Ueber das Studium der preußischen Geschichte: Zur Ankündigung seiner Vorlesungen über dieselbe [Reprint 2022 ed.] 9783112662564, 9783112662557


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Einleitung
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Ueber das Studium der preußischen Geschichte: Zur Ankündigung seiner Vorlesungen über dieselbe [Reprint 2022 ed.]
 9783112662564, 9783112662557

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Ueber

das Studium

der

preußischen Geschichte. Z ulAnkündigung seiner Vorlesungen über dieselbe.

Von

Dr. Friedrich Rühs, ordentlichem Professor der Geschichte an der Universität zu Berlin.

Berlin

1817,

i » der N e a l s ch u 1 b u ch h a n d l u n q.

^Aemals ist eS wohl so einleuchtend geworden als in derverhängnißvollen Zeit, deren, Zeugen wir sind,

daß die verschiednen Völker, worin das menschliche Geschlecht sich äußerlich darstellt, sich in den Zeit­

momenten ihres sichtbaren Daseyns nicht als abgegeschlossen betrachten dürfen,

sondern daß sie auf

tausendfältige Weise mit unauflöslichen Banden an frühere Geschlechter geknüpft sind, und daß ihr gan­ zes Leben nur in einer Reihe früherer Zustände, in

der Vergangenheit seinen Grund hat: wiederholte

und schmerzliche Erfahrungen haben uns belehrt,

daß es unmöglich sey, neue Antriebe,

einem Volke durch ganz

Gesetze und Veranstaltungen eine

Richtung ,zu geben, wie sie dem reflectirenden Ver­ stände als heilsam und zweckmäßig erscheint.

Die

französische Revolution ist ein warnendes Beispiel,

in welche Tiefe des Unglücks ein Geschlecht sich stürzt,

das der vermeßne Wahn

ergreift,

alle

zu zerreißen,

die zarten und unsichtbaren Fäden

wodurch es mit der Vorzeit zusammenhängt, das der Ehrfurcht vor der Vergangenheit,

vor den Vä­

tern und ihrer Wirksamkeit entsagend, sich einbil­

det,

das ganze Gebäude des bürgerlichen Vereins

ans eignen Elementen nen und frisch aufbauen zu A 2

4 können.

Der Staatsverein ist nicht in einem kur­

zen Zeitraum durch eine augenblickliche Aufwallung

von der menschlichen Klugheit und Berechnung her­

vorgebracht: er ist das Werk vieler Jahrhunderte,

der Noth und des Bedürfnisses: selbst dieFüguügen

einer höhern Vorsehung haben zu seiner Vollendung beigetragen auf eine Weise,

die den menschlichen

Scharfsinn meist immer zu Schanden macht.

Je

vertrauter wir mit den Elementen werden, aus denen die bürgerliche Verfassung hervorgegangen ist, je deutlicher sich die Weisheit der Vorzeit in so vielen Einrichtungen, wodurch sie das Recht und die Frei-»

heit zu sichern suchte, offenbart, desto mißtrauischer werden wir in das eigne Urtheil, in die eigne Klug­

heit; wir werden uns ängstlich bedenken,

selbst ein­

zelne Theile zu zerstören: denn cs laßt sich, nach der Bemerkung eines scharfsinnigen Kopfes *) nicht be­

rechnen, wie viel leicht nachstürzen kann, wenn aus einem so alten Gebäude wie dieVerfassung einesLan« des, ein Balken herausgezogen und ein neuer ein­

gefügt werden soll.

Die Natur und die gesunde

Vernunft zeigen auf einem einfachen Wege Mittel ge­

gen die drohendsten politischen Uebel: durch die An­

wendung dieser einfachen Mittel haben sich Völker aus den gefährlichsten Krisen glücklich gerettet:

die

Geschichte lehrt sie uns kennen und zerstört die Gau­ keleien der Sophisten, womit sie auch die ersten und

heiligsten Angelegenheiten zu verwirren sich bemühn. •) Spittlers.

In aller volksmäßigen Bildung muß die Ge­

schichte einen Hauptbestandcheil ausmachen: sie giebt der politischen Seite jene edle Festigkeit und Sicher« heik, die wir bei den Völkern deö Alterthums bewun»

dern, und die sich in der neuern Welt meistens nur in gewissen Zeiten bei einzelnen Völkern gezeigt hat.

Nur durch die Geschichte knüpft sich der Einzelne an die Gesamtheit: sie erweckt, belebt und stärkt da-

Volksgefuhl, das die Seele des öffentlichen Lebens auemacht, worin die höchste und einzige Bürgschaft für die Dauer und die Selbständigkeit der Staaten

liegt, woraus die heldenmüthigsten Aufopferungen und die herrlichsten Bestrebungen für höhere Zwecke

hervorgehn.

Die Geschichte erweitert den Kreis der

menschlichen Wirksamkeit bis zu einer unendlichen Ferne:

durch die lebendige Erinnerung an alles,

was wir vergangenen Zeitaltern verdanken,

muß

nothwendig der Wunsch entstehn, auch für die kom«

menden Geschlechter gelebt zu haben: und nichts ist in den Verhandlungen unsrer Vorfahren so ehrwür«

dig und so rührend als diese fromme Rücksicht auf

die Nachkommenschaft, die heilige Scheu, in den Augen derselben feige, unwürdiss und besonders, wo es auf Recht und Gewissen ankommt, dereinst vor derselben schwach und verantwortlich zu erscheinen:

mit Recht bemerkt Burke, daß Menschen, diente hinter sich auf ihre Vorfahren blickten, auch nie vor

sich auf ihre Nachkommen sehn werden.

Eine besondere Vorliebe für die vaterländische

6 Geschichte gehört daher immer zu den Charakterzü­

gen großer und kräftiger Völker; und eine nähere Bekanntschaft mit derselben macht eine nothwendige

Bedingung eines wahrhaften politischen Lebens aus.

