Ästhetisierung und Literarisierung aufheben. Nur in dieser Form also stellt das Urteil eine Lösung des Konflikts dar. Das Frauenbuch erzählt nicht mehr – wie der Frauendienst – vom Spiel mit der ‚politischgesellschaftlichen Realität‘ und ‚spielerisch entworfenen Ordnungen‘,
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Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 73. Ebd. McFarland, „The Autobiographical Narrative Form“, S. 192. Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 73. Ebd., S. 70. Ebd. Ebd.
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sondern vom Spiel verschiedener literarischer Rollen und Ordnungen selbst. Wird im Frauendienst noch die politisch-gesellschaftliche Realität von einer ‚utopischen Kunstwelt‘ verdrängt, so wird im Frauenbuch der Frauendienst im dialogischen Hauptteil zur Erinnerung, im Urteil Ulrichs aber zum literarischen Spiel. Der Frauendienst entwirft das „Konstrukt einer ästhetischen Gegenwelt, [das] wie Jan-Dirk Müller am Frauendienst dargelegt hat, konkrete Lebensorientierung bietet“.142 Das Frauenbuch thematisiert bereits nicht (mehr) die „‚Entfernung‘ zwischen literarischem Modell und vorfindlicher Lebenswelt“,143 sondern führt vor, dass es zwei Schreibweisen gibt, eine ernsthaft-höfische und eine komische, die beide in einer (literarischen) Figur aufgehoben werden können, nämlich dem Erzähler. Indem er diesen mit sich als Autorfiktion identifiziert, macht er sich selbst zum Prisma literarischer Optionen. Seine Position ist deshalb keine festgelegte, vielmehr ist es gerade ihre Beweglichkeit, die sie charakterisiert. Der Erzähler Ulrich ist im Frauenbuch nicht mehr der Herr über die Wirklichkeit, als der er sich im Frauendienst noch stilisiert, sondern er ist Herr der literarischen Schreibweisen, er schlüpft in die Rollen, die sie ihm bieten, er ordnet sie auf verschiedenen Ebenen des Textes, aber er lässt sich auf keine festlegen: Lieddichtung wendet sich nur noch an den literarischen Kenner, der Literatur in dieser Rolle einzuschätzen, ihre besondere Form von Wirklichkeit zu akzeptieren vermag und keine ‚naiv‘ herauslösbaren Botschaften von ihr erwartet. Lieddichtung verlagert sich weg vom gesellschaftlichen Rollenspiel hin zum Spiel des Intellekts für literarisch Eingeweihte, das Forum des Hofes verengt sich zum literarischen Salon.144
Das trifft auch auf das Frauenbuch zu; es steht damit in der Tradition des späten Minnesangs und setzt Entwicklungen fort, die Ulrich im Frauendienst angelegt hatte. Die Entfaltung der Gattung Minnerede aber wird einen anderen Weg nehmen.145
142
143 144 145
Behr, „Frauendienst als Ordnungsprinzip“, S. 11. Behr verweist hier auf Müller (Anm. 73). Müller, „Lachen – Spiel – Fiktion“, S. 67. Cramer (Anm. 99), S. 53. Für Kritik und Anregung danke ich Wolfgang Achnitz und Ludger Lieb.
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10. Überlieferung, Handschriften Ulrich von Liechtenstein im Buch von J ÜRGEN W OLF
Vorwort Das Œuvre Ulrichs von Liechtenstein wird in ganz unterschiedlichen Überlieferungskonstellationen fassbar. Auf der einen Seite sind da die drei Handschriften und Fragmente seines Frauendienstes und auf der anderen Seite das im Ambraser Heldenbuch erhaltene Frauenbuch sowie die in der Großen Heidelberger Liederhandschrift (C) separat tradierten Lieder. Zusätzlich erscheinen zwei Lieder bzw. Liedfragmente auch noch unter anderem Namen in der Kleinen Heidelberger Liederhandschrift (A) und ein Liedfragment ein zweites Mal in der Großen Heidelberger Liederhandschrift. Die drei hier sichtbar werdenden Überlieferungskreise um Dienst, Buch und Lied sind insofern ineinander verschränkt, als der Frauendienst zugleich den Gesamtbestand der bzw. aller (?) Ulrich-Lieder repräsentiert. Die Liederhandschriftpassagen stellen Ausblendungen aus diesem Gesamtbestand dar, wobei zu fragen wäre, ob die Einzelteile des Frauendienstes – also die 56 bzw. 58 Lieder, die sieben Briefe (zwei davon in Prosa) und die drei Büchlein – auch einzeln etwa in Form von Liederund Textheften kursierten oder ob sie für das individuelle Sammlungsinteresse Rüdiger Manesses und anderer Liedliebhaber aus dem Gesamtkorpus, d. h. dem Frauendienst, extrahiert wurden. In das Geflecht dieser mehrschichtigen Textensembles ist auch das Frauenbuch eingebunden, wenn es Ulrich explizit als Auftragswerk einer Herrin markiert, für die bzw. in deren Kommunikationszusammenhang auch die anderen Texte und Lieder entstanden: Ez wil diu liebe vrouwe mîn daz ich ir rihte ditz büechelîn. (V. 5 f.) Nû hân ich ditz büechelîn voltihtet ze dienst der vrouwen mîn. got gebe, daz ez ir wol behage. (V. 2053–2055)
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Außer dem erst im frühen 16. Jahrhundert in der Ambraser Handschrift überlieferten Frauenbuch datieren alle Ulrich-Textzeugen aus dem späten 13. bzw. frühen 14. Jahrhundert. Für die mittelalterliche Überlieferung volkssprachiger Texte durchaus ungewöhnlich reicht die Überlieferung damit fast an die Entstehungszeit der Texte (um 1255/1257) und in jedem Fall an die Lebenszeit des Autors (gest. 26. 1. 1275) heran. Noch ein weiteres Faktum ist im Ulrich-Kontext bemerkenswert: Ulrich von Liechtenstein nutzt im Frauendienst die in eben diesem Werk in signifikanter Dichte greifbare Schriftlichkeit in einzigartiger Weise als Gliederungs-, Darstellungs- und Inszenierungsmittel. Schriftlichkeit avanciert bei ihm – in Form von Büchern, Briefen und Liedern – zu einem Protagonisten der erzählten Geschichte. Auch dies ist für die noch auf ein weitgehend illiterates Publikum treffende volkssprachige Literatur des 13. Jahrhunderts außergewöhnlich. Im Folgenden geht es deshalb in vier Schritten darum, zunächst die erhaltenen Handschriften und Fragmente zu beschreiben, zu lokalisieren, zu datieren und zu charakterisieren (1). In einem zweiten Schritt werden die Überlieferungszeugen in ihrem jeweils spezifischen Tradierungs- und Nutzungskontext verortet (2). In einem dritten Schritt wird der Versuch unternommen, diese ‚äußeren‘ Erträge mit den schriftrelevanten Aussagen der Texte Ulrichs zu verbinden (3). Hier wird viertens auch zu fragen sein, ob Ulrichs dichte Beschreibungen von Schriftlichkeit – von Schriftentstehung, Schriftverwendung, Schriftrezeption und Schriftwirkung – mehr sind als literarische Inszenierungen; ob sie einen direkten Zugriff auf die zeitgenössische Kommunikationswirklichkeit ermöglichen bzw. ob sie vielleicht sogar ein Spiegel der zeitgenössischen Tradierungs- bzw. Bildungswirklichkeit sind (4).
1. Ulrichs Texte in den Handschriften 1.1. Frauendienst Ulrichs Frauendienst ist nur in einer einzigen Handschrift (M = München, BSB, Cgm 441) nahezu komplett erhalten. Zwei Fragmente in Augsburg (A = Augsburg, Staats- und Stadtbibl., Fragm. germ. 102) und in Lands1
2
Beschreibung des Kodex samt Forschungsliteratur im Handschriftencensus = http://www.mr1314.de/1307. Beschreibung des Kodex samt Forschungsliteratur im Handschriftencensus = http://www.mr1314.de/1305.
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hut (L = Landshut, Staatsarchiv, Vom Einband der Fischmeisteramtsrechnungen 15103) überliefern jeweils nur wenige Verse. Von dem um 13004 im niederösterreichischen Raum entstandenen Münchner Cgm 44 sind 129 Blätter erhalten.5 Zwischen Bl. 99 und 100 fehlt ein Doppelblatt, jedoch mit merkwürdig geringem Textverlusten. Ausgefallen sind nur Teile von Lied XXXVII und der Anfang der Artusfahrt. Spechtler6 setzt für diese Lücke gerade einmal 33 Zeilen an (davon 29 für Lied XXXVII). Die verlorenen acht Spalten des Doppelblattes boten bei durchschnittlich 35 Zeilen pro Spalte aber Platz für rund 280 Verse/Zeilen. Linden kann mit guten Argumenten wahrscheinlich machen, dass diese Lücke kein Überlieferungszufall gewesen ist, sondern auf ein durch Blattherausschneiden korrigiertes Versehen des Schreibers zurückgeht. Sie vermutet, dass dort „aus Versehen“ doppelt abgeschriebene Liedstrophen gestanden haben könnten.7 Die Argumentation steht und fällt allerdings mit den nicht quantifizierbaren Textverlusten zu Beginn der folgenden Artusfahrt (Frauendienst Str. 1400). Umfasste der Beginn wirklich nur eine Strophe, wie es die Ausgabe suggeriert? Weitere Textverluste – es fehlen die Lieder LVII und LVIII vollständig – korrespondieren nicht mit Lücken in der Handschrift. Sie gehen eventuell auf Defekte in der Vorlage zurück, wobei es aber auch hier merkwürdige Diskrepanzen zwischen relativ geringem Textverlust und potentiell weit größerem freien Platz gäbe (s. u.).
3
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6 7
Beschreibung des Kodex samt Forschungsliteratur im Handschriftencensus = http://www.mr1314.de/1306. Vgl. Karin Schneider. Gotische Schriften in deutscher Sprache, I. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300, Text- und Tafelband. Wiesbaden 1987, Textband S. 230 f., Tafelband Abb. 131. Schneider hält eine Entstehung noch „gegen Ende des Jahrhunderts“ für möglich, weist aber schon auf die Fülle der modernen Elemente (u. a. doppelstöckig geschlossenes stark überhöhtes a; brezelförmiges Schluss-s; Buchstabenverbindungen; verschleiftes g hin, die m. E. besser in die Zeit um/nach 1300 passen würden. Teilfaksimile bei Peters, Frauendienst (‚Jugendgeschichte‘), S. 2, 15–42; eine vollständig digitalisierte Version (allerdings nur in schlechter s/w-Qualität) stellt das Münchner Digitalisierungszentrum im Internet bereit: http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/bsb00002233/images. Frauendienst, Ed. Spechtler (1987), S. 293 f. Linden, „Die Liedüberschriften im ‚Frauendienst‘“. Allerdings bleiben Ungereimtheiten in der Beweisführung, denn bei durchschnittlich 6–10 Zeilen pro Liedstrophe hätten mindestens 25–35 Strophen auf dem Pergament Platz gefunden. Der Schreiber hätte also ziemlich ‚blind‘ gleich mehrere Lieder hintereinander falsch abgeschrieben haben müssen.
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Mit einer Blattgröße von 24,5 × 16,5 cm bzw. einem Schriftspiegel von 18,5 × 12,5 cm gehört die Münchner Handschrift zu den für die Zeit typischen klein- bis mittelformatigen Gebrauchshandschriften. Den Charakter als Gebrauchshandschrift unterstreichen die Schrift sowie die Einrichtungs- und Ausstattungsmerkmale: Der Kodex ist in einer einfachen, sauberen, aber eiligen, kantigen Gebrauchsschrift geschrieben. Vereinzelte kursive Elemente, das bisweilen im Stil der Urkundenschriften mit weit ausgezogener und sogar verschlungener Zunge geschriebene g und die bisweilen mit ausladenden verschleiften Zierstrichen versehenen Majuskelbuchstaben lassen an einen Schreiber aus dem Kanzleiumfeld bzw. einen üblicherweise mit Verwaltungsschrifttum betrauten Berufsschreiber denken, der eher selten Buchschriften verwendete bzw. literarische Texte abschrieb. Die geringe Zahl von Abbreviaturen scheint auf primär volkssprachige Schriftlichkeit hinzudeuten, wie man sie am ehesten in einer Fürstenkanzlei vermuten würde. Eingerichtet ist der Kodex zeittypisch in zweispaltigen Kolumnen mit abgesetzt geschriebenen Versen. Die Anfangsbuchstaben der Verse sind als Majuskeln geschrieben, aber nicht ausgerückt. Eröffnet wird der Text durch eine einfache, nahezu schmucklose fünfzeilige rote D-Initiale. Zur Gliederung des Textes verwendet der Schreiber einfache einzeilige rote Lombarden. Sie trennen im Textteil jeweils strophenartig gestaltete Blöcke von acht Reimpaarversen ab. Die eingeschalteten Lieder sind anfangs durch rote Liedüberschriften, eine numerische Tonspezifizierung bzw. eine Spezifizierung der Liedgattung und zwei- bis mehrzeilige schmucklose rote Lombarden markiert. Die Binnengliederung erfolgt durch einzeilige rote Lombarden jeweils am Strophenanfang. Innerhalb der einzeln abgesetzten Strophen sind die Verse nur anfänglich abgesetzt (Lied I) und sonst fortlaufend mit Reimpunkten (Lied IIff.) geschrieben. Die eingeschalteten Prosabriefe werden durch ein dem Spaltenspiegel entsprechendes Umbrechen der Sätze analog den Verspassagen gestaltet. Ebenfalls in dieses Layout-Schema eingepasst sind die büechelîn. Wie die Lieder werden sie durch eine farbige Buchüberschrift und eine etwas größere Lombarde eingeleitet bzw. sichtbar gemacht. Durch die andere Binnengliederung mit wesentlich größeren Einheiten von rund 20 bis zu 80 Versen bzw. Zeilen fallen die Büchleinpassagen schnell ins Auge. Trotz der Kombination unterschiedlicher Textsorten und Stilmittel8 vermittelt die Handschrift äußerlich den Eindruck eines harmonischen 8
Vgl. Ruben, Zur ‚gemischten Form‘ im Frauendienst, bes. S. 20–24 zu Textüberlieferung und Textgestalt.
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Abb. 1: München, BSB, Cgm 44, Bl. 1r
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Ganzen. Dem Schreiber kam es bei der Gestaltung des Buchs offensichtlich darauf an, Ästhetik und Nutzen bzw. Lesbarkeit äußerlich ansprechend miteinander zu verbinden. Wenn die These Lindens zum Blattverlust stimmt (s. o.), würde sogar dieser radikale Eingriff in die Abteilung Ästhetik gehören. Für die Weiterverwendung bzw. Separatverwendung des Liedmaterials als vorteilhaft erweist sich das über weite Strecken strikt normierte Markierungsprinzip mit farbiger Überschrift und farbiger Lombarde. Der Sangbarkeit geschuldet sein dürfte die Melodiezählung bzw. Tonzuordnung. Die Melodiezählung springt allerdings nach einleft bei Lied XI auf siben und zweinzig bei Lied XII, was in der Forschung mit einem separat existierenden, nach Melodien gezählten Liederheftchen erklärt wird, aus dem die Lieder für den Frauendienst extrahiert wurden.9 Ab Lied XII wird fortlaufend weitergezählt bis niun und zweinzigest (Lied XIV). Lied XV ist dann als diu zehende gezählt. Lied XVI bleibt als uzreise ohne Zählung. Lied XVII schließt sich an diu zehende, Lied XVIII und XIX an diu einlefte Melodie an. Lied XX bringt diu zwelfte, Lied XXI diu drizehende, Lied XXII diu vierzende, Lied XXIII diu fünfzehende, Lied XXIV diu sehzehende, Lied XXVI diu sibenzehende, Lied XXX diu zweinzigeste, Lied XXXI diu eine und zweinzigeste, Lied XXXII diu zwo und zweinzigeste, Lied XXXIII diu dri und zweinzigeste, Lied XXXIV diu vier und zweinzigeste, Lied XXXV diu fünf und zweinzigeste und Lied XXXVII diu sehs und zweinzigest, wise. Dazwischen finden sich reien, tagewisen und uzreisen ohne Zählung. Bis dahin sind nahezu alle Lieder durch die so gestalteten Auszeichnungen leicht auffindbar, außerdem die Melodien schnell identifizierbar. Ab Lied XXXIX setzen Überschriften und Melodiezählung unvermittelt aus. Ließ gegen Ende des Textes die Sorgfalt bei der Gestaltung der Lieder nach? Da Schrift- und Ausstattungsniveau ansonsten gleich bleiben, wird man aber auch andere Erklärungsmöglichkeiten in Betracht ziehen müssen. Vielleicht weist eine Beobachtung Kartschokes den Weg. Er kann exemplarisch zeigen, dass gegen Ende des Werks, so in Lied XLVI und im dritten Büchlein, das Teile von Lied XII zitiert, der Übergang „vom 9
Vgl. Linden, „Die Liedüberschriften im ‚Frauendienst‘“. Sie diskutiert und reflektiert die Thesen von Carl von Kraus, der vermutet, dass Ulrich auf ein separates, nach Melodien durchgezähltes Liederheftchen zurückgegriffen habe (2KLD II = Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Carl von Kraus, 2. Auflage, durchgesehen von Gisela Kornrumpf. Bd. I: Text, Bd. II: Kommentar. Tübingen 1978, S. 529 ff.).
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gesungenen Minnelied zur Leselyrik“ beschritten zu sein scheint.10 Aber wären Melodiezählung und Liedüberschriften damit obsolet? Zu denken wäre auch daran, dass mit Lied XXXIX das als Vorlage benutzte Liederheftchen endete, Ulrich die letzten Lieder von da an direkt in den Frauendienst diktierte. Weitere Ungereimtheiten häufen sich am Schluss: In M fehlen ohne Blattverlust zwei der insgesamt von Ulrich angekündigten 58 Lieder (dœne). zweier minner sehtzic dœne ich hân gesungen: die stânt gar hier an. (1846,1 f.)
Dass die M-Vorlage hier möglicherweise einen größeren mechanischen Schaden durch Blattverlust hatte, erscheint fraglich, denn Textverlust und Raum passen nicht zueinander – außer, die beiden Lieder standen auf einem völlig anders eingerichteten separat eingebundenen ‚Notizzettel‘. Gewöhnlich werden diese beiden fehlenden dœne nach der Überlieferung in der Großen Heidelberger Liederhandschrift (C) ergänzt. Die strikt am Frauendienst orientierte Liedfolge in C legt dies auch nahe, ein abschließender Beweis, dass die in C überlieferten Strophen C 294–306 wirklich die im Frauendienst fehlenden zwei Lieder LVII und LVIII repräsentieren, fehlt jedoch. Und auch hier gibt der Überlieferungsbefund Rätsel auf, denn die beiden Lieder füllten gerade einmal 51 Zeilen. Ein Blatt hätte aber Platz für 140 Verse geboten. Oder waren es vielleicht überhaupt ganz andere, umfänglichere Lieder, die fehlten? Die Unsicherheit wird noch erhöht durch die in C auf die Lieder LVII und LVIII folgenden Pseudo-Ulrich-Strophen, die garantiert nicht zum UlrichKorpus gehörten (s. u., S. 498). Bei der Klärung der Überlieferungsmysterien und der Rekonstruktion eines konsistenten Textkorpus helfen die beiden Fragmente L und A kaum weiter. Für die Einschätzung der Tradierungssituation um 1300 sind sie dennoch von großer Bedeutung. Das drei Stücke eines Doppelblattes umfassende Landshuter Fragment L ist einige Jahrzehnte älter als die Münchner Handschrift: Das noch nicht doppelstöckige a, das geschwänzte z, das noch weit unter die Zeile reichende g, die wenigen Buchstabenverbindungen und das Fehlen kursiver Elemente deuten auf die Wende vom 3. zum 4. Viertel des 13. Jahrhunderts. Die deutlich ausgezogenen Oberlängen in der jeweils ersten Zeile einer Spalte lassen erneut an Kanzleizusammenhänge (eine bairische Herzogskanzlei?) den10
Kartschoke, „Ulrich von Liechtenstein und die Laienkultur“, S. 128–130. Zur Leselyrik vgl. den Beitrag von Bleumer im vorliegenden Band, S. 393 f.
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ken. Dialektal zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen L und M. Burghart Wachinger denkt anhand der herauspräparierten Merkmale für L an den bairischen Sprachraum bzw. das Herzogtum Bayern.11 Einrichtung und Ausstattung entsprechen aber in groben Zügen dem Münchner Kodex: Bei einer Blattgröße von ca. 20 × 14,5 cm handelt es sich ebenfalls um eine der für die Zeit typischen einfachen Gebrauchshandschriften. Das Layout ist zweispaltig bei 29–30 Versen pro Spalte. Die Verse sind abgesetzt – auch dies ganz typisch für Raum und Zeit.
Abb. 2: Landshut, Staatsarchiv, Vom Einband der Fischmeisteramtsrechnungen 1510 (Frauendienst, 849–894)
Äußerlich sehr ähnlich dem Landshuter ist das Augsburger Fragment A gestaltet. Der Buchblock ist bei einer Größe von 22 × 12,3 cm und einem Schriftspiegel von 17,3 × 11,8 cm nur minimal größer. Die Seite gliedert sich jeweils in zwei Spalten zu 28 abgesetzten und mit Reimpunkten versehenen Versen. Die Strophen sind durch rote leicht ausgerückte Lombarden markiert.12 Eine enge(re) Verwandtschaft zwischen beiden Fragmenten zeigt sich in den Charakteristika der Schrift13, wobei im Augsburger Fragment die schon für das Landshuter Stück charakteristischen lang ausgezogenen Oberlängen in der jeweils ersten Zeile
11 12 13
Wachinger, „Bruchstücke aus Landshut“, hier S. 327–329 (mit Abdruck). Franz Schmidt, „Augsburger Fragment“. So auch schon Peters, Frauendienst (‚Jugendgeschichte‘), S. 2.
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Abb. 3: Augsburg, Staats- und Stadtbibl., Fragm. germ. 10 (Frauendienst, 560,5–574,4)
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einer Spalte noch weiter hochgezogen sind. Erneut wäre an einen Kanzleischreiber bzw. an Kanzleizusammenhänge zu denken.14 Trotz der bis hin zu einzelnen Graphien reichenden Ähnlichkeiten schließen u. a. deutlich andere d-Varianten sowie signifikante Abweichungen innerhalb des bairisch-österr. Schreibdialekts15 eine Schreiberidentität aus. Zusammengefasst lassen die Beobachtungen erkennen, dass wir es beim Frauendienst mit einem Gebrauchstext von nicht allzu hohem literarischen Status zu tun haben. Die mehr oder weniger deutlich in allen Textzeugen erkennbaren Kanzleimerkmale deuten zudem auf weltlichhöfische Entstehungszusammenhänge, wie wir sie schon für die Aufzeichnung des Originals – wahrscheinlich durch einen Schreiber Ulrichs von Liechtenstein (s. u., S. 507 f.) – vermuten dürfen. Wo und in welchen Kreisen die Texte kursierten, bleibt jedoch im Dunkeln. Aus der Provenienz der Handschrift und der beiden Bruchstücke ergeben sich keine zielführenden Hinweise auf den Entstehungszusammenhang: Das Augsburger Fragment wurde von einer nicht mehr bekannten Inkunabel abgelöst;16 das Landshuter Fragment stammt vom Einband der Fischmeisteramtsrechnungen Landshut 1510.17 Der ungewöhnlich frühe Makulierungszeitpunkt des Landshuter Fragments könnte auf die niederbayrischen Herzöge hindeuten. Das Datum 1510 würde zu den viele Jahre andauernden Wirren um das Herzogtum Bayern-Landshut nach dem Tod Georgs des Reichen am 1. Dezember 1503 passen. Im Gefolge des Landshuter Erbfolgekriegs (1504/05) wurden weite Teile Bayerns verheert. Über die Entstehungsumstände des Kodex wäre damit 200 Jahre nach dessen Fertigstellung freilich noch nichts gesagt.
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Einzelne Graphien erinnern entfernt an Schriften aus den Urkunden und Urbaren der Kanzleien der Bayernherzöge Otto II. (gest. 1253) und Ludwig II. (1253–1294); vgl. Siegfried Hofmann. Urkundenwesen, Kanzlei und Regierungssystem der Herzoge von Bayern und Pfalzgrafen bei Rhein von 1180 bzw. 1214 bis 1255 bzw. 1294. Kallmünz 1967 (Münchener historische Studien. Abt. geschichtliche Hilfswissenschaften 3), S. 154–177 und besonders Tafel 1–6 (Graphien der Groß- und Kleinbuchstaben). Im Augsburger Fragment ist die Diphthongierung von î > ei und û > au/ou bereits durchgeführt (weit, reise; trouric). Typisch sind auch konsequente ch-Schreibung (chan, danchen, gechleit) und p/b-Wechsel (puneiz, puhurt, gap; bant) (vgl. Schröder, Textkritik, S. 323–332). Im Landshuter Fragment sind die alten Monophthonge î und ô noch konsequent erhalten (wîp, lîp, zîten, mîn, vrôwen, schôwen), vgl. Wachinger, „Bruchstücke aus Landshut“, S. 328 f. Schmidt, „Augsburger Fragment“, S. 322. Wachinger, „Bruchstücke aus Landshut“, S. 327.
Überlieferung, Handschriften
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1.2. Liederhandschriften Einzelne Teile des im Frauendienst als Werkeinheit überlieferten Materials entwickelten bald nach der Entstehung dieses Werks ein Eigenleben.18 Es handelt sich um die in den Text inserierten Lieder. Nahezu alle Lieder tauchen exakt in der Reihenfolge des Frauendienstes in der kurz nach 1300 in Zürich entstandenen Großen Heidelberger Liederhandschrift (C) auf: Die Autorsammlung zu Ulrich von Liechtenstein wird auf Bl. 237r wie üblich mit einer ganzseitigen Autorminiatur eröffnet. Sie zeigt Ulrich in Analogie zum Frauendienst reitend als Minneritter in voller Rüstung mit eingelegter Lanze und Frau Venus – in Anspielung auf die Venusfahrt Ulrichs – als Helmzier. Offensichtlich kannten der Illustrator und sein Auftraggeber neben den Liedern auch den Frauendienst. Vermutlich waren ihnen die Lieder überhaupt nur durch dieses Werk bekannt.19 Von Bl. 237v–246v folgen ohne Rücksicht auf die von Ulrich eigens bezeichneten und durchgezählten Melodien in ununterbrochener Frauendienst-Reihe die Lieder I–LVI, und zwar in exakt der ‚verschlungenen‘ Reihenfolge, wie sie der Frauendienst bietet. Einzelne Lieder erscheinen allerdings in leicht veränderter, öfter gekürzter Form: Bei Lied XXI fehlen die letzten zwei Verse elf und zwölf (C Bl. 241r = Frauendienst S. 272,V.11 f.), die allerdings nicht zum eigentlichen Liedschema mit regelmäßig zehn Versen passen. Ebenfalls die letzten zwei Verse fehlen bei Lied XXVII (C Bl. 241v = Frauendienst S. 280,VI.7 f.), und wieder störten sie die Regelmäßigkeit des Liedaufbaus. Bei Lied XXXVIII fehlt der letzte Vers (C Bl. 243v = Frauendienst S. 299,VII,6). Auch er störte das ansonsten fünfversige Liedschema. Größere Textverluste bzw. Redaktoreingriffe sind dagegen selten: Bei Lied XL und LI fehlen jeweils die erste Strophe (C Bl. 243v = Spechtler, Ulrich von Liechtenstein, S. 337.I.1–6 und C Bl. 245v = ebd. S. 366.I.1–6). Bei Lied XXII sind die letzten beiden Strophen (C Bl. 241r = ebd. S. 273,VI.1–VII.7), bei Lied XXIII die letzten drei Strophen (C Bl. 241r = ebd. S. 275.VI.1–VII.7), bei Lied XXXIX die letzten beiden Strophen (C Bl. 243v = ebd. S. 332.VI.1–VII.7), bei Lied XLIII die letzten beiden 18
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Zur Überlieferung der Lyrik vgl. auch den Beitrag von Braun im vorliegenden Band, S. 399–401. Müllers Behauptung (Müller, „VL: Ulrich von Liechtenstein“, Sp. 1276, gestützt durch 2KLD II 546), dass die „unmittelbare Vorlage […] jedoch nur die Lieder“ enthielt, ist wie die Vermutung in KLD durch nichts belegt.
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Strophen (C Bl. 244r = ebd. S. 341.VI.1–VII.7) und bei Lied LVI ebenfalls die letzten beiden Strophen (C Bl. 246v = ebd. S. 380.VI.1–VII.7) ausgefallen. In C folgen am Schluss noch die in M nicht tradierten (fehlenden?) Lieder LVII bis LVIII (Bl. 246va–247ra) sowie fünf größere strophische Gebilde, die keine Entsprechung im Frauendienst bzw. überhaupt in Ulrichs Œuvre haben (Bl. 247ra–rb): Die beiden ersten Strophen dieses ‚Anhangs‘ (C 307–308) werden Gottfried von Straßburg zugeschrieben.20 Bei den übrigen drei Strophen (C 309–311) handelt es sich um einen anonymen Marienpreis und ein didaktisches Lied über die Armut in Ton I Eberhards von Sax.21 Mit Ulrich von Liechtenstein haben sie nach einhelliger Forschungsmeinung nichts zu tun. Man könnte sich aber vorstellen, dass entsprechende Preis- und Reflektionsstrophen am Schluss einer Frauendienst-Handschrift oder eines separaten UlrichLiederheftchens einen Platz gefunden hatten. Der C-Redaktor könnte ihre Eigenständigkeit dann übersehen und sie aus seiner Vorlage mehr oder weniger mechanisch in sein Ulrich-Korpus hineinkopiert haben. Insgesamt geht der C-Redaktor aber sehr gewissenhaft mit seinem Ulrich-Korpus um.22 Mehrfach greift er im Sinne einer strikt(er)en Regelmäßigkeit in seine Ulrich-Vorlage ein. Häufiger sind einzelne Strophen vornehmlich am Ende und seltener am Anfang umfangreicherer Lieder ausgefallen oder aussortiert worden. Auch der im Frauendienst mit Ditz ist der leich überschriebene 96 Verse umfassende Leich (Spechtler, Ulrich von Liechtenstein, S. 276,1–278,96) fehlt. Für ein bewusst planerisches Eingreifen des C-Redaktors spricht dabei die Tatsache, dass er mehrfach und systematisch störende Unregelmäßigkeiten etwa in den Liedern XXI, XXVII und XXXVIII beseitigt. Ob die ein bis drei Strophen umfassenden Kürzungen in den Liedern XXII, XXIII, XXXIX, XL, XLIII, LI und LVI ebenfalls geplant waren oder ihre Ursache in Vorlagendefekten hatten, bleibt unklar. Entgegen der zum Teil mit Liedüberschriften und Melodiekennzeichnung versehenen Überlieferungsvariante im Frauendienst
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MF (Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren, Bd. II: Editionsprinzipien, Melodien, Handschriften, Erläuterungen, 36. neugestaltete und erweiterte Auflage. Stuttgart 1977) XXIII,I,1,1–2,12 = KLD, I,128 u. II,163; vgl. Peters (Anm. 5), S. 2 f. Kurze Charakterisierung in MF II, S. 120; vgl. Müller, „VL: Ulrich von Liechtenstein“, Sp. 1276. Vgl. auch den Beitrag von Braun im vorliegenden Band, S. 399–401.
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Abb. 4: Heidelberg, UB, Cpg 848, Bl. 247r (Schluss der Ulrich-Sammlung)
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wird in C konsequent auf die Liedüberschriften und die Melodiebezeichnungen verzichtet. Diese Eingriffe sind vermutlich den Uniformitätsvorgaben der C-Gestaltung geschuldet. Insgesamt verraten die sorgfältige Gestaltung und der fehlerarme Text des Ulrich-Œuvres in C einen sorgfältigen Umgang mit der Vorlage. Offen bleibt aber, ob der C-Redaktor allein aus einer FrauendienstHandschrift schöpfte – seine Ulrich-Liedsammlung also quasi autographischen Charakter besitzt23 –, oder ob ihm zusätzlich ein bereits aus dem Frauendienst exzerpiertes Ulrich-Liederbuch vorlag. Auf das von Carl von Kraus für die Entstehung des Frauendienstes postulierte UlrichLiederbuch hatte der C-Redaktor in jedem Fall keinen Zugriff. Seine Liedfolge entspricht gegen die Melodiezählung exakt der FrauendienstVariante. Generell scheinen die Lieder Ulrichs nicht sonderlich verbreitet, ein mögliches Ulrich-Liederbuch – so es denn überhaupt existierte und es sich nicht nur um eine individuelle Kladde zur Erstellung des Frauendienstes handelte – schon einem zeitgenössischen Publikum sogar völlig unbekannt gewesen sein. Außer C kennt keine der anderen Liederhandschriften Ulrich von Liechtenstein. Zwei kleinere Ausschnitte aus dem Ulrich-Lied-Komplex finden sich zwar in der um 1270/80 vielleicht in Straßburg entstandenen Kleinen Heidelberger Liederhandschrift Cpg 357.24 Das fünfstrophige Ulrich-Lied XII Ein tanzwise, die siben und zweinzigest25 und die erste Strophe des Liedes XL werden aber nicht unter dem Namen Ulrich, sondern unter Niune (Bl. 23r) bzw. anonym (Bl. 42v) überliefert. Lied XII ist dabei nicht nur in einer völlig anderen Strophenreihenfolge eingetragen, sondern offensichtlich auch als zwei Lieder gedacht bzw. vorgefunden worden: Nach einer zweizeiligen Fleuronnée-Initiale finden sich zunächst die als eine Liedeinheit markierten Strophen 4, 2 und 5. Unmittelbar darauf folgen, abgetrennt durch eine weitere zweizeilige Fleuronnée-Initiale, die Strophen 1 und 3
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Kartschoke, „Ulrich von Liechtenstein und die Laienkultur“, S. 121, plädiert mit Carl von Kraus dafür, „daß die Vorlage von C eine Handschrift war, in der die Lieder bereits aus der Erzählung des Frauendienstes herausgehoben waren.“ Eine ausführliche Beweisführung bietet der Exkurs ebd., S. 133–139. Matthias Miller und Karin Zimmermann. Die Codices Palatini germanici in der Universitätsbibliothek Heidelberg (Cod. Pal. germ. 304–495). Wiesbaden 2007 (Kataloge der Universitätsbibliothek Heidelberg 8), S. 208–229. KLD I,58, Nr. XII. Die Strophenreihenfolge weicht vom Frauendienst ab: 4,2,5,1,3; zu Niune vgl. Günther Schweikle. „Niune.“ In: 2VL, Bd. 6, Sp. 1169 f.
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verbunden mit drei Strophen Ottos von Botenlauben und einer des Markgrafen von Hohenburg. Dieser aus drei Autoreinheiten kombinierte Block ist als sechsstrophiges Lied eingerichtet. Auffällig ist in diesem Kontext, dass die ersten vier Strophen von Lied XII auch in C unter dem Namen Heinrich von Veldig noch einmal außerhalb des Ulrich-Korpus auftauchen (Bl. 32rb) – allerdings in veränderter Strophenreihenfolge: 4 – 2 – 1 – 3.26 Ebenfalls mysteriös erscheinen die Überlieferungspfade des Ulrich-Liedes XL: Die erste Strophe steht im zu Beginn des 14. Jahrhunderts entstandenen A-Anhang unter weiteren anonymen Sammelstücken.27 C hat diese Strophe nicht. Aus der Befundlage lässt sich ableiten, dass weder der A-Redaktor (und seine Vorlage) um 1270/80 noch der A-Nachtragsschreiber um 1300/1310 Ulrich von Liechtenstein kannten. Auch lagen weder dem einen noch dem anderen eine Ulrich-Liedsammlung oder der Frauendienst vor. Zur Erklärung, woher der A-Redaktor und der A-Fortsetzer dennoch Kenntnis von Ulrich-Liedern hatten, bieten sich zwei Varianten an: Entweder wurden die Lieder XII und XL bereits unmittelbar nach ihrer Entstehung in den 1250er Jahren eigenständig, d. h. außerhalb von Frauendienst und Frauenbuch tradiert, oder aber – und dies scheint angesichts der Überlieferungsumstände plausibler – diese Strophen bzw. Lieder kursierten bereits vorher. Ulrich hätte sich dann seinerseits aus einer vielleicht älteren Liedersammlung für seinen Frauendienst bedient. Nur noch einen fernen Nachklang auf die mittelalterliche UlrichÜberlieferung können wir in dem unikal im Ambraser Heldenbuch (Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. Ser. nova 2663) erhaltenen Frauenbuch greifen.28 Ulrichs Frauenbuch ist in der von Hans Ried in den Jahren 1504–1516/17 für Kaiser Maximilan I. (gest. 1519) zusammengestellten Handschrift im Sinne eines eigenständigen Heftchens auf den Bl. 220v–225r zwischen Herrand von Wildonie und dem Helmbrecht Wernhers des Gärtners eingetragen. Woher die Vorlage kam und in welchem Kontext das Frauenbuch einst tradiert wurde, ist unbekannt. Kon-
26 27 28
Vgl. Peters (Anm. 5), S. 3. KLD I,58, Nr. XL,1. Beschreibung und Literaturverzeichnis Hermann Menhardt. Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek, Bd. 3. Berlin 1961 (Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 13,3), S. 1469–1478, und Johannes Janota. „Ambraser Heldenbuch.“ In: 2VL, Bd. 1, Sp. 323–327, Sp. 323–327, sowie aktuell im Handschriftencensus http://www.handschriftencensus.de/3766.
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Abb. 5: Heidelberg, UB, Cpg 357, Bl. 23r: Ulrichs Lied 12 unter dem Namen Niune.
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krete Ulrich-Hinweise auf den Wiener bzw. den Habsburger Hof finden sich erst im 15. Jahrhundert in den Abschriften des Spruchs von den Tafelrundern (s. u.).
2. Tradierungs- und Nutzungskontexte Sieht man den ausgesprochenen Gebrauchscharakter der drei Frauendienst-Textzeugen und die mehr oder weniger deutlichen Kanzleimerkmale zusammen, spricht einiges dafür, den Frauendienst im Milieu des weltlichen Adels zu verorten. Das heißt, das Werk wurde in dem Milieu tradiert und rezipiert, in dem auch der politisch aktive, urkundlich als Truchsess, Marschall und Landrichter bezeugte Ulrich selbst zu verorten ist.29 Die Dialektmerkmale konturieren ein Verbreitungs- bzw. Rezeptionsgebiet, das in etwa den Herzogtümern Bayern und Österreich entspricht. Angesichts der eher dünnen Überlieferung und der nicht weit gestreuten Rezeptionszeugnisse wird man die Breitenwirkung des Frauendienstes jedoch nicht zu hoch veranschlagen dürfen. Dies scheint übrigens nicht nur für den geographischen, sondern ebenso für den chronologischen Wirkraum des Textes gegolten zu haben. Die Überlieferung konzentriert sich auf die wenigen Jahrzehnte zwischen 1260/70 und 1310/20. Auch die Lieder erlangten keine größere Popularität. Als Liederdichter kennt Ulrich von Liechtenstein nur die Große Heidelberger Liederhandschrift. Da sich alle Zeugnisse auf das späte 13. und frühe 14. Jahrhundert konzentriere, scheint Ulrichs Frauendienst samt seiner Lieder mit dem Niedergang des Rittertums von der literarischen Bühne verschwunden sein. Die in die Liederhandschrift C ausgeblendeten Lieder wären in diesem Sinn – wie die ganze C-Sammlung – ein Abglanz der großen Ritterzeit: Rüdiger Manesse sammelte die Lieder und deren Protagonisten (Dichter) des einst strahlenden Rittertums nicht, weil er als Ritter dazugehörte, sondern weil er das große Ideal der Vergangenheit konservieren und vielleicht für das eigene städtisch-patrizische Lebensumfeld nutzen wollte. Ulrich von Liechtenstein wäre aus Manesses Perspektive dann ein herausragender Minneritter und Vertreter der höfisch-ritterlichen Sangeskunst gewesen, dessen Andenken es zu bewahren galt. Dass die Lie-
29
Vgl. die knappen Übersichten bei Spechtler, Frauendienst, Ed. Spechtler (1987), S. III–VII und Müller, „VL: Ulrich von Liechtenstein“, Sp. 1274–1282.
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der Ulrichs um 1300 in Zürich aktiv gesungen wurden, ist dabei eher unwahrscheinlich. Da in C ausschließlich Frauendienst-Lieder überliefert werden, kannte man ebenda wohl nur den Frauendienst – aus dem sich auch die Ulrich-Darstellung in der C-Miniatur speist. Ein separates Ulrich-Liederbuch lag nicht vor. Nach der Wende zum 14. Jahrhundert gerieten Ulrich und seine literarischen Produkte für mehr als eineinhalb Jahrhunderte aus dem Fokus der Öffentlichkeit. Erst Mitte/Ende des 15. Jahrhunderts lassen mehrere Zeugnisse aus dem Umfeld des bayerischen Herzogshofs und des Kaiserhofs in Wien erahnen, wie populär Ulrich von Liechtenstein jetzt war. Entsprechendes handschriftliches Material kursierte offensichtlich an beiden Höfen: In das Umfeld der bayerischen Herzogshöfe weisen ein Eintrag im 1462 verfassten Ehrenbrief Ritter Jacob Pütrichs von Reichertshausen (München, BSB, Cgm 922030) und eine Passage im zwei bis drei Jahrzehnte jüngeren Spruch von den Tafelrundern (Wien, ÖNB, Cod. 769231 und München, BSB, Clm 1231). Pütrich, seit 1442 Stadtrichter und seit 1450 Landrichter in Landshut, führt in Strophe 110 seines Ehrenbriefs32 sogar eine Ulrich-Handschrift auf, die sich aktuell in seinem Besitz befindet: Vnnd von dem Liechtenstain Vlrich ein Ritter zier Von Im ain Puech so Rain Getichtet hat, das hab Ich auch bei mir. (Ehrenbrief, Strophe 110.1–4)
Der von einem Berufsdichter Ende des 15. Jahrhunderts im Umfeld Herzog Albrechts IV. von Bayern-München († 1508) verfasste Spruch von den Tafelrundern nennt in den Versen 237–240 anders als Pütrich zwar konkret kein Werk und keine Handschrift Ulrichs, wohl aber Ulrich von Liechtenstein selbst. Und der Spruch-Dichter weiß – wohl aus dem Frauendienst, denn Pütrichs Ehrenbrief sagt dazu fast nichts – um die ritterliche Vorbildlichkeit Ulrichs:33 30
31
32
33
Klaus Grubmüller und Ulrich Montag. Bayerische Staatsbibliothek. Jakob Püterich von Reichertshausen, Der Ehrenbrief. Cgm 9220. München 1999 (Kulturstiftung der Länder. Patrimonia 154); vgl. Klaus Grubmüller. „Jakob Püterich von Reichertshausen.“ In: 2VL, Bd. 7, Sp. 918–923, und 2VL, Bd. 11, Sp. 1285, 7, Sp. 918–923, und Bd. 11, Sp. 1285. Hermann Menhardt. Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek. Bd. 2. Berlin 1961 (Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 13,2), S. 1159 f. Theodor von Karajan, Der Ehrenbrief Jacob Püterichs von Reicherzhausen. ZfdA 6, 1848, S. 31–59 (u. a. auch in MBK IV,2). Vgl. Schmidt, „Augsburger Fragment“, S. 322.
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Der tewr Vlrich von Liechtenstain, Der ye in ritterweis erschain, Der mert auch wol der eren schar Dan er was aller schandn par. (Spruch von den Tafelrundern,34 V. 237–240)
Möglicherweise befand sich zu diesem Zeitpunkt Pütrichs Ulrich-Handschrift schon in der Bibliothek des Herzogs von Bayern-München. Eventuell bezieht der Spruchschreiber seine Weisheiten aber auch aus einer anderen, ebenfalls in München befindlichen Ulrich-Handschrift.35 Es könnte sich dabei um den Cgm 44 gehandelt haben, der ausweislich eines Eintrags auf dem Vorsatzblatt: Ist mein Matheus Bratzl, zum fraglichen Zeitraum um 1480/90 dem Rentmeister Herzog Albrechts IV. von Bayern-München, Matthäus Pratzl, gehörte. Diese Handschrift ist später in den Besitz der Herzöge übergegangen, wie das herzogliche Exlibris von 1618 beweist.36 Ulrich und seine literarischen Produkte waren am bayerischen Herzogshof im späten 15. Jahrhundert also bestens bekannt – vermutlich durch den Cgm 44 und mindestens eine weitere Handschrift. Die Landshuter und/oder Augsburger Fragmente könnten nebst M die Reste einer oder mehrere solcher Handschriften bezeugen. Der am bayrischen Herzogshof entstandene Spruch von den Tafelrundern ist aber noch aus anderem Blickwinkel interessant für die Ulrich-Rezeption im ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhundert, denn die beiden erhaltenen Abschriften des Spruchs stehen in der Wiener (Wien, ÖNB, Cod. 7692, Bl. 130v–132vb) und der Münchener (München, BSB, Clm 1231, S. 169–178) Handschrift jeweils inmitten der Kollektaneen des Ladislaus Sunthaym. In der Wiener Handschrift wurde diese Blütenlese für Wolfgang Hammerl, den Sekretär Kaiser Maximilians I. angelegt; in der Münchener Handschrift unmittelbar für den Kaiser selbst. Es handelt sich um die Reinschrift von Sunthaym für Maximilian I.37 Und genau dieser Kaiser ließ sich von Hans Ried, vielleicht angeregt durch das hymnische Lob auf den edlen Ritter Ulrich von Liechtenstein, wenige Jahre später einen weiteren Ulrich-Text in sein Ambraser Heldenbuch 34
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Hermann Menhardt, „Ein Spruch von den Tafelrundern.“ PBB 77, Tüb.1955, S. 136–164, 316–332. Das es sich bei Cgm 44 um die Pütrich-Handschrift gehandelt hat, wie von Schmeller vermutet (vgl. Schmidt, „Augsburger Fragment“, S. 322), ist eher unwahrscheinlich. Erich Petzet, Die deutschen Pergament-Handschriften Nr. 1–200 der Staatsbibliothek in München. München 1920. (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V,1), S. 74 f. Vgl. Nikolaus Henkel, Spruch von den Tafelrundern. In: 2VL, Bd. 9, Sp. 188–190, Sp. 188–190.
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eintragen: Ulrichs Frauenbuch. Vielleicht nahm man an, mit diesem Text das gepriesene Kunstwerk Ulrichs gefunden zu haben. Den Frauendienst kannte man nämlich in Wien bzw. in Tirol nicht; zumindest scheint es keine entsprechende Handschrift im Umkreis Hans Rieds oder des Kaisers gegeben zu haben. Im Ambraser Heldenbuch fehlt das Werk.
3. Schrift und Buch zwischen Text und Realität Wie kaum ein anderes Dichterwerk des 13. Jahrhunderts sind Ulrichs Frauendienst und sein Frauenbuch von real gelebter bzw. als Wirklichkeit inszenierter Schriftlichkeit durchzogen.38 Über den gesamten Frauendienst verteilt werden unzählige Briefe, Büchlein und Lieder geschrieben, von Boten zwischen Ulrich und den vrowen hin und her transportiert, wechselseitig gelesen und beantwortet. Mehr als die Personen erscheinen die Schriftzeugnisse dabei wie die wahren Helden insbesondere des Frauendienstes. Jedenfalls erwecken die Schriftstücke den Eindruck, als gehörte Schriftlichkeit im Adelsmilieu nach der Mitte des 13. Jahrhunderts zur Selbstverständlichkeit der laikal-illiteraten Hofkultur. Diese innerliterarischen Beobachtungen zum Frauendienst korrespondieren mit einer explodierenden volkssprachigen Schriftlichkeit während eben dieser Dekaden nach der Jahrhundertmitte: Im Reich steigt die volkssprachige Buchproduktion in den Jahren von 1250 bis 1275 gegenüber dem vorausgehenden Jahrhundertviertel um rund 50 % und die für Ulrich hinsichtlich seiner Tätigkeit besonders wichtige volkssprachige Urkundenproduktion sogar um über 2000 % an. Überhaupt erst jetzt wird eine nennenswerte volkssprachige Schriftproduktion im Umfeld des weltlichen Adels greifbar.39 Ulrich von Liechtenstein stand mit seinen Ämtern Truchsess, Marschall und Landrichter im Zentrum dieser aufblühenden Schriftlichkeit. Und er nahm diese neuen Dimensionen von Schriftlichkeit nicht nur rezipierend oder qua Amt als Schriftauftraggeber zur Kenntnis. Er nutzte sie anscheinend auch privat. Und er tat dies,
38
39
Vgl. dazu aus der Perspektive der Ulrichschen Lyriktradierung Kartschoke, „Ulrich von Liechtenstein und die Laienkultur“ sowie aus innerliterarischer Perspektive grundlegend Kellermann und Young, „Briefe, Büchlein, Boten“. Vgl. auch den Beitrag von Kellermann im vorliegenden Band, vor allem S. 216–243. Grundlegend Jürgen Wolf, Buch und Text. Literatur- und kulturhistorische Untersuchungen zur volkssprachlichen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jahrhundert. Tübingen 2008 (Hermaea NF 115), bes. S. 115 Diagramm 9.
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glaubt man seinen Ausführungen in Frauendienst und Frauenbuch, geradezu exzessiv. Man könnte hier natürlich einwenden, Ulrich bediene sich für seine Dichtungen nur aus dem reich gefüllten Reservoir der aus lateinischer oder altfranzösisch-provenzalischer40 Dicht- und Rhetoriktradition bekannten literarischen Topoi, aber ein derart dichter Einsatz von Schrift und Schrifthandlungen in einem literarischen Werk erscheint nur dann sinnvoll, wenn der Autor u n d das intendierte Publikum die aufgerufenen Schriftsituationen identifizieren und verstehen, im Idealfall sogar aus eigenem Erleben nachvollziehen können. Außerdem finden sich in Ulrichs Schriftinszenierungen viele Details, die sich nur aus Beobachtungen zur Schriftwirklichkeit im fraglichen Zeitraum erklären. So differenziert Ulrich beim Schreiben und Lesen der versendeten und empfangenen liet und brief sehr fein zwischen seiner Mann-Rolle und der der Frau. Er, der Ritter und Ministeriale Ulrich von Liechtenstein, lässt sich die per Bote eintreffenden Briefe und die büechelîn stets vorlesen und die Antworten stets schreiben.41 An mehreren Stellen verrät Ulrich auch von wem. Es ist mîn schrîber (z. B. 169,1; 171,1).42 Wann immer und wo immer Ulrich etwas zu schreiben oder zu lesen hatte, dieser schrîber stand bereit. In der zît mîn schrîber quam, den ich in eine heinlîch nam: ez muoste vil verholne sîn. ich bat in lesen daz büchelîn. (171,1–4)
Schlimm war es, wenn er einmal nicht parat war. Dann musste Ulrich bisweilen viele Tage auf den Inhalt des Schriftstücks warten: Mîn schrîber bî mir niht enwas, der mir mîn heinlîch brieve las und ouch mîn heimlîch ofte schreip; dâ von daz büechelîn beleip ungelesen zehen tage. (169,1–5)
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Thomas Cramer. Waz hilfet âne sinne kunst? Lyrik im 13. Jahrhundert. Studien zu ihrer Ästhetik. Berlin 1998 (PhStQu 148) macht auf die provencalischen tornadas und die altfranzösischen envois und damit auf ganz ähnliche Phänomene in der Romania aufmerksam. Dass Ulrich entsprechende Muster kannte, steht zu vermuten, dass er aber tatsächlich nach französischen Vorbildern schrieb, scheint eher unwahrscheinlich, denn konkrete Charakteristika der französischen Lyrik finden sich in seinem Werk eben gerade nicht (vgl. ebd., S. 34 f.) Zur Darstellung der Illiterarizität vgl. im vorliegenden Band auch die Beiträge von Bleumer, S. 393 f., Braun, S. 437, und Kellermann, S. 217, 224 f. u. ö. Zur Figur des Schreibers vgl. den Beitrag von Kellermann im vorliegenden Band, S. 243–247.
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Entsprechende Szenen sind Legion (z. B. 115,1; 169,1 ff.; 324,1; 479,5; 604,5 f.; 746,1 ff.; 747,143). Bezeichnend scheint dabei, dass es nicht nur Ulrich war, der Schrift und Schreiben in dieser Weise nutzte, sondern auch andere Fürsten solche Schreiber bei sich hatten. Vom Schreiber des werden fürsten Friderich zu Œsterrich erfahren wir sogar, wie er hieß: sîn schrîber, der hiez her Heinrich (1667,8 u. 1669,1). Der geradezu selbstverständliche Umgang mit Schriftlichkeit – Kellermann/Young sprechen zu recht von einem „Kommunikationsroman“44 – erforderte also immer einen überall und allzeit präsenten schrîber. Anders stellt sich die Situation bei der vrowe dar. Auch sie empfängt und versendet in dichter Frequenz diverse Schriftstücke, aber ihr Verhältnis zur Schriftlichkeit ist ein grundsätzlich anderes.45 Sie verlangt aktiv nach Schriftprodukten, auch umfänglicheren Büchern; sie ist Adressatin und Auftraggeberin von Schriftlichkeit in jeder Form und vor allem: Sie schreibt und liest selbst: Dô sî gelas daz büechelîn, diu tugentrîche frowe mîn. (162,1 f.) Dô si den brief gelas aldâ, diu guote schreip hin wider sâ einen brief. (321,1–3)
Wie im männlichen Diskurs die Vorleser- und Schreiberszenen, so sind nun die korrespondierenden Selbst-lese- und Selbst-schreibe-Szenen Legion (z. B. Frauendienst Str. 113,6; 162,1 f.; 165,5 ff.; 320,3 f.; 321,1–3; 360,5; 450,1; 1100,1 ff.46). Einer solchen Differenzierung in den analphabetischen Mann47 und die literate Frau muss nicht entgegenstehen, dass 43
44 45 46
47
Vgl. Kartschoke, „Ulrich von Liechtenstein und die Laienkultur“, S. 110–112 mit einer Sammlung von Belegstellen, deren Bedeutung er auch diskutiert. Einige Szenen zum Empfang entsprechender Schriftstücke durch Damen im ManesseCodex stellt Cramer (Anm. 40), S. 42 f. zusammen. Cramer unterstreicht dabei ganz im Sinn der hier im Ulrich-Kontext herausgestellten Konstellationen, dass vielfach Situationen dargestellt sind, „die einen Vortrag ausschließen und die Lektüre durch die Dame selbst unabdingbar machen“. Kellermann und Young, „Briefe, Büchlein, Boten“, S. 320–325. Vgl. den Beitrag von Braun im vorliegenden Band, S. 437. Vgl. ebenfalls Kartschoke, „Ulrich von Liechtenstein und die Laienkultur“, S. 112–114. Kellermann und Young, „Briefe, Büchlein, Boten“, S. 328, sehen hier eine „Fiktion der Illiterarizität Ulrichs“ (ebd., S. 344 allerdings einschränkend der Hinweis auf den „historisch-typischen Realitätsgehalt“ des Frauendienstes), und Klinger, „Ich: Körper: Schrift“ schließt eine reale Illiterarizität Ulrichs wie überhaupt einen
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sich Ulrich im Frauendienst und vor allem im Frauenbuch ausdrücklich als tihter bezeichnet: ich Ulrich von Liechtensteine hân ir getihtet ditz büechelîn damit sol ir gedienet sîn. der vrouwen buoch ez heizen sol, alsô heizet ez von rehte wol. (V. 2122–2126)
tihten heißt nicht schrîben! So findet sich im von ihm gedichteten Frauenbuch keinesfalls zufällig niemals das Verb schrîben, denn geschrieben hat vermutlich nicht er, sondern sein aus dem Frauendienst bekannter schrîber.48 Und das macht die literarischen Ausführungen Ulrichs von Liechtenstein so wertvoll: Die Ausführungen zur geschlechtsspezifischen Differenzierung der Schreiblesekompetenz decken sich einmal mehr auffallend mit der Bildungswirklichkeit der Zeit, wo unzählige private Psalter- bzw. Gebetbuchhandschriften eine zumindest rudimentäre Lesefähigkeit in weiten Kreisen adliger Damen bezeugen, Zeugnisse für entsprechende männliche Fähigkeiten aber selten bleiben bzw. vollends fehlen.49 Für die Männer mussten die am Hof tätigen Geistlichen (Kapläne) bzw. im Kloster ausgebildetes Verwaltung- bzw. Kanzleipersonal diese Aufgabe übernehmen. Das Faktum der passiv (Mann) und aktiv
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Realitätsbezug des Werks sogar vollends aus. Angesichts der realhistorischen Verhältnisse sollte man die Möglichkeit, dass Ulrich nicht selbst lesen konnte, jedoch keinesfalls ausschließen und die Ausführungen im Gegenteil sogar für wahrscheinlich(er) halten. Das laikale Schrift- bzw. Kanzleiwesen befand sich genau im fraglichen Zeitraum erst im Entstehen (vgl. exemplarisch Joachim Wild. „Schriftlichkeit in der Verwaltung am Beispiel der Lehnbücher in Bayern.“ In: Schriftlichkeit und Lebenspraxis im Mittelalter. Erfassen, Bewahren, Verändern. Hrsg. von Hagen Keller u. a. München 1999 [MMS 76], S. 69–77) und Bildung spielte im höfischen Diskurs (was die Männer betrifft) eine untergeordnete Rolle (zur höfischen Bildungssituation vgl. Alfred Wendehorst. „Wer konnte im Mittelalter lesen und schreiben?“ In: Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters. Hg. v. Johannes Fried. Sigmaringen 1986 [Vorträge und Forschungen 30], S. 9–33, hier S. 25–27). Beide Momente scheint Ulrich sehr genau zu kennen und sehr fein zu beschreiben. Zur Darstellung des Autors als nicht lese- und schreibkundig vgl. den Beitrag von Ackermann im vorliegenden Band, S. 345–347. Vgl. Jürgen Wolf, „Psalter und Gebetbuch am Hof: Bindeglieder zwischen klerikal-literater und laikal-mündlicher Welt.“ In: Orality and Literacy in the Middle Ages. Essays on a Conjunction and its Consequences in Honour of D. H. Green. Hrsg. von Mark Chinca und Christopher Young. Turnhout 2005 (Utrecht Studies in Medieval Literacy 12), S. 139–179, und Jürgen Wolf, „vrowen phlegene ze lesene. Beobachtungen zur Typik von Büchern und Texten für Frauen.“ Wolfram-Studien 19, 2006, S. 169–190.
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(Frau), in jedem Fall intensiv genutzten Schriftlichkeit erscheint für das laikale Hochadelsmilieu, in dem sich Ulrich und seine Rezipienten bewegten, also nicht nur plausibel, sondern gleichsam charakteristisch.
4. Die Schriftwirklichkeit in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts Schaut man nun auf die erhaltenen Ulrich-Handschriften und Fragmente selbst, fällt auf, dass deren spezifische Gestaltung mit farbigen Gliederungselementen, Überschriften und Tonbezeichnungen exakt in diese (inszenierte) Schrift-Lese-Realität hineinpassen. Alle skizzierten Merkmale sind für eine aktiv lesende Nutzung charakteristisch.50 Ulrichs Werke waren also zum Lesen bzw. Vorlesen bestimmt und sind demnach genau in den alphabetischen Kontext zu verorten, den Ulrich in eben diesen Werken inszeniert. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ist eine schon relativ große Menge entsprechend gestalteter ‚Lesehandschriften‘ nachzuweisen51 – wozu die Ulrich-Zeugnisse ja auch selbst gehören. Wie steht es aber nun mit den Schriftzeugnissen, mit denen Ulrich so selbstverständlich umgeht, in der Alltagswirklichkeit. Sind entsprechende Briefe, kleine Büchlein und Liederheftchen erhalten? Mit dem Zugriff auf diese bei Ulrich so präsente Alltagsschriftlichkeit gestaltet es sich schwierig. Briefe, Textheftchen und Liederbüchlein sind selten: Ein Autor-Liederheftchen hat sich möglicherweise im zweiten Teil der Berliner Sammelhandschrift SBB-PK, mgo 403 erhalten. Das kurz nach 1300 entstandene Heftchen überliefert Frauenlobs Marienleich (L) (Bl. 10r–18v) samt eines nachgetragenen Marienlieds (Bl. 18v).52 Über die Autorkorpora 50
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Grundlegend Nigel F. Palmer, „Manuscripts for Reading: The Material Evidence for the Use of Manuscripts Containing Middle High German Narrative Verse.“ In: Chinca und Young (Anm. 49), S. 67–102. Palmer (Anm. 50), S. 92–102, verzeichnet und beschreibt für die Zeit vor der Jahrhundertmitte allein 109 Stücke. Vgl. Frauenlob (Heinrich von Meißen). Leichs, Sangsprüche, Lieder. 1. Teil: Einleitung, Texte. Hrsg. von Karl Stackmann und Karl Bertau. Göttingen 1981 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, phil.-hist. Klasse III,119), S. 67–72 (Nr. 12). Bei Lied-Fragmenten wie dem Frankfurter Neidhart-Bruchstück (Frankfurt a. M., Stadt- und Universitätsbibl., Ms. germ. oct. 18), den Freiburger Neidhart-Bruchstücken (Freiburg i. Br., Universitätsbibl., Hs. 520) oder den Wolfenbüttler Reinmar-Walther-Rudolf-Fragmenten (Wolfenbüttel, Landeskirchl. Archiv, Depositum Predigerseminar H 1) sind Aussagen hinsichtlich der ur-
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in den großen Liederhandschriften und Einzelzusammenstellungen etwa in der Münchner Wolfram-Sammlung Cgm 19 (Zusammenstellung der Tagelieder Wolframs von Eschenbach53) und der Riedegger Handschrift (Neidhart-Korpus und nachgetragene Lieder54) sind solche Lieder-Heftchen jedoch durchaus in größerer Stückzahl erschließbar. Bei den Briefen lassen sich entsprechende Stücke in Form von ein- und nachgetragenen Briefentwürfen ebenfalls mehr erahnen als nachweisen.55 Exemplarisch zu nennen wären der in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts in eine umfängliche lateinische Sammelhandschrift eingetragene Vatikanische Liebesbrief (Rom, BAV, Cod. Regin. Lat. 1354, Bl. 107vb56), der im 14. Jahrhundert in die auch Ulrich-Strophen tradierende Kleine Heidelberger Liederhandschrift (A) auf Bl. 45v nachgetragene PseudoMinnespruch ach herze liep ach herz leit57 sowie der um 1300 aufgezeichnete Zürcher Liebesbrief und der in der selben Handschrift tradierte Züricher Minneleich (Zürich, Zentralbibl., Cod. RP 3).58 Bereits wesentlich jün-
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sprünglichen Überlieferungssituation und eines denkbaren Heftchen-Charakters der Textzeugen nicht möglich. Vgl. Franz-Josef Holznagel, „Typen der Verschriftlichung mittelhochdeutscher Lyrik vom 12. bis zum 14. Jahrhundert.“ In: Entstehung und Typen mittelalterlicher Lyrikhandschriften. Akten des Grazer Symposiums 13.–17. Oktober 1999, hrsg. von Anton Schwob und András Vizkelety unter Mitarbeit von Andrea Hofmeister-Winter. Bern u.a. 2001 (Jahrbuch für Internationale Germanistik A 52), S. 107–130, hier S. 112. Franz-Josef Holznagel, Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik. Tübingen, Basel 1995 (Bibliotheca Germanica 32), S. 285–300. Briefe spielen in der höfischen Literatur eine große Rolle, aber so wenig wie über ihre Realpräsenz bekannt ist, wurde auch über die innerliterarische Bedeutung geforscht. Die – dürftige – Forschungslage skizzieren Kellermann und Young, „Briefe, Büchlein, Boten“, S. 318–320; vgl. aktuell Christine Wand-Wittkowski, Briefe im Mittelalter. Der deutschsprachige Brief als weltliche und religiöse Literatur. Herne 2000 (mit einem Verzeichnis entsprechenden Briefmaterials S. 333–352 u. 372–374); Ulrich Ernst, Facetten mittelalterlicher Schriftkultur. Fiktion und Illustration, Wissen und Wahrnehmung. Heidelberg 2006 (Beihefte zum Euphorion 51), S. 72–127 (zum Frauendienst S. 108–112). Vgl. Schneider (Anm. 4), Textband S. 125–127, Tafelband Abb. 68 und Jürgen Schulz-Grobert, Deutsche Liebesbriefe in spätmittelalterlichen Handschriften. Untersuchungen zur Überlieferung einer anonymen Kleinform der Reimpaardichtung. Tübingen 1993 (Hermaea NF 72), S. 215. Tatsächlich handelt es sich um V. 9795–9807 aus Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich; vgl. Miller und Zimmermann (Anm. 24), S. 229; Farbabbildung: http://diglit.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg357. Max Schiendorfer (Bearb.), mine sinne di sint mine. Zürcher Liebesbriefe aus der Zeit des Minnesangs. Zollikon 1988 (mit Abdruck); vgl. grundlegend zur Liebesbrief-
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ger sind die um 1340 zusammengestellte Losse-Sammlung mit deutscher Minneklage und deutschem Liebesbrief (Kassel, UB/LMB, 2° Ms. iurid. 25, Bl. 263v–264r59), der um 1360 entstandene Regensburger Liebesbrief (München, BSB, Cgm 18960), die Briefentwürfe in einer auf 1395/1396 datierten Erfurter Schul-Sammelhandschrift (Erfurt, UB, Cod. Ampl. 4° 63, Bl. 129v), die auf „um 1400“ datierten Leidener Liebesbrieffragmente (Leiden, UB, Letterk. 21661), das um 1400 auf der Rückseite eines lat. Briefes eingetragene Münchner Liebesbekenntnis (München, BSB, Cgm 5249/43), ein im 15. Jahrhundert nachgetragener Liebesbrief in einer Hamburger Sammelhandschrift (Hamburg, Staats- und Universitätsbibl., Cod. 193 in scrin., Bl. 55v) und die um/nach 1400 nachgetragenen Briefentwürfe in der Münchner Megenberg-Handschrift M 11a (München, BSB, Cgm 589). Möglicherweise sucht man nach den Briefen aber auch an der falschen Stelle, denn Ulrich vermerkt bei einem der Briefe, den er im fremden röckel fand, ausdrücklich, dass es ein tiutscher brief (603,5) gewesen sei. Eine solche Spezifizierung deutet eventuell darauf hin, dass Briefe üblicherweise gerade nicht in der Volkssprache, sondern in Latein verfasst waren.62 Genau diesen Befund dokumentiert die primär lateinisches Material tradierende Losse-Sammlung (s. o.). Diese Sammelhandschrift steht exemplarisch für einen verbreiteten Sammeltypus, der lateinische Briefe bzw. Briefsammlungen beinahe alltäglich, deutsches Schriftgut dieser Art demgegenüber exotisch erscheinen lässt. Ulrichs Briefe sind freilich immer deutsch. Bleibt nach Briefen und Minneliedern der Blick auf größere Texteinheiten, wie sie Ulrich in Form der drei büechelîn in den Frauendienst eingeschrieben und in Form seines Frauenbuchs auch separat verfasst hat: Auf
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überlieferung Schulz-Grobert (Anm. 56), hier S. 225 f., und allg. zu Briefen Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hrsg. von Horst Wenzel. Berlin 1997 (darin bes. Judith Klinger, „Ich: Körper: Schrift“ zum Frauendienst). Vgl. Schulz-Grobert (Anm. 56), S. 205. Vgl. ebd., S. 16–22. Vgl. ebd., S. 22 f. u. 207 f. Vgl. etwa Rolf Köhn, „Latein und Volkssprache, Schriftlichkeit und Mündlichkeit in der Korrespondenz des lateinischen Mittelalters.“ In: Zusammenhänge, Einflüsse, Wirkungen. Symposium des Mediävistenverbandes. Hrsg. von Jörg O. Fichte u. a. Berlin, New York 1986, S. 340–356. Edward Schröder, „Zur Textkritik.“ ZfdA 69, 1932, S. 323–332, und direkt zu Ulrich Kellermann und Young, „Briefe, Büchlein, Boten“, S. 325.