Die Art, wie diese Kenntniß erworben wird, muß allerdings sehr verschieden seyn; sie wird selbst sich in dem Fortgang der Zeiten umgestalten, und bündiger und gründlicher werden.

läutern

Bei den

edlen Völkern des Alterthums, wenigstens bei den

Griechen, war sie viel lebendiger und anschaulicher. Der ganze Inhalt der Dichtung, die weit mehr Ge­ meingut des Volks war als bei den Neuern, war

historisch: und ungeachtet aller mythischen Einmi­ schungen, ward der Inhalt der Epopöen und Tragö­

dien rein historisch aufgefaßt: die Menge, sagt Pau­ sanias*) glaubt alles, was sie von Jugend auf

in den Chören und Tragödien gehört hat: allein die Wirkung dieser mythischen Geschichte auf das Ge­ müth mußte immer gleich groß seyn; aber auch die

Geschichtschreiber reihten sich unmittelbar den dar­ stellenden Künstlern an: ihre Werke wurden öffent­

lich vorgelesen und so verbreitete sich der Inhalt der­

selben auf das ganze Volk.

Noch kamen die unzäh­

ligen Denkmäler zur Verherrlichung großer Thaten

und Männer hinzu, woran sich eine lebendige Erin­ nerung knüpfte: endlich mußte die Nothwendigkeit

die Vergangenheit zu kennen in allen Staaten durch die Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten,

*) Derer. Graeciae I, 3.

7 die das Vorrecht freier Bürger war, eben so fühlbar

werden als diese Bekanntschaft auf der andern Seite

dadurch, begünstigt ward; indem sie jeden Einzelnen selbst in die Geschäfte einführte,

ihm Gelegenheit

verschaffte sie kennen zu lernen und ein lebendige-

Jntereffe für alles was sich darauf bezog, erweckte, gab sie ihm zugleich Gelegenheit sich über die Gegen­ wart anschaulich und über die Vergangenheit durch Erkundigungen von den Alten zu unterrichten.

Auch in Rom stand die Geschichte in genauem

Zusammenhang mit der politischen Bildung des

Volks: und als überhaupt der Sinn für wissen­ schaftliche Gegenstände erwachte, war sie es inson­

derheit die die allgemeinste Aufmerksamkeit auf sich zog.

Die Aufbewahrung der Ereignisse, welche die

Stadt betrafen, war ein heiliges Geschäft: die An­

nalen, die die Pontifices maximi fortsetzten, hatten bei ihrer Umständlichkeit und ihrem Reichthum an

wunderbaren Sagen einen unwiderstehlichen Reiz und sie waren wohl das Muster, wie die Hauptquelle,

denen die spätern Annalisten folgten.

Die mythische

Geschichte der Römer, wenn sie freilich schon ihrer Entstehung nach, nicht den vielseitigen und üppigen Charakter an sich trägt wie die griechische, war in

Aller Munde, und je mehr sie dem Stolz und dem

Volksgefühl schmeichelte, desto begieriger ward sie erforscht, desto sorgfältiger überliefert : aber wie sehr

nun die römische Vorzeit auch entstellt und verfälscht seyn mochte, so war es doch diese Erinnerung an

8 große Thaten und große Männer,

wodurch das

römische Volk Jahrhunderte hindurch belebt und erfrischt ward, aus welcher sich die herrlichen Gesin­

nungen der spätern Zeit entwickelten, und die römi­ sche Größe hervorging, die die Nachwelt bewundert. Erst nachdem der Geist, der sich an der Vergangen­

heit nährte, untcrgegangen und dem Despotismus erlegen war, verbreiteten sich schnell die Keime eines Verderbens, das, weil es die moralischen Stützen des

Staats ergriff, nicht nur den Untergang desselben herbeiführte, sondern selbst das Volk vernichtete.

Die Neuern haben den Vorzug vor den Alten daß ihnen die Bekanntschaft mit allem Wissenswürdigen und selbst mit der Geschichte durch dieBequem-

lichkeit des Drucks ungemein erleichtert wird: es ist dadurch eine Strenge der Untersuchung und Prü­

fung möglich geworden, die nicht so leicht Statt fin­ den konnte, so lange die Quellen nur noch hand­

schriftlich vorhanden waren; obgleich sich nicht laugnen läßt, daß waö wir auf unserm Wege erlernen, meist weniger anschaulich und eigenthümlich ist, als

was sich die Alten mehr aus freier Thätigkeit oder un­ mittelbarem Verkehr mit Andern aneigneten und daß

selbst die außerordentliche Vervielfältigung der Bü­ cher am Ende auch dem festen Auffassen historischer Dinge schaden muß.

Dagegen fehlte den meisten

neuern Völkern jenes hohe politische Interesse für

die Geschichte, das ihr den größten Reiz, den sicher­

sten Werth für die Verhältnisse des Lebens giebt:

9

nur wo sich die Verhältnisse so entwickelten, daß ein

öffentliches Leben entstand, hat sich ein reger Elfer für die Geschichte kund gegeben, und es hat nicht an

Geistern gemangelt, die ihre Offenbarungen begrif­

fen; mit großer Liebe haben sich die edelsten Gemü­

ther zu ihr gewandt: in Italien, als die Kraft mannichfaltig geordneter Freistaaten sich in belebenden

Wettkämpfen versuchte, in der Schweiz, als die bur­ gundischen Kriege dem nicht zahlreichen Volke seine

Unüberwindlichkeit in treuer Vereinigung zeigten,

in den Niederlanden, nachdem der jugendliche Staat durch den furchtbarsten und ungleichsten Kampf seine

Selbstständigkeit errungen^hatte, in England, seit­ dem die Verfassung sich fester bildete, und die Ueber­

zeugung in allen Herzen Wurzeln faßte, daß sie der Grund des äußern Ansehns, der Sicherheit und des innern Wohlstandes sey.

.

Bei keinem neuern Volke herrscht wohl eine so große Neigung für die vaterländische Geschichte als bei den Engländern: nirgends ist wohl die Bekannt­ schaft mit derselben unter allen Standen, selbst un­

ter dem weiblichen Geschlecht so allgemein verbreitet.

Schon alö überhaupt die Literatur anfing in England allgemeiner betrieben zu werden, war die Geschichte des Vaterlandes der erste Gegenstand, der die allge­

meine Aufmerksamkeit beschäftigte: früh entstanden die großen Chroniken von

Fabian,

Holling-

shed und Harrison, von dem eifrigen Schnei­ der Speed, die in allen Familien gelesen wurden

10 und gleichsam die Hausbücher bildeten; gerade hier­

aus erklärt es sich wie selbst die ersten Gründer der

englischen Bühne,

ShakSpeare und seine Zeitge­

nossen den Stoff zu ihren dramatischen Darstellun­

gen so gern auö der vaterländischen Geschichte nah­ men , weil sie bei der allgemeinen Kunde von dersel­ ben eine lebhafte Theilnahme an den aus ihr ent­

lehnten Gegenständen vorauöseHen konnten.