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die historische Realität der im Frauendienst hin und her wandernden Büchlein scheint das im Ambraser Heldenbuch eingetragene Frauenbuch hinzuweisen. Vielleicht kursierte dieser Text einmal als eigenständiges Minnebüchlein. Hartmanns Klagebüchlein, das sogenannte Zweite Büchlein und Strickers Frauenehre im selben Sammelband könnten ebenfalls Zeugen solch kleiner, in höfischen Kreisen kursierender ‚Büchlein‘ sein.63 Für die Realexistenz solcher kleiner Minnebüchlein scheint auch zu sprechen, wie realitätsgetreu Ulrich von deren Gestaltung, Ausschmückung und Bindung berichtet. In den Strophen 444 f. des Frauendienstes lässt er sein ander büechelîn (2. Büchlein) – also genau so ein kleines, wohl nur ein bis zwei Lagen starkes Textheftchen64 – kunstvoll in grünen Samt einschlagen und in goldverzierte bzw. goldbeschlagene Holztäfelchen65 einbinden. Zwei eigens angefertigte, als Hände geformte Buchschließen halten die Buchdeckel zusammen: in einen samît als ein gras want man daz büechel an der stat. ein goltsmit ich mir würken bat Zwei britelîn von gold aldâ: dar in bant man daz büechel sâ. daz diu sperre solde sîn, daz was alsô zwei hendelîn gemachet harte lobelîch. (444,6–445,5)
Ulrich weiß exakt, wie kostbare Bücher aussahen bzw. auszusehen hatten, wie sie einzubinden waren und sogar, wer solche Arbeiten fachgerecht ausführen konnte: Ein goltsmit. Letztlich gibt Ulrich sich damit als intimer Kenner des zeitgenössischen (laikalen) Schrift- und Buchwesens zu erkennen, und angesichts der vielen mitgeteilten Details scheint 63
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Zum Typus vgl. Glier, Artes amandi (zum Frauenbuch und dem ‚Mischtyp Büchlein‘ bes. S. 41–46) und Wand-Wittkowski (Anm. 55), bes. S. 132 f. Ulrichs Büchlein haben jeweils zwischen 379 und 393 Versen, sind also ausgesprochen gleichmäßig gestaltet. Rechnet man diese Verszahlen auf ein nach dem Typus der erhaltenen Ulrich-Handschriften zweispaltig eingerichtetes Heftchen um (ca. 25–35 Zeilen pro Spalte), käme man mit Überschrift jeweils auf einen Umfang von bis zu zwei Doppelblättern. Bei einspaltiger Einrichtung – was bei so dünnen Heftchen wahrscheinlicher ist – ergäbe sich ein Umfang von drei bis vier Doppelblättern, was wiederum einer zeittypischen Lagengröße (Trinio oder Quaternio) entspräche. britelin vermutlich zu brëtelin; vgl. Lexer I,351. Die Erläuterung in BMZ I,259 („Ich glaube es waren goldene gegliederte bänder, dergleichen von den frauen über dem handgelenke getragen werden“) überzeugt nicht; vgl. auch BMZ I,279 zu büechel.
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Jürgen Wolf
zumindest dies keine literarische Fiktion gewesen zu sein, zumal die Schriftdetails allesamt gut zur zeitgenössischen Realität passen. Man wird Ulrichs Frauendienst und das Frauenbuch demnach getrost als Spiegel der Schriftwirklichkeit im 3. Viertel des 13. Jahrhunderts lesen dürfen – mehr noch: Sie s i n d Realität. Dass Ulrich seine Schrift-Kenntnisse zur Konturierung einer dann fiktiven Schrift- bzw. letztlich Biographie-Inszenierung verwendet,66 steht dem nicht entgegen bzw. spielt dabei keine Rolle.
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Dieses Moment arbeiten Kellermann und Young, „Briefe, Büchlein, Boten“ in überzeugender Weise heraus. Neben der „poetischen Repräsentation von Schriftlichkeit“ (S. 341), scheint es jedoch eine wirkmächtige Realpräsenz der zeitgenössischen Schriftwirklichkeit zu geben, was Kellermann und Young im Schlusswort ihres Aufsatzes (S. 342–344) in Abwägung der Thesen von Brackert, Ernst (Anm. 55), Kartschoke und Klinger (Nachweise ebd.) auch ausdrücklich hervorheben.
Neuzeitliche Rezeption
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11. Neuzeitliche Rezeption Ulrich von Liechtenstein vom 17. bis zum 20. Jahrhundert von V OLKER M ERTENS
Zeugnis alter Zeit Für mehr als 200 Jahre ist die Große Heidelberger Liederhandschrift, die sog. Manessische Handschrift, die einzige Quelle für das Werk Ulrichs.1 Im Jahre 1604 druckte Melchior Goldast in den Paraeneticorum veterum2 die didaktischen Texte der Handschrift: König Tyrol, Winsbeke, und Winsbekin. Er erläuterte diese Texte sprachlich und inhaltlich in einem lateinischen Kommentar mit vielen mittelhochdeutschen Beispielen u. a. aus Liedern der Handschrift. (Dass er in einem zweiten Band die Handschrift abdrucken wollte, ist ein Gerücht, das auf Johann Georg Scherz zurückgeht, aber nicht verifizierbar ist.) Goldast muss das Manuskript sehr gründlich durchgearbeitet haben, denn er bringt Zeilen und Strophen von über zwanzig Sängern. Sechs Strophen Ulrichs zitiert er so; bis auf eine, wo es um Minne geht (C 145 = Lied XXX, Str. 2), handeln sie von Ritterschaft.3 Der Herausgeber bringt sie wie die anderen Zitate als Beispiele für das exercitium triplex, equestre, gymnicum, musicum („die dreifache Übung, die ritterliche, sportliche und musische“, S. 263) des Adels, maiorum nostrorum mores („die Sitten unserer Vorfahren“, S. 348): das ist eine Motivation, die die Rezeption von Ulrichs Werk immer wieder bestimmen wird. Goldasts Veröffentlichung wurde bald nach seiner Entstehung ausgewertet: Wolfhart Spangenberg wollte den Straßburger Meistersingern die dort mitgeteilten Strophen vermitteln und erweiterte die bisherige 1
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Zur Überlieferung im 14., 15. und 16. Jahrhundert siehe den Beitrag von Wolf in diesem Band, S. 503–506. Melchior Haiminsfeld Goldast, Paraeneticorum veterum Pars I. In qua producuntur Scriptores VII […], Insulae [Lille] 1604. Ich gebe hier und im Folgenden die Strophennummern nach der Zählung von C: 72 (Lied XVI, Str. 2), 74 (Str. 4), 145 (Lied XXX, Str. 2), 187 (Lied XXXVIII, Str. 4), 188 (ebd., Str. 5), 311.
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Liste der ‚Alten Meister‘ um verschiedene Minnesänger, darunter auch Ulrich. Spangenbergs Traktat Von der Musica, Singekunst oder MeisterGesang, so bey den Teutschen üblich und gebräuchlich gewesen […] ist etwa 1614 entstanden und nur handschriftlich überliefert, war also nur für den Gebrauch in den Meistersingergesellschaften gedacht und sollte durch die Verherrlichung der langen meisterlichen Traditionen das Selbstbewusstsein der Sänger fördern.4 Goldasts Material wurde erneut abgedruckt von Johannes Schilter im Jahre 1717,5 der seine Ausgabe als Ersatz für die unauffindbar gewordene Goldastsche Edition verstanden wissen wollte (die Seltenheit wird auch einhundert Jahre später noch beklagt). Er verwendet den auch von Bodmer benutzten Entdeckertopos, wenn er im Vorwort sagt, er habe die alten Texte „aus der Asche aufwecken“ wollen. Wie Goldast geht es ihm vornehmlich um Zeugnisse der Sitten der alten Zeit, allerdings schimmert bereits eine ästhetische Wertschätzung durch, wenn er von rhythmis non prorsus invenustis ad formandos mores Alemannica Equestris sedulitas (S. VII) spricht, den „keinesfalls anmutslosen Versen, mit denen die Sitten der nach Ritterschaft strebenden Deutschen geformt werden“ sollten. Der Fokus liegt hier, wie bei Goldast, auf den paränetischen Texten. Schilter erwartet von dem neuen Zeitalter mehr Verständigkeit und Eifer bei den vaterländischen Dingen als zur Zeit Goldasts (ebd.). Die Texte aus der Manessischen (Pariser) Handschrift wurden neu verglichen von Johann Christoph Bartenstein. Johann Jakob Bodmer tat einen entscheidenden Schritt über seine Vorgänger hinaus, indem er sich von der Dominanz des didaktischen Paradigmas einerseits und der Fixierung auf das ritterliche und sportliche Exercitium andererseits löste und die ästhetische Dimension sowie, mehr noch, den Liebesdiskurs berücksichtigte. Minnestrophen wurden damit aus dem Fußnotendasein befreit und zum eigentlichen Gegenstand der Bemühungen. Im Jahre 1748 druckte er in seinen Proben der alten schwäbischen Poesie des Dreyzehnten Jahrhunderts zweiundzwanzig Strophen mit Minnethematik, zumeist in idealisierender Behandlung, aber auch die Strophen C 292 und 293 (Lied LVI, Str. 4–5), in denen ausführlich vom Küssen die Rede
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Ulrich erscheint S. 85–87; vgl. Horst Brunner, Die alten Meister. Studien zu Überlieferung und Rezeption der mittelhochdeutschen Sangspruchdichter im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. München 1975, S. 57. Thesaurus antiquitatum Teutonicarum […], Tom. II, Ulm 1717. Zu Goldast und Schilter vgl. Norbert Kössinger, „Die Anfänge der Mittelalterphilologie. Zur Wiederentdeckung und Edition deutschsprachiger Texte des Mittelalters und der frühen Neuzeit.“ LiLi 38, Heft 151, 2008, S. 32–51.
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ist, was nicht ganz zu Bodmers sittlichem Erziehungsprogramm passt, das er in seiner zweibändigen Gesamtedition (Sammlung von Minnesingern aus dem schwaebischen Zeitpuncte, Zürich 1758/59) proklamiert: man könne die vorbildlichen Grundsätze erkennen, „nach welchen man sich in dem taeglichen Leben gegen die Lehensherren, gegen die Fremden, gegen die Frauenspersonen, gegen die Kynstler, gegen Freunde und Feinde“ verhalten habe (S. V). Hier ist nahezu das gesamte Corpus der Lieder Ulrichs aufgenommen (es fehlen nur C 32a = Lied VIII, Str. 1, C 66 = Lied XIV, Str. 5 [mit deutlich ausgesprochenem Nähewunsch], C 103 = Lied XXI, Str. 4).
Lebens- und Liebeslehre Obwohl Bodmers Abdruck der Handschrift C wegen fehlender Abteilung der Lieder wenig benutzerfreundlich ist,6 nehmen verschiedene Dichter ihn zum Ausgangspunkt von Nachdichtungen, wie sie im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts als Möglichkeit angesehen wurden, die mittelhochdeutsche Liebeslyrik in den zeitgenössischen empfindsamen Diskurs zu integrieren. Johann Wilhelm Ludwig Gleim7 veröffentlichte im Jahre 1773 in Leipzig (das Titelblatt nennt fälschlich Berlin) anonym Gedichte nach den Minnesingern, in denen er jeweils einzelne Strophen aus den Corpora der Sänger herausgreift und mit den poetischen Ausdrucksmitteln seiner Zeit „[n]achahmt“, wie er sein Vorgehen versteht (Vorbericht). Die Minneklage C 114 (Lied XXIV, Str. 1) formt er zu einer Zeit- und Lebensklage unter der Überschrift An die Menschen um (S. 89) und die Propagierung höfischer Tugenden im Minnedienst C 77 (Lied XVI, Str. 7) wird zu einer ethischen Selbstbehauptung unter dem Titel An die Bosheit (S. 109 f.): Menschenhaß lohn ich mit Liebe, Grobheit mit Bescheidenheit.
Wie schon bei Goldast werden die Texte aufgenommen, die sich am ehesten zu einer allgemeinen Lebenslehre umformen ließen, die Eigen6
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Vgl. Volker Mertens, „Bodmers Murmeltier. Möglichkeiten und Grenzen der Minnesangrezeption im 18. Jahrhundert.“ LiLi 38, Heft 151, 2008, S. 52–63. Vgl. Volker Mertens, „ … zum Besten zweyer armer Mägdchen. J. W. L. Gleims Gedichte nach den Minnesingern und nach Walther von der Vogelweide.“ In: Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Produktion, Edition und Rezeption. Hrsg. von Thomas Bein. Frankfurt a. M. u. a. 2002 (Walther-Studien 1), S. 225–248.
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art des Minnesangs kommt so nicht in den Blick. Das ändert sich bald, allerdings nur ansatzweise. In das vierteljährlich erscheinende Frauentaschenbuch Iris werden im IV. Band (1775) Liebeslieder aufgenommen, die J[acobi], J[ohann] G[eorg] „wörtlich aus der alten Sprache unserer Vorfahren“ übersetzt haben will. Den Minnedienst versteht er gemäß dem bürgerlichen Ideal als naturhaft bedingte Integration von Gefühlsintensität und Eheliebe: „Sie [die Minnesinger] besangen ihre Gemahlinnen, oder ihre Bräute […] wie der Vogel singen muß, wenn der May kömmt“ (S. 60). Unter den Liedern sind vier Strophen von Ulrich (C 228, 229, 230 [Lied XLV, Str. 3–5] und 231 als ein Lied, obwohl C 231 zu einem anderen gehört [Lied XLVI, Str. 1]). In Band V ist ein Lied angeblich „nach Ulrich“ von Gleim aufgenommen: Die Trennung (S. 41). Auch hier stellt der empfindsame Dichter eine Verbindung von Ehe und Liebe her: Zündet Hymen seine Kerzen an den Pfeilen Amors an …
Welches Lied Ulrichs hier benutzt wurde, ist unklar; vielleicht liegt eine Verwechslung mit Konrad von Kilchberg C 3 vor, wo von der Fackel Amors gesprochen wird. Weitere Gedichte wurden von Friedrich David Gräter nachgeschaffen und in seiner Zeitschrift Bragur. Ein Litterarisches Magazin der Deutschen und Nordischen Vorzeit abgedruckt: in Band I (1791) unter dem Titel Blumen der Liebe, wo vier Lieder „von diesem naiven Dichter“ (S. 244) statt einer Einleitung fungieren: Was ist Minne (C 136, 137, 138 = Lied XXVIII, Str. 4–6), Minnesold (C 143 = Lied XXIX, Str. 5), Minneleid (C 32a = Lied VIII, Str. 1) und Göttin Minne (C 144–149 = Lied XXX, Str. 1–6). Das modische Signalwort ‚Minne‘ wird in jedem Titel verwendet und es besteht keine Berührungsangst mit erotischer Thematik mehr. In Band II werden S. 175 f. zwei Lieder, Was ist Selde (C 141 = Lied XXIX, Str. 3) und Seldenhort (C 142 = Lied XXIX, Str. 4), Nachschöpfungen von Christian Gottfried Böckh, publiziert, auf die Quelle, Bodmers Minnesinger, wird jeweils verwiesen. Dass die Originale gesungen wurden, ist dem Herausgeber bewusst: er hätte gern neue Melodien zu den übertragenen Gedichten und in Bragur Band VI findet sich auch ein Klavierlied im Stil des ausgehenden 18. Jahrhunderts: In so hoher Wonne schwebend (nach Heinrich von Morungen MF 125,19). Unter dem Titel Blumenlese aus den Minnesingern (2.) erscheinen Nachahmungen Gräters von C 29, 30 (Lied VII, Str. 1–2); C 133–138 (Lied XXVIII) und C 226–230 (Lied XLV) in Bragur Band VII (= Braga und Hermode Band IV). Auch die Folgezeit-
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schrift Idunna und Hermode öffnete sich Adaptionen: in Band I (1812) erschien eine Nachdichtung nach dem Tieckchen Modell (s. u.) von Carl Philipp Conz der durchgängig beliebten Strophen In dem luftesüezen meien (C 133–138 = Lied XXVIII); in Band II (1813) C 139–143 (Lied XXIX) und in Band III (1814/15, S. 70) C 151–154 (Lied XXXI, Str. 1–4) von Friedrich Haug, der sich auch ‚Frauenlob der Jüngere‘ nannte: Der Sommer und die Frauen. Aus dem Frauenpreislied Ulrichs übernimmt er die Tugendaspekte, Erotisches klammert er aus, so die Strophe C 151, wo vom Kuss gesprochen wird. Strophe C 154 lautet bei ihm: Weibesschöne, Weibesehre, Weibesminne, Weibeszucht Ist der Männer Tugendlehre Und des Ungeziemen Flucht. Ja die Milden Können Gutes Übergülden.
Die vierte Zeile spricht im Original von Liebesbegehren: minne gerndes herzen suht. Haugs Lied ordnet sich dem Typ des geselligen Frauenlobs ein, wie er in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts populär war. Mit Jacobi beginnt eigentlich die Entdeckung des Minnesängers Ulrich; seine formale Virtuosität, seine wenig komplizierte Syntax und die souveräne Handhabung des Minnesangvokabulars machen Ulrichs Lieder zur „Einleitung“ geeignet. Die Übertragungen Gräters sind, dem Niveau seiner Zeitschrift entsprechend, den Originalen näher, sie wenden sich von Gleims Prinzip des eher assoziativen Nachschaffens ab zugunsten einer textbezogenen Nachdichtung, die sogar das Metrum des Originals zu bewahren sucht.
Minnelieder Waren die empfindsamen und gelehrteren Adaptionen noch wenig erfolgreich, so änderte sich dies mit Ludwig Tiecks Publikation Minnelieder aus dem schwäbischen Zeitalter, Berlin 1803, die Jacob Grimm, Josef Görres und Ludwig Uhland stark beeindruckte.8 Tieck hatte sich gründlich mit 8
Brinker-Gabler, Poetisch-wissenschaftliche Mittelalter-Rezeption, S. 146–179, hier v. a. S. 175, 179; Volker Mertens, „Minnesangs zweiter Frühling. Von Bodmer zu Tieck.“ In: wort unde wîse, singen unde sagen. Festschrift Ulrich Müller zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Ingrid Bennewitz. Göppingen 2007 (GAG 741), S. 159–180, 173–179 (Tabellen mit dem Inhalt von Tiecks Ausgabe und der Handschrift); Ulrich Hun-
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Bodmers Sammlung beschäftigt, wie eine handschriftliche Vorform der Ausgabe, das Berliner Ms. germ. oct. 283, zeigt. Hier sind von den elf Liedern Ulrichs, die in die Buchedition aufgenommen wurden, sechs (mit z.T. weniger Strophen) in einer Sprachform vertreten, die noch weniger geschmeidig ist. Tieck hat die Konsequenz aus der Schwerverständlichkeit der Lieder in der Bodmerschen Sammlung gezogen und neuhochdeutsche Lautformen eingeführt sowie völlig unverständlich gewordene Wörter ersetzt. Vor allem sucht er die Reimklänge beizubehalten, denn Klang und Rhythmus waren ihm besonders wichtig und er wollte die Musikalität, „die Melodie der Lieder“ (Vorrede, S. VI), bewahren, da Poesie nicht in erster Linie kognitiv, sondern unbewusst über die Klanglichkeit erfahren wird. Daher faszinierte ihn die Vielfalt der Strophenformen, der „Töne“, und folglich ist der späte Minnesang bei ihm breit vertreten. Unter den 73 Liederdichtern nimmt Heinrich von Morungen mit 19 Liedern den Spitzenplatz ein, Ulrich steht mit 12 nach Walther von der Vogelweide und Johannes Hadloub (je 15) an vierter Stelle. Tieck wählt anders aus als Gleim oder Gräter, lässt z.B. das sangspruchhafte Lied C 133–138 (Lied XXVIII) fort und bevorzugt reine Minnelieder. Mitunter kürzt er, wenn die Strophen vornehmlich aus Variationen eines Gedankens bestehen. Ulrich erscheint in der Auswahl als formaler Könner mit eher konventionellem Inhalt (der für Tieck ohnehin weniger wichtig war). Es fehlen u.a. das Tagelied XXXVI (C 174–180, vielleicht wegen der erzählerischen Dimension) und das (in Auszügen von Gräter übersetzte) erotische Schaustück C 139–143 (Lied XXIX). Tieck wurde wegen der zu großen sprachlichen Nähe zum Mittelhochdeutschen kritisiert; Felix Mendelssohn hatte anscheinend keine Verständnisprobleme und vertonte 1830 das erste Lied Ulrichs aus den Minneliedern (C 16–20 = Lied IV) als op. 19a Nr. 1 für Singstimme und Klavier. Das Modell Tiecks wurde von Carl Philipp Conz in Idunna und Hermode von 1812 aufgegriffen: er gibt den Text mit wenigen Modernisierungen und erläutert einige Wörter. Die Auswahl ist typisch für das nunmehr dominierende Interesse an der Liebesthematik. Wilhelm Müller verwirklichte den schon von Gleim begonnenen Editionstypus, Nachdichtung und Originaltext (nach Bodmers Ausgabe) zu kombinieren, in seiner Blumenlese aus den Minnesingern (Berlin 1816): S. 88–101 gibt er vier Lieder Ulrichs in zweisprachiger Fassung: er gibt den Liedern poetische Überschriften, wie es üblich war ger, „Romantische Germanistik und Textphilologie: Konzepte zur Erforschung mittelelterlicher Literatur zu Beginn des 19. Jahrhunderts.“ DVjs 62, 1987, Sonderheft, S. 42*–68*. Vgl. auch den Beitrag von Young im vorliegenden Band, S. 9–15.
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(und bis in die Gegenwart blieb) und wodurch die Auffassung des Lesers in bestimmte Richtungen gelenkt wird: Lob der Minne (C 133–138 = Lied XVIII), Was ist Minne? (C 144–150 = Lied XXX), Mannes Freude (C 226–230 = Lied XLV) und Sehnsucht (C 289–293 = Lied LVI, Str. 1–5); er fügt zwei Strophen aus dem Frauendienst nach Bernhard Joseph Docens Nachtrag zu Bodmers Ausgabe (Miscellaneen zur Geschichte der teutschen Literatur I, München 1809, S. 111) an. Die Nachdichtungen, die Müller den deutschen Frauen widmet (S. VI) und sich damit selbst als Minnesänger stilisiert, die Ungenießbarkeit, die er Tiecks Ausgabe zuspricht (S. VI), trifft heute seine Adaptionen: Küssen ist der Minne Rose, Die die Wonnewunden ritzt. (Küssen ist der minnen rose / da si reitzet wunne mit, Lied LVI, Str. 6).
Einen großen Fortschritt bedeutete die Ausgabe von Friedrich Heinrich von der Hagen, Minnesinger 1838,9 der alle Liedstrophen aus der Handschrift C und die Ergänzungen aus dem Frauendienst aufnahm und im vierten Band eine umfangreichen Abriss von Ulrichs Leben nach den Urkunden und dem Frauendienst (den er für historisch weitgehend zuverlässig hielt) sowie Erläuterungen zu den Liedern gab. Mit seiner Ausgabe war erstmals das gesamte lyrische Werk Ulrichs verfügbar. In die Auswahlausgaben des 19. Jahrhunderts ist Ulrich zumeist nicht dem Umfang seines Werks entsprechend eingegangen. Die Edition von Karl Bartsch (Deutsche Liederdichter des 12. bis 14. Jahrhunderts. Eine Auswahl, Leipzig 1864) nimmt sieben Lieder Ulrichs sowie den Leich auf, Fridrich Pfaff (Der Minnesang des 12. bis 14. Jahrhunderts, Stuttgart 1891) hat ebenfalls sieben Lieder, aber nicht den Leich. Will Vesper übersetzte in seiner Ernte der deutschen Lyrik von 1906 zwei Lieder, C 231–235 (Lied XLVI) und das unverwüstliche C 133–135 (Lied XXVIII, Str. 1–3), letzteres wurde dreimal als Chorlied vertont: von Bruno Stürmer, Siegfried Rahlfs und Hugo Hermann. Die auf Bartschs Auswahl beruhende Übersetzung von dem zum George-Kreis gehörigen Friedrich Wolters, Minnelieder und Sprüche (Berlin 1909), bietet lediglich Lied XLVI (C 231–235). Ulrich war endgültig als Epigone abqualifiziert – noch die zweisprachige Ausgabe von Helmut Brackert hat nur zwei Lieder, Uwe Pörksen verzichtet ganz auf Ulrich.10 9 10
Zu von der Hagen vgl. auch den Beitrag von Young im vorliegenden Band, S. 29–32. Vgl. Minnesang. Hrsg. von Helmut Brackert. Frankfurt a. M. 1983, sowie Nemt, frouwe, disen kranz. Mittelhochdeutsche Gedichte. Hrsg. von Uwe Pörksen. Frankfurt a. M. 1982.
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Dichterliebe Im Jahre 1809 beschäftigte sich Tieck mit der Münchner Frauendiensthandschrift Cgm 44 und fertigte nach ähnlichen Prinzipien wie im Fall der Minnelieder-Ausgabe eine kürzende Übertragung an, die die erzählerischen Teile in Prosa umformt. Die Lieder wurden gegenüber den Minneliedern von 1803 im Sinn größerer Handschriftennähe überarbeitet. Tieck kürzte in der Narration die Teile, die nichts mit den Liedern zu tun haben, und schied aus, was er für redundant hielt, so variierende Wiederholungen. Daher ist der Text etwa ein Drittel kürzer als das Original. Tieck sah Ulrichs Werk als Autobiographie eines mittelalterlichen Dichters, interessierte sich allerdings mehr für die dichterisch-psychologischen Dimensionen als für die kulturgeschichtlichen. Die Lieder stehen für ihn im Zentrum, sie sind der eigentliche Roman, ähnlich wie es August Wilhelm Schlegel von Petrarcas Canzoniere gesagt hat.11 So hat es auch Josef Görres in seiner Rezensionaufgefasst: Ulrich habe „treulich aufgeschrieben, wie ihm zu Muth gewesen und wie ihm seine Zeit erschienen“ und der Frauendienst sei „ein Blatt aus der Weltgeschichte des Herzens“ – und nicht der mittelalterlichen Geschichte.12 Wie im Fall der Minnelieder richtet sich Tiecks Erneuerung an den nicht professionellen Leser (so es den professionellen überhaupt schon gab), die Texte werden als Literatur zum Genießen und nicht für eine wissenschaftliche Analyse bereitgestellt. Sie sind Teil der Universalpoesie und daher für den poetisch empfindenden Rezipienten auch dann verstehbar, wenn er die Bedeutung einzelner Wörter nicht erkennt. Tiecks Ausgabe erschien im Jahre 1812 unter dem Titel Frauendienst, oder: Geschichte und Liebe des Ritters und Sängers Ulrich von Lichtenstein, von ihm selbst beschrieben. Mit letzterer Formulierung nimmt er die gängige zeitgenössische Wendung für autobiographisches Schreiben auf. Die Ausgabe wurde 1818 im Rahmen der Wiener Werkausgabe bei Leopold Grund als achter Band unverändert nachgedruckt und 1885 erneut aufgelegt und damit relativ breit rezipierbar. Die Rezensionen des Erstdrucks begrüßen vor allem den Einblick in die Kultur- und Dichtungsgeschichte, einige kritisieren jedoch die Art der Modernisierung, deren Lektüre wegen des engen Anschlusses an die Überlieferung zu viel Mühe bereite; 11
12
Edith Höltenschmidt, Die Mittelalterrezeption der Brüder Schlegel. Paderborn u. a. 2000, S. 301. Heidelbergische Jahrbücher 1813, 6. Heft, S. 582–592, hier S. 586. Ausführlicher und mit anderer Schlussfolgerung Young in diesem Band, S. 13 f.
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Josef Görres findet sie hingegen „vollkommen und wohl verständlich“13 und auch die Besprechung in der Wiener Allgemeinen Literaturzeitung (Nr. 92, 16. November 1813) beurteilt die Bewahrung der altertümlichen Gestalt positiv und sieht darin einen Anreiz, die mittelhochdeutsche Sprache zu studieren.14 Im Jahre 1841 erschien die Ausgabe des Frauendiensts durch Karl Lachmann mit den Anmerkungen von Theodor von Karajan, aber Tiecks Adaption bestimmte die nicht-wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Text bis zu Gerhart Hauptmann. Karl Simrock nahm in seine Lieder der Minnesinger (Elberfeld 1857) fünf Lieder Ulrichs und einen Abschnitt aus dem Frauendienst in Nachdichtungen auf, obwohl er ihm „conventionelle Abgeschmacktheiten“ attestiert. Der leichte Stil, den Tieck als romantische Ursprünglichkeit und Naivität (miss)verstand, wird jetzt als wenig innovative oder bemühte Variation der Tradition angesehen; das innovative Tagelied C 174–180 (Lied XXXVI) nimmt Simrock nicht auf. Er überträgt Traum der Armen (C 16–20 = Lied IV), Stäte Liebe (C 29–32a = Lied VII, Lied VIII, Str. 1), Ob der Sonne (C 151–155 = Lied XXXI) und Warnung (C 169–173 = Lied XXXV). Aus dem Frauendienst übersetzt er (S. 215–245) in Versen nach Lachmanns Ausgabe die Episoden 14,13–37,24 (= Str. 53–134) einschließlich des ersten und zweiten Liedes (Liebesgruß, Tag und Nacht) und des ersten Briefs. Die Stelle umfasst unter anderem die Mundoperation, wodurch die Gestalt Ulrichs einen exzentrischen Aspekt erhält; das im 19. Jahrhundert wegen der sexuellen Ambiguität besonders irritierende Potential der Venusfahrt bleibt ungenutzt. Tiecks Ausgabe des Frauendienstes von 1812 las Gerhart Hauptmann im Herbst 1898,15 als er an seinem nie fertig gestellten Mittelalterdrama Kynast arbeitete. Ulrich sollte in dem Bühnenstück auftreten, wurde dann 13 14
15
Wie Anm. 8, S. 591. Sp. 1458, zit. nach Brinker-Gabler, Poetisch-wissenschaftliche Mittelalter-Rezeption, S. 195. Zu seiner Beschäftigung mit dem Text vgl. Spechtler, „Ulrich von Liechtenstein bei Gerhart Hauptmann und Hugo von Hofmannsthal“; Eberhard Hilscher. „Gerhart Hauptmanns Mittelalterdichtungen.“ In: Zeitgeschehen und Lebensansicht. Die Aktualität der Literatur Gerhart Hauptmanns. Hrsg. von Walter Engel und Jost Bomers. Berlin 1997, S. 92–109, hier S. 102–105 (polemische Fehleinschätzung); Opela, „Die ‚Frauendienst‘-Rezeption“; Brinker-von der Heyde, „Biographisches Spiel und gespielte Biographie“; Peter Sprengel, Der alte Dichter stand auf hoher Küste. Gerhart Hauptmann im Dritten Reich, erscheint Berlin 2010 (ich danke Kollegen Sprengel für Einsicht in das einschlägige Kapitel). Nicht auf das Ulrich-Drama geht ein: Jörg Platiel, Mythos und Mysterium. Die Rezeption des Mittelalters im Werk Gerhart Hauptmanns. Frankfurt a. M. u. a. 1993.
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jedoch aus dem Verzeichnis der Personen gestrichen, da Hauptmann anscheinend ein poetisches Potential der Gestalt erkannte, das er nicht nebenbei vergeuden wollte. Ulrich war als Autor, der sich seine eigene Lebens- und Spielwelt erschafft, eine Faszinationsgestalt für ihn. Seit 1910 plante er ein Drama Ulrich von Lichtenstein, 1918 machte er Notizen dazu, aber erst 1923 kam es zur Niederschrift des ersten Aktes in Bozen. Äußerer Anlass dafür war der erneute Besuch (Hauptmann war schon am 30. 1. 1899 dort gewesen) von Burg Runkelstein mit den spätmittelalterlichen Fresken u.a. zu Werken der erzählenden Literatur. Die bildliche Repräsentation von Minnegeschichten dürfte ihn zu einer Bühnendarstellung angeregt haben, hinzu kamen die Triaden, Dreiergruppen berühmter Helden, die ihn inspiriert habe mögen, einen besonderen Helden nach den alten Vorgaben zu schaffen. Dass die Burg und die Fresken deutlich jünger sind als die Lebenszeit Ulrichs, ist unerheblich. Weitere Impulse spielten eine Rolle, eine patriotische Motivation vor allem. Österreich hatte 1919 im Vertrag von Saint Germain Südtirol an Italien abtreten müssen, mit dem Erstarken des Faschismus 1922 kam es zu Repressionen in dem deutsch besiedelten Gebiet. Hauptmann wollte der politischen Realität eine „poetische Klammer“ entgegensetzen, wie er am 19. August 1923 an Erhard von Mutius schrieb. Sein Drama sollte die Präsenz der deutschen Sprache und Kultur in Südtirol feiern, obwohl Ulrich dort nur vorübergehend (Turnier in Brixen, Fingeroperation in Bozen) war. Hauptmann kombinierte sein Geschlecht mit den seit 1127 bezeugten Tiroler Ministerialen Liechtenstein, deren Stammburg Leifers bei Bozen liegt; daher spielen der zweite und vierte Akt des Dramas auf Runkelstein und auch die ursprüngliche Lokalisierung auf dem (auch metaphorisch verstandenen) Wolkenstein (statt Runkelstein) lässt sich daher erklären: Wilhelm IV. von Liechtenstein (Tirol) war mit Margarete Martha von Wolkenstein verheiratet.16 In der ersten Fassung des ersten Aktes gibt es eine Hymne auf das Tirolerland, die von Deutschtirolern in Venedig auf dem Canal Grande gesungen wird (der Schauplatz kommt aus dem Frauendienst und verweist auf den Beginn der Venusfahrt). Auch die Wahl des Mottogedichts kommt aus diesem Motivationsumfeld und schlägt eine Brücke von Schlesien nach Südtirol: im Jahre 1899 hatte Hauptmann auf einem Spaziergang zur Burgruine folgende Verse geschrieben: 16
Ulrich von Lichtenstein. Komödie (Bühnen und Vereinen gegenüber Manuskript). Berlin 1939: Herzogin Maria von Wolkenstein. Die an das Bild der manessischen Handschrift angelehnte Einbandzeichnung und die Fraktur (Ausgabe letzter Hand: Antiqua) betonen den „mittelalterlichen Charakter“.
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So will ich singen Tandaradei Auf meiner schnellen Pilgerfahrt, dem Echo will ich lauschen. Der Ruf erschallt! Das Echo verhallt! Die Wälder hör ich rauschen.