Offen­

bar kann nur durch eine solche allgemeine Neigung-

die zu einer eignen Beschäftigung und Anstrengung führt, eine tiefere Einsicht in die Geschichte entstehn,

und in England finden daher selbst gelehrte, trockne, untersuchende Schriften unter den Frauen, unter Personen, die kaum zu den gebildeten Ständen ge­

hören , Freunde und Leser.

Alles was sich auf die

vaterländische Geschichte bezieht, wird als eine wich, tige Volksangelegenheit betrachtet,

und selbst da-

Parlement hat sich ihrer mit großem Nachdruck ange­

nommen ; seitdem eö im 1.1800 auf den Zustand der Archive aufmerksam und eine Commission zur Un­

tersuchung derselben niedergesetzt ward,

sind die

durchgreifenbsten Maaßregeln ergriffen, um die Denk­

mähler der Geschichte zu sichern und zugleich die Benuhung derselben zu erleichtern, sie überhaupt zu­

gänglicher zu machen: die sämmtlichen Archive der

drei vereinigten Reiche sind sorgfältig nachgesehen, und die Urkunden die sie enthalten, verzeichnet wor­ den: es sind auch Vorkehrungen getroffen, um jun­

gen Beamten die Kenntnisse zu verschaffen, die zum

11

Verständniß und zur Benußung der Urkunden erfor­ derlich sind.

Bei diesen genauen Nachforschungen

haben sich viele Denkmäler wiedergefunden, die man seit lange für verloren hielt, z. B. die carta de forestis Heinrichs III. «.'s. w., und es ist gewiß

-aß man überall.ein ähnliches Resultat erwarten darf, wo auf eine eben so sorgfältige Weise .verfah­ ren wird.

Schon bis zum Jahr ißis waren auf

diese Arbeiten und! den Druck verschiedner großer Werke 77,125 Pf. 4 S. 1 P. verwandt, und es war vielleicht kaum die Hälfte von dem vollendet,

was die Commission beabsichtigte; es läßt sich mit

Bestimmtheit annehmen daß das Ganze wenigstens eine Summe von einer Million Reichsthaler ko­ sten wird.

Hierbei ist durchaus auf keine unmit­

telbar praktische Brauchbarkeit Rücksicht genom­

men ; denn die Urkunden und die Verzeichnisse von Handschriften, die die Commission bis dahin be­

kannt gemacht hak, scheinen auf die jetzigen Ge­ schäfte, auf Len neuesten Zustand des Landes, auf das heutige Recht und die Erhebung der Abgaben

wenig Einfluß za haben: aber bei einer nähern Be­

leuchtung wird man

sich bald

überzeugen,

daß

gerade die tiefe Kenntniß der Vergangenheit, die in einem Staate, dessen Institutionen fest, nicht jedem

Winde der Laune und der Meinung ausgesetzt sind und ihre Wurzeln in fernen Jahrhunderten haben,

nur auf diesem Wege erlangt werden kann, in einem genauen Zusammenhang mit der Gegenwart stehn und

daß'die brittischen Staatsmänner, die mit diesen Ar­

beiten beauftragt waren, von einem geübten practischen Sinn geleitet wurden, den man anderwärts eben so­

wohl für bloße Pedanterie und Antiquitätenkrämerei halten mag als die Beschäftigungen eines Pitt oder

Fox mit griechischer Metrik oder Versassungökunde. Aber wird man vielleicht einwenden, den Englän­

dern kommt es zu Statten, daß sie eine Menge von

tresiichen, angenehm und leicht geschriebnen Werken

über ihre Geschichte überhaupt so wie über einzelne

Zeitraume und Gegenstände derselben besitzen: allein Liese Erscheinung ist offenbar nur die Folge der allge­

meinen Neigung für die vaterländische Geschichte, der Nothwendigkeit mit ihr bekannt zu seyn, die das öffentliche Leben und die Theilnahme an demselben

erzeugt.

Die vorzüglichsten Köpfe und die glän­

zendsten Talente, in welchem Verhältniß sie auch wirksam seyn mögen, sind dadurch im Stande sich

der Bearbeitung der vaterländischen Geschichte vor­ zugsweise zu widmen.

Eö ist ein großer Irrthum,

wenn man glaubt, daß ohne klassische oder selbst all­

gemein lesbare ,Darstellungen keine rechte Bekannt­ schaft mit der Geschichte eines Volks möglich sey:

selbst die vortrefflichsten allgemeiner Geschichtsbücher können nur anregen, das historische Gefühl schär­ fen, das Verständniß erleichtern, aber niemals ein

fortdauerndes Selbststudium entbehrlich machen und

ihr vornehmstes Verdienst besteht eigentlich nur darin,

daß sie dieses hervorbringen, gewissermaßen erleichtern.

15 Daß die deutsche Litteratur feilt' Werk über die

vaterländische Geschichte besitzt, das etwa dem Li­ vius oder dem Hume.an die Seite gesetzt werden kann, ist daher gewiß nicht die Ursache, daß das

Studium derselben so wenig betrieben ist:

in der

That würde demselben vielleicht noch mehr Eintrag dadurch geschehn seyn, da Uebersichten und anziehende Darstellungen nur zu sehr von den eigentlichen Denk­ mälern entfernen, durch welche eigentlich allein eine

wahre historische Kenntniß erlangt wird, und nur

zu gewöhnlich gewisse oft falsche Meinungen auf

eine fast unzerstörbare Weise verbreiten, wie z. B. bei den Römern durch den Livius geschehen ist. Die

deutsche Geschichte hat so wenig Pfiege und Ermun­ terung gefunden, und konnte nicht der eigentliche Mittelpunkt für das ganze Volk werden, weil einer­

seits das Gefühl der Einheit immer mehr verschwand

und andererseits kein politisches Interesse sich ent­

wickeln konnte: wo es noch vorhanden war, richtete es sich höchstens auf einen einzelnen Zweig, auf

die Verfassung dieses oder jenes Landes, und so

lebhaft auch oft die Neigung dafür,

so groß die

Kenntniß dieser Verhältnisse seyn mochte, so wurde

doch für die Einsicht in das Ganze der deutschen Geschichte dadurch nichts gewonnen: sie war fast ausschließend den Juristen anheim gefallen, die sie

höchstens zu einer Advokatenwissenschaft machten,

und recht absichtlich darauf auegingen, alle bele­ benden, vaterländischen nnd politischen Ideen, wo-

*4 1« das Studium veranlassen konnte, zu vertilgen. Es ivar ihnen nur darum zu thun, die äußere Form

aufzufassen,

gleichgültig gegen die innern Kräfte,

woraus sie hervorgegangen war, und daher kam es daß sie selbst den großen Nüßen übersahen, den eine tiefe Erforschung der deutschen Verfassung auch für

ihr Geschäft versprach.