Der Sprecher identifiziert sich mit Walther von der Vogelweide durch das Zitat aus dem Lindenlied (L. 39,11), er schlägt das mittelalterliche Thema vom Leben als Pilgerfahrt an, wobei ‚Tandaradei‘ für die Liebe und ihre Vergänglichkeit steht, Hauptmann hatte das Wort zeitweise als Titel seines Dramas erwogen. Die Schlusszeile zitiert eine romantische Wendung für die überdauernde Natur und das Aufgehobensein in ihr. Wenn Hauptmann dieses Lied seinem Bühnenstück voranstellt, so deutet er seinen Inhalt. Das Gedicht bietet daneben eine Verbindung zu Bozen: der Ort galt als Geburtsstätte Walthers, und Hauptmann hat das Waltherdenkmal von 1889 dort gesehen, das als kulturelles Signal verstanden („die letzte deutsche Stadt auf dem Weg nach – Canossa“17) und daher von der faschistischen Regierung im Jahre 1926 entfernt wurde. Hauptmann schrieb 1923 den ersten Akt, 1926 den zweiten und 1927 den dritten. Auf Drängen seines Sekretärs Erhart Kästner vollendete er 1937 die Komödie mit dem vierten Akt. Für die Aufführung 1939 wurde der erste Akt überarbeitet. Ulrich von Liechtenstein eignete sich als eine besondere Dichtergestalt, er steht für ein Autorkonzept, mit dem sich Hauptmann identifizieren konnte und wollte. Er verbrachte den Oktober 1923 zusammen mit Thomas Mann im Hotel Austria. Letzterer arbeitete gerade am Zauberberg und führte nicht nur ausgedehnte Gespräche mit ihm, sondern beobachtete seinen Dichterkollegen aufmerksam, um die bereits geplante Gestalt des Mynheer Peeperkorn nach ihm zu modellieren, was Hautmann nicht ahnte. Die ganz andere, ihm entgegengesetzte Autorpersönlichkeit Manns muss ihm jedoch aufgegangen sein. Als er entdeckte, was der Verfasser des Zauberbergs mit seinen Eindrücken von ihm angefangen hatte, schrieb er in einem Konzept an den Verleger Samuel Fischer in Bezug auf Mann und seine Figuren: „Den Papiernen Menschen hasse ich“.18 Das klang positiver, aber in der Tendenz ähnlich in seinem Beitrag zum 17 18
Joseph Egger, Walther von der Vogelweide. Bozen 1876, S. 10. Samuel Fischer und Hedwig Fischer, Briefwechsel mit Autoren. Frankfurt a. M. 1989, S. 255.
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50. Geburtstag Manns; da schrieb er von dem „scharfen, gewissenhaften, sowohl brennenden, wie einigenden Blick“.19 Hauptmann sah sich eher als impulsiver, aus der Fülle des Lebens schaffender Autor. Ulrich mit seinem skurrilen und närrischen, aber immer authentischen Verhalten, seinem spontanen Dichten – er diktiert im ersten Akt ein Minnelied aus dem Stegreif, er liefert seine Suada in kuriosen, virtuos gesetzten Reimen ab – ist ein komödiantisch gespiegeltes Abbild seines Autors, Peeperkorn sowohl avant wie après la lettre. Dazu gehört auch die Liebe, die in Hauptmanns Quelle eine dominierende Rolle einnimmt. Neu ist bei Hauptmann die Eheproblematik, die im Frauendienst nur ganz am Rande hereinspielt. Im ersten Akt in Venedig übt sich Ulrich, halb nackt auf einem hölzernen Pferd sitzend, für die geplante Turnierfahrt als Frau Venus. Isabella, Ulrichs Nichte und Hofdame der geliebten Herzogin Maria auf Burg Runkelstein (erste Fassung: Wolkenstein), teilt Ulrich den Unmut seiner Herrin über die närrische Fahrt mit und dass sie den Verlust des Fingers bezweifle. Daraufhin hackt sich Ulrich den kleinen Finger selbst ab und wird ohnmächtig. Im zweiten Akt erhält Herzogin Maria auf Runkelstein (Wolkenstein) den abgehackten Finger in einem Kästchen. Ulrichs Frau Katharina, die sie aus ihrer Jugend kennt, beklagt sich über die Narrheit ihres Mannes und Maria fasst des Plan, Ulrich auf das Schloss zu locken, ihm vorzuspiegeln, sie erwarte ihn in ihrem Schlafgemach, ihn aber in Wirklichkeit seiner Frau dort unerkannt zuzuführen. Der dritte Akt spielt auf dem Turnierplatz bei Bozen (erste Fassung: Innsbruck). Ulrich erhält die lange ersehnte Nachricht von Maria und eilt als Pilger verkleidet zu ihr. Im vierten Akt auf Runkelstein (Wolkenstein) trifft Ulrich mit Maria zusammen und stiehlt ihr zwei Küsse, einen dritten verspricht sie ihm im Schlafgemach. Dort ist Katharina, ein Edeling will sich ihrer bemächtigen, Ulrich verscheucht ihn, sie verlässt das Gemach. Ulrich schläft ein; als er wieder geweckt wird, glaubt er, von seiner Frau geträumt zu haben. Maria nimmt ihn als ihren Ritter an, er holt sich den versprochenen dritten Kuss. Eigentlich will er ja Einsiedler werden, aber eine letzte Turnierfahrt darf er für Maria unternehmen: „Meinen Segen nimmst du mit!“, sagt sie.20 19
20
Carl F. W. Behl und Felix A. Voigt, Chronik von Gerhart Hauptmanns Leben und Schaffen. Würzburg 1993, S. 111. Zitiert nach der Ausgabe letzter Hand: Das gesammelte Werk. Erste Abteilung, fünfzehnter Band. Berlin 1943, S. 153.
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Hauptmann hat Frauendienst-Motive mit einem alten Schwankmotiv kombiniert: der Ehemann betrügt seine Frau mit dieser selbst ohne sie zu erkennen, was durch eine kluge Frau arrangiert wird. Beispiel dafür ist ein Märe des mittelhochdeutschen Autors Der Stricker, das unter den Titeln Das Bloch oder Der Gevatterin Rat ediert wurde.21Während das in den gängigen Varianten zur Versöhnung der Eheleute oder (wie beim Stricker) zur Demütigung des Ehemanns führt, bleibt die positive Lösung nur angedeutet, das Ende ist offen. Wie ernst ist es Ulrich mit seiner Sehnsucht nach einer stillen Klause? Oder bleibt er bei seinen Turnierfahrten im Dienst seiner Herrin, ist er unverbesserlich? Und das mit dem Segen Marias? Bemerkenswert ist Hauptmanns Namengebung: Ulrichs geliebte Herrin trägt den schicksalhaften Namen Maria (er kommt im Frauendienst nicht vor). Der Autor thematisiert die Namengebung ausdrücklich nicht nur im Spiel Ulrichs mit dem Namen der Gottesmutter Maria, sondern auch im Vergleich mit dessen Gattin. Die Herzogin fragt ihn: Magst du sie denn gar nicht leiden? Ulrich O gewiß … nach Brauch und Pflicht. Doch Maria ist sie nicht.22
Es ist der Name von Hauptmanns erster Frau Maria Thienemann, die er 1885 geheiratet hatte und von der er 1904 nach einer zehnjährigen Ehekrise (wegen seiner Liebe zu Margarete Marschalk) geschieden wurde. Ihr Tod im Jahre 1914 hatte den Dichter sehr mitgenommen. Ihre Gestalt tritt in wechselnden Erscheinungsformen im Werk Hauptmanns auf, so im Hexameterepos Mary, an dem Hauptmann gleichzeitig mit der Arbeit am Ulrich schrieb; 1936, als er das Epos abschloss, griff er auch die Komödie wieder auf.23 Sie ist die helle Spiegelung des Verhältnisses zu Maria, ein freundlicher Abschied und eine Zustimmung zum wilden Dichterleben. In dem fertig gestellten Bühnenstück scheint aber nicht nur das biographische Problem gelöst, sondern zugleich das politische und das poetologische.
21
22 23
Hauptmann konnte es aus Friedrich Heinrich von der Hagen. Gesammtabenteuer. Bd. 2. Stuttgart 1850, S. 171–192, kennen. Ebd., S. 131. Zum Maria/Mary-Komplex vgl. Peter Sprengel, Die Wirklichkeit der Mythen. Untersuchungen zum Werk Gerhart Hauptmanns aufgrund des handschriftlichen Nachlasses. Berlin 1982, S. 366 ff.
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Hauptmann hatte sich nach 1933 zuerst zurückziehen wollen in eine „Eremitage“ zu stiller Arbeit, in eine „Klosterzelle“,24 sich dann jedoch der nationalsozialistischen Herrschaft bis hin zu versteckten Huldigungen an Hitler angepasst und sich damit von Freunden und Anhängern isoliert. Man kann also den Ulrich als poetische Entschuldigung mit dem Recht einer ‚närrischen‘ Persönlichkeit lesen, in der die ursprüngliche Sehnsucht nach der Eremitage wieder aufflammt, ohne sich jedoch eindeutig durchzusetzen. Die Entschärfungen der patriotischen Dimension im ersten Akt wird man weniger als Rücksicht auf die Achse Rom–Berlin verstehen (der Hitler-Mussolini-Pakt, der die national deutsche Bewegung in Südtirol opferte, wurde erst 1939 geschlossen), sondern als Rücknahme der politischen Aspekte insgesamt. Eng verbunden damit ist die Projektion des Autorbildes: der spontan-vitale und auch einmal närrische Dichter findet einen – seinen? – Frieden im Verzicht auf Turniere und Kämpfe und – auf die Liebe. Die „umana commedia“ Ulrich von Lichtenstein bietet allerdings keine Lösung des gesellschaftlichen, politischen und autor-poetologischen Problems, sie ist „ganz verteufelt human“,25 das Ende hell, goethesch, harmonisch. Das spielerische Experiment konnte naturgemäß kein dauerhaftes Ergebnis zeitigen, in der folgenden Atridentetralogie wird der dunkle Aspekt dominieren. Hauptmann hat den mittelalterlichen Stoff analysiert und in einer Weise verstanden, die wissenschaftliche Erkenntnisse der letzten vierzig Jahre vorwegnimmt. Er hat ihn sich anverwandelt und dessen biographische, poetologische und politische Dimensionen in seine Lebensumstände, sein Dichtertum und seine Zeit transponiert. Seine Komödie hatte keinen Erfolg, sie wurde seit der Uraufführung im Burgtheater Wien am 11. November 1939 nicht wieder gespielt. Womöglich ist die persönliche Dimension zu ausgeprägt, zu der die sexuellen Anzüglichkeiten als Vitalitätssignal ebenso gehören wie der Redeschwall, der in seiner Mischung aus Umgangssprachlichkeit und Artifizialität durchaus moderne Züge trägt. Trotz mancher Einwände wegen der grotesken Szenen und der Dominanz des Sprachlichen über das Szenische bleibt Hauptmanns Drama die einzig bemerkenswerte Adaption des Frauendienstes. 24
25
Zit. nach Peter Sprengel, Gerhart Hauptmann. Epoche – Werk – Wirkung. München 1984, S. 230. Goethe über seine Iphigenie auf Tauris am 19. 1. 1802 an Schiller: Weimarer Ausgabe IV, 16, Nr. 4471.
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Eine triviale Fassungen soll nur kurz erwähnt werden, da sie weitgehend ohne Nachwirkung blieb und literarisch unbedeutend ist: die Novelle Ulrich von Lichtenstein des steirischen Erzählers Wilhelm Fischer, erschienen 1898 in Leipzig im Rahmen seiner Grazer Novellen, in denen er Gottfried Kellers Zürcher Novellen, insbesondere den Hadlaub (1877), imitiert. Es geht in völliger Abänderung der Vorlage um die erfolgreiche Brautwerbung des Ritters. Kaum mehr aufzufinden ist der Roman Ulrich von Liechtenstein von Carl Felix von Schlichtegroll (Dresden 1902). Der Autor war Sekretär von Leopold Sacher-Masoch und selbst bekennender Masochist, schrieb Romane und Sachbücher zu diesen und anderen sexualpsychologischen Themen, so die zweibändige historische Fallsammlung Die Bestie im Weibe. Beiträge zur Geschichte menschlicher Verirrung und Grausamkeit (Dresden 1903) sowie eine Geschichte des Flagellantismus (Leipzig 1913). Sein Ulrich-Roman erschien in der Reihe Die Venuspeitsche, wie bei Erotica üblich scheint die Auflage eher klein gewesen zu sein.26 Die erste dieser Erzählungen, Die Hexe von Klewan, wurde 1986 wieder gedruckt. Im Mittelpunkt des Romans steht eine Frau, Beatrix von Pfannenberg (Ulrichs zweite Herrin). Sie ist eine erotische Despotin, die die Männer unterwirft und quält, jedoch vor allem, weil diese sich unterwerfen wollen, wofür Schlichtegroll auf den Minnedienst verweist. Gerade dieser stößt Beatrix ab, ihre Sehnsucht gilt vielmehr dem Helden, dem Gott, sie hat bisher jedoch nur Knechte gefunden. Zu diesen gehört an prominentester Stelle Ulrich: ihretwegen lässt er sich Mund und Finger operieren, ihretwegen zieht er als Frau Venus durch die Lande und um zu ihr zu gelangen, verkleidet er sich als Aussätziger und lässt sich im Bettlaken in den Palas der Pfannenburg emporziehen, nicht ohne dass man ihn zweimal abstürzen lässt. Als er sich endlich am Ziel wähnt, muss er erleben, dass er verachtet und zurückgestoßen wird und die Pfannenbergerin die Spielregeln des Minnediensts gerade nicht einhält. So kehrt er, nunmehr geheilt von seinem Liebeswahn, zu seiner zänkischen Frau Bertha zurück. Die Handlung um Ulrich umrahmt die Hauptgeschichte, in der der Geschlechterkampf ausgetragen wird: als Einziger widersteht Herbord von Wyl lange dem Unterwerfungsbegehren der Pfannenbergerin, die gerade deshalb beginnt, ihn zu lieben; schließlich gewinnt sie ihn als Gefährten rauschhafter Nächte. Der Wyler sieht jedoch diese Situation als Versklavung, er sehnt sich nach Freiheit – und nach seinem treuen 26
Benutzt wurde das Exemplar der UB Salzburg, Signatur 32.281 (Sondersammlung, Hermann-Bahr-Stiftung).
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Jugendfreund Konrad von Teufers. Dieser sucht ihn in unermüdlicher Treue, findet ihn und will ihn aus der würdelosen Minnehaft lösen und zur Flucht bewegen, wird jedoch von Beatrix gefangen und ermordet, denn ein Waldweib hat ihr erklärt, wenn sie das Liebesobjekt des Wylers töte und ihm von dessen Fleisch zu essen gebe, werde sie den Geliebten für immer gewinnen. Sie setzt Herbord das Herz des Freundes vor; als dieser erkennt, was er gegessen hat, stößt er der Pfannenbergerin den Dolch ins Herz, die Hinstürzende fängt Feuer und die Burg verbrennt. Der Liechtensteiner sieht von fern, wie eine männliche Gestalt mit einer anderen in den Armen (Konrad) von der höchsten Zinne stürzt: die Freundesliebe hat über die erniedrigende Begierde gesiegt. Schlichtegroll hat die Konstellation nach Richard Wagners Oper Tannhäuser gestaltet: Beatrix trägt Züge der Frau Venus, Herbord ist nach dem Tannhäuser modelliert (er sehnt sich nach Freiheit aus dem Reich der Sinnenlust und will sich wallfahrenden Büßern anschließen), Konrad schließlich trägt Züge Wolframs, der den Freund aus dem Venusberg zu retten sucht. Die Geschichte vom gegessenen Herzen stammt aus Konrads von Würzburg Herzmäre – dort ist es allerdings die Frau, die das Herz des Geliebten vorgesetzt bekommt. Der böse Zwerg Hertnit kommt aus Gottfrieds von Straßburg Tristan. Der Roman zeugt vom Interesse des Autors an sexuellen Devianzen, er liest sich wie ein Extrakt aus Richard Krafft-Ebings Psychopathia sexualis von 1890, wo dieser erstmals den Begriff ‚Masochismus‘ als Gegenbild zum ‚Sadismus‘ einführt. Der Masochismus, so wie ihn Leopold von Sacher-Masoch in seinen Romanen (etwa Venus im Pelz) exponiert hat, spielt bei Schlichtegroll nur eine geringe Rolle: es gibt nur Ansätze für den masochistischen Vertrag (die Einwilligung des Opfers in die Bestrafung). Zwar akzeptiert der Wyler, nachdem er der Pfannenbergerin sexuell verfallen ist, immer wieder die ihm von Beatrix auferlegten Qualen, aber er empfindet keine Schmerzlust. Die sexuelle Erfüllung, wie sie von ihm und Beatrix gelebt wird, ist ein wechselseitiger Sinnenrausch ohne Erniedrigungsrituale. Auch Ulrich empfindet keine Befriedigung in der Unterwerfung, sie ist für ihn nur ein Ziel, die sexuelle Gunst seiner Herrin zu erlangen. Momente einer nicht-genitalen Lust zeigen sich allerdings im Transvestismus als Frau Venus.27 In einer Vision erlebt er eine körperliche Verweiblichung und genießt die vestimentäre Verwandlung, die er durch entsprechende Gestik und Stimmanpassung vervollständigt. 27
Zur gendertheoretischen Interpretation der Venusfahrt vgl. auch den Beitrag von Sieber im vorliegenden Band, S. 264–266, 269–273.
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In der Beziehung zwischen dem Wyler und dem Teufers wird eine existentielle Männerfreundschaft gezeichnet, die als reinere und höhere Form der Liebe erscheint; homoerotische Untertöne sind unüberhörbar. Mit dem Zwerg Hertnit, der Beatrix zu vergewaltigen versucht und von ihr gemartert und getötet wird, erscheint die zeitgenössische Faszinationsfigur des sexuell Ausgegrenzten, Hässlichen, der sein Recht auf Lust einfordert (vgl. Alexander Zemlinsky, Der Zwerg). Beatrix schließlich ist eine herrschsüchtige Frau, die Widerstand grausam rächt, aber sie empfindet dabei keine sexuelle Erregung. Schlichtegroll hat also keinen masochistischen Roman in der Nachfolge Sacher-Masochs geschrieben, sondern eine wohl kalkulierte Mischung aus sex and crime, die ein gewisses Unterhaltspotential besitzt. Er erzählt in wirkungsvoll kontrastierenden Szenen mit Zeitkolorit, dessen Glaubhaftigkeit durch Anmerkungen nachgewiesen werden soll. Doch seine Handlungsmuster sind stark klischeehaft und die erotischen Abenteuer bleiben blass, es gibt keinen Wort-Sex, die Ekstasen von Beatrix und Herbord werden benannt, aber nicht beschrieben. Ausführlicher wird der Erzähler bei Grausamkeiten wie wenn die Pfannenbergern dem Zwerg die Fingernägel herausreißt oder dem Teufers die Kehle durchschneidet. Ulrich von Liechtenstein bildet eine positive Ausnahme: seine Geschichte (nach dem Frauendienst) bietet Unerwartetes und sein verzweifelter Enthusiasmus für die abweisende grausame Herrin berührt sympathisch ebenso wie seine endliche Befreiung von ihr. Als Dichter tritt er kaum in Erscheinung – zwar schickt er Beatrix Lieder, von denen hin und wieder Strophen zitiert werden (eine einzige originale), aber diese werden gleich ins Feuer geworfen. Ulrich gewinnt den Preis für die beste Nebenrolle, die Hauptrollen sind jedoch nicht auszeichnungswürdig, der Roman bleibt zu Recht vergessen. Das Litterarische Echo von 1902 (Nr. 15) schrieb reichlich schmeichelhaft von „Energie und Leidenschaftlichkeit“ sowie der „raffinierten Schilderung weiblicher Geilheit und männlicher Liebestollheit“, was der Verlag zur Werbung für die Reihe nutzte. Die Annäherung Ulrichs an Vorstellungen von sexueller Devianz ist damals neu, aber nicht abgetan, wie neuere Arbeiten zeigen.28 Nur zu erwähnen sind die Novelle von Luise George Bachmann, Frau Venus zieht durchs Land (in: Musikantengeschichten, Paderborn 1939,
28
Müller, „Männerphantasien eines mittelalterlichen Herren“.
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S. 7–14), und Heinz Gerstinger, Frau Venus reitet … Die phantastische Geschichte des Ulrich von Liechtenstein, St. Peter ob Judenburg 1995. Martin Neubauer (Zeichnungen) und Helmut Birkhan haben 1981 im Zusammenhang mit der Kuenringerausstellung im Stift Zwettl einen sechsseitigen Comic auf der Basis des Frauendienstes herausgebracht, der auf Kindheit und Jugend, Waschwasserepisode, Mund- und Fingeroperation, Venusfahrt und Leintuchabsturz konzentriert ist. Der mittelhochdeutsche Text der Sprechblasen (mit Übersetzung) soll zur Lektüre des Originals anregen oder zumindest vermitteln, dass es im Mittelalter kurios und lustig zugegangen ist. Mehrfach kam es im 20. Jahrhundert zu Adaptionen des Frauendiensts: durch Michelangelo Baron Zois (Stuttgart 1924) und Will Vesper (Malente-Gremsmühlen 1928), die neuhochdeutsche Fassung von Franz Viktor Spechtler (Klagenfurt 2000) vermittelt erstmals einen vollständigen Eindruck des Textes. Der Film Ritter aus Leidenschaft (A Knight’s Tale) von Brian Helgeland aus dem Jahr 2001 verwendet zwar den Namen Ulrich von Liechtenstein als alias des Helden, benutzt aber nichts aus dem Frauendienst, sondern ist eine freie Adaption nach Geoffrey Chaucers Canterbury Tales. Gerhart Hauptmann hatte am 7. Mai 1925 Richard Strauss vorgeschlagen, eine Ulrich-Oper zu schreiben, der Komponist lehnte jedoch nach kurzer Überlegung ab, sicher auch weil er die Zusammenarbeit mit seinem ‚Hauslibrettisten‘ Hugo von Hofmannsthal nicht aufgeben wollte, dieser sah in Ulrich eine „greuliche Figur“.29 Er kannte ihn vermutlich aus Tiecks Frauendienst-Ausgabe. „Greulich“ fand er ihn wahrscheinlich wegen der grotesken Züge und seines veräußerlichten Minnedienstes. In einer solchen Funktion hatte er schon 1911 eine Strophe von ihm in seinen Jedermann aufgenommen, die letzte des Liedes VII (C 32a). Der „Dünne Vetter“ des reichen Jedermann singt dieses Lied beim Festmahl, zu dem auch andere Adaptionen mittelalterlicher Lieder (Carmina burana, Burkhart von Hohenvels) vorgetragen werden,30 um das Zeitkolorit des Jedermann als spätmittelalterliche Moralität deutlich zu machen. Die Apostrophe „Frau Minne“, grammatisch und syntaktisch altertümliche Formen wie „brinne“, „wollt helfen mir“ wirken als ent29
30
Brief vom 1. Juli 1927. In: Richard Strauss – Hugo von Hofmannsthal. Briefwechsel. Hrsg. von Willi Schuh. 4. Auflage. Zürich 1970, S. 578. Hofmannsthal hat vermutlich die Ausgabe von Karl Bartsch und Wolfgang Golther (Deutsche Liederdichter des 12. bis 14. Jahrhunderts) benutzt, die 1910 in der 4. Auflage erschienen war.
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sprechende Signale. Die Welt der Minne gehört zu der oberflächlichen Festgesellschaft, von der Jedermann verlassen wird, sobald der Tod ihn ruft. Inwieweit Hofmannsthal mit dem Dünnen Vetter auch Ulrich als Minneritter herbeizitiert, muss offen bleiben; klar erkennbar ist es nicht.31 Dass ein Lied von ihm benutzt wurde, ist dennoch kein Zufall: seine Lyrik steht für die Verfügbarkeit des minnesängerischen Sprachund Bildinventars und damit für eine oberflächliche Inszenierung der Minneverfallenheit. Das eigentlich Originelle an Ulrichs erdichteter Welt, die Verschränkung und Spiegelung von Biographie, Politik und Fiktion in verschiedenen Dimensionen, hat nur Gerhart Hauptmann erkannt und dichterisch umgesetzt. P.S. ‚Hêr Uolrîch von Liechtenstein‘ ist einer der zwölf Sänger im rot-goldschwarzen Großfolio-Prachtband Deutsche Minnesänger in Bild und Wort, gezeichnet von E(duard) von Lüttich, gestochen von E. Forberg, Text von Hyacinth Holland, Wien [1878]. Das Bild zeigt ihn in „unkriegerischem Gewand“, nämlich einem weiblichen, aber unverkennbar männlich mit kräftigen Waden und gespornten Füßen, eher walkürenhaft als venusgleich: „das schadet dem Lichtensteiner nichts, denn die zu Füssen liegende zerbrochene Lanze zeigt den mannlichen, nie aus dem Sattel gehobenen Speerbrecher und Turnierhelden“ (S. 37). Die Bilder gab es auch als Ansichtskarten. Solange man den Mann erkannte, durfte Ulrich ein Frauenkleid tragen.
31
Vgl. Spechtler, „Ulrich von Liechtenstein bei Gerhart Hauptmann und Hugo von Hofmannsthal“.
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Volker Mertens
Deutsche Minnesänger in Bild und Wort. Gezeichnet von E(duard) von Lüttich, gestochen von E. Forberg, Text von Hyacinth Holland, Wien [1878], S. 32. Staatsbibliothek zu Berlin
Kommentierte Bibliographie
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V. Kommentierte Bibliographie zu Ulrich von Liechtenstein von S ANDRA L INDEN Die Kommentierung fasst die Publikationen in ihren Hauptthesen zusammen und ordnet sie in vorhandene Untersuchungsschwerpunkte der Ulrich-Forschung ein, um dem Benutzer den bibliographischen Zugriff zu erleichtern und eine Vorauswahl nach Interessensgebieten zu ermöglichen. Lexikon- und Handbuchartikel werden aufgrund ihrer allgemeinen Ausrichtung nicht kommentiert. Die Kurztitel, wie sie von den Beiträgern in den Fußnoten verwendet werden, sind fett gedruckt.
1. Editionen, Übertragungen, Bearbeitungen Frauendienst und Frauenbuch Ulrich von Lichtenstein. Mit Anmerkungen von Theodor von Karajan. Hrsg. von Karl Lachmann. Berlin 1841. Nachdruck Hildesheim, New York 1974. Ulrich von Lichtenstein, Ed. Lachmann Lachmann hatte durch Wilhelm Wackernagel eine Abschrift der Hs. M kopieren lassen, auf der die Edition beruht. Den relativ geringen Editionsaufwand begründet er damit, dass er Ulrich für einen zweitklassigen Autor hält. Namensregister im Anhang.
Frauendienst Frauendienst, oder: Geschichte und Liebe des Ritters und Sängers Ulrich von Lichtenstein, von ihm selbst beschrieben. Nach einer alten Handschrift bearb. und hrsg. von Ludwig Tieck. Wien 1818 (Ludwig Tieck’s sämmtliche Werke 8). Frauendienst, Ed. Tieck Tieck bietet die erste vollständige Edition des Frauendienst, es handelt sich um eine recht wortgenaue Übertragung des mittelhochdeutschen Originals.
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Sandra Linden
Ulrich’s von Liechtenstein Frauendienst. Hrsg. von Reinhold Bechstein. 2 Bde. Leipzig 1888 (Deutsche Dichtungen des Mittelalters 6–7). Frauendienst, Ed. Bechstein Kritische Edition mit ausführlichem Stellenkommentar, im Anhang hilfreicher Wortindex sowie Namens- und Ortsregister. Bechstein führt die heute gängige Zählung des Frauendienst nach Handlungsstrophen bzw. Liednummern ein, die Seitenangaben der Lachmannschen Edition sind jedoch beigegeben. Zitate im vorliegenden Handbuch folgen, sofern nicht anders angegeben, dieser Edition.
Ulrich von Liechtenstein’s Service of Ladies. Übersetzt in komprimierter Fassung und mit einer Einleitung von John Wesley Thomas. Chapel Hill 1969 (University of North Carolina Studies in the Germanic Languages and Literatures 63). Frauendienst, Ed. Thomas (1969) Englische Übersetzung des Frauendienst mit ausführlicher Einleitung, die die zentralen Interpretationsansätze der Forschung zusammenfasst.
Ulrich von Lichtenstein. Frauendienst (‚Jugendgeschichte‘). In Abbildungen aus dem Münchner Cod. germ. 44 und der Großen Heidelberger Liederhandschrift. Hrsg. von Ursula Peters. Göppingen 1973 (Litterae. Göppinger Beiträge zur Textgeschichte 17). Frauendienst, Ed. Peters Schwarz-weiß-Faksimile der Jugendgeschichte, begleitet von einem kurzen Forschungsabriss und einer Handschriftenbeschreibung.
Ulrich von Liechtenstein. Frauendienst. Hrsg. mit einem Vorwort und einer Einleitung von Franz Viktor Spechtler. Göppingen 1987. 2., durchgesehene und verbesserte Auflage Göppingen 2003 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 485). Frauendienst, Ed. Spechtler (1987) bzw. (2003) Unkommentierte Edition mit knappen textkritischen Anmerkungen, einer Einleitung mit Schwerpunkt auf der historischen Situation, einer gliedernden Inhaltsübersicht sowie einer in der 2. Aufl. aktualisierten Bibliographie.
Ulrich von Liechtenstein. Frauendienst. Roman. Aus dem Mittelhochdeutschen ins Neuhochdeutsche übertragen von Franz Viktor Spechtler. Klagenfurt 2000 (Europa erlesen. Literaturschauplatz). Frauendienst, Ed. Spechtler (2000)
Kommentierte Bibliographie
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Handliche Übersetzung ins Neuhochdeutsche, die explizit für ein lautes Vorlesen konzipiert ist und daher Zeilenrhythmus und Silbenzahl weitgehend beibehält, auf ein Nachbilden der Reime jedoch verzichtet.
Ulrich von Liechtenstein’s Service of Ladies. Übersetzt von John Wesley Thomas. Mit einer Einleitung von Kelly DeVries. Woodbridge 2004 (first person singular). Frauendienst, Ed. Thomas (2004) Teilübersetzung ins Englische, die in den narrativen Passagen paargereimt ist und auch das metrische Schema der Lieder nachbildet. Die Übersetzung umfasst Ulrichs ersten Minnedienst, wobei mal einzelne Strophen, mal größere Textpassagen ausgelassen sind. Von den Liedern des ersten Dienstes sind lediglich sieben aufgenommen. Nach Str. 1376 bzw. dem 28. Lied bricht die Übersetzung ab.
Frauenbuch „Des Ritters und Sängers Ulrich von Liechtenstein Itwiz oder Frauenbuch vom Jahre 1257 [vorgestellt zum ersten Mal aus der einzigen Handschrift im sogenannten Heldenbuch der kaiserlichen und königlichen Ambraser Sammlung von Joseph Bergmann].“ Jahrbücher der Literatur / Anzeige-Blatt für Wissenschaft und Kunst 92, 1840, S. 1–33, und 93, 1841, S. 1–19. Frauenbuch, Ed. Bergmann Bergmann transkribierte das Frauenbuch aus dem Ambraser Heldenbuch, während Lachmann ebenfalls an einer Frauenbuch-Edition arbeitete. Im Anhang findet sich ein Wortindex.
Ulrich von Liechtenstein. Frauenbuch. Hrsg. von Franz Viktor Spechtler. Göppingen 1989. 2., durchgesehene Auflage Göppingen 1993 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 520). Frauenbuch, Ed. Spechtler Parallele Gegenüberstellung der Handschriftentranskription und eines normalisierten Texts mit einer kurzen Einleitung und textkritischen Anmerkungen. Eine Inhaltsübersicht gibt den Gesprächsverlauf in seinen wesentlichen Zügen wieder. Die Verse sind im Gegensatz zur Lachmann-Edition durchnummeriert, zur Orientierung werden Lachmanns Seitenangaben beigegeben.
Ulrich von Liechtenstein. Das Frauenbuch. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Christopher Young. Stuttgart 2003 (Reclam Universal-Bibliothek 18290).
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Sandra Linden
Frauenbuch, Ed. Young Normalisierter mittelhochdeutscher Text mit neuhochdeutscher Übersetzung und einem ausführlichen Stellenkommentar, der auch Vergleichsstellen aus anderen minne- und moraldidaktischen Quellen aufzeigt. Die Einleitung ordnet das Frauenbuch in das Spektrum der Minnereden ein und diskutiert die einschlägigen Forschungspositionen, im Anhang findet sich eine Bibliographie. Zitate im vorliegenden Handbuch folgen, sofern nicht anders angegeben, dieser Edition.
Lyrik „Herr Ulrich von Lichtenstein.“ In: Minnesinger. Deutsche Liederdichter des 12., 13. und 14. Jahrhunderts […]. Hrsg. von Friedrich Heinrich von der Hagen. 2. Teil. Manessische Sammlung. Leipzig 1838. Neudruck Aalen 1963, S. 32–62. HMS Von der Hagen ediert Ulrichs Minnelieder nach der Manessischen Handschrift und druckt 59 Lieder ab. Die Strophennummerierung von Hs. C ist beigegeben.
Sechs Lieder Ulrichs von Liechtenstein. Ins Neuhochdeutsche übersetzt von Joseph Strobl. Wien 1897. Sechs Lieder, Ed. Strobl In einer Auflage von 60 Exemplaren bietet Strobl in dieser Festgabe recht textnahe Übersetzungen der Lieder IX, XI, XII, XXXVI, XXXVIII und XL. Das Heft bietet den neuhochdeutschen Text ohne Kommentierung oder Einleitung.
„Die Lieder Ulrichs von Liechtenstein.“ In: Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts. Bd. 1. Hrsg. von Carl von Kraus. Tübingen 1952. 2. Ausg. Hrsg. von Gisela Kornrumpf. Tübingen 1978, S. 428–494 (Kommentar Bd. 2, S. 519–557). KLD Liededition mit kritischem Lesartenapparat und Kommentar im zweiten Band. Hs. C dient als Leithandschrift, der Leich wird nach der Frauendienst-Hs. L ergänzt. Die in L nicht überlieferten Lieder LVII–LIX werden allein nach C ediert, Lied LIX dabei als unecht markiert.
„Ulrich von Liechtenstein.“ In: Deutsche Lyrik des späten Mittelalters. Hrsg. von Burghart Wachinger. Frankfurt a. M. 2006 (Bibliothek des Mittelalters 22), S. 132–159. Bibliothek des Mittelalters
Kommentierte Bibliographie
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Die Sammlung spätmittelalterlicher Lyrik bietet Ulrichs Lieder III, VII, XXXIII, XXXVIII und XL mit Übersetzung und einem detaillierten Stellenkommentar im Anhang, der auch die Rahmenhandlung, Metrik sowie Liedüberschriften berücksichtigt und jedes Lied einem spezifischen Typus zuordnet.
Freie Bearbeitungen (Auswahl) Fischer, Wilhelm. Ulrich von Liechtenstein. Grazer Novellen. Bd. 1. Leipzig 1898. Grazer Novellen Die an Gottfried Keller orientierte Novelle konzentriert sich auf die Liebe zwischen Ulrich und Berchta von Weißenstein. Berchta wird später Ulrichs Ehefrau, steht seiner Werbung aber kritisch gegenüber, solange er einer anderen Dame als Minnediener verpflichtet ist.