Unter allen Mitteln eine

innere und geistige Einheit unter den Deutschen, die einzige Bürgschaft ihrer Selbstständigkeit und wah­

ren Entwickelung, herzustellen, ist kein- so wichtig als eine allgemeine Beschäftigung mit der Geschichte:

wenn sie anfangen, sich lebhafter für die frühern

Schicksale aller der verschiedenen Gemeinden und Staaten, worin sie sich theilen, zu interessiren, wer­

den sie auch an ihren gegenwärtigen Schicksalen einen größer« Antheil nehmen; sie werden in dem

Spiegel der Vergangenheit mit Ueberraschung erken­

nen, wie genau selbst die entferntesten Glieder durch die geheimsten Beziehungen, wodurch sich zwischen Menschen eine nähere Verwandtschaft kund giebt,

verbunden sind: jeder Fortschritt zu einer bessern und sichern Organisation, der in irgend einem Theil un­

sres gemeinschaftlichen Vaterlandes geschieht, wird überall mit patriotischer Freude als ein Gewinn für

Alle angesehn werden. Die bisherigen Bemerkungen sind vorausgeschickt

um zunächst in einigen naheliegenden und großen Beispielen den unmittelbaren Zusammenhang des historischen Studiums mit der politischen Bildung

15 eines Volks zu zeigen und darauf aufmerksam zu ma­ chen, wie die letztere durchaus abhängig von dem

erstem ist, nothwendig mit ihm gleichen Schritt Hal« ten muß.

Sfudj die preußische Geschichte verdient

grade aus diesem Gesichtspunkt näher betrachtet zu «erden: nur eine genaue Bekanntschaft mit den Ur­

sachen aus denen sich die einzelnen Theile entwickel­

ten und ihrem besondern Verhältniß zum Ganzen

kann allein zur richtigen Beurtheilung der großen Frage über die Modißcationen führen, der die Ver­ fassung des Staats fähig ist, über die widersprechen­

den Vorschläge, Meinungen und Ansichten, die dar­ über in Umlauf gesetzt werden; sie kann endlich zu

einem Mittel der Vereinigung zwischen den verschie­

denen Theilen werden, woraus daö preußische Reich besteht, weil durch eine historische Entwickelung die unzähligen Vortheile hervorgehn werden, die jedes

einzelne Glied durch die Verbindung zu einem gro­ ßen, politisch wichtigen und geachteten Staat erwor­ ben hat: es wird sich alsdann beurtheilen lassen, wel­

che Eigenthümlichkeiten die einzelnen Landschaften in ihren innern Einrichtungen behaupten können und

was für besondre Opfer jener höhere Zweck, die Er­

haltung und Sicherheit des Ganzen, nothwendig er­ fordert.

Daher ist auch für die Beamten eines aus

so verschiedenartigen Elementen zusammengesetzten

Staats ein dringendes Bedürfniß vorhanden, die Entwickelung dieser einzelnen Theile näher zu ken­

nen: nur wenn sie über die Art, wie die eigenthüm-

16 lichen Verhältnisse entstanden sind und mit dem Cha­ rakter und den Bedürfnissen der Einwohner Zu­ sammenhängen, durch eine gründliche Erforschung

sich richtige Ansichten erworben haben, können sie dieselben gehörig würdigen, mit den Rücksichten

auf die Idee

des

Ganzen in Uebereinstimmung

bringen, und die etwa nöthigen Abänderungen oder

Verbesserungen am schonendsten und ohne gewalt­ same Zerstörungen modifiziren; sie werden dadurch

mit der dem Staatsbeamten durchaus nothwendi­ gen Ehrfurcht vor früherer Weisheit durchdrun­ gen und vor dem Kitzel bewahrt werden, der alle

bestehenden, aus der Vorzeit stammenden Einrich­ tungen geradezu für veraltet ansieht,

nach irgend einem neuen Vorbild strebt.

und alles

zu verändern

Es ist gewiß eine weife Maxime, die wenn

sie auch vielleicht gemißbraucht werden kann doch

wesentlich zur Größe Preußens beigetragen hat,

daß bei der Besetzung der Aemter keine Rücksicht

auf den Geburtsort der Bewerbenden genommen wird, sondern daß dem Verdienst und der Geschick­

lichkeit in allen Theilen des Reiche ein angemesse­ ner Wirkungskreis eröffnet ist; allein alle Vor­

theile dieses GrrmdfatzeS werden nur dann eintre­ ten, wenn sich die Beamten früh in allen Theilen

des Staates, dem sie dienen, einheimisch machen, und sie nach ihren innern Verhältnissen kennen zu

lernen suchen, was nicht anders als historisch gesche­ hen kann.