Schlichtegroll, Carl Felix von. Ulrich von Liechtenstein. Die Venuspeitsche. Bd. 2. Dresden 1902. Venuspeitsche Schlichtegroll ist im Umkreis von Leopold Sacher-Masoch anzusiedeln und formt den Frauendienst in einen sexualpathologischen Roman um. Die Despotin Beatrix von Pfannberg unterwirft sich eine Reihe von Minneknechten, unter ihnen auch Ulrich. Lediglich Herbord von Wyl kann ihr Paroli bieten und avanciert zum Protagonisten, da Beatrix sich in ihn verliebt.
Ulrich von Liechtenstein. Der Frauendienst des Minnesängers Ulrich von Liechtenstein. Frei bearbeitet von Michelangelo Baron Zois. Stuttgart 1924 (Memoiren-Bibliothek VI/10). Frauendienst In Absetzung von Tieck bietet Zois keine wörtliche Übersetzung, sondern eine freiere Übertragung des Frauendienst, wobei es ihm um die Erschließung der ritterlich-höfischen Lebenswelt geht. Nach einer 80-seitigen Einleitung beginnt eine Prosaparaphrase des Frauendienst, die stellenweise mhd. Strophen bestehen lässt oder nachahmt, die Lieder und Büchlein (z. T. nach Tiecks Übersetzung) in eine neuhochdeutsche Reimform überträgt.
Vesper, Will. Ulrich von Lichtenstein. Neudeutsch. Holzschnitte von Karl Lorenz. Malente Gremsmühlen, Ost-Holstein 1928. Ulrich von Lichtenstein Hauptmann, Gerhart. Ulrich von Lichtenstein: Komödie. Berlin 1939. Ulrich von Lichtenstein
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Sandra Linden
Die seit 1910 geplante Komödie wurde 1937 vollendet und mit kleinen Veränderungen 1939 uraufgeführt. Die Handlung ist um den ersten Dienst angelegt: Ulrichs Dame, die Herzogin Maria, und seine Frau verbünden sich gegen den Minnenarren Ulrich und planen ein lustiges Komplott, um ihn von seinem Wahn des höfischen Minnedienstes zu befreien.
Ulrich von Liechtenstein. Narr im hohen Dienst. Nach der Textausgabe von Karl Lachmann ausgewählt, übertragen und eingeleitet von Walter Zitzenbacher. Graz, Wien 1958 (Stiasny-Bücherei 37). Narr im hohen Dienst Freie Übertragung ausgewählter Episoden des Frauendienst mit einigen inhaltlichen Ergänzungen. Insgesamt versteht Zitzenbacher die Kostümfahrten als politisches Mittel und geht von der historischen Realität der im Frauendienst geschilderten Ereignisse aus.
Ulrich von Lichtenstein. frowendienest. Frauendienst. Zeichnungen von Martin Neubauer, Übersetzungen von Helmut Birkhan und Martin Neubauer. Graz 1981. frowendienest Detailreiche Comicversion, in der die Figuren als Tiere dargestellt sind: Ulrich als Hase, die Dame als Falke, Erzieher Heinrich als Bär und Hadmar von Kuenring als Hund. Die Handlung bildet den ersten Dienst bis zum missglückten Stelldichein ab. Dem auf den rechten Seiten ausgeführten mittelhochdeutschen Comic sind auf den linken Seiten Übersetzungen in Sprechblasen beigegeben.
Gerstinger, Heinz. Frau Venus reitet … Die phantastische Geschichte des Ulrich von Liechtenstein. St. Peter ob Judenburg 1995. Frau Venus reitet Es handelt sich um eine Art kommentierende Paraphase des Frauendienst, in der Ulrich als konservativer Landadliger gezeigt wird, der seine Jugenderinnerungen aufzeichnet.
2. Forschungsliteratur Aarburg, Ursula. Ulrich von Lichtenstein. Autobiographie und Persönlichkeit. Frankfurt a. M. 1966. Autobiographie und Persönlichkeit Aarburg verfolgt in ihrer Dissertation eine autobiographische Ausdeutung des Frauendienst, indem sie die Angaben des Romans auf ihren historischen Wahrheitsgehalt überprüft.
Kommentierte Bibliographie
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Ackermann, Christiane. „‚mîn lîp reht als ein stumbe sweic.‘ Ich ≠ Subjekt ≠ Körper. Zu Ulrichs von Liechtenstein ‚Frauendienst‘.“ In: Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (18. bis 20. März 1999). Hrsg. von Klaus Ridder und Otto Langer. Berlin 2002 (Körper, Zeichen, Kultur 11), S. 139–155. „Ich ≠ Subjekt ≠ Körper“ Der Beitrag fragt nach dem Verhältnis von Körperlichkeit und Subjektivität im Frauendienst. Unter Bezug auf die Theorien Lacans wird für die Figur Ulrich eine Subjektkonstitution beobachtet, die sich am Phänomen des fragmentierten Körpers ablesen lässt und vor allem für den ersten Minnedienst relevant ist.
Ackermann, Christiane. Im Spannungsfeld von Ich und Körper. Subjektivität im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach und im „Frauendienst“ Ulrichs von Liechtenstein. Köln u. a. 2009 (Ordo 12). Im Spannungsfeld von Ich und Körper Die Interpretation des Frauendienst fragt nach Autor- und Körperinszenierungen und erschließt über die Analyse der Ich-Disposition mittelalterliche Äußerungsformen von Subjektivität. Ackermann konzentriert sich zunächst auf die Körperinszenierungen des ersten Dienstes und zeigt, wie aus dem Scheitern des Protagonisten zugleich eine neue ‚Autorität‘ erwächst, nämlich die Fähigkeit zur souveränen Dichtung. Der zweite Dienst und seine Lieder demonstrieren diese neue dichterische Unabhängigkeit.
Arens, Hans. Ulrichs von Lichtenstein ‚Frauendienst‘. Untersuchungen über den höfischen Sprachstil. Leipzig u. a. 1939 (Palaestra 216). Untersuchungen über den höfischen Sprachstil Arens bietet nach einigen allgemeinen Bemerkungen zur Stilanalyse eine detaillierte quantifizierende Textanalyse der narrativen Passagen des Frauendienst und attestiert Ulrich einen epigonalen Stil. Er stellt neben einem hohen Anteil direkter Rede ein Übermaß an Abstrakta fest, die sich auf Werte der höfischen Lebensführung beziehen.
Bechstein, Reinhold. „Erwiderung. Zum Geschlecht Ulrichs von Liechtenstein.“ Germania 33, 1888, S. 506 f. „Erwiderung“ Bechsteins Erwiderung auf Schönbachs Kritik an seiner Frauendienst-Edition, im Zentrum steht Bechsteins falsche Behauptung, dass das Haus Liechtenstein noch existiere.
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Sandra Linden
Becker, Anton. „Der Weg der Venusfahrt Ulrichs von Liechtenstein in Niederösterreich.“ Monatsblatt des Vereines für Landeskunde von Niederösterreich 11, 1924/1925, S. 34–43. „Der Weg der Venusfahrt“ Becker sieht Ulrichs Minnedienst abwertend als groteske Übertreibung, die Route der als historisch verstandenen Venusfahrt wird detailliert, z. T. unter Angabe konkreter Straßen, rekonstruiert.
Becker, Reinhold. „Ritterliche Waffenspiele nach Ulrich von Liechtenstein.“ Jahresbericht des evangelischen Realprogymnasiums in Düren 458, 1887, S. 1–31. „Ritterliche Waffenspiele“ Der Beitrag liest den Frauendienst unter dem Blickwinkel der Sachkultur als eine Art historischen Bericht und zieht aus Ulrichs Beschreibungen Informationen über ritterliche Bewaffnung, Kampftechnik und Turnierformen.
Becker, Reinhold. Wahrheit und Dichtung in Ulrich von Lichtensteins Frauendienst. Halle 1888. Wahrheit und Dichtung Becker fasst Ulrichs Kostümfahrten als historisches Faktum auf, gesteht den Minnedienstschilderungen aber ein fiktionales Element zu (z. B. in der Gestaltung der Boten). Die einzelnen Episoden der Handlungsebene werden in eine wahr/unwahr-Matrix eingeordnet, der zweite Dienst wird nicht untersucht.
Beckh-Widmanstetter, Leopold von. Ulrich’s von Liechtenstein, des Minnesängers, Grabmal auf der Frauenburg. Graz 1871 (Separat-Abdruck aus den „Mittheilungen des historischen Vereines für Steiermark“). Grabmal auf der Frauenburg Beckh-Widmanstetter ergänzt die historischen Ausführungen von Falke und bringt zum ersten Mal das 1871 vom Frauenburger Pfarrer entdeckte Grabmal der Liechtensteiner ins Gespräch. Der Beitrag vertritt die später korrigierte Vermutung, dass es sich um das Grab des Dichters Ulrich handele.
Behaghel, Otto. „Kritik von Karl Knorrs ‚Über Ulrich von Lichtenstein‘.“ Germania 21, 1876, S. 434–436. „Kritik von Karl Knorr“ Behaghel kritisiert Knorrs Thesen zur Chronologie der Lieder, seine Spekulationen über Ulrichs Charakter und die leichtfertige Annahme, die im Frauendienst inserierten Briefe stammten von einer historischen Minnedame. Laut Behaghel könne man in den Briefen deutlich Ulrichs Stil erkennen.
Kommentierte Bibliographie
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Behr, Hans-Joachim. „Frauendienst als Ordnungsprinzip. Zum Verständnis von Wirklichkeit und deren Bewältigung im ‚Frauenbuch‘ Ulrichs von Lichtenstein.“ In: Ebenbauer, Knapp und Schwob, Die mittelalterliche Literatur in der Steiermark, S. 1–13. „Frauendienst als Ordnungsprinzip“ Behr verortet das Frauenbuch als eine Mischung aus Didaxe und Streitgespräch, die Figur Ulrich changiere zwischen der Rolle des Erzählers und der des Schiedsrichters. Entsprechungen zwischen Frauendienst und Frauenbuch werden bis hin zu genauen Formulierungsparallelen erfasst. Beide Werke werden einander als praktische und theoretische Beschäftigung mit dem Phänomen Minnedienst gegenübergestellt.
Bein, Thomas. „1275, January 16. The Styrian Politician and Poet Ulrich von Liechtenstein Dies.“ In: A New History of German Literature. Hrsg. von David E. Wellbery. Cambridge/MA, London 2004, S. 131–135. Dt.: „26. Januar 1275. Der steirische Politiker und Dichter Ulrich von Lichtenstein stirbt.“ In: Eine neue Geschichte der deutschen Literatur. Übersetzt von Christian Döring u. a. Berlin 2007, S. 199–207. „1275, January 16“ Der kurze literaturgeschichtliche Abriss markiert neben Grundlageninformationen zu Autor und Werk die Gattungsmischung als außergewöhnliches Faktum des Frauendienst und verweist auf die romanische Tradition der Vidas und Razos. Es werden verschiedene Ebenen der höfischen Minnewerbung skizziert, das Frauenbuch wird durch eine umfangreiche Argumentationsskizze erschlossen.
Bennewitz, Ingrid. „Eine Dame namens Ulrich, oder: Über den pragmatischen Nutzen von Frauenkleidern für die literarischen Helden des Mittelalters.“ In: Spechtler und Maier, Ich – Ulrich von Liechtenstein, S. 349–369. „Eine Dame namens Ulrich“ Der Beitrag behandelt Geschlechterentwürfe im Frauendienst und die Dekonstruktion dieser Rollen im Cross-Dressing der Venusfahrt. Mit Blick auf Vergleichsfälle wie Hugdietrich oder Päpstin Johanna wird für Ulrich das Bemühen festgestellt, auch in Frauenkleidern seine männliche Identität zu wahren und eine optimale Repräsentationswirkung zu erzielen.
Birkhan, Helmut. „Die literarische Situation in Österreich um 1250.“ In: Spechtler und Maier, Ich – Ulrich von Liechtenstein, S. 157–176. „Die literarische Situation in Österreich um 1250“ Birkhan bietet einen vielschichtigen Überblick über die Literatursituation in Österreich zu Ulrichs Zeit und hebt als Texttypen den Minnesang (Neidhart, Tannhäuser), vornovellistische Verserzählungen, Heldenepik (Nibelungenlied), arthurische Aventiureromane sowie die „Moralisten“ (S. 158, Bruder Wernher, Stricker, Gelthar) hervor.
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Sandra Linden
Blaschitz, Gertrud. „ … gechleidet wol nach riters sitten. Beschreibung von Kleidung und Rüstung im ‚Frauendienst‘.“ In: Spechtler und Maier, Ich – Ulrich von Liechtenstein, S. 371–410. „Kleidung und Rüstung“ Der Beitrag zur Sachkultur untersucht den realhistorischen Gehalt in Ulrichs Kleidungs- und Rüstungsschilderung und kommt zu dem Ergebnis, dass Ulrich Realität und Fiktion vermischt, wenn er reale Wappen schildert, zugleich aber den Prunk der ritterlichen Rüstung hyperbolisch steigert.
Bleumer, Hartmut. „Minnesang als Lyrik? Desiderate der Unmittelbarkeit bei Heinrich von Morungen, Ulrich von Liechtenstein und Johannes Hadlaub.“ Erscheint in: Wolfram-Studien 21. „Minnesang als Lyrik?“ Der Beitrag beschäftigt sich mit Transgressionsfiguren zwischen Lyrik und Narration und analysiert für die Gefangenschaft im Frauendienst und Ulrichs Kerkerlied das Verhältnis von narrativer Konkretisierung des Herzensraumes und seiner lyrischen Intensivierung. Am Beispiel des Tagelieds wird die Aufhebung der lyrischen Qualität durch die Forcierung narrativer Strukturen gezeigt.
Bönsch, Annemarie. „Das Venus-Gewand Ulrichs von Liechtenstein. Eine kostümkundliche Dokumentation.“ In: Spechtler und Maier, Ich – Ulrich von Liechtenstein, S. 411–437. „Das Venus-Gewand Ulrichs von Liechtenstein“ Bönsch rekonstruiert Ulrichs Venusverkleidung bis ins Detail und stellt sie in einer Fotodokumentation nach.
Brecht, Walther. „Ulrich von Lichtenstein als Lyriker.“ Zeitschrift für deutsches Altertum 49, 1908, S. 1–122. „Ulrich von Lichtenstein als Lyriker“ Es handelt sich um detaillierte Einzeluntersuchungen der als epigonal eingeschätzten Lieder mit Berücksichtigung ihrer narrativen Einbettung und einer typologischen Gruppierung der Lieder. Als Leitmotiv wird der hohe muot benannt, die Lieder des ersten Dienstes werden als Wunsch und die des zweiten als Erfüllung gelesen.
Brinker-Gabler, Gisela. Poetisch-wissenschaftliche Mittelalter-Rezeption. Ludwig Tiecks Erneuerung altdeutscher Literatur. Göppingen 1980 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 309). Poetisch-wissenschaftliche Mittelalter-Rezeption Brinker-Gabler bietet S. 182 ff. eine detaillierte Darlegung, wie Tiecks Frauendienst-Ausgabe in zeitgenössischen Rezensionen (z. B. von Goeckingk, Görres, Büsching) aufgenommen wurde, und attestiert dem Werk eine breite Aufmerksamkeitswirkung.
Kommentierte Bibliographie
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Brinker-von der Heyde, Claudia. „Biographisches Spiel und gespielte Biographie. Ulrichs von Lichtenstein Frauendienst und Gerhart Hauptmanns Ulrich von Lichtenstein.“ In: Literatur und Leben. Anthropologische Aspekte in der Kultur der Moderne: Festschrift für Helmut Scheuer zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Günter Helmes, Ariane Martin, Birgit Nübel und Georg-Michael Schulz. Tübingen 2002, S. 27–37. „Biographisches Spiel und gespielte Biographie“ Das Ich im Frauendienst wird als „Maske“ (S. 30) verstanden, die sich aus zahlreichen literarischen Versatzstücken zusammensetzt. Hauptmanns Motivation zu einer Beschäftigung mit dem Text wird anhand von Gesprächen und Briefen rekonstruiert, den Abschluss bildet eine zusammenfassende Analyse der Komödie.
Brody, Saul N. „The Comic Rejection of Courtly Love.“ In: In Pursuit of Perfection – Courtly Love in Medieval Literature: A Collaborative Study. Hrsg. von George D. Economou und Joan M. Ferrante. Port Washington u. a. 1975 (National University Publications), S. 221–261. „The Comic Rejection of Courtly Love“ Der Beitrag untersucht Quellen, in denen der höfische Minnedienst komisch unterlaufen und als Spiel präsent gemacht wird. Ulrich wird neben Burkhard von Hohenfels, Gottfried von Straßburg, der Erzählung De Guillaume au Faucon, dem Flamenca-Roman und Geoffrey Chaucer als Beispiel herangezogen, wobei für den Frauendienst ein Überblenden von Komischem und Pathetischem herausgearbeitet wird.
Bruder, Annemarie. Studien zu Ulrich von Liechtensteins ‚Frauendienst‘. Das Friesacher Turnier 1224, eine historische Quelle. Diss. (masch.) Freiburg i. Br. 1923. Das Friesacher Turnier 1224 Bruder geht die Personennennungen des Friesacher Turniers durch und ordnet den einzelnen Personen urkundliche Belege zu, um auf dieser Grundlage entscheiden zu können, ob eine Teilnahme an dem Turnier, das sie für historische Realität hält, möglich war. Eine weitere Zusammenstellung (S. 114 f.) gilt den in Friesach erwähnten Teilnehmern der Venusfahrt.
Brüggen, Elke. „Minnelehre und Gesellschaftskritik im 13. Jahrhundert. Zum Frauenbuch Ulrichs von Liechtenstein.“ Euphorion 83, 1989, S. 72–97. „Minnelehre und Gesellschaftskritik“ In einer detailliert gliedernden Textanalyse arbeitet Brüggen die von der Dame vorgetragene Ehelehre als Einheit aus Ehe, Liebe und Sexualität heraus und entwickelt die These einer Verknüpfung von Minne- und Ehelehre im Frauenbuch. Neben den Parallelstellen zum Frauendienst kommt auch das ironische Moment des Frauenbuch in den Blick.
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Sandra Linden
Bulang, Tobias. „Zur Exponierung von Imagination in Ulrichs von Liechtenstein ‚Frauendienst‘.“ In: Imagination und Deixis. Studien zur Wahrnehmung im Mittelalter. Hrsg. von Kathryn Starkey und Horst Wenzel. Stuttgart 2007, S. 65–84. „Exponierung von Imagination“ Bulang untersucht, wie im Frauendienst die Imagination des begehrenden Ichs immer wieder die Wahrnehmung der Außenwelt konterkariert. Mit einer detaillierten Textanalyse zum Topos von der Einwohnung im Herzen wird Ulrichs variantenreiche Verwendung der Herzmetaphorik als eine Form produktiver literarischer Imagination interpretiert.
Bullough, Vern L. „On Being a Male in the Middle Ages.“ In: Medieval Masculinities. Regarding Men in the Middle Ages. Hrsg. von Clare A. Lees unter Mitarbeit von Thelma Fenster und Jo Ann McNamara. Minneapolis, London 1994 (Medieval Cultures 7), S. 31–45. „On Being a Male“ Untersuchung zum Cross-Dressing, die für die Venusfahrt betont, dass Ulrich trotz der Verkleidung stets als Mann zu erkennen ist. Bullough formuliert die These, dass das Cross-Dressing im Frauendienst nur dann auf gesellschaftliche Zustimmung stößt, wenn unter der Maske die reale Geschlechtsidentität sichtbar bleibt.
Classen, Albrecht. „Self-Enactment of Late Medieval Chivalry: Performance and Self-Representation in Ulrich von Liechtenstein’s Frauendienst.“ Seminar 39, 2003, S. 93–113. „Self-Enactment of Late Medieval Chivalry“ Nach einem Forschungsabriss zur Performanz im Minnesang betrachtet der Beitrag die Überlagerung verschiedener literarischer Stimmen im Frauendienst. Ulrich überführe die literarische Tradition des Minnesangs in das neue Setting der Autobiographie, wobei das Spiel der Stimmen durch den hohen Dialoganteil forciert werde. Für Turniere und Fahrten wird das theatralische Element betont.
Classen, Albrecht. „Autobiographische Diskurse als Identitätsexperimente in der Literatur des Spätmittelalters.“ In: Spechtler und Maier, Ich – Ulrich von Liechtenstein, S. 177–204. „Autobiographische Diskurse“ Nach einer kurzen Einleitung zur Individualitätsdiskussion analysiert der Beitrag das Experimentieren mit dem autobiographischen Diskurs im Frauendienst. Ulrich binde seine Selbstdarstellung zwar in eine fiktionale und eine didaktische Sphäre ein, doch diene die Fiktion als „Medium der Eigenbespiegelung“ (S. 197) und verweise auf eine Existenz außerhalb der Literatur.
Kommentierte Bibliographie
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Classen, Albrecht. Moriz, Tristan, and Ulrich as Master Disguise Artists: Deconstruction and Reenactment of Courtliness in Moriz von Craûn, Tristan als Mönch, and Ulrich von Liechtenstein’s Frauendienst. In: Journal of English and Germanic philology 103, 2004, S. 475–504. „Ulrich as Master Disguise“ Classen spürt der Relevanz von Ritual und Performanz in spätmittelalterlicher Literatur nach. Ulrichs Venusverkleidung, bei der er stets die männliche Geschlechtsidentität präsent halte, wird als erfolgreiches Experimentieren mit der Maske verstanden. Die Kostümfahrten überführen laut Classen ritterliche Realität in Theater und werden als Signum spätmittelalterlicher Kultur interpretiert.
Deuer, Wilhelm. Burg und Schloß Liechtenstein bei Judenburg. Judenburg 1983 (Judenburger Museumsschriften 9). Burg und Schloß Liechtenstein Detaillierte historische Abhandlung zur Burg Liechtenstein, die auf baugeschichtliche Fragen ebenso eingeht wie auf die wechselnden Besitzverhältnisse (Liechtensteiner u. Stubenberger) und die Burgentwicklung bis zum gegenwärtigen Erhaltungsbestand der Ruine nachvollzieht. Zahlreiche photographische Abbildungen und Zeichnungen, Urkundenmaterial im Anhang.
Deuer, Wilhelm. „Ulrich von Liechtenstein als Auftraggeber und Bauherr. Eine kunsthistorische Spurensuche.“ In: Spechtler und Maier, Ich – Ulrich von Liechtenstein, S. 133–154. „Auftraggeber und Bauherr“ Die baugeschichtliche Studie verfolgt eine zeitliche Linie bis zu Ulrichs Sohn Otto und untersucht die Frauenburg, die Frauenburger Pfarrkirche, den Freskenzyklus in der Pfarrkirche von St. Georgen ob Judenburg, die Stadt Judenburg sowie die Liechtensteinerkapelle in Seckau. Abbildungen und Rekonstruktionen im Anhang.
Dittrich, Marie-Luise. „Die Ideologie des guoten wîbes in Ulrichs von Liechtenstein Vrowen dienst.“ In: Gedenkschrift für William Foerste. Hrsg. von Dietrich Hofmann unter Mitarbeit von Willy Sanders. Köln, Wien 1971 (Niederdeutsche Studien 18), S. 502–530. „Die Ideologie des guoten wîbes“ Dittrich sieht Ulrichs Minnesang als transzendierende Fortführung von Walthers herzeliebe-Konzept. Ulrichs zweite Dame wird als diejenige identifiziert, die das Singen der scheltwîsen untersagt. Mit der Artusfahrt im zweiten Teil werden laut Dittrich historische Realität und Minne gegeneinandergeführt.
Dopsch, Heinz. „Der Dichter Ulrich von Liechtenstein und die Herkunft seiner Familie.“ In: Festschrift Friedrich Hausmann. Hrsg. von Herwig Ebner. Graz 1977, S. 93–118.
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„Der Dichter Ulrich von Liechtenstein“ Dopsch analysiert mittels historischer Quellen die im Frauendienst dargestellte Sozialordnung und bietet eine detaillierte Darstellung der älteren historischen Forschung über die Liechtensteiner. Die im Frauendienst erwähnten Personennamen werden historisch verortet, der Übergang der Liechtensteiner vom edelfreien Stand zur Dienstmannschaft des Landesherrn wird als sozialer Abstieg analysiert.
Dopsch, Heinz. „Zwischen Dichtung und Politik. Herkunft und Umfeld Ulrichs von Liechtenstein.“ In: Spechtler und Maier, Ich – Ulrich von Liechtenstein, S. 49–104. „Zwischen Dichtung und Politik“ Grundlegende und detailreiche historische Studie zu Ulrich, der Familie der Liechtensteiner, den im Frauendienst genannten historischen Personen und der politischen Situation in Steiermark, Kärnten und Österreich, die den historischen Befund differenziert zum Frauendienst in Bezug setzt. Stammbaum und Kartenmaterial im Anhang.
Dussère, Carolyn. „Humor and Chivalry in Ulrich von Lichtenstein’s Frauendienst and Gerhard Hauptmann’s Ulrich von Lichtenstein.“ Colloquia Germanica 16, 1983, S. 297–320. „Humor and Chivalry“ Anhand einiger Episoden aus dem ersten Dienst wird die komisch-parodistische Struktur des Frauendienst herausgearbeitet und mit Hauptmanns komödienhafter Interpretation verknüpft. Der Protagonist wird mit einer Comicfigur verglichen, die oftmals die Grenze zum Lächerlichen überschreite und ganz der komischen Unterhaltung diene.
Ebenbauer, Alfred, Fritz Peter Knapp und Anton Schwob (Hrsg.). Die mittelalterliche Literatur in der Steiermark. Akten des Internationalen Symposions Schloss Seggau bei Leibnitz 1984. Bern u. a. 1988 (Jahrbuch für Internationale Germanistik: Reihe A. Kongressberichte 23). Die mittelalterliche Literatur in der Steiermark Mit vier Beirägen (Behr, Hofmeister, Schmid, Spechtler) ordnet der Sammelband Ulrichs Werk – vor allem das Frauenbuch – in das literarische Spektrum der Steiermark ein. Der Beitrag von Ursula Liebertz-Grün beschäftigt sich u. a. mit den historischen Verbindungen Ottokars von Steiermark zu den Liechtensteinern.
Ebenbauer, Alfred, Fritz Peter Knapp und Ingrid Strasser (Hrsg.). Österreichische Literatur zur Zeit der Babenberger. Vorträge der Lilienfelder Tagung 1976. Wien 1977 (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 10). Österreichische Literatur
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In der Beschreibung der österreichischen Literatursituation finden sich zwei Aufsätze zu Ulrich (Hausner, Spechtler), weitere Beiträge vor allem zu Neidhart, auch zu Heinrich von dem Türlin, dem Stricker und Bruder Wernher.
Egidi, Margreth. „Pluralisierung des Ich bei Burkhard von Hohenfels und Ulrich von Lichtenstein.“ Erscheint in: Wolfram-Studien 21. „Pluralisierung des Ich“ Der Beitrag fragt für das erste Büchlein des Frauendienst nach Figuren der Pluralisierung und Dissoziation des Ich, die an das Spiel mit Referenzen auf Minnesang und Minnerede gebunden sind. Egidi geht dabei von unterschiedlichen Konfigurationen der Abspaltung, Dissoziation und Verselbstständigung aus, die sich überlagern und ineinander spiegeln.
Eming, Jutta. „Gattungsmischung und Selbstbezüglichkeit. Die Dialoglieder in Ulrichs von Liechtenstein „Frauendienst“.“ In: Aspekte einer Sprache der Liebe. Formen des Dialogischen im Minnesang. Hrsg. von Marina Münkler (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 21), erscheint voraussichtlich Berlin 2010. „Gattungsmischung und Selbstbezüglichkeit“ Nach einem detaillierten Forschungsbericht zu Ulrichs Lyrik werden die Dialoglieder X, XXX, XXXIII sowie das Tagelied XXXVI mit Blick auf die vreude analysiert. Eming arbeitet Präsenzeffekte heraus, die auf eine allgemeine Gültigkeit des Erzählten verweisen. Das Ich der Lieder lasse sich dabei wie im Wechsel weniger auf ein Gegenüber ein, vielmehr kreise es in einer rekursiven Bewegung um das eigene Begehren.
Ertzdorff, Xenia von. „Typen des Romans im 13. Jahrhundert.“ Der Deutschunterricht 20, 1968, Nr. 2, S. 81–95. „Typen des Romans“ Ertzdorff bietet eine Typologie der Gattung Roman im 13. Jahrhundert und ordnet den Frauendienst dem Typus der Confessiones zu. Die beiden Minnedienste Ulrichs werden als Confessio-Struktur gesehen, da nach anfänglichen Wirrnissen ein glücklicher und harmonischer Lebenszustand folge.
Falke, Jacob. Geschichte des fürstlichen Hauses Liechtenstein. Bd. 1. Wien 1868. Geschichte des fürstlichen Hauses Liechtenstein Falke bietet eine umfang- und detailreiche historische Studie zum Geschlecht der Liechtensteiner und paraphrasiert in seiner Darstellung breite Passagen des Frauendienst als historische Fakten. Ulrichs literarisches Wirken erklärt er mit einer Zweiteilung seines Lebens, in der er sich nach einer Phase des grotesken Minnedienstes endlich der Politik zugewandt habe.
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Fenske, Lutz. „Adel und Rittertum im Spiegel früher heraldischer Formen und deren Entwicklung.“ In: Das ritterliche Turnier im Mittelalter. Beiträge zu einer vergleichenden Formen- und Verhaltensgeschichte des Rittertums. Hrsg. von Josef Fleckenstein. Göttingen 1985 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 80), S. 75–160. „Adel und Rittertum“ Fenske interessiert sich für die Bedeutung und Kommunikationsfunktion von Wappen. Er zitiert Ulrichs Frauendienst als zuverlässige Quelle der Wappenbeschreibungen und ordnet Ulrichs Detailtreue in der Schilderung historischer Wappen in ein allgemeines Interesse der Dichter im 13. Jahrhundert für das Wappenwesen ein.
Frey, Winfried. „mir was hin ûf von herzen gâch. Zum Funktionswandel der Minnelyrik in Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst.“ Euphorion 75, 1981, S. 50–70. „Zum Funktionswandel der Minnelyrik“ Kritik an Hausner und Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung der Lyrik im Frauendienst. Frey sieht Ulrichs Frauendienst als Karikierung traditioneller Minnesangwerte, so dass der Dienst nicht mehr zur Veredelung, sondern zur Erniedrigung des Ritters führe. Der Minnesang propagiere kein Ideal mehr, sondern erfülle eher eine Trostfunktion gegenüber einer negativen außerliterarischen Welt.
Frisch, Franz. Ulrich von Lichtenstein und das Turnier zu Friesach. Klagenfurt 1884 (Kärntner Volksbücher 4). Das Turnier zu Friesach Glier, Ingeborg. Artes amandi. Untersuchung zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnereden. München 1971 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 34). Artes amandi In ihrer grundlegenden Studie zur Gattung der Minnerede verortet Glier das Frauenbuch als einen Vorläufer, in dem sich bereits wichtige Charakteristika der Gattung zeigen, und stellt auch den didaktischen Redegestus der Büchlein heraus. Strickers Frauenehre wird als wichtiger Vergleichspunkt zu Ulrichs Frauenbuch benannt.
Glier, Ingeborg. „Diener zweier Herrinnen. Zu Ulrichs von Liechtenstein ‚Frauendienst‘.“ In: The Epic in Medieval Society. Aesthetic and Moral Values. Hrsg. von Harald Scholler. Tübingen 1977, S. 290–306. „Diener zweier Herrinnen“ Glier verortet den Frauendienst im Themenfeld des autobiographischen Sprechens und vertritt die These, dass es sich um einen „Roman zum eigenen literarischen Werk“ (S. 303) handelt, was vor allem durch den zweiten Minnedienst gestützt wird, der immer mehr dazu übergeht, die Lieder hintereinander aufzulisten.
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Görner, Otto. „Ulrich von Lichtenstein in Zerbst. Ein methodologischer Versuch.“ Mitteldeutsche Blätter für Volkskunde 5, 1930, S. 33–48. „Ulrich von Lichtenstein in Zerbst“ Görner beschäftigt sich mit der Fingerepisode im Frauendienst und vertritt die These, dass das Abschlagen des Fingers als brauchtümliche Trauerverstümmelung zu verstehen ist. Belegt wird dies mit Parallelquellen, u. a. einer Zeitungsmeldung über einen Zerbster Gemüsehändler.
Goheen, Jutta. „Ulrich von Lichtensteins ‚Frauendienst‘. Maere und liet.“ Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 3, 1972, S. 147–180. „Maere und liet“ Goheen wendet sich gegen die Vertreter der Komik-These und betont, dass im Frauendienst das Ideal des Minnedienstes ungebrochen präsentiert werde. In einer Art Altershaltung sehe Ulrich die Rittertaten als Weltdienst, die Minnelieder als Gottesdienst, wobei als Ziel eine Versöhnung beider Bereiche angestrebt werde.
Grabmayer, Johannes. „ir sit gen uns als ungemuot, daz wir in vorchten gen iuch sin. Eheleben und Sexualität des süddeutschen Landherrenstandes im 13. Jahrhundert: Ulrichs von Liechtenstein „Frauendienst“ und „Frauenbuch“.“ In: Spechtler und Maier, Ich – Ulrich von Liechtenstein, S. 245–268. „Eheleben und Sexualität“ Grabmayer betont, dass Ulrich in Frauendienst und Frauenbuch eine Vielzahl von Minnekonzepten präsentiere, und verknüpft die Aussagen der Texte mit der zeitgenössischen Ehelehre. Das Frauenbuch trete zwar theoretisch für die freie Partnerwahl ein, zeichne als Realität aber ein „geschlechtliches Angstszenario“ (S. 260), in dem sich Ritter und Damen nicht mehr füreinander interessierten.
Grimme, Franz. „Beiträge zur Geschichte der Minnesänger II.“ Germania 32, 1887, S. 411–427. „Geschichte der Minnesänger“ Die listenartige Abhandlung einzelner Minnesänger bietet unter Position 13 knapp zwei Seiten historische Informationen zu Ulrich, die Urkunde vom 4. 9. 1232 (Schönbach Nr. 4) wird in weiten Teilen zitiert.
Grimme, Franz. „Zum Leben Ulrichs von Lichtenstein.“ Germania 35, 1890, S. 406–407. „Zum Leben Ulrichs von Lichtenstein“ Kritik an Schönbachs Liste der urkundlichen Quellen zu Ulrich, zugleich Reaktion auf Schönbachs Kritik an Grimmes Minnesänger-Aufsatz von 1887.