Das

r? Das Bedürfniß einer nähern Bekanntschaft Mit der preußischen Geschichte giebt sich lebhaft kund: aber die Mittel es zu befriedigen sind frei­

lich mangelhaft und ungenügend; eS würde höchst ungerecht seyn,

wenn man

den

Eifer so vieler

würdigen und fleißigen Männer, die meist ohne

alle andere Unterstützung als ihre Liebe zur Sa­

che, sich der Erforschung der vaterländischen Vor­

zeit gewidmet haben, verkennen oder ihr Verdienst

verkleinern wollte;

eS

fehlt

keiner

Provinz an

Sammlern, selbst an Versuchen, die Schicksale

derselben in

einem Zusammenhänge

darzustellen:

allein sobald man sich etwas näher mit den Hülfs­ mitteln unsrer Geschichte bekannt macht, entdeckt

man sogleich, daß dieser ganze Reichthum an Ma­

terialien nur scheinbar ist: daß die eigentlichen Quel­ len zum Theil noch gar nicht oder nur höchst unvoll­

ständig und unkritisch an'S Licht gestellt, und daß sie noch keineswegs so benutzt sind, wie eine geläu­

terte Ansicht von der Geschichtforschung erfordert; man stößt überall auf Behauptungen, die jeder hi­

storischen Analogie widersprechen, auf Sätze, die das Herkommen einmahl geheiligt hat, die aber vor

einer kritischen Beleuchtung zusammenstürzen, auf

Hypothesen, die sich an die Stelle historischer That­ sachen eingedrängt oder gar die letzteren aus ihrem

Besitz gesetzt haben: so schleppt man sich z. B. mit

einem publicistischen System über die Verschieden­

heit der ursprünglich deutschen und der slavischen B

18 Länder, die hernach zum deutschen Reich gekommen

sind, und zieht Folgerungen aus diesem Umstand, die völlig unhaltbar erscheinen, sobald man nur einiger­

maßen tiefer in die frühern Verhältnisse dieser Länder

und Völker eindringt: von allen den Sähen, die man

gewöhnlich

mit einer gewissen Miene von

Wichtigkeit darüber aufstellt, ist kein einziger wahr-

und sie können nur aus gänzlicher Vernachläßigung des Quellenstudiums entstehn, was freilich verdrieß? kicher und schwieriger ist, als dogmatische Sähe für

ein Compendium zuzuschneiden.

Mit einem Worte,

man fühlt fast bei jedem Schritt, daß um die frühern Verhältnisse, besonders insofern sie sich auf die Ver­

fassung , das bürgerliche Recht und die Verwaltung beziehn, deutlich einzusehn, eine neue Untersuchung erforderlich und durchaus eine schärfere Kritik noth­

wendig sey; es bietet sich ein reiches und anziehen­ des Feld-für historische Forschungen dar, und die Arbeiter werden nicht fehlen, wennmur-mit der Ue­

berzeugung von der Nothwendigkeit einer nähern Kenntniß der gesummten vaterländischen Geschichte

eine größere Liebe für sie erwacht ist.

Wo sie vor­

handen ist, zeigt sie sich meist als ein beschränkter'

Particularismus: wir bekümmern uns noch wohl um die Geschichte des nächsten Vaterlandes, aber der Pommer ist schon gleichgültig gegen die märki­

sche und noch weit mehr gegen die klevische Ger

schichte; diese schädliche Vereinzelung ward sogar in den Schulen genährt, man trug in den pommerschen

19 Lehranstalten die pommersche, in den schlesischen die

schlesische Geschichte u. s. w. vor, ohne zu bedenken,

daß eine solche Einseitigkeit,

wenn sie bei reifen

Männern in einem bestimmten Wirkungskreise, oft als bloße, aber doch ehrenwerthe, Liebhaberei auch minder nachtheilig ist, doch auf die Gemüther der Jugend schädlich wirken muß, die man früh mit dem

Gedanken erfüllen sollte, einem großen Ganzen an-

zugehören, für das sie von einem gleichen Interesse beseelt seyn soll.

Bei der Behandlung der preußischen Geschichtt

als einer Einheit, zeigen sich allerdings bedeutende Schwierigkeiten und es ist einleuchtend, daß die

Methoden, die man dabei befolgt, nicht geeignet sind, um eine klare Einsicht zu verschaffen und das

richtige Verhältniß, worin das Einzelne zu dem Ge­

meinsamen steht, hervortreten zu lassen.

Das preu­

ßische Reich besteht aus einem Aggregat sehr ver-

schiedner Staaten, die alle ihre eigene Geschichte besihen, und sich sämmtlich auf eine-eigenthümliche

Weise gebildet haben.

Dieser Fall findet fast bet

allen neu-europäischen Reichen Statt: sie bestehen sämmtlich aus verschiedenen größer« und kleinern

Theilen, die nur nach und nach, mehr oder weniger innig, zusammengewachsen sind; es besteht zwischen dem Engländer und Schottländer und noch mehr zwischen diesen und den Wallisern oder Ersen eine weit größere Verschiedenheit, als zwischen dem Ost­

preußen und Klever, oder dem Schlesier und Mär«

B 2

20 kee.

Das vereinigende Band ist rein politischer

Art, obgleich bei dem preußischen Staat noch Mr glückliche Umstand hinzu kommt, daß mit wenigen

Ausnahmen seine ganze Bevölkerung entweder ur­

sprünglich deutsch ist, oder doch deutsch geworden ist: so groß auch der slavische Bestandtheil gewesen seyn mag, so hat er sich schon meist in einer verhältniß-

mäßig frühen Zeit durch ein inneres,

im Volke

selbst entstandenes Gefühl von der Nothwendigkeit einer solchen Umänderung, so germanisirt, daß eine

völlige Identität eingetreten ist: deutsche Sprache, deutsche Sitte, deutsche Bildung und endlich deut­

sches Recht, haben sich überall geltend gemacht: ja bei weitem der größere Theil dieser Länder gehörte

auch politisch zum deutschen Reich.

Der Einfluß

dieser höher» und tiefbegründeten Verhältnisse hat

selbst durch ihre Vereinigung zu einem neuen Gan­

zen nicht aufgehört; und wie sich hieraus die wahren

Maximen der preußischen Politik entwickeln, so folgt auch von selbst, daß die innere Geschichte des preußi­

schen Staats fast ganz und gar in die deutsche über­ geht; der Ruhm, den die Preußen durch Thaten des

Heldenmuths und der Tapferkeit errungen, ist die Verherrlichung des gemeinsamen Vaterlandes und

was sie in den Wissenschaften und Künsten Vortrefliches Und Großes geleistet, ist das Gemeingut aller