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Grubmüller, Klaus. „Minne und Geschichtserfahrung. Zum ‚Frauendienst‘ Ulrichs von Liechtenstein.“ In: Geschichtsbewußtsein in der deutschen Literatur des Mittelalters. Tübinger Colloquium 1983. Hrsg. von Christoph Gerhardt, Nigel F. Palmer und Burghart Wachinger. Tübingen 1985, S. 37–51. „Minne und Geschichtserfahrung“ Grubmüller betont den hinter der Komik liegenden Ernst des Frauendienst, die Kostüminszenierungen werden jedoch auch als Flucht in eine Scheinwelt verstanden. Für den zweiten Teil des Frauendienst wird Ulrich vor allem als politische Figur gesehen, die mit der Artusfahrt Ziele jenseits der Welt des Minnedienstes verfolgt.
Grubmüller, Klaus. „Ulrich von Liechtenstein.“ In: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hrsg. von Walter Killy. Bd. 11. Gütersloh, München 1991, S. 476–477. „Ulrich von Liechtenstein“ Gutwald, Thomas. „Der Minnediener als Souverän. Die Ordnung von buoch und büechelin im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein.“ In: Ordnung und Unordnung in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Wolfgang Harms, C. Stephen Jaeger und Horst Wenzel. Stuttgart 2003, S. 143–163. „Der Minnediener als Souverän“ Die Büchlein dienen laut Gutwald als Reflexionsmedien der Ordnungsstiftung im oftmals paradoxen System der Minne. Die in der Narration bestehende Konstellation einer erstrebten Nähe und erfahrenen Distanz zur Dame könne im fiktionalen Rahmen der Büchlein überwunden werden, was für die ersten beiden Büchlein detailliert gezeigt wird.
Gybbon-Monypenny, G. B. „Guillaume de Machaut’s Erotic ‚Autobiography‘: Precedents for the Form of the Voir-Dit.“ In: Studies in Medieval Literature and Languages: In Memory of Frederick Whitehead. Hrsg. von William Raymond Johnston Barron, Lewis Guy Melville Thorpe, David Malcolm Blamires und William Rothwell. Manchester, New York 1973, S. 133–152. „Guillaume de Machaut’s Erotic ‚Autobiography‘“ Der auf Guillaume de Machaut konzentrierte Beitrag präsentiert zu Beginn mittelalterliche Traditionen autobiographischen Sprechens und bietet auf etwa zwei Seiten eine Charakterisierung des Frauendienst, die sich vor allem um eine Einordnung des Textes in das literaturgeschichtliche Spektrum bemüht.
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Haferland, Harald. Hohe Minne. Zur Beschreibung der Minnekanzone. Berlin 2000 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 10). Hohe Minne Haferland sieht den Minnesang als Ausdruck einer authentischen Werbung und wendet sich gegen die gängige These vom Minnesang als Rollenlyrik. Auch den Frauendienst versteht er – abgesehen von Ulrichs Tendenz zur Hyperbolik – als historische Wahrheit und liefert etwa eine genaue Zeitrekonstruktion der Venusfahrt. Dass Ulrich tatsächlich „Hohe Minne lebt und als verbindliche Lebensform begreift“ (S. 213), sei ungewöhnlich, aber nicht auszuschließen.
von der Hagen, Friedrich Heinrich. „Herr Ulrich von Lichtenstein.“ In: Friedrich Heinrich von der Hagen. Minnesinger. 4. Teil. Geschichte der Dichter und ihrer Werke. Leipzig 1838. Neudruck Aalen 1963, Nr. 77, S. 321–404. Minnesinger 4 Mit einem fast 100-seitigen Kommentar weist von der Hagen Ulrich mehr Raum zu als Walther und Morungen. Er bietet eine ausführliche Inhaltsangabe des Frauendienst mit zahlreichen historischen Details zu den erwähnten Personen. Er lobt die im Frauendienst enthaltenen Informationen über die höfische Ritterschaft und formuliert hier bereits den Vergleich zwischen Ulrich und Don Quichote, der sich leitmotivisch durch die spätere Forschung zieht.
Händl, Claudia. Rollen und pragmatische Einbindung. Analysen zur Wandlung des Minnesangs nach Walther von der Vogelweide. Göppingen 1987 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 467). Rollen und pragmatische Einbindung Die mit einem Modell aus der linguistischen Pragmatik operierende Studie zum Minnesang des 13. Jahrhunderts analysiert in einem ausführlichen Kapitel Ulrichs Lieder nach systematischen Gesichtspunkten (S. 362 ff.). Die narrativen Passagen werden als vermittelnde Textebene zwischen den Liedern und der Rezeption verortet, als typische Ich-Rolle sieht Händl die des Liebenden, die Sänger-Rolle hingegen werde eher selten thematisiert.
Hausner, Renate. „Ulrichs von Liechtenstein ‚Frauendienst‘. Eine steirisch-österreichische Adaption des Artusromans. Überlegungen zur Struktur.“ In: Festschrift für Adalbert Schmidt zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Gerlinde Weiss unter Mitwirkung von Gerd Dieter Stein. Stuttgart 1976 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 4), S. 121–192. „Überlegungen zur Struktur“ Laut Hausner folge der Frauendienst dem Strukturschema des höfischen Romans mit seinem doppelten Cursus, wobei die Krise des Artusritters durch drei verschiedene Krisen des Protagonisten ersetzt sei. Für den Frauendienst werden versteckte
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Zitate anderer höfischer Autoren (vor allem Wolframs) nachgewiesen. Hausner vertritt die These, dass die erste Minnedame für die Babenberger, die zweite für Kaiser Friedrich II. stehe.
Heinen, Hubert. „Poetic Truth and the Appearance of Reality in Ulrich von Liechtenstein’s Dawn Songs.“ In: From Symbol to Mimesis. The Generation of Walther von der Vogelweide. Hrsg. von Franz H. Bäuml. Göppingen 1984 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 368), S. 169–189. „Poetic Truth and the Appearance of Reality“ Heinen zeigt, dass sich im Tagelied die Komik des Frauendienst auch auf die lyrischen Passagen ausweitet. Die Verbannung des Wächters aus dem Liedgenre wird als Konsequenz eines von Ulrich thematisierten zunehmenden Realitätsanspruchs gesehen.
Heinen, Hubert. „Ulrich von Lichtenstein: Homo (il)literatus or Poet/Performer?“ Journal of English and Germanic Philology 83, 1984, S. 159–172. „Homo (il)literatus or Poet/Performer?“ In der Frage, ob Ulrich lesen und schreiben konnte, markiert der Frauendienst eine Differenz zwischen Figur, Erzähler und Autor und zeigt ein wolframsches Kokettieren des Ich mit der vermeintlichen eigenen Illiterarizität. In der Untersuchung geht es weniger um die historische Realität als um die Funktion der Illiterarizitätsthematik im Text.
Heinen, Hubert. „Ulrich von Liechtenstein’s Sense of Genre.“ In: Genres in Medieval German Literature. Hrsg. von Hubert Heinen und Ingeborg Henderson. Göppingen 1986 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 439), S. 16–29. „Sense of Genre“ Die Studie bietet eine detaillierte Beschäftigung mit den Gattungsbezeichnungen, die Ulrich im Frauendienst – hauptsächlich für die Lieder – verwendet. Die tanzwîse wird als der häufigste Liedtypus herausgearbeitet, ansonsten sei die im Frauendienst verwendete poetologische Begrifflichkeit nicht sonderlich konsistent.
Heinen, Hubert. „‚Gibt’s da nichts zu lachen?‘ Hyperbolik als Intensivierung oder Ironiesignal bei Heinrich von Morungen und Ulrich von Liechtenstein.“ In: Sprachspiel und Lachkultur. Beiträge zur Literatur- und Sprachgeschichte. Rolf Bräuer zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Angela Bader, Annemarie Eder, Irene Erfen und Ulrich Müller. Stuttgart 1994 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 300), S. 194–214. „Gibt’s da nichts zu lachen?“ Heinen analysiert die Verwendung des Stilmittels der Hyperbolik in Ulrichs Minneliedern als Ironiesignal, doch diene die ironische Signatur der Lieder – in der Tradition Morungens, jedoch „weniger raffiniert“ (S. 201) – nicht als Abwertung des Gegenstands.
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Hempen, Daniela. „‚Nach unser armer liute siten …‘: Die Aussätzigen in Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst.“ Germanic Notes and Reviews 27, 1996, S. 19–22. „Die Aussätzigen“ Hempen befasst sich mit literarischen Darstellungskonventionen des Aussätzigenmotivs und vertritt die These, dass die Aussätzigen im Frauendienst durch ihr betont höfisches Sozialverhalten ambivalent gezeichnet werden und das Motiv in der mittelalterlichen Literatur weniger wertend festgelegt sei als vermutet.
Herzog, Urs. „Minneideal und Wirklichkeit. Zum ‚Frauendienst‘ des Ulrich von Lichtenstein.“ Deutsche Vierteljahrsschrift 49, 1975, S. 502–519. „Minneideal und Wirklichkeit“ Herzog plädiert für eine ironische Interpretation des Frauendienst und kommt für Ulrichs Beziehung zur ersten Dame zu dem Ergebnis, dass er eine Minne propagiert, die zwar dem reinmarschen Ideal Genüge tut, aber auch unter den widrigen Bedingungen einer realistischen Welt bestehen kann. Eine Schlüsselfunktion im Kampf gegen diese Widrigkeiten wird dem hohen muot zugewiesen.
Hödl, Günther. „Der Donau-Alpen-Adria-Raum im Jahr 1246. Eine Momentaufnahme.“ In: Spechtler und Maier, Ich – Ulrich von Liechtenstein, S. 25–48. „Der Donau-Alpen-Adria-Raum“ Der Beitrag liefert historische Hintergrundinformationen für den durch Ulrichs Kostümfahrten abgesteckten Raum in der Zeit Herzog Friedrichs des Streitbaren, wobei Friedrichs Tod 1246 als signifikanter politischer Einschnitt interpretiert wird. Nach Siedlungs- und Baugeschichte, Stadtentwicklung und Wirtschaftsgeschichte verfolgt der zweite Teil des Beitrags einen personengeschichtlichen Zugriff.
Höfler, Otto. „Ulrichs von Liechtenstein Venusfahrt und Artusfahrt.“ In: Studien zur deutschen Philologie des Mittelalters. Friedrich Panzer zum 80. Geburtstag am 4. September 1950 dargebracht. Hrsg. von Richard Kienast. Heidelberg 1950, S. 131–152. „Venusfahrt und Artusfahrt“ Höfler weist nach, dass Ulrich mit seiner Verkleidung zum Friesacher Turnier und vor allem mit der Venusfahrt an vorhandene Traditionen des Frühlings- und Maibrauchtums, bzw. konkreter des Nerthuskults anknüpft. Die Artusfahrt hingegen wird als politisches Kalkül aufgefasst und mit historischen Tafelrundenturnieren und Artusgemeinschaften in Verbindung gebracht.
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Hofmeister, Wernfried. „Minne und Ehe im ‚Frauenbuch‘ Ulrichs von Liechtenstein.“ In: Ebenbauer, Knapp und Schwob, Die mittelalterliche Literatur in der Steiermark, S. 131–142. „Minne und Ehe“ Hofmeister analysiert die einzelnen Argumente des Streitgesprächs und attestiert dem Frauenbuch in den Einstellungen zu Minne und Ehe einen hohen Realitätsgehalt. Als „poetologisches Paradoxon“ (S. 140) wird festgehalten, dass mit dem Schlichter Ulrich, der sich als perfekter Minnediener erweist, die Idealität in die Realität einbricht.
Hofmeister, Wernfried. „Das ‚Frauenbuch‘ Ulrichs von Liechtenstein als eine interdisziplinäre Herausforderung. Ansätze und Forschungsperspektiven.“ In: Spechtler und Maier, Ich – Ulrich von Liechtenstein, S. 205–220. „Ansätze und Forschungsperspektiven“ Hofmeister entwirft Perspektiven für eine zukünftige Frauenbuch-Forschung. Nach einer detaillierten Beschreibung der Überlieferung fragt er danach, in welchem Bezug die Aussagen des Frauenbuchs zur historischen Wirklichkeit stehen und ob sie als realistisches Meinungsbild gelten können.
Hofmeister, Wernfried. „Mittelalterliche Literatur zwischen Forschung und Schule: Fachdidaktische Perspektiven am Beispiel der Dichtungen Ulrichs von Liechtenstein.“ Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 15, 2005, S. 211–222. „Fachdidaktische Perspektiven“ Hofmeister berichtet von einem 2002 realisierten fachdidaktischen Projekt zu Ulrich von Liechtenstein, das in verschiedenen Grazer Oberstufenklassen erprobt wurde. Der themen- und motivorientierte Zugriff des Unterrichtskonzepts wird am Beispiel der Mundoperation referiert.
Hübner, Gert. Frauenpreis. Studien zur Funktion der laudativen Rede in der mittelhochdeutschen Minnekanzone. 2 Bde. Baden-Baden 1996 (Saecula spiritalia 34). Frauenpreis Hübner bietet eine umfangreiche und detailgenaue Studie zu Ulrichs Minnesang und versteht das Oeuvre als „Panoptikum der Kanzone“ (S. 255), d. h., Ulrichs Sang zeichne sich eher durch seinen Variantenreichtum als durch die Brillanz einzelner Lieder aus. Als Besonderheit der Lieder wird die Verknüpfung mit der Narration festgehalten. In thematischen Gruppen angeordnet, finden sich zahlreiche Liedanalysen, wobei auch die didaktischen Kanzonen breiten Raum einnehmen.
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Hübner, Gert. „Gerne ich von dem selben spraeche … Leibhaftiges in den Liedern Ulrichs.“ In: Spechtler und Maier, Ich – Ulrich von Liechtenstein, S. 319–345. „Leibhaftiges in den Liedern Ulrichs“ Hübner stellt für den Minnesang drei Aspekte fest, unter denen Liebe thematisiert wird, nämlich den ethischen, den emotionalen und den sexuellen Aspekt, und fragt für Ulrichs Lieder nach dem Sprechen über Sexualität. Die Liedanalysen ergeben, dass Ulrich Sexualität lediglich im Modus der Phantasie oder des Wunsches beschreibt, zudem werden die Schilderungen als topisch charakterisiert.
Hübner, Gert. Minnesang im 13. Jahrhundert. Eine Einführung. Tübingen 2008 Minnesang im 13. Jahrhundert Nach einer Typologie des Minnesangs im 13. Jahrhundert bietet Hübner im Rahmen von Autorenkapiteln ein 15-seitiges Kapitel zu Ulrichs Minnesang („Mit System vom Leid zur Freude“, S. 84 ff.). Er betont die narrative Konkretisierung von Minnesangtopoi und die Umsetzung des Minnesangmodells in Handlung. Ausführliche Analyse der Freude-Kanzone XXXIX und des didaktischen Liedes LI.
Kartschoke, Dieter. „Ulrich von Liechtenstein und die Laienkultur des deutschen Südostens im Übergang zur Schriftlichkeit.“ In: Krämer, Die mittelalterliche Literatur in Kärnten, S. 103–143. „Ulrich von Liechtenstein und die Laienkultur“ Kartschoke beschäftigt sich mit der Aufführungspraxis des Minnesangs und zieht Ulrichs Angaben zur Rezeption der Lieder als authentische Zeugnisse heran. In einem Exkurs wird die dem Lebenslaufprinzip folgende Anordnung der Lieder unter dem Gesichtspunkt einer vom Autor angelegten Liedsammlung untersucht.
Kellermann, Karina. „Verweigerte und gestaltete Autorität: Subversionsstrategien im ‚Frauendienst‘ Ulrichs von Liechtenstein.“ In: Autorität der/in Sprache, Literatur, Neuen Medien. Vorträge des Bonner Germanistentages 1997. Bd. 2. Hrsg. von Jürgen Fohrmann, Ingrid Kasten und Eva Neuland. Berlin 1999, S. 573–592. „Verweigerte und gestaltete Autorität“ Kellermann analysiert die Autoritätsstruktur der im Frauendienst begegnenden IchRollen und attestiert dem Text eine Tendenz zur Demontage des höfischen Romans und Ideals. Ulrichs Tageliedkritik wird am Beispiel von Lied XL als Plädoyer für eine exklusive feudale Standesdichtung gelesen. Für die Begegnung mit Herzog Friedrich auf der Artusfahrt zeigt Kellermann das Nebeneinander von Spiel und Realpolitik auf.
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Kellermann, Karina. „Formen der Kommunikation. Zum Beispiel Ulrichs von Liechtenstein ‚Frauendienst‘.“ Wolfram-Studien 15, 1998, S. 324–343. „Formen der Kommunikation“ Dieser Beitrag zur Körperlichkeitsforschung untersucht Ulrichs oftmals mühsame Herausbildung eines repräsentationsfähigen Körpers im Frauendienst. Es zeige sich, dass im somatischen Bereich der höfische Schein keine Bestand habe, sondern in animalischen Ausbrüchen eine obsessive Körperbetonung eintrete. Am toten Herzog Friedrich werde die Wahrheit des Körpers jenseits höfischer Verstellung demonstriert.
Kellermann, Karina und Christopher Young. „You’ve Got Mail! Briefe, Büchlein, Boten im ‚Frauendienst‘ Ulrichs von Liechtenstein.“ In: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200–1300. Cambridger Symposium 2001. Hrsg. von Christa Bertelsmeier-Kierst und Christopher Young unter Mitarbeit von Bettina Bildhauer. Tübingen 2003, S. 317–344. „Briefe, Büchlein, Boten“ Der Frauendienst wird als Kommunikationsroman verstanden, der die Verständigung zwischen Minnediener und Dame auf vielschichtige Weise präsentiert. Besondere Aufmerksamkeit gilt dem Boten, dessen Rolle zwischen Vertrautheit und Machtposition changiert, sowie der symbolischen Funktion der Büchlein als Schriftkörper, die als Memorialobjekt eine direkte Nähe zur Dame herstellen.
Kiening, Christian. „Der Autor als ‚Leibeigener‘ der Dame – oder des Textes? Das Erzählsubjekt und sein Körper im ‚Frauendienst‘ Ulrichs von Liechtenstein.“ In: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meissen 1995. Hrsg. von Elizabeth Andersen, Jens Haustein, Anne Simon und Peter Strohschneider. Tübingen 1998, S. 211–238. Überarbeitete Fassung als Kapitel 8 „Körperteile und Autorinszenierungen“, in: Christian Kiening. Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur. Frankfurt a. M. 2003 (Fischer Taschenbuch 15951), S. 199–222. „Der Autor als ‚Leibeigener‘“ Ausgehend von Erzählerkonstruktionen bei Wolfram von Eschenbach, untersucht Kiening die Rolle des Erzählers im Frauendienst. Die Körperlichkeit des Ichs sei fremdbestimmt und außerhalb der Normalität definiert, sie zeige sich stets blockiert oder verhüllt, so dass der Körperentwurf bruchstückhaft bleibe. Am Beispiel des Büchleinboten und des abgeschlagenen Fingers werden die Überlagerungen von Körper und Text analysiert.
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Klinger, Judith. „Ich: Körper: Schrift. Potentiale und Grenzen der Kommunikation im ‚Frauendienst‘.“ In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hrsg. von Horst Wenzel in Zusammenarbeit mit Peter Göhler und Werner Röcke, Andreas Klare und Haiko Wandhoff. Berlin 1997 (Philologische Studien und Quellen 143), S. 106–126. „Ich: Körper: Schrift“ Klinger versteht den Minnesang im Frauendienst primär als Kommunikationsfunktion in der Werbung Ulrichs für die Dame. In den zahlreichen Rollen und Verkleidungen seien die Themen Körper und Sprache im Frauendienst zentral verknüpft, wobei für Ulrichs Körper die Defizienz betont werde. Einen Ausweg biete die Fiktionalisierung des Ichs, es wird die These einer gleichzeitigen Aufhebung von Schriftlichkeit und Individualität entwickelt.
Knapp, Fritz Peter. ‚Chevalier errant‘ und ‚fin’amor‘. Das Ritterideal des 13. Jahrhunderts in Nordfrankreich und im deutschsprachigen Südosten. Studien zum ‚Lancelot en prose‘, zum ‚Moriz von Craûn‘, zur ‚Krône‘ Heinrichs von dem Türlin, zu Werken des Strickers und zum ‚Frauendienst‘ Ulrichs von Lichtenstein. Passau 1986 (Schriften der Universität Passau, Reihe Geisteswissenschaften 8). Chevalier errant und fin’amor Das sechste Kapitel dieses Bändchens widmet sich der ritterlichen Standesideologie im Frauendienst und bietet zunächst eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Thesen von Thum (1968). Nach einer Analyse der Gratwanderung zwischen Komik und Minneideal thematisiert Knapp kurz die Anbindung des Erzählten an die zeitgenössische Lebenswelt.
Knapp, Fritz Peter. Die Literatur des Früh- und Hochmittelalters in den Bistümern Passau, Salzburg, Brixen und Trient von den Anfängen bis zum Jahre 1273. Graz 1994 (Geschichte der Literatur in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hrsg. von Herbert Zeman. 1). Geschichte der Literatur in Österreich 1 Die Literaturgeschichte bietet ein 10-seitiges Kapitel (S. 482 ff.), das Ulrichs Lieder in der minnesängerischen Tradition verortet. Die narrativen Passagen des Frauendienst werden inhaltlich skizziert, nach einer historischen Einordnung die wichtigsten Interpretationsaspekte genannt. Das Frauenbuch wird als höfische Sozialkritik gesehen. Ein Register erschließt weitere Nennungen Ulrichs.
Knorr, Karl. Über Ulrich von Lichtenstein. Historische und litterarische Untersuchungen. Strassburg 1875 (Quellen und Forschungen zur Sprachund Culturgeschichte der germanischen Völker 9).
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Historische und litterarische Untersuchungen Knorr beschäftigt sich mit der Chronologie der Lieder und erstellt ein genaues zeitliches Gerüst für den Frauendienst. Die Arbeit bietet eine Vielzahl metrischer Analysen und zeigt Textparallelen zu anderen Dichtungen auf. Die in den Frauendienst inserierten Büchlein werden in eine Linie mit dem Frauenbuch gestellt.
Kokott, Hartmut. „Zu den Wächter-Tageliedern Wolframs von Eschenbach. Ein schimpf bî klage (VII, 3, 4).“ Acta Germanica. Jahrbuch des Südafrikanischen Germanistenverbandes 16, 1983, S. 25–41. „Zu den Wächter-Tageliedern Wolframs von Eschenbach“ Kokott nimmt die Wächterkritik in den Tageliedern Ulrichs als Ausgangspunkt für seine Beschäftigung mit Wolframs Tageliedern. Ulrichs Kritik ziele auf die Vertrauensposition, die dem Wächter im Tagelied zukomme, zudem fordere er eine Rückbindung an das adlige Alltagsleben, um die Glaubwürdigkeit der Dichtung zu erhöhen.
Krämer, Peter unter Mitarbeit von Alexander Cella (Hrsg.). Die mittelalterliche Literatur in Kärnten. Vorträge des Symposions in St. Georgen/Längsee vom 8. bis 13. 9. 1980. Wien 1981 (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 16). Die mittelalterliche Literatur in Kärnten Der Sammelband ist aufgrund einer geplanten Neuedition auf den Autor Heinrich von dem Türlin konzentriert, bietet aber auch zwei Beiträge zu Ulrich (Reichert, Kartschoke), die sich auf mediale und historische Aspekte beziehen.
Krenn, Gerald. „Historische Figuren und/oder Helden der Dichtung? Untersuchungen zu den Personen im Roman ‚Frauendienst‘.“ In: Spechtler und Maier, Ich – Ulrich von Liechtenstein, S. 105–132. „Historische Figuren“ In Ergänzung zu Spechtlers Ergebnissen bietet Krenn für eine Reihe der im Frauendienst erwähnten Personen historische Informationen und weist Ungereimtheiten in der Personenschilderung nach. Für die laut Krenn 176 Personen gibt es zwei Anhänge: Der erste ordnet die Personen in drei zeitliche Gruppen, der zweite listet, gegliedert nach Jugendgeschichte, Venusfahrt und Artusfahrt, die Nennungen im Frauendienst auf.
Kretzenbacher, Leopold. „Maskenlust und Kirchenkuß. Zu einer Episode im ‚Frauendienst‘ des Ulrich von Liechtenstein.“ Blätter für Heimatkunde 56, 1982, S. 100–113. „Maskenlust und Kirchenkuß“ Kretzenbacher hebt als Ulrichs Leistung hervor, das Ritterideal auch in Zeiten gesellschaftlichen Niedergangs aufrecht zu erhalten. Abgesehen von der Minnehandlung, hält er die Ereignisse des Frauendienst für historische Realität. Breite Aus-
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führungen sind der Tradition des Paeces gewidmet, Ulrichs Darstellung wird als wichtige kulturgeschichtliche Quelle für dieses Detail gesehen.
Kühnel, Jürgen. „Zu den Tageliedern Ulrichs von Liechtenstein.“ Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 1, 1980/1981, S. 99–138. „Zu den Tagliedern Ulrichs von Liechtenstein“ Kühnel vergleicht Ulrichs Tagelieder mit denen Wolframs von Eschenbach und untersucht sie auf gattungsspezifische Kriterien. Für das erste Tagelied habe Ulrich die normale Szenerie mit einer Serena-Situation verknüpft, im zweiten Lied sieht Kühnel eine „Verdopplung des Taglied-Geschehens“ (S. 123) und interpretiert den Ersatz des Wächters durch die Zofe als adelspolitische Maßnahme.
Lind, Karl. „Ulrich’s von Lichtenstein, des Minnesängers, Grabmal auf der Frauenburg.“ Mittheilungen der k. k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale 17, 1872, S. 102–103. „Grabmal auf der Frauenburg“ Lind referiert die Thesen von Beckh-Widmanstetter zu dem nahe der Frauenburg gefundenen Grabmal und äußert die Vermutung, dass sich die Grabstätte eher in der Jacobskirche als in der Frauenburg selbst befunden haben dürfte. Auch Lind geht noch davon aus, dass es sich um das Grabmal des Dichters Ulrich handelt.
Linden, Sandra. „Die Liedüberschriften im ‚Frauendienst‘ Ulrichs von Lichtenstein und die Handschriftenlücke vor der Artusfahrt. Ein Klärungsversuch.“ Zeitschrift für deutsche Philologie 122, 2003, S. 409–415. „Die Liedüberschriften im ‚Frauendienst‘“ Der Beitrag analysiert die Überlieferungslücke des Frauendienst in Hs. M (nach fol. 99v), die den Beginn der Artusfahrt betrifft, und entwickelt mit Blick auf die Liedüberschriften die These einer absichtlichen, inhaltlich motivierten Umstellung der Lieder XXVII–XXIX aus einer vorgängigen Liedersammlung und einer nachträglichen Tilgung der Doppelungen im Frauendienst.
Linden, Sandra. Kundschafter der Kommunikation. Modelle höfischer Kommunikation im ‚Frauendienst‘ Ulrichs von Lichtenstein. Tübingen, Basel 2004 (Bibliotheca Germanica 49). Kundschafter der Kommunikation Die Untersuchung attestiert Ulrichs Frauendienst ein Interesse für höfische Kommunikation und sieht in ihm in varianter Schattierung das Thema Minnedienst, aber auch – vor allem in den Kostümfahrten – das Phänomen höfischer Herrschaft durchgespielt. Lieder, Narration und Büchlein fügen sich zu einem Panorama unterschiedlichster Interaktionsentwürfe zusammen, die im Ideal höfischer vreude zusammenlaufen.
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Linden, Sandra. „Kommunikationswissenschaftliche Perspektiven der Mediävistik.“ Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 15, 2005, S. 63–75. „Kommunikationswissenschaftliche Perspektiven“ Nach einer allgemeinen Befürwortung eines kommunikationswissenschaftlichen Zugriffs auf mittelalterliche Literatur dient das Stelldichein im Frauendienst als Beispielanalyse, die den Gesprächsablauf zwischen Ulrich, Dame und niftel nachvollzieht und die artistische Kompetenz des Autors als eine kommunikative markiert.
Loehr, Maja. „Die Grabplatte auf der steirischen Frauenburg und die Ruhestätte Ulrichs von Liechtenstein.“ Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 65, 1957, S. 53–69. „Die Grabplatte“ Loehr entziffert die bei der steirischen Frauenburg gefundene Graplatte und weist nach, dass es sich weder um den Grabstein des Dichters Ulrich, noch um den seines Sohnes (wie Bechstein und Schönbach vermuten), sondern um den seines bereits im Kindesalter verstorbenen Enkels handelt.
Lucas, Wilhelm Karl August. Das Adjektiv bei Ulrich von Lichtenstein. Diss. Greifswald 1914. Das Adjektiv Materialreiche statistische Untersuchung zur Verwendung des Adjektivs im Frauendienst im Vergleich zu anderen höfischen Dichtungen. Es zeigen sich für den Frauendienst ein signifikant häufiger Gebrauch des Adjektivs guot und eine Zunahme der Adjektivfrequenz im zweiten Dienst.
McCann, William J. „Wertsystem und Weltbild Ulrichs von Liechtenstein in Frauendienst und Frauenbuch.“ In: Geistliche und weltliche Epik des Mittelalters in Österreich. Hrsg. von David McLintock, Adrian Stevens und Fred Wagner. Göppingen 1987 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 446), S. 41–56. „Wertsystem und Weltbild“ McCann untersucht mit einer breiten Zusammenstellung von Primärtextzitaten Ulrichs Wertelehre und diskutiert, ob das im Frauendienst dargestellte Leben ein versûmtez leben ist.
McFarland, Timothy. „Ulrich von Lichtenstein and the Autobiographical Narrative Form.“ In: Probleme mittelhochdeutscher Erzählformen. Marburger Colloquium 1969. Hrsg. von Peter F. Ganz und Werner Schröder. Berlin 1972 (Publications of the Institute of Germanic Studies 13), S. 178–196.
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„The Autobiographical Narrative Form“ McFarland betont die Gattungsmischung als Innovation des Frauendienst und bietet eine didaktische Lesart des Textes. Ulrichs Hauptanliegen bestehe in der Wiederherstellung höfischer Idealität, wobei die autobiographische Form die Chancen einer Umsetzung des lehrhaften Gehalts begünstige. Anders als der Minnedienstgeschichte gesteht er der Schilderung der gesellschaftlichen Verhältnisse einen realen Gehalt zu.
McLelland, Nicola. „Seht ir dort jen hôhe lin? Der unerreichbare Innenraum in Ulrichs von Liechtenstein ‚Frauendienst‘.“ In: Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters. XIX. Anglo-German Colloquium Oxford 2005. Hrsg. von Burkhard Hasebrink, Hans-Jochen Schiewer, Almut Suerbaum und Annette Volfing. Tübingen 2008, S. 87–100. „Der unerreichbare Innenraum“ Der Beitrag betont den spielerischen Umgang mit Innen- und Außengrenzen im Frauendienst und untersucht die vielfältigen Übergänge zwischen dem epischen Text und den Liedern. Das Stelldichein wird als Darstellung eines spezifisch weiblichen Innenraums gesehen, den der Ritter Ulrich penetriert. Kurze Bemerkungen gelten dem Verhältnis von Innen und Außen in den Verkleidungsepisoden, im Jahreszeitenentwurf der Lieder, bei der Herzmetaphorik und in den Büchlein.
Mecklenburg, Michael. „Ritter Venus und die Rückeroberung verlorenen Terrains.“ In: Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Martin Baisch u. a. Göttingen 2003, S. 175–207. „Ritter Venus“ Der genderthematische Beitrag untersucht in detaillierter Textanalyse das absichtlich durchschaubare Cross-Dressing der Venusverkleidung im Frauendienst und zeigt auf, wie gerade die Maskerade als Frau Ulrichs männliche Existenz betont und seine Autorität unter den Ritter stärkt. Auf diese Weise gewinne er die im Minnedienst verlorene Souveränität des Ritters gegenüber der Dame zurück.
Meier, John. „Beiträge zur Erklärung und Kritik mittelhochdeutscher Gedichte. 2. Zu Ulrichs von Liechtenstein ‚Frauendienst‘.“ Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 15, 1890, S. 326–333. „Beiträge zur Erklärung und Kritik“ Einzelne Stellenkorrekturen zur Frauendienst-Edition von Bechstein sowie die nur angedeutete Überlegung, Frauendienst und Frauenbuch 20 Jahre früher, auf die Mitte der 30er Jahre, zu datieren.
Mertens, Volker. „Liebesdichtung und Dichterliebe. Ulrich von Liechtenstein und Johannes Hadloub.“ In: Autor und Autorschaft im Mittel-
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alter. Kolloquium Meissen 1995. Hrsg. von Elizabeth Andersen, Jens Haustein, Anne Simon und Peter Strohschneider. Tübingen 1998, S. 200–210. „Liebesdichtung und Dichterliebe“ Mertens interpretiert Ulrichs Sang aus mediengeschichtlicher Perspektive: Da der Frauendienst Ulrichs Lieder von der Aufführung in die Schriftlichkeit überführt, ergebe sich die Authentizität nicht mehr über die Performanz, sondern über die autobiographischen Erläuterungen. Im Vergleich zu Hadloub stellt Mertens für Ulrichs Tagelieder einen Verlust an fiktivem Freiraum fest.
Milnes, Humphrey. „Ulrich von Lichtenstein and the Minnesang.“ German Life and Letters 17, 1963/1964, S. 27–43. „Ulrich von Lichtenstein and the Minnesang“ Milnes sieht den Frauendienst als fiktive Minnesängerbiographie, in deren grundsätzlich fiktive Handlung stellenweise historische Elemente eingefügt sind. Nach einigen Liedinterpretationen wird die These entwickelt, dass Ulrich über die Komik das Ideal der hohen Minne stürze, was jedoch nur für die narrativen Passagen, nicht für die Lieder zutreffe.
Minis, Cola. „Ulrich von Liechtenstein.“ In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hrsg. von Wolfgang Stammler und Karl Langosch. Berlin 1933 ff. Bd. 5. Nachträge. Hrsg. von Karl Langosch. Berlin 1955, Sp. 1097–1099. „Ulrich von Liechtenstein“ Misch, Georg. „Das Verhältnis von Lyrik und Autobiographie. Ulrich von Liechtenstein – Guillaume de Machaut – Adam de la Halle – Juan Ruiz.“ In: Georg Misch. Geschichte der Autobiographie. Bd. 4, 1. Das Hochmittelalter in der Vollendung. Aus dem Nachlaß hrsg. von Leo Delfoss. Frankfurt a. M. 1967, S. 429–444. „Das Verhältnis von Lyrik und Autobiographie“ Misch, Georg. Geschichte der Autobiographie. 4 Bde. Frankfurt a. M. 1949 ff. Bd. 4, 1. Hälfte, 3. Teil. Das Hochmittelalter in der Vollendung. Aus dem Nachlaß hrsg. von Leo Delfoss. Frankfurt a. M. 1967. Geschichte der Autobiographie Für Ulrichs Frauendienst und die Werke von Guillaume de Machaut, Adam de la Halle und Juan Ruiz wird nach dem Verhältnis von Lyrik und Autobiographie gefragt (S. 429 ff.). Misch tritt für die historische Realität des Frauendienst ein und erklärt die Ausblendung von Ulrichs politischem Leben damit, dass die mittelalterliche Autobiographie nie eine Gesamtperspektive des Lebens biete.