Deutschen; in allen höher« Beziehungen haben sich die Preußen nur mit dem deutschen Volke, nur durch

dasselbe gebildet und selbst jeder Versuch irgend eine

21 Eigenthümlichkeit anzunehmen,

erschien als ein

durchaus verkehrtes Streben, das durch sich selbst

untevgehn und ohne alle Folgen bleiben mußte. Der Mittelpunkt, der die verschiedenen Be»

siandtheile verknüpft,

ist das herrschende Haus;

sie sind größtentheilö nicht durch Eroberung erwor­ ben, sondern durch eine merkwürdige Verkettung

von Umständen gleichsam zusammen gefallen; es ist daher auch durchaus

falsch und einseitig,

nach der gewöhnlichen Ansicht die Mark Bran­

denburg gleichsam als den Kern, das Stammland

zu betrachten, aus welchem nach und nach das preußische Reich sich entwickelt hat; es läßt sich im Gegentheil geradezu behaupten, daß die sämmt­

lichen andern Länder eben so wesentlich zur Bil­ dung des Ganzen beitrugen, daß ohne Ostpreußen

und Pommern kein preußisches Reich möglich war, ja daß auch Schlesien und Westpreußen wesent­

lich nothwendig waren, um es in seiner Selbst­ ständigkeit, wie in

seiner politischen

Sicherheit

und Vollendung darzustellen. - A» und für sich

sind die Marken sowM wegen ihrer unbeschüßtem Grenze, als ihrer gänzlichen Entfernung vom Meer der schwächste Theil, der erst durch die Verbin­ dung mit Pommern und Schlesien eine größere Sicherheit erhielt; sie waren auch zur Zeit, als

der große Gründer des preußischen Reichs seine hohe Wirksamkeit begann, in ihrem Innern am meisten geschwächt und aufgelöst.

Wenn man-die ganze

22 Kette der Ursachen und Veranlassungen, aus denen das preußische Reich hervorgegangen ist, näher zu

erforschen und zu entwickeln strebt, muß man noth­ wendig der freien Ansicht über diese Verhältnisse,

wozu sich die Herrscher Preußens vom ersten Au­ genblick an erhoben,

eine der ersten Stellen an­

weisen; nie verriethen sie irgend eine Vorliebe für die ältere Besitzung, nie wurden sie zu irgend einer

Parteilichkeit hingerissen:

nie war ein märkische-

Interesse herrschend, sondern im Gegentheil waren

die Männer, denen sie zunächst ihr Vertrauen schenk­

ten, ohne Unterschied aus allen Theilen des neuen Reichs, und diese glückliche und unparteiische Mi­

schung mußte nothwendig jede Furcht einer unge­

rechten und

kränkenden Zurücksetzung entfernen.

Aus diesen Gesichtspunct enthält die Annahme der Königlichen Würde, die Friedrich I. so oft als eine

Handlung eines kleinlichen Ehrgeizes zum Vorwurf

gemacht worden ist, eine Wichtigkeit, die selbst dem

großen Geiste Friedrichs II. noch nicht deutlich ge­ nug vorfchwebte:

je mehr es selbst äußerlich ein-

leuchtete, daß das Königreich Preußen nur durch

die vereinigte, auf ein Ziel gerichtete Wirksamkeit aller Theile bestehen und behauptet werden könne,

desto leichter gingen alle besondere Ansprüche und Anmaßungen unter. Das Ungenügende der alten Art, die preußische

Geschichte als ein Ganzes darzustellen, leuchtet von

selbst ein: man fing nämlich mit der Geschichte

23 Brandenburgs an, legte sie zum Grunde, und schal­

tete die Schicksale der neuen Erwerbungen da ein,

wo sie gemacht wurden; jede Uebersicht mußte bei dieser Behandlungsart untergehn, aller Zusammen­

hang unterbrochen werden ; das Ganze ward im höch­

sten Grade verwirrt, und es war unmöglich den rich­ tigen Standpunct aufzufassen, aus welchem wir die besondere Geschichte der einzelnen Länder betrachten müssen.

Ein neuerer Schriftsteller *> hat die Män­

gel dieser Methode richtig gefühlt, er hat daher einen andern Weg eingeschlagen, der aber um nichts bes­ ser, ja »och um vieles verwerflicher ist. Er nimmt

nämlich auf den alten Unterschied der Wendischen

oder Slavischen und der Germanischen Länder Rück­

sicht, und macht aus der Geschichte der erstern eine allgemeine und die Grundlage des Ganzen dergestalt, daß ihre ausgezeichneten und gemeinschaftlichen Be­

gebenheiten in einer gleichzeitigen Erzählung nach

gewissen Perioden vorgestellt und die Begebenheiten

der übrigen Germanischen Lander nach dem alten Plan eingeschaltet werden können.

Allein diese Be­

handlungsart muß ihrer Natur nach zu lauter fal­

schen Vorstellungen führen: eö hat erstlich niemals

eine politische Verbindung zwischen diesen slavischen Stammen Statt gefunden; zweitens sind sie auch

unter sich in Hinsicht des Cultus, der Sitten, der Verfassung, ja selbst der Sprache wesentlich ver­

schieden, und die Ungleichheit zwischen den Elbsla*) Neitemeyer.

24

ven und den Letten am Pregel ist gewiß eben so groß, als zwischen jenen und den Deutschen; und endlich

drittens ist die slavische VolkSthümlichkeit in einer so frühen Zeit untergegangen, daß sie offenbar nur alvorgeschichtlich gelten kann. Durch diese vorgeschla«

gene Vermischung geht grade der wesentliche Vortheil verloren, die Individualität jedes einzelnen Theils

aufzufassen: denn wer sieht nicht ein, daß wenn gleich ähnliche Elemente vorhanden waren, doch die

Entwickelung aller Verhältnisse in Ost- und West­ preußen, im östlichen und westlichen Pommern, in Ober- und Niederschlesien, ja selbst in den Marken diesseits und jenseits der Oder, einen ganz eigen­

thümlichen Gang genommen hat: diese Eigenthüm­

lichkeiten werden aber nur der schärfern Betrachtung

klar, eben wegen jette» Gleichheit der Grundstoffe und der Aehnlichkeit der Verhältnisse.

So noth­

wendig es beim Studium der Geschichte auch seyn

mag, den Blick auf das Allgemeine zu richten, so

führt doch das Streben zu generalisiren, und allge­ meine Ansichten aufzustellen, so unvermeidlich auf

Abwege, daß man durchaus jede neue und absicht­ liche Veranlassung dazu vermeiden muß.