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Moshövel, Andrea. „Ulrich von Liechtenstein – Ein Transvestit? Überlegungen zur Geschlechterkonstruktion im ‚Frauendienst‘ Ulrichs von Liechtenstein.“ In: Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ‚Körper‘ und ‚Geschlecht‘ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Ingrid Bennewitz und Helmut Tervooren. Berlin 1999 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 9), S. 342–369. „Ulrich von Liechtenstein – Ein Transvestit?“ Der genderthematische Beitrag untersucht in kritischer Auseinandersetzung mit Butler das Cross-Dressing im Frauendienst und sieht die Venusfahrt als Körpermanipulation, mit der Ulrich auf die Überlegenheit des Weiblichen reagiere. Moshövel deutet Fingerverlust und Mundoperation als Effeminiertheit, Ulrichs Agieren wird als Kritik am System der hohen Minne verstanden, das das natürliche Begehren einzwänge.
Moshövel, Andrea. wîplîch man. Formen und Funktionen von ‚Effemination‘ in den deutschsprachigen Erzähltexten des 13. Jahrhunderts. Göttingen 2009 (Aventiuren 5). wîplîch man In ihrer Untersuchung zur weiblichen Maskierung von Männerfiguren in der Literatur betrachtet Moshövel auch die Venusverkleidung im Frauendienst (S. 437–496). Neben einer Untersuchung des differenzierten Rollenspiels im Cross-Dressing wird auch die normsetzende Funktion der Venusfigur betont, die sich in strategischer Auseinandersetzung mit den männlichen Adelsnormen präsentiert.
Müller, Günther. „Strophenbindung bei Ulrich von Lichtenstein.“ Zeitschrift für deutsches Altertum 60, 1923, S. 33–69. „Strophenbindung“ Müller geht von der metrischen Frage aus, ob die strophenübergreifenden Reime Zufall sind oder von Ulrich bewusst als Stilmittel eingesetzt werden. Er bietet für jedes Lied eine Reimuntersuchung, kritisiert häufig die einfache formale Gestaltung und arbeitet in einer musikwissenschaftlichen Perspektive klangformale Elemente der Lieder heraus.
Müller, Jan-Dirk. „Lachen – Spiel – Fiktion. Zum Verhältnis von literarischem Diskurs und historischer Realität im ‚Frauendienst‘ Ulrichs von Lichtenstein.“ Deutsche Vierteljahrsschrift 58, 1984, S. 38–73. „Lachen – Spiel – Fiktion“ Ein in der Ulrich-Forschung viel zitierter Aufsatz, der sich mit dem Zusammenwirkung von Ernst und Spiel im Frauendienst beschäftigt. Laut Müller setze Ulrich mit den Kostümfahrten der realen Gesellschaftsordnung eine fiktive entgegen, die in einem Schwebezustand zwischen Realpolitik und Gesellschaftsspiel gehalten werde. Das Ich agiere in einer Vielzahl von Rollen, die in einem Wechsel von Rol-
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lenspiel und Rollenentlarvung ein signifikantes Lachen erzeugen. Der Frauendienst wird als eine Art Versuchsanordnung gesehen, in der sich literarischer und historischer Diskurs überlagern.
Müller, Jan-Dirk. „Ulrich von Lichtenstein.“ In: Deutsche Dichter. Bd. 1: Mittelalter. Hrsg. von Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max. Stuttgart 1989 (Reclam Universal-Bibliothek 8611), S. 329–336. „Deutsche Dichter: Ulrich von Lichtenstein“ Müller, Jan-Dirk. „Ulrich von Liechtenstein.“ In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. 2., völlig neu bearbeitete Auflage hrsg. von Kurt Ruh (Bd. 1–8) und Burghart Wachinger (Bd. 9 ff.). Berlin, New York 1978. Bd. 9. Berlin, New York 1995, Sp. 1274–1282. „VL: Ulrich von Liechtenstein“ Müller, Jan-Dirk. „Jahreszeitenrhythmus als Kunstprinzip.“ In: Rhythmus und Saisonalität. Kongreßakten des 5. Symposions des Mediävistenverbandes in Göttingen 1993. Hrsg. von Peter Dilg, Gundolf Keil und Dietz-Rüdiger Moser. Sigmaringen 1995, S. 29–47. „Jahreszeitenrhythmus als Kunstprinzip“ Das im Minnesang prominente Jahreszeitenprinzip, das der Sommerzeit Freude und dem Winter Leid zuschreibt, gilt für Ulrichs Lieder nicht mehr ungebrochen – eine Ablösung der Kunst von der Alltagswelt, die mit den Bemerkungen zu den wetersorgern theoretisch untermauert wird. Zudem antwortet Müller auf die Kritik von Rischer, indem er die Fiktionalität der politischen Passagen von der der Minnehandlung absetzt.
Müller, Ulrich. „Männerphantasien eines mittelalterlichen Herren: Ulrich von Lichtenstein und sein ‚Frauendienst‘.“ In: Variationen der Liebe. Historische Psychologie der Geschlechterbeziehung. Hrsg. von Thomas Kornbichler und Wolfgang Maaz. Tübingen 1995 (Forum Psychohistorie 4), S. 27–50. „Männerphantasien eines mittelalterlichen Herren“ In einer psychoanalytischen Perspektive sieht Müller im Frauendienst die Mentalität des zeitgenössischen Adels abgebildet: Das Unbewusste oder Halbbewusste breche sich im Text immer wieder trotz interner Zensur Bahn und gebe einen exklusiven Einblick in die Psyche des Autors. Die Fingeramputation wird als Zeichen von Kastrationsangst gedeutet, die Kostümfahrten als unbewusste Allmachtsphantasien.
Müller, Ulrich. „Ulrich von Liechtenstein und seine Männerphantasien: Mittelalterliche Literatur und moderne Psychologie.“ In: Spechtler und Maier, Ich – Ulrich von Liechtenstein, S. 297–317.
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„Ulrich von Liechtenstein und seine Männerphantasien“ Die psychologische Deutung geht davon aus, dass im Frauendienst Halbbewusstes und Unterbewusstes zum Vorschein kommen und sich Ängste, die Ulrich im realen Leben verdrängt, manifestieren. Müller stellt einen Domina-Komplex für den Minnediener Ulrich fest, der in der Unterwerfung unter die Dame aber auch Allmachtsphantasien entwickle, die er auf den Kostümfahrten auslebe.
Müller, Ulrich. „Der Frauendienst des Ulrich von Liechtenstein. Ein deutschsprachiger Autor des 13. Jahrhunderts als Editor seiner Lieder.“ Editio 21, 2007, S. 19–49. „Ein deutschsprachiger Autor“ Der Beitrag beschäftigt sich mit der Liedüberlieferung im Frauendienst und dem sog. ‚Zählfehler‘ bei den Lieder XII–XVIII. Für den Frauendienst wird die Besonderheit einer vom Autor selbst vorgegebenen Liedreihenfolge betont. Im Anhang eine Gliederungsübersicht des Frauendienst sowie die Lieder XXI, XXII und XLVII mit narrativem Kontext.
Müller, Ulrich und Franz Viktor Spechtler. „Ulrich von Liechtenstein.“ In: Lexikon des Mittelalters. München, Zürich 1980 ff. Bd. 8. München, Zürich 1997, S. 1199–1200. „LMA: Ulrich von Liechtenstein“ Müller, Ulrich und Franz Viktor Spechtler. „Ulrich von Liechtenstein.“ In: German Literature of the High Middle Ages. Hrsg. von Will Hasty. Rochester, NY u.a. 2006 (The Camden House History of German Literature 3), S. 235–241 „Ulrich von Liechtenstein (2006)“ Kurzer Abriss zu Ulrichs Leben und Werk, der die Mehrzahl der FrauendienstEreignisse als fiktiv ausweist und die Schwierigkeit einer literaturgeschichtlichen Kategorisierung diskutiert. Zwei Strophen aus Lied XXIX werden als stilistische Probe des Sangs beigegeben, ein Seitenblick auf das Frauenbuch und ausführlichere Bemerkungen zur neuzeitlichen Rezeption runden den Beitrag ab.
Neumann, Friedrich. „Ulrich von Lichtenstein’s Frauendienst. Eine Untersuchung über das Verhältnis von Dichtung und Leben.“ Zeitschrift für Deutschkunde 40, 1926, S. 373–386. „Dichtung und Leben“ Neumann betont für den Frauendienst den Kontrast zwischen idealem Minnedienst und schnöder Wirklichkeit. Die Kostümfahrten werden als inszeniertes Schauspiel verstanden, das die Ritterschaft ins Theatralische steigert, wobei der Drang, das reale Leben in Kunst zu überführen, als typisches Charakteristikum des Spätmittelalters interpretiert wird.
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Niederführ, Hans. „Ulrich von Liechtenstein und Korneuburg.“ Korneuburger Kulturnachrichten 2, 1977, S. 2–18. „Ulrich von Liechtenstein und Korneuburg“ Die Venusfahrt des Frauendienst wird als lokalhistorisches Faktum gesehen: Niederführ stellt die 1977 zum 750-jährigen Jubiläum des Korneuburger Turniers auf dem Hauptplatz in Korneuburg angebrachte Gedenktafel vor (mit Abb.) und bietet einen kurzen kultur- und literaturhistorischen Abriss für die Zeit um 1227.
Nigg, Marianne. Zum Gedächtnis an den Minnesänger und Dichter Ritter Ulrich von Lichtenstein zu seinem 700. Geburtstage. Korneuburg 1899. Zum Gedächtnis an den Minnesänger und Dichter Feierschrift zu Ulrichs 700. Geburtstag, die in ehrfürchtigem Ton die Ereignisse des Frauendienst als Ulrichs reale Lebensgeschichte nacherzählt. Die Darstellung beschränkt sich auf den ersten Dienst und stellt dabei den Ort Korneuburg besonders heraus.
Opela, Anna. „Die ‚Frauendienst‘-Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert.“ In: Spechtler und Maier, Ich – Ulrich von Liechtenstein, S. 221–241. „Die ‚Frauendienst‘-Rezeption“ Die rezeptionsgeschichtliche Studie setzt mit der Novelle von Wilhelm Fischer ein und zieht den zeitlichen Bogen bis zum Frauendienst-Comic von Helmut Birkhan und Martin Neubauer. Der Schwerpunkt liegt auf Hauptmanns Komödie, in Seitenblicken werden aber auch Schlichtegroll und das Ulrich-Zitat in Hofmannsthals Jedermann berücksichtigt.
Ortner, M. „Ulrich von Lichtenstein und Steinmar.“ Germania 32, 1887, S. 120–125. „Ulrich von Liechtenstein und Steinmar“ Ortner weist im Werk Steinmars anhand von Formulierungsparallelen Parodien auf Ulrichs Lieder nach, z. B. greife Steinmar Ulrichs Metaphorik hyperbolisch auf und antworte auf seine Tageliedkritik.
Perfetti, Lisa. Women & Laughter in Medieval Comic Literature. Ann Arbor, MI 2003. Women & Laughter Die gendertheoretische Untersuchung behandelt in einem 40-seitigen Kapitel (S. 126 ff., „‚With them she had her playful game‘. The Performance of Gender and Genre in Ulrich von Lichtenstein’s Frauendienst“) die Kommunikation zwischen Ulrich und der ersten Dame. Die Minnedienstdarstellung wird mit Blick auf das Motiv der spöttischen Minnedame textnah analysiert.
Peschel-Rentsch, Dietmar. „Das arme Ich des Ulrich von Liechtenstein. Autobiographische Vorstellungsinhalte in seinem vrowen dienst.“ In: Dietmar Peschel-Rentsch. Pferdemänner: sieben Essays über Sozialisation
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und ihre Wirkungen in mittelalterlicher Literatur. Erlangen, Jena 1998 (Erlanger Studien 117), S. 148–175. „Das arme Ich des Ulrich von Liechtenstein“ Der Beitrag analysiert Ulrichs Motive für das Verfassen seiner Ich-Erzählung und attestiert dem Frauendienst eine Ich-Destruktion (S. 153). Ersatzformulierungen für das Personalpronomen ‚ich‘ wie mîn lîp oder munt verweisen ebenso auf ein Hin und Her zwischen positivem und negativem Körperbezug wie die Fingerepisode oder der Blutsturz.
Peters, Ursula. Frauendienst. Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein und zum Wirklichkeitsgehalt der Minnedichtung. Göppingen 1971 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 46). Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein Die oftmals als Wendepunkt der Ulrich-Forschung bezeichnete Monographie sieht die narrativen Passagen des Frauendienst als Konkretisierung literarischer Minnemotive. Die Lebensgeschichte der Figur Ulrich präsentiert sich so als ein Auserzählen von Minnesangtopoi, was durch einen Seitenblick auf altprovenzalische Vidas und Razos gestützt wird. Mit Ulrichs Frauendienst wird der Dienstgedanke des Minnesangs in die narrative Gattung der fiktiven Autobiographie überführt. Für die Artusfahrt findet sich eine detaillierte Aufarbeitung der Tradition der Artusbünde und Tafelrundenturniere, die zur These einer Literarisierung des Lebens im 13. Jahrhundert führt.
Peters, Ursula. „Rezension zu: Franz V. Spechtler (Hg.): Ulrich von Liechtenstein ‚Frauendienst‘. Göppingen 1987 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 485).“ Arbitrium 8, 1990, S. 178–181. „Rezension zu Spechtler“ Peters moniert an Spechtlers Edition, dass sie keine gesellschaftsgeschichtliche Erschließung des Frauendienst ermögliche, da Angaben zu den erwähnten historischen Personen fehlten. Weitere Kritikpunkte sind die Interpunktion, der Verzicht auf eine Sachkommentierung und die unzureichende Kennzeichnung editorischer Eingriffe.
Pieper, Michael. Die Funktionen der Kommentierung im „Frauendienst“ Ulrichs von Liechtenstein. Göppingen 1982 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 351). Die Funktionen der Kommentierung Pieper versteht die Kommentierung als Gliederungsprinzip des Frauendienst und schreibt ihr die Funktion zu, Lieder und Handlungsebene zu einem einheitlichen Minnedienst zu verknüpfen. Zu den Kommentierungen zählt er vor allem die Botengespräche, in denen der Bote die Handlungen des Ich reflektiert, oder die Eigenkommentierung durch Inhaltsangaben zu zahlreichen Liedern im zweiten Dienst.
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Pusch, Hans. Klang und Rhythmus bei Ulrich von Lichtenstein. Diss. Berlin 1921. Klang und Rhythmus Die Studie geht in der vor allem metrischen Untersuchung von einer biographischen Abfolge der Werke aus, in der die Büchlein des Frauendienst die Phase der Jugend und das Frauenbuch die des Alters besetzen. Laut Pusch zeichnen sich die Lieder verglichen mit der Narration durch eine höhere technische Qualität aus. Ulrich habe eine Vorliebe für Wortwiederholungen bzw. gleiche Taktmessung, zudem für die Technik der Senkungsfüllung.
Ranawake, Silvia. „der manne muot – der wîbe sîte. Zur Minnedidaxe Walthers von der Vogelweide und Ulrichs von Lichtenstein.“ In: Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988 zum 65. Geburtstag von Karl-Heinz Borck. Hrsg. von Jan-Dirk Müller und Franz Josef Worstbrock. Stuttgart 1989, S. 177–196. „Zur Minnedidaxe“ Ranawake befasst sich mit der Wertelehre des Frauendienst und positioniert in einer Liedanalyse Ulrichs Konzept gegenüber der Waltherschen Werte- und Minnelehre. Sie stellt sowohl für Ulrich als auch für Walther das Bemühen um eine Ethisierung des Minnesangs fest und zeigt, wie Ulrich über die Wertelehre die Minnesphäre mit der gesellschaftlich-politischen Welt verknüpft.
Reichert, Hermann. „Rosensiegel Ulrichs von Liechtenstein.“ KuenringerForschungen. Jahresbuch für Landeskunde von Niederösterreich 46/47, 1980/1981, S. 425–440. „Rosensiegel“ Reichert bietet eine historische Studie zu dem Rosensiegel, das Ulrich vielleicht durch die babenbergische Landesherrin Agnes verliehen wurde. Der Frauendienst wird in den wichtigsten Lebensstationen Ulrichs als historische Wahrheit gesehen, die Artusfahrt mit Friedrichs Rückgewinnung von Wien 1239 in Verbindung gebracht.
Reichert, Hermann. „Vorbilder für Ulrichs von Lichtenstein Friesacher Turnier.“ In: Krämer, Die mittelalterliche Literatur in Kärnten, S. 189–216. „Vorbilder“ Im ersten Teil des Beitrags befasst sich Reichert mit dem realpolitischen Hintergrund des Friesacher Turniers, das er als historisches Ereignis auffasst, der zweite Teil beleuchtet die historische Tradition der Tafelrundenturniere.
Reichert, Hermann. „Exzentrizität als Zentralgedanke. Ulrich von Liechtenstein und seine Artusfahrt von 1240.“ Österreich in Geschichte und Literatur 27, 1983, S. 25–41.
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„Exzentrizität als Zentralgedanke“ Der für ein breiteres Publikum verfasste Beitrag beschäftigt sich mit der Artusfahrt und Ulrichs selbstbewusstem Auftreten gegenüber Herzog Friedrich II. Reichert sieht die Artusfahrt als publikumswirksame Werbemaßnahme des zukünftigen steirischen dapifer, mit der er sich die Gunst der Landherren sichern wollte.
Reiffenstein, Ingo. „Rollenspiel und Rollenentlarvung im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein.“ In: Festschrift für Adalbert Schmidt zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Gerlinde Weiss unter Mitwirkung von GerdDieter Stein. Stuttgart 1976 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 4), S. 107–120. „Rollenspiel und Rollenentlarvung“ Der Beitrag versammelt eine ausführliche Belegstellenreihe zum Lachen im Frauendienst und untersucht das Lachen als Reaktion auf die Rollenbrüche in den Spielentwürfen der Kostümfahrten und des Friesacher Turniers. Als Ziel des Rollenspiels auf der Figurenebene wird die Komik benannt.
Reuschel, Helga. „Ulrich von Lichtenstein.“ In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hrsg. von Wolfgang Stammler und Karl Kangosch. Berlin 1933 ff. Bd. 4. Saarburg – Zwinger. Berlin 1953, Sp. 584–589. „Ulrich von Liechtenstein“ Rick, Susanne. „Ulrich von Lichtenstein.“ In: Kindlers neues Literaturlexikon. Hrsg. von Walter Jens. Bd. 16. München 1991, S. 914–916. „Ulrich von Lichtenstein“ Rischer, Christelrose. „wie süln die vrowen danne leben? Zum Realitätsstatus literarischer Fiktion am Beispiel des ‚Frauendienstes‘ von Ulrich von Lichtenstein.“ In: Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert. Hrsg. von Gerhard Hahn und Hedda Ragotzky. Stuttgart 1992 (Kröners Studienbibliothek 663), S. 133–157. „Zum Realitätsstatus literarischer Fiktion“ Rischer kritisiert an Müllers Frauendienst-Interpretation (1984), dass er die Fiktionalität literarischen Sprechens nicht genügend berücksichtige. Rischer weist darauf hin, dass die Versatzstücke historischer Realität im Frauendienst als spezifisch literarisches Mittel fungierten. Für die Artusfahrt wird das Machtspiel zwischen Ulrich-Artus und Herzog Friedrich detailliert nachvollzogen.
Roediger, Max. „Zu Ulrichs von Lichtenstein Büchlein.“ Zeitschrift für deutsches Altertum 22, 1878, S. 380–382.
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„Zu Ulrichs von Lichtenstein Büchlein“ Der Beitrag antwortet auf Scherers Rezension zu Knorr. Für die Büchlein werden eine Reihe von hauptsächlich metrischen Konjekturen aufgelistet.
Roth, Benno. Die Grabstätte des letzten Minnesängers Ulrich von Liechtenstein in Seckau. Seckau 1976 (Seckauer Geschichtliche Studien 28). Die Grabstätte des letzten Minnesängers Die knapp 20-seitige Studie beschäftigt sich mit der 1871 von Johann Rigler am Frauenberg gefundenen Grabplatte und referiert die Ergebnisse von Loehr. Roth zeichnet die Bemühungen um den Erhalt der Liechtensteinerkapelle nach und bietet eine Abbildung des Grabmals sowie eine Rekonstruktion der Kapelle.
Ruben, Jürgen. Zur ‚gemischten Form‘ im ‚Frauendienst‘ Ulrichs von Lichtenstein. Untersuchungen über das Verhältnis der Lieder, Büchlein und Briefe zum erzählenden Text. Diss. (masch.) Hamburg 1969. Zur ‚gemischten Form‘ im ‚Frauendienst‘ Ruben beschäftigt sich mit der Gattungsmischung im Frauendienst und zeigt, dass Stichwortentsprechungen bei der Montage der Lieder in die Narration eine wichtige Rolle spielen. Anders als für den handlungsärmeren zweiten Dienst wird den Einlagen im ersten Dienst eine epische Funktion zugeschrieben. Zudem bietet er eine Analyse von Lied IV und der provenzalischen Tradition.
Rudorfer, Silke Andrea. Die Minne bei Ulrich von Liechtenstein, dem Stricker und Hartmann von Aue. Eine Gegenüberstellung von Frauenbuch, Frauenehre und Klagebüchlein. Neuried 2008 (Deutsche Hochschuledition 147). Die Minne bei Ulrich Die textnahe Studie untersucht den Einfluss Hartmanns von Aue und des Strickers auf Ulrichs Frauenbuch, wobei formale Gemeinsamkeiten wie die Büchleinform oder die Konzeption als Streitgespräch, aber auch einzelne minnedidaktische Motive analysiert werden. Als „zukunftsweisende Besonderheit[ ]“ (S. 249 ff.) des Frauenbuchs wird der Einbruch der Realität in die Idealität des Frauenpreis festgehalten, der oft mittels Ironie und Parodie umgesetzt werde.
Ruh, Kurt. „Dichterliebe im europäischen Minnesang.“ In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Hrsg. von Christoph Cormeau. Stuttgart 1979, S. 160–183. „Dichterliebe“ Ruh bietet einen pointierten Abriss der provenzalischen Vidas und Razos, für die er eine Leidensthematik der Liebe betont. Vor diesem Hintergrund wird der Frauendienst als eine „einzige Folge von Razos zu den mitüberlieferten 58 Liedern“ (S. 171) verstanden. Die Selbstdarstellung des liebenden Dichters müsse im Frauendienst jedoch neben der aktiv platzierten Ritterrolle zurücktreten.
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Rust, Werner. Freud und Leid in Ulrich von Lichtensteins ‚Frauendienst‘. Affekte, Affektsäußerungen, Gebärden und Stimmungen. Greifswald 1918. Freud und Leid Rust schließt von einer psychologischen Analyse des Autors Ulrich auf die seelische Befindlichkeit der im Frauendienst dargestellten Figuren. Es wird eine Topographie der einzelnen Affekte und Gefühlsäußerungen im Frauendienst erstellt, wobei die Figur Ulrich durch besonders extreme Gefühlslagen ohne Zwischenstufen auffällt.
Scherer, Wilhelm. „Kritik von Karl Knorrs ‚Über Ulrich von Liechtenstein‘.“ Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur 1, 1876, S. 248–255. „Kritik von Karl Knorr“ Scherer kritisiert Knorrs Darlegungen über Ulrichs Erzieher und votiert für Heinrich von Istrien. Lobende Äußerungen über die Metrik der Büchlein; der klassische Vierheber sei hier klarer verwirklicht als bei Hartmann von Aue.
Schilling, Michael. „Minnesang als Gesellschaftskunst und Privatvergnügen. Gebrauchsformen und Funktionen der Lieder im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein.“ In: Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik. Hrsg. von Michael Schilling und Peter Strohschneider. Heidelberg 1996 (GermanischRomanische Monatsschrift. Beiheft 13), S. 103–121. „Gesellschaftskunst und Privatvergnügen“ Schilling sieht den Frauendienst als wichtige Quelle für die Erforschung der zeitgenössischen Aufführungsform von Minnesang, da der fiktionale Text in diesem Darstellungsbereich dem Kriterium der Wahrscheinlichkeit folge. Neben dem Erwecken von gesellschaftlicher Freude durch den Sang hebt Schilling den persönlichen Minnedienst hervor. Diskussionsbericht über die Frage einer Minnesangfiktion.
Schlereth, Martha. Studien zu Ulrich von Lichtenstein. Diss. (masch.) Würzburg 1949. Studien zu Ulrich von Lichtenstein Schlereth versteht die Handlung des Frauendienst als historische Wahrheit und sieht Ulrich als konservativen Ritter, der das didaktische Ziel einer Wiederherstellung des höfischen Ideals verfolgt. Für die Lieder zeigt sie Parallelen zum klassischen Minnesang und zur oberitalienischen und provenzalischen Tradition auf, abschließender Hinweis auf Parallelen zur Mystik.
Schmid, Elisabeth. „Verstellung und Entstellung im ‚Frauendienst‘ Ulrichs von Liechtenstein.“ In: Ebenbauer, Knapp und Schwob, Die mittelalterliche Literatur in der Steiermark, S. 181–198.
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„Verstellung und Entstellung“ Schmid setzt an der Beobachtung an, dass der Frauendienst als erster Ich-Roman in deutscher Sprache deutlich mit Verhüllungen des Ichs operiert. Sie konzentriert sich auf die Verkleidungsepisoden, die als Manipulationen des Körpers mit der sprachlichen Funktion der Lüge verglichen werden.
Schmid, Elisabeth. „Mund und Schrift, Leib und Buch. Selbstbezug als Kunstübung im ersten Büchlein des Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein.“ In: Der Tod der Nachtigall. Liebe als Selbstreflexivität von Kunst. Hrsg. von Martin Baisch und Beatrice Trînca. Göttingen 2009 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 6), S. 105–121. „Mund und Schrift“ In einer textnahen Interpretation wird das erste Büchlein auf seine Beeinflussung durch das herze-lîp-Gespräch in Hartmanns von Aue Klagebüchlein untersucht, wobei der Fokus auf den Rezeptionsbedingungen des Büchleins innerhalb der Frauendienst-Handlung liegt. Die Ambivalenz des Büchleins wird mit der vielschichtigen Ich-Rolle und der Materialisierung des Buch-Körpers begründet.
Schmidt, Franz. „Zu Ulrich von Liechtenstein. I. Augsburger Fragment des Frauendienstes.“ Zeitschrift für deutsches Altertum 69, 1932, S. 321 f. „Augsburger Fragment“ Schmidt stellt das Augsburger Fragment A vor, das die Strophen 560–574 des Frauendienst umfasst und in einem bayerisch-österreichischen Dialekt geschrieben ist, wie man ihn für Ulrich selbst annehmen könne. Es wird die These aufgestellt, dass die Hss. A und M direkt von der Originalhs. abschreiben.
Schmidt, Klaus M. Tendenzen zum Realismus in der ritterlichen Epik der nachklassischen Periode: Untersuchungen zu Ulrichs von Lichtenstein Frauendienst. Diss. Ann Arbor, MI 1972. Tendenzen zum Realismus Schmidt, Klaus M. „Späthöfische Gesellschaftsstruktur und die ldeologie des Frauendienstes bei Ulrich von Lichtenstein.“ Zeitschrift für deutsche Philologie 94, 1975, S. 37–59. „Späthöfische Gesellschaftsstruktur“ Der Beitrag beschäftigt sich mit den zahlreichen Wahrheitsbeteuerungen im Frauendienst und vertritt die These einer Mischung aus Fiktion und Wahrheit, die vom Autor als reizvolles Ratespiel inszeniert ist. Schmidt sieht im Frauendienst eine differenzierte gesellschaftspolitische Darstellung (z. B. Unterscheidung von Geburts- und Dienstadel) und analysiert die Beziehung zwischen Ulrich und Herzog Friedrich.
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Schmidt, Klaus M. „Der Kampf im Schlafzimmer. Erwartungen und Realität in sexuellen Beziehungen: Ulrich von Liechtenstein.“ In: Sprachspiel und Lachkultur. Beiträge zur Literatur- und Sprachgeschichte. Rolf Bräuer zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Angela Bader, Annemarie Eder, Irene Erfen und Ulrich Müller. Stuttgart 1994 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 300), S. 155–177. „Der Kampf im Schlafzimmer“ Schmidt versteht den Minnedienst als männliche Kastrationsangst und stellt die These auf, dass Ulrich im Frauendienst für das Recht der Frau auf sexuelle Befriedigung eintrete. Anders als Müller sieht er Ulrich nicht als Opfer psychischer Zwänge, sondern als eine Art Psychotherapeuten, der die Fehler seiner Zeit diagnostiziert. Im Venuskostüm agiere Ulrich vorübergehend als Transvestit.
Schmidt, Klaus M. „Ulrich von Liechtenstein.“ In: Dictionary of Literary Biography. Bd. 138: German Writers and Works of the High Middle Ages: 1170–1280. Hrsg. von James Hardin und Will Hasty. Detroit u. a. 1994, S. 141–152. „Ulrich von Liechtenstein“ Schmidt, Klaus M. „Die Gefahr des großen Friedens, oder: Was tun gegen die Langeweile? Ulrich von Liechtenstein und die Gesellschaft seiner Zeit.“ In: Spechtler und Maier, Ich – Ulrich von Liechtenstein, S. 269–296. „Die Gefahr des großen Friedens“ Schmidt betont den gesellschaftlichen Bezug mittelalterlicher Dichtung und handelt in einem Überblick die Schwerpunkte der Ulrich-Forschung wie etwa die Diskussion um Dichtung und Wahrheit, die Komik oder den Entwicklungsroman ab. In einem letzten Abschnitt wird die Forschung zum Frauenbuch skizziert.
Schmidt, Klaus M. Begriffsglossare und Indices zu Ulrich von Lichtenstein. 2 Bde. München 1980 (Indices zur deutschen Literatur 14/15). Begriffsglossare und Indices Begriffliche Erschließung für den Frauendienst (die Lieder sind ausgenommen) und das Frauenbuch, die mit einem Modell der Textfelder und -netzwerke arbeitet. Die Stellenangaben erfolgen aus EDV-Gründen nicht nach Strophen, sondern nach den durchgezählten Versen der Bechstein-Edition.
Schneider, Karl Ludwig. „Die Selbstdarstellung des Dichters im Frauendienst Ulrichs von Lichtenstein. Bedeutung und Grenzen des Autobiographischen in der älteren deutschen Literatur.“ In: Festgabe für Ulrich Pretzel zum 65. Geburtstag, dargebracht von Freunden und Schülern.
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Hrsg. von Werner Simon, Wolfgang Bachofer und Wolfgang Dittmann. Berlin 1963, S. 216–222. „Die Selbstdarstellung des Dichters“ Schneider hebt die Lieder gegenüber den narrativen Passagen hervor und äußert sich negativ über die Gattungsmischung, da man Lyrik und Epik im Bereich der Hohen Minne nicht zu einer Synthese bringen könne. Es komme ständig zu Verfälschungen des Ichs, der Gefahr der Prahlerei entgehe Ulrich durch die Parodie auf der narrativen Ebene.
Schönbach, Anton E. „Zu Ulrich von Liechtenstein.“ Zeitschrift für deutsches Altertum 26, 1882, S. 307–326. „Zu Ulrich von Liechtenstein“ Schönbach bietet S. 320 ff. eine erste Auflistung der Urkunden, in denen der historische Ulrich genannt wird, und vergleicht den Urkundenbefund mit den Angaben im Frauendienst, was lediglich für die Gefangenschaft näherungsweise möglich ist. Trotz der Annahme, dass man im Frauendienst Wahrheit und Erfindung nicht strikt trennen könne, wird für einige Episoden ein Wahrheitswert bestimmt.
Schönbach, Anton E. „Liechtenstein: Ulrich von L.“ Allgemeine Deutsche Biographie 18, 1883, S. 620–623. „Ulrich von Liechtenstein“ Schönbach, Anton E. „Zum Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein.“ Zeitschrift für deutsche Philologie 28, 1896, S. 198–225. „Zum Frauendienst“ Detaillierter Stellenkommentar zum Frauendienst, der eine Vielzahl von Einzelinformationen versammelt (urkundliche Belege, Parallelstellen anderer Autoren, Sachinformationen, Beobachtungen zur Erzähllogik, Bewertungen der literarischen Qualität usw.).
Schönbach, Anton E. „Über den steirischen Minnesänger Ulrich von Liechtenstein.“ Biographische Blätter. Jahrbuch für lebensgeschichtliche Kunst und Forschung 2, 1896, S. 15–36. „Über den steirischen Minnesänger“ Schönberg bietet zunächst eine detaillierte, auf historische Anknüpfungspunkte konzentrierte Nacherzählung des Frauendienst, im zweiten Teil werden dem kontrastierend die Urkundenzeugnisse entgegengestellt. Die historische Person wird von der literarischen Figur abgesetzt, was – in Auseinandersetzung mit Wilhelm Scherer – in eine Diskussion über Dichtung und Wahrheit mündet.
Schönbach, Anton E. „Zu Ulrich von Liechtenstein (Nachtrag).“ Anzeiger für deutsches Altertum 29, 1904, S. 277 f.
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„Zu Ulrich von Liechtenstein (Nachtrag)“ Schönbach trägt zu der Urkundenliste von 1882 fünf weitere Urkunden nach, in denen Ulrich erwähnt wird, scheidet zugleich eine (Nr. 41) als Fälschung aus, so dass die Urkundenliste nun 88 Belege umfasst.
Schröder, Edward. „Herrand von Wildonie und Ulrich von Liechtenstein.“ Nachrichten von der königlichen Gesellschaft der Wissenschaft Göttingen. Philologisch-historische Klasse aus dem Jahr 1923, Berlin 1924, S. 33–62. „Herrand von Wildonie und Ulrich von Liechtenstein“ Schröder nimmt einen metrischen Vergleich zwischen Ulrich und seinem Schwiegersohn Herrand von Wildon vor. Er hält die Einbettung der Lieder in die Narration des Frauendienst für nicht sonderlich gelungen, die Büchlein ordnet er als frühe Werke Ulrichs ein.