Wenn wir von der Natur und der Idee des preußischen Staats ausgehn, so scheint sich von

selbst der folgende Plan als der zweckmäßigste für die Behandlung seiner Geschichte zu ergeben, und zu­

gleich die Festigkeit und die Deutlichkeit in der Ansicht zu gewähren, worauf es vor allem beim historischen

25 Studium ankommt.

Das Ganze zerfällt nach den

hier entwickelten Ansichten in drei Abschnitte.

Der

erste umfaßt die Geschichte der einzelnen Staaken

bis auf den Zeitpunct, da sie von dem herrschenden Hause erworben wurden; am zweckmäßigsten wird

der Anfang mit Ostpreußen gemacht,

woran sich

Westpreußen von selbst als besondere Provinz an­ schließt: eö folgen dann nach einer vorläufigen Dar­

stellung der Verhältnisse der norddeutschen Slaven

die Geschichten von Pommern und Rügen, den Marken bis 1640,

von

von den Stiftern Mag­

deburg, Halberstadt, von Schlesien, und endlich den westphälischen und rheinischen Ländern.

Ausge­

schlossen von einer solchen besondern Darstellung müssen diejenigen Besitzungen bleiben,

die inte-

grirende Theile andrer Staaken waren, wie z. B. die abgetretenen Striche vom eigentlichen Polen u. s. w.

Diese können nur als reine Erwerbungen be­

trachtet werden, die das preußische Reich gemacht

hat: es muß genügen in der Geschichte desselben die Hauptverhältniffe im Großen und Allgemeinen anzu­

deuten, die besonders in Hinsicht auf die Vereini­

gung von Wichtigkeit sind. Diese besonderen Geschichten müssen durchau-

individuell angesehen und behandelt werden, und man muß jede Beziehung auf die künftige Verbin­

dung mit Preußen aus den Augen sehen; in der be­ sonderen Geschichte aller einzelnen deutschen Staaten

wird die Aufmerksamkeit zunächst auf die Entstehung,

26 Ausbildung und Entwickelung der innern Verhält­ nisse, der Verfassung, der Stände, des bürgerli­

chen Rechts und der Organisation der Verwaltung gerichtet; nur durch diese Rücksichten kann eine Ge­

schichte anziehend werden, wo die äußeren Begeben­ heiten von keiner großen Wichtigkeit und Mannich« faltigkeit sind, denn die Kriege, die sie mit den näch­

sten Nachbaren führten, sind mit einzelnen Ausnah­ men nur Streifereien, wie z. B. die vielen Fehden zwischen den Markgrafen von Brandenburg und

den Herzogen von Pommern u. f. w.

Auch die

Schicksale der Herrscher sind in diesen Staaten, da ihre Geschlechtek ausgestorben sind, nicht mehr von d.er,Bedeutung als dort, wo sich der Ruhm ihrer Wirksamkeit und ihrer Thaten noch mit der Thätig­

keit ihrer Nachkommen vermischt: nur einzelne große

Namen, die gleichsam den Geist und Character ih­ res Volks und ihrer Zeit ausdrücken, sind im Stande eine nähere Theilnahme zu erregen und die Uebrigen

kommen nur in Betrachtung in so weit sie auf jene Höheren Gegenstände eingewirkt, und die Entwicke­

lung derselben entweder befördert oder verhindert haben. Es kommt- hauptsächlich darauf an, die characte-

ristischen Züge hervorzuhebsn, wodurch die Verfas­ sung in den einzelnen Ländern bestimmt wird, und

wodurch sie sich unterscheidet: hiedurch entsteht nun eine gewisse Einheit in der Behandlung und das

Interesse wachst durch das Licht, das die Verhält-

27 Nisse des einen Staats ungesucht auf die des an­

dern werfen; mit dieser Vergleichung stellen sich oft gleichsam wie von selbst die Ursachen dar, warum bei fast ganz ähnlichen Elementen sich doch in dem

einen Lande ein ganz anderer Zustand entwickelt, als in einem benachbarten, und die ganze Physiognomie

der öffentlichen Einrichtungen oft auf einen Abstand

weniger Meilen einen ganz verschiedenen Character

hat, wie es kam, daß die fürstliche Gewalt sich hier schneller über die alten Schranken erhob, während sie dort erst einen mühsamen und zweifelhaften Kampf

gegen die herkömmlichen Freiheiten und Ansprüche der Stände bestehn mußte; daß in dem einen Lande

sich die alten Verfassungen und Rechte in ihrer Rein«

heit erhielten, während sie in dem andern ganz un­

tergegangen sind: freilich ist es immer sehr schwierig, ein klares und treues Bild von der innern Geschichte

einzelner deutscher Länder zu entwerfen: eö kommt vieles auf so feine Verhältnisse an, die in den Ur« künden und Quellen keineSwegeö zu Tage liegen, und

sich am Ende mehr ahnden und combiniren, oft sich nur durch Analogie darthun lassen, als daß sie sich

geradezu dem Blick darbieten.

Aber das Vergnü­

gen, das mit jeder Untersuchung verbunden ist, die

auch auf einem unerwarteten Wege doch endlich zu

einem lehrreichen Resultat führt, muß das Interesse an den Specialgeschichten erhöhen und das Studium derselben selbst demjenigen anziehend machen, der keinen nähern Antheil an, diesem oder jenem Lande

28 stimmt.

Wir besitzen von mehrer« Provinzen des

preußischen Reichs treffliche alte Chroniken, die ge­ wiß sehr viel beitragen können, tim in die frühern Verhältnisse derselben einzuführen, sobald man ih? rett Werth nur allgemeiner erkennt: die Magde­ burger Schöppenchronik, Lukas David,

Thomas Kanzow, lassen sich sowohl in Hinsicht

der Darstellung und des Inhalts , als selbst der red­ lichen und urkundlichen Forschung dem gepriesenen

Gilg Tschudi von Glarus an die Seite setzen.

Man

wird durch die einfache und anspruchlose, verstän­ dige und kräftige Manier dieser alten Männer, de­

ren politisches Urtheil ruhig und von keinen sophi­ stischen Gaukeleien umnebelt ist, die immer wissen

was sie wollen und was die Geschichte nützt, eine

weit bessere Einsicht erlangen, als durch die Werke der- Neuern, besonders seit der Mitte deü achtzehn­ ten Jahrhunderts, die auch abgesehn, daß sie sooft

an den, Einflüssen beschrankter Zeitansichten und

literarischer Moden kränkeln, noch durch das unzeitige Auskramen einer bedeutungslosen Vielwisserei den Geist erdrücken und die Ansicht trüben und verdunkeln: so nützlich und angenehm eö auch oft

seyn mag, Nebenumstände zu wissen, so bürden die gewöhnlichen Specialgeschichtschreiber ihren Le­

sern doch zu viel auf; besonders mischen sie die

Reichögeschichte meist in einer Vollständigkeit ein, worüber auf eine lange Zeit dar Land selbst aus den Augen verloren wird.

29

Mit dem zweiten Abschnitt beginnt nach dem

aufgestellten Plan die preußische Geschichte selbst;

wir wählen, um eine äußerlich oder chronologisch bestimmte Epoche festzuseHen,

den. Regierungsan­

tritt des Kurfürsten Friedrich Wilhelm, und betrach­ ten ihn als den ersten preußischen Herrscher.

In

dem ersten Abschnitt hatten wir eS mit bloßen Lan-

desgeschichten zu thun,

fast ohne alle Berührung

mit der übrigen Welt und ihrer Politik;

der neue

preußische Staat aber nimmt eine Stelle in dem politischen System Europa's ein und bald behauptet

er einen wichtigen und bedeutenden Antheil an dem­ selben; diese Wechselwirkung beginnt mit dem westphälischen Frieden, und seitdem ist Preußen in alle politische Krisen verflochten gewesen, die Europa betroffen haben.

Es ist wahr, die preußische Ge­

schichte ist jung, und es fehlt ihr die günstige Ver­

mittlung eines langen Zeitabstandeö,

wodurch alle

Thaten und Begebenheiten in einem schöneren Lichte

erscheinen;

das Heldenalter unsrer Geschichte ist

nicht mit den magischen Farben bekleidet,

die die

Sage zu geben pflegt; aber desto mehr sind wir im Stande, den Werth und die Größe unserer Helden

und ihrer Bestrebungen richtig zu würdigen, und den

allmähligen Wachsthum des ganzen Gebäudes voll­ ständiger zu erforschen.

Ferner müssen die allgemei­

nen Verwaltungsmaximen, der Einfluß, den sie im Ganzen geäußert haben, die Versuche, die beson­

dren Rechtsverhältnisse zu einem allgemeinen Recht

Zo auszubilden, und der Einfluß, den die Jndibidua-

lität dieser oder jener Männer,

die Ansichten und

selbst die Systeme der Zeit auf die politischen und staatSwirthschaftlichen Grundsätze, auf die Einrich­

tungen deS Ganzen geäußert haben, entwickelt und

nachgewiesen werden. In dem dritten Abschnitt wird der im ersten ab­

gerissene Faden wieder angeknüpft und die besondere Geschichte der einzelnen Länder seit ihrer Verbin­

dung mit dem preußischen Reiche fortgeführt; sie be­

hielten fortdauernd ihre Eigenthümlichkeiten,

die

theils in ihrer Lage, in ihren physischen Verhältnis­

sen, theils in ihrer besondern Verfassung gegründet waren; die Einwohner sahn mit Vorliebe, mit va­

terländischem Stolz auf diese Eigenthümlichkeiten ju< rück, die bis in die früheste Geschichte hinaufgehn. Glücklich sind wir der großen Krisis entgangen, die

der unselige Einfluß einer fremden Zwangsherrschaft

über so viele deutsche Länder herbeiführte, die jeder Volks- und Landeseigenthümlichkeit den Krieg er­ klärte; und hoffentlich wird ein Jeder, der in die

Ursachen und BestimmungSgründe unsres öffentli­

chen Daseyns tiefer einzudringen sucht, sich überzeu­

gen,

wie

jene

fortdauernde

Individualität

die

Grundbedingung unsrer ganzen Entwickelung, jenes herrlichen Wetteifers ist, der das Ganze stützt und

zusammenhält.

Es ist also die Aufgabe der Ge­

schichte zu zeigen,

wie die Verbindung zu einem

Ganzen zurückgewirkt hat auf die einzelnen Theile-

3i welche Resultate aus dem unvermeidlichen Conflict zwischen dem Allgemeinen und Besondern hervorge­ gangen sind.

ES läßt sich auch alles, was sich auf

die innere Bildungögeschichte, auf die geistige Cul­ tur (in so weit sie in der preußischen Geschichte in

Betrachtung kommen kann),

die Gewerbe,

den

Ackerbau, die Sitten u. s. w. bezieht, hier zweck­ mäßiger verfolgen und darstellen: da alle diese Ver­ hältnisse nur in besonderer Rücksicht wichtig und be­ deutend sind. Es schien mir zweckmäßig, die Grundsätze zu

entwickeln,

von denen ich bei der Bearbeitung Her

preußischen Geschichte, zunächst zum Behuf akade­ mischer Vorlesungen, für die, wie sich von selbst

versteht, ein ganz anderer Maaßstab angelegt wer­

den muß, als etwa für eine dem großen Publikum gewidmete Darstellung,

ausgegangen

bin:

ich

wünschte die Aufmerksamkeit auf einen Zweig des hi­ storischen Wissens zu leiten, der außer seiner innern Wichtigkeit sich auch noch von einer andern Seite

besonders empfiehlt: er ist am ersten geeignet, auch in einem praktischen Verhältniß den selbstthätigen

Zusammenhang mit wahrer Wissenschaftlichkeit zu

unterhalten: in jeder Lage wird der Freund der va­ terländischen Geschichte Gelegenheit finden,

durch

Entdeckungen, Forschungen und Mittheilungender Wissenschaft zu nützen: was in jedem andern Fache

schon mit großem Schwierigkeiten verbunden ist. In einem zweiten Cursuö von Vorlesungen, die ich

32

denen über die Geschichte anschließen werde, wün­

sche ich eine Darstellung der bestehenden Verfassung und Verwaltung und der statistischen Beschaffenheit des Ganzen sowohl als seiner einzelnen Theile zu ge­ ben, wo sich Gelegenheit finden wird, die Gegen­

wart durch die Vergangenheit zu erläutern.