Schröder, Edward. „Zu Ulrich von Liechtenstein. II. Zur Textkritik.“ Zeitschrift für deutsches Altertum 69, 1932, S. 323–332. „Zu Ulrich von Liechtenstein“ Detaillierte Reimwortuntersuchung zum Frauendienst, zudem Kritik an der Edition von Lachmann mit einer Monita-Liste.
Silberstein, August. „Ulrich von Lichtenstein, der ritterliche Minnesinger des ‚Frauendiensts‘ und seine Abenteuer.“ In: Denksäulen im Gebiete der Cultur und Literatur. Hrsg. von August Silberstein. Wien 1879, S. 79–162. „Ulrich von Lichtenstein, der ritterliche Minnesinger“ Silberstein, der die Ereignisse des Frauendienst als historische Wahrheit auffasst, bietet eine Übertragung, die einzelne Strophen unter Beibehaltung des Reimschemas wiedergibt, andere Passagen in Prosa zusammenfasst und mit kommentierenden Erläuterungen versieht, so dass sich eine aus dem Frauendienst exzerpierte ‚Biographie‘ ergibt.
Spechtler, Franz Viktor. „Die Stilisierung der Distanz. Zur Rolle des Boten im Minnesang bis Walther und bei Ulrich von Liechtenstein.“ In: Peripherie und Zentrum. Studien zur österreichischen Literatur. Festschrift für Adalbert Schmidt. Hrsg. von Gerlinde Weiss und Klaus Zelewitz. Salzburg u. a. 1971, S. 285–310. „Die Stilisierung der Distanz“ Nach einer Untersuchung der Botenrolle in der Lyrik ab dem donauländischen Minnesang vertritt Spechtler die These, dass die Boten im Frauendienst eingesetzt seien, um die Spannung des unbelohnten Dienstes zu erhöhen. Als Neuerung Ulrichs wird hervorgehoben, dass der Bote nicht nur Nachrichten, sondern auch Minnelieder überbringe und so zu einem wichtigen Faktor des Literaturbetriebs werde.
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Spechtler, Franz Viktor. Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein. Habil. (masch.) Salzburg 1974. Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein Unveröffentlichte Habilitationsschrift, die unter dem Aspekt von Dichtung und Wirklichkeit eine umfassende Gesamtanalyse des Frauendienst bietet und einen Schwerpunkt auf die narrativen Passagen, insbesondere auf Jugendgeschichte und Botenthematik, legt. Die historische Beschäftigung mit Ulrich wird auf eine neue Basis gestellt, indem Spechtler Schönbachs Urkundenliste auf 94 Positionen erweitert und korrigiert, zudem für die im Frauendienst erwähnten historischen Personen ein zuverlässiges Informationsgerüst erstellt.
Spechtler, Franz Viktor. „Probleme um Ulrich von Liechtenstein. Bemerkungen zu historischen Grundlagen, Untersuchungsaspekten und Deutungsversuchen.“ In: Ebenbauer, Knapp und Strasser, Österreichische Literatur, S. 218–232. „Probleme um Ulrich von Liechtenstein“ Der Beitrag versammelt einige historische Überlegungen zum Frauendienst und konzentriert sich auf den Tod Herzog Friedrichs des Streitbaren. Spechtler betont, dass man Ulrichs Leben nicht aus den Angaben im Frauendienst rekonstruieren könne. Kritik an Thums These eines aristokratischen Ideologie-Entwurfs.
Spechtler, Franz Viktor. „Ulrich von Liechtenstein bei Gerhart Hauptmann und Hugo von Hofmannsthal.“ In: Mittelalter-Rezeption. Gesammelte Vorträge des Salzburger Symposions ‚Die Rezeption mittelalterlicher Dichter und ihrer Werke in Literatur, Bildender Kunst und Musik des 19. und 20. Jahrhunderts‘. Hrsg. von Jürgen Kühnel, Hans-Dieter Mück und Ulrich Müller. Göppingen 1979 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 286), S. 347–364. „Ulrich von Liechtenstein bei Gerhart Hauptmann und Hugo von Hofmannsthal“ Der Beitrag zur Rezeptionsgeschichte erklärt das Interesse am Frauendienst mit den historischen Belegen zu Ulrich und den im Frauendienst erwähnten Personen. Spechtler betrachtet die Rezeption im Meistersang am Beispiel Wolfhart Spangenbergs, die neuzeitliche Rezeption wird anhand von Hauptmanns Komödie und dem Ulrich-Zitat in Hofmannsthals Jedermann analysiert.
Spechtler, Franz Viktor. „Liechtenstein, Ulrich von.“ Neue deutsche Biographie. Hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1953ff. Bd. 14. Berlin 1985, S. 522–523. „Ulrich von Liechtenstein“ Spechtler, Franz Viktor. „Ulrich von Liechtenstein. Literarische Themen und Formen um die Mitte des 13. Jahrhunderts in der Steiermark.“ In:
Kommentierte Bibliographie
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Ebenbauer, Knapp und Schwob, Die mittelalterliche Literatur in der Steiermark, S. 199–229. „Literarische Themen und Formen“ Spechtler betont die literaturgeschichtliche Sonderstellung Ulrichs und gibt eine überblicksartige Interpretation des Frauendienst, die historische und literarische Perspektiven berücksichtigt. Ein Ausblick gilt der steiermärkischen Literatursituation mit einer bündigen Analyse von Biterolf und Dietleib.
Spechtler, Franz Viktor. „Ein ‚lächerlicher Minneritter‘? Zur Funktion der Komik bei Ulrich von Liechtenstein. Wege der Forschung.“ In: Sprachspiel und Lachkultur. Beiträge zur Literatur- und Sprachgeschichte. Rolf Bräuer zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Angela Bader, Annemarie Eder, Irene Erfen und Ulrich Müller. Stuttgart 1994 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 300), S. 144–154. „Ein ‚lächerlicher Minneritter‘?“ Spechtler entwickelt nach einem Überblick über die Erforschung der Komik im Frauendienst die These, dass Ulrichs Selbstinszenierung als Karnevalisierung im Sinne Bachtins und sein Minnedienst als Parodie zu verstehen seien.
Spechtler, Franz Viktor. „Ulrich von Liechtenstein. Urkunden und Zeugnisse zur Biographie des Autors des ersten Ich-Romans in deutscher Sprache.“ In: Edition von autobiographischen Schriften und Zeugnissen zur Biographie. Internationale Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition an der Stiftung Weimarer Klassik, 2.–5. März 1994. Autorund problembezogene Referate. Hrsg. von Jochen Golz. Tübingen 1995 (Beihefte zu editio 7), S. 3–9. „Urkunden und Zeugnisse“ Knappe Studie zur urkundlichen Bezeugung des historischen Ulrich von Liechtenstein. Spechtler legt Wert auf die Unterscheidung, dass zwar die im Frauendienst genannten Personen historisch bezeugt sind, die beschriebenen Ereignisse aber nicht als historische Fakten belegt werden können.
Spechtler, Franz Viktor. „Ir sult sprechen willekomen. Zur Rezeption Walthers von der Vogelweide bei Ulrich von Liechtenstein.“ In: Ir sult sprechen willekomen. Grenzenlose Mediävistik. Festschrift für Helmut Birkhan zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Christa Tuczay, Ulrike Hirhager und Karin Lichtblau. Bern u. a. 1998, S. 586–590. „Zur Rezeption Walthers bei Ulrich von Liechtenstein“ Der Beitrag bezieht sich auf die Passage des Frauendienst, in der Ulrichs Bote das Preislied Walthers von der Vogelweide zitiert (Str. 776 f.), und leitet daraus einerseits die Popularität von Walthers Lyrik und andererseits Ulrichs profunde Kenntnis der zeitgenössischen Literaturlandschaft ab.
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Spechtler, Franz Viktor. „Ich – Ulrich von Liechtenstein. Literatur und Politik im Mittelalter.“ In: Spechtler und Maier, Ich – Ulrich von Liechtenstein, S. 13–21. „Literatur und Politik“ Einleitung des Tagungsbandes, in dem Spechtler die Notwendigkeit der interdisziplinären Zusammenarbeit von Literaturwissenschaftlern und Historikern für die Erforschung des Frauendienst betont und einen Abriss der wichtigsten Interpretationsfelder gibt.
Spechtler, Franz Viktor. „Die Urkunden-Regesten zu Ulrich von Liechtenstein.“ In: Spechtler und Maier, Ich – Ulrich von Liechtenstein, S. 441–493. „Die Urkunden-Regesten“ Die Liste der Urkundenregesten ist gegenüber der unveröffentlichten Habilitationsschrift noch einmal kontrolliert und in Details korrigiert, in ihrem Grundbestand aber nicht verändert.
Spechtler, Franz Viktor und Barbara Maier (Hrsg.). Ich – Ulrich von Liechtenstein. Literatur und Politik im Mittelalter. Akten der Akademie Friesach „Stadt und Kultur im Mittelalter“. Friesach (Kärnten), 2.–6. September 1996. Klagenfurt 1999 (Schriftenreihe der Akademie Friesach 5). Ich – Ulrich von Liechtenstein Umfassender Tagungsband, der eine breite historische Grundlegung bietet und Ulrichs Werk differenziert in die zeitgenössische Literatursituation einbettet. Die literaturwissenschaftlichen Fragestellungen sind auf eine kultur- und gesellschaftswissenschaftliche Perspektive hin geöffnet, eine eigene Beitragssektion ist der Thematik der Kleidung gewidmet. Der Anhang ergänzt das Spektrum durch eine Bibliographie und Spechtlers Regestenliste der Urkunden.
Thomas, John Wesley. „‚Parzival‘ as a Source for ‚Frauendienst‘.“ Modern Language Notes 87, 1972, S. 419–432. „‚Parzival‘ as a Source for ‚Frauendienst‘“ Der Beitrag belegt Textparallelen zwischen dem Frauendienst und Wolframs Parzival, markiert jedoch als wichtigste Übereinstimmung die Stilisierung des Erzählers. So biete der autobiographische Gestus, den der Erzähler im Parzival einnehme, den Ausgangspunkt für den autobiographischen Entwurf des Frauendienst.
Thomas, John Wesley. „The Minnesong Structure of Ulrich von Liechtenstein’s ‚Frauendienst‘.“ Zeitschrift für deutsches Altertum 102, 1973, S. 195–203. „The Minnesong Structure of Ulrich von Liechtenstein’s ‚Frauendienst‘“
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Thomas versteht das maere des Frauendienst als ein extrem ausgedehntes Minnelied, das jedoch mehr Minnemotive dramatisiert, als in einem konventionellen Lied vorkommen, und daher eine Verkomplizierung erfährt. Als Hauptthema des zweiten Dienstes wird der hôhe muot genannt.
Thum, Bernd. Ulrich von Lichtenstein. Höfische Ethik und soziale Wirklichkeit. Diss. (masch.) Heidelberg 1968. Höfische Ethik und soziale Wirklichkeit Thomas interpretiert den Frauendienst als politisches Werk vor dem Hintergrund der sozialgeschichtlichen Situation der Steiermark im 13. Jh. Ulrich plädiere für die Einheit zwischen Adel und Ministerialen und wolle mit seiner Literatur reale politische Veränderungen herbeiführen. Auch die Rolle des Geldes oder die Problematik des österreichischen Interregnums werden auf ihre Relevanz für den Frauendienst befragt.
Thum, Bernd. „Literatur als politisches Handeln. Beispiele aus dem Umkreis der letzten Babenberger.“ In: Ebenbauer, Knapp und Strasser, Österreichische Literatur, S. 256–277. „Literatur als politisches Handeln“ Der Beitrag betont die sozialgeschichtliche Verortung von Literatur und sieht eine Überschneidung von politischem und literarischem Handeln. Tannhäuser, Bruder Wernher und Ulrich werden in dieser methodischen Grundsatzdarstellung als Beispiele herangezogen.
Tinsley, David Fletcher. When the Hero Tells the Tale. Narrative Studies in the Late-Medieval ‚Minnerede‘. Diss. Princeton, MI 1985. When the Hero Tells the Tale Tinsley stellt die Minneburg, Hermanns von Sachsenheim Die Mörin und Ulrichs Frauendienst in die Gattungstradition der Minnerede, wobei der Frauendienst den Übergang zwischen Minnesang und Minnerede markiere. Die Textanalyse stellt die Ich-Rollen der Narration, der Lieder und der Büchlein gegeneinander und sieht eine Verbindung zur Ich-Perspektive der Minnerede.
Tinsley, David Fletcher. „Die Kunst der Selbstdarstellung in Ulrichs von Lichtenstein ‚Frauendienst‘.“ Germanisch-Romanische Monatsschrift 40, 1990, S. 129–140. „Die Kunst der Selbstdarstellung“ Tinsley erklärt die Selbstdarstellung im Frauendienst über das Muster der Rolle und legt mit Erzähler, Narr und Minnesänger drei dominante Rollen auf unterschiedlichen Zeitstufen fest, wobei das Narren-Ich auf die Narration beschränkt sei und die Verbindlichkeit der Minnelieder nicht beeinflusse. Für den zweiten Dienst wird eine Annäherung von Erzähler- und Minnesänger-Ich beobachtet.
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Tomasek, Tomas. „Zur Rezeption arthurischer Strukturen im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein.“ In: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel unter Mitwirkung von Peter Ihring. Tübingen 1999, S. 347–361. „Zur Rezeption arthurischer Strukturen“ Laut Tomasek ist der Frauendienst nicht nur in einzelnen Motiven, sondern in ganzen Strukturketten durch die Gattung des Artusromans beeinflusst. Kritisch gegenüber Hausner sieht er nicht den gesamten Frauendienst als doppelten Kursus angelegt, wohl aber die Venusfahrt. Mit dem Formschema werde jedoch nicht die existentielle Sinnsuche des Artusromans übernommen.
Touber, Anthonius H. „Der literarische Charakter von Ulrich von Lichtensteins ‚Frauendienst‘.“ Neophilologus 51, 1967, S. 253–262. „Der literarische Charakter“ Touber untersucht die Verknüpfung von Narration und Liedern im Frauendienst und stellt vor allem für die reflektierenden narrativen Passagen Entsprechungen zu den Liedern fest. In der Reihenfolge der Lieder sieht Touber eine minnesängerische Entwicklung Ulrichs abgebildet, wobei die Lieder des zweiten Dienstes eine ausgeprägtere Sensualität zeigten.
Touber, Anthonius H. „Ulrichs von Lichtenstein unbekannte Melodie.“ Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 26, 1987, S. 107–118. „Ulrichs von Lichtenstein unbekannte Melodie“ Touber befasst sich mit der Kontrafaktur, die die Figur Ulrich im Frauendienst auf dem Krankenlager als Auftragsarbeit für eine unbekannte Dame dichtet. Er identifiziert anhand des metrischen Schemas ein mit Melodie überliefertes altfranzösisches Lied, dessen nicht erhaltene provenzalische Fassung Ulrich als Vorlage gedient habe.
Touber, Anthonius H. „Ulrichs von Liechtenstein ‚Frauendienst‘ und die Vidas und Razos der Troubadours.“ Zeitschrift für deutsche Philologie 107, 1988, S. 431–444. „‚Frauendienst‘ und die Vidas und Razos der Troubadours“ Der Beitrag fragt nach dem Einfluss der Vidas und Razos auf den Frauendienst. Neben einigen Einzelparallelen findet sich eine Übereinstimmung vor allem in der Skurrilität der berichteten Handlungen und Ereignisse. Innerhalb der Rezeptionsbeziehung wird jedoch Ulrichs Eigenleistung betont.
Utz, Franz. Das Moralsystem bei Ulrich von Lichtenstein. Greifswald 1920. Das Moralsystem bei Ulrich von Lichtenstein Der Beitrag sieht Ulrichs Moralsystem durch die Trias von êre, guot und gotes hulde bestimmt. Als wichtigste Tugenden des Ritters präsentiere der Frauendienst triuwe und staete, die entsprechenden Tugenden der Dame seien güete und kiusche. Ulrichs didaktisches Ziel liege in der Bekämpfung des Raubrittertums.
Kommentierte Bibliographie
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Velten, Hans Rudolf. „Der Text als Spiel-Raum von Transgression und Hybridisierung: Performative Strategien im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein.“ In: Transgression – Hybridisierung – Differenzierung. Zur Performativität von Grenzen in Sprache, Kultur und Gesellschaft. Hrsg. von Kathrin Audehm und Hans Rudolf Velten. Freiburg i. Br. u. a. 2007 (Rombach Scenae 4), S. 185–221. „Der Text als Spiel-Raum“ Unter Rückgriff auf de Certeau analysiert Velten den Frauendienst als Experimentierfeld für die Veränderung gesellschaftlicher und kultureller Normen. Mundoperation, Fingerverlust, Venusfahrt, Blutsturz und die Begegnung mit den Aussätzigen werden als Transgressionen im Bereich Körper / Gender verstanden, eine besondere Grenzüberschreitung stelle die missetât der Dame dar. Schließlich wird aus der Frauendienst-Analyse eine Poetologie der Grenzüberschreitung extrapoliert.
Velten, Hans Rudolf. „Sakralisierung und Komisierung im „Frauendienst“ Ulrichs von Liechtenstein.“ In: „risus sacer – sacrum risibile“. Interaktionsfelder von Sakralität und Gelächter im kulturellen und historischen Wandel. Hrsg. von Katja Gvozdeva und Werner Röcke. Bern u. a. 2009 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. NF 20), S. 117–145. „Sakralisierung und Komisierung“ Velten untersucht die Vermischung von Sakralem und Profanem im Frauendienst unter dem Aspekt der Kontrastierung, indem die sakralisierte Minnedame dem Minnemärtyrer Ulrich gegenübergestellt wird. Die sakralisierende Stilisierung des Minnedienstes sei stets mit einem schwankhaften, stark hyperbolisch operierenden Element gekoppelt, das Ulrichs Körperlichkeit thematisiere.
Volfing, Annette. „Die Burgen Ulrichs von Liechtenstein und seine Tagelieder.“ In: Die Burg im Minnesang und als Allegorie im deutschen Mittelalter. Hrsg. von Ricarda Bauschke. Bern u. a. 2006 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 10), S. 63–73. „Die Burgen Ulrichs von Liechtenstein“ Der Beitrag sieht die Burg als Topos für die erotische Begegnung und stellt Ulrichs Tagelieder in eine Gattungsperspektive. Ulrich strebe auf der Handlungsebene des Frauendienst stets nach der Tageliedsituation, doch gelinge ihm in der Nacht des Stelldicheins in der Burg der Dame sowie in den Nächten der Gefangenschaft in seiner eigenen Burg, der Frauenburg, lediglich die ironische Verkehrung.
Walter, Elise. Verluste auf dem Gebiet der mittelhochdeutschen Lyrik. Stuttgart 1933 (Tübinger germanistische Arbeiten 17). Verluste Walter befasst sich mit der Überlieferungslücke vor der Artusfahrt im Frauendienst und diskutiert, ob ein oder zwei Lieder fehlen, was davon abhängt, ob man den Leich als Lied mitzählt oder nicht.
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Wachinger, Burghart. „Mittelhochdeutsche Bruchstücke aus Landshut.“ Zeitschrift für deutsches Altertum 101, 1972, S. 326–340. „Buchstücke aus Landshut“ Das Handschriftenbruchstück von zwei Pergamentblättern bietet einige Passagen aus den Strophen 849–900 des Frauendienst. Neben der Hs. M und dem Augsburger Fragment ist dies die dritte Frauendienst-Handschrift aus dem 13. Jahrhundert, eine vierte Hs. wird als Vorlage der Manessischen Liederhandschrift gedient haben.
Weichselbaumer, Ruth. „Er wart gemerket unde erkant / durch seine unvroweliche site. Männliches Cross-Dressing in der mittelhochdeutschen Literatur.“ In: Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ‚Körper‘ und ‚Geschlecht‘ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Ingrid Bennewitz und Helmut Tervooren. Berlin 1999 (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 9), S. 326–341. „Männliches Cross-Dressing“ Neben der Episode um Hugdietrich, den jungen Achilles bei Konrad von Würzburg, der Figur Neidhart im Brautschwank und Herkules bei Heinrich Steinhöwel wird auch Ulrichs Venusverkleidung als Beispiel für das Motiv des Cross-Dressing analysiert. Ulrich halte in der Verkleidung mit der parodistischen Nachahmung weiblicher Verhaltensnormen stets seine reale Identität präsent.
Witte, Arthur. „Rezension zu: Hans Arens, Ulrich von Lichtenstein „Frauendienst“.“ Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 63, 1942, Nr. 7/8, Sp. 189–196. „Kritik von Hans Arens“ Positive Besprechung der Stiluntersuchung von Arens, die vor allem referierend verfährt und u.a. die Untersuchung der negativen Ausdrucksweise lobend hervorhebt.
Witthöft, Christiane. Ritual und Text. Formen symbolischer Kommunikation in der Historiographie und Literatur des Spätmittelalters. Darmstadt 2004 (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne). Ritual und Text In einem knapp 80-seitigen Kapitel wird der Frauendienst als ein Spiel mit Ritualhandlungen gesehen, das sich etwa über das Muster von Gabe und Gegengabe oder mit der Verleihung von Hofämtern auf den Fahrten in den politischen Machtdiskurs einschreibt. Eine besondere Rolle wird Verstößen gegen Rituale sowie Ulrichs genauem Raummanagement in den Inszenierungen zugesprochen.
Wolf, Alois. „Komik und Parodie als Möglichkeiten dichterischer Selbstdarstellung im Mittelalter. Zu Ulrichs von Lichtenstein ‚Frauendienst‘.“ Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 10, 1976, S. 73–101.
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„Komik und Parodie“ Der Beitrag, der den Frauendienst als parodistische Auseinandersetzung mit der Gattung Minnesang interpretiert, handelt nacheinander Ulrichs Minnetorheiten ab, wobei der Manierismus im Ausmalen komischer Szenen hervorgehoben wird. Wolf stellt heraus, dass Ulrich oftmals mit der Beschreibung körperlicher Gebrechen einen komischen Effekt erzielt.
Woratschek, Margareta. Eine Reimuntersuchung zu Ulrich von Lichtenstein Frauendienst und Frauenbuch. Diss. (masch.) Wien 1956. Eine Reimuntersuchung Woratschek bietet verschiedene alphabetisch geordnete Zusammenstellungen, nämlich eine Liste der vokalisch unreinen Reime, der konsonantisch unreinen Reime, eine Übersicht über die Verteilung der Reimarten sowie ein alphabetisches Verzeichnis aller Reimwörter. Die Reime der Lieder sind dabei optisch hervorgehoben, so dass lyrische und epische Reimgewohnheiten getrennt beurteilt werden können.
Zimmermann, Günther. „Ulrich von Lichtenstein und der Sex. Überlegungen zu Ulrichs Minnekonzeption.“ Znanstvena Revija 3, 1991, S. 199–208. „Ulrich von Lichtenstein und der Sex“ Zimmermann berücksichtigt in seiner Analyse der Lieder die narrative Einbettung. Zwar bleibe Ulrich der hohen Minne verpflichtet, doch stelle der Frauendienst die Körperlichkeit stärker in den Vordergrund. Ein zweiter Teil der Studie gilt den Minnevorstellungen des Frauenbuchs, wo Ulrich im Festhalten an der hohen Minne sein eigenes Scheitern dokumentiere.
Zips, Manfred (Hrsg.). „Ulrich von Lichtenstein ‚Das Frauenbuch‘.“ In: Wiener Neudrucke Ankündigungsband. Hrsg. von Herbert Zeman. Wien 1970, S. 20–27. „Ulrich von Lichtenstein ‚Das Frauenbuch‘“ Allgemeine Informationen über Ulrichs Biographie und den Frauendienst, für den die Lieder eigens hervorgehoben werden, leiten über zu der Beobachtung, dass die Ulrich-Forschung auf den Frauendienst konzentriert ist. Die Beschäftigung mit dem Frauenbuch soll durch eine Neuausgabe, die einen normalisierten Text bietet, angeregt werden.
Zips, Manfred. „Frauendienst als ritterliche Weltbewältigung. Zu Ulrich von Lichtenstein.“ In: Festgabe für Otto Höfler zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Helmut Birkhan. Wien, Stuttgart 1976 (Philologica Germanica 3), S. 742–789. „Frauendienst als ritterliche Weltbewältigung“
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Zips bietet einen kommentierenden Textdurchgang durch den Frauendienst und betont Ulrichs Interesse an idealer höfischer Ritterschaft. Die höfische vreude werde ethisch aufgeladen, doch das Ziel, höfische Hochstimmung hervorzurufen, stehe nicht im Gegensatz zur Komik des Werkes.
Zub, Felix. „Beiträge zur Genealogie und Geschichte der steirischen Liechtensteine.“ Beiträge zur Kunde steiermärkischer Geschichtsquellen 32, 1902, S. 3–64. „Beiträge zur Genealogie und Geschichte“ In diesem detailreichen Beitrag beschäftigt sich Zub mit den Verwandtschaftsverhältnissen der Liechtensteiner und ergänzt Falkes Stammtafeln durch Quellen aus dem Murauer Archiv.
Stellenregister
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Stellenregister Für den Frauendienst orientiert sich die Episodeneinteilung der Narration an der Gliederung in der Edition von Spechtler (2. Aufl. 2003), ist jedoch bei größeren Sinneinheiten (z. B. Venusfahrt) durch eingerückte Unterkapitel ergänzt. Sämtliche Insertionen (Briefe, Büchlein, Lieder) sind separat aufgelistet. A Frauendienst 1) Narration Prolog (1–7) 324, 336 f., 340–343, 346, 389 f. 1. Dienst (8–1389) 145–151, 309, 365–367, 371, 396 Jugend (8–51) 145, 211 f., 253, 281 f., 314, 341, 365, 376, 391 Vermittlung der Niftel (52–82) 211 f., 431, 432, 438 Mundoperation (83–114) 145, 213–215, 344 f., 376 f. 1. Begegnung mit der Dame (115–158) 145, 182 f., 195, 196, 212–216, 218, 344, 376 f., 383, 391 Botschaften (159–176) 219, 237, 244, 250 f., 347 f., 432, 507 f. Friesacher Turnier (177–312) 71 f., 85, 108, 147, 194, 366, 438 Botschaften, Turnierfahrten (313–339) 99, 220, 223, 284 Fingerverletzung (340–353) 145, 195, 252 Botschaften, Romfahrt (354–429) 195 f., 231, 235 f., 244, 249 f., 252–257, 284, 339 f., 431, 432 Fingerverlust (430–456) 145–147, 181, 228–231, 253, 312 Entschluss zur Venusfahrt (457–469) 269 f., 349–351 Venusfahrt (470–985) 73–76, 83 f., 88 f., 147–150, 261, 269 f., 274–276,
284–287, 318, 349–355, 366, 378–382 – Vorbereitungen (470–479) 193, 222, 252, 350 f. – Venusverkleidung (481–489, 522–531) 88, 269 f., 351, 378 f. – Kirchbesuch in Treviso (535–541) 150, 184 f., 270, 318, 352 f., 380 – anonymes Geschenk (601–604) 220 f., 275 – Tjost mit dem Mönch (616–641) 129, 379 – ein windisch wîp (685–698) 147 f., 300–302 – Einkehr bei der Ehefrau (707–710) 147 f., 291 – Ulrich-Venus im Bad (727–748) 149, 194, 221 f., 249, 275, 302–304 – Geschenk der Dame (WaltherZitat) (774–794) 114, 196, 241, 257 f., 275, 381 f. – Hadmar von Küenringen (874–899) 148, 299 f. – Kirchbesuch in Feldsberg (929–950) 150, 280, 353, 380 f. – Ende der Fahrt (959–985) 149, 194, 274 f., 286, 379 f. Turnier von Korneuburg (986–1076) 270 f., 286 – Untreuevorwurf der Dame (1015–1054) 198–201, 251 f., 276, 460 f.
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Botschaften, Einladung der Dame (1077–1123) 252, 258, 432 2. Begegnung: Stelldichein (1124–1292) 87, 150 f., 154, 185, 196–198, 287–289, 366 f. – Verkleidung als Aussätziger (1124–1197) 122, 151, 194, 197 – Gespräch mit der Dame (1198–1269) 271, 287–289 – Verzweiflung, Einladung (1270–1292) 128, 197f., 256f., 318f. Botschaften, Kreuzfahrtforderung (1293–1336) 202, 232, 256 3. Begegnung: hôher muot (1337–1360) 390, 433 untât der Dame, Dienstaufsage (1361–1375) 151, 203, 233 f., 240 f., 277, 312, 369, 434, 437 f. Zeit der wânwîsen (1376–1389) 436, 439 2. Dienst (1390–1835) 151–155, 203–206, 369, 371 f., 391–395, 396 Begegnung mit der 2. Dame (1390–1399) 247 f., 368, 434 f. Lücke vor der Artusfahrt 152, 489 Artusfahrt (1400–1609) 76–84, 152, 318, 354 f., 372 f., 384–387 – Artusverkleidung (1400–1407) 152, 384 – 1. Botschaft des Herzogs (1455–1464) 152, 318, 385 f. – Botin der Frow Êre (1500–1512) 248 – Turnier in Katzelsdorf (1513–1565) 77–83 – 2. Botschaft des Herzogs (1566–1578) 152 – Friedrich beendet die Fahrt (1591–1609) 152, 386 Lob der Dame, Minnereflexion (1610–1658) 245, 391 f., 435, 437, 439, 440 – Tageliedkritik (1622–1632) 115, 392, 439 f. Tod Herzog Friedrichs (1659–1677) 84, 101, 152 f., 245 f., 319, 372, 373, 386 f. Zeitklage, Minnereflexion (1678–1695) 66 f., 115, 193, 322
Gefangenschaft (1696–1731) 51, 60, 153–155, 272, 314, 321, 372, 395 f., 439 f. Trost durch Minnedienst (1732–1752) 67, 322 f., 434 Wertelehre (1753–1835) 115, 195, 372 f., 369, 436 Epilog (1836–1850) 59 f., 237 f., 242, 324, 337–340, 342, 364, 393 f. 2) Büchlein 1. Büchlein 219, 223, 225–229, 233, 239, 244, 250 f., 255, 324, 343–349, 381 2. Büchlein 145 f., 228–231, 233, 237, 377 f., 513 f. 3. Büchlein 232 f., 237, 492 3) Briefe Briefe 99, 148, 149, 215, 217–224, 237, 239, 240, 244, 249, 251 f., 302, 310, 347 f., 352, 377, 378 f., 383, 432, 490, 510–512 4) Lieder I 242, 391, 403, 405, 411, 416, 418, 497 II 403, 405, 414, 416 III 115, 251, 403, 405, 416, 422 IV 240, 377, 403, 405, 411, 416, 435, 438, 520, 523 V 405, 411, 416, 497 VI 403, 407, 411, 416, 497, 498 VII 235–237, 250, 403, 405, 411, 416, 497, 498, 518, 523 VIII 236, 241, 255, 403, 405, 411, 416, 419, 435, 517, 518, 523 IX 242, 403, 407, 411, 412 f., 416 X 255, 377, 381, 403, 406, 409, 412, 416 XI 115, 239, 381, 403, 405, 409, 411, 416 XII 224, 233, 239, 365, 400, 403, 407, 408, 409, 411, 416, 419, 500 XIII 240, 403, 405, 411, 416, 419, 428 f. XIV 403, 405, 408 f., 411, 416, 418, 419, 492, 517 XV 403, 406, 411, 416, 419, 423, 492
Stellenregister XVI 153, 389, 403, 407, 409, 411, 416, 423, 433, 492, 515 XVII 403, 405, 409, 411, 416, 419, 426, 427, 492 XVIII 405, 409, 411, 416, 492, 521 XIX 403, 405, 411, 416, 433, 492 XX 153, 403, 407, 411, 416, 419, 430, 492 XXI 241, 369, 403, 406, 411, 416, 419, 437, 492, 497, 498, 517 XXII 115, 240 f., 369, 400, 403, 405, 409, 411, 416, 419, 423, 430, 433, 434, 492, 497, 498 XXIII 369, 371, 399, 400, 405, 411, 416, 427 f., 492, 497, 498 XXIV 371, 399, 403, 405, 411, 416, 492, 517 XXV 113, 236, 369, 370, 410, 416, 424, 430 XXVI 403, 407, 411, 416, 423, 492, 517 XXVII 115, 403, 405, 411, 416, 419, 420, 497, 498 XXVIII 403, 405, 411, 416, 423, 427, 518, 519, 520, 521 XXIX 403, 407, 408, 411, 416, 418, 422 f., 427, 518, 519, 520 XXX 371, 403, 405, 412, 416, 418, 436, 492, 515, 518, 521 XXXI 403, 405, 411, 416, 423, 425, 429, 492, 519, 523 XXXII 354, 403, 405, 411, 416, 418, 421, 425, 434, 492 XXXIII 237, 371, 403, 412, 416, 435, 492 XXXIV 115, 403, 405, 411, 416, 492 XXXV 403, 405, 411, 416, 419, 492, 523 XXXVI 392, 403, 405, 413, 416, 520, 523 XXXVII 399, 401, 403, 409, 411, 416, 419, 425, 492
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XXXVIII 237, 389, 403, 407, 411, 415, 416, 433, 497, 498, 515 XXXIX 400, 403, 405, 411, 420, 421, 429, 483, 492, 497, 498 XL 392, 400, 403, 405, 414, 418, 497, 498, 501 XLI 403, 405, 411, 418, 419, 421, 422 XLII 403, 405, 411, 429, 435 XLIII 403, 405, 411, 421, 427, 429, 497, 498 XLIV 245, 405, 411, 418, 421 XLV 403, 405, 411, 418, 420, 421, 429, 518, 521 XLVI 405, 411, 416, 420, 421, 434, 492, 518, 521 XLVII 403, 405, 411, 418 XLVIII 403, 405, 411, 418, 421 XLIX 403, 405, 411, 419 L 403, 405, 411, 420 LI 400, 403, 405, 411, 418, 423, 429, 497, 498 LII 403, 406, 411, 418, 436 LIII 403, 407, 411, 423 LIV 403, 405, 411, 423, 427, 438 LV 403, 405, 411, 427 LVI 400, 403, 405, 411, 418, 429, 489, 516 f., 521 LVII 400, 401, 403, 405, 411, 429, 492, 493, 498 LVIII 204, 400, 401, 403, 405, 411, 418, 427, 429, 489, 493, 498 (LIX) 400, 401 B Frauenbuch Frauenbuch 59 f., 100, 103, 157 f., 160, 182, 186–192, 206, 266 f., 272 f., 277–280, 283 292–299, 383, 442–486, 487, 501–503, 506, 509, 512 f., 514